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German Pages 40 Year 1907
ADOLPH HANSEN
HAECKELS „WELTRÄTSEL" UND
HERDERS WELTANSCHAUUNG
Gleichzeitig erschien von demselben Verfasser:
GOETHES METAMORPHOSE DER PFLANZEN Geschichte einer botanischen Hypothese In z w e i Teilen mit 9 Tafeln von Goethe und 19 Tafeln v o m Verfasser
P r e i s : Geheftet M . 2 2 . — ; Gebunden M . 24.50.
HAECKELS „WELTRÄTSEL" UND
HERDERS WELTANSCHAUUNG
VON
DR. ADOLPH HANSEN P R O F E S S O R DER B O T A N I K A N DER UNIVERSITÄT OIESSEN
V E R L A G VON A L F R E D T Ö P E L M A N N (VORMALS J. RICKER) • OIESSEN • 1907
Druck von C. Q. Röder G. m. b. H , Leipzig.
Die Gegenüberstellung von Haeckel und Herder, welche in den folgenden Blättern unternommen ist, entsprang nicht dem Wunsche nach Beteiligung an einem noch um sich greifenden Kampf. Ich bin von einem ganz andern Ausgangspunkt zu dieser Betrachtung geführt worden, von der Beschäftigung mit Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten und Gedanken. Seit dem Aufblühen des Darwinismus ist auch die Frage, ob Goethe Deszendenztheoretiker gewesen sei, wiederholt aufgeworfen worden. Das ist begreiflich, da er in seinen naturwissenschaftlichen Schriften viel von Entwickelung, von Bildung und Umbildung des Organischen spricht. Die Frage liegt um so näher, als Goethe durch seine Bekämpfung der Bonnetschen Präformationslehre und seinen Anschluß an Caspar Friedrich Wolff zu der theoretischen Erklärung der Entstehung der Organismen deutlich Stellung genommen hat. Wenn er in seiner Metamorphose sich zunächst eine Ansicht über Entstehung des Einzelwesens gebildet, so wäre ein Fortschritt zur Frage nach der Entstehung ganzer Entwickelungsreihen nach verwandtschaftlichen Gesetzen nur naturgemäß. Schon in der „generellen Morphologie" (1866), später in dem bekannten Vortrag von Haeckel*) wurde Goethe von einem Anhänger der Deszendenztheorie zu einem Mitbegründer und Genossen von Lamarck und Darwin erhoben. Haeckels Ansicht hat neben Zustimmung mehrfache Gegenmeinungen und Kritiken hervorgerufen. 2 ) Ich war genötigt, wegen der Beziehungen der Deszendenzlehre zur Metamorphosenlehre in einem Buche über das letztere Thema die Frage gleichfalls zu behandeln. 8 ) Es hätte dort zu weit geführt, wenn ich erörtert hätte, daß meine Studien über Goethes Vorläuferschaft als Deszendenztheoretiker ergeben haben, wieviel mehr Herder dieser Ruhm gebührt, was in der einschlägigen Literatur so gut wie ganz vernachlässigt worden ist. ' ) E. Haeckel, Die Naturanschauung von Darwin, Ooethe und Lamarck. 1882. *) O. Schmidt, War Ooethe ein Darwinianer? 1871. W. v. Wasielewsky, Ooethe und die Deszendenztheorie. 1904. ') A. Hansen, Ooethes Metamorphose der Pflanzen. A. Töpelmann, Gießen 1907.
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Nur v. B ä r e n b a c h 1 ) hat in einer besonderen Abhandlung Herder als Darwinianer behandelt, aber dieser Hinweis ist in späteren Abhandlungen anderer Autoren nicht benutzt worden. Wenn Goethes Zuneigung zur Deszendenzlehre mit vollem Recht hervorgehoben wird, s o darf unter den ihm von außen gewordenen Anregungen, Herders gewaltiger Einfluß nicht verschwiegen werden, wenn man sich nicht gänzlich in Mutmaßungen verlieren will, wie es bisher geschehen. Auch die letzte kritische Abhandlung von Wasielewsky kommt über eine subjektive Auffassung nicht hinaus. Meine Beschäftigung mit Herder hat aber außer diesem nicht unwichtigen Punkt noch ein anderes merkwürdiges Resultat ergeben, nämlich eine auffallende Vorläuferschaft Herders in ganz anderer Richtung. Ich finde eine unerwartete Übereinstimmung von Herders Ansichten mit dem sogenannten Monismus Haeckels, mit dem großen Unterschiede, daß Herder an philosophischer Tiefe und Konsequenz Haeckel weit übertrifft. Die Tatsache, daß Haeckel sich mit seinen philosophischen Schriften an den weitesten Leserkreis wendet, welcher die Literatur nicht übersieht, bringt es mit sich, daß hier die Meinung entsteht, erst in den letzten Jahren sei plötzlich eine zusammenhängende Weltanschauung auf dem Boden der speziellen Naturwissenschaft erwachsen. Von einer historischen Behandlung des Problems ist in Haeckels Welträtseln keine Rede, die Aufführung einer reichlichen Anzahl von berühmten Namen mit kurzer Erläuterung, kann doch nicht als geschichtliche Darstellung angenommen werden. Mir selbst kann die Aufgabe ebensowenig zufallen, eine umfassende Geschichte des Monismus zu versuchen. Es handelt sich hier nur um einen ganz bescheidenen Beitrag, der in erster Linie die Absicht verfolgt, Herders Bedeutung in das rechte Licht zu rücken, welches Unternehmen wohl keinen Übergriff bedeutet, um so weniger, als Herder von den Lesern der Welträtsel im allgemeinen für veraltet und vergessenswürdig angesehen wird. Diese Darlegungen mögen es begründen, daß ich in den vorliegenden Blättern die Hinweise auf Herder den Deszendenztheoretiker und Herder den Monisten miteinander vereinigt habe. Wenn Herder in seinen Ideen auch nur die Geschichte der Menschen schreiben wollte, so drängte ihn sein umfassender Geist auch auf die Schilderung des Schauplatzes menschlichen Wirkens und seiner Umgebung hin. Diese Schilderung war nicht bloße Beschreibung, son*) F. v. Bärenbach, Herder als Vorgänger Darwins und der modernen Naturphilosophie 1877.
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dem auch in ihr wurde, seiner Hauptaufgabe entsprechend, überall die Entwickelung der leitende Gedanke für das Verständnis des Seienden. Wenn wir statt in das uferlose Literaturmeer von heute unterzutauchen, an den lauteren Quellen unserer Klassiker schöpften, müßten wir weniger verschmachten in dem Überfluß und erkennen, was wir ihnen verdanken und daß das Alte dort vielfach das Allerneueste ist. Freilich ist das häufige Vergessen, daß ein Luther, Kant, Herder, Schiller und Goethe gelebt und geschrieben haben, nicht ein Mangel unserer raschen, oberflächlichen Zeit. Schon 1828 schrieb Goethe über Herders „Ideen": „War doch das Werk, nachdem es seine Schuldigkeit getan und unglaublich auf die Bildung der Nation gewirkt, so gut wie vergessen." An anderer Stelle fügt er hinzu: „So sind Herders Ideen bei uns dergestalt in die Kenntnis der ganzen Masse übergegangen, daß nur wenige, die sie lesen, dadurch erst belehrt werden, weil sie durch h u n d e r t f a c h e A b l e i t u n g e n von demjenigen, was damals von großer Bedeutung war, in anderem Zusammenhange schon völlig unterrichtet wurden." Mag auch Kant nicht unrecht haben, wenn er Herder ein häufiges Überwiegen der Poesie über die Schärfe der Logik vorwirft. Die Kritik des einzelnen raubt Herder nichts von seinem unsterblichen Verdienst, daß er in der damaligen Literaturepoche aufragte, als der Träger nicht bloß, sondern als der Vertreter des Gedankens der stufenweisen Entwickelung auch in der Natur, eines Gedankens, den Kant nur beiläufig und sehr vorsichtig tastend, aussprach. Man muß wohl im Auge behalten, daß ein Theologe diese „Ideen" geschrieben hat, und da kann man auch als Naturforscher diesen Geist nur beneiden. Wenn man den Einfluß preist, den die Naturforschung des 19. Jahrhunderts auf die Weltanschauung der Kulturvölker ausgeübt hat, s o sollte man nicht verg e s s e n , was diese Naturforschung selbst der durch unsere Klassiker begründeten Weltanschauung des 18. Jahrhunderts verdankt. Vielfach gibt die Naturforschung nur das zurück, was sie unbewußt von den Vorfahren aufgenommen hat. Bei Herder finden wir die Grundgedanken der Deszendenzlehre, zusammenhängend und mit Belegen versehen, auseinandergesetzt, und hier dürfte auch die vornehmliche Quelle für Goethes gelegentliche Andeutungen zu suchen sein. Aber wir finden bei Herder noch vieles mehr. Die modernen Grundgedanken über die Entwickelung und die Existenz der organischen Welt sind schon bei Herder mit umfassendem und in die Tiefe dringendem Blick auf Grund einer für einen Theologen erstaunlichen Kenntnis der maßgebenden Literatur ausgesprochen.
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Wie innig der Verkehr zwischen Herder und Goethe auf diesem Gebiet, namentlich während der Herausgabe der „Ideen", war, und wie Goethe mit Enthusiasmus das Werden des Buches verfolgte, ist allgemein bekannt. Aus dieser Anteilnahme scheint in neuester Zeit die Annahme aufzublühen, als ob das Verhältnis von Geben und Nehmen der Gedanken das umgekehrte gewesen sei und Goethe Herdern das Beste zu seinen „Ideen" geliefert habe. Es bleibt dabei nicht bloß bei Andeutungen, sondern es gestaltet sich schon eine zusammenhängende Legende, die vielleicht nicht lange anstehen wird, zu behaupten, Goethe habe Herders „Ideen" sogar verfaßt. Es sind natürlich wieder die Popularschriftsteller, die mit leichtem Mute und möglichster Ersparnis ihrer kostbaren, der Aufklärung des deutschen Volkes gewidmeten Zeit, die Tatsachen zu ihren Märchen umgestalten. Gehen wir der Herkunft solcher Traditionen etwas nach. Johannes Falk berichtet 1 ) über ein Gespräch mit Goethe über die Art naturwissenschaftlicher Forschung, worin folgender Ausspruch Goethes vorkommt: „Verschmäht auch nie, in euer Streben die Einwirkung von gleichgestimmten Freunden aufzunehmen, sowie ich euch auf der andern Seite angelegentlich rate, ebenfalls nach meinem Beispiele keine Stunde mit Menschen zu verlieren, zu denen ihr nicht gehört, oder die nicht zu euch gehören; denn solches fördert wenig, kann uns aber im Leben gar manches Ärgernis zufügen, und am Ende ist doch alles vergeblich gewesen. Im ersten Bande von Herders ,Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit' sind viele Ideen, die mir gehören, besonders im Anfange. Diese Gegenstände wurden von uns damals gemeinschaftlich durchgesprochen. Dazu kam, daß ich mich zu sinnlichen Betrachtungen der Natur geneigter fühlte, als Herder, der immer schnell am Ziele sein wollte und die Idee ergriff, wo ich kaum noch einigermaßen mit der Anschauung zustande war, wiewohl wir gerade durch diese wechselseitige Aufregung uns gegenseitig förderten." Aus diesem weisen Ratschlag Goethes, sich auszutauschen, wobei der Verkehr mit Herder nur als lebendiges Beispiel dienen soll, macht der doppelnamige Dr. Ernst Krause (Carus Sterne) eine Prioritätsfrage, indem er Goethes ganz allgemein gehaltenen Hinweis als einen Eigentumsanspruch auf bestimmte Sätze des 5. Buches der „Ideen" bezieht, die nach seiner Meinung Goethe „ganz und gar" gehörten, 4 ) was der') J. Falk, Ooethe aus näherem persönlichen Umfange dargestellt (1824), III. Aufl., Leipzig 1856, p. 31. *) Carus Sterne, Die allgemeine Weltanschauung, p. 289.
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selbe Autor in einer Schrift über Erasmus Darwin 1 ) mit den Worten wiederholt, daß Herders stark „darwinistisch" gefärbte Eingangskapitel nach Goethes eigenem Geständnis wesentlich auf seine Mitwirkung zurückzuführen seien." Das ist eine willkürliche Erweiterung von Goethes Worten, und sie ist um so schädlicher, als Falks Buch von Carus Sterne nicht zitiert wird. Und doch lautet hier die Sache ganz anders, und zwar so, daß Herder die allgemeinen „Ideen" aufstellte und Goethe sie aus dem Schatz seiner Erfahrung zu ergänzen suchte. Diesem Verhalten entspricht auch genau, was Charl. v. Stein an Knebel über Herders „Ideen" schreibt: „Das Buch macht wahrscheinlich, daß wir erst Pflanzen und Tiere waren; Goethe grübelt jetzt gar denkreich in diesen Dingen, und jedes, was erst durch seine Vorstellung gegangen ist, wird äußerst interessant." 2 ) Wenn die Deszendenzansichten in Herders Ideen von Goethe herrührten, welchen Sinn hätte es dann wohl, daß Goethe Herdern am 27. März 1784 die Auffindung des os intermaxillare am Menschen meldet und dazu schreibt: „Ich habe mir's auch in Verbindung mit D e i n e m G a n z e n gedacht, wie schön es da wird." Was Goethe etwa mit den Ideen, die ihm gehören, besonders meint, ergibt sich meiner Ansicht nach aus dem Vorwort zur Morphologie, wo er von seinen osteologischen Studien berichtet, die ihn dazu drängten, einen Typus aufzustellen. Dazu schreibt er: „Meine mühselige, qualvolle Nachforschung ward erleichtert, ja versüßt, indem Herder die Ideen zur Geschichte der Menschheit aufzuzeichnen unternahm. Unser tägliches Gespräch beschäftigte sich mit den Uranfängen der Wassererde und der darauf von altersher sich entwickelnden organischen G e schöpfe. Der Uranfang und dessen unablässiges Fortbilden ward immer besprochen und unser wissenschaftlicher Besitz durch wechselseitiges Mitteilen und Bekämpfen täglich geläutert und bereichert." Niemand wird Carus Sterne darin beistimmen können, daß irgend etwas dafür spricht, Herders „darwinistische" Ideen stammten von Goethe. Goethe würde das zweifellos selbst offen gesagt haben, denn in Übereinstimmung mit dem obigen Satz aus Falk, der Herders Einfluß auf ihn hervorhebt, hat Goethe später in anderm Sinne unmißverständlich gesagt, wie Unterhaltungen mit a n d e r n Freunden dazu geführt hätten, „daß manches von daher Entsprungene, durch Tradition in der wissenschaftlichen Welt Fortgepflanzte, nun Früchte trage, deren wir uns erfreuen, ob man gleich nicht immer den Garten benamset, der die Pfropf») Leipzig 1887, p. 2 0 2 . *) K. Heinemann, Goethe, III. Aufl., p . 3 2 7 .
Goethe knüpfte also erst an die „Ideen" an.
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reiser hergegeben". Der angebliche Prioritätsanspruch Goethes ist also bloße Erfindung. Es ist ganz klar, Goethe will überall mit seinen Worten nicht sein, als vielmehr Herders Eigentumsrecht vertreten. Ich möchte nicht unterlassen, auf den interessanten und vortrefflichen Aufsatz „Goethe und Herder" von B. S u p h a n , dem gründlichen Kenner b e i d e r Klassiker (Deutsche Rundschau 1887, Bd. 51), hinzuweisen, den jeder Literaturfreund lesen sollte, um über Goethe und Herder klar zu sehen. Dort liest man über das geistige Verhältnis unserer Dichter und Denker die trefflichen Worte: „Die Frage nach der Priorität sollte überhaupt nicht angeregt werden, sie wäre bei diesem gemeinsamen Gedankengut nicht angebracht, und vor allem, e s wäre wider den Sinn der Freunde, den Anteil im einzelnen auseinanderzusetzen." Welchen bedeutenden Anteil aber Herder an unseren heutigen Vorstellungen über den Zusammenhang der Lebewesen hat, lehren die im folgenden abgedruckten Stellen der „Ideen". 1 ) Deutlich steigt bei Herder der heute allgemeingültige Gedanke auf, daß alle Entwickelung der Ausdruck des Zusammenwirkens noch unbekannter innerer Kräfte und äußerer Bedingungen sei (2. Buch 1). Die Entwickelung zeigt eine aufsteigende Reihe von Formen und Kräften (5. Buch, p. 171). „Vom Stein zum Kristall, vom Kristall zu den Metallen, von diesen zur Pflanzenschöpfung, von den Pflanzen zum Tier, von diesem zum Menschen sehen wir die Form der Organisation steigen, mit ihr auch die Kräfte und Triebe des Geschöpfes vielartiger werden, und sich endlich alle in der Gestalt des Menschen, sofern diese sie fassen konnte, vereinen. Bei dem Menschen stand die Reihe still; wir kennen kein Geschöpf über ihm, das vielartiger und künstlicher organisiert sei; er scheint das höchste, wozu eine Erdorganisation gebildet werden konnte." Wie diese Welt der Lebewesen entstand, das ist die Frage. Herder sagt (5. Buch II, 175): „Präformierte Keime, die seit der Schöpfung bereit lagen, hat kein Auge gesehen; was wir vom ersten Augenblick des Werdens eines Geschöpfes bemerken, sind wirkende organische Kräfte. Hat ein einzelnes Wesen diese in sich, s o erzeugt es selbst, sind die Geschlechter geteilt, so muß jedes derselben zur Organisation des Abkömmlings beitragen und zwar nach der Verschiedenheit des Baues auf eine verschiedene Weise — es ist organische Materie, zu der lebendige Kräfte kommen müssen, sie erst zur Gestalt der künftigen Geschöpfe zu bilden. Welche Auswirkungen gehen im Ei eines Vogels vor, ehe die Frucht Gestalt gewinnt und sich diese vollendet! — Sieht ') Nach der Hempelschcn Ausgabe zitiert.
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man diese Wandlungen, diese lebendigen Wirkungen sowohl im Ei des Vogels, als im Mutterleibe des Tieres, das Lebendige gebieret, so dünkt mich, spricht man uneigentlich, wenn man von Keimen, die nur entwickelt würden oder von einer Epigenesis redet, nach der die Glieder von außen zuwüchsen. Bildung (genesis) ist's, eine Wirkung innerer Kräfte, denen die Natur eine Masse vorbereitet hatte, die sie sich zubilden, in der sie sich sichtbar machen sollen." Wie viel schärfer sind die Vorstellungen Herders von Kräftewirkungen, wie der damals verbreitete dumpfe Glaube an eine Lebenskraft, wie fein seine Kritik der Begriffe! „Je organisierter ein Geschöpf ist, desto mehr ist sein Bau zusammengesetzt aus den niedrigen Reichen." — „Entweder müssen wir diese Dinge als Spiele der Natur ansehen (und sinnlos spielte die verstandreiche Natur nie), oder wir werden darauf gestoßen, auch ein Reich unsichtbarer Kräfte anzunehmen, das in ebendemselbem genauen Zusammenhange und dichten Übergange steht, als wir in den äußeren Bildungen wahrnehmen. Je mehr wir die Natur kennen lernen, desto mehr bemerken wir diese inwohnenden Kräfte auch sogar in den niedrigsten Geschöpfen, Moosen, Schwämmen u. dgl. In einem Tier, das sich beinah unerschöpflich reproduziert, in der Muskel, die sich vielartig und lebhaft durch eigenen Reiz bewegt, sind sie unleugbar; und so ist alles voll organisch wirkender Allmacht. Wir wissen nicht, wo diese anfängt und wo sie aufhört, denn wo Wirkung in der Schöpfung ist, ist Kraft; wo Leben sich äußert, ist inneres Leben. Es herrscht also allerdings nicht nur ein Zusammenhang, sondern auch eine aufsteigende Reihe von Kräften im unsichtbaren Reiche der Schöpfung, da wir diese in ihrem sichtbaren Reich, in organisierten Formen vor uns wirken sehen." „Ja unendlich inniger, steter und fortgehender muß dieser unsichtbare Zusammenhang sein, als ihn unserm stumpfen Sinne die Reihe äußerer Formen zeigt. Denn was ist eine Organisation, als eine Masse unendlich vieler zusammengedrängter Kräfte, deren größter Teil eben des Zusammenhanges wegen von andern Kräften eingeschränkt, unterdrückt oder wenigstens unsern Augen s o versteckt wird, daß wir die einzelnen Wassertropfen nur in der dunklen Gestalt der Wolke, d. i. nicht die einzelnen Wesen selbst, sondern nur das Gebilde sehen, das sich zur Notdurft des Ganzen s o und nicht anders organisieren mußte." (5. Buch I, p. 173.) Wie lebendig würde diese Schilderung heute, unter dem Gesichtspunkt der Zellenlehre mit ihren einzelnen Kraftwirkungen, sein.
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Aber verlassen wir das Reich der Kräfte und fragen wir bei Herder nach seinen Vorstellungen von den Formen an (5. Buch III, p. 179). „Das erste Geschöpf, das ans Licht tritt und unter dem Strahl der Sonne sich als eine Königin des unterirdischen Reiches zeigt, ist die Pflanze. Was sind ihre Bestandteile? Salz, Öl, Eisen, Schwefel, und was sonst an feineren Kräften das Unterirdische zu ihr hinaufzuläutern vermochte. Wie kam sie zu diesen Teilen? Durch innere organische Kraft, durch welche sie unter Beihilfe der Elemente jene sich zu eigen zu machen strebt. Und was tut sie mit ihnen? Sie zieht sie an sich, verarbeitet sie in ihr Wesen und läutert sie weiter." Diese Ernährungslehre ist schon p. 87 mit Hinweis auf Ingenhousz „Versuche mit Pflanzen" von der wichtigsten Seite betrachtet: — „Man hat die schöne Erfahrung gemacht, daB die Gewächse zwar so wenig als wir von reiner Luft leben können, daß aber gerade das, was sie einsaugen, das Brennbare sei, was Tiere tötet und in allen animalischen Körpern die Fäulnis befördert. Man hat bemerkt, daß sie dies nützliche Geschäft, die Luft zu reinigen, nicht mittels der Wärme, sondern des Lichts tun."1) „Über der Pflanze steht das Tier und zehrt von ihren Säften. Der einzige Elephant ist ein Grab von Millionen Kräutern; aber er ist ein lebendiges, auswirkendes Grab, er animalisiert sie zu Teilen seiner selbst — die niederen Kräfte gehen in feinere Formen des Lebens über." (5. Buch, p. 180.) „Der zweite Beruf der Geschöpfe ist Fortpflanzung; die Bestimmung dazu ist schon im Bau der Pflanzen sichtbar. Wem dienen Wurzel und Stamm, Äste und Blätter? Wem hat die Natur den obersten oder doch den ausgesuchtesten Platz eingeräumt? Der Blüte, der Krone; und wir sahen, sie sind die Zeugungsteile der Pflanze." (3. Buch, p. 99.) „Der Kelch ist das Bett, die Krone sein Vorhang, die anderen Teile der Blume sind Werkzeuge der Fortpflanzung, die die Natur bei diesen unschuldigen Geschöpfen offen dargelegt und mit aller Pracht geschmückt hat. — Warum tat sie dies alles? und knüpfte auch bei Menschen ins Band der Liebe die schönsten Reize, die sich in ihrem Gürtel der Schönheit fanden? Ihr großer Zweck sollte erreicht werden, nicht der kleine Zweck des sinnlichen Geschöpfes allein, das sie so schön ausschmückte; dieser Zweck ist F o r t p f a n z u n g , E r h a l t u n g d e r G e s c h l e c h t e r . Die Natur braucht Keime, sie braucht unendlich viel Keime, weil sie nach ihrem großen Gange tausend Zwecke aufeinmal *) In der Botanik wurden Ingenhousz Untersuchungen erst zu Liebigs Zeiten verstanden und angenommen.
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befördert. Sie mußte also auch auf Verlust rechnen, weil all.es zusammengedrängt ist, und nichts eine Stelle findet, sich ganz auszuwickeln. Aber damit ihr bei dieser scheinbaren Verschwendung dennoch das Wesentlichste und die erste Frische der Lebenskraft nimmer fehlte, mit der sie allen Fällen und Unfällen im Lauf s o zusammengedrängter Wesen vorkommen mußte, machte sie die Zeit der Liebe zur Zeit der Jugend und zündete ihre Flamme mit dem feinsten und wirksamsten Feuer an, das sie zwischen Himmel und Erde finden konnte. Unbekannte Triebe erwachen, von denen die Kindheit nichts wußte. D a s Auge des Jünglings belebt sich, seine Stimme sinkt, die W a n g e des Mädchens färbt sich; zwei Geschöpfe verlangen nacheinander und wissen nicht, w a s sie verlangen; sie schmachten nach Einigung, die ihnen doch die zertrennende Natur versagt, und schwimmen in einem Meer von Täuschung. Süß getäuschte Geschöpfe, genießt eure Zeit! wisset aber, daß ihr damit nicht eure kleinen Träume, sondern angenehm gezwungen, die größte Aussicht der Natur befördert. Sobald sie das Geschlecht gesichert hat, läßt sie allmählich das Individuum sinken. (2. Buch, p. 84.) „Es gehört noch nicht hierher, ob der Mensch Vernunft und ob die Tiere keine Vernunft haben. Haben sie diese nicht, s o besitzen sie etwas anderes zu ihrem Vorteil; denn gewiß hat die Natur keines ihrer Kinder verwahrlost. Verließe sie ein Geschöpf, wer sollte sich seiner annehmen, da die ganze Schöpfung in einem Kriege ist, und die entgegengesetztesten Kräfte einander so nahe liegen? Der gottgleiche Mensch wird hier von Schlangen, dort von Ungeziefer verfolgt, hier vom Tiger, dort vom Haifisch verschlungen. Alles ist im Streit gegeneinander, weil alles selbst bedrängt ist; es muß sich seiner Haut wehren und für sein Leben sorgen." „Warum tut die Natur dies? Warum drängte sie s o die Geschöpfe aufeinander? Weil sie im kleinsten Raum die größeste und vielfachste Anzahl der Lebenden schaffen wollte, wo also auch eins das andre überwältigt, und nur durch das Gleichgewicht der Kräfte Friede wird in der Schöpfung. Jede Gattung sorgt für sich, als ob sie die einzige wäre; ihr zur Seite steht aber eine andere da, die sie einschränkt, und nur in diesem Verhältnis entgegengesetzter Arten fand die Schöpferin das Mittel zur Erhaltung des Ganzen. Sie w o g die Kräfte, sie zählte die Glieder, sie bestimmte die Triebe der Gattungen gegeneinander, und ließ übrigens die Erde tragen, was sie zu tragen vermochte." „Es kümmert mich also nicht, ob große Tiergattungen untergegangen sind. Ging das Mammut unter, so gingen auch Riesen unter; e s war ein anderes Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Wie es jetzt ist, sehen wir das offenbare Gleichgewicht, nicht nur im Ganzen der Erde, sondern auch selbst in einzelnen Weltteilen und Ländern." (5. Buch, p. 89.) 13
D a s ist eine anschauliche Schilderung d e s Kampfes ums Dasein vor Darwin, und daher hat v o n B ä r e n b a c h Herder als Vorläufer Darwins bezeichnen zu müssen geglaubt. 1 ) D a s ist jedoch nicht ganz aufrecht zu erhalten, denn Herder hat nirgends den Kampf ums D a s e i n als den eigentlichen Faktor der Artenbildung bezeichnet. Will man Herder mit modernen Naturforschern vergleichen, s o muß man ihn nicht zu Darwin, sondern zu Carl von Nägeli stellen. Auch mit Lamarck hat er Berührungspunkte, die äußeren Bedingungen sind e s , die modifizierend auf die Formen wirken, denn wir lesen bei Herder weiter: „Bei der Verbreitung und Ausartung der Pflanzen ist eine Ähnlichkeit kenntlich, die sich auch auf die G e s c h ö p f e über ihnen anwenden läßt und zu Aussichten und Gesetzen der Natur vorbereitet. Jede Pflanze fordert ihr Klima, zu dem nicht die Beschaffenheit der Erde und des Bodens allein, sondern auch die Höhe des Erdstrichs, die Eigenheit der Luft, des W a s s e r s , der Wärme gehört. Unter der Erde lag alles noch durcheinander, und obwohl auch hier jede Stein-, Kristall- und Metallart ihre Beschaffenheit von dem Lande nimmt, in dem sie wuchs, und hiernach die eigensten Verschiedenheiten gibt, s o ist man doch in diesem Reich des Pluto noch lange nicht zu der allgemeinen g e o graphischen Übersicht und zu den ordnenden Grundsätzen gekommen, als im schönen Reich der Flora. Die botanische Philosophie, die Pflanzen nach der Höhe und Beschaffenheit des B o d e n s , der Luft, des Wassers, der Wärme ordnet, ist also eine augenscheinliche Leiterin zu einer ähnlichen Philosophie in Ordnung der Tiere und "Menschen." (2. Buch, p. 85.) 2 ) Wir finden demnach alle Bausteine der Deszendenztheorie bei Herder schon vor und ihre Lehren sind nicht bloß in prophetischer, sondern in völlig vollendeter Form ausgesprochen, wenn auch noch nicht zur abgerundeten Theorie zusammengefaßt. ') F. v. Barcnbach, Herder als Vorgänger Darwins und der modernen Naturphilosophie 1877. Eine sehr verdienstliche, leider etwas formlose Arbeit. Auch Goethe hat auf den Kampf ums Dasein als Tatsache, nicht als Kausalgrund hingedeutet, vgl. S i e b e c k , Ooethe als Denker, 1. Aufl., 109: „Alles was entsteht, sucht sich Raum und will Dauer, deswegen verdrängt es anderes von seinem Platz und verkürzt seine Dauer." Der andere von S i e b e c k angeführte Satz ist weniger passend, da um die „heilsamen atmosphärischen Elemente in Glashäusern nicht gekämpft wird, wohl aber um das Licht, so daO Goethes Beispiel" an sich wieder von vortrefflichem Takt zeugt. *) Dieser weite Ausblick auf Wissenschaftsgebiete der erst später entstehenden Anthropo- und Zoogeographie, noch ehe Humboldts Ideen zur Geographie der Pflanzen vorlagen, ist besonders bemerkenswert. Vgl. p. 89 der Ideen, wo Herder „den Wunsch einer allgemeinen b o t a n i s c h e n G e o g r a p h i e einem eigenen Liebhaber und Kenner" empfiehlt.
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Daß Goethe, nachdem Herder seine „Ideen" veröffentlicht hatte, keine Veranlassung nahm, dasselbe nochmals zu sagen, ist verständlich. Goethe selber strebte vor allem nach Erkenntnis der ihn umgebenden Welt, ohne in erster Linie nach ihrer Herkunft zu fragen. Und s o zogen ihn von deszendenztheoretischen Problemen nur einzelne an, wie z. B. die Anpassungstatsachen, auf die er mehrfach eingeht, und die meistens mit Unrecht als Beweise für seine selbständigen deszendenztheoretischen Gedanken angeführt werden. Nachdem von Bärenbach schon auf Herders Bedeutung hingewiesen hat, wäre es wohl gerecht, wenn dieselbe endlich offen anerkannt würde. Wer Vordenker der Deszendenzlehre sucht, wird reicher belohnt, wenn er bei Herder, als wenn er bei Goethe anklopft. Mit Goethe stimmte Herder in der Annahme des Typus überein. 1 ) Umfassend sind auch hier Herders Gedanken. Mit Bewunderung würden heute das Auditorium und die Zeitungen davon berichten, wenn einer unserer modernen Entwickelungsredner dieselben Worte brauchte, die ein im Predigeramte stehender Theologe vor 120 Jahren niederschrieb. Welch ein Welträtsel! Man lese das folgende: „Nun ist unleugbar, daß bei aller Verschiedenheit der lebendigen Erdwesen überall eine gewisse Einförmigkeit des Baues und gleichsam e i n e H a u p t f o r m zu herrschen scheine, die in der reichsten Verschiedenheit wechselt. Der ähnliche Knochenbau der Landtiere fällt in die Augen: Kopf, Rumpf, Hände und Füße sind überall die Hauptteile, selbst die vornehmsten Glieder derselben sind nach e i n e m Prototyp gebildet und gleichsam nur unendlich variiert. Der innere Bau der Tiere macht die Sache noch augenscheinlicher, und manche rohen G e stalten sind im Inwendigen der Hauptteile dem Menschen sehr ähnlich. Die Amphibien gehen von diesem Hauptbilde schon mehr ab; Vögel, Fische, Insekten, Wassergeschöpfe noch mehr, welche letzte sich in die Pflanzen und Steinschöpfung verlieren. 2 ) Weiter reicht unser Auge nicht; indessen machen diese Übergänge es nicht unwahrscheinlich, daß in den Seegeschöpfen, Pflanzen, ja vielleicht gar in den totgenannten Wesen eine und dieselbe Anlage der Organisation, nur unendlich roher und verworrener, herrschen möge. Im Blick des ewigen W e s e n s , das alles in einem Zusammenhange siehet, hat vielleicht die Gestalt des Eisteilchens, wie es sich erzeugt und die Schneeflocke, die sich an ihm bildet, noch immer ein analoges Verhältnis mit der Bildung des Embryons ') Goethe hatte bei seinen anatomischen Studien bei Loder Anfang der 80er Jahre den Gedanken des allgemeinen Knochentypus gefaßt. *) Bryozoen und Korallen.
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im Mutterleibe. 1 ) Wir können also das zweite Hauptgesetz annehmen: daB j e n ä h e r d e m M e n s c h e n , a u c h a l l e G e s c h ö p f e in d e r H a u p t f o r m m e h r o d e r m i n d e r Ä h n l i c h k e i t m i t i h m h a b e n , und d a ß d i e N a t u r b e i d e r u n e n d l i c h e n V a r i e t ä t , d i e s i e l i e b t , alle L e b e n d i g e n u n s e r e r Erde nach Einem H a u p t p l a s m a der O r g a n i s a t i o n g e b i l d e t zu h a b e n s c h e i n e . " „Es erhellt also von selbst, daß, da diese Hauptform nach Geschlechtern, Arten, Bestimmungen, Elementen immer variiert werden mußte, ein E x e m p l a r d a s a n d r e e r k l ä r e . W a s die Natur bei diesem Geschöpf als Nebenwerk hinwarf, führte sie bei dem anderen gleichsam als Hauptwerk aus, sie setzte es ins Licht, vergrößerte es und ließ die anderen Teile, obwohl immer noch in der überdachtesten Harmonie, diesem Teil jetzt dienen. Anderswo herrschen wiederum diese dienenden Teile, und alle Wesen der organischen Schöpfung erscheinen also als disjecta membra poetae. Wer sie studieren will, muß eins im andern studieren, w o d i e s e r T e i l v e r h ü l l t u n d v e r n a c h l ä s s i g t e r s c h e i n t , w e i s e t er auf ein a n d r e s G e s c h ö p f , w o ihn d i e N a t u r a u s g e b i l d e t und o f f e n d a r l e g t e . " 2 ) Auch dieser Satz findet seine Bestätigung in allen Phänomenen divergierender Wesen." (2. Buch p. 94.) Aber es handelt sich nicht bloß in der Natur um Entstehen und Dasein und Form, sondern um Fortbildung und Vervollkommnung. Herder sagt darüber: „In der toten Natur liegt alles noch in e i n e m dunklen, aber mächtigen Triebe. Die Teile dringen mit innigen Kräften zusammen, jedes Geschöpf sucht G e s t a l t zu g e w i n n e n und f o r m t s i c h . In diesem Trieb ist noch alles verschlossen. Die kleinsten Teile der Kristalle und Salze sind Kristalle und Salze; ihre bildende Kraft wirkt in dem kleinsten Partikel wie im Ganzen, unzerteilbar von außen, von innen unzerstörbar." „Die Pflanze wird in Röhren und andern Teilen auseinander geleitet; ihr Trieb fängt an, diesen Teilen nach, sich zu modifizieren, ob er wohl im Ganzen noch einartig wirkt. Wurzel, Stamm, Äste saugen, aber auf verschiedene Art, durch verschiedene Gänge, verschiedene Wesen. Der Trieb des Ganzen modifiziert sich also mit ihnen, bleibt aber noch im Ganzen eins und dasselbe, denn die F o r t p f l a n z u n g i s t n u r E f f l o r e s z e n z d e s W a c h s t u m s ; beide Triebe sind der Natur des Geschöpfes nach unabtrennbare." Die Gedanken erinnern teils an Schopenhauer, teils an moderne mechanistische Vorstellungen. *) Das ist das Prinzip der auf Vergleich beruhenden modernen Systematik. 16
„Als die Natur höher hinaufschritt, beobachtete sie eben die weise Vorsicht, das Geschöpf an ein Vielfaches abgetrennter Sinne und Triebe nur allmählich zu gewöhnen. Das Insekt konnte auf einmal nicht alles üben, was es üben sollte; es muß also seine G e s t a l t u n d s e i n W e s e n v e r ä n d e r n , um jetzt als Raupe dem Triebe der Nahrung, jetzt als Zwiefalter der Fortpflanzung genug zu tun; beider Triebe war es in e i n e r Gestalt nicht fähig. E i n e Art Biene konnte nicht alles ausrichten, was der Genuß und die Fortpflanzung dieses Geschlechts forderte; also teilte die Natur und machte diese zu Arbeitern, jene zu Fortpflanzern, diese zur Gebärerin. — Alles durch eine kleine Abänderung der Organisation, wodurch die Kräfte des ganzen Geschöpfes eine andere Richtung bekamen. W a s s i e in E i n e m M o d e l l n i c h t a u s f ü h r e n k o n n t e , l e g t e s i e in d r e i M o d e l l e n , d i e a l l e z u s a m m e n g e h ö r e n , g e brochen auseinander." Herder hat hier ebenso klar wie sprachlich vollendet dargelegt, daß die Bildung und Trennung der Arten durch Anpassung der Organisation vor sich geht, durch die merkwürdige Erscheinung des Generationswechsels zur höchsten Stufe der Landtiere hinaufsteigt und in der Gestalt des Menschen die bis jetzt größte Vollkommenheit erreicht. Im 3.Buche VI und im 4. Buche I erörtert er ausführlich die Ähnlichkeit des Menschen und Affen und erkennt nicht bloß die anatomische Ähnlichkeit an, sondern auch die Intelligenz des Affen, die sich über den niederen Grad des Instinktes erhebt. „Der Affe hat keinen determinierten Instinkt mehr, seine Denkungskraft steht dicht am Rande der Vernunft, am armen Rande der Nachahmung." Mit Recht bestreitet Herder die Möglichkeit, den Menschen von lebenden Affenformen abzuleiten, indem er zwischen beiden eine unüberbrückbare Grenze findet. Aber es handelt sich nur um eine Lücke in der Entwickelungsreihe, die auch heute nur durch Hypothesen vom Pithecanthropos und Alalus ausgefüllt ist. Herder verlangt auch für die Menschen keine Ausnahmegesetze der E n t w i c k l u n g : „Aus dem Staube der Würmer, aus den Kalkhäusern der Muscheltiere, aus den Gespinsten der Insekten geht es allmählich in reicher gegliederte, höhere Organisationen. Durch die Amphibien geht's zu den Landtieren hinauf und unter diesen ist selbst bei dem abscheulichen Unau 1 ) mit seinen drei Fingern und zwei Vorderbrüsten schon das nähere Analogon unserer Gestalt sichtbar. — Es ist also anatomisch und physiologisch wahr, daß durch ')
Faultier.
H a n s e n , Haeckels Welträtsel.
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die ganze belebte Schöpfung unserer Erde, das Analogon e i n e r O r g a n i s a t i o n herrsche." (2. Buch p. 97.)1) Darwins und Haeckels große Erfolge gründen sich auf das Streben, die gewaltige methodische Materialsammlung der modernen Naturforschung, die das Altertum nie gekannt hat, mit dem antiken Sinn für das Allgemeine zu verknüpfen. Die Zusammenfassung des Wirklichen ist das Ziel und man schmückt das Resultat mit dem schönen Namen „Weltanschauung". Aber wenn so häufig verkündet wird, Darwin und Haeckel hätten uns eine neue Weltanschauung gebracht, so läuft da doch eine nicht geringe Selbsttäuschung mit unter. Die Weltanschauung war vielmehr schon da und die neuen Anschauungen gliederten sich ihr nur an. Worauf beruht es denn, daß gerade die Ungelehrten Darwins und Haekkels Lehren so durchschlagend fanden? Darauf, daß der Boden längst vorbereitet war und Herders Ideen in hundert Bücher übergegangen, von der jetzigen Generation unbewußt und, wie das meiste Erbteil der Voreltern, ohne Dank, mit der ersten geistigen Nahrung aufgenommen wurden. Hier ist Weltanschauung im wahren Sinn des Worts vorhanden. Wo ist das richtige Maß der Leistungsfähigkeit der Naturwissenschaft großartiger zu einem noch heute mustergültigen Ausdruck gekommen und wo ist feiner und zarter die Sehnsucht des Gemüts mit dem Bedürfnis des Verstandes verknüpft worden, als in Herders folgenden Worten: „Ins innere Reich der Kräfte der Natur schauen wir nicht, es ist also so vergebens als unnot, innere wesentliche Aufschlüsse von ihr, über welchen Zustand es auch sei, zu begehren. Aber die W i r k u n g e n und F o r m e n ihrer Kräfte liegen vor uns; sie also können wir vergleichen und etwa aus dem Gange der Natur hienieden aus ihrer gesamten herrschenden Ähnlichkeit H o f f n u n g e n sammeln." 2 ) ') Wenn Herder die Tiere als „ältere Brüder der Menschen" nicht als deren Väter bezeichnet, so steht er damit uns um so näher, denn weder Darwin noch Haeckel betrachten den Orang oder Schimpansen als unsern direkten Vorfahren, sondern nur als älteren Bruder. Auch Darwin hat zunächst den Menschen gar nicht in Frage gezogen, trotzdem er der Begründer der Deszendenzlehre ist. Wie die Tiere mit dem Menschen zusammenhängen, ist eine noch ganz offene Frage. Wir erkennen die Deszendenz überhaupt bestimmter nur in den einzelnen Reihen, während diese unter sich sehr schwierig in verwandtschaftliche Verbindung zu bringen sind. Herder meint damit die Hoffnung auf Unsterblichkeit. Herder behauptet nicht, der Mensch ist unsterblich, sondern „der Mensch ist zur Hoffnung der Unsterblichkeit gebildet". (4. Buch, p. 169.) Ganz unabhängig davon, ob man an Unsterblichkeit glaubt oder nicht (wissen können wir darüber nichts), ist dieser Standpunkt Herders, da er einer psychologischen Tatsache entspricht, bei weitem logischer, als Haeckels auf gar keiner Schlußfolgerung, sondern auf bloQem vagen Glauben beruhende Behauptung, „es gibt keine Unsterblichkeit".
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Aus H e r d e r s f o r s c h e n d e r Naturbetrachtung erhebt sich e b e n s o w e n i g die freche Ableugnung, wie die g e d a n k e n l o s e , eingebildete Gewißheit eines Göttlichen. Als leuchtender, w ä r m e n d e r Strahl erhebt sich bei ihm vielmehr die b e s c h e i d e n e , echt menschliche, dem Göttlichen zug e w e n d e t e Hoffnung, die dem höchstorganisierten Menschen in dem kämpfenden Getriebe seiner „ärmeren Brüder" d a s bringt, w a s j e n e n ewig fehlt, die, wenn auch nur kurze Empfindung von Glück. Wie a u s der Literaturgeschichte geläufig ist, erlitt H e r d e r s W e r k eine ausführliche Kritik durch Kant, welche g e r a d e auch auf die eben angeführten H e r d e r s c h e n Ausführungen eingeht. Ich muß d e s h a l b hier hervorheben, daß mir K a n t s Kritik bekannt ist. Freilich ist diese Kritik nicht im entferntesten s o schlimm, als Herder sie auffaßte. D i e s e Auff a s s u n g ist bei der empfindlichen und schwerversöhnlichen Natur H e r d e r s wohl begreiflich, die M o d e jedoch, H e r d e r s bittere Ansicht sich zu assimilieren und ihn als den völlig G e s c h l a g e n e n a n z u s e h e n und hinzustellen, halte ich nicht für objektiv. Z u n ä c h s t ist K a n t s Kritik alles a n d e r e e h e r , als die Vernichtung eines G e g n e r s . Sie ist ein ausführliches Referat über den Inhalt der „Ideen" mit kritischen B e m e r k u n g e n und schließlicher W a h r u n g d e s eigenen Standpunktes. Kant geht dabei mit aller S e l b s t b e s c h r ä n k u n g vor, indem er z. B. beim 3. Buch, w o der Bau der Pflanzen und Tiere mit der Organisation d e s Menschen verglichen wird, s a g t , er k ö n n e Herder hier nicht folgen, der hier die Spezialarbeiten der Naturbeschreiber benutze, eine Literatur, die Kant nicht beherrschte. Wenn man Kants Kritik liest, s o erscheinen die üblichen Berichte mancher Literarhistoriker über diesen Streit, auch bei d e m Herder-Biographen E. K ü h n e m a n n 1 ) , stark übertrieben, und z w a r wesentlich d e s halb, weil die B e r ü c k s i c h t i g u n g der naturwissenschaftlichen Grundlagen H e r d e r s und ein klarer Einblick in sie fehlen. Durch bloße allgemein begriffliche Umschreibung der S a c h l a g e w e r d e n wichtige P u n k t e zu Ungunsten H e r d e r s verdunkelt. Kühnemann schreibt z.B.: „Es gibt ein Gefühl d e s Staunens, j a fast d e s G r a u e n s , wenn man verfolgt, wie in den beiden R e z e n s i o n e n Immanuel Kants und in den kleinen Aufsätzen, die sich an sie schließen, zuerst die S c h l ä g e fallen an d e m tötlichen Punkt, dann hinter den V o r p o s t e n die Schlachtlinie einer neuen W e l t a n s c h a u u n g sichtbar wird, vor der die H e r d e r s c h e versinken muß. D e n Stimmungsbegriffen e n t g e g e n tritt der klare wissenschaftliche G e d a n k e , der G e d a n k e erhellt sich in d e m Zus a m m e n h a n g e der Ideen, in d e m allein er sich in seiner Tragweite und >) E. Kühnemann, Herders Leben, 1895, p. 262/263.
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Kraft begreift, in dem Zusammenhange äußert sich eine neue Wendung des Denkens, die im reinen wissenschaftlichen Gedanken entwickelte Seeie." Mich hat keinerlei Staunen und Grauen ergriffen, da Kant zusammenfassend von Herder sagt: „Durch diese Erinnerungen soll indessen diesem so gedankenvollen Werke nicht alles Verdienst benommen werden. Ein Vorzügliches darin ist (um hier nicht s o mancher eben so schön gesagten, als edel und wahr gedachten Reflexionen zu gedenken) der Mut, mit welchem sein Verfasser die alle Philosophie so oft verengenden Bedenklichkeiten seines Standes, in Ansehung bloßer Versuche der Vernunft, wieweit sie für sich selbst wohl gelangen könne, zu überwinden gewußt hat, worin wir ihm viele Nachfolger wünschen. Überdem trägt die geheimnisvolle Dunkelheit, in welche die Natur selbst ihre Geschäfte der Organisation und die Klassenverteilung ihrer Geschöpfe einhüllete, einen Teil der Schuld wegen der Dunkelheit und Ungewißheit die diesem ersten Teile einer philosophischen Menschengeschichte anhängen, der dazu angelegt war, um die äußersten Enden derselben, den Punkt, von dem sie anhob und den, da sie sich über die Erdgeschichte hinaus im Unendlichen verliert, womöglich an einander zu knüpfen; welcher Versuch zwar kühn, aber doch dem Forschungstriebe unserer Vernunft natürlich und selbst bei nicht völlig gelingender Ausführung nicht unrühmlich ist." Man konnte nicht treffender den Geist, die Berechtigung und die Ausführung des Werkes, nicht lobender seine Originalität anerkennen, als hier von Kant geschehen. Und wenn Kant in den folgenden zwölf Schlußzeilen rät, Herder m ö g e bei der Fortsetzung des Werkes statt dem Genie und der Einbildungskraft mehr festen Begriffen, Gesetzen und Vernunftkritik Einfluß einräumen, so ist das keine „wahrhaft vernichtende" Kritik, wie Kühnemann meint, sondern eine fördernde. Kant bekämpft ganz allein und mit Recht Herders Analogieschluß, daß, wie überall in der Natur eine Entwickelung zum Vollkommenen zu beobachten sei, diese Entwickelung beim Menschen nicht stehen bleibe, auch dieser müsse sich über sich selbst hinaus zu höherer Stufe, sei e s auch erst in einem künftigen Leben, entwickeln. S o schön dieser von Nietzsche auf dies Erdenleben eingeschränkte Gedanke ist, so unlogisch verfährt Herder, da wie Kant betont, die Entwickelung des Menschen als Individuum bei seinem Tode aufhört und nicht nach Analogie der irdischen Entwickelungstatsachen fortschreiten kann. Herder hat hier eben einen Sprung gemacht und die Entwickelung der Art oder der Reihe einfach auf das Individuum übertragen, welches aber doch gar nicht wie die Art fortlebt. Da es nicht dieselben, sondern v e r s c h i e d e n e
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Lebewesen sind, an welchen die Vervollkommung zeitlich zutage tritt, so könnte man nach Analogie mit Kant höchstens schließen, daß a n d e r s w o , etwa auf einem andern Planeten, die Entwickelung noch über den Menschen hinausginge, nicht aber, daß der individuelle Erdenmensch sich anderswo weiter entwickeln könne. Das ist eine durchaus berechtigte Richtigstellung von Herders begeisterter Schlußweise. Dagegen wäre wohl zu erwägen, ob Kant nicht hinter Herder zurücktritt, wenn er behauptet, die Beziehung auf eine irdische Stufenleiter der Organisation sei aus dem Grunde ein schlechter Vergleichspunkt, weil sie selbst zweifelhaft sei. Wenn man in bloßer Ähnlichkeit der Gattungen einen Zusammenhang erblicke, so sei das trügerisch, denn bei so großer Mannigfaltigkeit der Organismen, müßten die Unterschiede eben so klein werden, daß nur Ähnlichkeiten hervorträten. Die Stufenleiter könne nicht aus einem Vergleich, sondern nur aus V e r w a n d t s c h a f t wirklich hervorgehen, indem die Gattungen auseinander oder nebeneinander aus einer einzigen Muttergattung hervorgingen, aber diese Idee sei so ungeheuer, daß die Vernunft davor zurückbebe und Kant könne umsoweniger Herder solche Ideen beimessen. So scharf hier wieder Kants Ableitungen sind, so sind wir über seine Ansicht von der Ungeheuerlichkeit der Verwandtschaftsvorstellung bei den Lebewesen heute längst hinaus. Daß Herder dagegen von einer solchen Verwandtschaft schon überzeugt gewesen ist und somit mehr als Kant als Vorläufer der Deszendenzlehre gelten muß, geht aus zahlreichen Anführungen in Herders „Ideen" hervor. 1 ) Um s o weniger kann deshalb in diesen Gegenmeinungen Kants eine „völlige Vernichtung" Herders erblickt werden. Überall ergibt Kants interessante Kritik, daß er Herder nur zu seinem kritischen ') Z. B. p. 59. „Mancherlei Verbindungen des Wassers, der Luft, des Lichtes mußten vorhergegangen sein, ehe der Same der ersten Pflanzenorganisation, etwa das Moos, hervorgehen konnte. Viele Pflanzen mußten hervorgegangen und gestorben sein, ehe eine Tierorganisation ward; auch bei dieser gingen Insekten, Vögel, Wasser- und Nachttiere den gebildeten Tieren der Erde und des Tages vor, bis endlich nach allen als Krone der Organisation unserer Erde der Mensch auftrat, Mikrokosmus." Und dieses letzte Glied ging nach Herder nach vielen Entwickelungen und Revolutionen hervor. Diese Sätze können nur im Sinne einer Entwickelungsansicht, nicht von lauter einzelnen Schöpfungen angesehen werden. Damit ließe sich auch Herders Ausdruck „Reihe der Entwickelungen" ebensowenig zusammenreimen, wie seine Ansicht, daß nach der ersten Entstehung der Lebeformen keine neuen Oestalten mehr entstanden, sondern alles nur Umwandlung war. „Als die Tore der Schöpfung geschlossen wurden, standen die einmal erwählten Organisationen als bestimmte Wege und Pforten da, auf denen sich künftig in den Grenzen der Natur die niederen Kräfte aufschwingen und weiterbilden sollten. Neue Gestalten erzeugten sich nicht mehr; es wandeln und verwandeln sich aber durch dieselben untere Kräfte."
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Standpunkte hinleiten wollte. Kants Berichtigungen waren hier um so berechtigter, als Herder nicht nur einen eigenen W e g verfolgte, sondern dabei auch andere Grundsätze geistreich anfocht. Z. B., wenn er behauptete, e s könne nur der einzelne Mensch, nicht die Gattung erzogen werden, denn Gattung sei nur ein Begriff. Aber Kant entgegnet, es komme gerade darauf genau an, w a s man mit Gattung meine. Die Gattung sei sowohl das Wort für das gleiche Merkmal bei ihren zugehörigen Individuen, es könne Gattung aber auch die zusammenhängende, zeugungsfähige Reihe (mit natürlich veränderlichen Eigenschaften) bedeuten, und in diesem Sinne könne auch die Gattung sich nach einer Richtung entwickeln. Wenn Kant hinzufügt: „Doch diese Irrung in der angeführten polemischen Stelle ist nur eine Kleinigkeit", so kann ich trotz aller kritischen Schärfe Kants nirgends ein „Staunen und Grauen" über Herder empfinden. Es werden hier zwei Standpunkte vertreten, nicht damit ein Sieger übrigbleibe, sondern damit die Nachwelt Wegweiser für das richtige Endziel in dieser Frage finde. Und nun noch ein Wort zur Diskussion über das Reich der Kräfte, welches schon oben mit Herders Worten bezeichnet wurde. Kant hat sich gegen diese Annahme, wenn auch nur kurz, ausgesprochen, indem er einwendet, die Hypothese sei überflüssig, da man aus den Kräften die Erscheinungen nicht besser begreife und daher zweckmäßiger die Gesetze der letzten feststelle. Auch diese Ansicht macht Kühnemann ohne weiteres zu der seinigen mit folgenden Worten: „Nun aber schlagen die Einwürfe schon tiefer in den Kern. Die Annahme eines unsichtbaren Reichs wirksamer und selbständiger Kräfte wird als Hypothese dogmatischer Metaphysik entlarvt. Was hieß das? Es hieß, daß der erste und durchgehende Gedanke Herders der wissenschaftlichen Berechtigung entbehrte. Es gibt keinen Grund zu sprechen von unsichtbaren Kräften, die in den Bildungen der Welt sich offenbaren. Es gibt vollends keinen Grund, von der Einheit der organischen Kraft zu reden. Es gibt folglich hier keinen Schluß auf den Einen Gott, der in aller Welt zu finden sei. Die ganze Einheit der Natur, wie Herder sie g e stiftet, existiert also nur in der nebligen willkürlichen Hypothese." Im besten Falle kann man diese Ansicht Kühnemanns als antimetaphysisches Dogma bezeichnen. Die Tatsachen aber haben Herder und seinen Ausführungen recht gegeben. Die Tatsachen treiben uns dazu hin, immerfort von einem Reich unsichtbarer Kräfte zu sprechen. Die ganze Energetik behandelt nur die Kräfte, ohne die Materie zu berücksichtigen. Mag die ganze Energetik einmal wieder verschwinden, die heutige Naturforschung kann sie nicht entbehren, um vorwärtszukommen. Die Tatsache der Umwandlung der Energieformen ineinander, m a g
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dieser Ausdruck auch noch s o unvollkommen für die Vorstellung sein, deutet jedenfalls mehr auf eine Einheit in der Natur, als auf das Gegenteil. Kühnemann hat das alles nicht berücksichtigt. Kants Rat, man solle das, was man nicht begreift, nicht aus dem erklären wollen, was man noch weniger begreift, erscheint, nach neuen, ihm noch unbekannten Tatsachen, als bloße Dialektik. Wir wollen nur an die elektrischen Erscheinungen, an Röntgenstrahlen und andere Strahlengattungen erinnern, wo die Beobachtung so energisch zur Idee hindrängt, daß auch Kant, um nicht bloß staunend vor der Erscheinung zu stehen, wahrscheinlich hier nicht mehr „den abgedrungenen Entschluß, Aufschluß im fruchtbaren Felde der Dichtungskraft" zu suchen, allzusehr beanstandet haben würde. Wenn wir ganz im Gegenteil bei Herder die Vorahnungen unserer wissenschaftlichen Vorstellungen in auffallend moderner Ausdrucksweise finden, s o muß dabei hervorgehoben werden, daß das kein Zufall ist, daß es sich nicht um bloße Träume und Einfälle handelt, die zufällig auch einmal eintreffen können. Die Übereinstimmung erklärt sichjvielmehr vollständig aus den gleichen Grundlagen, denn Herder fußte auf einer reichen naturwissenschaftlichen Literatur, auf dem eingehenden Studium von C. Fr. Wolff und anderen Forschern, die als Säulen moderner Wissenschaft hochragen. S o haben Herders Verkündigungen ihren tiefen Grund. Niemand wird wohl auf den Gedanken kommen, Robert Mayer die Priorität durch Herder streitig zu machen. Aber mit Interesse wird jedermann lesen, wie Herder schon den Gedanken an eine Erhaltung der Kraft und des Stoffes zum Ausdruck bringt. „Keine Kraft kann untergehen; denn was hieße es, eine Kraft gehe unter! Wir haben in der Natur davon kein Beispiel, ja in unserer Seele nicht einmal einen Begriff. Ist e s ein Widerspruch, das etwas nichts sei oder werde, s o ist es noch mehr Widerspruch, daß ein lebendiges, wirkendes Etwas, in dem der Schöpfer selbst gegenwärtig ist, in dem sich seine Gotteskraft einwohnend offenbart, sich in ein Nichts verkehre. Das Werkzeug kann durch äußerliche Umstände zerrüttet werden; s o wenig aber auch in diesem sich nur ein Atom vernichtet oder verliert, um s o weniger die unsichtbare Kraft, die auch in diesem Atom wirkt." (5. Buch I p. 173.) „Die Blume, die ausgeblüht hat, zerfällt, d. i. dies Werkzeug ist nicht weiter geschickt, daß die vegetierende Kraft in ihm fortwirke. Der Baum, der sich satt an Früchten getragen, stirbt; die Maschine ist hinfällig worden und das Zusammengesetzte geht auseinander. Hieraus folgt aber im mindesten nicht, daß die Kraft, die diese Teile belebte, die vegetieren und sich s o mächtig fortpflanzen konnte, mit dieser D e -
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komposition gestorben sei — sie, die über tausend Kräfte, die sie anzog, in dieser Organisation herrschte. Jedem Atom der zerlegten Maschine bleibt ja seine untere Kraft; wieviel mehr muß sie der mächtigeren bleiben, die in dieser Formung jene alle zu e i n e m Zweck regierte und in ihren engen Grenzen mit allmächtigen Natureigenschaften wirkte. Der Faden der Gedanken zerreißt, wenn man es sich als natürlich denkt, daß dies Geschöpf jetzt in jedem seiner Glieder die mächtige, sich selbst erstattende, reizbare Selbständigkeit haben soll, wie sie sich uns vor Augen äußert, daß aber den Augenblick darauf alle diese Kräfte, die lebendigen Erweise einer innewohnenden organischen Allmacht aus dem Zusammenhange der Wesen, aus dem Reich der Realität s o hinweg sein sollen, als wären sie nie darinnen gewesen" (p. 174). Wenn Herder fortfährt: „Und bei der reinsten und tätigsten Kraft, die wir auf Erden kennen, sollte dieser Gedankenwiderspruch stattfinden, bei der menschlichen Seele?" — s o macht er eben den logischen Sprung falscher Analogie, den Kant tadelt. 1 ) Aber das hindert nicht, in Herders Naturphilosophie wenn auch nicht genau die heutigen Vorstellungen, doch Äußerungen zu erblicken, die den Boden vorbereiteten, in dem sie, sich von Generation zu Generation forterbend, endlich mit dem Neuen natürlich zusammenflössen. Wieviel näher steht uns Herders grandiose Naturphilosophie, als die Begriffsspielereien der Schellingschen Nachfolger. Naturphilosophie war freilich nicht sein Ziel, denn er war Theologe, aber sein Einfluß ging darum auch viel weiter. Herders „Ideen" waren nicht für Gelehrte, sondern für das deutsche Volk geschrieben. Auch Haeckels „Welträtsel" wollen sich an das Volk wenden, ob sie da aber nicht mehr Verwirrung als Klarheit schaffen, möchte man wohl nicht mit Unrecht fragen. Es wird schwer, diese Enzyklopädie, dieses seltsam skizzenhafte Gemenge von historischem und naturgeschichtlichem Wissen mit abgekürzter Philosophie, diesen bloßen Katalog der Probleme, als „Weltanschauung" anzuerkennen. Als eine n e u e Weltanschauung kann sie sicher nicht gelten. Die Grundpfeiler des neuen „Monismus" von der Säugetiernatur des Menschen und der Einheit der Natur bis zur „monistischen Religion, die sich auf Wissenschaft, Erfahrung und vernünftigen Glauben gründen soll,"5) finden wir bei Herder so ausführlich aufgebaut, daß man Haeckel den Vorwurf nicht ersparen kann, daß er bei seinem Bemühen, Goethe mit Lamarck und Darwin als die Mitbegründer seiner eigenen Weltanschauung zu') Oerade solche Fehler begingen auch auf anderen Gebieten hervorragende moderne Qeister, z. B. Darwin, als er die „natürliche Zuchtwahl" auf die künstliche begründen wollte. ') Welträtsel p. 165.
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sammenzufassen, den viel gewichtigeren Herder mit Unrecht vollständig übersehen hat. Bei seiner Bearbeitung hat Haeckel die Herderschen Ideen ihrer Schönheit ganz entkleidet. Wer an der Quelle schöpft, wird erquickter davon gehen, als von dem Rätselbuche. Haeckel bezeichnet die Gesamtheit empirischen Materials und naturwissenschaftlicher Theorien und Hypothesen in ihrer Benutzung als Kampfmittel in philosophischen Fragen, als seine neue „monistische Philosophie", während man das höchstens als einen Versuch bezeichnen dürfte, zu einer Philosophie erst zu gelangen. Kant hat zweifellos recht, wenn er sagt: „es gibt historisch und sachlich nur einen Weg, eine Wissenschaft zustande zu bringen, d. i. Objekte zu nehmen und darüber richtig nachzudenken". Dann können aber die Naturwissenschaften, als Wissenschaften von ganz speziellen Objekten nicht allein berufen sein, über die allgemeinsten Fragen zu entscheiden. Wenn Haeckel das Supremat der naturwissenschaftlichen Methode in der Handhabung des Experiments sieht, so können wir uns allerdings mit diesem Hilfsmittel, zu neuen Erfahrungen zu gelangen, glücklich schätzen. Man kann aber doch nicht behaupten, daß dort, wo diese naturwissenschaftliche Methode unmöglich ist, nicht auch Erkenntnisse auf anderem Wege möglich seien. Man kann Haeckel in seinen „Welträtseln" höchstens das Verdienst der Sammlung der naturwissenschaftlichen Grundlagen der Philosophie zuerkennen, dagegen nicht die Schaffung eines neuen Gedankens. Und wenn er solange verbieten will, über Dinge nachzudenken, bis sie experimentell greifbar sind, dann ist er ein schlimmerer Reaktionär, als die Kirche, die er für allen Unsinn verantwortlich macht. Haeckel müßte dann vor allem auf seinem eigensten Gebiet schweigen, denn niemand hat eine Zelle experimentell hergestellt, und was wir über ihre Qualitäten wissen, sind außer dem Empirischen, vielfach nur unbewiesene Gedanken. Haeckels Programm der Wissenschaft bedeutet also einen Rückschritt. S o wenig die Philosophie von den Eleaten und Atomistikern bis Spinoza und endlich bis Schopenhauer es fertig gebracht haben, eine Naturwissenschaft zu schaffen, s o wenig dürfte es uns Naturforschern gelingen, eine Philosophie zustande zu bringen, daß wäre sonst wahrscheinlich schon von Galiläi oder Huygens geschehen. Die Naturforschung ist immerfort viel zu sehr kritisch beschäftigt und festgehalten, um zur Sammlung für eine einheitliche Philosophie gelangen zu können. Viel eher darf man hoffen, daß die Philosophen von Fach die richtigen Tatsachen aus der Naturwissenschaft entnehmen, um sie selbst kritisch zu benutzen. Als seinen Haupterfolg betrachtet Haeckel die Beseitigung der drei großen Zentraldogmen der Metaphysik, F r e i h e i t , G o t t , U n s t e r b l i c h -
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keit, durch die naturwissenschaftliche Erkenntnis. 1 ) Er behauptet aber damit nichts weniger, als das Unmögliche geleistet zu haben. Die Naturforschung kann Fragen nur durch Beobachtung und Experiment entscheiden. Weder durch Beobachtung noch durch Experiment läßt sich feststellen, ob diesen drei Begriffen Wirklichkeit zugrunde liegt. Wenn Haeckel behauptet, es gäbe solche drei Wirklichkeiten nicht, so ist das ein neuer naturwissenschaftlicher Papismus, der uns so gut das Denken verbietet, wie der ultramontane. Der P a p s t befiehlt seinen Anhängern, bestimmte Begriffe zu bilden, Haeckel dagegen verbietet es uns, denn ein Beweis ihrer Unzulässigkeit ist von ihm nicht erbracht. Oder hält Haeckel diese Begriffe nur für nutzlos? D a s wäre dann keine Philosophie, sondern nur eine Privatmeinung. Mit diesem Prinzip würden alle Wissenschaften in Streit geraten, denn die Begriffe der einen sind für die andern oft ganz nutzlos. Was gehen einen Zoologen Elektronen, was geht ihn der Äther an. Ostwald schreibt eine Energetik. Hertz sagt, Energie sei für ihn ein überflüssiger Begriff. Wenn jeder Naturforscher behaupten dürfte, was sich mit seiner Methode nicht feststellen ließe, existiere nicht, dann müßte alles den Mathematikern weichen, wenn diese behaupten wollen, es gäbe in der Natur nur Mathematik, aber weder Farben, noch Töne, noch Bewegung. Es ist sonderbar, daß Haeckel gar nicht auf den Gedanken kommt, daß ihn die Begriffe Freiheit, Gott, Unsterblichkeit als Naturforscher gar nichts angehen, da sie für die gesamte Naturwissenschaft niemals Hilfsmittel irgend einer Erkenntnis sind und sein können. In der Natur gibt e s freilich keine Freiheit, sondern nur die Notwendigkeit, die wir Kausalität nennen. Aber darum leugnen zu wollen, daß der Begriff der Freiheit überhaupt nicht berechtigt sei, ist so, als wenn ein Fisch behaupten wollte, kein Tier könnte laufen. Haeckel, der als Prophet auftritt, um die Welt aufzuklären, wird durch seinen monistischen Papismus zum größten Terroristen des Denkens. Konsequenterweise muß er jede dualistische Begriffsbildung verbieten. Kein Arzt darf von Krankheit sprechen. Krankheit gibt es in Wirklichkeit nicht, sondern nur die Einheit physiologischen Geschehens im Körper. Daß wir bei allem Denken über die Wirklichkeit, ihre Einheit zerlegen m ü s s e n , um zu einem bebestimmten Ziel zu kommen, das soll mit dem Monismus aufhören. Dann kann aber überhaupt der Vorhang fallen. Die Wissenschaft ist tot. Wenn Haeckel Kants praktische Postúlate der Vernunft verwirft, welche das Leben mit gestalten sollen, dann muß er auch die prak') p. 41 der „Welträtsel" heißen diese Begriffe bloß die drei OroQmächte des Mysticismus.
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itschen Postulate der Naturforschung, Atom, Energie, Äther usw., verwerfen, aber er wird damit die Wissenschaft ebenso lahm legen, wie das Leben mit seiner Philosophie der Negation. Die Atome lassen sich weder theoretisch noch anschaulich erkennen, sondern bloß in den Anwendungen der Chemie. Es sind „praktische Postulate". Was nun den „Monismus" im Zusammenhange anbetrifft, so braucht man nur Herders „Ideen" aufzuschlagen um zu erfahren, daß man schon lange vor dem Erscheinen monistischer Bücher wahre Bildung und richtige Grundlagen für das Urteil erlangen konnte. W o man bei Herder hinblickt, findet man den Monismus in reinster Form, gegründet auf Naturerkenntnis und vernünftiges Denken, wie Haeckel das fordert. Herder steht ganz auf dem Standpunkt Casp. Friedr. Wolfis und ist mit ihm ein Bekämpfer der Praeformationsansichten. Uberall finden wir den Monismus, wie ihn Haeckel anstrebt, schon errichtet: In der anorganischen Natur wie oben belegt, Einheit von Stoff und Kraft. In der Welt der Organismen Einheit des Baues („Ideen" p. 102), Einheit der Kräfte (105), Einheit der Wirkung (107), Einheit auch in der psychischen Sphäre. In der Psychologie ist Herder in seiner wissenschaftlichen Auffassung Haeckel lange und weit vorausgegangen. Man braucht nur im dritten Buche der Ideen das interessante Kapitel von den Trieben der Tiere zu lesen, um zu erkennen, daß Haeckels monistische Ansichten über die Ähnlichkeit des Seelenlebens von Tier und Mensch, Herdern ganz genau so klar waren. Der Zusammenhang der Seelenäußerungen mit der Organisation ist keine Entdeckung der „monistischen Philosophie". Herder sagt schon über die Tierseele und den Tierinstinkt auf Grund der Physiologie und Erfahrung: „Jene nämlich ist die Summe und das Resultat aller in einer Organisation wirkenden Kräfte. Dieser ist die Richtung, die die Natur jenen sämtlichen Kräften dadurch gab, daß sie sie in eine solche und keine andere Temperatur stellte, daß sie sie zu diesem und keinem andern Bau organisierte" (116). Ich setze das ganze Kapitel „von den Trieben der Tiere" hierher, weil es wie kein anderes geeignet ist, zu beweisen, wie weit Herder in der selbständigen Verarbeitung der naturwissenschaftlichen Resultate nicht bloß seiner Zeit, sondern s o g a r Haeckel voraus ist, denn es wird niemand nach einem Vergleich anstehen, anzuerkennen, daß alles, w a s Haeckel in seinen Welträtseln im 6. Kap. über T i e r p s y c h o l o g i e vorträgt, zu der Feinheit und Richtigkeit Herderscher Auffassung sich verhält, wie ein Schulaufsatz zum reifen Vortrage des Philosophen.
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Von den Trieben der Tiere. ( H e r d e r s I d e e n , 3. Buch, IV.) Wir haben über die Triebe der Tiere ein vortreffliches Buch des seligen R e i m a r u s , 1 ) das, sowie sein andres über die natürliche Religion, ein bleibendes Denkmal seines forschenden G e i s t e s und seiner gründlichen Wahrheitsliebe sein wird. Nach gelehrten und ordnungsvollen Betrachtungen über die mancherlei Arten der tierischen Triebe sucht er dieselben aus Vorzügen ihres Mechanismus, ihrer Sinne und ihrer inneren Empfindung zu erklären, glaubt aber noch, insonderheit bei den Kunsttrieben, besondere d e t e r m i n i e r t e N a t u r k r ä f t e und n a t ü r l i c h a n g e b o r n e F e r t i g k e i t e n annehmen zu müssen, die weiter keine Erklärung leiden. I c h g l a u b e d a s L e t z t e n i c h t , denn die Zusammensetzung der ganzen Maschine mit solchen und keinen anderen Kräften, Sinnen, Vorstellungen und Empfindungen, kurz d i e O r g a n i s a tion d e s G e s c h ö p f s s e l b s t w a r die g e w i s s e s t e R i c h t u n g , die v o l l k o m m e n s t e D e t e r m i n a t i o n , die die Natur ihrem W e r k eindrücken konnte. Als der S c h ö p f e r 2 ) die Pflanze baute und dieselbe mit solchen Teilen, mit solchen Anziehungs- und Verwandlungskräften des Lichts, der Luft und andrer feinen W e s e n , die sich aus Luft und W a s s e r zu ihr drängen, begabte, da er sie endlich in ihr Element pflanzte, wo j e d e r Teil die ihm wesentlichen Kräfte natürlich äußert, s o hatte er, dünkt mich, keinen neuen und blinden Trieb zur Vegetation dem G e s c h ö p f anzuschaffen nötig. J e d e r Teil mit seiner lebendigen Kraft tut das Seine, und wird bei der ganzen Erscheinung das Resultat von Kräften sichtbar, das sich in solcher und keiner andern Zusammensetzung offenbaren konnte. Wirkende Kräfte der Natur sind alle, j e d e in ihrer Art, lebendig; in ihrem Innern muß ein Etwas sein, daß ihren Wirkungen von außen entspricht, wie e s auch Leibniz annahm, und uns die ganze Analogie zu lehren scheint. Daß wir für diesen innern Zustand der ' ) „H. S . Reimarus, „Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der T i e r e " , Hamburg 1773.
Desgleichen, „Angefangene Betrachtungen über die besonderen Arten der
tierischen Kunsttriebe" (der zweite Teil der genannten Schrift), denen auch J . A. H. Reimarus' reiche und schöne Abhandlung über die Natur der Pflanzentiere beigefügt ist." ' ) Um einer oberflächlichen Kritik die Spitze abzubrechen, betone ich, was j e d e r denkende Leser übrigens sofort erkennt, daO die Setzung eines Schöpfers als Ursache allen Anfangs des Vorhandenen hier ganz gleichgültig ist und auf die
wissenschaft-
l i c h e Auffassung Herders nicht den geringsten Einfluß ausübt, so daß man, wenn man will, diesen Begriff
der Endursache
aus
dem
Satze
eliminieren
kann.
Ein
echter
Häckelianer würde natürlich j e d e Diskussion mit Herder schon auf Orund der bloßen stilistischen Einführung des Schöpfers entrüstet ablehnen.
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Pflanze oder der noch unter ihr wirkenden Kräfte keinen Namen haben, ist ein Mangel unserer Sprache; denn E m p f i n d u n g wird allerdings nur von dem inneren Zustande gebraucht, den uns das Nervensystem gewährt. Ein dunkles Analogon indessen mag da sein, und wenn es nicht da wäre, so würde uns ein neuer Trieb, eine dem Ganzen zugegebene Kraft der Vegetation nichts lehren. 1 ) Zwei Triebe der Natur werden also schon bei der Pflanze sichtbar, der Trieb der Nahrung und Fortpflanzung; und das Resultat derselben sind Kunstwerke, an welche schwerlich das Geschäft irgend eines lebendigen Kunstinsekts reicht: es ist der Keim und die Blume. 2 ) Sobald die Natur die Pflanze oder den Stein ins Tierreich überführt, zeigt sie uns deutlicher, was es mit den Trieben organischer Kräfte sei. Der Polyp scheint wie die Pflanze zu blühen und ist Tier; er sucht und genießt seine Speise tierartig; er treibt Schößlinge und es sind lebendige Tiere; er erstattet sich, 3 ) w o er sich erstatten kann — das größte Kunstwerk, das je ein Geschöpf vollführte. Geht etwas über die Künstlichkeit eines Schneckenhauses? Die Zelle der Biene muß ihm nachstehen; das Gespinst der Raupe und des Seidenwurmes muß der künstlichen Blume weichen. Und wodurch arbeitete die Natur jenes aus? Durch innere organische Kräfte, die noch wenig in Glieder geteilt, in einem Klumpen lagen, und deren Windungen meistens dem Gange der Sonne gemäß dies regelmäßige Gebilde formten. 4 ) Teile von innen heraus gaben die Grundlage her, wie die Spinne den Faden aus ihrem Unterteile zieht, und die Luft mußte nur härtere und gröbere Teile hinzubilden. Mich dünkt, diese Übergänge lehren uns g e n u g s a m , worauf alle, auch die Kunsttriebe des künstlichsten Tieres beruhen. Nämlich auf organischen Kräften, die in dieser und keiner andern Masse, nach solchen und keinen andern Gliedern wirken. Ob mit mehr oder weniger Empfindung, kommt auf die Nerven des Geschöpfs an, es gibt aber außer diesen noch r e g s a m e Muskelkräfte und Fibern voll wachsenden und sich wiederherstellenden Pflanzenlebens, welche zwei von den Nerven *) Mit glücklicherer Logik und kritischerer Vorsicht kann man die heute ganz moderne Frage nach dem „Sinnesleben der Pflanze" gar nicht behandeln, und dieser Satz könnte in jedem Handbuch der Pflanzenphysiologie Platz finden. *) Es ist eine der scharfsinnigsten Bemerkungen, daß die übertriebene Bewunderung der Kunstleistungen der Tiere von der gerade hier besonders hervortretenden rein monistischen Auffassung Herders ablenke, denn in der Tat ist gegen ein pflanzliches Zellgewebe, eine Bienenwabe nur ein rohes Bauwerk. *) sich erstatten -- sich bei Verletzungen ergänzen. Herders Anschauungen sollten Haeckel, der solche „Kunstformen der Natur" selbst herausgegeben, ganz und gar genügen. *) Die meisten Schneckenhäuser sind rechtsgewunden, also in der Richtung der scheinbaren Sonnenbewegung.
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unabhängige Gattungen der Kräfte dem Geschöpf genugsam ersetzen, was ihm an Gehirn und Nerven abgeht. Und so führt uns die Natur selbst auf die Kunsttriebe, die man vorzüglich einigen Insekten zu geben gewohnt ist; aus keiner andern Ursache, als weil uns ihr Kunstwerk enger ins Auge fällt, und wir dasselbe schon mit unsern Werken vergleichen. Je mehr die Werkzeuge in einem Geschöpf zerlegt sind, je lebendiger und feiner seine Reize werden, desto weniger kann es uns fremd dünken, Wirkungen wahrzunehmen, zu denen Tiere von gröberm Bau und von einer stumpfern Reizbarkeit einzelner Teile nicht mehr tüchtig sind, s o viel andere Vorzüge sie übrigens haben mögen. Eben die Kleinheit des Geschöpfs und seine Feinheit wirkte zur Kunst, da diese nichts anderes sein kann, als das Resultat aller seiner Empfindungen, Tätigkeiten und Reize. Beispiele werden auch hier das Beste sagen, und der treue Fleiß eines Swammerdam, Reaumur, Lyonet, Rösel u. a. haben uns die Beispiele aufs schönste vors Auge gemalt. Das Einspinnen der Raupe, was ist's anderes, als was so viel andere Geschöpfe unkünstlicher tun, indem sie sich häuten? Die Schlange wirft die Haut ab, der Vogel seine Federn, viele Landtiere ändern ihre Haare; sie verjüngen sich damit und erstatten ihre Kräfte. Die Raupe verjüngt sich auch, nur auf eine härtere, feinere, künstlichere Weise; sie streift ihre Dornhülle ab, daß einige ihrer Füße daran hangen bleiben, und tritt durch langsame und schnellere Obergänge in einen ganz neuen Zustand. Kräfte hierzu verlieh ihr ihr erstes Lebensalter, da sie als Raupe nur der Nahrung diente; jetzt soll sie auch der Erhaltung ihres Geschlechts dienen und zur Gestalt hiezu arbeiten ihre Ringe und gebären sich ihre Glieder. Die Natur hat also bei der Organisation dieses Geschöpfs Lebensalter und Triebe nur weiter auseinander gelegt und läßt sich dieselben in eignen Übergängen organisch bereiten — dem Geschöpf s o unwillkürlich als der Schlange, wenn sie sich häutet. Das Gewebe der Spinne, was ist's anderes, als der Spinne v e r l ä n g e r t e s S e l b s t , ihren Raub zu erhalten? Wie der Polyp seine Arme ausstreckt, ihn zu fassen, wie sie die Krallen bekam, ihn festzuhalten, s o erhielt sie auch die Warzen, zwischen welchen sie das Gespinst herauszieht, den Raub zu erjagen. Sie bekam diesen Saft ungefähr zu s o vielen Gespinsten, als auf ihr Leben hinreichen, und ist sie darin unglücklich, s o muß sie entweder zu gewaltsamen Mitteln Zuflucht nehmen oder sterben. Der ihren ganzen Körper und alle demselben einwohnenden Kräfte organisierte, bildete sie also zu diesem Gewebe o r g a n i s c h . 30
Die Republik der Bienen sagt nichts anderes. Die verschiedenen Gattungen derselben sind jede zu ihrem Zweck gebildet, und sie sind in Gemeinschaft, weil keine Gattung ohne die andere leben könnte. Die Arbeitsbienen sind zum Honigsammeln und zum Bau der Zellen organisiert. Sie sammeln jenen, wie jedes Tier seine Speise sucht, ja, wenn es seine Lebensart, fordert, sie sich zum Vorrat zusammenträgt und ordnet. Sie bauen die Zellen, wie s o viel andere Tiere sich ihre Wohnungen bauen, j e d e s auf seine Weise. Sie nähren, da sie geschlechtslos sind, die Jungen des Bienenstocks, wie andre ihre eigenen Jungen nähren, und töten die Drohnen, wie jedes Tier ein andres tötet, das ihm seinen Vorrat raubt und seinem Hause zur Last fällt. Wie dies alles nicht ohne Sinn und Gefühl geschehen kann, s o ist es indessen doch nur Bienensinn, Bienengefühl — weder der bloße Mechanismus, den Buffon, noch die entwickelte mathematisch-politische Vernunft, die andere ihnen angedichtet haben. Ihre Seele ist in diese Organisation eingeschlossen und mit ihr innig verwebt. Sie wirkt also derselben gemäß: künstlich und fein, aber enge und in einem sehr kleinen Kreise. Der Bienenstock ist ihre Welt, und das Geschäft derselben hat der Schöpfer noch durch dreifache Organisation dreifach verteilt. Auch durch das Wort F e r t i g k e i t müssen wir uns also nicht irre machen lassen, wenn wir diese organische Kunst bei manchen Geschöpfen sogleich nach der Geburt bemerken. Unsere Fertigkeit entsteht aus Übungen, die ihrige nicht. Ist ihre Organisation ausgebildet, so sind auch die Kräfte derselben im vollen Spiel. Wer hat die größeste Fertigkeit auf der Welt? Der fallende Stein, die blühende Blume: er fällt, sie blüht i h r e r N a t u r n a c h . Der Kristall schießt fertiger und regelmäßiger zusammen, als die Biene baut und die Spinne webt. In jenem ist es nur noch organischer blinder Trieb, der nie fehlen kann; in diesen ist er schon zum Gebrauche mehrerer Werkzeuge und Glieder hinauf organisiert und diese können fehlen. D a s gesunde, mächtige, Zusammenstimmen derselben zu e i n e m Zweck, macht F e r t i g k e i t , sobald das ausgebildete Geschöpf da ist. Wir sehen also auch, warum, je höher die Geschöpfe steigen, der unaufhaltbare Trieb so wie die irrtumfreie Fertigkeit abnehmen. Je mehr nämlich das e i n e organische Prinzipium der Natur, daß wir jetzt b i l d e n d , jetzt t r e i b e n d , jetzt e m p f i n d e n d , jetzt k ü n s t l i c h b a u e n d nennen, und im Grunde nur eine und dieselbe organische Kraft ist, je mehr e s in jedem derselben eine eigene Welt hat, also auch eigenen Hindernissen und Irrungen ausgesetzt ist, desto schwächer wird der Trieb, desto mehr kommt er unter Befehl der Willkür, mithin auch des Irrtums. Die verschiedenen Empfindungen wollen gegeneinander gewogen 31
und dann erst miteinander vereinigt sein; lebe wohl also, hinreißender Instinkt, unfehlbarer Führer! Der dunkle Reiz, der in einem gewissen Kreise, abgeschlossen von allem andern, eine Art Allwissenheit und Allmacht in sich schloß, ist jetzt in Äste und Zweige gesondert. Das des Lernens fähige Geschöpf muß lernen, weil es weniger von Natur weiß; es muß sich üben, weil es weniger von Natur kann, es hat aber auch durch seine Fortrückung, durch die Verfeinerung und Verteilung seiner Kräfte neue Mittel der Wirksamkeit, mehrere und feinere Werkzeuge erhalten, die Empfindungen gegeneinander zu bestimmen und die besseren zu wählen. Was ihm an Intensität der Triebe abgeht, hat es durch Ausbreitung und feinere Zusammenstimmung ersetzt bekommen, es ist eines feineren Selbstgenusses, eines freiem und vielfachern Gebrauchs seiner Kräfte und Glieder fähig worden, und alles dies, weil, wenn ich so sagen darf, seine organische Seele in ihren Werkzeugen vielfacher und feiner auseinander gelegt ist.
Soweit Herder. Es bedarf keiner Entschuldigung, daß ich ein ganzes Kapitel aus Herder abdrucke, statt wie üblich, das ganze Werk unten bloß zu zitieren. Der Häckelismus ist ein kriegserfahrener und zäher Gegner, dem ein Zitat die Haut nicht ritzt. Die „Welträtsel" liegen auf jedem Tische mit dem Anspruch ein n e u e s Evangelium zu predigen, und nur wenige Leser erinnern sich dabei ihrer a l t e n Bücher und holen sie herbei, um nachzusehen, ob sie denn s o ganz entbehrlich geworden und veraltet sind. Wenn Haeckel im 7. Kapitel der Welträtsel mit großem P o m p e verkündet, „die großartigen Fortschritte, welche die Psychologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Hilfe der Entwickelungslehre gemacht hat, gipfeln in der Anerkennung d e r p s y c h o l o g i s c h e n E i n h e i t d e r o r g a n i s c h e n W e l t " , s o hätte er hinzufügen müssen, daß n u r die A n e r k e n n u n g das Neue in diesem Fortschritt bedeute, daß die Gedanken selbst aber dem 19. Jahrhundert schon längst voraufgegangen waren und daß Herder das Hauptverdienst der Zusammenfassung und Klärung dieser Gedanken zukommt. D a s oben gegebene Kapitel ist nichts weiter als eine monistische Schilderung der stufenweisen Erhebung der Reizerscheinungen zu Bewußtseinsvorgängen und Überlegung, eine Schilderung, die in der Form Haeckels Referatenstil bei weitem übertrifft. Wenn Haeckel den Leser überzeugen möchte, die größte Mehrzahl der „sogenannten Psychologen" hätte darum nur widersprechende und unhaltbare Vorstellungen über die Psyche, weil sie von den anatomischen Grundlagen des Gehirns keine Vorstellung
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hätten, s o kann man dagegen mit Herder immer noch Albrecht von Haller zitieren, der schon darauf hingewiesen hat, wie wenig sich das unteilbare Werk der Ideenbildung in einzelnen materiellen Teilen des Gehirns materiell und zerstreut aufsuchen lasse. 1 ) Die vorläufige von Haeckel angenommene materielle Basis aller psychischen Tätigkeit, das „Psychoplasma", mit dem der Autor in gewohnter Weise wie mit Wirklichkeiten operiert und von dem er sogar chemische Qualitäten angibt! 2 ), ist bis dahin nur ein Hirngespinst, nicht einmal von besonderer Feinheit. Herders psychologischer Monismus ist, was zu betonen sein dürfte, sehr verschieden von dem modernen teleologischen Spiritualismus mit seinen Übergängen zum Vitalismus, der weiter nichts ist, als ein Gegenbild des gröbern Materialismus. Hier sollte das geistige aus materiellen Prozessen entstehen, jetzt soll die Materie durch ein intelligentes Prinzip oder psychische Ausstrahlungen zur Form gebracht werden. Die Annahme, daß bei Lebewesen die Mittel zum Zweck durch psychische Anstöße in Bewegung gesetzt würden, ist ein bloßer Analogieschluß aus menschlichem Handeln. Die Obereinstimmung, worauf er beruht, ist ganz allein die Zweckmäßigkeit in beiden Fällen. Diese sollte aber erst bei Tieren und Pflanzen bewiesen werden. Daher kommt diese ganze teleologische Auffassung über einen systematischen Wert, den sie besitzt, ebenso wenig hinaus. Ob die Sache auch nur annähernd s o ist, wie die Teleologen behaupten, kann niemand wissen. Herder dagegen hütet sich vor solcher Vergröberung seines philosophischen Einheitsgedankens. Verlassen wir dieses Kapitel und fragen wir endlich nach Haeckels neuester monistischer Religion, s o bedauern wir, hier die gleiche historische Nonchalance des g r o s s e n Zoologen anzutreffen. Wir können uns aber kurz fassen: Die „Welträtsel", welche in ihrer Vielseitigkeit an jene Flaschen der Zauberkünstler erinnern, aus denen alles Verlangte dem erstaunten Publico geschenkt wird, behandeln unter der Masse empirischer Sammlung in gleich enzyklopädischer Kürze von 24 Zeilen auch den Gegensatz von Dualismus und Monismus. 3 ) „Der D u a l i s m u s (im weitesten Sinne!) zerlegt das Universum in zwei ganz verschiedene Substanzen, die materielle Welt und den immateriellen Gott, der ihr als Schöpfer, Erhalter und Regierer gegenübersteht. Der M o n i s m u s hingegen (ebenfalls im weitesten Sinne begriffen!) erkennt im Universum nur eine einzige Substanz, die „Gott und Natur" zugleich ist; K ö r p e r und Geist (oder Materie und Energie) sind für sie untrennbar verbunden." 2
*) Herder, Ideen, p. 137. *) I. c., p. 14. Hansen,
Haeckels Welträtsel.
3
) Haeckel, Welträtsel, Volksausgabe, p. 40.
Haeckel leugnet selbstredend nicht, daB Spinoza, G o e t h e und moderne Philosophen ihm in diesem Monismus, wenn auch in andrer Form, vorangegangen sind, 1 ) aber wenn man im Nachwort zu den Welträtseln nur von „meiner monistischen Weltanschauung aus einem Guß" liest, so sind für das große Lesepublikum der „Welträtsel", j e n e wahrhaft grundlegenden Geister in ihr Reich zurückgescheucht und Haeckel bleibt der alleinige Prophet und Lehrer der Menschheit. Dennoch ist Haeckels Monismus gegenüber dem philosophischen auch nur ein populärer, d. h. hier, ein ganz oberflächlicher. Monismus ist bei Haeckel nur ein Wort, eine Hülle, mit dem sich meist der denkfaule Straßenverstand, wie bei einem Geheimmittel blenden läßt. An diesen freilich wendet sich auch Haeckel, der kritisch-philosophische Geist ist ihm lästig, denn er ist naturgemäß sein Widersacher. Man sehe aber diesem „neuen" Monismus nur mutig ins G e sicht, dann sieht er auf einmal sehr alt aus, denn es handelt sich hier nur um ein anderes Wort für den Empirismus, das ist das g a n z e Kunststück. Haeckels sogenannte Weltanschauung will sich nur au~f Tatsachen, auf Empirie stützen (auf Empirie und hier wieder wie immer bei ihm; im weitesten Sinne!). Aber jeder Empirismus ist beschränkt, er hat dem menschlichen Verstände nie genügt. Unser Verstand wandte sich außer den Tatsachen immer noch einer anderen Erkenntnisweise zu: der fachwissenschaftlichen H y p o t h e s e , der P h i l o s o p h i e oder d e m G l a u b e n . Und so gibt es keinen, der den Glauben weniger entbehren kann, als der monistische Empirist Haeckel, nur daß Haeckels Glaube kein positiver, sondern ein negativer ist. Er glaubt, daß alles, was er bestreitet, n i c h t s e i . Von Beweisen dafür ist bei ihm nie die Rede gewesen, was an sich, da Beweise hier unmöglich sind, auch kein Vorwurf ist. Aber aus diesem Grunde läßt Haeckel sich auch nicht widerlegen. Bei Haeckel läßt sich ebenfalls nur glauben oder mit ihm streiten, und er ist daher auch stets nur von zwei Parteien, von Gläubigen und Widersachern, umgeben, der kritische Denker dagegen geht ihm aus dem Wege, denn d e s s e n Sache ist weder Glaube noch Streit, sondern Erkenntnis. Was Haeckel aber in seiner oben angeführten Definition als Monismus verkündet, hat Herder in der Vorrede zu seinen Ideen mit gleicher Klarheit, vor allem mit wahrhaft philosophischer Konsequenz, aber ohne die geistlose Nüchternheit naturwissenschaftlicher Katechismen niedergeschrieben. Für das Verständnis von Herders g e s a m t e r Auffassungsweise ist noch diese Stelle aus der Vorrede wichtig: ') Auch Lessing hätte er, von Herder abgesehen, nennen können, aber Haeckel hat nun einmal beschränkte Sympathien und scheut die vollständigen Akkorde.
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„Niemand irre sich daher auch daran, daß ich zuweilen den Namen der Natur personifiziert gebrauche. Die Natur ist kein selbständiges Wesen, sondern G o t t i s t a l l e s in s e i n e n W e r k e n ; indessen wollte ich diesen hochheiligen Namen, den kein erkenntliches Geschöpf ohne die tiefste Ehrfurcht nennen sollte, durch einen öfteren Gebrauch, bei dem ich ihm nicht immer Heiligkeit genug verschaffen konnte, wenigstens nicht mißbrauchen. Wem der Name N a t u r durch manche Schriften unseres Zeitalters sinnlos und niedrig geworden ist, der denke sich statt dessen jene allmächtige Kraft, Güte und Weisheit, und nenne in seiner Seele das unsichtbare Wesen, das keine Erdensprache zu nennen vermag." „Ein Gleiches ist's, wenn ich von den organischen Kräften der Schöpfung rede; ich glaube nicht, daß man sie für qualitates occultas ansehen werde, da wir ihre offenbaren Wirkungen vor uns sehen, und ich ihnen keinen bestimmteren, reineren Namen zu geben wußte." Daß Herder dabei nicht auf schwärmerischem, sondern auf naturwissenschaftlichem Standpunkt steht, kann man schon auf der ersten Seite der „Ideen" lesen, wo es heißt, der menschliche Verstand habe niemals einen weiteren Flug gewagt und zum Teil glücklich vollendet, als da er in Kopernikus, Kepler, Newton, Huygens und Kant die einfachen, ewigen und vollkommenen Gesetze der Bildung und Bewegung der Planeten aussann und feststellte. Soviel glaube ich behaupten zu dürfen, daß Herder um s o viel höher steht, als die modernen „Monisten", als er bescheidener ist, als sie. Denn Herder denkt nicht daran, mit seinem Monismus das Weltall erklären zu wollen, sondern will vielmehr auf die Probleme und auf den Weg richtiger Überlegung hinweisen. In der Frage nach dem Zusammenhang von Körper- und Geisteswelt, von Physischem und Psychischem, scheinen mir diejenigen mehr Aussicht auf Erfolg zu haben, die an Stelle unbeugsamer Theorien mit ihrem Entweder—Oder, vorläufig den betrachtenden Standpunkt Herders einnehmen, der die Hoffnung auf volle Erkenntnis zunächst als besseren Wanderstab ansieht, als den Glauben an die schon nahe volle Beherrschung aller Dinge. Aber Herder ist es trotzdem, der, lange vor Haeckel, in seinen „Ideen" den richtigen Weg zum eigentlichen Ziel eingeschlagen, absehend vom bloß anthropistischen Standpunkt, den W e g , die Kenntnis der g e s a m t e n wirklichen Welt zu erweitern. Aber nicht, um wie Haeckel, den Menschen zuzurufen, ihr seid bloß bewegter toter Stoff und sollt wieder zu unbewegtem totem Stoff werden, sondern um die Gegensätze zu vereinigen in dem Bewußtsein, daß der Reichtum neuer Wissenschaft nur E l e m e n t e liefert, die auch das Bild der Welt in unserm Innern erweitern. Statt uns 3»
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niederzuwerfen, sollen wir erhoben werden zu einer höhern Stufe der Einsicht und zugleich der Betätigung. Das ist das Positive bei Herder, der das Neue aufbauen will, gegenüber Haeckel, der nur das Alte niederreißt. Haeckels Weltbild ist doch auch nur das des Zoologen und Physiologen, welches himmelweit verschieden ist, nicht nur von dem des Philosophen, sondern von dem des Physikers, des Chemikers, des S o ziologen. Wo ist da Monismus? Dazu sind wir noch gar nicht reif. W a s Haeckels Ziele als praktischer Philosoph betrifft, s o kann die Anwendung des Naturwissens allein zur Lösung aller ethischen, soziologischen, politischen, historischen und künstlerischen Probleme, nur zu unvollkommenen Resultaten führen. E s handelt sich hier doch um Kulturgebilde, die nicht der Natur entsprungen sind, mit ihr bis zum gewissen Grade in Widerspruch stehen, da sie wesentlich eine Bändigung, Regelung und Lenkung der Naturtriebe bedeuten. S o gerät Haeckel mit seinem Unternehmen, mit dem Naturwissen, welches freilich im höchsten Maße kritischen Wert besitzt, alle Werte umwerten zu wollen, in Gefahr, kulturfeindlich zu werden. Man kann sich übrigens mit bloßem Naturwissen in den Resultaten ebenso gründlich verrechnen, wie mit dem Glauben, weil die Resultate nicht allein von einer anfänglichen Bewegungsursache und Bewegungsgröße abhängen, sondern oft noch viel mehr von den Hemmungen, die auf dem W e g e liegen und die niemand voraussehen und in die Gleichung einsetzen kann. Haeckel kann auch nur g l a u b e n , daß seine Rechnung stimmen wird. Alle Achtung vor Haeckels Kampf gegen die Hemmungen des Lebens, gegen ultramontane, politische und soziale Knechtschaft. Aber der Monismus steht ganz und gar im Widerspruch mit dieser Aufgabe. Jeder Kampf setzt einen Dualismus voraus. Der Monismus könnte nur alles v e r s t e h e n und alles v e r z e i h e n , weiter nichts! Nur der Dualist hat ein Motiv zu kämpfen. Praktisch hat der „Monismus" also gar keinen Wert. Der Monistenbund würde am besten ein Kloster gründen. Haeckel könnte entgegnen: in den Welträtseln steht geschrieben „Wir halten fest an dem reinen und unzweideutigen Monismus Spinozas". Herder ist dadurch ausgeschaltet, denn Spinoza war vor Herder. Ich sehe aber in dem Namen Spinoza nur eine Art Schutzmarke, womit Haeckel seinem blanken Naturalismus den Schimmer von Philosophie verleihen möchte. Einen wirklichen Zusammenhang zwischen Spinoza und Haeckels „Monismus" nachzuweisen, ist nirgends auch nur versucht worden. D a s dürfte auch schwer werden, da Spinoza auf „die Philosophie der Sinnlichkeit", d. h. auf Induktion ganz verzichtet hat, die für Haeckel Prinzip ist. Bloße Umdeutungen Spinozas sind Willkür, deren Unbefangenheit erstaunlich ist. Der Substanz Spinozas
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läßt Haeckel nur zwei Attribute, Ausdehnung und Denken, während auf den ersten Seiten der Ethik wiederholt wird, daß die Substanz unendlich viele Attribute besitze, mithin auch solche, die wir nicht kennen. D a s ist Haeckel unbequem, denn er muß fürchten, daß noch Attribute der Substanz bekannt werden, die seinen Monismus umwerfen. Ganz willkürlich ist Haeckels Umdeutung von Spinozas extensio und cogitatio als Materie und Energie, Begriffe, die Spinoza fremd waren, und da Haeckel eine Abhängigkeit von Stoff und Energie annimmt, in krassem Widerspruch zu Spinoza stehen, dessen extensio und cogitatio nicht aufeinander einwirken. Elemente der Ausdehnung und des Denkens haben ihre ganz getrennte Sphäre. Die Substanz ist bei Spinoza unteilbar. Haeckel ist Anhänger der Atomistik, nicht bloß der chemischen, auch seine Ansichten von „Zellenseelen", vom „Zellenstaat" und der „Zellenrepublik" sind atomistisch. Mit solchen Ansichten hat Spinoza nichts zu tun gehabt. Bei Haeckel ist alles bedingt. Als Naturforscher muß er die Kausalität mit ihrem unabweisbaren Dualismus von Ursache und Wirkung hochhalten. Die Vorstellung Spinozas von einer causa sui wiederspricht dieser Kausalität der Naturforscher. Haeckel kann als Zoologe und vergleichender Anatom den Typus nicht entbehren. Spinoza weist ihn mit jeder Zweckvorstellung zurück. Wie reimt sich das alles mit dem Satze: wir stützen uns auf Spinoza? Wenn Haeckel sich auf Spinoza stützt, Kraft und Stoff der Naturforscher in der unanschaulichen „Substanz" verschwinden läßt, dann verschwindet auch die Form, durch die uns in erster Linie Welt und Leben verständlich wird. W o bleiben bei dem Monismus Haeckels die Kunstformen der Natur und der Farbenschimmer seiner arabischen Korallen. Es ist ein Widerspruch, daß Haeckel, der die Weit aus seinem endlichen Menschenverstände erklären will, sich auf Spinoza beruft, der annimmt, daß alle Dinge so sind, „wie sie von einem unendlichen Verstände gedacht werden können". Mit Spinoza hat Haeckel nichts gemein als das Wort „Einheit", womit kein neuer Monismus geschaffen wird. Offenbar spielt bei Haeckel unbewußt die Mystik der Zahl „Eins" eine Rolle. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß man Haeckel, wenn er absolut zu den Philosophen gerechnet werden soll, keineswegs zu Spinoza, sondern zu Jacobi zu stellen hat, mit dessen Philosophie (auch mit dessen Temperament) er die größte Ähnlichkeit besitzt. Wie Jacobi stützt sich Haeckel in erster Linie deshalb auf Spinoza, um seinen Atheismus philosophisch zu begründen. („Spinozismus ist Atheismus", F. H. Jacobis Werke, Leipzig, 1899, Bd. IV 1, p. 216.) Daß der Atheismus einen ganz wesentlichen Charakter von Haeckels P h i l o -
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s o p h i e bildet, ist nicht zu leugnen, da er als N a t u r f o r s c h e r mit dieser Frage gar nichts zu tun hätte. Haeckels Äußerungen über die Frage nach dem Dasein Gottes, z . B . „Welträtsel" p. 117, stimmen genau mit Jacobis Worten überein: „Sollte je die Wissenschaft vollkommen werden, ein aus einem Prinzip abgeleitetes, in sich vollendetes, alles Erkennbare umfassendes System — s o müßte der Naturalismus zugleich mit ihr seine Vollkommenheit erhalten, alles mußte erfunden werden, als nur E i n e s , und aus diesem E i n e n muß alles begriffen, alles verstanden werden können." „Es ist demnach das Interesse der W i s s e n s c h a f t , daß kein Gott sei, kein übernatürliches, außerweltliches, supramundanes Wesen. Nur unter dieser Bedingung, nämlich daß allein N a t u r dies also selbständig und alles in allem sei — kann die Wissenschaft ihr Ziel der Vollkommenheit zu erreichen, kann sie ihrem Gegenstande gleich und selbst a l l e s in a l l e m zu werden sich schmeicheln." (Jacobi, Bd. III, p. 384—460.) Gerade wie Haeckel steht Jacobi auf dem Standpunkt: „daß Wahrnehmung im strengsten Wortverstande s e i und ihre Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit schlechthin angenommen werden müsse". Jacobi ist durchaus für die „Gültigkeit der sinnlichen Evidenz" (vergl. dazu Haeckels Nachwort zu den „Welträtseln" p. 157). Auf diesem Wege reichen sich Haeckel und Jacobi die Hände zur Gegnerschaft gegen Kant (Jacobi, Bd. II, p. 291, Ober den transzendentalen Idealismus), der in s o hinderlicher Weise Grenzen der Erkenntnis gezogen, die nicht erlauben wollen, jede erwünschte Meinung als Lehrsatz aufzustellen. Weder Haeckel noch Jacobi kommen aber mit der Sinnlichkeit und dem Verstände aus, trotz ihres Schwörens auf Realismus und Naturalismus. Jacobi kann für ethische Ziele, Haeckel für die Naturforschung das Transzendente nicht entbehren. Beide brauchen den Glauben. Aber Glaube ist ein dummes Wort, die Kirche braucht es in ihrem Sinne. Die Wissenschaft meint es anders. Daher schuf Jacobi neben dem mit Begriffen und Schlüssen über sinnliche Anschauung reflektierenden Verstände die r a t i o n a l e V e r n u n f t a n s c h a u u n g , „die uns die Natur jenseitiger Gegenstände zu erkennen gibt, d. h. ihre Wirklichkeit und Wahrheit uns gewiß macht". (Jacobi, Bd. II, p. 59 ff.) Geradeso besitzt Haeckel außer der Erfahrung und dem logischen Verstände, ein unmittelbares Wissen, womit er sich, wie Jacobi, der bisherigen Philosophie gegenüberstellt. Dieser Vernunft-Glaube verhilft dem „neuen Monismus" über die Erkenntnis des Verstandes hinaus zu seinen eigenen Begriffen, z . B . Katalyse der Kolloide = L e b e n , G e dächtnis der Plastidule = V e r e r b u n g , Psychoplasma, Zellseele, Zellulare Vorstellung, histonale Vorstellung, erotischer Chemotropismus = L i e b e , 38
Zellenliebe, Keimschlaf der Seele, Phytopsyche, Neuropsyche, Summe der Gehirnfunktionen = S e e l e . D a s klingt bestimmt und aufklärend, aber man muß zugeben, daß, solange niemand genauer weiß, was Katalyse, w a s Kolloide, Gedächtnis, was Protoplasma und Gehirnfunktionen sind, Sätze wie „das Leben ist Katalyse der Kolloide" usw. nichts als eine tönende Schelle sind. Haeckel aber sagt ganz ähnlich wie Jacobi über diese Philosophie: ,Die Vorstellungen, welche L ü c k e n d e s W i s s e n s ausfüllen o d e r an die S t e l l e t r e t e n , kann man im weiteren Sinne als „ G l a u b e n " bezeichnen" (Welträtsel p. 120). Finis scientiae! Der klare Monismus Herders ist ebenso fern von theologischem Dogmatismus, wie von einem landläufigen aber ebenso dogmatischen Pantheismus. Herder erscheint hier als ein durchaus originaler, unserem heutigen Bedürfnis ganz besonders entsprechender Geist. Dieses hervorzuheben und dabei auf die wesentlichen historischen Mängel der „Welträtsel" hinzuweisen, war meine Absicht und Aufgabe, nicht den zahlreichen Gegenschriften gegen die Welträtsel noch eine neue hinzuzufügen, wenn ich auch manche der hier gemachten Einwände in jener Literatur vermisse. Ich glaube hinzufügen zu sollen, daß ich wohl hoffen darf, der große Zoologe in Jena, der bekanntlich in seinem literarischen Kampfe kein Blatt vor den Mund nimmt, werde auch eine Äußerung anderer Ansichten und sogar eine scharfe, aber ernstgemeinte Kritik, die sich in den Grenzen gleicher Hochachtung vor Haeckels zoologischen Arbeiten, wie vor seinen praktischen kulturellen Absichten hält, nicht als persönlichen Angriff ansehen, der nur Undank für große Leistungen bewiese. Weniger im Ziel, als in den Mitteln hat Haeckel sich vergriffen. Herder nennt sein großartiges Werk eine Schülerarbeit und wendet sich bescheiden an die Meister der Naturwissenschaft mit der Bitte, seine Verarbeitung ihres Materials nicht zu verachten. Sein Buch zeige, daß man noch keine solche Philosophie schreiben könne, aber vielleicht könne das am Ende seines Jahrhunderts oder Jahrtausends geschehen. Wir müssen die Hoffnung auf die letztere Frist hinausschieben, die das Jahrhundert nicht erfüllt hat, keinesfalls mit dem „Monismus aus einem Guß". Aber e s scheint mir eine um so heiligere Pflicht, die jugendliche Generation und ihre Hüterin, die Schule, die heute aus einem vorbereitenden Dogmatismus zur vernunftgemäßen Weltauffassung aufsteigen möchte, auf Herder zu verweisen. Mit Recht will auch die Schule vom Standpunkt der Entwickelungsansicht, die grundlegenden Einsichten lehren. Wenn aber Adepten der Welträtselphilosophie schon daran gehen, in der Schule mit mißver-
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standenen Schlagworten von „biogenetischen Gesetzen" und mit einer ebenso öden als märchenhaften Zweckmäßigkeitslehre j e d e s eigene und tiefere wissenschaftliche Denken zu beseitigen, j a , wenn sie es nicht scheuen zu behaupten, „auch unsere Erziehung ist nichts als Nachahmung zweckmäßiger Elterntätigkeit, und der Zweck der Erziehung ist nur die Erringung allgemeiner und spezieller Erfahrungen f ü r d e n K a m p f u m s D a s e i n ! " dann scheint Gefahr im Verzuge. Mit der Verbreitung solcher Lehren würde allerdings die dem Haeckelismus so verabscheuungswürdige „Philosophie" ebenso dahinfallen wie Religion und Moral, wie Poesie und Kunst, lauter für den Daseinskampf entbehrliche, von seinem Standpunkt aus fast sinnlose Dinge, die aus der Reihe menschlicher Güter auszuscheiden hätten. Wer Herder liest, wird bei seinem monistischen, entwickelungsgeschichtiichen Standpunkte zu jenen Wahnideen nicht gelangen. Es wäre ein Verdienst, wenn die Erläuterungen zu Herders Ideen durch die neuen Errungenschaften der Einzelwissenschaften berichtigt und die „Ideen" gleiche, ja lieber eine tausendfach größere Verbreitung erlangen könnten als die „Welträtsel". Wenn eines not tut heutzutage, s o ist es Bildung, wahre Bildung. Aber wir brauchen dazu weder dualistische noch monistische Sekten. Jeder ist seiner Bildung Schmied, auch das lernen wir vor allem von unsern Klassikern. Dann würden die Resultate der Naturwissenschaft wahre Bausteine zum Gebäude einer lebendigen Weltanschauung werden können und nicht, wie in den „Welträtseln", bloße Wurfgeschosse, die an Stelle der zertrümmerten Philosophie einen toten ungeordneten Haufen bilden, dem man mit dem schönen Namen „Monismus" kein Leben einhaucht, auch nicht, wenn man ihn mit Spinozas, dagegen aber wie eine ägyptische Pyramide großartig und unbeugsam aufragender Philosophie vergleicht. Auch der Naturforscher kann dieses Bauwerk bewundern. Er wird sich aber hüten, einzutreten, um sich hier Erkenntnis zu holen, denn im Innern findet er nur den Mysticismus. Es ist eine der größten Unklarheiten Haeckels, zu meinen, die moderne naturwissenschaftliche Weltanschauung habe irgend etwas mit dem Spinozismus zu tun.
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