Hegel-Studien Band 19 9783787329441, 9783787314836

TEXTE UND DOKUMENTE Neue Quellen zu Hegels Ästhetik. Mitgeteilt und erläutert von Helmut Schneider – Hegel und Rösel. Ei

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German Pages 472 [470] Year 1984

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Hegel-Studien Band 19
 9783787329441, 9783787314836

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HE G E L- STU DIEN In Verbindung mit der Hegel-Kommission der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben von FRIEDHELM NICOLIN und OTTO PÖGGELER

B and 1 9

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Inhaltlich unveränderter Print-On-Demand-Nachdruck der Originalausgabe von 1984, erschienen im Verlag H. Bouvier und Co., Bonn.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1483-6 ISBN eBook: 978-3-7873-2944-1 ISSN 0073-1578

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de/hegel-studien

INHALT

TEXTE UND DOKUMENTE Neue Quellen zu Hegels Ästhetik Mitgeteilt und erläutert von HELMUT Hegel und Rösel Eine Mitteilung von

SCHNEIDER,

HELMUT SCHNEIDER,

Bochum

Bochum

Hegel an Kirejewskij Ein unbekannter Brief, mitgeteilt von A.

GULYGA,

9 45

Moskau

47

JULES CORREVON

Extraits d'un cours de Philosophie de la religion par Hegel en 1824. Transskribiert von MARTIN RoosEN-RuNCEt Herausgegeben von WALTER JAESCHKE, Bochum

49

ABHANDLUNGEN Köln Hegels „Logik" und die spekulative Mystik

65

Köln Politische Ethik bei Plato und Hegel

95

KATHARINA COMOTH,

KLAUS DüSING,

Bielefeld Hegels staatstheoretischer Organizismus. Zum Begriff und zur Methode der Hegelschen „Staatswissenschaft"

147

Jerusalem Needs and interdependence. On Hegel's conception of economics and its aftermath

179

Bochum Hegels These vom Ende der Kunst und der „Klassizismus" der Ästhetik

205

MICHAEL WOLFE,

NATHAN ROTENSTREICH,

ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT,

Bochum Philologisch-textkritische Edition gegen buchstabengetreue Edition?

259

P. KAINZ, Milwaukee Über die philosophische Paradoxie

271

WOLFGANG BONSIEPEN,

HOWARD

MISZELLEN Bonn Welche Shakespeare-Ausgabe besaß Hegel?

305

Cambridge Hegels schottische Bettler

311

FRIEDHELM NICOLIN,

NORBERT WASZEK,

REZENSIONEN Die Neuausgabe der Berliner Religionsphilosophie. - Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1. Hrsg. v. Jaeschke (FRIEDRICH WILHELM GRAF, München)

317

Hegel: La scienza della logica

326

(GIANNINO

V. Di

Chr. Topp: Philosophie als Wissenschaft (Lu

TOMMASO,

DE VOS,

L'Aquila)

Löwen)

327

Zur Logik der Hegelschen Rechtsphilosophie. - Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik. Hrsg. v. Henrich u. Horstmann (KLAUS ROTH, Berlin)

330

A. Peperzak: Filosofie en politiek (Lu

344

DE VOS,

Löwen)

Denkt Hegel bürgerlich und humanistisch? - Kuhlmann/Köhler (Hrsg.): Kommunikation und Reflexion; St. Strasser: Jenseits des Bürgerlichen; St. Skaiweit: Der Beginn der Neuzeit (OTTO POGGELER, Bochum)

346

K. M. Koktopoulos: Knowledge and determination; C. Prokopczyk: Truth and reality in Marx and Hegel (KLAUS ROTH, Berlin)

359

Rubel on Karl Marx

361

(KLAUS ROTH,

Berlin)

Z. Batscha: Studien zur Theorie des deutschen Frühliberalismus ROTH, Berlin)

(KLAUS

G. Maluschke: Philosophische Grundfragen des demokratischen Verfassungsstaates (GERHARD GOHLER, Berlin)

362 364

R. W. Schmidt; Die Geschichtsphilosophie G. B. Vicos Bochum)

(CHRISTOPH JAMME,

367

F. Heine: Freiheit und Totalität; A. Wildt: Autonomie und Anerkennung (KLAUS ROTH, Berlin)

368

Theorien der Kunst. Hrsg.

375

v.

Henrich u. Iser

Th. W. Adorno: Musikalische Schriften IV

(OTTO POGGELER,

(OTTO PöGGELER,

H. Bartels: Epos - die Gattung in der Geschichte chum) J. D'Hondt; Hegel et Thegelianisme

Bochum) . .

Bochum)

(URSULA RAUTENBERG,

(FRIEDRICH HOGEMANN,

378

Bo380

Bochum)

382

Kurzreferate und Selbstanzeigen

über Devos, Waszek, Riedel, Jahr, Kuderowicz, Heß (ed. Mönke), Ruzicka, Klafki, Wigger, Wieland, Hegel (ed. Valori), Liebrucks, Hölderlin (ed. Franz u. Sattler), Hölderlin-Wörterbuch

385

BIBLIOGRAPHIE Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982. Mit Nachträgen aus früheren Berichtszeiträumen

397

MITTEILUNG Fund einer Hegel-Nachschrift aus dem Jahr

1817 (BEAT WYSS,

Zürich) ....

469

NEUE QUELLEN ZU HEGELS ÄSTHETIK Mitgeteilt und erläutert von Helmut Schneider (Bochum)

Bei der Edition der Vorlesungen Hegels über Ästhetik hat HOTHO nach eigenen Angaben unterschiedliche Quellen zusammengearbeitet. Er verwertete sowohl eigenhändige Manuskripte Hegels als auch Vorlesungsnachschriften aus verschiedenen Jahrgängen. Der größere Teil dieser Quellen ist inzwischen wieder verschollen, neue sind aufgetaucht. Die hier zusammengestellten Materialien zu Hegels Ästhetik wurden wenigstens teilweise auch von HOTHO verwendet, was jeweils einzeln nachgewiesen wird. Die Edition HOTHOS erweist sich bei dieser Quellenanalyse immer mehr als eine zwar kompositorisch gelungene, aber historisch doch unzuverlässige Kompilation, die den heutigen Ansprüchen an entwicklungsgeschichtliche Arbeit nicht mehr genügt. Darüberhinaus belegen die neuen Quellen deutlicher als bisher, daß sich der entscheidende Wandel in der ästhetischen Gesamtkonzeption Hegels in den ersten Berliner Jahren mit der Neubestimmung der symbolischen und klassischen Kunstform vollzogen hat. Einige andere Dokumente unterstreichen die Verankerung der theoretischen Ästhetik Hegels in der Erfahrung der zeitgenössischen Kunst. In den Texten, die wir im folgenden edieren, stehen Streichungen Hegels in spitzer Klammer, Ergänzungen des Herausgebers in eckiger Klammer.

I. EIN FRAGMENT ÜBER SYMBOLIK

B. Phantastische Symbolik. §•

Das Nächste ist die Gährung dieser Einheit und das Äuseinandertreten der Momente derselben. - Insofern diß das erste Ur=theilen der Einheit ist, so sind a) die Extreme abstract, nicht in sich zurükgegangene Totalitäten, - nicht das Denken als in sich freyer Geist, noch das Äüsserliche als ein in sich gesetzmässig zusammenhäng[end]es System einer Natur, - sondern in sich haltungslose Ällgemeinheiten einerseits, und andererseits ebenso zufällige Äüsserlichkeiten und

HELMUT SCHNEIDER

10

Einzelnheiten, so daß ß) sie ohne Beruhen in sich selbst

Das Manuskript

Der kurze fragmentarische Text steht mit schwarzer Tinte geschrieben auf der dritten Seite eines grauen Foliobogens in der oberen Hälfte der rechten Spalte. Der Foliobogen (36,5 x 22 cm) hat kein Wasserzeichen. Auf der ersten Seite des Bogens findet sich in der Mitte der oberen Hälfte die unterstrichene Aufschrift „Poesie", geschrieben von HOTHO, wie Schriftvergleiche eindeutig zeigen. Die zweite und vierte Seite des Bogens sind unbeschrieben. Das zweite Blatt des Bogens, auf dem der Text steht, hat Längs- und Querfalzung, das erste Blatt nur die Querfalzung. Dadurch wird klar, daß Hegel nicht auf der dritten Seite des Bogens zu schreiben anfing, wie es heute scheint, sondern wie üblich auf der ersten Seite des Bogens. Der Ablauf läßt sich so rekonstruieren; Hegel brachte auf dem ersten Blatt des vor ihm liegenden Bogens eine Längsfalzung an und schrieb in die rechte Spalte seinen Text. Die Querfalzung kann erst später erfolgt sein. HOTHO klappte den Bogen so um, daß die ursprünglich von Hegel beschriebene erste Seite zur dritten Seite wurde. HOTHO verwendete, wie seine Aufschrift vermuten läßt, den Bogen als Umschlag für andere Papiere Hegels, die zum Abschnitt über Poesie oder jedenfalls zum Themenbereich der Poesie gehörten. Eine inhaltliche Beziehung zwischen dem von Hegel skizzierten Text über die phantastische Symbolik der Inder und dem Thema „Poesie" ist ebenfalls gegeben, so daß HOTHOS Aufschrift auch als wenigstens vage inhaltliche Zuordnung des Textes verstanden werden könnte. Allerdings stellt die Poesie auf der Stufe der indischen Kunst nur ein Moment neben anderen dar (vgl. weiter unten S.15, 19) Auf der beschriebenen dritten Seite finden sich noch einige Bleistiftnotizen von fremder, unbekannter Hand; links oben 83/85, in der Mitte der linken Spalte am oberen Rand die Zahl 125, oben rechts die Jahreszahl 1827/29, in der linken Spalte; „Hegels Handschrift", in der unteren Hälfte der rechten Spalte „Hegel". Der Bogen scheint also durch die Hände mehrerer Verwahrer, Besitzer, Verkäufer gegangen zu sein. Der Bogen wurde 1930 von der damaligen Preußischen Staatsbibliothek beim Antiquariat DAVID SALOMON in Berlin (Katalog 40, 1929, Nr 14524) zusammen mit den nächsten beiden hier edierten Stücken gekauft (Akzessionsnummer für alle drei Stücke; acc.ms. 1930.1.). Heute befinden sie sich in der Biblioteka Jagielloüska in Krakow. ’

' Der Verfasser dankt den zuständigen Behörden für die Druckerlaubnis.

Neue Quellen zu Hegels Ästhetik

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Schreibweise

Das Fragment, das mitten im Satz abbricht, macht den Eindruck eines ersten Entwurfs. Die Formulierung erfolgt nicht ohne Schwierigkeiten, wie einige Streichungen und Korrekturen zeigen. Der erste Entwurf in Paragraphenform schließt nicht aus, daß der Inhalt schon einmal in anderer Form niedergeschrieben vorlag, z. B. im Berliner Heft, so daß es sich zugleich um eine Neubearbeitung oder Kurzfassung handeln könnte. Eine Reinschrift Hegels sieht jedoch anders aus und zeigt keine Korrekturen dieser Art mehr. Der Unterschied zwischen einem ersten Entwurf und zugehöriger Reinschrift wird sehr gut deutlich an einigen Paragraphen aus Hegels Nürnberger Zeit über die Urteilslogik, von denen sowohl Entwurf als Endfassung erhalten sind.^

Datierung und Zuordnung nach formalen Kriterien

Es bleibt zu prüfen, wie das Fragment, das die zweite Stufe der symbolischen Kunstform behandelt, in den Rahmen von Hegels Arbeiten zur Ästhetik eingeordnet und datiert werden kann. Es sollen zuerst die formalen Kriterien untersucht werden, wobei es sich empfiehlt, die Mitteilungen HOTHOS über die von ihm Vorgefundenen und bei seiner Ausgabe der Ästhetikvorlesungen verwendeten Manuskripte Hegels als Ausgangspunkt zu nehmen^. HOTHO schreibt: „Den sichersten Stoff lieferten hiefür Hegel's eigene Papiere, deren er sich jedesmal bei dem mündlichen Vortrage bediente. Das älteste Heft schreibt sich aus Heidelberg her und trägt die Jahreszahl 1818. Nach Art der Encyklopädie und späteren Rechts-Philosophie in kurz zusammengedrängte Paragraphen und ausführende Anmerkungen getheilt, hat es wahrscheinlich zu Diktaten gedient, und mag vielleicht den Hauptzügen nach bereits in Nürnberg zum Zweck des philosophischen Gymnasial-Unterrichts entworfen worden seyn. Nach Berlin berufen muß es Hegel jedoch bei seinen ersten Vorträgen über Aesthetik nicht mehr für genügend erachtet haben, denn schon im Oktober 1820 begann er eine durchgängig neue Umarbeitung, aus welcher das Heft entstanden ist, das von nun an die Grundlage für alle seine späteren Vorlesungen über den gleichen Gegenstand blieb, so daß die wesentlicheren Abänderungen aus den Sommer-Semestern 1823 und 1826, so wie aus dem Winter-Semester 1828/29 nur auf einzelne Blätter und Bogen aufgeschrieben und als Beilagen eingeschoben sind. Der Zustand dieser verschiedenen Manuskripte ist von der mannigfaltigsten Art; die Einleitungen beginnen mit ^ Vgl. Ein Entwurf Hegels zur Urteilslogik. Hrsg, und erläutert von K. Düsing. In: HegelStudien. 13 (1978), 9-15. ^ Hegel: Werke. Bd 10, Abt. 1: Vorlesungen über die Aesthetik. Hrsg, von H. G. Hotho. Bd 1. Berlin 1835. VII f.

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HELMUT SCHNEIDER

einer fast durchgängigen stylistischen Ausführung, und auch in dem weiteren Verlauf zeigt sich in einzelnen Abschnitten eine ähnliche Vollständigkeit; der übrige größte Theil dagegen ist entweder in ganz kurzen unzusammenhängenden Sätzen, oder meist nur durch einzelne zerstreute Wörter angedeutet, welche nur die Vergleichung mit den am sorgsamsten nachgeschriebenen Heften kann verständlich werden lassen." Wenn man unser Fragment anhand dieser Hinweise HOTHOS zu orten versucht, wird man wegen des Paragraphenzeichens zunächst prüfen, ob man es dem Heidelberger Heft zuordnen kann, das nach HOTHOS Bericht in Paragraphen abgefaßt war. Man kann nicht sagen, ob dem Gliederungspunkt B tatsächlich ein Punkt A vorausging und ein Punkt C folgte. Hegels Intention war jedoch sicher eine umfassendere Ausarbeitung der Gliederung. Das Paragraphenzeichen verweist auf den Umkreis der Lehrtätigkeit Hegels. Bereits in der Nürnberger Zeit, in die das Heidelberger Heft nach HOTHOS Urteil vielleicht zurückreichte, verfaßte Hegel seine Manuskripte für den Schulgebrauch in Paragraphenform und diktierte dazu Anmerkungen. Die Heidelberger Enzyklopädie (1817), die als Vorlesungshilfsbuch gedacht war, dehnte diese Form auf den Universitätsunterricht aus. Auch HOTHOS Hinweis auf eine mögliche Verwendung des Heidelberger Heftes zu Diktaten muß beachtet werden, da Hegel seine einzige Heidelberger Vorlesung über Ästhetik im Sommersemester 1818 nach Diktaten abhielt: „Ästhetik: Prof. Hegel nach Diktaten, 5 mal wöchentlich von 5-6 Uhr."“* Der Fragmentcharakter unseres Texts spricht jedoch gegen eine Zugehörigkeit zum Heidelberger Heft, weil dabei unerklärt bleibt, warum das Fragment abbricht und kein weiterer Paragraph folgt. Oder hat Hegel diesen Paragraphen einzeln neu gefaßt und ihn dem Heidelberger Heft zugeordnet? Der Fragmentcharakter ließe sich leichter durch eine Zugehörigkeit zum Berliner Heft Hegels erklären, von dem HOTHO sagt, es sei 1820 angefangen worden. Unser Fragment könnte zu den einzelnen Blättern und Bogen gehören, die Hegel als Beilage in das Heft eingeschoben hat, wenn er in den einzelnen Vorlesungsjahrgängen Änderungen vornahm. Bei diesen Stücken kann der Text auch einfach abbrechen, sofern es Hegel nur um eine partielle Neuformulierung ging. Ein Problem bildet bei dieser Zuordnung jedoch die Paragraphenfassung. HOTHO berichtet nichts von einer Abfassung des Berliner Heftes in Paragraphenform. Seine Beschreibung des Heftes läßt eher einen fortlaufenden, nicht schulmäßig gegliederten Text nach Art der Einleitungen zur Philosophie der Weltgeschichte, der Geschichte der Philosophie oder des Manuskripts zur Religionsphilosophie von 1821 vermuten. Es gibt auch keine Asthetiknachschrift mit Paragraphengliederung. Nach HOTHO verhalten sich die Nachschriften zu den Manuskripten Hegels

* Briefe von und an Hegel. Hrsg, von J. Hoffmeister. 3. Auflage. Bd 4, Teil 1: Dokumente und Materialien zur Biographie. Hrsg, von F. Nicolin. Hamburg 1977. 111.

Neue Quellen zu Hegels Ästhetik

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jedoch wie die Ausführung zur Skizze. ® Oder hat Hegel auch in Berlin noch gelegentlich Diktate gegeben? Darüber ist nichts bekannt. Ein neu aufgetauchtes und kürzlich ediertes Blatt aus der Einleitung zur Ästhetik, das man dem Berliner Heft zuordnen kann, bestätigt jedoch die aus HOTHOS Berichten zu schöpfende Vermutung, daß das Berliner Heft nicht in Paragraphen abgefaßt war.* Man kann daher für unseren Paragraphen auch das Berliner Heft als möglichen Kontext ausscheiden. Ins Auge zu fassen sind in unserem Zusammenhang auch die von Hegel als Leitfaden für seine Hörer publizierten Bücher: die Enzyklopädie, die Rechtsphilosophie und das geplante, aber nicht vollendete Buch über den subjektiven Geist. ^ Alle diese Vorlesungsbücher waren in Paragraphen gegliedert: Einzelne Paragraphen der noch erhaltenen Fragmente zu dem geplanten Buch über den subjektiven Geist haben die größte formale Ähnlichkeit mit unserem fragmentarischen Paragraphen. Auch hier finden sich einzelne nicht voll ausformulierte Paragraphen.® Immer aber, wenn ein Paragraph mitten im Satz abbricht, ließ Hegel danach Platz frei, was man wohl so verstehen kann, daß er den Text später zu Ende schreiben wollte. Sollte Hegel Versuche unternommen haben, auch die Ästhetik in Paragraphenform auszuarbeiten und als Hilfsmittel für die Vorlesung drucken zu lassen, so daß wir hier den bisher einzigen erhaltenen Splitter davon vorliegen hätten? Hegel gibt selbst einen Hinweis darauf, daß er etwas über Ästhetik für den Druck ausarbeiten wollte, wenn er in einem Briefentwurf an CREUZER vom Mai 1821 bemerkt: „Ich habe vor, [im] Winter Aesthetik zu lesen, und Ihr Werk setzt mich nun in den Stand, weiter einzugehen und mit der Zeit auch wohl etwas darüber drucken [zu] lassen."^ Wenn sich diese Vermutung durch weitere Funde von Manuskripten erhärten ließe, müßte man annehmen, daß Hegels Buchpläne in der Berliner Zeit generell auf eine Ausarbeitung der einzelnen Systemteile ausgerichtet waren, die er in der Enzyklopädie nur skizziert hatte. Der äußere Zweck der Ausarbeitungen bestand in der Bereitstellung einer gedruckten Unterlage für die Vorlesungen, wofür Hegel die äußere Form der Enzyklopädie einheitlich festhalten wollte. ® Hegel: Werke. Bd 10, Abt. 1. XI. * Vgl. Hegel über die Objektivität des Kunstwerks, Ein eigenhändiges Blatt zur Ästhetik. Mitgeteilt und erörtert von Lucia Sziborsky. In: Hegel-Studien. 18 (1983), 9-22. ^ Ein Hegelsches Fragment zur Philosophie des Geistes. Eingeleitet und hrsg. von F. Nicolin. In: Hegel-Studien. 1 (1961), 9-48. - Hegel arbeitete auch seine Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes (1829) als Buch aus, konnte es aber nicht mehr selbst zum Druck befördern. In dem Umstand, daß die von Marheineke überlieferte Form dieser Vorlesungen, die auf dem Buchmanuskript beruhen soll, nicht in Paragraphen gegliedert ist, könnte man ein Gegenargument gegen die hier entwickelte Hypothese von Hegels Lehrbuchplänen finden. Man muß jedoch bedenken, daß die Vorlesung über die Gottesbeweise keinen eigentlichen Systemteil behandelte. « Vgl. ebd. 27, 30, 42. ’ Briefe. Bd 2. 266.

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HELMUT SCHNEIDER

Eine weitere mögliche Zweckbestimmung unseres Fragments könnte im Rahmen der Vorlesung Hegels über die gesamte Enzyklopädie im Wintersemester 1826/27 gesehen werden. Die Vorlesung, die Hegel in Berlin nur dieses eine Mal gehalten hat, diente wohl mit zur Ausarbeitung der zweiten Auflage der Enzyklopädie. Da Hegel den knappen EnzyklopädieXexi in der Vorlesung breiter kommentierte und ausführte, mag es auch zu einer detaillierteren Ausführung der Paragraphen über die Kunst gekommen sein, so daß Hegel sich einen Gliederungspunkt für die Vorlesung notierte. Vielleicht konnte er dabei auch schon auf Vorarbeiten des vorhergehenden Sommersemesters 1826 zurückgreifen, in dem er Ästhetik gelesen hatte. In die umgearbeitete Enzyklopädie von 1827 fand unser Text jedoch keinen Eingang. Da von der genannten Vorlesung keine Nachschrift erhalten ist, läßt sich diese Möglichkeit nicht überprüfen. Die formalen Kriterien für Einordnung und Datierung verweisen also in den Umkreis der Arbeit Hegels an der Enzyklopädie und damit auf die Lehrtätigkeit. Entweder skizzierte sich Hegel einen Gliederungspunkt für die Vorlesung über Enzyklopädie oder für eine schriftliche Ausarbeitung des Abschnitts über Ästhetik, der den Hörern als Leitfaden zur Verfügung stehen sollte. Das Fragment ist also sicher in der Berliner Zeit Hegels entstanden. Eine engere Eingrenzung ist nur durch eine Untersuchung des Inhalts möglich. Datierung nach inhaltlichen Kriterien a. Hegels Analyse der phantastischen Symbolik Inhaltlich gehört der Text in den Zusammenhang der symbolischen Kunst, die auf ihrer zweiten Stufe die indische Kunstform durchläuft. Der Abschnitt „B. Die Phantastische Symbolik" findet sich auch in HOTHOS Ausgabe als Überschrift Die Ausführungen HOTHOS, der Quellen aus verschiedenen Jahren ohne Kennzeichnung verarbeitet hat, weichen in den Formulierungen teilweise von unserem Text ab. In der symbolischen Kunstform oder Vorkunst sucht die Idee noch nach ihrem echten Kunstausdruck, da Bedeutung und Gestalt erst nach dem Durchlaufen eines dialektischen Prozesses zur Einheit von Form und Inhalt in der klassischen Kunst gelangen. Der Prozeß hat die Form eines Kampfes zwischen Inhalt und Form und eines Widerstreits von Geistigem und Sinnlichem. Drei Hauptstufen bilden zusammen die symbolische Kunstform: die unbewußte Symbolik^L die Symbolik der Erhabenheit, die bewußte Symbolik der vergleichenden Kunstform. Die „unbewußte Symbolik" gliedert sich in die Stufe der „unmittelbaren Einheit von Bedeutung und Gestalt" in der Religion ZOROASTERS und der Parsen, in die Hegel: Werke. Bd 10, Abt. 1. 429. Als Überschrift nur im Inhaltsverzeichnis, nicht im Buchtext.

Neue Quellen zu Hegels Ästhetik

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„phantastische Symbolik" der Inder und die „eigentliche Symbolik" der Ägypter. In der „unmittelbaren Einheit von Bedeutung und Gestalt" bildet das Absolute als geistige Bedeutung mit einem ungetrennten sinnlichen Dasein in der natürlichen Gestalt des Lichts eine substantielle Einheit. Das Licht ist das Absolute. Die Gestalt ist also noch nicht von der Kunst hervorgebracht, ist also strenggenommen auch noch keine Stufe symbolischer Kunst, sondern Voraussetzung und Grundlage, unterste Stufe der Vorstufe. Diese Situation ändert sich nun im Bereich der phantastischen Symbolik der Inder. Die unmittelbare Einheit von Bedeutung und Gestalt zerbricht, es kommt zur Differenz und zum Kampf zwischen Bedeutung und Gestalt. Die Kunst wird zum Bedürfnis, da sie den Bruch auf phantasievolle Weise wieder zu heilen versucht. Die Gestaltungen dieser gärenden Phantasie sind jedoch sowohl im Scheiden als auch im Verknüpfen noch verworren, keine Totalitäten, sondern die Bedeutungen sind Abstraktionen, der Ausdruck abstrakte Äußerlichkeit. Der Widerspruch und das Hin- und Herspringen zwischen den Extremen bilden die scheinbare Einheit. Taumel und Trunkenheit, Verwirrung und Verrücktheit bilden Merkmale des indischen Geistes. Äuch in unserem Fragment erfolgt auf der Stufe der phantastischen Symbolik die Gärung der ursprünglichen Einheit der vorhergehenden Stufe (Parsen). Die Gärung führt zu einem Zerreißen der Einheit, so daß die Momente der Einheit auseinandertreten und sich als Extreme gegenüberstellen. Da dieser Prozeß der erste Schritt eines langen Gesamtprozesses in der Entwicklung der Idee ist, kann Hegel etymologisierend von einem „Ur-theilen der Einheit" sprechen. Die Schreibung von „Urtheilen" mit Bindestrich ist im ganzen bisher bekannten Werk Hegels eine seltene Schreibweise. Die Vereinigung und Trennung von Subjekt und Objekt, die das Wesen des Urteils ausmacht, hatte Hegels Denken seit seiner Jugendzeit beschäftigt, ohne daß er in seinen frühen Schriften jemals „Urteil" mit Bindestrich geschrieben hätte, wie er es bei seinem Freund HöLDERLIN finden konnte. „Ur-theil" spielt also sowohl mit der Vorsilbe Ur- auf die Änfänglichkeit der Teilung an als auch durch -teil auf die Subjekt-Objekt-Trennung im Urteil, auf die Teilung der Einheit. Erst in Berlin nimmt Hegel die Schreibung mit Bindestrich auf.'^ Die Extreme der auseinandergetretenen Einheit sind das Denken bzw. der Geist und das Äußerliche, d. h. die Dinge der Natur. Beide sind auf dieser Stufe noch abstrakt, d. h. auf der untersten Entwicklungsstufe und noch keine in sich zurückgegangenen Totalitäten, die den Prozeß der Entzweiung durchlaufen und Vgl. f. Hölderlin: Unheil und Seyn. In: Hölderlin: Sämtliche Werke. Bd 4. Stuttgart 1961. 216. - Hegel: Werke. Bd 12: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hrsg, von Ph. Marheineke. Bd 2. Berlin 1832. 47: „Dieses Ur-theilen ist die ewige Güte Gottes: das Unterschiedene hat kein Recht zu seyn, es ist außer dem Einen, ein Mannigfaltiges und dadurch ein Beschränktes, Endliches, dessen Bestimmung ist, nicht zu seyn; daß es aber ist, das ist die Güte Gottes; als Gesetztes vergeht es aber auch, ist nur Erscheinung." Diese Stelle geht jedoch nicht auf das Manuskript Hegels zur Religionsphilosophie von 1821 zurück.

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HELMUT SCHNEIDER

auf höherer Stufe zur Totalität ihrer Bestimmungen sich entfaltet haben. Das Denken ist also noch nicht in sich freier Geist und das Äußerliche noch nicht System der Natur, sondern das Denken besteht in haltungslosen Allgemeinheiten, und das Äußerliche ist charakterisiert durch Einzelheit und Zufälligkeit, dem der Zusammenhang fehlt. b. Entwicklung von Hegels Ästhetik am Leitfaden des Sgmbolbegriffs Auch die inhaltliche Datierung muß sich unabhängig vom Ergebnis der formalen Einordnung vergewissern, ob unser Fragment nicht auch schon in Nürnberg oder Heidelberg entstanden sein kann. Zu diesem Zweck ist die Entwicklung von Hegels ästhehschem Denken nachzuzeichnen, wobei hier der entscheidende Ansatzpunkt die Rolle der symbolischen Kunstform bzw. des Symbols überhaupt ist. Für die Berliner Zeit werden die erhaltenen Vorlesungsnachschriften herangezogen. In der Phänomenologie des Geistes von 1807 kommt das Wort Symbol noch nicht vor. Wenn HOTHO vom Heidelberger Heft sagt, es könne in die Nürnberger Zeit Hegels zurückreichen, so kann in diesem Heft der Symbolbegriff noch nicht so gefaßt gewesen sein, wie es hier in unserem Fragment der Fall ist; ein so differenzierter Gliederungspunkt „phantastische Symbolik" war in dieser Zeit noch nicht möglich. Nach den uns erhaltenen Quellen hat Hegel den Begriff oder die Stufe einer symbolischen Kunstform in Nürnberg und Heidelberg noch nicht gekannt. Erst in Berlin erfuhr der Symbolbegriff eine Neubestimmung, die ihn geeignet machte zur Kennzeichnung einer Stufe, der symbolischen Kunst. In Nürnberg und Heidelberg ist das Symbol Ausdrucksform der klassischen griechischen Kunst. In der Nürnberger Enzyklopädie in der von ROSENKRANZ überlieferten Fassung unterscheidet Hegel bereits zwischen Zeichen und Symbol, verwendet jedoch nicht das Wort „Symbol", sondern spricht vom „Symbolisieren"'®. Symbol und

Dabei erwiesen sich die folgenden Schriften von O. Pöggeler als sehr hilfreich; Hegel und Heidelberg. In: Hegel-Studien. 6 (1971), 65-133, speziell 108-112; Die neue Mythologie. Grenzen der Brauchbarkeit des deutschen Romantik-Begriffs. In: Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion. Hrsg. v. R. Brinkmann. Stuttgart 1978. 341-354, speziell 348-350; Die Entstehung von Hegels Ästhetik in Jena. In: Hegel in Jena. Die Entwicklung des Systems und die Zusammenarbeit mit Schelling. Hrsg, von D. Henrich und K. Düsing. Bonn 1980. (Hegel-Studien. Beiheft 20.) 249-270. Für freundliche Hilfe bei der Benutzung der Nachschriften zur Ästhetik danke ich Frau Dr. A. Gethmann-Siefert (Hegel-Archiv). Hegel: Werke. Bd 18: Philosophische Propädeutik. Hrsg. v. K. Rosenkranz. Berlin 1840. § 154; „Das Symbolisieren der Einbildungskraft besteht darin, daß sie sinnlichen Erscheinungen oder Bildern Vorstellungen oder Gedanken anderer Art unterlegt, als sie unmittelbar ausdrücken, die jedoch eine analoge Beziehung mit ihnen haben und jene Bilder als den

Neue Quellen zu Hegels Ästhetik

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Zeichen sind demnach in analoger und willkürlicher Weise Ausdruck sinnlicher Erscheinungen, nicht jedoch adäquater Ausdruck einer Sache oder Idee. Der systematische Ort dieser Ausführungen über das Symbolisieren ist hier der Abschnitt über den subjektiven Geist, nicht der Abschnitt über die Kunst im absoluten Geist. In der Nürnberger Religionslehre von 1812 stellt Hegel den Bezug von Symbol und Idee her: „Dichtkunst wird symbolisch - als sie Ideen enthält."'“’ Die Symbolik gehört hier zum Bereich der klassischen Kunst: „Theogonie allgemeines göttliches Tun, Erzeugung der Götter; Hauptbegebenheit der Sturz der Titanen, alte und neue Götter - Symbolik." Auch in der Heidelberger Enzyklopädie spielt das Symbol noch keine tragende Rolle im Aufbau der Philosophie der Kunst, die noch als „Religion der Kunst" wie in der Phänomenologie konzipiert ist. Nur in § 463 erinnert Hegel an das symbolische Aufopfern der besonderen Wirklichkeit im Kultus. Gemeint ist wohl das eucharistische Opfer unter den Symbolen von Brot und Wein. In den Notizen zur Heidelberger Enzyklopädie sagt Hegel von der menschlichen Gestalt, sie sei „das freyste schönste Symbol des Geistes - Form der Schönheit des griechischen - ist von der Natur zerbrochen."'* Damit wird das Symbol auch hier auf der Ebene der klassischen griechischen Kunst angesiedelt. Das Symbol ist nicht Vorstufe der Kunst, auf der sich Bedeutung und Gestalt noch nicht voll vereinigt haben, wie es für den Symbolbegriff der Berliner Zeit wesentlich ist. Vielmehr drückt sich im Symbol der menschlichen Gestalt der Geist vollkommen aus, so daß dieses Symbol die Schönheit selbst darstellt, frei von der Zufälligkeit als auch frei von der Hinordnung auf anderes: „Die Wahrheit aber jener unmittelbaren Gestalt und dieser gestaltlosen Negativität, des Disseits und des Jenseits, ist die aus dem Geiste geborne concrete Gestalt, in welcher die natürliche Unmittelbarkeit nur als Zeichen des Gedankens, von ihrer Zufälligkeit befreyt und zu seinem Ausdruck so durch ihn selbst verklärt ist, daß die Gestalt sonst nichts anderes an ihr zeigt; die Gestalt der Schönheit."'* „Daß etwas sich selbst darstellt, u[nd] ausdrükt einfache - Aber Schönheit - dann der Ausdruck einer Idee - [einje Thür. "2° Nicht die Sphinx ist Symbol, sondern die menschliche Gestalt. Die Schönheit bleibt im Gegensatz zur Erhabenheit für die klassische Kunst reserviert.

Ausdruck derselben darstellen." (186) - § 160: „Für andere sinnliche Gegenstände oder Veränderungen ist das Zeichen überhaupt willkürlich. Für die Bezeichnung abstrakter Verhältnisse und Bestimmungen tritt vornehmlich das Symbolisieren ein, und die weitere Fortbildung der Sprache gehört der Kraft der Allgemeinheit, dem Verstände an." (189) Hegel: Nürnberger Schriften 1808-1816. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Leipzig 1938. 115. '7 Ebd. 116. '* Hegels Notizen zum absoluten Geist. Eingeleitet und hrsg. v. H. Schneider. In: Hegel-Studien. 9 (1974), 22. '* Hegel: Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Zum Gebrauch seiner Vorlesungen. Heidelberg 1817. § 459. Wie Anm. 18.

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Im Gegensatz zur Entwicklung des Symbolbegriffs stand der Rahmen, in dem diese Entwicklung erfolgte, nämlich die Reihenfolge der Epochen der Kunst und Religion, seit dem Ende der Jenaer Zeit für Hegel fest. In der Phänomenologie des Geistes gehen die Naturreligionen, die später von Hegel als symbolische Religionen eingeordnet wurden (parsische, jüdische, indische, ägyptische Religion), der griechischen Kunstreligion voraus, der die christliche Offenbarungsreligion folgt. Die Triadik der Kunstformen wurde also nicht erst in Heidelberg von Hegel entwickelt. Allerdings gibt es neben dem triadischen Modell, das sich an den Religionen orientiert und die Kunst als deren Ausdruck einschließt, ein anderes duales Modell der geschichtlichen Entwicklung, das zwischen der antiken, objektiven, plastischen Kunst und der modernen, subjektiven, romantischen Kunst unterscheidet. Hegel vertrat diese Einteilung noch in der Nürnberger Enzyklopädie; „Es sind zwei Hauptformen oder Style der Kunst zu unterscheiden, der antike und moderne. Der Charakter der ersten ist plastisch, objektiv, der der andern romantisch, subjektiv. Spätestens 1821 finden wir Hegels Umorientierung im Aufbau der Ästhetik vollzogen. Das zeigt der Briefentwurf Hegels für den Brief an CREUZER vom Mai 1821, wo Hegel die instinktartigen Vorstufen der Vernunft den mythologischen, symbolischen Religionen des Orients zuordnet. ^ Das Symbol gehört jetzt zu den von der griechischen Kunst überwundenen Stufen; die Menschengestalt der griechischen Kunst ist nicht mehr Symbol, sondern vollster Ausdruck des Geistes. Diese Neubestimmung der Rolle von Symbol und Mythos geht zu einem wichtigen Teil auf den Einfluß von CREUZERS Hauptwerk über Symbolik und Mythologie zurück, das damals gerade in zweiter Auflage erschienen war.“ Hegel nahm CREUZERS Ansatz einer Deutung des Mythos durch das Symbol auf, verwies jedoch abweichend von CREUZER diese Stufen an den Anfang der Entwicklung in Kunst und Religion, während die Idee auf ihren höheren Entwicklungsstufen darüber hinausgeht. Die Ästhetikvorlesung vom Sommersemester 1823 gliedert den historischen Teil nach dem Ausweis von HOTHOS Heft“ in symbolische, klassische und romantische Vgl. Hegel: Werke. Bd 18 (s. Anm. 15). 202, § 204. “ Briefe. Bd 2. 267: „Besonders, meinte ich, kam mir die Milderung ansprechend entgegen in Ansehung der Art und Weise des Gegensatzes von bestimmtem Bewußtsein eines Theorems, der herausgehobnen gewußten Bedeutung des Symbols und dem Gefühl der Sache, dem instinktartigen Produzieren, noch mehr notwendigen Treiben der Vernunft in den mythologischen symbolischen Religionen." Als instinktartiges Arbeiten hatte Hegel bereits in der Phänomenologie des Geistes die ägyptische Naturreligion gedeutet: „Der Geist erscheint also hier als der Werkmeister, und sein Thun, wodurch er sich selbst als Gegenstand hervorbringt, aber den Gedanken seiner noch nicht erfaßt hat, ist ein instinctartiges Arbeiten, wie die Bienen ihre Zellen bauen." (Hegel: Gesammelte Werke. Bd 9. 373.) “ Friedrich Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen. 2. völlig umgearbeitete Ausgabe. 4Bde. Leipzig, Darmstadt 1819-1821. “ Nachschrift Hotho (Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum).

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Kunstform. Die symbolische Kunstform kennt zwar die Aufteilung in die parsische, indische und ägyptische Stufe, verlegt aber die Trennung der unmittelbaren Einheit des Symbolischen in die Poesie der Erhabenheit oder die heilige Poesie, zu der vor allem die hebräische und mohammedanische, aber auch die indische Poesie gehören. „Das Symbol tritt erst da ein, wo sich die Vorstellung des Allgemeinen vom Besonderen der Naturdinge losreißt und diese Allgemeinheit dann sich sinnlich darstellt. Hierher fällt das Aegyptische und Indische." (117) „Die Gestaltung des Inhalts im Symbolischen ist unvollkommen weil der Inhalt selbst noch nicht die freie Gestalt ist." (119) „Das Gebrauchen der menschlichen Gestalt als Symbol macht hier schon den Übergang zur classischen Kunst." (122) „Die symbolische Form überhaupt ist die der Erhabenheit, welche darin besteht, daß ausgedrückt ist, die Gestalt vermöge nicht die ganze Bedeutung auszudrüken. Das Erhabene ist aber nicht das Schöne. Den Uebergang zum Schoenen oder zur classischen Kunst macht das ägyptische Symbol ..." (126) Der ganze Abschnitt über die symbolische Kunstform macht jedoch noch keinen sehr klaren und ausführlich durchgearbeiteten Eindruck, so daß man die für unser Fragment typischen Formulierungen hier noch nicht finden und anschließen kann. Die Zuordnung des Indischen zur Phantasie z. B. wird noch nicht vollzogen. Die Aussagen über die indische Kunstform sind eher beiläufig und unausgeführt. Erst in den Nachschriften der Ästhetikvorlesung vom Sommersemester 1826 treffen wir auf Formulierungen, die an unser Fragment erinnern. GRIESHEIM“, dessen Nachschrift vier Formen des Symbolischen als Formen der symbolischen Gestalt unterscheidet, führt als zweite Form die indische Anschauung an, die der Phantasie zugehört. Er spricht von Gärung und erster Unterscheidung der Einheit auf dieser Stufe wie in unserem Fragment. Es fehlt jedoch noch die Formulierung, daß diese erste Unterscheidung ein Urteilen der Einheit darstellt. „Die zweite Form ist die Gährung des beginnenden Unterschiedes, die Gährung, Unterscheidung dieser Einheit, die Unterscheidung von Bedeutung, Innerem und dem sinnlichen Dasein. Diese Gährung haben wir besonders vor uns in der indischen Anschauung. Es ist hier zweierlei worauf es ankommt, das Innere und das Sinnliche. Diese Stufe ist bezeichnet als das Gähren, welches zu einer Unterscheidung beginnt und diese Unterschiedenen wieder zu vereinigen strebt. Diese erste Unterscheidung und erste Vereinigung ist überhaupt ganz unvollkommen, es ist ein Taumel von dem Sinnlichen in das Allgemeine, Unermeßliche, Geistige übergehend auf eine maßlose Weise und der für dies Trübe, Unbestimmte noch keine adaequate Weise und Gestalt zu finden weiß." (150) „Es ist der Boden der wildesten Phantasie und es ist nicht sowohl die religiöse Weise hier zu betrachten, als die Art und Weise des Gestaltens und diese ist im Allgemeinen etwas ganz Unschönes." (151) “ Nachschrift v. Griesheim (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin). Der Verf. dankt für die Druckerlaubnis der Zitate.

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Die 2. Auflage der Enzyklopädie von 1827 nennt in ihrem völlig abstrakten Abschnitt über Kunst, der dem Abschnitt über geoffenbarte Religion gegenübersteht, zwar keine konkreten Stufen des Ideals, meint sie aber und beschreibt sie. So paßt z. B. § 557 auf die Beschreibung der parsischen Religion, § 558 auf die indische Kunst und Religion bzw. die symbolische Kunstform überhaupt. § 562 gibt in der Anmerkung einen Hinweis auf die Religion der Phantasie: „Aber auch in den Religionen, in welchen die Idee noch nicht in ihrer freien Bestimmtheit offenbar geworden und gewußt wird, thut sich wohl das Bedürfniß der Kunst hervor, um in Anschauung und Phantasie die Vorstellung des Wesens zum Bewußtseyn zu bringen ... Der indische und mohammedanische Pantheismus, den Hegel in der Ästhetik bei den symbolischen Kunstformen behandelte, findet in der Enzyklopädie seinen Ort im Abschnitt über die Philosophie, vermutlich, weil Hegel dabei Gelegenheit fand, sich gegen den Pantheismusvorwurf zu verteidigen. Hegel stellt den mohammedanischen Pantheismus über den indischen: „Will man, um noch einmal auf das Factische zurückzukommen, das Bewußtseyn des Einen, nicht nach der indischen Spaltung einestheils in die bestimmungslose Einheit des abstracten Denkens, anderntheils in die ermüdende selbst litaneyartig werdende Durchführung am Besondem, sondern in der schönsten Reinheit und Erhabenheit sehen, so muß man sich bei den Muhammedanern umsehen." (§ 573) Von Symbol oder Symbolik ist allerdings keine Rede. Erst in den Nachschriften der Asthetikvorlesung vom Wintersemester 1828/29 tauchen die Formulierungen auf, die hier für unser Fragment typisch sind, nämUch das Urteilen der Einheit in der zweiten Gestaltung, der indischen Kunst und Religion der Phantasie, sowie die nicht zur Totalität fortgeschrittenen Seiten der getrennten Einheit. „Die zweite Gestaltung ist, wo der Unterschied hereintritt eines Innern von dem Natürlichen, Äußerlichen, dieses erste Urteil ist noch ein verworrenes, beide Seiten haben noch nicht wahrhafte Selbstständigkeit gegen einander erlangt, ihre Einheit kann daher nicht wahrhaft sein. Die Schöpfung der Welt ist absolutes Urteil; die beiden Seiten sind noch nicht zu Totalitäten fortgeschritten, die Versöhnung beider Seiten kann also noch nicht stattfinden. Die Beziehung beider Seiten ist nur Verzerrung, Taumel der einen Seite gegen die andere, kein Beruhen des einen in dem andern. Das Verhältnis ist, eine Seite in die andere herübergeworfen zu werden. Diese in der seichten Ausbildung ist in der indischen Weltanschauung, hier beginnt die Phantasie das Bilden der beiden Seiten, so daß dieses Bilden die ungeheuerste Phantasterie ist."^'’ Als Ergebnis dieser entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung kann man also festhalten, daß die letzte Ästhetikvorlesung Hegels den Formulierungen hier in unserem Paragraphen am nächsten kommt. Die wahrscheinlichste Abfassungszeit dürfte daher der Zeitraum dieser Vorlesung oder der Vorbereitungszeit sein, d. h. ca. 1827-1829. Das entspricht der Datierung auf dem Bogen von fremder “ Nachschrift Karl Libelt (Biblioteka Jagiellohska, Krakow). Der Verf. bedankt sich für die Druckerlaubnis der Zitate.

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Hand, wodurch sich dieser Schreiber als durchaus sachkundig ausgewiesen hat, aber offenbar wie wir nicht in der Lage war, einen gewissen Zeitraum noch enger einzugrenzen. Es ergibt sich der seltsame Befund, daß der Wortlaut des Fragments in den Vorlesungen zur Ästhetik auftaucht, das Paragraphenzeichen aber auf die Vorlesungstätigkeit im Umkreis der Enzyklopädie verweist, in deren gedruckten Ausgaben indes der Wortlaut nicht vorkommt. Die Hypothese, es könnte sich um ein Fragment aus einer umfassender geplanten oder erfolgten Niederschrift zur Ästhetik handeln, die als Hilfsbuch für die Vorlesungen gedruckt werden sollte, gewinnt dadurch an Boden.

11. MATERIALIEN ZU PROMETHEUS

[recto] ß.) Opfer III. 1 Alle Künste imM e n sehe «Leben, Gebrauche, Sitten göttlichen Ursprungs

Hyg[inus] poet[icon] astron[omicon] l[iber] 2,15 Schütz Aesch[ylus] I. Excurs[us] I p. 174a Prometheus Die Alten haben mit der grösten Ceremonie die Opfer d[e]r Götter verrichtet, u[nd] die ganzen Thire in der Opferflamme verzehrt. Weil wegen der Grösse des Aufwands diese Opfer den Armen nicht zukamen, so soll Prometheus durch [ein]e Bitte (recusatione) von Jupiter erlangt haben, daß sie nur einen Theil des Thirs in d[ie] Flammen werfen, u[nd] einen Theil zu ihrem Gebrauch verwendeten. Daher hat nachher diese Gewohnheit sich befestigt.h Da Promjetheus] diß leicht von Gott, nicht wie von einem geizigen Menschen, erlangte, so hat Promjetheus] selbst 2 Ochsen geschlachtet, die Lebern zuerst auf den Altar gelegt, das übrige Fleisch von beyden zusammengethan, und mit e[ine]r Ochsenhaut bedekt, die Knochen aber von beyden ebenso, u[nd] dem JupJiter] d[ie] Wahl gelassen welchen Theil er wolle, JupJiter] wählte den Knochen Ochsen, d[e]r grösser war. Daher verbrennt man nachher, in feyerlichem u[nd] religjiösem] Opfer, wenn das Fleisch des Opfjerjthier verzehrt ist, die Reste, die d[e]r Theil d[e]r Götter sind, in demselben Feuer. Wie Jup[iter] diß merkte, nahm er den Menschen das Feuer, weil ihnen ihr Fleischtheil ohne solches nichts nütze, - Promjetheus] stahl es - aus Freude flog er mehr als er lieffj,] that es in eine Ruthe (ferulam) schwang d[ie]

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Ruthe, daß der eingeschlossene Geist (Spiritus) durch die Dünste Rauch gesperrt in der Enge nicht das Licht auslöschte. Daher die Menschen, die eine frohe Bottschaft bringen, noch schnell lauffen. Ausserdem haben sie das bekannte Spiel im Streit (notum a certatione ludicrum) Wettlauf zum Scherz eingerichtet, aus des Prom[etheus] Handlung, daß sie lauffen, die Fackel schwingend. Jup[iter] zur Straffe die Pandora, - u[nd] den Geyer am Herzen des Prometheus - gefesselt am Scythischen Gebirge.

[verso] 6) Prometheus wurde aber nachher wieder befreyt u[nd] zwar durch Herkules, wurde ein geehrter Titane, u[nd] Tempel. (Schol.^ Soph[okles] Oed[ipus] Col[onos] V[ers] 54.

XcoQ05 ^ev lEQog Jtag, 66’ eor exei 6E viv SEpvog noGEibcov- EV 6’6 miQqpOQog ÜEÖg Tixdv npopTi^Eug. Schol[ion] daselbst aus Apollodor Ausser in Kolonos hat er auch einen Altar in der Akademie auvTifraxai öE xai EV Axaörinig xfl A^v(? xadajxEQ 6 'Hqpaiaxog- x[ai]

feoxiv auxcp JiaXaiov lÖQUjra xai vaog EV XO) XE|J,EVEI xi^g ^sov- ÖEixvvxai 6E xai ßaoig a.Q%ma xaxa XT)V ELOOöOV, EV f| xou XE Hgo^iTidEcog EGXL xuixog x[ai] xou 'HqpaiGxou. äEHOIXGI öE Jtcog), also differenzierbar, ungetrennt (dÖLaißetcog), also untrennbar; niemals wird der Unterschied der (untrennbaren) Naturen aufgehoben der Einung wegen: ovbag,oü ifig T(öv qjuoEcov öiaqpogdg dvT)QTi(xevTig 6id xfiv evwoiv. Athanasias: Kaxä ’ AgEiavüv in Migne: Patrologia Graeca. T. 26. 353 B. Vgl. das Dokument von Chalkedon bei Grillmeier (Anm. 22). 754 f. Das Filiöque ist also logisch begründet. In der horizontalen Trias (mit der durch die Bestimmung oder durch den Hervorgang des - dreieinigen - Sohnes auf der Stelle die vertikale Triplizität da ist) spielt es logisch keine Rolle, ob der Vater oder der Hl. Geist die Gipfelhypostase ausmacht. nvEÜpa 6 dE05, Spiritus est Deus: Geist ist Gott (Joh. 4,24), der immer schon von Gott als Vorstellung (Vater - Sohn) ausgeht. Deswegen bedarf die hervorgegangene oder gewordene Re-flexion der Anschauung (EIXWV). Ich zitiere aus dem Dokument von Chalkedon, vgl. Anm. 24 und 22.

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Die Evcoöig oder Einung bleibt also auch hier unendlich. XpiOTÖg als ^vodgKcooig des ^.öyog, wie die Kirchenväter nach Joh. 1,14 definierten, wird bei den Kirchenlehrern vorausgesetzt. Sie kommentieren, interpretieren, paraphrasieren die Anthropologisierung aus „Genesis", wobei das Sprechen des Einzigen im Plural (vgl. Gen. 1,26; 3,22) mit der Trinität des Einen (aussagenden) Xöyog vereinbart wurde. Von der Christlichen evoooig wird bei den Vätern und Lehrern für die vereinzelten, gewordenen, geschaffenen Vielen als neue Idealität ausgegangen. Durch die Kirchenlehrer wurde das Abendland mit der spekulativen Philosophie bekanntgemacht.^* Der Christliche Idealismus, Religion und Logoslehre zugleich, wurde nie mit der spekulativen Philosophie identisch (dasselbe). Er war auch nie nur Religion. Die logische Hauptgrundbestimmung, das Urteil von Identität und Differenz, wurde mit evcootg bewahrt und erhalten.^

11. Hegels Rückgang auf die objektive Logoslehre 1. Die logische Hauptgrundbestimmung in der antiken Philosophie Der hervorgehende oder aussagende Eine trinitarische logos in seinen denkend vorgestellten Fächerungen ist das „System in der Entwickelung", dessen Wahrheit „Eine" ist (Werke. 13.30,42), weil sie aus Einem logos hervorgeht. Das Wesentlichste ist also, zu erkennen, daß „die Eine Wahrheit" ein „in sich bestimmter Gedanke ist" (Werke. 13,32), zu dem das Wissen vom Einen (aussagenden) logos, von der Substanz, dem Allgemeinen, gehört, in dem das Subjekt seine Bestimmung hat, „darin

Vgl. Augustinus: Conf. XI, 9, wo im Anfang (prindpio) Gott geschaffen hat in (in) seinem Wort (verbum), in seinem Sohn (filius). Vgl. in diesem Zusammenhang meinen Beitrag Albertus Magnus und die spekulative deutsche Mystik, ln; Salzburger Jahrbuch für Philosophie. 26/27 (1981/82), 99-102. ^ Zum unteilbaren Unterschied (inseparabilis distinctio) im symbolon von horizontaler Trinität und vertikaler Triplizität als „das andere" der Trinität vgl. Augustinus: Conf. XIII, 11. Vgl. dazu auch die „similitudo dissimilis" aus XI, 9. In dem Buch von Kurt Flasch: Augustin. Einführung in sein Denken. Stuttgart 1980, ist der spekulative Kontext etwas zu kurz gekommen; Klaus Hedwig hat ihn vorgestellt in Sphaera Lucis. Studien zur Intelligibilität des Seienden im Kontext der mittelalterlichen Lichtspekulation. Münster 1980. Das Resultat der Geschichte der Philosophie ist erstens, „daß zu aller Zeit nur Eme Philosophie gewesen ist, deren gleichzeitige Differenzen die nothwendigen Seiten des Einen Prinzips ausmachen" (Werke. 15. 690). Das eine Prinzip, der eine Anfang, um den es systematisch und historisch in der „logischen Philosophie" geht, ist das Hervortreten der „ewigen Vernunft als Logos" (Syst. 34. 52).

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affirmativ erhalten" ist, „so daß es nicht nur meine subjektiven Bestimmungen, Gedanken (mithin Meinungen) sind, sondern daß ebenso, als es meine Gedanken sind, es Gedanken des Objektiven, substantielle Gedanken sind" (ebd. 117), kurz: Der bestimmte Gedanke des Subjekts ist nicht vom Gedanken der objektiven Bestimmung zu trennen. Das Sein (x’eöv) ist, das nicht Sein überhaupt (x6 ye gf) EöV), „das Nichts", ist nicht. Dies ist „die kurze Bestimmung", mit der „das eigentliche Philosophiren angefangen" hat (ebd. 294. 296 f), und „in dieß Nichts fällt die Negation überhaupt", die Hegel erst bei HERAKLIT in der Vereinzelung (des Seins) gesehen hat, was sie bei PARMENIDES auch schon ist^^; (Vereinzeltes) Sein und Nichts (als Vereinzelung des Seins) ist dasselbe (ebd. 332), ist eins (ev eoxiv). Im vereinzelten Sein „ist das Moment der Negativität immanent" (ebd. 335). PLATON hatte „das Interesse, das Nichtseyn als wesentliche Bestimmung des Seyenden aufzuzeigen" {Werke. 14.234). Das vereinzelt Seiende ist nicht ohne die Negation. Dadurch zeigt PLATON, „daß das Nichtsein ist und daß das Einfache, Sichselbstgleiche teilhat an dem Anderssein", die Einheit oder Synthesis teilhat an der „Vielheit" (ebd. 235). Die untrennbare „Einheit des Seins und Nichtseins" ist „zugleich" (dialektisch) differenzierbare „Nichteinheit" (ebd. 236), affirmatives Erhalten (des Einen in der Einheit) und negatives Vereinzeln, kurz; Reflexion der Bestimmung, wodurch sich die „philosophische Wissenschaft" (ebd. 169) und ihre Dialektik von den Sophisten unterscheidet. Alles (vereinzelt) Seiende enthält „Materie". Materie (ukri) ist „nichts für sich" (ebd. 371). Auch ARISTOTELES stellt „hauptsächlich das Princip der Individuation auf" (ebd. 322). Die logische Grundbestimmung ist da wie das Scheinen mit der Sonne und das Leuchten mit dem Licht. Mit dem ® Das Sein ist. Ohne Vereinzelung des Seins wäre „die Erhebung in das Reich des Ideellen" auch gar nicht möglich (ebd. 297). Die Bestimmung „Das nicht Sein überhaupt ist nicht" besagt also: Vereinzelung ohne Sein ist nicht. „Macht man Alles wankend, so kann dieß der feste Punkt werden... Wegen der formellen Bildung gehören die Sophisten zur Philosophie, wegen ihrer Reflexion ebenso auch nicht." (Ebd. 26 f) ^ Spätestens hier wird mit Hegel - im Kontext - klar, daß es in der logischen Grundoperation keinen Dualismus gibt, da die bestimmte noXkö. oder das (vereinzelt) viele („die Vielheit") als Ursache der Vereinzelung kein zweites Eine sein kann. Es kann in der logischen Grundoperation auch keine „autonome Negation" geben, weil mit der Hauptgrundbestimmung die Negation als solche bestimmt da ist, momentan gesetzt und somit „das Gegenteil des Selbständigen" (Rel. IIb.87). In der logischen Grundoperation kann es auch kein „autonomes Unbestimmtes" geben, weil mit dem Einen aussagenden (oder benennenden) \6yog als unbestimmte Bestimmung immer schon die Bestimmung hervorging oder da war. Maßgebliche Bezeichnungen der logischen Grundoperation sind übrigens der Lichtana-

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Hervortreten des Lichts ist die bestimmte „Gegenlage" da, die Materie oder die vereinzelten Dinge. Auch bei PROKLOS geht „das Viele, die Bestimmung der Theile" von dem „Einen" aus {Werke. 15. 76). Das Viele hat an der vereinzelten „Einheit" oder Synthesis teil, aber es ist „nicht Eines" (ebd. 78). Mit der momentanen „Verpilzung" von Identität - Differenz Identifizierung als ideale Re-flexion, als unendliche evcooig, als unendliche decoaig, hat sich die (vertikale) Triplizität „konsolidiert". Sie ist bestimmt und offen zugleich. 2. Die logische Hauptgrundbestimmung im Christlichen Idealismus Gott als unbestimmte Bestimmung unterscheidet sich in sich selbst. „Dieß Unterscheiden in ihm selbst ist der Punkt, wo das Anundfürsichseyende zusammenhängt mit dem Menschen, mit dem Weltlichen. Wir sagen, Gott hat den Menschen, die Welt erschaffen; dieß ist eine Bestimmung in ihm selbst, und diese Bestimmung ist zunächst eine Bestimmung seiner in ihm selbst, und diese Bestimmung ist der Punkt des Anfangs des Endlichen. Der Punkt der Unterscheidung in sich ist der Vermittlungspunkt des Endlichen, Weltlichen mit ihm; da fängt dieß in ihm selbst an. Die Wurzel desselben ist, daß Gott sich in sich selbst unterscheidet." {Werke. 15. 16) Der Zusammenhang Gottes mit der Welt ist also die „Bestimmung in ihm selbst". Mit der Bestimmung in ihm selbst ist „das Anderssein des Einen, die Zweiheit, das Negative" auf der Stelle da^®; die „Bestimmung überhaupt" ist also wesentlich Moment, das in ihm zu denken ist, der „Ruck im innersten Heiligthum". Die Einheit der göttlichen und menschlichen Natur ist „in den Individuen der Kirche zum Bewußtseyn gekommen" (ebd. 114). Der Lehrbegriff der Kirchenväter wird von den doctores methodisch gemacht, vor allem von THOMAS von Aquin, „ein zweiter AUGUSTIN". Es finden sich bei THOMAS „zwar logische Förmlichkeiten, aber nicht dialektische Spitzfindigkeiten, sondern gründliche metaphysische (spekulative) Gedanken, über den ganzen Umfang logie entnommen: Spekulation, Reflexion, Schein, Erscheinung. Vgl. hierzu meinen Beitrag Licht als universale Grundbestimmung, zur Diskussion gestellt auf dem XVII. Weltkongreß für Philosophie in Montreal am 23. August 1983, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie. 26 (1984). Sobald die Bestimmung wegbleibt, ist die logische Grundoperation nicht mehr vorhanden und damit die Grundlage der ganzen spekulativen Wissenschaft. MUOTTIQIOV heißt bei den Alexandrinern „überhaupt spekulative Philosophie" (ebd. 72); sie hat sich „in der Kirche festgesetzt und erhalten", besonders bei den „mystischen Scholastikern" (ebd. 93).

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der Theologie und Philosophie" (ebd. 173 f). Wenn Hegel die „formelle Dialektik" des Mittelalters kritisiert, wird er also gerade nicht an THOMAS gedacht haben. ^8 Die Individuation als Hauptgrundbestimmung; materia est principium individuationis (Summa theologica. Pars I. Quaest. 3. Art. 2. 3. Praet. ff) weist auf eine spekulative Kongenialität mit Hegel, die noch zur unvoreingenommenen Diskussion steht.Hegel selbst hat die spekulative Kongenialität nachweislich gewittert, ist ihr aber aus naheliegenden Gründen nicht nachgegangen. Die protestantische Scholastik, die sich nach LUTHER systematisierte, hat er philosophisch überhaupt nicht beachtet. Als JOHANN GERHARD, einer der profiliertesten Theologen Lutherischer Orthodoxie, seine neunbändigen Loci theologici schrieb - zwischen 1610 und 1622 -, arbeitete JAKOB BöHME seine Drei Prinzipien des göttlichen Viesens aus. 1619 lagen sie vor. BöHME wurde von der neuen Orthodoxie verfolgt. BöHME ist der deutsche Mystiker Hegels. 3. Hegel und die „deutsche Mystik" Die „deutsche Mystik" ist die Spekulation in der deutschen Sprache als Mittel der Pastoral.“ Die Grundbestimmung in der deutschen Sprache unterscheidet sich also sprachlich von der griechischen Spekulation, die über die lateinische „mystische Scholastik" übersetzt wurde. Ein deutscher Sonderweg läßt sich spekulativ nicht feststellen. Da Latein die Wissenschaftssprache war (auch in der protestantischen Scholastik), wurde die frühe deutschsprachige Spekulation jahrhundertelang kaum beachtet. FRANZ VON BAADER hat mittelhochdeutsche Handschriften und die ^ „Untersuchungen, die in eine ganz leere formelle Disputir-Sucht ausarteten" finden sich „nicht bei den edlen Männern, die als doctores und Schriftsteller bekannt sind" (ebd. 191). Vgl. (ebd.) auch den spekulativen Dreischritt von Thomas: Gott als das „Individuum" schafft aus dem Stoff der „individuation" (zusammengesetzte) Individualitäten (composita) mit dem Bewußtsein der Teilhabe (participatio), mit Reflexion. Die mystischen oder spekulativen Predigten sind keine „Volkspredigten". Sie wurden meistens in Frauen-Klöstem vorgetragen (und aufgeschrieben), also in einem Kreis, der spekulativ-mystisch geschult war. Beispiele gebe ich in meinem in Anm. 29 angegebenen Beitrag. So verwendet ein mittelhochdeutsches Handschriftenbuch für unendliche Reflexion „ewig wider sehen". So das Werk Meister Eckharts, freilich nicht nur das deutschsprachige: Auch in der katholischen Theologie hat es jahrhundertelang kein tiefes Bedürfnis nach (spekulativer) Erkenntnis gegeben, die dem Glauben gleichrangig ist (credo vt intelligam). Der antispekulative, antiintellektuelle Prozeß beginnt mit der kirchlichen Verurteilung des Thomas (1277), mit der sich der spätere „Thomismus" nie wirklich auseinandergesetzt hat. Vgl. in diesem Zusammenhang Anm. 66.

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nach ihnen edierten Drucke gesammelt und Hegel daraus Vereinzeltes mitgeteilt. {Rel. la. 257)'*^ Sein systematisches und historisches Wissen über die Mystik als Spekulation überhaupt hat Hegel in das Werk JAKOB BOHMES gelegt, in dem ein „tiefes Bedürfniß des Spekulativen" gelegen hat {Werke. 15. 327). „In der Idee Gottes auch das Negative zu fassen, ihn als absolut zu begreifen, - dieß ist der Kampf, der so fürchterlich aussieht, weil er in der Gedankenbildung noch so weit zurück ist." (Ebd. 304) Das in der „Idee" Gottes „zu fassende" Negative ist nicht als gefaßtes Negatives in Gott selbst, sondern die untrennbar unterscheidende Bestimmung des Negativen ist in ihm, die „Idee" der (initiativen) Bestimmung (oder Benennung) des anderen (seiner selbst).^ „Erkennen heißt, etwas in seiner Bestimmtheit wissen" {Rel. Ilb. 84). Die Natur des zu Erkennenden aber „ist die Natur der Bestimmtheit selbst, und die Natur der Bestimmtheit selbst ist diese, die in der Idee exponiert worden ist" als untrennbare Unterscheidung der unbestimmten Bestimmung, mit der auf der Stelle das Bestimmte, Vereinzelte, Besondere da ist mit der „ungeheuren Macht des Negativen" {Phän. 29). „Daß diese Idee das Wahre überhaupt ist, daß alle Gedankenbestimmungen diese Bewegung des Bestimmens sind, ist die logische Exposition." {Rel. Ilb. 84)

III. Das Grund-Prinzip der Hegelschen Logik 1. Die unendliche Grundbestimmung des negativen Prinzips hat als erster das „Vernunftverhältnis'', den Xöyoq der Trias als „das Eins" dargestellt, wonach das (vereinzelt) viele gemessen wird {Log. I. 207). Wenn Hegel in der Wissenschaft der Logik das Pythagoreische „Grundverhältnis" aufgreift, ist der trinitarische Eine Xoyog gemeint, mit dem sich alle späteren Fächerungen der Einen lögos-Lehre vereinbaren lassen. Das trinitarische Eine ist Geist und entmaterialisierte Vorstellung zugleich: „Die Alten haben das bestimmte Bewußtsein darüber gehabt, daß PYTHAGORAS

Vgl. hierzu Anm. 56. „Schon am Ausgang der Schweizerperiode finden sich unter Hegels Papieren Exzerpte von Stellen aus Eckart und Tauler, die er sich aus Literaturzeitungen abschrieb" berichtet Karl Rosenkranz; vgl. Dokumente zu Hegels Entwicklung. Hrsg. v. J. Hoffmeister. 2. Aufl. Stuttgart-Bad Cannstatt 1974. 303. ** Wenn das gefaßte Negative in Gott wäre, das Gewordene, Hervorgegangene oder Bestimmte, Vereinzelte, wäre Gott in sich material zerstückelt (statt immateriell unterschieden) und hätte somit überhaupt keine logische Hauptgrundbestimmung.

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die Zahl zwischen dem Sinnlichen und dem Gedanken in der Mitte stehe." (Ebd. 208)^^ Die Zahl (Vorstellung) ist nicht von der Dreieinigkeit (Geist) zu trennen. Geist und Vorstellung zugleich unterscheidet die Dreieinigkeit sich in sich selbst und bleibt in horizontaler Beziehung mit sich identisch: untrennbare Unterscheidung als unbestimmte Bestimmung. Ihr Unbestimmtes ist die Bestimmung, mit der augenblicklich („momentan") die vertikale Beziehung da ist, die Bestimmung des anderen als negatives Prinzip.'*^ Die unendliche Grundbestimmung der Differenz kann also keinen (endlichen) Anfang haben. Deshalb kann sie auch nicht aufhören, wiewohl die unendliche Grundbestimmung der Negation und die bestimmte Negation durch die Trennung verschieden sind. 2. Das negative Prinzip der Vereinzelung als endliche Grundlage der Reflexion Gott selbst (als unbestimmte Bestimmung) enthält „wesentlich die Bestimmung des Negativen" (Log. I. 70). Das negativ Bestimmte, die „bestimmte Negation" (ebd. 36) ist also nicht in ihm, dem „reflexionslosen Sein" (ebd. 66), sondern die Bestimmung des Bestimmten („Etwas"), Besonderen, Vereinzelten, die Bestimmung der „Materie" (Log. II. 70) ist in ihm als die Bestimmung des anderen seiner selbst.Die Negation als bestimmter (materialer) „Wendungspunkt" der Einen Bewegung oder Hauptgrundbestimmung (Log. II. 496) ist als Prinzip der Vereinzelung Ursache der Differenz. Das Negative (als Negation oder Materie) hat eine gleichzeitige Doppelfunktion: Einmal ist es positiv Ursache der re-flektierten, vereinzelten Bestimmung, des vereinzelten Seins, die (notwendige) materiale „Grundlage" der Umwendung, von der die umgewendete, gewordene oder reflektierte bestimmte Bestimmung als „das Einzelne" nicht mehr loskommt, weshalb es „Prinzip der Individualität und Persönlichkeit" ist (ebd. 260 f); zum anderen ist es gleichzeitig negativ „Negation über-

„Dreieinig nennt man jenen allgemeinen Geist, insofern man die Kategorie der Zahl anwendet. Es ist der Gott, der sich in sich unterscheidet, aber darin mit sich identisch bleibt. Die Dreieinigkeit heißt das Mysterium Gottes; der Inhalt ist mystisch, d. h. spekulativ," {Rel. Ilb. 69) ■** Im (vereinzelten) „Leben des Geistes" (Phän. 29) ist Vorstellen die Triebkraft des Wo/lens und es ist kein menschliches Begehren oder Wollen ohne Vorstellen" (Log. I. 12). Wo die Bestimmung des negativen Prinzips unterschlagen wird,ist es eigentlich der (tätige) lögos, der außerhalb der Wissenschaft der Logik gelassen werden soll. ^ Die Materie kann als Bestimmtes der Einen logischen Grundbestimmung nichts anderes sein als Ursache der Vereinzelung. Das hat Hegel mit Aristoteles (und Thomas) richtig gesehen. Vgl. in diesem Zusammenhang die Anm. 34 und 47.

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haupt".'*^ Die gleichzeitige Doppelfunktion des Negativen macht eine Bestimmung aus, die Hauptgrundbestimmung der Vereinzelung in der Zeit als Negation, als Materie, die als ein Bestimmtes („Etwas") Ursache der vereinzelten Reflexion ist, dem reflektierten Sein, mit dem „Etwas" da ist und „ein Anderes" {Log. I. 104). Zusammengefaßt ist das negative Prinzip der Vereinzelung also Grundlage der Reflexion und damit auch Ursache des spekulativen Anfangs, der endlich ist und unendlich zugleich. 3. Die un-endliche Reflexion der vereinzelten Grundbestimmung als spekulativer Anfang Die Differenz der unbestimmten Bestimmung, die bestimmte Bestimmung als Etwas - Aufgehobenes - Gewordenes, hat „die Bestimmtheit, aus der es herkommt, noch an sich" (Log. I. 94), die unbestimmte Bestimmung, die sich im Vereinzelten, Reflektierten, Aufgehobenen erhebt, „aufhebt". Die Aufhebung oder Erhebung der unbestimmten Bestimmung in der bestimmten Bestimmung geschieht nicht in der Weise, daß hinter das bestimmte Negative (als Negation, als Materie) zurückgegangen wird, was gegen die unbestimmte Bestimmung wäre, sondern so, daß die vereinzelte Reflexion oder die reflektierte Bestimmung (Log. II. 5) vorwärtsschreitet, wobei das „Vorwärtsgehen ein Rückgang in den Grund" ist (Log. I. 55). Der vorwärtsgehende Rückgang in den Grund muß notwendig un-endlicher Prozeß, un-endlicher Progreß bleiben, weil das reflektierte Sein, die Differenz, von der Ursache der Reflexion, Individuation nicht mehr loskommend un-endlich reflektiert, sich unendlich „entwickelt" mit dem Blick auf die Identität, mit dem Blick auf die Idealität, die in der Differenz ist und vor ihr zugleich. Niemand wird sie deshalb aufhalten können. Im Erkennen ihrer Bestimmung ist sie freie Bestimmung geworden: „bestimmende Reflexion" (Log. II. 20 f) und damit spekulativer Anfang, der den materialen - endlichen Gegenwurf in sich festhält, bis zur möglichen „äußersten Spitze" (vgl. Anm. 49) gegen „das Gute" (Log. II. 56). „Das Negative" in seinen untrennbaren aber differenzierbaren vertikal bestimmten Hypostasen als Negation (Widerspruch), als Materie (Individuation oder Vereinzelung) ist also positiv die Ursache des eigenen Reflexionsweges, die Ursache der individuellen Freiheit, die ihren (un-endlichen) Widerspruch „Das Etwas ist die erste Negation der Negation, als einfache seiende Beziehung auf sich." (Log. I. 102) „Die Negation der Negation ist Widerspruch, sie negirt die Negation; so ist sie Affirmation, ebenso ist sie aber auch Negation überhaupt." (Werke. 15. 375) ln ihrer „äußersten Spitze" ist sie „das Böse" (Rel. Ilb. 167).

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aushält, „erträgt", wenn sie ihn in seiner (doppelten) Bestimmtheit erkannt hat. ™

IV. Die methodische Reflexion als systematische Dialektik 1. Sein und Nichts ist „Eins und dasselbe" Der spekulative Anfang faßt den bestimmenden Ursprung und die bestimmte Ursache zusammen. Deswegen ist er gleichzeitig unendlich und endlich: Sein und Nichts als die bestimmte Ursache der Vereinzelung des Seins und das vereinzelte Sein „Eins- und dasselbe-sein" Das vereinzelte, aufgehobene oder gewordene Sein enthält die ursprüngliche Bestimmung und die bestimmte Ursache als untrennbar Unterschiedenes {Log. I. 77); das aufgehobene oder gewordene vereinzelte Sein enthält also auf der Stelle, „momentan", die Aufhebung des untrennbar Unterschiedenen: die unendliche re-flexion. 2. Sein und Nichts ist „nicht dasselbe" Das untrennbar Unterschiedene ist durch die Bestimmung unterschieden, Bestimmung und Bestimmtes ist nicht dasselbe: „Sein und Nichts ist nicht dasselbe" (Log. I. 76). Der Satz des Aufgehobenen: „Sein und Nichts ist Eins und dasselbe" darf also nicht einseitig gefaßt werden (wie BERNHARD LAKEBRINK das in seinen Hegel-Arbeiten tut®^), da mit dem Aufgehobenen die re-flexive oder analoge Aufhebung da ist: „Das gewöhnlichste Unrecht, welches spekulativem Gehalte angetan wird, ist, ihn einseitig zu machen, d. i. den einen der Sätze nur, in die er aufgelöst werden kann, heraus zu heben. Es kann dann nicht geleugnet werden, daß dieser Satz behauptet

Das objektiv bestimmte Negative als bestimmter (vereinzelter) Widerspruch, als bestimmte (vereinzelte) Materie darf also nicht einseitig oder starr gefaßt werden: Es ist subjektiv positiv und negativ zugleich (sonst wäre das freie Individuum gar nicht da; „1. Die Erscheinung ist das Existierende vermittelt durch seine Negation, welche sein Bestehen ausmacht" - ebd. 124). Deswegen ist „die Materie" im systematischen Idealismus niemals „das Böse" gewesen, das immer privaten Charakter hat - wie die (bestimmte) Materie auch -, sondern das Böse ist „in" der (vereinzelten) Materie, ist „im" Widerspruch; vgl. zu Hegel auch Anm. 18. „Der Akzent wird vorzugsweise auf das Eins- und dasselbe-sein gelegt" (Log. I. 75). “ Zuletzt in: Kommentar zu Hegels „Logik" in seiner „Enzyklopädie" von 1830. Bd 1: Sein und Wesen. Freiburg, München 1979. Deswegen ist Lakebrinks Kommentar auch nicht in der Lage, Gott und die (hervorgehende) Idee Gottes zu differenzieren (76).

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wird; so richtig die Angabe ist, so falsch ist sie, denn wenn einmal Ein Satz aus dem Spekulativen genommen ist, so müßte wenigstens ebensosehr der andere gleichfalls beachtet und angegeben werden." (Log. I. 76 f) Beide Sätze müssen spekulativ gefaßt werden, d. h. verbunden. 3. Sein und Nichts ist „Eins und dasselbe" und „nicht dasselbe" Im „Einzelnen" oder der bestimmten Bestimmung, die mit der unbestimmten Bestimmung auf der Stelle da ist, ist das vereinzelte Sein und die Vereinzelung (des Seins) dasselbe als ein bestimmtes Eines („Etwas"). Der „unvollkommene" Satz „Sein und Nichts ist Eins und dasselbe" macht deswegen die „äußere Reflexion" aus, die positive Ursache der Reflexion im negativ Bestimmten, sozusagen die Spiegelfläche, wodurch Vereinzeltes ist, erscheint; gleichzeitig hat das (positiv) Vereinzelte den Widerspruch als unendliche Negation (der Negation) „in sich" (Log. 11. 59), die „immanente Reflexion" (ebd. 18): „Sein und Nichts ist nicht dasselbe". Die positive endliche „äußere Reflexion" und die unendlich negative „immanente Reflexion" ist aber Eine (bestimmte) Reflexion (ebd. 50), die die Herkunft ihrer Bestimmtheit noch an sich hat: die unbestimmte Bestimmung der Negation (in ihrer Doppelfunktion): das unbestimmte Eine. Der spekulative Satz, die Verbindung vom unbestimmten Einen und dem bestimmten Einen, von der Identität und der Differenz als: Sein und Nichts ist „Eins und dasselbe" und „nicht dasselbe", ist unendlich reflexiv. Als (vorhin angegebene) „bestimmende Reflexion" oder aufhebende Dialektik, die - so oder so nur als bestimmtes, vereinzeltes Sein ist, hält die (vereinzelte) unendliche Reflexion des spekulativen Satzes den Widerspruch in seiner doppelten Bestimmtheit fest. Die methodische Reflexion oder systematische Dialektik unterscheidet sich von der „unsystematischen Dialektik", die „mancherlei Bestimmungen hie(r)her und dorther aufgreift ..., - ohne

Vgl. dazu Günter Wohlfart: Der spekulative Satz. Bemerkungen zum Begriff der Spekulation bei Hegel. Berlin, New York 1981. W. faßt das „Problem des spekulativen Satzes" als „das Problem der sprachlichen Darstellung des Spekulativen" (Vorwort, V). ^ Das Negative (in seiner doppelten Bestimmtheit), die Ursache der Reflexion, Differenz, Trennung und Vereinzelung, „macht das wahrhaft Dialektische aus" {Log. I. 37). ln seiner Kritik an Dieter Henrichs „autonomer Negation" argumentiert Werner Beierwaltes (vgl. Identität und Differenz. Frankfurt am Main 1980. 264 f. Anm. 100) ausschließlich mit der Negation der Negation als Affirmation und läßt so den untrennbaren aber differenzierbaren Doppelcharakter der Negation der Negation außer acht: Einmal ist sie Affirmation, „ebenso" ist sie aber auch unendlich (bestimmte) Negation (der Negation) „überhaupt", vgl, oben Anm. 49.

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diese Positionen und jene Negationen zu einer wahrhaften Einheit erheben zu können" (Log. II. 157).

V. „Außiebung" und „Erhebung" als teleologisches Parallelverfahren 1. Die logische „Aufhebung" Im bestimmten, vereinzelten „Resultat", wie es sich logisch ergeben hat, ist das enthalten, woraus es resultiert: die unbestimmte Bestimmung, die Bestimmung der Negation (in ihrer Doppelfunktion), das re-flektierte Bestimmte. Die drei untrennbaren „Momente" machen die vertikale Triplizität aus als das andere der horizontalen Trias (oder unbestimmten Bestimmung), mit der sie auf der Stelle da ist. Im Unterschied zum „Dreieinigen" ist das „Dreifache" bestimmt und offen (oder bestimmend) zugleich: Werden. Das „in seinen Momenten weiter bestimmte Werden" (Log. I. 138) ist ein unendliches „Übergehen von Sein in Nichts" (ebd. 158), da das übergegangene (vereinzelte) Sein von seiner Vereinzelung nicht mehr loskommt: „Es ist also nur die Negation, die sich in der Negation aufhebt." (Ebd. 135) Die Aufhebung ist deswegen Aufhebung des Widerspruchs, Aufhebung der Differenz, un-endliche Einung des Vereinzelten zum Einen: Werden zum Einen. 2. Die theologische „Erhebung" Hegel hat den Gang der Wissenschaft der Logik, die analoge Aufhebung, ausdrücklich mit den Beweisen vom Dasein Gottes in Verbindung gebracht. Er habe, so sagt Hegel in den Beweisen, hier einen Gegenstand gewählt, „welcher mit der andern Vorlesung, die ich halte, über die Logik, in Verbindung stehe und eine Art von Ergänzung zu dieser, nicht dem Inhalte, sondern der Form nach, ausmache, indem derselbe (Gegenstand) nur

Religionsphilosophisch wird Hegel statt Aufhebung „Versöhnung" sagen: (Un-endliche) Versöhnung ist Negation der Trennung, vgl. Rel. 11b. 36. Ute Guzzoni hat in ihrer (Dissertations-) These das Werden zum Einen verkürzt, einseitig und damit unspekulativ gefaßt als „Werden zu sich". Vgl. Guzzoni: Werden zu sich. Eine Untersuchung zu Hegels „Wissenschaft der Logik". Freiburg, München 1963. Repr. 1978. Die Frage nach der Hauptgrundbestimmung bleibt in der Untersuchung „ungestellt" (7). Zur Kritik an Guzzoni vgl. auch L. B. Puntel: Darstellung, Methode und Struktur. Untersuchungen zur Einheit der systematischen Philosophie G. W. F. Hegels. 2. Aufl. Bonn 1981. (Hegel-Studien. Beiheft 10) 244 f, Anm. 354.

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eine eigentümliche Gestalt von den Grundbestimmungen der Logik ist" (Bew. 1). In das sich in seiner Bestimmtheit erkennende „Resultat" als vertikale Triplizität der horizontalen Trias wird in den „Beweisen" theologisch-anthropologisch eingetreten; Die Trias heißt hier Gott, die Triplizität Menschengeist. „Der Geist des Menschen, von Gott zu wissen, ist nur der Geist Gottes selbst" (ebd. 117), die unbestimmte Bestimmung in der Vereinzelung, das re-flektierte Sehen Gottes. “ Im re-flektierten Sehen Gottes ist die Hauptgrundbestimmung der Negation in ihrer Doppelfunktion also aufgehoben. Die „Erhebung des Menschengeistes zu Gott" (Bew. 13) ist deswegen - wie die vormalige ffecooig, wie die vormalige evcooig - unendlicher Prozeß. Er „beweist" sich durch die „Erhebung" selbst wie die Logik sich durch die „Aufhebung" (als Einung) begründet: „Der Glaube liegt immer zugrunde, ist eine Voraussetzung, und wenn er auch nur etwas Momentanes wäre, so daß das, was unmittelbar zugrunde zu liegen scheint, durch das Denken zum Resultat gemacht wird" (ebd. 9). Es gibt also „kein Denken ohne Glauben" (ebd.), keinen Geist der „Logik" ohne Vorstellung der „Theologie". 3. „Aupiebung" und „Erhebung" als untrennbares aber differenzierbares Parallelverfahren Der Gegenstand der logischen „Aufhebung" und der Gegenstand der theologischen „Erhebung" ist „derselbe" {Bew. 1), die Trias als Ein lögos, als eine horizontale Hypostasenunion oder Verhältnisbestimmung, mit der auf der Stelle die vertikale, hervorgegangene oder materialisierte Triplizität da ist, die sich re-flexiv aufhebt, erhebt. Die Reflexion der Logik

“ Das re-flektierte Sehen Gottes hat Hegel mit Meister Eckhart notiert: „ ,Das Auge, mit dem mich Gott sieht, ist das Auge, mit dem ich ihn sehe; mein Auge und sein Auge sind eins.' "(Rel. la. 257) Die 1453 verfaßte Schrift des Nicolaus Cusanus: De visione Dei, die sich auf einen Kommentar des Albertus Magnus zu (Pseudo-) Dionysios Areopagita bezieht, der ihm im gleichen Jahr geschenkt worden war (Cues Cod. 96, fol. 257 r), hat Hegel nicht gekannt. Vgl. hierzu Werner Beierwaltes: Visio absoluta. Reflexion als Grundzug des göttlichen Prinzips bei Nicolaus Cusanus. Heidelberg 1978. 30. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Anm. 41. Deswegen ist das reflektierte Sehen Gottes niemals Pantheismus gewesen. Wo die Spekulation als „Pantheismus" bezeichnet wird, ist das Wichtigste, die Hauptgrundbestimmung der Negation als Ursache der Reflexion, unterschlagen: „Von diesem Unterschiede wissen gewöhnlich die nichts, die sagen, spekulative Philosophie sei Pantheismus; sie übersehen die Hauptsache wie immer." {Rel. la. 195) Hegels „Logik" und „Theologie" braucht also nicht auf eine „materiale Hinsicht hinaus"zugehen, worauf die Interpretationsrichtung um Michael Theunissen aus ist: Sie hat sie

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und die Reflexion der Theologie „ergänzen" sich deshalb, „nicht dem Inhalte, sondern der Form nach" (Bew. 1); sie sind „eigentümliche", also differenzierbare aber untrennbare Parallelverfahren. Wo - aus unterschiedlichen Gründen - eine Emanzipation der Logik von der Betrachtung über die Beweise vom Dasein Gottes betrieben wird, wird deshalb Spielraum für eine Manipulation der Logik geschaffen, die nicht Hegelisch ist.

VI. Die Hegelsche „Grundbeziehung" als „Symbolum” 1. Die „objektive Logik" als bestimmende horizontale Trias Der hervorgehende Eine lögos als horizontale Trias ist der Grund, der das Resultat, die vereinzelte Triplizität, setzt, welche durch ihn begründet wird {Log. I. 109). Der Eine lögos selbst bestimmt sich in der Weise der unbewegten Bewegung als unbestimmte Bestimmung. Hegel hat „Logik und Metaphysik" zusammengefaßt {Bew. 91), wobei die „objektive Logik" an die Stelle der „vormaligen Metaphysik" getreten ist {Log. I. 46), präziser an die Stelle der Ontologie, „der Teil jener Metaphysik, der die Natur des Ens überhaupt erforschen sollte; - das Ens begreift sowohl Sein als Wesen in sich, für welchen Unterschied unsere Sprache glücklicherweise den verschiedenen Ausdruck gerettet hat" (ebd.). Wie mit dem Hervorgang der „vormaligen" pro-ontischen Metaphysik auf der Stelle der von ihr als pf| öv bestimmte oder benannte Gegen-stand da war, so ist in der Wissenschaft der Logik mit der immer schon hervorgehenden „objektiven Logik" oder der „Logik des Seins" auf der Stelle („momentan") der von ihr bestimmte oder benannte Gegenstand da, die „subjektive Logik" oder die „Logik des Begriffs" (der Negation). Im Bestimmen der „subjektiven Logik" liegt also das Ur-teil, die Differenz vom Einen Sein zum vereinzelten Sein, denn nur die Identität kann die Differenz bestimmen.

im Vereinzelten schon in sich. Theunissen - und die ihm nahestehende Richtung - hat also das Wichtigste, die Hauptgrundbestimmung, übersehen, logisch, theologisch. Vgl. Michael Theunissen: Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik. Frankfurt am Main 1978. 474. ^ Wie Rüdiger Bubner mitteilt (in: Zur Sache der Dialektik. Stuttgart 1980. 136) wird daran gearbeitet, nachzuweisen, daß „erst der deutsche Idealismus" eine Identität der Identität und Differenz „voll artikuliert" habe. Das trifft für den Ausdruck zu. Von der Sache her läßt sich keine deutsche Überbietung feststellen: Sie ist spekulativ auch gar nicht möglich, zumal wo die Spekulation - wie von Platon bis Hegel - trinitarisch gefaßt wird. Die philosophische Leistung Hegels liegt freilich darin, das unkürzbare Symbolum von Trias und Triplizität ausdrücklich

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2. Die „subjektive Logik" als bestimmte Negation Die „Hauptgrundbestimmung" der immer schon hervortretenden oder bestimmenden pro-ontischen „objektiven Logik" ist die meontische „subjektive Logik", die bestimmte Negation, Individuation als Grundlage der (vereinzelt) re-flektierenden Grundbeziehung. Die (vereinzelte) „aufgehobene Grundbeziehung" {Log. II. 91) ist deshalb „nicht nur formell, sondern auch real" (ebd. 89). Der „unbestimmte Ausdruck Realität heißt überhaupt nichts anders als das bestimmte Sein” (ebd. 410), welches „das Subjekt selbst ist" (Log. I. 47). Die „Lehre vom Begriff" (der Negation) ist die Lehre von der „Realisation des Begriffs" (oder der „Genesis des Begriffs") als der Realisation der Bestimmung der Negation (in ihrer schon angesprochenen Doppelfunktion), womit unmittelbar die re-flektierende „Logik des Wesens" da ist. Die Realisation der Bestimmung der Negation, „die Subjektivität", ist also (vermittelter) „Schluß" (Konklusion) und „Resultat" zugleich: wirklich Bestimmtes, Vereinzeltes, womit „Etwas" (da) ist und „ein Anderes".“ Mit der „objektiven Logik" ist also augenblicklich die „subjektive Logik" da, weil die Bestimmung der Negation Realisation von „Etwas" ist (und „einem Anderen"): bestimmtes, vereinzeltes Aufgehobenes, das die Aufhebung an sich hat, Reflexion.^* 3. Die „Logik des Wesens" als re-flektierende Triplizität Reflexion setzt Trennung voraus, die Einteilung der Logik in „objektive Logik" (oder der „Logik des Seins") und in „subjektive Logik" (oder der „Logik des Begriffs" der Negation), „bestimmter aber hat sie drei Teile" mit der re-flektierenden „Logik des Wesens" {Log. I. 47), der ReflexionsLogik:

neu gefaßt zu haben als „Grundbeziehung" von „objektiver Logik", „subjektiver Logik" und re-flektierender „Logik des Wesens". In der ausdrücklich neuen Gestaltung liegt Hegels schöpferische Kongenialität mit den schon vorgestellten Typen des Einen Symbolums.

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Die unbestimmte Bestimmung als horizontale Trias, mit der auf der Stelle die Bestimmung der Negation (in ihrer Doppelfunktion) da ist und das reflektierende Bestimmte als vertikal hervorgegangene aufhebende Triplizität machen zusammen das Symbolum von Trias und Triplizität aus. Trias und Triplizität gehören zusammen und sind doch unendlich unterschieden wie das Eine und Vereinzelte und Vereinzelte, die sich in ihrer Bestimmtheit erkennen. So ist die Reflexion total geworden, „totale Reflexion" (Log. II. 243), die als „totale Reflexion” (ebd. 392) in der Form der logischen „Aufhebung", der theologischen „Erhebung" und der religionsphilosophischen „Versöhnung" Eine Re-flexion ist. Die (vereinzelte) Triplizität setzt die Idealität der Trias voraus, deren unbestimmte Bestimmung der Negation sie als unendlich re-flektierende, un-endlich identifizierende Differenz bewahrt und erhält. “ In den Typen der reflektierenden Triplizität als „Aufhebung", „Erhebung", „Versöhnung" geht es also aufwärts und nicht nach rechts oder links.

VII. Das reflektierende Individuum als „absoluter Geist” 1. Die Triplizität von Sein - Urteilen - Wollen als „das Leben des Geistes" Mit der „objektiven Logik" oder der „Logik des Seins" als unbestimmtes reines bestimmendes Sein ist augenblicklich das Urteil da, die Negation, Individuation oder Differenz (der Identität), der spekulative Anfang (von Identität und Differenz), der Reflexion ist. Das re-flektierte verein-

“ „Zugleich ist dies (aber) ein Anderswerden der reinen Form des Schlusses" (Log. II. 321). „Als Resultat aufgefaßt ist es das aus dieser Bewegung herkommende, das bestimmte Negative, und hie(r)mit ebenso ein positiver Inhalt" (Phän. 49): vereinzeltes Sein. Die Aufhebung (Erhebung, Reflexion) im Gang der Hegelschen Grundbestimmung wird also individuell getragen (und verantwortet) und nicht politisch, d. h. auf der Ebene der Vielen (nokkoi). Das Verhältnis der (vereinzelten) Philosophen zu den Vielen und damit zum Politischen ist nie als ein Segen betrachtet worden, in Hegels Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts als „Kreuz der Gegenwart". Vgl. hierzu Michael Haller: System und Gesellschaft. Krise und Kritik der politischen Philosophie Hegels. Stuttgart 1981. 202 ff. “ Hans Friedrich Fulda hat sich vorgenommen, den spekulativen Idealismus auf eine „tieferdringende Weise zu brechen, als es bisher gelungen ist". Vgl. seinen Beitrag Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-183V. In: Klassiker der Philosophie. Hrsg. v. O. Höffe. Bd 2. München 1981. 62-92; Zitat: 92. “ Die „objektive Logik" als unbestimmte Bestimmung kann keinen objektiven „Anfang" haben und die bestimmte „subjektive Logik" keinen subjektiven „Anfang" (was ich schon erörtert habe). Der spekulative Anfang setzt den notwendig bestimmten (vereinzelten) Gegen-wurf voraus und ist „Etwas" („und ein Anderes").

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zelte Sein hat das bestimmte Urteil - die Negation in ihrer Doppelfunktion - erkannt und ist im Erkennen seiner Bestimmtheit bestimmend geworden mit dem Willen zur idealen Einung als „Aufhebung", „Erhebung", „Versöhnung" oder zur Vereinzelung - bis zur „äußersten Spitze" (vgl. Anm. 49).^ Sein - Urteil - Wille macht das augenblickliche Bestehen des vereinzelten Seins aus, und im Sein - Urteilen - Wollen vollzieht sich „das Leben des Geistes" von „Etwas" und „einem Anderen". Frei ist „Etwas", das auch „ein Anderes" als frei erkannt hat; frei wäre „Etwas", wenn es „ein Anderes" in seinem momentanen freiwilligen Bestimmen erkennen würde. Das Moment des freien Willens macht die wechselseitige Reflexion so schwierig, die mit der un-endlichen idealen Re-flexion Eine (totale) ist: „absolute Methode". 2. Die „Idee Gottes" als der „absolute Geist" Die „ewige Idee" als „Gott selbst" ist die „heilige Dreieinigkeit" (Rel. Ilb. 74), die als unbestimmte Bestimmung der Negation triplizitär hervorgegangen oder geworden ist: re-flektierende „Idee Gottes". Die Bestimmung (des Bestimmten) als „Idee Gottes" ist in „Gott selbst", der Idee selbst; die hervorgegangene reflektierende „Idee Gottes" ist also das andere seiner selbst, wie der hervorgegangene „heilige Geist" der unendlich - endlich - un-endlich reflektierende „absolute Geist" ist als anderes seiner selbst. Das Symbolon von horizontaler Trias, mit der augenblicklich, actuell, die vertikale Triplizität da ist, ist seit PLATON mit der Hauptgrundbestimmung der Negation, der Individuation verknüpft, die Hegel - in dieser Gedoppeltheit - spekulativ wiederentdeckt hat.“ Der „absolute Geist",

Es war Platins philosophische Leistung, auf die Doppelfunktion der Negation als Voraussetzung des freien Willens aufmerksam gemacht zu haben (vgl. Anm. 19). Insbesondere seit Augustinus wird sie im (systematischen) Christlichen Idealismus tradiert. Zum „Leben des Geistes" vgl. Phän. 29; Log. II. 415. Vom Leben des Geistes ist der Titel des zweibändig erschienenen Nachlasses von Hannah Arendt (München, Zürich 1979), der sich nicht ausdrücklich auf Hegel bezieht. Bd 1 (Das Denken), Bd 2 (Das Wollen) und der geplante Bd 3 (Das Urteilen) sind nicht im systematischen Grundzug angelegt. Die Bearbeitung der Lemmata stimmt aber den Dreiklang an, durch den sich die Eine logische Reflexion signalisiert. ^ Wiewohl auch spekulative Sätze des Thomas von Aquin im späteren „Thomismus" aufgehoben sind, hat sich nie jemand ernsthaft mit seiner Individuationslehre befaßt, die u. a. 1277 folgend durch die Kirche verurteilt worden ist. In der Verurteilung sind die Thesen selbst nicht widerlegt worden; die Verurteilung zielt eher auf die (gleichrangige) Vereinbarkeit von spekulativen Argumenten im Aristotelischen Kontext mit der überbietend gesetzten Glaubenslehre, womit die Prägung credo vt intelligam auseinanderbrach und das Ende

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die „Idee Gottes" als aufhebendes Gewordenes (oder Aufgehobenes) ist der einzelne Mensch in der „totalen Reflexion", dem das Prinzip der Negation, Individuation anhaftet, durch das er (werdend) ist.^^ Wo die Trias und die Triplizität, „Gott selbst" und die „Idee Gottes" (gegen den Hegelschen Text) sozusagen „vereinfacht" wird, wird Gott und Mensch identifiziert, die Hauptgrundbestimmung der Negation, Individuation unterschlagen und mit ihr die Reflexion, in der die individuelle Freiheit des Widerspruchs gegründet ist. Darauf wird noch zurückzukommen sein. 3. Das „absolute Wissen" und der „Weltgeist" Der durch die (unbestimmte) Bestimmung der Negation, Individuation re-flektierte oder gewordene vereinzelte Geist ist unendlich (unbestimmt) endlich (bestimmt) und un-endlich (bestimmend) zugleich; absolute Differenz der Identität, ab-solute Triplizität der Trias, die die Identität in sich hat und vor sich zugleich. Wie die Negation, Individuation erscheint die Zeit „als das Schicksal und die Notwendigkeit des Geistes, der nicht in sich vollendet ist" {Phän. 558). Durch die Negation, Individuation, die Zeit ist, ist der vereinzelte Geist un-endliches „Werden seiner zu dem, was er an sich ist" (ebd.), „Werden zum Geiste" (ebd. 563) als evcooig, üecaoig, wodurch sich der aufhebende, erhebende, versöhnende vereinzelte Geist realisiert und in dieser fortschreitenden Realisierung zugleich in seinem Begriffe der Negation, Individuation, Zeit bleibt: „Diese letzte Gestalt des Geistes, der Geist, der seinem vollständigen und wahren Inhalte zugleich die Form des Selbsts gibt, und dadurch seinen Begriff ebenso realisiert, als er in dieser Realisierung in seinem Begriffe bleibt, ist das absolute Wissen" (ebd. 556). Die Idealisierung, Identifizierung schreitet fort, wiewohl das Ideale ideal bleibt;

des Mittelalters sich ankündigt, ln dem intellektuellen Milieu nach der kirchlichen Verurteilung des Thomas durch die Universitäten von Paris und Oxford setzte sich Duns Scotus nur polemisch mit der Individuationslehre des Thomas auseinander und Francisco Suärez nur partiell, da er die unterschiedlichen Positionen von Thomas, Duns Scotus und auch von Wilhelm von Ockham im Gang der Reformation zusammenzubringen versuchte. Das Prin-

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Das „absolute Wissen" drückt die Grundbeziehung von Trias und Triplizität aus. „Sich wissende Wahrheit" ist das „absolute Wissen", weil es seine Herkunft noch an sich hat: „alle Bestimmtheit in sich enthält" (Log. II. 484). Hegels Wissen von Wahrheit als Resultat seiner Wissenschaft der Logik stimmt von der Sache her mit der aXiideia des PARMENIDES überein (wiewohl erst PLATON den trinitarisch aussagenden Xöyoq entfaltet hat). Beides zusammen, das System in der Entwicklung und die Geschichte in ihrer Entfaltung, ist „die begriffne Geschichte" des (vereinzelten) „absoluten Geistes" (Phän. 564), der allgemeiner „Volksgeist" und allgemein „Weltgeist" wird: Der „Weltgeist" ist das allgemeine Bewußtsein, daß jeder vereinzelte Mensch - bestimmt und bestimmend zugleich - „Idee Gottes", „absoluter Geist" ist und nicht „nur Einige Menschen" (Enz. 415, 426). Durch die Hauptgrundbestimmung der Negation, Individuation, Zeit ist der „Weltgeist" überall: hier und heute „ein wesentlich individueller, persönlicher, und von unendlichem, absolutem Werte. Gott will, daß allen Menschen geholfen werde". (Syst. 75) Die Bereitschaft zum Verständnis des Hegelschen „Weltgeistes" setzt die Bereitschaft zum Verständnis des unkürzbaren trinitarischen Symbolons voraus, die Bereitschaft zum Christlichen Gottesverständnis ist.

VIII. Die spekulative Mystik und die Ebene der Vielen 1. Die spekulative Mystik und die Religion Das Bild ist Inhalt der Spekulation, die bildhaft äußere Reflexion ist. Der als äußere Reflexion erscheinende bildhafte Inhalt der Religion spricht früher als die Wissenschaft aus, „was der Geist ist", aber die Wissenschaft „ist allein sein wahres Wissen von ihm selbst" (Phän. 559): „immanente Reflexion", die die „äußere Reflexion" sozusagen durchschaut und mit ihr untrennbar aber differenzierbar „Eine Reflexion" ist.^ Wiederer-

zip der Einzeldinge von Leibniz (principio individui) ist aus dieser „Mischform" hervorgegangen, von der sich das Prinzip der Vereinzelung (principium individuationis) pointiert unterscheidet (was ich in meinem in Anm. 6 erwähnten Beitrag präzisiert habe). „Im Tode kommt das Moment der Negation zur Anschauung." (Rel. Ilb. 165) ^ Zu der schon angesprochenen „äußeren Reflexion" und „immanenten Reflexion", die „Eine Reflexion" ist, vgl. die ebenfalls schon vorgetragene logische „Aufhebung" und theologische „Erhebung" als Ein reflexives untrennbares aber differenzierbares Parallelyerfahren zum Einen lögos (als Trias).

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kennend sind wir von Hause aus. Mit der „äußeren Reflexion" als „Ebenbild" ist auf der Stelle die tiefergehende Reflexion da, die erkennende Rekonstruktion des Bildes ist; „Was ist Gott?" {Werke 15. 608) Nach der Christlichen Gottesvorstellung hat Gott als Trias gesprochen „et ait faciamus hominem ad imaginem et similitudinem nostram" (Genesis 1,26). Das „kindliche Verhältnis" {Rel. 11b. 72) von „Vater-Sohn", das alle verstehen, hat Hegel auf die „Objektive Logik" (als Trias) gebracht, die er ausdrücklich nicht mit Hypostasen versehen hat. Die hypostasenlose Trias „Objektive Logik" unterscheidet sich von der Trias bei PLATON, bei ARISTOTELES, die Hypostasenunion ist. Statt dessen ist der bestimmende Gang der Objektiven Logik „immanente Reflexion" der „äußeren Reflexion" als der Christlichen Religion, mit der sie untrennbar aber differenzierbar „Eine Reflexion" ist: „absoluter Geist" der „absoluten Religion". So hat sich die Religion „mit ihrem Begriff identifiziert" und ist „sich objektiv" logisch geworden {Rel. llb, 4). 2. Die Beziehung von „absoluter Religion” und Staat bei Hegel Die „absolute Religion" ist die Christliche Religion, deren „Gemeinde" - aus Vereinzelten - die triplizitäre Grundoperation selbstbewußt in sich hat: Alle Menschen sind von Natur aus individuell. Darin liegt ihre Gleichheit, die im Staat die Form gewußter sittlicher Allgemeinheit hat. „Das Volk, das einen schlechten Begriff von Gott hat, hat auch einen schlechten Staat, schlechte Regierung, schlechte Gesetze." {Rel. la. 303) Der konkrete bestehende Staat ist somit die „äußere Reflexion" seiner „inneren Reflexion", seiner Religion. Die „äußere Reflexion" der idealen „inneren Reflexion" als der „absoluten Religion" - die sich objektiv logisch geworden ist - ist „die Idee des Staates", dessen Realität „die selbstbewußten Individuen" sind {Log. II. 410).*^ Hegels „Idee des Staates", die mit keiner bestehenden Verfassung identisch ist, wird konsequent logisch durch „die selbstbewußten Individuen" getragen. Deswegen ist die „Idee des Staates" in ihrer Realität endlich (hier und jetzt) und un-endlich „sich auf sich beziehende Entwicklung" {Enz. 413). Die „Idee des Staates" ist also

„Wenn man die religiöse Wahrheit geschichtlich behandelt, so ist's mit ihr aus... Das Volk, das nicht mehr konkrete, nicht gedrungen-bleibende Vernunft in sich enthält, das im Drange seines Innern sich nicht zu helfen weiß, die Klasse, in deren Bildung die Wahrheit nur in der Vorstellung sein kann..., ist verlassen von seinen Lehrern." {Rel. Ilb, 230 f)

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ausdrücklich nicht „absolut" (aufhebend, erhebend, versöhnend), ihr fehlt das unendliche (göttliche) Moment. Die „absolute Religion" garantiert im Staat die un-endliche freie Persönlichkeit. Der „sich auf sich beziehende" Staat bedarf deswegen grundsätzlich der „absoluten Religion", ihrer „selbstbewußten Individuen" in der „totalen Reflexion" des einen zum einen und Einen, die seine „innere Reflexion" ist. 3. Trinität und Geschichtsverlauf Die Trias ist die „Grundbestimmung der christlichen Religion" {Rel. la. 47). Das bestimmende oder tätige Verbum oder der hervorgehende lögos als Christus hat als Vermittelndes seine Herkunft, die horizontale Trias, ganz an sich. Auch der bestimmte oder geschaffene Mensch (ad imaginem et similitudinem nostram) ist vereinzeltes Bild der unteilbaren Trinität, „Ebenbild Gottes" {Rel. 11b. 149). ln der Christlichen Gottesvorstellung als Trias - die spekulativ eine neue Weltschöpfung war - hat jedes (vereinzelte) Bestimmte oder Geschaffene, was (Zeit) ist, die untrennbare Dreiheit an sich, Vater - Sohn - Hl. Geist: das „Reich Gottes". Die „Grundbestimmung" kennt also den Status der incarnatio und genesis und den Status der resurrectio und thöosis. Der Status des gewordenen Werdens folgt aus dem Werden, hat aber durch den „Wendungspunkt" eine andere Qualität: Geschichte, ln der (un-endlich) aufhebenden, versöhnenden, progressiven Geschichte ist die Trinität jederzeit ungekürzt repräsentiert. Wo das „Reich Gottes" also zeitlich auseinandergedeutet wird als aufeinanderfolgendes „Reich des Vaters", „Reich des Sohnes", „Reich des Geistes" (vgl. A., B. und C. der „absoluten Religion" in Rel. Ilb) ist die re-flektierend-progressive Geschichte „geschichtlich behandelt" worden, wodurch sie spekulativ oder mystisch verkürzt wurde. Bei Hegel

Die menschliche Gestalt hat „in sich selbst die Forderung der Erhebung und darum scheint es widrig, wenn diese Forderung niedergeschlagen wird zum Beharren bei gemeiner Endlichkeit". (Rel. Ib. 126) Aus diesem Grund hat schon das IV. Laterankonzil die status-Lehre des Zisterzienserabtes Joachim von Fiore verworfen. Thomas und Bonaventura haben sie als theologisch unhaltbar zurückgewiesen: Alles vereinzelte oder geschaffene Sein muß jederzeit vom trinitarischen Schöpfer geprägt sein. Deshalb ist es unzulässig, einen dreigestuften Geschichtsverlauf gesondert und überbietend jeweils einer einzelnen göttlichen Person zuzuordnen. Zu Bonaventura und Thomas in ihrer Auseinandersetzung mit Joachim von Fiore vgl. die Habilitationsschrift von Winfried H. J. Schachten: Ordo Salutis. Das Gesetz als Weise der Heilsvermittlung, Zur Kritik des hl. Thomas von Aquin an Joachim von Fiore. Münster 1980. 193 ff.

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läßt sich der spekulative trinitarische Geschichtsbegriff und der geschichtlich behandelte trinitarische Geschichtsbegriff klar unterscheiden.^^ Aus dieser Unterscheidung ist die „Lutherische Fassung" die „geistreichste, jedoch nicht spekulativ" {Rel. Ilb. 213). In der „Erklärung zur 1600-Jahr-Feier des Glaubensbekenntnisses von Nizäa-Konstantinopel", Pfingsten 1981, haben sich die Christlichen Kirchen ausdrücklich zum unteilbaren horizontal-vertikalen oüpßoLov bekannt, das über geschichtliche „Behandlungen" hinaus das gemeinsame spekulative, mystische „Hauptmoment" trägt, bewahrt und erhält.

IX. Zur Aktualität der spekulativen Mystik nach Hegel Schon Hegels „Grundriß des ersten Systems" aus der Jenenser Zeit 1800-1806 geht „Vom göttlichen Dreieck"^'* voraus. Das untrennbare aber differenzierbare mystologische Symbolen von horizontaler Trias und vertikal wirkender Triplizität hat er in der Wissenschaft der Logik - die ein Opus tripartitum ist - als unverwechselbares Resultat der einen „logischen Philosophie" (Syst. 34) auf die Begriffe der hervorgehenden „Objektiven Logik", der zurückwerfenden „Subjektiven Logik" und der unendlich reflektierenden „Logik des Wesens" gebracht. Mit der dreifältigen Hauptgrundbestimmung der Negation - Individuation - Materie, durch die „Etwas" („Bestimmtes") da ist und ein anderes, ist die Wissenschaft der Logik im Vereinzelten konkret geworden. Die dreifältige Hauptgrundbestimmung der Negation - Individuation - Materie in ihrer Doppelfunktion ist also die Ursache der individuellen Freiheit, die bestimmt ist und bestimmend zugleich.

^ Das „Reich des Geistes" hat er mit dem „protestantischen Princip" {Werke. 15.328) identifiziert. ^ Die Erklärung der Christlichen Kirchen wurde herausgegeben vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Bonn) und der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Hannover. ln: Dokumente zu Hegels Entwicklung. Hrsg. v. J. Hoffmeister. 303 ff. Siehe hierzu auch Anm. 43. Die Rekonstruktion der Hegelschen Logik ist an das Symbolon von Triplizität und Trias geknüpft, die ihr als unbestimmte Bestimmung (der Negation) untrennbar aber differenzierbar vorausgeht. Wer die Hauptgrundbestimmung der Negation - Individuation - Materie verwirft - wie das der Materialismus tut - verwirft auch die logische Dialektik oder verwebt sie camouflierend mit der Engelsschen „dialektischen Logik", mit der Arseni Gulyga in seinem „Hegel-Buch" taktiert; vgl. A. Gulyga: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Frankfurt am Main 1981.

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Abkürzungen benutzter Hegel-Ausgaben: Log. I-II = Wissenschaft der Logik. Hrsg, von G. Lassen. 2 Teile. 2. Aufl. Leipzig

1932-34 u. öfter. (Philos. Bibi. 56-57.) Bew. = Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes. Hrsg, von G. Lassen. Leip-

zig 1930 u. ö. (Philos. Bibi. 64.) Rel. la-llb = Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hrsg, von G. Lassen. (2 Bände in je 2 Halbbänden.) Leipzig 1925-29 u. ö. (Philos. Bibi. 59-61, 63.) Enz. = Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Hrsg, von F. Nicolin und O. Pöggeler. Hamburg 1959 u. ö. (Philos. Bibi. 33.) Phän. = Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von J. Hoffmeister (1. Aufl. 1937). Hamburg 1952 u. ö. (Philos. Bibi. 114.) Werke = Werke. Hrsg, durch einen Verein von Freunden des Verewigten. Bd 13-15: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Berlin 1833-36. Syst. = (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie) System und Geschichte der Philosophie. Die Berliner Niederschrift der Einleitung (1820). Hrsg. v. J. Hoffmeister. Leipzig 1940 u. ö. (Philos. Bibi. 166.)

(Röderberg-Taschenbuch 3ü.) Nach der aus dem Russischen übers. 1. deutschsprachigen Aufl. Leipzig 1974. Der mit Kommunismus und Sozialismus zusammenfallende Materialismus (Einheit der Materie und Vereinzelung zugleich!) geht hinter das Prinzip der Individuation zurück und ist Empfindungs-Mystik, organisierte Empfindungs-Mystik. Lenin fordert ausdrücklich, daß die „Empfindungen" die (mit Kommunismus und Sozialismus organisierte) „Materie" kopieren, fotografieren, abbilden (vgl. Materialismus und Empiriokritizismus. In: Lenin: Werke Bd 14. 124). Vgl. in diesem Zusammenhang meinen in Anm. 1 angegebenen Beitrag Zwei Typen von Resultat. 121 ff. Ebd. verweise ich auch auf die „dialektische Logik" von Engels (eine Sprachregelung, die es bei Hegel überhaupt nicht gibt) im Kontext mit der „Feuerbachschen Dialektik" (Marx).

KLAUS DÜSING (KÖLN)

POLITISCHE ETHIK BEI PLATO UND HEGEL

Für die heutigen Diskussionen um Begründungen einer Ethik muß ein breiteres Spektrum von Fundierungsmöglichkeiten allererst wiedergewonnen werden. Gegenwärtig wird vor allem die Alternative zwischen Utilitarismus und Deontologie mit ihren jeweiligen Spielarten erörtert. In diesen Richtungen werden die Grundsätze der Ethik entweder auf dem Gebiet der ethischen Zweck- und Güterlehre oder auf dem Gebiet der ethischen Pflichtenlehre aufgestellt. Die Bestimmung ethischer Prinzipien auf diesen beiden Gebieten als zentralen Untersuchungsgegenständen einer Ethik kann auf eine lange, variantenreiche Tradition zurückblicken. So suchten z. B. die Stoiker oder KANT in der ethischen Pflichtenlehre die Grundlagen der Ethik; im höchsten Gut als Eudaimonia suchten solche Grundlagen z. B. ARISTOTELES oder EPIKUR, in anderer Weise auch SCHLEIERMACHER oder aber MILL. Ein drittes zentrales Gebiet ethischer Untersuchung ist die Tugendlehre; werden in ihr die Grundlagen der Ethik gesehen wie etwa von PLATO, SO entsteht eine von den vorigen unabhängige ethische Prinzipienlehre; auch die englische Gefühlsethik ist in ihrer Theorie von den sittlichen Gefühlen als anthropologisch konstanten Dispositionen sittlichen Handelns mit dieser Art einer Fundierung der Ethik vergleichbar. - Diese Ethikbegründungen, die ihre Prinzipien aus unterschiedlichen Gebieten ethischer Untersuchung entnehmen, sind noch wesentlich zu differenzieren; zum einen können jene Prinzipien empirisch oder rein rational sein; zum andern können sie - hinsichtlich ihrer Referenz - primär für Individuen oder primär für ein sich organisierendes ethisches Gemeinwesen gelten. Zwischenstufen oder Vermittlungen zwischen solchen Alternativen und unterschiedliche Kombination unter den erwähnten Grundkonzepten für ethische Prinzipien vervielfältigen die Möglichkeiten einer Fundierung der Ethik.' ’ Vgl. zu diesen Fundierungsmöglichkeiten auch vom Verf.: Kant und Epikur. Untersuchungen zum Problem der Grundlegung einer Ethik, ln: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie. 1 (1976), 39 ff.

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Im folgenden sollen nun Weisen der Begründung und des Aufbaus sowie sittliche Einsichten einer Ethik, die sich primär auf ein sich organisierendes Gemeinwesen bezieht, d. h. einer politischen Ethik in ihren Möglichkeiten und Problemen untersucht werden. Der politische Sinn einer solchen Ethik betrifft dabei - vom Gedanken der Polis-Sittlichkeit her das sittliche Verhalten der Menschen als Bürger eines solchen Gemeinwesens, sie mögen aktive Politik betreiben oder nicht, sowie das Ethos in diesem Gemeinwesen insgesamt. Zugleich gilt es, Bedeutung und Funktion des Individuums in dem ethisch-politischen Ganzen zu klären. Ebenso muß erörtert werden, ob eine derartige Ethik notwendig holistisch ausfällt, d. h. von der Gemeinschaft als einem sittlichen Ganzen ausgehen muß, das alles ethische individuelle Streben fundiert. Diese Fragen seien an PLATOS Begründung der Ethik und Hegels Interpretation dieser Begründung vor dem Hintergrund seiner eigenen Konzeption einer Ethik erörtert; dabei wird sich jeweils die Stellung jener Ethik-Auffassungen zur Pflichten-, Zweck- und Tugendlehre sowie zur apriorischen im Unterschied zur empirischen Bedeutung der ethischen Prinzipien zeigen. Es war vor allem Hegel, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts die PLATOnische Philosophie in ihrem eigenen geschichtlichen Horizont und zugleich in ihrem Wahrheitsanspruch wieder ernst genommen und gewürdigt und damit die weitere PLAio-Forschung bis heute beeinflußt hat. Dabei hat er PLATO nicht nur interpretiert oder von seiner eigenen Theorie aus umgedeutet, sondern auch durchaus PtATonische Einsichten in seine Konzeption aufgenommen. Dies gilt nicht nur für die Lehre vom Schönen, der insbesondere der junge Hegel eine Zeitlang in seinem HöLDERLIN folgenden ästhetischen PLATonismus zugetan war; es gilt vor allem für die PLATonische Dialektik und Ontologie, die von besonderer Bedeutung für Hegels spekulativen und methodischen Ansatz war^; und es gilt auch für PLATOS Begründung einer politischen Ethik, die Hegel vor allem in seiner Jenaer Zeit in vielem als Vorbild ansah und die er zur Evidenzsteigerung seiner KANT-Kritik in Anspruch nahm; sein späteres Urteil über die PLATonische Ethik modifizierte und differenzierte sich mit der Weiterentwicklung seiner eigenen politischen Ethik. Eine selbständige Beurteilung von Hegels PLATO-Deutung und eine

^ Vgl. dazu vom Verf.: Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel. In: Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte. Hrsg. v. Chr. Jamme und O. Pöggeler. Stuttgart 1981. 101-117 und - mit weiteren Literaturangaben - vom Verf.: Ontologie und Dialektik bei Plato und Hegel. In: Hegel-Studien. 15 (1980), 95-150.

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Darlegung der systematischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen PLATonischer und Hegelscher politischer Ethik verlangt eine eigene Betrachtung der Lehre PLATOS. SO seien in einem ersten Teil zunächst Probleme der Begründung einer Ethik als Tugendlehre und die Frage nach der Einheit der Tugenden sowie nach der politischen Bedeutung von Tugenden in PLATOS früheren Dialogen umrissen; PLATOS Lösung sei dann anhand der Politeia untersucht; dabei soll die Bestimmung der Sittlichkeit der idealen Polis, die Bedeutung des ethisch handelnden Einzelnen in ihr sowie die ontologische Fundierung der Tugenden in Ideen immer im Hinblick auf den spezifisch PLATonischen Ethik-Ansatz dargelegt werden. In einem zweiten Teil sei zunächst Hegels Rekurs auf diese PLATonische Lehre in den frühen Jenaer Jahren hervorgehoben, die er als Bestätigung seiner holistischen politischen Ethik ansieht, zugleich aber in seiner damaligen spinozistischen Substanzmetaphysik fundiert. Mit der Konzeption einer Theorie der absoluten Subjektivität ändert sich auch Hegels Stellungnahme zu PLATOS Ethik. So sei dann Hegels differenzierte spätere Deutung, Adaption und Kritik dieser Ethik anhand der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie dargelegt und eingefügt in den Horizont von Hegels späterer politischer Ethik. Deren Möglichkeiten und Probleme insbesondere hinsichtlich ihrer Integration in eine Staatstheorie und hinsichtlich ihrer metaphysischen Begründung sollen dabei zugleich sichtbar werden.^

I. Platos Begründung einer politischen Ethik als Tugendlehre a. Die Einheit der Tugenden in den früheren Dialogen PLATOS Ethik

ist grundlegend Tugendlehre. An diesem spezifischen Ansatz einer Ethik geht man vorbei, wenn man versucht, sie auf eine Lehre von sittlichen Normen bzw. Pflichten oder auf eine Lehre von sittlichen Zwecken bzw. von einem höchsten Zweck, etwa der Eudaimonia, zurückzuführen. ^ Vielmehr ergibt sich für PLATO erst aus der Tugend das ^ Das Folgende stellt die Ausarbeitung eines Beitrages über Platos Politeia und Hegels Jenaer Theorie der Sittlichkeit dar, den ich in Nijmegen (1980) und in Dubrovnik (1981) diskutieren konnte. Meinen Gesprächspartnern, insbesondere Adriaan Peperzak, verdanke ich freundliche Anregungen, die ich versucht habe zu berücksichtigen. ^ Es kann dann geschehen, daß man, da man keine klare moralische Normenlehre in Platos Ethik findet, auf einen Eudämonismus in ihr schließt; vgl. den geistreichen, bewußt

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sittliche Ziel des Lebens und die Vorstellung, wie jeweils gehandelt werden soll. - Für den Aufbau einer Ethik als Tugendlehre ist freilich zuerst erforderlich, daß man den einheitlichen Grund der vielen Tugenden oder deren Prinzip auffindet. Aus diesem muß dann auch das Verhältnis von Tugend und Eudaimonia einsichtig werden, an dessen Klärung PLATO in seiner Auseinandersetzung mit den Sophisten besonders gelegen ist. Die Tugenden kommen ferner in PLATOS früheren Dialogen zwar primär Einzelnen zu; doch kann man aus dem Prinzip der Tugend und aus einzelnen Tugenden entnehmen, daß Tugend in sich selbst in der Regel eine politische Bedeutung hat. Dadurch läßt sich dann eine Tugendlehre als politische Ethik konzipieren und durchführen, wie PLATO sie in der Politeia darlegt. In den früheren PLATonischen Dialogen stellt SOKRATES die Frage, was diese oder jene Tugend, was etwa Tapferkeit, Frömmigkeit oder Gerechtigkeit jeweils ist.® Die Verwirrung der Gesprächspartner in ihrer Reaktion kann als Anzeichen für die Neuartigkeit der Fragestellung angesehen werden. In kritischem Ausgang von gängigen, traditionellen oder sophistischen Ansichten über Tugenden werden besondere Verhaltensweisen und Haltungen an der zu bestimmenden Tugend erprobt, von der die Dialogteilnehmer voraussetzen, daß sie über PRODIKOS' Wortunterscheidungen hinaus als identischer Sachgehalt einer gemeinsamen sittlichen Einsicht zugänglich ist. Die Versuche, eine dieser Tugenden zu bestimmen, führen jedoch nicht zu einer Definition, die aufrechtzuerhalten wäre; die Bestimmungen erweisen sich entweder als inkonsistent oder als zu spezifisch oder als zu allgemein. Insbesondere am Schluß solcher Bestimmungsversuche zeigt sich, daß die besondere Bedeutung einer Tugend in Abhebung von den anderen Tugenden nicht festgehalten werden kann. Am Ende des Lackes stellt sich heraus, daß die Tapferkeit eine allgemeine Erkenntnis der Güter und Übel, also ein Wissen ist, wie es aller Tugend zukommt.® Im Euthyphron erscheint das Fromme als ein Teil des

pointierten Versuch von K.-H. Ilting: Bedürfnis und Norm. Platons Begründung der Ethik. In: Vernünftiges Denken. W. Kamlah zum Gedächtnis. Hrsg, von J. Mittelstraß u. M. Riedel. Berlin, New York 1978. 420-446. Dessen Auffassung kritisiert, freilich die Eudämonismus-These nur modifizierend, H. Reiner: Platons Begründung der Ethik, ln: Zeitschrift für philosophische Forschung. 36 (1982), 223-229. ® Zu dieser Frage vgl. z. B. E. Kapp: The Theory of Ideas in Plato's Earlier Dialogues. In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Berlin 1968. 5^150, bes. 62 ff. Kapp ist allerdings der Auffassung, zur Beantwortung dieser Frage seien eigentlich nur Begriffe, nicht schon Ideen erforderlich. ® Vgl. dazu W. Wieland: Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 1982. 187 ff.

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Gerechten; es wird jedoch, weil ein Zirkel auftritt, nicht spezifischer bestimmt. Im Gorgias geht die Gerechtigkeit ebenso wie die Frömmigkeit und die Tapferkeit in der Besonnenheit auf. Im Charmides lautet eine Bestimmung, besonnen sei, wer das Seinige tue; dies entspricht der Bestimmung der Gerechtigkeit im vierten Buch der Politeia. Im Charmides geht PLATO aber darüber hinweg; diese Bestimmung trifft nicht spezifisch die Besonnenheit. Eine weitere Bestimmung der Besonnenheit im Charmides, nämlich: Sichselbstkennen, erweist sich als unbrauchbar. Sie entbehrt also desjenigen Vorzugs, der insbesondere der Weisheit zukommt, die nach dem Euthydemos anwendbares und glückbringendes Tugendwissen und damit überhaupt das ethisch Gute ist. So zeigt sich bei diesen Versuchen insgesamt, daß die Tugenden keine spezifische Bedeutung gewirrnen, daß sie ineinander übergehen oder daß die Tapferkeit, die Besonnenheit oder die Weisheit jeweils für die Tugend überhaupt stehen. Eine isolierte Definition einer Tugend ohne Betrachtung der wechselseitigen Spiegelungen der Tugenden ineinander und vor allem ohne Bestimmung der Tugend insgesamt, d. h. in PLATOS Ansatz des eigentlichen Grundes der Sittlichkeit gelingt also nicht. Somit stellt sich die Frage nach der Einheit der Tugend in den vielen Tugenden. Ausdrücklich erörtert PLATO im Protagoras und dann im Menon, was die Tugend selbst sei. Damit schneidet er das zentrale Problem einer Ethik an, die als Tugendlehre begründet wird; gefragt wird hierbei nach dem Wesen des Sittlichen als solchen. Diese Frage wird von PLATO in unterschiedlicher, nämlich grundlegend in dreifacher Weise aufgefaßt, ohne daß er selbst die Unterschiede artikuliert hätte. Erstens fragt PLATO, ob jemand, der eine Tugend besitzt, alle Tugenden besitzen müsse, ob z. B. ein Tapferer notwendig zugleich gerecht sei.^ Die Einheit der Tugenden, die PROTAGORAS im gleichnamigen Dialog zunächst bestreitet, die SOKRATES aber für erforderlich hält, wird dabei als kollektive Einheit verstanden, die einer Person oder einer Seele zukommt, die tugendhaft, d. h. sittlich sein soll. Das Verhältnis der einzelnen Tugenden zur Tugend ^ Vgl. Protagoras 329e (die Seitenangaben beziehen sich auf die Plato-Ausgabe von Henricus Stephanus von 1578). Stenzei versteht die Frage nach der Einheit der Tugenden in dieser ersten Weise; vgl. j. Stenzei: Wissenschaft und Bildung im platonischen Erziehungsbegriff. In: Ders.: Kleine Schriften zur griechischen Philosophie. Darmstadt 1972. Bes. 278 ff. - Zu den verschiedenen Bedeutungen von Einheit in der These von der Einheit der Tugenden vgl. die Unterscheidungen, die z. T. ähnlich wie hier - jedoch ohne die prinzipielle ethische Fragestellung - vorgenommen werden, von G. Vlastos: The Unity of the Virtuos in the Protagoras. In: Ders.: Platonic Studies.2. Aufl. Princeton 1981. 221-265, 427ff.

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selbst wird in diesem Zusammenhang von PLATO nach dem Modell des Verhältnisses von Teilen zum Ganzen gedacht, wobei die Teile, also die Einzeltugenden, offenbar als voneinander verschieden anzusehen sind. Zweitens fragt PLATO, ob die Einzeltugenden als solche wie Tapferkeit, Gerechtigkeit, Besonnenheit usw. eine Einheit ausmachen, und zwar was PLATO freilich nicht hervorhebt - auch unabhängig davon, ob sie in einer sittlichen Person vereinigt sind. Im Protagoras sucht er zunächst nachzuweisen, daß einerseits Frömmigkeit und Gerechtigkeit und andererseits Besonnenheit und Weisheit nahe verwandt oder eins sind®; PROTAGORAS, der ursprünglich die These von der realen Verschiedenheit der Tugenden vertreten hatte, gibt dann sogar die nahe Verwandtschaft oder gar Identität aller vier Tugenden zu und sucht nur die Tapferkeit davon zu unterscheiden. Doch auch diese Abhebung gelingt nicht, wie SOKRATES zeigt. So gehen die Tugenden ineinander über und sind im Grunde eins. Daher ist es auch nicht von Belang, welche Tugend in den Frühdialogen die Bedeutung der Grundtugend bekommt, in der die anderen enthalten sind. Dieses Übergehen der Tugenden ineinander und deren inhaltliche Identität entspricht freilich nicht genau dem Modell der einzelnen Tugenden als verschiedener Teile eines Ganzen, der Tugend selbst. - Im Protagoras ergibt sich schließlich, daß, wie SOKRATES sagt, die Tugend selbst eine Erkenntnis (ejuaxfipT)) ist und daß alle Einzeltugenden in nichts anderem als in solcher Erkenntnis bestehen. Dies ist, verbunden mit der These, daß niemand das erkannte Böse freiwillig tue, ein Intellektualismus in der Ethik. Immerhin deutet PLATO jedoch die psychophysische Basis der Tugend speziell bei der Tapferkeit an; im Menon hält er sodann nicht daran fest, daß Tugend notwendig Erkenntnis oder Wissen sei; eine weitere Milderung des Intellektualismus fügt die Politeia durch die Einführung des Mutes (üupög) als der Fähigkeit der Durchsetzung bestimmter Tugend hinzu. Im Protagoras bleibt offen, ob die Einzeltugenden, die als Tugenden dort insgesamt Erkenntnis oder Wissen sind, aufgrund der jeweiligen psychophysischen Basis im Menschen bzw. auch aufgrund von unterschiedlichen Handlungskontexten verschieden sind oder ob sie einfach identisch sein sollen. Ferner stellt sich zwar heraus, daß diese Erkenntnis nicht einfach ein Techne-Wissen ist, das empirisch lehr- und erlernbar isü; aber welcher Art die grundlegend ethische Erkenntnis dann ist, bleibt ebenso offen wie die Vorstellung des Guten, das hier und * Vgl. Protagoras 331a-333b, zum Folgenden 349d, 359a-360e. ’ Vgl. zur Problematik der Analogie von Techne und Tugendwissen H.-G. Gadamer: Die

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auch sonst wesentliches Kennzeichen der Tugend ist. Dazu liefert erst die Politeia eine eindeutige Antwort. Drittens fragt PLATO nach der Ev-jro>t>tcx-Relation, die in seinem Problem der Einheit der Tugend angesichts der vielen Tugenden impliziert ist; sie wird besonders im Menon betont. In der Theorie des mittleren PLATO ist dies die Relation des Ideenwissens. Diese Relation ist aber nicht dekkungsgleich mit dem Verhältnis von Ganzem und Teilen, obwohl PLATO auch hieran im Menon zur Charakterisierung des Verhältnisses der Tugend überhaupt zu den einzelnen Tugenden festhält. Später wird - nach einer differenzierteren Ausbildung der Ideenlehre - im Parmenides (131b-e) anhand des Segeltuchgleichnisses ausdrücklich die Auffassung kritisiert, in den Vielen, für die die Eine Idee gelte, sei diese Idee selbst geteilt. Im Menon bleiben beide Möglichkeiten offen: Zum einen kann die Tugend überhaupt als das eiöog und die oüoi'a (72bc), wie es ausdrücklich heißt, also als die Idee und das Wassein der einzelnen Tugenden angesehen werden; diese sind, wie man ergänzen kann, erst durch „Teilhabe" an jenem Einen Eidos selbst Tugenden; ihre Unterschiede untereinander betreffen dann nur die psychophysische Basis im Menschen oder die Sifuafion der Handlung, also für PLATO Sinnlich-Unwesentliches. Die Lösung des Protagoras, der dem Menon in vielem unmittelbar vorausgeht, läßt sich in diesen Kontext leicht einfügen. Zum anderen werden die Tugenden als verschiedene Bestandteile der Einen Tugend gedacht. Dabei handelt es sich dann, soll dies konsistent möglich sein, um einen besonderen Fall der ev-jtoLLd-Relation, nämlich um das Verhältnis intellektueller Sachverhalte untereinander, um das Verhältnis von Ideen, so daß die spätere Kritik des Parmenides, die das Verhältnis von Ideen und Dingen angeht, hier nicht zutrifft. Welche Möglichkeit PLATO im Menon vorschwebt, ist nicht zu erkennen, da die Frage, was Tugend überhaupt sei, unbeantwortet bleibt. Auch hier schafft die Politeia Klarheit. - Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles. Heidelberg 1978. 23 f, auch T. Irwin: Plato's Moral Theory. The Early and Middle Dialogues. Oxford 1977. 6 ff, 24 ff. “ Vgl. zum Verhältnis des Eidos der Tugend zu den vielen Tugenden die Einleitung von R. S. Bluck in seiner kommentierten Ausgabe: Plato's Meno. 2. Aufl. Cambridge 1964. 4 ff. Er betont, von Eidos sei hier in Sokratischem, nicht in Platonisch-ontologischem Sinne die Rede ebenso wie im Euthyphron (224 f). Diese Unterscheidung, die auch sonst mehrfach vertreten wird, dürfte nicht nur wegen der historischen Probleme, sondern auch angesichts der Gleichung von Eidos und Ousia im Menon, angesichts des dortigen Unbestimmtbleibens der Tugend und angesichts der Tatsache, daß auch später für Plato die Idee nicht einfach ein „substantialisiertes Ding" ist, nur schwer aufrechtzuerhalten sein. Dabei bleibt zutreffend, daß nicht alle Bestimmungen der Idee hier zu finden sind (vgl. auch oben Anm. 5).

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dortige Lösung ist freilich nicht endgültig; der späte PLATO geht im Politikos von einer neuen Bestimmung der Entgegengesetztheit von Tapferkeit und Besonnenheit aus und stellt dann ebenso wie in den Nomoi wieder das Problem des Verhältnisses der vielen Tugenden zur Einen Tugend als Verhältnis von Teilen zum Ganzen auf; dieses Verhältnis kann freilich nicht mehr einfach harmonisch sein, sondern muß eine Verbindung entgegengesetzter Bestandteile enthalten. In den früheren Dialogen besteht nun in der Tugend und ihren Arten die Sittlichkeit des Einzelnen oder der einzelnen Seele. Dennoch ist der Tugend bzw. den Tugenden ein politischer Sinn immanent; sie betreffen in der Regel ganz selbstverständlich den Einzelnen als Mitglied eines Gemeinwesens, einer Polis. So spricht SOKRATES in der Apologie (20b) von der „menschlichen und politischen Tugend"; PROTAGORAS nennt in dem gleichnamigen Dialog als politische Tugenden insbesondere Gerechtigkeit und Besonnenheit, was PLATO nicht zurückweist. ” In der Erörterung einzelner Beispiele wird deutlich, daß PLATO den politischen Sinn der Tugenden in der Regel voraussetzt. Die Gerechtigkeit ist, wie insbesondere der Gorgias zeigt, das Charakteristikum spezifisch sittlichen Verhaltens eines Einzelnen gegenüber anderen Menschen in einem Gemeinwesen. In diesem Dialog ist sie ein Teil der Besonnenheit, die dort als Grundtugend gilt. Doch auch Tapferkeit und sittliche Einsicht oder Weisheit sind, wie aus PLATOS früheren Dialogen zu entnehmen ist, Tugenden des Einzelnen, die zugleich sein Verhalten in der und für die Polis betreffen. Nur die Frömmigkeit, aufgrund deren Gebührendes den Göttern gegenüber getan wird, bezieht sich, wird sie wie im Gorgias und anders als im Euthyphron als eigene Tugend neben der Gerechtigkeit gedacht, nicht zugleich und notwendig auf andere Menschen und Polis-Bürger; sie ist insofern keine politische Tugend und wird daher in der Politeia nicht als eigene Tugend behandelt. - So sind Tugend und Tugenden in den früheren Dialogen zwar sittliche Bestimmungen des Einzelnen, gelten aber im wesentlichen nicht nur für seine Gesinnung und sein Verhalten zu seinen eigenen sinnlichen Antrieben, sondern zugleich für sein intersubjektives und soziales Verhalten in einer Polis. Doch hat PLATO dies dort nicht theoretisch entwickelt. Durch die Tugend ist der Einzelne, der seine eigenen und die politischen Angelegenheiten betreibt, nach PLATO nun zugleich glückselig. Nicht " Vgl. Protagoras 322e-323a, 324a. Auch andere Behauptungen des Protagoras in diesem Dialog nimmt Plato positiv auf. Vgl. auch das zurückhaltende Lob im Menon 91d-92a.

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einzelne tugendhafte Handlungen erwirken Glückseligkeit (eü8ai[j,ovia); vielmehr machen die Tugenden selbst, vor allem, wie PLATO im Gorgias hervorhebt, Gerechtigkeit und Besonnenheit als Weisen der Verfassung der Seele, die dadurch gut ist, den Menschen glückselig (504c-d, 507c-e). PLATO wird hiermit keineswegs zum Eudämonisten. Man muß nicht etwa auf dem Weg zur Glückseligkeit als Ziel des Strebens Tugenden lediglich als Mittel verwenden oder aber in Kauf nehmen; die Tugenden bilden vielmehr die eigentliche Wesensverfassung, die „Natur" der menschlichen Seele und werden daher um ihrer selbst willen erstrebt. Indem die Seele diese in ihrer Lebensführung rein verwirklicht und dadurch sich vollendet, ist sie glückselig. Diese Glückseligkeit ist insbesondere nach PLATOS Konzeption im Gorgias von der Lust am Angenehmen eindeutig unterschieden. - PLATO wendet sich mit dieser Auffassung von Glückseligkeit gegen die gängige Meinung und insbesondere gegen die provozierende Ansicht von Sophisten. Diese behaupten, der Stärkere werde glücklich, wenn er seine Macht durchsetze gegen die Schwächeren und die von diesen als gerecht ausgegebenen Gesetze, die nur Konventionen der Schwächeren zum Schutz vor den Stärkeren seien. Solche Machtausübung und solches Glück seien der „Natur" gemäß. Insbesondere im sog. „Thrasymachos"-Dialog (Politeia I) und im Gorgias legt PLATO dar, daß auf diese Weise, nämlich durch Zügellosigkeit und Tyrannei, Glückseligkeit nicht erreicht werden kann. Die Natur und das Wesen des Menschen, speziell der Seele, besteht vielmehr in einer gewissen inneren Ordnung und Harmonie, die PLATO psychologisch noch nicht näher kennzeichnet, die er aber ethisch mit Gerechtigkeit und Besonnenheit identifiziert, das heißt, da die Besonnenheit im Gorgias die Grundtugend ist, mit der Tugend überhaupt als der Sittlichkeit. PLATO behält also zwar den ZusamVgl. Gorgias 497d, 499b, auch 470e u. ö. In einem viel interpretierten Abschnitt des Protagoras (351d-358e) vertritt Plato nur scheinbar einen Hedonismus, indem er die Lust und das Angenehme zugleich als das Gute kennzeichnet. Dieser Abschnitt leitet funktional zur Erörterung der Tapferkeit über und legt nur die Meinung der Leute aus; Plato widerspricht insofern seiner sonstigen Ansicht nicht, wie er sie prononciert im Gorgias darlegt. Vgl. dazu B. Manuwald: Lust und Tapferkeit: Zum gedanklichen Verhältnis zweier Abschnitte in Platons .Protagoras'. In; Phronesis. 20 (1975), 22-50. Vgl. auch D.}. Zeyl: Socrates and Hedonism. Protagoras 351b-358d. In: Phronesis. 25 (1980), 250-269. Zu Platos nichthedonistischer Ethik im allgemeinen, in der dennoch das Problem des Glücks berücksichtigt ist, vgl. P. Shorey: The Unity of Plato's Thought (1903). Reprint: Chicago 1968. 20 ff; vgl. auch /. M. Crombie, der Platos unterschiedliche Darlegungen vergleicht und ihm weder Hedonismus noch Antihedonismus unterstellt: An Examination of Plato's Doctrines. 3. Aufl. London 1969. Bd. 1. 225-251. Vgl. auch oben Anm. 4. Zur Auseinandersetzung Platos mit dieser sophistischen Theorie vgl. z. B. die allgemei-

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menhang von „naturgemäßem" Leben und Glück bei, bestimmt jedoch die „Natur" der menschlichen Seele grundsätzlich neu, nämlich als das Wesen der Seele, das in der Tugend, der Sittlichkeit besteht. Das dem Menschen wesensgemäße Glück kann sich daher nur aufgrund der Realisierung der Tugend einstellen.

b. Die Polis und der Einzelne in der Tugendlehre der Politeia Grundlegende Fragen der Ethik als Tugendlehre, die in den früheren Dialogen noch offenbleiben, werden in der Politeia beantwortet. Daher orientiert sich Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie bei seiner Darlegung von PLATOS Ethik und Staatsphilosophie fast ausschließlich an diesem Werk und dessen inzwischen klassisch gewordenen Lehren. Wie diffizil hier PLATOS eingängig formulierte Lösungen gelegentlich sind, wird freilich erst vor dem Problemhintergrund der früheren Dialoge deutlich. In der Politeia wird die Ethik als Tugendlehre nicht nur entworfen, sondern auch durchgeführt. Deutlicher als in den früheren Dialogen wird sie zugleich als politische Ethik konzipiert. Im Zentrum der Erörterung steht - in Fortführung des Gorgias - das Wesen der Gerechtigkeit. Dabei hält der sog. „Thrasymachos"-Dialog, den PLATO in seine Politeia als Buch I einfügt, die erwähnte sophistische Argumentation über Macht, „natürliches" Recht und Glück des Stärkeren als Folie gegenwärtig. Der Übergang von der Betrachtung der Gerechtigkeit des Einzelnen zur Untersuchung der Gerechtigkeit einer Polis erfolgt allerdings nicht durch ein Sachargument, sondern aufgrund der einfachen methodischen Überlegung, daß sich an einem größeren Ganzen wie der Polis die Gerechtigkeit leichter erkennen lasse.’“* Auch sonstige ausdrückliche Bemerkungen über das Verhältnis der Sittlichkeit des Einzelnen zur Sittlichkeit der Polis

ne Darstellung von R. W. Halt: Plato. London 1981. 13-30, auch 31^2 und die spezielle Interpretation des sog. „Thrasymachos"-Dialogs von O. Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie. Eine Interpretation von Platons „Staat". Erster Band: Buch 1-lV. Zürich, München 1976. 30-88. Zum Gedanken der Ordnung und Harmonie der Seele in Platos Ethik vgl. insbesondere H. ]. Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles. Heidelberg 1959. 81 ff und 83 ff. Vgl. Politeia 368d-369a. Hegel merkt dazu in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie an, dies sei eine „naive, anmutige Einleitung"; in Wirklichkeit fordere die „Natur der Sache", die Gerechtigkeit „im Staate" zu betrachten (Hegel: Sämtliche Werke. Bd XIV. Hrsg, von K. L. Michelet. Berlin 1833. 270).

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wirken in der Politeia eher beiläufig; dies Verhältnis ist in der Regel freilich immanent gegenwärtiger Bestandteil der PLATonischen Lehre von den Tugenden der Polis und des Einzelnen. Die bestehenden griechischen Stadtstaaten geben nach PLATO nun keineswegs zu erkennen, was Gerechtigkeit ist, PLATO kritisiert auch die oft gerühmten Zustände in Athen zur Zeit etwa des PERIKLES. Dieser habe die Bürger nicht gerechter und besser, sondern nur begehrlicher, maßloser und wilder gemacht und die Polis in ihrer Machtausdehnung nur aufgedunsen und innerlich brüchig werden lassen; von daher schreiben sich für PLATO die Zustände entarteter Demokratie in Athen fort, deren vermeintliche Freiheit er als Zügellosigkeit und Ungerechtigkeit brandmarkt.^^ Wegen dieser Verurteilung der politischen Zustände in Griechenland, die hier nicht näher untersucht sei, muß allererst eine nicht entartete, „naturgemäße" Polis in Gedanken aufgebaut werden, an der das Wesen der Gerechtigkeit erkannt werden kann. PLATO leugnet hierbei keineswegs die sinnlich-natürliche Basis einer Polis, sei es, daß die Menschen, die einzeln zu schwach sind, sich zum Schutz vor äußeren natürlichen Feinden zusammenfinden, wie es PROTAGORAS in dem nach ihm bezeichneten Dialog schildert, sei es, daß sie eine Gemeinschaft eingehen, um in dieser ihre verschiedenartigen Bedürfnisse befriedigen zu können, wie PLATO in der Politeia erklärt. Hier zeigt er zugleich, daß zur Befriedigung unterschiedlicher, ja vielfältiger Bedürfnisse Arbeitsteilung geboten ist. Die physische Basis einer Polis muß aber so beschaffen sein, daß sie Ausbildung und Ausübung von Tugend nicht behindert; nur mit Bedenken werden daher in einer größeren Polis Schauspieler, Schweinehirten und notwendigerweise auch Ärzte zugelassen. - Wenn nun der Staat hinsichtlich der physischen Basis und insbesondere hinsichtlich der Verwirklichung von Sittlichkeit in gelungener Weise eingerichtet ist, dann ist er, wie'PLATO betont, gut, d. h. weise, tapfer, besonnen und gerecht (427e). Die vier Tugenden, die später zu den Kardinaltugenden werden, finden hier also zuerst als Prädikate der Polis Verwendung; sie werden ferner im Prädikat des Guten vereinigt. In der Charakterisierung der einzelnen Tugenden nimmt PLATO Bestim-

Vgl. Gorgias 515e-519b, Politeia 496c—497c, 555b-565c. Vgl. zur Kritik im Gorgias z. B. E. R. Dodds' Einleitung zu seiner kommentierten Ausgabe von Plato: Gorgias. Oxford 1959. 30 ff; zur Demokratiekritik im allgemeinen vgl. R, Maurer: Platons ,Staat' und die Demokratie. Historisch-systematische Überlegungen zur politischen Ethik. Berlin 1970. 42 ff, 50-59 u. ö.

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mungen der älteren Tradition und der Sophistik auf; allerdings läßt sich wegen der Überlieferungsverluste nicht mehr eindeutig feststellen, in welchem Umfang PLATO solche Bestimmungen rezipiert und wo seine Umdeutung und Veränderung beginnt. Für PLATO jedenfalls dürfte weder die Vierzahl der Tugenden einfach festgestanden haben, da er im Protagoras und Gorgias als fünfte die Frömmigkeit miterörtert, der auch ein eigener Dialog, der Euthyphron, gilt, die dann aber in der Politeia fehlt'^; noch dürfte für PLATO das Verhältnis dieser verschiedenen Tugenden zueinander etwas verbindlich Vorgegebenes gewesen sein, da es für ihn in den früheren Dialogen, insbesondere im Prolagoras und Menon ein grundsätzliches Problem bildet; noch dürfte PLATO die Beziehung der Tugenden auf die Stände der Polis einerseits sowie auf die Seelenvermögen des Einzelnen andererseits, die ihm erst den systematischen Entwurf seiner Tugendlehre ermöglicht und für die es in den früheren Dialogen allenfalls vage Andeutungen gibt, lediglich vorgefunden haben. Die in der Politeia dargelegte Lösung grundlegender ethischer Probleme dieser früheren Dialoge kann kaum hinreichend durch einen Rekurs auf überlieferte oder zeitgenössische Lehren erklärt werden, die PLATO ja auch vorher schon bekannt waren. Zwar weist er in der Politeia (435d, 506d) auf die Vorläufigkeit seiner Theorie hin; dennoch liefert er hier seine erste systematische Entwicklung der Ethik. Während im Protagoras SOKRATES die Einheit der Tugenden fordert und ihre Identität zumindest in dem ihnen wesentlichen intellektuellen Teil behauptet, nämlich daß alle Tugend Erkenntnis sei, hält PROTAGORAS dort zunächst an der realen Verschiedenheit der Tugenden fest, ohne ihre Einheit als Ganzheit zu bestreiten. In der Politeia führt PLATO eher PROTAGORAS' als SOKRATES' Auffassung aus. Die Tugenden werden hier in ihrer nicht nur scheinbaren Unterschiedenheit mit der Verschiedenheit der Stände einer Polis und dann auch mit der Verschiedenheit von SeelenverEntgegen der oft vorgenommenen Etikettierung, diese Tugendlehre sei im wesentlichen traditionell, macht Gigon darauf aufmerksam, daß wegen der Überlieferungsverluste die Herkunft nicht mehr eindeutig geklärt werden kann und daß Plato z. B. schon auf den Umstand der Vierzahl besondere Überlegungen richtet; vgl. O. Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie (s. Anm. 13). 467 f. Die beiden möglichen Gründe wurden schon angedeutet. Die Frömmigkeit wird dort nicht expliziert, entweder weil sie ein Teil der Gerechtigkeit ist, wie der Euthyphron (12e) darlegt, oder weil sie keine politische Tugend ist, wenn man ihr eine eigene Bedeutung verleiht, wie man aus dem Gorgias (507b) entnehmen kann. - Die isolierte Erwähnung des Gottgefälligen bedeutet keine Erhebung der Frömmigkeit zu einer eigenen Tugend in der Politeia (vgl. 501c).

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mögen korreliert. Die Tugendlehre in der Politeia zeigt also die realen Differenzierungen des Sittlichen auf, die nicht aus einer Einheit abgeleitet, die aber in einem einheitlichen Ganzen begründet werden. Der erste Vorzug, die erste Tugend einer „naturgemäßen" Polis ist nun die Weisheit (oocpia). Sie ist nach PLATO Wohlberatenheit durch ein Wissen, das die Verhaltensweise und das Gedeihen der ganzen Polis betrifft. Ein solches Wissen kommt nach PLATO jedoch nur der Wächterkunst zu; diese kann seiner Auffassung nach nicht von allen, sondern nur von den Mitgliedern eines kleinen Standes in der Polis ausgeübt werden, von den Regierenden, die den ersten Stand ausmachen. PLATO vertritt damit eine Lehre von Ständen, die feste Institutionen in einer Polis mit ebenso festumrissenen, je verschiedenen Punktionen und Aufgaben sind. So ist nach PLATO die ganze Polis weise, wenn ein kleiner Teil ihrer selbst, der erste Stand weise ist. Da dieser aus den Regierenden besteht, ist schon hier erkennbar, daß zur Polis-Tugend als immanenter Bestandteil das ethische Verhalten Einzelner gehört, die Standesmitglieder sind. - Zunächst hatte PLATO in der Politeia den ersten Stand noch nicht vom zweiten abgehoben; die zur Regierung Befähigten gehören anfänglich zum Stand der Wächter im allgemeinen. Erst die Auswahl der Herrschenden aus ihnen und die Zuweisung verschiedener Punktionen und ihnen entsprechender verschiedener Tugenden an unterschiedliche Gruppen konstituiert die Trennung des ersten Standes der Regierenden von dem zweiten Stand der Wehrleute. Den Wächtern im allgemeinen noch vor jener Trennung entspricht später in Hegels Jenaer Theorie der Sittlichkeit der erste Stand. Die Tugend der Weisheit stellt PLATO voran, da in ihr die Intellektualität der Erkenntnis und des Wissens hervortritt, die für SOKRATES im Protagoras die Tugend überhaupt ausmachte. Im Euthydemos ist die Weisheit als Tugendwissen nutzen- und glückbringend, und ihr Besitz ist selbst das Gute. In der Politeia ist diese Tugend des Denkens göttlicheren Ursprungs als die anderen Tugenden, die mit körperlichen Fähigkeiten verbunden sind; auch hier deutet PLATO an, daß sie Nutzen bringt (518d-e). Sie entVgl. dazu und zu dem nichtdemokratischen Charakter dieses Wissens O. Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie. 469 ff. Vgl. diese Interpretation auch zur Darlegung der weiteren Tugenden der Polis (473-496). ’’ Die Bedeutung des Nützlichen im Gedanken der Tugend und des Guten hebt W. Wieland hervor: Platon und die Formen des Wissens. 165 ff. - ln der stoischen Ethik wird dies wieder aufgenommen, vgl. M, Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. Göttingen 1948. 120.

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hält ein genuin praktisches Wissen, das die verschiedenen, von ihm geleiteten Handlungen erst gut macht. Das Nützliche ist hierbei nicht ein inhaltlich bestimmtes erstrebtes Ziel, zu dem die Weisheit etwa als Mittel führte; es zeigt vielmehr die praktische und ethische Applikabilität jenes Wissens auf vielfältige Handlungen an, die durch ebendieses Wissen sittlich werden und, wenn sie gelingen, worauf die Weisheit ja auch sieht, sittlichen Erfolg und Freude über solchen Erfolg mit sich bringen. Der Inhalt dieses Wissens der Weisheit bleibt zunächst aber relativ unbestimmt. Da er die ganze Polis betrifft, kann er erst nach Darlegung der Tugenden der Polis, insbesondere der Gerechtigkeit und ihres Grundes, des Guten, klarere Konturen gewinnen. Von ganz anderer, den psychophysischen Vermögen näherstehender Art ist die zweite Tugend der Polis, die Tapferkeit (dvögeia). PLATO bestimmt sie als die „unverbrüchliche Aufrechterhaltung der richtigen und gesetzlichen Meinung über das, was zu fürchten ist und was nicht"Das zu Fürchtende betrifft inhaltlich nicht physisch, sondern politisch Bedrohliches, nämlich die Verletzung der Gesetze und des Sinnes von Institutionen einer „naturgemäßen" Polis. An der richtigen und gesetzlichen Meinung darüber festzuhalten in charakterstarkem Beharren bei der Bekämpfung der Bedrohung der Polis von innen oder von außen, ist die Leistung der Tapferkeit. Die Erfüllung dieser Aufgabe in der Polis kommt dem zweiten Stand zu, den Wehrleuten. Diese werden dabei als Sinnenwesen nicht notwendig glücklich; ja sie müssen manchmal für die Polis in den Tod gehen. Die Tapferkeit der Polis beruht somit auf der Tapferkeit von Einzelnen als Standesmitgliedern; deren Leben ist dem Bestand der Polis freilich eindeutig untergeordnet. Es kommt für PLATO nicht auf das Glück des Einzelnen, auch nicht eines Standes, sondern auf das Gelingen und damit auch das Glück eines wohlgeordneten ganzen Gemeinwesens an. Tapfer also ist die Polis wieder durch einen Teil ihrer selbst, durch die Tapferkeit ihrer Wehrleute. ^ Im Lackes und im Protagoras hatte PLATO die Tapferkeit als ein Wissen Politeia 430b. Übersetzung nach Platon: Der Staat. Übersetzt und erläutert von O. Apelt, Durchgesehen von K, Bormann. Einleitung von P. Wilpert. Hamburg 1961. 149. Plato glaubt allerdings, die Wehrleute leben trotz aller Maßnahmen, denen sie unterliegen, glücklicher und geehrter als selbst die Olympioniken (vgl. Politeia 465c ff). Die Tapferkeit muß sich nach Plato am meisten im Krieg bewähren; das ünheil des Krieges aber gibt es erst, wenn die Polis erweitert wird (Politeia 373e). In den Nomoi ist es das Beste, daß der Gesetzgeber seine Gesetze für eine Polis im Frieden geben kann (628c-e); er muß jedoch nach Plato viele Anordnungen des Krieges wegen treffen.

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und eine Erkenntnis bestimmt. In der Politeia reduziert er, der allgemeinen Auffassung folgend, die er schon im Menon (97b) dargelegt hatte, die Geistigkeit dieser Tugend auf eine „richtige Meinung" (ögdf) öö^a); diese reicht aus als Anleitung für tapfere Handlungen, für die freilich die erforderliche psychophysische Basis vorhanden sein muß. Richtige Meinung setzt aber Erkenntnis voraus; da die Wehrleute darüber nicht verfügen, müssen sie solche Erkenntnis in anderen, in den Gesetzgebern oder den Regierenden und ihrer Weisheit annehmen. Für PLATO bedeutet Tugendhaftigkeit und Sittlichkeit, was dem neueren, wesentlich durch die Aufklärung geprägten ethischen Verständnis fernliegt, keineswegs notwendig zugleich Autonomie. Die Wehrleute müssen nur der Einsicht fähig sein, daß sie selbst nicht über originäres Tugendwissen verfügen, daß aber, solchem Tugendwissen anderer zu vertrauen und zu folgen, sittlich ist. Irrtum und Mißbrauch solchen Vertrauens kommen in der entworfenen, „naturgemäßen" Polis nicht vor; wie sie konkret in der politischen Wirklichkeit zu verhindern sind, bleibt offen. - In seinen späten Schriften hebt PLATO dann sogar noch stärker die naturhafte Seite der Tapferkeit hervor, ohne daß sie allerdings darin auf ginge. Die dritte, ebenfalls auf naturhafter Basis beruhende Tugend der Polis ist die Besonnenheit (ococpQOOüvT)). Sie ist in der Politeia eine Art Harmonie, eine Einstimmigkeit darüber, daß der in seinem Wesen vortrefflichere, nämlich der vernünftige Teil, über den geringeren, nicht vernünftigen in der Polis herrschen soll. Dieser weniger vortreffliche Teil ist insbesondere der dritte, zahlenmäßig größte Stand, der für die Bedürfnisbefriedigung arbeitet und nach PLATO daher in der Regel den sinnlichen Bestrebungen und Neigungen verhaftet bleibt. Die Mitglieder dieses Standes, Bauern, Handwerker, auch Geschäftsleute, sind somit selbst nicht des Tugendwissens fähig und können nicht von sich aus autonom die Beherrschung der Begierden garantieren; da ihnen jedoch einleuchtet, daß solche Beherrschung in einer wohleingerichteten Polis erforderlich ist, überlassen sie den Regierenden und denen, die deren Anweisungen ausführen, die vernünftige Zügelung der sinnlichen Antriebe in der Polis, d. h. sie vertrauen sich dem Tugendwissen und der Herrschaft jener an. Die Einstimmigkeit über Herrschen und Beherrschtwerden in der Polis betrifft alle Stände; anders als die Weisheit und die Tapferkeit ist die Besonnenheit also keine bestimmte Standestugend; aber sie ist doch die alleinige Tugend des dritten Standes, der seine Zustimmung gibt zum Beherrschtwerden seiner Bedürfnisbefriedigung durch die Vernünftigen und Einsichtsvollen.

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Die Tugend der Beherrschung und Mäßigung der Begierden, die natürlicherweise zunächst Tugend eines Einzelnen ist, hat PLATO damit als Polis-Tugend konzipiert. Er hat dabei keine der Bestimmungen der Besonnenheit aufgenommen, die der Charmides erfolglos versucht hat. Die Besonnenheit ist jedoch, obwohl sie die ganze Polis betrifft, auch nicht die Grundtugend, die die anderen Tugenden in sich enthielte, wie im Gorgias; sie bleibt von ihnen vielmehr verschieden. Die Bestimmung im Charmides (161b), besonnen sei, wer das Seinige tue, die SOKRATES dort teilweise als unzureichend erweist, ebenso wie die Bestimmung im Gorgias (507a), der Besonnene tue das Gebührende gegen Götter und Menschen, wird in der Politeia jedenfalls hinsichtlich der Menschen der Gerechtigkeit zugeschrieben. Frühere Bedeutungsmomente der Besonnenheit gehen damit in die Gerechtigkeit ein.^ Dies ermöglicht zugleich eine neue, begrenztere Bedeutungsbestimmung von Besonnenheit. Die vierte Tugend der Polis, die sich in der Politeia als die grundlegende Tugend erweist, ist die Gerechtigkeit (öixaioouvTi). PLATO verwendet zu ihrer Erklärung die erwähnte Bestimmung der Besonnenheit im Charmides: Das Seine tun. Diese allgemeine und damals offenbar populäre Idiopragie-Formel erhält bei PLATO einen spezifischen Sinn; das Seinige eines jeden Standes in der Polis besteht darin, die ihm zukommende Aufgabe mit der ihm zukommenden Tugend auszuführen und nicht Fremdes zu tun; wenn dies gelingt, dann ist die Polis als ganze wohlgeordnet und gerecht und damit zugleich gut. Die Gerechtigkeit macht also die Vortrefflichkeit und die Tugend der Polis überhaupt aus. - Sie ist für PLATO eine Tugend höherer Ordnung. Den anderen Polis-Tugenden verleiht sie erst die „Kraft" (öiivagig), sich auszubilden und dann auch Bestand zu haben (433b); sie ist Bedingung der Möglichkeit und Existenzgrund jener anderen Tugenden. Denn sie ermöglicht und bewirkt einerseits die Trennung der Tugenden voneinander, so daß jede ihrem eigenen Eidos und Wesen gemäß ausgeübt werden kann. Wenn die Stände ihre je spezifische Aufgabe vortrefflich erfüllen und darin jeweils weise, tapfer oder besonnen sind, wenn somit keine Übergriffe auf andere Standesaufgaben stattfinden, dann geschieht dies aufgrund der Gerechtigkeit, die in der ^ Daher sucht Larson nachzuweisen, Besonnenheit und Gerechtigkeit seien nicht nur in den Frühdialogen, sondern auch in der Politeia praktisch synonym, was nicht Platos eigener Intention der Differenzierung dieser Tugenden entspricht, vgl. C. W, R. Larson: The Platonic Synonyms, AIKAI02YNH and ZQPOSYNH. In; American Journal of Philology. 72 (1951), 395-414; diese Auffassung modifiziert R. W. Hall: Plato (s. Anm. 13). 59 f. (Den Hinweis auf den Aufsatz von Larson verdanke ich Manfred Baum.)

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ganzen Polis herrscht. Die Gerechtigkeit ermöglicht und bewirkt andererseits die Koordination und das Zusammenwirken dieser verschiedenen Tugenden zu einem Ganzen, der wohlgeordneten Polis. Die Einstimmigkeit der Besonnenen über Herrschen und Beherrschtwerden ist davon nur ein spezifischer Aspekt, so daß die Gerechtigkeit in der Politeia der Besonnenheit eindeutig übergeordnet wird. Sie ist der einheitliche Grund der Tugenden, der zugleich die Verschiedenheit ihrer el'ÖTi wahrt. Die frühere Frage nach dem Verhältnis von Einheit und Verschiedenheit der Tugenden beantwortet PLATO in der Politeia also mit seiner Theorie der Gerechtigkeit. Danach ist die Gerechtigkeit nicht nur die Eine Tugend als das Ganze von Teilen, nämlich von Einzeltugenden, sondern zugleich deren Ermöglichungsgrund; danach haben ferner die vielen Tugenden an ihr als der Einen Tugend nicht nur teil, sind in ihr nicht einfach identisch, sondern bleiben real verschieden. Da die Tugenden für PLATO zugleich Ideen sind, enthält diese Theorie der Tugenden und insbesondere der Gerechtigkeit zugleich Bestimmungen über das Verhältnis von Ideen untereinander, und zwar von nichtkorrelativen, dennoch aufeinander bezogenen Ideen sowohl gleichen als auch unterschiedlichen Ranges; sie enthält damit - nach der späteren Andeutung in der Explikation des Liniengleichnisses - ein exemplarisches Beispiel für Ideendialektik. Der Inhalt des Wissens der Regierenden bzw. eines Staatsmanns kann nun genauer bestimmt werden; dieses Wissen bezieht sich auf die spezifischen Aufgaben der Stände, auf ihre Tugenden und auf das, was sie ermöglicht, die Gerechtigkeit einer Polis. Ein Staatsmann wird sich daher, wie PLATO in der Politeia (426e-427a) und im Politikos (294a-c) betont, was Hegel mit Nachdruck aufgreift, nicht mit der Abfassung einzelner Gesetze und Verordnungen über Dinge, die jeder selbst leicht einsieht, und mit deren ständiger Abänderung befassen; denn die Einsicht in das Gerechte Daß Plato mit dieser Bestimmung der Gerechtigkeit vom traditionellen Gerechtigkeitsverständnis und von der Auffassung anderer Philosophen wie etwa des Aristoteles durchaus entfernt ist, ferner daß Gerechtigkeit der Polis, eines Standes und eines Einzelnen nicht Identisches bedeutet, ist schon oft hervorgehoben worden. Vlastos sucht - z. T. überpointiert - Inkonzinnitäten aufzuweisen, vgl. G. Vlastos: Justice and Happiness in the Republic. In: Ders.: Platonic Studies. 2. Aufl. Princeton 1981, 111-139, auch ders.: The Theory of Social Justice in the Polis in Plato's Republic. ln: Interpretations of Plato. Hrsg, von H. F. North. Leiden 1977. 1-40. Plato entschieden näher steht Halls Untersuchung, die zugleich eine Vielzahl anderer Versuche berücksichtigt, vgl. R. W, Hall: Plato. 54-80. Zur Einordnung der Bestimmung der Gerechtigkeit in den Zusammenhang des Platonischen Staatsdenkens vgl. /. Derbolav: Herkunft und Prinzipien des Platonischen Staatsdenkens (1964). ln: Ders.: Von den Bedingungen gerechter Herrschaft. Stuttgart 1979. 18-61, bes. 31 ff.

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berücksichtigt die lebendige Vielfalt der Handelnden und der Situationen, während eine Verordnung, ein Gesetz starr bis zum Unverständigen hin ist. Wenn schon Gesetze in wirklichen Staaten notwendig sind, so wird ein vernünftig Regierender sie nur in allgemeineren Umrissen geben.^® Eine solche wohleingerichtete, gerechte Polis verwirklicht nach PLATO, was sie von „Natur" aus sein kann, und ist damit sowohl gut als glücklich. So werden die Polis-Tugenden und insbesondere die grundlegende Tugend der Gerechtigkeit noch einmal begründet, nämlich im Guten als solchen. In den früheren Dialogen hatte PLATO die Tugend immer als gut betrachtet, ohne dies Prädikat in seiner internen Bedeutung näher zu bestimmen. In der Politeia ist damit ein ethischer und ontologischer Vollendungszustand angedeutet, der seinen genaueren Sinn, worauf hier nur hingewiesen sei, erst aus einer allgemeinen Theorie der Idee des Guten gewinnt. Impliziert ist in diesem Vollendungszustand das Glück. Wie im Gorgias hebt PLATO auch in der Politeia insbesondere gegen die Sophisten hervor, daß nicht Ungerechtigkeit, sondern nur Gerechtigkeit gut ist und als Folge auch dem Ganzen einer Polis Glück, nämlich Einheit, harmonischen Bestand und Gedeihen sittlichen Lebens bringt. Dies Argument ist nicht eudämonistisch; das Glück ist erst die Folge der Gerechtigkeit einer Polis. An diesen Tugenden und insbesondere der Gerechtigkeit der Polis lassen sich als an einem größeren Ganzen nun die Tugenden und speziell die Gerechtigkeit des Einzelnen, wie PLATO erklärt, besser erkennen. Die Tugenden des Einzelnen sind denen der Polis analog. Dies ist jedoch noch keine sachliche Bestimmung des ethischen Verhältnisses des Einzelnen zur Polis. Bei der Erörterung der Tugenden der Polis hatte sich schon gezeigt, daß zu ihnen konstitutiv die Sittlichkeit von Einzelnen als Standesmitgliedern gehört; sie kommen sogar nur durch die entsprechenden Tugenden der Einzelnen in der Polis zustande. „Denn anderswoher können sie nicht dorthin gelangt sein." (435e) Wie bei den Griechen die Wißbegier und bei den Skythen der Mut nur durch die Einzelnen jeweils im Solche vernünftigen Gesetze beansprucht Plato später in den Nomoi zu geben; sie sollen vor allem die Bürger tugendhaft machen. Er geht hierbei freilich wieder sehr ins einzelne, was Hegel dann verspottet (vgl. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg. v. J. Hoffmeister. 4. Aufl. Hamburg 1955. 15, bezogen auf Plato: Nomoi 790e). Zur allgemeinen Diskussion, ob Platos Ethik einen Eudämonismus bzw. Hedonismus impliziert oder nicht, vgl. oben Anm. 12, auch Anm. 4. Das Glück der Polis wird dabei nicht spezifisch untersucht.

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ganzen Volk vorhanden sind, so sind auch die Tugenden der Polis nur durch die Einzelnen in diesem Ganzen gegenwärtig.^^ Daher fragt es sich, ob PLATO - entgegen seiner darstellerischen und methodischen Anordnung - der Sittlichkeit des Einzelnen vielleicht sogar einen Vorrang vor der Sittlichkeit der Polis einräumt. Wie PLATO bei der Polis die Tugenden in ihrer realen Verschiedenheit mit den Ständen korreliert, so richtet er sie beim Einzelnen auf die Seelenvermögen aus. Er bleibt freilich nicht bei der inneren Anordnung der Seelenvermögen des Einzelnen stehen; vielmehr weist er jeden Einzelnen einem Stand in der Polis zu. Die Frage, welchem Stand jemand angehört, entscheidet sich daran, welches Seelenvermögen in ihm von Natur aus hervorragt und am meisten ausgebildet ist. Die natürliche Veranlagung ist für PLATO somit Grundlage für die Zuordnung zu einem bestimmten Stand, die dann in der Regel für das ganze Leben des Betreffenden gilt, eine Zuordnung freilich, die nach PLATO nur die Regierenden vornehmen und bei der der Einzelne im wesentlichen passiv bleibt. Der Ständestaat ist insofern im ganzen festgefügt und immobil aufgrund der angenommenen Konstanz und eindeutigen Bestimmtheit der Natur der einzelnen Standesmitglieder. Diese Auffassung wird Hegel später Veränderungen unterwerfen. PLATOS Theorie der Sittlichkeit des Einzelnen, die ebenfalls Tugendlehre

Vgl. Politeia 435e-436a, auch 544d-e. Dieser Gedanke wird in den Interpretationen zwar registriert; es wird jedoch kaum erörtert, daß er allenfalls eine Grundlage für eine erst zu entfaltende Theorie des ethischen Verhältnisses des Einzelnen zur Polis bildet, wofür sich bei Plato wenigstens Ansätze finden. Stenzei geht an diesem Gedanken vorbei (vgl. ]. Stenzei: Platon der Erzieher. Mit einer Einführung von K. Gaiser. Hamburg 1961. 111 ff); Maurer sieht hier einen ethischen Primat des Einzelnen (vgl. R. Maurer: Platons „Staat" und die Demokratie [s. Anm. 15]. 74 ff, 192 ff); Gigon vermerkt, Plato behaupte „ungewöhnlich kategorisch" die Priorität der Einzelseele vor dem Staat (vgl. O. Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie [s. Anm. 13]. 506 f, 497 ff); Popper dagegen glaubt, Plato argumentiere gegen den Individualismus von einem totalitären, kollektivistischen Gerechtigkeitssystem aus (vgl. K. R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd 1: Der Zauber Platons. Übers, v. P. K. Feyerabend. Bern, München 1957. 3. Aufl. 1973. 126-168); Barker sieht zwar Ansätze bei Plato für eine Konzeption von Individualität, die Plato aber - insbesondere durch seinen Kommunismus zunichte mache (£. Barker: The Political Thought of Plato and Aristotle. 2. Aufl. New York 1959. 102 ff, 153 ff, auch 7 f); differenzierter formuliert Hall eine Paradoxie, nämlich daß für Plato nur in einem gerechten Staat Bürger gerecht werden können und daß nur gerechte Bürger die Gerechtigkeit der Polis zustande bringen (vgl. R. IN. Hall: Justice and the Individual in the Republic. In: Phronesis 4 (1959), 149-158); auf die im Text genannte Stelle geht er kommentierend ein in Plato (s. Anm. 13). 61. Zuvor hatte er die eigene Bedeutung der Tugenden des Individuums in Abhebung von den Tugenden der Polis aufgezeigt, vgl. Hall: Plato and the Individual. Den Haag 1963. Bes. 163-186.

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ist, erhält also ein psychologisch-anthropologisches Fundament^®, das allerdings allgemeiner politischer Bedeutung nicht entbehrt. Weise ist danach der Einzelne, wenn das Seelenvermögen der Vernunft in ihm über die anderen Seelenkräfte herrscht und deren Ausübung mit Einsicht und Wissen leitet. Der Vernunft kommt damit in der ganzen Seele die gleiche Funktion zu wie dem ersten Stand in der ganzen Polis; gelingt die Leistung des vernünftigen Seelenteils vortrefflich, so ist der Einzelne mit seiner ganzen Seele weise. Die Parallelität zwischen Seelenvermögen und Stand ist nach PLATO inhaltlich fundiert; die Vernunft ist dasjenige Seelenvermögen, das bei den Mitgliedern des ersten Standes am meisten hervorragt und am besten ausgebildet ist. So erhält dies Seelenvermögen ethisch-politische Bedeutung. - In der gleichen Art werden die anderen Tugenden des Einzelnen in ihrem Verhältnis zu Leistungen und Tugenden der Stände und der Polis bestimmt. Tapfer ist der Einzelne, wenn das Seelenvermögen des Mutes (ü^u|xög) sich der Führung der Vernunft anvertraut und in richtiger Meinung Bedrohliches von der Seele und - wie PLATO hinzufügt - auch vom Leibe, also vom Einzelnen insgesamt fernhält (442b-c). Nicht die Vernunft selbst, sondern der ihr folgende Mut, der sich vor allem gegen die Maßlosigkeit und Unvernünftigkeit sinnlichen Begehrens wendet, führt das als sittlich Erkannte aus; anders als PLATO es früher nahelegte, vollbringt also der Mut als emotionale Energie die Leistung, daß das Sittliche nicht nur vernünftig eingesehen, sondern gegen eine oft widerstrebende Sinnlichkeit auch durchgesetzt und verwirklicht wird. Durch die vernunftgeleitete, gelingende Leistung des Mutes ist also die ganze Seele tapfer, bewahrt sie im Spannungsfeld ihrer Kräfte in sich die Geltung des Vernünftigen und damit die ihr wesensgemäße Ordnung. Ebenso schützt der zweite Stand die Polis vor äußeren und inneren Bedrohungen und verschafft der vernünftigen Einsicht Geltung. Diesem Stand gehören diejenigen an, bei denen von Natur aus der Mut besonders stark ist; auch der Mut erhält damit seine spezifische Stelle in der wohleingerichteten Polis. - Besonnen ist der Einzelne, wenn die Vernunft in ihm herrscht, wenn der Mut ihr folgt und die sinnlichen Begehrungen sich von ihrer Einsicht leiten und mäßigen lassen; dann besteht EinstimVgl. dazu O. Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie. 508 ff. Zu Platos Seelenlehre im allgemeinen vgl. P. Shorey: The Unity of Plato's Thought (s. Anm, 12). 40-49; R. W.Hall: Wexfi as Differentiated Unity in the Philosophy of Plato, ln: Phronesis 8 (1963), 63-82, ebenso T. M. Robinson: Plato's Psychology. Toronto 1970. Bes. 34^58 und auf den Phaidon bezogen M. Fleischer: Hermeneutische Antrhopologie. Platon, Aristoteles. Berlin und New York 1976. 32-64, auch 65 ff.

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migkeit in der Seele über Herrschen und Beherrschtwerden. So ist auch der Seelenteil der sinnlichen Begehrungen, sofern sie von der Vernunft geleitet werden, einbezogen in die Tugend der ganzen Seele, die Besonnenheit; es wird nicht ein Seelenteil als der Sittlichkeit a limine nicht fähig vom vernünftigen Ethos ausgeschlossen. Ebenso ist der dritte Stand der Polis besonnen, wenn er sich vernünftig leiten läßt. Zu ihm gehören diejenigen, bei denen der Seelenteil des sinnlichen Begehrungsvermögens am meisten ausgeprägt ist; so wird auch dieser Seelenteil ständisch-politisch lokalisiert. Wie bei der Polis, so besteht auch beim Einzelnen nach PLATO die Gerechtigkeit einerseits in der Trennung der Tugenden und der ihnen korrelierten Seelenvermögen in ihrer Ausübung voneinander, so daß jedes das Seine tut, andererseits in der Koordination und Zusammenordnung dieser real verschiedenen Tugenden und Seelen vermögen zu einer Einheit in der Seele. Auch beim Einzelnen ist sie eine Tugend höherer Ordnung, die erst ermöglicht, daß er tugendhaft in jenen spezifischen Bestimmungen sein kann. Trotz der Beispiele, ein solcher Gerechter werde keinen Diebstahl, keinen Tempelraub, keine Unterschlagung begehen (442e-443b), ist der Zusammenhang mit der rechtschaffenen Einhaltung von Gesetzen nicht ohne weiteres ersichtlich. Die Gerechtigkeit ist wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung für die Tugendlehre mit solcher Rechtschaffenheit oder mit der Gerechtigkeit als einer proportionalen Gleichheit nicht identisch; sie stellt für PLATO vielmehr deren Prinzip und Ermöglichungsgrund dar. So kann nur derjenige rechtschaffen sein, in dem nicht die Begierden die Oberhand haben, sondern die allgemein Macht habende Vernunft, der also in prinzipiellem Sinne persönlich gerecht ist. Der Inhalt der vernünftigen Einsicht, der er dabei folgt, ist zugleich intersubjektiv; sie teilt jedem in der Polis das ihm Zukommende zu, d. h. spePlatos Theorie der Gerechtigkeit des Einzelnen und ihres Verhältnisses zur Gerechtigkeit der Polis ist oft interpretiert und auch kritisiert worden. Vgl. z. B. außer den in Anm. 24 erwähnten Darstellungen von Vlastos, Hall und Derbolav sowie der in Anm. 27 erwähnten Abhandlung von Hall: Justice and the Individual in the Republic ebenso H.-G. Gadamer: Platos Staat der Erziehung (1941). In: Ders.: Platos dialektische Ethik und andere Studien zur platonischen Philosophie. Hamburg 1968. 205-220; L. Strauss: Plato (1963). In: Political Philosophy. Six essays by Leo Strauss. Edited with an Introduction by H. Gildin. Indianapolis, New York 1975. Bes. 178 ff; O. Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie. 497-539, auch 486 ff. - Auf konkrete Fragen, wie sie z. B. Strauss und Hall kontrovers erörtern, ob etwa jeder Einzelne persönliche Gerechtigkeit in sich und damit Herrschaft der eigenen Vernunft in seiner Seele erreichen könne oder nur politische Gerechtigkeit, d. h. Vernunftherrschaft durch andere, wenn er selbst dazu nicht hinreichend in der Lage ist, sei hier nur hingewiesen.

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zifisch; Gleiches dem proportional Gleichen, aber auch Ungleiches dem Ungleichen nach einem höheren Prinzip, in dem die proportionale Gleichheit fundiert ist, der Gerechtigkeit der Polis. Die Zusammenhänge zwischen persönlicher, sozialer und politischer Gerechtigkeit, die man vielfach bei PLATO vermißt und die PLATO selbst auch nicht expliziert hat, lassen sich auf derartige Weise wohl darlegen. Die Gerechtigkeit ist somit konsistent ausführbares Prinzip der Theorie der Tugenden des Einzelnen wie der Polis. Der vermeintliche Einwand, in PLATOS Begriff der Gerechtigkeit sei weder die Rechtschaffenheit noch die Gleichheitsproportionalität wie etwa bei ARISTOTELES enthalten, beschreibt daher im Grunde nur PLATOS Konzeption der Gerechtigkeit. Will man philosophische Bedenken gegen diese zur Geltung bringen, so muß man sich grundsätzlicher gegen die PLATonische Bestimmung der Einheit und des Prinzips der Tugenden, gegen das Verhältnis dieses Prinzips zur Rechtschaffenheit und zur Gleichheitsproportionalität sowie zu den anderen spezifischen Tugenden, wie es aus PLATOS Andeutungen rekonstruierbar ist, oder auch gegen die ontologische Bedeutung der Tugend-Ideen überhaupt innerhalb der Ethik wenden. Wenn auch Verhaltensweisen und Tugenden nach PLATO, wie sich gezeigt hat, nur durch den Einzelnen in die ganze Polis gelangen, so wird doch der Einzelne hierbei keineswegs als absolut freies Individuum mit eigenen unaufhebbaren Rechten gedacht, die selbst etwa gegenüber der Polis Gültigkeit hätten. Zwar wählt der Einzelne im Schlußmythos der Politeia (617e ff) sein zukünftiges Lebenslos; doch geschieht dies vorgeburtlich, außerhalb der Polis und nur mythisch. In seinem Leben wird seine natürliche Begabung jedenfalls nicht individuell, sondern nach dem Vorrang eines allgemeinen Seelenvermögens eingeschätzt zum Zweck der Einweisung in einen Stand. Auch die Tugenden, die der Einzelne seinem Stande gemäß ausbildet, sind in ihrem sittlichen Sinn wesentlich auf die Polis bezogen; sie sind nicht Ausdruck autonomer oder gar unwiederholbarer Individualität. So bewegt sich der Einzelne, auch wenn durch ihn erst Tugenden in der Polis wirklich werden, in seinem Leben und in seinen Erwartungen doch immer im Horizont der idealen, zu verwirklichenden Polis und ihrer Anforderungen. - PLATO läßt zwar einen Bereich privater Tätigkeiten und privater Tugendhaftigkeit zu. Die Mitglieder des dritten Standes sorgen durchaus auch für ihre private Bedürfnisbefriedigung und können auf diesem Felde besonnen sein. Mitglieder des ersten Standes können sich über beachtliche Zeitabschnitte hin der reinen Wissenschaft, für PLATO der Ideenschau, also einem kontemplati-

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ven Leben widmen und darin weise sein. Doch dies alles geschieht nur in dem von der Gerechtigkeit der Polis vorgezeichneten Rahmen. Die Mitglieder des dritten Standes müssen die Polis und insbesondere den ersten und zweiten Stand physisch versorgen; die Philosophen müssen nach einer Phase kontemplativen Forschens zurück in das politische Leben, um dies nach Gerechtigkeit zu bestimmen. Die Erfordernisse der Polis bleiben im praktischen Leben denen des Einzelnen absolut übergeordnet; selbst die der gerechten Praxis nach PLATO überlegene Erkenntnis der Idee des Guten begründet kein Recht gegen die Anforderungen der gerechten Polis - wie viel weniger Zwecke der Privatsphäre des Einzelnen! So bleibt der eigentliche Bereich der Verwirklichung von Tugenden des Einzelnen doch immer die Polis. - Vorrang erhält die Polis für PLATO nicht nur hinsichtlich der Ausübung von Tugenden, sondern sogar hinsichtlich der sittlichen Bildung, der Paideia. Die im Namen der Polis durchgeführte Ausbildung soll den Einzelnen, sofern er ihrer würdig ist, allererst zu sittlichem Verhalten und damit zu Tugendhaftigkeit und Gerechtigkeit leiten. Dies betont PLATO noch in den Nomoi, obwohl er dort nur den zweitbesten Staat entwirft. Der Einzelne, der die Tugenden in der Polis verwirklicht, versteht sich in seinem sittlichen Tun also als Polis-Bürger. So kann PLATO auch in seiner Darlegung der Depravation der Verfassungen in der Politeia (Buch VIII und IX) Einzelcharaktere schildern, die darin aufgehen, den Zustand einer Verfassung exemplarisch widerzuspiegeln, weil sie wesentlich von ihr geprägt sind. - PLATOS Ethik ist also prinzipiell politisch, nicht nur in der Theorie der Tugenden der Polis, sondern auch in der Lehre von den Tugenden des Einzelnen; sie ist holistisch, insofern ihr die Vorstellung von Sittlichkeit, die sie maßgeblich von der Gerechtigkeit des Ganzen her faßt, als grundlegende Bestimmung des Ethos des Einzelnen und der Stände gilt. PLATO gibt dieser seiner Ethik als politischer, holistischer Tugendlehre zugleich ein ontologisches Fundament. Der Zustand der Gerechtigkeit der Seele wie der Polis wird metaphorisch als Gesundheit bezeichnet; die Seele bzw. die Polis befinden sich dann, wie PLATO schon im Gorgias ausführt, in der ihnen jeweils naturgemäßen oder wesensgemäßen Verfassung der Wohlgeordnetheit. Gerechtigkeit ist damit die Entfaltung des Wesens der Seele wie der Polis. In der ontologischen Grundlegung ist ^ Vgl. Gorgias 504a-d, 506d, Politeia 443c-e, 444d-e u. ö. Vgl. zur grundlegenden Kosmos-Taxis-Lehre Platos in diesem Zusammenhang H. }, Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles (s. Anm. 13). 81 ff, 83 ff.

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das eine dem anderen analog, auch wenn sich in ethischer Betrachtung die Gerechtigkeit des Ganzen als das Primäre erwies. - Das Wesen der Seele nun, das in der Gerechtigkeit zur ethischen Vollendung gelangt, ist Idee, die die anderen Tugenden als beständige Grundmuster ethischen Verhaltens, d. h. als speziellere ethische Ideen in sich vereinigt. Da die Ideen für PLATO zugleich das wesentliche und konstante Sein von etwas ausmachen, werden die Tugenden dadurch zu Grundbestimmungen, in denen und deren Verhältnissen die Seele ihr eigenes wesentliches Sein verstehen kann, d. h. zu Grundbestimmungen in einer Ontologie der Seele. PLATO hat allerdings, vielleicht weil er - nach dem Charmides ein derartiges Wissen von sich nicht für nützlich, also nicht für ein praktisches Wissen hielt, dem er damit aber wohl zu enge Grenzen zog, eine solche spezifisch die Ethik als Tugendlehre fundierende Ontologie der Seele nicht näher ausgeführt. - Ganz parallel zur Seele gelangt die Polis zu der ihr wesensgemäßen Vollendung durch die Gerechtigkeit im sog. Idealstaat. Diesem kommt eigentliches, wesentliches Sein zu, das in der Idee der Gerechtigkeit der Polis gedacht wird. Er findet sich jedoch nicht in der sinnlichen, zeitgenössisch-geschichtlichen Realität. - Obwohl die Tugenden und insbesondere die Gerechtigkeit als Ideen in zugleich ontologischer Bedeutung konzipiert werden, behalten sie daher ihren ethischen Sinn. Sie implizieren sittliche Aufforderungen, ihnen gemäß die sinnliche Wirklichkeit und das Verhalten zu gestalten, so daß beides an den Tugenden teilhaben kann. Aus der Tugendlehre ergibt sich somit eine Lehre von sittlichen Imperativen ebenso wie sich - nach den früheren Darlegungen - eine Lehre vom sittlichen Glück als Telos des Handelns aus ihr ergeben hatte. PLATOS Ethik wird also nicht schon dadurch, daß sie Tugenden als Ideen begreift, zu einer theoretisch-metaphysischen Lehre. Er denkt - wie im Phaidon - Ideen als Ursachen für die Gestaltung und Beschaffenheit des Sinnlichen. Dies Verursachen kann durchaus tugendhafte Haltung im Handeln sein. Er hat allerdings das sittliche Ursachesein von Tugendideen nicht prinzipiell in einer Theorie vom Ursachesein etwa der Ideen für Artefakte oder für Naturdinge unterschieden. Ferner wird die Idee, auch die Tugendidee, zwar als Ousia, als Wesen konzipiert; aber das Verhältnis einer Idee als Ursache zu dem von ihr Geformten oder der Teilhabe von Dingen und Begebenheiten an Ideen wird noch vor und noch unabhängig von der späteren Theorie des Verhältnisses von allgemeiner Essenz und Existenz des Einzelnen gedacht, die ARiSTOTELischen Ursprungs ist. Für PLATO sind die Tugendideen verursachende Wesenhei-

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ten, die, in ihrer Einheit verwirklicht, der Polis ebenso wie der Seele Vollendung und Glück als wirkliche Folge bringen. Diesen Zusammenhang selbst begründet PLATO noch einmal in der Idee des Guten als höchstem Prinzip der Tugenden und als Urgrund alles wesentlichen und wirklichen Seienden, d. h. als Prinzip der Ethik und der Ontologie in allen ihren Bestimmungen. Es sei nur darauf hingewiesen, daß der späte Plato bei dieser klassischen Tugendlehre nicht stehenbleibt, sondern erneut nach der Bestimmung einzelner Tugenden, nach deren Verhältnis zueinander und nach deren Einheit fragt. Wie erwähnt, hebt er nun stärker die physische Basis hervor; speziell Tapferkeit und Besonnenheit werden dabei entschiedener als früher vom heftigen und vom sanften Temperament her verstanden. Diese Temperamente handeln freilich, wie PLATO im Politikos ausführt, tugendhaft nur im richtigen Augenblick und in der Wahl des Angemessenen unter Vermeidung von Extremen. Die Bestimmung des Angemessenen und der Mitte erfolgt durch vernünftige Einsicht in einer Art ethischer Meßkunst (vgl. 284e, 306 e ff). In dieser Auffassung des späten PLATO ist im wesentlichen ARISTOTELES' Mesotes-Lehre für die ethischen Tugenden vorgezeichnet. Auch in PLATOS Abhebung dieser Tugenden insbesondere von der Weisheit kündigt sich - wenn auch ohne genauere Theorie - der ARiSTOTELische Grundunterschied von ethischen und dianoetischen Tugenden an. - PLATO nimmt allerdings im Politikos nicht mehr wie früher einfach eine Harmonie der Tugenden untereinander an; aufgrund der entgegengesetzten Temperamente der Tapferen und der Besonnenen sieht er die Gefahr einer Tugendenkollision (308b). Sie kann und muß in der Polis durch weise Staatskunst und ihre Gesetze sowie durch Erziehung und durch menschliche Bande vermieden werden. Das Problem der Einheit der Tugenden stellt sich damit erneut; der späte PLATO hat jedoch trotz der Modifikation der Tugendlehre keine grundsätzlich neue Lösung dargelegt.

Platos späte Darlegungen zur Tugendlehre und deren Nähe zur Tugendlehre des Aristoteles werden selten beachtet; vgl. aber die gründliche Interpretation der Ausführungen Platos dazu im Politikos von H. ]. Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles. 152 ff. Die Mitte sei, wie er darlegt, freilich nicht wie bei Aristoteles eine Mitte nur über „Unwerten"; systematisch habe solche anderen Möglichkeiten N. Hartmann erkannt; vgl. N. Hartmann: Ethik. 4. Aufl. Berlin 1962. 570 f, auch 439 ff, - Ebenso weist Gadamer hier betont auf die Zusammenhänge des späten Plato mit Aristoteles hin; vgl. H.-G. Gadamer: Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles (s. Anm. 9). 74 f.

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II. Platos Tugend- und Staatslehre in Hegels politischer Ethik a. Ethos und Polis in Hegels frühem Jenaer Ansatz Hegel nimmt in der frühen Jenaer Zeit Grundzüge der PLAionischen Ethik in seine eigene Konzeption holistischer politischer Ethik auf, ohne freilich die diffizilen Unterscheidungen, Verbindungen und Abwandlungen von Motiven und Argumentationen in der sich entwickelnden Ethik PLATOS näher zu berücksichtigen. Beziehungen zu verschiedenen besonderen Themen der ARiSTOTELischen Politik, insbesondere zu dem für Hegel zentralen Grundsatz, die Polis sei eher als der Einzelne sind damit keineswegs ausgeschlossen. Für Hegels ersten Jenaer Entwurf einer politischen Ethik dürften aber die Grundlagen der PLAionischen Tugend- und Staatslehre systematisch bedeutsamer sein. PLATOS Lehre wird als eine politische Ethik, in der noch keine formalen Verhaltensprinzipien für autonome einzelne Subjekte aufgestellt werden, zum Vorbild für eine neue Theorie der Sittlichkeit, in der jene formalen Prinzipien und jene einzelnen Subjekte, für die sie gelten, keine eigenständige Bedeutung mehr haben sollen. Hegel sucht durch eine solche systematische Integration von Grundeinsichten der PLAionischen Ethik in seinen Ansatz die von

Aristoteles: Politik. 1253a 25-29. Heget: Gesammelte Werke. Bd 4, Hrsg, von H. Büchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968. 467, vgl. 617. Diese Zusammenhänge sind schon seit Rosenkranz immer wieder benannt, wenn auch historisch und systematisch erst ansatzweise untersucht worden. Vgl. K. Rosenkranz: Hegels Leben. Berlin 1844. 124, auch 104; vgl. auch R. Haym: Hegel und seine Zeit. Berlin 1857. 160 ff. Rosenzweig warnt dagegen vor einer Überschätzung des Plato-Einflusses, vgl. F. Rosenzweig: Hegel und der Staat. München, Berlin 1920. Neudruck: Aalen 1962. Bd 1. 135, 142 ff. Ilting weist Hegels Beziehungen zu Aristoteles nach, ohne die Bedeutung Platos für Hegels Ansatz zu leugnen, vgl. K.-H. Ilting: Hegels Auseinandersetzung mit der aristotelischen Politik. In: Philosophisches Jahrbuch. 71 (1963/64), 38-58. Riedel spricht von antiker Polis-Sittlichkeit bei Hegel eher mit Bezug auf Aristoteles (vgl. z. B. M. Riedel: Hegels Kritik des Naturrechts, ln: Hegel-Studien. 4 (1967), bes. 182 f, 190 f), Horstmann von Hegels Orientierung an der platonisch-aristotelischen Staatslehre (vgl. R.-P. Horstmann: Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie, ln: Hegel-Studien. 9 (1974), bes. 214, 218, auch 223). Auch Janicaud sieht in Hegels frühem Jenaer Entwurf griechisches, platonisch-aristotelisches Polis-Denken (D. janicaud: Hegel et le destin de la Grece. Paris 1975. Bes. 93-101); Vieillard-Baron dagegen betont wieder speziell Plato-Einflüsse, und zwar mit einzelnen Stellennachweisen (vgl. J.-L. Vieillard-Baron: Platon et l’idealisme allemand (1770-1830). Paris 1979. Bes. 136-142. Eine Rehabilitierung der klassischen politischen Philosophie sieht Siep in Hegels frühem Jenaer Ansatz (vgl. L. Siep: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes. Freiburg, München 1979. Bes. 156-164). Die Beziehungen zu Aristoteles in diesem Jenaer Ansatz sind freilich eher vereinzelt und weniger prägnant für Hegels eigene Konzeption einer politischen Ethik.

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ihm beanspruchte Überwindung des KANiischen Formalismus in der Ethik abzusichern. Seine Naturrechts- und Staatskonzeption darf somit nicht isoliert aufgefaßt, sondern muß von dieser ethischen Grundlage her betrachtet werden. Hegel beruft sich bei seiner Ablehnung des ethischen Gesetzesformalismus, wie er ihn versteht, auf die erwähnte Kritik PLATOS am uferlosen Erlassen ständig neuer, starrer Einzelgesetze und -Vorschriften sowie auf PLATOS Auffassung, die gerechte Einsicht vernünftig Regierender ohne solche Gesetze berücksichtige die Vielfalt und Beweglichkeit menschlicher Verhältnisse weitaus angemessener. Hegel sieht darin einen grundsätzlichen Hinweis auf die Unzulänglichkeit von starren, endlichen Gesetzen, das sittliche Leben eines politisch organisierten Ganzen zu fassen.^ Jedes bestimmte und beschränkte Gesetz hat nach Hegel ein anderes, ebenfalls bestimmtes und beschränktes Gesetz außer sich, das ihm nicht nur kontradiktorisch, sondern inhaltlich konträr entgegengesetzt ist. Grundlagen für dieses Argument entnimmt Hegel seiner Logik, nach der - schon in der damaligen Konzeption - einer endlichen Bestimmtheit notwendig nicht nur eine kontradiktorisch, sondern eine konträr entgegengesetzte Bestimmtheit gegenübersteht. Gleich geltende, jedoch einander entgegengesetzte Gesetze als Bestimmtheiten heben nun einander auf, widersprechen einander; das Ausweichen in neue gesetzliche, endliche Bestimmungen aber führt in einen unendlichen Progreß des Bestimmens. Der vollständige Gesetzesformalismus ist daher etwas an sich Nichtiges. Dies glaubt Hegel gleichermaßen an der KANiischen Ethik wie an der damaligen Verfassung des deutschen Reiches nachweisen zu können. Gesetze behalten jedoch für Hegel in der lebendigen Sittlichkeit eine begrenzte Bedeutung - ebenso wie Begriffe innerhalb der logisch-metaphysischen Wahrheit^^; die Gesetze, die ja selbst begriffliche Bestimmtheiten für das Handeln darstellen, müssen sich auf eine universale Anschauung beziehen, aus der sie erst ihren bestimmten Sinn erhalten, auf

^ Vgl. Hegel: Gesammelte Werke. Bd 4. 452 f, 457 f (615 ff). Hegel zitiert ausführlich aus Politikos (294a-c) und Polüeia (425c.^26a, 426e, auch 404e-405b). - Die Kritik am Staat als einem mechanischen Räderwerk war damals weit verbreitet; sie findet sich bei Hegel schon in den Jugendschriften. Zur Logik und Metaphysik Hegels in der frühen Jenaer Zeit und zur damaligen Trennung von Begriff und Anschauung vgl. z. B. vom Verf.; Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik. Bonn 1976. (Hegel-Studien. Beiheft 15.) Bes. 76-108, 134-147.

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die Sitten eines Volkes, die in allen Mitgliedern dieses Volkes unmittelbar gegenwärtig sind. Die Gesetze können dann zum einen der ideale und allgemeine Ausdruck jener lebendigen Sitten sein; sie fungieren insofern nicht eigentlich als zwingende Notwendigkeiten für das Handeln. Hegel setzt hiermit seine Überlegungen aus den Jugendschriften zur lebendigen Religion eines Volkes, die dessen Sittlichkeit einschließt, und zum Positiv- und Gesetzlich werden solcher Religion fort.^* Zum anderen weist Hegel den einzelnen Gesetzen als endlichen Bestimmtheiten, sofern sie für sich als Handlungsvorschriften gültig sein sollen, im sittlichen Ganzen einen bestimmten, beschränkten Geltungsbereich zu, den des formellen Rechts, das für Besitz und Eigentum gilt, d. h. in Hegels Konzeption den des Standes des bourgeois. Hegel verleiht also der PtATonischen Gesetzeskritik innerhalb seiner Konzeption grundlegende Bedeutung vor dem Hintergrund seiner eigenen Auffassung vom lebendigen sittlichen Ganzen. Das Geltenlassen formeller Gesetze in einem einzelnen Stand verweist nun auf eine weitere zentrale PLATO-Adaption Hegels innerhalb der politischen Ethik. In der Theorie der Organisation und Gliederung des sittlichen Ganzen orientiert Hegel sich am Grundriß der PLATonischen Lehre vom Ständestaat und von der Entsprechung der Stände und der Tugenden. Wie PLATO geht Hegel somit in seiner Theorie der Sittlichkeit wesentlich vom politischen sittlichen Ganzen aus, das ständisch organisiert ist. Anders als etwa ARISTOTELES und wie PLATO unterscheidet er drei Stände. Im Unterschied zu ARISTOTELES habe PLATO „nach seiner hohem Lebendigkeit"^^ das Philosophieren und die Befassung mit öffentlichen Angelegenheiten nicht getrennt; Hegel dürfte hier an PLATOS Eorderung denken, die Philosophen sollten herrschen oder die Herrscher Philosophen sein. Die Weisheit, die Hegel gelegentlich erwähnt, bezeichnet er nur im PLATO-Kontext als spezifische Tugend der Herrscher bzw. des Herrschers.^ In seiner eigenen Theorie

^ Vgl. dazu bes. A. Pqjerzak: Le jeune Hegel et la Vision morale du monde. 1. Aufl. Den Haag 1969. 15 ff, 78 ff, 101 ff, 200 ff und O. Pöggeler: Hegels Jugendschriften und die Idee einer Phänomenologie des Geistes. Unveröff. Habilitationsschrift. Heidelberg 1966. Ges. Werke. Bd 4. 455. - Zur Bedeutung von Stand und Staat beim jungen Hegel im Kontext seiner Zeit vgl. R. K. Hoievar: Stände und Repräsentation beim jungen Hegel. München 1968 sowie - im Kontext der politischen Entwicklung der Neuzeit: S. Skaltveit: Der Beginn der Neuzeit. Darmstadt 1982. Bes. 136 ff. Vgl. Ges. Werke. Bd 4. 452; vgl. zur Erwähnung der Weisheit System der Sittlichkeit. Hrsg, von G. Lasson (Nachdruck aus Hegel: Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie. Hrsg, von G. Lasson. 2. Aufl. Leipzig 1923). Hamburg 1967. 73, 65, 74 f, 84.

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nimmt er diese Zuordnung nicht eindeutig vor. Er trennt die Regierenden nämlich nicht von den Wehrleuten ab. Der erste Stand ist in Hegels Konzeption der Stand der „Freien", derjenigen, die sich herrschend oder kämpfend für das sittliche Gemeinwesen einsetzen; dieser Stand entspricht den Wächtern im allgemeinen in PLATOS Politeia noch vor ihrer Aufteilung in Regierende und Wehrleute. - Im System der Sittlichkeit unternimmt Hegel den Versuch, diesem Stand noch die Alten und Priester vorzuordnen, die die Sittlichkeit des Ganzen rein vertreten und daher keinem bestimmten Stande angehören. Ihnen schreibt Hegel zwar Weisheit zu; doch philosophieren sie weder noch sind sie ständisch organisiert und daher auch mit PLATOS erstem Stand kaum vergleichbar. Hegel hat später diese Konstruktion nicht beibehalten. Hegels erster Stand entspricht also hinsichtlich der Aufgaben und der Mitglieder PLATOS erstem und zweitem Stand. Nach Hegel sind die Mitglieder dieses ersten Standes tapfer; damit ist es wie bei PLATO auch der Stand selbst und - was man aus Hegels Darlegungen erschließen kann das ganze Gemeinwesen. Tapferkeit aber wird von Hegel anders als von PLATO als absolute Sittlichkeit gedacht; sie besteht im Einsatz für das sittliche Ganze auch bei Lebensgefahr und im Aufsichnehmen eines gewaltsamen Todes; der Tapfere beweist damit, daß er frei und unabhängig von den sein Leben bestimmenden, besonderen Endlichkeiten und endlichen Verhältnissen ist, daß also seine Sittlichkeit absolut ist. Sittlichkeit besteht für Hegel hier im Sicheinsetzen für ein sittliches Gemeinwesen, das freilich nicht die Polis ist, sondern das er mit einer HEROER-Assoziation als das „Volk" oder auch als „Vaterland und Volk"^° bezeichnet. Darunter versteht er die das Leben und das Ethos des Einzelnen prägende Organisation einer Menge von Menschen, für die gleiche natürliche, räumlichgeographische und kulturelle Bedingungen gelten, zu einer realen Einheit. Sittlichkeit ist nach Hegel das Leben und Sterben in einem solchen Vgl. System der Sittlichkeit. 71 ff. An der mangelnden Integration dieser Gruppe zeigen sich erste Probleme des Verhältnisses von Religion und Staat in Hegels Entwurf. Ferner betrachtet Hegel die Alten und Priester anti-individualistisch; denn das Alter ist seiner Ansicht nach als „Leib" der Sittlichkeit des Ganzen deshalb geeignet, weil es der Individualität „entbehrt" (ebd. 72). - Zur Kritik an solchen theokratischen Momenten von Hegels Konzeption vgl. H. Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Hegels „System der Philosophie" in den Jahren 1800-1804. Bonn 1970. (Hegel-Studien. Beiheft 8.) 241 f, auch - von Plato aus - J.-L. Vieillard-Baron: Platon et l'idealisme allemand (s. Anm. 33). 139 f. ^ Vgl. Ges. Werke. Bd 4. 449 f, 479 u. ö., System der Sittlichkeit. 54, 56 f u. ö. Zur Wirklichkeit des sittlichen Ganzen, die im Folgenden gekennzeichnet wird, vgl. Ges. Werke. Bd 4. 440.

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Volk und für ein solches Volk. Dieses stellt das reale, natürliche und geschichtliche sittliche Gemeinwesen dar, das nicht nur ein Idealstaat oder ein ideales Reich der Zwecke ist. In dieser realen Existenz und Wirklichkeit eines sittlichen Ganzen sieht Hegel den entscheidenden Fortschritt insbesondere gegenüber KANT, der freilich in solcher immer auch unvollkommenen geschichtlichen Realität nicht den Maßstab der Sittlichkeit zu erblicken vermochte. - In dieser Auffassung der Sittlichkeit als Tapferkeit liegt offenbar eine ethische Grundanschauung Hegels. Schon in den Jugendschriften feierte er die Tugend des freien Republikaners, der sein Leben für das „Vaterland" aufopfert. Dies Tun legte er damals noch KANTisch aus; KANT selbst bezeichnete in der von Hegel kommentierten Metaphysik der Sitten die Tugend, die die Sittlichkeit im Kampf gegen Widerstände darstellt, im ganzen als moralische Tapferkeit.Hegel nahm dies nicht ausdrücklich auf; vor allem verstand er auch damals schon jene sittliche Vortrefflichkeit des Republikaners als politische Tugend. Der geschichtliche Hintergrund war für ihn ebenso römisch-republikanisch als griechisch. Dies dürfte hinsichtlich des zugrunde liegenden Anschauungsgehaltes auch für die Tapferkeit des ersten Standes in seinem frühen Jenaer Ansatz gelten. - Diese ethische Grundhaltung kann wenigstens zu einem Teil auch die zentrale Bedeutung des Kampfes auf Leben und Tod für die Selbstkonstitution und für die Anerkennung verständlich machen, die Hegel insbesondere in der ersten Jenaer Geistesphilosophie (1803/04) und in der Phänomenologie umreißt. In solchem Kampfe beweisen die Gegner für Hegel auf elementare Weise einander ihre Unabhängigkeit vom physischen Dasein und ihre Geistigkeit. Solche elementare „Sittlichkeit" ist allerdings noch nicht Tapferkeit, da das sittliche Ganze noch nicht konstituiert ist, für das der Tapfere lebt und handelt. In seinem frühen Jenaer Entwurf ist die Tapferkeit zwar zunächst TuVgl. Hegel: Theologische fugendschriften. Hrsg. v. H. Nohl. Tübingen 1907. Nachdruck: Frankfurt a. M. 1966. Z. B. 70, 222 f (mit Beziehung auf Montesquieu). Vgl. Kant's gesammelte Schriften. Hrsg, von der Preußischen (Deutschen) Akademie der Wissenschaften. Berlin 1910 ff. Bd 6. 405, 380, auch Bd 7. 257, 259. Ein bei Hegel immer wiederkehrendes Lakedämonier-Beispiel, das griechische Sittlichkeit vor Augen führt, weist U. Rameil auf: Sittliches Sein und Subjektivität. Zur Genese des Begriffs der Sittlichkeit in Hegels Rechtsphilosophie. In: Hegel-Studien. 16 (1981), bes. 139-162. Zu diesem Kampf und dem Hobbes-Hintergrund vgl. L. Siep: Der Kampf um Anerkennung. Zu Hegels Auseinandersetzung mit Hobbes in den Jenaer Schriften. In: Hegel-Studien. 9 (1974), 155-207.

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gend und Sittlichkeit des Einzelnen. Dessen sittliche Bewährung besteht jedoch im wissentlichen und willentlichen Erleiden des eigenen Untergangs für das Volk. Für PLATO war die Individualität mit ihren spezifischen Rechten und ihrer Freiheit noch kein eigenes Problem; Hegel dagegen konzipiert - gegen die aufklärerische Auffassung von den unaufhebbaren Rechten und der Freiheit des Individuums als solchen - die eigentliche sittliche Bewährung als das Aufopfern des individuellen Lebens für das politische Ganze und für dessen weitere Existenz. Hegels Auffassung der absoluten Sittlichkeit als Tapferkeit ist somit anti-individualistisch. Ihm gilt eine spezifische Tugend, die in lebensbedrohenden Situationen sittlich zutiefst begründet sein kann, als Paradigma der Sittlichkeit überhaupt. Dabei nimmt er zugleich, wie bekannt, allzu bereitwillig die Auseinandersetzung zwischen Völkern als Krieg hin, als gewaltsame, todbringende Kollision geschichtlich verschiedener, kollektiver Individualitäten, die dadurch angeblich ihre „sittliche Gesundheit"^ restituieren. Ebenso beraubt er durch den empirisch-geschichtlichen Inhalt dieser Sittlichkeit, nämlich ein geschichtlich existierendes Volk, das kriegerisch gegen andere Völker steht, die Tapferkeit ihres allgemein-menschlichen Sinnes und damit ihrer allgemein-sittlichen Berechtigung; sie wird formalisiert zur Haltung der Aufopferung für dasjenige Volk, dem der betreffende Einzelne gerade angehört. Die Tapferkeit ist für Hegel also Tugend überhaupt oder „Tugend an sich" und „Indifferenz der Tugenden", während „jede andere nur eine Tugend ist"^^. Hegel stellt sich wie PLATO das Problem der Einheit der Tugenden. Auch für PLATO ergab sich im Lackes, daß die Tapferkeit Tugend im allgemeinen ist. Doch ist das Ende dieses Dialogs aporetisch; Hegel dagegen vertritt jene These über die Tapferkeit als eigene Auffassung. - In den Frankfurter Schriften sah Hegel die Einheit und das Prinzip der Tugenden in der Liebe; die Tugenden dachte er damals noch in gewisser Weise KANTisch als Haltungen und Eigenschaften sittlicher Individuen als solcher, freilich nicht mehr als Weisen innerer sittlicher Bezwingung, die in jedem Einzelnen stattfinden soll. In der frühen Jenaer

** Vgl. Ges. Werke. Bd 4. 450. Vgl. auch System der Sittlichkeit. 58 ff und noch Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg, von J. Hoffmeister. 4. Aufl. Hamburg 1955. § 324 Anm. Wer in tapferem Kampfe nicht gestorben ist, so berichtet Rosenkranz von Hegels Jenaer Naturrechtsvorlesungen, dem bleibe nur in der Spekulation eine allgemeine, nicht-individuelle Existenz (vgl. Rosenkranz: Hegels Leben. 132 f). System der Sittlichkeit. 58. Vgl. Ges. Werke. Bd 4. 450, 455.

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Konzeption aber denkt Hegel Tugend prinzipiell politisch; daher wird die Liebe als Prinzip der Tugenden abgelöst durch die Tapferkeit als Einsatz für das Volk bis zum Tode. Die Tapferkeit bildet somit nach Hegel die Grundlage für spezielle Tugenden wie etwa Freigebigkeit oder Sparsamkeit, deren Maß sie auch bestimmt. - Dem ersten Stand und seinen Mitgliedern, den Freien, kommt also die Tapferkeit als absolute Sittlichkeit und als fundamentale politische Tugend zu. Obwohl Hegel sich im allgemeinen am PLAionischen Staat mit seinen drei Ständen orientiert, verändert er inhaltlich deren jeweilige Bestimmungen; dies gilt für den zweiten Stand noch weitaus mehr als für den ersten. Der zweite Stand ebenso wie der dritte ist für Hegel anders als für PLATO ein Stand der Nichtfreien. Dem zweiten gehört der arbeitende, Besitz und Eigentum erwerbende, seine partikuläre Einzelheit bewahrende Bürger, der bourgeois an. Er arbeitet für seine eigene Bedürfnisbefriedigung; er muß im Staat freilich auch für die des ersten Standes sorgen. So entspricht dieser Stand in seiner Arbeit und seinem Privatbesitz einem Teil des dritten Standes bei PLATO. Er wird von Hegel jedoch modern als die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft im Staat verstanden^^; deren Mitglieder gehen selbstsüchtig nur ihren Privatinteressen nach und erwarten vom Staat lediglich Sicherung ihres Lebens und ihres Eigentums durch das formale Recht und dessen Durchsetzung. Diese Schilderung impliziert eine herbe ethische Kritik am bourgeois; sie schwingt auch später noch in Hegels gemäßigterer Schilderung der bürgerlichen Gesellschaft mit. Der bourgeois setzt sich seiner eigenen Intention nach nicht für das sittliche Gemeinwesen ein; nur an seinem Privatbesitz und an seiner partikulären Sicherheit interessiert, nimmt er die Gefahr des Todes nicht auf sich. So kommt ihm absolute oder eigentliche Sittlichkeit nicht

^ Vgl. Ges, Werke. Bd 4. 455. Platos Ausführungen im Politikos (308e-309a) über Strafen, Züchtigungen und Unterjochungen der - wie er glaubt - von Natur aus Untugendhaften können schwerlich als Grundlage für die Konstitution dieses zweiten Standes angesehen werden, wie Hegel es polemisch insinuiert, der damit die Unfreiheit dieses Standes zu rechtfertigen sucht (vgl. Bd. 4. 455 f). Vgl. dazu insbesondere in Hegels frühem Jenaer Ansatz die Darlegungen von R.P. Horstmann: Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie (s. Anm. 33). Bes. 209 ff, 213-226. Zu Hegels Auffassung vom Bourgeois-Staat in den Frankfurter Schriften vgl. O. Pöggeler: Hegels praktische Philosophie in Frankfurt, ln; Hegel-Studien. 9 (1974), bes. 91 f, 93 ff. Zu Hegels späterer Auffassung von der bürgerlichen Gesellschaft vgl. z. B. M. Riedel: Hegels Begriff der „Bürgerlichen Gesellschaft" und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs, ln: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Hrsg. v. M. Riedel. Frankfurt a. M. 1975. Bd 2. 247-275.

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Er lebt jedoch in einem Volk und ist durch dessen Sitten geprägt. Eine niedrigere Weise von Sittlichkeit gesteht Hegel dem bourgeois daher zu; sie besteht - dessen Verständnishorizont entsprechend - in der Angemessenheit gegenüber dem formalen Rechtssystem, das das politische Ganze etabliert zum Schutz von Leben und Eigentum, d. h. in der Rechtschaffenheit.'^^ Sie ist dem Recht gemäß, daß jedem das Seine zukomme, womit Hegel vage und nur hinsichtlich des Privatbesitzes an die PbATonische Bestimmung der Gerechtigkeit erinnert. Später wird für ihn die Rechtschaffenheit zu einer allgemeineren Tugend, die sich nicht nur auf den bourgeois beschränkt. In seinem frühen Jenaer Ansatz aber zögert Hegel, sie überhaupt als Tugend anzusprechen, da sie die Tapferkeit, die Tugend „an sich" ausschließt. Deshalb gilt sie Hegel als bloß „relative Sittlichkeit". Weil der bourgeois hierbei eigennützig bleiben kann, ist seine Rechtschaffenheit nicht mehr als Legalität. Mit dieser Lehre vom zweiten Stand versucht Hegel, die Bestimmungen des modernen liberalen Staates aufzunehmen in seine platonisierende Staatskonzeption, aber zugleich zu reduzieren auf die Bedeutung eines Standes, der noch dazu dem ersten Stand untergeordnet ist. Der geschichtliche Prozeß der Privatisierung des zuvor öffentlichen Lebens seit dem Untergang der griechischen Polis und dem Verfall Roms kulminiert für Hegel in den modernen Staaten, die nur noch dem „Prinzip der formellen Einheit und Gleichheit"^’ und dem daraus sich ergebenden Gesetzesformalismus folgen und die durch Egalisierung der verschiedenen Stände die Prinzipien des zweiten Standes auf das politische Ganze ausdehnen. Da dann am Ende niemand mehr für das Volk arbeitet und sich einsetzt, absolute Sittlichkeit also unmöglich wird, entwirft Hegel ein neues, an die PbATonische Polis anknüpfendes Staatsmodell, in dem die moderne bürgerliche Gesellschaft mit ihrem formalen Rechtssystem begrenzt wird auf einen vom Ganzen abhängigen Stand. - Diese ethischpolitische Auffassung also ist es, die Hegel unmittelbar über „formelle" aufklärerische Naturrechtstheorien und Theorien der bürgerlichen Gesellschaft hinaustreibt, nicht bzw. nur mittelbar die neue Begrifflichkeit seiner Logik und Metaphysik, in der jener ethisch-politische Ansatz dann freilich theoretisch begründet werden muß. Diesen unpolitischen Privatpersonen als den Mitgliedern des zweiten ZU.

^ Vgl. System der Sittlichkeit. 60. Ges. Werke. Bd 4. 456. In der Auffassung vom Untergang der Freiheit in der Antike folgt er wie schon in den Jugendschriften der Darlegung Gibbons.

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Standes kommt nach Hegel ferner nur Moralität zu; sie gilt ihm als innerlich und formal bleibende, nicht öffentlich wirksame Gesinnung des Einzelnen. So wenig wie die Legalität oder Rechtschaffenheit ist die Moralität für Hegel wahrhafte Sittlichkeit; sie bleibt prinzipiell unpolitisch. Hegel glaubt hiermit auch die Moralphilosophie KANTS und FICHTES ZU treffen. Doch ist bei ihnen, was hier nur erwähnt sei, weder das Subjekt der Moralität der bourgeois“ noch überhaupt ein isolierter Einzelner, noch bleibt die Moralität bedeutungsleerer, öffentlich unwirksamer Inhalt des individuellen Seelenlebens; das Subjekt der Moralität ist vielmehr der frei handelnde und wirkende Einzelne als Selbstzweck im Reich der Zwecke, d. h. als sittlicher Bürger in einem idealen sittlichen Staat, der für alle zu erstreben ist auch über Standes- und Volksgrenzen hinaus. Hegel deutet, mißdeutet und kritisiert KANTS und FICHTES Moralphilosophie dezidiert unter den Prämissen seiner eigenen politischen Ethik, für deren Grundeinsichten er sich auf PLATO beruft. Der dritte Stand ist nach Hegel der Bauernstand, dessen Arbeit nicht bildet, sondern roh bleibt. Wie der zweite produziert er für die Bedürfnisbefriedigung. Aber er wird nicht vom Streben nach Besitz und dessen Legalisierung geleitet. Seine Arbeit verbleibt im Rahmen der Natur und ist damit selbst natürlich; sie verfällt nicht der Arbeitsteilung der Industriegesellschaft; vielmehr bleibt sie unmittelbar ein in sich einfaches Ganzes. - So sind für Hegel Mitglieder dieses Standes auch in ihrer ethischpolitischen Haltung eher aufgeschlossen für das Ganze als die Besitzbürger. Die spezifische Tugend des Bauernstandes ist das Zutrauen zum ersten Stand. Dies ist der PLATonischen Auffassung analog, daß der dritte Stand, der ja auch bei PLATO wenigstens zum Teil aus Bauern besteht, kraft der Besonnenheit seine Zustimmung dazu gibt, daß der erste Stand der herrschende sei. Ferner ist das Zutrauen kein selbständiges vernünftiges Tugendwissen, sondern - platonisch - richtige Meinung. Hegel setzt freilich in Abweichung von PLATO hinzu, daß Mitglieder des dritten StanVgl. Hegels Darstellung in Ges. Werke. Bd 4. 468. - Hegels Jenaer Kritik an Kants Ethik kann hier nicht untersucht werden. Vgl. dazu im Rahmen der umfassenden Betrachtung von Hegels Kritik an Kants Ethik jetzt C. Cesa: Tra Moralität e Sittlichkeit. Sul confronto di Hegel con la filosofia pratica di Kant, ln: Hegel interprete di Kant. Hrsg. v. V. Verra. Neapel 1981. 147-178, bes. 162 ff. - Vgl. ebenso die Darstellung, die stärker kritisch ist, von W. H. Walsh: Hegelian Ethics. London [usw.] 1969. Zu allgemeinen Perspektiven der Betrachtung des Verhältnisses Hegels zu Kant sei der Verweis erlaubt auf die Ausführungen des Verf.s in: Hegel und die Geschichte der Philosophie. Ontologie und Dialektik in Antike und Neuzeit. Darmstadt 1983. Abschnitt 111.2. Vgl. zum Bauernstand Ges. Werke. Bd 4. 455, System der Sittlichkeit. 61, 68.

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des wegen ihrer Offenheit für das Ganze auch die Gefahr des Todes auf sich nehmen und in der Tapferkeit sich dem ersten Stand annähern können. Hegel orientiert sich also bei seinem Entwurf eines sittlichen Ständestaates, wenn auch mit gravierenden Veränderungen im einzelnen, an PLATOS Lehre vom sittlichen Staat mit seinen drei Ständen sowie grundrißhaft an der PLAXonischen Korrelation von Ständen und Tugenden. Wie PLATO ist er der Auffassung, daß die Stände auseinandergehalten werden müssen, damit jeder jeweils seine Aufgabe im sittlich-politischen Ganzen erfüllt. Dies entspricht der PLAXonischen Bestimmung der Gerechtigkeit. Auch die Metapher von der Krankheit des Staates, wenn nämlich die Stände und ihre Systeme aufeinander übergreifen oder sich verselbständigen, jedenfalls sich der Ordnung des Ganzen entziehen, ist PLAXOnisch^^; sie symbolisiert bei PLATO Ungerechtigkeit und damit - wie bei Hegel - Auflösung des vernünftigen Staates. Anders als bei PLATO bleiben bei Hegel allerdings die Stände nicht unveränderlich und nicht in unbewegter Ordnung; sie beruhen für Hegel nicht auf starren Naturkonstanten. Vielmehr befinden sie sich in einem Prozeß untereinander, der die geschichtlichen Veränderungen und Umwälzungen hervorbringt. In dieser geschichtlichen Bewegung der Stände, die für Hegel damals noch keine teleologische Entwicklung darstellt, ist die absolute Einheit der Sittlichkeit und damit in metaphysischem Sinne das Absolute gegenwärtig. Hegels Ethik innerhalb des Entwurfs seines sittlichen Ständestaates ist wie diejenige PLATOS also politisch und holistisch, da sie vom sittlichen Gemeinwesen als einem Ganzen ausgeht; sie folgt - freilich nicht streng oder in reflektierter Konzeption - auch in etwa dem PLAXonischen Muster einer Tugendlehre. Zwar nennt Hegel die Ethik einmal lediglich eine „Naturbeschreibung der Tugenden"^ als sittlicher Eigenschaften des Einzelnen, womit er historisch wohl eher an ARISTOTELES' phänomen-nahe Deskription der Serie von Tugenden als an PLATOS Tugendlehre erinnert. Tugenden sind für Hegel dabei individualisierte sittliche Energien, die Vgl. Ges. Werke. Bd 4. 476. Vgl. Plato: Politeia. Z. B. 444b-d, auch 552c, 556e, 563e-564a. Vgl. Ges. Werke. Bd4. 476, bes. Z. 10 ff. Die Stände bezeichnet Hegel schellingianisierend auch als „Potenzen" der Sittlichkeit; sie bilden graduell gestufte sittliche Mächte. 5“* Ges. Werke. Bd 4. 469. Vielleicht ist in dieser Formulierung auch die natürliche Basis der Tugenden mitgemeint wie in der vergleichbaren, auf Aristoteles' Ethik zu beziehenden späteren Rede von der „geistigen Naturgeschichte" (Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 150 Anm.).

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sich in der absoluten Sittlichkeit als deren besondere Momente finden; sie zeichnen sittliche Individuen aus, die in ihrer Tugend für Hegel spezifische Repräsentanten ihres Volkes sind. Aber sie kommen ebenso, wie gezeigt, den Ständen und damit, da diese die Sittlichkeit des Gemeinwesens organisieren, dem politischen Ganzen als der Grundlage allen sittlichen Handelns zu. Hegel hat allerdings nicht wie PLATO seine Ethik als Tugendlehre begründet. Die Ethik ist bei ihm überhaupt keine in selbständigen Prinzipien fundierte praktische Wissenschaft. Vielmehr ist sie für ihn ein immanenter, freilich notwendiger und wesentlicher Bestandteil seiner Theorie des politischen Ganzen und des in diesem verwirklichten Geistes. Diese Konzeption sucht die Trennung von Ethik und Rechts- oder Staatsphilosophie rückgängig zu machen, die ansatzweise schon bei ARISTOTELES begann und in KANTS praktischer Philosophie ihre klassische Formulierung erhielt. Der eigentliche Grund für diese Wiederaufhebung der Trennung, den Hegel hier offenbar vor Augen hat, ist die Vorstellung, daß der Staat ein genuin ethisches Gemeinwesen ist, das alles sittliche Leben in ihm bestimmt, das somit nicht nur Institution zur Sicherung des formalen Rechts ist, und die von Hegel damit verbundene Vorstellung, daß das Muster der Sittlichkeit des Einzelnen als eines Bürgers in diesem Staat die Tapferkeit als Sich-Einsetzen und Sich-Auf opfern des Individuums für das sittlich-politische Ganze ist. Zwar sind es Individuen, die tapfere Handlungen vollziehen; aber diese haben schon im Entschluß dazu ihre Individualität ideell aufgegeben. In diesem Ansatz liegt einmal, daß das ethische Leben einer politischen Gemeinschaft, was Hegel mit guten Gründen betont, über die Sicherung formalen Rechts hinausgeht; aber es wird nach Hegel durch den Staat als alleinigen Träger gebildet und organisiert, und zwar, wie Hegel es hier konzipiert, auf Kosten ursprünglicher Freiheitsrechte des Individuums. Diese These von der Sittlichkeit des Ganzen und des Individuums bringt wohl mehr Schwierigkeiten mit sich, als sie an den Theorien der Trennung von Recht und Sittlichkeit ausräumen kann. Anders als Hegel annimmt, denkt z. B. auch KANT den Einzelnen in seiner sittlichen Freiheit und seiner sittlichen Gesinnung - teilweise in modifizierender Aufnahme PLATOS - als Bürger eines idealen sittlichen Staates. Aber dieser determiniert nicht als zugleich äußere politische und absolute Macht das sittliche Leben. So vermag KANT in der Anwendung des von ihm formulierten Sittengesetzes auch eine ungleich reichere Palette sittlicher Möglichkeiten zu entwerfen, zu der im äußersten Fall zwar physische Selbstaufopferung, zu der jedoch

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in verallgemeinerungsfähigen Grenzen ebenso physische Selbsterhaltung und z. B. Ausbildung der eigenen Talente, d. h. eigene Vollkommenheit gehören. Die Existenz des sittlichen Individuums und nicht seine Aufopferung bleibt hierfür die Grundlage. Davon unterscheidet KANT die formale Rechtsperson in einem liberalen Staat. Auch nach seiner Auffassung ist es gewiß notwendig, über die Legalität und den liberalen Staat in der Sittlichkeit hinauszugehen, aber nicht, jedenfalls nicht hinsichtlich der sittlichen Motivation, mittels äußerer staatlicher Organisation und Gewalt. Hinzugefügt sei, daß auch in diesem Theorierahmen Organisation sittlicher Handlungen durch staatliche Institutionen möglich und sinnvoll ist, wenn diese gegenüber der sittlichen Motivation und Zwecksetzung liberal bleiben. Zum anderen liegt in diesem Ansatz Hegels, daß das politische Ganze, für das der Einzelne sich einsetzt und aufopfert, wirklich ist; es ist das Volk in seiner konkreten geschichtlichen Existenz und „Individualität", dem der Einzelne angehört. Wenn aber solche besonderen, nicht-universellen sittlichen Ganzheiten, nämlich geschichtliche Völker in ihrer Verschiedenheit jeweils die grundlegenden sittlichen Inhalte und Maßstäbe abgeben, dann droht ein ethischer Relativismus. Diesem entgeht Hegel - nicht jedoch durch ein ethisches Argument, sondern durch die Begründung seiner ethischen Konzeption in der Geistmetaphysik; es ist ein und derselbe Geist, der in verschiedenen sittlichen Ganzheiten auf verschiedene, je geschichtliche Weise gegenwärtig ist und sich darin mehr oder weniger adäquat und vollkommen selbst anschaut. Zur Sphäre der allgemeinen Sittlichkeit eines Volkes gehört für Hegel auch dessen Religion; in seinen Jenaer Ansätzen trennt er noch nicht wie später Staat und Religion als Instanzen des objektiven bzw. des absoluten Geistes systematisch voneinander ab. Der Geist, der die Sitten eines Volkes belebt, wird als eine eigene konkrete Gestalt angeschaut im „Gott des Volkes"®^ und im Cultus verehrt. Hegel nimmt hierbei die HEROERsche Auffassung vom Volksgeist auf und betrachtef als dessen höchsten Repräsentanten den Gott des Volkes. In seinem Gott konstituiert das Volk die geistig-konkrete Gestalt der sein Leben absolut bestimmenden Macht der Sitten. ^ Eine solche Religion stellt die eindringlichste Weise anschauVgl. Ges. Werke. Bd 4. 470; System der Sittlichkeit. 54 f, auch K. Rosenkranz: Hegels Leben. 133. - Das Verhältnis der spezifisch religiösen zur spezifisch politischen Sittlichkeit bleibt dabei ungeklärt. 5* In den verschiedenen Staatsverfassungen schlägt sich nach Hegel zugleich das jeweilige Verhältnis der Mitglieder eines Volkes zu seiner Religion nieder. Die Verfassungen, die Hegel nennt, nämlich Demokratie, Aristokratie, Monarchie und Ochlokratie, Oligarchie,

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lieber Selbstverständigung des Volkes über seine Sittlichkeit und Geistigkeit überhaupt dar; diese Selbstverständigung beruht weder auf bloßer Projektion, da die Religion für Hegel selbst sittliche Realität bedeutet, noch auch auf Offenbarung. Hegel zeichnet in der frühen Jenaer Zeit die christliche Religion noch nicht wie später als die geoffenbarte und wahre aus. In jeder Religion ist der Geist geschichtlich gegenwärtig, freilich wie bei der sittlich-politischen Organisation in mehr oder weniger adäquater Selbstanschauung. Diese gelingt nach Hegel am meisten in der „schönsten Gestalt", womit die griechische Polis und ihre schöne Religion gemeint ist. 57 Schönheit wird hier noch nicht wie später auf die Kunst eingegrenzt; eine systematisch selbständige Ästhetik konzipiert Hegel damals noch nicht. Solche Schönheit und Vollendung der griechischen Polis in platonisierender Deutung sucht Hegel in seinem eigenen ethisch-politischen Entwurf unter Berücksichtigung der Gegebenheiten der bürgerlichen Gesellschaft und des modernen Staates zu restituieren. Diese Konzeption politischer Ethik ist nun in einer bestimmten Logik und Metaphysik fundiert, die Hegel ebenfalls in der frühen Jenaer Zeit entwirft. Dem Gedanken des Volkes liegt logisch der Begriff einer konkreten Allgemeinheit zugrunde. Diese ist nicht abstrakter Begriff als analytische Identität eines sonst vielfältig verschiedenen Mannigfaltigen, sondern in sich einige Ganzheit, die das vielfältige, ihr zugehörige Besondere in sich enthält, ja dessen konstituierender Grund ist. Nach diesem Muster denkt Hegel das Volk als ursprüngliches sittliches Ganzes, das die Stände und die Einzelnen in sich enthält, ja sie in ihrer spezifischen Sittlichkeit erst konstituiert. Das Problem des Erweises der logischen Möglichkeit solcher konkreten Allgemeinheit hat Hegel schon in Jena gesehen und in der Darlegung von Begriff, Urteil, Schluß und der Methode des Erkennens thematisch ähnlich wie später, systematisch jedoch noch in einer Logik der endlichen Reflexion, die zur wahren Erkenntnis außerdem der intellektuellen Anschauung bedarf, zu lösen versucht. Diese Konzeption von konkreter Allgemeinheit und die Notwendigkeit einer sukzessiven Entwicklung solcher Allgemeinheit im Rahmen der Dichotomie sowie der Despotie, erinnern an Aristoteles' Verfassungstheorie, aber auch an die Skizze einer Verfassungslehre in Platos Politikos (301c ff), die jener vorausgeht und neu gegenüber der Politeia ist; vgl. Hegel: System der Sittlichkeit. 90 f. 57 Vgl. Ges. Werke. Bd 4. 484 (der „absolute Geist" ist dort der vollkommen sittliche Geist). Zu dieser Bedeutung von Schönheit vgl. vom Verf.; Idealität und Geschichtlichkeit der Kunst in Hegels Ästhetik, ln: Zeitschrift für philosophische Forschung. 35 (1981), bes. 321 ff (mit weiteren Literaturangaben).

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wechselseitigen Beziehungen von Begriff und Anschauung prägen zugleich Hegels Experiment einer methodischen Explikation seiner politischen Ethik im System der Sittlichkeit.^^ Ebenso beruht, wie gezeigt, Hegels Kritik am Gesetzesformalismus auf seiner frühen Logik der endlichen Reflexion mit ihren einander entgegengesetzten endlichen Bestimmtheiten. In der Entgegensetzung dieser Bestimmtheiten gründet auch der frühe, noch negative Sinn von Hegels Dialektik, die er im Kontext seiner politischen Ethik und Naturrechtstheorie andeutet, die systematisch in seiner frühen Logik fundiert ist und deren historisches Vorbild außer KANTS Antinomienlehre vor allem PLATOS Parmenides mit seinen Paradoxien ist. Das sittliche Ganze als konkrete Allgemeinheit, in der das Besondere enthalten, ja erst konstituiert ist, muß ontologisch als wirklich gedacht werden. Die Wirklichkeit des sittlichen Ganzen ist dann in geistmetaphysischer Explikation die Gegenwärtigkeit des Volksgeistes. Diese Lehre vom Volksgeist aber wird noch einmal begründet, und zwar unplatonisch in einer idealistischen, an SPINOZA anknüpfenden Metaphysik der Einen Substanz, die Hegel in der frühen Jenaer Zeit vertritt. So ist für ihn der „absolute Geist eines Volkes ... die absolute, einfache, lebendige, einzige Substanz" Der Volksgeist ist die Eine Substanz, sofern diese in ihrem Attribut, ihrer Wesensbestimmung des Denkens oder überhaupt der Geistigkeit real und in einem bestimmten Repräsentanten geschichtlich wirklich ist. In ethischer Argumentation hatte sich gezeigt, daß die Individuen für Hegel in ihrer reinen Sittlichkeit nicht selbständig, sondern vielmehr

Hegels dortige Durchführung bleibt zwar schematisch und abstrakt; immerhin aber folgt sie dieser grundlegenden Konzeption. Jenes Verfahren mit Hinweisen auf die logische Grundlage zeichnet /. H. Trede nach: Mythologie und Idee. In: Das älteste Systemprogramm. Hrsg, von R. Bubner. Bonn 1973. (Hegel-Studien. Beiheft 9.) Bes. 176 ff. Auf Hegels logische Grundlagen in diesem Versuch macht zuvor schon aufmerksam H. Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens (s. Anm. 39). 215 ff, 223 ff, 236 ff; vgl. auch R.-P. Horstmann: Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft (s. Anm. 33). Bes. 215 ff, 222 ff. - Zu Hegels früher Logik und Metaphysik s. Anm. 35. ^ Vgl. Ges. Werke. Bd 4. 446; System der Sittlichkeit. 38 f; dazu vgl. vom Verf.: Das Problem der Subjektivität (s. Anm. 35). 93-108, zur Beziehung von Hegels früher Dialektik auf Platos Parmenides ders.: Ontologie und Dialektik bei Plato und Hegel (s. Anm. 2). Bes. 123 ff. “ Ges. Werke. Bd 6. Hrsg, von H. Kimmerle und K. Düsing. Hamburg 1975. 315, vgl. 314, 268, ebenso die substanzmetaphysische, spinozistische Systemskizze Bd 4. 432 f. Vgl. zu dieser Metaphysik der Einen Substanz bei Schelling und Hegel vom Verf.: Idealistische Substanzmetaphysik. In: Hegel in Jena. Hrsg, von D. Henrich und K. Düsing. Bonn 1980. (HegelStudien. Beiheft 20.) 25-44. - Eine Theorie teleologischer Entwicklung der Völkergeister in der Geschichte entwirft Hegel noch nicht.

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nur bestimmte Momente der absoluten Sittlichkeit des Volksgeistes sind; sie befinden sich nur durch ihre Tapferkeit wirklich im göttlichen Geist ihres Volkes. Substanzmetaphysisch und spinozistisch gedacht, bedeutet dies, daß die Individuen nur zufällige Modi der Einen göttlichen Substanz darstellen und nur in der tapferen Aufhebung ihrer selbständigen Existenz absolut sittlich, d. h. in der Substanz oder im Absoluten sind. Hegels politische Ethik und seine anti-individualistische Auffassung von der reinen Sittlichkeit als Tapferkeit und als Aufhebung der selbständigen Existenz der Individualität zugunsten des politischen Ganzen findet also ihre adäquate metaphysische Begründung in jener Metaphysik der Einen Substanz.

b. Griechische und moderne Sittlichkeit in Hegels späterer Plato-Kritik In der frühen Jenaer Zeit galt Hegel die PLATonische Ethik und Staatslehre trotz aller Abänderungen, die er vornahm, allgemein als vorbildlich. Diese Einschätzung ändert sich wenige Jahre später. In der Jenaer Realphilosophie von 1805/06 vermißt Hegel am PLAionischen Idealstaat „das höhere Prinzip der neueren Zeit, das die Alten, das Plato nicht kannte"^^, nämlich die Subjektivität, das absolute Sich-Wissen des Einzelnen, das zugleich dessen innere Freiheit bedeutet. Zum ersten Mal formuliert Hegel hier eine grundlegende Kritik am systematischen Sinn jenes Idealstaats, die er später beibehält. Noch immer ist für ihn die griechische Polis der Inbegriff schöner politischer Sittlichkeit, nämlich unmittelbarer Einheit des Einzelnen mit dem konkreten politischen Allgemeinen ohne die Probleme der Entzweiung, die später in der Geschichte auftraten; aber sie entbehrt insbesondere in ihrer PLAionischen Fassung des eigenen Rechts der freien, sich wissenden Individualität. Diese Kritik enthält keinen Vorwurf gegen den historischen PLATO; Hegel deutet schon hier an, was er später ausführt, daß PLATO vielmehr das Wesen der griechischen Polis ausgesprochen habe. Der Idealstaat ist somit nach Hegel nicht einfach etwas Unwirkliches, sondern vielmehr Wesensbegriff der Polis; aber eben sie ist geschichtlich vergangen, nicht mehr wirklich. Die Wandlung in Hegels Auffassung von PLATOS politischer Ethik ist durch eine prinzipielle systematische Konzeptionsänderung und deren Ges. Werke. Bd 8. Unter Mitarbeit von J. H. Trede hrsg. von R.-P. Horstmann. Hamburg 1976. 263.

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spezifische Folgen motiviert. Hegel verläßt in der Mitte der Jenaer Zeit die Metaphysik der Einen Substanz zugunsten einer Metaphysik der absoluten Subjektivität. Denn zum einen dürfte das Problem der Selbstbezüglichkeit des sich anschauenden und sich wissenden Absoluten kaum substanzmetaphysisch zu lösen sein; zum anderen dürfte die neu in die Geistesphilosophie eingeführte Geschichte des Selbstbewußtseins über verschiedene Stufen hinweg das Selbstbewußtsein kaum vollenden können mit dessen Versenkung in der Substanz. Eine spezifische Folge dieser systematischen Neukonzeption ist Hegels Änderung der Auffassung von der griechischen und der christlichen Religion. Die spekulativ interpretierte christliche Religion ist für ihn nun die absolute und wahre; denn in ihr tritt als die vollendete Wahrheit die Tiefe der Subjektivität und Persönlichkeit Gottes zutage. Die schöne Religion der griechischen Polis sinkt demgegenüber zum heiteren, unernsten Spiel herab. Eine weitere spezifische Folge, die Hegel noch nicht näher charakterisiert, besteht in einem gewandelten Verständnis von Sittlichkeit, die eine Sittlichkeit der Subjektivität und der freien Individualität sein muß. Nicht nur metaphysische und religionsphilosophische, auch solche spezifisch ethischen Gründe dürften verantwortlich sein für die von Hegel dann aufrechterhaltene Kritik an PLATOS politischer Ethik. Hegels Kritik am PLAXonischen Idealstaat ist wesentlich zugleich Selbstkritik; er selbst hat in seinem frühen Jenaer Entwurf einer an PLATO orientierten politischen Ethik das Prinzip der Subjektivität und der freien, ihrer selbst gewissen Individualität mißachtet. - Hegel legt später vor allem in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie ausführlicher seine Deutung und Umdeutung sowie seine Kritik der PLAXonischen Lehre vom Idealstaat dar und geht dabei, wie zu zeigen ist, von den Prämissen seiner eigenen, den Jenaer Entwurf teilweise revidierenden praktischen Philosophie aus; dennoch hält er implizit in dieser späteren Rechtsphilosophie und politischen Ethik an grundsätzlichen paradigmatischen Einsich-

Vgl. dazu vom Verf.: Idealistische Substanzmetaphysik. 41 ff, und zum Folgenden ders.; Idealität und Geschichtlichkeit der Kunst (s. Anm. 57). 327 f; auch Ges. Werke. Bd 8. 281. Daß Hegel damals noch Machiavellismus und Tyrannei als in bestimmten Fällen gerechtfertigt darzulegen sucht (vgl. Ges. Werke. Bd 8. 258 ff), ist signifikant für seine politische Einstellung; es folgt freilich weder aus Platos Lehre, die die Tyrannis als die ungerechteste Verfassung erweist, noch aus dem Prinzip der Subjektivität und freien Individualität, das nicht nur für Herren gelten kann, sondern Grundlage einer neuen, noch auszuarbeitenden politischen Ethik ist.

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ten PLATOS zum politischen Charakter der Ethik fest. ^ In der Betrachtung von Hegels reifer Auseinandersetzung mit PLATOS ethisch-politischer Theorie soll daher zugleich die Art von Ethik deutlich werden, die Hegel selbst dabei vorschwebt. Hegel liefert in dieser Auseinandersetzung eine ontologische und zugleich geschichtliche Deutung und Umdeutung desjenigen Ideals, das das PLATonische Staatsmodell der Politeia darstellt. Gegen die gängige Vorstellung, jener Idealstaat sei ein müßiger Traum und eine Chimäre, gegen die sich schon KANT mit dem Votum für dessen moralische Realität gewendet hatte, führt Hegel das ontologische Argument ins Feld, das Ideal enthalte das eigentlich Wirkliche und Substantielle, das in der Idee begriffen werde. Denn die PLATonische Idee überhaupt, hier speziell die Idee der Gerechtigkeit, bedeute das Wesentliche und Substantielle, das gegenüber der sinnlichen Erfahrungsrealität das eigentlich Wirkliche sei. Das wesentliche Seiende, das PLATO mit dem Idealstaat erfaßt habe, ist allerdings für Hegel in der Geschichte etwas Transitorisches; es wird von ihm geschichtlich als das Wesen der griechischen Sittlichkeit bestimmt, die vergangen ist. Es fragt sich, wie beide Qualifizierungen des Idealstaats miteinander zu vereinbaren sind. In der ontologischen ebenso wie in der geschichtlichen Hinsicht deutet Hegel damit PLATOS Lehre um. PLATO beanspruchte mit seinem Idealstaat keineswegs, das Wesen der griechischen Sittlichkeit zu begreifen; die von ihm entworfene sittliche Polis gab es für PLATO weder in seiner Gegenwart noch in der griechischen Vergangenheit. Ferner hat für PLATO seine Theorie der Sitflichkeit nicht nur geschichtlich transitorische Bedeutung; sie soll vielmehr allezeit für alle der Gerechtigkeit fähigen Menschen gelten. Hegel berücksichtigt zwar die PLATonische Kritik an den damaligen Verfassungen und insbesondere am demokratischen Athen. Aber er sieht darin eine Abwehr des aufkeimenden neuen Prinzips der subjektiven. ^ Hegels Konzeption einer politischen Ethik innerhalb seiner ausgebildeten Rechtsphilosophie und seine generelle Orientierung an Platos Politeia - trotz alter Unterschiede - legt überzeugend A. Peperzak dar. Hegels Pflichten- und Tugendlehre. In: Hegel-Studien. 17 (1982), 97-117, ebenso ders.: Zur Hegelschen Ethik. In: Hegels Philosophie des Rechts. Hrsg, von D. Henrich u. R.-P. Horstmann. Stuttgart 1982. 103-131. Vgl. Sämtliche Werke. Bd 14. Hrsg, von K. L. Michelet. Berlin 1833.172 tt. Grundlinien der Philosophie des Rechts. 14. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Hrsg. V. F. Nicolin u. O. Pöggeler. 7. Aufl. Hamburg 1969. § 552 Anm, (S. 436 ff). Vgl. dazu D. Janicaud: Hegel et le destin de la Grece (s. Anm. 33). Bes. 161 ff und (mit kritischer Wendung gegen Janicaud und unter Betonung des Verhältnisses von Idee und Geschichte) J.-L. Vieillard-Baron: Platon et l'idealisme allemand (s. Anm. 33). 351-369.

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freien Individualität; diese spreche sich insbesondere in der Person des SOKRATES aus, der deswegen von den Athenern verurteilt worden sei. PLATO habe das für die griechische Sittlichkeit drohende Verderben in dieser Phase sinkender Lebenskraft des griechischen Geistes hellsichtig erkannt und Abhilfe in einem völligen Ausschluß des Prinzips der Subjektivität und Einzelheit aus der sittlichen Polis gesucht. Von solchen Überlegungen kann bei PLATO freilich keine Rede sein; er kritisiert zeitgenössische und frühere Verfassungen vielmehr wegen mangelnder Gerechtigkeit, und SOKRATES wird ihm zum Vorbild des Gerechten, der höchstes Unrecht erleidet, und zwar von den sittlich depravierten Athenern. “ Hegel unterlegt seiner entschiedenen Umdeutung der PLATonischen Lehre seine eigene Metaphysik des Volksgeistes und der notwendigen Geschichtsentwicklung. Auch Hegels ontologische Auffassung vom Ideal als eigentlicher Wirklichkeit impliziert eine Umdeutung, die freilich weniger offenkundig ist. Im Anklang an den Satz über die Vernünftigkeit des Wirklichen, der in den Grundlinien der Philosophie des Rechts die kurze Erörterung des PLATonischen Idealstaats in seiner substantiellen Bedeutung abschließt, sagt Hegel in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie: „Das wahrhafte Ideal soll nicht wirklich sein, sondern ist wirklich und allein das Wirkliche.Nur Mißdeutungen haben dies dem PLATonischen Idealstaat nach Hegel abgesprochen. Wirklichkeit ist hier in der Bedeutung der Kategorie der Logik als wesentliche, substantielle, die Trennung von Erscheinung und Ding an sich in höherer Einheit aufhebende Modalbestimmung zu verstehen, die sinnlichem Dasein und empirischer Existenz überlegen ist. Solches Wirkliche sei die griechische Sittlichkeit, die nur dem Ideen-Denken sich erschließe. Damit gibt Hegel die ontologische Be-

^ Nach Poster unterscheidet Hegel bei seinem Vorwurf mangelnder Subjektivität in Platos Polis nicht genau zwischen den Ständen, auch nicht hinreichend zwischen den Seelenvermögen; ferner gebrauche er die Begriffe: Freiheit und ethischer Wille mehrdeutig; außerdem habe Plato nicht die griechische Sittlichkeit lediglich auf den Begriff gebracht. So treffe Hegels Kritik nur unscharf oder gar nicht zu. Vgl. M. B. Foster: The Political Philosophies of Plato and Hegel (zuerst 1935). Nachdruck; Oxford 1968. Bes. 72-98, auch 121 ff. Sämtliche Werke. Bd 14. 274 (belegt in der Nachschrift Griesheim I. 344). Vgl. Grundlinien. 14. Zu Hegels Interpretation dieses Satzes von der Vernünftigkeit des Wirklichen vgl. Enzyklopädie (1830). § 6 Anm. Unter Hinzuziehung verschiedener Versionen aus Nachschriften und Berichten legt Henrich differenzierend eine institutions- und eine geschichtstheoretische Bedeutung des Vernunft-Wirklichkeit-Satzes dar, vgl. D. Henrich: Vernunft in Verwirklichung. In: Hegel: Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift. Hrsg. V. D. Henrich. Frankfurt a. M. 1983. Bes. 13 ff.

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deutung der Ideen im Sinne seiner eigenen Logik spezifischer an. Zugleich drängt er aber die bei PLATO in den Tugenden als Ideen beibehaltene ethische Bedeutung zurück. Für PLATO bleiben, wie gezeigt, die Tugenden, auch die Grundtugend der Gerechtigkeit, trotz der ontologischen Fundierung spezifisch praktische Grundlagen für sittliches Tun, aus denen sittliche Imperative und Zwecke folgen. Die ideale Polis, die nur an sich, aber nicht in einem einzelnen Fall wirklich ist, und die Tugenden als Ideen in ihrem allgemeinen Ansichsein sind bestimmende Ursachen für ethische Haltungen und Handlungen, die erst realisiert werden sollen. Hegel dagegen sieht im PLATonischen Idealstaat und seinen Tugenden nur ansichseiende wesentliche Wirklichkeit des griechischen Volksgeistes. Auch die von Hegel behauptete Weiterentwicklung der Idee von der PLATonischen Gattungsallgemeinheit ohne immanente Einzelheit zur ARISTOTELischen konkreten Allgemeinheit ist ein rein theoretisch-metaphysischer Prozeß.“ - Hegels ontologische Umdeutung des ethischen Ideals beruht also einerseits auf seiner Logik der Wirklichkeit; sie beruht andererseits aber - hinsichtlich der Bedeutung dieses Ideals für Verhalten und Lebensauffassung - auf seiner Verherrlichung der Gegenwart, in der seiner Ansicht nach das Vernünftige, zu dem ein Volks- und Zeitgeist als Manifestation des Weltgeistes sich durchringen kann, immer auch wirklich ist. Ethik wird dabei aufgehoben in Metaphysik. Zugleich wird die geschichtlich nur transitorische Wirklichkeit, der für Hegel auch der PLATonische Idealstaat als Formulierung der griechischen Sittlichkeit unterliegt, ihrem begrifflichen Gehalte nach metaphysisch aufbewahrt, nämlich als Moment des die Völkergeister beherrschenden Weltgeistes. In seiner Schilderung des PLATonischen Idealstaats im einzelnen hebt Hegel eindeutig den politischen Charakter dieser Ethik hervor.“ Sittlichkeit werde von der Gerechtigkeit der Polis her gedacht. Dies ist für Hegel der eigentliche Grund für die Betrachtung der Gerechtigkeit des Ganzen, der Polis, die PLATO zunächst nur zur Erkenntniserleichterung eingeführt hatte. Stimmt diese Auffassung noch mit PLATO überein, so ergeben sich untergründige Verschiebungen der PLATonischen Lehre dadurch, daß Hegel von der Frage nach der Gerechtigkeit des Einzelnen fast ganz absieht. “ Aus der von Plato konzipierten Einheit von Ethik und Ontologie in der Tugendlehre hebt Kant (Kr. d. r. V. B 371 ff) den moralischen Sinn ohne die Ontologie, Hegel den ontologischen Sinn ohne die spezifisch ethische Komponente, keiner von beiden aber die für Plato grundlegende Bedeutung der Tugendlehre hervor. ^ Dies betont Hegel auch bei Aristoteles: „Das Politische ist also, wie beim Plato, das prius." (Sämtliche Werke. Bd 14. 399).

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auch wenn dieser innerhalb der Theorie PLATOS Standesmitglied ist und der politische Charakter der Ethik damit nicht durchbrochen wird. Bei Hegel erhalten die Institutionen^® Prävalenz in ontologischer Bedeutung; sie ermöglichen nicht nur Sitte und sittliches Verhalten, sondern gehen dieser „subjektiven" Lebendigkeit als wirklich bestehende voraus. Nach PLATO dagegen kommt erst durch sittliches Tun der Einzelnen, die freilich im politischen Horizont handeln, wirkliche Sittlichkeit in den Ständen und der Polis zustande. - So entfaltet Hegel als Momente des Ganzen grundlegend die Stände, daraufhin die Tugenden als sittliche Wesenheiten, und zwar als sittliche Eigenschaften der Stände und der Polis sowie als sittliche Bedeutung der Stände in den Einzelnen und schließlich die Prägung der Seelenteile des Einzelnen durch jene sittlichen Wesenheiten. Dieser Fundierungszusammenhang ist bei Hegel durch die Institutionen bestimmt. Sie machen die Organisation des Ganzen aus, die Besonderheiten, in denen es sich als seinen konkreten Momenten gegenwärtig ist. Was für PLATO Lösung der Frage nach der Einheit der Tugenden war, nämlich die Gerechtigkeit als Grundtugend und Tugend höherer Ordnung, das deutet Hegel institutionstheoretisch und logisch-ontologisch; es ist für ihn der wirkliche Ständestaat als konkrete Allgemeinheit, die sich in ihre Momente, hier die ständischen Institutionen, entfaltet. Aufgrund der bestimmenden Macht der Institutionen hat PLATO nach Hegel aus seinem Staat einzelne bedeutsame Freiheiten der Individuen ausgeschlosssen. Hegel führt dafür drei konkrete Argumente an: PLATO überlasse den Individuen nicht die Wahl eines Standes; ferner hebe er das Privateigentum auf, was für den dritten Stand freilich nicht zutrifft; schließlich hebe er Ehe und Familie auf und lasse Frauen und Kinder jeweils durch die Regierung zuordnen, was bei PLATO ebenfalls nicht generell gilt. Hegel nimmt hier im wesentlichen Topoi sicherlich berechtigter PLATO-Kritik auf und fundiert sie im Gedanken, PLATO habe damit die Subjektivität abwehren wollen. Diese Auseinandersetzung Hegels mit der PLATonischen Lehre vom Idealstaat setzt seine spätere Rechtsphilosophie voraus. Diese enthält als integrierten, aber zugleich konstitutiven Bestandteil eine politische Ethik, Vgl. ebd. 288. - Zur Gerechtigkeit vgl. Hegels Satz: „Die Gerechtigkeit in ihrer Realität und Wahrheit ist allein im Staate." (Ebd. 270) Vgl. auch Hegels Versuch, die drei Seelenteile, die sittlich bestimmt sind, durch die drei Begriffsmomente: Allgemeines, Besonderes und Einzelnes zu denken und in einem Schluß zu vereinigen (vgl. ebd. 286). Vgl. ebd. 289 ff; Grundlinien, § 185 Anm.

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die systematischen Grundlinien der PLAionischen politischen Ethik verwandt ist und darüber hinaus beansprucht, das Recht der Subjektivität und freien Individualität zu wahren. So trifft, was Details angeht, keiner der drei soeben genannten, gegen PLATO erhobenen Vorwürfe Hegels eigene Theorie. Im Unterschied zu seinem früheren Jenaer Entwurf entwikkelt Hegel einen Begriff von politischer Sittlichkeit des Einzelnen, die nicht mehr im allgemeinen, sondern nur noch in besonderen Fällen Tapferkeit und ideelle oder sogar reale Aufhebung und Vernichtung der eigenen Existenz des Individuums bedeutet. Die Sittlichkeit des Einzelnen besteht nun vielmehr im eigenen aktiven Wollen und Sich-zum-Zwecke-Setzen des politischen Allgemeinen; das Individuum erfüllt dann mit innerer Zustimmung die von den staatlichen Institutionen vorgegebenen Aufgaben und erfüllt darin - unter Wahrung seiner Existenz im Normalfall - nach Hegel sich selbst. Diese Staatsbürgergesinnung, von Hegel auch „Patriotismus" genannt, bleibt nach seinem eigenen Selbstverständnis in seiner Rechtsphilosophie keineswegs antik, nämlich nicht bewußtloses, unmittelbares Aufgehen des Einzelnen in der Sittlichkeit der Polis^^, sondern ist bewußtes und wollendes Übernehmen der Anforderungen des staatlichen Ganzen und seiner Institutionen, weil nur hierin nach Hegel der freie Wille als wissender wirklich ist. Hegel beansprucht dabei, die moralische Subjektivität, wie KANT und FICHTE sie explizierten, und das moralische Gewissen des Individuums in dieser sittlich-politischen Grundhaltung des Einzelnen aufgehoben und in solcher substantiellen Staatstreue beruhigt zu haben. In diese politische Ethik innerhalb der Theorie des Staates als der „Wirklichkeit der sittlichen Idee"^^ sind nun gleichermaßen die Ethik als Pflichtenlehre, wie sie für Hegel insbesondere KANT ausführte, und die Ethik als Tugendlehre, wie er sie vornehmlich in PLATOS und ARISTOTELES' Ethik sah, eingegangen. Die gravierende Veränderung gegenüber KANT wird an Hegels Bestimmung der „höchsten Pßicht" deutlich, nämlich „Mitglied des Staats zu sein"^®, und zwar des wirklichen und daseienden, nicht nur eines idealen moralischen Reichs der Zwecke. Die Modifikation

Zu Hegels Auffassung von der nicht reflektierten, einfachen Sittlichkeit der Griechen vgl. U. Rameü: Sittliches Sein und Subjektivität (s. Anm. 42). 139-162. Grundlinien. §257. Grundlinien. § 258. Zu dieser Hegelschen Ethik und ihrer Ausführung in Pflichten- und Tugendlehre vgl. A. Peperzak: Hegels Pflichten- und Tugendlehre und ders.; Zur Hegelschen Ethik (s. Anm. 64).

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der PLATonischen und AmsTOTELischen Lehre, aber auch die Abweichung von seinem früheren Jenaer Entwurf wird sichtbar an Hegels Auffassung, daß die grundlegende Tugend des Individuums als eines solchen Staatsbürgers die Rechtschaffenheit sei.^® Sie gilt ihm als Haltung einfacher, zustimmender Erfüllung der von staatlichen Institutionen vorgezeichneten Aufgaben und Pflichten. Eine Reminiszenz an die Idiopragie-Vorstellung, daß jeder das Seine tue, und somit an PLATOS Begriff der Gerechtigkeit des Einzelnen ist darin enthalten und nicht mehr wie in Jena auf den bourgeois beschränkt. Doch gilt die Idiopragie hier nicht wie bei PLATO von der inneren Ordnung der Seele; ferner wird nicht nur der Idealstaat, sondern die Existenz und Wirklichkeit des konkreten staatlichen Ganzen als Substanz notwendig vorausgesetzt. Nur im Heroenzeitalter, noch bevor es Staaten gab, waren Tugenden ausgezeichnete sittliche Eigenschaften hervorragender Individuen, die damals zugleich Repräsentanten der Sittlichkeit oder besonderer sittlicher Mächte waren; wegen der Besonderheit und damit Begrenztheit der jeweils von ihnen vertretenen sittlichen Macht konnte es dann zu tragischen Kollisionen kommen. Sowohl Heroentugenden wie tragische Konflikte aber sind nach Hegel im wohlgeordneten Staatsganzen, das die sittlichen Mächte in Institutionen und deren klaren Verhältnissen zueinander befestigt, ausgeschlossen. Auch in dieser Hinsicht kann das Individuum im Normalfall beruhigt und politisch problemlos der getreulichen alltäglichen Erfüllung seiner Pflichten nachkommen und darin das Bewußtsein seiner Sittlichkeit haben. Die subjektive Sittlichkeit des Einzelnen, die Hegel in der Revision seines Jenaer Ansatzes neu berücksichtigt, besteht daher eigentlich nur in dieser bewußten Loyalität gegenüber dem Staat. Die Institutionen und das politische Ganze erhalten also ihre subjektive Lebendigkeit durch solche ethische Gesinnung und solches sittliche Tun der freien Subjekte und Individuen. Hegel setzt hierbei nicht einfach einen vorhandenen Staat, sondern - wie in seiner PLATO-Umdeutung die heiß umstrittene Identifizierung des Ideals eines sittlichen Gemeinwesens mit dem wirklichen, geschichtlich existierenden vernünftigen Staat voraus. Zwar weichen die zeitgenössischen Staaten Europas von Hegels Muster des Vernunftstaates mehr oder weniger ab; doch sind dies für Hegel geschichtliche Zufälligkeiten von unterschiedlichem Gewicht, die im allgemeinen die wesentliche und substantielle „Wirklichkeit" und GeVgl. Grundlinien. § 150; sie bleibt in eingeschränktem Sinne auch Tugend des bourgeois (vgl. §207).

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genwart sittlich-vernünftiger Staatlichkeit in einem vorhandenen politischen Gebilde nicht ernstlich gefährden. Pflichten, sittliche Zwecke und Tugenden der Individuen, die Hauptinhalte einer Ethik, gelten damit grundsätzlich als spezifische Momente des wirklichen und lebendig gegenwärtigen vernünftigen Staates. Dies Verhältnis deutet Hegel trotz seiner Berücksichtigung der subjektiven Sittlichkeit wie schon in seinem Jenaer Ansatz als das Verhältnis von Substanz und Akzidens; der Staat als sittliche Wirklichkeit ist die allgemeine und Macht habende Substanz, an der das sittliche Individuum nur Akzidens ohne selbständige Existenz ist. ^ PLATO hat, obwohl er nicht über eine Theorie freier Individualität verfügte, doch die sittlichen Einzelnen nicht zu unselbständigen Momenten eines eigentlich seienden sittlichen Ganzen herabgesetzt^®; sie verwirklichen ja erst Sittlichkeit in der Polis. Hegel gesteht also auch in seiner späteren politischen Ethik innerhalb seiner Theorie des objektiven Geistes dem neuzeitlichen Prinzip der Subjektivität und freien Individualität keine eigenständige Geltung zu. Solche Geltung erhält es jedoch systematisch in der Religionsphilosophie, nämlich als christliches, genauer protestantisches Gewissen. Dieses religiöse Gewissen, das sich der Wahrheit des sich offenbarenden absoluten Geistes unmittelbar gewiß und sicher ist, gibt erst, wie Hegel in der Enzyklopädie (1827, 1830) betont^^, den Gesetzen der objektiven sittlichen Vernunft und des Staates die eigentliche Sanktionierung. In einem Konflikt zwischen staatlichen Gesetzen und religiösem Gewissen folgt das Subjekt, wie Hegel nun erklärt, der höheren religiösen Auffassung, die somit letzter Grund für sein sittliches Verhalten ist. Zugleich ist das religiöse Gewissen Basis und lebendige Ursache für die Verwirklichung eines optimalen sittlichen Staates. So kann Hegel, da er den Staat als sittliche Sub-

^ Vgl. z. B. Grundlinien. §§ 144 ff, auch Hegels Randnotizen S. 416 f, ebenso Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831. Hrsg. v. K.-H. Ilting. Stuttgart-Bad Cannstatt 1973 f. Z. B. Bd 4. 397. Zum Staat als Substanz und den Individuen als Akzidenzien, die jedoch darin nicht aufgehen, vgl. H. Heimsoeth: Politik und Moral in Hegels Geschichtsphilosophie (1934/ 35). In: Ders.: Studien zur Philosophiegeschichte. Köln 1961. (Kant-Studien. Ergänzungsheft 82.) 22-42. Zur subjektiven Substantialität des modernen Staates bei Hegel vgl. auch S. Avineri: Der Staat - das Bewußtsein der Freiheit. In: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Hrsg. v. M. Riedel. Frankfurt a. M. 1975. 393-414. Die Kategorie der Substanz in ihrem Verhältnis zu inhärierenden Bestimmungen ist ohnehin erst Aristotelisch, obwohl Plato den Unterschied von Ansichsein und Sein in Beziehung auf anderes schon formuliert (Sophistes. 255c). Enzyklopädie (1830). § 552 Anm. (S. 432 ff), auch Enzyklopädie (1827). § 563 Anm., anders noch Grundlinien. § 270 Anm.

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stanz denkt, an dem die Individuen als Staatsbürger lediglich Akzidenzien sind, die Freiheit und Selbständigkeit der Individuen, die er anerkennt, nur im religiösen, protestantischen Gewissen aufrechterhalten. Zur Klärung des genuin ethischen Problems der freien Selbstverantwortlichkeit des Individuums auch gegenüber dem Staat muß Hegel also in dieser Lösung systematisch die Gültigkeit seiner metaphysischen Theorie des Christentums, seiner Geschichtsteleologie und seiner Auffassung von der sittlichen und politischen Bedeutung der Religion voraussetzen. Die PLATonische und die Hegelsche Lehre stellen also zwei verschiedene grundlegende Theorien politischer und holistischer Ethik dar, die in den gegenwärtigen Diskussionen um Begründungsprobleme einer Ethik kaum beachtet werden. Fundamentale Fragen der politischen Dimension der Ethik können durch sie wiedergewonnen werden, wie sie hier erörtert wurden, ebenso das Bewußtsein von Problemen, die gerade diese Theorien mit sich bringen. PLATO stellt seine Ethik als Tugendlehre auf, als Theorie der Einheit und Vielheit der Tugenden der Polis wie des Einzelnen. Wenn auch in der Polis Sittlichkeit erst durch die Einzelnen wirklich wird, so setzen doch deren Tugenden und deren Tun als Horizont und Handlungskontext wesentlich die Polis voraus, und zwar die Polis als ethisches Ideal mit bestimmten sittlichen Eigenschaften, nämlich Tugenden. Ein solcher systematischer Zusammenhang von Sittlichkeit oder Tugend des Einzelnen und Polis als Ideal ist unabhängig von den Detailbestimmungen exemplarisch für eine Ethik, in der Sittlichkeit politisch konzipiert wird. Ein ethisches Problem bildet bei PLATO, von der Neuzeit her gesehen, der Mangel an individueller Freiheit und Autonomie des Einzelnen. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der ontologischen Fundierung der idealen Polis ebenso wie der Tugenden in Ideen und deren konstantem Ansichsein. Zwar wird dadurch insbesondere hinsichtlich des Einzelnen der Grund der Ethik als Tugendlehre sichtbar; Tugenden sind spezifische EI'öT] der Ordnung der Seele, die in ihnen ihre Vollkommenheit erlangt. Aber sowohl die Idee der Seele in ihrer Gerechtigkeit als auch die ideale gerechte Polis erhalten dadurch den Status des ewigen Ansichseins; es bleibt unklar, wie sie zugleich als erstrebte, d. h. als Inhalte des Sollens bloß möglich und insofern nicht wirklich sein können. Die Benennung dieses Problems bedeutet nicht, daß es unlösbar wäre.®® Sie bedeutet ferner keinesfalls den gängigen Vorwurf eines sog. „nafuralistischen Fehlschlusses" gegenüber Plato, zumal da dieser Vorwurf selbst eine petitio principii enthält, die These vom intuitiven, theoretisch unableitbaren Charakter ethischer Gehalte.

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So wie Hegel entschiedener als PLATO Sittlichkeit ausschließlich politisch-holistisch denkt, so verschärfen sich bei ihm auch die beiden genannten Probleme. Hegel geht vom Staat als konkretem, wirklichem Ganzen der Sittlichkeit aus; in ihm als Substanz fundiert er die Sittlichkeit des Einzelnen - in seinem Jenaer Ansatz PLATO in manchem noch näher als später. Aus Hegels Darlegung kann man evident die konkrete sittliche Verpflichtung und Verantwortlichkeit des Einzelnen für den Bestand und die Fortentwicklung des politischen Ganzen in seiner Vernünftigkeit entnehmen. Innerhalb dieser politischen Ethik vermag jedoch das Prinzip der individuellen Freiheit und Autonomie nicht zur Entfaltung zu kommen; ihm bleibt nur der Bereich des religiösen Gewissens. Ferner wird durch das Theorem der Wirklichkeit des Sittlichen im Staat, die zugleich die Gegenwart des Volksgeistes ist, der Sinn ethischen Strebens nach noch nicht Wirklichem, nach möglicher, aber unerreichter, vielleicht sogar nach unerreichbarer ethischer Vollkommenheit funktionslos und imaginär; ethisches Streben und sittliche Anstrengung gelten dabei als nicht qualitativ unterschieden von der Bemühung, Funktionsträger in wirklichen staatlichen Institutionen zu werden oder mit Erfolg zu sein. Systematisch wird die Ethik somit ein unselbständiger Bestandteil der substanzmetaphysisch begründeten Staatstheorie. Die Konformität des Einzelnen gegenüber Aufgaben und Gesetzen staatlicher Institutionen, die als persönliche Tugend nach Hegel Rechtschaffenheit ist, läßt sich ethisch immerhin insofern legitimieren, als sie der sittlichen Vernünftigkeit des politischen Ganzen gilt. Daß dies ethisch-politische Ideal auch wirklich sei, ist eine Behauptung, die nicht der Ethik, sondern der Metaphysik, nämlich der Theorie der Wirklichkeit in der spekulativen Logik und der metaphysischen Geschichtsteleologie angehört. Überläßt man diese einmal selbst der Geschichte, dann legt sich ein rein ethisches Verständnis des platonischen Polis-Ideals nahe. KANT hat in diese Richtung gedeutet. Der Einzelne ist in seiner Sittlichkeit dann Bürger eines solchen rein ethischen Staates und verhält sich konform gegenüber dessen Grundgesetz, dem Sittengesetz. Der Ethik in ihrer politischen Dimension kommt die Explikation der Bestimmungen und Einrichtungen dieses Staates und der Pflichten und Tugenden des Einzelnen in ihm zu. Die ethische Lehre von der konkreten Anwendung, wie der sittliche Vernunftstaat in geschichtlich gewachsenen Staaten allmählich wirklich werden kann, muß spezifische Modifikationen, auch Einschränkungen bestimmter Pflichten und Tugenden zulassen. - Allerdings ist die Ethik nicht insgesamt in diesem Sinne politisch. Eine politische Ethik

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dürfte daher auch nicht holistisch sein. Auf einen nichtpolitischen Bereich verweisen schon die Pflichten und ethischen Habitus gegenüber der eigenen Person. So sind etwa Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst, auch wenn eine Unaufrichtigkeit in diesem Bereich anderen keinen Schaden zufügte, oder Tapferkeit im Ertragen einer Krankheit auch in Einsamkeit sittliche Haltungen und Handlungen von Einzelnen in ihrer individuellen Freiheit, Autonomie und Würde. Dasselbe gilt, um ein andersartiges Beispiel zu nennen, für Wohlwollen und Güte nicht nur gegenüber Familienangehörigen und Freunden, sondern sogar gegenüber Feinden, was gelegentlich einen Konflikt mit staatlichen Verordnungen zur Folge haben und was durchaus bei anhaltender Feindseligkeit des Gegenüber zum Alleingelassensein führen kann. Man vermag zwar im Nachhinein diese Haltungen und Handlungen von Individuen in einen rein ethischen Staat einzuordnen; aber der erste und eigentliche Grund für sie ist die Freiheit, Autonomie und Menschenwürde des Individuums, das entweder - im Extremfall - allein bleibt oder sich ganz bestimmten Personen oder Gruppen, nicht aber allen vernünftigen Wesen überhaupt in seiner sittlichen Entscheidung und Haltung, d. h. platonisch in seiner Tugend zugeordnet weiß. Wie immer eine Ethik systematisch und prinzipiell begründet werden mag, sie muß wohl von beiden in gewisser Hinsicht entgegengesetzten Idealvorstellungen eines rein ethischen Staates und eines sittlichen, freien Individuums ausgehen und insbesondere in dem Bereich, in dem sie harmonieren, aber auch sich gegenseitig begrenzen, sittliche Pflichten, Tugenden und Zwecke dar legen.

MICHAEL WOLFE (BIELEFELD)

HEGELS STAATSTHEORETISCHER ORG ANIZISMUS Zum Begriff und zur Methode der Hegelschen „Staatswissenschaft''

Hegels staatstheoretischer Organizismus wird gewöhnlich, sicherlich zu Recht, als Ausdruck einer bestimmten politischen Tendenz betrachtet. Diese Betrachtungsweise führt leicht dazu zu übersehen, durch welche theoretischen Einsichten dieser Organizismus motiviert war und welche theoretischen Einsichten er möglicherweise erschlossen hat. Wenigstens sollte man fragen, welchen theoretischen Wert von Hegels eigenem Standpunkt aus der Organizismus für die Theorie des Staates gehabt hat. Immerhin läßt sich zeigen, daß dieser Organizismus Folge einer philosophischen Konzeption war, die sich nicht nur, und nicht in erster Linie, auf den Gegenstandsbereich der politischen Philosophie erstreckt hat und die geleitet war durch ein Erkenntnisideal, das nicht nur im Kontext der politischen Philosophie Hegels orientierend im Hintergrund gestanden hat. Im Text der Grundlinien der Rechtsphilosophie kommt dieses Ideal durch den wiederholten Gebrauch des Wortes „Staatswissenschaft" zum Ausdruck, das programmatisch bereits im Titel dieses Werkes steht. Hegel war offenbar bestrebt, das Programm durchzuhalten, das in den Titeln aller seiner von ihm selbst veröffentlichten Hauptwerke durch den Gebrauch des Wortes „Wissenschaft" benannt wird: das Programm einer „philosophischen Wissenschaft". Ganz im Sinne dieses Programms sollte die „Philosophie des Rechts" als „Staatswissenschaft" betrieben werden; die typographische Gestaltung der beiden einander gegenüberstehenden Titelblätter der Originalausgabe von 1821 zeigt es an. Für Hegel bestand zwischen der Bedeutung, die der von KANT entlehnte Begriff einer „philosophischen Wissenschaft" hat, und der besonderen Struktur und Beschaffenheit des Gegenstandes der damit bezeichneten Wissenschaft ein innerer Zusammenhang. Die philosophische Wissenschaft sollte sich von den sogenannten „endlichen", den gewöhnlichen Wissenschaften durch eine eigentümliche Methode der Begründung und des Beweises unterscheiden. Das Recht dieser Methode sollte darauf beruhen, daß die „unendliche" Wissenschaft einen „unendlichen" Gegen-

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stand hat. Das Adjektiv „unendlich", als Kennzeichnung der philosophischen Wissenschaft und als Kennzeichnung ihres Gegenstandes, hat dabei etwas mit der organischen Struktur der philosophischen Wissenschaft und ihres Gegenstandes zu tun. Bereits für KANT waren Ausdrücke wie „Organismus" und „Organisation" Bezeichnungen einesteils für die besondere (teleologische) Begründungsstruktur und -methode der philosophischen Wissenschaft - als Wissenschaft vom Endzweck der menschlichen Vernunft -, andernteils für die besondere (teleologische) Kausalstruktur einer besonderen Gattung von Gegenständen, nämlich derjenigen Objekte, die seit LEIBNIZ „Organismen" genannt werden. Aber während für KANT ein solches Objekt als Organismus Gegenstand keiner wissenschaftlichen „Doktrin", weder der einer philosophischen noch der einer nicht philosophischen Wissenschaft sein konnte, weil sein organischer Charakter weder Erfahrungsobjekt noch gegenstandskonstitutiv sei, war Hegel darin ganz anderer Meinung. Nach Hegel war es die Eigenart und das Ziel jeder philosophischen Wissenschaft, ein Ganzes in seiner selbsttätigen Organisation, d. h. als Organismus zu erkennen und in diesem Erkennen auch sich selbst als methodisch organisiertes System zu entfalten. Die Aufgabe einer philosophischen Wissenschaft, die den Staat in seiner inneren und äußeren Verfassung zum Gegenstand hat, war für Hegel gleichbedeutend mit der Aufgabe, ihn als Organismus, d. h. als ein Ganzes in seiner Selbstorganisation zu verstehen. Das war im groben Umriß Hegels Perspektive, und in ihr haben wir das Gesamtkonzept, das seiner Rechtsphilosophie zugrundeliegt, ins Auge zu fassen. Dabei liegt mir keineswegs daran zu leugnen, daß Hegels Staatswissenschaft, und zwar auch als philosophisches Programm, zugleich ein politisches Programm war und als solches gelesen und gewertet werden kann. Dennoch meine ich, daß es lehrreich ist, den soeben skizzierten Zusammenhang zwischen Hegels staatswissenschaftlichem Programm und Hegels staatstheoretischem Organizismus detailliert zu rekonstruieren. Erst durch diesen Zusammenhang hebt sich nämlich der Organizismus Hegels von älteren und neueren organologischen Staatstheorien ab. Auf diesem spezifischen Zusammenhang beruht es auch, daß Hegels Lehre vom Staatsorganismus sogar noch von MARX als ein wissenschaftlicher Fortschritt empfunden werden konnte, obwohl MARX, der die politischen Tendenzen in Hegels Staatsrecht genau zu identifizieren versucht hat, diese im großen und ganzen negativ beurteilt hat. So lesen wir in MARX' Aufzeichnungen zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts: es sei ein „Fund" und ein großer „Fortschritt, den politischen Staat

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als Organismus, daher die Verschiedenheit der Gewalten nicht mehr als [mechanische], sondern als lebendige und vernünftige Unterscheidung zu betrachten" h In der Sache richtet sich MARX' Kritik nicht gegen Hegels organische Staatsauffassung als solche, sondern ausdrücklich nur gegen die Art und Weise, in der Hegel das Neuartige seiner Auffassung „darstellt". MARX sah keinen Anlaß, Hegels Organizismus schlechthin den konservativen Seiten seines Staatsrechts zuzuordnen. Das hätte durchaus nahegelegen. Ganz ähnlich wie die christlich-romantische Staats- und Gesellschaftslehre (die übrigens bei ADAM MüLLER 1819 ebenfalls als „Staatswissenschaft" aufgetreten war) verband Hegel mit dem Organismus der Staatsverfassung zum Beispiel den Gedanken, daß sie etwas Gewachsenes und insofern nichts Machbares sei. Er näherte sich, oberflächlich betrachtet, der romantischen Version des Organizismus auch in anderen Hinsichten, zum Beispiel darin, daß er den Ideen der Französischen Revolution kritisch gegenüberstand, daß er den Liberalismus und Individualismus bekämpfte und daß er für einen korporativen Ständestaat eintrat. Alle diese Hinsichten haben etwas mit seiner organischen Staatsauffassung zu tun. Man kann nicht gerade sagen, daß MARxens Hochschätzung allen diesen Hinsichten galt; um so merkwürdiger und auffälliger ist diese Hochschätzung für uns. Eine andere Bemerkung aus MARxens Feder ist nicht weniger interessant. In einer Zeitungspolemik aus dem Jahre 1842, die sich ausgerechnet gegen christlich-romantische Staatsrechtslehren wendet, vergleicht MARX die Leistung des Hegelschen Staatsrechts auf folgende Weise mit einigen der klassischen Naturrechtstheorien: „Wenn aber die früheren philosophischen Staatsrechtslehrer aus den Trieben, sei es des Ehrgeizes, sei es der Geselligkeit, oder zwar aus der Vernunft, aber nicht aus der Vernunft der Gesellschaft, sondern aus der Vernunft des Individuums den Staat konstruierten: so die ideellere und gründlichere Ansicht der neuesten Philosophie aus der Idee des Ganzen. Sie betrachtet den Staat als den großen Organismus, in welchem die rechtliche, sittliche und politische Freiheit ihre Verwirklichung zu erhalten hat und der einzelne Staatsbürger in den Staatsgesetzen nur den Naturgesetzen seiner eigenen Vernunft, der menschlichen Vernunft gehorcht."^ In dieser Bemerkung wird Hegels Organizismus gerade nicht in die Nähe der christli' K. Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In; K. Marx, F. Engels: Gesamtausgabe. 1,2. Berlin 1982. 12. ^ K. Marx: Der leitende Artikel in Nr. 179 der „Kölnischen Zeitung". In: K. Marx, F. Engels: Gesamtausgabe. 1,1. Berlin 1975. 189.

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chen Romantik gerückt, sondern mit der Tradition des Natur- und Vernunftsrechts von HOBBES, ROUSSEAU und KANT verbunden. In dieser Bemerkung wird zugleich auch ein sachlicher Grund für MARxens positive Bewertung des Hegelschen Staatsrechts deutlich: Die Betrachtung des Staates als eines großen Organismus schließt nicht nur nicht notwendig Antiindividualismus ein, sondern ermöglicht im Gegenteil besser als das bisherige Natur- und Vernunftrecht die Freiheit des einzelnen Staatsbürgers auf dessen eigenes Denken zu stellen. Hegels Organizismus ist, wie MARX im selben Zusammenhang schreibt, der bisher am besten gelungene Versuch, „den Staat aus menschlichen Augen zu betrachten und seine Naturgesetze aus der Vernunft und der Erfahrung zu entwickeln" Mir scheint, daß MARX hier Hegels eigene Absicht durchaus treffend wiedergegeben hat. Sicherlich klingen in den ganz unhegelischen Redewendungen „Vernunft der Gesellschaft", „Naturgesetze des Staates" und „Naturgesetze der Vernunft" bereits spezifisch MARX-ENCELSsche Gedanken an, wie sie später bekannt werden in der Form, daß Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit und besonders in die Bewegungsgesetze der gegenwärtigen Gesellschaftsformation sei. Aber ebenso wie diese Einsicht in ihrer vollendeten Form als „wissenschaftliche" gemeint ist, so liegt auch der Hegelschen Rechtsphilosophie die Überzeugung zugrunde, daß die Selbstbestimmung des Willens Sache des Denkens und Wissens ist, das in seiner wahrhaften Gestalt eben die philosophische Wissenschaft selbst ist. Es ist in einem noch zu erläuternden Sinne Sache der philosophischen Staatswissenschaft, den „notwendigen Hervorgang" des Begriffs des modernen Staates mit seinen Gesetzen und Einrichtungen aus dem Begriff des sich selbst bestimmenden Willens (des Willens, der „den freien Willen will" § 27^) aufzuzeigen. Dieses Aufzeigen der „Notwendigkeit" des

^ Ebd. Marx vergleicht im Kontext dieser Stelle die Theorie des Staates mit der Theorie des Sonnensystems: „Gleich vor und nach der Zeit der großen Entdeckung des Copernicus vom wahren Sonnensystem, wurde zugleich das Gravitationsgesetz des Staates entdeckt, man fand seine Schwere in ihm selbst" (ebd. 188). Dieser Vergleich dürfte dadurch motiviert worden sein, daß Hegel in der Wissenschaft der Logik (s. unten Fußnote 6) den Organismus des Staates seiner inneren „logischen" Struktur nach mit dem „freien Mechanismus" des Sonnensystems gleichgesetzt und in diesem Kontext auch von der „Schwere" als der Grundbestimmung dieses Systems gesprochen hat. Einen ähnlichen Gedanken findet man in der Anmerkung zu § 198 der Berliner Enzyklopädie (s. unten Fußnote 8). Daß Marx die Hegelsche Theorie der „logischen" Grundstruktur des Staatsorganismus teils dementiert, teils ignoriert habe, wie gelegentlich behauptet worden ist, dürfte sich nach genauerer Untersuchung nicht gut halten lassen. “* Die Angabe von Paragraphen bezieht sich hier und im folgenden, wenn nicht anders-

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Begriffs des Staates nennt Hegel im § 256 Anmerkung den „wissenschaftlichen Beweis des Begriffs des Staats". Daß nun der so zu „beweisende" Begriff des Staates für Hegel der Begriff eines Organismus ist, läßt sich verhältnismäßig leicht verständlich machen. Das kann bezeichnenderweise auf zweierlei Wegen geschehen. Entweder wir vergegenwärtigen uns, was für Hegel der „Beweis" eines Begriffs in einer philosophischen Wissenschaft ist, worin also die „Notwendigkeit" dieses Begriffs besteht; oder wir machen uns deutlich, was der Staat ist, dessen „Begriff" Hegel zu „beweisen" sucht. Ich möchte die zwei Wege skizzieren, dabei aber den zweiten (in Abschnitt I) ausführlicher als den ersten (in Abschnitt II). Wie es möglich ist, daß beide Wege, trotz der völligen Verschiedenheit der jeweiligen Ausgangsfragen, zum selben Ziel hinführen, wird sich an ihrem Ende zeigen. Um auf beiden Wegen voranzukommen, orientieren wir uns jeweils zunächst am Text des bereits zitierten § 256, in dessen Anmerkung vom „wissenschaftlichen Beweis des Begriffs des Staats" die Rede ist und der die Funktion der systematischen Überleitung zum Abschnitt „Der Staat" (§§ 257-360) hat. Am Ende der Anmerkung des § 256 taucht zum ersten Mal innerhalb des Texts der Grundlinien der Philosophie des Rechts (sieht man von den Einleitungsparagraphen 5, 31 und 33 ab) Hegels organischer Staatsbegriff auf. Denn es heißt dort, durch die „Form des Gedankens” sei „der Geist sich in Gesetzen und Institutionen, seinem gedachten Willen, als organische Totalität objektiv und wirklich", und diese „Form des Gedankens” sei „Moment" der „unendlichen Form”, welche „die sittliche Substanz" „in der Entwickelung der bürgerlichen Gesellschaft" gewinne. Auf den Sinn dieser Bemerkung wird noch zurückzukommen sein.

I. 1. Zunächst werde ich den zweiten Weg skizzieren und die Aufmerksamkeit auf das lenken, was der Paragraph über den Staat aussagt, dessen „Begriff" zu „beweisen" sei. Es heißt dort schlicht, „die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft" gehe „in den Staat über". Als Begründung für die Behauptung dieses Übergangs wird angegeben, „der Zweck der Korporation als beschränkter und endlicher" habe „seine Wahrheit ... in dem an lautende Hinweise gegeben werden, auf die Paragraphen der Grundlinien der Philosophie des Rechts von 1821. Die Schreibung zitierter Texte ist modernisiert.

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und für sich allgemeinen Zwecke und dessen absoluter Wirklichkeit". Es wird nicht etwa behauptet, der Übergang in den Staat finde statt, weil die bürgerliche Gesellschaft schon als solche eine Institution wie die Korporation entstehen lasse und diese Institution in ihren besonderen Funktionen auch einem allgemeinen Zweck diene. Im Text des Paragraphen kommt vielmehr zum Ausdruck, daß Hegel der Korporation gerade keinen allgemeinen, über die bürgerliche Gesellschaft hinausreichenden Zweck zuschreiben möchte, sondern nur einen beschränkten und endlichen. Hegel war offenbar auch nicht entgangen (vgl. § 255 Zusatz), daß die Korporation ohne höhere Staatsaufsicht in ihrer Funktionstüchtigkeit als soziale Institution zugrundegehen würde, sie würde „verknöchern, sich in sich verhausen und zu einem elenden Zunftwesen herabsinken". Die höchste Funktion, die Hegel der Korporation beimißt, ist, daß sie dem Gewerbestand verleihe, was die anderen Stände auch ohne eine vergleichbare Einrichtung haben: nämlich „Standesehre" (§ 253 Anmerkung). Im Fehlen einer korporativen Standesehre sieht Hegel (neben anderen Ursachen) den „sittlichen Grund" für die Entstehung von „Luxus und Verschwendungssucht der gewerbtreibenden Klassen" und - damit zusammenhängend „die Erzeugung des Pöbels", der sich darüber (mit gewissem Recht) empöre. Denn „ohne Standesehre" sei der Einzelne „durch seine Isolierung auf die selbstsüchtige Seite des Gewerbs reduziert, seine Subsistenz und Genuß nichts Stehendes" (ebd.). „Heiligkeit der Ehe und die Ehre in der Korporation sind die zwei Momente, um welche sich die Desorganisation der bürgerlichen Gesellschaft dreht" (§ 255 Anmerkung). Hegel sieht zwar in der Korporation des bürgerlichen Gewerbestandes und in der Familie (die aus erbrechtlichen Gründen im landbebauenden Stand den festesten Bestand habe) die beiden „sittlichen Wurzeln des Staats" (§ 255). Aber er nimmt zugleich an, daß diese Wurzeln verdorren müssen, wenn sie vom Gesamtorganismus des Staates abgeschnitten sind. Sie verlieren nach seiner Meinung ihre Funktionstüchtigkeit für die besonderen, beschränkten und endlichen Zwecke ihrer Mitglieder dann, wenn sie nicht zugleich für den Staat funktionieren. Durch diesen Verlust entsteht ein desorganisierender Effekt in bezug auf die gesamte bürgerliche Gesellschaft. Die Ursachen dieses Desorganisationsprozesses liegen nach Hegels Ansicht letztlich in der bürgerlichen Gesellschaft selbst: in ihrer technisch und ökonomisch bedingten Entzweiung zu einer Klassengesellschaft. Fragen wir nun noch einmal, worauf nach Hegel die Notwendigkeit des Übergangs der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft in den Staat be-

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ruht, so können wir jetzt sagen; Er beruht darauf, daß der Funktionszusammenhang, den die Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft für sie und ihre Mitglieder zu haben scheinen, in der Wirklichkeit gar nicht bestehen kann, wenn dieselben Einrichtungen nicht zugleich einem ganz anderen Funktionszusammenhang, nämlich dem des Staates, angehören. Bei diesem Übergang findet also ein Wechsel in der Anordnung eines Zweck-Mittel- oder Grund-Folge-Verhältnisses statt, in welchem die Gesamtheit der Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft stehen. Während zuvor der Zweck oder Grund dieser Institutionen in den besonderen Interessen der Gesellschaftsmitglieder, in ihrem „besonderen Willen" zu liegen schien, so ist es nun ein Staatsinteresse, ein „allgemeiner Wille", der ihren Zweck oder Grund ausmacht. Im ersten Funktionszusammenhang war die Versittlichung der einzelnen Individuen der bürgerlichen Gesellschaft (oder anders ausgedrückt: die Verallgemeinerung der Einzelwillen) nur eine Folge oder ein Mittel der Zweckrealisierung. Im zweiten Funktionszusammenhang ist es die Besonderung der Einzelwillen-, denn der Staat als Grund der institutionellen Gliederung der Gesellschaft geht nicht nur der Entstehung der Institutionen historisch-zeitlich voran (vgl. § 256 Anmerkung), sondern er hat der inneren Desorganisation der bürgerlichen Gesellschaft entgegenzuwirken, und das geschieht durch die fortgesetzte staatliche Reorganisation der Gesamtheit der gesellschaftlichen Institutionen und durch die „Zuteilung" der Individuen zu ihnen (vgl. §§ 262-265). Der Staat geht insofern aus der bürgerlichen Gesellschaft nicht als bloße Folge, etwa als bloße Gesamtheit ihrer Institutionen hervor, sondern „als ihr wahrhafter Grund" (§ 256 Anmerkung). 2. Ich möchte an dieser Stelle vorwegnehmen, daß die beiden soeben einander gegenübergestellten Grund-Folge- bzw. Zweck-Mittel-Verhältnisse auch in der Gestalt Hegelscher Schlußformen dargestellt werden können. Denn daß es sich hier um Schlußformen handelt, das ist ein Sachverhalt, auf den Hegel, wie wir noch sehen werden, in methodischer Hinsicht größten Wert legt. Die Versittlichung oder Verallgemeinerung des Einzelwillens in der bürgerlichen Gesellschaft kann als Vermittlung des Einzelwillens mit dem Allgemeinwillen aufgefaßt und insofern als Schluß („Syllogismus"^) der ersten Figur (E-B-A) dargestellt werden. Wir haben zu ® Der Hegelsche Schluß in seinen drei Figuren entspricht nicht in jeder Hinsicht dem klassischen Syllogismus. Der Begriff des Syllogismus ist ein engerer Begriff. Daß dem Hegelschen Schluß aber der Gedanke des syl-logizesthai, des „Zusammendenkens", zugrun-

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diesem Zweck - im Anschluß an Hegels eigene Symbolik - die Buchstaben E, B und A nicht als Variable, sondern als Abbreviaturen für die Momente des „Begriffs", hier des Willensbegriffs zu nehmen: Sie bezeichnen dann das, was Hegel in systematischer Terminologie den einzelnen, besonderen bzw. allgemeinen Willen nennt. E-B-A ist dann ein bestimmtes Grund-Folge-Verhältnis, das sich folgendermaßen beschreiben läßt: Der Einzelwille ist allgemeiner Wille nur, weil (oder insofern) er besonderer Wille ist (der als solcher das Allgemeine will); oder, teleologisch ausgedrückt: Der Einzelwille hat das Allgemeine zum Zweck nur, weil (oder insofern) er das Besondere zum Zweck hat. Ganz entsprechend kann das, was ich die Besonderung der Einzelwillen durch den Staat genannt habe, als ein Schluß der dritten Figur dargestellt werden (B-A-E): Der Einzelwille ist besonderer Wille nur, weil (oder insofern) er allgemeiner Wille ist (der als solcher die Besonderung des Willens will); oder teleologisch ausgedrückt: Der Einzelwille hat das Besondere zum Zweck nur, weil (oder insofern) er das Allgemeine zum Ziel und Zweck hat (das in der Besonderung des Willens besteht). Genau wegen dieser syllogistischen Beziehung heißt es in der Anmerkung des § 256, indem sich der Staat „als wahrhafter Grund" ergebe, so hebe „jede Vermittlung und jener Schein sich ebensosehr zur Unmittelbarkeit auf". Das heißt, die (syllogistische) Vermittlung des Einzelwillens mit dem Allgemeinwillen wird beim Übergang der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft in den Staat als etwas bloß Scheinbares aufgehoben dadurch, daß sich zeigt, daß eine unmittelbare Beziehung des Einzelwillens zum Allgemeinwillen besteht. Der Allgemeinwille übernimmt jetzt selbst eine vermittelnde Funktion. Wir werden später sehen, daß der Staat als Organismus wesentlich alle drei syllogistischen Vermittlungen (also auch die zweite Figur: A-E-B) enthalten soll. Auf diesen Sachverhalt macht bereits die Wissenschaft der Logik^, sowie die Logik der Berliner Enzyklopädie'^ aufmerksam. Es heißt de liegt, darauf macht D. Henrich aufmerksam in seinem Aufsatz: Logische Form und reale Totalität. Über die Begriffsform von Hegels eigentlichem Staatsbegriff. In: Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik. Hrsg, von D. Henrich und R. P. Horstmann. Stuttgart 1982. 430 ff. * Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816). In: G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd 12. 144 f.: „So sind die Regierung, die Bürgerinidividuen und die Bedürfnisse oder das äußerliche Leben der Einzelnen drei Termini, deren jeder die Mitte der zwei anderen ist. Die Regierung ist das absolute Zentrum, worin das Extrem der Einzelnen mit ihrem äußerlichen Bestehen zusammengeschlossen wird; ebenso sind die Einzelnen Mitte, welche jenes allgemeine Individuum zur äußerlichen Existenz betätigen, und ihr sittliches Wesen in das Extrem der Wirklichkeit übersetzen. Der dritte Schluß ist der formale, der

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dort: „Es ist nur durch die Natur dieses Zusammenschließens, durch diese Dreiheit von Schlüssen derselben terminorum, daß ein Ganzes in seiner Organisation wahrhaft verstanden wird."® Doch bevor ich erläutere, inwiefern es sich in den Augen Hegels bei dieser syllogistischen Interpretation des Verhältnisses der drei Willensmomente untereinander nicht nur um einen leeren Formalismus handelt. Schluß des Scheins, daß die einzelnen durch ihre Bedürfnisse und das äußerliche Dasein an diese allgemeine absolute Individualität geknüpft sind; ein Schluß, der als der bloß subjektive in die andern übergeht, und in ihnen seine Wahrheit hat. - Diese Totalität, deren Momente selbst die vollständigen Verhältnisse des Begriffes, die Schlüsse, sind, worin jedes der drei unterschiedenen Objekte, die Bestimmung der Mitte und der Extreme durchläuft, macht den freien Mechanismus aus. ln ihm haben die unterschiedenen Objekte die objektive Allgemeinheit, die durchdringende in der Besonderung sich identisch erhaltende Schwere, zu ihrer Grundbestimmung.'' (Schreibung normalisiert.) ^ Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. 3. Aufl. 1830. § 198 Anmerkung. (Zitate in der Schreibung normalisiert.) ® Die Anmerkung zu § 198 lautet vollständig: „Wie das Sonnensystem, so ist z. B. im Praktischen der Staat ein System von drei Schlüssen. 1) Der Einzelne (die Person) schließt sich durch seine Besonderheit (die physischen und geistigen Bedürfnisse, was weiter für sich ausgebildet die bürgerliche Gesellschaft gibt) mit dem Allgemeinen (der Gesellschaft, dem Rechte, Gesetz, Regierung) zusammen; 2) ist der Wille, Tätigkeit der Individuen das Vermittelnde, welches den Bedürfnissen an der Gesellschaft, dem Rechte usf. Befriedigung, wie der Gesellschaft, dem Rechte usf. Erfüllung und Verwirklichung gibt; 3) aber ist das Allgemeine (Staat, Regierung, Recht) die substantielle Mitte, in der die Individuen und deren Befriedigung ihre erfüllte Realität, Vermittlung und Bestehen haben und erhalten. Jede der Bestimmungen, in dem die Vermittlung sie mit dem anderen Extrem zusammenschließt, schließt sich eben darin mit sich selbst zusammen, produziert sich, und diese Produktion ist Selbsterhaltung. - Es ist nur durch die Natur dieses Zusammenschließens, durch diese Dreiheit von Schlüssen derselben terminorum, daß ein Ganzes in seiner Organisation wahrhaft verstanden wird." Während die Wissenschaft der Logik (s. Fußnote 6) das System der drei Schlüsse in der Folge B-A-E, A-E-B, E-B-A wiedergibt, stellt die Enzyklopädie in § 198 Anmerkung dieses System in der gegenläufigen Sequenz E-B-A, A-E-B, B-A-E dar. Beide Sequenzen entsprechen dem systematischen Aufbau der Hegelschen Schlußlehre insofern, als nach ihr der „Reflexions-Schluß" (A-E-B) in der Mitte zwischen dem „qualitativen Schluß" (E-B-A) und dem „Schluß der Notwendigkeit" (B-A-E) zu stehen kommt. Es wird sich zeigen, daß es nach der Darstellung der Grundlinien der Philosophie des Rechts nur auf die vermittelnde Position des Reflexionsschlusses ankommt. Die abweichende Darstellung der Schlußtrias in der Wissenschaft der Logik und in der Enzyklopädie scheint mir nur darauf hinzudeuten, daß für Hegel die Stellung der Extremschlüsse der Schlußtrias gleichgültig ist; - ähnlich wie für ihn die Stellung der Extremterme innerhalb der einfachen Schlüsse gleichgültig zu sein scheint und daher ebenfalls auf verschiedene Weise in der Wissenschaft der Logik und in der Enzyklopädie angeordnet wird. Der Schlußtrias der Enzyklopädie entspricht Hegels Metapher des „Kreises aus Kreisen" (zu dieser Metapher für den Schluß aus Schlüssen vgl. in der Freundesvereinsausgabe den Zusatz zu § 342 der Enzyklopädie, ein Text, der ebenfalls die Theorie des Organischen als Theorie der Schlußtrias entwickelt). Der Schlußtrias der Wissenschaft der Logik entspricht Hegels Metapher des „Dreiecks aus Dreiecken", deren Spitzen der jeweilige medius terminus und deren Grundseiten die jeweilige Konklusion (das Paar der Extremterme) entspricht.

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möchte ich auf die Frage zurückkommen, inwiefern der Staat für Hegel ein Organismus ist. Denn diese Auffassung des Staates hängt mit den dargelegten Grund-Folge- und Zweck-Mittel-Beziehungen direkt zusammen. 3. Zunächst könnte man dem bisher Gesagten fälschlicherweise entnehmen, daß nach Hegels Auffassung nicht der Staat als solcher, sondern nur das, was Hegel „Verstandesstaat" nennt, also die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft, einen Organismus ausmachen. Denn auf diese bezieht sich Hegels Rede von der Desorganisation der bürgerlichen Gesellschaft und seine Auffassung, daß der Staat sie zu reorganisieren habe. Denn was re- und desorganisiert werden kann, muß doch wohl etwas schon Organisiertes und in diesem Sinne ein Organismus sein. Aber Hegel spricht ausdrücklich vom Organismus des Staates erst im Text des § 259, und systematisch hat der Begriff des Staatsorganismus erst in den §§ 267 und 269, im Abschnitt „Das innere Staatsrecht", seinen eigentlichen Ort. Hegel meint mit diesem Organismus das, was er „politischen Staat" oder „politische Verfassung" nennt. Diese ist das System der politischen Gewalten und ist von dem, was Hegel im § 265 „die Verfassung ... im Besonderen" nennt, zu unterscheiden. Nur die Verfassung im Besonderen kann mit dem Verstandesstaat oder mit der Gesamtheit der Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft identifiziert werden. Sie schließt die politische Verfassung des Staates nicht ein, sondern ist nur die „Basis" (§ 265) des politischen Staates. Der sachliche Grund für diese Schwierigkeit liegt darin, daß im Überleitungsparagraphen 256 noch nicht direkt vom Staat als politischem Staat, d. h. als verfaßtem System politischer Gewalten die Rede war, sondern vom Staat zunächst in seiner, wie Hegel sagt, „abstrakten Wirklichkeit" (§ 270). Was heißt das? „Staat" in § 256 (und dann auch noch in den ersten beiden Paragraphen des Abschnitts „Der Staat") bedeutet zunächst den Staat vor allem als den sittlichen Geist eines Volkes nach seiner bloß subjektiven Seite betrachtet. ^ In § 267 wird ausdrücklich die bloß „subjektive Substanzialität" des Willens von der „objektiven" unterschieden. Während

® Er ist der sittliche Geist als zwar „substantieller Wille, der sich denkt und weiß" (§ 257), nicht der Wille, insofern er „das, was er weiß und insofern er es weiß, vollführt" (ebd.). Er ist genauer der Staat „als die Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewußtsein hat" (§ 258). Vgl. § 265 Zusatz: „Das Selbstgefühl der Individuen macht seine [scU. des Staates] Wirklichkeit aus."

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dort die objektive Substanzialität zum ersten Mal als „der Organismus des Staats" ausdrücklich eingeführt wird, wird von eben diesem objektiven Organismus die Substanzialität des Staatswillens als bloß subjektive „politische Gesinnung" abgehoben. Nun ist zwar Hegel der Ansicht, daß die politische Gesinnung als „zur Gewohnheit gewordenes Wollen" (§ 268) nicht wirklich bestehen kann, ohne daß sie sich stützen kann auf einen schon irgendwie verwirklichten objektiven Organismus politischer Gewalten. Sie ist insofern „nur Resultat der im Staate bestehenden Institutionen" (ebd.). Auch in ihrem „besonders bestimmten Inhalt" speist sich die politische Gesinnung „aus den verschiedenen Seiten des Organismus des Staats" (§ 269). Aber auch umgekehrt gilt, daß dieser Organismus sich gar nicht entwikkeln kann, wenn nicht der Geist eines Volkes da ist, dessen Individuen es zu einer mehr oder weniger ausgebildeten politischen Gesinnung gebracht haben, für die der allgemeine Staatszweck der ihr Wollen und Tun bestimmende Zweck ist. Denn wenigstens diejenigen Einzelnen, auf deren Tätigkeit die Existenz und Wirksamkeit politischer Gewalten direkt beruht, müssen doch über ein bestimmtes Minimum einer solchen subjektiven Disposition verfügen. Von eben dieser subjektiven Disposition als Bedingung der Möglichkeit der Entwicklung eines Staatsorganismus ist im § 270 die Rede; „Daß der Zweck des Staates das allgemeine Interesse als solches und darin als ihrer Substanz die Erhaltung der besonderen Interessen ist, ist seine 1) abstrakte Wirklichkeit oder Substanzialität; aber sie ist 2) seine Notwendigkeit, als sie sich in die Begnifsunterschiede seiner Wirksamkeit dirimiert, welche durch jene Substanzialität ebenso wirkliche feste Bestimmungen, Gewalten sind; 3) eben diese Substanzialität ist aber der als durch die Form der Bildung hindurchgegangene, sich wissende und wollende Geist. Der Staat weiß daher, was er will, und weiß es in seiner Allgemeinheit, als Gedachtes; er wirkt und handelt deswegen nach gewußten Zwecken, gekannten Grundsätzen und nach Gesetzen, die es nicht nur an sich, sondern fürs Bewußtsein sind; und ebenso, insofern seine Handlungen sich auf vorhandene Umstände und Verhältnisse beziehen, nach der bestimmten Kenntnis derselben."

„Diese Gesinnung", sagt Hegel in § 268, „ist überhaupt das Zutrauen (das zu mehr oder weniger gebildeter Einsicht übergehen kann), - das Bewußtsein, daß mein substantielles und besonderes Interesse im Interesse und Zwecke eines Anderen (hier des Staates) als im Verhältnis zu mir als Einzelnem bewahrt und enthalten ist, - womit eben dieser unmittelbar kein Anderer für mich ist und Ich in diesem Bewußtsein frei bin."

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4. In der Unterscheidung der „objektiven Seite" des Staatsorganismus von einer „subjektiven Seite" des Staatswillens zeigt sich nun, daß es ein drittes Grund-Folge- bzw. Zweck-Mittel-Verhältnis gibt, das vom zweiten deutlich unterscheidbar ist. Es ist nämlich nicht nur erforderlich, daß das Allgemeininteresse des Staates in der subjektiven Gestalt politischer Gesinnung realisiert sein muß, wenn für die Einzelindividuen der bürgerlichen Gesellschaft die Erhaltung ihrer besonderen Interessen gegen die Kräfte der sozialen Desorganisation garantiert werden soll (es gilt also nicht nur B-A-E). Sondern es gilt auch A-E-B (der Hegelsche Syllogismus in seiner zweiten Figur): Das heißt, der Staat ist nicht schon in der politischen Gesinnung, in einer subjektiven Disposition der Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft wirklich vorhanden; er schwebt auch nicht als ungreifbare Macht über ihnen; objektiv verwirklicht ist er vielmehr nur in der Gestalt der Träger der politischen Gewalten, die als solche wiederum nur Einzelne, wenn nicht die Einzelnen der bürgerlichen Gesellschaft sind. Es müssen stets bestimmte Einzelne, wenn nicht die Einzelnen sein, die die besonderen gesellschaftlichen Interessen mit dem Allgemeininteresse des Staates vermitteln: Es muß notwendigerweise immer ein einzelner Wille sein, der den besonderen Willen mit dem Allgemeinwillen vermittelt. Die politischen Gewalten sind immer nur in der Gestalt einzelner Funktionäre vorhanden, die, als Angehörige der bürgerlichen Gesellschaft, aufgrund ihrer besonderen sozialen Funktionen besondere Interessen mitbringen und auf jeweils besondere Weise versittlicht sind. Dies gilt für die Gesamtheit der politischen Gewalten, also für das, was Hegel den Staatsorganismus nennt. Wie läßt sich nun die Schwierigkeit lösen, die darin liegt, daß Hegel erst die Gesamtheit der politischen Gewalten als Organismus bezeichnet, während er doch schon in bezug auf den Verstandesstaat organizistisches Vokabular benutzt und wenigstens von dessen Desorganisation spricht? Sind „Organismus" und „Organisation/Desorganisation" nur Metaphern, die sich im Hinblick auf den Staat auf dessen verschiedene Funktionszusammenhänge relativ beliebig anwenden lassen, oder handelt es sich beim „Staatsorganismus", von welchem die Paragraphen 267 ff handeln, um einen strengen Begriff? Die Schwierigkeit läßt sich noch vergrößern, wenn wir beachten, daß Hegel auch der zweiten Vermittlungsform das Prädikat „organisch" beimißt. So heißt es in dem schon zitierten Text des § 256 Anmerkung, daß der „Geist" in „seinem gedachten Willen" schon allein durch die „Bildung" und durch die „Form des Gedankens" „als organische Totalität objektiv und

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wirklich ist". (Man vergleiche dazu auch den Zusatz zu § 261, worin von der „Organisation des Begriffs der Freiheit" die Rede ist.) Mithin sind alle drei Vermittlungsformen in einem bestimmten Sinn „organisch", und es fragt sich, ob dieser Sinn in allen drei Fällen ein unterschiedlicher ist. 5. Das Problem läßt sich lösen erstens, wenn wir beachten, daß die Wörter „organisch", „Organisation/Desorganisation" und „Organismus" insofern verschiedene Referenzobjekte haben können, als nur das Wort „Organismus" sich auf ein System beziehen läßt, und zwar ein System, dem wir bestimmte Prädikate beilegen können; von dem wir zum Beispiel sagen können, daß es der Selbstorganisation, der Selbsterhaltung oder der Entwicklung fähig ist. Nach KANT (dessen Organismustheorie in der Kritik der teleologischen Urteilskraft Hegels Vorbild in terminologischer Hinsicht gewesen sein dürfte) können wir etwas als Organismus erst dann auffassen, wenn folgende Bedingung erfüllt ist: „daß die Teile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind. Denn auf solche Weise ist es allein möglich, daß umgekehrt (wechselseitig) die Idee des Ganzen wiederum die Form und Verbindung aller Teile bestimme".Hegel hält offenbar, wie sich zeigen läßt, die politische Verfassung, das heißt die Gesamtheit politischer Gewalten für ein solches System. Zweitens müssen wir aber nun auch beachten, in welchem Vermittlungs- oder Bedingungsgefüge die drei Vermittlungsformen (1) E-B-A (Verfassung im Besonderen) (2) B-A-E (Staat in seiner abstrakten Wirklichkeit) (3) A-E-B (politische Verfassung) selber stehen. Es läßt sich nämlich einsehen, daß in Hegels Konstruktion (1) und (2) weder Teile eines Organismus noch Organismen im Sinne eines sich selbst organisierenden Ganzen sind. Der Verstandesstaat (die Verfassung im Besonderen) (1) ist kein sich selbst organisierendes, sondern nur ein organisiertes Ganzes, das eben insofern auch desorganisiert werden, ja sogar sich selbst desorganisieren kann. Es läßt sich ebenfalls einsehen, daß in Hegels Konstruktion der Staat in seiner abstrakten Wirklichkeit (2), der sich innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft in den Formen der „Bildung" und des „Gedankens" herausbildet, zwar ebenfalls kein Organismus ist, wohl aber wenigstens schon die „Idee" eines Sy-

“ § 65 (B 291).

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Sterns enthalten muß, das in der Lage ist, eine desorganisierte bzw. sich desorganisierende bürgerliche Gesellschaft zu (re)organisieren. Insofern diese Idee Idee eines sich selbst organisierenden Ganzen ist, kann sie bzw. der sie erfassende Geist (dem Sprachgebrauch seit KANT entsprechend) „organisch" bzw. „organische Totalität" heißen. 6. Sehen wir uns das Bedingungsgefüge der drei Vermittlungsformen Verfassung im Besonderen (1), Staat in seiner abstrakten Wirklichkeit (2), politische Verfassung (3) - genauer an, so können wir zunächst resümieren; Erstens sahen wir anhand des § 265, daß Hegel die Verfassung im Besonderen als „die feste Basis des Staats" ansieht, und wir können, wenn wir diesen Paragraphen genauer betrachten, sagen, daß sie die „feste Basis" von (2) und (3) sein soll. Denn Hegel schreibt, er sei „die feste Basis des Staats sowie des Zutrauens und der Gesinnung der Individuen für denselben und die Grundsäulen der öffentlichen Freiheit, da in ihnen die besondere Freiheit realisiert und vernünftig" sei. Ferner sahen wir, daß die politische Verfassung als System politischer Gewalten und der Staat in seiner abstrakten Wirklichkeit als politische Gesinnung etc. einander wechselseitig bedingen. Was zunächst dieses letztere wechselseitige Bedingungsverhältnis zwischen (2) und (3) angeht, so läßt sich aus ihm leicht einsehen, daß (2) weder ein Organismus noch im Verhältnis zu (3) Teil eines Organismus ist. Denn der Staat in seiner abstrakten Wirklichkeit ist als solcher gar nicht als Teil des Staates in seiner konkreten Wirklichkeit des Staatsorganismus anzusehen, aber auch nicht als ein selbständiger Staatsorganismus. (2) verhält sich zu (3) eher wie der Plan zum auszuführenden Projekt. Aber auch (1), als „feste Basis" von (2) und (3) betrachtet, ist kein Organismus oder Teil eines Organismus. Zwar ist es so, daß, wenn wir etwas als Basis betrachten, wir es zugleich teleologisch betrachten; Basis ist immer Basis für etwas, sie ist, worauf sich etwas zu einem bestimmten Zweck stützen läßt. Und auch Organismen stehen zu ihren Gliedern in einem teleologischen Verhältnis. Aber in Organismen verhalten sich die Teile zum Ganzen wechselseitig als Mittel und Zweck. Die Verfassung im Besonderen aber läßt sich, für sich genommen, nur als Mittel, nicht als Zweck im Verhältnis zur politischen Verfassung und zum Staat in seiner abstrakten Wirklichkeit ansehen. Die Verfassung im Besonderen ist, so sahen wir, die Gesamtheit der Institutionen, die die Sonderinteressen in der bürgerlichen Gesellschaft (die „besondere Freiheit", § 265) zu ihrem

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Zweck und zu verwirklichen haben. Diese Institutionen dienen allerdings dazu, daß diese Sonderinteressen nicht so verwirklicht werden, daß sie zur Desorganisation der bürgerlichen Gesellschaft führen. Wäre die bürgerliche Gesellschaft sich selbst überlassen, so wäre die Desorganisation eine zwangsläufige Folge der Realisierung der Sonderinteressen. Die institutioneilen Gegenmittel der Desorganisation, die die Verfassung im Besonderen bereithält, sind staatliche Einrichtungen. Der Staat erscheint insofern als ein Mittel zur Realisierung der Sonderinteressen. Aber das ist nach Hegels Auffassung bloßer Schein. Dieser Schein ist gemeint, wenn es in § 263 heißt, die objektive Allgemeinheit „scheine" in die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft. Und er ist ebenso gemeint, wenn es in der Wissenschaft der Logik heißt: „Der dritte Schluß [E-B-A] ist der formale, der Schluß des Scheins, daß die Einzelnen durch ihre Bedürfnisse und das äußerliche Dasein an diese allgemeine absolute Individualität geknüpft sind; ein Schluß, der als der bloß subjektive in die andern übergeht und in ihnen seine Wahrheit hat."^^ In Wahrheit benutzt nach Hegels Meinung der Staat nicht nur die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft als Mittel zu seinem eigenen Zweck, sondern auch noch den Schein, der Zweck sei die Realisierung der besonderen Interessen der Bürger {§ 263). Hegels Meinung stützt sich dabei auf den einfachen Gedanken, daß, wenn es wahr ist, daß die Realisierung der bürgerlichen Sonderinteressen desorganisierend wirkt, der Staat und die durch ihn eingesetzten Institutionen aber reorganisierend wirken, dann nicht die Realisierung der Sonderinteressen der wahre Zweck des Staats und seiner Einrichtungen sein kann. In Wahrheit besteht nur die folgende teleologische Bedingungsreihe in aufsteigender Linie von (1) bis (3): Die Institutionen der Verfassung im Besonderen und ihr scheinbarer Zweck sind bloße Mittel des Staates zu dem Zweck, daß bei den Bürgern die subjektiven Dispositionen entstehen oder wenigstens nicht gestört werden, die unter (2) oder unter dem Namen „Volksgeist", „politische Gesinnung" etc. zusammengefaßt und welche die Bedingung einer lebens-, im günstigen Fall entwicklungsfähigen politischen Verfassung (3) sind. Die besonderen Interessen sind gerade nicht Zweck des Staates, sondern im Allgemeininteresse aufgehoben: Der Staat hat sie zu bewahren, aber nur um des Staates willen. Hegel: Ges. Werke. Bd 12. 145. Die Glieder dieser Bedingungsreihe sind, wohlgemerkt, nicht Glieder des Staatsorganismus; und die Bedingungsreihe (1) E-B-A (2) B-A-E (3) A-E-B entspricht nicht der Sequenz der Hegelschen Schlußtrias, nach der dem Reflexionsschluß A-E-B die Zentralstellung zukommt.

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7. Hegels Auffassung, wonach es die Folge eines objektiven Scheins ist, den Staat im Verhältnis zu den besonderen Interessen der Bürger bloß als ein Mittel anzusehen, ist eine der Kernthesen seiner Staatsrechtslehre. Sie ist äquivalent mit seiner Behauptung, daß der Staat „als die Wirklichkeit des substantiellen Willens" (d. h. als Vernunftstaat) absoluter Selbstzweck sei (§ 258). Sie steht insofern im Zusammenhang mit seiner Kritik an allen Naturrechtstheorien, denen Hegel vorwirft, daß sie den „Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt" haben (Anmerkung zu § 258); eine Verwechslung, die Hegel anscheinend darauf zurückführen möchte, daß diese Naturrechtstheorien durch den bestehenden Schein sich haben täuschen lassen. Zu diesen Theorien gehören alle, die die Vereinigung der Bürger in einem Staat auf einen (realen oder idealen) Vertrag, und insofern auf ein bloß Gemeinschaftliches ihrer Einzelinteressen oder Einzelwillen, haben zurückführen wollen. Von Hegels Standpunkt aus muß es als die Paradoxie aller dieser Verwechslungen des Staates erscheinen, daß sie die in der bürgerlichen Gesellschaft vorhandenen Sonderinteressen viel weniger zu ihrem Recht haben kommen lassen, als es die Hegelsche Lehre vom Selbstzweckcharakter des Staates erlaubt. Hegels Kritik gilt in dieser Hinsicht vor allem ROUSSEAU, dessen „Vorstellungen von der Unschuld des Naturzustandes, von Sitteneinfalt ungebildeter Völker" er angreift; Vorstellungen, die es ROUSSEAU andererseits eben erlaubt haben, „die Bedürfnisse, deren Befriedigung, die Genüsse und Bequemlichkeiten des partikularen Lebens usf. als absolute Zwecke" zu betrachten (§ 187 Anmerkung). Hegels Staat dagegen, der die partikularen, privaten Interessen, Bedürfnisse etc. gerade nicht zum absoluten Zweck hat, läßt ihnen viel größeren Spielraum. Denn Hegel sieht umgekehrt in ihrer Realisierung ein zweckmäßiges Mittel, die Privatpersonen zu Mitgliedern des Vernunftstaates zu disponieren. Denn in dieser Realisierung müssen sie „ihr Wissen, Wollen und Tun auf allgemeine Weise bestimmen und sich zu einem Gliede der Kette dieses [des gesellschaftlichen] Zusammenhangs machen" (§ 187). Mit anderen Worten: die Privatpersonen disziplinieren, kultivieren, „bilden" sich auf diese Weise selbst und „arbeiten" ihre „Natureinfalt", wie Hegel sagt, „weg" (ebd.). Hegel folgt hier in gewisser Weise der RoussEAukritik, die KANT in § 83 der Kritik der teleologischen Urteilskraft entwickelt hat. Für Hegel ebenso wie für KANT ist die technische, ökonomische, kulturelle und zivilisatorische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft mit allen ihren sozialen Härten nicht schlechthin verderblich, sondern zweckmäßig. Für beide ist der Zweck dieser Entwicklung überindividuell und realisiert sich, ohne daß die individuellen

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Mitglieder der Gesellschaft es wissen, d. h. ohne daß jener Zweck zugleich auch ihr eigener Zweck ist. Der Unterschied zwischen KANT und Hegel liegt nur darin, daß KANT diesen überindividuellen Zweck für einen Naturzweck hält: Die gesellschaftliche Entwicklung ist für KANT nicht naturwidrig, sondern entspricht dem Zweck, alle Naturanlagen (die das einzelne Individuum nicht realisieren kann) in der Menschengattung nach und nach „auszuwickeln". Die Menschen unterscheiden sich von den Individuen anderer Spezies ihrer Natur nach darin, daß sie ihre Naturanlagen nicht individuell zur Entfaltung bringen können. Hegel stimmt, gegenüber KANT, mit ROUSSEAU noch darin überein, daß die gesellschaftliche Entwicklung allerdings naturwidrig ist, nur entspricht sie eben einem höheren Zweck, der nicht Naturzweck ist: „Das Interesse der Idee hierin, das nicht im Bewußtsein dieser Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft als solcher liegt, ist der Prozeß, die Einzelheit und Natürlichkeit derselben durch die Naturnotwendigkeit ebenso als durch die Willkür der Bedürfnisse zur formellen Freiheit und formellen Allgemeinheit des Wissens und Wollens zu erheben, die Subjektivität in ihrer Besonderheit zu bilden" (§ 187). Diesem Unterschied zwischen KANT und Hegel entspricht auch eine unterschiedliche Auffassung vom politischen Staat und seiner Verfassung. Für KANT ist die vollkommenste Staatsverfassung immer noch bloß ein Mittel zur Realisierung des Naturzwecks, genauer „nur eine formale Bedingung, unter welcher die Natur diese ihre Endabsicht allein erreichen kann"; „denn nur in ihr kann die größte Entwicklung der Naturanlagen geschehen"''*. Sie ist nicht der Zweck selbst, sondern nur eine zweckmäßige Einrichtung, insofern in ihr „dem Abbruche der einander wechselseitig widerstreitenden Freiheit gesetzmäßige Gewalt in einem Ganzen, welches bürgerliche Gesellschaft heißt, entgegengesetzt wird". Für Hegel dagegen ist die Staatsverfassung selbst der „Endzweck" (§ 258) und hebt in sich „das Interesse der Idee" auf. - Dem Unterschied zwischen KANT und Hegel entsprechen schließlich ganz unterschiedliche Auffassungen vom Inhalt und Wert einer philosophischen Theorie der politischen Geschichte. Für KANT muß diese Theorie letztlich in den Rahmen einer teleologischen Naturbetrachtung fallen; und insofern die Idee eines Naturzwecks nur regulativen, nicht konstitutiven Wert für unser theoretisches Wissen haben kann, so hat auch das teleologische Bild der Staatengeschichte für KANT in theoretischer Hinsicht nur die Funktion der Ordnung

** Kritik der Urteilskraft. § 83 (B 393); dort auch das folgende Zitat.

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unseres empririschen geschichtlichen Wissens, in praktischer Hinsicht nur die Funktion, uns nicht nur als moralische Subjekte, sondern auch als Weltbürger, als kosmopolitische Subjekte zu verstehen. Für Hegel dagegen muß die Philosophie der Weltgeschichte in den Rahmen der philosophischen Staatswissenschaft fallen, und sie ist für ihn als Wissenschaft, als theoretische Erkenntnis möglich in dem Maße, in dem die Weltgeschichte als Staatengeschichte und die Staaten als Organismen verstanden werden können. Denn als Organismen verstanden sind die Staaten genauso wie natürliche Organismen Selbstzwecke. Dabei ist im Unterschied zu natürlichen Organismen die teleologische Idee den Staatsorganismen nicht „äußerlich" und nicht, wie KANT im Hinblick auf natürliche Organismen sagt, bloßer „Erkenntnisgrund der systematischen Einheit" ihres organischen Ganzen Sondern gerade insofern sie keine bloßen Naturprodukte sind, sondern Produkte des Willens, ist die teleologische Idee für Staatsorganismen konstitutiv, d. h. nicht bloßer Erkenntnisgrund, sondern Existenzgrund. 8. Was berechtigt nun aber Hegel, den Staat, genauer die politische Verfassung, als Organismus anzusehen, d. h. als ein Ganzes, das seinen Zweck nur in sich selbst hat? - Zunächst: daß er Selbstzweck ist, folgt für Hegel daraus, daß er, wie wir gesehen haben, zwar ein Zweck, aber nicht bloßes Mittel sein kann zur Realisierung besonderer Zwecke in der bürgerlichen Gesellschaft. Daß etwas Selbstzweck ist, ist allerdings nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung dafür, daß es ein Organismus ist. Nicht jeder Selbstzweck ist als solcher schon ein Organismus. Warum also ist Hegel der Meinung, daß der Selbstzweckcharakter des Staates ihn zu einem organischen System macht? Der Grund liegt für Hegel darin, daß der Staat nicht nur Selbstzweck, sondern zugleich auch ein Ganzes von Funktionen ist, das den Staat zu einem System von Gewalten macht. Diese Funktionen ergeben sich wie folgt aus den bereits erläuterten Zusammenhängen. Zunächst sahen wir, daß der Staat in seiner politischen Verfassung eine (re)organisierende Funktion im Hinblick auf die bürgerliche Gesellschaft haben muß. Wir sahen, daß das nicht heißen kann, daß er ein bloßes Mittel der Realisierung besonderer Zwecke und Interessen der bürgerlichen Gesellschaft zu sein hat. Es heißt aber wohl, daß er für die besonde-

Kritik der Urteilskraft. § 65 (B 291).

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ren Zwecke und Interessen zu sorgen hat, insofern diese in Übereinstimmung sind mit einem allgemeinen Zweck. Dieser allgemeine Zweck kann zuletzt in nichts anderem bestehen als in der „Vereinigung" der Mitglieder der in Klassen zerfallenden bürgerlichen Gesellschaft (§258). Der Endzweck des Staates ist mithin Vereinigung der gesellschaftlichen Klassen miteinander. Daraus ergeben sich zwei Funktionen (zwei Gewalten) des Staates: Erstens hat der Staat (haben die in ihm vereinigten Individuen) zu erkennen, worin die gesuchte Übereinstimmung der besonderen Interessen in concreto besteht; zweitens muß der übereinstimmende Zweck auch ausgeführt werden. Das Erkennen, als eine der beiden Funktionen, verläuft gewissermaßen induktiv vom Besonderen zum Allgemeinen: Gegeben sind die besonderen Interessen, bestimmt werden muß das Allgemeine, d. h. dasjenige, worin die besonderen Interessen übereinstimmen. Die Zweckausführung, als die andere der beiden Funkfionen, kann als Subsumtion des Besonderen unter das bekannte Allgemeine beschrieben werden. Die Zweckausführung verläuff sozusagen in umgekehrter Richtung zur Richtung des Zweckerkennens: Von einem gegebenen allgemeinen Zweck ausgehend, hat sie diesen Zweck zu spezifizieren. Hegel unterscheidet nach den beiden Funktionen des Zweckerkennens und des Zweckausführens die gesetzgebende und die Regierungsgewalt (s. § 273). Die Funktion der gesetzgebenden Gewalt ist demnach nicht Gesetzgebung im Sinne einer bloß voluntaristischen Willensbekundung, sie ist vielmehr kognitiver Art, sie ist Gesetzeserkenntnis. Deshalb fallen der gesetzgebenden Gewalt, wie Hegel hervorhebt, auch Aufgaben zu, die der Sache nach gar nicht zum Inhalt eines allgemeinen Willens gehören (wie zum Beispiel die von Jahr zu Jahr erforderliche Festsetzung des Budgets). Die gesetzgebende Gewalt hat aus der Kenntnis der besonderen Zwecke den allgemeinen Zweck zu „bestimmen" (§ 273), d. h. zu erkennen und festzusetzen (zu beschließen). Diese Funktion kann in einer differenzierten, nach Ständen organisierten Gesellschaft zweckmäßigerweise nur ein Repräsentationsorgan ausüben. Dieses kann aber kein reines Repräsentationsorgan sein, weil auch die Regierungsgeschäfte als solche besondere Zwecke enthalten, die als allgemeiner Zweck zu bestimmen sind, so daß die Regierungsgewalt von der gesetzgebenden Gewalt zwar funktionell unterschieden, aber nicht (im Sinne von Gewaltentrennung) getrennt werden kann. Die Art und Weise, in der Hegel die politischen Gewalten nach Funktionen unterscheidet, zeigt nun an, daß er die drei syllogistischen Ver-

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mittlungsformen auch der inneren Gliederung der politischen Verfassung zugrundelegt. Der Verfassung im Besonderen (E-B-A) entspricht nach dieser Gliederung die Regierungsgewalt: Der aufzusuchende medius terminus ist hier der besondere Zweck, in welchem die einzelnen Regierungsfunktionäre den allgemeinen Staatszweck zu realisieren haben; die gegebene conclusio, bzw. die gegebenen Extreme sind auf der einen Seite die Einzelnen (oder Einzelwillen) als Träger der Regierungsgewalt (die Beamten bzw. die einzelnen Mitglieder des sogenannten allgemeinen Standes), auf der anderen Seite der gegebene allgemeine Staatszweck (dem der Beamtenstand als allgemeiner Stand seinen Namen verdankt). Dem Staat in seiner abstrakten Wirklichkeit (B-A-E) entspricht die gesetzgebende Gewalt: Der aufzusuchende medius terminus ist hier der allgemeine Staatszweck in seiner Konkretion als jeweiliges Staatsinteresse; als conclusio, genauer als Extreme der conclusio gegeben sind hier die Einzelwillen als Träger der gesetzgebenden Gewalt auf der einen Seite, und die besonderen Interessen auf der anderen Seite, die diese Einzelnen als Repräsentanten der verschiedenen Stände mitbringen. Diese beiden Entsprechungsverhältnisse sind der Sache nach nicht zufällig. Denn die Funktion der Regierungsgewalt ist gar keine andere als die, die Verfassung im Besonderen zu (re)organisieren. Die Regierungsgewalt hat die Verfassung im Besonderen m.a.W. als staatlich organisierte, als mit dem Staatszweck übereinstimmende Verfassung zu verwirklichen. Entsprechendes gilt für die gesetzgebende Gewalt. Der Staat in seiner abstrakten Wirklichkeit war der Volksgeist als Idee, die volonte generale „in der Form des Gedankens" (als „Bildung", als „politische Gesinnung" und als „gedachter Wille"). Die Funktion der gesetzgebenden Gewalt ist aber gar keine andere als die, den allgemeinen Willen in der Form des Gedankens (den Staat in seiner abstrakten Wirklichkeit) wirklich zu entwickeln. 9. Als viel schwieriger erscheint die sich nun aufdrängende Frage: Was entspricht in der inneren Gliederung der politischen Verfassung der politischen Verfassung (A-E-B)? Kann ein solches Entsprechungsverhältnis überhaupt sinnvoll angenommen werden? Die syllogistische Vermittlungsform der politischen Verfassung ergab sich ja, wie wir gesehen haben, daraus, daß sie keine über den einzelnen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft schwebende Macht sein kann, sondern der einzelnen Mitglieder als ihrer Träger und Funktionäre bedarf: Es sind stets Einzelne, die die besonderen Standes- und Klassenin-

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teressen mit dem allgemeinen Staatsinteresse zu vermitteln haben. Diese Einzelnen sind identisch mit den Trägern der politischen Gewalten, also die Regierungsfunktionäre oder Beamten und die einzelnen Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaft(en). Nun hatte ich soeben, in der Erläuterung der Funktionen der Regierungs- und gesetzgebenden Gewalt, unterstellt, diese Einzelnen, als Träger der beiden Gewalten, seien als solche schon „gegeben"; sie seien das eine von zwei Extremen einer gegebenen conclusio. In Wahrheit aber müssen sie als solche erst noch „gegeben" werden. Es sind unmöglich alle einzelnen Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft unmittelbare Träger politischer Gewalt (zum Beispiel nicht die Unmündigen). Deshalb muß die Frage aufkommen, wie diese unmittelbaren Träger als solche zu bestimmen sind. Diese Frage kann aber, das ist offensichtlich Hegels Meinung, eben als die Frage nach dem medius terminus eines bestimmten Syllogismus aufgefaßt werden. Die einzelnen Träger der politischen Gewalten müssen demnach ebenso wie die beiden Extreme des besonderen und des allgemeinen Staatszwecks noch aufgesucht werden als der medius terminus eines Syllogismus, in der die conclusio A-B schon gegeben ist. Die Extreme A und B sind aber insofern und nur insofern schon gegeben, als es auf der einen Seite gar keine Einzelnen geben kann, die nicht schon durch ihre Stellung im „System der Bedürfnisse" (und das heißt im Ständesystem und im Klassengefüge der bürgerlichen Gesellschaft) besondere Interessen mitbringen; und als auf der anderen Seite der allgemeine Staatszweck als Klassenvereinigungszweck schon feststeht. In der Tat ist es das Problem jeder politischen Verfassung (und zwar im Hinblick auf alle politischen Gewalten), wie diejenigen Einzelnen zweckmäßigerweise zu bestimmen, oder welche Einzelnen geeignet sind, die vorhandenen sozialen Bedürfnisse und Interessen mit dem allgemeinen Staatszweck zu vermitteln. Dieses Problem ist gleichbedeutend mit der Frage, wer unmittelbarer Inhaber politischer Gewalt sein soll. Nach Hegels Auffassung ergibt sich aus dieser Überlegung erstens, daß das Wesen der politischen Verfassung als solcher (das Wesen aller politischen Gewalten) darin besteht, das Allgemeine mit dem Besonderen durch bestimmte Einzelne zu vermitteln (A-E-B). Es ergibt sich aber zweitens auch, daß es zu den Funktionen der politischen Verfassung gehört, die Einzelnen zu bestimmen, die Träger politischer Gewalt sind. (Der Staatsorganismus hat sozusagen selbst für seinen Stoffwechsel mit der bürgerlichen Gesellschaft zu sorgen.) Nun bedarf aber auch die Funktion des Stoffwechsels eines Trägers;

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und insofern Hegel die innere Gliederung der politischen Verfassung in politische Gewalten nach Funktionen bestimmt, ergibt es sich, daß es einer dritten politischen Gewalt bedarf, deren Funktion die Bestimmung des Einzelwillens als solchen ist, insofern er geeignet ist, das Allgemeine mit dem Besonderen zu vermitteln. Daraus ergibt sich die Entsprechung zwischen der Struktur der politischen Verfassung als ganzer und der Struktur eines Teils der Verfassung, einer besonderen (dritten) politischen Gewalt hinsichtlich ihrer syllogistischen Vermittlungsform (A-E-B).^^

Die Entsprechung zwischen der Struktur der politischen Verfassung als ganzer und der Struktur eines Teils der Verfassung (der dritten Gewalt) ist es, was den tieferen sachlichen Grund dafür ausmacht, daß Hegel diese dritte Gewalt als erste Gewalt auffaßt. Über diesen sachlichen Grund besteht in der Hegelliteratur Unklarheit. Hegel deduziert diese erste Gewalt direkt aus dem Begriff der politischen Verfassung, gemäß dem es das Wesen jeder politischen Verfassung ist zu bestimmen, welcher individuelle Wille den gegebenen allgemeinsten Staatszweck (den Klassenvereinigungszweck) mit gegebenen besonderen Zwekken (Zwecken, die sich aus besonderen Bedürfnissen, Situationen etc. ergeben) zur Übereinstimmung zu bringen hat. „Die Individualität ist die erste und die höchste durchdringende Bestimmung in der Organisation des Staates" (Enzyklopädie 1830. § 541 Anmerkung). (Was im freien Mechanismus des Sonnensystems die Schwere, das ist im Staatsorganismus die Individualität.) Gemäß der „durchdringenden" Bestimmung des Staatsorganismus, welche zuletzt auch die Individualität des Staates selbst ausmacht, können alle drei politischen Gewalten als Regierungsgewalt aufgefaßt werden. Die Enzyklopädie unterscheidet denn auch diese Gewalten nur als individuelle, besondere und allgemeine Regierungsgewalt voneinander. Daß nun die nach Hegels Darstellung erste Gewalt dem mittleren Schluß der Schlußtrias entspricht, hat seinen tieferen sachlichen Grund darin, daß Hegel die „Gliederung" des Organischen, und insbesondere die Gliederung des politischen Staates in Gewalten, als „Diremtion" versteht (§273, vgl. Wissenschaft der Logik [Ges. Werke. Bd 12.] 144 f. und Enzyklopädie § 198 sowie § 342 Zusatz; vgl. schließlich die Passagen über das „schönste Band" des Platonischen Timaios in der Differenzschrift [Ges. Werke. Bd 4. 65], sowie in den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, auf welch letztere Stelle Henrich in seinem in Anm. 5 angeführten Aufsatz aufmerksam gemacht hat). Der Reflexionsschluß ist Ausgangspunkt dieser Diremtion, da er selbst bereits aufgefaßt werden kann als Diremtion des Individuellen in die Momente des Besonderen und des Allgemeinen. Aus der Diremtion dieser Momente wiederum ergeben sich dann der qualitative und der Notwendigkeitsschluß, die als Resultate von Diremtionen die Extremschlüsse der Schlußtrias sind. Die oft diskutierte und auch von D. Henrich (444 ff) aufgeworfene Frage, wie die in § 198 der Enzyklopädie und in der Wissenschaft der Logik vorgenommene Rekonstruktion des Staates als eines Systems dreier Schlüsse mit der Darstellung des Staatsorganismus in den Grundlinien der Rechtsphilosophie in eine sachliche Übereinstimmung gebracht werden kann, läßt sich nur beantworten, wenn man den „dihairetischen" Charakter der Schlußtrias beachtet. Man ist nicht genötigt, Henrichs Auffassung zu folgen, daß „die Schlußtrias der Enzyklopädie überhaupt nicht auf die drei Formaspekte des inneren Staatsrechts bezogen ist" und daß diese Schlußtrias als die Begriffsform eines „eigentlichen" Staatsbegriffs Hegels, d. h. „als eine Begriffsbestimmung des Staates aufzufassen" sei, „die der Logik des inneren Staatsrechtes und der spekulativen Zuordnung der Institutionen seiner Verfassung noch voraus - und die der Systematik dieser Institutionen intern noch zugrundeliegt" (445).

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10. Die Frage, wer Inhaber dieser dritten Gewalt sein soll, scheint auf einen unendlichen Regreß zu führen. Es gibt nur zwei logisch mögliche Auswege aus diesem Regreß. Entweder man erklärt es für die Sache der gesetzgebenden Gewalt zu erkennen und zu bestimmen, wer zweckmäßigerweise die dritte Gewalt innezuhaben hat. Damit würde die gesetzgebende Gewalt als Teil der politischen Verfassung zugleich die Kompetenz erhalten, die politische Verfassung in ihrer Struktur direkt zu bestimmen. Oder aber man entzieht diese Kompetenz jeder allgemeinen Willensbestimmung und beweist, daß die bürgerliche Gesellschaft bestimmte Mitglieder enthält, die ihrer besonderen Stellung oder Natur nach Inhaber der dritten Gewalt sind. Diese Alternative von Auswegen bezeichnet genau die Stelle, an der die Hegelkritik des jungen MARX einsetzt. Der junge MARX hat Hegel vorgehalten, daß er diese Alternative in Wahrheit voluntaristisch und ohne gründliche Argumentation entschieden habe. MARX hat sich gegen Hegel eindeutig für den ersten Ausweg entschieden. MARX war der Auffassung, daß der Staat als entwicklungsfähiger Organismus nur dann betrachtet werden könne, wenn die gesetzgebende Gewalt auch die Kompetenz einer verfassunggebenden Gewalt innehat. Auf diesem Gedanken beruht MARxens Rede von den „organischen Revolutionen", die stets Sache der gesetzgebenden Gewalt seien. Hegel entscheidet sich für den zweiten Ausweg. Er spricht (in § 298) der gesetzgebenden Gewalt ausdrücklich die Kompetenz ab, als Teil der Verfassung die Verfassung direkt zu bestimmen, und behauptet (in § 281 Anm.), es sei das ausschließliche Recht der Philosophie, „denkend" zu „betrachten", daß und inwiefern die „natürliche Geburt" darüber zu entscheiden hat und darüber entscheiden kann, wer die dritte Gewalt im Staate innehat. Hegel entscheidet sich damit für das monarchische Prinzip und bestimmt die dritte Gewalt als fürstliche Gewalt. Hegel ist der Meinung, daß sich ein vollkommener Staatsorganismus nur da ausbilden kann, wo bestimmte patriarchalische Herrschaftsverhältnisse, bestimmte majoratsherrliche Eigentumsverhältnisse mit Primogenitur und schließlich ein Prinzipat gegeben sind. Denn nur in solchen Verhältnissen werde die Verteilung bestimmter Ämter, insbesondere die Zuteilung der fürstlichen Gewalt „der Natur anheimgestellt" (§ 281). (Der mögliche und

Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (wie Anm. 2). 61.

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schließlich von MARX erhobene Einwand, dieses „der-Natur-anheimstellen" sei letztlich wieder nur Sache einer Willensbestimmung, wird von Hegel nicht wirklich erörtert.) Was nun die Funktion der fürstlichen Gewalt betrifft, so ist sie nur abstrakt beschrieben, wenn man sagt, sie bestimme den Staatswillen als Einzel willen. Zunächst ist Hegel ja keineswegs der Meinung, daß der Monarch über die Teilhabe der Einzelnen an politischen Gewalten schlechthin zu entscheiden habe. Denn Hegel schließt nicht nur aus, daß der Monarch sich selbst zum Monarchen macht oder seinen Nachfolger bestimmt oder sich als Inhaber der fürstlichen Gewalt auch nur rechtfertigt. (Das ausschließliche Recht der Philosophie auf „denkende Betrachtung" der fürstlichen Majestät schließt nämlich zum Beispiel auch das „Gottesgnadentum" aus.) Hegel ist vielmehr auch der Meinung, daß die Teilhabe an der gesetzgebenden Gewalt dem Einfluß des Monarchen teilweise zu entziehen ist. Hegel macht dafür zum Teil ähnliche Gründe geltend wie für das monarchische Prinzip. Denn auch in der gesetzgebenden Körperschaft muß es nach seiner Auffassung (wegen der Ständerepräsentation) geborene Mitglieder geben (die Majoratsherren). Außerdem verringert das Prinzip der Abordnung, das dem Gewerbestand angemessen sein soll, den Einfluß des Monarchen. Nur da, wo sonst der „Zufall" walten würde, hat der Monarch über politische Teilhabe zu entscheiden: Aus einer Vielheit von Anwärtern für Regierungsgeschäfte, „unter denen der Vorzug nichts absolut Bestimmbares ist", hat zuletzt der Monarch die bestimmten Individuen zu „erwählen" (vgl. §§ 283 und 292). Der Einfluß des Monarchen erstreckt sich in dieser Hinsicht also unmittelbar nur auf die Regierungsgewalt, und insofern nur mittelbar auch auf die gesetzgebende Gewalt. Die Bestimmung des politischen Einzelwillens ist mithin der Materie nach nur gering. Um so größer ist sie der Form nach. In Hegels Konstruktion ist nämlich die Aufgabe der fürstlichen Gewalt gar nicht in erster Linie, einzelne Individuen zu Staatsämtern zu erwählen. Seine Aufgabe ist vielmehr in erster Linie eine bloß formelle: Dem Monarchen kommt „die letzte Willensentscheidung" (§ 273) zu. Zum Inhalt der Gesetzgebung kann er nur verhältnismäßig wenig beitragen, aber ohne den letzten Willen, ohne die Unterschrift des Monarchen sind alle Akte der gesetzgebenden Gewalt ungültig. Die Funktion der fürstlichen Gewalt ist in dieser Hinsicht also nicht, zu bestimmen, welche Einzelnen an der Gesetzgebung teilnehmen, sondern nur, das was die verschiedenen an der Gesetzgebung teilnehmenden Einzelnen wollen, zum Einzelwillen (zum Willen des Staates) zu machen. Insofern der Monarch zudem die

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Spitze der Regierung ist, sind in seiner Gewalt „die unterschiedenen Gewalten zur individuellen Einheit zusammengefaßt" (§ 273). Hegels Konstruktion der dritten Gewalt als fürstlicher Gewalt ist nach meiner Ansicht zwar genial, aber doch auch die größte Schwachstelle seines Staatsrechts. Mit dieser Konstruktion hängt nicht nur zusammen, daß Hegel der gesetzgebenden Gewalt keine verfassungsgebende oder verfassungsändernde Kompetenz einräumen möchte. Mit ihr hängt auch zusammen, daß Hegel die gesetzgebende Körperschaft zu einem Organ degradiert, das zwischen „dem organischen Staat" und der unorganischen Menge, dem atomistischen Haufen des gesamten Volkes zu „vermitteln" habe (§ 302). Hegel, der sonst nicht müde wird, mit guten Argumenten gegen atomistische Ansichten der bürgerlichen Gesellschaft und des Volkes (populus) zu Felde zu ziehen, bedient sich in diesem Zusammenhang selber der atomistischen Vorstellungen von der „bloß massenhaften Gewalt" der Menge „gegen den organischen Staat" (§ 302). „Als vermittelndes Organ betrachtet", schreibt Hegel im selben Paragraphen, „stehen die Stände zwischen der Regierung überhaupt einerseits und dem in die besondern Sphären und Individuen aufgelösten Volke andererseits." Die gesetzgebende Körperschaft hat hier auf einmal die Funktion, den Staat in seiner politischen Verfassung gegen das atomistisch vorgestellte Volk abzuschirmen oder mit ihm zu vermitteln, anstatt für den Stoffwechsel des organisch vorgestellten Staates zu sorgen. Sieht man nun aber von den Details in der Durchführung der Hegelschen Gewaltenteilungstheorie ab, und achtet man nur auf den funktionellen Aufbau des politischen Gewaltensystems in Hegels Theorie, dann wird deutlich, daß Hegels Rede vom Staatsorganismus keine bloße Metaphorik ist. Vielmehr kennzeichnet Hegel mit ihr, daß das Gewaltensystem kein bloßes Aggregat und auch kein System von Kräften ist, die wechselseitig ihren Wirkungskreis auf bloß mechanische Weise einschränken. Als Organismus gedacht ist das Gewaltensystem ein Ganzes, das einen Zweck in sich selbst hat und dessen Teile oder Glieder ihrerseits nicht bloße Mittel, sondern zugleich auch Zweck sind: Jede einzelne der drei Gewalten setzt die Funktionstüchtigkeit der beiden anderen als schon gegeben voraus und jede ist in ihrer Funktion durch die Idee des Ganzen bestimmt. 11. Wenn man Hegels Lehre vom Staatsorganismus auf diese Weise zusammenfaßt, fällt auf, daß sie sich direkt anschließt an eine Auffassung des Staates, die zuletzt auf die Französische Revolution zurückgeht, in

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der, wie man weiß, ja auch die Rede von der politischen „Organisation" entstanden ist.'® Ein Niederschlag dieser Staatsauffassung ist in einer Fußnote KANTS ZU § 65 der Kritik der teleologischen Urteilskraft zu finden, wo es - mit indirekter Anspielung auf die Französische Revolution - heißt: man habe „sich, bei einer neuerlich unternommenen gänzlichen Umbildung eines großen Volks zu einem Staat, des Worts Organisation häufig für Einrichtung der Magistraturen usw. und selbst des ganzen Staatskörpers sehr schicklich bedient. Denn jedes Glied soll freilich in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck, und, indem es zu der Möglichkeit des Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen wiederum, seiner Stelle und Funktion nach, bestimmt sein." Die hier von KANT wiedergegebene Auffassung von der Organisation des Staatskörpers nimmt Hegels Lehre vom Staatsorganismus in ihrer Grundidee ziemlich genau vorweg. Interessant ist, daß KANT sich aber diese organische Staatsauffassung nicht zu eigen gemacht hat. Das hängt damit zusammen, daß KANT die Rede von der Organisation des Staatskörpers für eine bloß analogisierende Redeweise hält. Sie enthält, so sagt er in derselben Fußnote, nur „eine Analogie" mit den „unmittelbaren Naturzwekken", als die KANT die Organismen der belebten Natur auffaßt. Mir scheint, daß Hegel sich an dieser Stelle von KANT bewußt unterscheidet, und das nicht ohne Berechtigung. KANT konnte die Organismen der belebten Natur nur insofern als Naturzwecke ansehen, als er Gründe hatte zu behaupten, wir bedürften ihrer teleologischen Betrachtung schon, um Organismen als Organismen auch nur beschreiben zu können. Organismen als Naturzwecke zu betrachten, bedeutet aber, sie so zu betrachten als ob ihnen die Idee ihres Ganzen als Ursache (als Existenzgrund) zugrundeliegen würde. Es bedeutet nicht, auch zu behaupten, es sei die Idee des Ganzen auch die wirkliche Ursache (der Existenzgrund) für die bestimmte Form und die Verbindung der Teile des Organismus zu einem Ganzen. Wendet man nun den Organismusbegriff nicht auf Pflanzen und Tiere, sondern auf den von Menschen organisierten und Menschen als Staatsbürger organisierenden Staat an, so muß sich mit dieser Anwendung etwas am Organismusbegriff ändern. Der Staatsorganismus ist kein Naturzweck, dennoch, als organisiertes und sich selbst organisierendes Ganzes, ein Selbstzweck. Deshalb kann die Frage entstehen, ob auf ihn Vgl. E. W. Böckenförde: Organ, Organismus... In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd 4. Stuttgart 1978. 519-622, dort 566 ff.

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die KANTische Feststellung zutrifft, nach der die Idee des Organismus bloßer Erkenntnisgrund, nicht aber auch der Existenzgrund der Organisation der Teile zu einem Ganzen ist. Was sich in der Organisation des Staates organisiert, sind - wenigstens nach der Hegelschen Theorie - keine mechanischen Objekte, als die man nach KANT die Teile der Tiere und Pflanzen stets betrachten muß, wenn man irgendetwas an ihnen ursächlich erklären will; was sich nach Hegels Ansicht im Staatsorganismus organisiert, ist vielmehr das, was Hegel „politische Gesinnung" oder „den Geist eines Volkes" nennt, es ist ein auf einen Zweck gerichteter Wille.

II. Die Idee des Staatsorganismus ist indessen für Hegel nicht nur Ursache der Organisation des Staates, sondern auch Erkenntnisgrund im Hinglick auf das Wesen des Staates. Damit komme ich zurück zu meiner anfänglichen Behauptung, Hegels Auffassung des Staates als eines Organismus ergebe sich schon aus seiner Idee der philosophischen Staatswissenschaft. Was ich mit dieser Behauptung meine, läßt sich jetzt, nach dem bisher Gesagten, leichter einsehen. Ich möchte mich auf wenige Andeutungen beschränken und komme damit zum Schluß. Nicht nur den Begriff des Organismus, sondern auch den der philosophischen Wissenschaft konnte Hegel der Kritik der teleologischen Urteilskraft entnehmen. Wenn wir diesen Zusammenhang beachten, geraten wir auf eine Spur, die uns in das Zentrum des Hegelschen Begriffs einer philosophischen Staatswissenschaft führt. In § 79 der Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft wirft K.ANT das Problem auf, welche Stelle der „Teleologie" als einer philosophischen Wissenschaft gebühre. Unter Wissenschaft versteht KANT in diesem Paragraphen ein System als organisiertes Ganzes, in dem die Stelle jedes seiner Teile durch die Idee des Ganzen bestimmt sei. KANT teilt nun die philosophische Wissenschaft in einen theoretischen und einen praktischen Teil und erörtert merkwürdigerweise, ohne dafür irgendein Argument anzuführen, nur die Frage, welche Stelle der Teleologie innerhalb des theoretischen Teils der philosophischen Wissenschaft gebühre. Seine Antwort ist, sie gehöre als Wissenschaft zu gar keiner Doktrin, sondern nur zur Kritik der Erkenntnisvermögen (genauer der Urteilskraft), sie habe aber negativen Einfluß auf die Methode der theoretischen Naturwissenschaft.

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Diese Antwort KANTS beruht auf folgendem Sachverhalt. Zur Kritik der Erkenntnisvermögen gehört nämlich nach KANT die Teleologie insofern, als es der besonderen Eigentümlichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens zuzurechnen sei, daß es des teleologischen Urteilens bedürfe. Dieses Erkenntnisvermögen zeichnet sich durch die Rezeptivität der Anschauung einerseits und die Spontaneität des diskursiven Verstandes andererseits aus. Unser Verstand hat die eigentümliche Beschaffenheit, daß in den Erkenntnissen, die wir durch den Verstand gewinnen können, „durch das Allgemeine das Besondere nicht bestimmt wird, und dieses also von jenem allein nicht abgeleitet werden kann"'^; gleichwohl aber soll „dieses Besondere in der Mannigfaltigkeit der Natur zum Allgemeinen (durch Begriffe und Gesetze) zusammenstimmen, um darunter subsumiert werden zu können"Dieses Zusammenstimmen des Besonderen mit dem Allgemeinen muß als zufällig erscheinen und ist „für unseren Verstand nur durch das Verbindungsmittel der Zwecke denkbar"^k Mit anderen Worten: Wenn in unserer empirischen Anschauung ein organisches Naturprodukt gegeben ist, so ist es unserem Verstand unmöglich, aus dem allgemeinen Begriff dieses bestimmten Organismus abzuleiten, wie die besonderen Teile dieses Organismus als besondere Glieder bestimmt sind. Unser Verstand kann sich immer nur umgekehrt „ein reales Ganze der Natur" „als Wirkung der konkurrierenden Kräfte der Teile"^ denken. Er kann sich nicht denken, daß „das Ganze den Grund der Möglichkeit der Verknüpfung der Teile" enthalte; sondern nur, „daß die Vorstellung eines Ganzen den Grund der Möglichkeit der Form desselben und der dazugehörigen Verknüpfung der Teile enthalte". Diese Betrachtungsweise eines Organismus bedeutet eben, ihn einerseits mechanisch zu erklären und andererseits ihn teleologisch zu beschreiben. Die Teleologie gehört aus diesem Grund zur Charakteristik unseres endlichen Verstandes oder zur Kritik desselben. Zugleich aber vollzieht KANT in dieser Kritik des menschlichen Verstandes den Gedanken von der Möglichkeit eines Verstandes, der anders als der menschliche beschaffen ist. Er weist sogar ausdrücklich darauf hin, daß indem wir die Endlichkeit unseres Verstandes einsehen, d. h. indem wir die Eigentümlichkeit unseres

20 2' 22 23

Kritik der Urteilskraft. § 77 (B 348). Ebd. Ebd. Ebd. (B 349) Ebd. (B 349 f)

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Verstandes als eine Besonderheit begreifen, wir eben darin schon den Gedanken eines auf eine bestimmte andere Weise beschaffenen Verstandes fassen, dessen Möglichkeit wir wenigstens einsehen können. In ihm wäre die Endlichkeit unseres Verstandes aufgehoben, d. h. für ihn gälte nicht, daß es nicht möglich ist, ein in der Natur gegebenes Ganzes (d. h. einen Organismus) als den realen Grund der Bestimmtheit seiner Teile einzusehen. Ihm erscheint ein reales Ganzes der Natur nicht als bloße Wirkung der konkurrierenden Kräfte der Teile. In der Anschauung eines auf bestimmte Weise geformten Ganzen erscheint ihm die Verbindung und Form der Teile als nicht zufällig. An die Stelle des Zufalls und der bloßen Möglichkeit ist für ihn die reine Wirklichkeit getreten. Der Existenzgrund des Besonderen ist ihm schon mit dem Allgemeinen (mit dem nicht-diskursiv gefaßten Begriff) des Ganzen gegeben. Er bedarf deshalb weder des Zweckbegriffs noch des Begriffs der mechanischen Wirkung. KANT nennt ihn einen nichtdiskursiven, intuitiven Verstand. Wenn wir diese Auffassungen KANTS von der Teleologie als philosophischer Wissenschaft vor Augen haben, dann erscheint Hegels Konzeption einer philosophischen Staatswissenschaft als eine implizite (und sicherlich intendierte) Kritik und zugleich als eine produktive Aufnahme der KANTischen Theorie. Was die kritische Seite betrifft, so wendet sich Hegel erstens gegen die KANTische Voraussetzung, daß die Teleologie als Wissenschaft nur in den theoretischen Teil der philosophischen Wissenschaft falle. Dieser Einwand ist der Sache nach nicht neu. Schon nach Auffassung der traditionellen politischen Theorien, von PLATON und ARISTOTELES an bis hin zu KANT selbst, ist der Staat immer schon in den Zusammenhang von Zweck-Mittel- und Ganzes-Teil-Relationen gestellt worden. Gerade auch die individualistischen Vertragstheorien des Staates, die es seit der frühen Neuzeit gibt, haben den Staat nicht nur als ein Ganzes von Teilen (von Individuen) betrachtet, sondern auch als ein Mittel der Realisierung besonderer gemeinschaftlicher Zwecke der Individuen. Hegels Kritik an diesen Vertragstheorien (so haben wir gesehen^^) besteht darin, daß, wenn der letzte Zweck des Staates in die besonderen Interessen der Einzelnen als solcher (z. B. in die Sicherheit, den Eigentumsschutz oder die persönliche Freiheit) gelegt wird, es dann als „etwas Beliebiges" (und wir dürfen hier interpretieren: als etwas Zufälliges) erscheinen muß, ob die

Siehe oben Seite 162.

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Einzelnen sich überhaupt zu einem Staat verbinden oder nicht verbinden. Man darf diese Kritik so deuten, daß sie genau der KANiischen Kritik des Verstandes entspricht, der die Entstehung eines Ganzen in der Natur immer nur als Wirkung der konkurrierenden Kräfte der einzelnen Teile verstehen kann, dem deshalb die Verbindung zu einem Ganzen, welche die einzelnen Teile vermöge ihrer besonderen natürlichen Kräfte und Eigenschaften eingehen, als etwas bloß Zufälliges erscheinen muß. Hegel nennt genau darum den Staat, den die Vertragstheorien allein vor Augen hatten, „Verstandesstaat". Und er ist der Meinung, daß die kritische (und insofern allein wissenschaftliche) Betrachtung des Verstandesstaates als Verstandesstaat notwendig zu einem Begriff des Staates führen muß, der diesen als Selbstzweck und schließlich als Organismus begreift. Das ist der Sinn der Rede vom „wissenschaftlichen Beweis des Begriffs des Staates" in § 256. Der zweite Punkt der impliziten Kritik Hegels an KANT richtet sich gegen KANTS Behauptung, die Teleologie als Wissenschaft könne nur zur Kritik der Erkenntnisvermögen, nicht aber auch zu einer Doktrin gehören. Der sachliche Grund für diese Kritik liegt darin, daß das, was KANT sagt, mit dem, was KANT tut, nicht wirklich konsistent zu sein scheint. Denn, indem KANT den menschlichen Verstand als endlichen Verstand kritisiert, geht die Kritik des teleologischen Denkens unmittelbar über nicht nur in eine Theorie des intuitiven Verstandes, sondern, ineins damit, auch in eine bestimmte alternative Theorie der Organismen, in der der Gegensatz von mechanischer und teleologischer Kausalität aufgehoben ist. KANT sagt zwar, daß diese Theorie nicht wirklich die unsere sein könne, sondern nur die eines hypothetisch angenommenen intuitiven Verstandes, aber das Merkwürdige ist, daß er selbst es ist, der diese mögliche Theorie eines intuitiven Verstandes skizziert. Wenn wir nun den Aufbau des Hegelschen Staatsrechts betrachten, und wenn wir insbesondere auf die Struktur der Übergänge achten, die zunächst vom Verstandesstaat (1) zum Begriff des Staats als Selbstzweck (2) und schließlich von diesem zu der Theorie des Staatsorganismus (3) vollzogen werden, so können wir folgendes sagen: Der erste Übergang entspricht dem Übergang des Verstandes von einer zunächst quasi-mechanischen zu einer teleologischen Betrachtung des Staates; der zweite Übergang entspricht dem Übergang des Verstandes von einer bis dahin diskursiven zu einer nicht mehr bloß diskursiven Betrachtung des Staates als eines Vernunftstaates. Die Betrachtung des Staatsorganismus als einer in sich zurücklaufenden Kette von Schlüssen ist zwar ihrer Form

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nach selbstverständlich diskursiv; aber der diskursive Charakter ist hier nur noch Moment einer Denkform, die am besten als „Zusammendenken" bestimmt werden kann.^^ Sie ist ein Zusammendenken des Allgemeinen mit dem Besonderen im Einzelnen. Hegels Lehre vom Staatsorganismus mit ihrer Annahme dreier sich wechselseitig voraussetzender Vermittlungsformen bedient sich genau derselben begrifflichen Strukturen, die KANT dem intuitiven Verstand unterstellt hatte. Der Staat als eine Form der Verwirklichung des Willens ist zwar kein Anschauungsobjekt im KANTischen Sinne von nicht-intelligibler Anschauung. Aber gerade insofern er es nicht ist und gleichwohl als ein einzelnes individuelles Ganzes gedacht werden kann, konnte für Hegel die Frage entstehen, ob es nicht dem Wesen des Staates adäquat ist, die bloß teleologische und die quasi-mechanische Betrachtungsweise als endliche Betrachtungsweisen aufzugeben. Hegels Antwort auf diese Frage war eindeutig, denn in Hegels Augen war der Staat als Organismus nur insofern zu betrachten, als er ein Ganzes von Teilen ist, in welchem das Ganze und die Teile ihrer Form und Verbindung nach einander ursächlich determinieren.

D, Henrich (Anm. 2). 430 ff. Zu demselben Sachverhalt vgl. auch schon /. König: Der Begriff der Intutition. Halle/Saale 1926. 89 f. Nach Hegel sind es nicht bloß diskursive Begriffe, mit denen dieses „Zusammendenken" zu tun hat, sondern es ist „der sich-mit-sich-zusammenschließende Begriff". - Als Vorbild für die Theorie der Schlußförmigkeit des Vernunftstaats kann wiederum Kants politische Philosophie angesehen werden. Kant hat in seiner Metaphysik der Sitten (§ 45) die drei Staatsgewalten „den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluß" gleichgesetzt; „dem Obersatz, der das Gesetz jenes Willens, dem Untersatz, der das Gebot des Verfahrens nach dem Gesetz, d. i. das Prinzip der Subsumtion unter denselben, und dem Schlußsatz, der den Rechtsspruch (die Sentenz) enthält, was im vorkommenden Falle Rechtens ist." Hegel vermerkt dazu, ohne Kant direkt zu erwähnen, in § 541 Anmerkung der Enzyklopädie: „Da die nächsten Kategorien des Begriffs die der Allgemeinheit und der Einzelheit sind und deren Verhältnis das der Subsumtion der Einzelheit unter die Allgemeinheit ist, so ist es geschehen, daß im Staate gesetzgebende und ausübende Gewalt, aber so unterschieden worden sind, daß jene für sich als die schlechthin oberste existiere, die letztere sich wieder in Regierungs- oder administrative Gewalt und in richterliche Gewalt teile, nach der Anwendung der Gesetze auf allgemeine oder auf Privatangelegenheiten. Für das wesentliche Verhältnis ist die Teilung dieser Gewalten angesehen worden, im Sinne ihrer Unabhängigkeit voneinander in der Existenz, aber mit dem erwähnten Zusammenhänge der Subsumtion der Gewalten des Einzelnen unter die Gewalt des Allgemeinen. Es sind in diesen Bestimmungen die Elemente des Begriffs nicht zu verkennen, aber sie sind von dem Verstände zu einem Verhältnis der Unvernunft statt zu dem Sich-mit-sich-selbst-Zusammenschließen des lebendigen Geistes verbunden. ... - So wesentlich wie überall und allein wahr ist das vernünftige Verhältnis des Logischen gegen das äußere Verhältnis des Verstandes, der nur zum Subsumieren des Einzelnen und Besonderen unter das Allgemeine kommt. Was die Einheit des Logisch-Vernünftigen desorganisiert, desorganisiert ebenso die Wirklichkeit."

NATHAN ROTENSTREICH (JERUSALEM)

NEEDS AND I NTERDEPENDENCE On Hegels conception of economics and its aftermath

We are about to analyse a specific and limited topic within the structure of Hegel's System or within the totality that System attempts to articulate through philosophical concepts. We shall be concerned with the level of economic activity as placed within the scope of social and political activityYet it becomes clear in such an exploration that the System addresses itself to this level of human activity and attempts at incorporating it within its orbit. What is even more significant is the following feature: some of the basic systematic concepts like immediacy and nature, generality and universality are present already on the level of an „elementary" activity like the economic one. Hence we may draw the conclusion: if this is so in terms of a „low" stage of the process of manifestation of human activities then a fortiori it is bound to be so when „higher" manifestations are dealt with - like history, art, religion etc. There is no vacuum in terms of the philosophical boundaries within which the subject-matter is placed and within which it is explored. There is no sudden emergence of philosophical categories - this is the point of departure of the following analysis. It can be said, anticipating the last part of it concerned with MARX, that the very same structure applies to MARX too in spite of his critique of Hegel. We turn now to the topic of our analysis. (1) An attempt to understand the position of economic activity within the structure of the Hegelian System is bound to take into account three perspectives: a) the understanding of what we suggest calling in the context: the anthropological basis of economic activity and its various expressions; b) the position of that activity within the sphere of what goes by the heading „ethical life" (Sittlichkeit); and c) the position of ethical life as related to activities or interventions within the total System, taking into account the primacy which the System attributes to knowledge in the

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speculative sense of that term. ^ However, while these three aspects are inherent in Hegel's System and express its direction and structure, we also have to realize that Hegel, at least as far as his analysis of economic activity is concerned, absorbed some notions which had gained acceptance in theories of what went by the name of the Science of national or political economy; this aspect is fittingly described by the now current term „reception". (2) It is appropriate to mention that some of the basic concepts used by Hegel in his analysis of economic activity or its sphere are already present in his early writings. There, too, the context in which these concepts are analysed is that of the System of ethical life. We shall mention a few of those concepts and then move to a closer analysis of Hegel's philosophy of right. ^ The first concept to be looked at is that of the „need" (Bedürfnis), which Hegel introduces by pointing to the feeling of Separation, that is to say when we feel a need we are, in our position or Situation, separated from the object which we aspire to reach or which will eventually grant us the anticipated pleasure. Hence the feeling of the pleasure is presented as the sublation of the feeling of Separation. ^ This being so, the need is an absolute particularity. It is a feeling related to a given individual subject, and limiting the subject - that is to say it is a feeling related to the subject existing or living in his own boundaries. As such the feeling belongs totally to nature: the illustrations given for that feeling are eating and drinking (419). This description has probably to be understood in the following way: the subject motivated by the need is a natural subject. As such, he is driven by his physiological urges or needs exemplified by the urge to eat and drink, and these functions belong to nature. The subject is

' The basic text Grundlinien der Philosophie des Rechts, oder Naturrecht und Staatswissenschaft is referred to also in the English translation by T. M. Knox: Hegel's Philosophy of Right. Oxford 1942. The citations will be of the page of that edition and will follow the semicolon (;) appearing after the reference to the German text. 2 The few pages on Hegel in Joseph A. Schumpeter: History of Economic Analysis. Ed. from Manuscript by Elizabeth Body Schumpeter (New York 1954. 411 ff), do not help substantively in the understanding of Hegel's position. An instructive analysis is to be found in Manfred Riedel: Die Rezeption der Nationalökonomie, ln: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie. Frankfurt a. M. 1969. ^ System der Sittlichkeit, ln: Hegel: Schriften zur Politik und Rechtsphilosphie. Hrsg. v. G. Lassen. 2. Aufl. Leipzig 1923. 418. Pages mentioned in the text refer to this edition.

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not encompassed by any System endowed with principles, concepts or ideas. In this sense, since economic activity is prompted by the natural needs, it can be seen as lying on the borderline between nature and the human context. Indeed, this will be further elaborated when the notion of the bourgeois society becomes part of Hegel's analysis. Hegel even uses in this analysis the distinction between intuition (Anschauung) and concept, with the subsumption of fhe former under fhe latter. He relates labour or work to what he calls practical intuifion, and distinguishes between Work and its product, which is embodied in property. Possibly as a mediating link between the two he brings in the instrument or gadget (420). He describes labour or work as the result of negative practical intuition. Probably he had in mind here the fact that we are motivated by the drive to work because we are immediately aware of the negative Situation in which we, as subjects of needs, are lacking in cerfain producfs. We do not have to apply conceptual tools in order to plan for a far-reaching enterprise. We are immediately aware both of our need, and of what can be a possible bridge towards the satisfaction of that need, i. e. labour or work. Moreover, Hegel introduces in the analysis of work, labour and property, on this - let us call it - elementary level, the concept of the relation of the subject to the object, whereby that relation exhibits the ideal determination through the urge. That determination becomes manifest in what Hegel calls the grasping of fhe property (Besitzergreifen). Though we may reach that stage, the difference between the activity inherent in work or labour and the property it achieves still remains, and, we may add here, must at least be taken into account in our conceptual analysis (421). (3) An additional aspect that has to be brought into our discussion here is that Hegel points to the evidence of wealth and poverty, or utmost penury, and thus to the absence of equality (492). The lack of equality inherent in wealth is, in Hegel's own words, necessary in itself and for itself. The urge to enlarge wealth is described by Hegel as the necessity to absorb or transfer the particular, which is the property, to the sphere of the infinite (491). It is obvious that Hegel again applies here such laden philosophical concepts as infinity, and even necessity, that is, necessity from the point of view of the particular individual who, as the owner of the property is engaged in the striving or aspiration to increase his property to the point of infinity. Hence, the lack of equality among individuals is to be seen in its relation to what is described as natural inequality.

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which, as such, brings into prominence the aspect of aspiration of the level of the natural behaviour of individuals or, let us say, separated human beings (ibid.). Because of that aspiration, the corollary of the striving for wealth is the utmost poverty. Hence, within the sphere of economic activity, which is characterized not only by the elementary needs but also by the urge to increase wealth, no equilibrium can be found, and eventually we realize that even no justice can be encountered. The particular property or possession cannot be seen as being held according to justice since the particular property lacks - and let us add still - the form of being objective (494). In this sense we can already discern in an early writing of Hegel an anticipation of some of the basic concepts present in his philosophy of right, and the hierarchical distinction introduced there between the System of needs, the administration of justice and what is called the police and the Corporation.'* Let US mention here briefly some of the aspects which Hegel absorbed from the „classical" economic theory, since he mentions SMITH, SAY and RICARDO. 5 It is also accepted that Hegel wrote a commentary on the German edition of SIR JAMES STUART'S Enquiry into the Principles of Political Economy, apparently written in 1799. It seems that the text of that commentary was lost. We also have to note that ADAM SMITH started his economic analysis with a presumption of what he calls „all the necessaries and conveniences of life" and moved to the analysis of labour, division of labour and Utility. RICARDO, as is well known, introduced and analysed the concept of the three classes, though RICARDO'S distinction differs from the distinctions as presented by Hegel. Accepting the main view that Hegel brought into his System some of the notions present in classical economic analysis, we may ask: what is HegeTs own rendering of those notions? Hegel himself describes political economy as the Science which Starts from the view of needs and labour and then has the task of explaining mass-relationships and mass-movements in their complexity and their qualitative and quantitative character. At this point a rather significant Statement appears; „This is one of the Sciences which have arisen out of the conditions of the modern world." This Statement is significant because it implies that Hegel is fully aware that his own analysis, precisely because it absorbed what he describes as

■* Philosophie des Rechts. § 188; transl. 126. ^ Ibid. § 189; transl. 127.

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the „interesting spectacle" of the Science of economic analysis - though he endowed it with the philosophical concepts of his own System - is related to a particular historical reality, described as a „condition of the modern world".® (4) Let US look first into this sort of basic or implicit synthesis between the Hegelian description of the locus of economic activity and some of the philosophical concepts he uses. ln the first place, Hegel Starts his presentation of what would eventually lead to the analysis of the complexities of the economic sphere with what he calls the „concrete person"^. It goes without saying that the application of the term „concrete" cannot be seen as concrete in the full sense of that term often used by Hegel when he speaks, for instance, of the concrete spirit or of concrete thinking* or generally of concreteness as a synthesis of being in itself and for itself. In the analysis of economic activity Hegel uses the concept of concrete, or concreteness, as synonymous with that which is sensually given, and thus juxtaposed to that which is spiritual.^ He does not necessarily assume that the concrete person so described is implicitly a synthesis between that which is sensually given and that which is spiritual in the terminological sense of that term. The concrete person is presented as a person who is himself the object of his particular need; it is a person who in his striving for it does not go beyond himself towards that level which is usually described by Hegel as the level of universality. The concrete person is a totality of wants, and in Order to emphasise the given character of that concrete person before any elevation - let alone sublation (Aufhebung) - to the level of universality, the concrete person is described by Hegel as a mixture of caprice and physical necessity: physical necessity probably implies the aspect of naturalness, while caprice implies the particular expressions of the concrete person which do not necessarily stem from naturalness but certainly do not reach the level of universality. In a different sense, or from a different perspective, the concrete person is characterized by his selfish ends. But precisely here the aspect of going be‘ Ibid. § 189; transl. 126-127, also § 182; transl. 122. Ibid. § 182; transl. 122. * Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. (Hegel's Werke. Berlin 1832-45. Bd 9.) 431. ’ Vorlesungen über die Geschichte der Philosphie. (Hegel's Werke. Bd 13.) 36-37, 38. Philosophie des Rechts. § 182; transl. 122. Cf. to the following arguments ibid. § 182; transl. 123. - § 183; transl. 123. - § 184-5; transl. 123 f. - § 183; transl. 123.

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yond the self-enclosed position of the concrete person comes to the fore, at least in terms of the first Step taken. This is so because a distinction is implied between the selfish ends and their actual attainment. In his attempts towards the attainment of these selfish ends the particular person's interdependence with the other particular persons becomes apparent, since, for the sake of this attainment, the livelihood, happiness and legal Status of one man is interwoven with the livelihood, happiness and rights of all. It is here that individual aspirations are already involved in what Kegel calls connected Systems. This, therefore, is the first, as it were, encounter and involvement of the particular individual in what can be described as universality, which as such is the authority Standing over the particularity and its final end. Thus, in terms of the developed Hegelian System, we find that the contradiction between the primary position of the particularity by itself and the self-destruction of that particularity occurs in the process of the gratification of the desires and needs of the particular concrete person. Moreover, there can be no ultimate satisfaction of a need since the satisfaction of one need breeds new desires without end. We may allude here, in the description of the self-perpetuating character of satisfaction, to what we referred before in terms of the drive towards the increase of wealth. In any case, we already find on this level a contradiction or conflict between what was the point of departure in HegeTs analysis of economic activity, i. e. as grounded in the concrete person in the natural given sense of that term, and the removal of the concrete person to the first common sphere, which Hegel eventually describes as the civil society - We shall move to an analysis of that concept at a later stage of the present exploration. In the meantime, looking at the introduction of systematic terms or notions into the Hegelian System, let us mention that state, or System, which is the Situation and sphere of an imposed interdependence between concrete individual human persons. It is a System which is external because it comes into the horizon of the individual human being in the course of the attempts he is making to attain his selfish ends. As such it is described by Hegel as a state of understanding (Verstandes-Staat). Understanding (Verstand) in Hegel's Version is a lower grade or level of knowledge compared with that of reason proper, since understanding implies some sort of reflection which maintains the distinctions and does not elevate or sublate them. As is well known, KANT'S philosophy is characterized by Hegel as the metaphysics of understanding, which as such is not only the complete philosophy of understanding but a philosophy which -

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to be sure - is but a Version of what Hegel calls subjective dogmatism. Here we already encounter the employment of systematic concepts and terms - Verstand and hence the hint in the direction of Vernunft in the context of elementary „concreteness" of the economic activity and its analysis. (5) As said betöre, we can trace in Hegel's analysis of the economic sphere his reception of the concepts of political economic theory as formulated in the preceding decades of the modern age. However, Hegel invested them with some meanings inherent in his own System, and thus gave them a philosophical direction. It is now our task to identify the philosophical concepts, and see Hegel's attempt to turn the reception into integration. We may come to the conclusion that to some extent, at least, Hegel's analysis provides a synthesis between the political economic substratum and the systematic philosophical superstructure. The point of departure for his philosophical Interpretation of economic activity can be differently expressed if we take as guiding concepts the notions of immediacy, of nature and of particularity. And, as we shall see presently, additional concepts can be included in that list. Since both the traditional political economists, as well as Hegel, saw a kind of a continuity between man's natural position or Situation and his economic activity, economic activity can be listed with immediacy - as the term is so widely employed - in Hegel's System. Thus, for instance, Hegel says^^ that immediacy carries a self-contradictory meaning, namely that it combines the nature of both tranquillity lacking consciousness and self-conscious tranquillity, which lacks that character of the spirit. Immediacy connotes being in general, which amounts to the simple realtionship to itself. In this sense we could try to combine the two Statements by saying that, since man as a natural being has certain needs, he can be seen in terms of the tranquillity of nature, which in turn lacks consciousness in the sense that man is driven in the direction of attempting to satisfy his needs. Inasmuch as man is driven, he can be viewed from the category of immediacy

Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik (1812/1813). Hrsg, von F. Hogemann und W. Jaeschke. (Hegel: Gesammelte Werke. Bd 11.) 7. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. (Hegel's Werke. Bd 15.) 554. Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von W. Bonsiepen und R. Heede. (Hegel: Gesammelte Werke. Bd 9.) 13 f. Vorlesungen über die Philosophie der Religion. (Hegel's Werke. Bd 11.) 158-159.

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as lacking consciousness. But, as the aspect of consciousness is present, the other aspect, the lack of tranquillity, or - as Hegel puts it somewhat paradoxically - tranquillity which is not tranquil, leads to self-consciousness, since man is aspiring to satisfy his needs. On the level of economic activity we find therefore a kind of an inherent duality, or even synthesis, of two aspects, namely of immediacy as a natural component, and of consciousness, as the elevation - limited as it is - above nature. Related to this aspect of immediacy is obviously, as we have just seen, the concept of nature, because the immediate will is by the same token the natural will. Immediacy is thus related to Impulses, desires, and inclinations; this relationship can be subsumed under the general heading of will being determined in the course of nature.'® Hence, because of that inner connection between the various descriptions of the primary Situation on which Hegel's analysis of economic activity is predicated, we have already become aware of the fact that, taken further, economic activity can and will eventually lead us to face the relationship between immediacy and mediation, or - put differently - the relationship between nature and Spirit. Possibly, the most fertile aspect for our discussion of the economic sphere within the Hegelian System is the concept of the particular human being, and the various aspects of his existence and activity. It will now be our task to give it closer attention. We must observe that Hegel points to the historical circumstances in which the aspect of particularity became prominent, that is to say the circumstances of the modern era. He says that the right of the particularity of the subject to find his satisfaction, or what amounts to the same - his right of subjective freedom, is the turning point and central factor marking the distinction of the ancient period from the modern one (and this is therefore, perhaps, why Hegel uses the term „subjective particulartiy")."' We have to recall here Hegel's previously quoted characterization of political economy as a Science arising out of the conditions of the modern world. We notice now that that characterization is enlarged or enhanced by Hegel's emphasis on the aspect of particularity being characteristic of the modern era, which - put differently - understands the position of man as that of going into himself, i. e. into his own subjectivity: the comparison which Hegel brings here is the sun. The particularity is the central determination (Hauptbestimmung); the particular is 15 Ibid. 257. 1® Philosophie des Rechts. § 11; transl. 25. 17 Ibid. § 189; transl. 126.

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the independent entity, or one.Now, it is one of the aspects of Hegel's analysis of the particulartity that, within the limits of the economic sphere, the particular is involved in the relationship of interdependence with other particular human beings. Thus the self-enclosed particularity does not exist - even on the level of economic activity. Perhaps we could distinguish here between the urge to be particular and the factual Situation of involvement in the network of human interdependence. The will of the particular person is to maintain himself in the particularity and nobody can restrain him from that attempt, but - also - no person can exist as a one. It is appropriate to mention here the concept of atomism, or atomistic understanding, which Hegel introduces in his attempt to characterize the modern era. Theorists of that era tend to look at the political sphere as being atomistic, that is to say that the position or will of particular individuals is turned into the principle of statehood. According to that atomistic approach there is an abstraction of the particularity of needs and inclinations on the one hand, and of the universal or the general (das Allgemeine) on the other. The state amounts eventually to the external relationship of the contract. What characterizes Hegel's approach both to the economic sphere, and, a fortiori, to the political one, is his contention that the selfenclosed atomistic particularity cannot be maintained on the level of economic activity because of the interdependence between particular human beings. It cannot be maintained on the level of the political sphere either. We shall return to this argument at a later stage. (6) We now have to look into some additional concepts which are meant to make manifest the aspect of particularity. The concept of need, to which we referred in our opening presentation of Hegel's view, has to be seen again at this juncture. The feeling of need is the converse of the feeling of something lacking. Hence, in the concept of need, and the feeling endowed by it, we are immediately aware of something which is different from ourselves, or of something which is even a negation of ourselves. It is not fortuitous that Hegel uses here the concept of negation, or of being something other - a point which recurs in the various stages of his Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Erster Band (Hegel's Werke. Bd 11.) 391. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. (Hegel's Werke. Bd 14.) 53. Philosophie des Rechts. § 75; transl. 58. Philosophische Propädeutik. (Hegel's Werke. Bd 18.) 85.

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philosophical System. This is because Hegel attempts to describe the immediate awareness inherent in our feeling of the lack, and then undertakes a more systematic characterization of that feeling as a feeling of something different, i. e. different from what ,1' am here and now. In other words: I refer to something different from myself; I am aware of the negation of myself. Thus the distance between myself as I am, in my Position here and now, and what I aspire to reach calls for some philosophical concepts like those mentioned in order to characterize even such a given or naive Situation as that of need in general or needs in that specific nature. The other aspect of need, or its parallel, is property, or possession. In one of his Statements on possession, Hegel characterizes it as the subsumption of a thing under my own will.^ We notice that he uses the logical term „subsumption", and characterizes property as a relationship between our own will and the thing which is in our possession. Here again we find that the characteristic technique of Hegel's analysis of situations, which have, to say the least, an economic connotation, is his application of philosophical or logical terms on the one hand and his emphasis on the positive realtionship pertaining between a thing and the will on the other. This feature becomes prominent again in Hegel's characterization of what he calls possession (Eigentum). Possession is characterized as „property ownership".^ It is an expression of abstract freedom in general but eo ipso it is also the freedom of a single person related only to himself. That characterization of possession brings us to the aspect of freedom present in it. Obviously it is not freedom fully realised, for this can only be present on the level of philosophical reflection. But, by the same token, freedom in the abstract sense is the freedom of a single person related only to himself. This reasoning is characteristic of the trend of HegeTs System, namely to identify the abstract with the particular, or the immediate. The identification in the present context is in terms of the notion of freedom. The freedom of the abstract will is identical with the freedom of a single person related only to himself. To put it negatively, it is a Situation in which the universal aspect, which implies the identification of the particular with the general, is lacking, precisely because the reference is to an immediate Situation only. An additional characteriza“ Ibid. 36. Philosophie des Rechts. § 40; transl. 38; the following text refers to § 42; transl. 42. - § 45; transl. 42. - § 50; transl. 45. - § 71; transl. 57.

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tion of property is that one's property remains external. We may Interpret this Statement by saying that the subsumption, and even the sovereignty, of the individual are not identical with the synthesis between the individual and the position of the property within the confines of his mind. The thing thaf is the possession is contrasted with the person as such. Hence, in terms of the notion of possession, Hegel uses the expression ab extra. To have power over a thing ab extra constitutes possession. „The particular aspect of the matter, the fact that I make something my own as a result of my natural need, Impulse, and caprice, is the particular interest satisfied by possession." At this point Hegel adds a significant clause, again in conformity with the trend of his System, namely that, from the standpoint of freedom, the external aspect of property is the first embodiment of freedom and is, in itself, what he describes as an essential end (wesentlicher Zweck). Obviously we have to emphasize „first" in order to place the realm at stäke within the total structure as well as in order to realize the continuity from the first stage to the ultimate one. Let US look at this Statement from a broader vantage point. We might say that within the sphere of property freedom is not fully realised, precisely because of the externality of the relationship between the owner and his property. Yet the very fact that the owner goes beyond his own self-enclosed boundaries and brings into the confines of his position or existence something external to himself, is the first indication of the movement towards universality. Thus it is the first step towards the synthesis between particularity and universality. According to the rhythm of HegeTs System no ultimate synthesis can be achieved unless there are antithetic acts (as, for instance, the act towards the external), which by the same token enlarges the scope of the particular human being in the direction of universality in the full sense of that term, as Hegel understood it. At this juncture we have to mention an additional aspect of the HegeT ian System which perhaps we can best describe in present-day parlance as inter-subjective. This is seen in HegeTs Statement that the embodiment of my Willing attained in my property involves its recognisability by others. Hence the condition of occupancy has a bearing on the anticipated relation to others. That will, indeed, is an anticipation of the notion of contracf on the level of economic activity. Apparently fhe pre-supposition of a contract is predicated on the very presence, and awareness of the presence, of the position and activity of other human beings: „One aspect of property is that it is an existent as an external thing, and in this respect

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property exists for other external things and is connected with their necessity and contingency. But it is also an existent as an embodiment of the will, and from this point of view the , other' for which it exists can only be the will of another person. This relation of will to will is the true and proper ground in which freedom is existent." Thus in the relationship between the particular human being and his property, we find two directions, namely the direction towards the thing and direction towards another person. The thing is the substantive, or let's call it the material, aspect of the property, while the relation to any other human being implied, for instance, in the recognition of the property as belonging to that particular human being and not to the other, implies a network of interpersonal relations. In this sense freedom on the level of property is realised vis-ä-vis the thing in possession on the one hand and other human beings and their mutual recognition on the other. In a sense we can say that recognition amounts here to the acknowledgment of the personal sphere embodied or made manifest in the possession of the property. Hence it is said^^ that in his relation to the property or the possession the person is enclosed (zusammengeschlossen) within himself. The origin of the property in this sense is the personality, and that Status amounts to the freedom of the particular individual. There exists an inner relationship between a possessor and being a person, though the property as such in the material or substantial sense is totally exposed to the accident.^^ This is so because we cannot point to a continuity from the very Position of the individual to the possession subsumed under him. But at the same time we can emphasise that the aspect of possesssion in a sense enhances the position of the particular individual and his freedom. Again, as long as there is present the aspect of accidentality pertinent to the economic sphere, and the component of freedom realised or embodied in it, freedom in terms of property cannot be viewed as an ultimate realisation of freedom as such. Here we find again that economic activity can be seen as a step towards freedom but not as its full realisation. A Step is essential but is not and cannot be the essence. (7) It is appropriate to mention in the context HegeTs characterization of

Enzyklopädie. § 490. Vorlesungen über die Philosophie der Religion. (Hegel's Werke. Bd 12.) 86. The context of this Statement is the characterization of the possession of the land - in the religious sense related to the Covenant.

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money. Within the scope of exchange, we may find exchange of one thing for another of the same kind: this is called purchase or sale. The latter is an exchange too, but an exchange of a specific thing for one which is characterized as universal, or one which counts as value alone and lacks the specific character of utility. Exchange is connected with money: it is an exchange for money. In this sense exchange in general can be seen as one of the manifestations of the interdependence of human beings. But an additional component comes into the context - that of money - and money is a commodity Ware) which assures the general means (Mittel) in order to achieve the satisfaction of a particular need by taking advantage of it. Money is valid by Convention only, since as a general commodity it cannot be used.^^ We may say that through the factor of money we find within the economic sphere itself a sort of a general component. This cannot be seen as confined to the things which are involved in the process of exchange and are thus of a particular character according to the particular need of given individual. Indeed, Hegel characterizes money not as one particular type of wealth among others but as a universal form of all types of wealth, so far as they are expressed as an external embodiment and so can be taken as „things". In terms of the Position of money we encounter a conjunction between the basic characterization of property as a thing and the elevation of the thing to the level of something which is exchangeable but is not materially a thing. This distinction leads Hegel to the Statement that money represents any and every thing; in this sense it is an abstraction, since it merely expresses the value of things. Concretely speaking, it is possible in principle to be the owner of a thing without at the same time being the owner of its value. Thus, we already encounter a distinction within the sphere of economic activity between property in terms of the thing and property in terms of its worth or value. That distinction in turn is an indication of the fact that, through the abstractness of money, the conceptual component, if we use that term, comes into the context of economics and economic activity. Since that conceptual component is involved, it can be seen as being a general component eventually leading to universality in the sense of a System of understanding (Verstand). Hegel's own presentation does not emphasize the similarity between freedom, which implies generality and

Philosophische Propädeutik. (Hegel's Werke. Bd Philosophie des Rechts. § 56 Zus.; transl. 118.

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universality, and money, which in a limited way implies the same components. Yet we are probably entitled to say that Hegel's analysis of the economic sphere leads eventually to the identification of aspects which go beyond the particular individual, though the generation of economic activity is inherent in the particularity of the individual even when reciprocity in terms of recognition becomes apparent in that sphere. There are additional concepts Hegel's economic analysis, and we shall look into them now and these too have a systematic significance. (8) Let US reiterate that the analysis of the economic sphere does not isolate that sphere. Hegel brings into his analysis of economic sphere and the activities characteristic of it some of the systematic concepts inherent in his philosophy. The very distinction between that which is given, namely the need, and that which is meant to overcome and to sublate it, is already invested with philosophical overtones, since the need amounts to the feeling of Separation while the overcoming and sublation of it amount to pleasure.^* The position of work or labour can be seen in this context because work connotes the specific activity meant to bridge the Separation which we point to. Work is the specific mode of activity for the sake of the satisfaction of the need aspired to by its very presence. Work is a general activity, which takes a particular form in terms of the particular individual who is engaged in it. Being particular splits, as it were, the general activity into something related to that individual's position, his needs and the goal of satisfying them. Hence work is characterized as a universal and an objective element. As such it can be a process abstracted from the particularity of individuals and their needs. But by the same token it conveys the subdivision of needs and means of their satisfaction. In this sense, there is a subdivision of production inherent in work which, in concrete terms, brings about the division of labour.^® The abstraction characteristic of the division of labour can be seen as the particularisation of the content - as Hegel puts it in the Encyclopaedia. ^ To be sure, we have to observe that at one point Hegel somehow mitigates the instrumental aspect of work, referring to activities in which the subject finds his satisfaction.^* Yet this position of work as a goal in itself is per-

System der Sittlichkeit. 418. Philosophie des Rechts. § 198; transl. 129. Enzyklopädie. § 525. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. (Hegel's Werke. Bd 9.) 28 f.

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haps more of a random observation, while by and large, and certainly in Hegel's economic interpretation, work has to be seen as a medium - as HABERMAS rightly interpreted it, referring to Hegel's early writings.^^ In addition we note a correlation between Hegel's division of labour and bis division of society - or what Hegel calls civil society - into estates (Stände). These are groups or conglomerates of human individuals engaged in a certain line of activity qua work, which in turn brings about a division of the social sphere.^^ Hegel is aware of the fact that the division of society into estates is present in PLATO'S conception of the state as well as in the feudal society of the Middle Ages. In Hegel's own view, the division of society lies in the particular character of human activities which in turn can be subsumed under some general headings. Insofar as we refer to the System of needs, we refer to civil society as a whole and thus to what goes by the name of bourgeois (Bürger), which connotes both bourgeois as well as Citizen. Civil society, because it contains among other components the component of property, Stands in need of the protection of this component. This Situation in turn leads to the need for justice - and the exercise of that activity entails an estate of the society concerned with the administration of justice. Eventually, a third estate, related to the care of particular Interests as a common interest, refers to police and the Corporation. ^ But this is not the only division which we find within the structure of the bourgeois society. Another division is brought into the context, again having clear philosophical connotations. Hegel characterizes the first dass or estate in this society as the substantial or immediate dass; the reference in terms of the social structure is to agriculture, or to those who are engaged in agricultural work. Obviously, those so engaged are characterized as the substantial or immediate dass because their activity refers directly to the given need of human beings as beings who in the first place lack the food provided by agriculture and therefore have to be engaged in an activity aiming to satisfy their immediate need. The second dass is characterized as the reflecting or formal dass; it is the dass of those engaged in business, that is to say those who are involved in the structure of the process of exchange, which is - as we

Consult Arbeit und Interaktion. - Bemerkungen zu Hegels Jenenser Philosophie des Geistes. ln: Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als Ideologie. Frankfurt a. M. 1970. 9 ff. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. (Hegel's Werke. Bd 9.) 179. ^ Philosophie des Rechts. § 188; transl. 126. The following text refers to § 202; transl. 131 and § 204; transl. 131-132.

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have seen before - one of the caracteristic features of the economic sphere or of the civil society. The third dass is characterized as the universal dass, which is the dass of civil servants. They are named „universal" in the sense that they are meant to overview the universal Interests of the Community and hence are to be relieved from direct labour to supply the community's needs. To be sure, the employment of the concept of the „universal" has to be taken in the limited sense: it does not refer to the universal understood fully and systematically, namely as referring to the totality; universality refers here to the sphere of economic activity in general, and unlike the notion of universality in the case of universal judgment, it cannot refer to the subject and the predicate in the structure of the judgment or proposition. It is in a sense „universality" within the boundaries of the civil society. (9) Correlated with these various components of the economic sphere is the consequence - an ethical or political - that equality cannot be inherent in that sphere. This is so because of the particularity of human individuals and their needs on the one hand and the division of labour as well as the stratification of the estates, on the other. To be sure equality is to be taken as an external identity or as the abstract identity brought in by understanding (Verstand), and, we can add, not by reason (Vernunft). The outcome of this Statement is that in terms of the law, which is obviously the axis of the state and not of the civil society, the citizens are equal only insofar as they are equal otherwise, beyond the position of the law. To Interpret this rather significant Statement both in regard to its substance as well as its bearing - as, for instance its bearing on the thinking of MARX - it is appropriate to say that the state cannot eradicate the structure of the economic sphere: it is, we may say, a storey above the economic sphere. Since the latter contains the various modes of divisions, they cannot be overcome or sublated within the sphere of the state or constitutional law. This characterization of the state makes manifest the structure of the Hegelian System as such, namely that the System is based on a hierarchy of spheres and not on the total sublation of one sphere by another. An additional aspect which has to be seen in its full significance in the context of the economic sphere is that of the social contract. We can say in a nutshell that Hegel does not relate the social contract to the sphere of

Enzyklopädie. §539.

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the state proper but to the economic sphere. This is so since the social contract is grounded in the will and readiness to achieve protection for the property which relates to the owner's will. The economic sphere is a manifestation of a particular mode of human needs and human behaviour. ln this sense it cannot be viewed as establishing a universal sphere, which is characteristic, at least within its own limits, of the state. Hence the state is not based on a contract, nor is its fundamental nature the unconditional protection and guarantee of the life and property of members of public as individuals. ^ To put it differently, in terms of the social contract, we have to see the contracting parties in relation to each other as given, immediate, i. e. as self-subsistent persons. This, as we have seen, is a characteristic quality of the economic sphere. It cannot be taken as being characteristic of the state, which, as such, is not a sphere of immediate self-subsistent persons but a sphere of universality characterized by and embodied in the law. To put it differently, the identical will characteristic of the economic sphere is only posited by the parties. It does not contain a universality of its own.

Hence the intrusion of the contractual relationship into the relationship between the individual and the state has brought about the greatest confusion in both constitutional law and public life. This is so since the characteristics of private property have been transferred from the economic sphere into what Hegel describes as one of a quite different and higher nature, that is to say the nature and position of the state. The Constitution of the state is characterized as a substantial universal Order, while civil society is characterized as an association of members as self-subsistent individuals. Their association is brought about by their needs; the legal System Controlling them is an external Organisation for attaining their particular and common Interests, ln the economic sphere - and in the contract established by the individuals involved in it - there is no acknowledgment of universality. ln this sense Hegel says that the unity characteristic of the economic sphere, or of the civil society, is present not as the result of freedom but as of necessity. This is so, since it is only by compulsion (grounded in needs) that the particular rises to the form of universality and seeks and gains its stability in that form, ln a sense - and we shall elaborate this point presently - Hegel introduces that Statement by saying that in the economic or civil sphere the will is but implicitly free insofar as ^ Philosophie des Rechts. § 100; transl. 71. Cf. § 75; transl. 58-59. - § 157; transl. 110. - § 184; transl. 124. - §258; transl. 276. - §258 Zus.; transl. 276.

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it is the immediate will. The form of the will is different from the content - the will is still finite in character - while the will as manifested and embodied in the state is, to say the least, of a higher order in terms of its affinity with the universal sphere. It goes without saying that the renowned Statement of Hegel, that the march of God in the world is that what the state is, or that the basis of the state is the power of reason actualizing itself as will, is the consummate characterization of the nature and Position of the state. Obviously, that characterization cannot be applied to the Position of the economic sphere, which cannot be viewed as reason actualizing itself as will in a general or material sense but particular wills establishing as it were a prudential contractual Situation. (10) Since we have already noticed some ambiguity relating to the Position of freedom in the economic sphere we must now recapitulate it. In the first place, it is obvious that, for the economic sphere, the point of departure lies in the nature of needs. As such, needs seem to be the opposite pole to freedom, insofar as freedom is understood as the characteristic feature of rationality and cannot be seen as a characteristic feature of nature as given. Further, when considering freedom the starting point must not be individuality - that is to say the single self-consciousness but only the essence of self-consciousness which goes beyond the scope of individuality. That position of freedom as related to, or grounded in, the essence of self-consciousness cannot be found on the level of the economic sphere, because that sphere is characterized by the presence and activities of particular human beings. Pure will cannot be concerned with ny aspect of particularity. Yet, viewed not from the self-enclosed boundaries of the economic sphere but from the core of the whole System, we can see that necessity does not disappear from the ultimate realisation and interpretation of the concept of freedom: freedom is - and this is one of its characteristics - the truth of necessity and hence is the mode of relation of the concept. However, in as much as economic activity refers to our will to achieve something particular, it cannot be seen as a pure Kant distinguished between the social contract based on prudence and on reason. That distinction can serve post factum as an anchor for HegeTs distinction between the social contract confined to the economic sphere and the position of the state, though that position is, according to Kant, based on a social contract just the same. Philosophische Propädeutik. (Hegels Werke. Bd 18.) 27. Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816). Hrsg. v. F. Hogemann und W. Jaeschke. (Hegel: Gesammelte Werke. Bd 12.) 12.

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realisation of freedom, since freedom amounts to a Situation in which, by clinging to something particular, we remain ourselves. Economic activity as such cannot be an adequate realisation of freedom since in pursuit of economic activity we go outside ourselves, that is to say, to the product of our activity, in order to satisfy our needs. What is lacking from the standpoint of freedom within the economic sphere is the sublation to the level of universality, precisely because the point of departure, as well as of return, of economic activity is particularity. The economic sphere implies a dependence upon something different from ourselves and not an overcoming of that difference^°, whereas that overcoming is the essential of freedom as one's relation to oneself. The state is therefore a higher manifestation and realisation of freedom, because it contains the element of rationality and not the element of what we have described earlier as prudence, exercised in terms of exchangeability of goods and division of labour. Since the history of the world is but the development of the concept of freedom it follows that the sphere of economic activity has to be seen as a stage in that development, which reaches its peak in philosophical self-reflection. To be sure, even the position of the state cannot be seen as an adequate manifestation of freedom, since the state is only freedom as exercised in reality and not within the sphere of thinking: the principle of freedom is not only in thinking but is the root of thinking. To be sure, freedom and necessity are opposite poles only from an abstract point of view, or from the point of view of finite existence. It goes without saying that even the position of the state as a manifestation of God is to be seen within the boundaries of finite reality. Thus it cannot be viewed as a full realisation of freedom or a full synthesis of freedom and necessity. That realisation which overcomes any dichotomy of the intelligible and sensuous elements can be placed only on the level of thinking or on the level of philosophy proper, that is to say of reflection referring to itself and not of the concept finding its manifestation in a finite mode of existence, including the existence of the state. This leads of course to what can be called the primacy, that is to say the totality, of the Spirit as against any partial mode of its expression or representation. Again, to reiterate the point, the structure of the Hegelian system does

Enzyklopädie. § 382. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. (Hegel's Werke. Bd 9.) 546. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. (Hegel's Werke. Bd 15.) 533. Enzyklopädie. § 35.

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not deny the involvement of the economic sphere within the process of the manifestation of freedom grounded in spirit. But by the same token it prevents the possibility of viewing the sphere of economic activity as enabling the full realization of the spirit within the confines of economic activity, even if that activity is taken as a Step towards freedom. This, then, is one of the points of departure of the critique of MARX in reference to Hegel's System and the analysis of economic activity in that system. Some aspects of that critique will be explored presently. ^ (11) When we move now to an exploration of some of the aspects of MARX'S reaction to Hegel's presentation of the position of economic activity within the scope of human existence, we may Start with a comment which Hegel makes in a review-article of a book related to problems of religious philosophy. He refers there to the meaning of the concept of „having". Hegel says that having (das Haben) is a state of being which itself is not that what it does have.^^ This comment implies that the position of having is not identical with the position of being. Applying this distinction to economic activity and its axis in terms of possession of property, we may venture to enlarge the distinction by suggesting that economic activity, natural and unavoidable as it is, does not express the virtual essence of man. There are various reasons for this and possibly they eventually amount to Hegel's view that the practical sphere, including its economic component, has to be sublated in reflection; it cannot be seen as belonging to man's essence in the total sense of that term, though it is a Stage in the process of sublation. At this point, a Suggestion can be expressed that MARX^, though he describes economic activity in a way which, at least partially, is dose to Hegel's description, attributes to that activity a more seminal role than that Hegel attributed to it. We may even find a terminological nuance, namely that MARX places the emphasis on production, saying, for instan** From the relevant literature 1 mention: Franz Rosenzweig: Hege! und der Staat. Bd 2. München, Berlin 1920. 119 ff; Hugh A. Reyburn: The Ethical Theory of Hegel. A study of the Philosophy of Right. Oxford 1921; Karl Löwith: Von Hegel bis Nietzsche. Zürich, New York 1941. 323 ff, 360 ff; Hans Freyer: Die Bewertung der Wirtschaft im philosophischen Denken des 19. Jahrhunderts. Hildesheim 1966. 54 ff; Shlomo Avineri: Hegel's Theory of the Modern State. Cambridge 1972. 132 ff. Lieber Aphorismen über Nichtwissen und absolutes Wissen im Verhältnis zur christlichen Glaubenserkenntnis: von Karl Friedrich Göschei. ln: Vermischte Schriften. (Hegel's Werke. Bd 17.)

132. ^ Those of Marx's books relevant to the present analysis are quoted in their English translation.

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ce, that men themselves begin to distinguish themselves from animals as soon as they begin to produce their means of subsistence. MARX adds at this point that Step is conditioned by the physical Organisation of man.'*^ The grounding of economic activity qua production in the physical Organisation of man's nature, or position, and not only in his needs, tends to attribute to economic activity more of an ontological character than only an instrumental one, though the instrumental component is not abolished. Hence we find that MARX has taken a Step from economic activity qua production to history when he says, for instance, that the first historical act is the production of the means to satisfy human needs. MARX enlarges on that Statement by referring to the production of material life itself. We can therefore say that the very introduction of the sphere of history into the context of economic analysis, or description of its position divests the economic sphere of its mere instrumental character. Economic activity is thus placed in a broader sphere, which, according to MARX, is the human sphere in the larger sense of the term, and, in his own words, history is presented independently of any political or religious nonsense which in addition may hold men together. This Statement, even if we disregard the sardonic expression „nonsense", leads us to the consequence that the Hegelian hierarchical structure of the economic sphere and the political sphere or statehood cannot be taken as a model for the analysis of MARX.

Germane to MARX'S position is the view that the economic sphere has to be seen as the human sphere par excellence. Hence we find intimations that the activity of human individuals is to be broadened into a worldhistorical activity. Pari passu, the possibility arises to point to the alienation or even enslavement of human activity to a superior power, which in the final analysis turns out to be the world market. Tu put it differently, we can say that the atomist or segmented nature of human activity qua economic activity is overcome, but not in Order to show that economic activity ceases to be part of the human condition. On the contrary, since we are pointing to economic activity as primarily a historical activity, the possibility is open to enlarge the scope of that activity and present it in terms of historical dialectics, leading to the subjugation of the human condition to the broad historical reality of the world market. This enabled MARX to state that the economists have explained to us how production is German Ideology. Part One, with selections from Part Two and Three. Ed. and with an introduction by C. J. Arthur. New York 1978. 42; to the following arguments cf. 48, 50, 55.

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carried on in relation to the given. The economists do not explain how these relations are produced, that is to say, they do not explain the historical movement which has created them.'*® History not only Starts with economic activity qua production, but it underlies that activity. This aspect helps to emphasise the broad sphere of history and its impact on the human condition - even beyond the economic activity in the limited sense of that term. (12) This historicisation, if we may use that term, applied by MARX has an additional expression in terms of the division of labour - again an aspect pointed out by Hegel in the context of his analysis. MARX observes that labour is organised and divided variously according to the instruments which it manipulates. Thus, for instance, the windmill supposes a division of labour quite different from that of the steam mill. The conclusion drawn by MARX is that we cannot deal with the division of labour in the abstract sense of the term. We have to see it as historically conditioned and shaped accordingly. „To begin by the division of labour in general in Order to arrive at the specific instrument of production, machinery, is therefore to fly in the face of history.Since MARX does not accept the a-historical approach to the various aspects or components of the economic sphere, he takes a Step further by stating that Hegel's standpoint is that of the modern political economists. But the consequence which MARX draws from that Statement is far-reaching because he says that Hegel grasped labour as the essence of man. Yet he adds immediately that Hegel sees only the positive and not the negative aspect of labour, which, according to MARX - and there is no need to elaborate on this - amounts to alienation. The hierarchical structure characteristic of Hegel's System is criticised by MARX precisely at the point of relevance for the position of the economic sphere, namely that in Hegel the economic sphere remains as it is and the sphere of the state is placed above that sphere. Hence human beings live simultaneously in the sphere of economic activity, which relates to their particularity, and in the sphere of statehood, which makes The Poverty of Philosophy. A translation of La Misere de la Philosophie (a reply to La Philosophie de la Misere of M. Proudhon). Transl. by H. Queich and C. H. Kerr. Chicago 1916. 56. « Ibid. 145. Economic and Philosophical Manuscripts of 1844. Ed. with an introduction by D. J. Struik, transl. by Milligan. New York 1977. 177.

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human beings subordinate to the law, the law being of a general, if not a universal, character. At this juncture MARX introduces the distinction between political emancipation and human emancipation, whereby the political, which is coterminous with „civil", refers to rights in the limited legal sense of that term, while the „human" points to a total emancipation: „The limits of political emancipation appear at once in the fact that the state can liberate itself from a constraint without man himself being really liberated; that a state may be a free state without man himself being afree man.''^^ In this sense a political state has to be seen as being opposed to man's material life. Hegel did not claim, as we have seen, that the state in the Position he allotted to it amounts to complete freedom. This can be achieved only on the level of reflection or philosophy, which in turn, is the level where necessity and freedom coincide. Yet Hegel saw statehood compared with the economic activity as a higher manifestation of spirit, and thus by the same token as a higher manifestation of freedom. MARX attempts to show that this is only a myopic Interpretation of the pseudohigher Position of the state, since human enslavement or alienation remain in the sphere of the state just the same. Hence it is necessary to change the whole perspective, and move from the postulate of a hierarchical structure of human existence to that of a vertical structure, which in turn amounts to history as a comprehensive sphere of human existence. Freedom has to be achieved or realised in that sphere. Indeed this is what MARX says in his direct criticism of Hegel's position: „The abolition (Aufhebung) of the bureaucracy can consist only in the universal Interests becoming really - and not, as with Hegel, becoming purely in thought, in abstraction - a peculiar interest; and this is possible only through the particular interests really becoming universal.Civil society, as MARX puts it, does not have the universal as the end of its essential activity. We can add at this point that both civil society and the state are separated; the state too - and not only the sphere of economic activity - does not have the universal as its end. This is so since, concretely speaking, the possession of land is understood as being a sovereign private property, that is to say, it has not yet acquired the form of wealth, i. e. of property established by the social will. It follows that the political Constitution is the Essential Writings. Ed. by. F. L. Bender. New York, Evanston, San Francisco, London 1972. 57; cf. ibid. 58. Critique of Hegel’s Philosophy of Right. Transl. from the German by Annette Jolin and Joseph O'Malley. Ed. with an Introduction and Notes by J. O'Malley. Cambridge 1970. 48.

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Constitution of private property and cannot be viewed as grounded in the general or universal law as Hegel saw it. ^3 At this point we notice that MARX employs the approach of historical discernment in order - if we may use that term - to unmask those aspects of the concrete human existence which Hegel took as moving that existence beyond the primary position in which it was placed in terms of economic activity. Thus MARX tries to Show that economic activity prevails even when by way of a pronunciamento there is supposed to exist and operate a sphere above that activity. Hence history is not only the comprehensive sphere in terms of the realisation of the human essence but it is also the sphere in which we attribute the day-to-day manifestations of human activities to the species of man. (13) This aspect can be amplified when the historical differences between specific countries and societies are referred to. The MARxian critique of German society is one of the major manifestations of that approach. MARX says: „while in France and England the problem reads: political economy or the mastery of society over wealth; in German it reads: national economy or the mastery of private property over nationality ... There is a question of where is the solution, here only a question of the collision. This is an adequate example of the form of modern problems, an example of how our history, like a raw recruit, has until now only done extra drill on all historical matters."^ This is rather a sharp expression of the historical approach which cannot, according to MARX, be erased or abolished at any stage of the analysis. Thus, to come to that point again, the Hegelian hierarchy is meaningless because of the presence of the historical dimension even on the level which is supposedly above a determination by natural forces.^^ Nevertheless, in spite of these basic differences, both Hegel's System and that of MARX share a common feature. In both Systems we find the search for a total realisation of freedom and thus for a total synthesis be-

« Ibid. 99. ^ Ibid. 135. 33 It goes without saying that there is a vast literature on the subject. Reference is made to Shlomo Avineri: The Social and Political Thought of Karl Marx. Cambridge 1968. In addition to its analysis the book contains an instructive bibliography (259 ff). Dieter Henrich: Hegel im Kontext. Frankfurt a. M. 1971, contains a chapter on Marx as a disciple of Hegel („Karl Marx als Schüler Hegels") 187 ff. The present author: Basic Problems on Marx's Philosoph}/. Indianapolis, New York 1965, deals with some of Marx's positions in the context of his criticism of Feuerbach.

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tween freedom and necessity. In spite of the difference, namely, that in the Hegelian System that realisation is to take place on the level of philosophical reflection, while in the MARxian approach it has to take place on the level of history, the basic structure - which we can identify as the presence of SPINOZA'S approach both in Hegelian and in MARxian thought - is maintained in the two Systems. Tu put it conversely: the two positions do not see freedom as grounded in the distance between man and the circumstances of his existence or reality: they look for the affinity between freedom and the surrounding reality - be it cosmic in HegeTs sense or historical in MARX'S sense. In both Systems freedom cannot be attributed to individuals but only to the totality - be that totality the cosmos or history. Obviously this point goes beyond analysis of the two conceptions and calls for a systematic exploration of the concept of freedom and its correlate, i. e. necessity. This observation reinforces the point of departure of the present exploration, namely the relation pertaining between a specific subject-matter and the structure of the System at stäke.

ANNEMARIE G E T H M A N N - SI E F E R T (BOCHUM)

HEGELS THESE VOM ENDE DER KUNST UND DER „KLASSIZISMUS" DER ÄSTHETIK

Der häufig versuchten „Aktualisierung" der Hegelschen Ästhetik steht vor allem deren Grundthese vom Ende, genauer vom Vergangenheitscharakter der Kunst entgegen. Man kann diese Prämisse der Ästhetik weder wegleugnen noch relativieren, denn Hegel bringt in ihr die Einbettung der Kunst und der Philosophie der Kunst in sein philosophisches System knapp, aber prägnant und - zumindest für ihn selbst - wohlbegründet zum Ausdruck. Angesichts des Nachdrucks, mit dem Hegel - nach dem Zeugnis sämtlicher bekannter Nachschriften zu seinen Vorlesungen - diese These vorgebracht hat, läßt sich die derzeitige Hoffnung nicht bestätigen, die man in die Neubearbeitung der Berliner Vorlesungen zur Ästhetik setzt und die D. HENRICH in einem vielbeachteten Essay vor einiger Zeit formuliert hat. Hegel soll demnach durch die Erweiterung seiner Kenntnisse und durch die eingehende Behandlung der verschiedensten Kunstwerke aller geschichtlichen Epochen seine starre Systematik zugunsten der Anerkennung des geschichtlichen Phänomens Kunst auflösen. ^ Zwar modifiziert Hegel in den Berliner Vorlesungen zur Ästhetik im Lauf der verschiedenen Jahre manche Einzelheit, er ändert zuletzt sogar die Gliederung grundlegend, aber es läßt sich keine Tendenz gegen die Integration der Behandlung der Kunst in das philosophische System an diesen Modifikationen ablesen. Hegel trägt im Gegenteil die präzisierte und verschärfte Fassung

' Vgl. dazu D. Henrich: Zur Aktualität von Hegels Ästhetik. Überlegungen am Schluß des Kolloquiums über Hegels Kunstphilosophie. In: Stuttgarter Hegel-Tage 1970. Hrsg, von H.-G. Gadamer. Bonn 1974. (Hegel-Studien. Beiheft 11.) 295-301; dazu M. Donougho: Remarks on „Humanus heißt der Heilige...". In: Hegel-Studien. 17 (1982), 214-225. - Explizit formuliert Knox die These, daß der „phänomenale" Hegel den Systematiker in der Ästhetik lügen strafe; vgl. T. M. Knox: The Puzzle of Hegels Äesthetics. In: Ärt and Logic in Hegels Philosophy. Ed. by W. E, Steinkraus and K. L. Schmitz. New Jersey 1980, 1-10. Dazu Ä. Gethmann-Siefert: Eine Diskussion ohne Ende: Zu Hegels These vom Ende der Kunst. In: Hegel-Studien. 16 (1981), 235 f.

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seines Systems der Philosophie, die er mit der Enzyklopädie von 1827 erreicht hat, in der letzten Vorlesung vor. Beide bekannten Nachschriften spiegeln deutlich in der Einleitung die Änderung der entsprechenden Enzyklopädie-Paragraphen.^ Auch in der letzten Vorlesung geht Hegel explizit darauf ein, daß die verschiedenen kulturstiftenden Momente: Kunst, Religion, Sitte bzw. Sittlichkeit - jeweils gefaßt als „Volksgeist" (§ 559) unterschiedene, sich nur teilweise über schneidende Geschichten haben. Die Religion liegt zum Teil im Rücken der schönen Kunst als ihre Vergangenheit, sie liegt aber auch in der Zukunft der Kunst. Mit den Worten der Ästhetik: In der symbolischen Kunstform hat der religiöse Inhalt seine adäquate Gestalt noch nicht gefunden, wirft sich in der Mannigfaltigkeit der Naturgestalten herum; in der romantischen Kunstform ist der religiöse Inhalt über die Kunstgestalt hinaus zu einem subjektiven, nicht bloß substantiellen Vollzug der Wahrheit fortgeschritten. Die schöne Gestalt des griechischen Gottes verliert ihre Eindeutigkeit und damit ihren Vorzug in der Vermittlung des Göttlichen als des Absoluten. In der letzten Vorlesung formuliert Hegel einen weiteren Gesichtspunkt dieser Überlegungen aus, der seine späte Konzeption mit den frühesten Überlegungen zur schönen Religion und zum Vorbildcharakter der griechischen Polis zusammenknüpft. Er weist darauf hin, daß nicht nur die geoffenbarte Religion, sondern auch der moderne Staat in der Zukunft der Kunst liegt. Hier wie dort hat die Kunst nicht mehr die Funktion, die ihr das „älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus" zuerkannte, nämlich durch das „ästhetisch"- und „mythologisch"-Machen der Idee eine Religion des freien aufgeklärten Menschen zu stiften. Vermittels dieser Religion sollte dann die „Gesellschaft" (im Sinne FICHTES) konstituiert werden, eine institutioneile Form des Zusammenlebens, deren prinzipielle Funktion Hegel in der Charakteristik der griechischen Polis erarbeitet hatte. Aus der Perspektive der geschichtlichen Entwicklung der Religion formuliert, löst sich die Kunst vom Göttlichen als ihrem Inhalt. Sie greift zu beliebigen Inhalten, die alle gleichermaßen unzureichend sind, das Absolute zu fassen, und sich aus dem Bewußtsein dieses ünvermögens konsequent verendlichen. Die Kunst „wirft" sich in der „Prosa des gemeinen Lebens" herum und verzichtet schließlich auf ihren religiösen Inhalt. Derselbe Prozeß zeigt sich, aus der Perspektive der Geschichte der Sittlichkeit ^ Vgl. A. Gethmann-Siefert: Die Ästhetik in Hegels System der Philosophie. In: Hegel. Hrsg. v. O. Pöggeler. Freiburg, München 1977. 127-149.

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formuliert, als Auflösung der Identität von Religiosität und Sittlichkeit in der schönen Religion der Griechen und als Aufhebung des Vorbildcharakters der griechischen Polis für die Revolution des modernen Staates. Genügte in der griechischen Polis die „ästhetische Erziehung" vermittels der schönen Göttergestalt, um den Menschen zum Bürger seines (Stadt-) Staates zu machen und ihn zugleich zum freien Menschen zu erheben, so kommt der Kunst in der Moderne eine „bloß formelle Bildung" des Staatsbürgers zu.^ Auch hier verzichtet die Kunst auf die Verbindlichkeit ihres Inhaltes zugunsten der Mannigfaltigkeit möglicher Wahrheiten und Orientierungen, und auch dies liegt in der Konsequenz der Wendung zum „Humanus". Von Hegels Wendung zum Humanus als dem neuen Heiligen der Kunst erhofft man sich die Möglichkeit, die Ästhetik so interpretieren zu können, daß sich die Rigidität der Systemvorstellung von selbst zugunsten der Anerkennung der Geschichte auflöst. Allerdings liegt die Bedingung, unter der diese Interpretation stimmig wird, in einem weiteren Schluß, den Hegel selbst auf keinen Fall mitvollziehen kann. Hegels Verknüpfung von geistesgeschichtlich-philosophischer Analyse der Kunst und Vorbildcharakter der griechischen Kunst und Kultur muß aufgelöst werden, damit seine Bestimmung der „modernen", d. h. der zeitgenössischen Kunst als eigenständige ästhetische Wertung erscheinen kann. Vorderhand scheint dieser Kunstgriff sogar glücklich zu sein, weil sich mit der Relativierung bzw. Leugnung der Bedeutung der These vom Ende der Kunst auch gleich die Folgelast aufheben läßt, der „Klassizismus" der Ästhetik. Genau besehen gibt aber dieser Aktualisierungsversuch der Ästhetik mit den anscheinenden Vorurteilen zugleich das einzig Bedenkenswerte der Hegelschen Konzeption auf, seine Bestimmung der geschichtlichen Funktion der Kunst, die sich im Werkbegriff herauskristallisiert. Der Werkbegriff der Ästhetik steht nämlich für die vielbeschworene Einsicht Hegels in die „Geschichtlichkeit" der Kunst. Hegel bemüht sich seit seinen frühesten religionskritischen Überlegungen um eine Bestimmung des Wesens der Kunst - also um eine Metaphysik des Schönen als Metaphysik der Kunst - aus der geschichtlichen Funktion der Kunst. ^ Auf diese Entwicklung kann hier nur hingewiesen werden. Vgl. dazu meine Arbeiten; Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Überlegungen zu Hegels Ästhetik. Bonn 1984 (HegelStudien. Beiheft 25), sowie: Die geschichtliche Funktion der „Mythologie der Vernunft" und die Bestimmung des Kunstwerks in der Ästhetik. In: Mythologie der Vernunft. Hegels „ältestes

Systemprogramm des Deutschen Idealismus". Hrsg. v. C. Jamme u. H. Schneider. Frankfurt 1984. 226-260.

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In der Ästhetik zeugt sowohl die These vom Ende bzw. Vergangenheitscharakter der Kunst wie der anscheinende Klassizismus von diesem Bemühen. Beide Annahmen enthalten nämlich die Bestimmung der geschichtlichen Funktion des Kunst-Werks unter der Voraussetzung des Systems der Philosophie, und die These vom Humanus als dem neuen Heiligen der Kunst ist losgelöst von diesen beiden prinzipiellen Bestimmungen nicht schlüssig darstellbar. In der Entwicklung der Ästhetik bis hin zur „endgültigen", weil letztbekannten Gestalt der Philosophie der Kunst in den Berliner Ästhetikvorlesungen stellt sich der Interpretationsvorschlag zur Aktualisierung der Ästhetik umgekehrt zur genannten Interpretation dar. Die These vom Humanus als dem neuen Heiligen der Kunst, die Einsicht, daß die letzte und scheinbar höchste Möglichkeit der Kunst darin bestehe, den Menschen zu ihrem Heiligen, sc. zu einem nur anscheinend „absoluten" Inhalt, zu erheben, ist kein Neuanfang, sondern das Resultat eines Deutungsprozesses, das ohne den Blick auf den Entwicklungsgang nicht erschlossen werden kann. Dieser Hinweis erklärt sich selbst aus einer systematischen Erschließung der Geschichte der Kunst, die über das „Ideal" des „ältesten Systemprogramms", über die Ausbildung des Systems der Philosophie in Jena, über die Restriktion der Kunst auf ein Bildungsideal in den Nürnberger propädeutischen Schriften“* und schließlich über die systematische Reflexion dieser geschichtlichen Entwicklung in der Überarbeitung der Enzyklopädie führt. Hier wird endgültig die Einsicht begründet, die Hegel schon in Jena formulierte: daß mit der Vergangenheit der schönen Polis der Griechen, mit dem Verzicht auf ein Programm der Mythologie der Vernunft, das für die Moderne die Wahrheit nur in nicht hinreichend expliziter, gerechtfertigter Form darlegen kann, auch die geschichtliche Wirksamkeit der Kunst ihre Universalität verliert. Kunst degeneriert von der universalen Form der Vermittlung der Religion wie der Sittlichkeit im Griechentum zur Funktion „bloß formeller Bildung" des Bürgers im modernen Staat. 5 Ihre Bedeutung liegt darin, daß sie in einer bestimmten * O. Pöggeler: Hegels Bildungskonzeption im geschichtlichen Zusammenhang. In: Hegel-Studien. 15 (1980), 241-269; derselbe; Die Entstehung von Hegels Ästhetik in Jena. In: Hegel in Jena. Die Entwicklung des Systems und die Zusammenarbeit mit Schelling. Hrsg. v. D. Henrich u. K. Düsing. Bonn 1980. (Hegel-Studien. Beiheft 20.) 249-270. ® Hegel geht bezeichnenderweise in seiner Rechtsphilosophie von 1817 noch auf diese Funktion der Kunst im Staat, näherhin in der formellen Bildung des Staatsbürgers, ein und charakterisiert entsprechende Bildungsinstitutionen; vgl. G. W, F. Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft. Heidelberg 1817/18 mit Nachträgen aus der Vorlesung 1818/

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Lebensphase des Individuums die individuelle Entwicklung generalisieren kann durch die Parallelität zur Geistesgeschichte überhaupt: nämlich im Jünglingsalter, im Alter des Übergangs von der Erziehung durch Zwang: der Zucht, die ein bloß natürliches angepaßtes Verhalten erzeugt, zur Erziehung durch Einsicht. In dieser Übergangszeit zum mündigen Vernunftgebrauch fallen die geistesgeschichtliche Situation des Griechentums, die Herrschaft einer bloß substantiellen Sittlichkeit und die geistige Situation des Individuums zusammen. Hier fungiert die Kunst im Sinne der „ästhetischen Erziehung" als lebendig vollzogene Vernunfthandlung ohne Einsicht in die Begründbarkeit. Hegel kann deshalb diesen Stand der Individualbildung mit SCHILLERS Konzeption der „schönen Seele" parallelisieren, gibt aber - wie seine Kritik der „schönen Seele" zeigt zugleich den Anspruch auf, gesamtgesellschaftliche Änderungen im Sinne von Vernunft und Freiheit auf dieser Basis begründen zu können. Gesamtgesellschaftlich betrachtet stellt die Bildung durch Kunst in der modernen Welt keine praktische Bildung (Erzeugung der Sittlichkeit, die auf Vernunfteinsicht basieren muß) dar, sondern eine bloß formelle: sie ist historisch interessant, wird, in historischer Reflexion vollzogen, zur Vergewisserung über den eigenen Stand in der Geschichte. Aus dieser Argumentation ergibt sich aber zugleich die Notwendigkeit der philosophischen Ästhetik. Die Kunst bedarf, weil sie nicht mehr unmittelbar als Deutungsleistung vollzogen wird, weil sie - mit Hegel nicht mehr „lebendig" die Idee darstellt, der philosophischen Auslegung, der Taxierung ihrer Vermittlungsleistung und ihrer inhaltlichen Wahrheit durch die philosophische Reflexion. Eine Aktualisierung muß auch dies in Rechnung stellen, wenn sie von der These vom Ende der Kunst absehen und Hegels Ästhetik dennoch in die gegenwärtige Diskussion um Sinn und Leistungsfähigkeit der philosophischen Betrachtung der Kunst einbringen will. Hegel demonstriert die ünverzichtbarkeit der philosophi19. Nachgeschrieben von P. Wannenmann. Hamburg 1983. § 158. In den Berliner Vorlesungen über Rechtsphilosophie vernachlässigt Hegel die Funktion der Kunst zugunsten einer eingehenderen Bestimmung der Bildungsfunktion der Religion, ln der Bildung des Individuums zu Staatszwecken - wie es in der Heidelberger Vorlesung heißt - hält Hegel nun die Funktion der Kunst offensichtlich für so viel unerheblicher als die der Religion, daß er seine Überlegungen zur Kunst nicht nur nicht entsprechend zur Bestimmung der Religion erweitert, sondern ganz ausläßt. Hegel stellte in der Heidelberger Rechtsphilosophie ausdrücklich neben dem religiösen und wissenschaftlichen Leben das Kunst-Leben als „Staats-Leben" dar. Vgl. dazu A. Gethmann-Siefert: Die Rolle der Kunst im Staat. Eine Kontroverse zwischen Hegel und den Hegelianern. In: Welt und Wirkung von Hegels Ästhetik (Hegel-Studien. Beiheft 27; in Vorb.)

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sehen Ästhetik im gleichen Schritt wie die These vom Vergangenheitscharakter der Kunst, und bei Verzicht auf die letzte These muß man für die erste eigene Argumente beibringen. Meist wird das aber für überflüssig gehalten, weil man widersinnigerweise nur die unliebsame Konsequenz der gleichen geistesgeschichtlichen Begründung von der erwünschten trennt und die gemeinsame Wurzel selbst als das positive Erbe des Hegelschen Denkens bewahren will. Will man diese Ungereimtheit der Eklektik umgehen, dann kann es in der Kritik der Ästhetik Hegels nicht darum gehen, die These vom Ende der Kunst einfach wegzuleugnen und an ihre Stelle die nicht weiter begründete Annahme einer „Zukunft" der Kunst zu setzen; ebensowenig kann Hegels Ästhetik als Ganzes aufgrund dieser These als unsinnig erklärt werden, und es kann die These auch nicht einfach übernommen werden.® Vielmehr muß sich ein vertretbarer Sinn der These finden las® Zu Hegels These vom Ende der Kunst vgl. /. Patoöka: Die Lehre von der Vergangenheit der Kunst. In: Beispiele. Festschrift für Eugen Fink. Den Haag 1965. 46-61; }. Rüsen: die Vernunft der Kunst. Hegels geschichtsphilosophische Analyse der Selbsttranszendierung des Ästhetischen in der modernen Welt. In: Philosophisches Jahrbuch. 80 (1973), 292-319; ders.: Ästhetik und Geschichte. Geschichtstheoretische Untersuchungen zum Begründungszusammenhang von Kunst, Gesellschaft und Wissenschaft. Stuttgart 1976. 60^9; W. Oelmüller: Hegels Satz vom Ende der Kunst und das Problem der Philosophie der Kunst nach Hegel. In: Philosophisches Jahrbuch. 73 (1965/66), 75-94; wieder abgedruckt in: Oelmüller: Die unbefriedigte Aufklärung. Beiträge zu einer Theorie der Moderne von Lessing, Kant und Hegel. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1979. 240-289; A. Gethmann-Siefert: Die systematische Ästhetik und das Problem der Geschichtlichkeit der Kunst, bes. 157 f. Die Versuche, aus der Ästhetik eine Zukunft der Kunst zu prognostizieren, sind, wo sie in der gegenwärtigen Interpretation der Ästhetik erscheinen, argumentativ so uneinsichtig, daß sie hier übergangen werden. Einzig Henrichs These, daß die Vergangenheit der Kunst für die aktuelle Ästhetik die Einschränkung (Partialität) der Wahrheitsvermittlung durch die Kunst beisteuere, verbindet eine Hegelinterpretation in sinnvoller Weise mit der Frage der Aktualisierbarkeit der These vom Vergangenheitscharakter der Kunst. Hier wird eine zukünftige Bedeutung der Kunst entwickelt, für die Hegels These vom Vergangenheitscharakter der Kunst hinsichtlich ihrer höchsten Vollendung (sc. der Universalität der Wahrheitsvermittlung) konstitutiv ist; vgl. D. Henrich: Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart. Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel. In: Immanente Ästhetik - ästhetische Reflexion. Hrsg. v. W. Iser. München 1966. (Poetik und Hermeneutik. 2.) 11-32; derselbe: Zur Aktualität von Hegels Ästhetik (s. o. Anm. 1). - Eine interessante Auseinandersetzung findet sich in der zeitgenössischen Diskussion um Hegel bei Th. Mundt (vgl. dazu Hegel-Studien. 15 [1980], 271-278), der mit den Mitteln der Hegelschen Ästhetik deren Geschichtskonzeption umkehrt. Auch die Versuche der Hegelianer, den Kanon der ästhetischen Kategorien zu erweitern, um die Gegenwartskunst begreifen zu können, dürfen als sinnvollere Kritik der These vom Vergangenheitscharakter gelten als die neueren Versuche, die an Hegel vorbeiargumentieren. Rosenkranz, K. Fischer und F. Th. Vischer (in den Kritischen Gängen) entwickeln ein Verständnis der Kunst, das ihre Gegenwartsbedeutung im Sinne der von Hegel entwickelten geschichtlichen Funktion der Kunst festlegt. Hier mag zudem nicht uninteressant sein, daß die Kunsthistoriker der Hegelschule:

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sen, will man Hegels System beibehalten, oder man muß mit dieser These den Systemgedanken selbst aufgeben. Anders stellt sich die Lage bei der „Folgelast" der These vom Ende der Kunst, beim Klassizismus der Ästhetik dar. Für Hegel bleibt in der Ästhetik die Berufung auf das schöne Griechentum für die gesamte Argumentation zentral. Er beginnt seine Vorlesungen nur darum stets mit dem Hinweis, daß die Kunst ihrer höchsten Bestimmung nach etwas Vergangenes sei, um die Funktion der Kunst in der modernen Welt, um die Rolle der Kunst im Staat von der Rolle der Kunst in der griechischen Polis her zu erhellen. Das heißt aber, daß er die Kunst nicht als isoliertes Phänomen betrachtet, sondern - im Sinne der Neukantianer - ihre „Kulturfunktion" philosophisch darstellt. Diese Funktion läßt sich nicht losgelöst von der jeweiligen geschichtlichen Situation im ganzen erheben, weil die Kunst unter verschiedenen geschichtlichen Bedingungen unterschiedlich wirkt. Vordringlich in der Entgegensetzung von griechischer Antike und romantischer - weil durch die christliche Religion bestimmter - Moderne sieht Hegel die Möglichkeit, einen solchen Strukturvergleich der Kulturfunktion der Kunst als einer geschichtlichen Betrachtung plausibel durchzuführen. Durch diese Art der Betrachtung läßt sich eine Erklärung der These vom Ende der Kunst finden, die Hegels scheinbar widersprüchliche Aussagen, die Kunst sei ihrer höchsten Form nach zu Ende - und zwar mit dem Griechentum - und die Kunst möge gleichwohl in der Gegenwart oder Zukunft eine immer weitergehende formale Vollendung erreichen.

H. G. Hotho und C. Schnaase im Sinne Hegels eine „spekulative Kunsthistorie" bzw. eine Kulturgeschichte der Kunst schreiben. Kunst erscheint in dieser Umsetzung der Ästhetik in Kunstgeschichte als Kulturphänomen, als Versuch der universalen Weltorientierung und wird entsprechend dargestellt. Hotho wie Schnaase greifen dabei auf Phänomene der „romantischen Kunstform" zurück, auf die Malerei der Niederländer und auf die mittelalterliche Kunst insgesamt. Damit wird zumindest ein Sinn der These von der Vergangenheit der Kunst für das Verständnis der Gegenwart produktiv; denn Hegels These, die Kunst sei dem modernen Individuum nur in historischer Reflexion zugänglich, bildet hier die Grundlage einer eingehenden kulturgeschichtlichen Analyse bzw. einer spekulativen Geschichtsschreibung. Was die Kunst in der Geschichte bedeutete, wie sie zum Selbstverständnis der Moderne beiträgt und dieses trägt, zumindest das wird unter Voraussetzung der Hegelschen Bestimmung entwickelt. Vgl. dazu meine Abhandlung: H. G. Hotho: Kunst als Bildungserlebnis und Kunsthistorie in systematischer Absicht - oder die entpolitisierte Version der ästhetischen Erziehung des Menschen. In: Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels. Hrsg. v. O. Pöggeler u. A. Gethmann-Siefert. Bonn 1983. (Hegel-Studien. Beiheft 22.) 229-261; sowie G. Stemmrich: C. Schnaase. Rezeption und Transformation berlinischen Geistes in der kunsthistorischen Forschung. Ebd. 263-282.

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widerspruchsfrei vereinbart. Beide Überlegungen sind - gegen KNOX - so gemeint, wie Hegel sie in den Vorlesungen geäußert hat. Hegel behauptet nämlich weder, die Kunst sei zu Ende, noch sie sei ein historisch uninteressantes Phänomen, keiner weiteren Entwicklung fähig, noch sie habe für die Gegenwart jegliches Interesse verloren. Problematisch bleibt aber, daß die philosophische Behandlung der Kunst mit einem Hinweis beginnt, der Hegels früherer Bestimmung der geschichtlichen Punktion im Kontext der Religionskritik entgegensteht. Die Kunst hat nicht mehr die Funktion, die Vernunftidee (im Sinne KANTS) „ästhetisch" und „mythologisch" zu machen, sie für alle faßbar zu konkretisieren. Diese Funktion wird - Hegel greift dadurch in den Ästhetikvorlesungen seine verstreuten Bemerkungen der späteren Schriften auf - einer Vergangenheit Vorbehalten. In der gegenwärtigen Hegelinterpretation wird auch diese Möglichkeit der Ästhetik nicht ausgeschöpft. Man sieht zwar in Hegels Ästhetik die „Geschichtlichkeit" der Kunst berücksichtigt, löst diese Einsicht Hegels aber vom angeblichen Klassizismus, um sie mit der „modernen" These von der Autonomie der Kunst zu verknüpfen. Diese Tendenz wird in die Entwicklung der Hegelschen Ästhetik selbst hineingelesen. Weil Hegel sich in der Jenaer Zeit vom Programm der Mythologie der Vernunft löst und damit seine Forderung aufgibt, die Kunst solle die Ideen „ästhetisch" und „mythologisch" machen, scheint es, als gewinne er durch diesen Fortschritt die Möglichkeit, die Kunst unabhängig von ihr transeunten Zwecken (wie „Sittlichkeit des Volkes" etwa) zu beurteilen. Erst nachdem Hegel diesen Schritt vollzogen hat, finden sich explizite und eingehendere Auseinandersetzungen mit einzelnen Kunstwerken, die Hegel bis in die Berliner Zeit hinein intensiviert. Dadurch rückt die Ästhetik durch die Art ihrer Betrachtung und ihrer Entwicklung anscheinend in die Nähe der Anerkennung der Autonomie der Kunst, die auch in der gegenwärtigen philosophischen Bestimmung der Kunst maßgeblich geworden ist. Schon Hegels Ästhetik entwirft den „Kunstcharakter" des Kunstwerks aus kunstimmanenten Gesichtspunkten^, sie betrachtet Kunst nicht mehr als Mittel zum Zweck der Ausbildung einer Religion oder Staatsideologie. ^ Vgl. dazu die Ästhetikinterpretation von K. Düsing: Idealität und Geschichtlichkeit der Kunst in Hegels Ästhetik. In: Zeitschrift f. philosophische Forschung. 35 (1981), 319-340. Die Beiträge eines von W. Oelmüller veranstalteten Kolloqiums zur gegenwärtigen Ästhetik legen den derzeitigen Stand der „Äutonomiethese" dar. Besonders konsequent spielt O. Marquardt diese These durch. Kolloquium Kunst und Philosophie. Bd 2. Hrsg, von W. Oelmüller. Paderborn 1982.

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Letztlich liegt in dieser Interpretation eine Reduktion der Hegelschen Ästhetik auf den Standpunt KANTS, die in mehrfacher Weise unglücklich ist. Zunächst ist nicht ersichtlich, warum man sich auf Hegel beruft, wenn man seine Konzeption ohnehin auf einen Kantianismus reduzieren will. Die Aktualität Hegels jedenfalls kann so nicht nachgewiesen werden. Dann verbietet sich aus den Quellen für die Philosophie der Kunst eine solche Reduktion, denn Hegel selbst setzt in der Auseinandersetzung mit SCHILLER bei einem „Kantianismus" an, der über die empirische Ausweitung der Konzeption des interesselosen Wohlgefallens bereits zur Konzeption der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit fortgeschritten ist. Da Hegel diese Überlegungen bis in seine späten Berliner Vorlesungen hinein mitträgt, bleibt für ihn immer die Bestimmung der Kulturfunktion der Kunst, mithin ihr Entwurf auf den Menschen und die Humanisierung der Welt interessant. Schließlich ist die Reduktion der Ästhetik auf den Standpunkt der so konzipierten Autonomie der Kunst gerade in der Diskussion um den „Klassizismus" der Ästhetik ungeschickt. Auf diese Weise finden nämlich die gängigen Vorbehalte Nahrung. Hegel gäbe dann in der Tat durch die Konzentration der Ästhetik um die klassische Schönheit ästhetische Maßstäbe im engeren Sinn vor. In einer solchen Bestimmung des Kunstcharakters verdünnte sich sein „Kunstideal" zu einer Konstruktion der Geschichte der Künste, als deren Prinzip das klassizistische Kunsturteil fungierte.® Anders als die sonstige Geschichte (etwa der Religion, des

® Gegen die Behauptung Düsings (s. vorige Anm.), daß es Hegel in der Ästhetik um die Bestimmung des Kunstcharakters losgelöst von der Verzwecklichung gehe, sprechen zwei Gründe. Zunächst kann die Problematik der klassizistischen Beurteilungsmaßstäbe auf diese Weise nicht eliminiert werden. Weiterhin wird unterstellt, daß es Hegel überhaupt um solche ästhetischen Werturteile gegangen sei (so z. B. bei Knox, s. o. Anm. 1). Beides kann durch den Blick auf die Zeugnisse zu Hegels Ästhetik ausgeschlossen werden. Es läßt sich nämlich nachweisen, daß die anscheinend „klassizistischen" Kunsturteile nicht unbedingt mit Hegels Ausführungen in den Berliner Vorlesungen übereinstimmen und daß auch das Gewicht, das solche Kunstkritiken in der gedruckten Fassung der Ästhetik erhalten, nicht im Sinn Hegels gewesen sein kann. In den Vorlesungen erscheinen die Hinweise auf die Kunstwerke strikt an die Systemkonzeption geknüpft. Hegel legt jeweils exemplarisch für eine geschichtliche Situation die Funktion der Kunst anhand herausgegriffener Kunstwerke dar, die umgekehrt insgesamt unter die Perspektive ihrer geistesgeschichtlichen Bedeutung gerückt werden. Es geht Hegel jeweils um die Prüfung seiner These, ob bzw. wieweit die Funktion der Kunst in der modernen Welt, im Staat, der Funktion der Kunst in der griechischen Polis vergleichbar sei. Jedes „Kunsturteil" steht so im Horizont der Frage nach der möglichen Zukunft der Kunst, erscheint aber de facto als Negation einer solchen Hoffnung. Vgl. dazu u. a. Hegel-Studien. 18 (1983), 23 ff. - Schon vom philologischen Befund her legt es sich also nahe, eine Trennung vorzunehmen, die den bislang vorgeschlagenen Auswegen aus den Aporien der Ästhetik zuwiderläuft.

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Staates) erscheint aufgrund dieser ästhetischen Vorliebe dann allein die Geschichte der Kunst nicht als „Fortschritt", sondern als Geschichte der Regression hinter einen einmal erreichten Vollendungsstand. Die Bemühung um die Aktualisierung der Hegelschen Ästhetik müßte differenzierter Vorgehen, man müßte ein anderes als das bislang gewählte Verfahren finden, die diskutablen Elemente zu bewahren. Die vorderhand eingängige Bevorzugung des geschichtlich denkenden Hegel gegenüber dem Systematiker läßt sich jedenfalls nicht systemimmanent durchführen. Dennoch lassen sich unter Berücksichtigung des Hegelschen Anliegens an den beiden Grundschwierigkeiten der Ästhetik sowohl Hegels gute Gründe für die Annahme dieser Thesen wie Hinweise für die Überwindung entwickeln.

1. Die These vom Ende der Kunst im Kontext der Berliner Ästhetikvorlesungen Die Entwicklung der Vorlesungen zur Ästhetik'^ steht der Annahme entgegen, daß Hegel selbst Anhaltspunkte dafür bietet oder bieten will, die These vom Ende der Kunst, von der Vergangenheit ihrer höchsten Bestimmung, zu mildern oder aufzugeben. Im Gegenteil; Hegel fügt im Zuge der verschiedenen Vorlesungen nicht nur die Erweiterung der Kenntnisse über Kunst in den Gang der Argumentation ein, sondern zugleich die Fortschritte der Konzeption des philosophischen Systems, die die verschiedenen Fassungen der Enzyklopädie belegen. Deshalb wiederholt Hegel in der Ästhetik die Einsicht der Jenaer und Nürnberger Überle-

® Die Zitate aus Hegels Ästhetik sind der ersten Auflage von Hothos Edition entnommen (Berlin 1835-38) unter Angabe der Parallelstellen aus der zweiten Auflage (1842). Die Ausgabe wird im Text zitiert: Äsf/i.' U (die hochgestellte römische Ziffer als Hinweis auf die Auflage), Bandzahl (arabisch) und Seitenzahl. An Nachschriften zur Ästhetik wurden benutzt und mit der angegebenen Sigle und Manuskriptseite im Text zitiert; Hothos Nachschrift von 1823 (Hotho 1823. Ms.); die Nachschriften v. Griesheims (Griesheim 1826. Ms.), Kehlers (Kehler 1826. Ms.), eines Anonymus aus dem Besitz der Stadtbibliothek Aachen (Aachen 1826. Ms.), Löwes (Löwe 1826. Ms.), eines Anonymus aus den vormaligen Beständen der Marbacher Bibliothek (Marb. Bibi. 1826. Ms.); Libelts (]ag. Bibi. 1828/29. Ms. Blatt) und Heimanns (Heimann 1828/29. Ms.). Außerdem eine Ausarbeitung, in der Kromayer verschiedene Nachschriften von 1823 und 1826 zum eigenen Gebrauch zusammenschreibt (Kromayer 1823/26. Ms.). Die Nachschriften befinden sich (in der Reihenfolge der Nennung) im Besitz des Hegel-Archivs der Ruhr Universität Bochum, der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin; der Universitätsbibliothek Jena; der Stadtbibliothek Aachen; der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz (Löwe und Marb. Bibi.); der Jagiellonischen Bibliothek Krakau; in Privatbesitz L. Hommel.

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gungen, daß „der Standpunkt der Bildung" (die geschichtliche Situation eines Volkes) nicht mehr so geartet ist, daß die Kunst ein wesentliches Interesse, daß sie „Lebendigkeit" beanspruchen könnte. „Die höchste Bestimmung der Kunst ist im Ganzen für uns ein Vergangenes, ist für uns in die Vorstellung hinübergetreten" und hat dadurch „nicht mehr die Unmittelbarkeit für uns, die sie zur Zeit ihrer höchsten Blüte hatte". Eine weitere Nachschrift des gleichen Jahres (1826) fügt dieser Bestimmung noch Hegels Gedanken der Phänomenologie hinzu, daß durch den Verlust der Unmittelbarkeit, durch das Interesse der historischen Reflexion, die die Gegenwart kennzeichnet, die Kunst ihre „Lebendigkeit" verloren habe. Die Kunst bleibt also eine Weise des Wissens vom absoluten Geist, der andere nachfolgen. Denn - so bestimmt Hegel nach dem Zeugnis HOTHOS das Ideal - die Kunst läßt den Geist im sinnlichen Dasein erscheinen (Hotho 1823. Ms. 146, 217). In der letzten Vorlesung im Winter 1828/29 legt Hegel diesen Gedanken nicht nur formal hinsichtlich verschiedener Wissensformen, verschiedener Explizitheitsgrade der Wahrheit im Bewußtsein dar, sondern bettet diese Überlegung kulturgeschichtlich ein. Die Kunst hat ein „Vorsich und nach Nachsich", ihre Vergangenheit ist die Religion bzw. sind jene Formen von ahnender Religiosität, die sich noch nicht zur Gestalthaftigkeit durchringen können. Ihre Zukunft bilden wiederum Religion und ein auf Vernunft gegründeter Staat. Hegel gibt an dieser Stelle ebenso wie in der Enzyklopädie explizit die Folgen seiner philosophischen Systematik für die eigene frühe Annahme über die geschichtliche Rolle der Kunst im Zusammenhang der Religionskritik an. Dort ging es ihm darum, in der Kunst-Religion der Griechen die Vermittlung einer auf Vernunft bzw. auf Sittlichkeit basierenden „Gesellschaft" zu gewinnen, die auch für die Moderne belangvoll wäre. Hier schließt er beide Dimensionen der „Zukunft" der Kunst aus, denn nicht die Kunst bewirkt und stiftet Religion und Staat, sondern die „Kunst hat auch ein Nach. Die Kunst als Explikation der Wahrheit geht in ein Höheres über und dies bestimmt die Stellung der Kunst". Hegel trennt den Kreis des Vgl. Kehler 1826. Ms. 12. Zum folgenden siehe Aachen 1826. Ms. 9, 7 f. In den einzelnen Analysen der romantischen Kunstform, besonders in der Bestimmung der Komödie, spricht Hegel von der „Auflösung der Kunst" (Kehler 1826. Ms. 442). Zum folgenden vgl. die Nachschriften von 1826 Kehler Ms. 44 f; Aachen Ms. 34. " Diese Stellen finden sich in der Vorlesungsnachschrift von Libelt 1828/29, die sich in der Jagiellonischen Bibliothek (Krakau) befindet; vgl. Ms. 20, 30 und für das folgende Ms. 56. Dazu auch Ms. 90a, wo Hegel betont, daß der bei sich selbst seiende Geist ein höhe-

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gewöhnlichen Lebens, des Systems der Bedürfnisse und des Rechts, dann die Wissenschaften und endlich die Religion von der Kunst. Ähnlich wie in der Entwicklung der Rechtsphilosophie verschiebt sich das Interesse an der Darstellung der Kulturfunktion der Kunst vom Staat zur Religion. Das ist zwangsläufig, weil Hegel schon sehr viel früher die Hoffnung aufgegeben hatte, durch die Kunst einen modernen Staat erwirken zu können. Diesen Entwicklungsschritt seiner Ästhetik kann man an den Modifikationen seiner ScHiLLERkritik darlegen. Statt für die Ermöglichung von Religionskritik und die Gründung des Staates auf Vernunft die Kunst als Mittel anzusetzen, weil sie allein die Idee als „ästhetische" und „mythologische" allgemein faßlich darstellt, rückt Hegel die Kunst im Zuge der Entwicklung seines Systemgedankens, die ihn vom Konzept des „ältesten Systemprogramms" abrücken läßt, enger zur Religion. Da eine neue Kunst die christliche Religion nicht mehr über sich hinaus zu einer vernunftgemäßen Form der Religiosität führen muß - diese ist mit dem „Protestantismus" erreicht -, degeneriert die Kunst in der Moderne zur Illustration der Religion. Das Bedürfnis der Kunst, das Bedürfnis nach dem Schönen erscheint als Moment des religiösen Bedürfnisses; „für die Religion ist die Kunst nur die eine Seite, diese stellt auf sinnliche Weise die Wahrheit, den Geist, dar, jene fügt die Innerlichkeit dieses Anschauens, die Andacht, hinzu". Auch die nähere Konnexion mit der Religion, die sich aus der Vorlesungsrezeption nahelegt, spricht nicht für eine Aufhebung des Vergangenheitscharakters der Kunst. Denn in beiden nun von der Kunst getrennten Sphären, im Staat wie in der Religion, taucht die Kunst in einer anderen Weise auf, wirkt sie anders als in der griechischen Polis. Sittliche und religiöse Wahrheiten (vgl. Kehler 1826. Ms. 44) erscheinen in der Kunst nur in der Weise substanzieller Wahrheit, nicht in der gesicherten Form eines absoluten Wissens. Die Wirkung der Kunst ist zudem auf eine doppelte Weise an die Reflexion gebunden. Zunächst gilt sie für Hegel in vielen Fällen als uneinsichtig und irregulär, wenn sie nicht mit der Religion als ihrer Reflexionsform, als der Fixierung ihrer Inhalte verknüpft ist.^^ Überdies verliert die Kunst durch die Differenziertheit der moderres ist, als das, was im Sittlichen - gemeint ist wohl die griechische Sittlichkeit - erscheint. Denn es kann zwar nichts Schöneres geben als das griechische Kunstwerk, „aber Höheres" (Ästh.n.134).

Vgl. die Darstellung der Schillerinterpretation Hegels in Gethmann-Siefert: Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Bonn 1984 (Hegel-Studien. Beiheft 25.). Einen Reflex dieser Überlegungen findet man in einer Merkwürdigkeit der Bestim-

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nen Welt gänzlich die Funktion der Handlungsorientierung. Sie kann in der Gegenwart nicht mehr unmittelbar verstanden werden, sondern muß durch eine historische Reflexion als eine vergangene Version der Erfüllung des Vernunftbedürfnisses erschlossen werden. Die Kunst schreitet fort zu Religion als ihrer quasi naturwüchsigen inhaltlichen Erfüllung, und sie kann für das aufgeklärte Zeitalter, in der selbst die Religion als Weltorientierung nicht zureicht, nicht einmal eine solche vermittelte Lebendigkeit beanspruchen. Sie ist im modernen Staat etwas Vergangenes. In weiteren Überlegungen, etwa in der Bestimmung der Kunstformen, die Hegel aus dem Ideal entwickelt, wird dies nicht aufgegeben. Hier entwickeln die Vorlesungen die geschichtliche Bestimmung der Kunst unter der Voraussetzung der These vom Vergangenheitscharakter der Kunst, denn die These vom Ende der Kunst hinsichtlich ihrer höchsten Bestimmung expliziert die je spezifische Einheit von Begriff und Geschichte. Der notwendige Übergang jeder Kunstform zur nächsthöheren, mithin die strukturelle Differenzierung des geschichtlichen Wirkens der Kunst, hängt mit den philosophischen Einsichten zusammen, die auch den Vergangenheitscharakter der Kunst begründen. Die fundamentalen Topoi für die strukturellen Differenzen der verschiedenen Kunstformen legt Hegel schon in der Jenaer Zeit fest. Es geht auch in der Kunst um das Gegenspiel von Substantialität und Subjektivität, um die Möglichkeiten, Substantialität in (absolute) Subjektivität, in Idee und deren Thematisierung durch das Wissen zu überführen. Was Hegel als das Spezifikum seiner Philosophie erörtert das wird im Zusammenhang der Vorlesunmung der Musik. Hegel führt hier aus, daß die Musik so lange die schlechte Unendlichkeit einer bloß sehnsüchtelnden Träumerei zum Inhalt habe, als diese undifferenzierte Träumerei nicht durch die Poesie - näherhin die religiöse - im Lied einen festen Inhalt erhält. Hier erscheint die Religion auch inhaltlich als der nächste Schritt, als die Festigung der Wahrheit der Kunst. Vgl. Aachen 1826. Ms. 156. Vgl. dazu K. Düsing: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik. Bonn 1976. (Hegel-Studien. Beiheft 15.) Düsing bestimmt den Begriff der Subjektivität als Grundlage für Hegels Logikkonzeptionen, d. h. als die Bedingung dafür, daß Hegel seine Konzeption der Explikation der Wahrheit entwickeln und ausführen kann. Für die Bestimmung der Kunst ist dieser Begriff nur bedingt bedeutsam, nämlich hinsichtlich einer Konkretion des Substantiellen wie des Subjektiven in der anschaulichen Darstellung. Das Substantielle gUt deshalb auch in den Vorlesungen als „irgend eine allgemeine Macht, die in der Natur des Geistes und seiner Formen gegründet ist" {Hotho 1823. Ms. 87), und die Subjektivität legt sich beispielsweise dar als die vereinende Innerlichkeit all jener Mächte, die im Götterkreis auseinandergeworfen erscheinen, dann als die Innerlichkeit der Individualität in der romantischen Kunst (vgl. Hotho 1823. Ms. 94, 96).

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gen zur Ästhetik als das Spezifikum der geschichtlichen Funktion der Kunst gedeutet, d. h. es erscheint als die Begründung sowohl der Verschiedenheit der Kunstformen wie der Notwendigkeit des Übergangs zur jeweils nächsthöheren Kunstform. Da Hegel von der Substanzmetaphysik SPINOZAS ausgeht und versucht, diese Metaphysik zugleich spekulativ zu begründen, greift er auf die grundlegenden Kategorien Substantialität und Subjektivität zurück, wenn es um die Explikation geschichtlicher Wahrheit geht. Substantialität ist dabei nicht zu verstehen als die irrationale Basis des Wahrheitsgeschehens, sondern sie meint für Hegel selbst auch immer schon Wahrheit, nur eben in einem Status des „Un-" oder „Noch-nicht-Begriffenseins". Für die Bestimmung der Kunst ist Substantialität daher die zunächst grundlegende Kategorie. In HOTHOS Nachschrift findet sich eine entsprechende Definition des Inhalts der Kunst. Der Inhalt der Kunst ist „ein geistiger" Inhalt, und damit „das Substantielle, das äußerlich erscheint, und nicht in unmittelbarer Naturgestalt gegeben, sondern ein vom Geiste Produziertes ist" {Hotho 1823. Ms. 114). Es geht um eine Weise geschichtlicher Wahrheit, die nicht begrifflich expliziert, sondern in einer noch dunklen, vorläufigen Weise zur Erfahrung gestellt ist. So bestimmt Hegel die symbolische Kunstform durch die Divergenz von Form und Inhalt und erläutert das so, daß diese Kunstform noch nicht in der Lage sei, „die substantielle Subjektivität, die sich für sich erfaßte, sich bildlich machte", hervorzubringen {Hotho 1823. Ms. 114). p>as Telos der symbolischen Kunst charakterisiert Hegel als substantielle Subjektivität, als „freie Geistigkeit". Diese findet sich in der klassischen Kunst und wird dadurch erreicht, daß die Naturgestalt, die zur „Einbildung" des Geistigen unzureichend bleiben muß, in ihrer Bedeutung herabgesetzt wird. In der klassischen Kunst ist nicht mehr die Natur das „Überwiegende, in die der Geist sich einbilden will" (Hotho 1823. Ms. 167), sondern die „Naturmächte, welche bisher das Substantielle ausmachten", werden zur „Vorstellung geistiger Subjektivität" (Hotho 1823. Ms. 153) umgewandelt. Die Mythologie, die hier durch die Poesie gestiftet wird, stellt diese Umwandlung „naiv und ausdrücklich" (ebd.) dar als den Kampf der alten und

Symbol wird hier gedeutet, wie Goethe die Allegorie definiert: der abstrakte Gedanke wird in einer bildlichen Weise zur Darstellung gebracht; Hotho 1823. Ms. 110; vgl. 114, 119. Dazu u. a. O. Walzel: Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit, ln: Euphorien. 33 (1932) 102 ff.

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neuen Götter. Im Übergang zur menschlichen Gestalt als der Gestalt des Gottes zeigt sich so ein „dem Begriff nach notwendiger" Fortschritt. Die Notwendigkeit wie den Charakter des „Fortschritts" begründet Hegel wieder (wie in den Jenaer Schriften) durch die Kennzeichnung der Funktion der Kunst und zugleich durch deren systematische Bewertung; „Die Hauptseite des Inhalts der klassischen Kunst ist also sittliche Substantialität, geistige Individualität, die zugleich ein Moment der Naturmacht hat" (Hotho 1823. Ms. 158). Damit thematisierte Hegel schon in seinen Jenaer Schriften die Notwendigkeit des Übergangs von der Naturmythologie zur geistigen Mythologie und die Vorbereitung zur Bestimmung der Tragödie, die den Konflikt im Sittlichen dar stellt. Die Kunst „erzählt" im Kampf der alten und neuen Götter die „Geschichte" der Bildung des geistigen Selbstbewußtseins eines Volkes, sie entwirft die Momente dieses Prozesses als „Kreis der Götter", als verschiedene einander zugeordnete geistige Individualitäten, die als sittliche Orientierung fungieren. Da der ganze Prozeß aber nicht begriffen, sondern als schicksalhafte Entscheidung für eine der möglichen Konkretisierungen lebendig vollzogen wird, kann die erreichte Sittlichkeit des Volkes nicht als eine Sittlichkeit aller, als die Verwirklichung von Freiheit und Vernunft überhaupt gelten. Die Überholungsbedürftigkeit signalisiert Hegel in der Kombination der beiden grundlegenden Kategorien^*, die er zur ümschreibung des geistigen Status (der Stufe des Fortschritts im Bewußtsein und der Realität von Vernunft und Freiheit) wählt. Die substantielle Sittlichkeit vermittelt sich im Medium der geistigen Individualität nur unzureichend. Dadurch kann die Gestalt des Gottes, das Schönste, was die Kunst hervorbringt, nicht als die Garantie für die freie vernünftige Selbstverwirklichung gelten. Diese Vermittlung des Göttlichen wie des menschlichen Bewußtseins muß also, sofern dies überhaupt noch auf dem Boden der Anschauung möglich ist, durch eine neue Gestalt überholt werden. Substantialität wird auch hier umschrieben als das bloße Sein gegenüber dem Begriffensein der Wahrheit. Der Inhalt der Skulptur ist „die starre Objektivität des Geistes", die Sittlichkeit selbst erscheint als solche Objektivität in den Göttergestalten, und zwar als „Individualität", weil „die Geistigkeit sich noch nicht gegen sich als das besondere Subjekt gegen die allgemeine Subjektivität unterschieden hat" (Hotho 1823. Ms. 218, 219). Differenzierungen kommen also nicht durch die jeweilige Gestalt des Gottes in den Blick, sondern durch die Vielheit möglicher Gestaltungen, die im Götterkreis ausgebreitet und festgelegt ist (vgl. Ms. 233). Die Vorlesung von 1826 bleibt bei dieser Charakteristik: „... daß in diese Objektivität der Gott, die Subjektivität hineindringt, durch die Seele konzentriert ist", kennzeichnet die Skulptur (Aachen 1826. Ms. 32). Auch der Übergang von der Skulptur zur Malerei wird durch diese Kategorien charakterisiert. Während Hotho (vgl. Ms. 42, 39) darauf

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Für Hegel stellt sich die Kunst also in einer „dritten Sphäre", in der romantischen oder christlichen Kunst, nochmals auf einen höheren Standpunkt. Hier „erhebt sich das Geistige frei in sich", „vollendet sich die Innerlichkeit in sich". Hegels Bestimmung des Prinzips der romantischen Kunst, die „absolute Innerlichkeit" {Hotho 1823. Ms. 162), wird begründet durch den Fortschritt von der geistigen Individualität, deren „Innerlichkeit" nicht als Sich-Wissen, sondern als bloßer Reflex der Harmonie von Natur und Geist in einem selbst noch Natürlichen: der Gestalt des Göttlichen, erscheint. In der Kunst, die der romantischen Kunst-

hinweist, daß in der Malerei das Subjektivwerden der Äußerlichkeit anfängt, erweitert Hegel in den späteren Vorlesungen offensichtlich diese Überlegung; „Die Fläche, auf welcher die Malerei darstellt, ist eine Negation des Raumes, des Äußerlichen und gehört schon dem Subjektiven an. ln der Skulptur ist solche Subjektivität nicht vorhanden, sondern die Objektivität in ihrer absoluten Form" {Kehler 1826. Ms. 322 f). Ein historischer Irrtum dient Hegel hier immer wieder zur Demonstration der Notwendigkeit des Fortschritts: die griechischen Skulpturen, meint er, seien augenlos, blicklos und sie müßten es auch sein, weil sie die Schönheit der Welt, ihren vorreflexiven Entwurf auf Wahrheit und Sittlichkeit, nur in der menschlichen Gestalt spiegeln, nicht im Auge als die unendliche Tiefe menschlicher Innerlichkeit aufblitzen lassen. Die „Skulptur hat ... geistige Individualität zum Gegenstand und sie läßt den Geist in unmittelbarer Materialität erscheinen" {Hotho 1823. Ms. 216; vgl. 217 und 94 f). Da das „Beisichsein des Geistes" hier nicht über die Endlichkeit herausgeht, sondern nur „seiend" vorkommt {Hotho 1823. Ms. 219; vgl. 158), da „an ihrer Gestalt das Wissen und Wollen" nicht dargestellt ist, fehlt „dem alten Götterbilde ... das Licht der Augen. Der Gott weiß sich nicht, das Auge, durch das die Seele sieht und gesehen wird, ist lichtlos in den strengen Gestalten; sie sind unaufgeschlossen, nach außen nicht gerichtet" {Hotho 1823. Ms. 169; vgl. auch die Metapher des Äuges als „Organ, in welchem die Seele als solche erscheint", die Hegel zur Charakteristik der Kunst und ihrer Gestaltung der Dinge ausweitet; Hotho 1823. Ms. 72). Hegel spielt hier auf Winckelmanns Beschreibung an, daß bei den Gestalten der Götter die Durchbildung der einzelnen Punkte den „Charakter der Lebendigkeit" erzeugt, den „Duft der beseelten Fläche" {Hotho 1823. Ms. 226). Später kombiniert Hegel diese Charakteristik mit einem Hinweis auf eine bestimmte Rezeptionsweise: die Betrachtung der Antiken bei Fackelschein, die diesen Eindruck hervorbringt (vgl. Kehler 1826. Ms. 330). - Interessant ist hier auch, daß Hegel in den späteren Vorlesungen seine Beschreibung der Skulpturbilder erweitert. So bezieht er außer Winckelmann die physiognomischen Untersuchungen Campes mit ein und kennzeichnet verschiedene, für einzelne Götter charakteristische Augenformen (vgl. z. B. Kehler 1826. Ms. 333 f, 335). Dennoch bleibt der „große Sinn" des Göttlichen, seine „stille Größe" darin gegeben, daß es nicht nach außen schaut, daß die „Skulpturbilder augenlos gemacht werden", das „Auge dem Skulpturbild fremd" ist {Kehler 1826. Ms. 324 f). Selbst die Tatsache, daß den Skulpturen Edelsteine als Augen eingesetzt sind, wird hier erwähnt, ohne daß Hegel seine These änderte. Dasselbe gilt für die letzte Vorlesung von 1828/29. Der „Blick des Auges, wo der ganze Ausdruck sich begegnet gehört nicht zur Skulptur" {Jag. Bibi. 1828/29. Ms. 119, vgl. 130: „Die Skulptur entschlägt sich des Auges"). - Für die romantische Kunstform gilt denn auch: „jetzt erscheint der Gott sehend ... sich wissend in menschlicher Gestalt" {Hotho 1823. Ms. 169). Im Vergleich der mediceischen Venus und der Madonnenbilder deutet Hegel auf den fehlenden Ausdruck der Innigkeit {Kehler 1826. Ms. 2641 bin

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form (mithin ihrem Inhalt nach der christlichen Religion) zugehört, erscheint die „Göttlichkeit, die absolute Subjektivität im Subjekt selbst". Es wird „die Gestalt des Menschen unmittelbar gewußt ... die Göttlichkeit in sich zu haben" {Hotho 1823. Ms. 169). Auch hier erscheint der Geist noch in der Weise des Daseins, der äußerlichen Gestalt {Hotho 1823. Ms. 169), aber doch so, daß in der Leiblichkeit ihr Anderes, die Seele, erscheint. „Innigkeit als ... Prinzip der geistigen Subjektivität" hat zu ihrem eigentlichen Dasein den Geist selbst. So kann hier das Geistige nicht wie beim „griechischen Gott unmittelbar in seine leibliche Gestalt ergossen" sein, „durch sie ganz sich ausdrücken ... und sich seiner Totalität nach ausdrücken" lassen. Hier vermag im Gegenteil die leibliche Gestalt nur zur Erscheinung zu bringen, „die Seele habe ... in ihr selbst ihre Realität (Hotho 1823. Ms. 172, vgl. 178). Der spezielle Inhalt der romantischen Kunst ist deshalb auch nicht mehr der Mythos in Gestalt des Gottes, sondern die „Geschichte der göttlichen Versöhnung selbst", die als die Geschichte Christi, als Gestaltung seines Wirkens, seiner Verhältnisse und seiner Gemeinde auseinandergefaltet wird. Wo die Substantialität des bloßen Seins zur Geschichte wird, da ist gewährleistet, daß die Vermittlung der Wahrheit durch die Kunst in ein ihr entsprechendes Medium fällt. Hegel erörtert dies an der Bestimmung der Handlung, die für die romantische Kunstform zunächst zum Versöhnungshandeln Christi, dann im adäquateren Medium der Poesie zum Reflex des weltgeschichtlichen Handelns in Epos und Drama wird. Für Hegels Festhalten am Vergangenheitscharakter der Kunst ist abschließend noch interessant, daß er aus dem kategorialen Modell die Überholungsbedürftigkeit auch dieser Form der Wahrheit begründet. Denn wo die Gestalt nicht mehr auf die vollendete, weil geistige Gestalt fixiert ist, wo die Äußerlichkeit nur als das Andere der Innerlichkeit gilt, verliert sie ihr Eigengewicht. Die Auflösung der romantischen Kunstform liegt also in der Überzeichnung ihres Fortschrittprinzips. Auf der einen Seite wird die Äußerlichkeit von der Verpflichtung frei, dem Dasein, der Existenz der Idee die hinreichende Erscheinungsmöglichkeit bereitzustellen; Kunst wird zur „Darstellung der Gegenstände wie sie sind". Auf der anderen Seite wird die Äußerlichkeit ganz dem Prinzip der subjektiven Innerlichkeit unterworfen: die Kunst geht „zum Humor, zum Verrücken alles Substantiellen durch eine subjektive Ansicht über" (Hotho 1823. Ms. 186). Damit verliert die Kunst die Möglichkeit, die Wahrheit über die Welt und Welterfahrung, also eine allgemein vollziehbare „Weltanschauung", zu vermitteln. Nach Hegel kann erst die Philosophie die getrennten Sphären

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wieder vermitteln, weil erst sie die Substantialität des Seins selbst zur Idee expliziert. An den grundlegenden Kategorien, die Hegel wählt, um die Erscheinung der Idee im Kunstwerk zu charakterisieren, zeigt sich, wie eng die Bestimmung der Kunst mit der Konzeption des Systems der Philosophie zusammenhängt. Die Behauptung des Vergangenheitscharakters der Kunst wird in der Ästhetik also weder gemildert noch aufgehoben, sondern im Gegenteil entsprechend der Ausbildung und Formulierung des philosophischen Systems radikalisiert. Durch das Gegenspiel von Substantialität und Subjektivität legt Hegel die Kunst aber nicht nur „logisch" aus, sondern geschichtlich. Er bestimmt sie als Werk des denkenden Geistes, als etwas selbst Geistiges, das sich geschichtlich entwickelt. Auch diese Entwicklung legt Hegel systematisch fest, denn er konstruiert die Geschichte analog zur Entwicklung des Begriffs in der Wissenschaft. Darin liegt die Legitimation, die verschiedenen Kunstformen als geschichtliche Stufen, deren Aufeinanderfolge als Fortschritt und als notwendigen Fortgang zu bezeichnen. Wie der Begriff in der Wissenschaft, so hält auch die Kunst getrennt, was im Begriff getrennt ist, und jede Kunststufe hält einen Unterschied des Begriffs fest (vgl. Hotho 1823. Ms. 216 f). Die Kunst kann also erst in der Philosophie als das begriffen werden, was sie in der Geschichte der Entwicklung des Geistes bedeutet. Dieses Begreifenkönnen suspendiert aber für Hegel zugleich die Kunst von ihrer geschichtlichen Aufgabe, denn die spekulative Philosophie leistet dasselbe gründlicher. Damit zeigt sich in der Begründung der These vom Ende der Kunst, von der Vergangenheit ihrer geschichtlichen Bedeutung, zugleich die vollständige Abhängigkeit dieser Deutung der „Geschichtlichkeit" der Kunst von der Form des philosophischen Systems, vom Gelingen der „wissenschaftlichen Philosophie". Hier muß sich die Frage stellen, ob man die Grundlage beibehalten, nämlich den Hinweis Hegels akzeptieren kann, daß erst durch die philosophische Bestimmung die geschichtliche Bedeutung der Kunst geklärt wird, ohne daß man die Leistungsfähigkeit der Philosophie im Sinne der Hegelschen Wissenschaft der Logik mit akzeptieren muß. Für Hegel bleibt beides untrennbar. Allein schon die gängige Kritik an seiner Philosophie legt den Schritt nahe, die philosophische Klärung der geschichtlichen Bedeutung der Kunst nicht wesentlich über die Möglichkeiten der Reflexion hinaus zu erweitern, die Hegel der romantischen Kunst zuschreibt. Angesichts der Schwierigkeiten der idealistischen Philosophie reicht als be-

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gründeter Zweifel z. B. GADAMERS Überlegung hin, daß eine Konzeption der Geschichtlichkeit eher dadurch gewonnen werden kann, daß man Hegels Subjektivitätstheorie auf die ihr immanente Akzeptation der Substantialität zurückschraubt. Ob sich aus Hegels Ästhetik für eine Theorie der Geschichtlichkeit auch positiv Anhaltspunkte und evtl, gar grundlegende Einsichten ergeben, wenn man sein „logisches" Konzept der Letztbegründung aufgibt, entscheidet sich an einer Kritik der inhaltlichen Darstellung dieser systematischen Grundlage konkret in der Ästhetik. Allerdings steht ein solcher „Kunstgriff", die Unterstellung, man könne die Ästhetik nicht als durch das System der Philosophie abgefangen auslegen, Hegels ausdrücklicher Intention entgegen. Für ihn liegt die systematische Grundlage der Philosophie der Kunst so fest, daß er sie sich sogar zu Beginn der Vorlesungen schenkt und an ihre Stelle die pädagogisch unkompliziertere historische Apodeixis setzt. Dem Versuch, die Thesen der Ästhetik ohne deren systematische Grundlage zu reformulieren, widerspricht Hegels Verknüpfung von System und Geschichte. Hegel formuliert nämlich im unmittelbaren Anschluß an die kategoriale Charakteristik der Kunst (durch die Kombination der Begriffe Substantialität und Subjektivität) auch seine Geschichte der Künste. Das zeigt sich an den Argumenten für die Übergänge von einer Kunstform zur nächsthöheren. Ebenfalls zeigt es sich aber auch als die Grundlage für Hegels These, daß jedes Volk unter verschiedenen Naturbedingungen seine eigentümliche Kultur, seinen eigenen „Volksgeist" ausbildet und mithin seine eigene Kunst. Die Eigenständigkeit der Kunst liegt dabei nicht in den unterschiedlichen Mitteln und formalen Fähigkeiten, sondern in der Differenz des geistigen Prinzips, das zu neuen Gestaltungen führt. So betont Hegel angesichts der griechischen Kunst, ihr Inhalt, das Göttliche, sei nicht anthropomorphistisch genug gefaßt und finde erst im Anthropomorphismus der christlichen Religion seine Vollendung. Das führt zur Annahme einer Relationalität des Gehalts der Kunst auf jeweilige „Volksgeister", und Hegel nimmt an, daß das Auftreten einer eigenen neuen Kultur notwendig durch das Bedürfnis gekennzeichnet ist, „sich gegen den bisher allein gültigen Gehalt zu kehren" (ÄsthMt 2.234). Dadurch entsteht ein Inhalt der Kunst, der „jedesmal für ein besonderes Volk, eine besondere Zeit" charakteristisch ist. Hegels Gründe für diese Annahme gibt HOTHO in seiner eigenen Nachschrift noch nicht in diesem Zusammenhang an. Hier wird nur auf den Anthropomorphismus der griechischen Götter als der Realisierung verschiedener Pathe verwiesen (Hotho 1823. Ms. 88). Die späteren Vorlesungen entfalten aber die Einschränkungen dieser Götter-

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vor- und -darstellung durch den Hinweis, daß hier zwar der konkrete Geist eines Volkes vorgestellt würde, daß diesem aber die Tiefe des Geistes mangele. Dem griechischen Geiste ist die Darstellung der unendlichen Subjektivität, die nur durch den Fortschritt zum Beisichsein des Subjekts aus seiner substantiellen Sittlichkeit entsteht, noch nicht möglich. Auch die geschichtliche Entwicklung der Künste wird also durch die Grundbegriffe der Ästhetik auf das philosophische System festgelegt. Fortschritt wie Charakteristik der Eigentümlichkeit der jeweiligen geschichtlichen Bedeutung der Kunst werden für Hegel nur so darstellbar, daß sich eine Realphilosophie durch die Anwendung der systematisch zentralen Kategorie ergibt. Dasselbe ließe sich anhand des Gebrauchs des Dialektikbegriffes in der Ästhetik zeigen. Deshalb muß die Frage, ob sich diese Philosophiekonzeption in der Entwicklung der bekannten Berliner Vorlesungen zur Ästhetik zu einer geschichtlichen Betrachtung der Kunst mildere, verneint werden. An der nachweislichen Korrelation der Systementwicklung in der Enzyklopädie und den Vorlesungen zeigt sich, daß Hegel seine Vorstellung von wissenschaftlicher Philosophie in einer geistesgeschichtlichen Konstruktion der Entwicklung der Kunst konkretisiert, die eine Entflechtung von geschichtlicher und „wissenschaftlicher" Betrachtung erschwert, wenn nicht unmöglich macht.

2. Klassizismus und Griechenideal in der Ästhetik Versucht man dennoch, Hegels Ästhetik gegen ihr Fundament - das System des absoluten Wissens - zu lesen und auszulegen, dann wird diese Aktualisierung schwieriger als bei der üblichen Separation von System und Geschichte. Man muß nämlich nachweisen, daß Hegels Bestimmung des Ideals als Strukturierung und Deutung der Geschichte der Künste erhalten bleibt und auch ohne das systematische Fundament einen vertretbaren Sinn behält. Dazu muß aber zunächst eine weitere Schwierigkeit ausgeräumt werden: der Verdacht nämlich, daß, selbst wenn man

Vgl. Kehler 1826. Ms. 214. Hegel muß darauf hingewiesen haben, daß bei den Griechen „die höchste Weise des Bewußtseins mit der natürlichen Individualität behaftet" ist. Vgl. die Ausführungen der letzten Vorlesung, die vom Mangelhaften der griechischen Kunst reden; „Der Kunst mangelt also diese Tiefe des Geistes" (Jag. Bibi. 1828/29. Ms. 78/78a, 81a f, 87a).

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Hegels Konzeption der systematischen Philosophie aufgeben würde, nicht revidierbare Vorurteile erhalten blieben, durch die eine solche Kritik von vornherein uneffektiv werden muß. Die gemeinten Vorurteile lassen sich strukturell auf einen Nenner bringen: den Klassizismusvorwurf. Dieser Vorwurf stützt sich auf die Eigenart der Ästhetik, daß die geschichtliche Funktion der Kunst im Vollsinn an einem vergangenen „Ideal", an der Funktion der Kunst im Griechentum abgelesen wird. An diesem vergangenen Ideal mißt Hegel dann die gleichermaßen geschichtlich - nämlich aus ihren jeweiligen Eigentümlichkeiten - begriffene Rolle der Kunst vor dem im Griechentum erreichten menschenwürdigen Gottesverständnis und der dazugehörigen Gesellschaftsform und „nach" dieser Kultur, nämlich im modernen Staat. Der moderne Staat hat seine Wurzeln - die Grundlagen seiner Rechtsform - in der griechischen Polis und der Verrechtlichung ihrer Prinzipien in der römischen Welt. Er findet seine Ideologie allerdings in einer anderen als der griechischen Religion. Dadurch verliert die Kunst, je mehr Hegel die Faktizität der christlichen Religion, die er zunächst anhand eines Ideals der Religion kritisiert hatte, zur Normativität (zur Begriffsgemäßheit) hinaufläutert, ihre geschichtliche Funktion. Das Ideal, wie es am Griechentum gewonnen werden kann und muß, erscheint nicht mehr als geschichtliche Wirkweise der Kunst. Lediglich eine derivate Form von Kunst, nämlich jene Kunst, die mit ihrer Anschaulichkeit die „Andacht" fördert, bleibt relevant bzw. erhält durch die Religion jene Universalität, die ihr selbst abgeht. Im Blick auf diese Funktion des Griechenverweises läßt sich ein vertretbarer Sinn des „Klassizismus" im Kontext einer Theorie der Geschichtlichkeit und der geschichtlichen Entwicklung der Künste bei Hegel finden, zumindest von seinen Ästhetikvorlesungen her vorbereiten. Man muß allerdings auch in einem solchen Versuch mit Hegels These vom Vergangenheitscharakter der Kunst, näherhin vom Vergangenheitscharakter des Ideals schlechthin, ernstmachen. Gegen Hegel müßte sich die Möglichkeit einer solchen „strukturellen" Bestimmung der Kunst durch die philosophische Analyse der Geschichte als sinnvoll erweisen lassen, die seine These von der Kulturabhängigkeit der Wirkweise der Kunst in den Vordergrund stellt. Gegen die übliche Interpretation muß nachgewiesen werden, daß gerade im „Klassizismus", im überall manifesten Hinweis auf die griechische Kunst, die Aktualität der Hegelschen Ästhetik liegt, weil der Rückgriff auf das Griechentum das Indiz für eine geschichtliche Betrachtung der Kunst liefert und weil die Festlegung ihrer gesellschaftlich-geschichtlichen Funktion überhaupt von diesem Ansatz her

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ohne die Voraussetzung des Systems der Philosophie schlüssig durchgeführt werden könnte. Diese Möglichkeit hat Hegel bestritten. Um die genannte Annahme zu bestätigen, müssen zwei Überlegungen vorweggeschickt werden. Erstens muß der sog. „Klassizismus" der Ästhetik eindeutig bestimmt werden, es muß sich festlegen lassen, welche Bedeutung die Bestimmung der klassischen Kunstform für die ihr voraufgehende und nachfolgende der symbolischen und romantischen Kunstform hat. Zweitens muß geprüft werden, warum Hegel nach der romantischen Kunst die Geschichte der Kunst abbricht, d. h. ihren Werken zur Gegenwart und Zukunft anscheinend keine Aussagekraft und keine geschichtlich-gesellschaftliche Wirkung mehr zuerkennt. Die systematischen Argumente dafür liegen durch die Bestimmung des philosophischen Systems sowie durch die geänderte Einschätzung des Christentums und damit des Inhaltes der Kunst fest. Um sich mit dem Klassizismusvorwurf auseinanderzusetzen, muß man Hegels These vom Ende der Kunst in ihrer näher spezifizierten Version, nämlich als die These vom Vergangenheitscharakter des griechischen Ideals analysieren. Allein dadurch wird man seiner Intention gerecht, die griechische Kunst als die Manifestation des Ideals anzusehen und dennoch die Kunst nicht schlechthin auf einen klassizistischen Schönheitsbegriff festzulegen. Hegel muß es darum zu tun gewesen sein, diesen Eindruck auch schon bei seinen Studenten zu widerlegen. Zunächst verweist er nämlich ohne weitere Reflexion auf WINCKELMANN als den Autor, dem die Ästhetik das „Kriterium" verdankt, durch welches sich das „Ideale vom Natürlichen unterscheidet" (Hotho 1823. Ms. 224). Später referiert er an dieser Stelle GOETHES Skepsis, ob man die antike Dichtung als Vorbild nehmen könne, und betont letztlich sogar, daß er „das Schönheitsgesetz MEYERS und WINCKELMANNS über das Ideale" verwerfe. Hegel nimmt statt dieses „Schönheitsgesetzes" GOETHES Bestimmung auf, daß es den Alten in der Kunst um das „Bedeutende" gehe, daß dieses das Resultat der Behandlung des Schönen sei. In dieser Differenzierung muß also für Hegels eigenes Verständnis der Unterschied liegen zwischen einem Klassizismus im Sinne Vgl. dazu die Nachschrift Kehler 1826. Ms. 356. Auch die letzte Vorlesung betont noch, daß der Gegensatz des Ideals und der Natur von Winckelmann eingeführt wurde „und neuen Beginn in der Kunstkenntnis veranlaßt" hat (Jag. Bibi. 1828/29. Ms. 51). Einleitend verweist Hegel darauf, daß er sich auf die Bestimmung des Schönen bei Hirt, Meyer und Goethe stütze, erwähnt Goethes Diktum: „der höchste Grundsatz der Alten über Kunst wäre das Bedeutende, das höchste Resultat einer glücklichen Behandlung des Schönen" und verwirft Winckelmann und Meyer (Jag. Bibi. 1828/29. Ms. 11, 13).

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des ästhetischen Urteils über die Vorbildlichkeit bestimmter Künste oder Kunstentwicklungen und seiner eigenen Behauptung, im Griechentum sei das Ideal verwirklicht. Die Kritik des Klassizismus der Ästhetik, für die H. KUHNS Abhandlung auch heute noch die wesentlichen Anhaltspunkte liefert, übersieht eigentlich den Sinn dieser Differenzierung. Hegel geht es in seinem Vergangenheitsverweis darum, die Kunst anführen zu können, die vorbildlich ist hinsichtlich der Möglichkeit der Kunst, etwas „Bedeutendes" zu schaffen, nicht hinsichtlich einer „poetologischen" Orientierung, eines Kanons von Regeln zur Hervorbringung schöner Kunstgebilde. Um demgegenüber den Klassizismus der Ästhetik nachzuweisen, wird gern Hegels Diktum angeführt. Schöneres als in der klassischen Kunst gebe es gegenwärtig nicht und könne es nicht geben. Hier, so meint man, gestehe Hegel ein, daß seine Beurteilung der Kunst überhaupt und der einzelnen Kunstwerke am Muster der klassischen Kunstwerke und unter Anlehnung an seine historischen Gewährsleute WINCKELMANN und HERDER gewonnen sei. Es läßt sich aber zeigen, daß gerade in diesem scheinbar offensichtlichen „Klassizismus" der Kunstbeurteilung nicht die H. Kuhn: Die Vollendung der klassischen deutschen Ästhetik durch Hegel. Wiederabgedruckt in Kuhn: Schriften zur Ästhetik. Hrsg. v. W. Henckmann. München 1966, bes. 100 ff. Kuhn betont, daß Hegel „aus der Neubefestigung des klassischen Dogmas eine die gesamte Kunstgeschichte umspannende Ästhetik" entwickelte, und unterstellt dabei, daß der charakteristische Zug „nicht bloß des deutschen Klassizismus, sondern der künstlerischen Renaissance-Gesinnung überhaupt" bei Hegel zum Tragen komme; nämlich; „die Vollendung der Ästhetik zugleich in der Vergangenheit als ein ewiges Muster und in der Zukunft als Ziel zu sehen" (102). Beides trifft für Hegels Selbsfverständnis nicht zu. - Damit wird aber auch die automatische Vereinbarkeit von „Ende" und „Zukunft" der Kunst hinfällig (vgl. bes. 143 f). Diese Kombination findet sich z. B, in dem Aktualisierungsversuch J. Rüsens (Ästhetik und Geschichte. 30 ff) wieder. Die Vorlesungsnachschriffen von 1823 und 1826 verzeichnen diese Wendung Hegels. Hotho überliefert eingangs in der Behandlung des Ideals Hegels Bemerkung, daß die klassische Kunst in das Ideal falle, und begründet dies durch die Harmonie von Inhalt und Gestalt - also mit der Bestimmung der Schönheit (vgl. zur Definition der Schönheit Hotho 1823. Ms. 31, 43, 67). „In der klassischen Kunst ist der Begriff des Schönen realisiert; schöner kann nichts werden" (Ms. 167; vgl. dazu die Bestimmung des Ideals Ms. 33, 158). Sowohl Kehlers Nachschrift wie eine anonyme Nachschrift desselben Jahrgangs verzeichnen die Wendung „Schöneres als das Klassische kann nicht sein noch werden, da ist das Ideal" (Kehler. Ms. 247; Aachen, Ms. 135). In der letzten Vorlesung wiederholt Hegel die Wendung, muß aber wohl im Sinne seiner Weiterentwicklung der Enzyklopädie eigens hinzugefügt haben, daß es, wenn auch nichts Schöneres, so doch „Höheres" gebe. In der Edition Hothos wird daraus: „Als Kunst hat die klassische Kunst das höchste erreicht, was die Versinnlichung der Kunst zu leisten vermag, und wenn an ihr etwas mangelhaft ist, so ist es nur die Kunst selber und die Beschränktheit der Kunstphäre" (Ästh.H. 102). Hotho zieht hier konsequent die verschiedenen Argumente Hegels zusammen, die dieser aus der Kombination seiner Grundbegriffe Subsfantialität und Subjektivität herleitet.

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Erhebung der Antike über die Moderne, also der Klassizismus im gängigen Sinn einer Position in der Querelle des anciens et des modernes, gemeint ist. Sowohl Hegels metaphysische Bestimmung der Schönheit wie die damit verknüpfte Bestimmung der geschichtlichen Funktion der Kunst steht einer solchen Deutung entgegen. Vorwürfe wie der ADORNOS, Hegel unterstelle in seiner Ästhetik ein Ideal der Kunst, das ein bloß gedankliches Konstrukt sei, aber in der griechischen Kunst selbst keinen Anhaltspunkt finde, oder etwa die Behauptung BUBNERS, Hegel gehe es um „die Wiederkehr des Klassischen in der Gegenwart"^, werden in diesem Zusammenhang unsinnig. Selbst eine so reflektierte Position wie die F. SCHLEGELS, der meint, daß in einer neuen Poesie die Vollendung der Antike wieder erreicht werde, vollzieht Hegel nicht mit. SCHELLINGS Vermutung, daß es ein neues Epos der Moderne geben müsse, das unter geänderten Bedingungen dieselbe Funktion der Kunst übernimmt wie im Griechentum, lehnt er schon in Jena ab. Er zeigt stattdessen unter Berufung auf SCHILLER, daß das Griechentum als Kultur, die durch die Kunst gestiftet wird, unwiederholbar ist. Es würde seiner eigenen Einsicht in die Notwendigkeit des Fortschritts über diesen Kulturstand hinaus zuwiderlaufen, wenn das Griechentum, das man sich in der Nachaufklärung nicht zurückwünschen kann und mag - wie SCHILLER es formulierte -, nun die ästhetischen Vorbilder für die Kunst der Gegenwart lieferte. Beide Überlegungen formuliert Hegel selbst explizit, die Ablehnung des Griechentums als Lieferant ästhetischer Muster findet man u. a. in seiner Auseinandersetzung mit GOETHES Diderof-Aufsatz. Wie wenig er die KulVgl. Th. W, Adorno: Ästhetische Theorie. Hrsg. v. G. Adorno u. R. Tiedemann. Frankfurt a. M. 1970. (Gesammelte Schriften. 7.) 241; R. Bubner: Hegel und Goethe. Heidelberg 1978. (Beihefte zum Euphorion. Hrsg. v. R. Gruenter u. A. Henkel. Heft 12.) 31. Bubner unterscheidet Hegels und Goethes Position nicht, verliert damit zumindest einen von ihm selbst an anderer Stelle inkriminierten Sinn der These von der Vergangenheit der Kunst aus dem Blick. Wenn es für Hegel „keine interessante Entwicklung" der Kunst mehr geben kann, dann gilt dies auch für Goethe. Das Hegelsche Interesse an der Kunst gilt nämlich primär der geschichtlichen Funktion, und hier kann weder eine Goethebüste, die Goethe als griechischen Gott darstellt, noch Goethes Dichtung selbst die Wiederkehr des Klassischen bedeuten. Für Hegel besteht der Unterschied in der Vereinzelung der modernen Subjektivität gegenüber der griechischen substantiellen Sittlichkeit. Diesen Unterschied betont er sowohl bei der Charakteristik der Büste von Rauch durch den Hinweis auf das Portraitartige wie bei der Dichtung Goethes. Bubners Konstruktion, daß eine Kenntnis der Faust-Fortsetzung Hegel die Anerkennung abgenötigt haben würde, hier eine philosophische Kunst der Gegenwart zu sehen, und ihn damit zur Aufgabe seiner These vom Ende der Kunst gezwungen hätte, verkennt die Bedeutung dieser These. Vgl. ebd. 34 f; Bubner lehnt sich hier an D. Henrich (Kunst und Kunstphilosophie in der Gegenwart) an. Zur Kritik vgl. HegelStudien. 18 (1983), 28 ff.

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turfunktion der Kunst in Antike und Moderne für vergleichbar hält, wird an seiner Deutung des Griechentums als Vorbild deutlich. Was Hegel mit dem Hinweis auf GOETHES Bestimmung der Größe der griechischen Kunst meint, wie wenig er sich GOETHES Beurteilung, klassisch sei das „Gesunde, romantisch das Kranke", anschließt, zeigt Hegels Erwähnung der GoETHEschen Übersetzung und Kommentierung von Diderots Versuch über die Malerei. ^ Für Hegels Bestimmung der Malerei hat dieser Aufsatz eine Schlüsselfunktion, denn seine eigenen Überlegungen zur Funktion der Kunst erinnern an die Argumente, die GOETHE gegen DIDEROT in der Bestimmung der Malerei geltend macht. Hegel verweist in den Ästhetikvorlesungen auf DIDEROT, spielt aber eigentlich auf GOETHES DiDEROT-Kritik an. Dabei übernimmt er (wie GOETHE) DIDEROTS Polemik gegen den Akademismus, die Charakteristik des Inkarnats und der Harmonie der Farben, aber er stützt sich dabei auf eine Quelle, die DIDEROTS Theorie in der Tendenz entgegenstehf. GOETHE entwickelt nämlich anhand dieser Überlegungen seine Vorstellung des Ideals. SCHILLER und GOETHE stimmten in ihrer DiDEROT-Begeisterung darin überein, daß die Forderung der unbedingten Naturnachahmung nicht zu übernehmen sei, sondern daß an die Stelle dieser Forderung eine differenziertere Theorie zu treten habe, in der festgelegt werden könne, was von der Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen kunstwürdig sei. Wenn GOETHE im Zuge der Entwicklung seiner Farbenlehre - also zu späterem Zeitpunkt - besonders betont, daß es nicht angehe, ein Naturphänomen selbst, ohne Rücksicht auf die Organisation, die sich in ihm offenbare, zur Grundlage der Farbtheorie zu machen, so kann Hegel diese Überlegungen aufgreifen. Es geht nicht um die Naturgesetze, die auch der Kunst zugrundeliegen, sondern um die Gesetze der geistigen Verarbeitung der Naturerscheinung. Die Polemik gegen NEWTON wie gegen die „Regenbogentheorie" gewisser französischer Maler^^ bedeufet also, „daß eine Erweiterung der Nachahmungstheorie nötig ist. Auch hier stimmt Hegel mit GOETHE überein. Maximen und Reflexionen. Nr. 863, 865, 867; dazu R. Bubner: Hegel und Goethe. 30; zum folgenden /. W. v. Goethe: Diderots Versuch über die Malerei. In: Goethes Werke. Bd 29. Hrsg. V. H. Düntzer. Stuttgart (1892). (Deutsche National-Literatur. Hrsg. v. J. Kürschner. Bd 110.) 211-276, Vgl. dazu Goethe: Diderot. 262 f. Goethe lehnt es ab, die Totalität der Phänomene aus einem selbst beschränkten Phänomen zu erklären. Diderot hatte die Totalität der Farben durch den Regenbogen erklärt: „Der Regenbogen ist in der Malerei, was der Grundbaß in der Musik." Hegel folgt hier generell Goethes Argumenten (in der Farbenlehre).

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denn diese Erweitemng liegt in GOETHES „Klassizismus". Die Vorteile der Kunst vor der Natur liegen darin, daß die Kunst die Natur nach ihrer höchsten Möglichkeit aufgreift und fixiert. Kunst kann in der Gestalt den Augenblick, in dem der Mensch „der höchsten Schönheit fähig ist", perpetuieren; sie wetteifert nicht mit der Natur, sondern „fixiert die höchsten Momente dieser oberflächlichen Erscheinungen, indem sie das Gesetzliche darin anerkennt, die Vollkommenheit der zweckmäßigen Proportion, den Gipfel der Schönheit, die Würde der Bedeutung, die Höhe der Leidenschaft" (Goethe: Diderot. 236, 230). Hier findet sich Hegels ästhetische Grundthese, daß es nicht um die Schönheit der Natur, sondern um die des Kunstwerks als eines aus dem Geiste geschaffenen Werkes gehe. Ebenso wird aber in diesen Überlegungen GOETHES Klassizismus manifest, denn die Auslegung der KANTischen Ästhetik, daß das Genie nicht die Natur nachahme, sondern in seinem Schaffen „der" Natur nachahme, liegt als eine mögliche Deutung des Klassizismus zugrunde. Wie für die schöne Kunst der Griechen, so gilt es auch für die Malerei, daß der Künstler - will er die zweite, „aus dem Geiste geborene" Natur darstellen - nach Regeln handelt, die der Natur nicht widersprechen, sondern sie für den Menschen erfahrbar machen. „Die Natur scheint um ihrer selbst willen zu wirken; der Künstler wirkt als Mensch um des Menschen willen ... und so giebt der Künstler, dankbar gegen die Natur, die auch ihn hervorbrachte, ihr eine zweite Natur, aber eine gefühlte, gedachte, eine menschlich vollendete zurück" (ebd. 230 f). Die Gesetze, die der Künstler hierbei beachtet, sind nicht die der Natur, sondern die einer vollzogenen Natur, die der Anschauung „eines bedeutenden Ganzen" (228). Nicht nur der Sache nach ähnlich, auch in gleichlautenden Formulierungen bestimmt Hegel die Funktion der Kunst. Da er sich zudem selbst

Vgl. dazu A. Gethmann-Siefert: Die systematische Ästhetik und das Problem der Geschichtlichkeit der Kunst. In: Zeitschrift für katholische Theologie. 102 (1980). Heft 2, bes. 176 f; 178 f Anm. 28 ff. Goethes Farbenlehre wird in der späteren Entwicklung der Malerei als Hinweis auf die Möglichkeit einer Erkenntnis der Natur durch die Kunst aufgegriffen und weiterentwickelt. Die Poetiken Gottscheds, Bodmers und Breitingers bestimmen die Nachahmung der Natur in dem Sinn, daß man (sc. das Genie) „der" Natur nachahme. Dadurch ist die Einheit von (schöner) Gestaltung, Tätigkeit des poetischen Nachahmens aus der schöpferischen Einbildungskraft und Wahrheit gewährleistet. E. Cassirer {Freiheit und Form. 2. Aufl. Berlin 1918. 320) setzt Goethes Überlegungen mit denen Schillers und Hegels gleich. Parallelen lassen sich aber lediglich in der Bestimmung der Nachahmung der Natur finden, die auch Hegel als „Idealisieren" umschreibt, nicht in der Ausweitung des Ideals auf alle geschichtlichen Situationen der Kunst. Vgl. dazu Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd 1. 174.

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auf GOETHES Bestimmung des Bedeutsamen beruft, scheint damit der Klassizismus seiner eigenen Ästhetik erwiesen. GOETHES Bestimmung der Nachahmung der Natur (als Wiedergabe der Natur, wie sie geistig erfahren wird), seine Theorie des Genies als Vermögen der Regeln und der Synthetisierung, Harmonisierung der Mannigfaltikeit zur neuen Qualität einer Gestalt, seine Bestimmung des Resultats, der Kunst als einer zweiten Natur - dies alles entwickelt Hegel in seiner Ästhetik ebenfalls. Bei ihm wird es zur Grundlage einer Geschichte und Kritik (im KANTischen Sinne von Unterscheiden des Notwendigen und Beiläufigen) der Werke der Künste. Dennoch trennt ein gravierender Unterschied Hegel von GOETHE: Hegel kann im einzelnen GOETHES Argumente für die Bestimmung der Künste akzeptieren. Er greift bei ästhetikimmanenten Problemen wie dem der Nachahmungstheorie auf diese Bestimmung des Ideals zurück, aber er gibt der Funktion der Kunst selbst eine weitere Bestimmung. Denn in der durch die Kunst vermittelten Gestalt - besonders der Naturgestalt des griechischen Gottes - vermittelt sich nicht allein die Natur, wie sie nach ihrer höchsten Möglichkeit erscheinen kann, sondern es erscheint hier eine zweite Natur nicht nur der gegebenen Phänomene, sondern der Menschen selbst. Der Begriff des Geistigen hat bei Hegel von Anfang an eine Dimension, die über GOETHES Bestimmung des „Bedeutenden" hinausführt. Dies begründet die Ästhetik durch ihre metaphysische Grundlage; durch die These, daß die Kunst Wahrheit durch Schönheit vermittele und durch die Bestimmung des Werks. Der Unterschied zwischen einer klassizistischen Kunstauffassung, die Hegel schätzt, und seiner eigenen Ästhetik ist die durch die „wissenschaftliche" Philosophie begründete Geschichtskonzeption. Auch für GOETHE bilden sich die „Regeln" der Kunst im Wirken der Künstler, einer Nation, aber durch Beispiel und Lehre. So ist es für ihn keine Frage „auf welchem Raum der Erde, unter welcher Nation, zu welcher Zeit man diese Regeln entdeckt und befolgt habe" {Goethe: Diderot. 231). Die Übertragbarkeit der Regeln der schönen Kunst auf eine andere geschichtliche Situation wird aber bei SCHILLER und im Anschluß an ihn bei Hegel gerade zum experimentum crucis. Nur wenn sich die gleiche geschichtliche Funktion der Kunst im Zusammenhang einer Gemeinschaft unter geänderten Bedingungen feststellen läßt, hat es einen Sinn, das griechische Vorbild aufrechtzuerhalten, es zur „Zukunft" der Moderne zu erheben. Der Vorbildcharakter des Griechentums gewinnt dadurch einen fundamental anderen, einen zur Bestimmung der Funktion der Kunst in der

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Geschichte überhaupt erweiterten Sinn. Die „zweite Natur", die die Kunst stiftet, ist nämlich nicht die bessere „Natur" selbst, sondern der Entwurf der menschlichen Natur auf ihre beste Möglichkeit, auf die Realisation der Vernunftprinzipien. Das gilt für SCHILLERS Versuch, die Harmonie von Natur und Kultur im Griechentum zu prüfen, sie zur „elysischen Idylle" zu erheben; das gilt in verstärktem Maße für Hegels Bestimmung des Vorbildcharakters des Griechentums. Gerade an der Weise, wie für Hegel das Griechentum zum Vorbild wird, zeigt sich, daß der Klassizismusvorwurf unhaltbar ist. Das Griechentum gilt als Vorbild hinsichtlich der Einheit des weltgeschichtlichen Handelns und der Kunst. Erst aus der Harmonie von Vermittlung der Sittlichkeit eines Volkes, Erwirken der Tradition wie der Institutionen, die zur Erhaltung dieser Sittlichkeit die Bedingung sind, und Religion, Gottesvorstellung, zeigt sich das Werk (die Gestalt des Gottes) als das „Schönste", was sein und werden kann. Hegel leitet das ästhetische Urteil also eindeutig aus einem geschichtsphilosophischen ab. Daher wiederholt Hegel im wesentlichen seine frühen Bestimmungen des Griechentums und exemplifiziert sie an der Gestalt des griechischen Gottes. Dort erscheint „das Substantielle" der menschlichen Handlung, hier werden die Mächte, die die Sittlichkeit aller regieren, gestaltet (Hotho 1823. Ms. 88). Die Kunst, deren Inhalt die ästhetisch und mythologisch konkretisierte Idee ausmacht, entdeckt dem Menschen in den Göttern die „glückliche Mitte der selbstbewußten subjektiven Freiheit und der sittlichen Substanz", und zwar in einer Einheit von Politie und subjektiver Moralität (Äst/z.idi 2.15). In den Vorlesungsnachschriften findet sich diese Zusammenfassung eher in dem Sinn, den die Jenaer Überlegungen zum Übergang von der Naturmythologie zur geistigen Mythologie entwickeln. Im griechischen Gott sind die Mächte gestaltet, „welche das Substantielle der Individualität" {Hotho 1823. Ms. 88) ausmachen. Diese Mächte regieren die Handlungen des Menschen und bilden den Stoff für die alten Götter. Im Kampf der alten mit den neuen Göttern wird „naiv erzählt", was die philosophische Geschichtsbetrachtung als den notwendigen Konflikt sittlicher Orientierungen zu analysieren hat.^^ Naiv-unmittelbar sind

Die Vorlesungen verknüpfen diese Stelle mit den Hinweis auf Creuzer. Hier wird der Übergang von der Natur- zur geistigen Mythologie beschrieben: „Tradition und Umbildung" der Götter älterer Kulturen hat die neuen Götter, die „Werke der bewußten und besonnenen Künstler", hervorgerufen {Kehler 1826. Ms. 226), die in der Kunst den Geist des griechischen Volkes ausdrücken. Vgl. dazu Einleitung in die Geschichte der Philosophie. 202 f. -

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die Götter aus der Innerlichkeit des Menschen geschöpft und stellen den Geist eines Volkes in seiner geschichtlichen Entwicklung dar. „Das griechische Volk hat seinen Göttern seinen eigenen Geist zur Vorstellung gebracht"; und der „Charakter der griechischen Götter entspricht dem Charakter des griechischen Volkes; es ist freye Geistigkeit (Individualität)".^^ Die „Sittlichkeit hat noch die substantielle Weise, sie ist noch nicht in den späteren Gegensatz auseinandergetreten von einer bloß subjektiven religiösen, bürgerlichen Freiheit der Individuen" zur allgemeinen „politischen Freiheit ... sondern Freiheit in ihrer Allgemeinheit ist mit der persönlichen Individualität identisch". Die Funktion der Kunst entspricht damit auch in der Ästhetik noch der programmatischen Forderung des „ältesten Systemprogramms". Kunst stiftet mit der Religion eine Sittlichkeit aller und darin zugleich eine geordnete Polis. So hat das „griechische Volk in seinen Göttern seinen eigenen Geist zur Vorstellung gebracht" und in Kunst und Religion ein „sinnlich anschauendes Bewußtsein" (Kehler 1826. Ms. 213) seiner selbst gewonnen. Dadurch wird die griechische Kunst dann zum Ideal, denn die Kulturfunktion der Kunst erreicht hier ihre Vollkommenheit. HOTHO spricht in seiner Druck-Bearbeitung der Vorlesungen von einem „Historisch"-Werden des Ideals, der „historischen Verwirklichung des Klassischen" (Ästh.^dl 2.15). Für Hegel selbst läßt sich der Gebrauch dieser Wendung nicht nach weisen. Eine Differenzierung zwischen dem Begriff einer Sache und der historischen Realität legt sich aber in Formulierungen wie der folgenden nahe: „Der große Geist der Griechen war es, den Standpunkt, wie ihn der Begriff aufstellt, ergriffen zu haben und rein und keusch diesem Begriff gemäß ihre Werke gebildet zu haben" (Hotho 1823. Ms. 217).^ Hier erhebt sich natürlich der Verdacht, daß Hegel seinen Begriff der Kunst Hothos Nachschrift erwähnt Creuzer in diesem Zusammenhang auch und zwar in dem Sinn, den die Einleitung in die Geschichte der Philosophie weiter entfaltet. Es geht um die Kritik, Creuzer habe die neuplatonische Deutung der Mythologie übernommen. Aachen 1826. Ms. 123 f; Kehler 1826. Ms. 213 f bringt dieselbe Formulierung umgekehrt; „Der Geist des griechischen Volkes entspricht dem Charakter des griechischen Gottes"; die Fortsetzung des Zitats im Text findet sich bei Kehler 1826. ebd. und wird fast gleichlautend auch in der anderen Nachschrift tradiert. - Flotho bestimmt zwar auch die Weltanschauung (die Religion) eines Volkes als den Volksgeist. Dieser ist der Inhalt der griechischen Kunst, der vom Künstler als das allgemeine Gut der Kultur nur „formell vorstellig macht" wird (vgl. Hotho 1823. Ms. 190 f). In dieser Differenzierung deutet sich aber schon die spätere Umarbeitung der Enzyklopädie und die Trennung der nachklassischen Kunst von Religion und Staat an. ^ Die Vorlesungen von 1826 sprechen auch von einer „Realisation des Begriffs der Kunst". Marburger Bibi. 1826 bs. 43a; indirekt auch Kehler 1826. Ms. 213, 228.

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doch unabhängig von der Geschichte und vor aller Historizität konstruiert hat. Hegel selbst konnte darin kein Problem sehen. Man muß aber auch nicht unbedingt annehmen, daß sich in dieser Formulierung ein „Klassizismus" manifestiere. Denn Hegel gewinnt umgekehrt auch seinen „Begriff" der Kunst aus der Bestimmung ihrer geschichtlichen Funktion^®, und es gibt Sinn, diese geschichtliche Funktion von der historischen Konkretion zu unterscheiden. Daß Hegel Begriff und Realität der Kunst unterscheidet, zeigt sich an der Konstruktion der Kunstformen, zeigt sich besonders am Übergang von der klassischen zur romantischen Kunstform. Denn hier wird die Einschätzung des Griechentums als Verwirklichung des Ideals zugleich benutzt, um den Vergangenheitscharakter dieser „Realisierung" des Begriffs zu betonen. Auch hier greift Hegel nicht zu (im engeren Sinn) ästhetischen, sondern zu geschichtsphilosophischen, näherhin geistphilosophischen Argumenten, die den notwendigen Fortgang der Verwirklichung von Vernunft und Freiheit von der griechischen zu einer höheren Stufe der Vernunftkultur einsichtig machen sollen. Hegel begründet nämlich seine Behauptung, daß das „Ideal" nicht mehr lebendig sei, nicht im Vergleich der Künste und Kunstwerke miteinander, sondern im Vergleich ihrer geschichtlichen Funktion, die sich unter geänderten Bedingungen, unter einem erweiterten Bewußtsein der Freiheit wandeln muß. Die historische Distanz wird zur Krisis einer Form der geschichtlichen Verwirklichung des Geistes überhaupt. Denn die (griechische) Kunst, die den Begriff der Kunst realisiert, erweist sich außerstande, die Weise des Bewußtseins zu stiften, wie sie die Moderne als Bedürfnis der Vernunft, als Bedürfnis einer umfassenden Explikation auch der Mythologie zu artikulieren vermag. Deshalb wird auch in der Ästhetik die Wertschätzung des Griechentums jeweils durch den Hinweis auf die unumgängliche Distanzierung von dieser Weise der Vermittlung von Vernunft und Freiheit flankiert. „In der klassischen Kunst ist der Begriff des Schönen realisiert; schöner kann nichts werden. Aber das Reich des Schönen selbst ist für

Auch in der Bestimmung der Kunst als „Wahrheit", als geschichtliches Werk zeigt sich, daß in der Verwendung dieses philosophischen Begriffs als Kriterium für die Kunst nicht ein Klassizismus im Sinne der ästhetischen Werturteile gemeint sein muß. Hegel entwickelt auch die Bestimmung der „Wahrheit" der Kunst, ihren „Werk"-Charakter, analog zu seinen frühen programmatischen Überlegungen und modifiziert sie in der „Anwendung" auf die Geschichte zu den strukturellen Verschiedenheiten der drei Kunstformen. Vgl. dazu A. Gethmann-Siefert: Die geschichtliche Funktion der „Mythologie der Vernunft" und die Bestimmung des Kunstwerks in der Ästhetik, (s. o. Anm. 3).

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sich noch unvollkommen, weil der freie Begriff nur sinnlich in ihm vorhanden, und keine geistige Realität in sich selbst hat. Diese Unangemessenheit fordert vom Geist, sie aufzuheben und in sich selbst zu leben." (Hotho 1823. Ms. 167) Bei identischer Deutung der Funktion der Götter und der Kunst im Griechentum nimmt Hegel also in der späten Konzeption gegenüber der ersten des „Systemprogramms" einen Teil der Vorbildfunktion des Griechentums zurück, nämlich den utopischen Charakter, die Zukunftsorientierung, die der Kunst hinsichtlich ihrer Funktion im Staat aus der Analyse ihrer analogen Rolle in der antiken Polis zukommen sollte. Hegel gibt dafür denselben Grund an wie vor ihm SCHILLER, nämlich den, daß die Weise der Vermittlung geschichtlichen Selbstbewußtseins durch die Kunst der aufgeklärten Vernunft unangemessen sei. Hatte Hegel dies in der Entwicklung seines philosophischen Systems berücksichtigt, so findet er nun in der Beurteilung der Kunst selbst die dazugehörenden inhaltlichen Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer Umwertung des Griechentums, nicht was seine ästhetische, wohl aber was seine Orientierungsfunktion anbetrifft (vgl. dazu Hotho 1823. Ms. 190 f). Grundsätzlich bleibt aber die Perspektive der Frage nach dem „schönen Griechentum" identisch, es geht um die geschichtliche Funktion der Kunst - nun bestimmt unter Berücksichtigung der prinzipiellen Verschiedenheit geschichtlicher Kulturen. Hegel erörtert dies in den Vorlesungen zur Ästhetik an einer Kategorie, die er auch schon in den ersten Überlegungen als zentral für die Bestimmung der geschichtlichen Funktion der Kunst benutzte: an der Versöhnung. Ein wesentliches Moment dieser Versöhnung kann in der griechischen Kunst nicht vermittelt werden, wird aber für die frühe Bestimmung herangezogen. Die Liebe, die den Nerv der „schönen Religion" ausmacht, sofern sie als Alternative zur bestehenden Religion erscheint, findet in der griechischen Religion und konsequent in der Kunst, die diese Religion stiftet, kein Vorbild. Dennoch liegt in dieser Konkretion der Versöhnung das für die Moderne wesentliche Moment. Liebe, Leben im Anderen, soll zur Grundlage der Gemeinschaft und des durch die Vernunft gesicherten institutionellen Zusammenlebens werden. Hegel rückt in den entsprechenden Teilen seines Systems der Philosophie von diesen frühen Überlegungen im Kontext der Religionskritik ab, d. h. er bestimmt Religion und Staat in den dazugehörigen Realphilosophien neu. In der Ästhetik findet sich ein vorderhand unscheinbarer Reflex dieses „Fortschritts" zum System des absoluten Wissens, der aber die Modifikation widerspie-

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gelt. Schon die vor-institutionelle Vermittlung von Gottes- und Gemeinschafts Vollzug, die Liebe, findet sich im Griechentum nicht. Sie kann aufgrund der Sittlichkeit des Volkes, die durch die griechischen „schönen" Götter vermittelt wird, nicht intendiert sein, kann folglich in der Religion wie in der Kunst der Antike keine Rolle spielen. Denn die idealen Gestalten, die die Vermittlung übernehmen sollten, lassen gerade die Bestimmung vermissen, die das geschichtliche Individuum der Moderne kennzeichnet: die Innigkeit des geistigen Selbstbewußtseins. Hegel kann so der uneingeschränkten Anerkennung der Schönheit, welche durch nichts übertroffen werden soll, die Kritik anfügen: Das „klassische Ideal ist kalt" (Hotho 1823. Ms. 173), ihm fehlt die Lebendigkeit der Vermittlung. Der griechische Gott vollendet sich ganz in sich, lebt in der „Seligkeit seiner Abgeschlossenheit", während sich im romantischen Ideal - gemäß SCHILLERS Bestimmung der in einer Reflexionskultur entstandenen und wirksamen Kunst - das „Verhältnis zu anderem Geistigen" ausdrücken kann. Hier wird das Leben in einem Anderen als das „Verhältnis der Liebe" {Hotho ebd.) entfaltet. Dieses Verhältnis, das in den frühen Überlegungen als Grundlage der Versöhnung angesetzt wurde, findet seine Realisierung erst in einer Kunstform, die über das klassische griechische Ideal hinausweist. Erst das Bewußtsein der Innerlichkeit und deren Selbständigkeit gegen die Gestalt, in der sie erscheint, erhebt die nur substantielle Freiheit des griechischen Gottes und damit des griechischen Volksgeistes zum Selbstbewußtsein des modernen Individuums. Bei aller Kritik, die Hegel gegen die Absolutsetzung dieser subjektiven Innerlichkeit vorbringt, bleibt ihm der Fortschritt notwendig. So spricht er dem griechischen Vorbild weder die Möglichkeit ab, die schönsten Gestalten der Kunst hervorzubringen, noch gibt er die damit notwendig zusammenhängende Vorbildlichkeit der durch die Kunst gestifteten Polis auf. Wohl wird aber die Weise der Vermittlung in Zweifel gezogen; begründet durch Hegels kategoriale Umschreibung der verschiedenen Möglichkeiten von Geistigkeit. Hegel geht in den Überlegungen der Ästhetik allerdings noch einen Schritt über sein Vorbild SCHILLER hinaus. Es geht nicht an, von einer Kunst, die allenfalls in unendlichem Progreß das Ideal der griechischen auf dem Boden der Reflexionskultur wieder zu erreichen sucht, die Vollendung und Versöhnung der antagonistischen Kräfte gesellschaftlicher Selbstrealisation zu erwarten. Dieselbe Skepsis, die durch die Ablehnung der Weise der Versöhnung zur Überwindung des griechischen Ideals nötigt, fordert in der Auseinandersetzung mit der romantischen Kunst die

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Aufgabe des Mediums Kunst als zureichender Vermittlung geschichtlicher Vernunft überhaupt. Denn für die gegenwärtige romantische Kunst gilt Hegel eben der Vorbehalt, der sich in seiner frühen skeptischen Überlegung andeutete, ob die Kunst nicht bloßer „Traum" einer vergangenen Vollendung sei. SCHILLER wendete gegen die Idylle ein, daß hier nur eine unzureichende Vermittlung; die theoretisch nach rückwärts, praktisch aber nach vorwärts orientierte Darstellung einer möglichen harmonischen Vollendung des Menschseins geleistet sei. Diese Überlegungen wählt Hegel zum Modell seiner Kritik der Romantik. Der romantischen Kunst überhaupt kann zugestanden werden, daß sie durch ihren Inhalt, die geoffenbarte Religion, die Vernunftbasis erreicht, die der griechischen Kunst nur anschaulich erschlossen war. Da die Kunst mit dieser Religion aber einen Inhalt übernimmt, der ihre formale Vermittlungsmöglichkeit sprengt, ergibt sich zweierlei: zunächst die systematische Forderung einer geeigneten Vermittlung, dann aber die endgültige Ablehnung der modernen Kunst, wo sie als Kunst diese Vermittlungsfunktion übernehmen will. Hegel demonstriert das in seiner Kritik der Romantik, die die Überlegungen der Jenaer Schriften wiederholt. Die romantische Kunst erzeugt in dem Versuch, den fehlenden substantiellen Gehalt durch jeweils neue subjektive Weltentwürfe zu erreichen und die Versöhnung von Subjektivität und Substantialität in einer (Phantasie-) Welt zu manifestieren, jene schlechte ünendlichkeit eines perpetuierten, aber nicht zum Ziel kommenden Versöhnungsprozesses. Deren letzte Auswirkung zeigt sich in der zeitgenössischen Romantik als der Verzicht auf Substantialität überhaupt, als Weltverlust einer sehnsüchtelnden Empfindung - für Hegel die endgültige Konsequenz einer unzureichenden Möglichkeit und eines leerlaufenden Versuchs angesichts notwendig gesetzter Zwecke (sc. der Realisierung der Vernunft).^ Hegels Kritik der Romantik hat O. Pöggeler in seiner gleichnamigen Arbeit interpretiert. Interessant ist im Kontext der Ästhetik, daß Hegel hier die Vorformen der Romantik, besonders den „weltlichen" Kreis der mittelalterlichen Epen in Absetzung vom griechischen Epos behandelt. Während die griechischen Heroen einen Staat durch die Vorbildlichkeit und Nachahmung ihres Handelns (durch dessen kultisch-mythologische Tradition und Repräsentation in Kunst und religiösem Fest) stiften, gelten die Vasallen des Mittelalters als nur bedingt frei (sc. frei nur in der Verweigerung der Gefolgschaftstreue). In der Verfallsform des Rittertums zeigt sich - im Beispiel des von der Romantik zum Programm des Weltverhältnisses hochstilisierten Don Quichotte -, daß diese Individuen zu einem Handeln fortgehen, das keine realen weltlichen Zwecke mehr hat, sondern ausgedachte Zwecke in einer imaginierten Welt realisiert. - Hegel kritisiert die Partikularität der Subjektivität aber auch

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Die nähere Analyse des Vorbildcharakters der griechischen Kunst zeigt also, daß der „Klassizismus" des Kunsturteils allenfalls ein beiherspielendes Phänomen sein kann, das zudem - analysiert man den Zusammenhang - nicht unbedingt im geläufigen Sinn gedeutet werden muß. So spricht Hegel ohne Zweifel von den schönen Werken der griechischen Kunst, von den Göttergestalten, die als schöne Gestalten die höchste Möglichkeit des Menschen (zum anschaulichen Ausdruck, zur Realität des Göttlichen zu werden) ausmachen. Die Begründung, warum dies aber „schöner" ist als alles andere, fällt nicht in den ästhetischen Vergleich. Denn Hegel kann beispielsweise auch die Malerei der Holländer als formal vollendet akzeptieren oder die Dichtung GOETHES. Mit der Kennzeichnung „schön" müßte also hier mehr, dem bloß ästhetischen Kriterium Übergeordnetes gemeint sein. Das ist in der Tat der Fall, denn Hegels Bestimmung des Ideals, die anschauliche Existenz, das Dasein der Idee zu sein, legt die „Schönheit" der Phänomene, die als Kunst auftreten, so fest, daß sie sich aus der Fähigkeit und der hinreichenden Universalität der Vermittlung dieser „Idee" ergibt. „Schönheit" ist die Charakteristik der Erfüllung der geschichtlichen Funktion, sc. der Wahrheitsvermittlung. Eine weitere Bestätigung dieser These liegt in Hegels Charakteristik der Gehaltsästhetik bzw. in dem geschichtlichen Sinn, den er der Identität von Form und Gehalt zumißt. Verschiedene Völker und Zeiten bringen Kunstwerke hervor, die untereinander nicht verglichen, aneinander nicht gemessen werden können, weil sie je eigentümliche Synthesen von Form und Gehalt darstellen. So gibt es „nicht nur eine klassische Form, sondern auch einen klassischen Inhalt"; und trotz der Vergleichbarkeit mancher formeller Ähnlichkeiten „bleibt der Unterschied des Gehalts und hiemit das Substanzielle und das Interesse der Vernunft, das schlechthin auf das Bewußtsein des Freiheitsbegriffs und dessen Ausprägung in den Individuen geht" {Phil, der Weltgeschichte. Bdl. 174). Dadurch hat jede Kunst ihre Zeit und ihr Volk, und ihre Bedeutung kann nur in der Ästhetik, in der Reflexion vermittelt werden. Dies ist das eindeutigste Argument gegen den Klassizismusvorwurf; es ist zudem Hegels eigenes Argument. Ein ästhetisches Werturteil, mithin auch ein „Klassizismus", verliert unter dieser Prämisse jeglichen Anhaltsan Jean Paul, Kotzebue, Iffland, selbst an Goethe und Schiller (vgl. Hotho 1823. Ms. 189, 106). Diese haben „Szenen der gewöhnlichen Verhältnisse" in die Kunst eingeführt und zeigen damit die Subjektivität in ihrer bloß partikularen nicht ihrer geistigen Bedeutung {Hotho 1823. Ms. 187).

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punkt. Das wertende und vergleichende Urteil lebt nämlich von der Nivellierung der Epochen- und Kulturdifferenz, die für die Gehaltsästhetik die wesentliche Grundlage bildeten.

3. Hegels Position in der „Querelle des anciens et des modernes" Da Hegel trotzdem vom „Vorbildcharakter" des „schönen" Griechentums ausgeht und diese Konzentration der philosophischen Frage nach der Kunst auf eine Vollendung in der Vergangenheit für gerechtfertigt ansieht, bleibt zu fragen, wie sich der genaue Sinn dieses Vorbildcharakters festlegen läßt. Wenn dadurch nicht - wie es der Klassizismusvorwurf unterstellt - die unvoreingenommene Betrachtung des geschichtlichen Phänomens ausgeschlossen wird, so muß dennoch Hegels Behauptung eigens gerechtfertigt werden, daß sich durch den Blick auf die Funktion der Kunst im Griechentum das Optimum ihrer geschichtlichen Möglichkeit erschließt, von diesem her wiederum der geistesgeschichtliche Sinn des gesamten Phänomens. Die griechischen Kunstwerke sind „schön", Schönheit ist in ihnen zugleich Charakteristikum ihrer geschichtlichen Wahrheit, weil im schönen Götterbild der Skulptur geschichtlich erfahrbare Wahrheit und Medium der Vermittlung konvergieren. Hegels Position in der Querelle der Antiken und Modernen ist demnach auch durch eine Eigentümlichkeit gekennzeichnet, die sich aus der Genese der Ästhetik erklärt. Es geht nicht um die Gegenläufigkeit ästhetischer Beurteilungen, sondern es geht um die Bestimmung der Funktion der Kunst im Kontext verschiedener geschichtlicher Kulturen, die verschieden ausfällt je nach „Situation". Die kulturelle Funktion der Kunst kann entweder die umfassende Weise der Weltorientierung sein oder eine unter andern. Für die Antike behauptet Hegel durch die Qualifikation der Werke als „schön", hier liefere die Kunst die einzige und für die geschichtliche Situation umfassende Weltorientierung. Die antike Kultur wird durch die geschichtliche Wirkung der Kunst gestiftet. Demgegenüber führt die moderne Welt durch die Unbedingtheit der sie konstitutierenden Rationalitätsforderung das Bedürfnis nach Vernunft über die kulturelle Leistungsfähigkeit der Kunst hinaus, und man muß sich nach anderen Medien umsehen, die die gleiche Funktion unter geänderten Bedingungen übernehmen. Für das Verhältnis von Antike und Moderne in der Bestimmung der Ästhetik gilt deshalb: Hinsichtlich der Universalität der geschichtlichen Funktion ist die

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antike Kunst der modernen überlegen, hinsichtlich der Wahrheitserfahrung aber umgekehrt die moderne der antiken. So gilt die Antike im Blick auf die relevanten Kulturphänomene hinsichtlich der Geschlossenheit ihres Entwurfes als Vorbild, die Erreichung desselben Ziels kann aber nicht mehr von der Kunst erwartet werden. Der Blick auf die Kulturfunktion der Kunst schlüsselt also die These von der unüberbietbaren Schönheit der klassischen Kunst unter verschiedenen Hinsichten auf. Hegel selbst betrachtet das Griechentum als ein Vorbild; meint damit aber nicht ein ästhetisches Vorbild, sondern eine vorbildliche kulturelle Funktion der Kunst in der Geschichte. Diese Funktion wiederum kann nicht - im Sinne einer utopischen Funktion der auf Kunst gegründeten Kultur - wiederholt werden. Die Möglichkeit, sich Griechenland zurückzuwünschen, sieht Hegel genauso wenig wie vor ihm SCHILLER und nach ihm MARX. Griechenland und seine Kunst kann „in der Erinnerung genießbar bleiben", kann nur von einer höheren Stufe aus in seiner Wahrheit reproduziert werden (MEW. Bd 18. 641 f)'. Will man Hegels Ästhetik nach dem gängigen Schema beurteilen, das H. R. JAUSS in Bezug auf SCHILLER und F. SCHLEGEL in die Debatte brachte so zeigt sich, daß man Hegels Ästhetik nicht ohne weiteres in eine solche Beurteilung einfügen kann. Wäre der Klassizismusvorwurf erhärtet, dann freilich fände sich in Hegels Ästhetik eine der möglichen Positionen in der Querelle zur Theorie erhoben: die ästhetische Überhöhung der Antike. Aus Hegels wie aus SCHILLERS Versuch, den Vorbildcharakter der antiken Kunst im Kontext der Frage nach der geschichtlichen Wirkung der „modernen" Kunst zu erörtern, ergibt sich eine differenzierte Stellungnahme in der Querelle. Das Griechentum wird als Vorbild geschätzt, kann aber weder zum Maßstab der geschichtlichen Situation noch zum ästhetischen Maßstab der Künste genommen werden. Es hat zwar dasselbe, was in der Moderne erreicht werden soll (die Selbstverwirklichung des Menschen in seiner Welt), vollendet realisiert, aber unter anderen Bedingungen und folglich mit unvergleichlichen Mitteln. Bei Hegel läßt sich diese differenzierte Position in der Querelle an drei Beispielen belegen; einmal an der Entscheidung der Frage, wieweit die Integration griechischer Stoffe in die moderH. R. Jauss: Schlegels und Schillers Replik auf die „Querelle des Anciens et des Modernes". In: Jauss: Literaturgeschichte als Provokation. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1970, 67 ff; Für Hegels Ästhetik weist z. B. H. H. Ewers (Die schöne Individualität. Zur Genesis des bürgerlichen Kunstideals. Stuttgart 1978) auf Hegel als einen Vertreter der restaurativen Hochschätzung der Antike hin; dazu Hegel-Studien. 15 (1980), 348 ff.

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ne Kunst zu deren Vollendung beitrage, dann in der Beurteilung von SCHILLERS Griechenlandgedichten und schließlich an einem Vergleich der beiden Kulturen, mit dem Hegel endgültig die Möglichkeit des „Klassizismus" (im Sinne eines ästhetischen Vorbildes und Maßstabs) ausschließt. Hegel kommt in seinen Vorlesungen auf ein Problem zurück, das schon seine frühen Überlegungen zur Poesie und Religion der Griechen erörterten. Eigentlich ohne ersichtliche Notwendigkeit fällt hier eine Bemerkung darüber, wieweit der Rückgriff auf griechische Stoffe dem Zwecke der allgemeinen Verständlichkeit wie der formalen und inhaltlichen Vollendung der Kunst dienlich sein könne. Hegel konstatiert nämlich, daß auch dem Zeitgenossen noch Griechenland als Ausgangspunkt der Kunst gilt, fügt aber an, dies gelte nur für die gebildete Welt. Der Künstler behandelt immer „Gegenstände aus einer frühen Zeit ... behandelt solche Stoffe anderer Nationen", die er in die eigene Zeit transponiert. Das gilt schon für HOMER. ES soll aber dies Geschichtliche, Äußerliche und Partikuläre so sein, daß es in den Verständnishorizont der Gegenwart transponiert ist und der Künstler nicht auf zu Entferntes verweist. Es muß gewährleistet sein, daß „wir uns auch dieses, was wesentlich ist, aneignen können" {Marb. Bibi. 1826. Ms. 22 a). Beim Übergang von klassischer zu romantischer Kunstform wiederholt sich aber die Situation nicht, die Hegel beim Übergang von der symbolischen zur klassischen Kunstform beschreibt. Nun kann die Kunst sich die ihr vorangehende Kultur nicht so einverleiben, daß sie zu ihrem Eigenen umgestaltet wird. In der griechischen Mythologie und Kunst verknüpften sich die Naturmythologie der alten orientalischen Welt und die geistige Mythologie (so Hegel in der Auseinandersetzung mit CREUZER) der Poesie in einer Einheit, die den Geist des Volkes adäquat darsteilte und ihn sich selbst vermittelte. Hinsichtlich des Griechentums in der Moderne ist ein solcher Rezeptionsprozeß bei aller Betonung der Vollendung griechischer Kultur nicht möglich. Wo man auf Griechenland zurückgreifen will und kann, da steht man auf dem Standpunkt des Wissens über eine vergangene Kultur: „Wir sind alsdann die Gelehrten, die gebildete Welt in einem gewissen ümfange, so ist z. B. Griechenland für uns, für den [sc. modernen] Künstler ein Ausgangspunkt der Kunst." Es bleibt aber der ünterschied, daß die fremde Kultur nicht mit Hilfe der Kunst für alle vermittelt werden kann. „Ein Anderes ist, daß die Kunstwerke für uns, die sich Mühe gegeben haben, ein anderes daß das Kunstwerk für das Volk, wozu auch wir gehören, genießbar sein soll" {Marb. Bibi. 1826; Ms. 22a, 23).

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Damit wird die exemplarische Funktion der griechischen Kunst, die Hegel im „Systemprogramm" erörtert hatte, für die nachaufklärerische und nachrevolutionäre Moderne endgültig zurückgenommen. Hegel exemplifiziert am Rückgriff auf ein vor seiner ScHiLLERrezeption entwikkeltes Konzept der frühen Schriften den Standpunkt, daß Griechenland, daß die Kunst in der Moderne nur noch vermittels der Reflexion als geschichtliches Phänomen verstanden werden kann. Nicht nur die Kunst der Moderne, selbst die Kunst, die zu ihrer Zeit anders wirkte, verliert für die Moderne ihren Charakter einer für alle faßlichen Weltorientierung. In dem an sich unscheinbaren Rückgriff auf eine frühe Überlegung zeigt sich so Hegels Einschätzung des Griechentums als Bildungsideal, die sich in der Entwicklung seiner Philosophie herauskristallisierte. Ein Griechenland, das nur für die gebildete Welt zugänglich ist, kann schon darum nicht zum Vorbild, kann nicht zur „Zukunft" der Moderne werden, weil es nicht in der erforderlichen Weise allgemein faßlich ist. Nur vermittels einer Bildung - für die sich freilich auch Hegel in seinem Wirken einsetzt - kann Griechenland, kann das Jünglingsalter der Menschheit als geschichtliche Gestalt des Geistes erfaßt werden. Zugleich wendet sich Hegel mit diesem Rückschritt gegen die eigenen Überlegungen, wie es möglich sein könnte, im Sinne einer durch die Kunst gestifteten Mythologie der Vernunft die griechische Welt für die Moderne wiederzubeleben. Die Wiederholung des Geschichtsprozesses, in dessen Verlauf aus einer Naturmythologie eine geistige Mythologie entstand, erscheint nicht mehr möglich. Was Hegel in seinen frühen Überlegungen im Anschluß an SCHILLER programmatisch als die geschichtliche Eunktion der Kunst entwirft, kann für die Moderne keine Bedeutung behalten. Denn die Erneuerung einer geistigen Mythologie, wie es die griechische nach ihrer höchsten Möglichkeit war, ist nicht allein darum unmöglich, weil es keine Kunst mehr gibt, die dies vermöchte. Eine Mythologie für alle zu stiften, böte selbst, wo dies gelänge, für Hegel keine zureichende Einlösung der Vernunftforderung der Moderne. Das griechische Vorbild bleibt so in doppelter Weise einzigartig und unwiederholbar. Nur die historische Reflexion kann für die Moderne das einholen, was die Kunst im Griechentum bedeutete. Die höchste Möglichkeit der Kunst sinkt auf die Relevanz des endgültig Vergangenen zurück, wo sie nur dem Verständnis der Gebildeten, nur vermittels der historischen Reflexion zugänglich bleibt. Damit wird aber auch der Klassizismusvorwurf hinfällig. Wenn Hegel eine wie auch immer geartete Erhebung der schönsten Kunstwerke über die zeitgenössischen oder mittelal-

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terlichen Werke intendiert hätte, wäre es unsinnig gewesen, am Vergangenheitscharakter des „Ideals" festzuhalten. In diesem Fall müßte Hegel die Werke selbst zwar als historisch fern, aber eben als zukunftsträchtig, als bleibendes Muster und Vorbild für die künstlerische Gestaltung, erklären. Im Kontext der geschichtsphilosophischen Argumentation wird also nicht nur durch die frühe Version einer „utopischen" Funktion des Griechentums der Klassizismus ausgeschlossen. Dasselbe unterstreicht auch die Betonung des Vergangenheitscharakters und des Bildungsstandpunktes, der allein Griechenland noch zugänglich hält. Daß die Gründe für die Änderung der systematischen Bedeutung des Griechenverweises bei Hegel eindeutig mit der Philosophiekonzeption Zusammenhängen, zeigt die gesamte Entwicklung der Ästhetik; daß diese Gründe keinem ästhetischen Vorurteil entspringen, sondern geschichtsphilosophischer Natur sind, zeigt sich im Kontext der Ästhetik an Hegels Interpretation von SCHILLERS Griechenlandgedichten. Hier gibt Hegel die sozusagen „ästhetikimmanenten" Gründe für die Unwiederholbarkeit des griechischen Vorbildes an und auch für die Notwendigkeit, dessen geschichtliche Leistung nicht durch die Kunst, sondern durch historische Reflexion zu vergegenwärtigen. Für SCHILLER und Hegel entspringen die Götter Griechenlands einem „naiven Gefühl", sind „die Geburt einer fröhlichen Einbildungskraft". Was Hegel aber zunächst der „grübelnden Vernunft" vorzog, dafür kann er unter den philosophischen Prämissen der Ästhetik mit SCHILLER keine „Zukunft" offenhalten, weil es ein bloß sinnliches Ideal ist. Während SCHILLER das „absolute Ideal, das in keiner Erfahrung kann gegeben werden und nach welchem der sentimentalische Dichter strebt", als KunstIdeal auffaßt, rückt Hegel von einer an der Antike gewonnenen formalen Bestimmung der Kulturfunktion der Kunst ab. HOTHOS Edition der Ästhetik erwähnt SCHILLERS Gedicht Das Ideal und das Leben. Hier ist zunächst wichtig, daß SCHILLERS Wort vom „Schattenreich" des Ideals in den Kontext der Bestimmung des Vergangenheitscharakters des Ideals verweist und daß prinzipiell eine Bestimmung getroffen wird, die auch für Hegels Ästhetik grundlegend ist: die Ablösung des Schönen von der Bedürftigkeit des Endlichen. 33 Diese Charakteristik des Gedichts findet sich schon in

3^ Briefwechsel zwischen Schiller und v. Humboldt. Stuttgart, Tübingen 1830. 231; das folgende ebd. - Zur Interpretation: A. Lewkcnvitz: Hegels Ästhetik im Verhältnis zu Schiller. Diss. Leipzig 1910. 43 f, 47 f; H. H. Ewers: Die schöne Individualität. 128, 120, 118. 33 „Schiller in seinem Gedichte „das Ideal und das Leben" spricht der Wirklichkeit und

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eigener Vorlesungsnachschrift von 1823. SCHILLERS Gedicht bestimmt die „Natur des Idealen überhaupt". „Das Schöne ist ein Schatten, der Geist enthoben der Endlichkeit äußerer Zufälligkeiten, der Verkrüppelungen des Daseins des Begriffs." Die Spuren solcher Einwirkungen sind verwischt. Der Apparat, den die Natur gebraucht, ist zurückgeführt bis zu der Grenze, wo er Manifestation der geistigen Freiheit sein kann, „abgeschieden die Äußerlichkeit, aber lebendig in sich, in der Bewegung eines wahrhaften Inhaltes" (Hotho 1823. Ms. 74). Diese „Natur des Idealen" wird für Hegel wie für SCHILLER nur durch den Vergangenheitscharakter des Ideals und unter der Voraussetzung, daß die Kunst selbst diesen Hiat von Leben und Schönheit thematisiert, darstellbar. SCHILLERS Gedichte entsprechen also hinsichtlich ihrer Vermittlungsleistung der historischen Reflexion, die die Ästhetik als ihr Spezifikum definiert. An SCHILLERS Göttern Griechenlands thematisiert Hegel nicht nur die Notwendigkeit des Übergangs von der klassischen zur romantischen Kunstform, er verweist auch auf dies Gedicht, um den Sinn einer Griechenlandsehnsufht, einer Trauer über den Untergang des Altertums zu erörtern. In der ersten Fassung der Götter Griechenlands findet sich der von Hegel zitierte Satz; Als die Götter menschlicher noch waren, waren auch die Menschen göttlicher. Hegel führt dies Zitat an, um auf den guten Sinn des Anthropomorphismus der griechischen Götter hinzuweisen, zugleich aber, um zu demonstrieren, daß die christliche Religion diesen Anthropozentrismus noch vertieft. SCHILLERS Trauer über den Untergang Griechenlands, die „Wehmut über den Untergang des Klassischen, der Mythologie", in deren Zusammenhang die klassische Gestalt als das „Vorzüglichere" {Aachen 1826. Ms. 141) erscheint, wird aber kritisiert. Denn Hegel sieht in der von SCHILLER gezeichneten Naturmythologie, die die erste Fassung „mit einer ganz breiten Malerey" schildert, „etwas Schiefes" (ebd.). Hier steht seine eigene, in Jena entwickelte Auffassung im Hintergrund, daß das Wesentliche an der griechischen Religion eben der Übergang von der Natur zur geistigen Mythologie sei. SCHILLERS Kritik am Christentum kann Hegel nicht mehr gelten lassen; die Vorlesungsnachschriften von 1826 verzeichnen in diesem Zusammenhang nicht die HOTHOS

ihren Schmerzen und Kämpfen gegenüber von „der Schönheit stillem Schattenlande" {Ästh.iL. 201 f; Ästh.ai. 197); zum frühen Hinweis vgl. Nohl. 34, 54, 204. ^ Vgl. Ästh.12, 106; dazu Philosophie der Weltgeschichte. Bd 2. 579; aus den Nachschriften erwähnen die Aachener Nachschrift (Ms. 136, 141), die Nachschrift Kehlers (Ms. 250, 261 f) und auch die Nachschrift der Marbuger Bibliothek (Ms. 52) den Satz über die Götter und verweisen auf Schillers „Trauer über die verschwundene schöne Phantasie".

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begründende Wendung, daß SCHILLER selbst später die Polemik gegen das Christentum gemildert habe, weil sie ohnehin nur gegen die „Verstandesansicht der Aufklärung gerichtet war" (Ästh.^'^^2. 107). Hier findet sich nur Hegels Kritik an SCHILLERS Polemik: SCHILLER habe die höhere Idee, den wahrhaften Gedanken, der dem Christentum zugrundeliegt, gar nicht berührt. Erst in der letzten Vorlesung muß Hegel darauf hingewiesen haben, daß die spätere Fassung des Gedichts die „Härte des Gegensatzes gemildert" habe {Jag. Bibi. 1828/29. Ms. 88). Erst in dieser Vorlesung fällt auch das Wort von der „Sehnsucht" nach dem klassischen Griechentum in Verknüpfung mit der „Trauer" über den Verlust. Hegels Charakteristik bleibt aber hier wie dort distanziert. Es spricht sich diese Trauer und Sehnsucht, die im Gegensatz zum Christentum steht und betont wird, „doch aus, als ob für die Kunst jener Standpunkt als vergangen zu bedauern wäre". „Das Unbefriedigende des Verstandes bringt eine Sehnsucht nach der Kunst hervor, die sich als Sehnsucht nach der griechischen Kunst richten konnte" (Jag. Bibi. 1828/29. Ms. 87a, 88). Für eine Ästhetik, der man zurecht einen „Klassizismus" unterstellte, nähme sich eine solche distanzierte Einschätzung selbst noch des ScHiLLERschen Standpunktes allerdings seltsam aus. Hegel betont, daß SCHILLERS Jugendgedicht den „Traum" eines Gemütes ausspreche, das Christentum und die geschichtliche Notwendigkeit des Übergangs aber zunächst verkenne. Aber auch hier - und zwar unter Rückgriff auf die Modifikation der neuen Fassung - sieht Hegel gerade bei SCHILLER ein solches Vorgehen noch einmal zum Problem erhoben. SCHILLER sieht, daß die christliche Religion durch das „Entsagen" den Gott feiert, und Hegel interpretiert dies als eine Erhebung über das Natürliche, die das Natürliche zum Durchgangspunkt für die Versöhnung des Geistes mit sich selbst erklärt. SCHILLERS „neue Modifikation" berücksichtigt dies mit der Wendung: „was unsterblich im Gesang soll leben, muß in der Zeit untergehen" (Jag. Bibi. 1828/29. Ms. 88a). Damit bleibt bestehen, was sich am Schluß der Phänomenologie zeigte, daß Hegel nämlich in SCHILLERS Ästhetik und Dichtung die Vermittlung der griechischen Vollendung für die Moderne findet. SCHILLERS Rezeption des Griechentums, sein Hinweis, daß man in der sentimentalischen Dichtung nach dem Standpunkt der naiven Dichtung blicke und ihn beurteile, wie ein Kranker die Idee der Gesundheit, hält prinzipiell die Situation einer Wiederholung unter geänderten Bedingungen präsent. Die „Erinnerung" des im Griechentum noch veräußerten Geistes wird für Hegel an SCHILLERS Dichtung demonstrierbar (vgl. Phän. 402). Durch die Orientierung an

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Schiller wird der vermeintliche Klassizismus der Ästhetik von Anfang an zu einer differenzierten Position in der „Querelle des Anciens et des Modernes". Hegel sieht mit SCHILLER eine vergangene Vollendung, die er zunächst (im „Systemprogramm") als utopischen Entwurf einer besseren Zukunft auffaßt, die dann aber - aufgrund der Modifikation seiner Geschichtskonzeption als prinzipiell unwiederholbar erscheint. Auch hierfür findet er in der Weiterentwicklung der ScHiLLERSchen Dichtung und Geschichtskonzeption Anhaltspunkte. Denn auch SCHILLER lehnt die Möglichkeit ab, ein Griechenland zurückzuwünschen. Die „Sehnsucht" nach der Antike, die man in der Trauer und Wehmut über die Vergangenheit des Ideals sehen möchte, endet im Reflexionsstandpunkt, der die Vorstellung der Götter durch die Rettung ihrer - zwar vergangenen, aber immerhin auch für Hegel vorbildlichen - geschichtlichen Wahrheit wieder vergegenwärtigt (Jag. Bibi. 1828/29. Ms. 88a). Der zugestandenermaßen nur kleine Schritt, der SCHILLER von der „spekulativen Einsicht" Hegels trennt, führt dazu, daß Hegel diese Einsicht, die die Kunst selbst formulieren kann, nicht als Infragestellung seiner These ansieht, nur die philosophische Reflexion könne die vergangene Bedeutung der Kunst vergegenwärtigen. Zumindest „für die Gebildeten" kann Griechenland, kann die Bedeutung der Kunst durch die Dichtung SCHILLERS auch vermittelt werden. Die fehlende Allgemeinheit dieser Vermittlung müßte eigentlich durch den Reflexionsstandpunkt der sentimentalischen Dichtung aufgehoben sein. Wenn nicht die philosophische Methode den erweiterten Sinn der „Spekulation" erhalten hätte, würde Hegel hier mit SCHILLERS Standpunkt übereinstimmen. Es läßt sich zeigen, daß diese Konstellation sich in der gesamten ScHiLLERinterpretation der Ästhetik findet und umgangen werden kann, wenn man Hegels spekulative Philosophie infragestellt. Dann wird umgekehrt der „Schritt zurück" zur Position SCHILLERS durch Hegels eigene Argumente plausibel. Zunächst geht Hegel aber von dieser innerästhetischen Thematisierung des Unterschieds von Antike und Moderne einen Schritt weiter in Richtung der Integration dieser Einsicht in das System der Philosophie. Denn entsprechend seinen Anfangsüberlegungen, die in Einheit Geschichtsphilosophie und Philosophie der Kunst entwickelten, greift Hegel nun auch in den getrennten Teilen seines Systems immer wieder diese Differenz von Antike und Moderne auf. Analog zum Fortschritt im Vernunftbedürfnis Diesen Versuch habe ich in meiner Arbeit Die Funktion der Kunst in der Geschichte (s. o. Anm. 3) durchgeführt.

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will er so den Fortschritt in der Vernunftleistung, sc. in der Entwicklung der wissenschaftlichen Philosophie, demonstrieren. Die Problematik des „Klassizismus" zeigt sich auch im Kontext des philosophischen Systems insgesamt als das Zusammenspiel von geschichtsphilosophischer Einsicht in die Differenz von Antike und Moderne und von philosophischer Bestimmung der Kunst. In dieser Bestimmung der Kunst orientiert sich Hegel an der „höchsten Möglichkeit" ihres Wirkens. Im Blick auf die Vergangenheit meint er deshalb eine „historische Faktizität" zu beschreiben, in Hinsicht auf die Gegenwart geht es ihm aber um eine idealtypische Charakteristik eines Wirkens, das nicht mehr erreicht wird. Die Argumente für diese aus der Einheit des geschichtsphilosophischen Anliegens der frühen Überlegungen entspringende Differenz entwickelt Hegel in der Bestimmung des Griechentums als Vorbild für die Verwirklichung von Vernunft und Freiheit überhaupt. In seiner Philosophie der Religion wie auch in der Rechtsphilosophie gilt Hegel das Griechentum als ein solches Vorbild, das - unter bestimmten Rücksichten und mit geänderten Mitteln - wieder erreicht werden soll oder im modernen Staat wieder erreicht wird.^ Hier reißt Hegel aber die Kultur der Griechen auseinander, betrachtet verschiedene Aspekte jener ursprünglichen Einheit einer durch die Kunst gestifteten Religion, Sittlichkeit und damit Gesellschaftsordnung eines Volkes, die er mit der Moderne vergleicht. Die Kritik liegt damit fest. Denn sowohl die Entwicklung der Religion zum Protestantismus als der absoluten Religion wie die Entwicklung der Polis zum komplexen institutionellen Gefüge des modernen Staates lassen das Griechentum als eine Vorform erscheinen, die nun „aufgehoben" ist. In der Geschichte der Philosophie betrachtet Hegel die Kultur der Griechen als Ganzes und stellt dieser Betrachtung das emphatische Urteil voran, daß hier zum ersten Male die Welt dem Menschen zur Heimat gemacht worden sei, daß, „wenn es erlaubt wäre, eine Sehnsucht zu haben, so nach solchem Lande, solchem Zustande" {Gesch. d. Phil. Bd 1. 172). Für Hegel gilt aber wie für SCHILLER, daß eine solche Sehnsucht ^ Die Probleme der Rechtsphilosophie können in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt werden. Für einen Einblick, der von der philologisch-historischen Genauigkeit noch unbelastet ist, sei auf J. Ritter {Subjektivität und industrielle Gesellschaft. Zu Hegels Theorie der Subjektivität, ln: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt 1974, 11-35) verwiesen. Ritter interpretiert die Ausbildung der Subjektivität als der „zweiten welthistorischen Gestalt" aus dem Protestantismus und stellt die Konsequenzen für die Ausbildung der modernen Gesellschaft am Begriff der Subjektivität dar, der auch für die Einschätzung der gesellschaftlichen Bedeutung der Kunst die hier aufgewiesenen spezifischen Folgen hat (bes. 27, 32).

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unsinnig bleibt. Das Land der Griechen wie die griechischen Verhältnisse können sinnvoll nicht zurückgewünscht werden. Hegel legt dies in der Charakteristik der griechischen Kultur dar. Auch für diese Überlegung ist die in der Enzyklopädie entwickelte Differenzierung verschiedener Erscheinungsweisen des Absoluten in Kunst, Religion, Sphäre des Rechts und Staates konstitutiv. Wo die Religion als absolute Religion gelten kann, weist sie über die Kunst hinaus. Vor allem kann aber die Sphäre der Institutionen (Recht und Staat) nicht mehr als eine durch die Kunst bewerkstelligte Realisation der Vernunft erscheinen. Sobald das System der Philosophie an die Stelle der frühen Entwürfe tritt, wo es als Vollendung des „Ideals" des Jünglingsalters dessen Erbe antritt, kann die Kunst nicht mehr als Lehrerin der Menschheit die Vielheit der möglichen Weltorientierungen in der Einheit der schönen Gestalt zusammenfassend vermitteln. Das heißt aber, die „utopische Funktion" des Griechentums und mithin der Kunst kann nicht aufrechterhalten werden. Die Geschichtsphilosophie erweist es als eine vergangene, strukturell wie inhaltlich nicht wiederholbare Weise geschichtlicher Selbstverwirklichung. Schon in der Phänomenologie führte die Verknüpfung von geschichtlicher Betrachtung und philosophischer Reflexion zum Resultat, daß nur in einer Gestalt des Geistes, in der Kunstreligion, für die griechische Welt an der Einheit von Kunst und Religion festgehalten wird. Sowie diese Einheit aber von einem zureichenderen Gottesverständnis in der geoffenbarten Religion überholt wird, zerbricht sie als „lebendige" Gestalt des Geistes, kann sie nicht mehr als zukunftsträchtige strukturelle Alternative zur Moderne angesehen werden. Wie sich die anfängliche Deutung des Griechentums in die systematisch konstruierte Umdeutung des utopischen Vorbilds zur „Vergangenheit" einfügt, zeigt Hegel in den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. In der emphatischen Bestimmung der griechischen Welt behält Hegel die Wertschätzung der frühen Überlegungen bei. Zum ersten Mal bildet sich in der griechischen Welt der subjektive Geist nicht aus der Auseinandersetzung mit der bloßen Natur und deren Übermacht, konstituiert sich ein Volk nicht durch die von der Natur vorgeschriebenen Einheiten. Statt dessen bildet sich der Geist des Volkes aus der Auseinandersetzung mit einer Kultur, mit einer schon vergeistigten Natur: der orientalischen Welt. Die Konstitution der staatlichen Einheit beruht ebenfalls nicht auf der Naturgegebenheit, sondern auf der Setzung, die im Widerstreit widerstrebender Vielheit eine Einheit hervorbringt. Prinzip dieser Einheit ist die selbstbewußte Freiheit, die als Sittlichkeit real wird (vgl.

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527, 534 f). Auch in der Beschreibung der Funktion, die Kunst und Wissenschaft in der geschichtlichen Bildung zur Polis übernehmen, wiederholt Hegel weitgehend die Gedanken seiner frühen Überlegungen. Die Religion bleibt die durch die Kunst gestiftete Vergewisserung im Sittlichen, und beide spielen im Staat die Rolle der Bildung zur „Totalität des Charakters". Gemäß der historischen Spezifizierung dieses Charakters in der Konzeption des Staatsbürgers und der nur begrifflich zu vermittelnden Vielheit staatsbürgerlicher Interessen und Bedingtheiten, bestimmt Hegel die Bildungsfunktion der Kunst dann als „bloß formell". Die inhaltliche begründende Orientierung fällt der Philosophie zu. Im Gegensatz zu Hegels frühen Überlegungen führt die Dreiteilung der weltgeschichtlichen Erscheinungen (Aufgang aus der Auseinandersetzung mit einem Vorgegebenen (Natur oder Kultur), Blütezeit und Niedergang bzw. Eingehen in die nächste Kultur) nun aber nicht mehr zur Annahme, die vergangene Blütezeit des Griechentums könne exemplarisch und als Therapie der Zerrissenheit der neuesten Zeit eine Zukunft heraufführen. Denn diese „Zukunftswirksamkeit" räumt das System der Philosophie dem Griechentum nur für die Periode seines Niedergangs und seiner Integration in die römische Welt ein. Hegels Hauptargument für diese Konzeptionsänderung liegt in seiner Erkenntnis, daß die geschichtliche Entwicklung einen Verlauf genommen hat, der - dem Prinzip des Griechentums entsprechend - wesentlich über das in der griechischen Welt Erreichbare hinausweist. Im Griechentum war die Freiheit des Individuums im Gemeinwesen noch nicht geistig vermittelt, der „Geist noch nicht im Geiste aufgefaßt" (577). Wenn an die Stelle der Hochschätzung der „Lebendigkeit" der Vermittlung nun die Sicht des Früheren aus dem später (nach der Aufklärung) Erreichten tritt, dann ändert dies zugleich die Beurteilung der inhaltlichen Gestalt der geschichtlichen Selbstverwirklichung im Griechentum. Auch sie wird nicht mehr nach der positiven Seite ihrer Leistungsfähigkeit aufgegriffen, unbeschadet der Einsicht, daß sie sich unter veränderten Bedingungen modifiziert realisieren müßte. Nun betont Hegel die Defizite der vergangenen Vollendung. Die Kunst gelangt in ihrer Fähigkeit, Götter zu stiften und darin das Prinzip der Sittlichkeit des Volkes anschaulich zu präsentieren (vgl. 587, 588, 595), ebenso wie die Religion nur zu einer abstrakten Einheit der Mannigfaltigkeit ihrer besonderen Deutungsleistungen, nicht zu einer begriffenen Einheit. Hegel demonstriert diese Art der Einheit des Selbst- und Weltverständnisses in sinnlichen Gebilden (Besonderheiten) daran, wie die Vielfalt der Götter ihre „Einheit" im Fatum, dem alle (Göt-

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ter wie Menschen) unterliegen, findet. Besonders im Staat zeigt sich die Problematik dieser Form des (nun: nur) sinnlich-lebendig vermittelten, in der Form der Schönheit auftretenden Geistes. Schönheit gilt unter dieser Rücksicht als Prinzip der Verfassung, als die Harmonie des subjektiven und objektiven Willens. Freiheit und Gesetz konvergieren ihrem Inhalt nach, sind aber in ihrer Geltung, d. i. in der Form der „schönen Verfassung" (601), nur unmittelbar gesetzt, nicht begriffen und nicht gesichert. So gehen „schöne" Individualität, Freiheit und Verfassung durch den Widerspruch ihrer Gegebenheitsweise mit ihrem Inhalt zugrunde. Hegel findet hier die für die Einschätzung des Griechentums unter den Bedingungen der Gegenwart bezeichnende, paradoxe Formulierung, daß es als „wunderbares Schicksal des Menschen erscheinen" könne, „daß sein höherer Standpunkt der subjektiven Freiheit ihm die Möglichkeit dessen nimmt, was man oft vorzugsweise die Freiheit eines Volkes" (ebd.) nennt. Subjektive Freiheit negiert die „schöne" Freiheit der Griechen. Zugleich mit der Negation der Unmittelbarkeit der Gegebenheitsweise der individuellen Freiheit wird aber auch die „schöne Verfassung", die Demokratie, hinfällig. Denn auch sie ist prinzipiell brüchig, ist immer durch die Art ihrer Inkraftsetzung und -erhaltung gefährdet. Bloß „substanzielle Sittlichkeit", diese „noch immanente objektive Sittlichkeit" (606) steht für die Notwendigkeit und Berechtigung der demokratischen Verfassung (vgl. 605), führt aber zugleich zu ihrer Auflösung. Denn ohne reflexive Vergewisserung bleibt die demokratische Verfassung an bloß „substanziell sittliche" Individuen gebunden, sei es das entscheidende Volk, Gremien oder Einzelne, die für alle aus dem Willen aller handeln bzw. das Handeln exemplarisch festlegen (Götter oder Heroen). Substanzielle Sittlichkeit aber ist der Moralität darum nicht kompatibel, weil ihr die Dimension der Einsicht fehlt. Mit den Begriffen der von KANT übernommenen und angewandten praktischen Philosophie formuliert: Die „schöne" Sittlichkeit des Volkes kann darum nicht zum Vorbild für die Einheit von Moralität und Legalität, also die Sittlichkeit gegenwärtiger gesellschaftlicher Institutionen, werden, weil ihr die Dimension der philosophischen Durchdringung fehlt. Sie darf nämlich nicht „Moralität" genannt werden, solange sie „ohne weitere Reflexion" als eine „Gewohnheit" (Sitte), für das Vaterland zu leben, praktiziert wird (vgl. 606). Die Analyse des Griechentums vom Standpunkt der Moderne aus führt nicht zu einer Aktualisierung der lebendig-harmonischen Einheit nach dem Begreifen, und Hegel will danach auch nicht mehr fragen. Das faktische Problem solcher

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Demokratie hängt hiermit zusammen. Sie bleibt, wegen der Unmittelbarkeit ihrer Ausübung, immer nur in kleinen Staaten realisierbar und scheint unlösbar an die Einrichtung der Sklaverei, der Freiheit Weniger zu Lasten der arbeitenden und unfreien Vielen geknüpft. Auch für die Ästhetik ist diese Auseinandersetzung mit dem Problem des Staates relevant, nämlich unter der Rücksicht seiner Konstitution aus Vernunft und Freiheit. Die Art in der Hegel diese Problematik anhand des Verweises auf die griechische Polis exemplifiziert, bleibt wiederum nicht folgenlos für die Bestimmung der Bedeutung der Kunst im modernen Staat. Im Kontext der Geschichtsphilosophie zeigt sich analog zur Ästhetik, wie für Hegel das Problem der faktischen Einrichtung einer Demokratie unterderhand zum prinzipiellen wird. Der Griechenverweis fungiert auch hier nicht als bloß historische Denotation faktischer Demokratien, sondern steht unter der Frage, wieweit sich diese institutioneile Form wiederholen kann. Ebenso wie Hegel das Griechentum als unmittelbares Vorbild der Kunst ablehnt, rückt er es auch als Zukunft, als Versöhnung der Zerrissenheit des modernen Zeitalters, beiseite. Hegels Gründe dafür sind nur teilweise einsichtig. Vor allem der Verzicht, eine alternative Zukunft strukturell an einer geglückten Vergangenheit zu orientieren, hängt so unlösbar mit dem Gelingen der Durchführung des Systems der Philosophie zusammen, daß Hegels Optimismus in dieser Frage gegen die gesamte Konzeption skeptisch macht. Einerseits erweist Hegel nämlich durch die differenzierte Analyse des modernen Staates, daß die griechische Demokratie oder eine ihr analoge Institution - mit den frühen Überlegungen: FICHTES „Gesellschaft" - nicht wieder errichtet werden kann, und daß es daher unrealistisch sein würde, das Griechentum als „Zukunft", als Versöhnung der „Zerrissenheit" auszugeben. Andererseits leitet aber dieses „Bild", diese utopische Konzeption einer Harmonie von Einzelnem und Allgemeinem Hegels begriffliche Konzeption des modernen Staates. Hier macht er sich - aus vermeintlich gut gesicherten Gründen - der Konfundation von Faktum und prinzipieller Betrachtung schuldig, d. h. er gibt die handlungsorientierende Spannung zwischen Faktizität und Entwurf, Ideal des Staates auf. Dadurch wird die Suche nach zukunftweisenden Alternativen aus Gründen suspendiert, die selbst nicht mehr einsichtig, nicht mehr begründbar sind, es sei denn im „absoluten Wissen" und seiner durch die Philosophie geleisteten letztbegründeten Explikation. Eine wesentliche Rolle für diese „Gedankenlosigkeit" Hegels, für den Verzicht auf die eigene Frage, was aus der Historie für die Zukunft Grundsätzliches zu lernen sei und wie

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Hegels Folgeüberlegungen greifen die Frage nach der Konstitution einer Verfassung darum nicht mehr so auf, daß die verfassungsmäßigen Garantien für die Vermittlung der - in der griechischen Polis unmittelbar gegebenen - Prinzipien Vernunft und Freiheit entwickelt werden müßten. Seit der und in der französischen Revolution zeigt sich, daß ein größeres Staatswesen zu lebendiger Demokratie nicht in der Lage ist, schon weil die Auseinandersetzung zwischen Individuen nicht möglich, die Sittlichkeit durch papierene Bestimmungen oktroyiert, aber nicht lebendig vermittelt wird (vgl. 609). Die knappen Ausführungen am Schluß der Vorlesungen lassen also die Frage offen: Wie soll die Situation nach der französischen Revolution im Sinne der Konstitution eines Staates überwunden werden, in dem sich die Sittlichkeit realisiert, in dem der Einzelne die Garantie seiner Freiheit findet und den Sinn des Einsatzes der Freiheit aus der Vernunft vorgegeben erhält? Es ließe sich eine Reflexion auf die institutioneile Sicherung der in ihrer Geltung eingesehenen Prinzipien des Humanismus denken, die die lebendigen Prinzipien der „schönen" griechischen Verfassung in die „vermittelten" eines unübersichtlichen aber nun aufgeklärten Zeitalters transponiert. Hegel schenkt sich diese Überlegung, weil er der eigenen Argumentation verfallen ist: Die Weiterentwicklung der freien Individualität zur nicht nur bewußten, sondern vermittelt selbstbewußten Freiheit löst die lebendige Unmittelbarkeit in Reflexionsmannigfaltigkeiten

dieser Prozeß prinzipiell auszusehen habe, spielt eine Umorientierung, die hier nicht eigens thematisiert wird. Hegel hat den gleichen Begründungsverzicht hinsichtlich der Beurteilung des Christentums und seiner Vermittlung absoluter Wahrheit im Endlichen bereits vorab geleistet. Wie sich in der Gestalt Christi Prinzip und Faktum zusammenschließen, so auch in der Bestimmung des modernen Staates; vgl, dazu in den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (579) die Auseinandersetzung mit der geänderten Schlußfassung von Schillers Götter Griechenlands. Aus religionsphilosophischen Gründen und den Konsequenzen, die er daraus für die Philosophie ziehf, stellt Hegel die Frage nach einer im Blick auf die Vergangenheit eruierbaren zukunftsweisenden Alternative auch im Zusammenhang der Bestimmung der Religion nicht mehr. Anscheinend liegt der Grund dafür darin, daß die Philosophie das hinreichende Problemlösungspotential für die anstehenden Fragen und Aporien beibringt. Dadurch kann sich der Fortschritt des Wissens nicht mehr an vergangenen Formen der Realisation der Vernunft orientieren, zumindest ist man dazu nicht mehr genötigt. Einsichtig wird das allerdings nur im Kontext der Religion, näherhin unter der Prämisse des theologisch geforderten sacrificium rationis, dessen sich Hegel explizit nicht schuldig machen wollen würde. Dennoch kann nur so erklärt werden, daß Religion (wie analog dazu der Staat) in einem faktischen geschichtlichen Stand ihren Kulminationspunkt erreichen, während die Vernunft über die Kunst hinausgegangen ist.

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und -gegensätze auf und muß ihre Einheit in einem ganz anderen Medium finden. Hegels Bestimmung des Griechentums in der Philosophie der Weltgeschichte kann deshalb als historische Explikation des ScHiLLERschen Satzes gelesen werden, die im Griechentum verwirklichte Versöhnung von Sinnlichkeit und Vernunft sei unter den Bedingungen der Gegenwart nicht ohne weiteres wiederholbar. Wo die prinzipielle Schlußfolgerung angefügt wird, sie sei auf keinen Fall unter den Bedingungen der Gegenwart wiederholbar, darf aber Skepsis angemeldet werden. Denn die Suspendierung der Frage, wie unter den geänderten Bedingungen eine vollendete Vergangenheit unter Anwendung der nun erforderlichen veränderten „Methode" der Wissenssicherung (d. h. vermittelt statt lebendigunmittelbar) wiedergewonnen werden kann, ist keineswegs notwendig. Nur weil die Entwicklung über eine vergangene Harmonie durch notwendige Differenzierung hinausgeht, darf den früheren „Weltanschauungsweisen", hier der Kunst, nicht ihre ursprüngliche Funktion abgesprochen werden. An der anfangs unterstellten gesellschaftlichen Funktion der Kunst will Hegel nur darum unter den Bedingungen der Gegenwart nicht festhalten (d. h. sie inhaltlich differenziert, aber strukturell identisch wiederaufgreifen), weil ein anscheinend tragfähigeres Mittel vorliegt. Hegels Historisierung des „Ideals" der Kunst, der Religion wie des Staates führt aus systematischen Gründen zu einem Paradox. Weil - historisch gesehen - sein Vorbild für die Bestimmung der geschichtlichen Funktion der Kunst (Griechenland als Volk und Staat) nicht „zweimal Epoche" machen kann, muß sich diese Beschränkung auch strukturell widerspiegeln. Damit liegt eine für Hegel in der Tat eigentümliche Verquickung von System und Geschichte zutage, die für die Ästhetik folgenreich ist. Der systematische Ansatz überformt nicht - wie in der Hegelkritik meistens unterstellt wird - die Geschichte, sondern er führt zunächst umgekehrt die historische Differenzierung des formal-funktional erschließenden Ideals in der Philosophie der Kunst zu einem systematischen Kurzschluß. Die Kunst wird in ihrer geschichtlichen Leistungsfähigkeit eingeschränkt zu nur partial bedeutsamer Wahrheitsvermittlung. Ohne Hegels Konfundation von historischer Differenzierung und philosophischer Relevanz des Ideals wäre es denkbar, daß die strukturelle Bedeutung des Griechenverweises im Programm der „schönen Religion" bzw. der „Mythologie der Vernunft" auch für die Ästhetik erhalten bliebe, d. h. den Sinn einer konkreten Utopie behielte. So wie Hegel es de facto

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ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT

entwickelt, generiert - allerdings erst im zweiten Schritt - die Systematik auch eine historische Konsequenz: Die Geschichte der Kunst wird auf die Vergangenheit festgeschrieben. Während es sowohl für die Religion wie für die „verfaßte Gemeinschaft", den Staat, eine Weiterentwicklung über das Griechentum hinaus, eine Zukunft gibt, wird die Kunst von diesem Fortschritt ausgeschlossen. Hegel widerspricht damit zumindest einem Aspekt seiner Gehaltsästhetik, nämlich der geschichtlichen Einsicht, daß jede Zeit ihre eigene Kunst hervorbringe, bzw. er wendet diese Einsicht nur auf die Betrachtung der Vergangenheit an. Die „romantische Welt" bleibt aus anscheinend systematisch zwingenden Gründen ein Sonderfall in der Geschichtsdeutung.

4. Systemverzicht als Aktualisierung der Ästhetik Die Darstellung der Vorlesungen über die Philosophie der Kunst im Zusammenhang des Hegelschen Denkens zwingt zu einer Entscheidung, die die bisherigen Versuche der Aktualisierung der Ästhetik zu umgehen suchten. Weder die These vom Ende der Kunst noch die damit verknüpfte Orientierung am griechischen Ideal und die Behauptung des Vergangenheitscharakters dieses Ideals können aufgegeben werden, ohne den wesentlichen Kern, die geschichtsphilosophische Perspektive der Ästhetik zu korrumpieren. Diese Wendung zur Geschichte soll umgekehrt gerade gegen Hegels Systemwillen verteidigt und als bewahrungswürdig festgehalten werden. Solange man aber die systematische Grundlage der Ästhetik nicht als Ganze aufgibt, kann man weder einzelne Elemente - wie etwa die These vom Ende der Kunst und teilweise befremdlich erscheinende Charakteristiken von Kunstwerken der „romantischen Kunstform" - infragesteilen noch die erwünschte Aktualität begründen. Auf die Frage, warum Hegel die Kunst der „Moderne" anders bestimmt als die der orientalischen oder griechischen Vergangenheit, warum er ihr die Zukunftsdimension abschneidet, kann man nur einen Grund anführen. Es ist Hegels Anspruch, durch das absolute Wissen der Philosophie eine Form geschichtlicher Selbstvergewisserung systematisiert zu haben, die alle vorhergehenden Explizitheitsgrade von Wahrheit suspendiert bzw. zu bloß historischer Interessantheit degradiert. Gibt man diesen Anspruch aus begründetem Zweifel am Gelingen und der Durchführbarkeit auf, so gewinnt man ohne weitere Argumentation einen Ansatz zurück, in dessen Durchfüh-

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rung sich die These vom Ende der Kunst, näherhin die Beschränkung des am Griechentums gewonnenen Ideals auf die Vergangenheit in die der utopischen Funktion vergangener Vollendung zurückverwandelt. Die Konzeption des „ältesten Systemprogramms" bietet sich von Hegels eigenen Überlegungen her als vorsystematische Grundlage der Bestimmung der geschichtlichen Funktion der Kunst an. Bleibt nämlich auch in der modernen Welt die „absolute" Vergewisserung aus, dann muß mit SCHILLER nach der vorbereitenden Vermittlung von Vernunftgebrauch und Vernunfteinsicht von Humanität und Freiheit gefragt werden, die die Aufklärung aller nicht voraussetzt. Die „ästhetische Erziehung" wäre dann nicht mehr nur „formelle Bildung" des Staatsbürgers, sondern im Sinne SCHILLERS Aufklärung mit anderen, faßlicheren, aber immerhin vernunftgemäßen Mitteln. Hegel hat diese Konzeption vor der Entwicklung seines Systems der Philosophie selbst im Anschluß an SCHILLER dargelegt. Die Reduktion der Systematik auf diesen vorsystematischen Standpunkt Hegels ermöglicht es als Ansatz der Interpretation und Aktualisierung der Ästhetik, daß man versuchsweise die Vorlesungen Hegels ohne die vorweggeschickte systematische Begründung liest. Eine solche Lektüre bringt trotz mannigfacher Schwierigkeiten den Vorteil, daß sich einige inhaltliche Festlegungen von selbst aufheben. So ist prinzipiell nicht ersichtlich, warum der geringere Explizitheitsgrad von Wahrheit in der Anschauung automatisch dazu führen muß, daß die Kunst eine bloß „partiale" Bedeutung er- bzw. behält. Hier spielen zwei Vorurteile Hegels zusammen, die zwar für die Konzeption seiner systematischen Philosophie konstitutiv sind, die aber schon in diesem grundsätzlichen Zusammenhang immer wieder kritisiert wurden. Zunächst nivelliert Hegel seine eigene These von der Konvergenz zwischen Form und Inhalt zu einem immer gültigen und anwendbaren Schema. Er überschreitet dadurch zumindest den in der Ästhetik dargelegten geschichtlichen Sinn dieser Einsicht. Bezeichnenderweise führt er diese Erweiterung vorab (in der nur „lemmatischen" Einleitung der Philosophie der Kunst) als succus des Systems der Philosophie ein, entwickelt sie dann aber geschichtsphilosophisch zur strukturellen Charakteristik der Funktion der Kunst in historischen Kulturen. Durch diese Identifikation von struktureller Charakteristik und „logischer" Form, die in der Interpretation der Ästhetik kaum je moniert wird, legt Hegel die Geschichte auf den Begriff fest. Umgekehrt könnte man ohne diese Festlegung in der Ästhetik eine Theorie der Geschichtlichkeit der Kunst zugleich mit ihrer Exekution finden. So wie Hegel es darlegt, führt aber eine unzureichende

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Vermittlungsform - die Anschaulichkeit der Kunst - zu einer unzureichenden Seinsweise der Wahrheit, zur „Existenz" bzw. zum „Dasein" der Idee, wie es in den Vorlesungen zur Ästhetik eingangs bei der Bestimmung des Ideals heißt. Dies vorausgesetzt, gilt folgerichtig die zureichende Explizitheit der Wahrheit im Begründungszusammenhang des philosophischen Systems dann auch als höhere Seinsweise der Wahrheit. Hier sollte die Kritik an Hegels System des absoluten Wissens auch zur Skepsis gegenüber der Konstruktion der Ästhetik führen. Das zweite Vorurteil (ebenfalls für die gesamte Systemkonstruktion leitend) wird in aller Schärfe nur an der Ästhetik ersichtlich und durch den Klassizismusvorwurf mitthematisiert. Hegel konzipiert seine Geistesgeschichte jeweils so, daß die Historie, daß kulturgeschichtliche Einheiten und Epochen auf den Begriff gebracht werden. Die Geschichte selbst gilt dabei nicht bloß als Anschauungsmaterial, sondern wird - im Sinne der modernen Phänomenologie bzw. etwa im Sinn von HEIDEGGERS Fundamentalontologie - auf ihre prinzipielle Konstitution hin ausgelegt. Wirkweisen bestimmter, kulturstiftender Phänomene gelten zugleich als Hervorbringen wie als Erhellen der jeweiligen Kultur. Das zeigte sich an Hegels Überlegungen zur „schönen Religion der Griechen" bzw. im „ältesten Systemprogramm". Hegel bringt hier erstmals seine Konzeption einer „pragmatischen Geschichte" (Dok. 9 f) ausführlich vor. Zugleich entwirft Hegel durch das Begreifen der Vergangenheit ein Modell des Zukunftsverhältnisses. Auch in dieser Dimension bleibt Geschichte nicht opak, sondern kann - sozusagen in Verlängerung der Einsichten aus der Vergangenheit und durch Steuerung (sc. freies Handeln im Sinne solcher Einsichten) greifbar und begreifbar werden. Die Schwierigkeit dieser Geschichtskonzeption bzw. der dahintersteckenden „Hermeneutik" liegt nicht im skizzierten prinzipiellen Vorgehen, sondern darin, daß dieselben geschichtlichen Phänomene ununterschieden und ununterscheidbar als bloße Hinweise, als exemplarische Beispiele und als formal-erschließende Momente gebraucht werden. Auch hier führt die überstrapazierte Behauptung der Identität von Form und Inhalt, die als Wahrheitskriterium gilt, dazu, den unterschiedlichen Geltungsanspruch zu vernachlässigen, genauer, die Frage nach dessen Legitimation nicht mehr zu stellen. Hegel selbst konfundiert schon in der Phänomenologie die verschiedenen OperaVgl. dazu A. Gethmann-Siefert: Vergessene Dimensionen des Utopienbegriffs. Der „Klassizismus" der idealistischen Ästhetik und die gesellschaftskritische Funktion des „schönen Scheins", ln: Hegel-Studien. 17 (1982), 119-167.

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tionen mit geschichtlichen Exempeln derart, daß der Einsatz der Beispiele aus der Geschichte der Erfahrung zum Zweck der Erhellung der Realität Ununterschieden formaliter wie materialiter gemeint sein kann.^^ Diese Unklarheit führt dann beispielsweise in der Ästhetik, im Griechenverweis dazu, daß Hegels Exempel, daß das Phänomen, in dem strukturell die universale Wirkweise der Kunst vorgezeichnet ist, weil es zugleich geschichtlich und historisch gefaßt wird, selbst changiert. Trennte Hegel eindeutig zwischen bloßem Faktum und als Interpretament gebrauchtem Faktum, d. h. der prinzipiellen Verwendung, in der die Deutung des geschichtlichen Faktums zur Strukturanalyse wird, und der bloßen Deutung, dann könnte man seine Geschichtsphilosophie akzeptieren. Im Kontext der Ästhetik würde das nämlich dazu führen, daß der Vergangenheitscharakter des Ideals nicht mit dem Vergangenheitscharakter der griechischen Kunst und Kultur zusammenfiele. Die uneinsichtige Restriktion der geschichtlichen Möglichkeit der Kunst, des „Ideals", auf ein historisches Faktum ließe sich zugunsten eines Geschichtsmodells aufheben.'“ In diesem Kontext spielte die Deutung der Vergangenheit eine Rolle, die Hegel selbst in seiner ursprünglichen Geschichtskonzeption vorzeichnete. Durch die Deutung der eigenen Geschichte vergewissert man sich über Bedingungen und Möglichkeiten des eigenen geschichtlichen Handelns. Übertragen auf die Ästhetik: durch die Deutung epochaler und kulturell verschiedener Ausprägungen der Kunst vergewissert man sich über deren Funktion in der Gegenwart, die Funktion wiederum gibt Aufschluß über das „Wesen" der Kunst. Hegel selbst deutet explizit sein Vorgehen in der Ästhetik in diesem Sinn. Er weist auf die Tatsache hin, daß die Kunst nur zusammen mit einer historischen Reflexion gegenwärtig werden kann und daß ihre Deutung durch die Philosophie unumgänglich zur Erfahrung dazugehört. Le-

Vgl. dazu Hegel-Studien. 18 (1983), bes. 279 ff. Für die beiden anderen im „Systemprogramm" mitangesprochenen Wirklichkeitsbereiche, für Religion und Staat, gilt die analoge Kritik. Die prinzipielle Aporie wird hier allerdings nicht so leicht bemerklich, weil das Faktum (das geschichtliche Phänomen), das strukturell konzipiert - alle historischen Ausprägungen miterhellt, nicht „vergangen" ist. Weil Religion wie Staat sich weiterentwickeln, auch in der „Zukunft der Kunst" liegen können, erscheint die gegenwärtige Ausprägung nicht als derivater Modus. Statt dessen wird eine präsente faktische Gestalt der Religion (der Protestantismus) und des Staates zum Ideal erhoben - prinzipiell analog zum Griechentum in der Ästhetik. Auch hier unterscheidet Hegel aber nicht zwischen der Feststellung dessen, was ist, und Entwurf dessen, was sein könnte bzw. sollte. Folglich bleiben auch die unterschiedlichen methodischen Anforderungen dieses wie jenes Argumentieren ungenau bestimmt.

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diglich die Isolation der methodisch gesicherten Deutungsleistung „Philosophie" aus dem Geschichtskontext führt ihn dazu, diese Funktion der Kunst als „partial" zu charakterisieren und als bloß formelle Bildung der philosophischen nachzuordnen. Schafft man - gegen Hegel - Klarheit über den Gebrauch geschichtlicher Exempel zum Zweck des Verständnisses der und der Verständigung über die Geschichte - was Hegels System der Philosophie verwehrt bzw. als überflüssig erscheinen läßt-, dann läßt sich z. B. in der hier erörterten Frage des Zusammenhangs von Klassizismus und These vom Ende der Kunst eine Entscheidung treffen. Die These vom Ende der Kunst wird mit dem Systemverzicht zusammen aufgehoben, denn durch den letzteren begründet sich der Verzicht auf die Behauptung des Vergangenheitscharakters des „Ideals". Die Konzentration auf das „schöne Griechentum" muß (und darf) aber als konstitutiv für Hegels Geschichtsdenken beibehalten werden. Denn durch seinen Gebrauch dieses „Ideals" zur Bestimmung der geschichtlichen Funktion der Kunst ergibt sich die Möglichkeit, Hegels Ästhetik als Modell für eine Bestimmung der Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit - i. e. der geschichtlichen Funktion - vorzuschlagen. Auf die nähere Konzeption einer solchen Ästhetikbegründung ohne das System der Philosophie kann hier nicht eingegangen werden. Hegel selbst hat sie eigentlich im Kontext seiner religionskritischen Schriften und im „ältesten Systemprogramm" entworfen, und man könnte die differenzierteren inhaltlichen Überlegungen der Vorlesungen zur Ästhetik versuchsweise - zum Zwecke der Aktualisierung der Hegelschen Ästhetik in dies Programm integrieren.

WOLFGANG BONSIEPEN (BOCHUM)

PHILOLOGISCH-TEXTKRITISCHE EDITION GEGEN BUCHSTABENGETREUE EDITION?

In seiner Ausgabe der Rechtsphilosophie-Nachschrift von P. WANNENMANN ^ teilt KARL-HEINZ ILTING Regeln für die Edition von Hegel-Texten mit, für welche er allgemeine Gültigkeit beansprucht. Nicht nur der Herausgeber von Vorlesungs-Nachschriften hat nach ILTINGS Auffassung „aufgrund seiner größeren Sachkenntnis den richtigen Text wiederherzustellen" (1369), sondern auch der Herausgeber von Drucktexten. Auch die von Hegel selbst veröffentlichten Texte bezeichnet ILTING als in ihrem Wortlaut „unzuverlässig". Ob man generell von einer solchen Unzuverlässigkeit sprechen kann, ist in mehrfacher Hinsicht infrage zu stellen. Gewiß wird man zugestehen, daß auch bei Drucktexten gelegentlich einschneidende Konjekturen erforderlich sind. Als Beispiel zieht ILTING einen Satz aus der Phänomenologie des Geistes heran. Er wirft den Herausgebern dieses Werkes in der historisch-kritischen Ausgabe^ vor, eine wichtige Konjektur unterlassen zu haben. Diese Einzelkritik verbindet ILTING mit einer generellen Polemik gegen die historisch-kritische Ausgabe. Er empfiehlt deren Lesern, sich dessen bewußt zu sein, „daß ihre Herausgeber eine buchstabengetreue, nicht aber eine philologisch-textkritisch zuverlässige Edition anstreben" (I 368). Im folgenden soll zunächst auf jene Einzelkritik und dann auf ILTINGS allgemeinen Vorwurf eingegangen werden.

' Vgl. G. W, F. Hegel: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). Hrsg., eingeleitet und erläutert von K.-H. Ilting. Stuttgart 1983. - Zitiert: 1. ^ Vgl. G. W. f. Hegel: Gesammelte Werke, ln Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Bd 9: Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von W. Bonsiepen und R. Heede. Hamburg 1980.

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WOLFGANG BONSIEPEN

I. An der betreffenden Stelle der Phänomenologie (vgl. Gesammelte Werke. Bd. 9. 430: „Die Bewegung, die Form seines Wissens von sich hervorzutreiben ...") faßt Hegel vom Standpunkt des absoluten Wissens ausgehend in großen Zügen den Inhalt bestimmter Abschnitte zusammen. Seine Zusammenfassung ist auch schon interpretierend. Er beginnt mit dem religiösen Bewußtsein, das in der Gestalt des unglücklichen Selbstbewußtseins (Kap. IV, 8) erstmals zur Darstellung gelangt. Dann geht er zur beobachtenden Vernunft über, mit der die mittelalterliche Welt verabschiedet wird und die spezifisch neuzeitliche Naturerforschung beginnt. Die beobachtende Vernunft erfaßt das Dasein als Gedanken in der Beschreibung der Merkmale und Gesetze der Natur; sie begreift umgekehrt das Denken in seinem Dasein, indem sie logische und psychologische Gesetze aufstellt (Kap. V. A.a, b). Dann folgt ein Satz, der über die bloße Zusammenfassung hinausgeht, indem er neue Zuordnungen vornimmt: Indem es [sc. das Bewußtsein] so zunächst die unmittelbare Einheit des Denkens und Seyns, des abstracten Wesens und des Selbsts, selbst abstract ausgesprochen und das erste Lichtwesen reiner, nemlich als Einheit der Ausdehnung und des Seyns, - denn Ausdehnung ist die dem reinen Denken gleichere Einfachheit, denn das Licht ist, - und hiemit im Gedanken die Substanz des Aufgangs wieder erweckt hat, schaudert der Geist zugleich von dieser abstracten Einheit, von dieser selbstlosen Substantialität zurück, und behauptet die Individualität gegen sie.

Die unmittelbare Einheit des Denkens und Seins, von der am Anfang des Satzes die Rede ist, wird am Ende des Kapitels über die beobachtende Vernunft in dem Satz ausgesprochen: Das Sein des Geistes ist ein Knochen (190). Es ist nicht ganz klar, was Hegel dann weiter unter Einheit des abstrakten Wesens und des Selbsts versteht. Möglicherweise meint abstraktes Wesen die reine Kategorie, die einfache Einheit des Selbstbewußtseins und des Seins, die auch Wesenheit genannt wird (134). Die Kategorie wird später zur Sache selbst, die eine weitergehende Einheit von Gegenstand und Selbstbewußtsein bedeutet (223). Es überrascht nun, wenn Hegel nach diesen Ausführungen auf das Lichtwesen zu sprechen kommt. Dieses wird an einem ganz anderen Ort der Phänomenologie behandelt: im Kapitel über die Religion, wo es als erste Gestalt der natürlichen Religion auftritt. Das Lichtwesen erscheint als das mit dem Geiste erfüllte Sein. Das Bewußtsein schaut sich in der Form des Seins an, das

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jedoch nicht das Sein der sinnlichen Gewißheit ist, mit dem die Phänomenologie beginnt, sondern das mit Geist erfüllte Sein: „Diß mit dem Begriffe des Geistes erfüllte Seyn ist also die Gestalt der einfachen Beziehung des Geistes auf sich selbst, oder die Gestalt der Gestaltlosigkeit. Sie ist vermöge dieser Bestimmung das reine, alles enthaltende und erfüllende Lichtwesen des Aufgangs, das sich in seiner formlosen Substantialität erhält." (371) Hegel denkt an die altpersische Religion des ZARATHUSTRA, in der sich das Licht als das Gute und die Finsternis als das Böse gegenüberstehen. Hegels Einbeziehung des Lichtwesens in seinen Rückblick auf die beobachtende Vernunft erhält eine gewisse Plausibilität, wenn man das Moment der Natürlichkeit, der Unmittelbarkeit als Vergleichspunkt berücksichtigt. Außerdem geht die beobachtende Vernunft wie das Lichtwesen der griechischen Welt voraus (vgl. 195 f und 376); als solche Vorstufen können beide in Beziehung gesetzt werden. Schließlich ist zu berücksichtigen, daß Hegel kontrastierend zuordnet, wenn er behauptet, daß die beobachtende Vernunft zu einer reineren Darstellung des Lichtwesens und zu einer Wiedererweckung der Substanz des Aufgangs im Gedanken führt. Die neuzeitliche Vernunft geht also reiner, gedanklicher vor als das unreflektierte, substantielle Denken der alten Perser. Dem Originaltext der Phänomenologie zufolge führt die beobachtende Vernunft nun insofern zu einer reineren Darstellung des Lichtwesens, als sie die Einheit von Ausdehnung und Sein behauptet. Nach ILTINGS Auffassung ist hier eine Konjektur erforderlich, die ändert in: Einheit der Ausdehnung und des Denkens. Diese textverändernde Konjektur mag zunächst einleuchtender erscheinen als das Original. Können wir aber dem unveränderten Text wenn auch möglicherweise in einer lectio difficilior - einen Sinn abgewinnen, so verbietet sich freilich für eine historisch-kritische Ausgabe eine Konjektur. In der Tat gibt der Originaltext einen guten Sinn. Hegel geht es zunächst um die Gewinnung eines bestimmten Seinsverständnisses. In der Lichtreligion wird das mit dem Geist erfüllte Sein Licht genannt, während die beobachtende Vernunft mit DESCARTES unter Sein die res extensa versteht. Erst das CARTESianische Seinsverständnis ermöglicht es, vom Sein zum Denken überzugehen. In der Lichtreligion ist dies nur schwer möglich, weil das Licht nicht die Einfachheit der Ausdehnung besitzt, die allein dem Denken gemäß ist. Die Einheit von Sein und Denken kann nur behauptet werden, wenn zuvor das Sein ganz abstrakt gefaßt, auf eine dem Denken gemäße Einfachheit reduziert, d. h. als Ausdehnung ver-

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standen wurde. Daß die beobachtende Vernunft Sein als Ausdehnung interpretiert, ist keineswegs selbstverständlich. Das Wort Ausdehnung bzw. ausgedehnt kommt in dem gesamten Kapitel über die Vernunft nicht vor. ^ Hegel deutet frühere Ausführungen im Lichte einer späteren Systematik. Diese Deutung würde mit einem Gedankensprung arbeiten, wenn ILTINGS Konjekturvorschlag übernommen würde. Der Originaltext ist vermittelnder, indem er zunächst Sein als Ausdehnung in Abgrenzung vom Seinsverständnis der alten Perser interpretiert, um so zum eigentlichen Thema, zur Einheit von Denken und Ausdehnung - wie sie in der spinozistischen Substanzmetaphysik in abstrakter Weise behauptet wird - überzugehen. Wenn Hegel wenig später erklärt: „... wie vorhin das Wesen als Einheit des Denkens und der Ausdehnung ausgesprochen wurde ...", dann bezieht er sich auf die von ihm einige Zeilen vorher angesprochene Substanzphilosophie SPINOZAS, in der Denken und Ausdehnung die von uns allein erkennbaren Attribute Gottes sind.

II. Das angeführte Beispiel zeigt, daß die Herausgeber historisch-kritischer Ausgaben mit gutem Grund eine gewisse Zurückhaltung üben gegenüber Texteingriffen. Eine schwierigere, aber mögliche Lesart ist einer plausibler erscheinenden vorzuziehen, wenn dadurch der Originaltext beibehalten werden kann. In diesem Sinn formuliert S. SCHEIBE die Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe; „Allerdings müssen die Eingriffe in die überlieferte Textform durch die Anwendung strenger formaler Kriterien gebunden sein. Ein Eingriff ist nur dann zulässig, wenn etwa syntaktische Widersprüchlichkeiten auftreten, wenn eindeutige orthographische Fehler vorliegen oder wenn der Text so interpungiert ist, daß sein Sinnbezug unzulässig gestört ist. Dabei ist stets zu beachten, daß derartige Widersprüche und Unregelmäßigkeiten nicht an den heute geltenden Regeln zu messen sind, sondern daß sie an zeitgenössischen Texten, an dem zeitgenössischen Gebrauch überprüft werden. Als oberster Grundsatz für alle Eingriffe muß gelten, daß in Zweifelsfällen die Textgestalt des zugrundegelegten Zeugen erhalten bleibt und daß mögliche andere Formen nur im Apparat angegeben werden... Kriterium fehlerhafter Stellen ^ Vgl. /. Gauvirt: Wortindex zu Hegels Phänomenologie des Geistes. Bonn 1977. (Hegel-Studien. Beiheft 14.)

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ist, daß sie für sich oder im engeren Kontext keinen Sinn zulassen .. Entsprechend warnt H. KRAFT: „Beim Aufsuchen der Textverderbnisse ist äußerste Behutsamkeit erforderlich; vor einer selbstbewußten Konjekturalkritik kann nicht genug gewarnt werden.ILTING weiß von diesen in der neueren Germanistik viel diskutierten Fragen offenbar nichts. Er setzt auf den Herausgeber mit Divinationsgabe (I 370). Das Editionsprinzip einer möglichst originalgetreuen Wiedergabe der Quellen bedeutet für ihn in Wahrheit eine bequeme und gedankenlose Hypothese. Es werde dabei einerseits die Frage nach der Relevanz der zu reproduzierenden Details übersprungen und andererseits dem Leser zuviel Eigenarbeit zugemutet. Bei philosophischen Texten komme es auf den Gedanken an, „und alles, was man zur bloßen Patina eines Textes rechnen kann, erhält hier bestenfalls einen gewissen ästhetischen Reiz. Zur bloßen Patina eines rezenten Manuskripts gehören z. B. Orthographie und Zeichensetzung, zumal da deren Regeln in den letzten hundert Jahren erheblich verfeinert worden sind und so Präzisierungen bei der Wiedergabe von Gedanken ermöglichen, auf die kein Verständiger wird verzichten wollen. Erst recht gilt dies natürlich für Vorlesungsnachschriften, da deren Authentizität ja mit der Orthographie und Zeichensetzung des mitschreibenden Studenten nichts zu tun hat. Aber dies gilt ebenso auch für die Edition von Originalhandschriften oder von Veröffentlichungen, die ein Autor einst selbst besorgt hat." (1365) Eine solche Verfahrensweise kann allenfalls für Vorlesungsnachschriften eine gewisse Gültigkeit beanspruchen, da es sich hier um indirekte Überlieferungen handelt, keineswegs kann sie jedoch für Texte gelten, die in der Handschrift des Autors oder in von ihm autorisierten Druckwerken überliefert sind. So ist mit H. KRAFT und anderen an dem Grundsatz festzuhalten: Jedes Werk bewahrt die Orthographie und Zeichensetzung seiner Druckvorlage. Dieses Editionsprinzip „ist unverzichtbar für wissenschaftliche Ausgaben; für nicht-wissenschaftliche Ausgaben gilt er mindestens als Orientierung".^ Es bedarf kaum einer weiteren Erläuterung oder Begründung, daß dieser für die Edition von Werken der Dichtung ausgesprochene Grundsatz gerade auch bei philosophischen Texten Anwendung findet. Zu welchen Resultaten führt nun ILTINGS um solche editorische Bedenken und Kautelen unbekümmerter Entwurf eigener Editionsprinzipien ■* G. Martens/H. Zeller (Hgg.): Texte und Varianten. München 1971. 42 f. ® H. Kraft: Die Geschichtlichkeit literarischer Texte. Bebenhausen 1973. 46. * H. Kraft. 51; vgl. auch 54.

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für philosophische Texte? Dies läßt sich anhand seiner Ausgabe der im Winter 1817/18 in Heidelberg entstandenen Rechtsphilosophie-Nachschnit von WANNENMANN gut illustrieren. Im folgenden sollen einige Beispiele angeführt und gleichzeitig auf die Textfassung in der Ausgabe des HegelArchivs^ verwiesen werden. Dem ,denkenden Editor' räumt ILTING nahezu unbegrenzte Freiheiten ein. So werden in eckigen Klammern Überschriften eingefügt (ein Verfahren, das ILTING sogar bei der Edition eines Hegelschen Drucktextes, nämlich der Grundlinien der Philosophie des Rechts übte), der Text wird ohne Angaben in Absätze gegliedert und Sätze werden in runde Klammern gesetzt. Alles dieses geschieht ohne Auszeichnung im Apparat; eine Unterscheidung zwischen Absätzen des Autors und des Herausgebers, Klammern des Autors und des Herausgebers ist dem Benutzer dieser Ausgabe dann selbstverständlich nicht möglich (1124,13-16; Klammern des Herausgebers, 115,i: Klammern des Originals; vgl. W 137,827-830 und 122,331-332). Auch auf die Angabe der Originalpaginierung darf dann verzichtet werden. Da das Prinzip einer möglichst genauen Wiedergabe des Textes von ILTING desavouiert wird, stellt sich die Frage, ob von ihm wenigstens eine zuverlässige Entzifferung erwartet werden kann. Aber auch in diesem zentralen Punkt enttäuscht ILTING. SO wird „notwendiges Moment" statt „wesentliches Moment" (1175,i; vgl. W 221,6ii) gelesen, „Kontrollkollegium" und „Kontrollpunkt" statt „Zentralkollegium" und „Zentralpunkt" (1 170,24; vgl. W 214,375«), „Allgemeinheit" statt „Allheit" (1132,i; vgl. W 150,249). Von Lesefehlern ist sicherlich keine Ausgabe ganz frei, bei ILTING häufen sie sich zu sehr. Selbst dort, wo mit einer Apparatnotiz in den Text eingegriffen wurde, wo also der Editor in der Regel besonders aufmerksam den Text betrachtet hat, treten falsche Lesungen auf. So wird „der Klassen" statt „des Kaffees" (1115,i; vgl. W 122,332) gelesen, wobei der Artikel mit Apparat geändert wird. Die Notwendigkeit von „ein bißchen Divinationsgabe" bei der editorischen Tätigkeit illustriert ILTING am Beispiel der Veränderung von Kapstadt in Rastatt, die er für sich in Anspruch nimmt. Im Original steht aber gar nicht Kapstadt, sondern Rastatt (vgl. I 370 und 195,46; vgl. W 255,74o).

^ Vgl. Hegel: Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft. Heidelberg 1817/18 mit Nachträgen aus der Vorlesung 1818/19. Nachgeschrieben von P. Wannenmann. Hrsg, von C. Becker, W. Bonsiepen, A. Gethmann-Siefert, F. Hogemann, W. Jaeschke, Ch. Jamme, H.-Ch. Lucas, K. R. Meist, H. Schneider, mit einer Einleitung von O. Pöggeler. Hamburg 1983. (Hegel: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Bd 1.) - Zitiert: W.

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Ebenso hätte es an einer anderen Stelle auffallen müssen, daß eine halbe Manuskriptzeile fortgelassen wurde und damit der Sinn von Hegels Argumentation ganz verlorenging (1180,18; vgl. W 230,897-899). Hegel rechtfertigt an dieser Stelle die Aufteilung der Ständeversammlung in zwei Kammern. Er erklärt, es müsse zwischen der Kammer, die das demokratische Prinzip verkörpert, und der Regierung eine Kammer stehen, die zwischen beiden Institutionen vermittelt. Wenn beide Kammern einer Meinung sind, so argumentiert Hegel, ist die Regierung unterlegen. Vertreten jedoch beide Kammern nicht einen gemeinsamen Standpunkt, d. h. tritt nur die zweite Kammer in Opposition zur Regierung, so wird durch das Verhalten der ersten Kammer eine Konfrontation vermieden; die Ständeversammlung tritt nicht als solche in Opposition zur Staatsgewalt. In ILTINGS Ausgabe lautet der Text nun so: ... daß dadurch die Ständeversammlung weniger im Falle ist, der Regierung bei Verschiedenheit der Ansichten über wichtige Angelegenheiten gerade gegenüberzustehen, und [daß] zwischen der einen Kammer, in welcher das demokratische Prinzip das überwiegende sein muß, [und der Regierung] ein vermittelndes Element steht, welches, im Falle es mit seiner Stimme zu diesem tritt, dessen Gewicht umso mehr vermindert, daß dieses nicht in Opposition mit der obersten Staatsgewalt erscheint.

Im kritischen Apparat gibt ILTING an, daß er „verhindert" in „vermindert" verbessert hat. Aber auch durch diese Konjektur gibt seine Textfassung keinen Sinn. Indem die erste Kammer zu der zweiten tritt, verstärkt sie deren Gewicht gegenüber der Regierung, so daß diese der Mehrheit der beiden Kammern weichen muß. ILTINGS Schwierigkeiten verschwinden von selbst, wenn man die fortgelassene halbe Manuskriptzeile mitliest und das „nicht" vor „in Opposition" als Bekräftigung von „verhindert" versteht oder es streicht. Der Text lautet dann: ... zwischen der einen Kammer, in welcher das demokratische Prinzip das überwiegende sein muß, [und der Regierung] ein vermittelndes Element steht, welches, im Falle es mit seiner Stimme zu diesem tritt, dessen Gewicht um so mehr verstärkt und, wenn es von demselben abweicht, verhindert, daß dieses in Opposition mit der obersten Staatsgewalt erscheint.

Mag das Hinweisen auf Einzelheiten falscher Entzifferung noch etwas penetrant wirken, so dürften doch Fehler des denkenden, mit Divinationsgabe arbeitenden Editors dem eigenen Anspruch nach ernster genommen werden. Sie sind ebenfalls zahlreich vorhanden. Die folgende

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Stelle kommentiert lautet:

ILTING

selber (vgl. 1 369). Der Text des Manuskripts

Der Volksgeist ist die Substanz, was vernünftig ist muß geschehen. Indem überhaupt die Verfassung eine Entwicklung ist, und die einzelnen Momente erhalten die Form eines von einer Seite, dem Volke oder dem Fürsten errungenes, durch Verträge oder durch Gewalt ... ILTING

bietet diese Textfassung an;

Der Volksgeist ist die Substanz. Was vernünftig ist, muß geschehen, indem überhaupt die Verfassung seine Entwicklung ist. Die einzelnen Momente erhalten die Form eines von einer Seite, dem Volk oder dem Fürsten, Errungenen, durch Verträge oder durch Gewalt. (1157,3-6) Bei folgender, sehr viel weniger in den Text eingreifender Korrektur läßt sich jedoch dem Original ein sinnvoller Gedanke entnehmen: Der Volksgeist ist die Substanz; was vernünftig ist, muß geschehen. Indem überhaupt die Verfassung eine Entwicklung ist, erhalten die einzelnen Momente die Form eines von einer Seite, dem Volk oder dem Fürsten, Errungenen, durch Verträge oder durch Gewalt. (W 192,633-63?) In dem angeführten Text ändert ILTING „eine" in „seine", „und die" in „.Die" sowie „errungenes" in „Errungenen" mit entsprechenden Angaben im Apparat. Die Schaffung eines ganz neuen Satzgefüges wird jedoch nicht erwähnt; die Änderung von „was" in „Was" und von „Indem" in „indem" geschieht ohne Apparat. Eine solche gravierende Änderung, die einen neuen Sinnzusammenhang herstellt, darf auch in Fällen, in denen sie sich als unvermeidlich erweisen sollte, nicht ohne Angabe im kritischen Apparat vorgenommen werden. Ebensowenig kann das Einsetzen von Gliederungsziffern ohne Apparat hingenommen werden (1120,25; vgl. W 131,624). ILTING ändert in seiner Edition gelegentlich sogar gegen eine ganz offenbar andere Intention des Originaltextes. So lautet der Text des Manuskripts: Daß der Angeklagte Vertheidiger haben muß ist ebenso eine natürliche Sache, weil ihm ein Mann gegeben werden muß zu dem er Zutrauen hat. Das erste was wir betrachteten ILTING

ändert mit Apparat in:

Daß der Angeklagte ... Zutrauen hat. Das nächste was wir betrachten, ist [die Polizei]. (1 136,32-34)

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Daß der Herausgeber „ist" ergänzt, wird dabei jedoch nicht vermerkt. ILTING konjiziert, weil er den Rückverweis auf den Anfang des Paragraphen nicht erkennt, wo der Begriff des Zutrauens, von dem hier die Rede ist, eingeführt wird. Es muß also richtig heißen: Daß der Angeklagte ... Zutrauen hat - das erste, was wir betrachteten. (W 158,518-520)

Neben solchen Eingriffen finden sich auch überflüssige, wenn z. B. „Mehrzahl" in „Mehrheit" geändert wird (1181,7; vgl. W 231,937), wenn statt „fehlen" „sich verfehlen" gesetzt wird (1 188,29; vgl. W 243,343). Darüber hinaus unterläßt ILTING Eingriffe, wo sie unbedingt erforderlich wären. Er beläßt es bei folgendem Text (1 170,38-4i; vgl. W 21 5,392-394): ... müssen sie von ihren Stellen, zu welchen sie nach der subjektiven Seite der Ernennung zu der fürstlichen Gewalt berufen sind ... Es muß geändert werden in: .. .müssen sie von ihren Stellen, zu welchen sie nach der subjektiven Seite der Ernennung durch die fürstliche Gewalt berufen sind ... Dem Original wird auch an dieser Stelle ohne Eingriff gefolgt (1 120,28-3o; vgl. W 131,628-630): Er ist daher an seiner Reflexion sowie in Rücksicht seiner Bedürfnisse des Tauschs seiner Arbeiten sowie auch seiner Werkzeuge durchaus auf die Vermittlung mit anderen gewiesen. Hier muß geändert werden in: Er ist daher in seiner Reflexion sowie in Rücksicht seiner Bedürfnisse des Tauschs seiner Arbeiten sowie auch seiner Werkzeuge durchaus auf die Vermittlung mit anderen angewiesen. übernimmt ebenfalls den unveränderten Text der Handschrift an folgender wichtiger Stelle (1 137,23-26; vgl. W 159,559-562): ILTING

Als in der bürgerlichen Gesellschaft geboren, ist der einzelne von ihr selbst, für die Wirklichkeit seines Rechts zu leben, auf sie als dessen unorganische Natur und äußere Bedingungen angewiesen. Hinter „zu leben" müssen zwei Wörter eingefügt werden, so daß der Satz dann heißt: Als in der bürgerlichen Gesellschaft geboren, ist der einzelne von ihr selbst.

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für die Wirklichkeit seines Rechts zu leben, [abhängig und] auf sie als dessen unorganische Natur und äußere Bedingungen angewiesen.

Weiterhin kann man ILTINGS Verfahren, für die Einleitung der Vorlesung des Wintersemesters 1818/19 in Berlin die Nachschriften von HOMEYER und WANNENMANN ZU kompilieren, nicht akzeptieren. Obwohl durch Großbuchstaben am Rande die Übergänge von einer Nachschrift zur andern gekennzeichnet werden, entsteht doch ein Text, der weder von WANNENMANN noch von HOMEYER stammt, sondern allein von dem Herausgeber erstellt wurde. Man hat oft den Eindruck, daß die beiden Nachschreiber ein und dieselbe Vorlesung ganz verschieden rezipiert haben. ILTING gesteht selber, daß die Abweichungen überraschend groß seien (1373). Es ist bisher noch keine Editionsmethode bekannt geworden, die verschiedene Nachschriften einer Vorlesung so ineinander fügt, daß dadurch wirklich das gesprochene Wort rekonstruierbar, also eine Textkontamination vermieden wird. Auch bei unmittelbaren Mitschriften muß man eine durchaus subjektive Rezeption des gesprochenen Wortes voraussetzen. Das Ineinanderfügen dieser Mitschriften scheint nicht nur das Ziel, Hegels Vortrag möglichst weitgehend zu reproduzieren, nicht zu erreichen, sondern es besteht die Gefahr, daß durch die Zusammenstellung der Texte durch den Herausgeber noch weiter vom Hegelschen Wortlaut weggeführt wird, als dies ohnehin schon durch den Mitschreiber geschieht. Außerdem sind wir heute in einer ganz anderen Situation als die Herausgeber der sogenannten Freundes-Vereins-Ausgabe®, die jene Texterstellung wagen zu können glaubten, weil sie Hegels Vorlesungen selber gehört hatten und überdies noch über uns heute nicht mehr erhaltenes Material verfügten. Dem Vorgehen der Freundes-Vereins-Ausgabe wird man also auch nicht in ,kritisch gereinigter Form' nacheifern können. Ein Rückgriff auf die altphilologische Editionsmethode ist ebenfalls nicht möglich. Dort handelt es sich um einen Vergleich von Abschriften, um ein Auswechseln von EinzelstellenNur in dem Sonderfall von mitstenografierten Nachschriften wäre eine Übernahme dieser Editionsmethode denkbar. Abschließend läßt sich sagen, daß die Berufung auf eine sogenannte Divinationsgabe des Editors unhaltbar ist. ILTINGS Haltung führt dazu.

“ Vgl. G. W. F. Hegels Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten. Berlin 1832 ff. * Vgl. H. Kraft (Anm. 5). 24 f.

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dem Editor eine ästhetische, teleologische oder analytische Entscheidung über das zu bearbeitende Werk einzuräumen, was mit der neueren Philologie strikt abzulehnen ist'°. Leicht treten subjektive Evidenzen auf, deren Stringenz der Leser nicht nachvollziehen kann bzw. die einen ungeübten Leser zu einer falschen Lesart verführen. Außerdem ist die historische Distanz bewußt zu wahren und dem Leser ein größtmögliches Interpretationspotential zu überlassen. Mit einer gewissen Überschätzung der eigenen editorischen Kompetenz geht bei ILTING eine Vernachlässigung unentbehrlicher Genauigkeit bei der Wiedergabe des Textes Hand in Hand. Er kommt zu seiner Gegenüberstellung von sogenannter philologisch-textkritischer Edition und buchstabengetreuer Edition aus Unkenntnis über die Aufgaben einer historisch-kritischen Methode, die terminologisch zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Geschichtswissenschaft eingeführt, dann auf neugermanistische Editionen übertragen wurde und deren Prinzipien durch F. BEISSNERS Stuttgarter HöLDERLIN-Ausgabe nachhaltig festgeschrieben wurden. Seitdem hat es auch Bemühungen gegeben, eine Theorie der Edition zu entwickeln, an denen man nicht einfach Vorbeigehen kann. Bei ILTING stimmt nicht nur die Theorie der Edition nicht, sondern ebensowenig - und das nicht von ungefähr - deren Praxis. Gegenüber seiner Hochstilisierung des philosophischen Editors ist zu sagen, daß eine textgetreue Edition, in der es durchaus auch auf den Buchstaben ankommt, ein denkendes Umgehen mit dem Text nicht nur nicht ausschließt, sondern gerade ein sich auf den Text und sein geistiges und historisches Umfeld einlassendes Denken unabdingbar erfordert. Was allerdings unter Denken genauer zu verstehen ist, wird unter Philosophen wohl immer kontrovers bleiben.

Vgl. ebda. 37.

HOWARD P. KAINZ (MILWAUKEE)

ÜBER DIE PHILOSOPHISCHE PARADOXIE

I. Logik, Semantik, Grammatik und Paradoxie Paradoxien sind in der Geschichte der Philosophie im allgemeinen als eine Verlegenheit betrachtet worden. Einige der klassischen Gelehrten verbrachten den besten Teil ihres Lebens damit, daß sie versuchten, der Aussage „dieser Satz ist nicht wahr" Sinn zu geben (oder irgendeiner anderen Variation der berühmten Lügen-Paradoxie, z. B. „jegliches Wissen ist zweifelhaft" und „jede Regel hat eine Ausnahme"), und es wird angenommen, daß wenigstens einer oder sogar zwei von ihnen infolge ihrer Frustration über solche Bemühungen einen frühzeitigen Tod erlitten. Obwohl solche Paradoxien im allgemeinen im logisch-syntaktischen Bereich widerlegt worden sind, möchte es scheinen, daß es einige vorhergehende grammatische Probleme gibt, welche die Formulierung der Paradoxien in dieser Art kaum zugänglich für logische Analysen machen. Z. B. ist es nicht einfach, eine befriedigende Formulierung der Lügen-Paradoxie zu finden. In der Formulierung „dieser Satz ist falsch" bezieht sich das Wort „dieser" konventionell in der Umgangssprache nicht auf jene Aussage, in welcher es erscheint, sondern es bezieht sich auf eine vorhergehende Aussage, so daß jemand, der diese Formulierung hört, mit Recht fragen darf; „Welcher Satz?" In der klassischen Formulierung des kretischen Propheten von EPIMENIDES, „Alle Kreter lügen", könnte es zugelassen werden, daß sich EPIMENIDES auf alle restlichen Kreter bezieht, aber nicht auf sich selbst. Falls EPIMENIDES aber ohne Umschweife deklariert hätte: „Ich bin ein Lügner", dann könnten wir sicherlich annehmen, daß er sich auf all seine anderen Aussagen bezieht, jedoch nicht auf diese letzte, also genau wie ein chronischer Lügner, der sich besonnen hat und nun seine erste wahre Aussage über seine vergangenen Missetaten macht (d. h. auch wenn jemand ein Lügner ist, folgt daraus nicht mit Notwendigkeit, daß er durchweg lügt). Ja auch, wenn EPIMENIDES sagen würde: „Die von mir momentan gemachte Aussage ist eine Lüge", könnten und sollten wir mit sophistischer Ruhe fragen: „Welche Aussage?" Die grundlegende Überlegung an dieser Stelle ist, daß alle solche Aussagen 1. als etwas schon Verständli« ches betrachtet werden müssen, ehe man überhaupt ihren Bezug analysieren kann, und 2. können sie sich nicht - noch nicht einmal indirekt - auf sich selbst beziehen. So aus dem Stegreif heraus könnte man anscheinend einen befriedigenden Weg zur Darstellung der Lügen-Paradoxie mit QUINES Zitierungsmethode fin-

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den, z. B. „ ,Enthält eine Falschheit' enthält eine Falschheit". An dieser Stelle tritt aber wieder die Grammatik ein, weil die Konventionen der Sprache es verlangen, daß wir „Dies" oder „Dieser Satz" beifügen, ehe die erste Instanz von „enthält" vorkommt, und diese Beifügung würde die sonst fast perfekte Illusion der Selbstbeziehung zerstören. Ähnliche grammatikalische Schwierigkeiten scheinen in der RussELLSchen Mengen-Paradoxie des Barbiers von Sevilla ^ hervorzutreten (es handelt sich hier um jemanden, der alle die rasiert, welche sich selbst nicht rasieren), indem „alle die" vom Barbier Rasierten sich anscheinend notwendigerweise auf alle anderen außer den Barbier selbst beziehen. Dazu sind logische Beweise angeführt worden, um zu zeigen, daß der Barbier in dieser Paradoxie zu der gleichen Menge nicht gehört, zu der alle diejenigen in Sevilla gehören, welche er rasiert; aber es hat den Anschein, daß wenigstens diejenigen, welche sich über die Übereinstimmung zwischen symbolischen, logischen Formulierungen und dem Übersetzen solcher Symbole in die ümgangssprache einig waren, sodann fähig sein würden, einen Schluß auf einer rein grammatikalischen Basis zu ziehen, so daß die Frage, ob der Barbier sich selbst rasiert oder nicht, gar nicht erst aufkommt. Denn im Zusammenhang der tatsächlich gegebenen Formulierung dieser Paradoxie zeigt es sich als ein Pseudoproblem. Man sollte analoge Zweifel über die Ausdruckskraft von GöDELS Theorem hegen, da manche es als eine hochentwickelte moderne Variation der Lügen-Paradoxie betrachten, weil es ein Theorem ist (meinen sie), welches mit einer mathematischen Formel bewiesen wird, so daß es eben gar kein Theorem ist. FINDLAY legt uns eine zweistufige Übersetzung von GöDELS Theorem in die ümgangssprache nahe, die folgendermaßen ausgeführt werden kann; 1) Sei F = „Wir können den Satz, den wir durch eine Substitution der Variablen in der Satzform Y erhalten, nicht beweisen." 2) Sei G = „Wir können den Satz, den wir durch Substitution der Variablen in der Satzform F mit dem Namen der in Frage stehenden Satzform erhalten, nicht beweisen." Dann mache die in G verlangte Substitution, ersetze die Variable Y (in F enthalten) durch den Namen der in Frage stehenden Satzform, die F ist. Es ist sehr hilfreich, daß FINDLAY der in Frage stehenden Satzform den Namen F gibt. Grammatikalisch gesehen ist es nämlich nicht vollkommen klar, daß sich „die in Frage stehende Satzform" auf F bezieht. Und so, wenn dies als eine gültige Übertragung angesehen werden kann, dann hat es den Anschein, daß sie die Paradoxie, welche wir hier zu sehen glaubten, nicht deutlich enthält. Es kann natürlich auch sein, daß diese Übertragung ungültig ist, und daß GöDELS Theorem folglich wesentlich unangreifbarer in seiner rein mathematischen Anordnung ist und es somit unbelastet von solchen grammatikalischen Beziehungsproblemen bleibt. ' Vgl. f. N. Findlay: Goedelian Sentences. A Non-Numerical Approach. In: Mind. 51 (1942), 259-265.

über die philosophische Paradoxie

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Im logischen Bereich werden schon verschiedene Auswege aus diesem Gewirr von Paradoxien angegeben - einschließlich von RYLES Mengenlehre, RUSSELLS verzweigter Mengenlehre, TARSKIS Unterschied zwischen physikalisch-objektiver Sprache und verschiedenen Metasprachen sowie NEUMANNS Klassen-MengenUnterschied; aber manch launischer Philosoph ist damit immer noch nicht zufrieden. ERIC TOMS fordert RYLES Lösung heraus, indem er meint: „Eine Verallgemeinerung des tatsächlichen linguistischen Gebrauches kann einfach nicht als ein Prinzip für die Verbesserung des tatsächlichen linguistischen Gebrauches benutzt werden.USHENKO argumentiert, daß die Annahme: „Eine Klasse könnte ihr eigenes Mitglied sein", die häufig in der Widerlegung der Lügen-Paradoxie durch die Mengenlehre vorkommt, eigentlich sich selbst widersprechend und sinnlos sei. ^ TOMS kommt mit ergänzender Annäherung an USHENKOS Widerlegung zu einer Folgerung, die den Unterschied zwischen Klasse und Kennzeichen (token) in Betracht zieht. Und MAX BLACK greift die Theorie der Typen an, weil sie ungültigerweise annimmt, daß 0x nur dann sinnvoll ist, wenn x nicht den Wert von 0 hat oder wenn es nicht irgendetwas mit 0 zu tun hat, so daß Selbstbeziehung unmöglich gemacht wird. Auf der anderen Seite haben P. E. B. JOURDAIN und KARL POPPER versucht, die Paradoxie ganz von selbst durch eine Halbierung von zwei gegenseitig implizierten Sätzen verschwinden zu lassen (wie in POPPERS Version: 1) „Die nächste Aussage, welche ich machen werde, ist wahr"; 2) „Die letzte Aussage, welche ich machte, war nicht wahr"). Solche Halbierungsversionen verhelfen dazu, die unvermeidliche Eigenheit der Sprache (was schon vorher angedeutet wurde) zu erhalten, indem sie sich äußerlich auf Antezedenten oder Konsequenten beziehen und nicht auf sich selbst. In diesem Prozeß der Halbierung werden weiterhin die Elemente des circulus vitiosus beseitigt, sowie die begleitende Erscheinung der Selbstbeziehung, welche anscheinend ganz wesentliche Bestandteile dieser Art von Paradoxien sind. Es ist wichtig zu bemerken, daß FINDLAY, indem er GODELS Theorem in eine Umgangssprachenformulierung übersetzte, es notwendig fand, die Paradoxie in ähnlicher Weise zu halbieren, wie es POPPER mit der Lügen-Paradoxie getan hatte. Die logischen Paradoxien scheinen von den natürlichen Beschränkungen unserer logischen Kategorien und Verallgemeinerungen herzurühren. Im besonderen entsteht also nun die folgende Frage: Wie kann sich eine allgemeine Menge als allgemein beinhalten? Denn es hat den Anschein: wenn K eine Menge ist und sich selbst umschließt, dann ist die sich ergebende selbstumschließende Menge so zü K in Bezug gebracht wie das Allgemeine zum Partikulären, und sie ist folglich überhaupt nicht selbstumschließender als z. B. eine größere Schachtel, die eine kleinere umschließt. RUSSELLS Mengenlehre, die danach strebte, den mengenthe-

^ Eric Toms: Being, Negation and Logic. Oxford 1962. ^ Vgl. Toms. 11-13. “* Vgl. ebd. 15-16.

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oretischen Paradoxien vorzubeugen, indem sie eine rigide Hierarchie der Mengen errichtete, wo keine Menge ein Mitglied von sich selbst sein kann, scheint letztlich gesehen nur einfach eine Anerkennung der schon existierenden Situation in der Logik zu sein. Aber RUSSELLS Versuch, eine logische Regel der schon-implizierten logischen Regel zu machen, führte ihn dann doch über die Grenzen der Logik hinaus; dies wurde von BLACK und USHENKO, konvergierend in ihren dennoch divergierenden Kritiken der schon oben erwähnten Mengenlehre, behauptet. Wenn man dann versuchen würde, eine Regel der Paradoxienlösung der RusSELLSchen Mengenlehre zu fingieren (welch letztere aber eine Regel der logischen Regel ist), so würde man sich sogleich in einer anderen Kategorie der Paradoxien befinden bzw. in der „Paradoxie der Unendlichkeit". Die „Achilles"-Paradoxie von ZENO, die verschiedenen „Überraschungs"-Paradoxien, LEWIS CARROLLS Paradoxie der unbegrenzten Beweisungsimplikationen, BRADLEYS Paradoxie der Relationen und ARISTOTELES' berühmtes „Dritter Mann"-Argument gehören inhaltlich auch zu der gleichen Kategorie. Die Unendlichkeits-Paradoxien sind sehr ernsthaft untersucht worden, z. B. von ALAN WHITE, der seine „Schießgalerie"-Lösung für ZENOS „Achilles" antrug^; von RUSSELL, der in den Principia Mathematica einen Unterschied zwischen Regel und Hypothese vorschlug, um der LEWIS CARROLLParadoxie abzuhelfen; und von TOMS, der dieselbe Paradoxie aufgrund dessen widerlegt, daß ein Regreß der Inferenzen auf ein Mißverständnis der Finalität der Substitution und der Spezifizierung in der formalen Logik zurückzuführen ist.* Man möchte aber mit gutem Grund einige Zweifel hegen, ob man die sogenannten „Unendlichkeitsparadoxien" überhaupt als Paradoxien anerkennen sollte. Freilich illustrieren sie Begrenzungen. Genau wie die mengen-theoretischen Paradoxien Begrenzungen des logischen Prozesses von Abstraktion und Verallgemeinerung veranschaulichen, so erläutern auch die Unendlichkeitsparadoxien Grenzen unseres Vermögens, Relationen zu veranschaulichen und zu rechtfertigen ganz gleich, ob dieses nun eine Frage der räumlichen Relationen ist (wie bei ZENOS „Achilles"), ob es sich um zeitliche Relationen handelt (wie irgendeine Variation der ,,Überraschung"-Paradoxie), ob es die Relation zwischen Ideen betrifft (wie in BRADLEYS Paradoxie) oder ob es von den Relationen zwischen logischen Antezedenten und Konsequenten resultiert (wie in CARROLLS Paradoxie). Allerdings besteht hier scheinbar eine Art der Selbstbeziehung insofern, als eine partikuläre Relationsmenge sich wahrscheinlich in eine Unendlichkeit von Relationen ausbreitet und vertieft. Aber es gibt ja keine intrinsischen Elemente der Kontradiktion in den Unendlichkeitsparadoxien. Es gibt indessen eine Art extrinsischer Kontradiktion, insofern als diese Paradoxien im Konflikt mit unseren normalen Erwartungen und Denkweisen stehen. Und dies gibt ihnen dann im weitesten Sinne ein Anrecht darauf, als Paradoxie bezeichnet zu werden (genauso wie z. B., wenn * Vgl. Alan White: Achilles at the Shooting Gallery. In: Mind. 72 (1963), 141-142. * Vgl. Toms (Anm. 2). 52-54.

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irgend etwas geschieht, das gegen die alltägliche Meinung oder Erfahrung spricht, es als etwas „Paradoxes" angesehen wird). Aber was man als eine Paradoxie im engsten Sinne ansieht (wie sogar das Wörterbuch andeutet), d. h. eine sich widersprechende Tatsache oder eine Situation der Opposition, muß stets mit denselben tatsächlich gebrauchten Worten ausgedrückt werden. Es wird allgemein angenommen, daß GRELLINGS Paradoxie - „Ist, heterologisch' heterologisch?" - einen logischen Charakter hat; aber sie wird ebenso grammatikalisch verursacht, da eine Verwirrung durch den Konvenhonsgebrauch der Anführungsstriche, die das Wort umschließen, entsteht. Ein gewissenhafter Grammatiker würde z. B. die Möglichkeit, daß „ ,heterologisch' " als homologisch zu „heterologisch" steht, niemals in Erwägung ziehen. Dieses letztgenannte Beispiel kommt wahrscheinlich mehr als alle anderen einer Illustration nahe, welche in einer knappen und intuitiven Weise den wesentlichen Zwang der Paradoxie zur Wahl des Wortgebrauchs darstellt, da es fast so scheint, daß sich die Worte auf sich selbst zurückbeugen und sie dann irgendeine grundlegende Kontradiktion im Kern erfassen. Nichtsdestoweniger wissen wir doch alle, daß sich weder Worte noch Wortreihen in Sätzen dieser Art auf sich zurückbeugen. Nur Menschen können so etwas tun. Und wenn es möglich wäre, daß Worte die Fähigkeit hätten, sich dem Handeln des Selbstbewußtseins anzunähern, so wäre es anscheinend sehr wichtig, und zwar im Interesse von Klarheit, solch ein Tun unserer gewöhnlichen Logik und Sprache ganz resolut zu verbieten. Dies scheint jedenfalls die Einsicht und Motivation unzähliger Philosophen, von ARISTOTELES bis zu den heutigen, zu sein, die ihr Bestes getan haben, die Paradoxie oder die Möglichkeit für paradoxe Ergebnisse sowie paradoxe Lösungen oder Antworten zu bekämpfen. Trotz aller dieser Divergenzen sind sich einige der oben genannten Philosophen darin einig, daß die Möglichkeit besteht, Lösungen für die Paradoxien zu finden. Einige andere sind dennoch nicht so weit gegangen. Z. B. behauptet GRAHAM PRIEST, daß alle bis jetzt angeführten Lösungen für semantische und logischsyntaktische Paradoxien bestenfalls „ad hoc" sind, da sie keinen Grund dafür geben, mangelhafte Prämissen zurückzuweisen, es sei denn, daß die Prämisse die „akzeptable" Lösung blockiert.^ ERIC TOMS fordert nicht nur die Lösungen für Paradoxien heraus, sondern er bestreitet sogar die Annahme, daß Paradoxien überhaupt ein Problem sind. Seine logisch-ontologische Analyse schildert die Paradoxie als ein „überfordertes" Ergebnis von irgendeiner logischen Inferenz ein Ergebnis, das uns nicht in Verlegenheit bringt, sondern eine positive und progressive Entwicklung bedeutet. TOMS' negativ-reflexive Paradoxie - „Es gibt keine negierenden Tatsachen"® - hat ganz offensichtlich gewisse Ähnlichkeiten mit der

’’ Vgl. Graham Priest: Logic of Paradox. In: The Journal of Philosophical Logic. 8 (1979), 219-241. ® Vgl. Toms (Anm. 2). 81 ff.

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Lügen-Paradoxie, da, sobald die Aussage wahr ist, die Aussage selbst wenigstens als eine negierende Tatsache existiert, usw., und dies scheint sodann mengentheoretisch faßbar zu sein, insofern die paradoxe Aussage - als eine negierende Tatsache - anscheinend einer anderen Kategorie oder Menge als der des Grundsatzes negativer Tatsachen, die von der Aussage verneint wird, angehört. Die negativreflexive Paradoxie ist nicht nur eine Herausforderung, deren Überwindung mit Hinsicht auf weitere Fortschritte in der logischen Theorie gefordert wird, sondern sie ist auch ein Anzeichen dafür, daß sich die traditionelle Logik in ihrer konstitutionellen Hemmung gegenüber den Paradoxien unvollständig zeigt, in ihrer Unfähigkeit, Wahrheiten auszudrücken, von denen einige - oder vielleicht sogar sehr viele - wesenhaft paradox sind. Weiter^ weist TOMS darauf hin, daß Paradoxien nur ein Problem für die Logik, nicht aber für Umgangssprachen sind (z. B. die Objektsprache, die Elektronensprache, die Sinnessprache usw.), welche alle auf der Realität basieren und zweckmäßige Unterschiede entweder hervorbringen oder annehmen (d. h. TOMS geht davon aus, daß solche Umgangssprachen die grammatikalische Kapazität haben, die paradoxe Situation entsprechend zu repräsentieren). TOMS hat mit seinen Beweisführungen nur wenige andere Philosophen auf seiner Seite; bemerkenswert sind STEPHANE LUPASCO'“ und GEORGE MELHUISH", die beide, obwohl sie ihre Argumente für eine Logik der Paradoxien auf rein logisch-metaphysische Überlegungen begründen, kein Geheimnis daraus machen, daß sie ihre grundlegende Motivation ebenso wie ihre intellektuelle Unterstützung aus der zeitgenössischen Entwicklung der Mathematik und Physik empfangen haben. Ehe wir weitere logische und philosophische Gesichtspunkte dieser Frage betrachten, sollten wir einen Blick auf diese Fortschritte in anderen Bereichen werfen, welche doch wohl wenigstens einen Anstoß dazu geben könnten, die Annahme der traditionellen nichtparadoxen Logik aufs neue zu untersuchen.

II. Mathematik, Wissenschaft und Paradoxie Wie schon angedeutet wurdekönnte GODELS Theorem als eine interessante und außerordentlich fortschrittliche mathematische Variation der Lügen-Paradoxie angesehen werden. Trotzdem geht diese Variation, da sie eine Aussage von innerhalb des Systems über das ganze System enthält, weit über die Unentscheidbarkeit der Lügen-Art der Paradoxie hinaus, bis sie in vermehrte Implikationen

5 Vgl. ebd. 6. Vgl. Stephane Lupasco: Logique et contradiction. Paris 1947; und: L'energie et la mattere physique. Paris 1974. ” Vgl. George Melhuish: The Paradoxical Nature of Reality. Bristol 1973. Vgl. oben Seite 272

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bezüglich der Systembegrenzungen zum Allgemeinen kommt. Damit wird demonstriert, daß dieselben Axiome, welche dazu bestimmt waren, die Vollständigkeit der Zahlentheorie zu sichern, es sozusagen nur durch maßlose Übertreibung zu einer ironischen strukturellen Unvollständigkeit bringen. Der Prädikat-Kalkül, der solch eine Vollständigkeit nicht vorschützt, ist am Ende wahrscheinlich wesentlich vollständiger. Jedenfalls gibt es bei ihm keinen Weg, seine Unvollständigkeit in einer einzigen sauberen Formulierung - nach GODELS Art - zu demonstrieren. Aber er kann die Paradoxierung bestimmt nicht einschließen. Und dies könnte dann eine Art der Unvollständigkeit sein, es sei denn, daß man alle Paradoxien insgesamt als Unsinn abfertigt. Wie es sich damit auch verhalten mag, ich hoffe, im folgenden zu zeigen, daß es einfacher ist, die logischen und semantischen Paradoxien als Unsinn abzufertigen als diejenigen, welche in der Literatur, der Religion und der Philosophie Vorkommen. Gewisse Variationen des GOoELSchen Theorems und verschiedene Anwendungen mit Computer sind von CHURCH, TURING, TARSKI und anderen produziert worden. LUCAS hat darauf hingewiesen, daß GODELS Theorem zeigt, wenn es bei künstlichen Intelligenzsystemen angewendet wird, daß diese Systeme wesentlich und unveränderlich dem menschlichen Verstand untergeordnet bleiben, da selbst die fortgeschrittensten Computer ein Unvollständigkeitstheorem über ihr eigenes System nicht formulieren können. Um ein solches Theorem zu formulieren, wird verlangt, daß man in gewisser Weise außerhalb der materiellen Existenz und der Begrenzungen des eigenen Systems stehen kann - etwas, was keine Maschine vermag. Ja sogar, wenn eine Maschine von einem menschlichen Operator so programmiert wäre, daß sie sukzessive GooELSche Formeln ad infinitum produzieren könnte, so würde die Maschine (um es anthropomorph auszudrücken) doch nicht die geringste Erkenntnis der Unvollständigkeit ihres ganzen Systems haben, während ein menschlicher Operator, dem die begrenzten Spezifikationen bekannt sind, zu denen das „Gödelierungsverfahren" leitet, die Unvollständigkeit natürlich erkennen würde, und er würde dieser Erkenntnis einen formellen Ausdruck in einer passenden GöoELSchen Formel geben. Es ist aber klar: sollte sich das Gödelierungsverfahren als zu verzwickt erweisen, dann wäre es sogar einem außerordentlich findigen Menschen unmöglich, dessen Unvollständigkeitssfatus zu begreifen und ihm Ausdruck in mathematischen G-Formeln zu geben. Also scheint es, als ob LUCAS allerhöchstens behaupten könnte, daß, wenn es dazu käme, daß Verstand und Maschinen Verfahren von ähnlicher Schwierigkeit ausführten, im Verstand ein Erkenntnisteil existierte, der in einer Maschine nicht wahrgenommen werden könnte; es wäre also dann der Verstand mit seiner Überzeugung der Unvollständigkeit, der es dem Operator ermöglichte, den Computer so zu programmieren, daß er die Unvollständigkeit überhaupt erst einmal beweisen könnte. Diese Art der Argumentation ist natürlich einfach eine zeitnössische Vgl. /. R. Lucas: Minds, Machines, and Goedel. In: Philosophy. 36 (1961), 112.

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Bemäntelung der traditionellen spiritualistischen-materialistischen Auseinandersetzung; d. h. der Frage, ob sich der Verstand auf das Gehirn und neurologische Prozesse reduzieren läßt oder ob er in irgendeiner Weise geistig (seelisch) über seinen körperlichen „Instrumenten" steht. Das Argument von LUCAS, das nebenbei noch diese abgegriffene Auseinandersetzung ausgräbt, fügt dennoch die interessante Anregung hinzu, daß unsere Erkenntnis der Unvollständigkeit der von uns konstruierten Systeme vielleicht ein oder sogar das grundlegende menschliche Merkmal ist. Physiker der Quantentheorie haben sich in ihrem Bereiche nicht nur der Existenz von Paradoxien überlassen; sie scheinen vielmehr geradezu unziemlich in Paradoxien zu schwelgen. Das HEisENBERCsche Unbestimmtheitsprinzip klingt in seiner Formulierung dem GooELSchen Theorem sehr ähnlich, mit der Ausnahme, daß es, anstatt von einem starken und folgerichtigen System, an dem etwas unvollständig sein könnte, zu berichten, mitteilt, daß ein Teilchen mit Position kein Momentum haben könne - eine Darlegung, welche von allen newtonschen Physikern, einschließlich EINSTEIN, und von vielen in seiner Generation, als „paradox" angesehen wurde. Aber seit 1964 BELLS Theorem den „EINSTEIN-PODOLSKYROSEN" (EPR)-Effekt aus einer Bestätigung des traditionellen Kausalitätskonzepts in eine eindrucksvolle Verteidigung der experimentalen Gültigkeit in Quantenmechanik umsetzte, ist der Widerstand gegen die Akzeptierung der nichtkonventionellen Quantentheorie wesentlich gemildert worden. Der Quantenphysiker spricht weiterhin von einem submikroskopischen Bereich, in welchem eine ganz erstaunliche Transformierung von Wellen in Teilchen und umgekehrt stattfindet, - eine Transformation, in der (wie FEINMANS Diagramme darlegen) Ursachen nach ihren Effekten erscheinen und wo die Zeit rückwärts läuft, und in welcher Elektronen, Protonen, Neutronen, Photonen und andere Teilchen einander scheinbar implizieren, ganz so wie sich Gegensätze und Unverträglichkeiten in Paradoxien gegenseitig implizieren. Man sollte dann nicht darüber staunen, daß schon das bloße Bestehen der Quantenphysik als eine hauptsächliche Bekräftigung der heutigen Wissenschaftswelt dafür angenommen wird, daß es nicht mehr möglich ist, eine paradoxe Weltanschauung für töricht zu erklären oder einfach zu meiden. Falls die Quantenphysik etwas mit den Grundsätzen der Realitäten zu tun hätte, wie es die NewioNSche Physik tut, so schienen solche Folgerungen gerechtfertigt zu sein. Indessen hat die Quantenphysik mehr mit den Metaaussagen der Realitäten zu tun. Der Quantenphysiker spricht niemals vom Momentum dieses oder jenes Teilchens oder von der virtuellen Kreation des Teilchens von einem Photon (es sei denn, er vergißt sich momentan); nein, er spricht von der Wellenfunktion auf seinem Kurvenblattausdrucker und vom Probabilismus des Teilmomentums, Ausstrahlung der virtuellen Teile usw., welche anhand seiner Berechnung dieser Wellenfunktionen vorhergesagt werden. Er hat gar nichts mit der tatsächlichen Existenz der Teilchen zu tun usw. (falls sie überhaupt existieren).

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sondern er kümmert sich um statistischen Probabilismus, indem er durch dieses oder jenes Experiment mit Hilfe seines Zyklotrons Evidenz über den Zustand der Teilchen, Wellen usw. liefert. Es ist einleuchtend, daß wir die Quantenphysik nicht dazu benutzen können, um voreilig zu schließen: „Die Wirklichkeit ist paradox", obwohl wir sie natürlich dazu benutzen können, die Hypothese (falls die externe Realität den geistigen Untersuchungen und unseren Meßgeräten untergeordnet ist), daß die externe Realität Metaaussagenergebnisse hervorbringt, zu bestärken. MELHUISH, der sich damit beschäftigte, die einschlägige Arbeit LUPASCOS über die Paradoxienlogik im physikalischen Bereich anzuwenden, scheint ab und zu in bezug auf die Ergebnisse der Quantenphysik wieder in die Grundsatzsprache zu verfallen. Z. B. spricht er von Elektronen, die nicht mehr der traditionellen Kausalitätsformunterworfen sind, und von der Unanwendbarkeit CARTEsischer Koordinaten im physikalischen Bereich*^; aber meistens schildert er die Entitäten der Quantenmechanik als ein Mittel, um die dauerhaften Wirklichkeiten in der NEWTONSchen Physik durch die von ARISTOTELES gebrauchte Idee von Potentialität als eine Vermittlungsphase zwischen Sein und Nichtsein zu ersetzen. MELHUISH erinnert uns weiterhin daran, daß HEISENBERGS Unbestimmtheitsprinzip nicht nur im submikroskopischen Bereich, sondern im ganzen Kosmos gültig ist, und er legt uns nahe, daß der größte Mangel der traditionellen Logik in bezug auf die makroskopische Welt in Abhandlungen über die Veränderung liegt. Er meint, normale Logik müsse mit einem statischen Weltbild und mit einer Veränderungsstatik aufhören, weil dies Aufhören eben in ihrem Wesen und in ihren Voraussetzungen liege. Und in diesem Sinne, anstatt die Achillesparadoxie des ZENO ZU widerlegen, nutzt MELHUISH sie als eine Art lehrreichen Beispiels aus, eine Darlegung, welche die tiefliegenden, ja apriorischen Tendenzen der traditionellen Logik bloßlegt, alle Veränderungen als „paradoxe" zu erwägen (insofern sie gegenteilige und unverträgliche Zustände in einer Entität vereinigen).'*

III. Logisch-Philosophische Betrachtungen Theorem, die Quantenphysik, das Unbestimmtheitsprinzip usw. können alle nur indirekt zur Evidenz bringen, daß etwas mit der traditionellen nicht-paradoxen Logik nicht stimmen kann. Um eine direkte und höhere Evidenz zu gewinnen, müssen wir einen Blick auf die fundamentalen Pfeiler dieser Logik werfen, z. B. auf die Sätze der Identität, der Kontradiktion und des ausgeschlossenen Dritten. G. W. F. Hegel war, was GODELS

Vgl. Melhuish (Anm. 11). 53 und 54. Vgl. ebd. 57. '* Vgl. ebd. 3-8, 18-19 und 25.

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nicht verwunderlich ist, einer der ersten modernen Denker, der alle drei Prinzipien angriff: ,,Der Satz der Identität lautet demnach: , Alles ist mit sich identisch; A = A'; und negativ: ,A kann nicht zugleich A und nicht A sein'. - Dieser Satz, statt ein wahres Denkgesetz zu sein, ist nichts als das Gesetz des abstrakten Verstandes. Die Form des Satzes widerspricht ihm schon selbst, da ein Satz auch einen Unterschied zwischen Subjekt und Prädikat verspricht, .. „... ein Begriff, dem von zwei einander widersprechenden Merkmalen keins oder ... alle beide zukommen, für logisch falsch erklärt wird, wie z. B. ein vierekkiger Zirkel. Ob nun gleich ein vieleckiger Zirkel und ein geradliniger Kreisbogen ebensosehr diesem Satze widerstreitet, haben die Geometer doch kein Bedenken, den Kreis als Vieleck von geradlinigen Seiten zu betrachten und zu behandeln."** „Der Satz des ausgeschlossenen Dritten ist der Satz des bestimmten Verstandes, der den Widerspruch von sich abhalten will und, indem er dies tut, denselben begeht. A soll entweder + A oder - A sein; damit ist schon das Dritte, das A ausgesprochen, welches weder -I- noch - ist, und das ebensowohl auch als -I- A und als - A gesetzt ist."*^ Die drei logischen Gesetze sind ferner auch noch von anderen Sektoren aus ganz spezifisch angegriffen worden: In seinem Tractatus^ legt uns WITTGENSTEIN nahe, daß mit der sogenannten analytischen Wahrheit, A = A, eine Unstimmigkeit verbunden ist. Wäre A tatsächlich A einfach gleich, warum sollte man sich dann die Mühe machen, irgendetwas dazu zu sagen? Um solchen nutzlosen Tautologien aus dem Wege zu gehen, schlägt WITTGENSTEIN vor (vielleicht nur zum Spaß), wir sollten uns damit zufriedengeben, A = ? zu sagen. Das Ergebnis solcher Überlegungen findet in der ARISTOTEÜschen Logik des Syllogismus ihren Ausdruck in der sogenannten „Urteilsparadoxie", d. h. „S ist P" ist nur dann bedeutungsvoll, wenn S und P verschieden sind; in diesem Falle aber ist „S = P" falsch. TOMS erläutert, daß man diese Paradoxie durch Benutzen eines „Mittelbegriffs" beseitigen könnte. Diese Lösung aber verläßt sich auf die Tatsache, daß der Mittelbegriff reflexiv ist, d. h. er verbindet und ist zugleich der Term, der verbunden wird, und Logik, die gegen Selbstbeziehung spricht, tut dies natürlich auch im Falle eines selbstbezüglichen singulären Terms. So gesehen, erscheint es verständlich, warum Hegel, soweit er gelegentlich versucht, ein konkretes Beispiel der Dialektik zu geben, auf den führenden ARisTOTELischen Syllogismus hinweist, in welchem das Subjekt zugleich

G. W. f. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830). § 115. ** Hegel: Enzyklopädie. § 119. Ebd. Vgl. Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus. London 1963. 105. Vgl. Toms (Anm. 2). 54.

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von dem Prädikat verschieden ist und mit ihm identifiziert wird. So etwas sollte uns als Beispiel dienen. Würden wir uns über A = A und S ist P zu P —* P in die formale Logik begeben, so müßten wir mit der folgenden Frage, die von LEWIS CARROLLS Paradoxien stammt, fertig werden: Wenn die Folge nichts anderes aussagt als die Prämisse, so ist ihre Aussage nutzlos; auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob es überhaupt möglich ist, zu einer Folge zu kommen, welche sich von den Prämissen unterscheidet. Der konservativste Angriff auf das Nicht-Kontradiktionsprinzip (NK) wird von NICHOLAS KESCHER gemacht, welcher (im Gegensatz zu TOMS) einen rigiden Unterschied zwischen Denken und Realität aufrechterhält, einen Unterschied, der ihm erlaubt, über die sich widersprechenden Bereiche, in denen NK sich nicht bewährt, zu spekulieren. Sogar wenn wir Gründe für sich widersprechende Bereiche angeben, meint KESCHER, können unsere Gedanken trotzdem miteinander übereinstimmend Konsequenzen haben. In der Tat behandelt KESCHER Kontradiktionen und auch Paradoxien in ähnlicher Weise, wie die BvERET-WuEELER-Hypothese die unorthodoxe Annahme der Quantenphysik behandelt: Indem zu anderen Bereichen Stellung genommen wird, d. h. zu den sich widersprechenden „Welten", welche dazu dienen, die sich widersprechenden Elemente zu trennen, was aber heikel und unhandlich sein könnte, falls sie sich auf die jetzige „Welt" beziehen. Das KESCHERSche Werk Logic of Inconsistency endet in überbestimmten U-Welten, in welchen Pwiu2 = + (das „+" ist in diesem Fall dem „Stichhaltigen" oder „Erreichbaren" äquivalent). Trotzdem gibt es sogar in diesen überbestimmten Welten zweierlei Arten von Widersprüchen; die einen sind folgerichtig, und die anderen sind nicht folgerichtig, ein Ergebnis, welches selbst eine logische, wenn nicht sogar eine logisch-philosophische Paradoxie in sich birgt. Und im allgemeinen besteht KESCHER darauf, daß seine Schlußfolgerungen vollkommen mit den Regeln der Klassischen Logik übereinstimmen. Man möchte trotzdem mit Bezug auf unsere heutige und gegenwärtige Welt fragen, ob sich das Kontradiktionsgesetz jemals in seiner vollen Strenge anwenden läßt. Wenn das der Fall ist, ist es unmöglich für einen Bleistift, zugleich rund und nichtrund zu sein, für einen Zwitter, zugleich männlich und nichtmännlich zu sein, für einen amerikanischen Verräter, zugleich amerikanisch und nicht-amerikanisch zu sein, für eine moralische Wahl, zugleich nötig und nicht-nötig zu sein, usw. Die ARisroTEÜsche Qualifikation „mit Rücksicht auf verschiedene Hinsichten" ist keine tatsächliche Lösung des logischen Prädikamentes an dieser Stelle, da „mit Rücksicht auf verschiedene Hinsichten" nicht nur ein „un-" oder „nicht-" schwächt, sondern dem Antrieb des Kontradiktionsprinzips vollkommen widerspricht, das doch dazu erfunden war, der Koexistenz unvereinbarer Prädikate vorzubeugen. Nehmen wir beispielsweise an, daß SOKRATES in einem gewis-

Vgl. Nicholas Kescher u. Robert Brandom: The Logic of Inconsistency. Oxford 1980. Zum folgenden siehe dort 5ff.

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sen Sinne sterblich ist, in einem anderen unsterblich, so können wir so etwas nur zustande bringen, indem wir SOKRATES gänzlich zerstückeln, so daß von seiner persönlichen Einheit nichts übrig bleibt. Versuchten wir, diese Situation zu retten, indem wir den Streitpunkt mit der Beweisführung modifizierten, daß nur SOKRATES' Körper sterblich sei, nicht aber seine Seele, so würde die Lösung dieser Kontradiktion uns sogleich zu einer neuen Frage führen bzw. eine weitere potentielle Kontradiktion beinhalten; nämlich: Welches ist SOKRATES? Ist er sein Körper oder seine Seele? (Indem PLATON SOKRATES seiner Seele gleichsetzt, vermeidet er solch eine Frage; aber die sterblich/unsterblich und Körper/Seele verbindende Menschenzusammensetzung des ARISTOTELES erneuert das Problem.) Derjenige, welcher NK in voller Strenge akzeptiert, obwohl ihm diese Tatsache unbewußt sein könnte, hat großes Interesse, die Welt nur in schwarz-weiß zu sehen und sie dementsprechend zu beschreiben. Dabei übersieht er jegliche Grauabtönungen, die uns unvermeidlich in „Paradoxien" verwickeln. Indem TOMS^ über solche intuitiven Betrachtungen hinausgeht, bekundet er folgendes. Da die Inferenzregel ~ p V q; p, ergo q das Gesetz des NK voraussetzt, kann man das NK einfach nicht folgerichtig „beweisen", d. h. inferieren, was die KonvenHon in einem vorgerückten Stadium des Propositionskalküls ist, in welchem NK aber sowieso schon vorausgesetzt und akzeptiert ist und in der Beweisführung schon benutzt wurde. TOMS meint, daß die Essenz des NK in P ~ ~ p liegt. Aber -—■ p kann weder vom Modus ponens (p ^ [p ^ q]) noch durch Intuition gefolgert werden. TOMS argumentiert ebenfalls, daß NK in einem direkten Widerspruch zu dem „Negationsprinzip" (NP) steht. Während NK andeutet, daß eine Verneinung von p besagt, es gebe keine positive Tatsache des p, enthält NP, daß die Verneinung von p nur dann gemacht werden kann, wenn es wenigstens einige positive Tatsachen für p gibt. Man kann z. B. die Existenz von Einhörnern nicht leugnen, es sei denn, daß die Existenz von Einhörnern eine Tatsache ist, die geleugnet werden kann. Und jemand, der angesichts solcher Überlegungen immer noch darauf bestehen würde, daß es solche negierenden Tatsachen nicht gäbe, würde sich notwendigerweise im Kampfe mit der negativ-reflektierenden Paradoxie befinden, dergemäß seine Verneinung als eine metaaussagende negierende Tatsache die Verneinung, welche er auf der Grundsatzebene durchzuführen versuchte, auslöschen würde. TOMS bemerkt, daß, obwohl sich die beiden anderen logischen Gesetze auf das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten (AD) reduzieren lassen, AD sich selber weder analytisch noch synthetisch ergibt, und deshalb könne es noch nicht einmal als „tautologisch" oder „trivial" angesehen werden, da die Anwesenheit oder Abwesenheit der Tautologie oder Trivialität durch eine Reduktion mit Bezug auf AD bestimmt werde. TOMS vermutet, daß AD auf irgendeiner nicht-begreifenden, nicht-spekulierenden, nicht-metaphysischen Intuition basiert. So etwas aber widerspricht dem logischen Empiriker, der Intuition auf Empfindungen oder Vgl. Toms (Anm. 2). 43.

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auch auf wörtliche Erkenntnis (wie bei Tautologien) beschränkt. Und diese Intuition veranlaßt uns sodann, unechte und unrealistische Dichotomien zwischen männlich und nicht-männlich einzuführen sowie zwischen extrovertiert und introvertiert usw., obwohl sie eine etwas andere Form annimmt als in den Dichotomien, die sich vom NK ergeben. Für MELHUISH dient das traditionelle „ex nihilo"-Schöpfungsproblem als Beispiel eines metaphysischen Problems, welches sich aus der Dichotomierung des AD ergibt: „Wenn wir das ex ni7i/7o-Schöpfungsproblem betrachten, so sind wir dazu gezwungen, eine wirkliche Potentialität zwischen dem Nichts und dem Seienden aufrechtzuerhalten (und wir können einfach nichts anderes tun), und dies impliziert eine aktive Korrespondenz zwischen der einen Sachlage und der anderen. Nichtsdestoweniger, sollte es irgendeine andere Korrespondenz zwischen Nichts und Seiendem geben, dann hätte es schon immer solch eine Korrespondenz geben müssen ... Wir können nicht einfach anordnen, daß all das, was es gibt, so vom Nichts herkam, da die bloße Nichtpotentialität von solch einem Nichts jegliche Existenz unmöglich machte. LESUE ARMOUR unterstützt mit zahlreichen Beispielen für die Unzulänglichkeit des AD TOMS' Beweisführung; er argumentiert, daß es unmöglich ist, eine klare Einstellung zu irgendwelchen positiven Tatsachen zu haben, ohne dabei auch auf ihre negierenden Gegentatsachen durch Implikation hinzuweisen. ARMOUR weist auf die folgende Proposition hin, die das AD frei wiedergibt: „Entweder bezieht sich P auf Q oder P bezieht sich nicht auf Q", ein grundsätzliches sowie paradigmatisches Beispiel der Unzulänglichkeit des AD - indem, wenn P sich nicht auf Q bezieht, es sich dennoch negativ auf Q bezieht. Von den drei obengenannten anscheinend grundsätzlichen Schwächen der formalen Logik ganz abgesehen, dürfte man wohl auch noch die weithin anerkannte (obwohl immer noch zur Debatte stehende) Schwäche der Prädikatenlogik bezüglich ihres Gebrauches von „Alle" erwähnen: ein Gebrauch, der allzuoft nur mit der minimalen Rechtfertigung von fraglichen Induktionsgesetzen gemacht wird. Auch wenn wir mit einigen (oder sogar allen) obengenannten Angriffen auf die traditionelle Logik einverstanden sind, so sollten wir trotzdem vorsichtig sein und „das Kind nicht mit dem Bade ausschütten", indem wir diese Angriffe als ausreichende Gründe ansehen, um eine nicht-traditionelle, „dialektische" (oder „paradoxe" oder „nicht-selektive") Logik derart auszuzeichnen, daß die normale Logik in eine unbedeutende oder minderwertige Rolle relegiert wird. Obwohl MELHUISH zugibt, daß uns die traditionelle „wählerische" Logik zumindest „Halbwahrheiten" gibt, ist er so ernsthaft in seiner Verteidigungsschrift einer paradoxen Logik,

Vgl. Melhuish (Anm. 11). 102. ^ Vgl. Leslie Armour: Logic and Reality. An Investigation into the Idea of a Dialectical System. Assen 1972. 3 und 10-12.

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daß nicht zu sehen ist, ob und in welchem Sinne die traditionelle Logik überhaupt noch einen Platz hätte, falls seine Vorschläge angenommen würden. Auf der anderen Seite aber findet man, wie THOMAS KUHN anläßlich naturwissenschaftlicher Paradigmen zeigte“, eine hartnäckige Tendenz unter etablierten Gelehrten, sich den Ergebnissen von Untersuchungen zu widersetzen, besonders, wenn sie mit den vorherrschenden Paradigmen in Konflikt geraten. Gilt so etwas für die Gesetze der Naturwissenschaften, welche vermutlich im allerhöchsten Grade für empirische Eingaben empfänglich sind, so dürfen wir wohl annehmen, daß es auch für die Logik zutrifft, da diese schon ganz beträchtlich von ihren empirischen Ursprüngen (was immer diese gewesen sein mögen) entfernt ist. Zwar haben QUINE und andere ernste Verteidiger der Wichtigkeit und Zentralität unserer logischen Gesetze auf die Gefahr ähnlicher konservativer Tendenzen unter Philosophen und Logikern hingewiesen. Behalten wir es im Auge, so wäre es nützlich, sich die Veranlassungen oder die möglichen Veranlassungen für eine dialektische Logik sorgfältig anzusehen; nichtsdestoweniger ist wohl der passendste Anfangspunkt für solch eine Betrachtung in einer Neuuntersuchung des phänomenalen Ursprungs der traditionellen Logik zu finden.

IV. Die Normale Logik des Subjekt-/Objekt-Unterschiedes Die phänomenologische Erfahrung, die das Auftauchen der traditionellen Logik begründet, scheint die Erfahrung vom Subjekt-ZObjekt (SZO)-Unterschied zu sein. Da der S/O-Unterschied von uns als völlig selbstverständlich angesehen wird, können wir leicht vergessen, daß er keine herkömmliche Gegebenheit, weder für die gesamte Menschenrasse, noch für das einzelne Menschenwesen ist. Psychologen, Soziologen und Kulturanthropologen haben darauf hingewiesen, daß dieser Unterschied, so wie er uns bekannt ist (mit einer klaren und scharfen Unterscheidung der äußeren Realität vom Bewußtsein als etwas von der Welt „da draußen" getrenntem), nur ganz allmählich in der menschlichen Rasse auftauchte; er ist erst seit der Renaissance und der Zeit der Aufklärung sozusagen „auf eigene Füße gestellt", und er ist in vielen Teilen der Welt immer noch latent. Entwicklungspsychologen legen uns nahe, daß, was den Einzelnen betrifft, ein menschliches Kleinkind gewöhnlich erst in der letzten Hälfte seines ersten Lebensjahres einen definitiven und entsprechenden Unterschied zwischen seinem Ego und Objekten der Außenwelt machen kann. Die Fähigkeit zum S/O-Unterschied gibt denjenigen, welche sie besitzen, gewisse Vorteile, die zweifellos für die Entwicklung und effektive Anwendung der traditionellen Logik ganz erheblich sind: 1. Sie ermöglicht ein Bewußtsein beständiger Objekte mit beständigen Prädikaten. Ehe sich der S/O-Unterschied anmeldet, kann das Kleinkind oder der kultu“ Vgl. Thomas Kuhn: The Structure of Scientific Revolution. Chicago 1962.

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rell Primitive Objekte einfach nicht als äußerlich oder als unabhängig von seinem Ego anerkennen, als etwas, das andauern kann, sogar dann, wenn er keine Notiz davon nimmt, oder als ein beständiges Substrat zur Ernennung beständiger Prädikate im Einklang mit den Regel der Logik und den Ansprüchen der Wirklichkeit. 2. Sie bedingt die „objektive" Wirklichkeitsauslegung, die sich lediglich auf Tatsachen und auf die logischen Inferenz-Regeln gründet. Selbstverständlich muß man jegliches psychisches Ergebnis vom äußerlichen Sein ganz unterscheiden, wenn man die „subjektive" Auslegung vermeiden möchte, und so ist der ursprüngliche S/O-Unterschied die conditio sine qm non solcher Unterscheidungen. 3. Man könnte weiterhin sagen, daß der S/O-Unterschied als eine Gegenströmung zur Objektivität empirischer Art dafür verantwortlich ist, im gewissen Sinne Freiheit und Vermögenskraft für die Formulierung von Unterschieden, Kriterien, Ideen und Idealen in scheinbarer Unabhängigkeit von der Außenwelt zu erzeugen, Tendenzen, die ihren Zenit im Stoizismus, Skeptizismus, Solipsismus sowie im Streben nach dem „a priori", assoziiert mit dem Idealismus, erreichen. Wie dem auch sei, falls wir, wie KANT, die Übereinstimmung mit unseren Ideen als eine notwendige Kondition für Objektivität betrachten, so dürften diese Bestrebungen zusammen mit der Logik als ein Beitrag zur Objektivität angesehen werden, leider aber einer Objektivität kantischer Art (d. h. objektiv eben nur, weil irgendetwas mit unserer Logik und unseren Begriffen übereinstimmt). 4. Der S/O-Unterschied ist ebenfalls grundlegend dafür, klare Unterschiede zu machen, nicht nur zwischen dem Subjektbewußtsein und dessen äußerlichen Objekten, sondern auch zwischen der innerlichen Natur von Objekten und deren Erscheinung-für-uns, zwischen zwei oder mehreren Objekten, die wir - auf verschiedenen Wegen und zu verschiedenen Zeiten - von uns selbst zu unterscheiden wissen, und zwischen dem sogenannten „Subjekt" einer Proposition (das sich merkwürdigerweise auf irgendein Objekt oder auf ein objektiviertes Bewußtsein bezieht) und dem Prädikat jener Proposition (das, was wieder höchst seltsam ist, die Attribute bestimmt, die wir in dem in Frage stehenden Objekt subjektiv anerkennen). 5. Schließlich ermöglicht der S/O-Unterschied Beiträge zu unbestrittenen Verneinungen: Falls wir alle die Einwendungen betrachten, die schon vorher als Einwände gegen NK und AD diskutiert wurden, so können wir zu der Überzeugung gelangen, daß der Ursprung dieser Prinzipien und die Probleme, die wir mit ihnen haben, im großen und ganzen auf den S/O-Unterschied zurückführbar sind. Wie ist es möglich, daß wir die Verneinung in einem absoluten Sinne voraussetzen, während wir das Ergebnis solcher Verneinung als absolutes Nichts ansehen (das, was jeder zugeben muß, ein vollkommen unverständlicher Begriff ist)? Könnte es sein, weil der S/O-Unterschied selbst verlangt, daß unsere Objekte vollkommen „anders" sind? Schließlich ist es doch undenkbar, daß wir mit unseren Objekten verschmelzen, oder daß unsere Objekte sich selbst mit unserem

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Geist verflechten, falls wir uns überhaupt wissenschaftliche oder sogar objektive Abhandlungen und Stellungen Zutrauen. Selbst wenn wir in dieser Art verschmolzen und verflochten wären, würde es von Nutzen sein, daß wir uns von diesem Etwas „da draußen" nicht nur distanzieren, sondern auch unterscheiden und trennen, wenn wir zu ihm überhaupt eine Stellung nehmen könnten. Folglich scheint in der Summierung dieser Dinge der S/O-Unterschied das erste Glied in einer langen Kette gewichtiger Unterscheidungen und Verneinungen zu sein, die durch eine implizite oder explizite Form (der logischen Regeln) hilfreich sind, die konstante und widerspenstige Flut von Zweideutigkeiten einzudämmen - etwas, das aufkommen kann, wenn SOKRATES weder sterblich noch unsterblich ist, wenn John weder geliebt noch ungeliebt ist usw. Sogar wenn wir zugeben, daß der S/O-Unterschied für die Verbannung von Zweideutigkeiten eine wahre Wohltat ist, ist der S/O-Unterschied an sich nicht vollkommen klar. Hätte er unfehlbare Klarheit, so sollte man annehmen können, daß es nicht schwierig wäre, eine einfache Frage wie die folgende zu beantworten: „Wo hört das Subjekt auf, und wo fängt das Objekt an, oder vice versa?" Aber es ist schon ausgesprochen schwierig, diese Frage präzise zu formulieren, da „aufhören" und „anfangen" hauptsächlich zur Objektsprache und ihrer Unterabteilung, der Raumsprache, gehören, so daß wir, indem wir die Frage überhaupt stellen, schon von Beginn an die Toleranz der Logik strapazieren. Trotzdem, falls wir gerade jetzt versuchten, den semantischen Problemen aus dem Weg zu gehen, um so der Absicht der Frage nahezukommen (eine Frage, welche fast jeder sofort versteht), so ist schon der bloße Versuch zur Beantwortung der Frage hilfreich dazu, die Zweideutigkeit des S/O-Unterschieds, die wir so bereitwillig einräumen, zu erläutern: Wollen wir mit FREUD sagen, daß sich die Peripherie des Ego an der Außenfläche der Haut befindet, während alles andere darüberhinaus dem Nicht-Ego angehört? Oder ziehen wir es vor zu sagen, in Übereinstimmung mit einigen Vertretern der materialistischen Schule, daß sich das Bewußtsein praktisch gesehen in dem nervlichen Geheimstoff aufhält, während alles andere unbewußter Stoff ist? Oder würden wir es, ganz in der Art einiger Phänomenologen, vorziehen zu sagen, daß sich das Anderssein gerade über dem „Horizont" unserer Wahrnehmungen oder auch Vorstellungen aufhält? Wenn wir aber niemals mit Genauigkeit den präzisen Ort des S/O-Unterschieds aufzeigen können, so können wir proportional gesehen noch weniger Hoffnung haben, alle die mannigfaltigen, untergeordneten Unterscheidungen, die im direkten oder indirekten Sinne von diesem ursprünglichen Unterschied abhängig sind, mit Genauigkeit zu bestimmen. Angesichts des obskur verwurzelten, wenn auch stark bestätigten, S/O-Unterschiedes, wird die Selbstbezeichnung problematisch und führt (oder führt scheinbar) sodann zu logischen, semantischen oder grammatischen Paradoxien. Denn unsere Sprache und Logik, die konstitutionell dem Bewahren des S/O-Unterschiedes angepaßt ist, ist ganz einfach schlecht ausgestattet, ein Auf-sich-zurückbiegen

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des Selbst mitzuteilen, wie es die Selbstbezeichnung anscheinend zur Folge hat. Und derjenige, der daran interessiert ist, die Integrität und die Klarheit unserer Sprachsysteme aufrechtzuerhalten, könnte dann sogar überzeugend argumentieren, daß für die Selbstbezeichnung eine Möglichkeit der Selbstzerstörung besteht, eine Gegebenheit, die uns Sorgen machen und die in Schach gehalten werden sollte. Wir müssen hier an das altertümliche Symbol der sich selbst verschlingenden Schlange denken. Jemand, der gegen die Paradoxien ankämpft, ist gewiß eifrig darauf bedacht, die Sprache oder die Logik vom Selbstverschlingen abzuhalten. Aber da anscheinend nicht nur die Selbstbezeichnung, sondern auch die Selbstwidersprechung streng gesehen der Paradoxie wesentlich sind, ist es möglich, daß solch ein eifriger Kämpfer ziemlich milde mit der einfachen Selbstbezeichnung umgeht, wie z. B. mit den Unendlichkeitsparadoxien, und damit stellt er dann all seine Anstrengungen ein auf die scheinbare Vereinigung von Selbstbezeichnung und Selbstkontradiktion, die den logischen und semantischen Paradoxien eigen sind. Sollte aber unser Kämpfer hier in seinem Angriff erfolgreich sein, so ist es fraglich, ob er damit der Philosophie und der Logik einen wertvollen Dienst geleistet hat. Es scheint, daß sich das Verbot der Selbstbezeichnung und Selbstkontradiktion direkt aus solchen Regeln der Logik und Grammatik ergibt, die auf den Schutz des S/O-Unterschieds achten, welcher gar keine absolute und unzweifelhafte Tatsache oder Wert ist (der Unterschied zwischen Tatsache und Wert ist noch eine weitere Beispielgebung des S/O-Unterschiedes selbst). Es ist bemerkenswert, daß TOMS^^ die Selbstbezeichnung oder Selbstreflexion des ganzen Universums als eine mögliche Lösung zu BRADLEYS Paradoxie angibt. Ist es denkbar, daß die Selbstbezeichnung nicht nur eine Ursache, sondern auch eine (vielleicht großartige) Lösung für die Paradoxie ist (welche uns zu einer Art endgültiger Metaaussage-Paradoxie leitet)?

V. Reflexion und Dialektik Ich möchte vorschlagen (genauer: einen Vorschlag von Hegel wiederholen), daß die wichtigste phänomenologische Kondition in der Logik nicht der S/O-Unterschied ist, sondern das Bewußtsein im erweiterten Sinne. Der Subjekt-ObjektUnterschied ist nur ein, wenn auch leider grundsätzlicher Aspekt unserer Bewußtseinserlebnisse. Das Erlebnis des Se/tet-bewußtseins und der Reflexion ist in seiner Wichtigkeit dem Erlebnis des S/O-Unterschieds gleichgestellt. Und es ist eben genau diese reflektierende oder selbstbezeichnende Seite des Bewußtseins, mit welcher die normale Logik nicht so einfach fertig wird. Vielleicht ist diese

Vgl. Toms (Anm. 2). 54-55.

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Unfähigkeit kein Zufall. Denn das Selbstbewußtsein ist jene Menge, die ein Element von sich selbst ist (was RUSSELL schon so störend fand); es ist der Unterschied, der sich selbst bestimmt und welcher von keiner Gattung bestimmt wird (so eine Art der Dinge, die ARISTOTELES geflissentlich zu vermeiden versuchte). Wir könnten anscheinend davon profitieren, wenn wir nach dem Schlüssel für ein Verständnis der Paradoxie im Selbstbewußtsein selbst suchten, welches nicht nur die Quelle für unsere Begriffe über die Selbstbezeichnung zu sein scheint (ob nun dieser Begriff in der normalen Logik und Sprache ausgedrückt werden kann oder nicht), sondern auch für unsere Begriffe eines fähigen (paradoxen) Typs der „Kontradiktion"; Selbstbewußtsein erzeugt die Selbstbezeichnung und die Paradoxie, und es ist wahrscheinlich die grundlegendste von allen Paradoxien. Das Selbstbewußtsein ist ursprünglich eine Fusion von Subjekt und Objekt, indem sich das bewußte Subjekt selbst zu seinem eigenen Objekt umbildet, oder umgekehrt, indem sich eine besondere Art von Objekt in der Welt selbst als subjektiv begreift. Das Selbstbewußtsein ermöglicht nebenbei (und als abhängig von jener ursprünglichen Fusion) eine Fusion von geistigen Entitäten, die von den Normen der alltäglichen Logik her als einfach nur widersprechend beurteilt würden - nämlich: 1. Einheit (Identität) und Unterschied:

Das Selbstbewußtsein ist eine zwei-in-eine-Angelegenheit. Es verlangt die Spaltung des singulären Bewußtseins in einen erkannten und einen erkennenden Teil; aber der Erkannte und der Erkennende sind ganz offenbar identisch. Der Zustand des Selbstbewußtseins könnte höchstwahrscheinlich am besten in der Hegelschen Art und Weise beschrieben werden, d. h. als eine Identität der Identität und des Unterschieds, in welcher die übergreifende Identität eine metaaussagende Identität ist,, d. h. Identität2, während die untergeordnete Identität eine Identität] ist. Wir müssen dabei bemerken, daß sich Identität], (welche dem Unterschied entgegengestellt ist), von der Identität2 so unterscheidet, indem die letztere Identität] und den Unterschied zusammenbringt. Um es anders auszudrücken: Das Selbstbewußtsein ist nicht nur eine Einheit seiner subjektiven und objektiven Seite, sondern es ist ebenso eine Einheit seiner Vereinheitlichung und seiner Unterscheidung dieser Seiten. Diese übergreifende Identität2, die (ungleich der Identität]) nicht als etwas anderes vom Unterschied abgetrennt ist, ist anscheinend die Grundlage für die Tendenz des Bewußtseins, Paradoxien zu formulieren - eine Tendenz, welche sich natürlich damit beschäftigt, die Oppositionen so zusammenzubringen, daß sie nicht mehr als Oppositionen in ihrem ursprünglichen und eindeutigen Sinne dastehen. 2. Ursache und Folge:

Was steht am Anfang in der Produktion des Selbstbewußtseins - ist es das Sub-

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jekt, welchem das Verstehen eigen ist, oder ist es das objektivierte Subjekt, das anerkannt wird? Natürlich ist diese Frage eine Frage der Art des Henne-oderEi-Problems; keins von den beiden kommt zuerst. Wir könnten sagen, daß beide „gleichzeitig" erscheinen, abgesehen davon, daß das Konzept der Gleichzeitigkeit gewöhnlich nur im Kontext der Reihenfolge Bedeutung hat. Da dies der Fall ist, sollten wir nicht erwarten, daß die Propositionen, die den Reflexionen des Selbstbewußtseins Ausdruck geben, von der gleichen Art wie z. B. die Folgerungen eines AfusTOTELischen Syllogismus' sind, da die Prämissen darin als kausal verbindend und als der Folgerung vorhergehend konstruiert sind, und da die abschließende Proposition eine Art von Verkapselung dieser kausalen Beziehung darstellt. Statt dessen sollten wir eine paradoxe Art von Proposition erwarten, in der verschiedene Ideen in dynamischer Reziprozität zusammengehalten werden und sich dabei der Gleichzeitigkeit nähern. 3. Bewegung und Stasis: Im Selbstbewußtsein gibt es ein fortwährendes Unterscheiden des Erkennenden von dem, was erkannt wird; man möchte fast sagen, es gibt hier eine Abstoßung (im nicht-pejorativen Sinne gesehen). Dies ist die „Bewegung" des Selbstbewußtseins, die natürlich nicht grundsätzlich den gewöhnlichen Übergang von einem Stadium zum anderen mit sich bringt. Aber dieser Prozeß der Selbstabstoßung verlangt hier, daß die sich abstoßenden Entitäten oder Seiten eine gewisse Stabilität haben, so daß dieser Abstoßungsprozeß, welcher als eine reflektierende Aktivität konstant ist, stattfinden kann. Diese Tatsache wird zweifelsohne das Selbstbewußtsein dazu bringen, mit einem gewissen Ernst alle die sakrosankten Bestimmungen und Unterschiede der konventionellen Sprache und Begriffe unberührt zu erhalten; aber wir müssen gelegentlich mit paradoxen Abfällen von dem Konventionellen rechnen, in dem stabile Bestimmungen sozusagen „in Bewegung gesetzt werden" von jener subjektiveren Seite des Selbstbewußtseins, welche anscheinend die Regeln nicht ernst nimmt, die von der anderen. Objektorientierten Seite proklamiert und promulgiert werden. 4. Sein und Negation: Es ist interessant zu bemerken, daß das Bewußtsein im SARiRESchen Existenzialismus als eine spezielle Art von Nichtsein (d. h. das Nichtsein der Freiheit) charakterisiert wird, im Gegensatz zur Dichte und Eingeschlossenheit des Seins (d. h. dessen, was dem Bewußtsein als etwas gilt, das negiert und überwunden werden muß), während wir in umgekehrter Weise in der Philosophie DESCARTES' mit dem Bewußtsein als einer selbstverständlichen Existenz, d. h. dem einzigen unzweifelhaften Sein, das es gibt, anfangen und dieses Bewußtsein benutzen als eine Prüfung und ein Kriterium für all das, was außerhalb des Bewußtseins liegt; was nicht mit diesem Kriterium übereinsHmmt oder die Prüfung besteht, wird als

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ein „Nichts" verworfen. Nichtsdestoweniger kommt es dazu, daß SARTRE und DESCARTES hinsichtlich der Leistung des Selbstbewußtseins beide Recht haben: Denn das Selbstbewußtsein gedeiht nicht nur auf dem Boden der konstanten Verneinung und Vernichtung seines bloßen Seins (falls es irgend etwas Geringeres tun würde, würde es Gefahr laufen, als bestimmt und unfrei zu gelten), sondern es funktioniert auch als das ursprüngliche Dasein, welches ein Urteil über die Realität aller Objekte in der Welt (sich selbst einbeziehend) fällt. Wenn deshalb PLATON in seinem Phaedo über die Einheit von Leben und Tod spricht, oder wenn Hegel in seiner Logik über die Einheit von Sein und Nichtsein spricht, so scheint der Ursprung ihrer Einsichten im Verschmelzen solcher vollkommen gegensätzlichen Konzepte von Selbstbewußtsein^* zu liegen. 5. Immanenz und Transzendenz des Ego: Das Ego muß im Selbstbewußtsein von sich selber abweichen, in einer Art, die ein Sich-auf-sich-selbst-Zurückziehen erlaubt, und damit „den Stromkreis schließen", um so die Reflexionsprozesse hervorzubringen. Aber genauso wie ein Mensch einen festen Boden unter sich haben muß, ehe er einen Sprung machen kann, kann sich das Ego nicht von sich selbst in einer Kreisbewegung des Selbstbewußtseins abtrennen, es sei denn, es besitzt sich selbst schon und ist tatsächlich identisch mit sich selbst (sonst wäre die Tat kein Bewußtsein eines Selbst). In ähnlicher Weise kann sich das Selbstbewußtsein nur an sich selbst klammern, wenn es sich selbst andauernd transzendiert, sonst würde es im bloßen Sein haften bleiben, oder es würde sich ins bloße Bewußtsein von Objekten versenken, so daß es effektiv kein Selbst mehr gäbe, welches festzuhalten sich lohnte. Diese Paradoxie des Selbstbewußtseins könnte uns Aufschluß geben über den erfahrungsmäßigen Ansatz für einige der religiösen Paradoxien in orientalischen Religionen, und es charakterisiert auch gelegentlich den christlichen Mystizismus, der die Immanenz und die Transzendenz Gottes auf paradoxe Weise zu koordinieren strebt.

VI. Dialektik und normale Logik Wenn man sagt, daß das Selbstbewußtsein selbst der Gipfel oder die paradigmatische Instanz für die Selbstbezeichnung und die Bewußtseinsparadoxie ist, so preist man damit dennoch keine Lösung für die Paradoxien an; weil die Paradoxie kein Problem mehr darstellt, wenn diese Selbstbeziehung und diese paradoxe Opposition nicht nur akzeptiert und anerkannt, sondern von Anfang an als eine ^ Vgl. G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg 1952. 133 ff.

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conditio sine qua non angesehen wird. Das wesentliche „Problem" ist in diesem Falle ein Problem der Metaaussage, nämlich: das Problem2, die nicht-paradoxe Logik und die Sprache, die sich vom Objekt-orientierten Bewußtsein ergeben, mit den paradoxen Gedankenprozessen, welche sich von den reflektierenden Taten des Selbstbewußtseins ergeben, zu koordinieren. Dieses Problem, um es deutlich zu betonen, taucht nicht in der dialektischen Logik auf, welche zur konstruktiven Vereinigung ihrer Gegensätze gerüstet ist,^’ sondern in der normalen nichtparadoxen Logik, welche nicht besonders gut für die Vereinigung ihrer Gegensätze ausgestattet ist, obwohl deren einfache Tendenz zum Bestimmen und Begrenzen, wenn sie auf sich selbst angewandt wird (wie in der Exemplifikation von mathematischer Logik im GooELSchen Theorem) eine solche Vereinigung via negativa vorbereitet. Aber die normale Logik und die Wissenschaft, die aus ihr hervorging, sind konstitutiv für den Fortschritt der abendländischen Kultur, und da wir alle diese normale Logik gebrauchen und ihr im großen und ganzen beipflichten, wenn wir einen Zustand des einfachen, passiven Mystizismus vermeiden wollen, so erscheint das Problem als ein wirkliches und wichtiges und beinahe universelles Problem2. Die Behauptung der Komplementarität von traditioneller Logik und dialektischer Logik ist gewagt, da es in der heutigen Zeit keine maßgebende, universal anerkannte und voll entwickelte dialektische Logik gibt. Die Hegelsche Logik ist wahrscheinlich die allernächste Approximation an ein solches Ziel; aber Versuche zur Entwicklung und sogar Formalisierung dialektischer Logik sind auch von STEPHANE LUPASCO, MICHAEL KOVAK und YVON GAUTHIER unternommen worden, und wenn die Formalisierung als geeignet für eine dialektische Logik erwogen wird (eine Frage, die wir später betrachten müssen) dann könnten diese gegenwärtigen Versuche positiver als die der Hegelschen Logik bewertet werden. Auch wenn es eine führende und anerkannte dialektische Logik gäbe, wäre es klar, daß die normale Logik und die dialektische Logik nicht im gewöhnlichen (d. h. normalen logischen) Sinne übereinstimmend gemacht werden könnten. Es ist vielleicht diese Überlegung, welche MELHUISH dazu führte, vor einer kompromittierenden dialektischen Logik, angesichts der jetzigen Entwicklungsstufe der Logik, zu warnen. MELHUISH weist auf die Ffegelschen Synthesen als außerordentliches Beispiel eines Kompromisses hin - eines aristotelischen Kompromisses insofern, als „im Gegensatz zu der dynamischen Kontradiktion des FIERAKLIT, Hegel Falls „I" normale Logik ist, auf das Identitätsprinzip gegründet, und I" ist dialektische Logik, auf das Nicht-Identitätsprinzip gegründet, so wäre I —» ~ I ein grundlegendes Meta-Theorem der dialektischen Logik. ^ Vgl. Michael Kosok: The Formalisation of Hegels Dialectical Logic. In; International Philosophical Quarterly. New York. 6 (1966), 596^31; Yvon Gauthier: Logique hegelienne et normalisation. In: Dialogue. Montreal. 6 (1967), 151-165; Stephane Lupasco: Logique et contradiction. Paris 1947; Dominique Dubarle u. Andre Doz: Logique et dialectique. Paris 1972; A. Sarlemijn: Hegels Dialectic. Dordrecht 1975.

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es notwendig findet zu behaupten, daß die Kontradiktion keine endgültige Kategorie darstellt und daß die Transzendenz der Kontradiktion berechtigt und notweist auf zwei weitere Mängel im Hegelschen System hin: 1. die Idee einer notwendigen Nachfolge (z. B. in Hegels Geschichtsphilosophie), welche sich auf die trügerische Beweisführung stützt, daß, wenn p und q als koexistierend gedacht werden, und wenn p = ~ q, die Relation von p und ~ q deswegen automatisch als eine der Nachfolger aufgefaßt worden ist; und 2. die weitere, unverbürgte Annahme, daß diese notwendige Nachfolge auch eine logische Nachfolge ist, nur weil sie notwendig gemacht worden ist.^^ Die ToMSSche Kritik könnte stichhaltig sein, aber MEUHUISHS Kritik an Hegel scheint die Hegelschen Synthesen falsch auszulegen, indem er diese Synthesen denen der normalen Logik im Wesen ähnlich macht, welche sodann Kompromisse mit sich bringen, die sich aus der Entdeckung des „Generalnenners" ergeben. So etwas liegt aber ganz gewiß nicht in der Absicht der Hegelschen Synthesen, welche ihre Gegensätze nicht durch Kompromisse beseitigen, sondern sie bewahren und „aufheben", des öfteren in einer ausdrücklich paradoxen Anordnung. MELHUISHS Anspielung auf HERAKLiT ist bezeichnend. Obwohl MELHUISH an mehreren Stellen die Komplementarität beider Logiken erwähnt, ist er vordringlich daran interessiert, eine neue Logik aufzustellen, in welcher nach heraklitischer Weise die Unbestimmtheit anstatt der Bestimmtheit unumschränkt herrscht^^, und in welcher die logische Behandlung anwendbar auf ein „nicht-selektives", unbeschränktes Weltall, das eine tatsächliche Unendlichkeit von Dingen und Ideen enthält, gemacht wird^. Wegen seiner extremen Emphase hinsichtlich der Unbestimmtheit und Nicht-Selektivität unterläßt es MELHUISH, den Ratschlag LESLIE ARMOURS, der eine wesentlich gemäßigte Dialektik anbietet, zu beachten: „Wenn man versucht, ein dialektisches System zustandezubringen, so muß man seine Ideen durch ein Prinzip oder ein anderes prüfen und sortieren ... Einige der Ideen werden dann dadurch zurückgewiesen, daß sie nirgendwo hinführen. Es ist noch wichtiger anzumerken, daß, wenn es Ideen gibt, denen die geforderten Verbindungen fehlen und die innerhalb des zuständigen Bereiches liegen, es ihnen mißlingen wird, in irgendeinem Schema dieser Art zu erscheinen, gerade deshalb, weil keine Ideen dahin führen. Folglich könnte eine dialektische Logik gerade solche lebendigen Ideen verschleiern, auf welche sich die Gegner des gesamten Schemas vermutlich verlassen könnten. Im Gegensatz dazu bestand Hegel auf der bestimmten Notwendigkeit, die „Unterschiede des Verstehens" (welche von dem redlichen Gebrauch der normalen TOMS

3' 3^ 33 3^ 33

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Melhuish (Anm. 11). XIV. Toms (Anm. 2). 120 ff; sowie Melhuish. 44 45. Melhuish. 42. ebd. 81 und 86-97.

Leslie Armour (Anm. 25). 17.

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Logik produziert werden) und entschied sich für eine „spekulative Logik" als eine Synthese von abstrakter Logik (gewöhnlicher normaler Logik) und dialektischer Logik^^.

VII. Die Systematisierung einer dialektischen Logik Die vorgenannten Formalisierungsversuche beabsichtigen natürlich, der dialektischen Logik eine solche Art von Bestimmtheit und Konkretheit zu geben bzw. eine Bahn für die Beiordnung und das Zusammenwirken beider Logiken zu bereiten: Aber es wurden schwerwiegende Einwände, besonders von Hegelianern, dagegen vorgebracht, weil sich die „Formalisierung" anscheinend durch den Unterschied des Subjekts und Objekts, der Form und des Inhalts ergibt, der kein Hauptmerkmal der dialektischen Logik ist. Hegel selber betont, daß seine Dialektik nicht als eine „Methode", die auf irgendeinen Inhalt angewandt wird, betrachtet werden sollte; sein Beharren darauf, daß die dialektische Entwicklung nicht nur äußerlich dem Inhalt Bewegungen des Verstandes als eine „Methode" auflegt, sondern daß sie auch für den Gegenstand des Verstands ein Fortschreiten bedeutet, macht es ganz augenscheinlich, daß er keinesfalls irgendeine Formalisierung der Dialektik empfehlen würde. Gewiß darf ein Vertreter der dialektischen Logik niemals hoffen, ein Beweissystem zu erstellen, in dem man sozusagen das exakte dialektische Gegenteil von x herstellen könnte oder in dem man eine exakte paradoxe Einheit-im-Unterschiede von x und ~ x in Folge der wertbeständigen Axiome und Inferenzregeln erzeugen könnte. Auf der anderen Seite, falls es überhaupt eine Begründung für die dialektische Logik gibt, müßte wahrscheinlich irgendeine Art von Systematisierung möglich sein; und dieses ist wohl der Punkt, auf den die Vertreter der dialektischen Logik alle ihre Kräfte konzentrieren sollten. Aber wir betrachten hier nur die innere Notwendigkeit des dialektisch-paradoxen Denkens, im Augenblick noch unter Absehung von irgendeiner Möglichkeit des Systematisierung.

VIII. Die dialektische Logik und die Paradoxie Was auch immer die eigentliche Form für eine Systematisierung der dialektischen Logik sein könnte, es scheint, daß das Paradoxe einen gewissen Mittelpunkt in ^ Vgl. besonders Hegels Vorrede in der Phänomenologie und ebd. das letzte Kapitel über „Das absolute Wissen", in dem Hegel Schelling und die Intuitionisten kritisiert sowie die Romantiker im allgemeinen, die der Kleinarbeit des logischen Arguments und der logischen Unterscheidungen aus dem Wege gehen wollten. Vgl. Hegel: Enzyklopädie (1830). § 82.

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dieser Logik einnehmen sollte; vielleicht in ähnlicher Weise wie die monadisch kategorische Proposition den Mittelpunkt der normalen Logik bildet.^ Mit Hilfe des Paradoxes können wir uns über die unklare Vorstellung einer „Einheit der Gegensätze" hinwegsetzen (die unter den deutschen Idealisten und Rechtshegelianern und einigen englischen Hegelianern aufkam und im modernen Idealismus immer noch ein charakteristischer Grundsatz ist) - genauso wie Hegel sich auch über diese Vorstellung hinwegsetzte - zu einer Art von „Einheit-im-LFnterschied", die anscheinend durch die Notwendigkeit der selbstbewußten Reflexion verlangt wird (wie wir es schon vorher erklärten). In Hegels Phänomenologie z. B. ist der Gegensatz von Jetzt und Nicht-Jetzt im ersten Kapitel über „Sinnliche Gewißheit" nicht einfach im darauffolgenden Kapitel über „Wahrnehmung" synthetisiert worden, sondern er ist in der Einheit-im-Unterschied eines Paradoxes im ersten Kapitel einbeschlossen, d. h. jenes Paradoxes, das das Verschwinden vom Hier ins Nicht-Hier usw. (d. h. der entschwindende Prozeß an sich) ist, was wir Sinnesgewißheit nennen. Auch die Gegenüberstellung von Herr und Knecht im Kapitel über „Die Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins" ist nicht einfach synthetisiert im folgenden Kapitel über „Das stoische Selbstbewußtsein", sondern sie ist im Kontext der Herr-Knecht-Dialektik an sich aufgehoben, nämlich in dem Moment, wo es für die beiden (Herr und Knecht) zur gegenseitigen Anerkennung der paradoxen Tatsache kommt, daß die Abhängigkeit des Herrn vom Sklaven eine Art Sklaverei ist und daß die Herrschaft des Sklaven über die objektive Welt ihm durch seine Arbeit ein freies und unabhängiges Selbstbewußtsein, einen Herrn verschafft. Die Logiker könnten für sich in Anspruch nehmen, daß solche Paradoxien aus der Nichtbeachtung der logischen Regeln folgen, indem Terme mit Zweideutigkeiten benutzt werden. Sie könnten z. B. das Hegelsche Paradox der sinnlichen Gewißheit angreifen auf Grund dessen, daß die sinnliche Gewißheit nur dann schwindend und ungewiß wird, wenn sie von einem Idealisten wie Hegel mit der höheren „Gewißheit" von Begriffen verglichen wird, und die Logiker könnten weiterhin erörtern, daß der Herr nur dann Knecht wird, wenn man wie Hegel die Prämisse akzeptiert, daß die „Freiheit", die den Herrn charakterisiert, eine ganz spezielle Relation des Bewußtseins zu den weltlichen Objekten darstellt. Nichtsdestoweniger könnte die Unfähigkeit der unfehlbar logischen Philosophen, selbst genaue und eindeutige Bedeutungen von „Gewißheit", „Freiheit" usw. aufzustellen, als eines der besten Argumente angesehen werden, den Nutzen des Paradoxes zu bestätigen, indem es einige der vielfachen und oft sogar entgegengesetzten Bedeutungen oder Implikationen solcher Terme einkreist und in Schach hält.

^ Der Vergleich kann hier noch ein wenig weiter geführt werden: Einige der Paradoxien sind vollkommen ausgearbeitet und auf Argumente gestützt, z. B. das Paradoxon, welches Hegel mit Genauigkeit am Anfang seiner Logik anführt, nämlich, daß das Sein identisch mit dem Nichtsein ist; solche Paradoxien dürften also mit einem vollendeten Syllogismus in der

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IX. Die Mannigfaltigkeit des Paradoxen Echte philosophische Paradoxien wie die oben erwähnten Hegelschen Beispiele müssen von den logisch, semantisch oder/und grammatikalisch erzeugten Paradoxien unterschieden werden. Die letztgenannten drücken in erster Linie ihre eigene Unfähigkeit, sich auszudrücken, aus (was selbst eine paradoxe Angelegenheit ist, welche natürlich auf der Ebene der reinen Logik als weder witzig noch paradox betrachtet wird). Die erstgenannten können sinnvolle Ideen und Einsichten ausdrücken, und infolgedessen verwickeln sie den Geist nicht nur in endlose Reflexionen. Die letztgenannten ergeben sich aus den konventionellen und konstitutionellen Wortbeschränkungen und aus den beschränkten Wortverbindungen, die die Regeln der Grammatik und der Logik erlauben. Die erstgenannten ergeben sich aus dem eigentümlichen Wesen unserer Begriffe, die keine scharfgeschnittenen Grenzen ziehen zu dem, was sie in unserem Geiste auslösen, sondern sich mit ihren Gegensätzen vermischen und sogar ihrer Gegensätze bedürfen für ihre eigene Definition und Existenz. Es ist diese vermischende und gegenseitige Metamorphose von Gegensätzen, die das eigentliche Merkmal von religiösen, literarischen und philosophischen Paradoxien ausmacht. ROSALIE COLIE beschreibt so etwas folgendermaßen: „Das Paradoxe existiert, um solche Teilungen zwischen „Gedanke" und „Sprache", zwischen „Gedanke" und „Gefühl" abzuweisen ... Im Paradoxen fallen Form und Inhalt, Subjekt und Objekt zusammen, in einem endgültigen Beharren auf der Einheit des Seins. Man ist gezwungen, Kategorien zu verschmelzen, da das Paradoxe es ganz offenbar zustande bringt, zu gleicher Zeit schöpferisch und kritisch zu sein, es ist zugleich sein eigenes Subjekt und Objekt, in einem endlosen Kreisen um sich selbst. KIERKEGAARD meinte, daß die Paradoxie nicht nur der christlichen Religion wesentlich sei, sondern sie sogar definiere.'“ Auf literarischem Gebiet bestanden einige der „Neuen Kritiker" darauf, daß das Paradoxe ein wesentlicher Teil des Gedichtes sei. In der Philosophie ist das Paradoxe anscheinend unzertrennlich mit der traditionellen philosophischen Tätigkeit verbunden, die festgesetzte Bedeutungen und Werte kritisiert. Der ausdrückliche Gebrauch von Paradoxien ist in der Philosophiegeschichte nur zeitweilig vermieden worden: z. B. von SOKRATES, der für sich in Anspruch nahm, nur die Begrenzung seines eigenen Wissens zu kennen; von PLATON, der erörtert, daß wir nur das wissen können, was uns schon bekannt ist, daß es besnormalen Logik vergleichbar sein; andere Paradoxien spielen nur auf ihre Rechtfertigung an, ohne vollendete Argumente dafür zu geben, die dann mit den Enthymemen in der Logik vergleichbar wären. ^ Vgl. Rosalie Colie: Paradoxia Epidemica: The Renaissance Tradition of Paradox. Princeton, N. J. 1966. “ Vgl. Kierkegaard: Papirer. Übers, von Hong, üniversity of Indiana Press 1975. Nr 3072-3.

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ser ist, Ungerechtigkeit zu dulden als sie zu begehen, daß nur einem solchen Menschen mit politischer Macht zu trauen ist, der die Macht nicht begehrt, usw.; von HERAKLIT, der hartnäckig darauf besteht, daß man weder Beständigkeit in der Natur finden noch seine eigenen Bewegungen lange genug festhalten kann, um „Beständigkeit" auszusprechen oder begreiflich zu machen; und besonders von NIKOLAUS VON CUES und GIORDANO BRUNO, die die Hinwendung der Renaissance zum Paradoxen zum Gipfel führten durch eine metaphysische Benutzung der Paradoxie, die zugleich ausdrücklich und bewußt war. Hegel, der wohl die meisten Beiträge zu Paradoxien in der Geschichte der Philosophie geliefert hat, war sich anscheinend (was recht paradox ist) der zentralen Wichtigkeit des Paradoxen für sein eigenes System und für die Philosophie überhaupt nicht bewußt; vielmehr scheint es so, daß er die Paradoxien nur in dem Prozeß der Entwicklung der vielgestaltigen Antithesen auf sich zukommen ließ, die von der systematischen Dialektik, die dem Deutschen Idealismus jener Epoche angemessen war, verlangt wurde.Manchmal scheinen sogar Autoren, die das Paradoxe ausdrücklich in ihren Werken benutzen, nicht den vollen Umfang zu realisieren, in welchem sie sich in Paradoxien verstricken. Z. B. erörtert COLIE^^, daß PLATONS Parmenides ein Paradigma für den paradoxen Antirationalismus darstellt, obwohl er in seinem Anstoß vollkommen rationalistisch ist. Zumeist aber waren die Angriffe der Philosophie auf maßgebliche Bedeutungen und Werte noch nicht einmal ausdrücklich als Paradoxien formuliert, obwohl dies ■** Die Schwierigkeit der Vorrede der Phänomenologie Hegels wird zweifelsohne am meisten durch die darin entwickelten Paradoxien verursacht. Zum Beispiel schreibt Hegel, „Die Substanz ist als Subjekt die reine einfache Negativität, ebendadurch die Entzweiung des Einfachen", oder auch eine „Verdoppelung, welche wieder die Negation dieser gleichgültigen Verschiedenheit und ihres Gegensatzes ist" (Phän. 20), daß „die Form dem Wesen so wesentlich ist, als es sich selbst" (ebd.); daß „das Absolute wesentlich als Resultat zu begreifen ist" (21); daß das „Ich" ein Vermitteln, das „um seiner Einfachheit willen eben die werdende Unmittelbarkeit und das Unmittelbare selbst ist" (ebd.); daß der Zweck ist „das Unbewegte, welches selbst bewegend ist" (22), und „das Resultat ist nur darum dasselbe, was der Anfang, weil der Anfang Zweck ist" (ebd.); und „ist die Widerlegung eines Prinzips gründlich, so ist sie aus ihm selbst genommen ... und sie würde also eigentlich seine Entwicklung ... sein" (23); und: „die eigentliche positive Ausführung des Anfangs ist zugleich umgekehrt ebensosehr ein negatives Verhalten gegen ihn" (ebd.); und: „das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt" (28); und: „nur darum, daß das Konkrete sich scheidet und zum Unwirklichen macht, ist es das sich Bewegende" (29); und: „der Geist ... ist diese Bewegung, sich ein anderes ... zu werden" (32); und: „dadurch ... daß das Bestehen des Daseins die Sichselbstgleichheit oder die reine Abstraktion ist, ist es die Abstraktion seiner von sich selbst, oder es ist selbst seine Ungleichheit mit sich" (45); und: „die Wissenschaft... ist die reine Sichselbstgleichheit im Anderssein" (46); und: „die Natur dessen, was ist, ist in seinem Sein sein Begriff zu sein"; und: „ihr konkretes Dasein ist ... unmittelbar logisches Dasein"; und: „die Form ist das einheimische Werden des konkreten Inhalts selbst" (47); und: „das Resultat ist... das bestimmte Negative, und hiermit ebenso ein positiver Inhalt" (49). Vgl. Colie (Anm. 39). 9.

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möglich gewesen wäre. Z. B. DESCARTES' Idee, daß sich die Objektivität aus der Subjektivität begründet, wurde später von KANT in seiner Deduktion der Realitätskategorien auf Grund logischer Verfahren wesentlich ausführlicher ausgearbeitet und wurde danach in der ScHELUNcschen Formel (-t A = B, A = B -l-)/A = A^^ grundlegend. All dies geschah, ohne daß die Hauptpersonen bei dieser Entwikkung bemerkten, daß sie es mit etwas sehr Paradoxem zu tun hatten. Und die HuMESche Behauptung, daß das „Sollen" in dem „Sein" eingewurzelt sein sollte, hat nur allmählich und mit Unterbrechungen zu Anstrengungen geführt, die die Gegensätze von „Sollen" und „Sein" beschreiben, in der Art, daß sie sich gegenseitig implizieren, anstatt sich aufeinander zu reduzieren. Obwohl es anscheinend einige grundsätzliche „Familienähnlichkeiten" zwischen philosophischen und religiösen und literarischen Paradoxien gibt, so finden sich in dieser Mannigfaltigkeit der Paradoxien auch einige wichtige Unterschiede, die man anerkennen sollte, und zwar: 1. Philosophische Paradoxien unterscheiden sich von religiösen Paradoxien, weil sie sich nicht auf Glaubenssysteme oder mystische Erlebnisse oder auf einen Zustand der persönlichen Erleuchtung stützen. Evangeliumsreden wie „Die Ersten werden die Letzten sein" und „Derjenige, der sein Leben verliert, soll gerettet werden", sind nur dann sinnvoll, wenn man das Glaubenssystem des Evangeliums akzeptiert, einschließlich der christlichen Lehre vom Jenseits und von der erlösenden Wirkung der Demütigung, des Leidens und des Todes; und MEISTER ECKHARTS Anspielung auf die menschliche Verwandlung in Gott könnte eigentlich nur für diejenigen einen Sinn haben, die selbst solch eine Art Erlebnis gehabt haben, wie es der Mystiker ECKHART anscheinend gehabt hat. Die Situation ist ähnlich in orientalischen Religionen: man muß sich zu einer gewissen Intuition (anhand des menschlichen Seins in der Welt) bekennen, um den Sinn der folgenden Paradoxien überhaupt erfassen zu können, z. B. „Der Geist ist innerhalb und auch außerhalb von allem", oder „Die Form ist Materie" {Upanischaderi); oder „Wenn man vom Stehenbleiben (mit Gedanken) befreit ist, so wird angenommen, daß man bei dem Nicht-bleiben bleibt" (Praimparamita Sutras); oder die besonders auffallenden und bunten Paradoxien des Tao Te Ching, z. B. „Diejenigen, welche wissen, sprechen nicht, und diejenigen, welche sprechen, wissen nicht"; „Indem der Weise Mühsal erwählt, erträgt er in seinem ganzen Leben keine Mühsal", oder „Der Weise, der alles gab, was er hatte, ist fürwahr sehr reich". 2. Obwohl literarische Paradoxien, genau wie philosophische, dialektisch sind und allgemein angenommene Meinungen und Wertsystemeangreifen, unterscheiden sie sich bedeutend von philosophischen Paradoxien, insofern sie sich eher auf Einsicht und Intuition als auf Argumente stützen. Man könnte vermutlich

Vgl. Hegel: Sämtliche Werke. Bd 15: Geschichte der Philosophie. Bd 3. 669. ^ Vgl. Colie (Anm. 39). 9.

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Über literarische Paradoxien argumentieren; aber sie würden dabei ihren ästhetischen Reiz und ihren literarischen Wert verlieren. Das ist besonders augenscheinlich in der Dichtkunst. Argumente würden paradoxe Verse trivialisieren und sogar zerstören, wie z. B. Careless she is with artful care, Affecting to seem unaffected. (CONGREVE) oder solche wie ,Meinst du denn alles, was du sagst?' Meinst du denn ernstlich, was du fragst? Wen kümmert, was ich meine und sage: Denn alles Meinen ist nur Frage. (GOETHE) oder solche wie Until I labour, 1 in labour lie, (DONNE) oder solche wie Laß die Sprache dir sein, was der Körper den Liebenden; Er nur Ist's, der die Wesen trennt und der die Wesen vereint. (SCHILLER) oder wie die folgenden Verse GOETHES: „Genieße mäßig Füll und Segen; Vernunft sei überall zugegen, wo Leben sich des Lebens freut. Dann ist Vergangenheit beständig, das Künftige voraus lebendig, der Augenblick ist Ewigkeit." CouE verweist auf SHAKESPEARES King Lear als eine außergewöhnliche Zusammenstellung aller maßgebenden Paradoxien der Renaissance.“ Obwohl es aber nicht zu leugnen ist, daß SHAKESPEARE in seinen Stücken eine ganze Menge von Paradoxien darstellt und illustriert, kann man nicht sagen, daß er sie bewiesen oder demonstriert hat.^’’ “ Oxymorons wie „jauchzender Schmerz", „erhabene Schande", „unklare Klarheit", „geheimnisvoll - offenbar", „liebender Haß", „sichtbare Dunkelheit", „geräuschvolle Stille", „die einsame Menschenansammlung", oder „der lebendige Tod" schließen anscheinend jegliches Argument aus, da eine außerordentliche Kürze ihrer Formulierung wesentlich ist. “ Vgl. Colie (Anm. 39). Kapitel 15. Laut Colie, welche darin Lando folgt, waren die stehenden Paradoxien der Renaissance; Armut ist besser als Reichtum; es ist besser, ignorant zu sein, als gelehrt zu sein; es ist besser, blind zu sein, als Augenlicht zu haben; es ist besser, toll als weise zu sein; es ist kein Übel für einen Prinzen, seinen Staat zu verlieren; es ist besser, in der Verbannung im Exil zu leben, als im eigenen Land dahinzusiechen; weinen ist besser als lachen; es lebt sich besser in einer Hütte als in einem großen Palast; es ist weder schändlich noch hassenswert, wenn jemand ein Bastard ist; es ist besser, im Gefängnis als in der Freiheit zu leben; ein genügsames Leben ist besser als ein großartiges und verschwenderisches; es ist besser, wenn man keine Dienstboten hat, als wenn man sie hat. Wir erlauben uns den Luxus, hier nur reine Formen zu erwägen. Aber es gibt natürlich auch Hybride. Einige der Chestertonschen Paradoxien (z. B. „Die Christen des Mittelalters

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Deshalb sollte man die philosophische Paradoxie nicht nur von logisch-syntaktischen, semantischen oder/und grammatikalischen Paradoxien unterscheiden, sondern auch von den religiösen und literarischen Paradoxien. Schließlich müssen wir darauf achten, die philosophische Paradoxie von der Art der Ironie zu unterscheiden, in der a) irgendeine Situation auftaucht, die im Gegensatz oder in Kontradiktion zu den Erwartungen und Absichten steht und b) eine duale Zuhörerschaft vorausgesetzt wird, die sich zusammensetzt aus (1) den Eingeweihten, den Wahrnehmenden, die das, was tatsächlich geschieht, erkennen, und (2) den Unwissenden, den Nicht-Eingeweihten, die von unvorhergesehenen Umständen überwältigt werden. Unzählige dialektische Entfaltungen in der Hegelschen Philosophie sind von dieser Art: z. B. wenn es am Ende klar wird, daß der Schlüssel zum Verständnis der inneren Natur des Menschen im menschlichen Schädel zu finden ist** - ein Ergebnis, das von dem phänomenologischen Beobachter erwartet wird, aber nicht von dem psychologisierenden Bewußtsein, das hier analysiert wird; oder wenn das revolutionierende Bewußtsein findet, daß es Zuflucht zur Tyrannei nehmen muß, um sein Ziel zu erreichen^’; oder wenn die endgültige Entscheidungsmacht eines konstitutionellen Monarchen in der Macht besteht, die „i"s zu punktieren und die „t"s durchzukreuzen*. Man sollte solche Entwicklungen mit dem Ergebnis der Herr-Knecht-Dialektik vergleichen, in der es nicht nur eine ironische Metamorphose vom Knecht zum Herrn (und umgekehrt), sondern auch eine gegenseitige und gleichzeitige Anerkennung von beiden gibt, indem sie feststellen, daß man als Herr zugleich ein Knecht ist (und umgekehrt); oder man vergleiche dies mit dem Schlußergebnis der gesamten Phänomenologie, wo demonstriert wird, daß die dialektische Wissenschaft als die endgültige Vereinigung nur dann die wesentlichen Unterschiede auf der phänomenologischen Stufe aufhebt, wenn sie sich selbst immer wieder in solche Unterschiede vertieft. X. Die wahre philosophische Paradoxie

Angenommen, daß die philosophische Paradoxie von der Ironie sowie von verschiedenen anderen Kategorien der Paradoxie unterschieden werden soll, was

hatten Frieden mit allem - mit allem anderen standen sie im Krieg") sind literarische, vom Standpunkt ihres Stils und Kontext her aber tatsächlich philosophische, insofern, als man ausführlich über sie argumentierte. Die Paradoxien, welche in philosophisch-literarischen Werken, wie z. B. in Mores Utopia, in Kierkegaards „Tagebuch einer Verführers" in Entweder/Oder, oder in Nietzsches Also sprach Zarathustra erscheinen, dürften vom gleichen Genre sein. ^ Vgl. das Kapitel „Beobachtung der Natur" in Hegels Phänomenologie. Vgl. ebd. das Kapitel über „Absolute Freiheit". * Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. 280, Zusatz.

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wären dann die positiven, speziell unterscheidenden Hauptzüge des wahren philosophisch Paradoxen? Die folgenden vier scheinen den Kern zu bilden: 1. Syzygie: CARL GUSTAV JUNG benutzte diesen Ausdruck im psychologischen Bereich, um die Conjunctio oppositorum zu charakterisieren, die sich in der Persönlichkeit anhand verschiedener Gegensätze bildet, wie z. B. Maskulinität und Femininität, wo sie als eine dynamische Einheit-im-Unterschied auftreten. Wir dürfen vielleicht denselben Ausdruck als eine passende Beschreibung des philosophisch Paradoxen übernehmen. In Sätzen wie „Wenn man sich selber fragt, ob man glücklich ist, so wird man aufhören, glücklich zu sein" (J. S. MILL), „Der größte Triumph der Vernunft liegt darin, daß man ihre eigene Gültigkeit bezweifelt" (UNAMUNO), „Das Bewußtsein ist das, was es nicht ist, und es ist nicht das, was es ist" (SARTRE), „Was dem Intellekt als ein scheinbares Nichts vorkommt, ist das unfaßliche Maximum" (NIKOLAUS VON CUES) oder „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig" (Hegel) - gibt es eine gleichzeitige Konjunktion von Ideen, denen ein Zusammensein nicht erlaubt werden dürfte, falls man die Regeln der normalen Logik oder der normalen Sprache befolgen würde. 2. Eine nicht-bösartige Zirkularität: Die bösartige Zirkularität ist ein charakteristischer (und rasend machender) Zug der Lügen-Paradoxie, der Barbierparadoxie usw. Auf der anderen Seite kann die Zirkularität philosophischer Paradoxien, anstatt Frustration und Verdunklung zu verursachen, die Wirkung von Abklärung und manchmal sogar eine Art von Befriedigung, wie sie sich aus Problemlösungen ergibt, haben. Jemandem, der den Hegelschen Argumenten in der Logik folgt, der Lehre, daß das Sein auf Grund seiner absoluten L/nbestimmtheit mit dem Nichtsein identifizierbar ist und daß diese beiden Ausdrücke sich immer wieder ineinander umgestalten, kann dies behilflich sein, die traditionelle Idee vom Sein-im-allgemeinen, die vom Begriff her so schwierig zu fassen ist, zu verstehen. Auch kann Hegels Behauptung, daß Essenz und Existenz so unzertrennlich sind und sich so gegenseitig implizieren wie im Stromkreis positive und negative Elektrizität, hilfreich dabei sein, der Gewohnheit zu entsagen, Begriffe wie Essenzen zu behandeln, als ob sie tatsächlich isoliert existieren könnten, 3. Dynamische Transzendenz: Im Paradoxon überschreiten wir den bloßen statischen Gegensatz des Lebens und des Todes-in-der-Gestalt-eines-Leichnams, des Geistes und des Gehirns-als-physikalisches-Objekt, einer Kultur und ihrer Kunstals-bloßes-äußerliches-Produkt, - um einige Hegelsche Beispiele zu benutzen.“ Die Emphase im Paradoxon liegt in einer konstruktiven, dynamischen Beziehungsrealität, die an die Beziehungsverwandtschaft des „Ich" und des „Mich" innerhalb des Selbstbewußtseins erinnert. Die Vernunft, der die paradoxe Einheit von Sein und Nichtsein, von Essenz und Existenz, von Erscheinung und Realität, “ Vgl. Hegel: Enzyklopädie. § 119. “ Vgl. Hegel: Phänomenologie. 145, 251, 523 f.

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von Ignoranz und Wissen, von Herrschaft und Knechtschaft, von Pflicht und Glückseligkeit usw. erfaßt, ist sozusagen in Bewegung gesetzt, um die tatsächliche Reziprozität, die von verschiedenen Gegensätzen erreicht wird, intellektuell zu reproduzieren, sobald wir diese Gegensätze aus dem mehr isolierten und abgesonderten Zustand entlassen, der (paradoxerweise) eine Voraussetzung für seine eigene Transzendenz ist. 4. Die Nachweisbarkeit: Ein Paradoxon ist kein philosophisches, wenn es auf bloßem religiösen Glauben oder auf bloßer ästhetischer Intuition beruht. Fall ein Paradoxon ein philosophisches ist, so muß es nachweisbar sein: z. B. KIERKEGAARDS These (ähnlich der schon vorerwähnten von J. S. MILL), daß Unglückseligkeit aus einer Konzentration auf Glückseligkeit folgt, ist ausführlich im ersten Teil von Entweder/Oder^^ dargestellt worden, und die erste Hälfte der Hegelschen Phänomenologie könnte als ein beweisführendes Argument für das anti-kantische Paradoxon angesehen werden, daß das Bewußtsein, weit davon entfernt, das Ding an sich nicht zu erkennen, daß Ding an sich ist.

XI. Die philosophische Paradoxie und die dialektische Logik Schließlich hat es den Anschein, daß, obwohl viele philosophische Paradoxien ein voraussagbares Ergebnis der dialektischen Logik sind, es eine gewisse Anzahl von Paradoxien gibt, die eher grundlegend als resultierend sind, insofern sie die fundamentalen Einsichten der dialektischen Logik kurz zusammenfassen oder darstellen, ganz ähnlich wie NK und AD, die Intuitionen sind, die die Einsichten kurz zusammenfassen, durch welche die normale Logik überhaupt erst entstehen konnte. Die folgenden Paradoxien könnten wahrscheinlich als grundlegend in diesem Sinne angesehen werden: 1. Es gibt keine Ähnlichkeit ohne Unterschied, und die größte Ähnlichkeit ist undenkbar ohne den größten Unterschied: Man kann sich vielleicht zwei Objekte im anorganischen Bereich vorstellen, wie z. B. zwei Felsen, die nicht unterschiedlich in ihrer Form sind, die nur durch ihre Position und durch geringe Unterschiede in ihrer Gestalt zu unterscheiden sind, als ein Extrem vom kleinsten Unterschied. Aber dieses ist auch ein Extrem der geringsten Ähnlichkeit, einer Ähnlichkeit, welche fast unwichtig und uninteressant ist, obwohl sie leicht verständlich ist. Die komplexeren und interessanteren Ähnlichkeiten schildern das, was TEILHARD DE CHARDIN „die Gesetze des Lebens" nennt, nämlich, daß „Einheit unterschiedlich macht", d. h. daß Organismen, Bewußtsein und Gedankenprozesse, in denen eine größere Einigkeit mit größerer Vielfältigkeit und mit größerem Unterschied Hand in Hand geht, die vollendeten Beispiele für Einheit sind. Ein unvermeidliVgl. Kierkegaard: Entweder/Oder, die Kapitel „Der unglücklichste Mensch" und „die Rotationsmethode" in Teil 1.

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ches Element der Unterscheidungen kann sogar in den Tautologien der normalen Logik gefunden werden, das so unterschiedliche Denker wie Hegel und WITTGENSTEIN hervorgebracht haben^^, und es ist unbestreitbar, daß die Unterschiede zwischen den Begriffen, wie sie in unserer Umgangssprache koordiniert und identifiziert werden, noch größer als die einfachen, tautologischen Theoreme der Logik sind. Aber die Propositionen der normalen Logik und die Sätze der Umgangssprache sind kaum in der Lage, die Unterschiede, Gegensätze und sogar die Kontradiktionen, die sie selbst zur Folge haben, ausdrücklich hervorzubringen. Andererseits tun paradoxe Sätze oder Propositionen so etwas, dies ist ihr eigentümlicher und besonderer Beitrag zum Denken. Das Aufzeigen dieser Paradoxien in irgendeiner systematischen Art, indem man sozusagen die Grenzen der Sprache, Logik und Konzepte untersucht, führt in der Philosophie zu einer paradoxen oder dialektischen Logik. Die letztgenannte umgeht oder verdrängt die normale Logik aber nicht, sondern sie ist im Gegenteil von der Gültigkeit der normalen Logik abhängig, deren Begrenzungen und Beschränkungen als Präzisierungen oder als der unentbehrliche Anfangspunkt für ihre Untersuchungen funktionieren. 2. Es gibt keinen Unterschied ohne Ähnlichkeit: Freilich, falls zwei Dinge so verschieden wären, daß Welten sie trennte, gäbe es keinen Grund zum Vergleich, und man könnte die beiden dann noch nicht einmal als „verschieden" bezeichnen. Maximale Unterschiede können nur da entstehen, wo eine Basis zum Vergleich einleuchtend und real besteht, und dies besagt ein substantielles Fundament der Ähnlichkeit. Dies ist der Grund dafür, daß eine paradoxe oder dialektische Logik, die darauf gerichtet ist, maximale Verschiedenheiten hervorzubringen, demgemäß von der normalen Logik maximal abhängig ist, da diese mit der Aufgabe des Erhaltens von Selbst-Identitäten, der Übereinstimmungen von Worten und Gedanken, so gut wie möglich betraut wird, - angesichts einer Welt, die außerhalb wie innerhalb ständig Veränderungen zeitigt. 3. Der ursprüngliche und paradigmatische Gegensatz ist die Einheit von Subjekt und Objekt: Die Einheit von Subjekt und Objekt, die uns alle umfaßt, ist gleichfalls ein so offenbarer Zustand des Gegensatzes, daß er wie erste Intuition funktioniert, worauf sich die Folgerichtigkeit jeder paradoxen oder dialektischen Logik gründet. Die Kategorie der S/O Einheit liegt seinen anfänglichen und ursprünglichen Unterschieden zugrunde, und zwar auf drei Weisen, die abgekürzt so dargestellt werden können: O = S, S = O und (O = S) = (S = O). a) O = S: Dies ist das Schema, welches den paradoxen Begriff, ursprünglich und rätselhaft durch PARMENIDES ausgedrückt, nämlich daß Sein und Denken dasselbe sind, zusammenfaßt. Das erläuterndste zeitgenössische Beispiel dieser Einsicht besteht vielleicht in dem HEisENBERGSchen Unbestimmtheitsprinzip, welches behauptet, daß wir Objekte nicht beobachten können, ohne daß wir sie auf irgendeine Weise ändern.

^ Vgl. oben 280

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b) S = O: Diese Formel drückt den revolutionären Begriff von DESCARTES aus, daß das Denken das Existieren ist. Vielleicht sind die psychoanalytischen Theorien die paradigmatische zeitgenössische Anwendung dieser Einsicht, weil sie die Erklärungen der Charakterzüge, der Weltanschauungen und auch der freien Wahl in der Existenz eines einzelnen oder gemeinsamen Unbewußten finden. c) (O = S) = (S = O): Dieser Kurzschriftausdruck, der eine gewisse dialektische Synthese von a) und b) darstellt, hat eine Bedeutung für die Elementaraussage und für die Metaaussage; Auf der ersten Stufe steht er für die Sprache, in welcher das Subjekt mit dem Objekt in einer speziellen und einzigartigen Weise zusammenkommt, und alle Probleme, welche dieses Zusammenkommen begleitet, scheinen sodann zu konvergieren; denn die Sprache ist 1. eine paradoxe Einheit des Äußeren und Inneren, der Laute oder der Symbole und der Bedeutungsbegriffe, 2. die Ursache von Paradoxien (grammatikalische, logisch-syntaktische, semantische oder/und epistemologische), 3. die Lösung von Paradoxien (weil sie als ein Instrument benutzt werden kann, um diejenigen Identitäten und Unterschiede zu bezeichnen und festzuhalten, die die Paradoxie zu dem macht, was sie ist), und 4. das größte Hindernis zur Auflösung wörtlicher oder logischer Paradoxien und philosophischer Paradoxien (auf Grund verfestigter Konventionen und auf Grund der Tatsache, daß Sprache, Wissenschaft und die Funktion der Analyse als Gegensatz zur Synthese - zufälligerweise miteinander verknüpft sind). Auf der Stufe der Metaaussage gibt uns schließlich die oben genannte Formel ein interessantes Beispiel für die Art und Weise, in der sich die dialektische Synthese von einer derartigen synthetischen Kombination, die auf der Ebene der normalen Logik auftauchen könnte, unterscheidet. Denn, falls wir die oben erwähnte Übersetzung des S = O und des O = S berücksichtigen würden, so könnten wir die dritte und längere Formel annehmen, um uns damit einfach auf irgendeine Synthese von Organismus und Bewußtsein oder vielleicht auf die Evolution und das psychologische Projizieren zu beziehen. Aber so etwas wäre keine dialektische Synthese, weil sie ihre eigenen Anfangsstufen der Gegensätze nicht überschreiten könnte. Die Formel führt uns eher zu einer ganz anderen Stufe, die aber nicht willkürlich erscheint (d. h. sie setzt die organische Sphäre sowie die Sphäre des Bewußtseins voraus, aber sie erzielt mehr als eine Verschmelzung der Gegensätze, die sie voraussetzte). Denn die Sprache ändert das Wesen von Gegensätzen, und so mäßigt und verstärkt sie zugleich die Gegensätze, die sie „synthetisiert". Vielleicht gibt es irgendeine Ähnlichkeit zwischen den oben angegebenen paradoxen Propositionen und den tautologischen Propositionen, die als Theoreme in der normalen Logik funktionieren und die dazu benutzt werden, weitere Propositionen im Einklang mit den Inferenzregeln zu erzeugen. Streng gesehen kann man aber nicht die grundlegenden Paradoxien der dialektischen Logik als „Theoreme" oder „Axiome" charakterisieren, da so etwas ein Vorher-und-Nachher mit sich bringt, welches das Antezedent-Konsequent-Motiv der normalen Logik wi-

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derspiegelt. Es dürfte wohl passender sein zu sagen, daß die grundlegenden Paradoxien wie zentrale Angelpunkte im Paradoxon sind, die nicht nur jede paradoxe Logik anfangen sollen, sondern auch in solch einer Logik weiterführend erscheinen werden.

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WELCHE SHAKESPEARE-AUSGABE BESASS HEGEL?

Über Hegels persönliche Bibliothek sind wir durch den Katalog, der nach seinem Tode als Unterlage für die Versteigerung der Bücher gedruckt wurde, in wünschenswertem Umfang und Detail unterrichtet. Die bibliographischen Angaben sind zwar sehr verkürzt wiedergegeben, oft auch ungenau und manchmal falsch oder mißverständlich, doch bieten sie im allgemeinen hinreichende Anhaltspunkte zur Identifizierung der Titel. Treten zu diesen Informationen nachweisbare Zitate in Druckschriften oder Vorlesungen Hegels, Erwähnungen in Briefen, Haushaltsbüchern oder anderen datierbaren Notizen, so läßt sich näher eingrenzen oder sogar genau bestimmen, wann und gegebenenfalls auf welche Weise Hegel einzelne Schriften oder Editionen erworben hat.

Das Faktum, daß Hegel seit seiner frühen Schulzeit eine deutsche Ausgabe der Dramen SHAKESPEARES besaß, war als solches schon bekannt, seitdem die ROSENKRANZsche Biographie vorlag (1844). Die Frage, um welche Ausgabe es sich dabei gehandelt hat, ist indessen bisher noch nicht voll beantwortet. Das aus den Quellen hierüber zu Erhebende läßt sich nicht ohne weiteres zu einer bruchlosen Information zusammenfügen. Der Auktionskatalog gibt in diesem Falle keine Auskunft: dort ist nur der erste Band der SHAKESPEARE-Übersetzung von JOHANN HEINRICH Voss und Söhnen aufgeführt, die 1818 zu erscheinen begann.' (Möglicherweise war dieser Band - als Autorgabe oder als Anschaffung Hegels - eine Reminiszenz an die Heidelberger Zeit 1816/18, in der Hegel auch zu den beiden dort tätigen Voss kollegialen Kontakt hatte. Da wir somit für die deutsche SnAKESPEAREausgabe, deren Besitz Hegel bereits über dreißig Jahre früher in einem Tagebuch vermerk bekundet, ohne den Rückhalt bibliographischer Daten sind, ist es erforderlich, Hegels eigene Äußerung in Relation zu zwei weiteren Erwähnungen des Sachverhalts zu setzen, denen Authentizität zumindest hypothetisch zugebilligt werden muß. Es sind dies: eine ' Verzeichniß der von ... Hegel und ... Seebeck hinterlassenen Bücher-Sammlungen. Berlin 1832. Vgl. Nr 846. - Titel der Ausgabe: Shakespeare's Schauspiele von Johann Heinrich Voß und dessen Söhnen Heinrich Voß und Abraham Voß. Bd 1-9. Leipzig 1818-1829. ^ Eine engere Beziehung entwickelte sich freilich nicht. Vgl. Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. Hrsg, von G. Nicolin. Hamburg 1970. 140 u. öfter. - Mit Heinrich Voß war Hegel schon in Jena bekannt.

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späte Erinnerung von Hegels Schwester CHRISTIANE und die Mitteilung von KARL ROSENKRANZ. Beide widersprechen einander, und so ist zu prüfen, welche von ihnen den ungenauen Hinweis Hegels zutreffend ergänzt. Wir geben zunächst die drei Quellentexte, auf die sich unsere Überlegungen beziehen, in ihrem Wortlaut wieder. 1) Am 7. Juli 1785 notiert der fast fünfzehnjährige Hegel im Rahmen eines Tagebuchgedenkens an seinen im März d. J. verstorbenen früheren Lehrer JOHANN JAKOB LOFFLER: „Dieß muß ich doch hinzufügen, daß er mir XVIII Bände von SHAKESPEARE's Schauspiele schon 1778 zum Geschenk machte.''^ 2) Nach Hegels Tod hat CHRISTIANE HEGEL für ihre Schwägerin MARIE HEGEL auf deren Bitte hin einige Erinnerungen an die Kindheit und Jugend ihres Bruders aufgeschrieben. In ihrem Brief vom 7. Januar 1832 heißt es: „Im Alter von 8. Jahren schenkte ihm sein Lehrer, LöFFLER, der viele Vorliebe für ihn hatte u. vieles zu s[eine]r spätem Ausbildung beitmg, SHAKESPEARS, von ESCHENBURG übersetzte, dramatische Werke, mit dem Beisatze: Du versteht sie itzt noch nicht, aber du wirst sie bald verstehen lernen ... u. wohl erinnre ich mich noch, daß die lustigen Weiber von Windsor ihn zuerst ansprachen."“* 3) ROSENKRANZ hat im Anhang zu Hegel's Leben das Tagebuch aus der Gymnasialzeit auszugsweise abgedruckt. An der betreffenden Stelle hat er den von uns zitierten Wortlaut des Originals geändert und folgendermaßen mitgeteilt: „... daß er mir 8 Bände von SHAKESPEARES Schauspielen schon 1778 zum Geschenk machte." Und in dem biographischen Bericht schreibt ROSENKRANZ: „LöFFLERS Einfluß auf Hegel war noch nach einer anderen Seite hin groß. Er schenkte ihm nämlich 1778 die WIELAND'sehe Uebersetzung SHAKESPEARE'S Bevor wir die hier zusammentreffenden Angaben erörtern, seien die in Frage kommenden Ausgaben aufgeführt. Es sind drei: a) Shakespear: Theatralische Werke. Aus dem Englischen übersetzt von Herrn Wieland. Bd 1-8. Zürich 1762-1766. b) William Shakespear's Schauspiele. Neue Ausgabe. Von Joh. Joach. Eschenburg. Bd 1-12. Zürich 1775-1777. (Ein angehängter Band 13 erschien 1782.) c) Willhelm Shakespears Schauspiele. Von Joh. Joach. Eschenburg. Neue verbesserte Auflage. Bd 1-22. Straßburg 1778 - Mannheim 1785. Hegels eigene Notiz nimmt den von ESCHENBURG gewählten Titel auf, der sich von dem WiELANoschen deutlich unterscheidet. Außerdem scheint die Ausdrucksweise „... von SHAKESPEARE'S Schauspiele" festzuhalten, daß nicht das komplette Werk gemeint ist. Die angegebene Anzahl der Bände schließt die Ausgabe von

^ Vgl. Der junge Hegel in Stuttgart. Aufsätze und Tagebuchaufzeichnungen 1785-1788. Hrsg, von F. Nicolin. Stuttgart 1970. 36. Jetzt in Hegel: Gesammelte Werke. Bd 1: Jugendschriften 1. Hrsg, von F. Nicolin und G. Schüler. Hamburg 1985. 8. * Vgl. Der junge Hegel in Stuttgart. 83. ® Karl Rosenkranz: G. W.F. Hegel's Leben. Berlin 1844. 434; vgl. 7.

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aber auch die zwölfbändige von ESCHENBURG aus. Hinsichtlich der Straßburg-Mannheimer Ausgabe, die dann als einzige verbleibt, ergibt sich eine andere Schwierigkeit: Die Bände 1 bis 18 dieser „verbesserten Auflage" erschienen 1778/ 79. (In dem uns vorliegenden Exemplar* tragen die Bände 7, 9 und 11-18 die Jahreszahl 1779.) Das von Hegel angeführte Datum des Geschenks - „schon 1778" - steht hiermit nicht in Einklang. Nun läßt sich aber zeigen, daß Hegel in der Tagebucheintragung vom Vortage (6. Juli 1785), in der er zurückblickt auf die ehedem bei LöFFLER durchlaufenen Schuljahre, eine Zeitverschiebung vornimmt, ohne dies zu bemerken: statt des von ihm angenommenen Zeitraums von Herbst 1777 bis Herbst 1779 ist zu setzen: Herbst 1778 bis Herbst 1780.^ Es ist liegt nahe, zu vermuten, daß dieser Gedächtnisfehler in der Datierung des von LOFFLER erhaltenen Buchgeschenks weiterwirkt: dieses wäre dann richtig in das Jahr 1779 zu verlegen. Die Aufzeichnung von CHRISTIANE HEGEL, die sich in den von ihr mitgeteilten Begleitumständen als eine sehr konkrete Erinnerung ausweist, nennt ohne jedes Unsicherheitsmoment den Herausgeber ESCHENBURG. Statt mit einer Jahreszahl verbindet sie den Hinweis auf das Geschenk, das Hegel erhielt, mit einer Altersangabe. Diese umfaßt, da Hegel am 27. August 1770 geboren ist, noch den größeren Teil des Jahres 1779 und läßt sich somit fast auf das ganze Schuljahr 1778/79 anwenden, d. i. das erste Jahr, in dem LöFFLER Hegels Klassenlehrer war. Mit gleicher Bestimmtheit bezieht sich der Bericht von ROSENKRANZ auf die WIELANDSche Ausgabe. Daß es sich dabei nicht um einen beiläufig-versehentlichen Griff nach dem bekannteren Automamen handelt, läßt sich aus der Konjektur an Hegels Tagebuchtext erkennen („8 Bände"), durch die der Hinweis auf WIELANDS Übersetzung bibliographisch stimmig gemacht wird. Man möchte hier zunächst annehmen, daß ROSENKRANZ sich auf eine andere, uns nicht mehr verfügbare Quelle stützen konnte. Gerade dies aber wird durch den Kontext widerlegt. ROSENKRANZ fügt seiner Nachricht sowohl den das Geschenk begleitenden Ausspruch LöFFLERS, den er wörtlich aus dem Brief CHRISTIANES übernimmt, als auch die dort mitgeteilte Einzelheit über die Wirkung der Lustigen Weiber von Windsor auf den jungen Hegel (s. o.) bei. Ohne Zweifel ist jener Brief, den ROSENKRANZ auch unter seinen „authentischen" biographischen Quellen aufführt*, die Grundlage für die ganze Stelle. Die von ROSENKRANZ vorgenommene Änderung - WIELAND statt WIELAND,

* Universitäts- und Stadtbibliothek Köln. ^ Vgl. Hegel: Gesammelte Werke. Bd 1. 7 und Anm. zu 7,22. Die Argumentation, die Einzelheiten der Organisation des damaligen Stuttgarter Gymnasiums zu berücksichtigen hat, soll hier nicht vollständig nach vollzogen werden. Entscheidendes Datum ist der von Hegel als Bezugspunkt erwähnte Tod eines anderen Lehrers, des Präzeptors Christoph David Schäffner, nach Hegels Gedächtnis in das Jahr (den Sommer) 1778 fallend, tatsächlich aber am 28. Juli 1779. * Rosenkranz: Hegels Leben. Berlin 1844. Nachdr. Darmstadt 1963 u. öfter. 29: „eine Notiz seiner Schwester ..."

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ESCHENBURG - ist offenbar unabgesichert. Oder sollte umgekehrt das erwähnte, die Bandzahl betreffende Abweichen von Hegels Originaltext - das dann nicht als Konjektur, sondern als Abschreibefehler zu werten wäre - vorausgegangen sein und den Namenstausch erst provoziert haben? Auch mit dieser Annahme würde das Vorliegen einer anderen Quelle für ROSENKRANZ' Mitteilung ausgeschlossen. Letztere ist also für unsere Frage als eigenständiger Bezugstext überhaupt auszuscheiden. Die Erörterung der formalen Aspekte, auf die wir uns bisher beschränkt haben, führt damit zu dem Ergebnis, daß Hegel als achtjähriger Schüler - wohl im Laufe des Jahres 1779 - die damals gerade erscheinende „verbesserte Auflage" der EscHENBURGSchen SHAKESPEAREausgabe geschenkt bekam (mit Ausnahme der wenigen noch ausstehenden Bände). Es bleibt zu prüfen, ob dies durch inhaltliche Belege erhärtet werden kann. Dabei ist zweierlei zu berücksichtigen: 1) Es sind bei Hegel weniger exakte (und gar nachgewiesene) Zitate als vielmehr freie Übernahmen zu erwarten. 2) Die zur Debatte stehenden Ausgaben weisen vielfach im Wortlaut nur geringe Unterschiede auf, denn: ESCHENBURGS Text fußt auf der WIELANDSchen Übersetzung. Das soll hier kurz erläutert werden. ^ Unbeschadet der Verdienste, die WIELAND sich mit seiner SnAKESPEAREübertragung erwarb, stieß diese auf mancherlei Kritik. WIELAND vollendete das Werk nicht, und als eine Neuauflage nötig wurde, lehnte er öffentlich deren Übernahme ab. “ An seiner Stelle wurde der Literaturforscher J. J. ESCHENBURG, ein Freund LESSINGS, gewonnen. Dieser vervollständigte die Übersetzung um die 14 bisher fehlenden Stücke - im übrigen aber „benutzte er die 22 Stücke, die WIELAND übersetzt hatte, und - wie er selbst sagt - verglich sie Periode für Periode, Glied für Glied, Wort für Wort mit dem englischen Text, prüfte ihr Verhältnis zu demselben und behielt sie da bei, wo er keine Änderung für nötig fand".“ Schon ein Jahr, nachdem ESCHENBURGS Edition fertig vorlag, begann die „Neue verbesserte Auflage" zu erscheinen. Dabei handelt es sich um einen widerrechtlichen Nachdruck, für den GABRIEL ECKERT, Lehrer am Mannheimer Pageninstitut („der kuhrfürstlichen Herren Edelknaben zu Mannheim Professor"“) mitverant-

® Die hier anschließenden summarischen Hinweise stützen sich auf: Hermann Uhde-Bernays: Der Mannheimer Shakespeare. Ein Beitrag zur Geschichte der ersten deutschen Shakespeare-Übersetzungen. Berlin 1902. (Litterarhistorische Forschungen. Hrsg, von J. Schick und M. V. Waldberg. 25.) Nachdr. Nendeln/Liechtenstein 1976. - Ernst Stadler: Wielands Shakespeare. Straßburg 1910. (Quellen u. Forschungen zur Sprach- u. Culturgeschichte der germanischen Völker. 107.) - Hans Schräder: Eschenburg und Shakespeare. Marburg, Phil. Diss. v. 1911. Vgl. hierzu auch das Vorwort Eschenburgs in: Shakespear's Schauspiele. Bdl. Zürich 1775. “ H. Schräder: Eschenburg und Shakespeare. 63. “ Zitiert nach H. Uhde-Bernays (Anm. 9). 15.

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wörtlich war. ESCHENBURGS Name erschien nur auf den Titelblättern der drei ersten Bände. Als Verlagsort ist zunächst Straßburg, später Mannheim, teilweise (wohl bei Weiterdrucken bereits erschienener Bände) auch „Mannheim und Straßburg" angegeben. Interessanterweise ist die Bezeichnung „verbesserte Auflage" sachlich berechtigt. HERMANN UHDE-BERNAYS hat 465 Veränderungen gegenüber ESCHENBURG festgestellt und darauf hingewiesen, daß dieser in eine später von ihm selbst besorgte neue Auflage mehr als die Hälfte der Korrekturen ECKERTS übernommen hat.« Für eine Untersuchung der Textabhängigkeit Hegels bietet sich jene Schülerarbeit an, in der er eine ganze Szene SHAKESPEARES - nämlich das Gespräch zwischen ANTONIUS, OCTAVIUS und LEPIDUS, mit dem der IV. Aufzug des Julius Caesar beginnt nach- und ausgestaltet hat. ROSENKRANZ hat dieses „älteste, erste Product des HegeTschen Schriftthums" mit dem Titel Unterredung zwischen Dreien überliefert und dazu das Datum „1785, 30. Mai" mitgeteilt.Die Arbeit ist also nur einige Wochen, bevor im Tagebuch die Erinnerung an LöFFLERS Geschenk der SHAKESPEAREausgabe auftaucht, niedergeschrieben. - SHAKESPEARES Szene setzt unmittelbar ein mit der Absprache zwischen den Triumvirn über die aus dem Weg zu räumenden Römer; dann folgt, nach Abgang des LEPIDUS, ein Meinungsaustausch über dessen mäßige Fähigkeiten zwischen ANTONIUS und OCTAVIUS, schließlich ein Ausblick auf die bevorstehenden Aktionen. Hegel übernimmt diesen Aufbau etwa ab der Mitte seines Textes, läßt aber zuvor eine ausführliche Beratung der drei Männer über die Lage nach CäSARS Tod sich entfalten und fügt an den Schluß einen Monolog des OCTAVIUS. Vorab ist festzustellen, daß in dem Wortlaut dieses Auftritts keine Unterschiede zwischen ESCHENBURGS Ausgabe und dem Mannheimer Nachdruck aufzuweisen sind.'® Hegels Benutzung des letzteren kann daher nicht separat erfaßt werden. Dagegen lassen sich neben dem Einfluß von Wendungen, die bei ESCHENBURG und WIELAND'® gleichlauten, einige Anklänge an Textstellen ESCHENBURGS finden, die ihrerseits nicht mit WIELAND übereinstimmen und somit als Vorlage Hegels identifiziert werden können.

Diese Ausgabe erschien erst: Zürich 1798-1806. Rosenkranz: Hegels Leben. 451-454. (Vgl. 17 f.) Dann abgedruckt in; Dokumente zu Hegels Entwicklung. Hrsg, von J. Hoffmeister. Stuttgart 1936. 3-6. Ebenso in: Der junge Hegel in Stuttgart (oben Anm. 3). 65-68. Jetzt in Hegel: Gesammelte Werke. Bd 1. 37-39. '® Vgl. William Shakespear's Schauspiele. Neue Ausgabe. Von J. J. Eschenburg. Bd 9. Zürich 1777. 404r-407; sowie Willhelm Shakespears Schauspiele. Neue verbesserte Auflage. Bd 11. Mannheim 1779. 327-331. Zitate aus diesen kurzen Textstücken (im folgenden) werden nicht einzeln mit Seitenangabe nachgewiesen. '® Die früher eingesehene Originalausgabe stand mir bei der Abfassung dieser Miszelle nicht zur Verfügung. Verglichen und zitiert wurde daher nach Wieland: Gesammelte Schriffen.Hrsg. von der Preuß. Akademie der Wissenschaften. Abt. 2: Übersetzungen. Bd 2. Berlin 1909. 251-252. (Auch hieraus keine Einzelnachweise.)

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Im ersten Teil der Unterredung, den Hegel selbst konzipiert hat, läßt er den sagen; „O! OCTAVIUS, keine solche Bedenklichkeiten! Glaube mir, ich habe länger in der Welt gelebt..Er übernimmt damit einen Satz aus der SHAKESPEAREschen Szene, der aber dort erst nach LEPIDUS' Abgang gesprochen wird. Hegel zitiert wörtlich den Text ESCHENBURGS: „OKTAVIUS, ich habe länger in der Welt gelebt, als du." WIELAND überträgt das Original „I have seen more days than you" mit den Worten; „ich habe mehr Tage gesehen als ihr". - Weitere Anklänge betreffen nur das Wortmaterial. So hat ESCHENBURG gegen Ende der Szene für „great things" den Ausdruck; „große Entwürfe", während WIELAND es bei „grossen Dingen" belassen hatte; Hegel spricht an der gleichen Stelle, freilich innerhalb eines anders gewendeten Gedankens, von der „Vollendung unserer Entwürfe". Weiter; Die auf LEPIDUS gemünzte Äußerung „like to the empty ass" versteht WIELAND als „gleich einem andern verächtlichen Esel", wogegen ESCHENBURG übersetzt; „gleich dem entladnen Esel"; dem korrespondiert bei Hegel; „alsbald entladen wir ihn..." Aufmerksamkeit verdient sodann eine inhaltliche Eigentümlichkeit. Bei dem Feilschen um die Ermordung persönlicher Gegner sagt ANTONIUS in Hegels Text zu LEPIDUS; „Mein Oheim LUCIUS steht auf dein Begehren auch unter den Verurtheilten." Das steht in sachlicher Differenz zu SHAKESPEARE. Bei diesem fordert LEPIDUS als Gegenleistung für die Zustimmung zum Tode seines Bruders, „daß PUBLIUS, dein Schwestersohn, ANTONIUS, auch nicht leben soll" (Übersetzung von ESCHENBURG; ganz ähnlich lautend schon die zugrundeliegende Version WIELANDS). ESCHENBURG merkt jedoch in einer Fußnote an; „Eigentlich sollt es, wie UPTON zeigt, nicht PUBLIUS, sondern LUCIUS heissen, ein Oheim des MARKUS ANTONIUS von mütterlicher Seite, dessen Schwestersohn folglich ANTONIUS selbst war." Dies entspricht den hier nicht namhaft gemachten Berichten PLUTARCHS’^, die Hegel selbst gekannt zu haben scheint. (Darauf deutet in seiner Unterredung die ausdrückliche Nennung CiCEROs, der in der SuAKESPEARE-Szene unerwähnt bleibt.) Ob Hegel durch ESCHENBURGS Anmerkung oder durch den antiken Text zu der inhaltlichen Korrektur an SHAKESPEARE bewogen wurde, müssen wir offenlassen. Immerhin schlägt ESCHENBURGS Note die Brücke zur antiken Quelle und stellt zudem das von Hegel gebrauchte Wort „Oheim" und die Namensform „Lucius" (PLUTARCH demgegenüber; „Lucius Caesar") bereit. Gehen wir über die hier betrachtete frühe Arbeit Hegels hinaus, so stoßen wir in Hegels Manuskript zu seiner Vorlesung über Religionsphilosophie (1821) auf ein - schon von LASSON nachgewiesenes - kurzes Zitat aus Macbeth (I. Aufzug, Szene 7, Vers 6). Es heißt dort; „... der Kummer, Mühen und Sorgen dieser Sandbank der Zeitlichkeit..Den SHAKESPEARESchen Ausdruck „upon this bank ANTONIUS

Vgl. Plutarch: Antonius. Kapitel 9, sowie Plutarch: Cicero. Kapitel 46. Zitiert nach G. W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1. Hrsg, von W. Jaeschke. Hamburg 1983. (Hegel; Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften u. Manu-

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and shoal of time" übersetzt WIELAND; „auf diesem Sandbank der Zeit", ESCHENBURG dagegen: „auf dieser Sandbank und Untiefe der Zeitlichkeit".Im Rahmen der Ausgabe von Voss und der inzwischen längst in den Vordergrund gerückten ScHLEGEL-TiECKSchen Übersetzung war Macbeth bis zum Jahre 1821 noch nicht erschienen. So weist auch diese Stelle von Hegel auf ESCHENBURG zurück. Weitere Anlehnungen lassen sich, so scheint es, bei SnAKESPEARE-Zitaten in Hegels Vorlesung über Ästhetik aufzeigen. Doch soll hier nicht mehr in die Einzelanalyse eingetreten werden. Es kann als sicher gelten, daß Hegel den ESCHENBURGschen SnAKESPEARE-Text, und zwar in der Mannheimer Ausgabe, besessen und benutzt hat.

Friedhelm Nicolin (Bonn)

HEGELS SCHOTTISCHE BETTLER

Es’ ist wohlbekannt, daß Hegels Auseinandersetzung mit dem Problem der Armut sich auch in einem lebenslangen Interesse an der Bettelei und den Bettlern äußerte. Die Lazzaronis in Neapel fanden ebenso seine Aufmerksamkeit wie die Geusen in Holland. Die britischen Parlamentsverhandlungen über die „Poor Laws" gehörten ebenso zu seiner Lektüre wie GAYS Beggar's Opera^. Hier soll eine Anspielung auf die Bettelei in Schottland erörtert werden, die vielfach mißverstanden wurde, weil die historischen Hintergründe nur unzureichend bekannt sind. Nachdem Hegel im Paragraphen 245 der Rechtsphilosophie zwei Möglichkeiten der Armenfürsorge diskutiert und kritisiert, folgt in der Anmerkung der Hinweis auf England und Schottland, der wie folgt lautet: „Diese Erscheinungen lassen sich im großen an Englands Beispiel studieren, sowie näher die Erfolge, welche die

skripte. Bd 3.) 4. Vgl. auch die Anmerkung des Herausgebers: ebd. 375. - Der Nachweis Lassons in Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1. Leipzig 1925. Nachdr. Hamburg 1966. (Philos. Bibliothek. Bd 59.) 3, Fußnote. ” Vgl. Shakespear: Theatralische Werke. Bd 6. Zürich 1765. 194. - Shakespeare Schauspiele. Bd 12. Straßburg 1779. 32. ’ Professor R. H. Campbell bin ich für zahlreiche Auskünfte zu Dank verpflichtet. Einer seiner Mitteilungen entlehne ich die unten gebrauchte Formulierung „upper dass beggar". Auch Herrn Thomas Sokoll, der in Cambridge über das englische Armenrecht promoviert, möchte ich für kritische Anmerkungen danken. ^ Hegel besaß die folgende Ausgabe: John Gay: The Beggar's Opera. London 1749; vgl. Verzeichniß der von dem Professor Herrn Dr. Hegel und dem Dr. Herrn Seebeck hinterlassenen Büchersammlungen. Berlin 1832. Nr796.

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Armentaxe, unermeßliche Stiftungen und ebenso unbegrenzte Privatwohltätigkeit, vor allem auch dabei das Aufheben der Korporationen gehabt haben. Als das direkteste Mittel hat sich daselbst (vornehmlich in Schottland) gegen Armut sowohl als insbesondere gegen die Abwerfung der Scham und Ehre, der subjektiven Basen der Gesellschaft, und gegen die Faulheit und Verschwendung usf., woraus der Pöbel hervorgeht, dies erprobt, die Armen ihrem Schicksal zu überlassen und sie auf den öffentlichen Bettel anzuweisen." (PhR. § 245 Anm.) Die Formulierung „die Armen ihrem Schicksal zu überlassen" ist von einigen Kritikern mit Bitterkeit registriert worden; BERNARD CULLEN, um ein Beispiel aus der neuesten Literatur zu wählen, karikierte Hegels Äußerung als „the ,Scottish Solution' or no Solution at all"^. Eine Konfrontation der Hegelschen Anspielung und ihrer negativen Auslegung mit den sozialgeschichtlichen Bedingungen des zeitgenössischen Schottlands wird demgegenüber zeigen, daß Hegel, wenngleich moderne Historiker gewisse Einschränkungen an seiner Wertung vorzunehmen hätten, eine bessere Kenntnis der schottischen Verhältnisse besaß als manche seiner zu rasch urteilenden Kritiker. Zunächst weist Hegels Formulierung („vornehmlich in Schottland") auf einen Unterschied in der Armenfürsorge von England und Schottland. Diese Unterscheidung ist historisch berechtigt und geht auf die Zeit der politischen Unabhängigkeit Schottlands zurück. Das alte schottische Parlament hatte mit einer Vielfalt von Gesetzen und Verordnungen den rechtlichen Rahmen einer eigenständigen Armenfürsorge geschaffen. Das seit 1707 (Union of Parliaments) bestehende vereinigte Parlament in Westminster sah erst 1845 Veranlassung, das tradierte schottische System durch neue Gesetzgebung zu verändern. Aus der Vielzahl der spezifisch schottischen Regelungen verdienen zwei Hauptmerkmale besondere Aufmerksamkeit. Erstens oblag die Verwaltung der schottischen Armenfürsorge, im Gegensatz zu England, größtenteils der etablierten Staatskirche (Church of Scotland). Zwar hatten in ländlichen Gemeinden (parishes), welche die große Mehrzahl bildeten, die sogenannten „heritors" (Grundbesitzer), in den wenigen Städten die Magistrate ein Mitbestimmungsrecht, aber die erhaltenen Quellen legen die Verallgemeinerung nahe, daß die wirkliche Verantwortung in den Händen der Kirche lag. Die Frage der Verwaltung ist verknüpft mit der Art der Finanzierung. Während in England gemeindliche Armensteuern („poor rates") üblich waren, bildeten die freiwilligen Beiträge der sonntäglichen Kollekte die für Schottland typische Weise, die Armenfürsorge zu tragen. Nur im Notfall wurden die Grundbesitzer und insbesondere deren Pächter durch besondere Abgaben belaä Bernard Cullen: Hegels Social and Political Thought. Dublin 1979. 107. ^ Neben der allgemeinen Edinburgh History of Scotland (Hrsg, von Gordon Donaldson. 4 Bde. 3. Aufl. Edinburgh 1978), den Standardwerken zur schottischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von R. H. Campbell, Henry Hamilton, Rosalind Mitchison und T. C. Smout, bietet das einleitende Kapitel der folgenden Spezialstudie einen geschichtlichen Überblick: R. A. Cage: The Scottish Poor Law 1745-1845. Edinburgh 1981. 1-18.

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Stet. Zweitens unterschied sich die Behandlung der sogenannten „able-bodied poor", also der gesunden, erwerbsfähigen Erwachsenen. Die englischen und schottischen Armengesetze stimmten zwar seit dem 16. Jahrhundert darin überein, zwischen „deserving" un^„undeserving" poor zu differenzieren®, doch wurden in England fast immer beide Gruppen unterstützt, wohingegen die schottische Armenfürsorge häufig auf die „deserving poor" (Waisen, Alte, Körper- und Geistesbehinderte, etc.) beschränkt blieb. Umstritten unter modernen Historikern ist die Frage, wie strikt die schottische Benachteiligung der „able-bodied poor" eingehalten wurde. Es gibt Dokumente, die belegen, daß gesunden Arbeitslosen, obwohl man ihnen in der Legislation keinen Anspruch einräumte, in der Praxis dennoch geholfen wurde, insbesondere bevor die Industrialisierung das Problem verschärfte und quantitativ vergrößerte. Mit diesem Vorbehalt, auf den hier nicht näher eingegangen werden kann, bestand ein gradueller Unterschied, und damit entspricht Hegels Differenzierung im wesentlichen dem geschichtlichen Sachverhalt. Trotz der Genauigkeit, mit der Hegel den damaligen Zustand wiedergibt, scheint seine Empfehlung der schottischen Armenfürsorge, mit ihrer gesetzlichen Benachteiligung der „able-bodied poor", die erwähnte „zynische" Deutung der Hegelschen Anspielung auf den ersten Blick zu bestätigen. Es gab jedoch eine zusätzliche Einrichtung in Schottland, die Hegels Bemerkung in einem anderen Licht erscheinen läßt: die Lizenzierung der Bettler. Seit 1424 gab es detaillierte Bestimmungen darüber, wer eine solche Lizenz erteilen und erhalten durfte. Der König war immer berechtigt, derartige Lizenzen auszustellen, aber bald erhielten auch andere Personen und Körperschaften diese Befugnis. Der Empfängerkreis, der zunächst sehr eng definiert worden war®, wurde im Laufe der Zeit ebenfalls erweitert. Diese Entwicklungen hier im einzelnen nachzuzeichnen, würde zu weit führen, entscheidend ist jedoch, daß sich schließlich auch erwerbsfähige Erwachsene um eine Lizenz als Bettler bemühen konnten. Das erwähnte Gesetz von 1574 zum Beispiel gab den drei damals in Schottland bestehenden Universitäten, genauer deren Rektoren und Dekanen, das Recht, ihren armen Studenten BettelLizenzen zu erteilen. Hinter der Einrichtung der Lizenzierung steckte eine doppelte Absicht. Erstens konnte der Umfang der Bettelei öffentlich kontrolliert werden. Zweitens wurde dem Bettler hierdurch eine Legitimation erteilt: seine Bedürftigkeit und sein Anliegen wurden öffentlich anerkannt. Daß der lizenzierte schottische Bettler nicht mit Personen verwechselt werden konnte, die sich die Mildtätigkeit ihrer Mitmenschen ergaunerten, gab ihm einen materiellen Vorteil. Verglichen mit seinen englischen oder europäischen Kollegen erscheint er als

® In Schottland seit 1574, in England seit den „acts" von 1597 und 1601. ® Wobei umstritten ist, inwieweit diese Restriktionen und die drakonischen Strafen für unlizenzierte Bettler immer durchgesetzt wurden.

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„upper-dass" Bettler. ^ Hegels Empfehlung der „schottischen Methode" darf daher nicht als gefühllose Härte gegenüber den Ärmsten gedeutet werden, sondern als Zustimmung zu einer Sozialmaßnahme, die sich bei Vermeidung anachronistischer Standards durchaus rechtfertigen ließe. Neben dem materiellen Vorzug und dies ist für Hegel wichtig, wie seine Äußerung über die Hilfe in der Korporation folgern läßt (PhR. § 253 Anm.) - gab die Lizenz dem Bettler ein anderes Selbstbewußtsein: durch die Legitimation wurde das Demütigende des Bettels zumindest reduziert. Hegels Kenntnis der schottischen Armenfürsorge drängt die Frage nach seinen Quellen auf. Sir MALCOLM KNOX, der Herausgeber und Übersetzer der englischen Fassung der Rechtsphilosophie, versuchte die Anspielung auf Schottland mit Hegels Frankfurter Zeitungslektüre in Zusammenhang zu bringen und verwies in seiner Anmerkung auf den Bericht von ROSENKRANZ: „Mit großer Spannung, wie seine Exzerpte aus Englischen Zeitungen beweisen, folgte Hegel den Parlamentsverhandlungen über die Armentaxe als das Almo'sen, mit welchem die Adel- und Geld-Aristokratie den Ungestüm der subsistenzlosen Menge zu beschwichtigen hoffte."® Daß Hegels oben zitierte Bemerkung wirklich auf diese Frankfurter Studien zurückgeht, ist aus zwei Gründen unwahrscheinlich: Erstens enthält der Bericht von ROSENKRANZ keinerlei Hinweis auf Schottland, und die von ihm erwähnten „Armentaxen" waren, wie ausgeführt, für Schottland untypisch. Zweitens beschäftigten sich die Parlamentsdebatten von 1795/96 vornehmlich mit England und Irland. Das schottische System der Armenpflege wurde erst viel später in Frage gestellt: 1824 wurde eine Gesetzesvorlage zum schottischen Armenrecht erörtert aber abgewiesen; zu einer wirklich aktiven und weiten Debatte kam es erst in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, zu einer gesetzlichen Änderung nicht vor 1845. Hegels wirkliche Kenntnisnahme der schottischen Situation ist etwa 20 Jahre später anzusiedeln. Hegels Lektüre der Edinburgh Review und Quarterly Review, die durch erhaltene Exzerpte aus den Jahrgängen 1817-1819 verbürgt ist®, legt die Vermutung nahe, daß Hegels Unterscheidung des englischen und schottischen Systems aus diesen Quellen geschöpft ist. Ein Ärtikel der Quarterly Review (No. XXXVII, Äpril 1818, 79-118) verweist ausdrücklich auf die Eigenständigkeit der schottischen Ärmenpflege: „... the striking advantages which Scotland possesses on the score of general morals can be ascribed only to two causes, its parochial

^ Cages Studie zum schottischen Armenrecht (The Scottish Poor Law. 4) zieht vorsichtig die Schlußfolgerung, daß die Bettelei in Schottland „a profitable occupation" gewesen zu sein scheint. ® Karl Rosenkranz: G. W.f. Hegels Leben. Berlin 1844. 85; vgl. HegeTs Philosophy of Right. Ed. Sir Malcolm Knox. 3. Aufl. Oxford 1976. 361. ® Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz (Berlin). Hegel-Nachlaß, Band 15,5,2 und 15,7,1. Für die freundliche Erlaubnis, diese Exzerpte benutzen zu dürfen, möchte ich mich hier bedanken.

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education and the management of its poor." (93; Hervorh. v. Verf.) Gerade aus diesem Artikel machte sich Hegel eine Notiz und es scheint berechtigt anzunehmen, daß Hegel den ganzen Artikel las und nicht nur die kurze Passage, die er exzerpierte. Auch die schottische Edinburgh Review enthielt in dem o. g. Zeitraum, für den Hegels Lektüre der Zeitschrift feststeht, mehrere Artikel", denen die spezifischen Merkmale der schottischen Armenfürsorge entnommen werden konnten. Informationen über die Lizenzierung der schottischen Bettler und der damit verbundenen materiellen und psychologischen Vorteile konnten jedoch kaum aus der zeitgenössischen Presse gewonnen werden. Über Hegels diesbezügliche Quelle möchte ich zumindest eine Spekulation vortragen, die übrigens auch geeignet ist, ein lebendiges Bild der schottischen Bettler zu vermitteln. Es handelt sich um die Gestalt des Edie Ochiltree in WALTER SCOTTS Roman The Antiquary. Daß Hegel mit SCOTTS Romanen vertraut war, wenngleich sich der genaue Grad dieser Vertrautheit bei SCOTTS umfangreichem Werk nur erahnen läßt, geht aus dem Briefwechsel (Band 3, 187), der Enzyklopädie, einem Entwurf zur Philosophie der Geschichte und einem Exzerpt der Berliner Zeit klar hervor. Hegels harte Worte in dem Berliner Fragment - SCOTT wird u. a. als „seichter Kopf" bezeichnet (Berliner Schriften. 697 f) - werden durch die parallelen Stellen der Enzyklopädie und der Philosophie der Geschichte zumindest qualifiziert, worin SCOTT die Fähigkeit zugeschrieben wird, die „partikuläre Lebendigkeit" zu gestalten. Hegel war bereit, SCOTTS historische Sittengemälde zu empfehlen, und diese Sympathie verließ ihn nur dort, wo sich SCOTT zum Geschichtsphilosophen der französischen Revolution aufspielte. In SCOTTS Antiquary wird in der Tat ein lizenzierter schottischer Bettler aufs lebendigste geschildert. Ein aufmerksamer Leser kann aus SCOTTS Portrait des Edie Ochiltree alle für Hegel wichtigen Aspekte des schottischen Bettlers entnehmen. Die Lizenz, deren Erkennungsmerkmale - ein Abzeichen (badge)'“* und der blaue Rock (gown) - und die damit verbundenen Vorzüge werden ausdrücklich erwähnt.'^ „O, you are a licensed man..." (Kapitel XII. 165); „... my badge is a Hegel-Nachlaß, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz (Berlin), Band 15,5,2 Blatt 2. “ Z. B. in No. LVIII, February 1818, 261-302. Den freundlichen Hinweis, die Werke Walter Scotts in diesem Zusammenhang zu betrachten, verdanke ich Herrn Duncan Forbes (Fellow of Cläre College, Cambridge). Die Erstausgabe von The Antiquary erschien 1816 in Edinburgh. Ich benutze die folgende Ausgabe; Sir Walter Scott: Waverly Novels. Vol. V: The Antiquary. Edinburgh 1901. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. §549, Anm.; vgl. Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Frankfurt 1970. (Theorie Werkausgabe Bd 12.) 553 f. " Vgl. /. B. Paul: On Beggars' Badges with Notes on the Licensed Mendicants of Scotland, ln; Proceedings of the Society of Antiquaries of Scotland. New series 9 (1886/87), 169-179. Der blaue Rock war das Zeichen der besonders privilegierten Bettler, die der König lizenziert hatte. Während andere Lizenzen gewöhnlich nur für eine Gemeinde Gültigkeit hatten, durften die Bettler des Königs in ganz Schottland betteln. Die folgenden Zitate entstammen der oben angeführten Ausgabe. Hervorhebungen vom Verf.

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good protection..(Kap. XXI. 303); «... I get a blue gown every year, and as mony silier groats as the king, God bless him, is years auld..." (321). Einem jungen Engländer (LOVEL), der sich über das Selbstbewußtsein des Bettlers verwundert - „In England ... such a mendicant would get a speedy check" (Kap. IV. 55) - wird Edies privilegierte Position erläutert: „Yes, your churchwardens and dog-whips would make slender allowance for his vein of humour! But here ... he is a sort of privileged nuisance" (56). Das relative materielle Wohlergehen, die freizügigen Reden und der starke Unabhängigkeitssinn des Bettlers mußten bei der Leserschaft jenseits der schottischen Grenzen auf Unverständnis stoßen, und SCOTT hielt die Sache für wichtig genug, dem Neudruck von 1829 eine ca. zehnseitige Anmerkung beizufügen, worin historische Belege - war er doch selbst ein leidenschaftlicher , Antiquar' - und persönliche Erinnerungen an derartige Bettler seine Schilderung des Bettlers zu rechtfertigen suchen. Obwohl Hegels Anspielung sich nur auf den Roman selbst und nicht auf die Nachschrift stützen konnte, verdient es SCOTTS Zusammenfassung, hier abschließend zitiert zu werden: „Such are a few traits of Scottish mendicity, designed to throw light on a Novel in which a character of that description plays a prominent part. We conclude, that we have vindicated Edie Ochiltree's right to the importance assigned to him; and have shown, that we have known one beggar take a hand at cards with a person of distinction, and another give dinner parties." (XXVIII) Norbert Waszek (Cambridge)

REZENSIONEN

Die Neuausgabe der Berliner Religionsphilosophie G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1: Einleitung. Der Begriff der Religion. Herausgegeben von Walter Jaeschke. Ham-

burg: Felix Meiner 1983. LXXXVI, 426 Seiten. (Hegel: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Bd 3.) Als im Herbst 1932, noch nicht einmal ein Jahr nach Hegels Tod, im Rahmen der vom „Kreise der Freunde des Verewigten" veranstalteten Werkausgabe Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion erschienen, urteilte DAVID FRIEDRICH STRAUSS: „Die ersten Bände von Hegels Werken haben wir also. Die Religionsphilosophie wird wenig Glück machen. Sie ist schlecht redigiert."* STRAUSS hatte bei Hegel zwar nur einige wenige Stunden Rechtsphilosophie und Philosophiegeschichte hören können. Kritische Kompetenz kann ihm aber insofern nicht abgesprochen werden, als er sich im unmittelbaren Anschluß an die Beerdigung Hegels von einem weinenden Schüler dessen Mitschrift der ReligionsphilosophieVorlesung des Sommersemesters 1831 „erobert" hatte. Seine Kritik, die von PHILIPP KONRAD MARHEINEKE in erstaunlich kurzer Zeit fertiggestellte Edition dokumentiere den realen Gang von Hegels Vorlesung nur unzureichend, wurde auch von anderen Zeitgenossen geteilt, ln der ausführlichen Besprechung der Religionsphilosophie, die im April und Mai 1833 in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik erschien, mußte KARL ROSENKRANZ MARHEINEKES Edition (im folgenden abgekürzt als: Wi) jedenfalls schon gegen verschiedene Angriffe verteidigen. Doch war seiner eher halbherzigen Apologetik längerfristig kein Erfolg beschieden: 1840 publizierte MARHEINEKE eine zweite, durch Berücksichtigung neuer Quellen stark veränderte Ausgabe der Religionsphilosophie, die im wesentlichen von BRUNO BAUER redigiert wurde. Doch auch W2 blieb nicht ohne Kritik. Mehr noch gilt dies von dem editorischen Totalchaos, welches in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts dann GEORG LASSON produzierte. Das Ungenügen der alten Editionen, Hegels eigenes Manuskript mit Nachschriften verschiedener Vorlesungsjahrgänge zu einem nur äußerlich einheitlichen, in sich widersprüchlichen Ganzen komponiert zu ha-

* Theobald Ziegler: Zur Biographie von David Friedrich Strauß, ln: Deutsche Revue. 30 (1905), Bd 2, 344.

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Rezensionen

ben, vermochte auch LASSON nicht zu beseitigen. So waren allen Bemühungen um eine nähere und entwicklungsgeschichtlich differenzierte Erschließung von Hegels Berliner Religionsphilosophie bisher enge Grenzen gesetzt. Mit der Ausgabe der Vorlesungen über die Philosophie der Religion, die WALTER JAESCHKE im Rahmen der von Mitarbeitern des Hegel-Archivs, Bochum, erarbeiteten Edition „ausgewählter Nachschriften und Manuskripte" Hegelscher Vorlesungen vorzulegen begonnen hat, sind historische Erforschung und systematische Rekonstruktion der Berliner Religionsphilosophie nun auf eine völlig neue, äußerst solide Basis gestellt worden. Schon das Erscheinen des ersten Bandes der dreibändigen Ausgabe - erstmals wird die triadische Systematik der Religionsphilosophie nun schon in der Bandeinteilung angemessen zur Geltung gebracht stellt ein bedeutendes Datum der Hegel-Forschung dar; auch ohne Inanspruchnahme irgendwelcher prophetischer Qualitäten läßt sich prognostizieren, daß diese Edition schon insofern eine völlig neue Phase der Rezeption von Hegels Religionsphilosophie einleiten wird, als sie weitreichende Veränderungen des Umganges mit den Texten erzwingt. Zusammen mit RICARDO FERRARA und PETER C. HODGSON, die als Herausgeber der parallel erscheinenden spanischen und englischen Ausgabe gleichen Anteil an der Herstellung des edierten Textes haben, hat W. JAESCHKE jene Anstrengung der Entäußerung an die Sache auf sich genommen, die die Grenzen der Selbstlosigkeit tangiert und insofern höchsten Respekt verdient. Die langjährige editorische Arbeit JAESCHKES, wie sie u. a. in der Mitherausgabe der Wissenschaft der Logik innerhalb der Gesammelten Werke ihren Ausdruck gefunden hat (vgl. Hegel-Studien. 18 [1983], 393 ff), und seine in zahlreichen Publikationen dokumentierten interpretatorischen Bemühungen um Hegels Religionstheorie sind nicht nur der hervorragend gelungenen Präsentation des Textes, sondern auch dem - gut 80 Seiten umfassenden (!) - instruktiven „Vorwort" und den ausführlichen Anmerkungen zugute gekommen. Diese Anmerkungen sollen „kein Kommentar" sein, sondern „in der Regel auf Nachweise der im Text vorkommenden Zitate und Bezugnahmen auf andere Schriften sowie auf Verweise innerhalb des Textes" sich beschränken (371). Zum Nutzen insbesondere desjenigen Lesers, der mit dem theoriegeschichtlichen Kontext von Hegels Religionsverständnis noch wenig vertraut ist, enthält der umfangreiche, satztechnisch übersichtlich gestaltete Anmerkungsapparat (371-418) jedoch eine solche Fülle von Erläuterungen und präzisen Quellenbelegen, daß hier faktisch schon ein erster Kommentar zum Hegelschen Text geboten wird. Anders als in den Gesammelten Werken werden nicht nur die von Hegel zitierte, weit entlegene Literatur - soweit möglich nach den von ihm (wahrscheinlich) benutzten Ausgaben - in ausführlichen Zitaten dargestellt, sondern auch mögliche Anspielungen extensiv belegt. Darüber hinaus hat der Herausgeber die eigene Regel mehrfach verletzt, in den Anmerkungen „auch nicht durch Nachweis von Parallelstellen in Hegels Werk zu kommentieren" (371): Neben Bezügen Hegels auf von ihm selbst zum Druck gegebene Texte (vgl. z. B. die Anmerkungen zu 28,674;

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45,370; 193,854; 197,991; 215,463) weist er zum Teil auch Parallelen aus anderen Vorlesungen nach (vgl. 5,79-6,8o; 6,102; 66,110-112; 156,2oi u. ö.). Spätestens dann, wenn er die „selbstsüchtige Frömmigkeit" KARL LUDWIG SANDS über die Nennung biographischer Daten hinaus auch noch durch Hinweis auf eine - obendrein höchst umstrittene - Monographie zu „SANDS Charakter" (152,i4o) erläutert, dürfte JAESCHKE aber des Guten zu viel getan haben. Bezüglich seiner Entscheidung, im Personenregister ausschließlich die im Textteil genannten historischen Personen nachzuweisen, gilt jedoch eher das Gegenteil. Die im Anmerkungsteil gebotenen reichen Quellenbelege über das Register erschließen zu können, hätte jedenfalls ihre sekundäre Verwertung sehr erleichtert: vor allem die Autoren Historischer Wörterbücher wären dem Herausgeber für seine zusätzliche Mühe gewiß sehr dankbar gewesen. Den Ansprüchen philosophischer Interpretation waren Wj, W2 und L vor allem deshalb nicht gewachsen, weil hier die vier Religionsphilosophie-Vorlesungen Hegels als ein geschlossenes Ganzes präsentiert wurden. Bekanntlich las Hegel erst in Berlin über Philosophie der Religion. Dem ersten Kolleg im Sommer 1821 folgten dann weitere Religionsphilosophie-Vorlesungen in den Sommersemestem 1824, 1827 und 1831. Dabei wurde die Vorlesung des Jahres 1821 jedoch nicht einfach wiederholt. Vielmehr trug Hegel jeweils einen neuen, grundlegend veränderten Entwurf des Ganzen vor. Verglichen mit dem in den frühen Berliner Jahren erreichten Stand der materialen Ausarbeitung anderer Systemteile war die erste Religionsphilosophie systematisch noch relativ unentwickelt. Die grundlegenden Modifikationen der späteren Vorlesungen dürften deshalb primär Hegels Bemühen darum sich verdanken, anderen Teilen des Systems, insbesondere der Philosophie des Rechts, analog auch der Religionsphilosophie eine systematische Gestalt zu geben, die sowohl dem Begriffsniveau der Wissenschaft der Logik als auch der Komplexität der enzyklopädischen Theorie des absoluten Geistes kompatibel ist. Im Zusammenhang mit den jeweiligen Eingriffen in die überkommene Systematik arbeitete Hegel in die einzelnen Vorlesungen dann zunehmend breiter religionsgeschichtliche und theologische Materialien ein, so daß die Religionsphilosophie auch ihrem „empirischen" Gehalte nach fortentwickelt wurde. Um einer artifiziellen Einheitlichkeit willen, die keiner der verschiedenen Konzeptionen Hegels gerecht wurde, waren in den alten Ausgaben diese gewichtigen Differenzen zwischen den vier Religionsphilosophien jedoch zum Verschwinden gebracht worden. So mußte es das primäre Ziel einer neuen Edition sein, die „tiefgreifenden Wandlungen" (XVI) wieder sichtbar zu machen, denen Hegels Konzept einer systemadäquaten Religionsphilosophie während der Berliner Jahre unterlag. Geboten war deshalb die parallele Präsentation aller vier Vorlesungsjahrgänge. Denn nur so konnten all jene Textbestände dargestellt werden, die in Wj, W2 und L der intendierten Geschlossenheit des fiktiven Ganzen geopfert worden waren. Gegen eine aufwendige Paralleldarstellung der vier Vorlesungen könnte eingewendet werden, daß sie allzu viele Wiederholungen mit sich bringt. Schon ange-

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sichts der Tatsache, daß auch in der Realisierung der alten Integrationsprogramme - neben vielen sonstigen Brüchen und Spannungen - zahlreiche Wiederholungen nicht zu vermeiden waren, kommt diesem Einwand aber keine besondere Überzeugungskraft zu. Er verliert spätestens dann jede Plausibilität, wenn man die Überlieferungslage für die einzelnen Kollegs betrachtet: JAESCHKE vermag begründet nachzuweisen, daß aufgrund der Heterogenität der überlieferten Quellen alle Bemühungen um eine Teilintegration zum Scheitern verurteilt sind - abgesehen davon, daß Integrationsversuche welcher Art auch immer die dringend gebotene historische und systematische Aufklärung der Genese und des Wandels von Hegels Berliner Religionsphilosophien gewiß eher behindert als befördert hätten. Auch in einer Ausgabe, die noch nicht mit dem Anspruch auf historisch-kritische Letztgültigkeit auftritt und auftreten kann, gibt es zur parallelen Präsentation der vier Berliner Religionsphilosophien keine plausible Alternative. Angesichts der derzeitigen Quellenlage stellt die Durchführung dieses Editionsprogramms jedoch ein äußerst schwieriges ünternehmen dar. Denn die Quellen, auf die MARHEINEKE, BAUER und LASSON für ihre Editionen sich stützen konnten, sind zum größten Teil verschollen. Durch umfangreiche Nachforschungen bzw. in einem Fall auch aufgrund eines freundlichen Hinweises von KARL-HEINZ ILTING hat JAESCHKE in den letzten zehn Jahren zwar Quellenbestände erschließen können, die bis dahin unbekannt geblieben waren und insofern in Wj, W2 und L keine Berücksichtigung gefunden hatten. Der Verlust der den alten Editionen jeweils zugrunde liegenden Quellen wird durch diese neuen Funde jedoch nur zum Teil kompensiert. Neben der primären Überlieferung - den Quellen aus dem handschriftlichen Nachlaß Hegels, die er seinen Vorlesungen selbst zugrunde legte, und den verschiedenen Zeugnissen für den Vortrag (Mitschriften seiner Hörer bzw. Reinschriften und Ausarbeitungen) - kommt, zumindest derzeit, auch Wj, W2 und L noch Quellenwert zu. Um diesen editionsrelevant bestimmen zu können, mußte der Herausgeber die Textcollagen der alten Ausgaben durch umfassende Quellenkritik wieder in ihre einzelnen Elemente auflösen. Auf der Basis der gegebenen Primärüberlieferung wurde aus dem Textbestand von Wj, W2 und L zunächst im Subtraktionsverfahren Sondergut ausgegrenzt. Im Rückgriff auf alle derzeit zur Verfügung stehenden Informationen über die Quellen der alten Ausgaben entwickelte JAESCHKE dann einen Satz von Kriterien zur Datierung des Sondergutes. In der Zuordnung dieser sekundären Überlieferung war insgesamt zwar keine letzte Gewißheit zu erlangen. Doch wurde ein sehr hohes Maß an Wahrscheinlichkeit erreicht. Die methodische Umsicht und Präzision, die JAESCHKES Behandlung des Sondergutes erkennen lassen, sind beispielhaft. Verglichen mit der Überlieferung anderer Vorlesungen ist die Quellenlage bei den Religionsphilosophien insofern besonders gut, als in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz im handschriftlichen Nachlaß Hegels ein vollständig erhaltenes Manuskript (=Ms) „Religions-Philosophie" aufbewahrt wird. Dieses Ms dürfte im wesentlichen 1821 entstanden sein. Demgegenüber lassen sich die zahl-

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reichen Randbemerkungen des Ms bisher nur zum geringen Teil datieren. Denn für die Vorlesung des Jahres 1821 liegen keine Hörermitschriften oder Reinschriften vor, so daß ein Vergleich des Ms mit einem Zeugnis für den Vortrag nicht möglich ist. Zumindest für einen Teil der Randbemerkungen vermag JAESCHKE den möglichen Entstehungszeitraum aber durch umsichtige Beweisführung plausibel einzugrenzen. So weist beispielsweise schon die Vorlesung 1824 starke Modifikationen gegenüber dem Ms auf. Dies gilt vor allem für ihren ersten Teil: in der Entwicklung des „Begriffs der Religion" läßt sich „allenfalls noch ein Thema finden, bei dem die Annahme sinnvoll ist, Hegel habe sich hier auf Ms gestützt" (XXIV). Die ausführlichen Randbemerkungen zum ersten Teil des Ms dürften deshalb bereits vor 1824 entstanden sein. JAESCHKES Sorgfalt in der Darstellung solcher Datierungsprobleme und die Behutsamkeit, mit der er die jeweils möglichen Hypothesen abwägt, sind vorbildlich zu nennen. Entsprechendes gilt für die Genauigkeit seiner detaillierten Quellenbeschreibungen. Informationen über die „Autoren" seiner Quellen, d. h. über die Hörer Hegels, deren Mit- oder Nachschriften seiner Edition zugrunde liegen, teilt der Herausgeber allerdings nur sehr spärlich mit. Über das Publikum der Berliner Vorlesungen Hegels stehen bisher noch keine hinreichend differenzierten Informationen zur Verfügung, und insbesondere über „die Hörer der Religionsphilosophie ist gegenwärtig wenig bekannt" (XII). Durch die Erschließung verschiedener Archivbestände - insbesondere der Immatrikulationsakten und studentischen Abgangszeugnisse, die im Archiv der HuMBOLDT-Universität aufbewahrt werden und durch eine gezielte Auswertung der biographischen Literatur über die vielen vergessenen Philosophen und Theologen, die in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts in Berlin studierten, dürfte sich der derzeit noch äußerst mangelhafte Kenntnisstand über Hegels Berliner Vorlesungstätigkeit aber verbessern lassen. Neben den von JAESCHKE genannten prominenten Hörern wurden Religionsphilosophie-Vorlesungen Hegels höchstwahrscheinlich auch von den protestantischen Theologen LEONHARD USTERI (Sommer 1821) und ANTON FRIEDRICH LUDWIG PELT (Sommer 1827) besucht.

Unter dem irreführenden Titel „Die Vorlesung von 1821" ist das Ms bereits 1978 von KARL-HEINZ ILTING ediert worden. Angesichts der gleichermaßen präzisen wie vernichtenden Kritik, die JAESCHKE an dieser Ausgabe geübt hat (vgl. Hegel-Studien. 18 [1983], 295-354, bes. 297 ff), kann es nicht verwundern, daß er die bei der Edition des Ms gegebenen Darstellungsprobleme ausnahmslos sehr viel überzeugender als ILTING gelöst hat. Dies betrifft insbesondere die von JAESCHKE plausibel begründete (Teil-) Integration der Randbemerkungen in den Haupttext. Der im einzelnen jeweils integrierte Textbestand läßt sich über den Apparat unschwer identifizieren. Neben Auskünften darüber, ob bzw. mit welchen Zeichen Hegel die Randbemerkungen jeweils auf den Haupttext bezogen hat, werden im Apparat auch Sondergut aus W2 und die nicht in den Haupttext zu integrierenden Randbemerkungen mitgeteilt. Angesichts der von JAESCHKE für seine Ausgabe re-

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klamierten „Mittelstellung zwischen Studienausgabe und historisch-kritischer Edition" (LXII) sind sowohl die Modernisierung der Interpunktion als auch die Reduktion des textkritischen Apparates auf den Nachweis der Integration der Randbemerkungen bzw. der spärlichen Eingriffe in den Text vertretbar. Die editorischen Probleme, welche bei der Edition eines allein in Mit- oder Reinschriften überlieferten gesprochenen Textes entstehen, hat JAESCHKE mehrfach in Aufsätzen behandelt.^ Unsinnig wäre es, die verschiedenen Mit- oder Reinschriften parallel zu edieren und damit eher das besondere Rezeptionsvermögen des jeweiligen Hörers bzw. Tradenten als - im idealen Fall - den eigentlichen Vorlesungstext zu dokumentieren. Um diesem soweit als möglich nahe zu kommen, stehen dem Editor deshalb allein zwei Wege offen: entweder kann er die relativ vollständigste oder genaueste Mit- bzw. Nachschrift zum zu edierenden Text erklären und in einem Variantenapparat dann das Sondergut der sonstigen Überlieferung (Abweichungen, Ergänzungen etc.) darstellen. Der Nachteil dieses Verfahrens - die editorische Privilegierung einer bestimmten Nachschrift (edierter Text) gegenüber der sonstigen Überlieferung (Apparat) - ist zugleich sein Vorteil: es wird ein in sich geschlossener Text präsentiert. - Oder der Editor sucht den Text der Vorlesung durch Kontamination der verschiedenen Überlieferungen zu rekonstruieren. Dadurch kann der beim ersten Verfahren bleibende Abstand zwischen ediertem Text und dem Text der Vorlesung zumindest deutlich verringert werden. Zur Edition der Vorlesung 1824 entschied JAESCHKE sich deshalb für das zweite Verfahren. Um dem Wahrheitsmoment des ersten Verfahrens gerecht zu werden, wurde diejenige Quelle, die im Verhältnis zu den anderen Mit- oder Reinschriften die treueste Überlieferung des Kollegs zu bieten scheint, zum Leittext erklärt. Die anderen Quellen dienten dann als Kontrolltexte, aus denen der Leittext ergänzt und korrigiert wurde. Für die Vorlesung 1824 fungierte eine von KARL GUSTAV VON GRIESHEIM stammende Reinschrift als Leittext. Diese Wahl legte sich u. a. durch die besondere Bedeutung dieser Quelle für die Vorlesung 1827 nahe: Hegel hatte sich hier teilweise auf ein von ihm überarbeitetes, leider nicht mehr erhaltenes Exemplar der GRIESHEIMschen Reinschrift gestützt. VON GRIESHEIMS Text konnte der Herausgeber durch zwei weitere Reinschriften und insbesondere eine Mitschrift von KARL PASTENACI kontrollieren und ergänzen - einem Studenten der Theologie, der dem weiteren Schülerkreis F. A. G. THOLUCKS angehört zu haben scheint^. Eine von dem bekannten Ästhetikherausgeber HEINRICH GUSTAV HOTHO stammende Ausarbeitung der Vorlesung 1824 ist demgegenüber so „frei", daß sie, in Auswahl, zu Recht nur im

^ Walter Jaeschke: Probleme der Edition der Nachschriften von Hegels Vorlesungen. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie. 5 (1980), 51-66; ferner: Hegels Philosophy of Religion: The Quest for a Critical Edition. In: The Owl of Minerva. Quarterly Journal of the Hegel Society of America. 11 (1980), Nr 3, 4-8; Nr 4, 1-6. ^ Vgl. Leopold Witte: Das Leben F. A. G. Tholuck's. Bd 1. Bielefeld, Leipzig 1884. 201.

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Apparat mitgeteilt wird. JAESCHKES Entscheidung, die zahlreichen Ergänzungen und Korrekturen des Leittextes - allein im Text des 1. Bandes waren mehr als zweitausend solcher Eingriffe geboten! - im Apparat nicht zu verzeichnen, scheint mir in Hinblick auf die erwähnte „Mittelstellung" seiner Ausgabe durchaus vertretbar. Die Vorlesung 1827 ist durch primäre Quellen - drei von JAESCHKE aufgefundene Mit- bzw. Reinschriften - sehr viel schlechter als durch sekundäre Zeugnisse überliefert. So mußte der Herausgeber, wollte er in der Darstellung des Kollegs nicht unter dem Textbestand der alten Ausgaben bleiben, zunächst in L die Elemente von 1827 ausgrenzen und diese dann ihrer ursprünglichen Reihenfolge gemäß zu einem Leittext ordnen, der aus den primären Quellen ergänzt und korrigiert wurde. Zu diesem mühevollen Verfahren gab es aufgrund der wenig befriedigenden Überlieferungslage keine überzeugende Alternative. Nur wenn sich noch neue und qualitativ bessere Nachschriften der Vorlesung 1827 auffinden lassen sollten, wird die Darstellung des Kollegs dem Verfahren der Edition des Jahrgangs 1824 analog an einem aus der primären Überlieferung gewonnenen Leittext orientiert werden können. Sehr viel schlechter noch als die Vorlesung 1827 ist die letzte Religionsphilosophie Hegels überliefert. Die vier Nachschriften der Vorlesung des Sommers 1831, die MARHEINEKE in W2 erwähnt hatte, waren schon zur Zeit LASSONS verschollen. Gegenwärtig ist die Quellenlage gegenüber L nur insoweit günstiger, als jene relativ knappen Exzerpte aus dem Heft eines anonymen Hegel-Schülers bekannt geworden sind, die D. F. STRAUSS während seines Berliner Studien-Semesters sich zwischen dem 16. November 1831 und dem 5. Februar 1832 angefertigt hatte. Inwieweit diese äußerst schwer zu entziffernden Exzerpte Konzeption und inneren Gang der Vorlesung 1831 zutreffend wiedergeben, läßt sich derzeit nicht entscheiden. JAESCHKE teilt diese Zeugnisse deshalb zu Recht nur in einer „Beilage" mit. Exzerpten aus einer Nachschrift kann editorisch nicht ein solchen Nachschriften selbst entsprechender Rang zuerkannt werden. Daß JAESCHKE die Exzerpte von STRAUSS nun erstmals veröffentlicht hat, ist vor allem auch für die SiRAUSs-Forschung höchst erfreulich. Solche Freude darf aber nicht zum überschwänglichen Gebrauch dieser Texte verleiten: wer aus den in der „Beilage" mitgeteilten Zeugnissen Informationen über die Konzeption von Hegels letzter Religionsphilosophie gewinnen will, wird mit größter Zurückhaltung und Behutsamkeit operieren müssen. Dies ist schon deshalb mit Nachdruck zu betonen, weil STRAUSS mit Texten anderer relativ unbekümmert umzugehen pflegte. So kontaminierte er in seiner Glaubenslehre 1840/41 beispielsweise Zitate aus verschiedenen Hegelschen Publikationen zu einem geschlossenen Gedankengang „Hegels", ohne die spezifischen Argumentationskontexte der einzelnen Elemente seines „Zitats" angemessen zu berücksichtigen. Von daher dürfte auch beim Umgang mit seinen frühen Exzerpten große Vorsicht geboten sein. In besonderem Maße gilt dies für die noch nicht edierten Auszüge zum zweiten Teil von Hegels

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Vorlesung. Nach JAESCHKES Auskunft unterscheidet sich die in STRAUSS' Exzerpten mitgeteilte „gänzlich neue Konzeption der Bestimmten Religion ... von den bekannten früheren so sehr, daß fast Zweifel an der Authentizität" dieser Exzerpte „aufkommen können" (LXXV). Solange noch keine neuen Quellen zur Verfügung stehen, die eine Kontrolle von STRAUSS' Exzerpten erlauben, kann nicht ausgeschlossen werden, daß STRAUSS' Überlieferung der Bestimmten Religion durch ein besonderes Interesse an diesem Thema deformiert ist. Jedenfalls läßt sich ein solches Interesse schon für die Zeit vor seiner Berlin-Reise nach weisen. Als STRAUSS im Winter 1830/31 sich aus dem Religionskapitel der Phänomenologie des Geistes ausführliche Auszüge anfertigte, formulierte er bei aller Bewunderung für die Hegelsche Einteilung mehrfach Kritik an einem zentralen Punkt der Konstruktion der Religionsgeschichte; der Stellung des Judentums^. Aufgrund dieser Kritik dürfte STRAUSS dann in Berlin, als ihm die späte Religionsphilosophie bekannt wurde, dem Thema Bestimmte Religion besonderes Interesse entgegengebracht haben. Dies muß nicht, aber kann seinen Umgang mit den entsprechenden Partien der ihm überlassenen Nachschrift geprägt haben. Möglicherweise läßt sich durch Nachforschungen in STRAUSS' umfangreichem Briefnachlaß das Dunkel ein wenig lichten, das derzeit noch über dem seinen Exzerpten zugrunde liegenden Heft - und auch dessen Autor - liegt. Solange hier aber keine Klarheit geschaffen wird, sollte man von entwicklungsgeschichtlichen Konstruktionen des Verhältnisses der Vorlesung 1831 zu den früheren Kollegs Abstand nehmen. Erst recht die inhaltlich so gewichtige These, Hegel habe 1831 die Konzeption der Bestimmten Religion von Grund auf geändert, kann durch STRAUSS' Exzerpte allein noch nicht als materialiter zureichend begründet gelten. Die neue Ausgabe der Berliner Religionsphilosophien ist nicht zuletzt auch darin vorbildlich, daß der Herausgeber soweit irgend möglich hinter seinen Gegenstand zurücktritt. Zu den gravierenden entwicklungsgeschichtlichen und systematischen Problemen der Deutung von Hegels Religionsphilosophie, die in seiner Ausgabe nun sehr viel deutlicher als zuvor sichtbar werden, äußert JAESCHKE sich nur mit größter Zurückhaltung. Dies schließt nicht aus, daß das Vorwort neben detaillierten Informationen zu den Quellen und zum Aufbau der Edition auch produktive Anregungen für die weitere Forschung enthält. Beachtung verdienen vor allem JAESCHKES Bemerkungen zum historischen Kontext von Hegels Vorlesungen. Mit großem Nachdruck weist er auf die Gleichzeitigkeit der ersten Religionsphilosophie-Vorlesung mit dem Erscheinen von SCHLEIERMACHERS Dogmatik hin. „Im Blick auf dieses zeitliche Zusammentreffen fällt es schwer, an eine bloß zufällige Konstellation ... zu glauben, zumal wenn man an gleichzeitige und wenig spätere briefliche Äußerungen Hegels denkt." (XI) JAESCHKE äußert deshalb die

^ Vgl. die Briefe von Strauß an seinen Freund Christian Märklin, gedruckt in: Jörg F. Sandberger: David Friedrich Strauß als theologischer Hegelianer. Göttingen 1972. (Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des Neunzehnten Jahrhunderts. 5.) 166-168, 178-180.

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„Vermutung", daß neben der berühmt-berüchtigten Vorrede zur 1822 erschienenen Religionsphilosophie von H. F. W. HINRICHS auch die religionsphilosophischen Vorlesungen „in Hegels Sicht - neben ihrer immanent-philosophischen Bestimmung - als ein ... Instrument nicht allein einer akademischen philosophischtheologischen Auseinandersetzung, sondern darüber hinaus einer religionspolitischen Kontroverse gedacht waren" (XII). Diese faszinierende These lenkt die Aufmerksamkeit auf religions- und kirchenpolitische Zusammenhänge, die in der Hegel-Forschung bisher nur kaum die ihnen gebührende Beachtung gefunden haben. Allerdings läßt sich das äußerst komplexe religionspolitische Umfeld von Hegels Religionsphilosophie allein im Schema des Gegensatzes von Hegel und SCHLEIERMACHER nicht zureichend erfassen. Gerade auch zum Verständnis der grundlegenden Wandlungen in Hegels religionsphilosophischer Konzeption sind hier Differenzierungen dringend geboten. Denn die „stete Neugestaltung der Religionsphilosophie ist ... nicht nur das Resultat einer immanenten Durcharbeitung dieser Wissenschaft in Form einer verstärkten Systematisierung", die auf Begriffsadäquanz zielt, sondern zugleich ein Reflex der „Kritik von seiten der Theologie", der sich die Religionstheorie Hegels zunehmend stärker gegenübersah {XVII f). Die historische Aufklärung dieser Kritik stellt insofern ein - aber gewiß nicht: das einzige - Medium zur Klärung all der entwicklungsgeschichtlichen Probleme dar, die durch JAESCHKES Dokumentation der tiefgreifenden konzeptionellen Differenzen zwischen den Berliner Religionsphilosophien nun sehr viel deutlicher als zuvor erkennbar geworden sind. Darüber hinaus lassen sich durch die Aufhellung des theologischen Kontextes der Vorlesungen möglicherweise auch neue Aufschlüsse über die Motive Hegels gewinnen, seit 1821 die philosophische Theorie der Religion zum Gegenstand einer eigenen Vorlesung zu machen. Religiös bestimmte Einwände gegen den universellen Rationalitätsanspruch von Hegels Philosophie wurden jedenfalls nicht - wie JAESCHKE in Hinblick auf THOLUCKS bekannte Verdächtigung der Hegelschen Spekulation als Spinozismus und Atheismus meint - erst in der Mitte der zwanziger Jahre erhoben. ® Die religionspolitische Denunziation des Systems als Spinozismus - ein Verdacht, dem sich auch SCHELLING und SCHLEIERMACHER ausgesetzt sahen - prägte beispielsweise schon die literarische Debatte um die Rechtsphilosophie. Die historisch differenzierte Erforschung der Religionsphilosophie-Vorlesungen und ihres Kontextes ist nicht zuletzt wegen der prekären Quellenlage von großem Interesse. Neben der Vorlesung 1831 sind auch die erste und dritte Religionsphilosophie nur wenig befriedigend überliefert. Insofern ist mit JAESCHKE „ZU wünschen, daß es nicht so bleiben möge, wie es ist" (LXXXVI), und die von ihm vor-

^ Jaeschkes Vermutung, der Spinozismus-Verdacht scheine „erstmals öffentlich" von Tholuck erhoben worden zu sein, bedarf auch insofern der Präzisierung, als Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner, oder: Die wahre Weihe des Zweiflers nicht erst (wie XVIII Anm. 20 angegeben) 1825 erschien: anonym publizierte Tholuck schon 1823.

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bereitete Edition der Religionsphilosophie-Vorlesungen innerhalb der Gesammelten Werke auf eine breitere Quellenbasis gestellt werden kann. Die nun vorgelegte Ausgabe wird sich - wenn überhaupt - nur aufgrund größerer Funde noch überbieten lassen. Sie sollte deshalb möglichst bald innerhalb der „Philosophischen Bibliothek" an die Stelle der nun definitiv obsolet gewordenen LASSON-Ausgabe treten. Schon der erste Band von JAESCHKES Edition läßt erkennen, daß sie beim gegebenen Stand der Überlieferung die Edition von „Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion" ist. Friedrich Wilhelm Graf (München)

G. W. F. Hegel: La scienza della logica [Die Wissenschaft der Logik]. A cura di V. Verra. Torino: U. T. E. T. 1981. 462 S. Eine neue italienische Übersetzung der Logik aus der Enzyklopädie erscheint aus zwei Gründen sinnvoll und nötig. B. CROCES berühmte Übersetzung, die für das Studium der Hegelschen Philosophie in Italien von größer Bedeutung war, bietet nur den Text der Enzyklopädie von 1830, wobei die drei Vorreden Hegels (1817, 1827, 1830) nur zusammengefaßt im Vorwort CROCES enthalten und nicht übersetzt sind. Außerdem erscheinen beim gegenwärtigen Stand der philosophischen Übersetzungen einige Lösungen CROCES inzwischen etwas veraltet, weil sich im Zuge der Entwicklung andere Termini durch den Gebrauch legitimiert haben. Die vorliegende Übersetzung basiert für den Drucktext der Enzyklopädie auf der letzten Ausgabe von F. NICOUN und O. POGGELER (Hamburg 1975) und bezieht sich für die Zusätze auf die Ausgabe von L. VON HENNING, nachgedruckt in der Jubiläumsausgabe. Außerdem ist für die Ansprache vom 22. Oktober 1818 auch HOFFMEISTERS Ausgabe der Berliner Schriften berücksichtigt worden. Die Übersetzung enthält außerdem noch das Vorwort L. VON HENNINGS von 1839. Die Zusätze werden von Hegels Text und seinen Anmerkungen in zweckmäßiger Weise typographisch unterschieden. Nach einer ausführlichen Einleitung (bis 52), schickt VERRA die wichtigsten biographischen Notizen Hegels (53-59) und eine Bibliographie der wesentlichen Schriften (61-70) voran. Auf den folgenden Seiten (71-77) gibt er Rechenschaft über sein Vorgehen und über die Wahl einiger Lösungen von Übersetzungsproblemen . Die Einleitung untersucht vor allem die Bedeutung des Enzyklopädie-Begriffs zwischen dem Ende des 18. und dem Anfang des 19. Jahrhunderts, um dann das Spezifische der Hegelschen Enzyklopädie kenntlich zu machen. Es wird dabei klar, daß Hegels Begriff der Enzyklopädie den Enzyklopädie-Begriff der Transzendentalphilosophie und der Romantiker voraussetzt, diesen Begriff aber mit dem einer

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systematischen, wissenschaftlichen Philosophie eng verbindet. Daß die Philosophie sich als System entwickeln soll, ist eine Idee, die Hegel schon im Brief an ScHELLiNG vom 2. November 1800 klar zum Ausdruck brachte und deren Gültigkeit im Zuge seiner Jenaer Arbeiten bis zur Enzyklopädie selbst bekräftigt wird. In der Einleitung der Enzyklopädie (1817) behauptet Hegel in der Tat die Identität von Philosophie und Enzyklopädie, die sich auf den systematischen Charakter der Philosophie gründet. Systematische und enzyklopädische Darstellung der Philosophie fallen zusammen. Darin ist wohl auch der Grund zu sehen, aus dem dieses aus didaktischen Zwecken veröffentlichte Werk so große Bedeutung für die Kenntnisse des Hegelschen Denkens gewonnen hat. Im zweiten Teil seiner Einleitung erörter VERRA die Funktion des „Vorbegriffs" und stellt deshalb einen Vergleich mit der Phänomenologie von 1807 an. Diese, sowie auch der entsprechende Teil der Enzyklopädie, will die Bedingungen schaffen, damit die „Wissenschaft" anfangen kann. Die Weise des Anfangs hie wie dort ist allerdings unterschieden. Die Phänomenologie zeigt den Weg von den einfachsten Gestalten des Bewußtseins bis zum Begriff oder zur Wissenschaft selbst schon in einer „wissenschaftlichen" Form. Im Vorbegriff der Enzyklopädie will Hegel demgegenüber zeigen, daß alle Probleme, die sich auf der Ebene der Vorstellung ergeben und unlösbar erscheinen, auf „einfache Bestimmungen des Denkens zurückgeführt werden können, deren wahre Behandlung und Erklärung nur in der Logik stattfinden kann" (25). VERRA ist sich der Schwierigkeiten dieses Problems des „Anfangs" der Logik und damit des ganzen Systems bewußt, meint aber, daß sie aufgrund des dialektischen und spekulativen Charakters des gesamten Prozesses, von dem der Anfang nur ein Moment darstellt, zu überwinden seien (31). Anschließend bietet er einen klaren und hilfreichen Überblick über Struktur und Gehalt der Logik der Enzyklopädie, deren ausgezeichnete Übersetzung er durch kurze, aber wesentliche Bemerkungen vervollständigt. Giannino V. Di Tommaso (L'Aquila)

Christian Topp: Philosophie als Wissenschaft. Status und Makrologik wissenschaftlichen Philosophierens bei Hegel. Berlin, New York: De Gruyter 1982. XLIII, 313 S. Das vorliegende Buch ist der erste, methodische Teil einer üntersuchung über das Verhältnis von Logik und Rechtsphilosophie bei Hegel. Diesem ersten Teil sollen noch zwei Teile folgen: einer über die logische und systematische Struktur der Grundlinien und einer über die philosophische Aktualität von Hegels politischer Philosophie.

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Die Einleitung des vorliegenden Buches ist die Einleitung der ganzen Untersuchung. Die wichtigste, in der Einleitung vorgestellte und im ersten Kapitel ausgearbeitete, aber nirgendwo erwiesene These, die die ganze Untersuchung prägt, ist diese: Die Enzyklopädie (1830) ist die gültigste, wissenschaftliche Darstellung der Hegelschen Philosophie, innerhalb deren die Teile einen Sinn haben. Bei dieser These wird wohl die Frage gestellt, ob es noch andere systematische Gestalten geben könne, nicht aber, woher diese Gestalt ihre Gültigkeit bekommt. Gerade das Fehlen dieser Frage, die, wenn irgendwo, dann in der Wissenschaft der Logik eine Lösung finden könnte, verstellt die ganze Problematik der Untersuchung. Denn die These setzt einfacherweise voraus, daß die Enzyklopädie insgesamt ihre eigene Rechtfertigung leistet und nicht von der Leistung der Wissenschaft der Logik abhängig ist. Nach TOPP wird die Wissenschaft der Logik nur unter Berücksichtigung ihres Stellenwerts im enzyklopädischen System richtig gedeutet. Die Wissenschaft der Logik hänge also von der enzyklopädischen Gestalt ab und nicht umgekehrt. Hegels Denken würde so nicht nur zirkulär, sondern ebenso vitiös, weil die für das System gültige Methode ihre Gültigkeit nur dem Ausbau, dem sogenannten Stellenwert des Systems, entliehe. Von der genannten Voraussetzung aus werden die Hauptthesen des Buches und der ganzen Untersuchung dogmatisch gesetzt: „1. Die Wissenschaft der Logik liefert trotz ihrer Eigenschaft, die Methode zu explizieren, kein Schema, nach welchem sich alle Disziplinen der Enzyklopädie exakt zu gestalten haben. 2. Jeder Systemteil hat eine eigene spezifische Logik. 3. Die spezifische Logik der Systemteile beruht: a) auf deren jeweiligem innersystematischen Stellenwert, b) auf der jeweiligen Eigenbestimmtheit ihres bestimmten Gegenstandsbereiches, wie c) jedoch auf der allgemeinen Verbindlichkeit der bestimmten Entwicklung des Begriffs in der Wissenschaft der Logik." (28-29) Die erste Frage der Untersuchung selbst ist, im zweiten Kapitel, inwiefern die Phänomenologie des Geistes schon eine Begründung der Enzyklopädie sei, und ob die Phänomenologie den Anfang der Philosophie stelle. Die Phänomenologie ist, nach TOPP, die Vorbereitung des Standpunkts der Wissenschaft. Die Untersuchung aber arbeitet bei dieser Deutung keine logischen Momente aus und beschränkt sich auf die Deutung des Standpunkts der Wissenschaft als desjenigen des Selbstbewußtseins, das sich als Vernunft in Gegensatz zum Verstand weiß. Damit ist leider weder eine Deutung der Phänomenologie, wie sie 1807 konzipiert worden ist, gegeben, noch ihre mögliche Bedeutung für das spätere System genau gefaßt. Zudem wird Hegels phänomenologische Terminologie mit derjenigen des späteren Denkens gemischt. Im dritten Kapitel führt TOPP die Enzyklopädie als das System des ideellen Denkens aus. Die Wissenschaft hat es nur mit der Idee zu tun. Diese Idee sei aber keine logische Entität, sondern die logische Idee sei nur für sich und könne sich nur im Gesamtzusammenhang der Wissenschaft vollständig darstellen (106-107). Dies aber stimmt nicht mit Hegels Äußerung überein, daß die Wissenschaft der Logik die Idee an und für sich darstellt (Enz. § 18). Dadurch wird gemäß TOPPS

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Vorverständnis die Logik nur ein Teil des Systems. Die Formbestimmtheiten der Logik, der abgeleitete Inhalt der absoluten Idee, werden nicht betrachtet, die Texte über den Inhalt innerhalb der absoluten Idee nicht diskutiert. Der Anfang der Logik wird noch immer als Resultat der Phänomenologie betrachtet, eine Deutung, die innerhalb der absoluten Idee verabschiedet worden ist. Zugleich wird die Logik immer vom Geist begründet, der selbst aber - wenigstens nach Hegel seine wissenschaftliche Begründung nur aus der Logik voraussetzen kann. Die Deutung der Logik im einzelnen beruft sich statt auf den Hegelschen Text auf Vorschläge einiger Kommentatoren. (Im vierten Kapitel behauptet TOPP dann außerdem, daß die Methode das notwendige Tun des Selbstbewußtseins sei, kommt aber über schematische Darstellungen auch hier nicht hinaus.) Allerdings scheint TOPP hier die wichtigsten Texte der Sekundärliteratur überhaupt nicht zu kennen. So hätte er z. B. bei DüSING, FULDA oder HENRICH Genaueres über Hegels Dialektik erfahren können. Daß die absolute Idee selbst ein in der Schlußform hergestelltes Subjekt sei, wird nicht hervorgehoben; das denkende Subjekt (267 ff und 279 ff) scheint auf einmal ein endliches, subjektives Denken zu sein und nicht das Sichselbst-denken als Vollzug des absoluten Subjekts. Zugleich wird die Problematik der spekulativen Sprache immer auf die Satzform (235 ff), nie auf das Urteil und den Schluß bezogen. Ebenso bleiben die Entsprechungen innerhalb der Wissenschaft der Logik vage, die nur „in korrespondierender Analogie" (243) stehen und die Argumente, warum die Wissenschaft der Logik besser mit dem Wesen oder dem Begriff angefangen hätte. (253) Problematisch ist auch das behauptete Verhältnis von Logik und außerlogischer Realität. Wie die Methode auf etwas, das nach Hegel ontologisch und logisch von der absoluten Idee abhängig ist, angewandt werden kann, bleibt unverständlich. Die genannte Abhängigkeit wird aber von TOPP nie zugestanden, denn das NichtLogische geht über das logische Denken hinaus (176,182, 252). Es soll selbst „eine unbegrifflich sachliche Eigenrealität" (185) haben, die als „Restbestand auch für seine begriffliche Entwicklung konstitutiv" (189) sei und Eigenprinzipiiertheit (vgl. 292) habe. Die Natur wird in nuce bestimmt: Sie ist die an sich gesetzte Idee. Der Geist dagegen, ohne weiteres als die Wahrheit der Natur und des Logischen gefaßt, also „im Vollbesitz" (157) sowohl des reinen Daseins als der wahrhaften Realität, weist eine strukturale Analogie zur Begriffslogik auf (158). Was dies heißt, wird nicht ausgearbeitet. Zugleich wird die Kreisstruktur der Philosophie als selbstverständliche Selbstvermittlung der Philosophie gefaßt. Daß gerade diese Struktur innerhalb der Logik erwiesen wird und nur aus der Logik für das Ganze der Philosophie argumentativ abgesichert werden kann, wird nicht erwähnt. Innerhalb des Kreises des Geistes ist dann die Stelle der Rechtsphilosophie zu suchen. Dabei wird der Logik wieder ein Fundament in einer Realdialektik (274) gegeben, genauer: Es gibt nach TOPP eine wechselseitige Begründung von Logik und Realsystematik (280), wobei die logische Methode die begriffliche Explikation der Re-

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aldialektik ist. Zugleich aber sei die absolute Methode normativ verpflichtend. Abschließend kommt TOPP ZU der These, Hegels Denken ziele auf eine Wissenschaft ab, die eine originäre Einheit bildet, in der die Differenz von Logik und Realsystematik gründet. So bedarf die Logik der Grundlegung ihres Vollsinns durch ihr Letztresultat und rviederholt werden (vgl. 290) die Ausgangsthesen, die - leider - in der Untersuchung nicht gerechtfertigt worden sind. Lu De Vos (Löwen)

Zur Logik der Hegelschen Rechtsphilosophie Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik. Hrsg, von Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann. Stuttgart: KlettCotta 1982. 450 S. (Veröffentlichungen der Internationalen Hegel-Vereinigung. Bd 11.) Der hier anzuzeigende Band zu Hegels Rechtsphilosophie versammelt Aufsätze von 19 renommierten Hegel-Interpreten, die sich 1979 in Fontenay-aux-Roses zu den von der Internationalen Hegel-Vereinigung veranstalteten Hegeltagen trafen. Den Schwerpunkt dieser Tagung bildeten Arbeiten zu dem bislang relativ vernachlässigten Thema „Die Logik der Rechtsphilosophie", denen die Hauptaufmerksamkeit der folgenden Besprechung gilt. Sie füllen als dritter Teil die zweite Hälfte des Bandes (223-450). Der erste Teil enthält unter dem Titel „Die Entwicklung der Rechtsphilosophie" zwei Beiträge von O. POGGELER (17 ff) und R.-P. HORSTMANN (56 ff) zur Genese der Hegelschen Geschichtsphilosophie und einen Beitrag von M. J. KöNIGSON-MONTAIN (38 ff) zur Verfassungsschrift von 1799-1802; sie tragen zu dem von der Herausgebern im Titel angesprochenen Thema nur mittelbar und am Rande bei. Der zweite Teil versammelt unter dem Shchwort „Theorien der Rechtsphilosophie" acht Aufsätze zu Einzelproblemen der politischen Philosophie Hegels. S. MERCIER-JOSA diskutiert den Kampf um Anerkennung und das Verbrechen (75 ff), C. BRUAIRE das Problem der Moralität (94 ff), A. PEPERZAK die Hegelsche Ethik (103 ff), P. CHAMLEY die ökonomische Lehre des Berliner Hegel (132 ff), M. LE DANTEC das „unglückliche Bewußtsein" in der bürgerlichen Gesellschaft (139 ff), J.D'HONDT die Frage nach der politischen Theorie und Praxis bei Hegel anhand des Problems der Zensur (151 ff), C. GESA die „fürstliche Gewalt" (185 ff) und H. KLENNER stellt sich die Frage: „Hegels Rechtsphilosophie: Zeitgeist oder Weltgeist?" (206 ff). In den Kontext des zweiten Teils gehört schließlich noch der Beitrag von T. I. OIZERMAN (277-304), der die Widersprüche in Hegels Theorie des (Privat-) Eigentums und des Staates nicht als Verirrungen,

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sondern als „schöpferische Gärung des Gedankens" (278) und als produktive Spannung begreift, die (mit MARX, ENGELS und LENIN) in eine höhere Einheit aufzulösen sei. - Alle diese Beiträge beleuchten wichtige Aspekte der politischen Philosophie Hegels, doch kann an dieser Stelle nicht weiter auf sie eingegangen werden. Herausgehoben werden sollen stattdessen die Aufsätze des dritten Teils, die sich dem Problem der Logik der Rechtsphilosophie stellen. Den Einstieg in diese Diskussion kann uns das Resultat vermitteln, zu dem der letzte Beitrag des zweiten Teils gelangte: „In Hegel gipfelt (und scheitert) der großangelegte Versuch des Bürgertums, mittels einer Gesamtanalyse der Welt einen Gesellschafts- und Rechtszustand zu konstruieren, in dem der Mensch seine Daseinsbedingungen mittels seiner Vernunft unter seine Herrschaft gebracht hat" (KLENNER, 214). Alle im folgenden zu betrachtenden Ansätze verfolgen das Ziel, die methodischen Gründe für das Scheitern dieses großangelegten Versuchs aufzudecken (die „Logik des Scheiterns") und die Defizite der Rechtsphilosophie sowie die möglichen Wege ihrer Behebung zu erörtern. Festhaltend an der Zielsetzung, an den methodischen Intentionen Hegels, die auf verschiedenen Wegen erschlossen werden, wird die systematische Ausformulierung im Buch von 1820/21 und in der von K. H. ILTING nachgetragenen Materialsammlung von 1818 bis 1831 als unzureichende Realisierung kritisiert. Keiner der Interpreten ist bereit, die inhaltlichen Bestimmungen zu übernehmen, die der Begründungszusammenhang der Hegelschen Staatsphilosophie generierte. Zu groß ist die Kluft zwischen dem „sittlichen Staat" und der aktuellen politischen Erfahrungsgrundlage. Will man jedoch nicht dem kritisch-rationalistischen Ratschlag folgen und die Rechtsphilosophie als Ganze, mitsamt ihrer Methode beiseite kehren, ohne einen Ersatz dafür in Händen zu haben, so muß man sehen, was von ihr zu retten ist. Soll die politische Philosophie Hegels ein würdiger Gegenstand der Beschäfhgung bleiben, so bietet sich als Rettungsversuch folgende Alternative an: Entweder man bemüht sich, ihre einzelnen Momente in einem neuen Begründungszusammenhang zu reformulieren, der ihnen einen neuen Stellenwert und neue Bedeutungen und Funktionen zumißt, sie damit in einem rationaleren Licht erscheinen läßt. Oder man tritt den Nachweis an, daß sich die ursprüngliche Intention Hegels auf seinen Grundlagen tatsächlich besser verwirklichen läßt. Soll die der Rechtsphilosophie zugrundeliegende „Logik", die sich nach einheitlichem Urteil aller im vorliegenden Band versammelten Autoren weder aus der Wissenschaft der Logik noch aus dem Buch von 1820/21 einfach entnehmen läßt, als Methode einer weiterführenden, erst zu entwerfenden Theorie des Rechts, der Gesellschaft und des Staates dienen, so muß es ferner möglich sein, auf ihrer Grundlage auch jene Erscheinungsformen zu begründen, die erst in der weiteren geschichtlichen Entwicklung ins Leben traten, die Hegel daher noch nicht kennen konnte. Es genügt somit nicht, diese „Logik" nur zu verstehen und aus dem Kontext der Hegelschen Werke zu erklären; sie muß vielmehr am konkreten Stoff ihre Bewährung finden,

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den die Rechtsphilosophie noch nicht oder nicht zur Genüge verarbeitet hat. Wie läßt sich das Programm beschreiben, das eine - an Hegel orientierte - zukünftige Theorie einlösen müßte, das aber in der Hegelschen Umsetzung zum Erliegen kam, nur unzureichend verwirklicht wurde? - Um die Struktur der verschiedenen Ansätze deutlich werden zu lassen, empfiehlt es sich, im ersten Schritt das Anliegen der einzelnen Autoren kurz zu referieren, um dann im zweiten Schritt einige kritische Rückfragen stellen und einige Ergebnisse zusammenfassend diskutieren zu können. I. Den Auftakt der Diskussion gibt KARL HEINZ ILTING, der Hegels Rechtsphilosophie als Phänomenologie des Bewußtseins der Freiheit (225-254) versteht. Für ihn ist Hegel mit dem Versuch einer Grundlegung der praktischen Philosophie als Entwicklung der Idee der Freiheit gescheitert (252), indem er seine Philosophie des objektiven Geistes zwischen 1817 und 1820 auf eine Phänomenologie des Freiheitsbewußtseins reduzierte. Die Rechtsphilosophie erstrebe zwar eine Metatheorie der wichtigsten Normensysteme, die unser Zusammenleben ermöglichen und regeln, könne diese aber nicht realisieren. Ihr eigentliches Thema sei nämlich nicht die Entwicklung der Rechtsidee „an sich", „sondern vielmehr der Prozeß, durch den ein subjektiver Wille zur Idee des an und für sich allgemeinen Rechts gelangt" (237). „Was Hegel darzustellen sucht, ist vor allem die Erfahrung, die der selbstbewußte freie Wille in der Realisierung seiner Freiheit macht, nicht hingegen das, was alles ,an sich' auf den verschiedenen Entwicklungsstufen seines Weges ,für uns' (die Betrachtenden) jeweils schon mitverstanden sein muß" (238). Einige dieser Zusatzbedingungen seien von Hegel zwar hin und wieder erwähnt, aber ziemlich unvermittelt aneinandergereiht worden, stünden daher zum eigentlichen Begründungszusammenhang merkwürdig quer. - Somit wäre Hegel auf jenen Standpunkt zurückgefallen, den er in seiner Enzyklopädie von 1830 an seinem frühen Versuch einer Phänomenologie des Geistes von 1807 monierte, daß nämlich die von ihr als „Ansich" vorausgesetzten Gestalten gleichsam „hinter dem Rücken" des Bewußtseins entwickelt wurden (Enz. § 25, Anm). Als Beleg seiner These führt ILTING Hegels monologische, asoziale Konstruktion des abstrakten Rechts, der „Person" (228 ff), des „Eigentums" (232 ff) und des „Vertrages" (234 ff) an, deren Aporien sich nur dann umgehen ließen, wenn man ihren Anspruch auf Hegels phänomenologische Intentionen zurückschneide. Eine „systemkonformere" Interpretation versucht LUDWIG SIEF, der das Korreferat zu ILTING hielt: Intersubjektivität, Recht und Staat in Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts" (255-276). Für ihn hat Hegel die intersubjektiven Voraussetzungen des abstrakten Rechts, die wechselseitige Anerkennung der Individuen als Rechtssubjekte, die in den früheren Fassungen, etwa der HoMEVER-Nachschrift, noch zum Ausdruck kamen, eliminiert, um seine Rechtsphilosophie stärker ins

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Gesamtsystem einzupassen (264). Er habe nämlich nicht, wie ILTING unterstellte, die Genese des Rechtsbegriffs, sondern vielmehr die des Staatsbegriffs wissenschaftlich beweisen wollen (271 f), da erstere, wie Hegel selbst versicherte (Rph. § 2), vor der eigentlichen Rechtswissenschaft, im Bereich des „subjektiven Geistes", gelegen sei (259). Aus der Beschäftigung mit Hegels Jenaer Systementwürfen, insbesondere der Realphilosophie von 1805/06, weiß SIEF um die intersubjektive Konstitution des Rechtsbegriffs aus dem Kampf um Anerkennung (258). Vergleiche man damit die gedruckte Rechtsphilosophie, so zeige sich, daß diese insgesamt „Erfahrungsgesichtspunkte", also die phänomenologische Entwicklung, gegenüber logisch-begriffsanalytischen deutlich zurückgedrängt habe (269). SIEF kann für seine Gegenthese wichtige Argumente vortragen, läßt jedoch die Erage unbeantwortet, ob Hegel mit der stärkeren Einpassung der Rechtsphilosophie ins System seiner Grundlegung der praktischen Philosophie einen Dienst erwies. Diese Frage legt auch der Beitrag von KLAUS HARTMANN nahe; Linearität und Koordination in Hegels Rechtsphilosophie (305-316). Für ihn hat Hegels Rechtsphilosophie teils eine lineare Begründungsstruktur, die - von der logischen Eingangsdimension des Systems her bestimmt - in einer metatheoretisch geordneten Kategorienfolge jeweils die Defizienz der thematisierten Kategorie erweist, was zum Übergang in die nächst höhere führe. Teils habe sie eine zirkuläre, vom Abschluß her ihre Bewahrheitung empfangende Begründungsstruktur (305). „Die Schwierigkeit ist nun, daß Hegel, einmal bei Höherem und schließlich beim Staat angekommen, aus Theoriegründen - Gründen der ,Logik' der Theorie - nicht mehr frühere Themen in der nötigen Korrektur, die sie durch Späteres erhalten, darstellen kann; die kategoriale Progression ... gestattet das nicht" (309). Dies habe schlimme Folgen für die Staatstheorie, da man aus ihr nicht entnehmen könne, wie die einzelnen Bereiche innerhalb des Ganzen zu stehen kommen, wie sich die kategoriale Linearität zur immanenten Koordination der Momente verhält. Aus eben diesem Grund könne Hegel weder die Normierung im Bereich des Privatrechts noch die Intervention des Staates in die bürgerliche Gesellschaft oder die (relative) Selbständigkeit der untergeordneten Bereiche (Privatsphäre, Subsidiarität usw.) erklären. Man müsse daher einen zweiten Teil der Rechtsphilosophie fordern, „der Koordination und Koexistenz verschiedener kategorialer Bereiche in den Blick nimmt" (313). Eine Zusammenfassung und Vertiefung der zwischen ILTING und SIEF verhandelten Problematik unternimmt MICHAEL THEUNISSEN, der die umfangreichste Arbeit beigesteuert hat: Die verdrängte Intersubjektivität in Hegels Philosophie des Rechts (317-381). Geleitet von dem Ziel, aus Hegels Theorie gerade das herauszufiltern, was er für brauchbar und weiterführend hält, fördert THEUNISSEN eine Fülle von Einzelbefunden zutage und liefert wichHge Anregungen. Die These, die er am breiten Material der Rechtsphilosophie überprüft, lautet: Was bei MARX als neues Prinzip der Theorie hervortrat, die Gründung der Sozialphilosophie nicht auf isolierte Individuen oder auf eine umfassende Ganzheit, sondern auf soziale Bezie-

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hungen, in denen die Individuen allererst sie selbst werden, werde bereits von Hegel zur Grundlage des Rechts gemacht (317 f). Allerdings habe Hegel diese Intention bei ihrer faktischen Durchführung „teils verdunkelt, teils in ihr Gegenteil verkehrt" (318). Den Grund für diese Verkehrung, für die Verdrängung der Intersubjektivität aus der Sittlichkeit (322 ff), sieht THEUNISSEN in der Übertragung des Selbstbewußtseins, das dem absoluten Geist zukommt, auf den objektiven Geist (328) und im Ansatz der Rechtsphilosophie bei der Einzelheit (329 ff). Zwar lasse sich der individualistische, ja solipsistische Ansatz Hegels für die Abschnitte über das abstrakte Recht und die Moralität retten, da diese wesentlich eine Kritik des neuzeitlichen Naturrechts entwickeln (318 ff), doch breche die Philosophie der Sittlichkeit, die Hegels affirmativen Standpunkt fixiere (321), in sich zusammen, da sie basale Intersubjektivität, von einigen blassen Spuren abgesehen, nicht eigens thematisiere und allgemein dazu neige, von der einzelnen Subjektivität abgelesene Terme auf intersubjektive Verhältnisse zu projizieren (369 f). „Eine das Individuum in seinem Sein mitkonstituierende, seine lebendige Freiheit allererst stiftende Beziehung zu anderen Individiftn, die weder verdrängt noch in Idyllen verbannt wird, gibt es für den Hegel der Rechtsphilosophie allein im Untergrund der Verunstaltungen des Menschen, die seine Kritik entlarvt" (358). So z. B. in Hegels Kritik an der Auflösung der Familie in die bürgerliche Gesellschaft. Gegen SIEF stellt THEUNISSEN die Auffassung, das Problem der Rechtsphilosophie sei gerade darin zu sehen, daß sie sich mit der Verdrängung der Intersubjekhvität dem System zu gut einpasse (345, Anm.). Mit Hilfe des Begriffs der „kommunalen Freiheit", den er aus Hegels Theorie der Liebe als „Bei-sich-selbstSein im Andern" gewinnt (322 f), deckt THEUNISSEN die Reduktionen Hegels auf. Er kommt dabei zu dem wenig überraschenden Ergebnis: „Hegels Rechtsphilosophie ist gar nichts anderes als Theorie der bürgerlichen Gesellschaft." (361) Was sollte sie denn sonst sein? - Mit gleichem Recht läßt sich jedoch konstatieren, sie sei nichts weiter als Theorie des Rechts oder des Staates - hat Hegels, von PLATO übernommene Dialektik doch darin ihre Grunderscheinung, daß jeder Teil einer Totalität zugleich das Ganze ist, da alles, was ist, nur in der Beziehung und letztlich nur als die Beziehung auf sein Anderes es selbst sein kann; ein Faktum, das THEUNISSEN früher als „normatives Ideal" der Hegelschen „Logik" erkannte. Das Korreferat zur ursprünglichen Referatfassung von THEUNISSEN hielt HENNING OTTMANN: Hegelsche Logik und Rechtsphilosophie. Unzulängliche Bemerkungen zu einem ungelösten Problem (382-392). Für ihn beschreibt die Rechtsphilosophie nicht den üblichen Weg des immanenten Fortschreitens vom Abstrakten zum Konkreten, sondern eine „Springprozession", die auf einen Schritt nach vorn sogleich einen Schritt nach rückwärts folgen fäßt. Diese Springprozession lasse sich, wenn man die Rechtsphilosophie mit THEUNISSEN als begriffslogische Abwandlung der drei „Logik"-Teile, der Seins-, Reflexions- und Begriffslogik, lese, als ein „Oszillieren zwischen subjektiver und objektiver Logik" fassen (383). Da Hegel aber preußische Verhältnisse logisch überhöhe, anstatt die Vorstellungen OTTMANNS über

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Staatliche Verhältnisse vorwegzunehmen, müsse letzten Endes doch die Seinslogik als Fundament der Rechtsphilosophie betrachtet werden (390). Den nächsten Schritt unternimmt HANS FRIEDRICH FULDA: Zum Theorietypus der Hegelschen Rechtsphilosophie (393-427). Er hebt Hegels Rechtsphilosophie von vier anderen Typen der Begründung normativer Urteile ab: vom empiristischen Typus (HUME, A. SMITH), vom deduktiven Verfahren des mos geometricus (HOBBES), der Zwischenposition von J. RAWLS (Herstellung eines Reflexionsgleichgewichts zwischen exemplarischen normativen Alltagsurteilen und Prinzipien) und vom transzendental-analytischen Typus (KANT). Hegel habe an die Stelle naturrechtlicher Begründung gesellschaftlicher Obligationen einen inhaltlichen Gedanken gesetzt, seine Theorie der „Natur des Geistes". Deshalb dürfe man seinem Vorgehen „größere theoriebegründende Leistungsfähigkeit" zuschreiben (403). Die Theorie gewinne dadurch den Charakter einer Selbstverständigung in der Berichtigung von normativen Begriffen und Grundsätzen (ebd.). „Anstatt die Aufgabe einer Begründung normativer Sätze möglichst isoliert von voraussetzungsvollen und metaphysikverdächtigen inhaltlichen Ansichten über umfassende, abstrakte Entitäten anzugehen, schickt Hegel ihr grundlegende Sätze einer allgemeinen Theorie des Ganzen solcher Gegenstände voraus." (406) In diesem Holismus sieht FULDA „Hegels theorietechnische Grundentscheidung". Hegel führe die Begriffe, die den deskriptiven Gehalt normativer Sätze über menschliche Individuen ausmachen, mit Hilfe der Grundbegriffe und Sätze einer umfassenden Theorie ein, die diesen etwas von ihrem Gehalt mitteile (407). Diese Begriffe behalten nun aber nicht eine feste Bedeutung, sondern ändern diese im Gang der Darstellung - ein Vorgang, den FULDA früher schon als „Einschränkung von Vagheit" beschrieben hatte. „Begriffe, wie sie in einer normativen Theorie gebraucht werden, erlangen ihre Adäquatheit nur, wenn sie einbezogen werden in den Entwicklungsgang des spekulativen Begriffs, der sich in seiner Verwirklichung zur Adäquation mit sich selbst bringt." (Ebd.) Dabei stelle all das, was in der Begriffsbestimmung zur Sprache komme, „nur den Kern einer Theorie über die namhaft zu machende empirische Erscheinung dar" (418). In stillschweigender Abwandlung der Terminologie W. STEGMüLLERS unterscheidet FULDA zwischen Theoriekern einerseits und dem offenen Bereich der intendierten Anwendungen andererseits. Die Entwicklung der Theorie beschreibe dann einen Prozeß der Kernerweiterung und/oder der Erweiterung des empirischen Anwendungsbereichs (418 ff). Die Exemplifikation der eingeführten Begriffe existiere nämlich empirisch stets nur unter vielfältigen Zusatzbedingungen, die im Gang der Darstellung eingeholt werden müssen. „Man wird dem Theorietypus und der Absicht der Hegelschen Rechtsphilosophie viel eher gerecht, wenn man diese versteht als eine Artikulation von Selbsterfahrung, die das in unserer Kultur mehr und mehr verdrängte Gefühl von der lebendigen Einheit des Geistes durch ein einigermaßen kontrolliertes Überlegungsverfahren umsetzt in Selbstverständigung über letzte inhaltliche Grundlagen unseres sittlichen Lebens." (412)

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Noch abstrakter wird es bei DIETER HENRICH: Logische Form und reale Totalität. Über die Begriffsform von Hegels eigentlichem Staatsbegriff (428-^50). HENRICH stellt dem in der Rechtsphilosophie entwickelten Staatsbegriff „Hegels eigentlichen Staatsbegriff" gegenüber, den er durch Rekurs auf die logische Form des Schlusses gewinnt. Er folgt damit einem Hinweis, den Hegel in der Anmerkung zu § 198 der Enzyklopädie gab, daß nämlich der Staat ein System von drei Schlüssen sei: „1) Der Einzelne (die Person) schließt sich durch seine Besonderheit (die physischen und geistigen Bedürfnisse ...) mit dem Allgemeinen (der Gesellschaft, dem Rechte, Gesetz, Regierung) zusammen. 2) ist der Wille, Tätigkeit der Individuen das Vermittelnde ... 3) aber ist das Allgemeine (Staat, Regierung, Recht) die substantielle Mitte ... Es ist nur durch die Natur dieses Zusammenschließens, durch diese Dreiheit von Schlüssen derselben terminorum, daß ein Ganzes in seiner Organisation wahrhaft verstanden wird." {Enz. § 198, Anm.) Warum, so fragt HENRICH, hat Hegel dann in seiner Rechtsphilosophie diese Dreiheit nicht durchgeführt? Die Grundform des dreifachen Syn-Logismus, deren Anwendung unter der Voraussetzung einer Begriffsbestimmung geschehe, die es zuläßt, als Totalität interpretiert zu werden (440), sieht HENRICH in der Folge E-B-A, A-E-B, B-A - E. „Ihre Permutation beginnt und endet mit Einzelnheit, und der erste Syllogismus hat die Differenz, der zweite die Einzelnheit und der Dritte die Einheit zur vermittelnden Mitte." (441) Der erste Schluß beschreibe die Selbstdifferenzierung eines bestimmten Einzelnen als Verwirklichung seiner Allgemeinheit, der zweite die Entgegensetzung des Einzelnen gegen seine Bestimmtheit und Differenz - im Hinblick auf den Staat somit „die freie Person, die schon unter den Prinzipien der Allgemeinheit handelt" (442). Der dritte Schluß schließlich beschreibe die allgemeine Form der Einheit, kraft deren jene Einzelnheit und ihre Bestimmtheit besteht - also die Rechtsordnung des Staates als den substantiellen Grund. Die Schlußlehre als „Formtheorie der Welt" (435), als „Ontologie der reinen Formen" (438), verlange die vollständige Permutation der Glieder eines Verhältnisses: Jeder der zusammengeschlossenen Termini muß in die Stelle der Vermittlung eingetreten sein (430). Die Rechtsphilosophie hingegen vernachlässige diese Zusammenhänge. Sie stelle die Sittlichkeit und den Staat als Substanz in der Weise dar, daß in ihr das einzelne Selbstbewußtsein „anscheinend unter die Vormacht eines Daseienden kommt, das ,absolute Autorität' für es hat" (442). HENRICH vertritt jedoch die These, daß Hegels Rekonstruktion des Staates als Schlußfolge tatsächlich die Logik des sittlichen Staates in einer Form entwickelt, „die dessen eigentliche Systemform ausspricht" (443 f). II. Damit haben wir in einigen verkürzenden Stichworten die Grundkonzepte skizziert, mit deren Hilfe einige führende Repräsentanten der bundesdeutschen Hegelforschung 1979 die Rechtsphilosophie aufarbeiten wollten. Betrachtet man die

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einzelnen Beiträge im Zusammenhang, so schälen sich zwei Grundfragen heraus, um die sich die gesamte Diskussion drehte; 1. die Frage nach der dialektischen Begründung der politischen Philosophie und 2. die Frage nach der verdrängten Intersubjektivität. Beide Fragen hängen eng miteinander zusammen. Die unzureichende Berücksichtigung intersubjekHver Beziehungen wurde ja - insbesondere von ILTING und THEUNISSEN, aber auch von HARTMANN - als entscheidendes Indiz für das Scheitern der rechtsphilosophischen „Logik" geltend gemacht. Was ergibt sich diesbezüglich aus den vorliegenden Aufsätzen? Welche weiterführenden Resultate wurden erzielt? Wie vertragen sich die unterschiedlichen Ansätze und Ergebnisse miteinander? (1) Beginnen wir mit HENRICHS Thesen. Das von ihnen beanspruchte Abstraktionsniveau ist enorm. Man kann nur warten, welche konkrete Gestalt die Rechtsphilosophie gewinnt, wenn sie mit Hilfe der Schlußlogik aufgearbeitet wird. Im hier betrachteten Aufsatz begnügt sich HENRICH mit einigen vagen IIlustraHonen der Grundidee und gibt nur wenige Andeutungen: „Dies Werk würde dann als eine ineinander geschachtelte Sequenz mehrerer Schlußfolgen von verschiedener Reichweite und unterschiedlich tief bestimmter Schlußfolgen erscheinen ..." (444 u. ff) Die Gründe, die Hegel veranlaßten, in der gedruckten Rechtsphilosophie auf die konsequente Durchführung der Schlußfolge zu verzichten, bleiben ein wenig unbestimmt. Die Frage stellt sich aber schon im Hinblick auf das im Vagen verbleibende Konzept, ob HENRICH mit der Fixierung auf die Schlußlogik nicht ein einzelnes (beliebiges?) Moment der Hegelschen Methode hypostasiert, ein Moment, das Hegel allein dem „subjektiven Begriff" zuordnete. Die ganze Bewegung, die Vermittlung von Einzelheit und Allgemeinheit, geht dabei auf seiten des erkennenden Subjekts vor sich, das sich die Objektivität aneignet, indem es einzelne Bestimmtheiten unter allgemeine subsumiert. Die Entwicklung des „objektiven Begriffs" verlangt jedoch neben dieser Form auch andere Bewegungen, und die „Idee" - als Einheit von Begriff und Wirklichkeit - hat den „Formalismus des Schließens" hinter sich und aufgehoben. Die politische Philosophie als Teil der Geistphilosophie hat aber die Idee (des Rechts), d. h. den Begriff (des Rechts) und seine Verwirklichung, zum Gegenstand, die Einheit von Begriff und Wirklichkeit. Diese Einheit nun basiert auf der Subjekt-Objekt-Dialektik und hat die begriffliche Entwicklung als Entwicklung der „Sache selbst" zu erweisen. Während HENRICH somit Hegel auf den Standpunkt KANTS zurückführt und eine reduzierte Form der Dialektik zugrundelegt, die sich als „genetische Rekonstruktion" der objektiven Realität durch das subjektive Erkennen beschreiben läßt, haben FULDA und HARTMANN den „emphatischen" Typus der Dialektik' im Sinn. FULDA verfolgte in seinem Beitrag das Ziel, Hegels Vorgehen als ein im Vergleich mit der Naturrechtstheorie leistungsfähigeres Verfahren zu erweisen (427). ' Zur Unterscheidung beider Dialektik-Typen vgl. G. Göhler: Die Reduktion der Dialektik durch Marx. Stuttgart 1980.

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Dieser Nachweis dürfte ihm gelungen sein, soweit er sich auf konzeptionelle Fragen beschränkt. Auch hier wird man jedoch die Bewährung des Konzeptes am konkreten Stoff (der Gegenwart) verlangen müssen. FULDA zeigt die Einsatzstelle, von der aus Hegel auf eine dem Typus seiner Theorie angemessene Weise kritisiert werden kann. Man müsse prüfen, ob in der einheitlichen und ganzheitlichen Theorie, die aus dem Herübergehen aus der Vorstellung in den Begriff und dem anschließenden Hinübergehen aus dem Begriff in die Vorstellung entsteht, „auch der ganze berücksichtigungswerte Vorstellungsgehalt der Erscheinung Berücksichtigung gefunden hat" (422), ob folglich die empirische Erscheinung der Begriffsbestimmung „entspricht". Dies wäre nun am konkreten Gegenstand selbst zu erforschen, während FULDA sich mit einigen Andeutungen begnügt. Für die Erklärung des Hegelschen Vorgehens ergibt sich dabei folgendes Schema: Zuerst wird der abstrakte und unmittelbare Begriff genommen, wie er „für sich" bestimmt sein soll als bloßes Sein, Unbestimmtheit und Leere. Sodann wird nach einer empirischen Erscheinung gesucht, die dieser Struktur, also der Unbestimmtheit, in unserer Vorstellung entspricht. Dabei wäre - zur Präzisierung FULDAS - zu prüfen: 1. ob die von Hegel aufgegriffene Erscheinung die einzige (oder zumindest die wichtigste) ist, die diese Struktur besitzt; 2. ob diese Struktur tatsächlich Grundbestimmung („Wesen") der thematisierten Erscheinung ist; und 3. ob die weiteren Bestimmtheiten besagter Erscheinung im weiteren Gang der Darstellung eingeholt werden, ihren Ort im System erhalten. Falls keine Erscheinung ausmachbar ist, der diese Struktur zukommt, muß der Begriff sich in seiner Abstraktheit selbst fortbestimmen, sei es durch die logische Form des „Urteils", sei es durch die Form des „Schlusses" oder durch Antizipation eines gegensätzlichen Begriffs (Übergang in sein Gegenteil). Kann eine Erscheinung ermittelt werden, so muß sich der Begriff an dieser in Begriffsform gebrachten Gestalt fortbestimmen, indem er zunächst ihre Beziehung auf sich selbst, d. h. die ihr als Einzelphänomen zukommenden Bestimmungen, sodann die Beziehungen auf anderes (Verhältnisse) und schließlich die Aufhebung dieser Entgegensetzung (von Fürsichsein und Sein-für-Anderes) in einem Allgemeinen entwickelt. Dieses Allgemeine wird sodann wieder als Beziehung auf sich selbst und danach als Beziehung auf anderes untersucht und somit selbst als Einzelheit gesetzt usw. In allen Schritten dieser Darstellung wäre zu prüfen, ob der von Hegel entwickelte Begriff in Übereinstimmung mit der Erfahrung kommt, denn „diese Übereinstimmung kann für einen wenigstens äußern Prüfstein der Wahrheit einer Philosophie angesehen werden" (Enz. § 6). Da aber die Nicht-Übereinstimmung von Begriff und Wirklichkeit von Hegel selbst als Medium der Begriffsentwicklung, als treibendes Moment verstanden wird, läßt sich diese Prüfung nur mit Bezug auf das Ganze seiner politischen Philosophie unternehmen. Diese erhob den Anspruch, aus dem zugrundegelegten Begriff des „freien Willens", der Einheit des theoretischen und praktischen Geistes (§481), durch eine systematische Entwicklung der Begriffe und Aussagen zu einer theoretischen Reproduktion der Totalität der sozialhistori-

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sehen Erscheinungsformen zu gelangen. Sofern diese Entwicklung gelang, konnte der zugrundegelegte Begriff und die Abfolge der Aussagen als triftig und notwendig zur Erfassung des Wesens der Wirklichkeit erwiesen werden. Weitere Beispiele für die Prüfung, ob Hegel auch den ganzen Vorstellungsgehalt der Erscheinungen berücksichtigt hat, diskutiert HARTMANN, der mit ihnen seine Linearitätsthese stützt. So gelinge es Hegel weder, die Notwendigkeit einer Leitung der Vielen innerhalb eines Verbandes darzutun, noch kategorial vom Staat im allgemeinen zum politischen Staat überzugehen (311). Seine Darstellung des „äußeren Staatsrechts" (312 f) und der „Weltgeschichte" (313 f) sei wenig überzeugend. „Die Logik der Rechtsphilosophie gestattet keine akzeptable Theorie" (312) - Zu fragen ist: stimmt das so allgemein? Hat Hegel nicht - wenigstens in einzelnen Bereichen - die Rückwirkungen des „Höheren" auf das zuvor bestimmte „Niedere" thematisiert? (Oder mit HENRICH hinsichtlich der einen, subjektiven Seite des Begriffs: Hat die Schlußlogik nirgends Anwendung gefunden?) Im Hinblick auf das abstrakte Recht hat er, wie ILTING und THEUNISSEN betonen, versäumt, das ihm vorausgesetzte „Anerkanntsein" theoretisch einzuholen. (Wir werden gleich zu prüfen haben, ob dieser Vorwurf trägt.) Allerdings zeigt er, wie sich das vorab thematisierte Recht in der bürgerlichen Gesellschaft konkretisiert, also in der „Aufhebung" zugleich aufbewahrt ist und sich unter der (Rück-) Wirkung ökonomischer Mechanismen und Bewegungen fortbestimmt. Hinsichtlich der Rückwirkung des Staates auf die bürgerliche Gesellschaft gibt uns SIEP (272 ff) einige erwägenswerte Andeutungen: „Weil die Freiheit, seinen Willen in Sachen zu manifestieren und seine besonderen Interessen im Rahmen der Rechtsregeln zu verfolgen, mit dem Anspruch, in der bürgerlichen Gesellschaft seine Subsistenz, seine , Selbständigkeit' und seine ,Ehre' zu erhalten, nicht notwendig harmoniert, muß der Staat nicht nur in den Markt, sondern auch in das Privatrecht eingreifen." (274) Sodann verweist er auf die s. E. „sehr weitgehenden Struktur-, Steuer-, handeis-, gewerbeaufsichts- und gesundheitspolitischen Kompetenzen und Aufgaben des Staates bei Hegel" (ebd.). Mag man vom Standpunkt heutiger Staatlichkeit auch Bedenken tragen, ob diese Kompetenzen und Aufgaben des Staates tatsächlich so weitgehend und ausreichend sind, so wird doch deutlich, daß die Linearitätsthese von HARTMANN, die in vielen Punkten zutreffend ist, wenigstens im Hinblick auf das Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft, Recht und Staat relativiert werden muß. Für die „Logik der Rechtsphilosophie" ergibt sich aus den genannten drei Aufsätzen zusammenfassend folgendes Bild: Um ein Ganzes in seiner Organisation wahrhaft zu verstehen, muß für jeden einzelnen Begriff der dreifache Syllogismus durchgeführt werden. Er subsumiert in seiner 1. Form (E-B-A) eine beliebige Bestimmtheit eines einzelnen Subjektes unter ein Allgemeines - bzw. als „Schluß der Notwendigkeit" eine wesentliche Bestimmung unter das Spezifikum der Gattung, die dann jedoch bereits vorausgesetzt sein muß. In seiner 2. Form (A-E-B) erweist er dieses Allgemeine selbst als eine Besonderheit und damit als zufällig

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und führt in seiner 3. Form (B-A-E) die ihm anhaftende Beliebigkeit auf das Einzelne zurück. Diese Schlußfolge eröffnet einen Progreß ad infinitum, der so lange währt, bis alle möglichen Bestimmtheiten durchgespielt sind. Sie beschreibt den Forschungsprozeß, von dem die Darstellung, will sie nicht in einer chaotischen Mannigfaltigkeit ertrinken, unterschieden sein muß. Die dialektische Darstellung hat die Erkenntnisweisen des Schlusses (und des Urteils) zur Voraussetzung und entwickelt auf ihrer Grundlage die „Sache selbst" in einer Abfolge von Begriffen und Aussagen. Dies geschieht durch wechselseitiges Herübergehen aus dem Begriff in die Vorstellung und aus dieser in den Begriff. Im Verfolg dieser Pendelbewegung hat Hegel aber, wie die einzelnen Beiträge zeigen, viele Phänomene ungenügend thematisiert. Dabei ist jedoch zu beachten, daß er jeweils nur den Kern einer Theorie über die namhaft zu machende empirische Erscheinung erstrebt (FULDA), der im Zusammenhang des Gesamtsystems erweitert und durch neue Bedeutungen angereichert wird. (2) Mit seiner Unterscheidung von „Theoriekern" und intendierter Anwendung kann FULDA auch ein wenig Licht in jene Problematik werfen, die den von ILTING, SIEF und THEUNISSEN behandelten Problemzusammenhang durchherrscht, die Frage nach der verdrängten Intersubjektivität. Und zwar kann er die Frage der genannten Hegel-Kritiker, ob nicht von Hegel stärkere Existenzbedingungen, also weitere Erläuterungen und Begründungen der einzelnen Begriffsbestimmungen (wie „Person", „Eigentum", „Vertrag" usw.) angegeben werden müßten - etwa intersubjektive Verhältnisse oder konkreter; das Moment der Anerkennung -, als trivial zurückweisen: „daß man diese Frage bejahen muß, ist auch für Hegel eine Selbstverständlichkeit" (418). Die Exemplifikation der eingeführten Begriffe existiere, wie wir schon vernahmen, nur unter vielfältigen Zusatzbedingungen. Die Frage muß dann aber sein, ob es Hegel gelungen ist, diese Zusatzbedingungen an irgendeiner Stelle des Gesamtsystems namhaft zu machen und in den Begriff aufzuheben. Hat Hegel das für alle moralisch-rechtlichen und sittlichen Verhältnisse konstitutive Moment der Intersubjektivität verdrängt? Wenn wir den Hinweisen von HENRICH folgen und das Hegelsche Programm unter Absehung von den oben erhobenen Bedenken - in den drei angedeuteten Schlußfolgen sehen, so wird daraus noch nicht ersichtlich, ob die in ihnen zu vollziehende Vermittlung von Einzelheit und Allgemeinheit über intensubjektive Zwischenformen und Vermittlungsstufen erfolgt. Nehmen wir die These von HARTMANN ernst, so dürfte Hegel infolge der kategorialen Progression in der Rechtsphilosophie keine jener Bestimmungen wiederaufgreifen, die er auf früheren Systemstufen entwickelt hat. Er hatte aber schon auf der Stufe der „Phänomenologie" die Struktur des „allgemeinen Selbstbewußtseins" erreicht, das er bestimmt als „das affirmative Wissen seiner selbst im anderen Selbst, deren jedes als freie Einzelnheit absolute Selbständigkeit hat, aber, vermöge der Negation seiner Unmittelbarkeit oder Begierde, sich nicht vom Andern unterscheidet. Allgemeines und objektiv ist und die reelle Allgemeinheit als Gegenseitigkeit so hat.

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als es im freien Andern sich anerkannt weiß und dies weiß, insofern es das Andere anerkennt und es frei weiß" {Enz. § 436). Er hatte ferner festgestellt, der Standpunkt des „freien Willens", womit das Recht und die Rechtswissenschaft anfängt, sei über den Standpunkt, auf dem der Mensch als Naturwesen ist, schon hinaus. „Diese frühere unwahre Erscheinung betrifft den Geist, welcher nur erst auf dem Standpunkte seines Bewußtseins ist (also dem Standpunkt, den ILTING der Rechtsphilosophie unterstellt, K. R.); die Dialektik des Begriffs und des nur erst unmittelbaren Bewußtseins der Freiheit bewirkt daselbst den Kampf des Anerkennens und das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft..." {Rph. § 57, Anm) Mußte er diese der Rechtsphilosophie vorausliegenden Stufen reformulieren, die in ihnen vorhandenen Formen in Rechtsbestimmungen aufheben? Wurde diese Aufhebung durch die kategoriale Progression verhindert? Wir haben schon gesehen, daß HARTMA.MNS These nur mit Vorsicht zu genießen ist und relativiert werden muß. Wenn wir den Hinweisen folgen, die FULDA gibt, so können wir sie dahin abwandeln: Die jeweils „höhere" Entwicklungsstufe, die Hegel im Verfolg seines Programms erreicht, muß die Bestimmungen und Zusammenhänge der vorausgehenden „niederen" Stufen nur dann als Momente der neuen Stufe reformulieren, wenn sie in ihr eine Bedeutungsmodifikation erfahren, also einen neuen Stellenwert oder neue Bestimmungen erhalten. Werden sie hingegen als Momente des „objektiven Geistes" nicht modifiziert, so ist es auch nicht nötig, sie noch einmal aufzugreifen. Hegel kann dann, guten Gewissens, auf seine früheren Ausführungen verweisen, da die dort thematisierten Erscheinungen gerade in der beschriebenen Weise innerhalb des Ganzen zu stehen kommen sollen. Dies tut er etwa dann, wenn er bemerkt, daß die Verhältnisse des objektiven Geistes das Moment der Anerkennung schon enthalten und zur Voraussetzung haben (§ 71). Dies tut er ferner, wenn er als Ausgangspunkf des Rechts und der Rechtswissenschaft staatliche Verhältnisse setzt (§57, Anm). Grundlage der Rechtsphilosophie ist, so dürfen wir folgern, das allgemeine Anerkanntsein als abstrakte, geistige Form der Intersubjektivität -, und die Bestimmungen, die sich der freie Wille in seinem Dasein gibt, haben sich auf dieser Grundlage darzustellen, sofern sie eine Formwandlung gegenüber den Bestimmungen des „praktischen Geistes" erfahren, d. h. durch das Faktum der allgemeinen Anerkennung mit neuen theoretischen Gehalten aufgeladen werden. Legt man diese Deutung zugrunde, so verlieren Hegels Ausführungen über die „Person", das „Eigentum", den „Vertrag" usw. einiges von ihrer Unbestimmtheit. Dann nämlich lassen sie sich just als Formen des Anerkanntseins beschreiben. Durch das Anerkanntsein wird der Mensch, Träger des „subjektiven Geistes", der sich von seinen Trieben und Neigungen reinigt, sich zum reinen Denken erhebt {Rph. §§ 11 ff), zur „Person", d. h. zum „abstrakten Menschen", dessen Anerkanntsein sich zunächst auf die Abstraktion des Lebens reduziert, auf das blanke Recht, zu sein. Damit eignet ihm die Struktur, die der Begriff des freien Willens in seiner Unmittelbarkeit, seiner Beziehung auf sich selbst, besitzt.

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Dieser Begriff, die „Person", einmal aus der Vorstellung aufgegriffen, wird nun weiterbestimmt, und zwar so, daß sich seine Bestimmungen logisch als notwendig, als Selbstbestimmung erweisen. Die Selbstbestimmung dieses Begriffs muß daher zugleich eine solche des in ihm Begriffenen, also der Person sein, und diese Selbstbestimmung sieht Hegel darin, daß sich der freie Wille auf Sachen wirft, sich in die Sache setzt und ihr seine Bestimmtheit aufprägt. Welche empirische Erscheinung hat diese Struktur? Da wäre zunächst an die Arbeit zu denken. In der Arbeit bestimmt sich der freie Wille, indem er eine Sache nach seinen Bestimmungen formt. Da Hegel diese Form - als allgemeines Tun, d. h. als noch nicht gesellschaftlich bestimmte Gebrauchswerterzeugung - in seiner „Phänomenologie" entwickelt hat (vgl. Enz. §§ 427 ff, 434 f), muß er sie nicht noch einmal aufgreifen; sie ist ja „aufgehoben" im System. Er kann daher gleich auf das Resultat der Arbeit übergehen, das dieselbe Struktur besitzt. Dieses Resultat ist die Besitzergreifung, die unter der Bedingung des Anerkanntseins erfolgt und daher das Eigentum generiert, das seine Bestimmung in der (anerkannten) Besitznahme, im (anerkannten) Gebrauch der Sache und im Recht auf Entäußerung findet usw. Wenn ILTING (230) fordert, das Moment der Anerkennung müsse zu Beginn der Begriffsentwicklung derart konkretisiert sein, daß die Einzelindividuen eine bestehende, positivierte Rechtsordnung anerkennen, so hält ihm SIEF (258 f) zu Recht entgegen, daß diese Forderung in einen Normenpositivismus münde, da mit der Abstraktion vom Inhalt dieser normativen Ordnung, der zu Beginn der Rechtsphilosophie noch nicht entwickelt sein kann, sondern erst zu begründen ist, nicht ausgeschlossen sei, daß diese Ordnung Privilegien, rechtlich abgesicherte Herrschaftsverhältnisse u. a. enthalte. Man kann, so scheint es, den Abschnitten über abstraktes Recht und Moralität auch dann einen Sinn abgewinnen, wenn man sie nicht allein als kritische Zurückweisung der Naturrechtstheorien, des neuzeitlichen Konkraktualismus liest, sondern zugleich affirmative Momente in ihnen heranreifen sieht. Da Anerkennung und - allgemeiner - Intersubjektivität Voraussetzung der Rechtsphilosophie sind, muß Hegel sie nur dann erneut thematisieren, wenn sie auf dieser Thematisierungsstufe eine Veränderung, eine Bedeutungsmodifikation erfahren. Dies dürfte gerade dann der Fall sein, wenn die abstrakt-allgemeinen - „vor"gesellschaftlichen - zwischenmenschlichen Beziehungen gestört und durch Konflikte aufgebrochen sind, die dann in eine höhere, diesmal aber institutionelle Form aufzuheben sind. Kein Wunder also, daß THEUNISSEN nur solche Beziehungen zu finden vermag, die sozialen Konfliktstoff enthalten und „Verunstaltungen des Menschen" zur Grundlage haben. Was für abstraktes Recht und Moralität, gilt auch für „Sittlichkeit". Auch hier muß Hegel nur solche Elemente begründen, die das Anerkanntsein stören - der Rest kann unter dem von MARX bekanntgemachten Stichwort der „Verdinglichung" abgehandelt werden. Sofern sich zwischenmenschliche Beziehungen ohne institutionelle Vermittlung konstituieren, kann Hegel sie unter dem Stichwort „allgemeines Selbstbewußtsein" fassen und der

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„Phänomenologie" subsumieren. Dies heißt für ihn nicht, daß sie bedeutungslos wären, sondern nur, daß sie in einer anderen Sphäre des Systems zu suchen sind. Akzeptiert man diese Tatsache, so muß eher erstaunen, daß Hegel eine spezifische Ausprägung der Anerkennungsbeziehung, die „Liebe", in seiner Theorie der Familie reformuliert, nicht aber, daß diese Formbestimmung sich nicht als Prinzip des Staates geriert. Dieses Erstaunen wird durch einen Befund von HENRICH genährt, „daß der Schluß der Enzyklopädie keine Form enthält, die der Form der Familie zuzuordnen wäre" (445). Sollte der Grund dafür, für die Verlagerung der Liebestheorie in die Philosophie des objektiven Geistes, vielleicht darin zu suchen sein, daß das Bewußtsein des einzelnen, „diesseits jedes Gedankens an ein freies Fürsichsein" (447), in starre Familienbande eingebunden ist, somit selbst eine „Verunstaltung des Menschen" begründet? Wie aber sollte sie dann kritischer Maßstab zur Beurteilung der bürgerlichen und staatlichen Institutionen sein? Zusammenfassend kann festgehalten werden: Da Hegel die Bestimmungen der Rechtsphilosophie unter der Bedingung des „allgemeinen Selbstbewußtseins" entwickelt, ist Intersubjektivität in Form des Sich-Wissens im anderen Selbst für alle thematisierten Erscheinungen konstitutiv. Er muß daher nicht immer wieder darauf verweisen. Das Sich-Wissen im anderen Selbst wird nur dann erneut zum Thema, wenn es im Zuge der Selbstverwirklichung des freien Willens gestört, durch Konflikte aufgebrochen ist, die dann durch institutioneile Vermittlungen geregelt werden. Dadurch kommen die betroffenen Individuen jedoch unter die Macht eines Dritten, das sich in Gestalt rechtlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Institutionen sowie moralisch-sittlicher Forderungen gegen sie verselbständigt. Diese Verselbständigung hat aber weiterreichende Folgen für die intersubjektiven Beziehungen als Hegel wahrhaben möchte. Es ist ihm nicht immer gelungen, die Rückwirkung der Institutionen auf die von ihnen geregelten Lebensverhältnisse zu klären. Dieser Mangel läßt sich jedoch nur dadurch beheben, d. h. man wird die Rechtsphilosophie, mit FULDA ZU sprechen, auf eine ihrem Theorietypus angemessene Weise nur so kritisieren können, daß man sich auf ihren Standpunkt stellt und die von ihr begründeten Formen der institutionellen Vermittlung des sozialen Lebens immanent kritisiert. Werden die von ihr begründeten Strukturen der gesellschaftlichen und staatlichen Reproduktion aus dem Begründungszusammenhang eliminiert, so bleibt man damit im Sinne Hegels im oorgesellschaftlichen und uorstaatlichen Bereich und stellt sich auf den subjektiven Standpunkt bloßen Sollens, den jener als abstrakt erweisen wollte. Die Ventilierung der rechtsphilosophischen Logik erweist sich so als ein mühsames Geschäft, da sich die Komplexität der Rechtsphilosophie nur Schritt für Schritt einholen läßt. Man wird gespannt sein dürfen, ob es den hier besprochenen Autoren (und ihren Schülern) gelingen wird, diese „Logik" auch als Methode einer weiterführenden, erst noch zu erarbeitenden Theorie der Gesellschaft und des Staates zu verwerten. Klaus Roth (Berlin)

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Ad Peperzak: Filosofie en politiek. Een kommentaar op het Voorwoord van Hegels Rechtsfilosofie [Philosophie und Politik. Ein Kommentar zur Vorrede der Hegelschen Rechtsphilosophie]. Baarn: Ambo 1981. 147 S. (Basisboeken.) In diesem Buch über Philosophie und Politik bietet PEPERZAK einen Kommentar zur Vorrede der Hegelschen Philosophie des Rechts. Nach einer Einleitung, in der PEPERZAK die beiden Überschriften der Grundlinien und deren Problematik charakterisiert, und einer Skizze der Zeit um 1820 wird ein Schema der Gedankenentwicklung der Vorrede gegeben. Im Kommentar wird jedesmal ein Absatz in deutscher Sprache und dann der dazu gehörige Kommentar gegeben. Dieser hat nach PEPERZAK sowohl einen didaktischen wie einen wissenschaftlichen Belang. Wenn man mit PEPERZAK annimmt, daß die Vorrede schon eine Einleitung in Hegels Denken bietet, dann ist die Darstellung PEPERZAKS eine didaktisch hervorragende Leistung: klar wird seine Deutung der Hegelschen Philosophie (vgl. 133: N 24) gezeichnet. Wissenschaftlich könnte man aber einige Probleme bei der Deutung hervorheben. Das wichtigste Problem ist das Verhältnis von Logik und Rechtsphilosophie. Nicht nur wird eine unzureichende Bestimmung der Logik gegeben, das genaue Verhältnis von beiden wird nirgendwo diskutiert. Auch werden weder die verschiedenen Thesen der Forschung zu dieser Problematik noch PEPERZAKS eigene Hypothese klargemacht (50). Unbestimmt bleibt so auch die logische und rechtsphilosophische Bedeutung des „Sollens". Stimmt es, daß das „Sollen" nur aus der Moralität in die Problematik der Sittlichkeit hineingegangen ist (109, 143: N 103) oder muß man die Rechtsphilosophie in Beziehung auf die Idee des Guten setzen, die als „Sollen" (GW 12.233) gekennzeichnet wird? Mit dem ersten Problem hängt die Auffassung der Bedeutung der Philosophie zusammen. Die Philosophie ist nach PEPERZAK für Hegel keine Konstruktion, sondern Rekonstruktion (132: N 20). Bei dieser Deutung scheint PEPERZAK nicht zwischen Philosophie und philosophischem Subjekt zu unterscheiden. Dadurch soll die Philosophie ihre Wahrheit aus der Erfahrung entnehmen (54). Nun fängt die Philosophie als freies und reines Denken auch nach der Vorrede nur mit sich an und geht nur von sich aus {Rechtsphilosophie. VII). Dadurch entfällt ihr die von PEPERZAK gestellte Präge nach einem außerphilosophischen Maßstab der Wahrheit eines Zustandes (100). Zugleich wird dadurch auch klar, daß, wenn die Vernunft als Idee gedacht werden kann, sie in einem als wirklich gedacht werden muß. Denn die gedachte Notwendigkeit ist in einem notwendig reell. Die sogenannte Empirie ist dann entweder die sichtbare, notwendige oder sie ist begrifflich nonexistent. Die zwei Fragen, die Hegel hätte auseinanderlegen müssen (64-65), die Frage einerseits nach der Einheit der Allgemeinheit und Besonderheit in der Logik des Begriffs und die Frage andererseits nach der Einheit der Idee und deren Faktizität, sind also nach Hegel doch nur eine Frage. In dieser begrifflichen Rechtfertigung der Wirklichkeit soll die Philosophie dann auch keine Kritik der daseien-

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den Zustände sein. Denn eine denkende Rechtfertigung denkt die Idee und die wirkliche Idee. Auch der „schlechteste Staat . .., insofern er noch existiert, ist ... noch Idee" (GW 12. 176). Es wäre zudem eine Übersetzung der Philosophie in die Sphäre der Vorstellung, wenn man sie als Kritik, als eine zusätzliche Abstraktion, verstünde. Problematisch scheint auch die Ansicht PEPERZAKS, daß sowohl der Staat wie die Idee des Staates noch verbessert werden können. Das erste scheint klar, das zweite aber ist innerhalb des Hegelschen rechts- und geschichtsphilosophischen Denkens weniger verständlich: Wie kann Freiheit objektiv noch weiter gefaßt werden denn als daseiende Freiheit und daseiende Freiheit noch besser als systematisch gegliederte Freiheit Aller? Ein dritter Problemkreis berührt die Frage der ethischen Kritik. Warum soll Ethik, besser vielleicht Moral, notwendig Kritik des Vorhandenen sein, warum soll das verstandesmäßige Denken „zurecht" (107) über das Bestehende hinaus sein? Die moderne Meinung nun, daß es Pseudo-Sittlichkeit als institutionelles Unrecht gebe (77), ist zwar denkbar, leider nicht als Hegelsche Idee und daher die äußerliche Ansicht eines Moralisten. Eine systematisch wichtigere Frage, ob und inwiefern die Hegelsche Rechtsphilosophie den Gedanken der Autonomie bewahrt und bewährt, wird dagegen nicht berührt. Kleinere Anmerkungen könnten PEPERZAKS Auffassung der logischen Begriffe kritisieren: Diese werden ja, wie Einzelheit, Form, Inhalt, Methode, nicht oder unzureichend dargelegt. Außerdem könnte man die Beschränkung der Wirklichkeits-Auffassung auf die Dualität von Wirklichkeit und Erscheinung bedauern, wo Hegel in diesem Kontext über die verschiedenen Stufen des Daseins, der Realität, der Existenz, der Erscheinung, der Wirklichkeit und ebenso der Objektivität verfügt (GW 12. 130). Einige Male vergißt PEPERZAK bei seiner Betonung der Hegelschen Einseitigkeit das Wort „nur" (61, 63 z. B.), wodurch Hegels sogenannte Retorik hervorgehoben werden kann. Diese Retorik möchte Hegel bei der Vorrede eingestehen, weil für das subjektive Bedürfnis schon zum voraus ein „Bild der Vorstellung" (GW 12. 252) geleistet werden soll und darf. Diese Vorrede ist damit aber weder Hegels Philosophie des Rechts, noch eine Einleitung in Hegels philosophisches Denken. Lu De Vos (Löwen)

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Denkt Hegel bürgerlich und humanistisch? Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik. Antworten auf Karl-Otto Apel. Hrsg. v. Wolfgang Kuhlmann und Dietrich Böhler. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982. 786 S. Stephan Strasser: Jenseits des Bürgerlichen. Ethisch-politische Meditationen für diese Zeit. Freiburg, München: Alber 1982. 252 S. Stephan Skaiweit: Der Beginn der Neuzeit. Epochengrenze und Epochenbegriff. Darmstadt; Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982. 169 S. (Erträge der Forschung. Bd 178.) Hegel tut heute in den philosophischen Lehrveranstaltungen Dienst als „Klassiker". Wirken seine Gedanken dabei befreiend oder verwirren und verschleiern sie eher den Blick für die Wirklichkeit? Bleibt die Weise, wie Hegel in die heutigen Diskussionen eingebracht wird, ein Mißbrauch Hegels, oder vermögen wir es, Hegel historisch zutreffend auf seine Zeit zu beziehen, diese Zeit aber als Anfang unseres Weges in eine unabsehbare Zukunft zu verstehen? KARL-OTTO APEL hat von einer „Transformation der Philosophie" gesprochen. Für diese sich umgestaltende Philosophie ist Hegel einer der Vorläufer, freilich Hegel zusammen mit dem schöpferischen Protest gegen ihn, wie MARX und KIERKEGAARD, HUMBOLDT, DILTHEY und PEIRCE ihn vorgebracht haben. Abgelehnt wird das System, in dem das wissenschaftlich Gewußte mit dem philosophischen Wissen in einer abgeschlossenen Weise verbunden wird. Gegen eine solche Wiederaufnahme einstiger Metaphysik wird KANTS Transzendentalphilosophie ins Feld geführt, die sich auf die Frage beschränkt, wie die Wissenschaften überhaupt arbeiten oder wie die Schätzung des Schönen sich vollzieht. Freilich wird ein transzendentales Subjekt angesetzt, das konkret als die Gemeinschaft der geschichtlich miteinander Handelnden und miteinander Sprechenden gefaßt wird. Diese überschwengliche Rede vom Transzendentalen soll jene Figur der „Dialektik" aufschließen und neu verwendbar machen, von der alle Welt redet. Es verwundert nicht, daß sich gut Hegelsche Gedanken bei APEL wiederfinden. So wird durchaus die Geschichte dem „Fortschritt" unterstellt, nämlich der regulativen Idee einer immer weiter gesteigerten Rechtfertigung oder Verwerfung gelebten und zu lebenden Lebens. Für diese Rechtfertigung wird dann mit dem Fortschritt die unbegrenzte Kommunikation, die ideale Sprechsituation, der universale Konsens gefordert - Dinge, bei denen man sich fragt, ob sie nicht eher in eine untransformierte als in eine transformierte Philosophie gehören. Was hier befremdet oder verwirrt, das sind in der Tat Hegelsche Gedanken; mag das System oder die Gleichung von System und Geschichte abgelehnt werden - die

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Geschichte soll nach der bekannten Hegelschen Lehre als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit gesehen und so in der allein menschenwürdigen Weise genommen werden. Der Bezug zu Flegel konkretisiert sich im Theorem der Anerkennung, das den Einen und den Anderen in eine symmetrische Beziehung bringt und so bloße Autorität und Tradition abbaut und die Kreise der Mündigen und Freien erweitert. In der Tat hat Fiegel die heroische Adelsethik und deren Antibanausie destruiert, die arbeitsteilige Leistungsgesellschaft von der Überwindung des Herrschafts-Knechtschafts-Verhältnisses her gerechtfertigt. Doch Anerkennung meint bei Hegel nicht nur, daß etwa der Eine den Anderen als Rechtsperson anerkennt, sondern auch dieses, daß für solche Anerkennung eine Sphäre vorgegeben sein muß, in der der Einzelne seine spezifische Anerkennung oder „Ehre" haben kann (wie der Handwerker in seiner Zunft). Hegel setzte offenbar voraus, daß die Geschichte einen Stand erreicht habe, in dem alle Sphären, in denen wir leben, so ineinanderspielen, daß sie ein Leben aus der „Vernunft" ermöglichen. Nimmt man den Protest gegen Hegel auf, dann kann man Hegel diese Sicht der Dinge nicht abnehmen; darf diese Sicht aber nicht eine nie voll zu verwirklichende Utopie bleiben? Gegen diesen immer noch allzu voreiligen Zugriff auf Hegelsche Gedanken wäre geltend zu machen, daß der Andere uns in der Unbegrenztheit des Gesprächs und der Geschichte auch als der schlechthin Sich-Entziehende begegnet, der letztlich in keine symmetrische Beziehung einzubringen, auch von keiner Totalität her zu umgreifen, vielmehr gegen alle Totalisierungen zu schützen ist. Die Festschrift, die zum 60. Geburtstag APELS erschienen ist, bringt dreißig Beiträge und eine Bibliographie; einen Aufsatz über APELS Verhältnis zur hegelianischen Tradition enthält sie nicht. Wohl kommen verschiedene Beiträge auf die Frage der (befreienden oder verwirrenden) Nachwirkung Hegels zurück. So legt HANS MICHAEL BAUMGARTNER dar, daß APEL in seiner weitschichtigen Rezeption der neuzeitlichen Philosophie und der aktuellen Fragestellungen unterschiedliche Ideen, die wesentlich sind, zugleich festzuhalten sucht; „Die KANiische Idee, daß sich unser Wissen transzendental muß rechtfertigen lassen können; und die Hegelsche, daß der Verständigungsprozeß der Menschengattung selbst als ein Prozeß der Selbsterkenntnis des Geistes im Sinne eines Fortschrittsprozesses der Verständigungsgemeinschaft in die Zukunft hinein zu denken ist." (47) Wer für die Begründung von Geltung eine ideale Kommunikationsgemeinschaft antizipieren will, der muß gefragt werden, ob er eine solche Antizipation wirklich zu begründen oder nicht nur zu bekräftigen vermag. Zwar scheine APEL den „eschatologischen Fehlschluß" vermeiden zu wollen, den BAUMGARTNER bei PEIRCE im Gedanken der ultimate opinion findet; doch bleibe eine Unklarheit. Die Auseinandersetzung zwischen KANT und Hegel werde erneut zu einem Problem, das nicht schon dadurch beantwortet zu sein scheine, „daß man Hegels metaphysische Konzeption des sich in Geschichte auslegenden und aus ihr begreifenden Geistes einfach den Stellenwert eines regulativen Prinzips im Sinne KANTS zuweist" (52). Auch

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andere Artikel beziehen Hegel in die Diskussion ein. So zeigt z. B. JOSEPH J. KOKKELMANS in seinen ebenso grundsätzlichen wie historisch umfassenden Überlegungen Hermeneutik und Ethik, wie KANTS Ansatz zu Hegel weiterführt, wie Hegels Lehre von der sittlichen Substanz uns dann aber auf die ARisioTELische Verbindung von Ethik und Politik zurückverweist. WILHELM PERPEET geht in seinen dezidierten Hinweisen auf den oft mißverstandenen Humanismus des PETRARCA von Hegels und BURCKHARDTS Aussagen über PETRARCA und über die Renaissance aus. Was ist das für eine Philosophie, die Hegel nutzt, ohne seine Gedanken genauer zu erörtern? Selbst in den Zeitschriften diskutiert man darüber, ob diese Philosophie „bürgerlich" sei. STEPHAN STRASSER hat seine holländische Publikation De burger voorbij frei ins Deutsche übertragen. Er geht davon aus, daß man heute sowohl den typisch bürgerlich nennt, der seine Steuern bezahlt oder ein geregeltes Eheleben führt, wie den, der sich den Steuerschulden entzieht oder in einem Dreiecksverhältnis lebt und auf Seitensprünge aus ist. ERNST NOLTES Schrift Was ist bürgerlich? wird mit der These zitiert, daß der liberale Bürger dem Wirtschaftsleben der Stadt entstammt, das nach Selbstverwaltung strebt, aber nicht nach Alleinherrschaft, daß dagegen der politische Bürger von der französischen bis zur jüngsten persischen Revolution (!) mit seiner Partizipation an der Herrschaft die „fremden" Elemente auszurotten sucht. STRASSER zeigt sodann, wiewenig die marxistischen Dogmen mit der geschichtlichen Wirklichkeit übereinstimmen, und stellt drei Thesen über die „Bürgerlichkeit" auf: sie konditioniert das geistige Leben des Abendlandes, determiniert es aber nicht; sie bietet Spielraum für verschiedene Entwürfe sozialen Daseins; sie ruft Widerstand hervor. Wenn die Bürger - in zunehmender Radikalität, wie MAX WEBER gezeigt hat - danach streben, ihre Angelegenheiten rational zu beherrschen, dann gibt es auch Widerstand - im wirtschaftlichen Bereich treten die Protestierer und Alternativen neben die Unternehmer, Arbeiter und Mittelständler. In jedem Fall sucht der Bürger an die Stelle der asymmetrischen (kriegerischen, hierarchischen) Beziehung symmetrische Gleichberechtigung zu setzen. Die Geburt des Bürgers wird an der Renaissancegestalt LEON BATTISTA ALBERTIS illustriert (im Rückgriff auf SOMBARTS Buch Der Bourgeois, aber auch in Distanz dazu; inzwischen geht bekanntlich die historische Detailforschung weiter, vgl. etwa die „Mitteilung VIII der Kommission für Humanismusforschung" der DFG: Humanismus und Ökonomie. Hrsg. v. H. LUTZ. Weinheim 1983). Ökonomie und Sparsamkeit, dazu die Rechtschaffenheit (onestä), das sind die Haupttugenden des Bürgers, die das Vertrauen in Institutionen voraussetzen. STRASSER sucht aber zu zeigen: dieser Daseinsentwurf kann „entarten", nämlich einem pseudoreligiösen Vertrauen verfallen, „das der unternehmende Bürger neuen Stils zu der Allmacht und der Unwiderstehlichkeit der Techne hegt" (86). Sind die kleinen, die unscheinbaren Tugenden (Sparsamkeit usf.) die bürgerlichen Tugenden, wie OTTO FRIEDRICH BOLLNOW gemeint hat? Nach STRASSER sind sie bloße Tauglichkeiten, efficiencies, keine eigentlichen Tugenden. Hier kommt He-

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gel ins Spiel: er hat die Rechtschaffenheit von der Tugend unterschieden! Schlägt man diese Dinge bei Hegel nach, dann werden sie freilich komplizierter: In seinen Theologischen Jugendschriften (223) zitiert Hegel zustimmend MONTESQUIEU, die Tugend sei das Prinzip der Republiken. In seinem Jenaer Naturrechtsaufsatz unterscheidet Hegel die Tugenden des eigentlich politischen Standes oder des Citoyen von der Rechtschaffenheit des Bourgeois. In der Rechtsphilosophie widerspricht Hegel im § 273 ausdrücklich MONTESQUIEU; er geht davon aus, daß die komplizierte arbeitsteilige moderne Gesellschaft keine Tugenden mehr kenne, nämlich nicht das Hervortreten des Substanziell-Sittlichen in der exemplarischen Gestalt. Für den repräsentativen Staat wird anderes gefordert: die Rechtschaffenheit in den partikularen Sphären, die dann von ihrer Selbstverwaltung her an der Verwaltung der staatlichen Angelegenheiten partizipieren. In den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte ist es dann die Reformation, die (mit der Abschaffung der „unsittlichen" evangelischen Räte) Bürgerlichkeit durchsetzt. Hegel sagt (durchaus im Sinne seiner frühen Verabsolutierung der Anerkennung, die ja nach der Phänomenologie auch besagt, daß Gott anerkennen muß, daß er Mensch wird, der Mensch, daß er aus Gott lebt): „Die wahrhafte Art und Weise des Individuums, sich in besonderen Verhältnissen der Existenz zu benehmen, ist die Rechtschaffenheit. Dieses Benehmen aber muß auch zum Bewußtsein des Absoluten, dem religiösen Bewußtsein hinausgehen, und aus diesem erst muß es rechtschaffen sein. Mit anderen Worten: Gott in den besonderen Verhältnissen sich betätigend, ist die Rechtschaffenheit." (910 in der Ausgabe LASSONS) In seiner letzten politischen Flugschrift (über die englische Verfassungsreform) fordert Hegel wieder wie in seiner Jugendzeit „Gerechtigkeit" als Maßstab für die Beurteilung der Angemessenheit der Institutionen. Ist diese Gerechtigkeit aber nicht im „System" der maßgeblichen Institutionen untergegangen? zeigt in seinem Buch sodann, wie man gegen das System oder das Establishment heute antibürgerliche Alternativen und Scheinalternativen vorbringt. Gegen die Verabsolutierung bürgerlicher Rationalität in Kapitalismus wie Kommunismus, gegen die Scheinalternativen, vor allem auch gegen jene Radikalen, die ihre Gegner als noch nicht vernünftig und nicht mündig so oder so aus dem Felde räumen, führt STRASSER als wirkliche Alternative die Philosophie von LEVINAS an, der er ja vor Jahren ein großes Buch gewidmet hat. In dieser Philosophie macht der Mensch sich nicht mit HOBBES die Illusion, er könne einen schützenden Staat autonom mittels vernünftiger Annahmen und geschichtslos aufbauen. Der Mensch sieht sich in seiner Kreatürlichkeit und Sterblichkeit; der Andere in seiner Individualisierung entzieht sich uns (gerade wenn er als der Hilfsbedürftige oder Bedrohte uns beansprucht). Die entscheidenden Beziehungen der Menschen sind die asymmetrischen, und erst in diesem primären Bereich zeigen sich die symmetrischen Beziehungen, die dann „Gerechtigkeit" ermöglichen. „Grundsätzlich glauben wir, mit LEVINAS feststellen zu müssen, daß kein apriorisches Gesetz denkbar ist, das mein Verhältnis zum Anderen regelt, weil das Anders-sein STRASSER

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des Anderen nicht a priori bestimmbar ist." (205) Auf der anderen Seite muß festgehalten werden, daß die Betonung der asymmetrischen Beziehung keine Autorität im alten Sinn und vor allem keinen neuen „Feudalismus" fordert. In jedem Fall wird Hegels entscheidendes Lehrstück von der Anerkennung umgeformt, wie STEPHAN STRASSER der Sache nach in weiteren Ausführungen (zu KANT, ZU konkreten Anwendungen) zeigt: wird die „bürgerliche" Rationalität verabsolutiert (oder pervertiert?), dann kann man dem Anderen nicht mehr vertrauen, kann man keine rückhaltlose Güte für ihn haben; es gibt nicht nur nicht mehr das Opfer, sondern auch keinen Raum mehr für das geschichtlich Neue und jenseits der „antagonistic Cooperation" nicht den wirklichen „Frieden". Sucht man eine Zukunft jenseits jener „Bürgerlichkeit", die im Mittelalter begann und sich schließlich in sich selber verfing, dann fragt es sich, wie man die Geschichte, aus der wir unmittelbar herkommen, überhaupt auffassen und gliedern soll. STEPHAN SKALWEIT macht darauf aufmerksam, daß die Geschichtswissenschaft sich zwar heute noch in ihrer Organisation als Fachdisziplin an der alten humanistischen Trias „Altertum - Mittelalter - Neuzeit" orientiert, daß das dreigliedrige Epochenschema von der historischen Forschung selber aber mehr und mehr relativiert worden ist. Die Zweifel am Fortbestand der europäischen Gesamtkultur, wie der Erste Weltkrieg sie hervorrief, haben die historische Forschung noch nicht entscheidend berührt; nach dem Zweiten Weltkrieg konnte man die Gegenwartserfahrung aber immer weniger mit dem Kontinuum neuzeitlicher Geschichte verknüpfen. Ein radikaler Vorschlag sprach von einer Geschichte Alteuropas, die sich vom zwölften Jahrhundert bis zum Ende des 18. Jahrhunderts durchziehen und so zur Epochenschwelle der politischen und industriellen Revolution führen sollte. Stärker durchgesetzt hat sich der Versuch, in einer Auflockerung der Dreigliederung das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit zu einer Epoche zu verklammern. SKALWEIT erörtert die damit entstandenen Fragen, indem er jene Leitbegriffe überprüft, die für den Beginn der Neuzeit stehen; Renaissance, Zeitalter der Entdeckungen, Reformation, der moderne Staat. Der Begriff der Renaissance ist als literarisches Modewort noch in Hegels letzten Lebensjahren in den französischen Sprachgebrauch eingedrungen; JULES MICHELET hat die Renaissance dann als Periode vom finsteren Mittelalter abgegrenzt und sie mit ihrer Entdeckung des Menschen und der Welt vorverweisen lassen auf die Ideale der Aufklärung; JACOB BURCKHARDT hat die antiromantische Verteidigung des romanischen Humanismus gegeben. Der Gegenschlag trat schon zusammen mit der Apotheose des Renaissance-Menschen durch NIETZSCHE auf; doch der neuromantische Verweis etwa auf FRANZ VON ASSISI konnte BURCKHARDTS Bild nicht entscheidend umformen. Dann aber folgte „the Revolt of the Medievalists": nicht eigentlich in einer Revolution ähnlich der Zuwendung zum Mittelalter oder aber der Gegenbewegung BURCKHARDTS, sondern in geduldiger Kleinarbeit wies man auf die Kontinuität hin, entdeckte die Karolingische Renaissance, die Renaissance des 12. Jahrhunderts usf. Prüft man die Frage, wieweit die Renaissance die

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Naturwissenschaften und die Wirtschaft vorwärts gebracht habe, so muß man in beiden Fällen zurückhaltend oder gar herabmindernd urteilen: sicherlich stand nicht einfachhin ein rückwärtsgewandter Humanismus gegen die neue naturwissenschaftliche Forschung, aber die Renaissance liegt zwischen dem wegbereitenden Nominalismus des 14. Jahrhunderts und dem 17. Jahrhundert als dem Heroenzeitalter der modernen Naturwissenschaft. Mag uns die Renaissance eine neue Kostspieligkeit im Lebensstil und großes Mäzenatentum vor Augen führen: die entscheidende Wende von einer Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft geschah schon im 13. Jahrhundert. Bestehen bleibt, daß der Humanismus der Renaissance damit begann, sich von einem „Mittelalter" abzugrenzen und im Rückgriff auf die Antike eine neue Zeit zu suchen. Die Humanisten freilich, die sich mit dem Stadtpatriziat, dem Fürstentum und den Universitäten verbinden, stellen sich in jedem Land anders dar; ERASMUS verkörpert geradezu die Loslösung vom italienischen Mutterland. Mag man den Florentiner Humanismus als civic humanism beschreiben, so verbietet sich doch das verschwommene deutsche Wort „bürgerlich", da es verschiedene Formen von Stadtsässigkeit deckt. In jedem Fall ist die politische Geschichte Europas, die aus spätmittelalterlichen Grundlagen erwächst, wie auch das religiöse Leben mit der Reformation nicht durch den Geist der Renaissance bestimmt. So bezeichnet man mit „Renaissance" heute eine Periode, die der europäischen Kultur einen Vorrang gegenüber anderen Kulturen bringt. Die eigentlichen Renaissance-Tendenzen sind in dieser Periode aber nur eine Kraft, und so verträgt die Periodenbezeichnung „Renaissance" neben sich andere Bezeichnungen. Als „Renaissance" versteht man heute am ehesten eine Epoche des Übergangs, die vom 13. Jahrhundert bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts reicht. In jedem Fall ist die schroffe Abgrenzung vom Mittelalter, die der Renaissance selbst entstammt, und damit der ursprüngliche Sinn der Dreiteilung der Geschichte in dieser Wortverwendung wieder aufgegeben. Mit der gleichen Genauigkeit und Intensität geht SKALWEIT dann der Rede vom „Zeitalter der Entdeckungen" nach; in diesem Zusammenhang bekommt auch die philosophische Erdkunde des Hegelianers KAPP ihren Ort angewiesen. Das dritte Kapitel über „Das ,Morgenrot' der Reformation" spielt schon im Titel auf eine Hegelsche Formulierung an. Machte RANKE als Historiker das Wort „Reformation" und dazu das Wort „Gegenreformation" zu einem Periodenbegriff, so sah ERNST TROELTSCH die „moderne Welt" erst nach dem „konfessionellen Zeitalter" mit der Aufklärung beginnen. Das vierte Kapitel über den „modernen Staat" geht direkt von einem Begriff aus Hegels Schrift über die Verfassung Deutschlands aus. Heute freilich erscheint der „moderne Staat" schon als etwas hinter uns Liegendes, doch stellt man ihm einen frühmodernen Staat voraus, so daß der Herbst des Mittelalters aus der Sicht der Verfassungsgeschichte wieder zum Frühling der Moderne werden kann. Blickt man zurück auf die Weise, wie Hegel selbst sich und sein Denken in die Geschichte einordnete und Geschichte verstand, dann kann man nicht davon ab-

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sehen, daß Hegel im Laufe seines Lebens durchaus unterschiedlichen Konzeptionen folgte. Man darf nicht vergessen, daß der Gymnasiast Hegel noch in der vorrevolutionären Welt Europas und Altwürttembergs aufwuchs, daß der Student mit seinen Freunden noch Neresheim besuchte, wo als letzter Ausläufer barocker Kunst nach Plänen von BALTHASAR NEUMANN die Kirche des Benediktinerklosters (als eines Reichsstifts) zu Ende gebaut wurde. Innerhalb der Wirkungsgeschichte der Renaissance, von WINCKELMANN her bezog der junge Hegel mit seinen Freunden aber in einem radikalen Bruch die gesuchte eigene Zukunft zurück auf das Vorbild der Griechen; diese spezifisch deutsche Sicht konnte teilweise Zusammengehen mit der Berufung französischer Revolutionäre auf antike Vorbilder. Der junge Hegel kritisierte in einem historischen Fragment aber, daß die mittlere Geschichte von Mittel- und Oberitalien nicht die Geschichte eines Volkes sei, sondern eher die Geschichte von Individuen und Geschlechtern; die Rechtsgelehrsamkeit habe sich in Bologna gerade deshalb so früh erhoben, weil die kaum geborene politische Freiheit wieder verloren ging. Das heißt, daß der junge Hegel von seinen Voraussetzungen aus gerade als Verfall ablehnt, was man später als die europäischen Errungenschaften der Renaissance vorstellte. Bei den Reformatoren fallen dem jungen Hegel vor allem die traurigen Streitereien ein, dem DESCARTES wird im Zuge des Neuspinozismus vorgeworfen, er lasse wegen seiner unangemessenen Entgegensetzung von Ausdehnung und Denken die Natur nicht als Leben sehen. In Jena forderte Hegel in der Nähe SCHELLINGS für Kunst und Religion jene „Katholizität", die er in der griechischen Kunstreligion und im Mittelalter etwa in DANTES großem Gedicht findet. Freilich hatte schon die Beschäftigung mit der Verfassung seines Heimatlandes Württemberg und dann der Blick auf die Schweizer Geschichte gelehrt, daß seit dem 14. Jahrhundert die Selbstverwaltung der Städte und die Korporationen von den Fürsten mehr und mehr zur Festigung der neuen Territorialstaaten mittels der repräsentativen Verfassung genutzt wurden. „Alle modernen Staaten", so hielt Hegel gegen die Ansprüche der Parteigänger von SIEYES fest, bestehen durch die Repräsentation, die also nicht eine „Erfindung" der neuesten Zeiten ist, aber als dritte weltgeschichtlicheJVerfassungsform zum orientalischen Despotismus und zur antiken Republik [tritt. Die Tätigkeit innerhalb der Schulreform in Bayern lehrte Hegel, sich in einem positiven Sinn auf den Protestantismus zu berufen und in den Universitäten die Kirchen der Protestanten zu sehen. So konnte Hegel in seinen Berliner Vorlesungen sowohl in DESCARTES den philosophischen Beginn der Neueren Zeit finden wie ein neues positives Verständnis der Reformation aufbauen. Dabei war die Reformation für ihn aber nicht die Morgenröte, sondern schon der Sonnenaufgang; die Morgenröte, „die nach langen Stürmen zum ersten Male wieder einen schönen Tag verkündet", das sind die Blüte der schönen Künste im späten Mittelalter, die Wiederherstellung der Wissenschaften durch das Studium des Altertums, die Entdeckung der Seewege nach Amerika und Ostindien. Als die Vereinigten Niederlande zu Hegels Entsetzen nicht zuletzt auf Grund des konfessionellen Pro-

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blems wieder auseinanderbrachen, revidierte Hegel seine Auffassung, das konfessionelle Problem sei durch die Toleranzpolitik von JOSEF II. und NAPOELON erledigt worden; mit neuem Akzent bekannte er sich als Lutheraner. Dabei war FRIEDRICH DER GROSSE, nun aufgefaßt als Vertreter einer neuen Staatsräson, für Hegel zugleich der vorbildliche Christ; die Anstöße der Aufklärung blieben bei Hegel unvergessen. Mag Hegel auch an das Ende seiner Enzyklopädie in vielsagender Weise einfach ein Zitat aus der Gotteslehre der ARisxoTELischen Metaphysik gestellt haben - seine Philosophie, die die Substanz als Subjekt fassen will, ist nicht zu verstehen ohne die Anstöße, die sie aus jener Geschichte empfing, die im sog. Mittelalter begann und über die Französische Revolution zu dem Umbruch führte, in dem wir heute stehen. Wenn der junge Hegel mit seinen Freunden so gern vom „Gemeinsinn" sprach, dann hätte er eigentlich den civic humanism von Florenz schätzen müssen; daran hinderte ihn das Ideal der antiken Polis. (Anfang 1818 gab Hegel SAVIGNYS Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter als für ihn nicht interessant an die Buchhandlung zurück; er hat sich mit SAVIGNYS - unhaltbarer - These wohl nicht näher beschäftigt, in der Verfassung der mittelalterlichen italienischen Städte zeige sich eine Kontinuität von der spätrömischen Munizipalverfassung her; überhaupt betonte er die germanischen Wurzeln des modernen Rechts.) MACHIAVELLI wurde von Hegel im Gefolge HERDERS „romantisch" verstanden, nämlich aus seiner Verfallszeit heraus und von dem Aufruf zur Einigung Italiens am Ende des Buches vom Fürsten her. In der Philosophie der Weltgeschichte sagt Hegel von der Peterskirche, daß sie aus Ablaßgeldern und so durch die Ausplünderung der Christenheit gebaut worden sei: „Aber wie das Kunstwerk aller Kunstwerke, die Athene und ihre Tempelburg zu Athen, die von dem Gelde der Bundesgenossen Athens aufgerichtet wurden, das Unglück Athens machten und diese Stadt um ihre Bundesgenossen und ihre Macht gebracht haben, so wird die Vollendung dieser Kirche des heiligen Petrus, deren Kuppel MICHEL ANGELO gewölbt hat, der Maler des Jüngsten Gerichts in der Sixtinischen Kapelle, zum Jüngsten Gericht für den stolzen und höchsten Bau der Hierarchie." (874) In der Tat gehörte schon der Florentiner Humanismus in eine zwiespältige Situation; Italien, in sich zerteilt und machtlos, brachte über den Handel neue Tendenzen in das gemeinsame Leben; die Bürger traten in ihren Städten mit dem Adel zusammen und bildeten die sich selbst verwaltenden Gemeinden, die dann freilich auch neue Herrscher bekamen. Bald brachte die Florentiner Akademie das Gift PLOTINS ein und gab so dem Humanismus eine Wendung zur Kontemplation procul negotiis. Als Spanien, Frankreich und das deutsche Reich sich um Italien stritten und der Islam Europa vom Osten abschnürte, entfaltete man das neue Ideal des Cortegiano. Rom bekam seine Stunde: in der Farnesina und in der Stanza della Segnatura, überhaupt in jedem Porträt, sofern dieses im Individuum die „Idee" sah. WOLFFLIN hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Hochrenaissance Adjektive wie „grande" und „divino" mit Menschen wie Dingen verband. RAFFAEL stand dafür ein.

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daß die Nachahmung der Antike die Antike wirklich zu übertreffen vermochte. SAVONAROLA aber sah, daß Italien an religiöser Unentschiedenheit zugrunde ging, und MACHIAVELLI sagte aus ganz anderer Perspektive das Gleiche. Der brutale Sacco di Roma wurde auch in Rom selbst als Strafgericht aufgefaßt; die Gegenreformation suchte stärkere religiöse Bindungen. Doch TASSO verherrlichte den Helden ebenso wie den Hirten. Die Adelsideale hatten über den neuen Bürger gesiegt, aber man floh nun zugleich zur Idylle; das Ganze war dann eher eine Spiegelung in nervösen Dichterseelen und in feingestimmten Frauen als Bewältigung der Wirklichkeit. Die neuplatonische Philosophie wurde auch außerhalb Italiens weiterentfaltet; der Cortegiano wurde zum Gentleman und zum Honnete homme. Diese Dinge konnten den jungen Hegel von SHAFTESBURY her erreichen und sich mit dem Aufbruch WiNCKELMANNS Verbinden. In seinen Frankfurter Jahren entfaltete Hegel mit HöLDERLIN einen ästhetischen Platonismus und Neuspinozismus. Da uns vom Frankfurter Hegel eine rhythmisierte Ansprache zu einer kirchlichen Feier für Prinzessinnen erhalten ist, dürfen wir vermuten, daß Hegel aushilfsweise neuspinozistische Predigten gehalten hat - die Freiheit der Handelsstadt und Hegels Verwandter, der Hauptpfarrer HUFNAGEL, machten so etwas möglich. In Hegels Frankfurter Niederschriften beten Liebende zu Apoll und Venus so, wie Iphigenie in GOETHES Drama und GOETHE in seinen Briefen an Frau VON STEIN weltfromm zu den Mächten des Lebens beten. Als Hegel aber an der Universität Jena unter dem Patronat des Kultusministers GOETHE stand, sagte er den Hoffnungen auf eine Erneuerung des Lebens durch eine neue Kunst und eine neue Mythologie ab. In seinen Berliner Vorlesungen über Ästhetik brachte Hegel sogar Bedenken gegen GOETHES Tasso vor. Die Leistung GOETHES, als Patriziersohn und als Stürmer und Dränger mit dem alten Adel zusammenzugehen und dem Minister und dem Dichter in sich zugleich Recht zu geben, führte nach Hegel nur zu einem fragwürdigen Drama, „in welchem einerseits die Aussöhnung mit Antonio mehr nur eine Sache des Gemüts und der subjektiven Anerkennung ist, daß Antonio den realen Lebensverstand besitze, der dem Charakter Tassos abgeht, andererseits das Recht des idealen Lebens, welches Tasso im Konflikt mit der Wirklichkeit, Schicklichkeit, dem Anstande festgehalten hatte, vornehmlich nur subjektiv im Zuschauer Recht behält, und äußerlich höchstens als Schonung des Dichters und Teilnahme für sein Los hervortritt" (Werke. Bd 10, Abt. 3, 506, 539) NIETZSCHE hat schon in seinem Nachlaßtext „Zukünftiges. - Gegen die Romantik der großen ,Passion'" die Problematik der deutschen „Klassik" klar herausgehoben: „Es ist eine heitere Komödie, über die erst jetzt wir lachen lernen, die wir jetzt erst sehen: daß die Zeitgenossen HERDERS, WINCKELMANNS, GOETHES und Hegels in Anspruch nahmen, das klassische Ideal wieder entdeckt zu haben... und zu gleicher Zeit SHAKESPEARE! Und dasselbe Geschlecht hatte sich von der klassischen Schule der Franzosen auf schnöde Art losgesagt! als ob nicht das Wesentliche so gut hier wie dorther hätte gelernt werden können!... Aber man wollte die ,Natur', die ,Natürlichkeit': o

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Stumpfsinn! Man glaubte, die Klassizität sei eine Art Natürlichkeit!" Hegel sah nach 1803/04 in der griechischen Kunstreligion gerade nicht mehr die „Naturreligion", sondern gab diesen Titel den orientalischen Religionen. Blickt man auf Hegels Bildungsweg, dann sieht man ihn von Anfang an einer bürgerlichen Rationalität folgen, die ohne die starke italienische Mischung mit dem Ideal des Cortegiano in den nordeuropäischen Städten entfaltet worden ist, wo die Gewerbe- und Handeltreibenden am Rande der Städte sich ansiedelten und sich dann im Schutz des Fürstentums und im Bund mit diesem entfalteten. Die Schrift über die Verfassung Deutschlands entwickelt das Problem einer repräsentativen Verfassung vor allem aus den Wegen und Irrwegen der französischen und der deutschen Geschichte. Wenn Hegel mit FERNOW, der aus Rom zurückkam, Gespräche führte, dann konnte er sich mit ihm in der Überzeugung treffen, daß entgegen WINCKELMANNS und GOETHES Hoffnungen die Zeit RAFFAELS nicht wiederkehre. Die Reise nach Italien, die Hegel in Jena plante, kam nicht zustande (denn inzwischen wurde Rom von NAPOLEON ausgeplündert). Manche Motive des italienischen Humanismus blieben Hegel überhaupt fremd. Vom „ciceronianischen Philosophieren" schrieb Hegel im Dezember 1812 seinem Freund NIETHAMMER, es sei für ihn, der PLATON dialektisch und spekulativ auffasse, eigentlich wider seine Natur; gegenüber PETRARCA kann Hegel in seiner Ästhetik die Ironie nicht lassen. DANTE wurde deshalb seit den Jenaer Jahren ausgezeichnet, weil er mit seiner figuralen Allegorese auf dem Weg zur Geschichte war, die sich aus der „Realität der Existenz" erhebt (was ERICH AUERBACH dann verifiziert hat). Diese Realität findet Hegel aber auch in der nordeuropäischen Malerei: der Berliner Hegel beteiligt sich an den Pilgerfahrten nach Gent und Brügge, wo das Bürgertum seinen Bund mit den Fürsten den Anfängen nach in den lange vergessenen Bildern gestaltet fand. SCHINKEL hatte von diesen Bildern gesagt, „daß sie eine ganze Welt aufschließen, nicht wie andere Gipfelmeisterstücke eine ganze Welt abschließen". Hegels Auffassung war eher, daß die Form der Kunst einen letzten Nachglanz eines größeren und adäquateren griechischen Glanzes gebracht habe, das dargestellte Substanzielle aber in anderer Form zu bewahren sei - in politischer Rationalität sowie in Wissenschaft und Philosophie. Leider sind die Erfahrungen und Optionen, denen Hegel folgte, durch die Geistesgeschichte verdeckt worden, die ja immer selektiv verfährt und damit Bestimmtes dem Vergessen anheimgibt. Zwar ist auch der junge Hegel - nach anfänglich anderen Plänen - den Weg nach Jena gegangen; die entscheidenden Erfahrungen seiner Jugend hat er aber in Württemberg gemacht, wo die theologischen Fragen noch ernst genommen wurden, und in der Handelsstadt Frankfurt, in der man unmittelbar die Folgen der Französischen Revolution zu spüren bekam. Die Klassik in Weimar wurde dagegen im Schutz des Baseler Friedens in einem relativ unpolitischen Raum aufgebaut; die Jenaer Romantik war für Hegel ein „literarischer Saus". Wenn die Geistesgeschichte sich gemäß langer Tradition an dem Weg von Weimar nach Jena (und dann nach Heidelberg) orientiert, dann

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verkennt sie die Eigenart dessen, was sich damals in den westdeutschen Zentralen (Mainz, Frankfurt, Düsseldorf) getan hat. Als Hegels Philosophie in Berlin einen gewissen politischen Einfluß bekam, war Hegel nach Preußen gegangen, um - vielleicht gar als Präsident der Akademie - dem neuen Staat über die Bildung eine innere Einheit geben zu helfen. Auf diese Weise sollten die Reformen fortgesetzt werden; die Frage ist nur, wie Hegel diese Reformen sah. Sicherlich ging er davon aus, daß nach dem Scheitern einer Erneuerung des alten Reiches Frankreich den Anstoß für die Reformtätigkeit in den Rheinbundstaaten gab und diese Tätigkeit sich dann auch in Preußen fortsetzte. Das Königreich Westfalen war auch für Hegel eine kurze Zeit ein „Modellstaat" gewesen; wenn Hegel an NIETHAMMER schrieb, dessen Bemühungen in Bayern hätten nach Gott und NAPOLEON am meisten dem Minister MONTGELAS ZU danken, dann verknüpfte er die Reformtätigkeit mit Anstößen der Aufklärung. So konnte er sich in Berlin auf der Seite HARDENBERGS wissen, während der Freiherr VOM STEIN eher fremd blieb (obgleich Hegel MöSERS Schriften besaß). Engeren Anschluß fand Hegel allein an die Gruppe um den Minister VON ALTENSTEIN, der auch nach dem Verfassungsstreit als einziger Reformer in der Regierung blieb. Solange man die preußischen Reformen nur als Vorklang der Freiheitskriege und nicht als Parallele zu den Reformen in den Rheinbundstaaten sieht, wird man Hegels Sicht der Dinge sich nicht aneignen können. Man muß auch endlich zur Kenntnis nehmen, daß Hegel seine Rechtsphilosophie zur Zeit der hektischen Verfassungsdiskussionen in Baden erstmals vortrug und dabei - im Winter 1817/18 - so gut wie alle Einzelheiten der späteren Systematik ausarbeitete. In dieser Rechtsphilosophie geht Hegel davon aus, daß der Einzelne sich durch seine Leistung und gemäß dem Prinzip der freien Berufswahl seinen Platz in der arbeitsteiligen „bürgerlichen" Gesellschaft bestimmt und dann über die Repräsentation an der Verwaltung der Macht partizipiert; der Adel, der vom Eigentumserwerb freigestellt und deshalb nicht erpreßbar ist, kann in dem neuen Repräsentationssystem zeigen, was eine unabhängige Vertretung politischer Interessen ist (so bekommt er eine eigene Kammer). Hegel ordnete sich selbst wie selbstverständlich in das damalige Preußen ein: während seine Frau als Nürnberger Patriziertochter und etwa sein Assistent LEOPOLD VON HENNING als Adeliger „Hochwohlgeboren" waren, blieb Hegel „Wohlgeboren". (Nur einige Freunde und Schmeichler nannten ihn „Hochwohlgeboren"; der Minister VON ALTENSTEIN gebrauchte diesen Titel nur einmal, als Hegel ihm zum Tode der Schwester einen großen Kondolenzbrief geschrieben hatte; anschließend fiel der Minister gleich wieder in das amtlich korrekte „Wohlgeboren" zurück.) Hegel brauchte aber noch nicht wie THEODOR MOMMSEN in seiner berühmten Testamentsklausel von 1899 zu schreiben: „Politische Stellung und politischen Einfluß habe ich nie gehabt und nie erstrebt; aber in meinem innersten Wesen, und ich meine, mit dem Besten was in mir ist, bin ich stets ein animal politicum gewesen und wünschte ein Bürger zu sein. Das ist nicht möglich in unserer Nation, bei der der Einzelne,

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auch der Beste, über den Dienst im Gliede und den politischen Fetischismus nicht hinauskommt." Mit seinem „bürgerlichen" Stand wußte Hegel sich durchaus auf einer aufsteigenden Linie. Kaum jedoch hat er die explosiven Kräfte gesehen oder ernst genommen, die in dieser Linie verborgen waren. Den Begriff des Humanismus konnte Hegel sich von daher zueignen, wo er erstmals gebraucht wurde - aus NJETHAMMERS bekannter pädagogischer Programmschrift. (Nur die Rede vom Humanisten war dem 16. Jahrhundert schon geläufig.) Während Hegel unter NIETHAMMER als Gymnasialdirektor und Schulrat arbeitete, sah er aber, daß die „Ideale" der griechischen Kunst und Dichtung (und der christlichen Religion) durchaus die Jugend erziehen können, da diese auf Ideale ausgerichtet ist; so muß die Bildung im Gymnasium humanistisch sein. Die Einweisung in die partikularen Aufgaben der bürgerlichen Gesellschaft wird dann von der Universität gegeben, an der die Altphilologie nichts als eine Spezialdisziplin ist, die sich mit „Niaiserien" beschäftigt. Wenn Hegel mit seiner Schule von Berlin aus das Bündnis mit GOETHE in Weimar suchte, dann unterstellte er (was GOETHE auch gesehen hat), daß der Sphäre der Kunst und damit den leitenden Tendenzen GOETHES letztlich doch nur eine untergeordnete Rolle zuzuweisen sei. Gegenüber einigen bedeutenden Kollegen suchte Hegel die klare Abgrenzung. SCHLEIERMACHERS Monologen hat er nie geschätzt, und wenn SCHLEIERMACHER 1830 abends über die Confessio augustana predigte, dann legte Hegel vormittags als Rektor dar, daß die Ansichten, wie SCHLEIERMACHER sie vertrat, unangemessen seien. Offenbar war Hegels Bekenntnis, ein Lutheraner zu sein, auch eine Abgrenzung gegenüber SCHLEIERMACHER (den Hegel gern als den anonymen Verfasser der Briefe über die Lucinde mit FRIEDRICH SCHLEGEL in Wien zusammenbrachte). Nicht ohne Grund besuchte Hegel AMMON in Dresden (mit dem er, wie mit HUFNAGEL in Frankfurt, verwandt war). Vielleicht darf man sogar sagen, daß Hegel mehr und mehr die tatsächliche (nicht die eigentlich gesuchte) Wirkung LUTHERS sanktionierte; nach dem Wormser Reichstag mußte LUTHER ja mit großer Bitterkeit erkennen, daß er die deutschen Länder durchaus nicht durch seine eigentlichen Gedankengänge aufgeweckt hatte. Nur einige Fürsten folgten ihm und suchten das Bündnis mit dem Stadtbürgertum und einer Universität wie Wittenberg; der Adel und die Bauern verloren in den damaligen Vorgängen sowieso eine mitentscheidende Rolle. Die erneuerte Religion wurde zur Landesreligion von Territorialstaaten. Wenn Hegel gegen Ende seines Lebens in diesem Vorgang offenbar einen guten Sinn sah, so suchte er doch die konkrete Religion durch eine allgemeingültige Spekulation zu überbieten. Das neu sich anbahnende Bündnis des Staates mit der Spekulation, das war das, was SCHLEIERMACHER fürchtete und ihn von seinen Voraussetzungen aus nötigte, einen spekulativen Philosophen aus der Akademie als einer geselligen Vereinigung von Gelehrten fernzuhalten. Während Hegel sich von SCHLEIERMACHER sofort abgrenzte (um von SAVIGNY zu schweigen), suchte er offenbar immer das Bündnis mit WILHELM VON HUMBOLDT. Seinen Studenten sagte er in seiner Ästhetik-Vorlesung, er würde, wenn er Präsi-

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dent der Akademie wäre, Monumenta nationum sammeln (also nicht Monumenta Germaniae Historica, sondern die „Bibeln" aller bedeutenden Völker). Als HUMBOLDT nach seinem Abschied aus der Regierung langsam wieder rehabilitiert wurde und dann auch den endgültigen Gründungsakt des Berliner Museums vollziehen durfte, schrieb Hegel 1827 in seiner HuMBOLor-Rezension von einer Edition der Veden: „Welcher Gelehrte oder vielmehr welche Regierung wird uns einst dies Geschenk machen?" Trotzdem hat Hegel über die Tätigkeit von JOHANNES SCHULZE daran mitgewirkt, daß die Bildungsreform in Preußen nicht in dem ursprünglichen Sinn HUMBOLDTS und der „aristokratischen Kette" (H. LEO) fortgesetzt wurde. Müssen wir darin eine Zerstörung sehen oder können wir darin auch die Einsicht finden, daß die Erziehung das partikuläre Wirken in der arbeitsteiligen Gesellschaft im Auge behalten muß, HUMBOLDTS „Humanismus" eine Illusion war, die den Menschen nicht in der rechten Weise sieht? Der „Humanismus" ist sicherlich so vielschichtig wie die „Bürgerlichkeit"; NIETHAMMERS Humanismus war nicht der Humanismus SCHLEIERMACHERS oder HUMBOLDTS. Wir heute können uns durch die damaligen Fronten überhaupt nicht mehr bestimmt sehen. Die zitierte Position von E. LEVINAS erinnert uns ja daran, daß es z. B. auch einen „hebräischen" Humanismus gibt, der das platonisch-neuplatonische „Jenseits des Seins" mit der Andersheit des Anderen, vor allem der Hilfsbedürftigkeit des Fremden, der Witwe, der Waise verbindet und damit weder von HUMBOLDT noch von Hegel her (noch als bloße Ethik von Randgruppen) begrifflich aufgearbeitet werden kann. Wenn Hegel in Berlin zusammen mit JOHANNES SCHULZE eine HöLDERLiN-Edition unterstützen wollte, dann blieb HöLDERLIN trotzdem mit seinem eigentlichen Anliegen vergessen und mit der letzten Position, zu der er fortgeschritten war, unbekannt. In dem späten Fragment Griechenland läßt HöLDERLIN ja die Erde wie eine Trommel auf die Gewitter des Himmels antworten; Gott ist jedoch nicht nur der verborgene, der endlich ganz offenbar werden muß, sondern der sich verbergende. Mochte Hegel sich als Lutheraner bekennen und über die dogmatischen Unterschiede hinwegsehen, so bestimmen hier offenbar genuin lutherische Gedanken das Dichten HöLDERLINS (wie auch immer sie an HöLDERLIN gekommen sein mögen). Während wir uns nach LUTHER jedoch gerade deshalb ohne „Dank" an das Wort halten müssen, weil Gott der Verborgene ist, kommt dieses Wort bei HöLDERLIN in Bewegung - Gott deckt mit wechselnden Gewändern (den Mythologien) sein Antlitz, denn er ist der Schreckliche, der erst erträglich werden muß. Wenn man schon HöLDERLIN als den exzessivsten Vertreter des Humanismus der GoETHEzeit ausgibt, dann sollte man auch diese seine letzten Gedanken ernst nehmen, die den „Idealismus" im ganzen durchbrechen. Otto Pöggeler (Bochum)

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Kyriakos M. Kontopoulos: Knowledge and Determination. The Transition from

Hegel to Marx. Amsterdam: Grüner 1980. 135 S. Czeslaw Prokopczyk: Truth and Reality in Marx and Hegel. A Reassessment.

Amherst: The University of Massachusetts Press 1980. 132 S. Beide Abhandlungen verfolgen das Ziel, mit Hilfe Hegels marxistische Gegensätze und Ambiguitäten aufzuklären, zur originären Problematik der MARXschen Theorie zurückzufinden und ihre eigenen Unklarheiten auszuräumen. MARX habe Hegels Konzeption der Determination (KONTOPOULOS) und seine Konzeption der Wahrheit (PROKOPCZYK) übernommen. Nur wenn man dieses Erbe ins Bewußtsein hebe, könne man Klarheit in beiden Problembereichen gewinnen. Für K. M. KONTOPOULOS ist die MARxsche Theorie vage und unvollständig. Sie verlange nach Erläuterung, Vervollständigung oder Korrektur, insbesondere hinsichtlich der Frage nach der Determination des Wissens. Ein Verständnis dieser Determination sei jedoch nur möglich auf der Grundlage einer Analyse der Determination im allgemeinen, speziell im semantischen Kontext des Übergangs von Hegel zu MARX. In der Geschichte des Marxismus seien drei Tendenzen wirksam geworden, die sich dieser Aufgabe stellten: 1. eine „naturalistische" Tendenz, der neben ENGELS, KAUTSKY und der II. Internationale auch die „Austromarxisten" zugerechnet werden; diese Position sei naiv und unhaltbar, da sie auf einer mechanistischen Erklärung des Verhältnisses von Sein und Bewußtsein fuße und Theorie und Praxis auf geistige oder körperliche Reaktionen reduziere. 2. eine „historistische" Tendenz im sogenannten „Hegelmarxismus", dem neben LUKäCS und KORSCH auch GRAMSCI und die „Praxisphilosophen" zugeschlagen werden. 3. eine „strukturalistische" Tendenz im „Saussurian-Marxism" (ALTHUSSER und seine Schüler). Sowohl der extreme Historismus als auch der wissenschaftliche Strukturalismus sei falsch; beide müßten vielmehr dialektisch relativiert werden im Rahmen einer nicht-reduktionistischen materialistischen Dialektik. MARX selbst habe eine weichere Position in der Frage nach der Determination von Denken und Handeln durch das gesellschaftliche Sein vertreten als seine „naturalistischen" und „strukturalistischen" Schüler, jedoch eine härtere Position als die marxistischen „Historisten". Dies werde deutlich, wenn man prüfe, welche Elemente der Hegelschen Theorie er wirklich übernommen oder verworfen habe. KONTOPOULOS unterscheidet vier generelle Typen mit jeweiligen „subcases" der Determination bei Hegel (25 ff): A. „transcendent determination" (des Seins im allgemeinen); B. „extensional determination" (des natürlichen Bewußtseins); C. „intensional determination" (des Selbstbewußtseins oder des Geistes); D. „The indeterminateness or Open Determination of Reason" (der Vernunft). Von diesen Typen habe MARX auf der Basis seiner materialistischen Wendung die ersten beiden gänzlich übernommen, mit allen Hegelschen „subcases" (37). Vom dritten Typus habe er einige Formen akzeptiert und der vierte sei in Gestalt von „transhistorical determinations" zu besonderem Ansehen in seiner Theorie gelangt. Die Gemeinsamkeiten

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eines materialistisch interpretierten Hegel mit MARX seien daher - im Gegensatz zur strukturalistischen Auffassung ALTHUSSERS - wichtiger und substantieller als die Differenzen (48). Von dieser Position aus formuliert KONTOPOULOS dann eine marxistische Theorie der Determination (72 ff) und Prolegomena einer „strukturalen Dialektik" (96 ff). C. PROKOPCZYK ist bestrebt, die Beziehung von MARX ZU Hegel neu zu fassen - im Blick auf die Idee der Wahrheit. Er stellt sich - ausgehend von ENGELS' Thesen über die philosophischen Quellen des Marxismus in seiner „Feuerbachschrift" - die Frage, warum die marxistische Diskussion stets und immer wieder auf das „klassische" Konzept der Wahrheit (Übereinstimmung von Denken und Realität), wie es die Tradition von ARISTOTELES über THOMAS bis hin zu LOCKE beherrschte, rekurrierte, obwohl doch MARxens praktisches Wahrheitsverständnis, das in der Philosophie Hegels wurzele, davon grundsätzlich verschieden sei. Die herrschende marxistische Wahrheitskonzeption sei eine Mischung aus beiden Doktrinen, der klassischen und der Hegel-MARxschen. Nur deshalb sei es möglich gewesen, daß sich zwei diametral entgegengesetzte Positionen herausbildeten, von denen die eine ihre Zuflucht nahm zur sogenannten „objektiven Realität" mit ihrer objektiven Notwendigkeit und ihren unverletzbaren Naturgesetzen, während die andere ihre Zuflucht suchte in letzten Gründen, wie Veränderung, Revindikation der Würde des Menschen u.ä.. Diese Spannung zwischen Objektivismus und Subjekhvismus zeige sich in der Kontroverse zwischen KAUTSKY und LENIN, in LUKäCS' Kritik des „Austromarxismus" und in GRAMSCIS Kritik an BUCHARIN. Um Klarheit in diese Problematik zu bringen und MARxens praktisches Wahrheitsverständnis freizulegen, empfiehlt PROKOPCZYK den Rekurs auf Hegels Wahrheitskonzeption (69 ff), nach der die Denkbestimmungen, die sich aus sich selbst bewegen, den Maßstab ihrer Wahrheit in sich selbst tragen und sich in ihrer Emergenz in Übereinstimmung mit der äußerlichen Realität bringen. Diese Konzeption sei von MARX natürlich nicht in idealistischer Gestalt übernommen worden, sondern wurde materialistisch umgekrempelt. Die Vernunft konnte in seiner Theorie nicht länger ihren ontologischen Status beanspruchen und büßte ihre aparte Existenz ein. Dennoch habe er an Hegels Grundkonzept festgehalten, daß die Wirklichkeit nach dem Maßstab der Vernunft beurteilt werden könne. Übereinstimmung von Vernunft und Wirklichkeit könne ihm zufolge letztlich nur durch die praktische Verwirklichung des menschlichen Denkens erreicht werden. Indem der Marxismus aber die Denkbestimmungen und Begriffe als mehr oder weniger adäquate Reflexion und Funktion der sozialen Basis auf einem bestimmten Stand der historischen Entwicklung fasse, unterwerfe er die Autorität der Begriffe der ferneren Explikation und Autorisierung. Der Marxismus sei so eher eine Schranke für die praktische Wahrheitskonzeption als eine wirkliche Domäne ihrer Anwendung (95 f). In dieser Hinsicht habe das Hegelsche Vermächtnis keinen angemessenen Platz in ihm gefunden. Klaus Roth (Berlin)

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Rubel on Karl Marx. Five Essays. Edited by Joseph O'Malley and Keith Algozin. Cambridge University Press 1981. 309 S. Um den französischen MARx-Interpreten MAXIMILIEN RUBEL in den englischen Sprachraum einzuführen, haben J. O'MALLEY, K. ALGOZIN U. a. fünf Essays aus den Jahren 1968-73 aus dem Französischen und Deutschen übertragen. Dabei handelt es sich vornehmlich um Einleitungen oder Nachworte RUBELS ZU von ihm veranstalteten MARx-Editionen. Den Auftakt gibt die schriftliche Ausarbeitung eines Referates, das RUBEL im Mai 1970 in Wuppertal auf einer internationalen Konferenz anläßlich des 150. Geburtstages von F. ENGELS hielt: The ,Marx legend', or Engels, founder of Marxism (15 ff). Mit den darin entwickelten Thesen, erstmals 1972 publiziert, hatte RUBEL seine sowjetischen und ostdeutschen Kollegen verärgert, da er die gängigen Topoi des Marxismus-Leninismus als Ideologie und Mythologie zurückwies und die von ENGELS vollzogene Typologisierung MARxscher Grundpositionen zum „Marxismus" kritisierte. MARX' Name stehe dabei nicht für seine wirkliche Lehre und seinen politischen Kampf, sondern für eine „Ersatzreligion" (23). Nur wenn es gelinge, die von ENGELS ins Leben gerufene Orthodoxie zu durchbrechen, könne man zu einem angemessenen Verständnis und zu einer Würdigung des MARxschen Werkes gelangen. Der zweite Essay, Socialism and ethics (26 ff), ursprünglich Einleitung zu Band 1 und Vorwort zu Band 2 der von RUBEL veranstalteten Edition der Pages de Karl Marx pour une ethique socialiste (1970), führt diesen Gedanken fort. Dank der frühen Schriften MARxens von 1844 46 hätten wir nun ausreichende Informationen für die exakte Definition und Bewertung dessen, was MARX seine „materialistische" Geschichtsauffassung nannte, die nicht mehr länger mit der „proletarischen Weltanschauung" verwechselt werden müsse. Ihre Bedeutung bestehe in der Verbindung der ethischen Postulate des Sozialismus mit den wissenschaftlich erfaßten Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Selbstzerstörung. Der dritte Essay, A history of Marx's ,Economics' (82 ff), untersucht die Genese der politischen Philosophie von MARX. Er erschien erstmals 1968 als Einleitung zu Band 2 der von RUBEL übertragenen und herausgegebenen Economie von MARX und mündet in einen weiteren Seitenhieb gegen ENGELS und die Schöpfung des „Marxismus" (182 ff). Der vierte Essay, The plan and method of the ,Economics' (1973; 190 ff), vertieft die bereits im dritten unternommene Analyse (148 ff) zu den methodologischen Grundlagen und zu den Wandlungen irn Plan der MARxschen Kritik der politischen Ökonomie, der in seinen frühen Formulierungen eine „Kritik der Politik" enthalten habe, die leider nicht mehr ausgearbeitet worden sei. Der abschließende fünfte Essay, A visionary legacy to Russia (230-289), wurde verfaßt als Nachwort zu K. Marx/F. Engels: Die russische Kommune. Kritik eines Mythos (1972). Er versucht, den Gang der russischen Revolution durch das MARXsche Werk selbst zu kritisieren, und kommt damit, wie die anderen Essays, dem Interesse der Herausgeber entgegen, das sich in ihren eigenen Worten dahingehend zusammenfassen läßt: Man will über RUBEL ein MARX-Bild gewinnen, demzufolge

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„propounded neither a philosophy of history nor a scientific Weltanschauung; moreover, he founded no party, school, or movement of either an ideological or a political nature" (O'MALLEY; Introduction, 12). Den Abschluß des Bandes bildet schließlich eine umfassende Bibliographie der Editionen und Schriften von MAXIMILIEN RUBEL (290-296). - Nach der „MARx-Renaissance" in den Sozialwissenschaften der westlichen Länder, die eine kaum noch zu überblickende Fülle an Publikationen über das MARxsche Werk hervorbrachte, die inzwischen jedoch abzuebben scheint, muten die frühen, am Beginn dieser „Renaissance" stehenden Essays des französischen Marxologen RUBEL ein wenig differenzierungsbedürftig an, doch enthalten sie bereits im Keim die meisten Themenstellungen, die für die Diskussion des Marxismus in den folgenden Jahren virulent wurden. Als Anfang einer Rezeption des außerenglischen Schrifttums zu MARX und zum Marxismus durch die englischsprachigen Länder kommt daher der Übersetzung der fünf Essays eine wichtige Bedeutung zu. Klaus Roth (Berlin) MARX

Zwi Batscha: Studien zur politischen Theorie des deutschen Frühliberalismus. Frankfurt/M: Suhrkamp 1981. 338 S. Gegenstand des hier anzuzeigenden Bandes ist die politische Theorie einiger an KANT anknüpfender liberaler Denker, ihre Stellung zur Französischen Revolution und zum Widerstandsrecht sowie ihre Antwort auf die Frage nach der politischen Freiheit. Der deutsche Frühliberalismus, soweit er seine Grundlage in der Transzendentalphilosophie suchte, war weder eine geschlossene Geistesrichtung, noch eine organisierte, permanente Gruppe, sondern entwickelte nur sporadische und partikulare Denkansätze und war nur zum Teil politisch aktiv in Geheimgesellschaften (7, 13 f). Sein Ziel war die konstitutionelle Monarchie, die Verwirklichung der a priori begründeten Menschenrechte mit Hilfe eines aufgeklärten Herrschers. ZWI BATSCHA will jedoch über abstrakte Generalisierungen hinausgelangen und die Vielfalt der verschiedenen, zuweilen divergierenden Ansichten zur Sprache bringen. Seine „Studien" vereinigen sieben Aufsätze aus den Jahren 1972 bis zur Gegenwart, Untersuchungen von unterschiedlichem Umfang und differenter Struktur. Den Ausgangspunkt bildet eine knappe Skizze von 1979 über Bürgerliche Republik und bürgerliche Revolution bei Immanuel Kant (43 ff). Daran schließen sich Aufsätze über Johann Benjamin Erhards politische Theorie (66 ff), über (Karl Leonhard) Reinhold und die Französische Revolution (91 ff), über Ludwig Heinrich Jakobs frühbürgerliches Widerstandsrecht (128 ff) und über Johann Heinrich Tieftrunks Konzept der

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Revolution (163 ff) an. Anhand einer von CHRISTOPH MARTIN WIELAND und MARTIN EHLERS 1792 im Neuen Teutschen Merkur geführten Diskussion zeigt BATSCHA sodann einen Zwiespalt im deutschen Frühliberalismus (233 ff) auf, der einesteils, bei WIELAND und seinem Schwiegersohn REINHOLD, nur an die bürgerliche Freiheit glaubte und die Monarchie zu „humanisieren" strebte, andernteils, durch KANT, FICHTE, EHLERS und ERHARD, politische Freiheit realisieren und die Bürger an der politischen Willensbildung beteiligen wollte, oder aber, wie TIEFTRUNK und JAKOB, eine schwankende Zwischenposition bezog. Den Abschluß des Bandes bildet schließlich eine bereits 1972 publizierte Untersuchung über Die Arbeit in der Sozialphilosophie Johann Gottlieb Fichtes (259-337), die den Wandel der FicHTESchen Arbeitstheorie von der abstrakt-individualistischen, an LOCKE orientierten „Formationstheorie'' von 1793 zu einer liberalen Theorie der gesellschaftlichen Arbeit von 1812 zum Gegenstand hat. In seiner „Einleitung" (7-42) versucht BATSCHA, die verschiedenen Aufsätze und die in ihnen analysierten Positionen miteinander zu verknüpfen und in einen größeren Zusammenhang zu integrieren, indem er die Grundlinien und Grunddifferenzen des deutschen, an KANT anknüpfenden Frühliberalismus skizziert. Die erste umfassende Stellungnahme desselben zum Problem der Revolution hatte TIEFTRUNK in seinem Buch Über Staatskunst und Gesetzgebung (1791) publiziert, zu einer Zeit, da in Frankreich noch die konstitutionelle Monarchie herrschte, da ferner der Meister der Transzendentalphilosophen seine politischen Hauptwerke noch in Arbeit hatte und erst durch einige Artikel zur Aufklärung und Geschichtsphilosophie in der Berliner Monatsschrift politisch Stellung bezogen hatte. Die Kontroversen im deutschen Frühliberalismus seien jedoch entfacht worden, nicht von der BuRKE-Übersetzung von F. GENTZ, sondern von AUGUST WILHELM REHBERGS Untersuchungen über die französische Revolution (1793), die sich um eine eigenständige deutsche konservative Theorie bemühten und damit liberale Antworten provozierten. Erst mit den Reaktionen auf dieses Buch profilieren sich BATSCHA zufolge (8 f) die Differenzen zwischen Konservativen und Liberalen schärfer. „KANT, der Gemäßigte, sucht zu beweisen, daß Aufklärung und Philosophie nicht zur Revolution führen, und verneint jegliches Widerstandsrecht." (8) FICHTE, der Radikale, antwortet mit einem Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution (1793). „Vom abstrakten Ich, dem KANiischen Noumenon, ausgehend, versucht FICHTE, das Recht auf Revolution zu beweisen und, unter rigoroser Adels- und Despotenkritik, Eigentum, Bildung, menschliche Verhältnisse, die bürgerliche Gesellschaft und den Staat nur aus diesem Ich zu deduzieren. In Reaktion auf FICHTES Buch baut dann J. B. ERHARD seine eigene Staats- und Gesellschaftslehre auf, die nicht nur das moralische Recht, sondern auch die Pflicht zur Revolution beinhaltet" (9), und zwar in seinem Buch Über das Recht des Volkes zu einer Revolution (1795). Im Neuen Teutschen Merkur schrieb REINHOLD Über die Teutschen Beurteilungen der Französischen Revolution (1793), einen Artikel, in dem nach BATSCHA seine Wendung vom empirischen zum moralisierenden Denken (102), der

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Rückzug in Innerlichkeit und persönliche Gewissensmoral (101) zum Ausdruck kommt, wodurch sich REINHOLD eindeutig in den konservativen Flügel der Liberalen einreihe (117). Da der seit 1792 erstarkende Konservatismus durch KANT und GENTZ Schützenhilfe erhalten hatte, ließ L. H. JAKOBS anonym seinen Antimachiavel, oder über die Grenzen des bürgerlichen Gehorsams (1794) erscheinen, in dem er zwischen beiden Polen, zwischen Radikaldemokraten (Jakobinern) und Konservativen (Aristokraten) zu vermitteln und das Widerstandsrecht zu begründen suchte. Das Verdienst des Buches besteht in der kritischen Vergegenwärtigung der politischen Theorie einiger (beinahe) in Vergessenheit geratener Denker. Sein Problem besteht in der Komposition von in sich abgeschlossenen Einzelanalysen, die jeweils verschiedene Schwerpunkte setzen (und damit die Wandlungen im Erkenntnisinteresse ihres Autors selbst reflektieren). Dabei ließen sich einerseits Überschneidungen nicht vermeiden, denn die einzelnen Aufsätze bauen nicht aufeinander auf, während andererseits das Gedankengeflecht des deutschen Frühliberalismus auf einzelne Denker, seine Wandlung aber auf die der verschiedenen Einzelpersonen reduziert erscheint. Klaus Roth (Berlin)

Günther Maluschke: Philosophische Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates. Freiburg, München: Alber 1982. 368 S. (Praktische Philosophie.

Bd 16.) Durch systematische Kritik der modernen Naturrechtstheorien und der dialektischen Staatstheorie versucht GüNTHER MALUSCHKE in seiner Tübinger Habilitationsschrift, die philosophischen Grundlagen des demokratischen und sozialen Rechtsstaates aufzubereiten. Er referiert dabei jeweils die Grundkonzepte und Intentionen seiner „klassischen" Vorbilder, um sie sodann mit den Institutionen und Normen der modernen westlichen Demokratien zu konfrontieren, deren Nicht-Begründung als Mangel ihrer Theorien gebrandmarkt wird. Im I. Teil unternimmt er eine dogmengeschichtliche Rückschau auf „Das Erbe der Sozialvertragstheorien" (15-223). Den Einstieg vermittelt THOMAS HOBBES (17-51), der die negative Folie abgibt. Da seine Theorie keine juridischen Begrenzungen der Souveränität zulasse (46), müsse jede Theorie des demokratischen Verfassungsstaates als Widerlegung seines Staatsbegriffes konzipiert werden (51). JOHN LOCKE hingegen (52-68), der zwar die Brüche und neuralgischen Punkte bei HOBBES aufgespürt habe, sehe sich aufgrund seines individualistischen, in privatrechtlichen Kategorien verbleibenden Ansatzes außerstande, den postulierten

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Zweck der bürgerlichen Gesellschaft, den Rechtsschutz der Individuen, naturrechtlich zwingend zu begründen und durch zureichende institutioneile Vorkehrungen abzusichern (67). Die Staatstheorie von J. J. ROUSSEAU (69-106) sei insgesamt „ein grandioser Fehlschlag" (106), da sein Modell einer naturhaft homogenen Willensgemeinschaft, in der die Individualität weitgehend nivelliert sei, alle Formen der politischen Organisation sinnlos werden lasse (87). Ein wenig besser ergeht es I. KANT, dessen „hypothetischer Kontraktualismus und Theorie der Republik" (107-145) nur in der konkreten Durchführung hinter den immanenten freiheitlichen Prinzipien zurückbleibe: „KANTS Idealstaatstheorie, in der dem Volk die Staatsgewalt vindiziert wird, wird durch seine Realbetrachtung, welche die Anerkennung der fürstlichen Souveränität impliziert, wieder desavouiert" (145). Diese „Defizienzen" will MALUSCHKE jedoch als zeitbedingte Phänomene werten, die den normativen Kern seines freiheitlichen Staatsbegriffs nicht tangieren. Den Abschluß des I. Teils bildet eine Auseinandersetzung mit der kontraktualistischen Staats- und Gesellschaftstheorie der Gegenwart (146-223). Dem „Neo-Kantianer" J. RAWLS (149 ff) sei es nicht gelungen, den „archimedischen Punkt" zu finden, um eine zeitlos gültige Theorie gerechter Sozialstrukturen zu entwickeln. Zwar habe er eine gewisse Systematisierung der „wohlerwogenen Urteile" geleistet, doch habe er keinen vom Common-sense unabhängigen Maßstab zur Beurteilung von Verfassungsprinzipien und Sozialtheorien entdeckt. Der „Neo-Lockeaner" R. NOZICK (201 ff) entfalte mit seiner Minimalstaatstheorie einen utopischen Entwurf. Sein Versuch, die frühliberale Theorie des „Nachtwächterstaates" zu reaktualisieren, führe zu einer eklatanten Unterbelichtung des öffentlichen Sektors. Wie die meisten Naturrechtstheoretiker, so begründe auch der „Neo-Hobbesianer" J. M. BUCHANAN (215 ff) in seiner ökonomisch-kontraktualistischen Staatstheorie die juridischen Funktionen in Kategorien des Privatrechts anstatt des öffentlichen Rechts. Seine methodologische Devise, den politischen Sektor im Rahmen freiwilliger Tauschprozesse von Individuen zu konzipieren, verhindere die Konzeption eines sich selbst reformierenden Staates. Im II. Teil („Der demokratische Verfassungsstaat als Realisation privater und öffentlicher Freiheit", 225-343) wendet sich MALUSCHKE der dialektischen Staatstheorie G. W.F. Hegels (231 ff) und L. v. STEINS (317 ff) zu, um „eine produktive Weiterbildung dieser Theorien im Blick auf ihre demokratische Relevanz" zu versuchen (229). Waren die neuzeitlichen Sozialvertragstheorien aufgrund ihres individualistischen Ansatzes außerstande, „die Dignität und Autorität der staatlichen Repräsentativorgane gegenüber den einzelnen" zu begründen, hatte die kontraktualistische Staatstheorie der Gegenwart „die öffentlich-rechtliche Sphäre durch Kategorien des Privatrechts gedacht" (13), so führe die dialektische Staatstheorie einen entscheidenden Schritt weiter in der philosophischen Begründung einer institutionell organisierten Demokratie. Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft bilde das Fazit und die Korrektur der kontraktualistischen Gesellschaftsund Staatstheorien seiner Zeit (237 ff). Enfscheidend sei sein Staatsbegriff; dieser

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sei „offenbar durchaus geeignet, das grundlegende Prinzip des Staates, nämlich die rechtliche Freiheit aller, zur Darstellung zu bringen" (316). Die grundlegenden organisatorischen Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaates seien damit freilich noch nicht verbunden, vielmehr leite Hegel (fälschlicherweise) konstitutionell-monarchistische und ständische Tendenzen daraus ab (281 ff). Überhaupt stehe die dialektische Staatstheorie von ihrem Ansatz her in der Gefahr, „die Freiheit des Individuums ... dem höheren Zweck des Staates selbst aufzuopfern" (13). Die nötigen Korrekturvorschläge zur Fruchtbarmachung der Hegelschen Staatstheorie sieht MALUSCHKE bereits bei A. RüGE (256 ff) und K. MARX (260 ff) angelegt. Während diese aber vorwiegend in negativer Kritik verbleiben, habe K. HARTMANN in seiner kritischen Hegel-Interpretation (272 ff) das Programm einer affirmativen systematischen Weiterentwicklung entworfen, das die Hegelsche Rechtsphilosophie als eine Sozialphilosophie interpretiert, „die Sozialgebilde nicht als bloße Aggregate von Individuen, sondern als überindividuelle Einheiten von je spezifischer Natur zu erfassen" vermag (273 f). Allerdings müsse das von ihm entwickelte Theorem der Volkssouveränität vom Standpunkt des gegenwärtigen Staates durch das Theorem der Volksrepräsentation ersetzt werden (281 ff), wie der Rekurs auf neuere Staatstheorien (M. KRJELE U. a.) verdeutlichen soll. Den Gipfelpunkt der ideengeschichtlichen Vergewisserung bildet für MALUSCHKE die Theorie LORENZ VON STEINS. Ihr Novum gegenüber Hegel liege in der Realanalyse des Verhältnisses von bürgerlicher Gesellschaft und Staat (323). Nur durch die konkrete Analyse der wechselseitigen Einwirkung von Gesellschaft und Staat lasse sich eine Staatsformenlehre gewinnen (329). Durch die Rekonstruktion der STEiNschen Staatstheorie will MALUSCHKE letztendlich die Möglichkeit und Notwendigkeit aufzeigen, das Prinzip der Sozialstaatlichkeit aus dem Begriff des Staates selbst abzuleiten (337). „Aus dem obersten Zweck des Staates", schreibt er, „nämlich der Freiheitsverbürgung für jedermann, ergibt sich als logische Konsequenz zum einen die demokratische Verfassungsordnung des Staates, ... des weiteren das Rechtsstaatsprinzip im engeren Sinn ... und schließlich das Sozialstaatsprinzip" (338). Gegen die mögliche Kritik, die historische Analyse werde im Interesse einer systematischen Grundlegung des modernen Staates verkürzt, sieht sich MALUSCHKE gefeit; er möchte ihr nichts entgegensetzen (5). Dies mag man ihm zugestehen - man kann durchaus die politische Ideengeschichte als Steinbruch zur Sammlung von per se gültigen Argumenten benutzen. Es fragt sich nur, wieviel diese Argumente dann hergeben, über die Selbstvergewisserung des Autors hinaus. Der Rezensent hat Schwierigkeiten, eine von vornherein als defizitär abgewertete individualistische, „privatrechtliche" Begründung des Staates einfach durch eine vorrangige, letztlich metaphysische Entität im Sinne des Hegelschen Staates zu korrigieren. Historische Erfahrungen, würde man sich auf sie einlassen, schrekken. Vielleicht sollte man doch etwas historischer herangehen. Die Vertragstheoreti-

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ker des 17. und 18. Jahrhunderts haben angesichts konkreter historischer Problemlagen nach Lösungen gesucht, wie die politische Ordnung von bestimmten Interessen aus und doch zugleich legitim zu begründen sei. Die Interessenlage und ihre Legitimationsbasis haben sich inzwischen historisch verändert, und deshalb müßte zuvorderst Differenz und Kontinuität der Probleme bestimmt werden. Zumindest bedürfte es schon gezielterer und historisch konkreter gefaßter Diskussionen, als MALUSCHKE sie anstellt, um den individualistischen Ansatz beiseitezuschieben. Bezeichnenderweise geht der Ruf heute nicht nach „mehr", sondern nach „weniger" Staat. Bleiben solche Fragen ungestellt, so wirkt es nicht mehr so recht einsichtig, warum man sich zum Zwecke der Klärung eines Gegenwartsproblems so intensiv auf die politische Ideengeschichte einlassen soll, wie MALUSCHKE dies vorführt, zumal mit seinen für die Begründung des demokratischen und sozialen Rechtsstaates meist negativen Resultaten. Denn für sich gesehen sind die „Rekonstruktionen" der Klassiker zu wenig vertieft, sie eröffnen keine neuen Perspektiven. Es bleibt bei einer flüssigen und prägnanten Zusammenfassung einiger (zugegebenermaßen wichtiger) Argumente. Gerhard Göhler (Berlin)

Richard Wilhelm Schmidt: Die Geschichtsphilosophie G. B. Vicos. Mit einem Anhang zu Hegel. Geleitwort von Odo Marquard. Würzburg: Königshausen u. Neumann 1982. XI, 193 S. (Epistemata, Reihe Philosophie. 9.) ist bedeutsam wegen der bei ihm zu beobachtenden Säkularisierung der Geschichtsphilosophie, der Ablösung von christlicher Geschichtstheologie und antiker Geschichtsontologie. Der Ablauf der Geschichte ist dem Menschen allein überantwortet; Vico spricht von der „Wahrheit", „daß diese historische Welt ganz gewiß von den Menschen gemacht worden ist" (Die neue Wissenschaft. Ed. AUERBACH. 125). Zwischen der autonomistischen Geschichtsphilosophie Hegels und der Theorie des zyklischen Geschichtsablaufs bei Vico gibt es auf den ersten Blick kaum Gemeinsamkeiten; auf den zweiten Blick sieht man allerdings, was die späte mit der frühen Geschichtsphilosophie verbindet: „die Wiederkehr der Probleme" (144). Bis heute ist unklar, ob Hegel Vico auch wirklich gelesen hat; die Szienza nuova blieb ja ohne unmittelbare Rezeption. Bisher galt die Meinung, Hegel habe das Werk nicht unmittelbar gekannt, sondern nur den Namen seines Verfassers von COUSIN gehört. In dieses Dunkel bringt die vorliegende Giessener Dissertation im Anhang einiges neues Licht, zeichnet sie doch sehr akribisch die deutsche VicoRezeption bis 1830 nach und so einen möglichen Weg von Vico zu Hegel GIAMBATTISTA VICO

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(144-150). Dem Idealismus, so lautet das Resultat, war Vico „bekannt und auch nicht" (144). HAMANN verschaffte sich 1787 die Szienza nuova; GOETHE erhielt sie im gleichen Jahr von FILANGIERI und lieh sie 1792 an JACOBI, der sich allerdings erst 1811 äußerte (Werke. Bd 3. 351 ff). Stärker rezipiert als im Raum der Philosophie wurde Vico in jenen Jahren in der Altertumswissenschaft (F. A. WOLF). Nach Hegels Tod findet sich in K. F. GöSCHELS Zerstreuten Blättern aus den Hand- und Hilfsakten eines Juristen (Erfurt 1835—42) ein Hinweis auf Vico; 1837 figuriert er in E. GANS' Vorwort zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte als Geschichtsphilosoph und Vorläufer Hegels. Was die philosophischen Inhalte angeht, so sieht SCHMIDT Parallelen zwischen Hegels und Vicos Denken vor allem darin, daß beide die Philosophie zum Konkreten hin reformieren wollen, daß bei beiden Rechts-. Geschichtsphilosophie und Ethik eine untrennbare Einheit bilden und daß beide zu einem entwicklungsgeschichtlichen Denken fanden. SCHMIDT bietet in seinem Anhang weiterhin einen Überblick über die Hauptmomente der Hegelschen Geschichtsphilosophie, soweit sie in der Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte formuliert sind. Ein zweites Kapitel enthält einen Katalog historisch-systematischer Fragen zur Geschichtsphilosophie und „eine ausgewählte Darstellung Hegelscher Bezugnahmen auf das frühere Geschichtsdenken"; ein drittes Kapitel versucht, „diejenigen Momente stark zu machen, die gegen die vollständige Lösung der geschichtsphilosophischen Probleme sprechen". Insgesamt bietet der Anhang eine intelligente Einführung in die Hegelsche Geschichtsphilosophie, die auch die wichtigste Forschung zum Problemkreis vollständig dokumentiert, mit der Pointe allerdings, die auch ODO MARQUARD in seinem Geleitwort hervorhebt, daß in den Augen SCHMIDTS Hegel mit seiner Geschichtsphilosophie gescheitert ist, weil sie, vor allem im Vergleich mit Vicos initialer Geschichtsbetrachtung, einen autonomistischen „Irrweg" beschreite. Christoph Jamme (Bochum)

Felix Heine: Freiheit und Totalität. Zum Verhältnis von Philosophie und Wirklichkeit bei Fichte und Hegel. Bonn: Bouvier 1980. 189 S. (Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik. Bd 151.) Andreas Wildt: Autonomie und Anerkennung. Hegels Moralitätskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption. Stuttgart: Klett-Cotta 1982. 445 S. (Deutscher Idealismus. Bd 7.)

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Kann die Philosophie verbindliche Prinzipien für das soziale Handeln begründen? Diese Frage steht im Mittelpunkt der vorliegenden Abhandlungen. Sie wird in beiden entwickelt aus der Perspektive der FicHiEschen Philosophie und des komplexen Bezugs von Hegel auf sie. Hegels System im allgemeinen (HEINE), seine praktische Philosophie im besonderen (WILDT) erscheint als Fortführung und (versuchte) Lösung der von FICHTE aufgeworfenen Probleme. Die erste Arbeit verneint die Möglichkeit der philosophischen Begründung gesellschaftsverändernden Handelns, da diesbezügliche Handlungsziele transzendent und für die Philosophie in ihrem Wirklichkeitsbezug nicht einholbar seien. Die zweite Arbeit sieht dafür weitreichende Kompetenzen der Philosophie im Bereich des sozialen Handelns innerhalb einer Gesellschaft, speziell auf dem Gebiet der Moral, und bemüht sich um Begründung nicht-institutioneller, spezifisch „sittlicher" Handlungsmaximen. Thema der Tübinger Dissertation von FELIX HEINE sind „die Aporien, in die die Reflexion gerät, wenn sie die Ergebnisse ihrer Tätigkeit als Beständige zu erhalten sucht" (7). In der Auseinandersetzung zwischen Hegel und FICHTE erfahre die Problematik der Reflexion eine Zuspitzung, über die hinaus kein Weg führe. Der Versuch FICHTES, einen verbindlichen Sinnzusammenhang aus der sich autonom wollenden Vernunft zu begründen, sei gescheitert. Er habe in einen Zirkel der Selbstbegründung geführt und keine Verbindlichkeit für das Handeln außer sich setzen können. Philosophie, die sich um verbindliche Handlungsprinzipien bemühe, sehe sich verwiesen auf die exisfentielle Nof der Menschen, das Leiden an der „schlechten Wirklichkeit", und könne doch keinen Weg aus der „Zerrissenheit" weisen, da sie ihre Gewißheit nur aus (der Negation) dieser Wirklichkeit selbst beziehe, oder aber, wenn sie ihren Fluchtpunkt in der Einheit des Absoluten suche, zur Anerkennung der „Entzweiung" genötigt sei. Hegels Einbindung des Erkennens und Handelns in die Totalität des Absoluten führe zum Verlust der praktischen Impulse und zur resignativen Anerkennung des Gegebenen. Werde nämlich das „Bedürfnis der Philosophie" in diese mit hineingenommen, „so wird der Mangel, dem das Bedürfnis entsprang, zu einem philosophischen Problem, das nur noch philosophisch-begrifflich gelöst werden muß, um seinen Stachel zu verlieren" (13). Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Erörterung des „Bedürfnisses der Philosophie" in Hegels Differenzschrift (1801) und FICHTES Bestimmung des Menschen (1800). Die ganze Haltung FICHTES - sowohl in persönlicher als auch in sachlicher Hinsicht -, von seinen frühesten Briefen und Veröffentlichungen bis hin zu den späten Vorlesungen und letzten Aktivitäten vor seinem Tod, sieht HEINE in dem Bestreben, „die gegenwärtige Lage der Menschheit" zu verändern durch Aufhebung der eingetretenen „Entzweiung". Das Bemühen, „Reflexion als Reflex der zerrissenen Wirklichkeit zu ihrem Ende zu bringen, ohne sich dem Diktum dieser Wirklichkeit zu unterwerfen" (12), mußte ihm zufolge scheitern, da Gewißheit und Verbindlichkeit im Denken und Handeln nur im Rekurs auf ein Denken begründet werden könnten, dessen Verbindlichkeit be-

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reits nachgewiesen ist. Die Unentrinnbarkeit aus diesem Zirkel der Selbstbegründung habe den späteren FICHTE ZU einer immer radikaler werdenden Verachtung der realen Verhältnisse und zum Glauben an die alles versöhnende Gottheit geführt, in deren Namen Verbindlichkeit für die Zukunft gefordert wurde. Um dieser Zirkularität der Selbstbegründung zu entrinnen, habe Hegel das Bedürfnis der Philosophie so bestimmt, daß es seinen Inhalt nicht aus der Negativität, der Entzweiung, sondern aus der ursprünglichen Einheit des Absoluten bezieht. Indem er somit das Problem der Reflexion zu Ende dachte und den Gehalt der Entzweiung aus einem verstehbaren Kontinuum begrifflicher Beziehungen entwikkelte, verlor er jedoch zugleich die praktischen Probleme aus dem Blick, da er die „schlechte Wirklichkeit" in ihrer totalen Vermittlung als versöhnt begreifen mußte und ferner sein Vertrauen auf die Vernunft in der Geschichte setzte. Die praktische Energie verpuffte im Sich-selbst-Denken des Absoluten, das keine Anleitungen zur Verbesserung der sozialen Verhältnisse mehr begründen konnte. Damit sei nun aber das Problem nicht gelöst, von dem FICHTES Philosophie aufgestachelt und getrieben wurde. Beide Positionen schließen sich für HEINE somit wechselseitig aus und bieten keine Möglichkeit einer Aufhebung (33). Unter dieser Perspektive durchläuft HEINE die Hauptwerke von FICHTE und Hegel. Im ersten Schritt („Verbindlichkeit und Absolutes", 17-57) stellt er den Frühschriften FICHTES {Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, 1794/95; System der Sittenlehre, 1798) Hegels Differenzschrift (33 ff) gegenüber. Im zweiten Schritt („Veränderung und Geschichte", 58-98) werden FICHTES Grundlagen des Naturrechts (1796/97) (58 ff). Die Bestimmung des Menschen (66 ff) und seine Wissenschaftslehre von 1801 (70 ff) mit Hegels Phänomenologie des Geistes (74 ff) und seiner Philosophie der Geschichte (86 ff) konfrontiert. Im dritten Schritt („Freiheit und Totalität", 99-138) werden FICHTES Wissenschaftslehre von 1804 (100 ff) und sein Spätwerk {Staatslehre, Anweisung zum seligen Leben u. a.; 109 ff) neben Hegels Enzyklopädie und Rechtsphilosophie (118 ff) sowie die Wissenschaft der Logik (126 ff) gestellt. HEINE will dabei gegen die Fichteaner (Münchner Provenienz) die Berechtigung des Hegelschen Standpunktes zur Geltung bringen, gegenüber den Hegelianern aber die der FiCHTESchen Position. Da es ihm nur darum zu tun ist, das Scheitern der philosophierenden Vernunft in praktischen Fragen aufzuweisen, braucht er sich dabei nicht bei Einzelheiten aufzuhalten. Unbekümmert schleicht er sich durch die Sphären der Systeme. Anstatt die schwierigen Texte FICHTES und Hegels aufzuhellen, hüllt HEINE sie in den Mantel einer (sich selbst) undurchsichtigen Sprache. Anstatt den komplexen Gedankengängen neue Erkenntnisse abzutrotzen, verschleift er sie am Wetzstein seines existentialistischen und methodischen Zweifels. Beide Systeme schmelzen im großen Tiegel der sich selbst erkennenden Vernunft des Absoluten zusammen und gehen zurück auf die fade Masse der Belege dafür, daß das Anliegen der philosophierenden Vernunft, der Welt eine vernünftige Ordnung zu vermitteln, gescheitert sei. Um die abstrakten Hülsen aufzufüllen. Konkretes in der Paraphrase zu entdecken und das „Bedürfnis der

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Philosophie" konkret werden zu lassen, empfiehlt es sich daher, zum zweiten Buch überzugehen. Das Anliegen von ANDREAS WILDT nimmt sich bescheidener aus, da es ihm nicht um eine (perspektivlose) Gegenüberstellung der Gesamtsysteme Hegels und FICHTEs geht. Gleichwohl hat das Buch mehr zu bieten, da es klar umrissene Intentionen verfolgt. Es läßt die langjährige Arbeit sichtbar werden, die WILDT seit Abschluß seiner Heidelberger Dissertation von 1973 investierte. Ziel seiner historisch gerichteten und systematischen Analysen ist eine „Ethik zwischen Kant und Hegel", die das „Paradigma der Rechtsform" in der Moralphilosophie hinterfragt, ohne die Idee rationaler Autonomie preiszugeben (10 f). Daneben finden sich Untersuchungen zur philosophischen Psychologie, die der Frage nach den notwendigen Bedingungen qualitativer „Ichidentität" nachgehen - insbesondere im Rahmen der FicHXE-Rekonstruktionen des II. Teils (259 ff). Im I. Teil - „Revision und Rekonstruktion von Hegels Moralitätskritik" (25-194) - entwickelt WILDT das Konzept einer nicht-institutionellen, spezifisch „sittlichen Moralität" und begründet die These der sittlichen Relativität der Vernünftigkeit des „moralischen Standpunktes". Wohlwissend, daß er sich in seiner „interpretatorischen Rekonstruktion" nur zum kleinsten Teil auf explizite Aussagen Hegels stützen kann, begreift er dessen Kritik der KANTischen Ethik als produktive Weiterentwicklung der moralphilosophischen Ansätze von KANT und FICHTE. Diese Kritik ziele nicht auf die Desfrukfion des Programms einer rationalen Ethik, sondern stelle diese auf ein neues Fundament, indem sie die prinzipiell nichtinstitutionalisierbare sittliche Moralität als Basis vernünftiger Institutionen und als Bedingung rationaler moralischer Motivation überhaupt erweise. Die Weiterbildung durch Hegel basiere auf der richtigen Grundüberzeugung, daß Umfang und Geltung moralischer Verpflichtungen nur aus konkreten sittlichen Sozialbeziehungen zu begreifen sind. Die neue Grundlegung sei möglich geworden durch eine gegenüber seinen Vorgängern neuartige Reflexion darauf, „welche Rolle transsubjektive Motivationen, nämlich altruistische Neigungen, Lebenskonzeptionen und moralische Intentionen, bei der Konstitution von moralisch-praktischer Richtigkeit spielen" (15). Hegels Leerheitsvorwurf gegen den kategorischen Imperativ sei nicht haltbar. Auch wenn KANTS Lehre in vieler Hinsicht fehlerhaft sei, könne sie doch in befriedigender Weise reformuliert werden (vgl. 44 ff). Hegels „Tiefenkritik" der KANTschen Ethik richte sich jedoch gar nicht gegen das Moralprinzip als solches, sondern decke in der Tat spezifische Schwächen der KANTSchen Position auf, insbesondere seine Orientierung an der Rechtsform (Legalismus) und die Annahme, Verpflichtungen einer Person könnten nicht in altruistischen Neigungen begründet sein (Rigorismus). Schließlich kritisiere Hegel die Behauptung, aus der moralischen Richtigkeit einer Handlung folge nofwendig ihre praktische Richtigkeit schlechthin (Formalismus), unabhängig von dem sittlichen Kontext der Handlung (Absolutismus) (13). Für Hegels praktische Philosophie seien, wie der III. Teil zeigen soll, stets solche Phänomene orientierend gewesen, die sich prinzipiell jeder

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legitimen Institutionalisierung entziehen (17), nämlich Phänomene, wie Treue, Liebe, Dankbarkeit, Verzeihung, Freundschaft, Tapferkeit, Opferbereitschaft, die klassischen Tugenden des Umgangs und der Höflichkeit usw. (vgl. 115 ff). Im II. Teil - „FICHTES subjektivitätstheoretische Grundlegung der praktischen Philosophie" (195-283) - sucht WILDT ZU zeigen, „daß FICHTES Philosophie der epistemischen Selbstbeziehung ihren Anspruch, Moralität zu begründen, nicht einlösen kann" (199; bes. 241 ff). Erst mit der - von Hegel rezipierten - Theorie des Willens und des praktischen Selbst im System der Sittenlehre erreiche seine subjektivitätstheoretische Begründung der Ethik die Ebene, auf der sie erfolgreich sein könne. Allerdings gelinge es FICHTE nicht, mit Hilfe der Theorie der Anerkennung das spezielle Prinzip seiner Rechtslehre zu begründen, sondern nur erst die Konstitution und Selbsterfahrung des praktischen, insbesondere rechtlich-moralischen Selbstbewußtseins (270). Im 111. Teil - „Die Entwicklung von Hegels praktischer Philosophie im Lichte seiner FicHTE-Rezeption" (285-393) - begründet WILDT die These, nicht nur Hegels Philosophie der Sittlichkeit sei eine Weiterentwicklung der FicHTESchen Willenstheorie (HENRICH), sondern schon die systematischen Prämissen Hegels in Frankfurt und in den frühen Jenaer Jahren könnten als Weiterentwicklung der FICHTEschen Thesen über die Struktur des Selbstbewußtseins verstanden werden (289). Unter dieser Perspektive analysiert er die Hegelschen Schriften von den frühen Fragmenten bis zur Phänomenologie des Geistes. Ging die Hegelliteratur bislang davon aus, Hegels Verhältnis zu FICHTE habe sich seit der Differenzschrift nicht mehr geändert (vgl. etwa HEINE, 35), so will WILDT zeigen, daß Hegel in Jena eine erneute FicHTE-Rezeption unternahm, die in der Jenaer Realphilosophie von 1805/06 ihren Höhepunkt fand (343 ff). Erst in der Folge habe er sich wieder von FICHTES Grundlegung der praktischen Philosophie und damit von moralphilosophischen Problemen überhaupt entfernt (370 ff). „Aber noch die Willenstheorie der Berliner Rechtsphilosophie läßt sich nur im FicHTESchen Licht rational verstehen". (292; 383 ff) Wir können der komplexen Gedankenführung WILDTS nicht in die Einzelheiten folgen und nur wenige Aspekte aus der Fülle der Anregungen herausgreifen, die seine gründliche Untersuchung bietet. Eine Frage soll uns im folgenden beschäftigen: Kann die Moralphilosophie am „Paradigma" nichtinstitutioneller, nichtrechtlicher Sozialbeziehungen orientiert werden? Und wenn ja, wie weit reicht dann ihr Geltungsbereich? - Einige Begriffsklärungen seien vorweggenommen. Zumeist verwendet WILDT die Begriffe „(juridisches) Recht" und „Institution" synonym, gibt dem letzteren dann aber eine weiterreichende Bedeutung, indem er ihn als Verkörperung von Rechten und Pflichten definiert, „die notwendigerweise forderbar und mindestens moralisch (negativ) sanktioniert sind" (114). Unter „Sittlichkeit" versteht er „transsubjektive Beziehungen im Medium von moralischer Motivation, insbesondere der Übernahme nichteinklagbarer Verpflichtungen, von Anerkennung, Achtung und Liebe" (43). Der Moralbegriff wird dann

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reserviert für „sittliche Moral", d. h. für alle nichtinstitutionellen, nichtforderbaren Rechte und Pflichten. Obgleich der Begriff der Institution somit die negative Folie bildet, von der sich sittliche Moral abheben soll, bleibt er insgesamt recht unterbelichtet. Er dient - als vage, mit negativen Emotionen aufgeladene Vorstellung - als Surrogat für die von WILDT ausgeblendeten (moralischen) Beziehungen, die über zwanglose Intersubjektivität hinausweisen auf Prinzipien der Vergesellschaftung. Zweifelsohne kommt solchen außerinstitutionellen Medien der Verhaltenssteuerung im Umgang der Menschen eine nicht unerhebliche Bedeutung zu, insbesondere im Rahmen von Zweierbeziehungen oder in kleineren Gruppen. Auch bleibt ihre Bedeutung für die Ausbildung einer konsistenten „Ichidentität" unbestreitbar. (Die Frage, ob sich Hegels dialektische Bewußtseinsphilosophie als kognitive Entwicklungspsychologie auslegen oder rekonstruieren läßt, mag hier auf sich beruhen; jedenfalls intendiert Hegel keine genetische Erklärung der IchEntwicklung, da er den dafür entscheidenden Zeitfaktor ausblendet und sich auf die Bewußtseinstätigkeit erwachsener Subjekte beschränkt.) Sieht man von der Frage ab, ob Phänomene, wie Dankbarkeit, Treue, Höflichkeit usw. im gewöhnlichen Umgang nicht selbst „institutionellen" Charakter annehmen, also zu Forderungen werden, die zwar nicht eingeklagt werden können, aber doch (stillschweigend) eingeklagt werden, die der einzelne folglich internalisiert, da der Verstoß oder die Verletzung (negativ) sanktioniert und bestraft wird (durch Abbruch der Beziehung o.ä.), - so stellt sich doch die Frage, ob sie sich aus dem konkreten Kontext des jeweiligen Interaktionszusammenhangs ablösen und zu universalistischen Prinzipien generalisieren lassen, die relativ nur zu der Totalität der sittlichen Sozialbeziehungen sind. „Verpflichtungen hat man immer gegenüber konkreten, so und so bestimmten anderen, nicht anderen überhaupt; und meine Verpflichtung einer bestimmten Person gegenüber besagt nichts anderes, als daß diese einen legitimen Anspruch und in diesem Sinne ein -moralisches - Recht darauf hat, von mir so und so behandelt zu werden" (41 f). Und dieses Recht sollte sie nicht - wenigstens argumentativ - einfordern können? Wie sollte es dann für mich bindend werden? Kann der Gebrauch der subjektiven Vernunft allein zu altruistischen Neigungen führen? - Solange WILDT die aus altruistischen Neigungen entspringenden Formen der Moralität als Umgangsformen, als Regelungen naturwüchsiger Sozialbeziehungen diskutiert, sie somit nicht zu Prinzipien der Sozialintegration stilisiert, kann man seiner Argumentation folgen. (Er hat diese utopische Perspektive gegenüber früheren Veröffentlichungen deutlich zurückgedrängt). Nun geht es aber in Recht und Moral stets darum, „in Situationen von Interessenkonflikten legitime Entscheidungen zu treffen" (16). Wie sollten die genannten Formen darin weiterhelfen? Ihre Besonderheit besteht doch eben darin, daß sie konfliktfreie Zonen des gesellschaftlichen Verkehrs durchherrschen. Diese Zonen werden aber (unter heutigen Bedingungen der Gesellschaftlichkeit) gerade ausgegrenzt und freigegeben vom institutionell geregelten Sozialzusammenhang, in dem allein sie gedei-

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hen können. Hegel hatte diesen Bedingungszusammenhang klar vor Augen. Nachdem er einst - in seinen Jugendschriften, die WILDT zur Grundlage seiner Interpretation macht - tatsächlich norinstitutionelle Interaktions- und Handlungsformen (Liebe u.ä.) zu allgemeinen Prinzipien der Vergesellschaftung hypostasiert hatte, nahm er seit seiner Jenaer Zeit (wenn nicht gar schon in Frankfurt), spätestens aber seit 1805/06, die der bürgerlichen Gesellschaft immanenten Tendenzen zur „Verrechtlichung" der Sozialbeziehungen zur Kenntnis. Schon früher hatte er die der Vereinigung entgegenstrebenden Momente des sozialen Handelns (Kampf u.ä.) bemerkt, die sich durch Einheitspostulate kaum neutralisieren ließen. Mit der Verallgemeinerung der Warenproduktion und der ihr korrespondierenden bürgerlichen Freiheiten, die ihm als wesentlicher Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit erschienen, wurden die von ihm in seinen frühen Fragmenten systematisierten und nun von WILDT wiederaufgegriffenen Formen der Moralität ihrer sozialen Basis beraubt und in die vom Recht freigegebene Privatsphäre abgedrängt, worin sie ihre Berechtigung und Notwendigkeit haben. Altruistische Neigungen können nach dem späten Hegel nur auf dem Boden (kommunikativ und institutionell) geregelter Sozialbeziehungen erwachsen. Einerseits Grundlage eines gewaltfreien Vollzugs der gesellschaftlichen Reproduktion, sind sie ihm andererseits Resultat. Das Unmittelbare wird so in seiner Vermittlung nachgewiesen. Da der Sozialzusammenhang insbesondere vom Recht vermittelt wird, konnte Hegel seine politische Philosophie als Rechtsphilosophie entwickeln. Nach ihr besteht die „Sittlichkeit" jedoch in der von WILDT zurückgewiesenen „Einformung" (J. RITTER) der Individuen in ethische und institutioneile Ordnungen, nicht aber in Distanz und Autonomie. Mögen die vorinstitutionellen Formen der Moralität für den einzelnen in seinem Denken und Fühlen auch Priorität besitzen, so sind sie unter gesamtgesellschaftlicher Perspektive sekundär. Wenn WILDT „Selbstsein" konstituiert sehen möchte „durch einen originären Zugang zu den eigenen Gefühlen, eine universalistische Handlungskompetenz und eine konsistente Lebenskonzeption" (28), so ist all dies für Hegel nur möglich innerhalb geregelter Sozialbeziehungen und im unmittelbaren Bezug auf die Institutionen, die ein reibungsloses, konfliktfreies Funktionieren des sozialen Handelns garantieren (sollen). Es wäre daher zu fragen, ob Hegel nicht triftigere Gründe zur Entfernung von FICHTES Grundlegung der praktischen Philosophie hatte, als bloße Rücksicht aufs Bestehende. Für die Grundlegung der Moralphilosophie jedenfalls scheinen die von WILDT begründeten Phänomene zu abstrakt, da sie keine Prinzipien für die Lösung von Konflikten enthalten. Alles in allem verfolgt WILDT sympathische Ziele. Seine Analyse fördert eine Vielzahl wichtiger Einsichten in die politische Philosophie Hegels und in das (außerinstitutionelle) soziale Handeln zutage. Sie zeigt im Unterschied zur Arbeit HEINES, daß man aus Hegels (und FICHTES) Schriften mehr herausholen kann als bloße Klagen über den gescheiterten Versuch, der Welt einen vernünftigen Sinnzusammenhang zu erschließen. WILDT würde seiner Grundlegung der Ethik die-

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nen, wenn er sie in ein reflektiertes Verhältnis setzte zur soziologischen Theorie von EMILE DüRKHEIM. Klaus Roth (Berlin)

Theorien der Kunst. Herausgegeben von Dieter Henrich und Wolfgang Iser. Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1982. 637 S. Gibt dieser Band, der exemplarische Arbeiten zur Philosophie der Kunst aus unserem Jahrhundert sammelt, wenigstens im Echo oder Widerschein auch Auskunft darüber, was Hegels viel gerühmte Ästhetik oder Philosophie der Kunst uns noch zu sagen hat? Wie selbstverständlich wird davon ausgegangen, daß die „schönen Künste" sich nach ihrer Aussonderung aus der Reihe der Künste zur einen Kunst zusammengefügt haben, die auf Schönheit verpflichtet ist. So wurde die Ästhetik als Lehre vom Schönen und die Philosophie der Kunst zu ein und derselben Disziplin. Diese Auffassung, die sich seit der Renaissance entwickelt hat, ist von Hegel konsequent und mit epochaler Repräsentanz dargelegt worden: Das Erhabene, das auch an einem „Kunstwerk" wie der Pyramide sich zeigen konnte, gehörte ebenso zum Schönen wie das Interessante oder gar das Häßliche (so daß ein Hegelianer wie ROSENKRANZ eine Ästhetik des Häßlichen schreiben konnte). Die Rede von den nicht mehr schönen Künsten scheint immer noch zu implizieren, die Künste seien einmal auf die Schönheit verpflichtet gewesen. Als aber ALFRED BäUMLER 1934 im Handbuch der Philosophie wenigstens fragmentarisch eine „Ästhetik" mitteilte, ging er davon aus, daß es seit PLATON die Reflexion auf das Schöne gibt, die dann zweitausend Jahre später den Titel „Ästhetik" bekam, daß es seit der Poetik des ARISTOTELES aber auch ganz etwas anderes gebe, nämlich eine Lehre von den Künsten. Für diese ältere traditionelle Auffassung waren Ästhetik und Kunstphilosophie verschiedene Themen; Schönheit kann es auf vielen Gebieten geben: in der Natur, vor allem in der belebten Natur, dann auch im Bereich des Intelligiblen. In unserem Sammelband berührt SIMMEL diese Position, wenn er die Symmetrie und die Nichtsymmetrie als Organisationsprinzipien der Gesellschaft darstellt. Aber auch in unserer Zeit ist die alte Lehre ja aus der wissenschaftlichen Arbeit heraus neu aufgenommen und auch wieder zusammengebracht worden mit traditionellen Positionen wie der Philosophie PLOTINS (für den Symmetriegedanken bei SPEISER, HEISENBERG, OSKAR BECKER). Auf der anderen Seite kann man die Künste nicht einfach auf Schönheit verpflichten, wie Hegel es tat, indem er seine Gleichsetzung von Ästhetik und Philosophie der Kunst in eine universale historische Besinnung einbaute.

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Bei beiden Herausgebern ist die Auffassung leitend, es gebe heute Elementartheorien des Ästhetischen und dazu Auffassungen über die Genesis der Kunst; eine integrative Theorie der Kunst, die die verschiedenen partikularen Theorien zusammenfaßte, sei in überzeugender Weise noch nicht entwickelt worden. Das aber war der Ansatz Hegels, der ja Kunst aus der Totalität der Wirklichkeit heraus begriff und die Künste so aus einem einheitlichen Ansatz für eine Bestimmung des Wesens der Kunst verstand. Ein Aufsatz von HELMUT KUHN versucht in kritischer Absetzung von Hegel von einem christlichen Platonismus aus die Kunst vom Fest und der Feier her zu verstehen; doch diese „metaphysische Ästhetik" wird mit einem Fragezeichen versehen. Der Sammelband bringt aus der phänomenologischen Ästhetik zwei exemplarische, aber polar entgegengesetzte Arbeiten von INGARDEN und GADAMER. Während INGARDEN (allerdings in einer gegenstandstheoretischen Wendung) mehr in der Tradition der KANiischen Autonomisierung des Ästhetischen steht, gibt GADAMER dem Hegelschen Motiv Raum, die Ästhetik nach ihrer Funktion für die Geschichte des Menschen und seines Selbstverständnisses hin zu nutzen und sie in eine umfassendere Hermeneutik einzubetten. Von diesen gegensätzlichen Positionen aus lassen sich sicherlich auch die wesentlichen Ansätze der Kunstwissenschaft aufschließen, wie sie in wenigen Generationen mit so bedeutenden Rückwirkungen auf unser Leben ausgebaut worden sind. Eine Parallele zu dem zweiten, dem hermeneu tischen Ansatz ist der hier dokumentierte Streit zwischen LUKäCS und ADORNO, der innerhalb marxistischer Ansätze Hegel gleichsam noch einmal in zwei Komponenten zerlegt: in die Konzentration auf die große Tradition und in das Verstehen der Modernität. Es kann aber wohl kein Zweifel sein, daß dieser Sammelband seinen produktiven Schwerpunkt in der Aufarbeitung der pragmatischen und semiotischen Theorien hat, deren Entwicklung als eine wachsende Differenzierung des einmal gewählten Ansatzes dargestellt wird. Dagegen erscheint zum Beispiel die phänomenologische Philosophie, die doch am ehesten die spekulative Linie Hegels in unserem Jahrhundert fortgeführt hat, allzu vereinfachend dokumentiert. Der Gegensatz zwischen der ästhetischen und der hermeneutischen Position ist zum Beispiel von OSKAR BECKER auf die Frage gebracht worden, ob sich nicht seit KANT SO etwas wie eine „reine" Ästhetik entfaltet habe, diesem Bereich also eine Autonomie zugesprochen wurde, wie sie die Mathematik schon bei den Griechen bekam. Hierzu schreibt ISER in seiner Einleitung: „War die autonome Kunst eine Folgeerscheinung der philosophischen Ästhetik, die die Kunst aus ihrer Dienstbarkeit befreite, so bringt moderne Kunsttheorie das Kunstphänomen auf Lebenszusammenhänge zurück, jedoch nicht um neue Dienstbarkeit oder gar Nützlichkeit zu propagieren, sondern um eine Aufklärung der Notwendigkeit von Kunst zu leisten. In diesem Zusammenhang ist es aufschlußreich, daß die Wissenschaftsideologie unseres Jahrhunderts: der Strukturalismus, keine Kunsttheorie hervorgebracht hat." (39) Ist in diesem Diktum die genannte Problematik wirklich zulänglich aufgefaßt? Was die phänomenologische Philosophie angeht, so hat sie seit MERLEAU-

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PoNTY die Nähe der Gestaltpsychologie gesucht, die hier vor allem durch die kunsthistorische Anwendung bei GOMBRICH als eigene Position dokumentiert wird. Sie hat sich auch mit strukturalistischen Ansätzen verbunden. Der Strukturbegriff, der in Kunstwissenschaft und Ethik eine besondere Rolle gespielt hat, ist dann auch in Deutschland von ROMBACHS Strukturontologie vor allem gegenüber der Kunst exemplifiziert worden; in Frankreich ist die Verbindung von Phänomenologie und Strukturalismus oder Poststrukturalismus auch auf ästhetischem Gebiet fruchtbar gemacht worden. So fragt es sich, ob die allzu sehr vereinfachende Dokumentierung der phänomenologischen Position nicht einem archaischen Begriff von phänomenologischer Philosophie entspricht. Der Sammelband bringt einen Beitrag über den Film (von CAVELL), aber im übrigen vermißt man Theorien zur Kunst, wie sie - etwa in der Weise WOLFFLINS - von Kunstwissenschaftlern vorgelegt worden sind. Hier hat HEINRICH LüTZELER in einer dreibändigen Dokumentation Kunsterfahrung und Kunstwissenschaft gezeigt, daß nicht nur Hegel selbst, sondern indirekt auch sein Ansatz sich immer wieder bei der Ausbildung der Kunstwissenschaft gemeldet hat (was in GOMBRICHS Hegelpreisrede mehr ein Apergu geblieben war). Leider fehlt eine solche Dokumentation für die Poetik, und in der Tat findet sich in den Literaturwissenschaften eine Fülle von konkurrierenden Ansätzen, zwischen denen der Student dann mehr blindlings wählen muß. So wird eine integrative Theorie, die als eine fehlende von beiden Herausgebern ins Auge gefaßt wird, wichtig. Aber spielt nicht ein unangemessener Hegelianismus oder Intellektualismus in die Überlegungen hinein, wenn man hier von einer Theorie der Theorien spricht? Für die ARisxoTELische Tradition ist die praktische Philosophie ja nicht eine Theorie der Praxis, sondern vernünftige Einweisung in eine Praxis, deren Entscheidungen unableitbar bleiben. So könnte auch eine poetische Philosophie eine Einweisung in die Kunst geben, ohne eine integrative „Theorie" aufstellen zu können. Wichtig wäre dagegen das offene Gespräch mit den Künstlern selbst, das hier nicht dokumentiert ist. Wenn man die „Metaphysik", der Hegel folgte, einmal auf sich beruhen läßt und nach den Erfahrungen fragt, die er einbrachte, dann könnte man darauf verweisen, daß jede Besinnung auf die Kunst offenbleiben muß für eine Wandlung im Wesen der Kunst. Davon hat Hegel etwas erfahren, als in der bürgerlichen Zeit Schloß und Kirche nicht mehr die Künste um sich organisierten. Was wird aus der Kunst, wenn die Menschen als Bürger sich ihren Platz in der Gesellschaft durch ihre Leistung und die Bildung dafür selber bestimmen? Schwerlich wird man auf diese von Hegel übermittelte Frage mit jenen wissenschaftlichen Thesen und kritischen Invektiven eine Antwort geben können, wie ARNOLD GEHLEN sie in dem hier abgedruckten Beitrag und anderen Arbeiten vorgetragen hat. Otto Pöggeler (Bochum)

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Theodor W. Adorno: Musikalische Schriften IV. Moments musicaux, Impromptus. Frankfurt/M.; Suhrkamp 1982. 349 S. (Gesammelte Schriften. Bd 17.) In einem Nachruf auf EDUARD STEUERMANN sagt ADORNO, Hegels Äußerung gegenüber GOETHE, Dialektik sei organisierter Widerspruchsgeist, lasse an den Verstorbenen mehr als an andere Musiker denken (314). Dieser Widerspruchsgeist, der die Verstellungen der Konvention durchbricht, ist auch ADORNOS eigene Sache. Aber wenn er über SCHONBERG und WEBERN, gegen HINDEMITH und SIBELIUS schreibt oder auch über Jazz-Musik und über das moderne Musikleben überhaupt, dann beschäftigt er sich mit Themen, zu denen Hegel sich noch nicht äußern konnte. Die vorliegende Sammlung kleinerer Arbeiten aus den Jahren seit 1922 ist denn auch zuerst unter Titeln veröffentlicht worden, die SCHUBERT für seine kleineren Stücke wählte: Moments musicaux (1964) und Impromptus (1968). Man kann sich schwer vorstellen, daß Hegel überhaupt in diesen Stücken SCHUBERTS eine Musik gefunden hätte, die neben der Matthäus-Passion, den Opern von GLUCK, MOZART und ROSSINI der Erwähnung durch den Kunstphilosophen wert wäre. Mag ADORNO dadurch im Gefolge Hegels stehen, daß er die Ästhetik geschichtsphilosophisch entfaltet, mag er sich für seinen Widerspruchsgeist auf Hegel berufen - die exemplarischen Werke der Kunst waren für beide nicht dieselben. Wenn ADORNO frühe BEETHovEN-Interpreten nennt, dann verweist er auf E. TH. A. HOFFMANN, SCHUMANN und WAGNER (56). Zu BEETHOVEN hätte Hegel sich äußern können, denn BEETHOVEN wurde im gleichen Jahr wie Hegel geboren und seine Werke wurden in Berlin - trotz des Widerspruchs von Hegels Freund ZELTER geschätzt. Es finden sich nun Lobeshymnen von Hegel auf ROSSINI, aber nicht einmal distanzierte Äußerungen über BEETHOVEN. Hat Hegel BEETHOVEN abgelehnt? Vielleicht muß man annehmen, daß dem Philosophen nur das zugänglich war, was ihm schon in der Jugend aufgegangen war: die Kirchenmusik und MOZARTS Opern und alles, was diesen folgte. So konnte er in seiner Berliner Zeit GLUCK und BACH aufnehmen und auch noch ROSSINI; obgleich Hegel noch gegen die Auffassungen seiner Zeit die Emanzipation der Instrumentalmusik vom Wort anerkannte, gab er allenfalls einmal eine interessante Bemerkung über MOZARTS Sinfonien. Gelegentlich berührt ADORNO aber Themen, zu denen auch Hegel auf seine Weise einen Bezug gefunden hatte; in den Aufsätzen über Zerlina, über den Freischütz, über Hoffmanns Erzählungen. Von Zerlina glaubt ADORNO sagen zu können, sie sei „keine Schäferin mehr und noch keine citoyenne"; sie nehme in einem utopischen Augenblick die Freiheiten der Feudalzeit mit in die Revolution (34 f). Hegel hat den Don Giovanni schon in Frankfurt gehört; als er ihn in Berlin wiederhörte, bekundete er „in seiner unbeholfenen Sprache eine so warme Vorliebe für diese Musik", daß der Dirigent BERNHARD KLEIN nachher sagte: „jetzt bin ich dem stotternden Philosophen erst recht gut geworden!" (wie GUSTAV PARTHEY berichtet). Was Hegel jedoch an diesem „Dramma giocoso" so faszinierte, ist uns nicht über-

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liefert. Sein Schüler HOTHO dagegen hat eine umfassende Interpretation in seine Autobiographie, die Vorstudien, verflochten. KIERKEGAARD hat in Hegels Weise die maßgeblichen Kunstgattungen als repräsentativ für den Geist einer Epoche genommen; in MOZARTS Oper und damit in der Musik überhaupt glaubte er aber die dämonische Genialität des ästhetischen Stadiums sehen zu müssen, das sich vom ethischen und religiösen Stadium ausschließt. Das aber war sicherlich nicht Hegels Auffassung. Vom Freischütz sagt ADORNO, er sei die „deutsche Nationaloper" durch den Verweis auf den Wald, der aber durchaus auch die Züge des Grauens habe. Auf musikalischem Gebiet finde sich das Deutsche eher als Gegensatz zum Österreichischen, nämlich zum Wiener Klassizismus. Der Spott im He-He-He der Bauern fange auf dem schlechten Taktteil an, als wäre es ein guter, und bringe alle rhythmische Ordnung ins Wanken. An die Stelle der thematischen Arbeit trete der Schwung, so daß aus der kompositorischen Arbeit ein „Gestus" werde: „er erinnert an den Klaviervirtuosen, der WEBER war, an die weite Spannung der Hände, die waghalsig über die Oktav hinaus griffen; der Gestus hat etwas Bravouröses, Scheinhaftes, an dem auch der Ausdruck partizipiert; Schwung und Verblendung sind im Freischütz einander nicht fern ... er entrollt grundlos und ziellos sich selbst wie das Rad in der Wolfsschlucht." (38, 40). ADORNO hebt so heraus, wie die Musik sich im Freischütz in die Atmosphäre einer Szene vertieft oder aber sich an sie zu verlieren droht. Dieser Hinweis auf zukunftsträchtige, aber auch auf gefährliche Züge entspricht Verurteilungen dessen bei Hegel, wodurch Hegel sich irritiert fühlte. Bekanntlich war es Hegels Schüler und Vertrauter FRIEDRICH FöRSTER, der durch ein vielberedetes Gedicht zugunsten WEBERS in den Streit zwischen den Anhängern SPONTINIS und WEBERS eingriff. Für Hegel selbst ist aber das, was bei ADORNO ZU einem Übergang wird, die Zerstörung der Musik (nach den einschlägigen Äußerungen in den Vorlesungen über Ästhetik). ADORNO geht schließlich davon aus, daß der Operettenkomponist OFFENBACH in seinem letzten Werk aus der „Wahlverwandtschaft der Dämonie" heraus die Spätromantik HOFFMANNS als Oper auf die Bühne gebracht habe: HOFFMANN steht nun mit den Geistern, die er rief, zusammen im szenischen Bild - mit der Puppe Olympia, der Kurtisane Giulietta in Venedig, der leichenhaften Antonia im deutschen Musikzimmer. Hegel lebte noch mit HOFFMANN einige Jahre zusammen in der gleichen Stadt Berlin, und bei LUTTER und WEGNER will LUDWIG FEUERBACH schüchtern dem Meister das Aufkeimen eigener Gedanken eingestanden haben. HOFFMANNS Erzählungen konnte Hegel aber wie GOETHE nur abtun als fratzenhaft. So nahe ADORNO Hegel mit der einen oder anderen Beobachtung und in der Methode sein mag - eine neuheraufgekommene Welt liegt zwischen ihm und Hegel. Otto Pöggeler (Bochum)

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Hildegard Bartels: Epos - die Gattung in der Geschichte.Eine Begriffsbestimmung vor dem Hintergrund der Hegelschen „Ästhetik" anhand von „Nibelungenlied" und „Chanson de Roland". Heidelberg: Carl Winter 1982. 352 S. (Frankfurter Beiträge zur Germanistik. 22.)

berichtet über den Nürnberger Gymnasiallehrer Hegel, daß er um dem Nibelungenlied überhaupt poetische Qualitäten abgewinnen zu können es während des Lesens ins Griechische übersetzte. Mag BRENTANOS boshafte Bemerkung auch erfunden sein: Dennoch charakterisiert sie treffend die Rezeption des Liedes, seit es durch BODMER (1857) in verschiedenen Nachdichtungen und CHRISTOPH HEINRICH MYLLER (1782) im Druck zugänglich gemacht worden war. Von Anfang an stellt das homerische Epos das beherrschende Rezeptionsmodell. Auch der Historiker JOHANNES VON MüLLER hofft - trotz aller Vorbehalte, die er gegenüber der vermeintlich mangelnden literarischen Gestaltung hat daß das Epos die „Teutsche Ilias" werden könne. Zu Hegels Zeit gilt es den einen als bedeutsames Stück einer endlich wiederentdeckten Nationalpoesie, als Hort der lange vermißten neuen Mythologie, die künftig das klassische Bildungsmonopol abzulösen habe. Dieser romantischen Einschätzung steht die klassizistische Richtung naturgemäß reserviert gegenüber; Hegel lehnt eine vaterländische Ausdeutung des Liedes ab: „In dem NIBELUNGENLIED Z. B. sind wir zwar geographisch auf einheimischem Boden, aber die Burgunder und König Etzel sind so sehr von allen Verhältnissen unserer gegenwärtigen Bildung und deren vaterländischen Interessen abgeschnitten, daß wir selbst ohne Gelehrsamkeit in den Gedichten Homers uns weit heimatlicher finden können." (Werke. Bd 10, Abt. 1 Berlin 1835. 351). Während für Hegel gerade die Fremdheit des Liedes seiner Popularisierung entgegenstellt, mehren sich in der Rezeptionsgeschichte des 19. Jahrhunderts die Versuche, die Distanz durch das klassische Bildungsparadigma zu überwinden. Nibelungenlied und Ilias gehen häufig über das tertium comparationis beiden gemeinsamer epischer Merkmale zusammen. Neben einer wissenschaftlichen Richtung, wie etwa LACHMANNS Liedertheorie, die für das klassische und das mittelalterliche Epos einen ähnlichen Entstehungsprozeß durch Diaskeuasten annimmt, gibt es deren praktische Umsetzung, Übersetzungen des Nibelungenliedes in deutsche Hexameter; aber auch vor einer Ilias in der Nibelungenstrophe ist man nicht zurückgeschreckt. Das Nibelungenlied kann sich jedoch trotz des klassischen Paradigmas immer weniger einer platten Aktualisierung entziehen, die das Lied als Nationalpoesie zum Beleg echten Germanentums stempelt. Die Chance, die Hegel der Germanistik hätte zeigen können, das Nibelungenlied gerade in seiner Fremdheit zu verstehen und damit einer vorschnellen Ideologisierung auszuweichen, hat die Germanistik vertan (vgl. HELMUT BRACKERT; Nibelungenlied und Nationalgedanke. In: Mediaevalia litteraria. Festschrift für Helmut de Boor. München 1971. 364). CLEMENS BRENTANO

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Aus diesem Dilemma, einer stark nationalistisch belasteten Forschungstradition einerseits, aus der andererseits wiederum ein gut Teil der gegenwärtig stockenden Forschungslage resultiert, versucht H. BARTELS ZU entkommen, indem sie auf die Hegelsche Epentheorie zurückgreift. Nach einer eingehenden Diskussion der Sekundärliteratur zur altfranzösischen Chanson de Roland und zum Nibelungenlied (Kapitel 1), einer Bestimmung des Epos innerhalb des Systems der Ästhetik, beschreibt BARTELS das Epos als poetischen Ausdruck eines historischen Weltzustandes (Kapitel 2). Das Epos gehört in das „epische" oder „poetische" Zeitalter, eine von Hegel so benannte „Mittelzeit", in der die Überwindung der direkten Abhängigkeit von der Natur noch nicht in die Entfremdung von ihr eingemündet ist. Im „heroic age" halten sich Natur und Geist für einen Augenblick der Waage, ein Idealzustand, der durch die höherentwickelte Gesellschaftsform des Frühfeudalismus überwunden und aufgehoben wird. Gerade die Zeit des Übergangs in feudale Strukturen ist durch eine Auseinandersetzung mit den alten heroischen Zuständen gekennzeichnet, so daß „epische Handlung" anhand der verschiedenen „Kollisionen epischer Individuen" greifbar wird. Im explikatorischen Hauptteil der Arbeit (Kapitel 3) untersucht BARTELS die verschiedenen Kollisionen, die ein Merkmalbündel des Epischen im Sinne einer Gattungstheorie ausmachen; sie orientiert sich an Nibelungenlied und Chanson de Roland, greift aber immer wieder auf die Ilias zurück. Das Epische zeigt sich u. a. im Zusammenstoß des Heroischen mit zunehmend institutionalisierter Herrschaft, dem Konflikt des Heros mit neuen gesellschaftlichen Organisationsformen im Personenverband. Voraussetzung ist allerdings, daß „die Hegelschen Kategorien potentiell auch auf andere als die griechischen Epen anwendbar sind" (163); gerade dies aber hatte Hegel abgelehnt, dem das Epos als Ausdruck eines bestimmten Weltzustandes gilt, der für die mittelalterlichen Epen bereits als verloren gelten muß. Im vierten und letzten Kapitel versucht BARTELS die Hegelsche Theorie für eine „Neubegründung eines Gattungskonzeptes" fruchtbar zu machen. Es kommt zu einer Korrelation der Hegelschen „Mittelzeit" mit einem bestimmten Stadium der mittelalterlichen Realgeschichte. Ausgehend vor allem von MARC BLOCHS Societe feodale, aber auch von den neueren Ansätzen KARL BOSLS und NORBERT ELIAS', ist der egentliche epische Weltzustand das Stadium des „premier äge feodale", das das „heroic age" (das „Vor-Epische") ablöst. Die Heldenepik ist Ausdruck der Mentalität der frühfeudalen Gesellschaft. Sie reflektiert die Konflikte des Übergangs zweier Gesellschaftsstufen in den widersprüchlichen Momenten des Weltzustandes. Während die Heldendichtung in der Periode der Völkerwanderung noch Anliegen aller ist, verliert sie mit der Verlagerung von militärischer und rechtlicher Gewalt auf eine dünne Adelsschicht ihren gesellschaftlichen Rückhalt; die Heldenepik wird im „deuxieme äge feodale" (das „Prosaische") durch die höfische Epik abgelöst. Das Verhältnis von Epos und Geschichte, bisher beherrschendes Forschungsproblem, kann nicht mehr primär bestimmt werden als „die Suche nach dem konkreten Faktum in der Geschichte", sondern Geschichte erscheint

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eher als Ausdruck konkret sozialhistorischer Problematik. Die Nibelungen am Rhein oder in Westfalen, solche mit schöner Regelmäßigkeit den Buchmarkt heimsuchenden Publikationen, sind damit ad absurdum geführt. Insgesamt ist die vorliegende Arbeit ein interessanter Versuch, der mittelhochdeutschen Heldendichtung ihren „Sitz im Leben" zuzuweisen, unabhängig von aller Lokalhistorie oder den verschiedenen Entstehungstheorien, die die Forschung lange und fruchtlos beschäftigt haben. Unbehagen bleibt dennoch zurück; Das Hegelsche Theoriekonzept, selbst historisch bedingt, wird zum scheinbar überzeitlichen Interpretationsmodell. Schon BODMER hatte BLACKWELLS These, der die Entstehung des Epos auf die Verhältnisse in der spätmykenischen Gesellschaft zurückführt, in einer gewagten Analogie auf mittelalterliche Verhältnisse übertragen. Über BLACKWELL wird BODMER die Ilias zum Rezeptionsmodell des Nibelungenliedes. Nur so viel zur historischen Realitivität auch des Hegelschen Konzepts. Ungeachtet aller Neigungen, Orientierungshilfen aus der Philosophie oder - in der letzten Zeit verstärkt - aus den Sozialwissenschaften zu beziehen, ist die Literatur-„Wissenschaft" in erster Linie eine hermeneutische Disziplin, mit einem eigenen Wahrheitsbegriff. PETER SZONDI hat in seinem Traktat „Über philologische Erkenntnis" davor gewarnt, daß die Literaturwissenschaft, wo sie versucht ist, ihre Erkenntnis Kriterien zu unterwerfen, die ihre Wissenschaftlichkeit verbürgen sollen, sie „gerade in Frage stellen, weil sie dem Gegenstand inadäquat sind" (Hölderlin-Studien. Frankfurt a. M. 1970, 33). Ursula Rautenberg (Bochum)

Jacques D'Hondt: Hegel et rhegelianisme.Paris: Presses universitaires de

France 1982. 127 S. (Que sais-je? Bd 1029.) Dem Versuch, ein Werk wie dasjenige Hegels in einem so engen Rahmen darzustellen, stehen sicher beträchtliche Schwierigkeiten im Wege: sein Umfang und seine Schwierigkeit, die Tatsache, daß es sich über fast 40 Jahre hinweg entwickelt hat, und nicht zuletzt die Editionslage. Umso anerkennenswerter ist es, daß es dem Verfasser gelungen ist, einen Durchblick durch dieses Werk zu geben, der durchweg auf dem letzten Stand der Forschung ist und sich durch Übersichtlichkeit, Klarheit und eine Eleganz des Stils auszeichnet, die zumindest in Deutschland nicht alltäglich ist. Hegel weist der Philosophie seiner Zeit in dem Beziehungsgeflecht Epoche Schriftsteller - Publikum eine einzigartige Stellung zu. Philosophie ist ihre Zeit, in

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Gedanken gefaßt. Mag das, was an der Zeit ist, allgemein bekannt sein - es zu erkennen, ist Aufgabe des Philosophen. Allein er vermag angemessen zu begreifen, was die Epoche Hegels vor allen anderen auszeichnet; die Parousie des Absoluten. Gleichwohl ist das Werk Hegels krassen Mißdeutungen ausgesetzt gewesen. Diese liegen teils in ihm selbst begründet, etwa in Irrtümern auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und der gelegentlichen Ungewandtheit und sogar Unklarheit der Darstellung, teils aber auch in der Vorurteilsbeladenheit und Trägheit der Leser, die sich der Kühnheit der Spekulation Hegels und der Neuheit seiner Methode nicht gewachsen gezeigt haben. Im ersten Kapitel gibt D'HONDT U. a. einen kenntnisreichen Überblick über die weltweite Wirkungsgeschichte des Hegelschen Werks. Den deutschen Leser wird besonders die Geschichte des Hegelianismus in Frankreich interessieren. Hegel ist im „französischen Jahrhundert" aufgewachsen; französische Kultur, nicht zuletzt die Aufklärung, hat ihn mitgeprägt und ist in vielfältiger Weise in sein Werk eingegangen. Umso erstaunlicher ist es, daß sein Denken in Frankreich lange auf Mißtrauen, ja auf entschiedene Ablehnung gestoßen ist. Dies ist darauf zurückzuführen, daß am Anfang der Hegel-Rezeption in Frankreich ein Artikel SCHWEIGHAUSERS aus dem Jahre 1804 steht, in dem Hegel Eigenschaften zugeschrieben werden, die dann ein Jahrhundert lang mit seinem Namen verbunden bleiben sollten: unauslotbare Dunkelheit, abstruse Metaphysik, Pantheismus, der sich dem Atheismus nähert, und heimlicher Spinozismus - genug, um ihn im offiziellen, d. h. katholischen Frankreich verdächtig zu machen. Da seine politischen Ideen in Frankreich von den Junghegelianern verbreitet wurden, gesellte sich Mißtrauen gegen seine politische Philosophie bald der Abneigung gegen seine Metaphysik hinzu. Der Eklektizismus COUSINS war nicht dazu berufen, einer treffenderen Hegel-Auffassung den Weg zu bahnen. Dies blieb bescheidenen, aber seriösen Arbeiten von WiLLM, OTT und anderen sowie einigen Übersetzern Vorbehalten. Französische Philosophen wie VACHEROT und TAINE sind teilweise von Hegel beeinflußt. Dagegen schwieg ihn die Universität tot. Eine Wende im Verhältnis Frankreichs zu Hegel kündigte sich erst vor dem Zweiten Weltkrieg an. Der von J. HYPPOLITE, A. KOJEVE, A. KOYRE, J. WAHL und E. WEIL gebahnte Pfad ist inzwischen zu einer breiten Heerstraße geworden. - Seit langem umstritten ist die Frage, in welchem Verhältnis MARX und ENGELS ZU Hegel stehen. Gilt für die einen als ausgemacht, daß sie die „Nachfolger" Hegels sind, so behaupten die anderen, es gebe überhaupt keinen Bezug zwischen ihnen und Hegel. Wie immer es mit der These von der „Nachfolge" bestellt sein mag - MARX und ENGELS selbst haben sich klar gegen die These von der Diskontinuität ausgesprochen. ln einem zweiten Kapitel gibt D'HONDT einen Durchblick durch das Hegelsche System. Zu Recht stellt er das Problem „System und Religion" an den Anfang seiner Darstellung, hat doch Hegel selbst auf die Bedeutung seines lutherischen Glaubens für sein Denken hingewiesen. Hegels Religionsphilosophie stellt sich

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als ein Kompromiß mit vielen inneren Widersprüchen dar; sie ist ein Versuch, die gefährdete Religion durch Spekulation zu retten. Hegel selbst hat mit solcher Festigkeit behauptet, die Philosophie als ein strenges System dargestellt zu haben, daß es ihm viele geglaubt haben. Seine Behauptung muß aber in Zweifel gezogen werden; insbesondere ist zu fragen, ob Dialektik und Spekulation wirklich in einem unauflösbaren Zusammenhang stehen. Geht nicht die These, das Hegelsche System sei nur als Ganzes zu betrachten, von einer überholten Auffassung der Philosophie aus, die jedes System als autonom ansieht? Ist nicht vielmehr jedes philosophische Denken an soziale und kulturelle Bedingungen geknüpft? Warum soll man Hegel nicht in eine Perspektive der Geschichte der Philosophie stellen? Schließlich ist er mit anderen Denkern ebenso verfahren. Verzichten wir darauf, die Dialektik an ein System zu binden, so könnten wir das dialektische Erbe retten. Hegels Konzeption von Geschichte und Geschichtlichkeit können wir heute nicht mehr beibehalten, auch wenn unsere Geschichtsauffassung immer noch weitgehend von der Hegelschen geprägt ist. Wie kein anderer hat Hegel hervorgehoben, daß jede Periode der Geschichte ihren spezifischen Charakter hat. Mit diesem lebhaften Gefühl für die Andersheit der geschichtlichen Perioden hat er das für die Kontinuität der Geschichte verbunden. Vielleicht führt der Weg der Geschichte am ehesten in die Tiefen des Hegelschen Denkens, auch wenn sich dieses selbst am Ende in die Kontemplation der Idee flüchtet. Friedrich Hogemann (Bochum)

KURZREFERATE UND SELBSTANZEIGEN

Robert Devos: G. W. F. Hegel. Phänomenologie des Geistes. Die offenbare Religion. Einleitung, Übersetzung und Kommentar. Löwen, Phil. Diss. 1983. Absicht dieser Dissertation ist es hauptsächlich, das Kapitel Die offenbare Religion getreu zu übersetzen und detailliert zu kommentieren. Aus der Überzeugung heraus, daß die Phänomenologie ihre eigene Erfahrungslogik vermittelt, wird zugesehen, wie das religiöse Bewußtsein sich selbst bestimmt, sich erprobt und so in neue Gestalten übergeht. Wo Hegel auf vorhergehende Bewegungen in der Phänomenologie verweist, lokalisiert der Kommentar die parallelen Stellen und versucht zu begreifen, wie eine frühere Dialektik innerhalb einer späteren Figur aufs neue wirksam ist. Es wird gezeigt, wie die Dynamik der Religion selbst auf ihre letzte Aufhebung im absoluten Wissen hinweist. In der ausführlichen Einleitung wird die offenbare Religion in ihren Kön-Text gestellt. Der Autor behandelt die Bedeutung der Phänomenologie als Einleitung zum System und als ersten Teiles desselben; er bespricht die Vorgeschichte des religiösen Bewußtseins, die es sinnvoll und notwendig macht, die Religion zur Sprache zu bringen; ebenfalls die Bedeutung des Christentums als offenbarer und absoluter Religion und das Verhältnis zwischen Religion und absolutem Wissen. Dazu wurde auch eine Studie geschrieben über die von LABARRIERE so genannten „architektonischen Texte" in der Phänomenologie. Abschließend betont der Autor die Wichtigkeit einer genauen Abgrenzung der phänomenologischen Religionsproblematik; von dieser Abgrenzung aus werden manche Eigentümlichkeiten in der Art und Weise beleuchtet, wie das Christentum zur Sprache gebracht wird. Es wird eingegangen auf die Tragweite des absoluten Wissens, als Element der Wissenschaft und Anbruch einer neuen Periode. Die These wird aufgestellt, daß in der Genese des absoluten Wissens die Religion ein notwendiges Moment darstellt, das als Vorstellung des absoluten Inhaltes im Akt des Begreifens bleibend-konstitutiv ist. R. D.

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Kurzreferate und Selbstanzeigen

Norbert Waszek: The Scottish englightenment and Hegel's political philosophy.

University of Cambridge, Phil. Diss. 1983. XIII, 290 S.

Der zentrale Gegenstand dieser englischsprachigen Dissertation ist der Einfluß der schottischen Aufklärung (DAVID HUME, ADAM SMITH, ADAM FERGUSON, SIR JAMES STEUART U. a.) auf Hegels Rechtsphilosophie. Die Einleitung enthält neben einer Forschungsgeschichte zum Thema „Hegel und die Aufklärung" und einem Versuch, die Identität der schottischen Aufklärung über den indirekten Weg eines Literaturberichts zu begründen, auch eine Aktualisierung des Hegelschen Denkens, die sich in drei Gebieten (Rechtsstaatlichkeit, Verhältnis von Staat und Gesellschaft, Religionsphilosophie) zum Hegelianismus bekennt. Das zweite Kapitel, welches durch drei bibliographische Anhänge ergänzt wird, erörtert grundlegende Aspekte der Rezeption der schottischen Aufklärung im deutschsprachigen Raum während des 18. Jahrhunderts und bildet auf diese Weise den Hintergrund für Hegels Beschäftigung mit den schottischen Denkern. Die in den Anhängen gesammelten Daten über zeitgenössische Übersetzungen, Rezensionen und Popularisationen werden analysiert und durch eine Skizze der Einführung der SMITHschen Ökonomie im Lehrplan deutscher Universitäten ergänzt. Das dritte Kapitel nähert sich der Hegelschen Auseinandersetzung mit der schottischen Aufklärung über die biographische Forschung und behandelt in drei Abschnitten: (a) Hegels Kenntnis der englischen Sprache; (b) Daten und Umfang von Hegels Lektüre der schottischen Philosophen; (c) Hegels explizite Äußerungen über HUME, SMITH, u. a. ROSENKRANZ' Bericht über den verlorenen SrEUART-Kommentar und Hegels Fragment über HUME als Geschichtsschreiber werden im zweiten bzw. dritten Abschnitt dieses Kapitels interpretiert. Der dritte Abschnitt zieht auch bisher unveröffentlichte Vorlesungsnachschriften über die Philosophiegeschichte heran. Die Kapitel 4-6 behandeln ausgewählte Themen der Hegelschen Rechtsphilosophie im Lichte des schottischen Einflusses. Das vierte Kapitel betrachtet unter dem Titel „Hegels Darstellung der Marktwirtschaft" die grundlegenden Gebiete: Bedürfnis, Arbeit, Tausch und Stände. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit Hegels Position in der Suche nach dem angemessenen Verhältnis von Gesellschaft und Staat: Hegels „liberalisme interventionniste" (CHAMLEY) wird in zahlreichen Einzelheiten (notwendige Gebiete und Methoden staatlicher Intervention, bei Aufrechterhaltung „liberaler" Rahmenbedingungen) auf die Lehren von SMITH und STEUART zurückgeführt. Das sechste Kapitel konzentriert die vorherigen Ausführungen (Hegels Marktmodell, dessen innere Probleme und die damit notwendigen „polizeilichen" Eingriffe) im Brennpunkt des Problems der Arbeitsteilung und damit auch (implizit) der Entfremdungsdebatte. Neben zahlreichen Einzelergebnissen, die den Forschungsstand zu Hegels Rezeption einer bedeutenden sozialphilosophischen Schule erweitern, deutet diese Dissertation auf eine notwendige Korrektur hin: Hegel ist einseitig auf die französische Revolution festgelegt worden, aber

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Großbritannien (insbesondere Schottland) zeigte ihm ökonomisch-industrielle und intellektuelle Fortschritte, die für seine Philosophie ebenso wichtig waren. Norbert Waszek (Cambridge)

Philosophie et politique.Bruxelles: Editions de l'Universite de Bruxelles 1981. 168 S. (Universite Libre de Bruxelles. Morale et Enseignement. Annales de l'lnstitut de Philosophie et de Sciences morales 1980-1981.) Die in dem Band versammelten Aufsätze sollen die politische Philosophie der Gegenwart ihrer Aufgabe vergewissern, sowohl philosophische Reflexion wie politische Praxis zu ihrem Recht kommen zu lassen. Dazu wird in zwei Beiträgen auch Hegel thematisiert: JACQUES D'HONDT (Hegel - Hamlet. Le probleme du passage ä l'acte politique. 23-43) hebt die entscheidende Rolle des Hegelschen Theorie-PraxisVerständnisses für MARX und ENGELS hervor, weil es Reflexion und Aktivität miteinander verbunden habe. Das Bild des zaudernden Hamlet, von Kritikern gern auf Hegel bezogen, habe Hegel selbst vielmehr dazu benutzt, um den Quietismus deutscher Intellektueller gegen den Aktionismus der Franzosen abzuheben. JACQUES TAMINIAUX (Hegel et Hobbes. 45-73) stellt Hegels Naturrechtsauffassung in eine Linie mit HOBBES. Er interpretiert HOBBES in Anlehnung an LEO STRAUSS als radikale Gegenposition zum klassischen Naturrecht, und demgemäß bemüht er sich um den Nachweis, daß Hegels Rezeption von HOBBES, bei aller Kritik an der Oberfläche, „temoigne d'une rupture avec les traits dominants de la philosophie politique antique" (55). Gerhard Göhler (Berlin)

Manfred Riedel: Zwischen Tradition und Revolution. Studien zu Hegels Rechtsphilosophie. Erweiterte Neuausgabe. Stuttgart: Klett-Cotta 1982. 236 S. Studien zu Hegels Rechtsphilosophie (1969), die nun - zusammen mit zwei Arbeiten aus dem vergriffenen Aufsatzband System und Geschichte (1972) und einem bislang nur auf italienisch zugänglichen Aufsatz von 1976 über Dialektik in Institutionen (40-64) - wiedererscheinen, nehmen den Rang klassischer Dokumente der neueren Hegel-Beschäftigung ein. Durch sie wurde - in Fortführung der Ansätze JOACHIM RITTERS - eine Rezeption eingeleitet, die Hegels Rechtsphilosophie MANFRED RIEDELS

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aus dem ihr anhaftenden Geruch des Konservativen, ja Reaktionären zu befreien suchte und einer „liberalen" Auslegung Raum verschaffte. Sie rückten Hegels Ausführungen über die „bürgerliche", aus staatlichen Zwängen freigesetzte Gesellschaft in den Mittelpunkt des Interesses und erschlossen damit wichtige Problemzusammenhänge der politischen Philosophie Hegels (und der Realität gegenwärtiger Gesellschaften) einer vorurteilsfreieren Diskussion. Die Rechtsphilosophie mußte ferner nicht mehr als „jener autoritär-vernunftlose Abgrund" betrachtet werden, „der sich den kurzschlüssigen Lektüren ... (von R. HAYM bis hin zu K.-R. POPPER) aufgetan hat" (Vorwort zur Neuausgabe). Sie konnte vielmehr als Selbstthematisierung der modernen Gesellschaften, als Vermittlungsversuch zwischen Tradition und Revolution ausgelegt werden. Natürlich waren damit die der Rechtsphilosophie immanenten Interpretationsprobleme noch nicht allesamt gelöst, sondern nur erst aufgeworfen. Aber RIEDELS Studien waren und bleiben wichtige Interpretationshilfen für jeden, der sich einen Zugang zur Rechtsphilosophie bahnen oder die Klärung ihrer Probleme voranbringen möchte. Klaus Roth (Berlin)

Hans-Christoph Jahr: Die Bedeutung des Erfolges für das Problem der Strafmilderung beim Versuch. Ein strafrechtlich-rechtsphilosophischer Begründungsversuch auf der Grundlage der Lehre Hegels. Frankfurt/M, Bern, Cirencester/ U. K.: Lang 1981. 116 S. (Europäische Hochschulschriften. Reihe 2: Rechtswissenschaft. Bd 257.) Kann Hegel einen Beitrag leisten für die Klärung strittiger Fragen in der gegenwärtigen Strafrechtstheorie? Diese Frage stellt sich H.-C. JAHR in seiner juristischen Dissertation (Frankfurt/M). Und er bejaht diese Frage: Die Lehre Hegels biete - im Gegensatz zur modernen Lehre vom Erfolgs- oder Handlungsunwert, die beide auf einer gegenständlichen Betrachtungsweise beruhen, - einen stringenten Begründungszusammenhang für die Frage der Strafmilderung beim versuchten Verbrechen an. Aus ihr lasse sich eine zwingende Alternative zum Prinzip der fakultativen Strafmilderung ableiten, nämlich das Prinzip der obligatorischen Strafmilderung beim nicht vollendeten Delikt. Die Möglichkeit dieser Alternative lasse sich nur von einem Begründungszusammenhang aus erklären, der wirkliche ex ante - Urteile und damit dem Theoretiker (und dem Richter) ermögliche, in die Rolle des Handelnden selbst zu schlüpfen. Voraussetzung dafür sei der - von Hegel im Anschluß an KANT vollzogene - Wechsel von einer Denkweise, die die Umwelt in Beziehung auf das Individuum bestimmt, zu einer solchen, die das Individuum in Beziehung auf die Umwelt bestimmt. Das richterliche Urteil müsse - methodisch gesehen - synthetisierend und nicht analysierend sein, also

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im Blick auf „das Ganze" denken. Um eine Handlung und ihre direkt oder nicht direkt intendierten Folgen angemessen beurteilen zu können, müsse eine übergreifende Kategorie vorausgesetzt werden, die beide, sowohl den Handelnden selbst als auch seine Beurteilung bestimmt und somit Maßstab beider ist: die menschliche Gattungsvernunft. JAHRS Anliegen ist es nun, „auf der Grundlage der Lehre Hegels eine allein an der Kategorie der Vernunft ausgerichtete Begründung der Strafmilderung beim Versuch zu entwerfen" (16). Dieser Entwurf, der Hauptteil der Arbeit (39-111), kann als Versuch angesehen werden, den in Hegels Werk nicht bewanderten Juristen die Struktur und die Grundlagen der Rechtsphilosophie, insbesondere der Teile über das abstrakte Recht und die Moralität nahezubringen. Er beschränkt sich weitestgehend auf eine interpretierende Wiedergabe und bleibt den Hegelschen Vorgaben in unkritischer Weise verhaftet, gewinnt nicht die nötige Distanz, um diese selbst beurteilen zu können. Klaus Roth (Berlin)

Zbigniew Kuderowicz: Wolnosc i historia. Studia o filozofii Hegla i jej losach [Freiheit und Geschichte. Studien über Hegels Philosophie und Ihre Rezeption]. Warszawa 1981. Der Band enthält zehn Studien: 1) Die Aspekte des Begriffs der Freiheit bei Hegel. Der Begriff der Freiheit dient einerseits zur Bezeichnung des Grades der Selbstbewegung verschiedener Bereiche der Kultur und des gesellschaftlichen Lebens, andererseits der spezifischen Situation, in der der Einzelne für seine Handlungsweise und deren Folgen verantwortlich ist. Die subjektive Freiheit ist garantiert durch vernunftbezogene Ansichten, die objektive durch allgemeine Prinzipien, die die gesellschaftlichen Verhältnisse regeln. - 2) Hegels Logik und das Prinzip der moralischen Verantwortung. Die Überwindung der Entfremdung in sozialen und kulturellen Institutionen verbindet sich mit der Herausbildung der Verantwortung beim tätigen Subjekt für die Verwirklichung allgemeiner Werte. Das Individuum übernimmt dann die Verantwortung für die Realisierung moralischer Werte im gesellschaftlichen Leben. - 3) Der historische Relativismus und die Hegelsche Ethik. Nach KUDEROWICZ ist die Hegelsche Philosophie ein Versuch der Vereinigung des historischen Relativismus und des Absolutismus. Es gibt zwei Grenzen des historischen Relativismus, a) die Theorie der historischen Kontinuität; b) die historische Theologie. - 4) Das Problem der Kontinuität der Kultur. KUDEROWICZ untersucht das Problem der Kontinuität in der Entwicklung und Fortsetzung der Kultur in der Hegelschen Philosophie. Die Dialektik erklärt und begründet die Unvergänglichkeit kulturphilosophischer Werte. - 5) Der Essay Moralität und Utopie untersucht die Zusammenhänge zwischen der utopischen Einstellung (die dazu führt, daß man im Denken über die aktuelle Gesellschaftsordnung hinausschreitet) und der

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moralischen Beurteilung gesellschaftlicher Einrichtungen. - 6) In Die Kunst und das Prinzip des Fortschritts analysiert KUDEROWICZ den Zusammenhang der Ästhetik mit Hegels Historiosophie. Die Auffassung der Kunst ist bei Hegel in erster Linie als Verwirklichung des Bewußtseins der Freiheit zu deuten, - 7) Unter der Frage: War Hegel ein romantischer Konservativer? setzt KUDEROWICZ sich mit dem Standpunkt K. MANNHEIMS auseinander, der Hegel und ADAM MüLLER als Vertreter der gleichen Denkweise, nämlich des „konservativen Denkens", betrachtet. - 8) In Die Mission der Philosophie und ihre Wandlungen werden anhand der Auseinandersetzung FEUERBACHS und STIRNERS mit der Hegelschen Philosophie in den Jahren 1839-1845 die Umwandlungen dargestellt, die sich in den Auffassungen über die Aufgabe der Philosophie im intellektuellen und gesellschaftlichen Leben dieser Zeit vollzogen haben. - 9) Philosophie und Geschichte bei Dembowski charakterisiert die Ansichten des polnischen Denkers EDWARD DEMBOWSKI (1822-1846) über die Rolle der Philosophie in der Kultur und Gesellschaft. - 10) Der Aufsatz Der Hegelianismus in der Gegemvartsphilosophie bespricht das Verhältnis der Gegenwartsphilosophie, besonders des Existentialismus (HEIDEGGER, JASPERS, SARTRE), zum Hegelschen Erbe. Z. K.

Moses Heß: Philosophische und sozialistische Schriften 1837-1850. Eine Auswahl. Herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Mönke. Zweite, bearbeitete Auflage. Vaduz/Liechtenstein: Topos Verlag. 1980. CIII, 545 S. Die philosophischen und sozialistischen Schriften von MOSES HESS erschienen in fotomechanischem Nachdruck der ersten, von A. CORNU und W. MöNKE 1961 im Ost-Berliner Akademie-Verlag herausgegebenen, seit langem vergriffenen Auflage. Verändert und stark erweitert wurde die von MöNKE verfaßte Einleitung. Die Berücksichtigung neuer, insbesondere eigener Forschungsergebnisse, die MöNKE im Zusammenhang seiner Ost-Berliner Dissertation über den „wahren Sozialismus" (1971) gewann, führten zu Modifikationen im gezeichneten Hsss-Bild, die insgesamt auf die Aberkennung der früher festgehaltenen Originalität des jüdischen Sozialisten hinauslaufen. Wie schon in der früheren Einleitung wird der (potentielle) Einfluß von HESS auf MARX und ENGELS heruntergespielt, ja sogar noch geringer veranschlagt, indem die derzeit festgehaltenen Verdienste von HESS als sozialistischer Theoretiker nunmehr zurückgenommen werden: Alle Elemente seiner Sozialkritik seien bereits in der deutschen Literatur vertreten gewesen, von der westeuropäischen Literatur ganz zu schweigen (XX). Dennoch bleibt MöNKES, durch Aufnahme neuer Quellen vertiefte Analyse wichtig, das Buch insgesamt ein unüberschätzbares Dokument der nachhegelschen Philosophie-Entwicklung. Klaus Roth (Berlin)

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Rudolf Ruzicka: Selbstentfremdung und Ideologie. Zum Ideologieproblem bei

Hegel und den Junghegelianern. Bonn: Bouvier 1977. 120 S. befragt in seiner Dissertation (Basel 1973) die Phänomenologie des Geistes, insbesondere die Vorrede und die sogenannte „Einleitung", nach dem Beitrag HEGELS zur Ideologieproblematik (1-34). Hegel bereite darin nicht nur den Boden für die religions- und gesellschaftskritische Tätigkeit der Junghegelianer, sondern thematisiere darüber hinaus Fragen, die für die Ideologieproblematik grundlegend sind. Und zwar durchleuchte er mit dem Begriff der Selbstentfremdung die Möglichkeit der Ideologie, mit dem Begriff der „Reflexion in sich" die Möglichkeit der Ideologiekritik, d. h. der Aufhebung von Ideologie. Der Weg von der Phänomenologie zur Deutschen Ideologie von MARX und ENGELS verlaufe über die Ideologiekritik der Junghegelianer, von denen RUZICKA B. BAUER, L. FEUERBACH und M. STIRNER herausgreift. Diese Entwicklung sei wesentlich gekennzeichnet durch den Verlust der Dialektik. Alle drei Junghegelianer hätten durch die undialektische Fassung des Entfremdungsbegriffs den Inhalt der Selbstentfremdung auf deren Subjekt bzw. auf die das Subjekt bestimmende Substanz reduziert. Diese Reduktionen werden von RUZICKA, der darin für die Ideologieproblematik einen Rückfall hinter Hegel sieht, am breiten Material ihrer Schriften nachgewiesen, die durchgängig analysiert, aber auf den ideologietheoretischen Aspekt verengt werden. Klaus Roth (Berlin) RUDOLF RUZICKA

II marxismo della maturitä di Lukäcs. Hrsg, von G. Oldini. Napoli: Prismi

1983. 225 S. Der Band sammelt Beiträge verschiedener Verfasser über die intellektuelle und politische Entwicklung LUKäCS' in den Jahren nach Geschichte und Klassenbewußtsein. Als einen zentralen Punkt behandeln die Beiträge LUKäCS' Aufnahme und Interpretation des marxistischen Denkens, die - in Zusammenwirkung mit den Erfordernissen des kulturpolitischen Kampfes gegen die faschistischen Umdeutungen der klassischen Philosophie und Literatur und somit auch mit dem DefiniHons- und Gründungsversuch einer marxistischen Ästhetik - auch seine Auseinandersetzung mit Hegel prägt. M. Z.

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Wolfgang Klafki: Die Pädagogik Theodor Litts. Eine kritische Vergegenwärtigung. Königstein/T.: Scriptor Verlag 1982. X, 499 S. Es ist nicht überraschend, daß in dieser ersten ausführlichen Gesamtdarstellung der Pädagogik THEODOR LITTS unter den im Personenregister genannten historischen Denkern Hegel die meisten Bezugsstellen aufweist. Zutreffend betont KLAFKI im biographischen wie im interpretierenden Teil des Buches, daß LITT auf seinem Denkweg, nach neukantianischen Anfängen und einer starken Orientierung an der Phänomenologie, im Laufe der zwanziger Jahre unter dem Einfluß Hegels eine entschiedene Hinwendung zur Dialektik vollzieht und diese Grundeinstellung dann nicht mehr preisgibt. Darüber hinaus wird sichtbar gemacht, daß LITT in seinen bildungstheoretischen Schriften immer wieder Kritik an subjektivistischen Ansätzen und harmonistischen Leitbildvorstellungen geübt hat und daß auch hier die Affinität zu Hegel bzw. die Ausstrahlung des Hegelschen Werkes wirksam ist. Die am Ende des Buches (409-416) von KLAFKI angestellten Überlegungen „Zum Problem der Dialektik in LITTS Pädagogik" (sie könnten ebensogut überschrieben sein: „Zur Differenzierung des Lirrschen Dialektik-Begriffs") lassen sich zweifellos auch lesen als impliziter Beitrag zur Wirkungsgeschichte Hegels im 20. Jahrhundert. Zu fragen ist, ob die Hinweise auf Hegel nicht im ganzen etwas zu globalkonstatierend bleiben. Gewiß wäre es - unbeschadet der begründbaren Beschränkung auf die Pädagogik Lirrs - an manchen Stellen von Gewinn gewesen, inhaltlich näher auf LITTS Hegelinterpretation einzugehen und sie für die Herleitung oder das Verständnis seiner pädagogischen Denkansätze fruchtbar zu machen; etwa im Zusammenhang mit dem Begriff der Tradition oder zur Fundierung und Eingrenzung des geschichts- und gegenwartsanalytischen Bewußtseins, dessen Entfaltung LITT dem Lehrer und Erzieher als Voraussetzung für seine Tätigkeit so nachdrücklich zur Aufgabe gemacht hat. F. N.

Lothar Wigger: Handlungstheorie und Pädagogik. Eine systematisch-kritische Analyse des Handlungsbegriffs als pädagogischer Grundkategorie. Sankt Augustin: Richarz 1983. (Beiträge zur Pädagogik. 2.) In dieser Bonner Dissertation (bei J. DERBOLAV) versucht WIGGER, einen philosophisch begründeten Handlungsbegriff für die Pädagogik fruchtbar zu machen. Der Darstellung des „Handlungsbegriffs als pädagogischer Grundkategorie" vorgeschaltet ist eine breite Auseinandersetzung mit den wichtigsten handlungstheoretischen Konzepten der klassischen Philosophie, nämlich denen von ARISTO-

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und Hegel. WIGGER stellt im Hegel-Kapitel (53-70) einmal Hegels Kritik an KANTS Versubjektivierung und Formalisierung der Freiheit dar, dann den Begriff des Handelns im Ausgang von § 113 der Rechtsphilosophie. Hier geht WIGGER mit den neueren Auslegungen konform, die in dem Moralitäts-Teil insgesamt eine Art von Handlungslehre erblicken. Die Aufhebung der Sphäre der Moralität in der Sittlichkeit wird verstanden als exemplarische Kritik einer notwendig formell bleibenden Strukturanalyse des Handelns. Nach einem Überblick über die zeitgenössische angelsächsische (sprach-)analytische Handlungstheorie stellt WIGGER abschließend die handlungstheoretischen Erziehungs-Konzepte von BREZINKA, MOLLENHAUER und DERBOLAV vor. TELES, KANT

C.J.

Renate Wieland: Zur Dialektik des ästhetischen Scheins. Vergleichende Studien zu Hegels Phänomenologie des Geistes, der Ästhetik und Goethes Faust II. Königstein/Ts.; Forum Academicum 1981. 283 S. (Monographien zur philosophischen Forschung. Bd 203.) Diese unsystematische Zitatensammlung aus Hegel und GOETHE möchte die wechselseitige Berührung Hegels und GOETHES belegen: GOETHE und Hegel haben nicht nur parallele Gedanken; ihre Gedanken sind auch entgegengesetzt, und GOETHE übersetzt bestimmte Thesen Hegels in dichterische Form. Nach diesen vagen einleitenden Behauptungen wird im ersten Teil das HoTHOSche Diktum über das sinnliche Scheinen der Idee als die dialektische Wesensbestimmung der Kunst erfaßt. Der zweite Teil bespricht GOETHES Faust II als Opus der Kunst über die Kunst. Im dritten Teil werden Hegel und GOETHE wieder verglichen: Einerseits dementiere Hegel mit der These, daß die Griechische Kunst die Höchste sei, die These vom Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, andererseits wehre sich Hegels eigene Erfahrung gegen das Ende der Kunst. Der GoETHESchen Selbstreflexion im Faust II dagegen gelinge die Selbstaufhebung der Kunst in deren eigener Erscheinung. Lu De Vos (Löwen)

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G. W.F. Hegel: Sul Wallenstein. Chi pensa astrattamente? [Über Wallenstein. Wer denkt abstrakt?] A cura di Furia Calori. Roma: Cadmo 1980. 109 S. Das Büchlein enthält die Übersetzung der zwei kurzen Schriften Hegels, ausführlich eingeleitet und erläutert. Im Begriff des Schickais, wie dieser in den Jugendschriften dargestellt wird, und zwar als Schicksal des Unterganges jedes Bestimmten, das sich verabsolutieren will, aber gezwungen ist, in sein Entgegengesetztes überzugehen und damit sich zu negieren, sieht VALORI den Gedanken, der beide Aufsätze miteinander und mit dem gesamten Denken Hegels verbindet. Das gibt dem Übersetzer Anlaß, Überlegungen über das Verhältnis zwischen Schicksal und Dialektik zu entwickeln, wobei Hegels Werke von den Jugendschriften bis zur Enzyklopädie und den Vorlesungen herangezogen werden. Giannino V. Di Tommaso (L'Aquila)

Bruno Liebrucks: Irrationaler Logos und rationaler Mythos.Würzhuig: Königs-

hausen und Neumann 1982. 373 S. Die hier vorgelegte Aufsatzsammlung (meist Wiederabdrucke, zwei bisher unveröffentlichte Texte: „HöLDERLIN als Dichter des Friedens", „Ist Sprache Handlung?") läßt sich gebrauchen als handlicher Schlüssel zu LIEBRUCKS' monumentalem Werk Sprache und Bewußtsein, das die logische Bedeutung des Mythos zum Thema hat, was besonders an Hegels Logik und HöLDERLINS Poesie zu zeigen versucht wird. Dieses Thema durchzieht auch alle in diesem Band vereinigten Arbeiten. „Die Philosophie von der Sprache her ist noch nicht da", schreibt LIEBRUCKS im Vorwort (9); es gehe ihm hier nicht um den Brückenschlag zwischen Hegel (Logos) und ' HöLDERLIN (Mythos), sondern bescheidener um den Nachweis, „daß die Hegelsche Logik im Zusammenhang der Frage nach einer Philosophie von der Sprache her als das Avantgardistischste anzusehen ist, was bisher auf dem Gebiet nun nicht der Sprache, sondern der Logik erschienen ist" (ebd.). LIEBRUCKS unterscheidet „Drei Revolutionen der Denkart" (77-97), deren dritte - nach PLATON und KANT Hegel verkörpert (91-97). Die Größe der Hegelschen Wissenschaft der Logik (und hier besonders des dritten Teils, der Begriffslogik) bestehe darin, „daß der Mensch als sprachlich existierender Begriff begriffen ist" (94), Hegel bildet denn auch den ex- wie impliziten Mittelpunkt eigentlich aller hier versammelten Aufsätze. „Da wir bis heute an der Hegelschen Logik vorbeigegangen sind, müssen wir diese Denkbewegung erst noch in uns erzeugen, wenn wir die Geschehnisse der Zeit mit der Bewußtheit begleiten können sollen, die den großen Umwandlungen entspricht, die heute in der Welt stattfinden." (47 f) Hegel zur Seite steht HöLDERLIN, - anders als bei HEIDEGGER, der HöLDERLIN stets von Hegel und dem Deutschen Idealismus abzurücken suchte. „Meine These über HöLDERLINS Werk

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lautet, daß in ihm dichterisch ausgesprochen ist, wohin auch die Logik Hegels führt. Es ist, ins Didaktische übersetzt, die Thematik des Friedens." (222) Dieser HOLDERLiNSche Mythos des Friedens meint im Kern nichts anderes als ein neues Verhältnis des Menschen zur Natur, ein Ende ihrer wissenschaftlichen Vernutzung: „Nur in diesem Frieden hat der Mensch sich selbst als existierender Begriff und als existierende Zeit. Der Krieg ist der Vater der Welt der Positivität." (219) Christoph Jamme (Bochum)

Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Band 9: Dichtungen nach 1806. Mündliches. Hrsg. V. Michael Franz und D. E. Sattler. Frankfurt a. M.: Roter

Stern 1983. 511 S. Der vorliegende Band versammelt die, wie die Herausgeber mit Recht sagen, „immer noch nach falschem Maßstab beurteilten" Dichtungen HöLDERLINS nach 1806, also die sog. Wahnsinnsgedichte. Diese Poesien belegen sehr gut, welch klares Bewußtsein HöLDERLIN von seiner Krankheit hatte (wie im übrigen auch Passagen aus den SoPHOKLEs-Übersetzungen und -anmerkungen). Der zweite Teil des Bandes versammelt alle Dokumente, die die mündlichen Äußerungen des Dichters enthalten, und zwar vom Verhör durch den Ephorus des Tübinger Stifts bis zu den Berichten über den wahnsinnigen Dichter im Turm. Dieser Teil enthält auch bisher ungedrucktes Material zur Biographie, so einen Entwurf eines Lebensabrißes von KARL GOCK. Hier findet HöLDERLINS Freundschaft mit Hegel Berücksichtigung: „Im Oktober 1788 trat er [sc. HöLDERLIN] mit seiner Promotion, in welche mit mehreren aus dem oberen Gymnasium in Stuttgart auch Hegel aufgenommen wurde, in das Theologische Stift in Tübingen ein..." (406) Über die Frankfurter Zeit im Hause GONTARD heißt es: „... als ihm auch für den Umgang außer dem Hause nur ein vertrauter Freund fehlte, so gab er sich Mühe seinen alten Freund Hegel, welcher damals in Tschugg bei Erlach sich aufhielt, zu bewegen, unter gleichen Verhältnissen bei einer anderen Familie in Frankfurth einzutreten, und dieser entsprach auch sogleich seinem Wunsche" (407). Auch die Tatsache, daß die erste Zeit des Zusammenseins mit Hegel in Frankfurt (Frühjahr 1797) eine Zeit ungestörten Glücks für HöLDERLIN gewesen sein muß, bestätigt GOCK: „HöLDERLINS Bruder ... war noch Zeuge des glücklichen Verhältnisses in welchem damals HöLDERLIN lebte, was aber nur zu bald durch ein Zusammentreffen von Umständen gestört wurde, welche auf sein zukünftiges Schicksal den traurigsten Einfluß hatte." (408) Neu in diesem Band ist auch ein biographischer Entwurf CH. TH. ScHWABS, der z. T. GOCKS Lebensabriß folgt. Hier findet sich auch die merkwürdige Passage: „Als ich ihn einmal nach Hegel fragte, sagte er, daß er oft mit ihm zusammengesesen sey u. murmelte sogar etwas vom .Absoluten'." (455) C.J.

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Wörterbuch zu Friedrich Hölderlin.Teil 1; Die Gedichte. Auf der Textgrundlage der Großen Stuttgarter Ausgabe. Bearbeitet von Heinz-Martin Dannhauer, Hans Otto Horch und Klaus Schuffels in Verbindung mit Manfred Kammer und Eugen Rüter. Tübingen: Niemeyer 1983. 814 S. (Indices zur deutschen Literatur. 10/11.) Die Idee eines Wörterbuchs zu HöLDERLINS Gesamtwerk hat ihre Ursprünge in den 40er Jahren unseres Jahrhunderts und ist von F. BEISSNER und A. BECK stets mit Nachdruck betrieben worden; der Plan, es als achten Band der Stuttgarter Ausgabe erscheinen zu lassen, zerschlug sich jedoch. Dankenswerterweise nahm sich die Aachener Arbeitsgruppe zur computerunterstützten Lexikographie (H. SCHWERTE, H. SCHANZE) dieser Aufgabe an. Die erste Frucht ihrer Bemühungen liegt nunmehr mit dem Index-Band zu HöLDERLINS Gedichten vor. Die computerisierte Methode erweist sich für HöLDERLIN jedoch als nur sehr eingeschränkt tauglich. Ein strukturierter, d. h. nach frühen, mittleren und späten Werken unterscheidender und nicht nach Gattungen differenzierender Index wäre für die Deutung HöLDERLINS in jedem Falle nützlicher. Zwar haben sich die Bearbeiter der gewiß nicht kleinen Mühe unterzogen, den lemmatisierten Substantiven, Adjektiven, Partizipaladjektiven, Eigennamen sowie den substantivierten Formen von Verb und Adjektiv Teilkontexte beizugeben, so daß dem Benutzer eine „Vorauswahl des näher interessierenden Wortmaterials" (XIII) möglich wird. Doch für jede (und besonders für die entwicklungsgeschichtliche) Deutung ist das bereitgestellte Instrumentarium von nur geringem Nutzen; so wüßten wir z. B. bei dem Stichwort „Fürst" (207) gern, ob es - wie die Vermutung nahelegt - im Zuge der „vaterländischen Umkehr" gehäuft oder sogar vielleicht ausschließlich im Spätwerk auftaucht. Gleichwohl ist ein Wörterbuch dieser Art ein wichtiges Hilfsmittel, und dies nicht nur für die HöLOERLiN-Philologie, sondern auch für die Hegel-Forschung, wenn wir etwa die aus Hegels Jugendschriften geläufigen Begriffe wie „Äther", „schicksallos", „Harmonie", „Versöhnung", „Bildung" und „heilig" als Übernahmen aus HöLDERLINS Poesien erkennen lernen. C.J.

BIBLIOGRAPHIE ABHANDLUNGEN ZUR HEGEL-FORSCHUNG 1982 Zusammenstellung und Redaktion: Claudia Becker (Bochum)

In dieser laufend fortgesetzten Berichterstattung wird versucht, das nicht selbständig erschienene Schrifttum über Hegel, also Abhandlungen aus Zeitschriften, Sammelbänden usw. möglichst breit zu erfassen und im einzelnen durch kurze Inhaltsreferate bekanntzumachen. Die Anordnung geschieht alphabetisch nach den Namen der Autoren. Nachträge aus früheren Berichtszeiträumen sind in einem Anhang gesondert zusammengestellt. Nicht alle vorgesehenen Inhaltsreferate konnten bis zum Redaktionsschluß fertiggestellt werden. Sie werden im nächsten Band nachgeholt. Für diesen Band haben Berichte verfaßt: Edgardo Albizu (Lima, Peru), Georgia Apostolopoulou (Athen), Gentscho Dontschev (Sofija), Swiatoslaw Florian Nowicki (Warszawa), Lawrence S. Stepelevich (Villanova, USA), Ernst Staffa (Mainz), Giannino V. DiTommaso (L'Aquila), Lu de Vos (Löwen), Friedhelm Nicolin (Bonn), sowie Claudia Becker, Wolfgang Bonsiepen, Hans-Jürgen Gawoll, Annemarie Gethmann-Siefert, Friedrich Hogemann, Walter Jaeschke, Christoph Jamme, Hans-Christian Lucas, Kurt R. Meist und Helmut Schneider vom Hegel-Archiv (Bochum). Für die Bibliographie ab 1980 in den vorangegangenen Bänden haben außer den genannten Mitarbeitern Georgia Apostolopoulou (Athen) und Ernst Staffa (Mainz) Berichte verfaßt. Die über Hegel arbeitenden Autoren sind freundlich eingeladen, durch Einsendung von Sonderdrucken die Berichterstattung zu erleichtern. Allen, die solche Hilfe bisher schon leisteten, sei besonders gedankt.

Fundamentadön logica del deber ser en Hegel [Logische Begründung des Sein-Sollens bei Hegel], - In: Estudios sobre Kant y Hegel. Hrsg. v. Cirilo Flörez u. Mariano Alvarez. Salamanca 1982. (Instituto de ciencias de la educadön universidad de Salamanca. Documentos didäcticos.5.) 171-201. ALVAREZ GöMEZ, MARIANO:

Die bekannte These, daß die politische Philosophie H.s, wie sie in den Grundlinien des Rechts ihren Ausdruck findet, ihr methodologisches Fundament in der Wissenschaft der Logik habe, erscheint dem Verf. bis jetzt unzureichend expliziert. - Er eröffnet den Begriff der Wahrheit als Fragehorizont für eine Interpretation der politischen Philosophie H.s, um dann den Zusammenhang von Endlichkeit und Sein-Sollen, die Implikationen des Sein-Sollens

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BIBLIOGRAPHIE

und die Beziehung von Endlichkeit und Unendlichkeit als Begründung des Sein-Sollens zu erläutern. Den Abschluß bilden Betrachtungen zum Übergang von der ,Moralität' zur ,Sittlichkeit'.

De la moral kantiana al concepto de espiritu. Hegel en SU periodo de Frankfurt [Von der kantischen Moral zum Begriff des Geistes. Hegel in seiner Frankfurter Periode]. - In: Estudios Filosoficos. Valladolid. 31 (1982), 7-43. AMENGUAL, GABRIEL:

Den Übergang von Bern nach Frankfurt sieht Verf. auch als Übergang von einer Nachfolge gegenüber Kants kritischer Philosophie zu einer Kritik an Kant. Die Frankfurter Periode ist dann eingeleitet durch eine grundsätzliche Kant-Kritik, die in der Überwindung der kantischen Moralkonzeption gipfelt. Dabei werden die sehr differenzierten Aspekte der LiebesThematik in Frankfurt abgehandelt. Die Untersuchung der Rolle der Reflexion am Ende der Frankfurter Zeit zeigt H. dann bereits auf dem Wege zu seinem Begriff des Geistes.

i Kant o Hegel? El congreso sobre Hegel 1981 [Kant oder Hegel? Der Hegelkongreß 1981]. - In: Pensamiento. Madrid. 38 (1982), 120-123.

AMENGUAL, GABRIEL:

Dieser Bericht ordnet die als Frage formulierte Thematik dem früheren Kongreßtitel „Ist systematische Philosophie möglich?" zu, ebenso dem geplanten Thema „Metaphysik?", um zu verdeutlichen, daß diese Hegel-Kongresse sich nicht,reiner' Forschung oder Historiographie widmen, sondern aus philosophischen Gründen und von aktueller Problematik her philosophische Fragestellungen erarbeiten sollen. Kant und H. sind dem Verf. trotz aller bei dem Kongreß vorgetragenen Kritik und Fragestellung als .Meisterdenker' erschienen.

Modernidad de Hegel. La filosofi'a absoluta como superacion de la dicotomia entre antropologfa y teologia. [Hegels Modernität. Die absolute Philosophie als Überwindung der Dichotomie zwischen Anthropologie und Theologie]. - In: Pensamiento. Madrid. 38 (1982), 385-400. AMENGUAL, GABRIEL:

Die widersprüchlichen Beurteilungen einer möglichen Aktualität H.s in der neueren Literatur, aber auch auf dem Stuttgarter Hegelkongreß von 1981 unter dem Titel „Kant oder Hegel?" nimmt Verf. zum Ausgangspunkt, am Beispiel atheistischer (Marx und der Marxismus) und theistischer (Kierkegaard) Hegel-Kritik die Überlegenheit aufzuweisen, die H. durch seine spezifische Konzeption des absoluten Geistes gegenüber solchen Kritiken erreicht. Er will dies jedoch nicht als Empfehlung einer Rückkehr zu H. verstanden wissen, ebensowenig als Entwertung der kritischen Beiträge der Marx und Kierkegaard, sondern als Anregung zur Erarbeitung einer kritischen Position, die solche Dichotomien zu überwinden in der Lage ist.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

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Consideraciones fragmentarias sobre la presencia de Hegel en el pensamiento actual [Fragmentarische Überlegungen über die Präsenz Hegels im Denken der Gegenwart]. - ln: Estudios Filosöficos. Valladolid. 31 (1982), 481-516. ARTOLA, JOSE MARIä:

Diese Überlegungen beziehen sich auf Kant als zentralen Ausgangspunkt H.s, auf die H.-Philologie und H.-Interpretation, die nach dem authentischen H. suchen, auf H.-Rezeption und -Kritik bei Marx und in verschiedenen Marxismen, auf die H.-Kritik und H.-Adaptation in Existenzialismus, Hermeneutik, Religionsphilosophie und Geschichtsphilosophie und auf Heidegger, dessen Denken gewissermaßen als Leitfaden der Darstellung herangezogen wird. Solche thematische Breite mag verdeutlichen, warum der Autor selbst von „fragmentarischen" Überlegungen sprechen muß.

Die Grundprinzipien der Geschichtsphilosophie Hegels. [Neugriechisch.] - ln: Hegel und der Marxismus. Wissenschaftliches Symposium 24.-25. Januar 1982. Hrsg. v. Zentrum für Marxistische Forschung. Athena. Synchrone Epoche. 1982. 112-139. BAYONAS, AUGOUSTOS:

Nach H. hängt die objektive Geschichte mit der Geschichte als Wissenschaft zusammen, ln der Geschichte wird die Selbsterkenntnis des Geistes durch die Arbeit verwirklicht; zugleich erwirbt sich der Geist das Bewußtsein der Freiheit. Geschichte ist durch Widersprüche gekennzeichnet. Das Böse hat in der Geschichte einen positiven Sinn und ist mit der Negation der jeweiligen kulturellen Ausdrucksform des Geistes verbunden. So ist das Sittliche nicht einfach auf subjektive Erfahrungen zu reduzieren. Die Notwendigkeit der geschichtlichen Entwicklung ist vom Standpunkt der vorläufigen Verwirklichung der Selbsterkenntnis und der Ereiheit des Geistes zu verstehen. Was ist lebendig und was ist tot an H.s Philosophie? Die Frage kann man richtig beantworten, wenn man die Kritik von Marx und Engels an H. berücksichtigt. Lebendig ist, was uns erlaubt, die Widersprüche unserer Gesellschaft zu verstehen; dies beruht auf dem Monismus, der durch seine ümkehrung die materialistische Dialektik fundiert. H.s Monismus, insofern er konsequent ist, wird auch von der Wissenschaft bestätigt. Zu den lebendigen Elementen gehören die historische Sicht der menschlichen Schöpfungen und das Prinzip der Totalität. Tot ist H.s Idealismus, insbesondere der Begriff der absoluten Idee, die ihrerseits mit der H.sehen Dialektik unverträglich ist. Ealsch ist in H.s politischer Philosophie die Bestimmung des Staates als der Institution, die über alle Klassen steht.

Friedrich Schlegels Enzyklopädie der literarischen Wissenschaften im Unterschied zu Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. - In: Hegel-Studien. Bonn. 17 (1982), 169-202. BEHLER, ERNST:

La actualidad de Hegel: Filosofia, conflicto y estado [Die Aktualtiät Hegels: Philosophie, Konflikt und Staat]. - In: Pensamiento. Madrid. 38 (1982), 257-283. BELLO, EDUARDO:

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BIBLIOGRAPHIE

Verf. ist bemüht, die in der Literatur und auf Kongressen seit 1971 geführte Diskussion um H.s Aktualität oder Inaktualität zusammenzufassen, wobei er auch auf Literaturberichte eingeht, in denen er durchweg die neuere spanische Literatur zu wenig oder gar nicht berücksichtigt sieht. Die Ausführung seiner eigenen Option für die Aktualität H.s vollzieht Verf. im Rahmen folgender Themenstellungen: das Problem der Philosophie oder die Philosophie als Problem; das Problem des sozialen Konflikts und H.s Bemühung der Rationalisierung dessen durch Recht und Verfassung als Fundament eines gebildeten Volkes und des Staates.

Hegel on others and the seif. - In: Philosophy. Journal of the Royal Institute of Philosophy. London. 57 (1982), 77-90. BERENSON, FRANCES:

Indem er im wesentlichen den einschlägigen Kapiteln der Phänomenologie des Geistes folgt, will Verf. H.s Analyse der intersubjektiven Relation zwischen dem „Selbst" und dem „Andern" einer kritischen Prüfung unterziehen. Weil H.s Begriff des (menschlichen) Selbstwußtseins auch sich selbst auf den spekulativen Begriff des „absoluten" (göttlichen) Bewußtseins bezogen ist, entgeht H.s Konzeption der Intersubjektivität eben jener - vom Verf. im Blick auf Merleau-Ponty akzentuierte - umfassende Begriff der (endlichen) „Person", von dem H.s Entwurf des erkennenden Selbstbewußtseins als Subjekt eines „reinen" Denkens nur eine begrenzte Perspektive vermittelt.

Hegels Nürnberger Werk. - In: Die Logik des Wissens und das Problem der Erziehung. Nürnberger Hegel-Tage 1981. Hrsg. V. Wilhelm Raimund Beyer. Hamburg 1982. 1-14. BEYER, WILHELM RAIMUND:

Verf. dehnt sein Thema sogleich aus auf „H.s Werk in Franken", bezieht also die Bamberger Jahre mit ein. Er stellt aber dann dem gängigen Bild vom „Preußen H." nicht einen „Franken H.", sondern den „We/fbezug H.s" gegenüber. Dies tut er, indem er substantielle, kritische, weltverändernde Bamberger und Nürnberger Sätze H.s aus Briefen, aus der Philosophischen Propädeutik, vor allem aus der Wissenschaft der Logik hervorholt und interpretiert oft in polemisch zugespitzten Bezügen zur damaligen Zeitlage, zur späteren Beschäftigung mit H., zu Problemen und Positionen unserer Gegenwart. Ein besonderer Abschnitt gilt dem Verhältnis Hegel-Kant und der Weise, wie es heute diskutiert wird (200 Jahre nach der Kritik der reinen Vernunft). Den Schluß bildet ein pädagogischer Ausblick auf die Beziehung von Schule und Welt, die H. in einer Gymnasialrede behandelte. So bindet Verf. die Themen der von ihm eröffneten Tagung (vgl. den Titel des Bandes) zusammen.

Le diverse accezione del termine „spirito" negli „Scritti teologici giovanili" di Hegel [Die verschiedenen Bedeutungen des Wortes „Geist" in Hegels „Theologischen Jugendschriften"]. - In: Verifiche. Trento. 11 (1982), N.l, 3-23. BIGNAMI, LIVIA:

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

401

Das Wort „Geist" kommt sehr oft in den Jugendschriften vor, allerdings nicht immer mit demselben Sinn. Verf. zeigt durch ihre Analyse, daß neben seinem ganz allgemeinen, in der zeitgenössischen Kultur üblichen Gebrauch, H. einen persönlichen Geistesbegriff entwikkelt, der mehr als die bloße Grundlage des zukünftigen systematischen Geistesbegriffs ausmacht.

Die Natur im Werk von Hegel und Marx. [Neugriechisch.] - In; Hegel und der Marxismus. .,. Hrsg. v. Zentrum für Marxistische Forschungen. Athena. Synchrone Epoche. 1982. 51-80. BITSAKES, EUTYCHES:

Die Aktualität H.s beruht auf der dialektischen Methode dem genetischen Verhältnis der H.sehen Philosophie zum Marxismus. Nach der Weise, in der H. das Verhältnis von Geist, Natur und Mensch versteht, ist seine Philosophie eine rationale Theologie. Aber hinter der mystischen Hülle des Systems pulsiert die Dialektik des Werdens und des Gegensatzes. Obwohl oft der H.sche Idealismus als umgekehrter Materialismus erscheint, negiert er am Ende die Dialektik, weil H. die Wissenschaften an die Zwänge des Systems anpaßt und die Vervollkommnung als die Mündung der Entfaltung von Wahrheit und Geschichte betrachtet. H. bemüht sich um eine Dialektik der Natur, aber er mystifiziert die Natur und ihre Entwicklung, wie es aus seinen Auffassungen über die Mechanik, die Materie, den Raum, das Unbegrenzte und sein Verhältnis zum Begrenzten oder über die Gravität klar wird. Die neue Philosophie von Marx und Engels ist die kritische Überwindung des H. sehen Idealismus. Marx kritisiert H.s Verständnis von Natur und Geschichte als Prädikate des absoluten Geistes und erklärt die Natur aus sich selbst. Die Bewegungsgesetze der Wirklichkeit (Natur und Gesellschaft) widerspiegeln sich auf das menschliche Bewußtsein. Während H. das Konkrete als Produkt des Abstrakten versteht, betrachtet Marx das Abstrakte als Produkt einer langen theoretischen Aneignung der konkreten materiellen Wirklichkeit.

A.; Kant's and Hegel's Moral Rationalism: A Feminist Perspective. - In: Canadian Journal of Philosophy. Edmonton. 12 (1982), 287-302. BLUM, LAWRENCE

Verf. kritisiert Kants und H.s praktische Philosophie von einem feministischen Standpunkt aus. Dabei kritisiert sie Philosophie in einer zweifachen Weise: „as having left no room for a ränge of virtues which can be called female and which are specially connected with women's lives; and, secondly, as reflecting and legitimating a male-dominated social rality". Verf. schließt ihre Kritik ab mit einer Übersicht über Kants und H.s Sicht der Frauen.

La transition de I'esprit objectif ä I'esprit absolu chez Hegel. - In: Revue de l'Universite d'Ottawa. Ottawa. 52 (1982), 467-482. BODEI, REMO:

Nach H. besteht zwischen dem antiken und dem modernen Staat eine Zäsur, die durch den Eintritt des Christentums in die Weltgeschichte erfolgte. Das Wesen der Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit besteht darin, daß sich irdisches und himmliches Reich aufeinander zu bewegen.

402

BIBLIOGRAPHIE

Das Leben als Idee. Die Idee des Lebens in Hegels „Wissenschaft der Logik". - In: Die Logik des Wissens ... Hamburg 1982. 154-163. BOEHME, HARALD:

Wie Marx für seine ökonomische Theorie so nimmt H. für seine Bestimmung des Lebens als Idee das Modell biologischen Lebens zu Hilfe. Anstelle der Marx'sehen Rekurses auf Darwin wird für H. die Idee der „zweckmäßig vermittelten Tätigkeit" zum Leitfaden für die Konzeption der „Idee des Lebens in der Wiss. d. Logik". In den Schriften der Nürnberger Zeit „wird klar, wie H. die Idee des Lebens in seine Gesellschaftstheorie", die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, überträgt. Marx' Kritik der Rechtsphilosophie merkt diese Konfundierungen an.

Marx: Heranca Hegeliana? [Marx: Erbe Hegels?] - In: Boletim Seaf. Sociedade de Estudos e Ativitades filosöficos. Belo Horizonte. 1982, N.l, 47-59. BORNHEIM, GERD:

W. H.: Hegel on the inverted world. - In: The Philosophical Forum. Boston, Mass. 13 (1982), 326-341. BOSSART,

Nur wenige der Kommentatoren der Phänomenologie des Geistes haben sich ernsthaft mit der Passage über die verkehrte Welt auseinandergesetzt. Sie versuchten, H.s These durch Rückgriff auf philosophiegeschichtliche Positionen zu verdeutlichen. Eine solche Rückführung auf eine historische Position ist aber nach Auffassung des Verf.s nicht möglich. Nichtsdestoweniger verdient H.s Text, ausführlich kommentiert zu werden, da er das zentrale Thema der Phänomenologie umreißt. Schon in der Einleitung des Werkes wird es formuliert: als das Verhältnis zwischen dem Wissen des seine Erfahrungen machenden Bewußtseins und dem Gegenstand selbst. Für das Bewußtsein entsteht der neue Gegenstand, bei dem eine adäquate Beziehung zwischen Wissen des Bewußtseins und dem Gegenstand selbst vorliegen soll, durch eine Umkehrung seiner selbst. Diese Umkehrung und Verkehrung ist das zentrale Thema der Phänomenologie.

Dialectique et structure dans la philosophie de Hegel. - In: Revue Internationale de Philosophie. Bruxelles. 36 (1982), N. 139/140 [Sonderband: Hegel et la dialectique], 163-182. BOURGEOIS, BERNARD:

Verf. geht aus von H.s und Schellings gegenseitiger Kritik, der andere sei außerstande, eine vernünftig strukturierte Konzeption des Absoluten zu entwickeln, und erwägt, ob H.s Dialektik „universellement structurante" sei, so daß sie die Einheit zwischen dem Prozeß der Natur und des Geistes garantiert. Die Eigenart der Dialektik, sich im Vollzug selbst als dialektisch zu setzen, gewährleistet den Fortschritt von der Formalität der Methode zur Inhaltsfülle des Absoluten ebenso wie den vom Begriff zur Realität. Dialektik erscheint nicht als Verrechnung der Realität auf Notwendigkeit, sondern als „liberation omnilaterale". Ihre „röle structurant" gewinnt sie in H.s Interpretation des trinitarischen Lebens der Idee.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

403

Le Christ högelien. - In; Hegel et la religion. Sous la direction de Guy Planty-Bonjour. Paris 1982. (Travaux du centre de recherche et de documentation sur Hegel et sur Marx.) 177-211. BOURGEOIS, BERNARD:

Ausgehend von Hans Küng {Menschwerdung Gottes, 1970) fragt Verf. nach der H.sehen Behandlung der Gestalt von Jesus Christus in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion, wobei auch die Frankfurter Entwürfe zum Geist des Christentums und die Phänomenologie Berücksichtigung finden.

Natuerel et positif dans les ecrits bernois de Hegel. In; Religion et politique dans les annees de formation de Hegel. Lausanne 1982. (Raison dialectique.) 62-79. BOURGEOIS, BERNARD;

Verf. analysiert die Genese des Konzepts der Positivität in Bern. Er stellt heraus, daß H. auf seine Beziehung zwischen Positivität und Vernunft abhebt: „Le positif ne peut exister que sur la base d'un naturel-rationel toujours present et agissant dans l'homme."

Spinozismus in Hegels Wissenschaft der Logik. - In; Hegel-Studien. Bonn. 17 (1982), 53-74. BRAUN, HERMANN;

Hegels „ursprüngliche" Rechtsphilosophie. [Bericht] über eine kürzlich bekannt gewordene Vorlesungsnachschrift. - In; Information Philosophie. Basel. 1982, N.4, 8-13. BRAUN, JOHANN;

Kurzer Bericht über die interessanten Stationen des Weges, den die inzwischen edierte und diskutierte Nachschrift von H.s erster Rechtsphilosophie-Vorlesung 1817/18 durchlaufen mußte, bis sie ans Licht trat und von der Forschung genutzt werden konnte.

La philosophie du droit et le probleme de la morale. - In; Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik. Hrsg. v. Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann. Stuttgart 1982. (Veröffentlichungen der Internationalen Hegel-Vereinigung. 11.) 94-102. BRUAIRE, CLAUDE;

Verf. erörtert die Gründe, aus denen heraus H. die Einheit von Moral und Politik dachte. Gegen eine moralische Ideologie (Fichte), die sich aus der historischen Wirklichkeit zurückzieht, setzt H. seine von der Logik bestimmte Rechtsphilosophie, die im Vernünftigen das konstitutive Prinzip und die Norm der Wirklichkeit sieht. Aber gerade H.s Orientierung an der Logik, die von einem negativen Vorbegriff des Geistes ausgeht, verbietet die Ethik und überläßt der Politik die Verwaltung der Dinge.

A. VON; Hegel-Archiv in Bochum Querenburg. - In; Deutsche Zeitung. Sao Paulo. 3. April 1982, 20. BUGGENHAGEN,

Bericht über die H.-Edition und die vielfältigen Aktivitäten des H.-Archivs.

404

BIBLIOGRAPHIE

Zum Hegelschen Erbe im Marxismus. - In: Revue Internationale de Philosophie. Bruxelles. 36 (1982), N. 139/140 [Sonderband: Hegel et la dialectique], 37-48. BUHR, MANFRED:

Verf. schränkt die Frage nach dem H.sehen Erbe im Marxismus ein auf den Zusammenhang, den H.s Denken über Geschichte mit dem Marxismus hat. Marx und Engels übernehmen die humanistische Grundidee H.s vom dialektischen Fortschreiten der Menschheit, kritisieren aber deren idealistische Konsequenzen. Sie sehen allein in den handelnden Menschen - und nicht im Geschichtsprozeß selbst - das Subjekt der Geschichte. Darüberhinaus machen sie das von H. vernachlässigte theoretische und praktische Verhalten des Menschen in der Geschichte geltend.

Die Frage nach der Identität ist die Frage nach der Geschichte. - In: L'heritage de Kant. Melanges philosophiques offerts au Marcel Regnier. Paris 1982. 183-193. BUHR, MANFRED:

Die klassische Stufung Kant-Fichte-Schelling-H. spiegelt sich wider und bewahrheitet sich in der für den Idealismus zentralen Problematik der Identität. H. kritisiert und überholt ^gine Vorgänger, indem er Vermittlung und Synthesis auf die Widersprüche in den Sachen gründet. Die Synthese dieser Widersprüche erzeugt eine Bewegung, die zur Totalität führt: die Dialektik. Daher sind die Frage nach der Geschichte und die nach der Identität die gleichen.

Transition or reflexion. - In: Revue Internationale de Philosophie. Bruxelles. 36 (1982), N. 139/140 [Sonderband: Hegel et la dialectique], 111-124. BURBIDGE, JOHN:

Verf. analysiert als Grundelemente der Dialektik, wie H. sie in der Wiss. der Logik entwickelt: „transition, reflection and disjunction"; „all three moments ... are operations of Intelligence or pure thought". In der Natur- und Geistphilosophie begreift H. diese Operationen überdies als materielle Übergänge, die im Begriff erfaßt sind, und scheint Marxens Kritik überflüssig zu machen. Allerdings greift H. zur Erklärung der Übergänge auf die christliche Schöpfungslehre zurück, für die Bestimmung der Dynamik endlicher Wesen aufs ünendliche nimmt er die Erlösungslehre zu Hilfe. „Without the clear disjunction of these two cosmic operations, H.s System [is] ... only one ideology among many."

Aspetti sacrali e metafisici dell'alienazione hegeliana. Impressioni [Sakrale und metaphysische Aspekte der Hegelschen Entfremdung]. - In: Analitica dell'alienazione. Atti del Convegno di studi (Tarquinia, 28-30 marzo 1981). Roma 1982. 105-112. BUSCAROLI, SILVANO:

The dialectical-hermeneutic method in Hegel and in Marx. - In: Dialectics and Humanism. Warszawa. 9 (1982), N.4, 117-127. BUTLER, CLARK:

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

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Kant, Hegel e il sogere dell' idealismo [Kant, Hegel und die Entstehung des Idealismus], - ln: Filosofia. Torino. 33 (1982), 73-83. CAVALLO, GIULIANA:

J.: Das Konzept der Wissenschaft bei Hegel und Marx. [Tschechisch.] - ln: Filosoficky Casopis. Praha. 30 (1982), N.l [Sonderband zum 150. Todestag Hegels], 76-87. CERNY,

Entscheidung und Schicksal: Die fürstliche Gewalt. - ln: Hegels Philosophie des Rechts. ,.. Stuttgart 1982. 185-205. CESA, CLAUDIO:

Dieser Aufsatz bietet eine Übersicht der verschiedenen Ausführungen, die H. dem Problem der fürstlichen Gewalt gibt. Nach einer anfänglichen Sympathie für den Cäsarismus bejaht H. zeitweise die konstitutionelle Monarchie, um sich schließlich für eine beschränkte Monarchie zu erklären. Mit dieser letzten Option versucht H. zu verhindern, daß der geschichtliche Bankrott der liberal-konstitutionellen Monarchie auch die bürgerliche Freiheit einbezieht.

G. W.F. Hegel a centocinquant'anni dalla morte [Hegel. Zum 150. Todestag]. - ln: Studi Senesi. Siena. 94 (1982), 7-25. GESA, CLAUDIO:

La doctrine economique de Hegel d'apres les notes de cours de Berlin. - ln: Hegels Philosophie des Rechts. ... Stuttgart 1982. 132-138. CHAMLEY, PAUL:

Verf. weist nach, daß sich H.s ökonomische Lehre während seiner Berliner Zeit kritisch mit Saint-Simon, Fichte und den Theoretikern der neueren Staatsökonomie (Smith, Say, Ricardo) auseinandersetzte. Die von religiösen Vorstellungen mitbestimmte ökonomische Tätigkeit hat nach H. die Funktion, Rohstoffe zu bearbeiten und dadurch Werte zu schaffen. Unter dem Aspekt der politischen Ökonomie soll einerseits die ungestörte Produktion durch die Polizei, aber andererseits auch das „Gemüt des Menschen" durch Korporationen geschützt werden.

E.: On rendering Whiteheads „complete fact" complete: Aspects of a constructive critique of Whitehead from a somewhat Hegelian perspective. - In: Idealistic Studies. Worcester, Mass. 12 (1982), N.2, 135-155. CHRISTENSEN, DARREL

Verf. verfolgt das Ziel, die Ausarbeitung einer kritischen Prozeß-Philosophie vorzubereiten, welche sich auf substantielle Elemente der Metaphysik Whiteheads soll stützen können, die jedoch aus der Tradition H.sehen Denkens zu reinterpretieren sind. Der Zusam-

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BIBLIOGRAPHIE

menhang von „self-evidence" und „perishing" wird dabei zum Leitfaden einer kritischen Revision nicht nur der Metaphysik Whiteheads, sondern insbesondere auch der Philosophie H.s.

Hegelsche Einflüsse auf die Ästhetik von P. Vrailas-Armenes. [Neugriechisch.] - In; Hegel und der Marxismus. Hrsg. V. Zentrum für Marxistische Forschungen. Athena. Synchrone Epoche. 1982. 140-154. CHRISTODOULIDE-MAZARAKE, ANGELIKE:

Der griechische Philosoph Petros Vrailas-Armenes scheint einige Grundprinzipien H.s zu akzeptieren. H.s Einfluß ist in der Auffassung von Brailas-Armenes über die geschichtliche Begründung des Schönen festzustellen. Die Kritik von Verf. an der Meinung, die Künste entwickeln sich nacheinander und nicht gleichzeitig in der Geschichte, bezieht sich auf H., obwohl dieser nicht erwähnt wird. Kritischen Bezug auf H. nimmt Verf. wenn er seine Auffassung über die Musik und die Dichtung darstellt. Obwohl er H.s Auffassung, die Kunst stehe niedriger als die Religion und die Wissenschaft in der Entfaltung des Geistes, verwirft, gibt er zu, daß H. die philosophische Erkenntnis des Schönen zur Wissenschaft erhebt und durch sein System Gott als das Prinzips des Alls erfassen konnte.

CoMOTH, KATHARINA: Zwei Typen von Resultat. Zur Aktualität der Hegel-

schen „Logik". - In: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie. Berlin, New York. 24 (1982), 119-123. ln kurzen Erwägungen zum Aufbau der Logik stellt Verf. im ersten Abschnitt zwei Thesen auf: 1. „Das Resultat H. scher Philosophie ist systematisch und historisch nicht von der objektiven Logoslehre zu trennen." 2. „Wo H.s Logik auf eine .materiale Hinsicht hinaus' gehen muß, wurden ihre untrennbaren logischen Seiten verkürzt, halbiert, verfälscht." Im zweiten Abschnitt („Der Materialismus als sich selbst gründendes Resultat") wird das Recht der materialistischen Aneignung der Logik bestritten: „Der Materialismus ist unfähig, das Denken spekulativ, geistig, begrifflich, differenziert oder frei zu fassen. Deshalb liegt seiner organisierten Materie die unteilbare .Wissenschaft der Logik' wie ein Klotz im Magen: Ohne Reflexion keine Diskussion. Das leuchtet ohne weiteres ein."

Eine unbekannte Seite aus den letzten Lebensmonaten Hegels. - In: Merkur. Stuttgart. 36 (1982), 61-80. CROCE, BENEDETTO:

Zuerst italienisch erschienen: Una pagina sconosciuta degli Ultimi mesi della vita di Hegel. In: Quadern! della critica. Bari. 1948, N.13. - Der Essay, gekleidet in die literarische Form eines erdachten Gesprächs zwischen H. und Francesco Sanseverino 1831 in Berlin, kreist um den Systemcharakter von H.s Philosophie und um die Wirksamkeit der dialektischen Methode.

Der heteroontologische Ansatz in der Hegelschen „Logik". - In: Die Logik des Wissens ... Hamburg 1982. 61-65. DAMNJANOVIC, MILAN:

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

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Da H. die Frage nach dem Anderen nur in der Logik des Seins behandelt, erscheint bei ihm nur „ansatzweise" eine „heteroontologische Logik", eine „Sozio-Logik" oder - wie M. Theunissen ausführt - eine „Sozialontologie". Dagegen meint Verf., es sei bei H. selbst in den entsprechenden Passagen der Daseinslogik, dann in der Propädeutik und Enzyklopädie ein ausbaufähiger heterologischer Ansatz gegeben. Dieser Ansatz wird zwar durch die Dialektik verunklärt, kann aber durch die Aufhebung dieser Verzeichnung wiedergewonnen werden.

Hegel: beaute et verite. - In: Laval theologique et philosophique. Quebec. 38 (1982), N.3, 253-257. DAN6K, JAROMIR:

Wenn die Schönheit die Idee ist, dann sind Schönheit und Wahrheit identisch. Aber das Schöne und das Wahre sind zugleich unterschieden: das Schöne ist das sinnliche Scheinen der Idee.

Hegel als Kritiker der kosmologischen Ideen (Antinomien) Kants. [Neugriechisch.] - In: Parnassos. Athenai. 24 (1982), 170-208.

DEMETRAKOPOULOS, MICHAEL:

Nach Darstellung der Problematik der Kantischen Antinomien untersucht Verf. die darauf bezogene Kritik H.s. Nach der Meinung des Verf.s hat H. den Sinn der Kantischen Antionomien mißverstanden. Der Behauptung H.s entgegen hat Kant die Antinomien dadurch gelöst, daß er sie als Widerstreit zwischen der Idee auf der Ebene des Dings an sich und der Idee auf der Ebene der Phänomene betrachtet, der bestehen bleibt, insofern er aus der Koexistenz der zwei Ebenen entsteht. Kant hat die Antinomien gelöst, aber nicht dialektisch im Sinne H.s aufgelöst, weil er die differenten Gebrauchsweisen der Vernunft sichern und andererseits nicht zum Monismus kommen wollte. Gerade der Dualismus, den H. verwirft, ist der große Vorteil der kritischen Philosophie Kants. H. dagegen verachtet die Kritik des Erkenntnisvermögens, die Kant geleistet hat, und sucht das Wahre nur auf der Ebene des sich selbst begreifenden Begriffs, der als absolute Idee das Wahre und das Wirkliche, das Subjekt und das Objekt in sich einschließt. Der H.sche Panlogismus sucht das Unendliche in seiner Totalität zu denken. Dagegen ist die Wissenschaft bei Kant ein unendliches Werden, in dem ihr jeweiliges Ende durch ihr neues Unendliches begleitet wird.

Platon und Hegel. [Neugriechisch.] - In: Nea Hestia. Athenai. 112 (1982), 1005-1010. DESPOTOPOULOS, KONSTANTINOS:

Neugriechische Übersetzung des französischen Eröffnungsvortrags beim 14. Internationalen H.-Kongreß (Athen, April 1982). In Bezug auf die Wirkung auf das politisch-ideologische Geschehen könnte nur Platon mit H. konkurrieren. Aber H.s Dialektik ist verschieden von derjenigen Platons, wie ihre geschichtsphilosophische Anwendung zeigt. H. betrachtet die Geschichte als den vernünftigen und notwendigen Gang des Weltgeistes. Platon spricht von der Weltseele, die aber kein Faktor der Geschichte ist. Platon spricht niemals von einer Dialektik der Geschehnisse und sieht den tragischen Grundzug des menschlichen Lebens

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BIBLIOGRAPHIE

ein. Aber Platon überbietet H. mit der Frage nach der Rolle der Philosophie in der Geschichte. Während für H. die Philosophie eine epimetheische Rolle spielt, hat sie für Platon wie auch für Marx auf die Gestaltung des geschichtlichen Geschehens zu wirken.

DE ZAN

- siehe: ZAN

Der Endzweck der Erziehung bei Hegel. - In: Die Logik des Wissens ... Hamburg 1982. 195-202. D'HONDT, JACQUES:

Verf. vertritt die These, die Pädagogik H.s könne eine „Pädagogik des Bruches" genannt werden. Er konkretisiert dies mit Hinweisen und Zitaten aus den Nürnberger Reden und späteren Texten und kommt zu dem Fazit: „Die Erziehung ... bereitet die Jungen darauf vor, das Neuartige willkommen zu heißen. Die Jungen sollen fähig werden, mit ihren Vorurteilen zu brechen, sich von den Gedanken und Institutionen zu trennen, die abgelaufen und verjährt sind."

Le moment de la destruction dans la dialectique historique de Hegel. - Irt: Revue Internationale de Philosophie. Bruxelles. 36 (1982), N. 139/140 [Sonderband: Hegel et la dialectique], 125-138. D'HONDT, JACQUES:

Verf. entwickelt eine Interpretation der historischen Dialektik, die es erlaubt, die Positionen von H. und Marx zu vereinbaren. Geschichtliche Brüche werden bei H. unter dem Aspekt ihres Aufgehobenseins im Absoluten, bei Marx hinsichtlich ihres Eigencharakters analysiert. Das destruktive Moment der H.sehen Dialektik der Geschichte insinuiert aber nicht allein H.s verkappte Stellungnahme gegen den Restaurationskontext des preußischen Berlin. Hierfür steht die Betonung des „konservativen" Moments der Dialektik und H.s These, daß das Absolute sich „lebendig" in konkreten historischen Gestalten wie dem Staat manifestieren müsse. Die komplementären Momente des dialektischen Prozesses, Destruktion und Recht des Neuen („monet de la crise") unterstreichen die Gemeinsamkeit mit Marx, la „preference pour le changement".

Theorie et pratique politiques chez Hegel: Le problöme de la censure. - In: Hegels Philosophie des Rechts. ... Stuttgart 1982. 151-184. D'HONDT, JACQUES:

Verf. versucht, indem er den politischen Bedingungen der Zensur in Preußen nachgeht, H.s Stellung zur Zensur, die der § 319 der Rechtsphilosophie beschreibt, aus der geschichtlichen Situation (Restauration) heraus zu verstehen. Hierbei kommt er zu folgendem Ergebnis: „Hegel ne pouvait publier, ni du moins publier franchement, tout ce qu'il pensait. 11 ne disposait pas d'une force plus forte que celle du Pouvoir. 11 lui fallait donc louvoyer, s'exprimer ä demi-mots, se faire comprendre par allusion. Ou bien alors, soit se taire complütement, soit hurler avec les loups."

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

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La Philosophie de la Religion de Hegel. - In: Hegel et la Religion. ... Paris 1982. 5-35. D'HONDT, JACQUES:

Ausgehend von der als „evenement important" gefeierten Ausgabe der Philosophie der Religion durch K.-H. Ilting behandelt Verf. folgende Themenkomplexe; H.s Christentum, das Verhältnis von Religion und Philosophie und schließlich H.s Gottesbild. Minutiös wird nachgezeichnet, wie H. den Vorrang der Philosophie vor der Religion begründet (bei identischem Inhalt) und was es bedeutet, wenn Gott als die „ewige Liebe" definiert wird.

Marx en het hegeliaanse arbeidsbegrip [Marx und der Hegelsche Arbeitsbegriff]. - In: De arbeid in Hegels filosofie. Hrsg. v. J. Kruithof und F. Mortier. Toestanden-Cahier 1. Antwerpen 1982 . 74—93. D'HONDT, JACQUES:

Art and Absolute Spirit, or, the anatomy of aesthetics. - In: Revue de l'Universite d'Ottawa. Ottawa. 52 (1982), 483-A98. DONOUGHO, MARTIN:

Verf. geht es um das Problem, „how can H. call art ,absolute' when he also decries it merely natural and finite existence? how can he historicize art without also relativizing it?" Hierfür wird vor allem H.s Kritik der romantischen Kunstform analysiert.

DONOUGHO, MARTIN:

The semiotics of Hegel. - In: Clio. Fort Wayne. 11

(1982), 415-430. J. Derrida und M. Bense haben versucht, H. als Vorläufer der modernen Semiotik zu interpretieren. Verf. zeigt einerseits die Unhaltbarkeit dieser Auffassung auf, andererseits die Berechtigung, von semiotischen Aspekten in H.s System zu sprechen. Die in der Enzyklopädie ausgeführte Zeichentheorie ist wesentlich eine ästhetische Theorie (über das Verhältnis von Bedeutung und Ausdruck). Verf. ist der Meinung, daß H. in seiner Ästhetik Kunst auf ein bloßes Zeichen zurückführt. Kunst wird so formalistisch, d. h. Zeichen eines Zeichens.

Het arbeidsbegrip in Hegels Fenomenologie van de Geest [Der Begriff der Arbeit in Hegels Ph. d. G.j. - In: De arbeid in Hegels filosofie. Hrsg. v. J. Kruithof und F. Mortier. ToestandenCahier 1. Antwerpen 1982. 48-58. DOOREN, WIM VAN:

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Die Problematik der Vermittlung von individueller Subjektivität und totalisierender, organistischer Politik führt H. auf das Gebiet der politischen Ökonomie, die ihren systema-

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BIBLIOGRAPHIE

tischen Ort in der „Bürgerlichen Gesellschaft" findet. Trotz der sehr gedrängten Form der Darstellung findet Verf. einen Weg, die Zuordnung von H.s Darstellung, insbesondere ökonomischer Werttheorien, zu den Theorien der Physiokraten, zu A. Smith und Ricardo mit einem geradezu umfassenden Eingehen auf die einschlägige Liferatur zu verbinden.

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Hegel's Absolute Spirit: a religious justification of secular culture. - In: Revue de l'Universite d'Ottawa. Ottawa. 52 (1982), 554-574. DUPRE, LOUIS:

Verf. charakterisiert H.s Theorie des absoluten Geistes als Vollendung seines Versuchs, der modernen Welt eine neue religiöse Rechtfertigungg zu geben. In den Abschnitten „I. Spirit", „II. From Subjective Spirit to Absolute Spirit", „III. From Holy Spirit to Spirit" und „IV. The secular Religion" behandelt er die Übereinstimmungen und die Differenz des H.sehen Geistbegriffs gegenüber der christlichen Tradition: „Any theory that does not fully account for the unity in being between God and the universe ends up isolating one from fhe other. To account for this unity was precisely the purpose of H.'s idea of Absolute Spirit."

Hegel und Schopenhauer. Eröffnung eines Forschungshorizonts. - In: Zeit der Ernte. Studien zum Stand der Schopenhauer-Forschung. Festschrift für Arthur Hübscher zum 85. Geburtstag. Hrsg. V. Wolfgang Schirmacher. Stuttgart 1982. 240-247. ENGELMANN,

PETER:

Verf. geht es um die Korrektur des liebgewordenen Klischees von der Unvereinbarkeit H.s und Schopenhauers. Er sieht dagegen bei beiden ein gleichgerichtetes Bemühen, nämlich einen Ausweg zu finden aus der dualisfischen Sackgasse des neuzeitlichen Transzendentalismus. H.s Ansatz erschließe sich gerade von einem seiner schärfsten Kritiker her, von Schopenhauer nämlich.

Zur philosophischen Bedeutung der Einleitungsperspektive. - In: Die Logik des Wissens ... Hamburg 1982. 131-137. ENGELMANN, PETER:

Das Einleitungsproblem wird - gegen die gewohnte Deutung - anhand eines Textes aus H.s Nürnberger Zeit erläutert; des Privatgutachtens an Niethammer „Über den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien" (1812). ln H.s Beschreibung des subjektiven Anfangs als „erfahrungsmäßige Feststellung der eigenen Sprachlichkeit des erscheinenden Denkens" ist der Übergang zum Standpunkt des reinen Denkens im Sinne eines mäeutischen Anfangs gewonnen. Der Übergang zur spekulativen Philosophie bleibf unbegründet.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

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Der Rang der Wesenslogik in Hegels Nürnberger Logik. In: Die Logik des Wissens ... Hamburg 1982. 138-153. ERDEI, LäZLö:

Die Betonung der Einheit von Logik und Ontologie, die H.s Logik zur Wesenslogik erhebt, führt bei Abstraktion vom H. sehen Inhalt (der Bestimmung des Absoluten durch die metaphysischen Definitionen Gottes) zur Vergleichbarkeit des H.sehen und marxistischen Standpunktes,

II linguaggio della „Zerrissenheit" nella Fenomenologia dello spirito di Hegel [Die Sprache der „Zerrissenheit" in Hegels Phänomenologie des Geistes]. - In: Rivista di Estetica. Torino. 22 (1982), N.IO, 12-27. FELICIOLI, PAOLO RICCARDO:

Arbeid en interactie bij de jonge Hegel [Arbeit und Interaktion beim jungen Hegel]. - In: De arbeid in Hegels filosofie. Hrsg, von J. Kruithof und F. Mortier. Toestanden-Cahier 1. Antwerpen 1982. 34-47. FETSCHER, IRING:

Hegels Logik im Rahmen seiner Geschichtsphilosophie. In: Die Logik des Wissens ... Hamburg 1982. 91-117. FLöREZ, RAMIRO:

Die Intention der H.sehen Logik wird rekonstruiert als „Umsetzung der Metaphysik in Dialektik". Dadurch wird die Geschichte zum zentralen Thema der Logik, und Verf. gewinnt einen Ansatz, die „erstarrte Hülle" des H.sehen Systems im Sinne Marcuses „aufzubrechen".

Logica y raionalizacion de la historia en Hegel [Logik und Einführung der Vernunft in die Geschichte]. - In: Estudios sobre Kant y Hegel. Hrsg. v. Cirilo Flörez u. Mariano Alvarez. Salamanca 1982. (Instituto de ciencias de la educaeiön universidad de Salamanca. Documentos didäcticos.5.) 115-141. FLöREZ, RAMIRO:

Von H.s Problemstellung ausgehend, daß eine Erneuerung der Logik notwendig sei, widmet sich Verf. dem Verhältnis von Logik und Geschichte und der Darstellung einiger Grundkategorien in H.s Wissenschaft der Logik. Ohne H.s Lösungen hinsichtlich einer ,historischen Vernunft' für unsere Zeit übernehmen zu können, sieht Verf. für uns die Notwendigkeit, eine ,Logik der Geschichte' zu erarbeiten, für welche H.s Denken Ausgangspunkt und Kriterium darstellen könne und müsse.

Hegels „Phänomenologie" und „Logik" - Voraussetzungen der materialistischen Geschichtsauffasung. - In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Berlin 30 (1982), 451-459. FöRSTER, WOLFGANG:

412

BIBLIOGRAPHIE

Unter Bezugnahme auf Passagen der Phänomenologie und der Logik vertritt Verf. die These: „Unter Bedingungen des aufsteigenden Kapitalismus entstanden, enthielten H.s Phänomenologie des Geistes und seine Wissenschaft der Logik Ahnungen von der wirklichen Gestalt der dialektischen Bewegung in Natur und Geschichte, nahmen sie abstrakte Konturen auch des gesellschaftlichen Bewegungsprozesses auf, die später, von einer inzwischen gewonnenen materialistischen Basis aus, auch der Entschlüsselung des Mystizismus der Warenwelt und der bürgerlichen Gesellschaft dienen konnten." Von hier aus kritisiert Verf. bürgerliche und revisionistische Interpretationen.

Die Anfänge des Schullehrerseminars in Nürnberg (1808-1816). - In: Die Logik des Wissens ... Hamburg 1982. 15-27.

FORNROHR, WALTER;

Verf. stellt die schwierigen Anfänge des 1809 beschlossenen, aber erst 1814 verwirklichten Schullehrerseminars zu Nürnberg in den Zusammenhang der damaligen Bemühungen um die Lehrerbildung in Bayern und fragt dann nach dem Anteil H.s an der neuen Anstalt. Seit 1813 Lokalschulrat, war H. auch für das Seminar zuständig. Die Durchsicht der Quellen ergibt, daß die in der Literatur anzutreffenden Mitteilungen über H.s Tätigkeit als Organisator, als Lehrer und Prüfer am Seminar wie über seine Unterrichtsdemonstration an der Musterschule erheblicher Reduktion bedürfen.

Zum Theorietypus der Hegelschen Rechtsphilosophie. - In: Hegels Philosophie des Rechts. ... Stuttgart 1982. 393-427.

FULDA, HANS FRIEDRICH:

Vgl. die Besprechung in diesem Band, 335.

Idea logiki Hegla [Die Idee der Hegelschen Logik]. Übers, von WLODZIMIERZ GALEWICZ. - In: Res facta. Krakow. 1982, N.9, 160-172. GADAMER, HANS-GEORG:

Polnische Übersetzung des Aufsatzes aus dem Buch Hegels Dialektik. Tübingen 1971. Vgl. Hegel-Studien. 8 (1973), 213-217.

Hegel i romantyzm heidelberski [Hegel und die Heidelberger Romantik]. Übers, von WLODZIMIERZ GALEWICZ. - In: Res facta. Krakow. 1982, N.9, 173-180. GADAMER, HANS-GEORG:

Polnische Übersetzung aus: Hegels Dialektik. Tübingen 1971. Vgl. Hegel-Studien. 8 (1973), 213-217.

Gestaltungen dans la Phenomenologie de l'esprit. - In: L'heritage de Kant. Melanges philosophiques offerts au Marcel Regnier. Paris 1982. 195-208. GAUVIN, JOSEPH:

Verf. vollzieht eine „doppelte Lektüre" der Phänomenologie: von der Einleitung steigt er auf zum Schlußkapitel; von dessen Schwierigkeiten läßt er sich zurückverweisen zum An-

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

413

fang. Dabei löst sich die Problematik des Werkes jedoch nicht auf. Dies legt es nahe, für seine Lektüre einen anderen Leitfaden zu wählen als den in der Einleitung vorgeschlagenen.

Filosofija i „nefilosofija" v trudach Gegelja [Philosophie und „Nichtphilosophie" in Hegels Werken], - In: Voprosy Filosofii. Warszawa. 1982, N.2, 113-119. GEDO, ANDRäS:

H. ist davon ausgegangen, daß das Schicksal seiner Philosophie mit dem der Philosophie überhaupt verknüpft sei. Danach stellt sich die Frage, was auf die Philosophie H.s folge. Feuerbachs Antwort: Auf die Philosophie folgt der denkende Mensch. Andere, z. B. Kierkegaard und Nietzsche, waren bestrebt, die Forderung nach Realisierung der Philosophie auf ihre Art zu versuchen. Alle diese Versuche liefen auf eine „Nicht-Philosophie" hinaus. Allein der Marxismus, der den Fetisch der Absolutheit der Philosophie überwunden habe und statt einer „Nicht-Philosophie" eine objektiv existierende Wirklichkeit als gegeben anerkenne, halte die wissenschaftliche Grundlage der Philosophie hoch und ordne die sogenannte „Nicht-Philosophie" als Widerspiegelung der Wirklichkeit und des Klassenkampfes ein. Der dialektische Materialismus als neuer Typ der philosophischen Erkenntnis sei die produktive Alternative zu jeder „Nicht-Philosophie",

Der Streit um den Zugang zum Absoluten. Fichtes indirekte Hegel-Kritik. - In: Zeitschrift für philosophische Forschung. Meisenheim/ Glan. 36 (1982), 25-48. GLOY, KAREN:

Verf. bestreitet in Übereinstimmung mit einer neueren Forschungstendenz die Richtigkeit der früheren Annahme eines mit Notwendigkeit verlaufenden gedanklichen Fortschritts von Kant zu H., innerhalb dessen Fichte - besonders mit der Wissenschaftslehre 1794 - eine später von H. überwundene Stufe bilde. Hierzu analysiert sie die gemeinsamen Ausgangsprämissen in Fichtes Wissenschaftslehre und H.s Logik, um dann aber - gestützt insbesondere auf die Wissenschaftslehre 1801, die sie als indirekte Kritik an H. liest - Gründe für die Überlegenheit der Position Fichtes auszuarbeiten, die darum kreisen, daß für Fichte anders als für H. das Wissen nicht das Absolute sei: sie endet allerdings mit der kritischen Frage: „Wenn das Absolute dem Wissen doch unerreichbar bleibt, welches rationale Argument, abgesehen von Glaubensüberzeugungen, rechtfertigt, von einer Transzendenz zu sprechen?"

Das Abenteuer des Denkens. Abendländische Geistesgeschichte von Thaies bis Heidegger. Düsseldorf, Wien 1982. GöBEL, DIETER:

231-240: Der zu sich kommende Geist. Georg Wilhelm Friedrich Hegel. - Nach einem kurzen Überblick über die wichtigsten Lebensstationen H.s stellt Verf. die Grundzüge seiner Philosophie dar. Er beginnt mit H.s Kant- und Fichte-Kritik und geht dann über zu einer Darstellung der dialektischen Bewegung, wobei er vor allem die Phänomenologie und die Wissenschaft der Logik auswertet. Er schließt mit einem Blick auf die Rechtsphilosophie und den Gottesbegriff.

414

BIBLIOGRAPHIE

Kojeve's reading of Hegel. - In: International Philosophical Quarterly. New York, Heverlee-Louvain. 22 (1982), N.4, 275-293. GOLDFORD, DENNIS J.:

Es ist das besondere Verdienst von A. Kojeves Vorlesungen über H. im Frankreich der dreißiger Jahre, die Bedeutung von H.s Phänomenologie des Geistes wieder bewußt gemacht zu haben. Seine H.-Interpretation ist jedoch einseitig. Vor einer Kritik muß aber Kojeves Standpunkt genauer gewürdigt werden, als dies in der Literatur bisher geschehen ist. Verf. zeigt, wie Koj^ve von einem anthropologischen Begriff von Bewußtsein und einem materialistischen Begriff von Ideologie ausgeht. Die Theorie der Begierde und die Herr-KnechtDialektik stellen für ihn den eigentlichen Kern der Phänomenologie dar. Diese Interpretationsweise folgt in wesentlichen Punkten Marx. Er unterscheidet sich von Feuerbach und Marx darin, daß er deren Standpunkte in die Philosophie H.s hineinprojiziert.

Der Untergang des Individuums. Ein Vorschlag zur historisch-systematischen Rekonstruktion der theologischen HegelKritik. - In: Die Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie. Hrsg. V. Friedrich Wilhelm Graf und Falk Wagner. Stuttgart 1982. (Deutscher Idealismus. 6.) 274-308. GRAF, FRIEDRICH WILHELM:

Verf. unterbreitet einen „Vorschlag zur Aufklärung des der theologischen H.-Kritik zugrunde liegenden systematischen Interesses. Skizziert werden erste Umrisse eines Arbeitsvorhabens, das die Vergegenwärtigung der H.-Kritik zum Inhalt hat, wie sie in der Theologie des letzten Jahrhunderts formuliert wurde." Verf. zeigt, wie H. (etwa durch Tholuck) des Pantheismus verdächtigt wurde, wie Chr. H. Weiße den Ansatz H.s systematisch weiterführen wollte und wie die Dialektische Theologie unseres Jahrhunderts (K. Barth, W. Pannenberg) in ihrer H.-Kritik nur die Argumente zu reproduzieren vermochten, die schon die zeitgenössische Diskussion bestimmt hatten.

Hegel et la construction de l'etat. Contribution ä sa destruction. - In: Philosophiques. Montreal. 9 (1982), 95-117. GRAVEL, PIERRE:

H.s Theorie des Staats wird völlig von der aristotelischen Theorie der Metapher bestimmt. Um den Staat nach der Notwendigkeit des Begriffs zu konstituieren, muß ich von der Art zur Gattung, vom Individuum zum Staat übergehen, um bei einer politisch beunruhigenden Deduktion zu enden: von der Gattung zur Art, vom Staat zum biologischen und empirischen „ich will" einer einzigen Person: des Fürsten.

S.: Wat werkelijk is dat is redelijk [Was wirklich ist, das ist vernünftig]. - In: Wijsgering perspectief op maatschappij en wetenschap. Amsterdam. 22 (1982), N.4, 112-116. GRIFFIGEN,

Verf. untersucht die Bedeutung der zentralen Begriffe .Wirklichkeit' und .Vernünftigkeit' in H.s Rechtsphilosophie.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

415

Reflections on „dialectic" in Plato and Hegel. - In: International Philosophical Quarterly. New York, Heverlee-Louvain. 22 (1982), N.3, 115-130. GRISWOLD, CHARLES:

H. kritisierte an Platon die Form des Dialogs und betonte die Dialektik der Ideen in Platons Spätdialogen. Die Dialektik H.s nahm wesentliche Elemente der Dialektik Platons auf. Auf Resonanzen der Platonkritik H.s in der gegenwärtigen Platonforschung wird hingewiesen.

Problem! e prospettivi di ermeneutica hegeliana [Probleme und Perspektiven der hegelianischen Hermeneutik]. - In: Giornale di Metafisica. Genova. N. S. 4 (1982), 307-346. GULLI, MARIO:

Prolegomenes ä une lecture speculative de la „Phenomenologie de l'esprit". - In: Revue Internationale de Philosophie. Bruxelles. 36 (1982), N. 139/140 [Sonderband: Hegel et la Dialectique], 69-94. HAARSCHER, GUY:

Verf. plädiert für eine „spekulative Lektüre" der Phänomenologie, die ausgeht von H.s These, das Wahre sei nicht nur als Substanz, sondern auch als Subjekt aufzufassen. Eine Analyse der Subjektivität vereinigt empirische, transzendentale und „spekulative" Elemente zur Einsicht, das Absolute selbst sei Subjekt. Auf diese Weise wertet die „spekulative Lektüre" gegen Pöggelers oder Kojäves Unterscheidung zwischen dem lebendigen und dem toten (systematischen) H. den systematischen H. auf. Für die Durchführung der „spekulativen Lektüre" gibt Verf. im folgenden nur einige vorbereitende Hinweise.

Das Erbe Hegels liegt in unseren Händen. - In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Berlin 30 (1982), 437-450. HAGER, KURT:

Kurzer Überblick über H.s Entwicklung, Philosophie und Wirkung. Das von H. hinterlassene Erbe muß von der materialistischen Dialektik für die Aufgabe unserer Zeit fruchtbar gemacht werden.

Foi et raison dans la pensee du jeune Hegel. - In: Religion et politique dans les annees de formation de Hegel. Lausanne 1982. (Raison dialectique.) 80-101. HARRIS, ERROL E.:

Verf. untersucht die Beziehung zwischen Glaube und Vernunft im Denken des jungen H. Seit Tübingen verfolgte H. drei Fragen: 1) Was bedeutet religiöser Glaube? 2) Welches ist die wahre Beziehung zwischen dieser Bedeutung und dem Gefühl, das er hervorruft? 3) Wie und warum sind das Gefühl und die Bedeutung in der gegenwärtigen Zeit so getrennt? ln der Antwort auf diese Fragen erreichte Hegel gegen Ende der Frankfurter Zeit eine Theorie der konkreten Allgemeinheit, die die spätere Basis seiner Wissenschaft der Logik bildete.

416

BIBLIOGRAPHIE

S.; La servitude sociale et conceptuelle dans l'elaboration de la Phenomenologie. - In: Religion et politique dans les annees de formation de Hegel. Lausanne 1982. (Raison dialectique.) 117-147. HARRIS, HENRY

S.: „And the darkness comprehended it not." (The origin and significance of Hegel's concept of Absolute Spirit.) - In: Revue de l'Universite d'Ottawa. Ottawa. 52 (1982), 444-466. HARRIS, HENRY

Verf. untersucht anhand der Jenaer Schriften H.s zwei Fragen: einmal die nach der Differenz zwischen absolutem und objektivem Geist, zum anderen jene nach der Funktion der Religion in der modernen, säkularen Welt. Damit zusammenhängend wird dem Problem nachgegangen, wie H. sein Frankfurter Ideal der Antike von Jena an historisiert. Neue Blikke ergeben sich von dieser Leitfrage aus auf Glauben und Wissen und die Phänomenologie des Geistes.

Die Dialektik in Hegels Gymnasialreden. - In: Die Logik des Wissens ... Hamburg 1982. 232-242. HARTKOPF, WERNER:

Dieser Text arbeitet einen früheren Vortrag des Verf.s (s. dazu Hegel-Studien. 10 [1975], 428) weiter aus. Er betont eingangs die Aktualität der dialektischen Erziehungs- und Bildungskonzeption H.s, umreißt anschließend die „Kerngedanken" der Nürnberger Reden und analysiert diese dann nochmals auf die verschiedenen Spannungsmomente hin, die es im pädagogischen Prozeß auszuhalten gilt (bzw, deren Vernachlässigung krisenhafte Vereinseitigungen im Bildungswesen befördert).

Linearität und Koordination in Hegels Rechtsphilosophie. - In: Hegels Philosophie des Rechts. ... Stuttgart 1982. 305-316. HARTMANN, KLAUS:

Vgl. die Besprechung in diesem Band, 333.

E.: The linguistic basis of truth for Hegel. - In: Man and World. The Hague. 15 (1982), 285-297. HARVEY, IRENE

Sprache ist für H. ein wesentliches Mittel zur Konstituierung von Universalität als solcher. Sprache ist aber nicht Mittel zum Zweck, sondern unreduzierbar in der Geschichte gegeben. Das Unaussprechbare ist für H, unwahr, während das Unwahre durchaus eine sprachliche Existenz hat. Das Wahre ist notwendig sprachlich vermittelt. H.s Verständnis von Sprache ermöglicht einen Vergleich mit Gadamers Hermeneutik.

Hegel und die Aufklärung. Oder: Vom Versuch, den Verstand zur Vernunft zu bringen. - In: Studia Philosophica. Basel. 41 (1982), 114-137. HASLER, LUDWIG:

Verf. zeigt, daß der junge H. nicht einfach zum Lager der Gegenaufklärung gerechnet werden darf. Ihm gehe es nicht um Verabschiedung, sondern um Vervollständigung von

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

417

Aufklärung. Schon in Stuttgart habe H. entdeckt, daß „das abstrakte Verstandesdenken außerstande ist, sich selbst zu legitimieren"; in Tübingen und Bern begreife er „die prinzipielle Unfähigkeit der Verstandesaufklärung zur absoluten Einheit" und versuche, „legitimationsbedürftige Aufklärung vom Prinzip Moralität her zu vervollständigen". In Frankfurt kommt neu die Konzeption von „Liebe" hinzu, in Jena die für H.s Verhältnis zur Aufklärung entscheidende „Einsicht, daß der Verstand, wo er - skeptisch - seinen Mangel, Realität zu erfassen, erkennt, selbst schon Vernunft ist. Die Vervollständigung der Aufklärung muß daher erstmals nicht ,von außen' (Religion etc.), sie kann ,von innen' vorgenommen werden."

Hegel et les lumieres. - In: Religion et dialectique dans les annees de formation de Hegel. Lausanne 1982. (Raison dialectique). 9-30. HASLER, LUDWIG:

Französische Fassung des vorigen Titels.

G. W. F.:] Dalle lezioni di Hegel sulla societä civile tenute nel semestre invernale 1824-25 (a cura di Maria Fernanda Cavalet) [Hegels Vorlesung über die bürgerliche Gesellschaft, gehalten im Wintersemester 1924-25, hrsg. v. M. F. Cavalet]. - In: Rivista Critica di Storia della Filosofia. Firenze. 37 (1982), 325-339. [HEGEL,

G. W.F.:] Sul concetto di filosofia della natura [Über den Begriff der Naturphilosophie]. - In: Giornale di Metafisica. Genova. N. S. 4 (1982), 291-296. [HEGEL,

Italienische Übersetzung der Einleitung der Naturphilosophie Hegels aus dem Wintersemester 1819/20. Übers.: Leonardo Samonä.

G. W.F.:] Kapiel w swietle ksiezca - Decyzja - Wiosna. Aus dem Deutschen übers, von ZDZISLAW WAWRZYNIAK. - In: Zdanie. 1982, N.l, 42. [HEGEL,

Polnische Übersetzung von drei Jugendgedichten H.s; Mondscheinbad; Entschluß; Frühling (vgl. Hoffmeister: Dokumente zu Hegels Entwicklung. Stuttgart 1936 u. öfter. 384 f., 388).

HEGEL,

G. W.F. - siehe auch:

HIRSCHMANN,

G.;

NICOLIN,

F.

Hegel. - In: Boletim Seaf. Sociedade de Estudos e Ativitades filosöficos. Belo Horizonte. 1982, N.l, 19-26. HENNINGS, ERICH GEORG:

Versuch einer gedrängten Gesamtdarstellung H.s, die sich auf die Betrachtung der Phänomenologie und des späteren Systems beschränkt.

418

BIBLIOGRAPHIE

Andersheit und Absolutheit des Geistes. Sieben Schritte auf dem Wege von Schelling zu Hegel. - In: Henrich: Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie. Stuttgart 1982. 142-172. HENRICH, DIETER:

Der Denkweg, der von der absoluten Identität Schellings zum absoluten Geist H.s führt, läßt sich in sieben „Schritten" darstellen. Mit dem Vollzug jedes Schrittes wandelt sich die Idee des Absoluten und seines Bezuges zum Endlichen.

Alterite et absoluite de l'esprit. De Schelling ä Hegel: sept etapes sur le chemin. - In: L'heritage de Kant. Melanges philosophiques offerts au Marcel Regnier. Paris 1982. 155-182. HENRICH, DIETER:

Französische Fassung des vorigen Aufsatzes.

Kant und Hegel. Versuch zur Vereinigung ihrer Grundgedanken. - In: Henrich: Selbstverhältnisse. Stuttgart 1982. 173-208. HENRICH, DIETER:

Verf. untersucht zunächst den Kern von Kants Philosophie, der als „Verfahren der Rechtfertigung von Formen der Erkenntnis aus der Form und Verfassung des Selbstbewußtseins" ausgemacht wird. Dann wird H.s Ontologie beschrieben als eine „konstruktive Theorie". Das Resultat der Konstruktion dieser neuen ontologischen Begriffsform ist die Dialektik.

Die Formationsbedingungen der Dialektik. - In: Revue Internationale de Philosophie. Bruxelles. 36 (1982), N.139/140 [Sonderband: Hegel et la dialectique], 139-162. HENRICH, DIETER:

Wiederabdruck eines Aufsatzes aus: Aquinas. Roma 1981. Siehe in diesem Band, ■ .

Logische Form und reale Totalität. - In: Hegels Philosophie des Rechts. ... Stuttgart 1982. 428-450.

HENRICH, DIETER:

Vgl. die Besprechung in diesem Band, 336.

P.: Hegel's theory of crime and punishment. - In: The Review of politics. Notre Dame, Ind. 44 (1982), 523-545. HINCHMAN, LEWIS

In seiner entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung der H.sehen Theorie von Verbrechen und Strafe seit den frühen Jenaer Systementwürfen hebt Verf. den Umstand hervor, daß H. diesen Problemzusammenhang gerade nicht von dem Standpunkt der strafenden Obrigkeit, sondern von dem der Erziehung entwickelt, insofern das dialektische Verhältnis der Strafe zum Bewußtsein des Täters jene gerade dadurch legitimiert und so auch von der rächenden Willkür abgrenzt, daß es den „Sinn" einer jeden Strafe erzieherisch auf die Einsicht in das Recht des Allgemeinen und damit auf die Versöhnung des Einzelnen mit dem objektiven Ganzen der Gesellschaft festlegt.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

419

Hegel an Sigmund von Tücher. Ein unbekannter Brief aus dem Jahre 1815. - In: Hegel-Studien. Bonn. 17 (1982), 41-43.

HIRSCHMANN, GERHARD:

The sensible and supersensible in Hegel's theory of human action. - In: Revue Internationale de Philosophie. Bruxelles. 36 (1982), N. 139/140 [Sonderband: Hegel et la dialectique], 183-194. HOFFMAN, PIOTR:

Ausgehend von Marxens Kritik, H. beschreibe die Selbstwerdung des Menschen als abstrakten Prozeß geistiger Arbeit, zeigt Verf., daß H. die Einheit von Geist und Körper unterstellt, ln der .Geistphilosophie der Enzyklopädie stellt er den Hervorgang des Geistigen in einzelnen Schritten der Verinnerlichung der Natur dar. Das „Ego" Nietzsches oder Freuds sieht auch H. nicht als körperloses Bewußtsein; „objective consciousness must be seen as growing out of human responses to the task of coping with our natural needs".

to escape from Hegel's Aesthetics! - In: Graduate Faculty Philosophy Journal. New York. 9 (1982), N.l, 5-30. HOFSTADTER, ALBRECHT: HOW

Als Zentrum der H. sehen Ästhetik wird die Lehre der Schönheit ausgemacht. Verf. analysiert den Sinn der berühmten Formel vom „sinnlichen Scheinen der Idee" und fragt nach der historischen Seite der Identifizierung von Subjektivität und Objektivität. Zwischen Kunst- und Geistesphilosophie erblickt Verf. eine zirkelhafte Begründung, der es zu entfliehen gelte.

L'idee absolue dans la Science de la Logique de Hegel. - In: Revue de TUniversite d'Ottawa. 52 (1982), 536-553. HOGEMANN, FRIEDRICH:

Der Vortrag enthält die Exposition grundlegender Aussagen H.s zur Idee, des logischen Begriffs des Geistes und der Lehre H.s von der absoluten Idee. Er schließt mit Reflexionen zum Problem der Interpretation H. scher Texte.

J. C.: Hegels Individuationstheorie oder eine von Hegel entdeckte Methode, wie die Ausbildung mit der Bildung zu verbinden sei. - In: Die Logik des Wissens ... Hamburg 1982. 210-217. HORN,

„Bildung ist nicht machbar, sie gelingt oder sie gelingt nicht, ganz wie die Erfahrung." Unüberbietbare Orientierungspunkte für den Weg der Erfahrung des Individuums sieht Verf. in der Phänomenologie des Geistes aufgestellt, die H.s „wahre Anthropologie - die kategoriale Anleitung für das notwendige Wissen des Menschen der neueren Zeit - enthält". Es sind „Kategorien des Individuationsprozesses", die hier entfaltet werden. Individuation nennen wir den methodischen Weg von der Ausbildung zur Bildung als Weg vom dinglichen Bewußtsein zum Selbstbewußtsein.

420

BIBLIOGRAPHIE

Der geheime Kantianismus in Hegels Geschichtsphilosophie. - In: Hegels Philosophie des Rechts. ... Stuttgart 1982. 56-71. HORSTMANN, ROLF-PETER:

Die Entwicklung von H.s Geschichtsphilosophie (Naturrechtsaufsatz, dritte Jenaer Systemkonzeption, Enzyklopädie und folgende Veröffentlichungen) sieht Verf. durch eine ambivalente Beziehung auf Kant konstituiert. Während H. Kants Lehre vom Subjekt und (politischen) Ziel der Geschichte übernimmt, lehnt er dessen Konzeption, daß dem Subjekt der Geschichte keine objektive Realität zukommen kann, ab. Seit der dritten Jenaer Systemkonzeption ist für H. der Geist - und nicht die Natur wie bei Kant - das Subjekt der Geschichte. Damit gewinnt er den Begriff einer nach Zwecken agierenden Entität, die, da sie nicht als Natur gefaßt ist, den Kantischen Restriktionen nicht unterliegt.

ILTING, KARL-HEINZ:

Le Dieu hegelien. - In: Hegel et la Religion. ... Paris

1982. 101-124. Verf. sucht zu definieren, was Gott bei H. bedeutet. Dafür untersucht er zunächst die Idee Gottes als freier Geist, dann H.s Konzept von Religion und schließlich H.s Bestimmung der christlichen Religion als „religion parachevee".

Ontologie, Metaphysik und Logik in Hegels Erörterung der Reflexionsbestimmungen. - In: Revue Internationale de Philosophie. Bruxelles. 36 (1982), N.139/140 [Sonderband: Hegel et la dialectique], 95-110. ILTING, KARL-HEINZ:

Verf. gibt eine Analyse der Argumentationsebenen, auf denen sich H. in seiner Erörterung der Reflexionsbestimmungen bewegt. Gegen den von H. erweckten Eindruck, als ob die logischen Prinzipien, die mit den Reflexionsbegriffen „Identität", „Verschiedenheit" und „Widerspruch" verbunden werden, unmittelbare metaphysische Positionen implizierten, behauptet Verf., daß die metaphysischen Thesen Verabsolutierungen der im Text entwickelten Reflexionsbestimmungen sind. Diesen Sachverhalt versucht Verf. dadurch verständlich zu machen, daß er die in der Wissenschaft der Logik vorgeführte „Bewegung des Begriffs" als eine Bewegung des metaphysischen Denkens interpretiert, „das sich auf seinem Wege fortschreitend der Wahrheit des Absoluten vergewissert und dabei der Gefahr erliegt, die jeweils erreichte Position bereits als die absolute Wahrheit über das Absolute zu mißdeuten."

Rechtsphilosophie als Phänomenologie des Bewußtseins der Freiheit. - In: Hegels Philosophie des Rechts. ... Stuttgart 1982. 225-254. ILTING, KARL-HEINZ:

Vgl. die Besprechung in diesem Band, 332.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

421

concetto Hegeliano di filosofia della natura [Der hegelianische Begriff der Naturphilosophie], - In; Giornale di Metafisica. Genova. N. S. 4 (1982), 297-306. ILTING, KARL-HEINZ; II

INWOOD, MICHAEL;

Hegel on action. - In; Philosophy. London. 13 (1982),

141-154.

Kunst und Religion. - In; Die Flucht in den Begriff. .. . Stuttgart 1982. 163-195.

JAESCHKE, WALTER;

Verf. gibt in Abschnitt 1 eine Entwicklungsgeschichte der formalen Differenzierung von Kunst und Religion im Zuge der Systementwicklung in Jena, in der insbesondere die Konzeptionen des Systementwurfs 1805/06 und der Phänomenologie skizziert werden. Abschnitt 2: „Das Ende der Mythologie" hebt die im Jahr 1803 erfolgte Verabschiedung einer mythologischen Begriffsbestimmung der Kunst hervor; Abschnitt 3: „Das Ende der Kunst" thematisiert H.s Gründe für die Überordnung der Religion über die Kunst; Abschnitt 4; „Das Ende der Religion" zeigt, inwiefern diese Gründe paradigmatisch auch für das Ende der Religion sind, und diskutiert H.s Stellung zur religiösen Kunst seiner Gegenwart.

N.; Hegel Congress at Stuttgart. - In; Dialectics and Humanism. Warszawa. 9 (1982), N.l, 138-140.

JAKUBOWSKI, MAREK

Hegel lecteur de Jean de Müller. - In; Religion et politique dans les annees de formation de Hegel. Lausanne 1982. (Raison dialectique.) 31-61.

JAMME, CHRISTOPH;

Erz. Übersetzung eines Beitrags aus: Hegel-Studien. 16 (1981), 9^0.

Hegel lecteur de Jean de Müller. - In; Bulletin du Centre d'Etudes Hegeliennes et Dialectiques. Neuchätel. 8 (1982), N.22, 1-25.

JAMME, CHRISTOPH;

Vgl. den vorigen Titel.

Begrip van de arbeid en arbeid van het begrip bij Hegel [Begriff der Arbeit und Arbeit des Begriffs bei Hegel]. - In; De arbeid in Hegels filosofie. Hrsg, von J. Kruithof und F. Mortier. Toestanden-Cahierl. Antwerpen 1982. 59-73.

JARCZYK, GWENDOLINE;

422

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Z.: Die Konzeption der Logik bei Hegel und im Marxismus-Leninismus. [Tschechisch.] - In: Filosoficky Casopis. Praha. 30 (1982), N.l [Sonderband zum 150. Todestag Hegels], 57-67.

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Schopenhauer, Hegel, Vasubhandu. Zum geschichtlichinterkulturellen Gespräch zwischen Ost und West. - In: Zeit der Ernte. Studien zum Stand der Schopenhauer-Forschung. Festschrift für Arthur Hübscher zum 85. Geburtstag. Hrsg. v. Wolfgang Schirmacher. Stuttgart 1982. 228-239. KAMATA, YASUO:

Schopenhauer und H. haben in ihrem philosophischen Selbstverständnis zwei Momente gemeinsam: das Streben nach Systematisierung und das Denken in Negationen. Weiter kann eine Entsprechung zwischen .Idee' bei Schopenhauer und .Geist' bei H. festgestellt werden. Eine entscheidende Differenz zwischen beiden Denkern besteht darin, daß bei Schopenhauer die Negation nicht den Übergangscharakter der bestimmten Negation - wie bei H. in der Phänomenologie des Geistes - hat. Schopenhauer versucht, in die Systematisierung zugleich die Reflexion über die Blindheit des Systemdenkens einzubeziehen. Verf. geht dann auf die Nähe Vasubhandus (5. Jh. n. Chr., Systematiker der Yoga- bzw. Vorstellungsein-Schule) zu Schopenhauer ein. Eine gedankliche Verwandtschaft Vasubhandus mit H. besteht nur entfernt.

„Schöpfung" bei Hegel. - In: Theologische Quartalschrift. Tübingen. 162 (1982), H.2, 131-146. KERN, WALTER:

Zum Thema .Schöpfung' befragt Verf. die Darstellung der drei .Sphären' des Absoluten in den religionsphilosophischen Vorlesungen - insbesondere H.s Manuskript in der Fassung durch K. H. Ilting - und die Phänomenologie des Geistes. Das im Blick hierauf zu stellende Problem der Freiheit Gottes sieht Verf. auch in einem neueren Versuch nicht gelöst, hier -- im Sinne H.s - Freiheit und Notwendigkeit zusammenzudenken. Freiheit im Sinne einer .Wesensfreiheit' - könne etwa in der personalen Liebe mit .Notwendigkeit' zusammenwachsen, und in dieser Einheit sei sie auch für die immanente Trinität anzusetzen, aus dem Verhältnis Gottes zur endlichen Welt aber sei das Moment des freien Entschlusses nicht auszuschließen, wenn nicht „eine Verspannung Gottes mit der Welt die unausweichliche Folge" sein solle.

Hegels „Wissenschaft der Logik" als Grundlegung seines Systems der Philosophie. Über das Verhältnis von „Logik" und „Realphilosophie". - In: Die Logik des Wissens ... Hamburg 1982. 52-60. KIMMERLE, HEINZ:

Verf. erörtert die Grundlegungsfunktion der Wissenschaft der Logik durch eine entwicklungsgeschichtliche Darstellung des Verhältnisses von Logik und Realphilosophie. Dies Verhältnis ist an solchen Texten am besten ersichtlich, die beide Gesichtspunkte enthalten. Deshalb spitzt sich die Frage auf die der Einleitungsfunktion der Phänomenologie für die Nürnberger Logik zu. Während nach H.s eigener Meinung der Standpunkt der Phän. in der

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

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Logik überholt ist, zeigt seine „Systemintention", wie sie in der Enzyklopädie und den Vorlesungen vorliegt das Gegenteil: eine Prävalenz der Geschichte, mithin der Phän., vor der Logik. Verf. schließt daraus auf die Notwendigkeit, H.s Identitäts- durch ein Differenzdenken zu ersetzen, in dessen „Umkreis" auch die dialektische Logik modifiziert würde.

Wege der Kritik an der Metaphysik. - In: L'heritage de Kant. Melanges philosophiques offerts au Marcel Regnier. Paris 1982. 329-356. KIMMERLE, HEINZ:

Unter Rückgriff auf M. Theunissen zeigt Verf., in welchem Sinne H.s Wissenschaft der Logik als ein Weg der Kritik an der Metaphysik im Gefolge der Kantischen Problemstellung gesehen werden muß, um dann die Arbeit der Dekonstruktion der Metaphysik bei Marx, Heidegger und Derrida aufzuzeigen.

Hegels Rechtsphilosophie: Zeitgeist oder Weltgeist? In: Hegels Philosophie des Rechts. ... Stuttgart 1982. 206-222. KLENNER, HERMANN:

Verf. behandelt das Problem der Aktualität von H.s Rechtsphilosophie. Ihre bleibende Leistung sieht er darin, daß sie eine Analyse des qualitativen und quantitativen Funktionswandels des Rechts ermöglichte. Letztlich stellt aber der Nachvollzug der von Marx geleisteten Aufhebung H.s das experimentum crucis dar, das über die produktive Aneignung seiner Rechtsphilosophie entscheidet.

Hegels „Rechtsphilosophie" und ihre bürgerliche Gegenwartskritik. - In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Berlin. 30 (1982), 470-479. KLENNER, HERMANN:

Verf. unterscheidet fünf „Interpretationstendenzen" bezüglich der H.sehen Rechtsphilosophie, die er jeweils knapp skizziert und seiner scharfen Kritik unterzieht: ,,a) H. als Opfer von Marx; b) H. als Stammvater des Totalitarismus; c) H. als Liberaldemokrat; d) H. als Vorwegnahme von Marx; e) H. als Eklektiker". Entgegen dem offenkundigen Widerspruch einiger dieser Interpretationsrichtungen untereinander erkennt Verf. eine gemeinsame Wurzel: sie dienen der (politisch-philosophischen) Absicht, die historische Notwendigkeit des Übergangs von H. zu Marx grundsätzlich zu verleugnen.

L'ecrit de Hegel sur la Constitution de TAllemagne (1799-1802). - In: Hegels Philosophie des Rechts. ... Stuttgart 1982. 38-55. KONIGSON-MONTAIN, MARIE JEANNE:

Verf. konzentriert die Analyse der Verfassungsschrift weitgehend auf die Manuskripte von 1799-1801, die auf ihre politischen und historischen Reflexionen hin untersucht werden. Zu diesem Zweck analysiert Verf., wie sich in den Texten die Beziehung von privatem und öffentlichem Recht, von Krieg und Frieden sowie schließlich von Freiheit und Staat darstellt. Als Schlußfolgerungen H.s aus dem Jahr 1801 hält Verf. zwei Punkte fest: a) Für H. ergibt sich die Notwendigkeit, eine neue politische Legalität einzuführen; b) H. versucht.

424

BIBLIOGRAPHIE

einen Begriff des Staates zu entwickeln, der sich an die Stelle des „Gedankenstaates" setzen kann.

L'art appartient-il au passe? La these hegelienne de la fin de l'art et la psychanalyse. - In: Critique. Revue generale des publications frangaises et etrangeres. Paris. 38 (1982), N.416, 72-83. KORTIAN, GARBIS:

Ausgehend vom Satz vom Ende der Kunst sucht Verf. H.s Konzept der modernen, d. h. romantischen Kunst zu verdeutlichen. Den Beginn der Moderne bestimmt H. mit der durch das Christentum bedingten Subjektivität und Freiheit des Individuums. Für die Ästhetik der Romantik sind ausschlaggebend der Gedanke des Genies, dessen Bestimmtsein durch die Natur und die Theorie des Unbewußten, die wiederum Genie- und Naturgedanke umfaßt.

Hegel - „der Philosoph der Trinität"? - In: Theologische Quartalschrift. Tübingen. 162 (1982), H.2, 105-131. KOSLOWSKI, PETER:

Verf. behandelt die Themen; „Trinität in der ,Logik' oder im System H.s?", „Trinität als Schluß; der absolute Geist in der , Enzyklopädie'", „Trinität als Geist in den religionsphilosophischen Vorlesungen", „H.s immanente Trinität in der theologischen Diskussion", „Trinität und Identität", „Geistmonismus und offenbare Religion", „Einwände gegen den Geistmonismus", „,Lebenslauf Gottes'?", Er kommt zu dem Resultat, daß H.s Trinitätslehre aus mehreren Gründen - im Widerspruch mit der Kirchenlehre stehe; „H. hat die Distanz zwischen Endlichem und Unendlichem, Weltgeschichte und Heilsgeschichte in seinem trinitarischen Panentheismus der Subjektwerdung Gottes nicht gewahrt. Sein Einbringen von endlich-geschöpflichen Bestimmungen in die ,Selbstpotenzierung Gottes', in die immanente Trinität führt in Aporien im Gottesbegriff, in die auch Versuche einer Prozeßtheologie führen müssen, die Geschichte der Welt als Geschichte Gottes zu denken. Sie machen nicht nur den Gedanken der Heilsmächtigkeit Gottes über die Geschichte und damit die Hoffnung auf endgültiges Heil zweifelhaft, sondern führen zu Inkonsistenzen im Gottesbegriff selbst."

Die Hegelsche Konzeption des Denkens. - In: Die Logik des Wissens ... Hamburg 1982. 126-130. KUDEROVICZ, ZBIGNIEW:

Verf. weist auf die wegbereitende Rolle der Wissenschaft der Logik für das System- oder Modelldenken W. R. Ashley's, L. Bertalanffys oder E. Laszlos hin, H.s Begriff der konkreten Totalität soll z. B. „als eine Konzeption ... eines auf Grund eigener Prinzipien funktionierenden Systems" betrachtet werden, seine Kategorie der Negation steht für die heutigen präziseren Beschreibungen des Übergangs von einem Modell zum übergreifenden. Der H.sche „Begriff" gewinnt auf diese Weise den der „Theorie" äquivalenten Stellenwert.

Przestrogi Hegla dla historiografii [Hegels Kritik der Historiographie]. - In: Historyka. Studia metodologiczne. 12 (1982), 39-52. KUDEROWICZ, ZBIEGNIEW:

„The author discusses H.s views on the objectives of historiography. H. opposed the explanation of historical facts by psychological motives. He also fought against opinions

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

425

which had assigned didactic functions to historiography. Historiography should study politics, i.e. the history of the state, the forms of Government and the histories of sovereign States which reveal the individual characters of nations. H. solidarized with Macchiavelli on the question of drawing a distincfion befween polifics and morality. As to the valuation of historical evenfs, H. separafed the study of fheir origins from esfabilishing fheir historical significance. ln his opinion, philosophy is to pronounce to what extent the phenomena which occur in history are possessed of hisforical imporfance. Philosophy, appealing to reason as a set of universal values, is to provide the criteria for evaluating the historical significance of evenfs. ln this manner, philosophy infroduced fo historiography an a priori element in the form of rafional criferia of fhe significance of events. At the same time, H. was far from apriorism as a deducfion of evenfs and historical epochs from philosophical principles. He saw the main cultural function of hisforiography in developing national selfknowledge. Historical education enables nations to gain knowledge about the directions and possibilities of developmenf. If is in fhis respect fhaf Hegelianism permifs of fhe possibility fo restrict the spontaneity of the historical process." (Zusammenfassung des Verfassers.)

Le savoir absolu de l'esprit. - In: Revue de l'Universite d'Ottawa. Ottawa. 52 (1982), 499-516. LABARRIERE, PIERRE-JEAN:

Wenn man darin übereinstimmf, daß das H.sche corpus sich auf die drei größeren Werke Phänomenologie des Geistes, Wissenschaft der Logik und Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften beschränken läßf, so stellf man fest, daß jedes dieser Werke mit einem Begriff endet, der als „absolut" qualifiziert wird. Diese drei Werke können als die drei Termini eines Syllogismus betrachtet werden, dessen medius terminus die absolute Idee ist.

Redaktion und Redaktionsprinzip der Vorlesung über Religionsphilosophie in ihrer zweiten Ausgabe. - In: Die Flucht in den Begriff. ... Stuttgart 1982. 140-158. LäMMERMANN, GODWIN:

Verf. fragt nach den Gründen für die erheblichen Veränderungen, die die Edition der Religionsphilosophie von Marheineke durch Bruno Bauer erfuhr. Bauer bemühte sich um eine systematische Rekonstruktion der Religionsphilosophie, die gerade die der H.sehen Philosophie innewohnende Doppeldeutigkeit hervorhebt, um so den Schulstreit zwischen Linksund Rechtshegelianern zu beenden. Der Bauerschen Auflage liegt also weniger ein philologisches, als vielmehr „ein philosophisches und philosophiepolitisches Editionsprinzip" zugrunde.

absolute Spirit God? - In: Revue de l'Universite d'Ottawa. Ottawa. 52 (1982), 517-535. LAUER, QUENTIN: IS

Verf. fragt, ob der absolute Geist, von dem H. seit der Phänomenologie des Geistes spreche, mit Gott als Gegenstand des christlich-religiösen Bewußtseins identisch sei. Hierzu nennt er mehrere Extrempositionen, die die Frage bejahen oder verneinen, und sucht selbst diese Frage im Rückgriff auf das Programm und die Beweismöglichkeiten der Phänomenologie und der Logik zu beantworten; er endet mit der Frage: „Is ,absolute Spirit' God? We can, I sup-

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BIBLIOGRAPHIE

pose, end with a question, just as we began with a question. Just what would an infinite Spirit be which is not God; just what would a God be who is not ,absolute Spirit'?"

La conscience malheureuse dans la societe civile. - In: Hegels Philosophie des Rechts. ... Stuttgart 1982. 139-150. LE DANTEC, MICHEL:

Die Gestalt des „unglücklichen Bewußtseins", die H, in der Phänomenologie des Geistes beschrieben hat, findet Verf. am Ende des ersten Teils der Rechtsphilosophie wieder. Innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft repräsentieren die „fabricant-proletaires" das unglückliche Bewußtsein, das sich jetzt, wie H.s Analyse bewiesen hat, zum ersten Mal nicht mehr in einem Individuum, sondern in einer ganzen Klasse realisiert.

Die Realisierung des Begriffs. Der Objektivitätsabschnitt der Begriffslogik in der Nürnberger Propädeutik. - In: Die Logik des Wissens ... Hamburg 1982. 80-90. LEFEVRE, WOLFGANG:

Verf. interpretiert die Entwicklung des „Objektivitäts-Abschnittes der Begriffslogik" aus Vorformen in der Jenenser Logik und Metaphysik und den Nürnberger Propädeutiken. Das Movens des Entwicklungsprozesses bildet H.s Systemintention, die Verschmelzung von Logik und Metaphysik, so daß für H. „die Notwendigkeit des Objektivitätsabschnittes feststand, bevor er sich schlüssig war, welche Begriffe in ihm abzuhandeln seien". Inkonzinnitäten zwischen den tatsächlich behandelten Begriffen (Zweckbegriff, Selbsterhaltung, Leben) führen zu verschiedenen Gestaltungen dieses aktuellen Abschnitts.

C.: Por que 1er Hegel hoje? [Warum heute Hegel lesen?]. - In: Boletim Seaf. Sociedade de Estudos e Ativitades filosöficos. Belo Horizonte. 1982, N.l, 61-76. LIMA VAZ, HENRIQUE

L'effectivite dans la Logique de Hegel. - In: Revue de Metaphysique et de Morale. Paris. 87 (1982), 495-503. LONGUENESSE, BLATRICE:

H.s Begriff der Wirklichkeit ist nur von der Modalitätenlehre Kants her zu verstehen; mit diesem Begriff vollendet H. seine Aneignung der Kopernikanischen Wende und mit ihr die Renaissance der Metaphysik.

Luc, LAURENT-PAUL: Le concept de democratie dans la critique du droit politique hegelien. - In: Philosophiques. Montreal. 9 (1982), 119-134. In ihrer Kritik des H.sehen Staatsrechts verhält sich die Hermeneutik von Marx gegenüber der politischen Theorie H.s hyperkritisch. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie deren Voraussetzungen auf naive Weise teilt.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

427

Ediciön filosofica entre la arqueologfa y la reconstrucciön. El Archivo Hegel y la ediciön critica de sus obras [Philosophische Edition zwischen Archäologie und Rekonstruktion. Das HegelArchiv und die historisch-kritische Ausgabe der Werke Hegels]. - In: Stromata. San Miguel, Arg. 38 (1982), N.3/4, 401-418. LUCAS, HANS-CHRISTIAN:

Der Darstellung der Geschichte und der Hauptaufgaben des H.-Archivs, insbesondere der historisch-kritischen Edition der Werke H.s läßt Verf. einen Bericht über den Stand (Mai 1981) der Arbeit an der ersten Abteilung der Gesammelten Werke (Hamburg 1968 ff.) folgen, d. h. der Edition der von H. autorisierten Ausgaben seiner Schriften und der nachgelassenen, von H. selbst nicht veröffentlichten Manuskripte. Ein Überblick über die Probleme, die sich seit der Freundeskreisausgabe bei der Edition der Vorlesungen, bzw. Vorlesungsnachschriften manifestiert haben, und Hinweise auf die Bedeutung der Vorlesungen schließen sich an. Den Abschluß bildet ein kurzer Bericht über die Vorarbeiten, die das H.-Archiv bis Anfang 1981 für die zweite Abteilung der Gesammelten Werke H.s, d. h. die Edition der Vorlesungsnachschriften, geleistet hat.

Spinoza in Hegels Logik. - In: Mededelingen XLV vanwege het Spinozahuis. Leiden 1982. 1-19. LUCAS, HANS-CHRISTIAN:

Zusammenfassenden Bemerkungen zur systematischen Rolle der Spinoza-Rezeption H.s, auch im Vergleich mit der Spinoza-Rezeption von Zeitgenossen, insbesondere Schellings, läßt Verf. Hinweise auf den Spinozismus H.s in Frankfurt, auch im Blick auf H.s Freunde Hölderlin und Sinclair folgen. Den in den ersten Jenaer Jahren stark an Spinozas Philosophie der Einen Substanz orientierten Bemühungen um die Ausbildung einer SubstanzMetaphysik gegen die von Kant ausgehende sog. Reflexionsphilosophie stellt Verf. die eher kritische Spinoza-Rezeption der Wissenschaft der Logik und der letzten Vorlesung H.s über Logik und Metaphysik gegenüber, um neben den Differenzen auch die Kontinuität in H.s ,Spinozismus' deutlich machen zu können.

Spinoza en la logica de Hegel [Spinoza in Hegels Logik]. - In: Estudios sobre Kant y Hegel. Hrsg. v. Cirilo Flörez u. Mariano Alvarez. Salamanca 1982. (Instituto de ciencias de la educaciön universidad de Salamanca. Documentos didäcticos.5.) 203-225. LUCAS, HANS-CHRISTIAN:

Spanische Übersetzung des vorigen Titels.

Fonti spinoziane della dialettica di Hegel [Spinozistische Quellen der Dialektik Hegels]. - In: Revue Internationale de Philosophie. Bruxelles. 36 (1982), N. 139/140 [Sonderband: Hegel et la dialectique], 21-36. LUGARINI, LEO:

Verf. will nicht ein Verhältnis zwischen Spinozas und Hegels Lehren darstellen, sondern prüfen, ob und wie der Spinozismus Einfluß auf den Bildungsprozeß der Hegelschen Dialektik ausgeübt hat. Kann der Spinozismus als eine der Quellen jener Dialektik angesehen

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BIBLIOGRAPHIE

werden, so zeigt der Verf. die Wandlungen, die Hegels Spinoza-Deutung bis zur Wissenschaft der Logik erfahren hat. In diesem Werk wird zwar der Spinozismus widerlegt, die Widerlegung hat aber nicht den Sinn einer Ablehnung oder Verwerfung sondern den einer Aufhebung.

A. V.: Hegel i sovremennost [Hegel und unsere Zeit], - In: Voprosy Filosofii. Moskva. 1982, N.l, 113-124. LUNACARSKIJ,

Wiederabdruck aus der Zeitschrift „Das Neue Rußland", November 1931. H. sei nicht als Vorläufer einer sozialistischen Revolution einzustufen, habe er sich doch zu Sachgebieten wie der physischen Arbeit, der Technik und der Industrie nicht äußern können. Deshalb mußte Marx Hegel erst einmal vom Kopf auf die Füße stellen. So sei H. erst posthum zum Proletariat übergegangen, aber trotzdem ein Streitobjekt zwischen Kommunisten und bürgerlichen Interpretatoren geblieben.

Parallel structures in Hegel's ,Phänomenologie' and ,Enzyklopädie'. - In: Laval theologique et philosophique. Quebec. 38 (1982), N.3, 245-251. MCRAE, ROBERT GRANT:

In dieser knappen Analyse vergleicht Verf. H.s „phänomenologischen" Entwurf des absoluten Wissens sowie dessen Entfaltung zum „System der Wissenschaft" in der Phänomenologie des Geistes mit der Funktion des betreffenden Kapitels in der Enzyklopädie. Dabei zeigt sich, daß in der Phänomenologie zugleich mit der Selbstreflexion des Geistes in seiner Erscheinung das System des absoluten Wissens selbst hervorgeht. „The necessity that the entire System appears as phenomenal knowing, thereby giving that knowing a systematic unity, derives largely from the exigencies of the speculative presentation of the absolute idea."

The Problem of Presentation in the Philosophy of Absolute Spirit. - In: Revue de TUniversite d'Ottawa. Ottawa. 52 (1982), 575-592. MCRAE, ROBERT GRANT:

Verf. sucht die Form zu explizieren, „in which speculative of philosophic presentation is a subjective act arising out of the absolute need for self-knowledge by spirit". Er versteht seine Ausführungen nicht als Resultat eines archäologischen Interesses „in a dead artifact from an historical past, since truth within speculative Science is never a finished and completed thing, but that labour of the concept whereby the subject himself becomes embued with truth, surrendering his particular being in exchange for the substantial truth, and makes that truth his own through the mediation of thought. It is thus that spiritual freedom is won and made actual."

J.: Aristotle, Whitehead and Hegel on the problem of creativity. - In: The Modern Schoolman. St. Louis, Mo. 59 (1982), 157-177. MANDT, ALMER

Die enge Beziehung zwischen H. und Whitehead läßt sich auf ihren gemeinsamen Hintergrund, vor allem den Substanzbegriff bei Aristoteles, zurückführen. Die „occasions" White-

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

429

heads entsprechen den partikularen Individuen H.s, die das Allgemeine verwirklichen. Der grundlegende vergleichbare Begriff ist der Begriff der Selbstkonstitution, die Negativität einschließt. Whitehead legt den „actual occasions" Kreativität bei, H. spricht von „negativer Aktivität". H. muß nicht als Monist, sondern als Holist eingestuft werden. Zwischen H. und Whitehead besteht zwar innere Verwandtschaft, aber keineswegs volle Übereinstimmung.

C.: Eric Weil; un apologia di Hegel filosofo dello Stato moderno [Eric Weil: eine Apologie von Hegels Philosophie des modernen Staates]. - In: Giornale Critico della Eilosofia Italiana. Firenze. 2 (1982), N.l, 107-125. MANZONI,

Hegeliana quaestio: le sujet et le reel. - In: Revue de Metaphysique et de Morale. Paris. 87 (1982), 478-494. MARIGNAC, PASCAL:

Das H.sche Konzept des Realen und des Subjekts ist im wesentlichen aus den Schwierigkeiten hervorgegangen, die im Begriff des ,hypokeimenon' bei Aristoteles enthalten sind.

Combat pour la reconnaissance et criminalite. - In; Hegels Philosophie des Rechts. ... Stuttgart 1982. 75-93. MERCIER-JOSA, SOLANGE:

Der Aufsatz beschreibt zunächst den Prozeß, der aus dem gewaltsamen Kampf um Anerkennung zu der Bildung eines Staates führt, dem der freie Wille zugrunde liegt. Sodann geht er den Fragen nach, wie H. innerhalb dieses Staates das Verbrechen erklärt und wie das Recht an sich durch Negation (Verbrechen) und Negation der Negation (Strafe) zum Recht für sich wird.

La giustificazione dell'eticitä nei „Lineamenti di Filosofia del Diritto" di G. W. F. Hegel [Die Rechtfertigung der Ethik in den Grundlinien der Rechtsphilosophie von Hegel]. - In; Aquinas. Roma. 25 (1982), 424-464.

MESSINESE, LEONARDO:

Verf. versucht, durch eine Analyse der H. sehen Rechtsphilosophie eine Interpretation derselben als „Fundamentalphilosophie der Moral" zu deuten, d. h. als eine Philosophie der Moral, die - gerade als solche - eine politische Philosophie implizieren sollte.

Propriete et droit chez Hegel. - In: Religion et politique dans les annees de formation de Hegel. Lausanne 1982. (Raison dialectique.) 148-164. MEYER, RUDOLPH;

Verf. behandelt den Weg, auf dem die Realphilosophie von 1805/06 den Prozeß der Selbstbildung des Geistes im Medium der Arbeit beschreibt, ein Prozeß, der die Welt der Arbeit und die bürgerliche Gesellschaft zur Selbsterkenntnis benötigt. Besonderes Gewicht legt Verf. dabei auf das Problem der „Anerkennung". Sein Überblick endet mit den Grundlinien der Philosophie des Rechts.

430

BIBLIOGRAPHIE

S.: Die Zukunft der Hegelschen Begriffe in der Naturwissenschaft der Gegenwart. [Neugriechisch.] - In; Epanastatike Marxistike Epitheörese. Athena. 1982. N.26/27, 19-20. MICHAEL,

Nach dem Zusammenbruch des mechanistischen Weltbildes, das auf den Prinzipien der klassischen Physik beruhte, gewinnt H.s Naturphilosophie, wie sie aus dem zweiten Buch („Das Wesen") der Logik zu rekonstruieren ist, besondere Aktualität. Ihr lebendiger Gehalt wird jedoch nur durch die materialistische Umkehrung des Idealismus, wie sie Marx unternommen hat und der Marxismus permanent vollzieht, verständlich.

S.: Von Hegel zu Marx. [Neugriechisch.] - In: Epanastatike Marxistike Epitheörese. Athena. 1982. N.28, 21-25 (1. Teil); N.29, 36-40 (2. Teil). MICHAEL,

1. Verf. erforscht den Übergang von H. zu Marx als Einheit von Gegensätzen. Die Umkehrung des H.sehen Idealismus ist ein permanenter Prozeß, der - wie Lenin und Trotzki zeigten - vom Marxismus als Prozeß nicht zu trennen ist. Der Marxismus wurde aus den Widersprüchen des H.sehen dialektischen Idealismus und des H.ianismus geboren und ist nicht als eine geradlinige Entwicklung des Materialismus zu verstehen. Verf. untersucht die „Phänomenologie der Genese des Marxismus" beim frühen Marx (bis 1844) und kommt zum Ergebnis, daß die materialistische Umkehrung des Idealismus auch bei Marx ein „work in progress" ist, das sich durch alle Werke Marxens vollzieht. 2. Hier wird die „Logik" d. h. die Erkenntnistheorie des Marxismus untersucht. Der Marxismus nimmt in sich sowohl H.s Erkenntnistheorie wie auch seine Kant-Kritik auf. H. hat den Kantschen Agnostizismus beseitigt und die Voraussetzungen der absoluten Erkenntnis in der Phänomenologie des Geistes dargestellt, ln den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten unternimmt Marx die Umkehrung des Idealismus anhand der Grundprobleme der H.sehen Phänomenologie: der Dialektik von Herr und Knecht, der Arbeit, der Entfremdung, des Verhältnisses von Sein und Bewußtsein,

S.: Philosophie und Krieg. [Neugriechisch.] - In: Epanastatike Marxistike Epitheörese. Athena. 1982. N.29, 27-35. MICHAEL,

Kritik eines Artikels von Th. Veikos über Militarismus .. . (s.u.). - Im 2. Teil „H., die Dialektik der Geschichte und der Militarismus" verteidigt Verf. H. Dieser ignoriere nicht das Individuum; er zeige, wie das Ich Wir und das Wir Ich wird. H.s Auffassung von der Weltgeschichte als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit sei unvereinbar mit dem Faschismus. Sowohl Preußen wie auch der Faschismus wandten sich gegen H.s Philosophie. Die Grenze H.s sei sein Idealismus; die Größe H.s seine Dialektik, die aber nur in ihrer Umkehrung durch Marx zum Ende des Krieges führen könne.

H.: Hegel's conception of law. - In; Rivista Internazionale di Filosofia del Diritto. Milano. 59 (1982), 223-231. MITIAS, MICHAEL

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

431

Approche de Hegel. - In; Revue Philosophique de Louvain. Louvain. 80 (1982), 5-34; 191-224. MOREAU, JOSEPH:

H.s Philosophie ist aus einer Situation geboren, die der unseren in vielem ähnelt. Einen ersten Niederschlag findet sein Denken in den Jugendschriften, die stellenweise schon die Phänomenologie ankündigen, von der Verf. im ersten Teil seines Aufsatzes eine Darstellung gibt. - [2. Teil:] Die Philosophie H.s erscheint als ein umgekehrter Neuplatonismus; ihr Wesentliches läßt sich so resümieren; Das abstrakte Sein, der allgemeinste Gegenstand des Denkens, kann für das Absolute gehalten werden, das unserem Geist gegenwärtig ist, aber als solches nicht erkannt wird; nur nachdem wir uns seiner bewußt geworden sind, ist es wirklich und für sich, bewußtes Subjekt, absoluter Geist oder Gott.

Arbeid in Hegels filosofie [Die Arbeit in Hegels Philosophie]. - In: De arbeid in Hegels filosofie. Hrsg, von J. Kruithof und F. Mortier. Toestanden-Cahier 1. Antwerpen 1982. 20-33. MORTIER, FREDDY:

Die katalysatorische Gegenwart des Hegelianismus. [Neugriechisch.] - In: Nea Hestia. Athenai. 111 (1982), 588-589. MOUTSOPOULOS, EVANGELOS:

Der H.ianismus spielt die Rolle des Katalysators in zweierlei Hinsicht; Einerseits kann die Philosophie bei der Behandlung ihrer Grundprobleme ohne Bezug auf ihn kaum auskommen, andererseits sind die neuen Modelle der logischen Erfassung und des methodischen Verfahrens, die unter dem Einfluß des H.ianismus entstanden sind, unentbehrlich für die Philosophie überhaupt. Der H.sche „Idealismus" ist im Unterschied zum Kantischen eine Form des Realismus, die sich als fruchtbar erwiesen hat, da sich aus ihr sowohl idealistische - im Grunde genommen Kantischer Prägung - wie auch realistische - wie der Materialismus - Strömungen herausgebildet haben. Der H.ianismus hat ebenfalls in Griechenland eine beachtenswerte Wirkung ausgeübt.

Incidence sur Hegel de la lecture de Gibbon, ou: comment le philosophe se revele ä lui-meme par la lecture de l'historien. - In: Studia Philosophica. Basel. 41 (1982), 161-176. MüLLER, PHILIPPE;

Verf. behandelt H.s Lektüre von Gibbon als Teil von H.s Auseinandersetzung mit der Aufklärung. Er fragt vor allem nach den Spuren einer unmittelbaren Beeinflussung durch Gibbons Hauptwerk The decline and fall of the Roman Empire. Nach einer Übersicht über die leitenden Thesen dieses Werkes fragt Verf. nach Reflexen in den H.sehen Jugendschriften. Dabei kommt nicht nur die Positivitäts-Schrift in den Blick, sondern auch das Fragment Jetzt braucht die Menge ... (Schüler Nr 45). Dieser Text ist der einzige unmittelbar geschichtsphilosophische des jungen H., und eine Beeinflussung durch Gibbon scheint wahrscheinlich.

Hegel on crime. - In: History of Political Thought. Exeter. 3 (1982), N.l, 103-121.

NICHOLSON, PETER P.:

432

BIBLIOGRAPHIE

Nach einem einleitenden Abschnitt über andere Auffassungen vom Verbrechen skizzierf Verf. H.s Lehre vom „bürgerlichen Unrechf" im Gegensatz zum eigentlichen Verbrechen. Zwischen beiden Formen der Rechtsverletzung steht der Betrug {Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 84). Das Verbrechen ist ein Vergehen sowohl gegen das Recht als auch gegen die Moralität. H.s Theorie von Verbrechen und Strafe übertrifft sämtliche Vorgänger an Ausführlichkeit und Abstraktionsniveau.

Hegels Briefwechsel mit Karl Daub. - ln: HegelStudien. Bonn. 17 (1982), 45-52.

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Hegels Rede über die Confessio Augustana. - ln: Hegel-Studien. Bonn. 17 (1982), 273-279. NICOLIN, FRIEDHELM: ZU

Nociones operantes en la investigacion histöricofilosöfica [Arbeitsbegriffe in der historisch-philosophischen Forschung]. ln: Philosophia. Mendoza. 1982, N.43, 7-21. NOUSSAN-LETTRY, LUIS:

Hegels Präsenz im neugriechischen Denken. [Neugriechisch.] - ln: Hegel und der Marxismus. ... Hrsg. v. Zentrum für Marxistische Forschungen. Athena. Synchrone Epoche. 1982. 81-90. NOUTSOS, PANAJOTIS:

Zunächst erschienen, mit leichten Veränderungen und mit reicherer Bibliographie in; Dödöne. löannina. 10 (1981), 37-48, mit deutscher Zusammenfassung. - Vgl. Hegel-Studien. 18 (1983), 483.

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SwiATOSLAW FLORIAN: Der hegelianische Syllogismus. [Polnisch.]

- In: Archiwum Historii Filozofii i Mysli Spolecznej. Warszawa. 1982. N.27, 27-48.

Licht der Philosophie im Schatten Hegels. Zum Gedenken an Immanuel Hermann Fichte. - In: Theologische Quartalschrift. Tübingen. 162 (1982), H.2, 147-162. OEING-HANHOFF, LUDGER:

Verf. gibt einen kurzen Überblick über die Intention der Kritik 1. H. Fichtes an H., wobei er besonders die Begriffe .Liebe' und .Sehnsucht' hervorhebt, sowie über die Forschung zu I. H. Fichte, seine ökumenischen Bestrebungen, seine Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften, seine Ethik und schließlich seine Trinitätslehre, die - wie auch diejenige H.s - nur drei göttliche Seinsweisen in Einer Person kenne.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

433

La necessite historique du concept hegelien de Dieu. - In: Hegel et la Religion. ... Paris 1982. 77-99. OEING-HANHOFF, LUDGER:

Verf, sucht zu zeigen, „comment les antinomies dans le concept de la creation ont rendu le concept hegelien de Dieu historiquement necessaire". „H. resout l'antinomie qui resulte, en theodicee, de la pretendue Opposition entre un Dieu createur infiniment bon et un Dieu createur infiniment puissant."

I.: Zuf Frage einer positiven Bewertung der Widersprüche der Rechtsphilosophie Hegels. - In: Hegels Philosophie des Rechts. ... Stuttgart 1982. 277-304. OizERMANN,

TEODOR

Vgl. die Besprechung in diesem Band, 330 f.

L'hegelismo italiano tra Napoli e Torino [Italienischer Hegelianismus zwischen Neapel und Turin]. - In: Filosofia. Torino. 125 (1982), 247-270. OLDRINI, GUIDO:

M.: Renunciation and Metaphysics: An examination of dialectic in Hölderlin and Hegel during their Frankfurt period. - In: Man and World. The Hague. 15 (1982), 123-148. OLSON, ALAN

Verf. stellt die These auf, die Zusammenarbeit Hölderlins und H.s in Frankfurt „represents a kind of watershed for the past and the fufure of dialectic". Er stellt heraus, „that H. and Hölderlin, during this period, together rediscover and rehabilitate the speculative metaphysical potentiality of a dialectic grounded in contemplation and renunciation". Dabei geht er in drei Schritten vor. Im ersten Schritt untersucht Verf. H.s Überwindung des Kantianismus in Frankfurt und seinen Weg von einer negativen zu einer spekulativen Dialektik. Im zweiten Schritt zeigt er, wie Hölderlins Übernahme der spekulativen Dialektik seine Dichtung befruchtet und verändert. Im dritten Schritt wird gezeigt, daß es bei Hölderlin zu einem Widerspruch gegen die Dialektik kommt und daß aus dieser jene „Gelassenheit" fließt, die Heidegger an Hölderlin so fasziniert hat.

Logik und Freiheit. Historische und systematische Bemerkungen zu Hegels Nürnberger Logik. - In: Die Logik des Wissens. . .. Hamburg 1982. 164^172. OTTMANN, HENNING:

Gegen die gängige Interpretation der Philosophen wie Theologen deutet Verf. H.s Logik als Logik der Freiheit. H. bewahrt den Anspruch der klassischen Theorie auf „Freiheit und Praxis" und konzipiert seine eigene Philosophie als „Kritik der Herrschaftsmetaphysik" (Heidegger). Prinzipiell läßt sich dieser Sachverhalt an der Kategorie der Negation verdeutlichen; exemplarisch an H.s Überwindung des Spinozismus.

434

BIBLIOGRAPHIE

Hegelsche Logik und Rechtsphilosophie. Unzulängliche Bemerkungen zu einem ungelösten Problem. - ln: Hegels Philosophie des Rechts, ... Stuttgart 1982. 382-392. OTTMANN, HENNING:

Vgl. die Besprechung in diesem Band, 334.

Georg W. F. Hegel czyli metoda dialektyczna [Hegel oder die dialektische Methode]. - In: Argumenty. 1982, N.6, 12-13. PALACZ, RYSZARD:

Eine populäre Darstellung der H,sehen Philosophie.

Presencia de Hegel en America [Die Anwesenheit Hegels in Amerika]. - In: Encuentros. Lima. 16 (1982), 99-104. PALADINES, CARLOS:

Wiederabdruck aus: Revista de Filosoßa Latinoamericana. San Antonio de Padua, Arg. 2 (1976), N. 3-4, 81-91. - Verf. schildert, was H. in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte über den Ursprung der verbreiteten „schwarzen Legende" von (Latein-) Amerika gesagt hat. Es handelt sich weder um die Idee des „bon sauvage" noch um utopische Darstellungen, sondern darum, daß H. das amerikanische Wesen als vor- und untergeschichtliches betrachtet, wobei er an Lateinamerika denkt und nicht an die U.S.A., die vielmehr mit der europäischen Herrschaft identifiziert werden. Eine lateinamerikanische Philosophie baut sich also im Gegensatz zu Hegel auf, d. h. versteht sich als Bruch mit jeder philosophischen oder politischen Form des „Status quo". ln diesem Sinne wäre die Philosophie H.s der negative Anstoß, der zur echten lateinamerikanischen Philosophie führt.

Hegel w Polsce [Hegel in Polen], - In: Czlowiek i Swiatopoglad. Warszawa. 1982, N. 1/2, 156-169. PANASIUK, RYSZARD:

Verf. untersucht den polnischen H.ianismus in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts. Gezeigt wird, daß die polnischen H.ianer (Cieszkowski, Trentowski, Libelt, Dembowski, Kamienski) die H.sehen geschichtsphilosophischen Schemata nicht einfach übernommen, sondern modifiziert haben. So kritisierten sie bei H. die Entwertung der Existenz des Reellen, übernahmen allerdings die systematische Tendenz, Eine Frucht dieser Bemühung um philosophische Systeme ist die Idee einer Slawenphilosophie, derzufolge die Slawen die bisher getrennten Momente des politischen Aktivismus der Franzosen und des spekulativen Talents der Deutschen in sich vereinigen. - Die durch H. inspirierte philosophische Phase dauerte in Polen nur kurze Zeit; sie verebbte schon nach dem Krakauer Aufstand von 1846. Der Positivismus trat seinen Siegeszug an. Das Interesse am Deutschen Idealismus nahm erst wieder um die Jahrhundertwende zu (Adam Zoltowski), In der Nachkriegszeit läßt sich seit den 50er Jahren ein steigendes Interesse für die Philosophie H.s beobachten (Tadeusz Kronski),

On Hegel, Marx, and nuclear war: comments on Professor Clark Butler's „The dialectical-hermeneutic method in Hegel and in Marx". - In: Dialectics and Humanism. Warszawa. 9 (1982), N.4, 129-137. PARSONS, HOWARD L.:

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

435

Zum Problem der „schlechten Unendlichkeit" bei Kant und Hegel. - In: Die Logik des Wissens ... Hamburg 1982. 118-125. PECHMANN, ALEXANDER VON:

H.s Begriff des wahrhaft Unendlichen wird gegen Fehldeutungen gesichert. Dieser Begriff erscheint sowohl als Grundbegriff seiner Philosophie wie als metaphysische Bestimmung ihres Inhalts. Kant, der den Begriff des wahrhaft Unendlichen vorbereitet, vollzieht die Aufhebung des Dualismus von Endlichkeit und Unendlichkeit - H.s letzten Schritt - aus guten Gründen nicht. Seine Position läßt sich als Kritik an H. unterschreiben, will man den dialektischen Begriff der „Einheit von Endlichem und Unendlichem festhalten, aber nicht an H.s zentralem Philosophem der .Idealität' aller Wirklichkeit".

Religion et politique dans la philosophie de Hegel. In: Hegel et la Religion. ... Paris 1982. 37-76. PEPERZAK, ADRIAAN:

Verf. fragt einmal danach, wie H. seit seiner Jugend die Bezüge zwischen Religion und Politik sieht, dann danach, wie er (in den Grundlinien der Philosophie des Rechts § 270 und in der Enzyklopädie §§ 563, 552) das Verhältnis von Staat und christlicher Religion beurteilt. Dabei gelangt er zu folgendem Ergebnis; „La religion n'est rien d'autre que l'ethicite concrete ef reelle consciente de son propre esprit universel qu'elle realise sous la forme d'un monde politique, mais qui est en meme temps l'objet et le sujet d'une contemplation et d'une puissance de l'esprit en et pour lui-meme."

Zur Hegelschen Ethik. - In: Hegels Philosophie des Rechts. ... Stuttgart 1982. 103-131. PEPERZAK, ADRIAAN:

Verf. gibt eine systematische Interpretation der §§ 4-28 der Grundlinien der Philosophie des Rechts, die die Frage nach Wesen und Struktur der Freiheit des einzelnen Menschen klären will. Aufgrund der Analyse des inneren Zusammenhangs und der Beweiskraft von H.s Darstellung resümiert Verf. die Aufgabe, von der H.s Ethik bestimmt wird. Sie besteht in der Vergeistigung des Vorgefundenen, so daß im Denken die vernünftige Notwendigkeit des Bestehenden aufgewiesen werden kann; „das Handeln vollzieht das Sollen, das in seinem Begriff enthalten ist".

Hegels Pflichten- und Tugendlehre. Eine Analyse und Interpretation der „Grundlinien der Philosophie des Rechts" §§ 142-156. - In: Hegel-Studien. Bonn. 17 (1982), 97-117. PEPERZAK, ADRIAAN:

Wat is en waarover gaat de filosofie? [Was ist und wovon handelt die Philosophie?]. - In: Wijsgerig perspectief op maatschappij en wetenschap. Amsterdam. 22 (1981/82), N.4, 98-102. PEPERZAK, ADRIAAN:

Verf. stellt H.s Antwort auf die Fragen nach Beginn und Gegenstand in der Philosophie in der Enzyklopädie (1817), § 1-5, dar.

436

BIBLIOGRAPHIE

Hegel a humanizm [Hegel und der Humanismus]. ln: Czlowiek i Swiatopoglad. Warszawa. 1982, N.1-2, 170-178. PERKOWSKA, HALINA;

Indem H. die Kritik des metaphysischen Denkens aufnimmt, läßt er die grundlegenden Voraussetzungen desselben unangetastet, sodaß in seiner Konzeption Sein und Nichts dieselbe ontische Stufe ausmachen. Im System H.s wird aber dennoch schließlich eine Priorität des Subjekts deutlich. Diese Überlegenheit jedoch wird nicht mehr auf der Stufe der Relation Subjekt-Objekt realisiert, sondern auf der Stufe der Relation zwischen dieser ganzen subjektiv-objektiven Sphäre und dem Subjekt einer höheren Stufe, das fähig ist, das Historische zum Geschichtsphilosophischen hin zu übersteigen. Die Vernachlässigung dieser Differenz macht den Fehler sowohl der psychologisch-anthropologisch-humanistischen wie auch der objektivistisch-historisch-antihumanistischen Interpretation des H.sehen Denkens aus. Die Philosophie H.s ist ein Humanismus, und zwar ein radikaler Humanismus, da er ein solcher ist, der das menschliche Bewußtsein (das sich auf sich selbst beziehende Denken) zum absoluten Stoff der Welt macht.

Dialektyka natury i kultury w mysli filozoficznej Hegla [Die Dialektik der Natur und Kultur im philosophischen Denken Hegels]. - In: Zeszyty Naukowe Wyzszej Szkoly Pedagogicznej w Szczecinie. N.37. Prace Instytutu Nauk Filozoficzno-Spolecznych. Szeczecin. 1982, N.3, 69-91. PERKOWSKA, HALINA:

Verf. charakterisiert die H.sche Dialektik, die das, was kulturell als natürlich anerkannt wird, mit dem verbindet, was als Folge der bewußten gesellschaftlichen Tätigkeit anerkannt ist. Ein besonderer Akzent liegt auf der Schilderung dessen, was in dem Verhältnis der „Natürlichkeit" und „Gemeinschaft" der Kontinuität des historischen Prozesses zugrunde liegt. Insofern versteht sich der Artikel als Beitrag zur Frage des Ausmaßes der Stetigkeit resp. Veränderlichkeit des historischen Prozesses.

Die philosophischen Ausgangspunkte der Beziehung zwischen Zeit und menschlicher Aktivität bei Marx und in der , Phänomenologie des Geistes' von Hegel. [Tschechisch.] - In: Filosoficky Casopis. Praha. 30 (1982), N.l [Sonderband zum 150. Todestag Hegels], 88-102. PESEK, J.:

Hegels kritiek op Newton [Hegels Kritik an Newton]. In: Wijsgerig perspectief op maatschappij en wetenschap. Amsterdam. 22 (1981/82), N.4, 103-112. PETRY, MICHAEL P.:

Verf. handelt über H.s Beschäftigung mit dem Newtonianismus und seine Kritik an demselben.

Dialectics, politics and economics: aspects of Hegel's political thought. - In: Revue Internationale de Philosophie. Bruxelles. 36 (1982), N. 139/140 [Sonderband: Hegel et la dialectique], 49-68. PLANT, RAYMOND:

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

437

Dieser Aufsatz behandelt das dialektische Verhältnis von ökonomischer Tätigkeit und der Rolle des Staates in der Philosophie H.s. Verf, beschreibt, wie für H. das System der Bedürfnisse nicht bloß vom Privategoismus bestimmt wird, sondern zugleich soziale Orientierungen enthält, die als vermittelndes Glied zwischen dem die ethische Substanz repräsentierenden Staat und den partikularen Werten der Ökonomie fungieren. Aber diese Lösung H.s hält Verf. für illusorisch, weil die ökonomische Tätigkeit selbst von anderen Motiven geleitet wird als der Ausrichtung auf das allgemeine Wohl.

Hegel et la dialectique selon les Grecs. - In: Revue Internationale de Philosophie. Bruxelles. 36 (1982), N. 139/140 [Sonderband: Hegel et le dialectique], 3-20. PLANTY-BONJOUR, GUY:

Verf. analysiert H.s widersprüchliche Aussagen über seine Vorgänger innerhalb der griechischen Philosophie, nämlich sie hätten das dialektische Denken in den Grundlagen ausgebildet bzw. sie hätten die Natur der Dialektik nicht verstehen können, mithilfe einer Differenzierung, die H. im § 79 der Enz. 1830 entwickelt. Als weitere Bezugstelle führt Verf. die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie an, in der H. die Griechen im Sinne ihrer „Vollendung" umdeutet und vereinnahmt. Dadurch gewinnt H. das Modell der eigenen Dialektik aus der ontologischen Dialektikkonzeption der Griechen, nicht aus der epistemologisch orientierten modernen Philosophie der Subjektivität.

Der junge Hegel und die Lehre vom weltgeschichtlichen Individuum. - In: Hegels Philosophie des Rechts. ... Stuttgart 1982. 17-37. POGGELER, OTTO:

Verf. zeichnet die Entwicklung und Veränderung nach, die H. der Rolle des weltgeschichtlichen Individuums in seiner Philosophie gibt. Während seiner Jenaer Jahre bildet sich bei H. die stärkste Zuwendung zu den großen Individuen der Geschichte heraus, denen die Aufgabe zugedacht wird, neue sittlich-staatliche Gestalten zu schaffen. Für H.s späte Rechts- und Geschichtsphilosophie aber ist die Geschichte in Wahrheit die Geschichte der Institutionen und der leitenden religiösen Vorstellungen, die sich auch nach dem Untergang des Individuums durchsetzen. Somit ist die Auffassung, daß große Männer Geschichte machen, letztlich nicht H.s Lehre.

Hegel. Philosophie als System. - In: Grundprobleme der großen Philosophen. Hrsg. v. Joseph Speck. Philosophie der Neuzeit II. 2. durchges. Aufl. Göttingen 1982. (UTB 464) 145-183. POGGELER, OTTO: G. W. F.

Vgl. Hegel-Studien. 15 (1980), 429.

Was ist „logisch" in Hegels „Wissenschaft der Logik"? - In: Die Logik des Wissens ... Hamburg 1982. 40-51. PuNTEL,

LORENZ BRUNO:

Verf. geht von der These aus, daß H. in seiner Nürnberger Logik (wie auch sonst) den Begriff des Logischen nicht restlos geklärt hat, und führt die Inkohärenz der Wissenschaft der

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BIBLIOGRAPHIE

Logik auf dieses Grundlagendefizit zurück. Die Kluft liegt zunächst zwischen H.s „Transformation der Metaphysik zur Logik" und der bloß in negativ-abgrenzender Hinsicht präzisen Explikation dieses Übergangs in der Wiss. d. Logik. Deshalb plädiert Verf. für eine neue Verhältnisbestimmung von formaler und dialektischer Logik. H. hat in etwa diese Logik vorgezeichnet, weil er in der Wi'ss. d. Logik die reine Strukturtheorie von einer „operationalen Logik" gestützt sieht. Eine kohärente Interpretation der H. sehen Logik ist also nur erhältlich als „dialektisch-spekulative" Kombination der rein logischen Strukturen mit der ihnen durch die Sprache inhärenten „dialektisch-spekulativen operationalen Logik",

Hegels Bildungsideal. - In: Die Logik des Wissens ... Hamburg 1982. 21B-231.

RACINARO, ROBERTO: ZU

Verf. verweist zunächst auf die bildungstheoretische Orientierung am Altertum, die H. mit zeitgenössischen Denkern teilt, um dann nach der Eigenart von H.s Ansatz zu fragen. Er sieht diese in der „Verbindung zwischen Philosophie und Politik, die wir von allem Anfang im H.sehen Bildungsideal bestätigen können". Die gesellschaftlich-politische Dimension von H.s Bildungsverständnis aus den Texten aufweisend, behandelt er zum Schluß H.s „Auseinandersetzung mit dem Subjektivismus" in prinzipieller Hinsicht (Kritik an Schleiermacher und Schelling).

F.: Hegel und der Marxismus. [Neugriechisch.] - In: Hegel und der Marxismus. ... Hrsg. v. Zentrum für Marxistische Forschungen. Athena. Synchrone Epoche. 1982. 15-39. RICHTER,

H.s Philosophie gehört zu den wichtigsten theoretischen Quellen des Marxismus. Obwohl H. aufgrund seines Idealismus den Zusammenhang zwischen der menschlichen Handlung und der objektiven Gesetzlichkeit nicht wissenschaftlich verstehen konnte, hat vieles in seiner Philosophie einen hohen Realitätsgrad. Marx, Engels und Lenin schätzten H.s Sinn für die Gesetzlichkeiten der Geschichte und entdeckten den rationalen Kern seiner mystifizierten Dialektik. In Auseinandersetzung mit H. gelangte Marx zur Auffassung von der weltgeschichtlichen Rolle des Proletariats. Die materialistische Dialektik von Marx und Engels ist die Fortsetzung der revolutionären Seite der Philosophie H.s.

Rizzo, LEONE: Illuminismo e ,Post-ilIuminismo' nel Tübinger Fragment di Hegel [Aufklärung und ,Post-Aufklärung' in Hegels Tübinger Fragment]. - In: ACME. Annali della facoltä di Lettere e Filosofia dell' Universitä degli Studi di Milano. 35 (1982), N.2/3, 497-515. In einer Analyse des sog. Tübinger Fragments sucht Verf. die Thematik der Aufklärung, besonders auf den Gebieten von Geschichte und Religion, herauszuarbeiten. H.s Interesse für Kant kommt in dieser Zeit hinzu.

N.: Toward a Science of human nature. Essais on the psychologies of Mill, Hegel, Wundt, and James. New York 1982.

ROBINSON, DANIEL

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

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83-125: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. - Im Rahmen einer kurzen Skizze von H.s Dialektik und Systemaufbau finden sich auch Ausführungen über H.s „Psychologie" als Systemteil. Bezüge zur Psychoanalyse und zur empirischen Psychologie des 19. Jahrhunderts werden angedeutet.

Idealist hermeneutics and the hermeneutics of idealism. In: Idealistic Studies. An International Philosophical Journal. Worcester, Mass. 12 (1982), N.2, 91-102. ROCKMORE, TOM;

Es wird häufig übersehen, daß die Hauptvertreter der deutschen idealistischen Tradition nicht nur eine philosophische Position ausarbeiteten, sondern auch eine Theorie von deren Interpretation. Verf. will auf diese idealistische Theorie der Hermeneutik eingehen und sie anhand der Interpretation einer wichtigen idealistischen These testen. H. folgt in seinen hermeneutischen Ansichten Kant, wenn er wie dieser zwischen der eigentlichen Intention einer Philosophie und deren äußerer Darstellung unterscheidet. Die Ausweitung dieses hermeneutischen Prinzips ermöglicht es H., die Geschichte als Schauplatz der fortschreitenden Verwirklichung der Ideen zu betrachten. Kant, Fichte, H. vertreten in je verschiedener Weise das hermeneutische Prinzip, daß zwischen dem Buchstaben und Geist einer Position zu unterscheiden sei. Verf. zeigt dann für einen speziellen Fall der Fichte-Interpretation, daß man nur in Anwendung jenes Prinzips dem Autor wirklich gerecht werden kann.

J.: Between Hegel and Heidegger. - In: Man and World. The Hague. 15 (1982), 17-31. SCHMIDT, DENNIS

Im ersten und zweiten Teil gibt Verf. eine Darstellung jener Strukturanalyse von H.s spekulativer Philosophie des Absoluten, wie sie Heidegger in dem Aufsatz über Hegels Begriff der Erfahrung anhand der Phänomenologie des Geistes entwickelt. Der dritte Teil stellt der so vorgeführten Position H.s den Gedanken der „ontologischen Differenz" gegenüber, den Heidegger in seinem Programm einer „Destruktion der Metaphysik" zur Geltung bringt. Demgegenüber wollen die Abschnitte IV-VII im losen Rekurs auf H.s Begriff des „absoluten Geistes" sowie die Theorie der Tragödie zeigen, daß die von H. dialektisch gedachte spekulative Einheit von Identität und Differenz den Begriff der „Parusie" („Anwesenheit") des Absoluten im Sinne Heideggers erfüllt. Doch erlaube H.s Entfaltung der „Negation" innerhalb jener Einheit auch, Heideggers Kritik an der „Vergessenheit" der „ontologischen Differenz" zumindest einzuschränken.

J.: On the obscurity of the origins. Hegel and Heidegger as Interpreters of Heraclitus. - In; Philosophy Today. Celina. 26 (1982), 332-332. SCHMIDT, DENNIS

Verf. geht von der nachgelassenen Heraklit-Vorlesung Heideggers aus und fragt nach den Gründen für die (im ersten Teil) auffällig häufigen Bezüge auf H.s Heraklit-Deutung. „The references to H. in Heidegger's interpretation of Heraclitus are a tacit acknowledgement that Heidegger, the self-proclaimed ,dismantler' of metaphysics, finds himself in a special proximity with H., the ,completer' of metaphysics." Dann werden H.s und Heideggers Heraklit-

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BIBLIOGRAPHIE

Deutungen miteinander verglichen. Während die Interpretation Heideggers „presents a view of Heraclitus as quite archaic, dark, and radically original", sieht H. in dem Vorsokratiker vornehmlich einen Vorläufer seiner eigenen Dialektik; seine Bedeutung bestehe darin, „to have pointed out to the original inner unity that runs through apparent opposites".

Hegel und die Pädagogik. - In: Die Logik des Wissens ... Hamburg 1982. 183-194. SCHMIED-KOWARZIK, WOLFDIETRICH:

Der erste Teil dieses Beitrags entfaltet die implizite Bildungstheorie der Phänomenologie des Geistes sowie H.s Erörterung des dialektischen Zusammenhangs von Erziehung und Gesellschaft in der Philosophie des Rechts. Der zweite Teil zeichnet die Wirkung H.s auf die Pädagogik in einigen Linien auf; besonders eingegangen wird dabei auf Th. Litt, L. Derbolav, F. Fischer, H.-J. Heydorn.

Anderswerden und Versöhnung Gottes in Hegels „Phänomenologie des Geistes". Ein Kommentar zum zweiten Teil von VII. C. „Die offenbare Religion". - In: Theologie und Philosophie. Frankfurt a. M.; Pullach, Freiburg i. Br. 57 (1982), 550-567. SCHONDORFF, HARALD:

Verf. kommentiert H.s Abhandlung der christlichen Religion in der Phänomenologie unter dem Titel: „Anderswerden und Versöhnung Gottes". Abschließend würdigt er die „große Leistung" H.s, die christliche Botschaft in ihrer Gesamtheit aus einem inneren Prinzip heraus verstehbar zu machen, dem Tod Gottes, kritisiert jedoch H.s fragwürdiges Verständnis der Auferstehung als einer Aufhebung in die Gemeinde, bei dem von einem Weiterleben des erhöhten Christus nicht mehr die Rede sein könne. Die alles durchherrschende Notwendigkeit der Dialektik mache eine ungeschuldete freie Erlösungstat und eine kontingente Individualität ebenso unmöglich „wie eine Versöhnung und Vereinigung, die bei aller Einheit die bleibende Differenz auf rangmäßige Art zwischen Gott und Mensch zu wahren vermag". Die weitere Geschichte des Gedankens vom Tode Gottes habe nicht in Richtung auf Auferstehung und Versöhnung, sondern des unglücklichen Bewußtseins geführt - eine Bestätigung dafür, „daß Erlösung nicht Resultat eines notwendigen Prozesses ist, sondern nur die freie Tat eines über der Welt stehenden Gottes sein kann".

Hegels Kritik der Metaphysik und Kritik der Hegelschen Metaphysik. - In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Berlin. 30 (1982), 460-469. SEIDEL, HELMUT:

Livio: Reflexions sur Eric Weil. Kant apres Hegel (et Weber). In: L'heritage de Kant. ... Paris 1982. 385-394. SICHIROLLO,

Zur Pädagogik Hegels. - In: Die Logik des Wissens ... Hamburg 1982. 243-253. SICHIROLLO, LIVIO:

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

441

Verf. zieht wichtige und bekannte Äußerungen H.s über Erziehung und Bildung, ihre verschiedenen Bereiche (Familie, Schule, Gesellschaft) und Aspekte (Spiel, moralischer Unterricht, Kreativität) heran und erörtert sie unter dem Leitgedanken, daß das oft beklagte oder sogar angeklagte - Fehlen einer ethischen und pädagogischen Theorie bei H. bedeutungslos sei angesichts der Tatsache, daß seine Philosophie die Wirklichkeit bedenkt, in der und für die erzogen wird.

SiEP, LUDWIG: Intersubjektivität, Recht und Staat in Hegels ,Grundlinien

der Philosophie des Rechts'. - In: Hegels Philosophie des Rechts. ... Stuttgart 1982. 255-276. Vgl. die Besprechung in diesem Band, 332 f.

SiEP, LUDWIG: Was heißt: „Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit" in He-

gels Rechtsphilosophie? - In: Hegel-Studien. Bonn. 17 (1982), 75-96.

Hegels Gottesbegriff. - In: Theologische Quartalschrift. Tübingen. 162 (1982), H. 2, 82-104. SIMON, JOSEF:

Verf. interpretiert, „was es heißen kann, daß die Philosophie absolutes Wissen und damit Wissen des Absoluten sei, und worin die Logik dieses Wissens besteht". Er zeigt, wie H.s Logik, sein Verständnis von Institution und vor allem sein Sprachbegriff auf seinen Gottesbegriff hingeordnet sind, und deutet an, welche Modifikationen der gängigen vorstellungsmäßigen Rede von Gott dieser Gottesbegriff erfordert, u. a. im Blick auf die Bezeichnung Gottes als ,Person'. So sei in H.s Gottesbegriff „Gott gedacht als das, was da ist, als der Geist, in dem Menschen als endliche Wesen leben, von denen sich jedes seine Vorstellung von dem, was sein sollte, macht und um seiner Weltorientierung willen aus seiner bedingten Sicht auch machen muß, um leben zu können"; „er ist in diesem Begriff überhaupt nicht als eine Person gedacht, sondern als der Geist, in dem sich Personen zu einander verhalten, und zwar so, daß sie erst in diesem Verhalten Personen sind".

SiMONjAN, E. A.: O gegelevskoj traktovke edinstva poznanija i praktiki

[Über die Hegelsche Deutung der Einheit von Erkenntnis und Praxis]. In: Voprosy Filosofii. Moskva. 1982, N.2, 120-125. Der Ausspruch H.s: „Die absolute Idee ist vor allem die Einheit der praktischen und theoretischen Idee und folglich zugleich die die Einheit der Idee des Lebens und der Idee der Erkenntnis" wird in der sowjetischen H.forschung im materialistischen Sinne gedeutet; H. definiere die absolute Idee als Vernunft, als vernünftiges Denken und Substanz, der die Wirklichkeit in ihrer Totalität ihr Sein verdanke. Hieraus folge die Einheit von Erkenntnis und Praxis. Die absolute Idee existiere an und für sich nicht. Marx und Engels kritisieren H.s Auffassung von Arbeit als einer rein geistigen. Er setze keinen real existierenden Menschen voraus, sondern ein absolutes Selbstbewußtsein, also ein Abstraktum.

442

BIBLIOGRAPHIE

SiNKARUK, V. I.: Die Kategorie des Seins in Hegels „Wissnschaft der Lo-

gik". Das Sein und seine qualitative Bestimmung. [Ukrainisch.] - ln: Filosofskaja Mysl. Kijiv. 1982, N.5, 65-73. SoBOTKA, MILAN: Die Kritik an Hegels Philosophie durch Schelling. [Tsche-

chisch.] - In: Filosoficky Casopis. Praha. 30 (1982), N. 1 [Sonderband zum 150. Todestag Hegels], 131-143. Conscience de soi et objet chez Hegel et Husserl. - In: Revue de Metaphysique et de Morale. Paris. 87 (1982), 519-530. SOZER, ONAY:

Verf, stellt H. und Husserl geenüber, um ein Gemeinsames zwischen ihnen sichtbar zu machen: die Verbindung von Sprache und phänomenologischem Denken, deren Zusammenspiel die Rede über das Selbstbewußtsein allein möglich macht.

La dialectique de l'intentionnalite. - In: Revue de Metaphysique et de Morale. Paris. 87 (1982), 504^518. SOUCHE-DAGUES, D.:

Der Einfluß H.s bei der Ausbildung der Phänomenologie Husserls war gering. Dennoch ist eine Konfrontation beider Denker nicht uninteressant. Eine solche Konfrontation muß von der H.sehen Phänomenologie ausgehen, denn in ihr ist die Reflexivität des Bewußtseins thematisiert und zugleich als der Beweger und das Fundament der Deskription herausgestellt.

Hegels Persönlichkeit im Spiegel der Tagebücher Sulpiz Boisserees und der Lebenserinnerungen C. H. A. Pagenstechers. - In: Hegel-Studien. Bonn. 17 (1982), 25-40. STRACK, FRIEDRICH:

Die Hegelsche Theorie der objektiven Strukturen der Freiheit. [Slowenisch.] - In: Bogoslovni Vestnik. Ljubljana. 42 (1982), N.l, 45-63. STRES, ANTON:

„Die allgemeinen Kennzeichen der Philosophie des objektiven Geistes. Besondere Aufmerksamkeit wird auf H.sche Auffassung des Individuums und der Relativität der politischen Sphäre gelenkt." (Zusammenfassung des Autors.)

SuDA, MAX JOSEF: „Negation der Negation" bei Hegel und der Marxsche

Atheismus. - In: Die Logik des Wissens ... Hamburg 1982. 173-182. Verf. erörtert die Bedeutung H. scher „Formulierungen einer Selbstbezüglichkeit von Negationen" für Marx. War Marx hinsichtlich der „Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip" H.s getreuer Schüler, so unterscheidet er sich durch seinen

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

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Atheismus grundlegend von H, Der Atheismus bei Marx, der Übergang von H.s zu Feuerbachs Religionsstandpunkt ist „Negation des Theismus" und zugleich Negation des dogmatischen Atheismus. Mit dem Hinweis auf diesen „Widerspruch" hält Verf. sich die Aufhebung der bisherigen Religions- und Atheismusdebatten in ein „Subjektivwerden der Religionsgeschichte" offen. „Sonst könnte der Eindruck entstehen, alle Religions- und Atheismusdebatten hätten sich einfach totgelaufen."

Hegel und der Mut zur Bildung. - In: Die Logik des Wissens ... Hamburg 1982. 203-209. SüNKEL,

WOLFGANG:

Von der Gegenwart her, die Bildung zu einem quantitativen Begriff verkommen ließ, ist die Rückfrage an H. zu stellen. Dieser „gründet den Bildungsprozeß auf die Selbstentfremdung des sich bildenden Subjekts; und er bestimmt das Wesen der Bildung nicht von der subjektiven Seite des Bildlings her, sondern von der objektiven des Gegenstands". Damit gibt er der Bildung ihren Ort „mitten in der wirklichen Welt", der das Subjekt sich anzugleichen hat, jedoch nicht in passivem Überformtwerden, sondern in höchster Selbsttätigkeit. Ein Ausblick auf den heute bestimmenden Bildungsgegenstand „Wissenschaft" erfaßt deren bildende Wirkung auf der Ebene „ihrer Voraussetzungen in den Möglichkeiten des Geistes".

Hegel et Hobbes. - In: Taminiaux: Recoupements. Bruxelles 1982. 11^8. TAMINIAUX, JACQUES:

Wiederabdruck aus: Annales de l'Institut de Philosophie et des Sciences morales. Bruxelles 1981. Vgl. dazu unten 466.

Le depassement heideggerien de Testhetique et Theritage de Hegel. - In: Taminiaux: Recoupements. Bruxelles 1982. 175-208. TAMINIAUX, JACQUES:

Die verdrängte Intersubjektivität in Hegels Philosophie des Rechts. - In: Hegels Philosophie des Rechts. ... Stuttgart 1982. 317-381. THEUNISSEN, MICHAEL:

Vgl. die Besprechung in diesem Band, 333 f.

Rezeption und Kritik der Philosophie Hegels in der „Katholischen Tübinger Schule". - In: Die Flucht in den Begriff. ... Stuttgart 1982. 247-273.

TüRK, HANS GüNTHER:

Verf. untersucht die Auseinandersetzung mit der H. sehen Philosophie in der „Tübinger Schule", dargestellt vor allem an Johann Evangelist Kuhn und Franz Anton Staudenmaier.

BIBLIOGRAPHIE

444

Hegels Theorie über die Philosophiegeschichte. [Neugriechisch.] - In: Hegel und der Marxismus. ... Hrsg. v. Zentrum für Marxistische Forschungen. Athena. Synchrone Epoche. 1982. 40-50. VEüKOS,

THEOPHILOS;

H. identifiziert das Gesetz der Konstruktion der Philosophiegeschichte mit dem Sinn seiner eigenen Philosophie. Durch eine historisch-dialektische Methode wird ein System deduziert, dessen Gültigkeit als übergeschichtlich behauptet wird. H.s Auffassung blockiert die Philosophiegeschichte durch die Philosophie selbst. H. ist seiner Idee einer kritischen Philosophiegeschichte nicht treu geblieben. So interessierte er sich wenig für die nicht-philosophischen Faktoren der philosophischen Auffassungen; er konnte weder den breiteren Einfluß der früheren Philosophien genug schätzen noch die Philosophie konsequent als Widerspiegelung (und Überwindung) des jeweiligen Zeitgeistes verstehen. Heute können wir die Idee einer dialektischen Philosophiegeschichte durch die Umkehrung ihrer H. sehen Form akzeptieren.

Militarismus und Philosophie des Krieges. [Neugriechisch.] - In: Epistemonike Skepse. Athena. 1982, H.6, 10-15. VEIKOS, THEOPHILOS:

Es werden vor allem H.s Philosophie des Krieges und ihre Nachwirkung behandelt. Der Krieg gehört zu den Mitteln der vernünftigen Bewegung des Geistes in der Geschichte. Obwohl H. den totalen Krieg nicht zu befürworten scheint, hat er große Wirkung auf die spätere Entwicklung der Ideologie des Krieges ausgeübt, insbesondere auf Clausewitz, Treitschke und Bernhardi und dann auf die Apologeten des Nationalsozialismus und des Faschismus. Trotzdem hat man H. oft mißinterpretiert, ignoriert oder verworfen, wie der Nationalsozialismus, der sich H.sehen Gutes bedient, aber H. selbst wegen seiner Wirkung auf den Marxismus verworfen hat; der Faschismus wieder hat aus der h.ianischen Staatsphilosophie von Gentile eine Karikatur der Philosophie H.s produziert und H. gegen Marx gestellt.

K. L. J.: De Socratische tragedie: Hegel en het einde der Grieske geschiedenis [Sokrates' Tragödie: Hegel und das Ende der griechischen Geschichte]. - In; Bijdragen. Tijdschrift voor Filosofie en Theologie. Amsterdam. 43 (1982), 139-161. VERRYCKEN,

H. faßt die welthistorische Gestalt des Sokrates als die Tragödie Griechenlands. Mit Sokrates geht die schöne Einheit und sittliche Harmonie zu Ende. Das Daimonion des Sokrates ist der Ursprung sowohl der Aufhebung der Sittlichkeit in das vorerst abstrakte Prinzip der Moralität, wie derjenigen der Schönheit in dasjenige des reinen Denkens.

L'influence platonicienne dans la formation de la pensee politique de Hegel. - In: Religion et politique dans les annees de formation de Hegel. Lausanne 1982. (Raison et dialectique.) 102-116.

VIEILLARD-BARON, JEAN-LOUIS:

Verf. sucht zu zeigen, daß H. in Frankfurt, unter dem Einfluß Hölderlins, die Platonische Einheit von „souci politique et souci esthetique" übernimmt und in den Fragmenten über Religion und Liebe die platonische Konzeption des Eros verarbeitet. In Jena kritisiert H. der

Abhandlungen zur Hegel-Forschung 1982

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Griechen Mißachtung für die Kategorien von Individualität und Selbstbewußtsein, obwohl er für sein System der Sittlichkeit eine Platonische Begrifflichkeit übernimmt.

The individual in Hegelian thought. - In: Idealistic Studies. An International Philosophical Journal. Worcester, Mass. 12 (1982), N.l, 156-168. VINCENT, ANDREW:

H.s verschiedene Begriffe des Individuellen sind auf zwei zurückführbar; die konkrete Individualität des absoluten Geistes und der individuellen Person. Diese beiden Begriffe sind nach Meinung des Verf. nicht miteinander kompatibel und dialektisch vermittelbar. Der absolute Geist und die einzelnen Individuen können nicht gleichermaßen Endzweck in sich sein. Verf. verfolgt den Gebrauch dieser beiden Begriffe bei den englischen H.ianern (Bosanquet, Bradley, Pattison, Webb, McTaggart u. a.).

Religiöser Inhalt und logische Form. Zum Verhältnis von Religionsphilosophie und , Wissenschaft der Logik' am Beispiel der Trinitätslehre. - In: Die Flucht in den Begriff. ... Sfuttgart 1982. 196-227. WAGNER, FALK:

Verf. zeigt, daß die Wissenschaft der Logik für die Interpretation der Religionsphilosophie in besonderer Weise relevant ist, weil die Vorlesungen über die Philosophie der Religion auf der „Korrespondenz von religiösen Inhalten und logisch-kategorialen Bestimmtheitsweisen" aufbauen. Verf. fragt dazu, „wie H. in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Religion die immanente Trinität begrifflich-logisch expliziert", und überprüft dann diese Explikation anhand einer Interpretation der entsprechenden Bestimmtheitsweise der Wissenschaft der Logik. Dabei zeigt sich, daß die von H. vorausgesetzte Zuordnungg von Trinität und logischer Bestimmtheitsweise auf Schwierigkeiten stößt, so daß Verf. im dritten Teil diese Zuordnung revidiert.

WEIL, ERIC:

Philosophie et realite. Derniers essais et Conferences. Paris

1982. 95-106: Hegel et nous. - 107-125: La dialectique hegelienne. - 127-145: Hegel et le concept de la revolution. - 147-166: La „Philosophie du droit" et la philosophie de l'histoire hegelienne.

Hegel und die Nürnberger Armenschulen. - In: Die Logik des Wissens... Hamburg 1982. 28-39. WINKLER, MICHAEL:

Verf. charakterisiert das Nürnberger Armenschulwesen am Beginn des 19. Jahrhunderts im Blick auf das historische Geflecht „von durchaus widersprüchlichen ökonomischen, politischen, sozialen und pädagogischen Vorgängen". Er zeigt, daß H.s Engagement als Schulrat für die Armenschulen nur geringe und langsame Fortschrifte erreichte. Weiter ausgreifend, formuliert er die Einsicht: „Die Armenschulen lassen sich als Realisierungen des Begriffs von Sozialpolitik erkennen, den H. der Sache nach, freilich nicht terminologisch, in seiner Rechtsphilosophie theoretisch entfaltet hat."

446

BIBLIOGRAPHIE

La religion de la sublimite. - In: Hegel et la Religion. ... Paris 1982. 151-175. YOVEL, YIRMIAHU:

Verf. untersucht (mit einem Seitenblick auf Spinozas Tractatus Theologico-Potiticus), wie H. in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion das Judentum kritisiert. Zum Schluß fragt Verf., ob man H.s Kritik nicht mit dem Terminus der „Dialektik der Aufklärung" gerecht zu werden vermöge.

Cuestiones de estructura y metodo en la „Filosofia del Derecho" de Hegel [Fragen nach Struktur und Methode in der Rechtsphilosophie Hegels]. - In: Estudios sobre Kant y Hegel. Hrsg. v. Cirilo Florez u. Mariano Alvarez. Salamanca 1982. (Instituto de ciencias de la educadön universidad de Salamanca. Documentos didäcticos.5.) 143-170. ZAN

JuLio,

DE:

Verf. vertritt die These, daß eine Erarbeitung der Struktur der Rechtsphilosophie H.s von einem rein logischen Standpunkt her unzureichend bleiben müsse. Er untersucht daher die historische Dimension der Methode der Rechtsphilosophie, ebenso die kritische Rezeption, bzw. die durch den spezifischen Sinn der „Aufhebung" mehrsinnige Erneuerung der klassischen politischen Philosophie in H.s Denken von Jena bis Berlin, um abschließend in kritischer Weise die Frage nach einer möglichen Beziehung der Methode der Grundlinien der Philosophie des Rechts zu derjenigen der Phänomenologie des Geistes auszuarbeiten.

Zum Verhältnis des Logischen und des Historischen bei Hegel und Frege. [Tschechisch.] - In: Filosoficky Casopis. Praha. 30 (1982), N.l [Sonderband zum 150. Todestag Hegels], 68-75. ZELENY, JINDRICH:

P. KOTATKO: Hegels Kritik an Kant und die materialistische, dialektische Historisierung der Gedankenformen. [Tschechisch.] In: Filosoficky Casopis. Praha. 30 (1982), N.l [Sonderband zum 150. Todestag Hegels], 103-109. ZELENY, JINDRICH;

der Logik lernen? Zur Entwicklungsgeschichte der Hegelschen Logik-Konzeptionen. - In: Die Logik des Wissens. .. Hamburg 1982. 66-79.

ZIMMEREI, WALTER CHISTROPH: AUS

Verf. weist nach, daß mit Theunissens These, „H.s Logik sei als Einheit von Kritik und Darstellung aufzufassen" nur das Begründungsproblem der Logik, nicht so sozialphilosophische Konsequenz thematisiert werde. H.s Ansatz eignet sich zur Vervollständigung der Theunissen-These durch eine „Reflexion des Logikbegründungsproblems in der Logik selbst", was Verf. in einem entwicklungsgeschichtliche Kurzaufriß unter gleichzeitiger Kritik an Puntel nachweist. H.s Logik bildet eine „geplante Verbindung von Syntax, Semantik und Pragmatik" und bewahrt vor dem „halsbrecherischen ,salto mortale' in eine transrationale Region, sei diese nun religiös oder konstruktiv".

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge

447

Die Wahrheit des impliziten Denkers'. Zur Logikbegründungsproblematik in Hegels „Wissenschaft der Logik". - In: Studia Philosophica. Basel. 41 (1982), 139-160. ZiMMERLi,

WALTHER CH.:

Verf. fordert eine ganzheitliche Auseinandersetzung mit H.s Wissenschaft der Logik, die nicht bei der Analyse einzelner Stellen, z. B. des Anfangs, stehen bleibt. M. Theunissen sei es zu danken, daß wieder eine umfassende These zu Struktur und Funktion der Wissenschaft der Logik vorliege. Verf. unterzieht in kritischem Anschluß an Theunissen die Textpassage ,Vom Begriff im Allgemeinen' einer genaueren Untersuchung. Er geht von der allgemeinen Interpretationsregel aus, „es gelte die Hermetik der H. sehen Logik durch Hermeneutik aufzubrechen, das Buchstabieren zum Übersetzen weiterzuführen". Die Ergebnisse der Untersuchung sollen in die „systematische Problematik einer logikbegründenden Logik" eingebracht werden. Nach Auffassung des Verf. ist zu diesem Zweck nicht H.s Satztheorie, sondern seine Schlußlehre ins Zentrum der kritischen Rekonstruktion zu rücken.

Hegel's „inverted world" revisited. - In: The Philosophical Forum. Boston, Mass. 13 (1982) 342-370.

ZIMMERMANN, ROBERT:

Wenn Findlay H.s Nähe zu Platon betont, vernachlässigt er H.s Begriff der Verkehrung. Dies geschieht nach Auffassung des Verf.s nicht ohne Grund, da der Begriff der Verkehrung eher H.s Nähe zu Aristoteles bezeugt, zu dessen Unterscheidung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. In H.s Verständnis offenbaren alle Verkehrungen das, was dialektisch der Fall ist. Die volle Erklärung einer Sache erfordert, die Gesetze als solche auf die besonderen Fakten zu beziehen. Dies führt zu einem Verständnis von Identität in Differenz, von Unendlichem in Endlichem, von Allgemeinem in Besonderem. Das Bewußtsein in der Phänomenologie muß lernen, Transzendenz und Immanenz dialektisch miteinander zu verbinden. Bei Aristoteles bahnt sich ein solcher dialektischer Erkenntnisbegriff an. Im Erkennen wird die immanente Intelligibilität des Erkenntnisobjekts manifest gemacht, in Begriffen aktualisiert.

Nachträge aus früheren Berichtszeiträumen

Paradoxo do intelectual. Dialetica e expsriencia intelectual em Hegel [Paradox des Intellektuellen. Intellektuelle Dialektik und Erfahrung bei Hegel]. - In: Manuscrito. Sao Paulo. 4 (1980), N.l, 71-114. ARANTES, PAULO EDUARDO:

Josfi MARIA: Logica y filosofia en el primer sistema hegeliano de Jena [Logik und Philosophie im ersten Jenaer System Hegels]. - In: Anales del Seminario de Metafisica. Madrid. 16 (1981), 11-29. ARTOLA,

448

BIBLIOGRAPHIE

Hegel on the world-historical. - In: History of European Ideas. Oxford. 2 (1981), N.2, 155-162. BERRY, CHRISTOPHER J.:

H.s Begriff des welthistorischen Individuums hat schon immer der Interpretation Schwierigkeiten bereitet. Nach S. Avineris Auffassung sind H.s entsprechende Äußerungen inkonsistent, während Ch. Taylor einen einheitlichen Begriff feststellen zu können glaubt. Zur Klärung dieser Frage geht Verf. auf H.s Konzeption von Weltgeschichte ein. Das Drama der Weltgeschichte wird nach H. vornehmlich von den Staaten gespielt, aber auch den menschlichen Individuen kommt eine Rolle zu. Die Bedeutung der welthistorischen Individuen ergibt sich daraus, daß sie etwas für die Geschichte der Staaten als Verkörperung der Freiheit geleistet haben. Die welthistorischen Individuen ermöglichen auch den Übergang zu einer neuen, höheren Stufe der Geschichte. Sie handeln jedoch nicht in vollem Bewußtsein ihrer Bedeutung.

Considerazioni sull'analisi hegeliana della transformazione politica: 1817 e 1831 [Betrachtungen zu Hegels Analyse der politischen Umwälzungen: 1817 und 1831]. - In: Societä civile e Stato fra Hegel e Marx. A cura di Umberto Curi. Padova 1980. 75-112. BERTAGGIA, MICHELE:

Marx - Hegel - Feuerbach. Zur Quellenrezeption in der Herausbildungsphase des Marxismus. - In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Berlin. 28 (1980), 331-345. BIALAS, WOLFGANG; KLAUS RICHTER; MARTINA THOM:

In der heutigen marxistischen philosophischen Forschung ist das Bedürfnis nach einer gründlicheren Selbstverständigung der Marxisten über die geschichtliche Bedeutung der Philosophie, ihre gesellschaftliche Funktion, ihre systematische Struktur und über das Wesen ihrer Methode gewachsen. Bei der Klärung dieser Fragen sind philosophiehistorische und wissenschaftstheoretische Forschungen zur Entstehungsgeschichte des Marxismus von besonderer Bedeutung. Die Verf. stellen neun Thesen zur Marxschen Quellenrezeption voran. Es wird u. a. darauf hingewiesen, daß Marx und Engels schon früh das Problem der Umkehrung idealistischer Positionen schrittweise zu bewältigen versuchten. In einem zweiten Teil gehen die Verf. auf das Verhältnis von Marx zu H. und Feuerbach ein. Sie zeigen, daß es die H.sche Geschichtsphilosophie war, die Marx und Engels zuerst in den Bannkreis H.scher Philosophie zog.

Preliminari alla lettura della sezzione „Proportion" nelle Logica hegeliana del 1804/05 [Preliminarien zur Lektüre des Abschnitts „Proportion" in der Hegelschen Logik von 1803/04]. - In: II Pensiero. Roma, Urbino. 22 (1981), 61-98. BIASUTTI, FRANCO:

W poszukiwaniu krölestwa czlowieka. Utopia sztuki od Kanta do Tomasza Manna [Auf der Suche nach dem Reich des Menschen. Die Kunstutopie von Kant bis Thomas Mann]. Warszawa 1981. BIENKOWSKA, EWA:

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge

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110-122: Die tödliche Synthese. - Verf. betrachtet H.s Kunstphilosophie im Zusammenhang mit den Konzeptionen Kants und Schillers. H., wie Schiller, fand sich nicht mit dem Kantischen Dualismus und seiner Auflösung in dem Modus „man soll" ab. Dennoch unterscheidet sich die H.sche Kulturvision von der Schillerschen. Für Schiller war die Kunst ein Absolutes von ungeschichtlichem Charakter. Für H. war sie dagegen die niedrigste Stufe der geistlichen Versöhnung, die zudem geschichtlich schon überschritten war. Die letzte Entwicklungsstufe der Kunst ist nach H. die romantische Kunst, Ihr Wesen ist das Übergehen ihrer selbst zur Religion, Hauptfaktor der romantischen Kunst ist das uneingeschränkte Ich des Kunst-Schöpfers, worauf Friedrich Schlegel seinen Begriff der Ironie gründet. Verf. meint, daß H.s Satz vom Ende der Kunst eine todbringende philosophische Synthese sei.

Der Künstler als Persönlichkeit in der Ästhetik Hegels. [Ungarisch.] - In: Acta Universitatis Debreciniensis de Ludovico Kossuth Nominantae. (Serie Marxistica-Leninistica.) Debreczen. 24 (1978), 47-68. BIMBö, MILHäLYNE:

A. A.: „Nauka Logiki" Gegelja i sovremennye problemy dialektiki. Zametki o mezdunarodnym simposiume [Hegels „Wissenschaft der Logik" und gegenwärtige Probleme der Dialektik. Anmerkungen zu einem Internationalen Symposion], - In: Voprosy Filosofii. Moskva. 1981, N.2, 107-119. BOGOMOLOV,

Anmerkungen zu den Tagungsbeiträgen der Teilnehmer.

La dialettica tra protestantesimo e catolicesimo nella filosofia di Hegel [Die Dialektik zwischen Protestantismus und Katholizismus in der Philosophie Hegels]. - In: Aquinas. Rivista de Filosofia. Roma. 24 (1981), 491-539. BORGHESI, MASSIMO:

Dio creatore del mondo nella filosofia hegeliana [Gott - Schöpfer der Welt in der Philosophie Hegels]. - In: Giornale di Metafisica. Genova. N.S. 2 (1980), 477-500. BORGHESI, MASSIMO:

H.: Glaube und Vernunft im Hegelschen System. [Polnisch.] In: Studia Filozoficzne. Waszawa. 1981, N.12, 169-186. BOROWSKI,

La Christologie de l'„Encyclopedie des Sciences philosophiques" de Hegel. - In: Laval theologique et philsophique. Quebec. 37 (1981), 353-365. BRITO, EMILIO:

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Logika przejscia od Heglowskiej do Marksowskiej koncepcji pahstwa [Die Logik des Übergangs von der Hegelschen zur Marxschen Staatskonzeption]. - In: Annales Universitatis Mariae Curie-Sklodowska. Lublin. 1 (1980), N. 5, 187-202. BROZI, KRZYSZTOF:

H.'s conception of the state plays a double role in the early views of Marx. It occurs as an instrumental and as a final model. - In the evolution of Marx's views one can distinguish three stages; 1) the final model is identical with the instrumental one {Debates.2) the instrumental model is questioned in confrontation with reality (The Answer..3) the instrumental model is reconstructed, but the final model functions in the same form as before (Constribution...).

BRUAIRE, CLAUDE:

Hegel et Kierkegaard. - In: Obliques. Paris. 26 (1981),

167-175. Verf. vergleicht H.s und Kierkegaards Sicht der Göttlichkeit Christi als Verhältnis von „verite subjective" und „revelation historique".

Dialektyczna struktura historii w Heglowskiej filozofii dziejöw [Dialektische Struktur der Geschichte in Hegels Geschichtsphilosophie]. - In: Z historii rozwoju klasvcznej burzuazyjnej filozofii niemiekkiej. Kant - Fichte - Schelling - Hegel - Feuerbach. Aus dem Deutschen übersetzt von Krystyna Krzemien-Ojak. Warszawa 1981. 262-279. BUHR, MANFRED:

Geschichte - Logik - Identität. In: Aquinas. Revista de Filosofia. Roma. 24 (1981), 353-367. BUHR, MANFRED:

Verf. sucht darzulegen, daß die Thematisierung der Geschichte und deren zentrale Rolle in der Philosophie des Deutschen Idealismus nicht die Aufnahme eines partikulären Interesses neben (beliebigen) anderen bedeutet. Indem Kant die dialektische und nach Meinung des Verf. „eben deshalb historische" Grundgestalt des zentralen Erkenntnisproblems herausstellt, wird ein grundsätzlicher Umbruch gegenüber der traditionellen Metaphysik vollzogen. Fichtes „Tathandlung" sowie Schellings Ansatz einer „entwicklungsgeschichtlichen Fassung des Subjekts" leiten in Weiterentwicklung jenes transzendentalen Umbruchs zu der entscheidenden Einsicht H.s, daß das Verhältnis des Menschen zur Natur wesentlich als ein Selbsterzeugungsprozeß zu begreifen ist. Dieser - von K. Marx später herausgehobene Ansatz führt über die Transzendentalphilosophie hinaus, um einen philosophischen Entwurf auf die Bahn zu bringen, in dem durch das Mittel der dialektischen Logik das „Werden der Totalität", also deren „Geschichte", aus sich selbst denkbar gemacht wird.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge

451

Od Fichtego de Hegla [Von Fichte bis Hegel]. - In: Zhistorii rozwoju klasyczej burzuazyjnej filozofii niemieckiej. Kant - Fichte Schelling - Hegel - Feuerbach... Warszawa 1981. 150-169. BUHR, MANFRED:

„L'alleanza fra politica e filosofia: L'incontro con Hegel del giovane Marx [„Die Verbindung zwischen Politik und Philosophie": das Treffen des jungen Marx mit Hegel]. - In: Societä civile e Stato fra Hegel e Marx. A cura di Umberto Curi. Padova 1980. 113-154. CiAN,

DOLORES:

J.: Problems in dating O. F. Gruppe's satirical attack on Hegel. - In: Studi Internazionali di Filosofia. Torino. 13 (1981), N.2, 73-80. CLOEREN, HERMANN

O. F. Gruppe (1804-1876) veröffentliche anonym die H.-Komödie Die Winde oder ganz absolute Konstruktion der neuern Weltgeschichte durch Oberons Horn gedichtet von Absolutus von Hegelingen. Gruppe kommt als Philosoph die Bedeutung zu, in vielem die analytische Philosophie des 20. Jh.s vorweggenommen zu haben. Es existieren widersprüchliche Angaben zu Erscheinungsjahr und Zahl der Auflagen jenes Werkes. Verf. kommt zu der Überzeugung, daß die erste Ausgabe Ende 1830 erschien, die zweite 1831, beide Ausgaben im Verlag Nauck. Es folgt eine Ausgabe 1831 bei Haack und eine Ausgabe 1832 wiederum bei Nauck.

Hegels absolutem Wissen. [Mit italienischer Übersetzung.] - In: Aquinas. Rivista de Filosofia. Roma. 24 (1981) 213-244. CORETH, EMERICH: ZU

Zum Verständnis des absoluten Wissens als des Schlüsselbegriffs der H.sehen Philosophie analysiert Verf. (I) dessen problemgeschichtliche Stellung (wobei er das Programm der Phänomenologie aus H.s Auseinandersetzung mit Kant. Fichte und Schelling entwickelt), (II) den spekulativen Anspruch, über die Subjekt-Objekt-Zweiheit als höchste, letzte Differenz hinauszugelangen und deshalb auch noch die Vorstellungsform der Religion aufzugeben, und (III) die systematischen Folgerungen für H.s dialektisches Denken insbesondere in seiner Logik. Als das letztlich entscheidende Problem stellt sich für Verf. das des Gottesbegriffs. Indem H. die Dialektik zur Methode absoluten adäquat begreifenden Wissens um das Absolute mache, verfehle er das wahrhaft Absolute, den Gott des Glaubens. „Man kann von H. viel lernen, folgen kann man ihm im letzten nicht, weil absolutes Wissen, der Schlüsselbegriff seiner Philosophie, ehrlich menschlich unvollziehbar bleibt."

Hegel et la finalite naturelle chez Aristote. - In: Laval theologique et philosophique. Quebec. 37 (1981), 283-294. CuNNiNGHAM,

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Das Zögern Hamlets, das H. in seiner Ästhetik darstellt, entspricht nach H.s eigenen Aussagen und denen vieler seiner Zeitgenossen der Haltung der Deutschen gegenüber der Politik, die in einem auffallenden Gegensatz zu derjenigen der Franzosen steht. Jedoch wandelt sich ab 1840 das Verhältnis der Deutschen zur politischen Praxis. Dies ist ein Beispiel dafür, daß es unmöglich ist, unwandelbare übergeschichtliche Nationalcharaktere anzunehmen.

Hegel i postep w Historii [Hegel und der Fortschritt in der Geschichte]. Aus dem Französischen übersetzt von Jözef Borgosz. [Polnisch.] - In: Studia Filozoficzne. Warszawa. 1981, N.12, 65-74. D'HONDT, JACQUES:

Verf. behauptet, daß die Idee des Fortschritts im Zentrum der H.sehen Philosophie stehe. Er analysiert aufeinanderfolgende Stufen im Prozeß der Konkretisierung dieses Begriffes und bemerkt, daß H. den Anfang der Geschichte nicht im „Goldenen Zeitalter", sondern in der „Menschendumpfheit" ansetze und die Möglichkeit der Vervollkommung im Unendlichen sehe.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel en las letras espanolas. Nota bibliogräfica [Hegel in den spanischen Geisteswissenschaften. Bibliographische Notiz]. - In: Anales del Seminario de Metafisica. Madrid. 16 (1981), 137-154. DIAZ DIAZ, GONZALO:

Hegel y la Escuela de Frankfurt. La perida del individuo [Hegel und die Frankfurter Schule. Der Verlust des Individuums]. - In: Anales del Seminario de Metafica. Madrid. 16 (1981), 155-164. ECHANO BASALDUA, JAVIER DE:

C.: La dialettica della prima e seconda immediatezza nella soluzione - dissoluzione dell' assoluto hegeliano [Die Dialektik der ersten und zweiten Unmittelbarkeit in der Lösung-Auflösung des hegelianischen Absoluten]. - In: Aquinas. Revista de Filosofia. Roma. 24 (1981) 245-278. FABRO,

E.: Hegel ante Spinoza: un reto [Hegel gegenüber Spinoza: eine Herausforderung]. - In: Anales del Seminario de Metafisica. Madrid. 16 (1981), 31-88. FERNäNDEZ GARCIA,

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge

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Legge umana e legge divina nella sezione VI A della „Fenomenologia dello spirito" [Menschliches und göttliches Gesetz in Abschnitt VI A der „Phänomenologie des Geistes"]. - In; Giornale di Metafisica. Torino. 3 (1981), 393-^04. FERRINI, CINZIA:

alcuni presupposti platonici della filosofia hegeliana [Über einige platonische Voraussetzungen der Hegelschen Philosophie]. - In: II Pensiero. Roma, Urbino. 22 (1981), 187-192. FRANCIONI, ANTONIO: SU

Über den ürsprung der Hegelschen Dialektik. In: Aquinas. Rivista de Filosofia. Roma. 24 (1981), 368-405. FULDA, HANS FRIEDRICH:

Die Entstehung von H.s Dialektik, die zu Anfang der Jenaer Zeit entwickelt wurde, konnte bisher trotz vieler Bemühungen nicht befriedigend erklärt werden. Antinomisches Denken gibt es bei H. schon in den Jugendschriften, z. B. im Fragment über Glauben und Sein. Im Unterschied zu Schelling bestimmte H. das transzendental-idealistische Programm als Aufhebung der endlichen Formen des Erkennens. Von entscheidender Bedeutung wurde für H. die Auseinandersetzung mit der transzendentalen Dialektik Kants, deren Umformung zu einer spekulativen Dialektik führte.

O konsekwencjach przekladu pewnej metafory: pan i niewolnik [Über die Folgen von Übersetzung einer Metapher: Herr und Knecht]. - In: Teksty. Warszawa. 1980, N.5, 30-42. GAREWICZ, JAN:

Verf. kritisiert die polnische Übersetzung von „Knecht" in „Sklave". Im Vergleich zum Verhältnis Herr-Sklave ist das Verhältnis Herr-Knecht fundamentaler; ersteres ist das konkrete, geschichtlich bestimmte, gesellschaftliche Verhältnis, beim zweiten handelt es sich um ein Verhältnis innerhalb des Selbstbewußtseins. Dafür zeugt auch der Umstand, daß die betreffende Ausführung über Herrschaft und Knechtschaft in der Phänomenologie sich in der Sphäre des subjektiven und nicht des objektiven Geistes befindet.

Rilievi sulla dimostrazione dell' esistenza di Dio in Hegel [Bemerkungen zum Beweis der Existenz Gottes bei Hegel]. - In; Aquinas. Rivista de Filosofia. Roma. 24 (1981), 557-583. GIANNINI, G.:

La disputa de la inmortalidad en la escuela de Hegel [Der Streit über die ünsterblichkeit in der Hegel-Schule]. - In: Aporia. Madrid. 3 (1981), N.ll, 33-65. GINZO FERNäNDEZ, ARSENIO:

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La filosofia de la religiön en Hegel y Schleichermacher [Religionsphilosophie bei Hegel und Schleichermacher]. - In: Anales del Seminario de Metafisica. Madrid. 16 (1981), 89-118. GINZO FERNäNDEZ, ARSENIO:

Hegel et le droit romain. - In: Revue Historique du Droit Frangais et Etranger. Paris. 59 (1981), 593-619. GUINEE, JEAN-PHILIPPE:

„L'article present se propose de nuancer rextreme severite des juristes relativement ä l'interpretation h.ienne du droit romain en la rapportant, ä la lumiere meme du projet philosophique hegelien, ä ses sources et ä son contexte historique. Distinguant l'interpretation du droit romain dans le Systeme juridique de H. et celle de sa philosophie de l'histoire, il s'efforce de montrer que, si le philosophe a bien interprete, dans le premier, les concepts juridiques romains en les deformant, c'est en parfaite connaissance de cause, et que, si la philosophie de l'histoire n'a retenu que certains aspects du droit romain, ses intuitions ont ete confirmees par les auteurs modernes. Elargissant le debat entre les philosophes et les historiens du droit, il tente, en conclusion, de degager les conditions qui pourraient le rendre fructueux." (Zusammenfassung des Autors.)

Praca i interakcja. Uwagi o jeajskiej „Filozofii ducha" Hegela [Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenaer „Philosophie des Geistes"]. Aus dem Deutschen übersetzt. - In: Studia Filozoficzne. Warszawa. 1981, N.12, 45-63. HABERMAS, JüRGEN:

Zuerst erschien in Natur und Geschichte. Karl Löwith zum 70. Geburtstag. Stuttgart 1967, 132-155. - Vgl. Hegel-Studien. 5 (1969), 358,

G. W. F.: Ustroj Niemiec [Die Verfassung Deutschlands]. Aus dem Deutschen übersetzt von Jerzy -Lozihski. - In: Studia Filozoficzne. Warszawa. 1981, N.12, 3-30. HEGEL,

G. W. F.: O istocie krytyki filozoficzne) w ogole i je) stosunku do obecnego stamu filozofii w szczegolnosci [Über das Wesen der philosophischen Kritik überhaupt und ihr Verhältnis zum gegenwärtigen Zustand der Philosophie insbesondere]. Übersetzt aus dem Deutschen von Barbara Markiewicz. - In: Studia Filozoficzne. Warszawa. 1981, N.12, 31-39. HEGEL,

Die Formationsbedingungen der Dialektik. Über die üntrennbarkeit der Methode Hegels von Hegels System (mit italien. Übersetzung). - In: Aquinas. Rivista de Filosofia. Roma. 24 (1981), 279-319.

HENRICH, DIETER:

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge

455

Verf. deutet H.s System als Monismus, der aus zwei theoretischen Grundannahmen gewonnen wurde: einmal aus der metaphysischen Leugnung der Ontologie des natürlichen Weltverstehens und zum anderen aus der logischen Umformulierung der dyadischen Grundfunktionen der Objektbeziehung im natürlichen Weltverhältnis. Verf. begründet die beiden Einsätze je für sich und weist die Schnittstelle auf, an der Logik und Metaphysik notwendig eins werden müssen. H.s Methode wird als „Explikationsform der monistischen Ontologie" und die Wissenschaft der Logik als „Mono-Logik" erwiesen, die das Verhältnis von Endlichem und Absolutem mit dem Gedanken von der Selbstbeziehung, die als solche Differenzbeziehung ist, zu fassen sucht (das Absolute bezieht sich auf das Endliche als auf sich selbst). Die Logik, so weist Verf. vor allem an den Kategorien affirmativ-negativ und einsanderes nach, macht jeweils das, „was ursprünglich Dyas war, zu den beiden Formaspekten eines einzigen formalen Verhälfnisses"; gemein! sind die beiden spekulativen Grundformen „Das Andere seiner selbst" und „die Negation der Negation". Zum Schluß weist Verf. auf, wie diese Grundformen generativ werden können.

O Heglowskiej koncepcji pracy [Über Hegelsche Arbeitskonzeption]. Aus dem Deutschen übersetzt von JERZY 1,02114510. - In: Studia Filozoficzne. Warszawa. 1981, N.12, 139-144. HERMANN, ISTVAN;

Verf. sfützf sich in seinen Ausführungen vor allem auf das System der Sittlichkeit. Er betont, daß H. in der Arbeit ein Moment gehemmter Begierde bemerkt, die im Laufe der Zeit ideal wird, sich zum reinen Denkverhältnis macht. Gleichzeitig sehe er den wachsend mechanischen Charakter, welche die menschliche Arbeit annimmt, was zur Eolge den Ersatz des Menschen durch die Maschine hat.

HOY, DAVID COUZENS:

Hegel's morals. - In: Dialogue. Ontario. 20 (1981),

N.l, 84-102. Rezension eines Buches von J. Robinson [Duty and hypocrisy in Hegel's Phenomenology of Mind. 1977), die dessen Gedanken weiterführt bzw. präsiziert. Robinsons Auseinandersetzung mit H.s Kritik der praktischen Philosophie Kants füllt nach Meinung des Rez. eine Lücke in der Literatur aus. Nach Marcuse verfügt H. über keine eigenständige Moralphilosophie, nach Knox hält er im Grunde an der kantischen fest. Robinson betont, daß für H. eine nichf-kantische Moralität eine wesentliche Stufe in der Entwicklung des Individuums sei. Nach Auffassung des Rez. unterscheidet sich H.s und Kants Begriff der Moralität auf der meta-ethischen Ebene, d. h. H. bietet nicht so sehr eine alternative Formulierung des moralischen Grundprinzips als eine Kritik des Begriffs praktischer Vernunft bei Kant.

Hoj, JoYSE BECK: Hegel's critique of Rawls. - In: Clio. Fort Wayne. 10 (1981), 407-422. N.: Hegel, Cieskowski, Hess - Trzy idealistyczne koncepcje twörczosci [Drei idealistische Schöpfungskonzeptionen]. - In: Studia z Nauk Spolecznych. Bydgoszcz. 1979, 39-49.

JAKUBOWSKI, MAREK

456

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The central problem of philosophy in the 30th and 40th of the 19‘>’ Century was questioning the possibility of conscious creation of future social relations, H.ism answered the question negatively limiting activism to the sphere of pure consciousness. The first attempt at overcoming H.ian contemplativism can be found in Cieskowski's „Prolegomena". Introduction of the category , future' and Opposition of the ideal (Sollen) to the reality (Sein) implied the will of overcoming dualism. This scheme together with the category of action was introduced by Hess in „European Triarchy" (1841).

Une approche de la verite logique chez Hegel. - In: Archives de Philosophie. Paris. 44 (1981), 239-247.

JARCZYK, GWENDOLINE:

„Truth as expressed in H.s Science of Logic is not a fixed thing to be possessed and appropriated but it is the pure movement through which what is happens to itself while coming back to itself. As a reflexion it is being coincident with its self-expression; as a mediaction it is a nothingness of appearance which discloses the primary and terminal identity between interior and exterior. While following its way the subject manifests itself as identical with substance, freedom with System. Its proper .function' is to express that totality under its contemplative form - a contemplation which achieves itself into effectivity." (Zusammenfassung des Autors.)

Sujet/objet dans la logique de l'essence de Hegel. In: Aquinas. Rivista de Filosofia. Roma. 24 (1981), 337-350.

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Totalite et mouvement chez Hegel. - In: Laval theologique et philosophique. Quebec. 37 (1981), N.3, 317-322.

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Hegel: Krytyka i przezwycieznie tradycynjej metafizyki [Hegel: Kritik und Überwindung der traditionellen Metaphysik]. - In: Annales Universitatis Mariae Curie-Skiodowska. Lublin. 5 (1980), N.l, 151-168.

JASTRZEBSKA-ZURKOWSKA, GRAZYNA:

Metaphysical theory of subject is the main concern of H.'s criticism. H. depreciates its basic axiom, namely, the notion of consciousness. While the traditional philosophy, followein the genesis of seif, started from the self-consciousness, seeing in it the sources of identity of Ego, H. begins with the analysis of preexistence of human soul., and afterwards he comes to the philosophical subject. The notion of introspection is the next object of H.'s attacks. In Phenomenology of Soul H. shows that the primary form of the subject's experience is not inner but outer experience (extraspection). The mutual dialectics of introspection and extraspection, subject and object, man and his world, is, according to him, the only valid way which leads to reconstruction of real history and of the genesis of consciousness. (Zusammenfassung des Autors.)

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge

457

La funciön de la filosofia desde la perspectiva de Hegel [Die Funktion der Philosophie aus der Perspektive Hegels]. - In: Revista de la Universidad de Caldas. Manizales. 2 (1981), 255-259.

JiMENEZ

RAMOS, JOSE:

Stichwortartige Skizze zum Zusammenhang von Wissen, Wissenschaft, Bewußtsein und Philosophie im Denken H.s,

Marx, Hegel and the Greek aesthetic ideal. - In; The Greeks and the good life. Proceedings of the ninth Annual Philosophy Symposium. Edited by David J. Depew. Indianapolis 1980. 236-253. KAIN, PHILIP J.:

Verf. zeichnet nach, in welchem Maße und aus welchen Gründen H., Schiller und der junge Marx dem goethezeitlichen Griechen-Mythos verfallen konnten; die Antike schien alles zu enthalten, was der dürftigen Gegenwart politisch wie kulturell abging, vor allem die Harmonie zwischen Vernunft und Natur, Verf. untersucht dann näher, „to what extent Marx employed the Greek-aesthetic model as an ideal for remaking the modern world, and to what extent due to its inadequacy he had to shift away from this model toward another Solution".

Die Bedeutung der „Einleitung" der Hegelschen „Phänomenologie des Geistes". [Japanisch.] - In: Abhandlungen der JapanFrauen-Universität und des Gymnasiums. Tokio. 4 (1976), 109-123. KANEKO, KENICHI:

Eine kritische Betrachtung über die Vorstellung von Hegel als Liberalem.[Japanisch.] - In: Abhandlungen der Japan-Frauen-Universität und des Gymnasiums. Tokio. 5 (1978), 13-29. KANEKO, KENICHI;

Die Gedankenentwicklung des jungen Republikaners Hegel. [Japanisch.] - In: Abhandlungen der Japan-Frauen-Universität und des Gymnasiums. Tokio. 6 (1980), 13-16. KANEKO, KENICHI:

Hegelowska kategoria kultury i jej interpretacja [Die Hegelsche Kategorie der Kultur und die Interpretation derselben]. - In; Studia Filozoficzne. Warszawa. 1981, N.12, 161-167. KARKOWSKI, CZESEAW:

Verf. versucht am Beispiel der Kulturkategorie nachzuweisen, daß die Übereinstimmung der marxistischen und h.sehen Doktrin nur eine scheinbare ist. Die Kultur ist nach H. bindender Faktor der in der Gesellschaft isolierten Individuen. Marx hat auf den Begriff der Kultur zugunsten des anderen gesellschaftlichen Bindefaktors, der Arbeitsteilung, verzichtet.

458

BIBLIOGRAPHIE

Obiektywizacja swiadomosci wedlug Hegla [Objektivierung des Bewußtseins in Hegels Konzeption], - In: Studia Metodologiczne. Poznan. 1981, H.21, 3-14. KILIJANEK, MAREK:

According to H. the development of consciousness is determined by the development of mediation (Vermittlung) of the recognizing subject and the recognized object. This process takes place on three levels which objectify consciousness and cognition of an individual, a Society and a species, creating the whole of objectivized consciousness which is called spirit. The result of this process is the origination of Science and objective cognition.

Heinrich Heines Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Philosophie. Eine Studie an ausgewählten Beispielen. Frankfurt a. M. 1980. (Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Literatur und Germanistik. Bd 335.) KRäMER, HELMUT:

64-76: H. s Rang im Werk Heines. - Verf. analysiert die bekannten Zeugnisse, die vom Gespräch Heines mit H. berichten. Er zeigt, daß sich der Einfluß H. s auf Heine primär „in beider literatur-ästhetischen Schriften und Urteilen" nachzeichnen lasse und daß beide durch Weltauffassung und Methode voneinander getrennt seien. Gleichwohl entdeckt er eine Übereinstimmung: „Heine sieht nämlich ähnlich wie H., der ja Geschichte ,als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit' definiert hatte, prognostisch die höheren Segnungen der Freiheit der Menschheit zuteil werden."

Anschaulichkeit und Motivation, mit Unterrichtsbeispielen zu Kant und Hegel. - In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie. Hannover. 3 (1981), 37-45. KRAUSE, JOACHIM:

Das didaktische Prinzip der Anschaulichkeit soll durch Struktursikizzen H. s System zeichnerisch dem Verständis näherbringen. Darüberhinaus erfolgt eine Analyse der Prozesse bei einer Bildbeschreibung mit Hilfe der H. sehen Dialektik. Das Erkennen des Bildes als Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten geht von der unbegriffenen sinnlichen Totalität des Bildes aus und führt über die Stufe der Antithese, d. h. das Entdecken von Widersprüchen, zum konkreten Bildsinn.

Der Maulwurf. Die philosophische Wühlarbeit bei Kant, Hegel und Nietzsche. - In: Boundary 2. A Journal of Postmodern Literature. Birghamton, N. Y. 9 (1981), 155-167; 169-185. KRELL, DAVID FARRELL:

Memory as malady and therapy in Freud and Hegel. - In: Journal of Phenomenological Psychology. Pittsburgh. 12 (1981), 33-50. KRELL, DAVID FARRELL:

Freud und H. verstehen beide das Gedächtnis als zentrale Quelle sowohl der seelischen Erkrankung als auch deren Heilung. Die Interpretation orientiert sich an H.s Phänomenologie

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge

459

des Geistes (Einleitung und Schlußkapitel) sowie an Freuds Studien über Hysterie (zusanamen mit Breuer, 1895). Bei H. wird das Gedächtnis zur Erinnerung, die zugleich zur Entäußerung in Zeit und Geschichte führt, zur Schädelstätte des Geistes.

Hegel jako prekursor myslenia systemowego [Hegel als Vorbote des Systemdenkens]. - In: Studia Filozoficzne. Waszawa. 1981, N.12, 87-105. KUDEROWICZ, ZBIGNIEW;

Verf. stellt die Frage nach der Aktualität der H.sehen Logik. Er betont, daß H. durch seine Unterscheidung von Vorstellung und Begriff sich entschlossen für die Begriffserkenntnis erkläre. Diese bestehe darin, daß die theoretischen Modelle vermittelst der Analysen der Zusammenhänge und Abhängigkeiten der Bestimmungen geschaffen werden, wodurch H. als der Vorbote des Systemdenkens angesehen werden könne.

Structure reflexive du reel chez Hegel. - In: II Pensiero. Roma, Urbino. 22 (1981), 179-184. LABARRIERE, PIERRE-JEAN; GWENDOLINE JARCZYK:

Verf. untersuchen H.s Rede vom „Hervorgehen des Wesens in die Existenz" und gelangen zu der These, daß „tout le dessein de H. est de montrer que la structure dialectique du reel implique Texacte articulation Tun sur Tautre de ces deux moments, - tous deux necessaire, dans leur coextensivite logique, pour exprimer le contenu de Tunique relation".

Hegel. Le speculatif ou la positivite rationelle. In: Laval theologique et philosophique. Quebec. 37 (1981), 323-330. LABARRIERE, PIERRE-JEAN:

Die Überlegungen des Verf.s gehen aus von den §§ 79-82 der Enzyklopädie von 1830. In diesem Text zeigt sich, daß H. keineswegs den Verstand zugunsten der Vernunft disqualifiziert. Im Gegenteil weist er dem Verstand eine unerläßliche Rolle in dem nie abgeschlossenen Gesamtprozeß der Affirmation und Konstitution des Absoluten zu.

M.: Parole et musique. Note sur un point d' esthetique. - In: Laval theologique et philosophique. Quebec. 37 (1981), 295-303. LAVOIE,

Recent literature on Hegel's Logic. - In: Philosophische Rundschau. Heidelberg, Tübingen. 28 (1981), 115-130. LEWIS, CHARLES:

Verf. bespricht die Arbeiten von E. Angehrn: Freiheit und System bei Hegel (1977); K. Düsing: Das Problem der Subjektivität in H. s Logik (1976); H. Fink-Eitel: Dialektik und Sozialethik (1978); B. Lakebrink: Kommentar zu H. s ,Logik' (Bd 1. 1979) und M. Theunissen: Sein und Schein (1978).

II sistema dei principi nella „Metafisica" di Hegel a Jena [Das System der Prinzipien der Metaphysik Hegels von Jena]. - In: II Pensiero. Roma, Urbino. 22 (1981), 99-124. LONGATO, FULVIO:

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Symetrie [Symmetrien]. - In: Studia Filozoficzne. Warszawa. 1981, N.9, 37-46. LOZINSKI, JERZY:

Nach Ansicht des Verf.s ist Der junge Hegel von Lukacs die wichtigste polnische Übersetzung, die 1980 veröffentlicht wurde. Verf. vergleicht Hegel, Lukäcs, dessen Übersetzer Marek J. Siemek und den polnischen Marxisten Aleksander Ochocki. Allen gemeinsam ist die Tendenz zur Flucht; bei Hegel die Apotheose der Kunst, Religion und Philosophie, bei Lukäcs, Siemek und Ochocki, die Lösung des zeitgenössischen Marxismusproblems in der Rückkehr zu den Quellen zu sehen.

Hegel i Heglizm w Czechach i na Morawach [Hegel und Hegelianismus in Böhmen und in Mähren]. Aus dem Böhmischen übersetzt von Stanislaw Jedynak. - In: Studia Filozoficzne. Warszawa. 1981, N.12, 187-200. LOU2IL, JAROMIR:

Nach Ansicht des Verf.s muß man unterscheiden zwischen böhmischem und slowakischem H.ianismus. Slowakische H.ianer waren protestantische Theologen, die eine unmittelbare Berührung mit der Tradition des deutschen Idealismus hatten. Böhmische H.ianer waren Katholiken; ihre Sympathie für H.sche Philosophie war eine innere Empörung wider die Fesseln der orthodox-katholischen Dogmatik. Ein weiterer ünterschied zwischen dem böhmischen und slowakischen H.ianismus beruht darauf, daß er in Böhmen keine größere Rolle in der Nationalbewegung spielte, während er in der Slowakei zum ideologischen Gerüst des Sprachseparatismus und damit zum aktiven Faktor im Entstehungsprozeß des modernen slowakischen Volkes geworden ist.

Tempo e concetto nella comprensione hegeliana della storia [Zeit und Begriff in Hegels Geschichtsverständnis]. - In: II Pensiero. Roma, Urbino. 22 (1981), 7-38. LUGARINI, LEO:

Tempo e concetto. Sul raporto fra storia e logica in Hegel [Zeit und Begriff. Über die Beziehung zwischen Geschichte und Logik bei Hegel]. - In: Aquinas. Rivista de Filosofia. Roma. 24 (1981), 320-336. LUGARINI, LEO:

Das authentische Selbst. - In; Neue Rundschau. Frankfurt a. M. 92 (1981), N.3, 87-97. LYPP, BERNHARD:

Verf. untersucht, wie H. und Foucault den Dialog Rameaus Neffe von Diderot, in dessen zerrissenem, niederträchtigem Bewußtsein sich zuerst das authentische Selbst der Moderne ausgesprochen habe, für ihre Analysen benutzt haben.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge

461

Hegel's concept of presentation. - In: Laval theologique et philosophique. Quebec. 37 (1981), 331-337. MCRAE, ROBERT GRANT:

La figure de Hegel dans le „Post-Scriptum" de Kierkegaard. - In: Revue de l'enseignement philosophique. Paris. 31 (1981), N.4, 3-23.

MARIGNAC, PASCAL:

In der Auseinandersetzung Kierkegaards mit H. geht es nicht um den Konflikt zwischen Subjektivität und Objektivität, sondern um die „Natur" des Subjekts. Das Subjekt kann nach Kierkegaard nicht als Rückkehr des Begriffs zu sich selbsf verstanden werden. Kierkegaard sucht eine „Ontologie", die es ermöglicht, zwischen dem Wissen um das Christentum und dem Existieren als Christ zu unterscheiden; mit letzterem kann nur dadurch der Anfang gemacht werden, daß das Subjekt „springt"; jede dialektische Vermittlung ist dabei ausgeschlossen.

Od tlumacza - Krytyka i filozofia krytyczna [Vom Übersetzer - Kritik und kritische Philosophie]. - In: Studia Filozoficzne. Warszawa. 1981, N.12, 41-44. MARKIEWICZ, BARBARA:

Die Übersetzerin des in demselben Heft gedruckten Aufsatzes von Hegel [nämlich; Über das Wesen der Kritik ... - vgl. oben 454] bespricht hier die Umstände seiner Entstehung. Sie wertet dabei die Korrespondenz zwischen Hegel und Schelling aus. Der Aufsatz befindet sich als Leitartikel im ersten Heft der von beiden Philosophen gemeinsam herausgegebenen Zeitschrift Kritisches Journal der Philosophie.

statuto scientifico della morale nel primo periodo jenese di Hegel [Das wissenschaftliche Gesetz der Moral in der ersten Jenaer Zeit Hegels]. - In: II Pensiero. Roma, Urbino. 22 (1981), 125-162. MENEGONI, FRANCESCA: LO

Historia i poznanie. O teorii literatury za warte] w „Estetyce" Hegela [Geschichte und Erkenntnis. Über die in Hegels „Ästhetik" enthaltene Literaturtheorie]. - In: Przeglad Humanistyczny. Warszawa. 1981, N.5, 59-76. MITOSEK, ZOFIA:

Der Zweck der Kunst sei nach H. s Ansicht die Entdeckung der Wahrheit. Die Hauptfrage der H.sehen Literaturtheorie sei die Abgrenzung der poetischen Erkenntnis von der reflektiven Weise der Erkenntnis. Gewisse Normen der H.sehen Ästhetik scheinen dem Schaffen von Scott, Stendhal und Balzac zu entsprechen: 1) die Synthese des Konkreten, des Empirischen mit dem Allgemeinen; 2) der Held als Verkörperung des Typischen im historischgesellschaftlichen Sinn; 3) die Geschichtlichkeit als Prinzip der linearen Handlung; 4) die Geschichtlichkeit als Hintergrund der Handlung; 5) die entdeckende Funktion der künstlerischen Vision.

462

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N. V.: Princip sistemnosti v „nauke logiki" Gegelja [Das Systemprinzip in Hegels „Wissenschaft der Logik"]. - In: Voprosy Filosofii. Moskva. 1980, N.IO, 137-149. MOTROSILOVA,

Das Systemprinzip H. s sei dem Inhalt nach ein dialektisches. Im Sinne des dialektischen Materialismus gelte es, das rationale Anliegen der H.sehen Wissenschaft der Logik herauszuarbeiten.

Ein Versuch, die Hegelkritik in Marxens Frühschriften als die Entstehung eines sozialwissenschaftlichen Forschungsprogrammes zu deuten. - In: Conceptus. Innsbruck. 15 (1981), N.35/36, 193-206. MUSNER, LUTZ:

„Das Ziel dieser Rekonstruktionsskizze sei darin zu erblicken, daß versucht werden soll, die Auseinandersetzung des jungen Marx mit der spektulativen Philosophie H. s nicht nur als eine immanent philosophiehistorische, sondern zugleich als eine in wissenschaftstheoretischer Hinsicht interessierende theoriendynamische Problemstellung zu verstehen. Da sich in der Hegelkritik von Marx ... der Kern seines ... wissenschaftlichen Sozialismus herauskristallisiert, scheint es nach meiner Meinung den Versuch wert, diese Entwicklungsphase des Marxschen Denkens als eine Theoriendynamik aufzufassen, in der aus einer philosophischen Vorgängertheorie- in der Hauptsache der von H.- durch Übernahme bzw. kritischer Abwandlung von begrifflichen Grundelementen ... der Kern eines sozialwissenschaftlichen Forschungsprogrammes entsteht, welcher später konstitutiv für die Entfaltung des reifen Marxismus wird." (Zusammenfassung des Autors, etwas gekürzt.)

Kategorija protivoreca v „Nauke Logiki" Gegelja ■kak logiceskaja kategorija [Die Kategorie des Widerspruchs in der „Wissenschaft der Logik" Hegels als logische Kategorie]. - In: Voprosy Filosofii. Moskva. 1981, N.2, 120-131. NARSKIJ, IGöR SERGEEVIC:

Verf. korrigiert die Kritik H.s an der formalen Logik des Aristoteles und der Kantianer durch die materialistische Dialektik. Bewegung, Veränderung und Selbstwiderspruch sowie die prinzipielle Unterscheidung von dialektischem und formallogischem Widerspruch seien von H. richtig gesehen und gedeutet worden.

F.: Sylogizm Heglowski [Hegelscher Schluß]. - In: Archiwum Historii Filozofii i Mysly Spolecznej. Warszawa. 27 (1981), 27-48. NOWICKI, SWIATOSLAW

Die Form des Schlusses ist das Wesen der H.sehen spekulativen Methode. Diese wird als objektiv gesetzt, d. i. als solche, die in der Natur der Wirklichkeit ihre Grundlage hat. Der H.sche Schluß hat im Unterschied zum formallogischen Schluß einen dialektischen Charakter, der darin besteht, daß das Verhältnis zwischen seinen Extremen auf zwei entgegenge-

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge

463

setzte Weisen bestimmt wird: die Extreme des Schlusses sind erstens zwei untrennbar zusammenhängende Momente und zweitens ist jedes von ihnen eine selbständige Wirklichkeit, so daß eine Mitte nötig ist, damit sie sich wirklich miteinander verbinden können.

Hic Rhodus... W kregu „swiadomosci unczciwej" [Hic Rhodus... Im Kreise des „ehrlichen Bewußtseins"]. - In: Studia Filozoficzne. Warszawa. 1981, N.12, 107-116. OcHOCKi,

ALEKSANDER:

In der H. sehen Bestimmung der Philosophie sind die zwei entgegengesetzten Aspekte enthalten, wonach sie einerseits die „ewige Gegenwart", andererseits aber „ihre eigene in Gedanken aufgefaßte Epoche" sei. Die H.sche Philosophie des Absoluten läßt sich nicht auf bloße Tradition reduzieren, sondern enthält auch die Dimension der zukunftsgerichteten Utopie. Die Spannung zwischen Realität und Metaphysik ist beim jungen H. sehr stark, beim reifen H. wird sie dann durch die einseitige Auflösung des Sollens und die Verbannung der Zukunft aus dem System aufgehoben.

I.: Pojecie identycznosci i problem jednostki w filozofii Hegla [Der Begriff der Identität und das Problem des Einzelwesens in der Philosophie Hegels]. - In: Studia Filozoficzne. Warszawa. 1981, N.12, 129-137. OjSERMAN,

TEODOR

Die H.sche Theorie der dialektischen Ideentität bedeutet die Bereicherung der antiken Tradition mit den naturwissenschaftlichen und geschichtlichen Erfahrungen der Neuzeit. H. betrachtet die Identität als einen Prozeß, als das Werden der Identität. Eheser Prozeß wird vom Verf. am Beispiel der H.sehen Philosophie des Menschen dargestellt. Das Menschliche durchschreitet die Hierarchie dreier Geistesformen: 1) der „subjektive Geist", 2) der „objektive Geist", der durch eine gesellschaftliche Wirklichkeit vermittelt ist, 3) der „absolute Geist", der eine Einheit ist des Subjektiven und Objektiven, d. h. das von der Beschränkung der Materie freie, geistige Schaffen, die Kunst, die Religion, die Philosophie.

Cztowiek i System. Miejsce antropologii w filozofii Hegla [Der Mensch und das System. Der Stellenwert der Anthropologie in der Philosophie Hegels]. - In: Studia Filozoficzne. Warszawa. 1981, N.12, 115-128. PANASIUK, RYSZARD:

Im Zentrum der H. sehen Philosophie steht nicht der Mensch, sondern das Absolute. Dieses faßt H. dynamisch auf, als die Bewegung von der Substanz zum Subjekt. Diese Bewegung kommt vermittelst des Menschen zustande, der Mensch ist aber nicht mit dem Absoluten identisch. Der wesentliche Aspekt der H. sehen Anthropologie ist die Auffassung des Menschen als einer geschichtlichen Existenz.

Nowe krytyczne wydanie dziel Hegla i perspektywy studiow nad jego mysla [Neue kritische Ausgabe der Werke Hegels und

PANASIUK, RYSZARD:

464

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Perspektiven der Studien über sein Denken], - In: Studia Filozoficzne. Warszawa. 1981, N.5, 177-184. Verf. bespricht die Geschichte der H.-Edition und geht insbesondere auf die Konzeption der Edition im Hegel-Archiv ein.

Beyond theism and atheism in G. W. F. Hegel. In: Evangelizzazione e ateismo. Atti del Congresso internazionale su Evangelizzazione e ateismo. Roma, 6-11 ottobre 1980. Roma 1981. (Studia Urbania. 15.) 287-307. PANDITHARATNE, HAROLD:

Mediaciön de la subjectividad y posibilidad real. Andre Glucksmann ante Hegel [Überlegung zur Subjektivität und realen Möglichkeit. Andre Glucksmann vor Hegel]. - In: Aporia. Madrid. 3 (1981), N.ll, 67-90. PEREZ QUINTANA, ANTONIO:

Posibilidad segün condiciones y necesidad en la Logica de Hegel [Möglichkeit gemäß der Bedingungen und der Notwendigkeit in Hegels Logik]. - In: Anales del Seminario de Metafisica. Madrid. 16 (1981), 119-136. PEREZ QUINTANA, ANTONIO:

etat hegelien, le christianisme et la pensee grecque. In: Laval theologique et philosophique. Quebec. 37 (1981), N.3, 305-316. PONTON, LIONEL: L'

Qu'est-ce qui est „logique" dans la Science de la logique de Hegel? - In: Laval theologique et philosophique. Quebec. 37 (1981), N.3, 339-352. PuNTEL, LORENZ BRUNO:

Hegel et Husserl sur l'intersubjective. - In: Phenomenologies hegelienne et husserlienne. Les classes sociales selon Marx. Travaux des Sessions d'Etudes. Sous la direction de G. Planty-Bonjour. Paris 1981. 5-17. RICOEUR, PAUL:

Während sich Husserl in der V. Cartesianischen Meditation von einer Phänomenologie des Bewußtseins zur Problematik des objektiven Geistes erhebt, exponiert H. im VI. Kapitel der Phänomenologie des Geistes eine Phänomenologie, die im Medium des Bewußtseins bleibt. Hier liegt der Schnittpunkt zwischen beiden Phänomenologien. Husserl allein ist aber nicht mit H. vergleichbar. Soll er dies werden, muß man ihn mit Max Weber zusammennehmen.

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge

465

Hegel'S philosophy as interpreted by G. R. G. Mure [Hebräisch.] - In: Ijjun. Jerusalem. 30 (1981), 135-151.

ROSEN, MENACHEM:

M.: Hegel actuel? Notes ä propos d'un nouveau bilan. - In: Economies et Societes. Geneve. 15 (1981), 1087-1096. RUBEL,

Bericht von den Hegel-Tagen in Nürnberg (30. l.-l. 2. 1981). - In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie. Hannover. 3 (1981), 239-241. SCHIRMACHER,

WOLFGANG:

Verf. berichtet über die Referate von M. Winkler, W. Fürnrohr, J. d'Hondt, R. Racinaro, W, Hartkopf, P. Heintel. J. C. Horn und H. Kimmerle über H.s Tätigkeit als Gymnasialrektor in Nürnberg und die Verbindung von Pädagogik und Philosophie, sprich: von H.s Tätigkeit als Schulmann und der Wissenschaft der Logik.

Das spekulative Wissen oder die Ekstasis des Denkens. Eine Verteidigung der Philosophie als Potenz ihrer Überwindung. - In: Der Wissenschaftler und das Irrationale. Bd 2: Beiträge aus Philosophie und Psychologie. Hrsg. v. Hans Peter Duerr. Frankfurt a. M. 1981. 112-138. SCHMIED-KOWARZIK, WOLFDIETRICH:

In Auseinandersetzung mit der von Duerr umrissenen Thematik „Der Wissenschaftler und das Irrationale" geht Verf. auch auf die „Gigantomachie" zwischen H. und Schelling über die Beschränktheit des Wissens ein, insbesondere auf das Programm der Phänomenologie des Geistes, und formuliert als Antwort H.s auf die heute gestellten Probleme; „Die Wirklichkeit ist nicht von den denkenden Zugriffen der wissenschaftlichen Rationalität her zu erfassen, sondern nur dort, wo der Mensch das Scheitern seiner rationalen Zugriffe an sich selbst erfäht und sie radikal aufgibt, wo er beginnt, die Welt und sich in ihr aus dem Logos, der Vernunft der Wirklichkeit, die auch sein Denken durchherrscht, zu begreifen dies ist das spekulative Wissen der Philosophie."

Intorno a „pedagogia" in Hegel [Über die Pädagogik bei Hegel]. - In: II Pensiero. Roma, ürbino. 22 (1981), 39-59. SICHIROLLO, LIVIO:

Vgl. die deutsche Fassung, oben 440 f.

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Aus H.s Rechtsphilosophie ergibt sich, daß H. das Widerstandsrecht im Bereich der Moralität zuläßt. Dieser Feststellung widerspricht nicht die Stelle in den Vorlesungen über die Ästhetik (Jubiläumsausgabe Bd. 12. 286-287), in den H. sagt, daß sich der vernünftige Mensch der Notwendigkeit unterwerfen muß, wenn die Mittel des Kampfes gegen das Unrecht fehlen. Nach Verf.s Meinung hat hier die Notwendigkeit keine philosophisch-logische, sondern eine alltägliche Bedeutung; H. akzeptiert das aktive Widerstandsrecht, und seine Berufung auf Passivität hat nur den Sinn der minimalen Aufbewahrung der subjektiven Freiheit.

Hegel i przemiany spoleczne jego epoki [Hegel und die gesellschaftliche Veränderung seiner Zeit). - In: Z historii rozwoju klasycznej burzuarzyjnej filozofii niemieckiej. Kant - Fichte - Schelling Hegel - Feuerbach... Warszawa 1981. 217-226. STREISAND, JOACHIM:

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Übersetzung des Aufsatzes: Finitude et Absolu. - ln: Revue Philosophique de Louvain. Louvain. 69 (1971), 190-215. - Vgl. Hegel-Studien. 8 (1973), 349.

Hegel et Hobbes. - In: Philosophie et Politique. Annales de Tlnstitut de Philosophie et de Sciences morales. Bruxelles 1981. 45-73. TAMINIAUX, JACQUES:

Gegen die oft geäußerte Auffassung, in H.s Rechtsphilosophie habe die politische Theorie der Antike einen Vorrang gegenüber der modernen Staatstheorie, gilt es festzuhalten, daß

Abhandlungen zur Hegel-Forschung / Nachträge

467

bei H. keine Kontinuität mit der politischen Philosophie der Antike, wohl aber mit der Begründung des modernen Naturrechts durch Hobbes besteht, H. also mit wesentlichen Voraussetzungen der politischen Philosophie der Antike gebrochen hat. Dies zeigt sich daran, wie H. bestimmte Thesen der politischen Philosophie der Antike interpretiert.

Cztowiek zniewolony i sprawa wolnosci. [Geknechteter Mensch und Freiheitsfrage]. Hegel-Dostojewski-Descartes. - In: Znak. Krakow. 1981, N.1-2 [Sonderheftzu Dostojewski], 123-142. TISCHNER, JöZEF:

Verf. untersucht u. a. das Verhältnis Herr-Knecht in der Phänomenologie H.s. Die tiefere Analyse dieser Beziehung weist darauf hin, daß der Knecht nur scheinbar der Knecht des Herrn sei, denn seine tatsächliche Knechtung erfolgt aus seinem Realismus und der daraus folgenden Furcht vor dem Tod.

II soggetto borghese in Hegel: dal potere del negativo alla societä civile (Jena, 1802-1806) [Das bürgerliche Subjekt bei Hegel: von der Macht des Negativen zur bürgerlichen Gesellschaft]. - In: Societä civile e Stato fra Hegel e Marx. A cura di Umberto Curi. Padova 1980. 29-73. TOMMASI, WANDA:

Sull' essenza nella Logica hegeliana [Über das Wesen in Hegels Logik]. - In: II Pensiero. Roma, Urbino. 22 (1981), 165-177. ViTiELLO, ViNCENZo:

Aspekty pojecia celu w Heglowskim rozumieniu biologii [Die Aspekte vom Begriff des Zwecks im Hegelschen Verstehen der Biologie]. - In: Z historii rozwoju klasycznej burzuazynej filozofii niemiej. Kant - Fichte - Schelling - Hegel - Feuerbach... Warszawa 1981. 227-261. WARNCKE, CAMILLA:

MITTEILUNG

Fund einer Hegel-Nachschrift aus dem fahr 1817

Kürzlich ist in Luzern die Nachschrift einer Heidelberger Vorlesung Hegels aufgetaucht. Im Sommersemester 1817 las Hegel über Logik und Metaphysik (vgl. die Vorlesungsankündigungen in: Briefe von und an Hegel. Bd4, Teil 1; Dokumente und Materialien zur Biographie. Hrsg. v. F. NICOLIN. Hamburg 1977. 110 f). Unter den Hörern war der Schweizer Jus-Student FRANZ ANTON GOOD. Sein Kollegheft umfaßt 192 Seiten, scheint vollständig und mit gutem Verständnis geschrieben. Eine Kopie ist dem Hegel-Archiv in Bochum zugestellt worden, das gegenwärtig eine Studienausgabe der enzyklopädischen Logik vorbereitet. Während das wissenschaftliche Interesse an der Handschrift noch abzuklären ist, sei hier eine biographische Notiz über den Autor vorausgeschickt. Die Familie GOOD bildete im Sarganserland ein altes, regierungsfähiges Geschlecht, dem Landammänner, Ärzte, Richter und Gelehrte entstammen. FRANZ ANTONS Vater diente in der Schweizer Garde von König Louis XVI. Ein Jahr vor dem Bastillensturm kehrte der Arzt in den Heimatort Meis zurück. Trotz patrizischer Herkunft stand Vater GOOD auf demokratischer Seite und beteiligte sich mit seinen Söhnen am Aufstand von 1814 gegen die Restaurationsregierung. Die Untersuchungen und UrteUe zu den Melser Unruhen waren noch nicht abgeschlossen, als der 1793 geborene FRANZ ANTON GOOD, wegen seiner Jugend von den Richtern geschont, sich in Heidelberg als Student immatrikulierte. Nebst dem Fachgebiet Jurisprudenz hörte er Vorlesungen über Geschichte, Literatur und Philosophie; sein weitgefächertes Interesse führte ihn im Sommersemester 1817 in die besagte Hegel-Vorlesung. Politisch näher als Hegel stand GOOD dem von jenem geschmähten - Philosophen JAKOB FRIEDRICH FRIES. GOODS Sympathien galten den Burschenschaftlern. Nach dem Wartburgfest vom 18. Oktober 1817 begegnete er KARL SAND bei dessen Aufenthalt in Heidelberg. Die Beiden schlossen Freundschaft und tauschten Stammblätter aus. Noch einmal, Frühjahrs darauf, vor GOODS Heimkehr in die Schweiz, haben sie sich getroffen. Die Ermordung KOTZEBUES am 23. März 1819 erfuhr GOOD aus der Zeitung. Erschüttert zwar über die „schauervolle Mordthat", war er der Überzeugung, sein Freund habe „dadurch für das Vaterland etwas Gutes erzwecken" wollen. Ins Stammblatt nachträglich eingefügt steht: „SAND opferte COTZEBUE der Menschheit". Das romantische Ungestüm ermäßigte sich nach der Studentenzeit, Hegels Ausspruch bestätigend, wonach die Lehrjahre des modernen Subjekts darin be-

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stünden, im Kampf um einen Himmel auf Erden die Hörner abzulaufen, um sich schließlich in die Vernünftigkeit der bestehenden Verhältnisse hineinzubilden. GOOD heiratete und wurde Rechtsanwalt. Politische Tätigkeit eröffnete sich ihm erst mit dem Anbruch der Regeneration 1830/31. GOOD trat dem Verfassungsrat bei und saß seit 1833 während zwei Jahrzehnten im Großen Rat von Sankt Gallen. Ein starkes liberales Element ist diesem Kanton durch seine Gründungsgeschichte aufgeprägt: Bis zum Einmarsch der Truppen NAPOLEONS war das Gebiet der fürstäbtlichen Hoheit des Klosters Sankt Gallen unterstellt gewesen. Das Liktorenbündel im Kantonswappen erinnert noch an die Emblemsprache der Französischen Revolution. GOOD tat sich vorallem als Kommunalpolitiker des Sarganserlands hervor und wirkte hier als Bezirksrichter und Ammann. Blieb GOOD im Berufsleben an die Provinz gebunden, so brachte die Pflege freundschaftlicher Kontakte aus der Studentenzeit die Welt hinter die Wand der Churfirsten herein. Die Schweiz von damals war ein Anlaufspunkt deutscher Intellektueller; sie kamen, um als politisch Verfolgte die hiesige Liberalität und als Touristen die Molkenkur zu genießen. Mit KARL VöLKER aus dem Thüringischen, einem Mitglied der Turnerbewegung und Anhänger PESTALOZZIS, verband GOOD eine lange Freundschaft. KARL EBERHARD MöRIKE, der Bruder des Dichters, fand 1843, nach dreijähriger Arbeitshausstrafe in Ludwigsburg, einen Neuanfang als Hauslehrer in Meis. Auch die Lektüre hielt den Gesichtskreis offen. GOOD las Hegel, wie die Tagebücher belegen; aber auch - und wohl noch lieber - SCHELLING, den er kurz vor dessen Tod 1854 in Bad Regaz wahrscheinlich getroffen hat. GOOD blieb trotz seines Bekenntnisses zum Liberalismus ein tief religiöser Mensch, was ihn in späten Jahren immer mehr in Gegensatz brachte zu den antiklerikalen Heißspornen der eigenen Partei. Der Konflikt mündete in den Kulturkampf der Siebzigerjahre; GOOD hat ihn nicht mehr erlebt. Er starb 1866, nachdem er sieben Jahre zuvor aus dem Großrat ausgeschieden war. Vereinnahmt vom Tagwerk des Juristen und Politikers, blieben die philosophischen, literarischen und historischen Neigungen auf die Mußestunden beschränkt. Dennoch hat GOOD im Lauf seines Lebens eine beträchtliche Bibliothek angelegt, die, neben Rarissima aus früherer Zeit, wertvolle Ausgaben des 18. und 19. Jahrhunderts umfaßt. Zugleich begründete er das Archiv des Herren GOOD; es ist noch heute in Familienbesitz und gilt als die umfangreichste private Archivaliensammlung der Schweiz. Bibliothek und Archiv werden in Luzern verwahrt, wo Herr FRANZ ANTON GOOD nun die erwähnte Kollegschrift seines Vorvaters entdeckt hat. Beat Wyss (Zürich)