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German Pages 391 [392] Year 1974
de Gruyter Studienbuch
W DE G
John S. Mbiti
Afrikanische Religion und Weltanschauung
Walter de Gruyter • Berlin • New York 1974
Titel der Originalausgabe : African Religions and Philosophy © 1969 by J. S. Mbiti Erschienen im Heinemann-Verlag London • Ibadan • Nairobi Ins Deutsche übertragen von W . F. Feuser
I S B N 3 1 1 002498s Library of Congress Catalog Card Number: 73-92585 © 1974 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Printed in Yugoslavia Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischemWege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Casopisno grafiino podjetje Delo, Ljubljana
In dankbarer und liebevoller Erinnerung an meinen Onkel, Joel Mutia wa Ngaangi, verstorben am i. Januar 1967.
VORWORT Dieses Buch ist aus Vorlesungen hervorgegangen, die ich vor Studenten des Makerere University College, Uganda, und der Universität Hamburg in Deutschland gehalten habe. Die Studenten beider Universitäten zeigten nicht nur anhaltendes Interesse an den Vorlesungen, sondern viele baten mich auch, sie ihnen in Buchform zugänglich zu machen und so dem Bedürfiiis nach einem Lehrbuch über einheimische afrikanische Religionen und afrikanische Weltanschauung entgegenzukommen. Ich hoffe, daß dieses Buch einen Beitrag zum Studium eines Gegenstandes leistet, der zusehends einen Platz in den Lehrplänen von Universitäten, Priesterseminaren, Kollegs sowie auf der Gymnasialoberstufe findet, und zwar nicht nur in Afrika, sondern auch im nichtafrikanischen Ausland. Dieses Buch ist daher für den Gebrauch an solchen Lehranstalten, aber auch für den gebildeten Leser bestimmt. Es ist in erster Linie als Einführung in die Materie gedacht. Daher ist die analytische Deutung auf ein Mindestmaß beschränkt. Aus demselben Grunde sind die Quellenhinweise und der bibliographische Teil verhältnismässig umfangreich, so daß Leser, die sich eingehender mit bestimmten Interessengebieten befassen möchten, von der hier gebotenen Leseliste ausgehen können. Da Zeitschriften, wenn überhaupt, nur in größeren Bibliotheken zugänglich sind, finden sie in den Fußnoten nur gelegentlich Berücksichtigung. Eine Anzahl von ihnen sind jedoch in das Literaturverzeichnis aufgenommen worden. Afrikanische Religion und Weltanschauung befaßt sich fast ausschließlich mit traditionellen Begriffen und Gebräuchen in solchen Gesellschaften, die vor der Kolonisierung Afrikas weder vom Christentum noch vom Islam tiefer beeinflußt worden waren. In meiner Darstellung verwende ich meist die Zeitform der Gegenwart, als ob die betreffenden Ideen und Gebräuche noch heute Gültigkeit hätten. Jedermann weiß freilich, daß in Afrika schnelle Veränderungen vor sich gehen und überkommene Ideen infolgedessen häufig aufgegeben, modifiziert oder von den wechselnden Umständen beeinflußt werden. Gleichzeitig wäre es jedoch irrig anzunehmen, alles Traditionelle sei dem Wechsel oder dem Vergessen anheimgefallen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Wenn überhaupt, so vollziehen sich diese Veränderungen an der Oberfläche und berühren
Vili
Vorwort
nur die materielle Seite des Lebens, während die tieferen Schichten der Denkgewohnheiten und Sprachinhalte, der geistigen Bilderwelt, Gefühle, Überzeugungen und Reaktionsweisen in Notsituationen bisher kaum angetastet worden sind. Die traditionelle Begriffswelt liegt immer noch der wesentlichen Denkstruktur vieler afrikanischer Völker zugrunde, obgleich man natürlich individuelle und geographische Unterschiede in Rechnung stellen muß. Mag auch der gebildete Afrikaner nicht an allen hier geschilderten religiös und weltanschaulich fundierten Gebräuchen und Gedanken festhalten, so glaube ich doch, daß die Mehrzahl unseres Volkes, das keine oder nur geringe Schulbildung genossen hat, dem traditionellen Brauchtum und Glaubensgut verhaftet bleibt. Dies wird von niemand in Abrede gestellt werden, der auch nur mit afrikanischem Dorfklatsch vertraut ist. Wer seine Augen ofFenhält, wird in den Städten ebenfalls mancherlei Beweise für die Richtigkeit meiner Aussage entdecken. Ich habe in diesem Buch die Einheit der afrikanischen Religionen und der afrikanischen Weltanschauung betont, um ihre Gesamtsituation besser umreißen zu können. Eine solche Behandlung unseres Themas gestattet keine eingehendere Analyse einzelner Religionsformen und Weltanschauungen bei diesem oder jenem afrikanischen Volk. Gegenwärtig erscheinen jedoch so viele Monographien, die sich mit solchen Einzelaspekten befassen, daß ich es für unnütz halte, gewisse Arbeiten doppelt zu leisten, wenn andere Gebiete noch kaum erschlossen sind. Daher habe ich mich darauf konzentriert, Ähnlichkeiten und Unterschiede im Gesamtbild Afrikas besonders hervorzuheben und zu diesem Zwecke Beispiele aus dem ganzen Kontinent angeführt, die nicht nur zur Illustration dienen sollen, sondern gegebenenfalls auch eingehend kommentiert werden. Da die Erscheinungen des modernen Kulturwandels nicht zu übersehen sind, habe ich ihnen am Ende des Buches ein Kapitel gewidmet, worin insbesondere die menschlichen Aspekte dieses Wandels und seine Wirkung auf den Einzelmenschen und die Familie betont werden. In einem weiteren Kapitel komme ich auf die gegenwärtige Lage des Christentums, des Islams und anderer Religionen in Afrika zu sprechen, die allesamt von erheblicher Bedeutung für das Studium der traditionellen Religionen sind. Sowohl Christentum als Islam sind historisch gesehen „traditionelle", „afrikanische" Religionen, und es ist bedauerlich, daß die Tendenz besteht, sie als „fremdländisch" oder „europäisch' beziehungsweise „arabisch" abzuqualifizieren. Ich habe diese Religionen
Vorwort
IX
jedoch im Hinblick auf ihre Kontakte oder Beziehungen zu den traditionellen Religionen erörtert. Im Abschlußkapitel wird eine Ortsund Funktionsbestimmung der Religion im heutigen Afrika versucht, das diese verschiedenen Religionsformen ererbt hat und radikalen, weltweiten Veränderungen unterworfen ist. Meinen Stundenten in Makerere (seit 1964) und Hamburg (1966—67) gilt mein tiefempfundener Dank für die ermutigende und anregende Aufnahme, welche die Erstfassung meiner Vorlesungen bei ihnen fand. Viele meiner Hörer bereicherten meine Darlegungen mit Beispielen und Erläuterungen aus ihrer eigenen Gedanken- und Erlebnissphäre. Ich wußte ihre Beobachtungen sehr zu schätzen und habe einige davon in dieses Buch aufnehmen können, wofür ich ebenfalls dankbar bin. Meine liebe Frau hat mir in mannigfacher Weise hilfreich zur Seite gestanden, als ich die Vorlesungen und das Buch ausarbeitete, vor allem in Hamburg, und ich bin ihr dafür zutiefst verpflichtet. V c m Verlag habe ich, seit ich das Manuskript anbot, immer nur Zuspruch und gute Zusammenarbeit erfahren. Ich möchte ihm an dieser Stelle dafür sowie für das schnelle Erscheinen des Buches meinen Dank aussprechen. Soweit wie möglich habe ich in den Fußnoten die Quellen meiner Informationen und Zitate angegeben. W o ein bestimmtes Werk ein halbes Dutzend Mal oder noch häufiger erwähnt wird, sind in den Fußnoten nur der Autor und die Seitenzahl des Buches vermerkt, während sich die vollständigen Angaben über das betreffende Werk im Literaturverzeichnis befinden. Etwaige Lücken in den Quellenhinweisen, Fehlinterpretationen oder Fehldarstellungen der Ideen anderer sowie Fehler beim Zitieren anderer Autoren, die mir gelegentlich unterlaufen sein mögen, bitte ich zu entschuldigen.
V ORBEMERKUNG Den folgenden Werken wurden mit freundlicher Erlaubnis der Verfasser oder der Verleger Zitate entnommen: J . B. Danquah: The Akan Doctrine of God, Lutterworth (Edinburgh House Press) 1944, E. E. Evans-Pritchard: Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande, Clarendon Press 1957, M . J . Field: Religion and Medicine of the Ga People, Oxford University Press 1937, D. Forde, Hsg.: African Worlds, Oxford University Press 1954, G . W . B . Huntingford: The Nandi of Kenya, Routledge and Kegan Paul 1953, E. B. Idowu: Olodumare: God in Yoruba Belief, Longmans, Green & Co., 1962, J.Jahn: Muntu, Umrisse der neoafrikanischen Kultur, Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf 1958,1. M. Lewis, Hsg.: Islam in Tropical Africa, Oxford University Press 1966, G. Lienhardt: Divinity and Experience, The Religion of the Dinka, Clarendon Press 1961, R . A. Lystad: The Ashanti: a Proud People, Rutgers University Press 1958, J. H. Nketia: Funeral Dirges of the Akan People, Accra 1955, A. Oded: „ A Congregation of African Jews in the Heart of Uganda" in: Dini na Mila: Revealed Religion and Traditional Customs, Bd. 3, No. 1, 1968, J . Okot p'Bitek: „The Concept of Jok among the Acholi and Lango" in: The Uganda fournal, Bd. X X V I I , Nr. 1, 1963, E. G. Parrinder: West African Religion, Society for Promoting Christian Knowledge (S. P. C. K.) 1961, P. Schebesta: My Pygmy and Negro Hosts, Hutchison & Co., E. A. 1936, und Revisiting my Pygmy Hosts, Hutchison & Co., E. A. 1936, E. W. Smith und A. M. Dale: The Ila-speaking Peoples of Northern Rhodesia, Macmillan, Bd. 1, 1920, E. W. Smith, Hsg. (später E. G. Parrinder) African Ideas of God, Lutterworth (Edinburgh House Press) 1950, T. C. Young: Contemporary Ancestors, Lutterworth (Edinburgh House Press) o. J.
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort Vorbemerkung Einleitung
VII XI I
Forschungen in Afrikanischer Religion und Weltanschauung a) Frühere Methoden und Standpunkte b) Neuere Studien
7 8 13
Der Zeitbegriff als Schlüssel zum Verständnis Afrikanischer Religion und Weltanschauung a) Potentielle und wirkliche Zeit b) Zeitrechnung und Zeitbestimmung c) Die Begriffe Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft d) Der Begriff der Geschichte und Urgeschichte e) Der Begriff des Menschenlebens in seinem Bezug zur Zeit . . . . f ) Tod und Unsterblichkeit g) Raum und Zeit h) Die Entdeckung oder Erweiterung der Zukunftsdimension . . . .
18 21 23 28 29 31 32 35 35
Die Natur Gottes a) Die ewigen und wesenhaften Eigenschaften Gottes b) Die moralischen Eigenschaften Gottes
36 38 45
Die Werke Gottes a) Die Schöpfung b) Die göttliche Providenz und die Erhaltung der Kreatur c) Gott und die Heimsuchungen des Menschen d) Gott als Herrscher e) Gott und die Menschheitsgeschichte
48 48 51 54 57 58
Gott a) b) c)
60 60 62 64
und die Natur Anthropomorphe Eigenschaften Gottes Gott und die Tier-und Pflanzenwelt Gott und die Naturkräfte und Naturereignisse
Die Gottesverehrung 71 a) Opfer und Weihegaben 72 b) Gebete, Anrufungen, Segens- und Grußformeln 76 c) Verschiedene andere Handlungen und Ausdrucksweisen der Gottesverehrung 82 d) Religiöse Mittler und Spezialisten 84 e) Anlaß und Ort der Gottesverehrung 89 Geistwesen, Geister und Totenseelen a) Gottheiten und Gefährten Gottes b) Die Geister
93 94 98
XIV
Inhaltsverzeichnis
c) Die Totenseelen 104 d) Der Urzustand des Menschen und Gottes Fürsorge für ihn . . . . 1 1 9 e) Die Trennung von Gott und Mensch 121 Ethnische Gruppen, Verwandtschaftsbeziehungen und der Einzelmensch . 125 a) Die Stämme, Nationen und Völker Afrikas 126 b) Verwandtschaftsbeziehungen 130 c) Die Familie, Haushalt und Einzelperson 133 Geburt und Kindheit a) Schwangerschaft b) Die eigentliche Geburt c) Namengebung und Stillzeit
137 137 140 148
Einweihungs-und Pubertätsriten a) Initiationsriten bei den Kamba b) Initiationsriten der Massai c) Weibliche Initiationsriten bei den Nandi d) Die Reifefeier bei den Ndebele
151 153 158 160 165
Ehe und Zeugung a) Die Vorbereitung auf Ehe und Zeugung b) Die Wahl des Ehepartners c) Verlobung und Brautwerbung d) Die Hochzeitsfeier e) Die Polygamie und der erbliche Erwerb von Frauen oder Ehemännern f ) Ehescheidung und Trennung g) Die Stellung und Funktion des Geschlechtlichen in der Ehe . . . .
167 169 170 173 175
Der Tod und das Leben nach dem Tod a) Der Tod bei den Ndebele b) Der Tod bei den Baluhja c) Ursachen und Sinn des Todes d) Das Leben nach dem Tode e) Das Los der Seele
187 188 192 196 201 204
Spezialisten: Medizinmänner, Regenmacher, Könige und Priester a) Medizinmänner b) Geistermedien und Wahrsager c) Regenmacher d) Könige, Königinnen und Herrscher e) Priester, Propheten und Religionsstifter
179 183 185
. . . 209 210 217 227 231 238
Mystische Kraft, Magie, Hexerei und Zauberei
246
Der Begriff des Bösen, Ethik und Gerechtigkeit a) Der Ursprung und die Natur des Bösen b) Strafe und Wiedergutmachung c) Zusammenfassung und Schluß
259 259 268 271
Der Mensch im Wandel und seine Probleme a) Die Ursachen des raschen Wandels b) Die Art des Wandels c) Die Probleme des raschen Wandels
275 276 279 283
Christentum, Islam und andere Religionen in Afrika a) Das Christentum in Afrika
292 293
Inhaltsverzeichnis b) Der Islam in Afrika c) Andere religiöse Traditionen in Afrika
XV 311 327
Die Suche nach neuen Werten und die Standortbestimmung des Menschen a) Das Kräftespiel der Religionen b) Das Kräftespiel der Ideologien c) Abschluß: Die Religion und das afrikanische Dilemma
337 337 342 349
Literaturverzeichnis
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Register a) Autorenregister b) Register a&ikanischer Völkerschaften und Sprachen c) Sachregister
365 365 367 370
Karte und Verzeichnis der im Buch erwähnten afrikanischen Völker
EINLEITUNG Die Afrikaner stehen im Ruf, religiös zu sein, und jedes Volk hat seine eigene Religionsform mit ihren Glaubensanschauungen und Gebräuchen. Die Religion durchdringt alle Lebensbereiche so völlig, daß sie sich schwer daraus loslösen läßt. Wer diese Religionsformgn untersuchen will, muß sich also letzten Endes mit den Völkern selber und den vielschichtigen Erscheinungen ihres Lebens sowohl im traditionellen als im modernen Sinne befassen. An schriftlichen Zeugnissen über die alteigenen Religionsformen liegt verhältnismäßig wenig vor, und dies wenige stammt vorwiegend von Anthropologen und Soziologen. Die Theologen haben praktisch nichts durch theologische Darstellung und Deutung zu diesem Gebiet beigesteuert. Wir sprechen von den traditionellen afrikanischen Religionen im Plural, weil es etwa eintausend afrikanische Völker, häufig Stämme genannt, gibt, von denen jedes seine eigene Religionsform hat. Diese Religionen in ihrer Vielfalt sind eine Realität; sie müssen Gegenstand wissenschaftlicher Forschung werden und dürfen auf keinem Gebiet des modernen Lebens, sei es in der Wirtschaftswissenschaft, Politik, Erziehung oder in christlicher oder islamischer Missionsarbeit, unberücksichtigt bleiben. Diese althergebrachten Glaubensanschauungen, Einstellungen und Gebräuche zu übersehen, hieße die Triebfedern afrikanischen Verhaltens mißverstehen und afrikanische Probleme verkennen. Die Religion ist das stärkste Element im traditionellen Lebenszusammenhang und übt wahrscheinlich den größten Einfluß auf das Leben und Denken der betreffenden Menschen aus. Während die Religion anhand von Glaubensanschauungen, Zeremonien, Riten und religiösen Amtsträgern identifiziert werden kann, läßt sich die afrikanische Weltanschauung nicht so leicht festlegen. Wir werden verschiedene Religionen anhand ihrer Ähnlichkeiten und Andersheiten betrachten, um so einen Überblick über die Gesamtsituation in Afrika zu gewinnen. Da es aber parallel dazu keine Systeme philosophischer Weltanschauung gibt, die sich an ähnlich konkreten Ausdrucksformen beobachten ließen, werden wir uns der Einzahl „Weltanschauung" („Philosophy") bedienen, um damit das weltanschauliche
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Einleitung
Verständnis afrikanischer Völker den verschiedensten Lebensfragen gegenüber zu bezeichnen. Das Denken und Handeln jedes Volkes beruht auf einer bestimmten Art des Seinsverständnisses, und die Durchforschung der traditionellen Religionen wird uns mit jenen Gebieten afrikanischen Lebens in Berührung bringen, auf denen wir an Wort und Tat die weltanschaulichen Grundvorstellungen der Menschen ermessen können. Die vorliegenden Forschungsbefunde müssen dabei gedeutet werden, und eine solche Deutung kann nicht völlig frei von subjektiver Wertung sein. Was hier als „afrikanische Weltanschauung" bezeichnet wird, mag daher im Grunde wenig mehr sein als meine eigene philosophische Auslegung einzelner hier behandelter Erscheinungen. Hieran läßt sich jedoch kaum etwas ändern, doch immerhin bin ich von Geburt Afrikaner. Bisher sind noch keine philosophischen oder weltanschaulichen Systeme der verschiedenen afrikanischen Völker dargelegt worden, doch ließe sich weltanschauliches Gedankengut unschwer aus anderen Bereichen, wie der religiösen Sphäre, dem Sprichwortschatz, der mündlichen Überlieferung, Ethik und Moral der betreffenden Gesellschaften, zusammenstellen. Ich habe einige dieser Bereiche im vorliegenden Werk berücksichtigt, aber insbesondere die Sprichwörter verdienen es, gesondert behandelt zu werden, da ihr Gehalt an Lebensweisheit meist situationsgebunden ist. Es gibt jedoch leider nicht viele umfassende Sammlungen afrikanischer Sprichwörter, die nach weltanschaulich-philosophischen Gesichtspunkten untersucht werden könnten. Unter „afrikanischer Weltanschauung" ist hier das Selbst- und Weltverständnis, die Geisteshaltung, Logik und intuitive Wahrnehmung zu verstehen, die dem Denken, Reden oder Handeln der afrikanischen Völker in den verschiedenen Lebenssituationen zugrunde liegt. Weil die traditionelle Religion alle Lebensbereiche durchdringt, läßt sich zwischen den sakralen und weltlichen, den religiösen und nichtreligiösen, den geistigen und materiellen Bezirken keine strenge Scheidelinie ziehen. W o immer der Afrikaner sich befindet, ist auch seine Religion; er führt sie mit sich auf die Felder zur Einsaat und Ernte; er bringt sie mit sich zum Biergelage oder zur Beerdigung; den Gebildeten begleitet sie in den Examenssaal der Schule oder Universität, den Politiker ins Parlament. Obwohl viele afrikanische Sprachen kein eigentliches Wort für „Religion" haben, umgibt sie doch den einzelnen von der Zeit lange vor seiner Geburt bis eine geraume Weile nach seinem leiblichen Tode. Der moderne Kulturwandel hat die traditionellen Religionen nicht unberührt gelassen, aber sie sind darum beileibe nicht
Einleitung
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ausgestorben. In Krisenzeiten kommen sie oft wieder an die Oberfläche, oder die Menschen wenden sich ihnen heimlich wieder zu. Die traditionellen Religionen sind in erster Linie nicht für den einzelnen bestimmt, sondern für die Gemeinschaft, der er angehört. Das Leben in der Gemeinschaft ist der Born, worin sich die traditionelle Religion gestaltet und erneuert. Areligiosität wäre in der traditionellen Gesellschaft ein Unding. Menschsein bedeutet Teilhaben an der Gemeinschaft, und dies schließt völlige Teilnahme an den Glaubensanschauungen, Zeremonien, Riten und Festen der betreffenden Gemeinschaft in sich. Ein Mensch kann sich nicht von der Religion seiner Gruppe lossagen, ohne sich gleichzeitig von seinem Ursprung, seiner Lebensgrundlage und Geborgenheit, seiner Sippe und all den Menschen gewaltsam zu lösen, die ihm erst seine eigene Existenz zu Bewußtsein bringen. Wer auch nur eins dieser integrierenden Elemente des Gemeinschaftslebens entbehrt, paßt nicht mehr in dessen Rahmen. Religionslosigkeit käme daher einem Selbstausschluß vom gesamten Leben der Gesellschaft gleich. Die afrikanischen Völker können sich ein Leben ohne Religion einfach nicht vorstellen. Eine der Ursachen für die erhebliche Belastung, der die Afrikaner unter den sich verändernden modernen Lebensbedingungen ausgesetzt sind, ist der durch Erziehung, Verstädterung und Industrialisierung vorangetriebene Prozeß der Loslösung des einzelnen aus seinem traditionellen Lebenskreis, der ihn in einem Vakuum ohne feste religiöse Grundlage beläßt. Sie werden zwischen dem Leben ihrer Väter, welches trotz aller Einwände, die man dagegen erheben könnte, über historische Wurzeln und festgegründete Traditionen verfügt, und dem Leben unseres technischen Zeitalters, das für viele Afrikaner bisher noch keine konkrete Ausformung und Tiefendimension gefunden hat, hin- und hergerissen. Weder Christentum noch Islam scheinen in der Lage zu sein, das unter diesen Umständen sich ausbreitende Gefühl der Frustrierung und Entwurzelung zu beseitigen. Es genügt nicht, sich einen Glauben anzueignen, der einmal pro Woche aktiv in Erscheinung tritt, sei es am Sonntag oder Freitag, während der Rest der Woche sozusagen im Leerlauf dahingeht. Es genügt nicht, eine Religion anzunehmen, deren Ausübung sich auf eine Kirche oder Moschee beschränkt, die sechs Tage in der Woche verschlossen ist und nur ein- oder zweimal geöffiiet wird. Falls Christentum und Islam nicht den ganzen Menschen in gleichem Maße wie die traditionellen Religionen, wenn nicht gar noch stärker, in Anspruch nehmen, so werden vielleicht die meisten
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Einleitung
ihrer Konvertiten weiterhin an sechs Tagen der Woche und gewiß in Not- und Krisenzeiten in ihre alten Glaubensgewohnheiten zurückfallen. Zeit und Umwelt müssen von religiöser Sinngebung erfüllt sein, und der Mensch muß sich jederzeit und überall so geborgen fühlen, daß er seine Handlungen in einen religiösen Sinnzusammenhang stellt. Da die traditionelle Religion den ganzen Menschen und sein gesamtes Leben in Anspruch nimmt, muß seine Bekehrung zu einer neuen Religion wie Christentun oder Islam seine Sprache, Denkgewohnheiten und Ängste, seine mitmenschlichen Beziehungen und seine Einstellung, kurz seine gesamte Lebensschau umfassen, wenn seine Bekehrung einen bleibenden Eindruck auf den einzelnen wie auf seine Gemeinschaft hervorrufen soll. Allen afrikanischen Völkern ist eine große Anzahl von Glaubensanschauungen und Gebräuchen eigen. Diese sind jedoch nicht in einem geschlossenen dogmatischen System zusammengefaßt, dem der einzelne sich unterwerfen müßte. Die Menschen machen sich ganz einfach all jene religiösen Vorstellungen und Praktiken zu eigen, die in ihren Familien und Gemeinschaften Gültigkeit haben. Diese Traditionen sind das Vermächtnis ihrer Vorfahren, und jede Generation übernimmt sie mit gewissen Abänderungen, die ihren Bedürfnissen und ihrer historischen Situation Rechnung tragen. Die Einstellung des einzelnen zu den verschiedenen Glaubensgegenständen mag verschieden sein, und die Mythen, Riten und Zeremonien mögen sich von Ort zu Ort in Einzelheiten unterscheiden. Aber solche Einstellungen oder Ansichten gelten nicht als im Widerspruch zu irgendeiner orthodoxen Glaubenslehre oder im Einklang mit ihr stehend. Wenn daher in diesem Buch davon die Rede ist, daß dieses oder jenes Volk bestimmte Dinge „glaube" oder bestimmte Riten „vollziehe", so gilt dies natürlich nicht für jedes einzelne Mitglied der Volksgemeinschaft. Wir haben es hier mit gemeinschaftsgebundenen Glaubenshaltungen, Ideen und Akten zu tun, und in solchen Dingen kann natürlich keine völlige Einstimmigkeit herrschen. In der traditionellen Religionsgemeinschaft sagt man kein Glaubensbekenntnis auf. Das Glaubensbekenntnis ist im Herzen des einzelnen eingegraben, und er ist ein lebendes Zeugnis seiner Religion. Wo der einzelne ist, dort ist auch seine Religion, denn er ist ein religiöses Wesen. Die Afrikaner sind religiös, weil Religiosität ein Teil ihrer Wesensart ist. Eine der Schwierigkeiten, auf die man beim Studium afrikanischer Religion und Weltanschauung stößt, ist das gänzliche Fehlen heiliger
Einleitung
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Schriften. In afrikanischen Gesellschaften wird die Religion nicht dem Papier anvertraut, sondern den Herzen und Hirnen, den Riten und mündlichen Überlieferungen sowie gewissen religiösen Führern: Priestern, Regenmachern, Stammesältesten und sogar Königen. Jeder ist Träger der Religion. Daher darf sich unsere Untersuchung nicht auf die Anschauungen über Gott und die Geister beschränken, sondern muß auch die Erdenfahrt des einzelnen von der Zeit vor der Geburt bis nach dem körperlichen Tode sowie die für formelle Riten und Zeremonien zuständigen Personen einbegreifen. Das Handeln der Menschen ist bestimmt durch das, was sie glauben, und ihr Glaube entspringt ihrem Tun und Erleben. Mithin lassen sich in der traditionellen Gesellschaft Afrikas Glaube und Handlung nicht voneinander trennen. Sie gehören einem zusammenhängenden Ganzen an. Die traditionellen Religionen sind nicht weltweit orientiert, sondern dem Stamm oder Volk zugeordnet. Jede Religion ist auf dasjenige Volk beschränkt, in dessen Mitte sie sich entwickelt hat. Eine bestimmte traditionelle Religion kann nicht bei einer anderen Stammesgruppe propagiert werden. Dies schließt jedoch nicht die Möglichkeit aus, daß religiöse Ideen von einem Volk auf ein anderes überspringen. Solche Ideen breiten sich indes von selbst aus, insbesondere durch Wanderbewegungen, Heirat zwischen Gruppen, Eroberungen oder durch die Tatsache, daß Einzelmitglieder einer bestimmten Stammesgruppe bei einer anderen religiöses Spezialwissen zu erwerben suchen. Die traditionellen Religionen kennen keine Missionare zur Glaubensverbreitung, und ihre Anhänger predigen Außenstehenden ihre Religion nicht vor. Dementsprechend gibt es auch keine Bekehrungen von einer traditionellen Religion zur anderen. Jede Gesellschaft hat ihre spezifische Religionsform, deren Verbreitung in anderen Gebieten die Verpflanzung der gesamten Lebensart des betreffenden Volkes voraussetzen würde. Ein Mensch muß daher innerhalb einer bestimmten Gesellschaft geboren sein, um sich die ihr zugehörige Religionsform zu eigen machen zu können. Außenseiter können in die Religion einer anderen Gesellschaft nicht eindringen oder sie voll erfassen. Jene wenigen Europäer, die behaupten, zu afrikanischen Religionen „bekehrt" worden zu sein — und ich kenne immerhin einige, die solche phantastischen Behauptungen aufstellen — wissen nicht, wovon sie reden. Wenn jemand Trankopfer auf die Erde gießt oder ein paar rituelle Vorschriften wie ein Afrikaner einhält, so bedeutet das noch lange nicht, daß er zu einer naturvölkischen Religion bekehrt worden ist.
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Einleitung
In den afrikanischen Religionen gibt es weder Stifter noch Reformer. Es mag jedoch durchaus vorkommen, daß nationale Heroen, große Führer, Herrscher und andere berühmte Männer und Frauen in die Glaubensinhalte und die Mythologie einer Religion einbezogen werden. Einige dieser Gestalten werden zu hohen Stellungen im Bewußtsein des Volkes erhoben und können sogar als Gottheiten angesehen werden, die für Naturkräfte oder Naturerscheinungen („natural objects or phenomena") zuständig sind. Diese Helden und Heldinnen sind ein integrierender Bestandteil der religiösen Vorstellungswelt der betreifenden Gesellschaft. Ob sie zu ihren Lebzeiten eine spezifisch religiöse Rolle gespielt haben oder nicht, ist dabei unwesentlich. In allen afrikanischen Gesellschaften, soweit ich dies feststellen konnte, existiert der Glaube an ein Fortleben nach dem Tode. Dieser Glaube stellt jedoch keine Hoffnung auf ein besseres Leben in einer zukünftigen Welt dar. Vielmehr ist der wichtigste Gegenstand aller religiösen Tätigkeiten und Glaubensanschauungen in Afrika das Leben im Hier und Heute. Man sorgt sich kaum um ein spezifisch seelisches Wohlergehen des Menschen, das von seinem leiblichen Wohl verschieden wäre. Zwischen dem Spirituellen und dem Körperlichen wird keine Trennungslinie gezogen. Sogar das jenseitige Leben wird unter materialistischen und physischen Aspekten begriffen. Im zukünftigen Leben ist kein Paradies zu erhoffen und keine Hölle zu befürchten. Die Seele des Menschen verlangt weder nach geistlicher Erlösung noch nach der Nähe Gottes in der zukünftigen Welt. Dies ist ein wichtiges Element der traditionellen Religionen, das zu unserem Verständnis der afrikanischen Religiosität in ihrer Diesseitsbezogenheit beiträgt und die Stellung des Menschen als ihres Mittelpunktes erklärt. In diesem Zusammenhang ist auch das Problem des afrikanischen Zeitbegriffs von großer Wichtigkeit. Die traditionellen Religionen und die herkömmliche Weltanschauung haben den Menschen in der vergangenen und gegenwärtigen Zeit zum Gegenstand. Gott dient dazu, das In-der-Zeit-Sein des Menschen zu erklären. Es gibt keine messianische Hoffnung, keine apokalyptische Vision, in der Gott irgendwann in ferner Zukunft auftritt, um einen radikalen Umschwung im normalen Leben des Menschen herbeizuführen. Die Gottesvorstellung begreift keine ethisch-geistige Beziehung Gottes zum Menschen in sich. Die Gottesverehrung des Menschen und seine Hinwendung zu Gott sind eher pragmatisch und nützlichen Zwecken dienlich als spirituell oder mystisch motiviert.
Frühere Methoden und Standpunkte
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Angesichts unserer unzureichenden Kenntnis afrikanischer Religionen ist es unmöglich, ihre Geschichte zu schildern. Im ganzen gesehen scheinen sie ziemlich beständig geblieben zu sein und in aller Ruhe neue Ideen und Praktiken voneinander in sich aufgenommen zu haben. Krisen, die ein ganzes Volk heimsuchen, wie Krieg, Hungersnot, Epidemien, Heuschreckenplagen und größere klimatische Veränderungen, bringen ein Wiederaufleben religiöser Tätigkeit mit sich oder führen zu religiösen Neuerungen. Da die Menschen so sehr mit ihrem religiösen Leben und ihrer religiösen Einstellung eins sind, stellt ihre säkulare Geschichte auch die Geschichte ihrer Religion dar. Es ist dies ein Forschungsgebiet, das in interdisziplinärer Zusammenarbeit von Historikern, Anthropologen und Theologen gemeinsam in Angriff genommen werden sollte. Ich habe im vorliegenden Buch nicht versucht, die historischen Aspekte afrikanischer Religionen abzuhandeln, und ich wüßte von keinem Werk, das in diesem Sinne abgefaßt wäre. Meine Methode ist in erster Linie beschreibend und deutend, und ich versuche, aus den traditionellen Religionen ganz Afrikas jene Elemente zum Vergleich zusammenzutragen, die für sie repräsentativ sind. Im Rahmen eines solchen umfassenden Überblicks ist für tiefgehende Einzelstudien über die einmalige und komplexe Religionsform eines jeden Volkes kein Platz. Ich hoffe indes, daß die hier gebrachten Beispiele aus vielen Teilen Afrikas nicht nur die Kompliziertheit der afrikanischen Religionen aufzeigen, sondern zum Teil auch den Mangel an tieferem Eingehen auf den Einzelfall wieder wettmachen.
FORSCHUNGEN IN AFRIKANISCHER RELIGION UND WELTANSCHAUUNG Die Welt beginnt gerade erst, die traditionellen Religionen Afrikas und seine Weltanschauung ernstzunehmen. Erst gegen Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hat man sich angeschickt, diesen Gegenstand geziemend und mit dem notwendigen Respekt zu untersuchen und als eigenständige akademische Disziplin anzuerkennen. In den vorhergehenden hundert Jahren stammten alle Schilderungen afrikanischer Religionen von europäischen und amerikanischen Missionaren oder von Anthropologen, Soziologen und Vergleichenden Religionswissenschaft-
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Afrikanische Religion und Weltanschauung
lern. Aus solchen, schriftlichen Quellen haben wir den größten Teil unserer Informationen bezogen, obwohl manche dieser Autoren selber nie in Afrika waren und nur wenige von ihnen ernsthafte Feldforschung auf dem Gebiete dieser Religionen geleistet haben. Im ersten Teil dieses Zeitabschnitts war die akademische Luft mit der Evolutionstheorie geschwängert, die man auf viele Forschungsgebiete anwandte. Diese Theorie gibt vielen der früheren Beschreibungen und Deutungen afrikanischer Religionen eine eigentümliche Färbung. W i r werden kurz einige der frühen Stellungnahmen betrachten, ehe wir uns mit der gegenwärtigen Situation befassen.1 a) Frühere Methoden und Standpunkte Eine der vorherrschenden Theorien dieses frühen Zeitabschnitts besagte, daß afrikanische Glaubensvorstellungen, kulturelle Merkmale und sogar Nahrungsmittel allesamt von der Außenwelt entlehnt seien. Deutsche Wissenschaftler trieben diese Annahme auf die Spitze und sind auch bis heute noch nicht alle völlig davon abgegangen. Alle möglichen Theorien und Erklärungen wurden aufgeboten, um zu zeigen, wie die verschiedenen religiösen Wesensmerkmale die afrikanischen Gesellschaften aus dem Nahen Osten oder Europa kommend erreichten. Zwar hat Afrika stets Kontakt zur Außenwelt gehabt, doch können die aus einem solchen Kontakt erwachsenen religiösen und kulturellen Einflüsse nicht immer nur in einer Richtung gewandert sein, sondern es handelte sich stets um ein Geben und Nehmen. Zudem ist Afrikas Boden nicht so unfruchtbar, daß er keine eigenen neuen Ideen hervorbringen könnte. Diese Sucht, ausländischen Quellen nachzuspüren, ist im Begriff auszusterben, und es gibt neuerdings Autoren, die den Standpunkt vertreten, daß ganz im Gegenteil Afrika es war, das der Außenwelt Ideen, Kulturen und Gesittung schenkte.2 Gewiß aber ist ein Mittelweg zwischen den beiden Extremen die vernünftigste Hypothese. Zum Erbgut der frühen Arbeiten über die afrikanischen Religionen gehören Begriffe, die unangemessen, abschätzig und schädlich sind. Sie 1
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Die früheren Theorien sind weiter behandelt bei E. E. Evans-Pritchard: Theories of Primitive Religions. Oxford 1965. Z . B . J . J a h n : Muntu, Düsseldorf. 1 9 5 8 ; B . Davidson: Urzeit u. Geschichte Afrikas D. A . 1 9 6 1 , Black Mother, London 1961 und The Growth of African Civilization, London 1965; C . A . Diop: Antériorité des Civilisations nègres: Mythe ou vérité historique? Paris 1963.
Frühere Methoden und Standpunkte
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zeugen eindeutig von der herrschenden Grundhaltung und der tendenziösen Darstellungsweise jener, die die verschiedenen Theorien über die traditionellen Religionen ausheckten oder verbreiteten. Der Begriff Animismus ist vom lateinischen Wort anima abgeleitet, das soviel heißt wie Atem, Lebenhauch und daher mit der Idee der Seele oder des Geistes verknüpft ist. Dieser Begriff ist zu beliebtesten Bezeichnung für die afrikanischen Religionen geworden und ist auch heutzutage noch in vielen Schriften anzutreffen. Er wurde von dem englischen Anthropologen E. B . Tylor geprägt, der ihn zuerst in einem 1866 erschienenen Artikel und dann in seinem Buch Primitive Culture (1871) verwandte. Für Tylor war das Grundelement der Religion der „Glaube an spirituelle Wesen". Er sah die anima als ein schattenhaftes, verschwommenes Gebilde, das dem Gegenstand, dem es innewohnte, Leben gab. Er glaubte, daß die sogenannten primitiven Völker von der Vorstellung beseelt seien, die anima könne den Körper verlassen und in andere Menschen, Tiere oder Dinge übergehen sowie nach dem Tode weiterleben. In Weiterverfolgung dieser Theorie behauptete Tylor, daß die Naturmenschen der Überzeugung seien, jeder Gegenstand habe seine eigene Seele und die Welt sei dementsprechend von unzähligen Geistern bevölkert. Tylors Ideen wurden von seinen Anhängern popularisiert. Seit jener Zeit ist der Ausdruck Animismus zur Beschreibung traditioneller Religionen in Afrika und anderen Teilen der Welt sehr geläufig geworden. In einer Atmosphäre, die mit der Evolutionstheorie gesättigt war, bahnte die Vorstellung von der Existenz unzähliger Geister der Idee der religiösen Evolution den Weg. Daraus erwuchs die Theorie, daß in jedem größeren Naturbereich einzelne Geister die Vorherrschaft ausübten. So herrsche z. B . ein höherer Geist über alle Flußgeister, und das gleiche gelte für Felsen, Seen usw. Dies habe zur Vorstellung einer Vielzahl von Göttern geführt (Polytheismus), woraus sich wiederum als weitere Stufe der Glaube an den einen höchsten Gott entwickelt habe, der über alle gehobenen Naturgeister herrsche. Diese Entwicklungsreihe könnte man graphisch darstellen (Siehe S. 10). Ein solches Argumentieren stellt die afrikanischen Religionen auf die unterste Stufe des hypothetischen Entwicklungsgangs der Religionen, während Judentum, Christentum und Islam eine Spitzenstellung einnehmen, da es sich bei ihnen um monotheistische Religionen handelt. Diese Theorie läßt eine entgegengesetzte Theorie außer acht, derzufolge die religiöse Entwicklung des Menschen mit dem Monotheismus be-
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Afrikanische Religion und Weltanschauung
Monotheism
Hochgott
•JRMMM
Gehobene Geistef (Götter)
Polytheismu
Animismus
7
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Zahllose Geister
gann und dann zum. Polytheismus und Animismus hin weiterschritt. Wir brauchen uns hier nicht über Gebühr bei der einen oder anderen Theorie aufzuhalten, sondern möchten lediglich darauf hinweisen, daß die afrikanischen Völker sich all dieser Elemente der Religion bewußt sind: Gott, die Geister und Gottheiten sind Teil der traditionellen Glaubensinhalte. Das Christentum und der Islam erkennen die gleiche Stufenfolge spiritueller Wesen an. Die Theorie der religiösen Evolution, wie immer man sie auch ansetzen mag, wird einer zufriedenstellenden Deutung oder Erklärung afrikanischer Religionen nicht gerecht. Der Begriff Animismus zielt an einer sachgerechten Beschreibung dieser Religionen vorbei, und man täte gut daran, ihn ein für allemal fallenzulassen. Bei der Klassifizierung der Religionen auf weltweiter Ebene heißt es, daß die „Erlösungsreligionen" wie Christentum, Judentum und Islam die Lehre von der Erlösung der Seele in der zukünftigen Welt in sich schlössen. „Moralreligionen" wie Schintoismus und Konfuzianismus legen großen Nachdruck auf moralische Gesichtspunkte. Die „Naturreligionen" schließlich, im Englischen als „primitive religions" bezeichnet, sind jene, deren Anhänger von einigen Autoren als „wild", „primitiv" und entweder phantasie- oder gemütsarm geschildert werden.3 Das Wort „primitiv" hat natürlich von seiner lateinischen Wurzel primus her gesehen keine üble Nebenbedeutung, doch läßt die Art und Weise, wie es auf afrikanische Religionen angewandt wird, die nötige Achtung vor dem Forschungsgegenstand vermissen, und es bekommt 3
Siehe z. B . J . N . D . Anderson Hsg.: The World's Religions, 3. Auflage L o n don i960, S. çf.
Frühere Methoden und Standpunkte
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so einen abschätzigen Beigeschmack. Es ist erstaunlich, daß man es auch in der heutigen Zeit noch fertigbringt, seinen Mitmenschen als phantasielosen und gefühlsarmen „ W i l d e n " zu bezeichnen. W e r mit einer solchen Einstellung an die Erforschung afrikanischer Religionen herantritt, kommt bestimmt nicht weit. Seine Methode dürfte auch wissenschaftlich und theologisch gesehen ziemlich dürftig sein. Einige der traditionellen Religionen sind ihrer Struktur nach äußerst komplex und enthalten Elemente, die ein klärendes Licht auf andere religiöse Traditionen in der W e l t werfen. Der Anthropologe Herbert Spencer verwendet in seinem Buch Principles of Sociology (1885) den Ausdruck Ahnenverehrung („ancestor worship") zur Bezeichnung seiner spekulativen Ansicht, daß „ w i l d e " Völker die Geister der Verstorbenen mit gewissen Gegenständen in Beziehung setzten und diesen Opfer darbrächten, um mit den Geistern ihrer Vorfahren in gutem Einvernehmen zu bleiben. Andere Autoren haben diesen Ausdruck entlehnt und ihn auf fast alle religiösen Zeremonien der Afrikaner angewandt. In vielen Büchern taucht der Ausdruck „Ahnenverehrung" auf, wenn von afrikanischen Religionen die R e d e ist. Es läßt sich gewiß nicht leugnen, daß die Abgeschiedenen in der afrikanischen Religiosität einen wichtigen Platz einnehmen, aber es wäre falsch, die traditionellen Religionen schlechthin als „Verehrung der Ahnen" auszulegen. W i e wir später in diesem Buch sehen werden, sind die Verstorbenen, ob Eltern, Brüder, Schwestern oder Kinder, Teil der Familie und müssen daher mit den Hinterbliebenen weiter in Verbindung bleiben. Trankopfer für die Verstorbenen und das Darbieten von Speisen sind Ausdruck der Gemeinsamkeit, Gastlichkeit und Ehrfurcht; die so dargebotenen Getränke und Speisen sind Symbole des Fortbestandes und Zusammenhalts der Familie. „Verehrung " ist nicht das W o r t , das dieser Situation angemessen wäre, und die Afrikaner selber sind sich darüber im klaren, daß sie die verstorbenen Mitglieder ihrer Familie nicht „verehren". Es kommt daher nahezu einer religiösen Lästerung gleich, diese auf den Erhalt der Familienbeziehungen ausgerichteten Akte als „Verehrung" zu bezeichnen. Außerdem erschöpft sich die afrikanische Religion keineswegs in solchen Riten der Trankund Speisedarbringung innerhalb der Familie, sondern sie ist viel tiefgehender und umfassender. Sie nur als „Ahnenverehrung" zu begreifen, hieße ein Einzelelement aus dem Zusammenhang lösen, das bei manchen Völkern nur von geringer Bedeutung ist, und über viele andere Aspekte der Religion völlig hinwegsehen.
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Afrikanische Religion und Weltanschauung
Andere Autoren haben versucht, afrikanische Religionen als Magie einzustufen. Manche vertreten die Auffassung, daß die Magie sich vor der Religion entwickelt habe und ein Versuch des Menschen sei, die unsichtbare Welt in den Griff zu bekommen. Als es dem Menschen nicht gelang, die Naturkräfte und Naturvorgänge mittels der Magie in seine Gewalt zu bringen, fügte er sich den unerreichbaren Mächten, was dann zum Glauben an Gott als Quelle aller Kraft führte. In diesem Sinne gilt die Magie als die Mutter der Religion. 4 Da jeder afrikanischen Gesellschaft sowohl Magie als Religion eigen ist, kam man unweigerlich zu dem Schluß, daß die Afrikaner sich noch nicht über die Stufe hinausentwickelt hätten, auf der sich Religion von Magie scheidet. Einige Autoren stehen nicht an zu behaupten, daß die Afrikaner überhaupt keine Religion, sondern nur Magie hätten. W i r werden dem Thema Magie ein ganzes Kapitel widmen, wobei wir glücklicherweise auf eine große Menge guter Literatur zurückgreifen können. Hier mögen einige Hinweise genügen. Eine sorgfältige Prüfung der Situation in der afrikanischen Gesellschaft ergibt, daß die Magie Teil der religiösen Umwelt und schwer davon zu trennen ist. Einige Zeremonien, wie z. B . bei der Regenmacherei und der Verhütung von Epidemien, umfassen sowohl religiöse als magische Elemente. Solange magische Handlungen dem Wohl der betreffenden Gemeinde dienlich sind, werden sie positiv bewertet; man ist vielleicht sogar bereit, einen hohen Preis zu zahlen, um solcher Hilfe teilhaftig zu werden. Dies steht in keinem Widerspruch zu den Glaubensanschauungen der Menschen. Das Magische hat die religiöse Mentalität der afrikanischen Völker mitgeprägt. Aber Religion ist nicht Magie, und Magie kann Religion nicht erklären. Die Religion ist größer als die Magie und nur ein unwissender Außenseiter kann auf die Idee verfallen, daß afrikanische Religionen nichts weiter als Magie seien.
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Siehe ältere Autoren wie E. Dürkheim: Les formes élémentaires de la vie religieuse: le système totémique en Australie, Paris 1912; J. G. Frazer: Totemica, London 1937; B. Malinowski: A Scientific Theory of Culture and Other Essays, London 1944; E. O. James: The Origin of Religion, London 1937; P. Radin: Die religiose Erfahrung der Naturvölker, D.A.Zürich 1951; R . Allier: The Mind of the Savage, London 1929. Stärker auf Afrika bezogen sind die folgenden Werke: E. G. Parrinder: African Traditional Religion, London 1954; A. C. Bouquet: Comparative Religion, London 1942; W. Schmidt: Der Ursprung der Gottesidee (insbesondere Band IV: Die Religionen der Urvölker Afrikas, Münster 1933).
Neuere Studien
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Andere Ausdrücke, die zur Bezeichnung afrikanischer Religionen verwandt werden, sind Dynamismus, Totemismus, Fetischismus and Naturismus. Wir brauchen diese hier nicht näher zu erörtern. Wie die vorher angeführten Bezeichnungen zeigen auch diese eindeutig, in welch geringem Maße die Außenwelt die afrikanischen Religionen verstanden hat. Einige dieser Bezeichnungen werden in dem Maße, wie sich neue Erkenntnisse Bahn brechen, fallen gelassen. Die Tatsache bleibt jedoch bestehen, daß die afrikanischen Religionen und die afrikanische Weltanschauung manchen Fehldeutungen, Fehldarstellungen und Mißverständnissen ausgesetzt gewesen sind. Man hat sie verächtlich gemacht, verspottet und als primitiv und unterentwickelt abgetan. Ein Blick auf Titel und Darstellungen älteren Datums zeigt das ganze Ausmaß der Vorurteile und Fehlurteile über die afrikanischen Religionen. Die Geringschätzung, mit der man an sie herantrat, kam schon im Sprachgebrauch zum Ausdruck. Im Dunstkreis der Heidenmission wurden sie als Aberglaube, Satanswerk und Höllengeburt verdammt. Trotz all dieser Angriffe haben die traditionellen Religionen überlebt. Sie üben einen beherrschenden Einfluß auf die Lebensanschauung afrikanischer Völker aus und müssen auch in der modernen Umbruchszeit, in der wir uns befinden, unbedingt berücksichtigt werden.
b) Neuere Studien In den vergangenen Jahren hat sich ein Wandel in Grundeinstellung und Sichtweise der Forschung angebahnt. Wir führen hier einige der neueren Bücher und Methoden an, ohne uns jedoch eingehend mit ihnen zu befassen. Die erste dieser neuen Methoden findet sich bei Autoren wie Tempels, Jahn und Taylor. In seinem Buch La philosophie bantoue (F. A. 1945, D. A. Heidelberg 1956) gibt uns Pater Tempels seine eigene Auslegung der Lubareligion und -philosophie. Er geht dabei von der Prämisse aus, daß „die Naturvölker eine konkrete Vorstellung vom Sein und von der Welt haben". Er fährt fort, daß „diese ,Ontologie' ihren Glaubensanschauungen und ihrer religiösen Praxis, ihrer Sprache, ihren Einrichtungen und Gebräuchen, ihren gesamten psychologischen Reaktionen und im weiteren Sinn ihrem ganzen Verhalten einen bestimmten Charakter und ein besonderes Lokalkolorit gibt". Für Tempels ist der Kernbegriff für ein Verständnis afrikanischer Religionen und Philosophie die von ihm so benannte „Lebenskraft". In ihr sieht er das Wesen des Seienden: „Kraft ist Sein und Sein ist
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Afrikanische R e l i g i o n und Weltanschauung
Kraft". Seine Philosophie der Kräfte erklärt für ihn das gesamte afrikanische Denken und Handeln. Was man auch sonst über Tempels' Buch sagen mag, es hat den W e g für eine einfühlende Erforschung der Religionen und Denkstrukturen Afrikas freigemacht. Seine Triebfeder, wie auch die seiner Mitkolonialisten, an die er sich richtet, ist das Ziel, „die Bantu zu zivilisieren, zu erziehen und aufwärtszuentwickeln". Das Buch enthält in erster Linie Tempels' persönliche Deutung des Wesens und Denkens der Luba, und es ist ein recht kühnes Unterfangen, es als „Bantuphilosophie" auszugeben, da es sich nur mit einem einzigen Bantuvolk befaßt, bei dem Tempels viele Jahre als Missionar tätig war. Es ließe sich in mancher Hinsicht kritisieren, und die Theorie von der „Lebenskraft" ist auf andere afrikanische Völker, mit deren Leben und Denken ich vertraut bin, nicht anwendbar. Der wichtigste Beitrag Tempels' besteht mehr in seiner Sympathie und in einer gewandelten Einstellung als im eigentlichen Inhalt seines Buches und den darin entwickelten Theorien. Zur selben Gruppe gehört Janheinz Jahns Buch Muntu (1958), das sich in erster Linie mit der von ihm so benannten „neo-afrikanischen Kultur" befaßt. Ein Teil des Buches ist der afrikanischen Philosophie gewidmet, während andere Teile Kunst, Tanz, Geschichte und Literatur abhandeln. Das Buch berücksichtigt große Teil Afrikas, und das verwendete Material stammt aus umfangreicher Lektüre. Im religiös-philosophischen Teil macht sich Jahn die vier Kategorien von A. Kagame (Ruanda) zu eigen, in die dann alle anderen Begriffe gepreßt werden: Muntu ist die philosophische Kategorie, die Gott, die Geister, die Verstorbenen, die Menschen und bestimmte B ä u m e umfaßt. Diese stellen eine mit Intelligenz begabte „ K r a f t " dar. Kintu umfaßt alle „ K r ä f t e " , die nicht aus sich selbst heraus handeln können, sondern nur auf Befehl eines Muntu, also Pflanzen, Tiere, Mineralien usw. Hantu ist die Kategorie v o n Zeit und R a u m . Kuntu ist die „ M o d a l k r a f t " , die D i n g e w i e Schönheit, Lachen usw. umfaßt.
Bei Jahn heißt es: „Alles Seiende, jede Wesenheit, unter welcher Form sie sich auch vorstellt, läßt sich in eine dieser Kategorien einordnen.
Neuere Studien
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Außerhalb dieser vier Kategorien ist nichts denkbar".5 Er hält sich an Kagames Begriff der „Kraft" und sagt: „Der Mensch ist eine Kraft, alle Dinge sind Kräfte, Ort und Zeit sind Kräfte und die .Modalitäten' sind Kräfte". 6 Diese Kräfte erweisen sich angeblich durch den rein linguistischen Stamm - N T U als verwandt, da dieser in allen vier Wörtern vorkommt, auf welchen die Kategorien beruhen. Jahn vermutet in diesem - N T U „die universale Kraft schlechthin... die aber getrennt von ihren Erscheinungsformen Muntu, Kintu, Hantu und Kuntu niemals vorkommt. N T U ist das Sein selbst, die kosmische Universalkraft... N T U ist jene Kraft, in der Sein und Seiendes zusammenfallen... N T U ist das, was Muntu, Kintu, Hantu und Kuntu gemeinsam sind. Kraft und Materie fallen dabei nicht zusammen, sondern sind nie geschieden worden. N T U drückt aber nicht das Wirken dieser Kräfte aus, sondern ihr Sein. Die Kräfte aber handeln ständig, agieren ununterbrochen".7 Dementsprechend könnte dieses mythische oder imaginäre N T U nur offenbar werden, wenn das gesamte Universum zum Stillstand käme. Der Wert von Jahns Buch liegt hauptsächlich darin, daß er auf das Vorhandensein philosophisch relevanter Anschauungen in Afrika hinweist, die es verdienen, ernstgenommen und wissenschaftlich erforscht zu werden. In seiner Afrikabegeisterung mag Jahn über das Ziel hinausschießen, wenn er z. B. sagt, Europa habe der afrikanischen Philosophie nichts Ebenbürtiges an die Seite zu stellen. Er trägt seine Ideen jedoch mit großer Überzeugungskraft vor, ob man sie nun akzeptiert oder ablehnt. Diese Methode der Einfühlung in die afrikanische Religion und Philosophie vertritt in der englischsprachigen Welt am besten J. V. Taylor in seinem Buch The Primat Vision (1963), das in der Serie „Christian Presence" erschienen ist und klar in die christliche Gegenwart weist. In gleichem Maße von der christlichen Theologie und vom heutigen Afrika mit seinen traditionellen und modernen Aspekten ausgehend, hat Taylor afrikanisches Denken mit beachtlichem Tiefgang erforscht und beschreibt in erster Linie für eine europäische Leserschaft „die Welt am Ursprung". Dabei läßt er sich jedoch von dieser Welt völlig in ihren Bann ziehen, wodurch seine Einfühlung in gefährliche Nähe der Kritiklosigkeit gerät. Er stellt alles als so heilig, erhaben und rein dar, 5 6 7
J.Jahn, S. 104. J.Jahn, S. 105/06. J.Jahn: ebenda.
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Afrikanische Religion und Weltanschauung
daß Christentum, Verwestlichung, Verstädterung und Technik insgesamt einer Entweihung gleichkommen. Zwischen der Wir-Gruppe (den Europäern) und der Sie-Gruppe (den Afrikanern) wird eine bedenklich scharfe Scheidelinie gezogen; sodann wird die Frage gestellt, was „ w i r " von „ihnen" lernen können. Vom Gesichtspunkt christlicher Begegnung mit der überkommenen afrikanischen Welt ist dies jedoch das beste bisher erschienene Buch. Es regt an und fordert zur Auseinandersetzung heraus. Der verarbeitete Stoff, der mittels Lektüre und persönlicher Erfahrung aus vielen Teilen Afrikas zusammengetragen wurde, stellt einen repräsentativen Querschnitt des gesamten Kontinents dar. Ein gemeinsamer Zug dieser drei Werke ist ihre Einstellung, daß die afrikanischen Religionen und die afrikanische Weltanschauung eine Realität sind, die das Leben der afrikanischen Völker prägt und daher ernstgenommen und vorurteilslos untersucht zu werden verdient. Eine zweite moderne Methode ist in England, Frankreich und Westdeutschland vertreten. Sie besteht in dem Versuch, die afrikanischen Religionen systematisch zu behandeln, indem von verschiedenen Völkern stammendes Material zusammengestellt wird. Besonders repräsentative Autoren dieser Gruppe sind Parrinder, Deschamps und Damman. Das Pionierwerk ist E. G. Parrinders African Traditional Religion (1954), das in mehreren Auflagen erschienen ist. Dieses verhältnismäßig kleine Buch stellt die Hauptpunkte der afrikanischen Religionen in hervorragender und genauer Form dar. Der Autor bewahrt bei aller Einfühlung sein kritisches Urteilsvermögen und verarbeitet sein aus vielen Teilen Afrikas zusammengetragenes Material in einfacher, doch stets wissenschaftlicher Weise. Da Parrinder im westlichen Afrika gelebt und gewirkt hat, konnte er Feldstudien afrikanischer Religionen, der traditionellen wie der christlichen, betreiben und packt daher sein Thema ohne Verlegenheit an. Das Buch ist als Einführung in das Studium unseres Gegenstandes denkbar gut geeignet und ergänzt in manchem meine eigene Darstellung. Unsere Auslegungen gehen jedoch auseinander, und der philosophische Gehalt afrikanischer Religionen ist bei Parrinder weniger stark betont. Das Werk Les religions de l'Afrique noire (i960) von H. Deschamps vertritt diese Methode im französischsprachigen Bereich. Es ist von geringerem Wert als Parrinders Buch und beschränkt sich fast ausschließlich auf das westliche Afrika und die französischsprachigen Länder. Als Anthropologe behandelt der Autor sein Thema vorwiegend aus anthropologischer und soziologischer Sicht.
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Aus Westdeutschland stammt E. Dammans Buch Die Religionen Afrikas (1963), ein stattliches und wohldokumentiertes Werk, das sein Material aus englischen, französischen und deutschen Quellen bezieht. Eine leichte Tendenz, außerafrikanische Einflüsse geltend zu machen und die abgedienten Ausdrücke und Theorien älteren Datums zu verwenden, ist nicht zu verkennen. Es ist aber ein umfassendes Werk und im beschreibenden Teil besonders wertvoll. Andere Religionen wie das Judentum, das Christentum und der Islam in Afrika sowie der Einfluß gesellschaftlicher Wandlungsprozesse auf die Religion werden auch behandelt, allerdings in zu knapper Form. Die dritte moderne Methode ist am besten durch zwei von Anthropologen geschriebene Bücher gekennzeichnet. Das erste dieser Bücher, E. E. Evans-Pritchards Nuer Religion (1956), ist das Ergebnis einer langjährigen Forschungsarbeit beim Nuervolk. Der Autor lebte unter den Nuer, erlernte ihre Sprache und nahm wenn eben möglich an ihrem Tun und Treiben teil. Auf Grund dieser Erfahrungen gelingt es ihm, die Nuer-Religion von innen her zu erschließen, indem er wohl das wissenschaftliche Rüstzeug des Anthropologen benützt, die Religion aber mit den Augen der Nuer selbst betrachtet. Er zeigt auf, wie zutiefst religiös die Nuer sind und wie tief die Vorstellung von Gott als einem Geistwesen bei ihnen verankert ist. In seinem Werk Divinity and Experience: the Religion of the Dinka (1961) wendet G. Lienhardt genau dieselbe Methode an. Er hebt die Bedeutung der persönlichen Begegnung zwischen Gott und den Menschen besonders hervor, die für die Dinka in jedem Lebensbereich Gültigkeit hat. Für sie laufen Geisterwelt und Menschenwelt in menschlichen Erlebniskreis zusammen, und darin besteht das Wesen der Dinkareligion. Es gibt noch weitere Bücher dieser Art, aber die beiden genannten sind die klassischen Werke dieser Richtung. 8 Der von ihnen geleistete Beitrag besteht hauptsächlich darin, daß die Autoren sich jeweils auf die Religion eines einzelnen Volkes konzentriert und diese sowohl in ihrer Tiefendimension als auch im Bezug auf die Gesamtsituation des betreffenden Volkes behandelt haben. Wenn es möglich wäre, über die meisten afrikanischen Völker solche Forschungen durchzuführen, so wären diese von unermeßlichem Wert als Informationsquelle über afrikanische Naturreligionen. Solche Untersuchungen fügen die afrikani8
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Siehe das Literaturverzeichnis unter Middleton, Nadel, Pauw, Tanner und Wilson. Mbiti, Afrikanische Religion
Sangree,
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Z u m Verständnis afrikanischer Religion und Weltanschauung
sehen Religionen in den natürlichen Zusammenhang ihrer sozialen und kulturellen Umwelt ein. Es bleibt zu hoffen, daß den modernen Entwicklungstendenzen in den Naturreligionen größere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Eine weitere Methode, die afrikanischen Religionen und die afrikanische Weltanschauung zu erforschen, wird von afrikanischen Gelehrten entwickelt, die sich eingehend mit Einzelaspekten des Lebens ihres Volkes befassen. Dies ist von großem Nutzen durch die Konzentration auf ein bestimmtes Thema, das aus afrikanischer Sicht und Erfahrung heraus beschrieben und gewertet wird. Einer der hauptsächlichen Vorteile hierbei ist, daß der Forscher die Sprache und sein Volk nicht als Außenseiter, sondern von innen her kennt. Die folgenden Werke sind hier zu erwähnen: J. B . Danquah: The Akatt Doctrine of God (1944), J. H. Nketia: Funeral Dirges of the Akan People (1955), A. Kagame: La philosophie bantu-rwandaise de l'Etre (1956) und E. B . Idowu: Olodumare: God in Yoruba Belief (1962). Außerden gibt es Artikel und Aufsätze von afrikanischen Gelehrten zu diesem Themenkreis. Die Teilnahme afrikanischer Gelehrter an der Erforschung afrikanischer Religionen und afrikanischer Weltanschauung eröffnet große Zukunftsaussichten, da sie abgesehen von dem wissenschaftlichen Rüstzeug und den Methoden, über die sie verfügen, fast unbegrenzten Zugang zu den Wissensquellen haben und die Sprachen sprechen, die der Schlüssel zu jeder ernstzunehmenden Forschung und zum Verständnis afrikanischer Religionen und afrikanischer Weltanschauung sind. Meine Methode in diesem Buch besteht darin, daß ich die Religion als ein ontologisches Phänomen behandle, zu dessen Verständnis der Zeitbegriff einen Schlüssel liefert. Ich behaupte nicht, daß die Zeitvorstellung alles erklärt, bin aber davon überzeugt, daß sie uns der Lösung ein gutes Stück näherbringt, und wenn dieses Ziel erreicht wird, sind meine Bemühungen reichlich belohnt.
D E R Z E I T B E G R I F F ALS S C H L Ü S S E L Z U M V E R S T Ä N D N I S AFRIKANISCHER RELIGION U N D W E L T A N S C H A U U N G Das Wort Religion ist schwer zu definieren, um so mehr, wenn es in den Zusammenhang des traditionellen afrikanischen Lebens gestellt wird. Ich mache keinen Versuch, es zu definieren, sondern stelle lediglich
Z u m Verständnis afrikanischer Religion und Weltanschauung
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fest, daß Religion für die Afrikanischer ein ontologisches Phänomen ist, also Bezug zum Problem der Existenz oder des Seins hat. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß im traditionellen Leben der einzelne in eine Sphäre religiöser Teilnahme eingetaucht ist, die vor der Geburt beginnt und noch nach dem Tode fortdauert. Für ihn wie für die Gemeinschaft, der er angehört, bedeutet Leben daher soviel wie „von einem religiösen Drama umfangen sein". Dies ist wesentlich: der Mensch lebt in einem religiös bestimmten Weltall. Die Welt selbst und alle Handlungen und Verrichtungen, die der Mensch in ihr vornimmt, werden vom Religiösen her gesehen, verstanden und gedeutet. Die Namen von Personen haben religiöse Bedeutung, Felsen und Gesteinsblöcke sind nicht sinnentleert, sondern religiöse Gegenstände, der Klang der Trommel redet eine religiöse Sprache, eine Sonnen- oder Mondfinsternis ist nicht einfach ein stummes Naturereignis, sondern sie spricht beredt zu der Gemeinschaft, die sie wahrnimmt, und warnt sie oft vor einer drohenden Katastrophe. Es ließen sich unzählige derartige Beispiele anführen. Worauf es ankommt ist, daß für die Afrikaner die gesamte Existenz ein religiöses Ereignis ist. Der Mensch ist ein religiöses Wesen in einem religiösen Weltall. Ihre Unfähigkeit, diese Grundtatsache zu begreifen und zu würdigen, hat sowohl Missionare als auch Anthropologen, Kolonialbeamte und andere ausländische Beobachter, die über afrikanische Religionen geschrieben haben, dazu verleitet, nicht nur die Religionen als solche, sondern auch die Völker Afrikas mißzuverstehen. Zusammen mit anderen Faktoren hat dies zu der tragischen Fehlentwicklung geführt, daß wir seit der missionarischen Expansionswelle im 19. Jahrhundert nur eine recht oberflächliche Form des Christentums auf afrikanischem Boden finden. Obwohl der Islam sich im allgemeinen kulturell viel bereitwilliger als das westliche Christentum angepaßt hat, bekennt man sich in den Gebieten, w o er in jüngerer Zeit Anhänger gewonnen hat, auch nur oberflächlich zu ihm. Keine der beiden Religionen ist bisher tiefer in die religiöse Welt des ursprünglichen afrikanischen Lebens eingedrungen, und solange die Dinge so liegen, darf man von einer „Bekehrung" zum Christentum oder Islam nur im relativen Sinne sprechen. Die Afrikaner haben ihre eigene Ontologie, aber es ist eine religiöse Ontologie, und wenn wir ihre Religionen verstehen wollen, müssen wir zunächst diese Ontologie gründlich zu erfassen suchen. Ich schlage vor, sie in fünf Kategorien einzuteilen, wobei ersichtlich wird, daß es sich um eine äußerst anthropozentrische Ontologie handelt, d. h.
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daß alle Dinge in ihrem Bezug zum Menschen gesehen werden. Die Kategorien sind folgende: 1. Gott als letzter Grund für die Entstehung und Erhaltung des Menschengeschlechtes und der Dinge. 2. Die Geister, sowohl übermenschliche Wesen als die Geister der vor langer Zeit Abgeschiedenen. 3. Der Mensch, d.h. alle Lebenden einschließlich des ungeborenen Lebens 4. Die Tiere und Pflanzen, d.h. alle anderen Formen biologischen Lebens. 5. Erscheinungen und Gegenstände biologisches Leben.
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Anthropozentrisch ausgedrückt ist Gott der Urheber und Erhalter des Menschen, die Geister erklären die Bestimmung des Menschen, der Mensch ist der Mittelpunkt dieser Ontologie, die Pflanzen, Tiere, Naturerscheinungen und Gegenstände stellen die Umwelt dar, in der der Mensch lebt. Sie sind seine Existenzgrundlage, zu der der Mensch gegebenenfalls in eine mystische Beziehung tritt. Diese anthropozentrische Seinsordnung bildet eine völlige Einheit, ein solidarisches Ganzes, das nichts zerbrechen oder zerstören kann. Wollte man eine dieser Kategorien aufheben oder herausbrechen, so würde man alles Seiende zerstören, ein Vorgang, der die Zerstörung des Schöpfers in sich begriffe, was unmöglich ist. Eine Seinsweise setzt alle anderen voraus; sie müssen miteinander im Gleichgewicht gehalten werden und dürfen weder zu weit auseinandertreiben noch ineinander verschwimmen. Außer den fünf Kategorien scheint es eine Kraft, Macht oder Energie zu geben, die das All durchdringt. Gott ist die Quelle und gleichzeitig der Hüter und Wahrer dieser Kraft, doch haben auch die Geister beschränkten Zugang zu ihr. Einige wenige Menschen verfügen über das Wissen und die Fähigkeit, diese Kraft zu erschließen, mit ihr umzugehen und sie nutzbar zu machen, z. B. Medizinmänner, Hexen, Priester und Regenmacher. Sie können sie zum Wohle oder zum Verderben ihrer Gemeinschaft verwenden.
Potentielle und wirkliche Zeit
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Um darzustellen, wie diese Ontologie sich in die religiöse Welt einfügt, werde ich nun den afrikanischen ZeitbegrifF als Schlüssel zu unserem Verständnis der grundlegender religiösen und philosophischen Begriffe erörtern. Der Zeitbegriff dürfte dazu beitragen, Glaubensanschauungen, Haltungen, Gebräuche und die allgemeine Lebensweise afrikanischer Völker nicht nur im traditionellen Bereich, sondern auch in der modernen Situation, ob in der Politik, Wirtschaft, Erziehung oder Kirche, zu erklären. Darüber gibt es leider keine Literatur, und wir können daher nur einen ersten Vorstoß in dieses Neuland unternehmen und hoffen, daß weitere Forschungen und Diskussionen die Folge sein werden. a) Potentielle und wirkliche Zeit Das Zeitproblem bereitet den afrikanischen Völkern im traditionellen Lebenszusammenhang wenig oder gar kein akademisches Kopfzerbrechen. Für sie ist Zeit einfach eine Abfolge von Ereignissen, die sich begeben haben, gerade erst stattfinden oder kurz bevorstehen. Was noch nicht geschehen ist oder keine Aussicht auf baldiges Geschehen hat, fällt unter die Kategorie „Nichtzeit". Was dagegen mit Sicherheit geschehen wird oder dem Rhythmus der Naturereignisse unterliegt, fällt in die Kategorie der unentrinnbaren oder potentiellen Zeit. Daraus ergibt sich als Wichtigstes, daß die Zeit in der traditionellen Auffassung ein zweidimensionales Phänomen ist mit einer weit zurückreichenden Vergangenheit, einer Gegenwart und praktisch keiner Zukunft. Der lineare ZeitbegrifF im westlichen Denken mit unbegrenzter Vergangenheit, flüchtiger Gegenwart und unendlicher Zukunft ist der afrikanischen Mentalität völlig fremd. Die Zukunft scheidet praktisch aus, da in ihr liegende Ereignisse nicht stattgefunden haben, unverwirklicht sind und daher keine Zeit darstellen können. Wenn jedoch zukünftige Ereignisse als sicher gelten können oder zum unabwandelbaren Rhythmus der Natur gehören, dann sind sie bestenfalls potentielle, nicht aber wirkliche Zeit. Was jetzt stattfindet, trägt zweifellos zur Entfaltung der Zukunft bei, aber sobald ein Ereignis stattgefunden hat, ist es nicht mehr in der Zukunft, sondern in der Gegenwart bzw. Vergangenheit. Wirkliche Zeit begreift daher das Gegenwärtige und das Vergangene in sich. Ihre Bewegungsrichtung weist eher „rückwärts" als „vorwärts", und die Menschen beschäftigen sich im Geiste nicht mit zukünftigen Dingen, sondern mit dem bereits Geschehenen.
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Verständnis afrikanischer R e l i g i o n u n d
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Zeitrechnung und Zeitbestimmung
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Diese Zeitorientierung, die von den zwei Hauptdimensionen, der Gegenwart und der Vergangenheit, bestimmt ist, beherrscht das afrikanische Menschen- und Weltbild, mag es sich nun um den einzelnen, die Gemeinschaft oder das All mit den fünf ihm zugrunde liegenden ontologischen Kategorien handeln. Die Zeit will erlebt und erfahren sein, ehe sie sinnvoll und wirklich werden kann. Der Mensch erlebt die Zeit zu einem Teil in seinem Leben als einzelner, zum anderen Teil erfahrt er sie durch die Gemeinschaft, die über viele Generationen vor seiner eigenen Geburt zurückreicht. Da das in der Zukunft Befindliche unerlebt ist, bleibt es ohne Sinn. Es kann daher nicht Bestandteil der Zeit sein, und die Menschen können sich keine Vorstellung von ihm machen, es sei denn, es gehört zum Rhythmus der Naturereignisse. In den ostafrikanischen Sprachen, die ich untersucht und zur Prüfung meiner Ergebnisse verwendet habe, gibt es keine konkreten Wörter oder Ausdrücke, welche die Idee einer fernen Zukunft bezeichmen. Wir werden diesen Befund durch eine Erörterung der wichtigsten Zeitformen in der Sprache der Kamba and Kikuju illustrieren. (Siehe Tabelle auf S. 22.) Die drei verbalen Zeitformen, die sich auf die Zukunft beziehen (Nummer 1—3), bezeichnen einen Zeitablauf von etwa sechs Monaten bis höchstenfalls zwei Jahren. Kommende Ereignisse müssen im Bereich dieser Zeitformen liegen, oder sie entschwinden am Horizont dessen, was die wirkliche Zeit ausmacht. Man könnte vielleicht sogar sagen, daß diese kurze Zukunft nur eine Verlängerung der Gegenwart ist. Die Menschen haben nur geringes oder überhaupt kein Interesse an Ereignissen, die in einer Zukunft liegen, welche über das Höchstmaß von zwei Jahren hinausgeht, und die genannten Sprachen verfügen über keine Wörter, um solche Ereignisse zu erfassen oder in Gedanken zu kleiden. b) Zeitrechnung und Zeitbestimmung
Wenn die Afrikaner Zeitrechnungen anstellen, so ist dies keine pure mathematische Übung, sondern es geschieht zu einem konkreten Zweck in Verbindung mit bestimmten Ereignissen. Da Zeit ein Zusammenspiel von Ereignissen ist, können die Menschen sie nicht im luftleeren Raum berechnen. Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, gibt es in traditionellen afrikanischen Gesellschaften, von vielleicht ein oder zwei Ausnahmen abgesehen, keine Zeittafeln oder Kalender. Falls solche existieren, sind sie höchstwahrscheinlich von begrenzter Dauer. Sie reichen vielleicht
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Zum Verständnis afrikanischer Religion und Weltanschauung
einige Jahrzehnte zurück, erstrecken sich aber auf keinen Fall über Jahrhunderte. Anstelle von Zahlenkalendern, die mathematisch abgegrenzte Zeiträume umfassen, findet man im afrikanischen Kulturbereich Ereigniskalender, deren konstitutive Zeitelemente auf Vorfällen oder Ereignissen beruhen. Diese werden in ihren wechselseitigen Beziehungen und in ihrer Zeit bewirkenden Abfolge betrachtet. So zählt zum Beispiel eine werdende Mutter die Monde ihrer Schwangerschaft, ein Reisender zählt die Tage, die er braucht, um von einem Teil des Landes zum anderen zu wandern; zumindest war dies in früheren Zeiten so. Ob Tag, Monat oder Jahr, ob ein Lebensalter oder die ganze Geschichte der Menschheit — sie alle werden nach bestimmten, für sie wichtigen Ereignissen eingeteilt und berechnet, denn nur die Ereignisse geben der Zeit Sinn und Bedeutung. Der Sonnenaufgang z. B . ist ein Ereignis, das für die gesamte Gemeinschaft Bedeutung hat. Ob die Sonne um fünf oder um sieben Uhr aufgeht, spielt dabei keine Rolle; daß sie aufgeht, ist das Entscheidende. Wenn jemand sagt, er wolle einen anderen bei Sonnenaufgang treffen, so kommt es nicht darauf an, ob die Begegnung um fünf oder sieben Uhr früh stattfindet, sondern daß sie ungefähr in die Zeit des Sonnenaufgangs fällt. Ahnlich unwesentlich ist es, ob die Menschen um neun Uhr abends oder um Mitternacht zu Bett gehen; wichtig ist nur das Schlafengehen als solches. Für die betreffenden Menschen gewinnt Zeit nur im Augenblick des Ereignisses Bedeutung, nicht aber im mathematisch berechenbaren Moment. In der westlichen Gesellschaft des technologischen Zeitalters ist Zeit eine Ware, die nach ihrem Nutzwert gekauft oder verkauft wird. Im traditionellen afrikanischen Leben hingegen muß Zeit erzeugt oder erschaffen werden. Der Mensch wird nicht zum Sklaven der Zeit, sondern er „erzeugt" so viel Zeit wie er braucht. Wenn Ausländer, insbesondere solche aus Europa oder Amerika, nach Afrika kommen und sehen, wie die Leute herumsitzen, scheinbar ohne irgendetwas zu tun, bemerken sie oft: „Diese Afrikaner vergeuden ihre Zeit, indem sie müßig herumsitzen!" Häufig hört man auch die entrüstete Feststellung: „Oh, diese Afrikaner verspäten sich immer!" Es ist leicht, in solche Urteile zu verfallen, aber sie beruhen auf völliger Unkenntnis dessen, was Zeit für den Afrikaner bedeutet. Die Leute, die man herumsitzen sieht, sind in Wirklichkeit nicht dabei, Zeit zu vergeuden, sondern entweder warten sie auf Zeit, oder sie sind im Begriff, Zeit zu „erzeugen".
Zeitrechnung und Zeitbestimmung
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Ich habe nicht die Absicht, diesen Punkt noch weiter zu erörtern, aber es dürfte feststehen, daß dem. Leben und Verhalten der Afrikaner auf den Dörfern ein v o m europäischen Denken verschiedener ZeitbegrifF zugrunde liegt, dessen Einfluß auch auf jene unverkennbar ist, die in den Städten leben und arbeiten. Unter anderem ist das wirtschaftliche Leben der Menschen zutiefst mit ihrem Zeitempfinden verknüpft. Dasselbe gilt f ü r viele ihrer religiösen Vorstellungen und Gebräuche, w i e wir weiter unten klarzumachen versuchen. Im traditionellen Leben wird der Tag nach seinen bedeutungsvollsten Ereignissen eingeteilt. Unter den Ankole Ugandas z. B . , die ihr Vieh als ihr ein und alles betrachten, wird der T a g ungefähr in folgender Weise den Vorgängen der Viehhaltung entsprechend eingeteilt: 6 U h r morgens ist Melkzeit (akaschesche) 12 U h r mittags ist Ruhezeit für Mensch
und Vieh (bari omubirago), da die Hirten die Kühe nach dem Melken auf die Weide treiben und Herde und Hirten um die Mittagszeit R u h e brauchen. 1 Uhr nachmittags ist die Zeit des
Wasserholens (baasa ahamasiba) vom Brunnen oder Fluß, bevor man die Kühe dorthin zur Tränke treibt, w o sie das Wasser verschmutzen und die Wasserträger bei ihrer Arbeit behindern würden. 2 Uhr nachmittags ist die Zeit des
Kühetränkens (amasyo niganywa); die Hirten treiben die Kühe zur Tränke. 3 Uhr nachmittags ist die Zeit, wenn die Kühe ihre Tränke verlassen und wieder zu
weiden anfangen (amasyo nigakuka). 5 Uhr nachmittags ist die Zeit, wenn die Kühe, von den Hirten getrieben, heimkehren
(ente niitaha). 6 Uhr nachmittags ist die Zeit, wenn die Kühe zur Übernachtung in ihre Einfriedungen
getrieben werden (ente saataha).
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Z u m Verständnis afrikanischer Religion und Weltanschauung 7 U h r abends ist wiederum Melkzeit, bevor die Kühe ihre Nachtruhe antreten, und damit ist der Tag eigentlich beschlossen.1
Der Monat Beim Monat handelt es sich nicht um eine zahlenmäßig festgelegte Zeiteinheit, sondern um den „Mond" mit seinen einzelnen Phasen. Im Leben des Volkes werden bestimmte Ereignisse mit bestimmten Monaten in Verbindung gebracht, so daß die Monate entweder nach den wichtigsten Ereignissen oder den vorherrschenden Wetterbedingungen benannt sind. So gibt es z. B. einen „heißen" Monat, den Monat der ersten Regenfälle, den Jätemonat, den Monat der Bohnenernte und den Jagdmonat. Es spielt keine Rolle, ob der „Jagdmonat" 25 oder 35 Tage dauert; das Ereignis des Jagens ist ungleich wichtiger als die mathematische Länge des Monats. Wir wollen am Beispiel des Latukavolkes erläutern, wie die annähernde Monatseinteilung von den Naturgegebenheiten bestimmt ist: Der Oktober trägt den Namen „die Sonne", weil die Sonne in dieser Zeit sehr heiß scheint. Der Dezember heißt: „Gib deinem Onkel Wasser", weil Wasser äußerst knapp ist und die Menschen Durst leiden. Der Februar heißt: „Laß sie graben!", denn in diese Zeit fällt der Beginn der Feldarbeit in Vorbereitung auf das Pflanzen, da die Regenzeit bevorsteht. Der Mai ist unter dem Namen „Korn in der Ähre" bekannt, da das Korn sich zu entwickeln beginnt. Der Juni heißt „Schmiermäulchen", weil die Kinder nun beginnen, das frische Korn zu essen und sich dabei den Mund schmutzig machen. Der Juli ist unter dem Namen „Verdorrendes Gras" bekannt, da am Ende der Regenzeit der Boden austrocknet und das Gras verwelkt. Der August heißt „Leckerkorn", weil man zur Zeit der Ernte wohlmundendes Korn verzehrt. 1
V g l . J . Roscoe: The Northern Bantu, 1 9 1 5 , S. I 3 9 f , dessen Zeiteinteilung nicht ganz zuverlässig ist. Ich habe Roscoe's Schema verbessert.
Zeitrechnung und Zeitbestimmimg
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Der September trägt den Namen „Wurstbaum", da in diesem Monat die Früchte des Wurstbaumes (kigalia africana) reifen.2 Der Name bezieht sich auf die Form der Frucht, die wie eine Riesenwurst aussieht. Damit ist der Jahresring geschlossen, der Kreislauf der Natur hebt von neuem an und das Jahr ist um. Das Jahr Es setzt sich gleichfalls aus Ereignissen zusammen, die aber größeren Ausmaßes sind als jene, aus denen der Tag oder Monat besteht. In einer Gemeinde von Ackerbauern setzt sich das landwirtschaftliche Jahr aus den jahreszeitlich bedingten Verrichtungen zusammen. In der Nähe des Äquators z. B . unterscheidet man zwei Regenzeiten und zwei Trockenzeiten. Wenn die Zahl der Jahreszeiten vollendet ist, dann ist das Jahr abgelaufen, da diese vier Hauptjahreszeiten das Jahr ausmachen. Die genaue Anzahl der Tage ist unwesentlich, da ein Jahr nicht nach mathematischen Tagen, sondern nach Ereignissen bemessen wird. Deshalb kann ein Jahr 350 Tage haben, während das nächste 390 Tage zählt. Die Jahre können längenmäßig, d. h. an der Tageszahl bemessen, durchaus verschieden sein, aber nicht im Hinblick auf die Jahreszeiten und andere regelmäßige Geschehnisse. Da die Jahre mathematisch gesehen verschieden lang ausfallen, sind Kalender mit festen Zahleneinheiten im traditionellen Leben unmöglich und sinnlos. Von der Zeitbestimmung des Einzeljahres abgesehen, hüllt sich der afrikanische ZeitbegrifF in gleichgültiges Schweigen. Die Menschen nehmen es als gegeben an, daß die Jahre kommen und gehen, wie Tag und Nacht im endlosen Rhythmus einander ablösen und wie der Mond immerwährend seine Phasen durchläuft. Sie erwarten, daß das Geschehen der Regenzeit, des Pflanzens, Erntens, der Trockenzeit, auf die wieder Regen und Einsaat folgen, im endlosen Zyklus wiederkehrt. Jedes neue Jahr kommt und geht und mehrt die Zeitdimension der Vergangenheit. Endlosigkeit oder „Ewigkeit" ist für die Menschen etwas, was nur im Gefilde der Vergangenheit liegen kann, das heißt, daß wir die neunte Zeitform unserer Tabelle unendlich multiplizieren müssen. Wenn Christen im Kikamba oder Kikuju von der Ewigkeit sprechen, dann sagen sie „tene na tene", d. h. „tene und tene" oder die 2
Vgl. L. F. Nalder, Hsg.: A tribal survey of Mongalla Province, 1937, S. 11 f, auf dem unsere Aufstellung mit geringfügigen Abänderungen beruht.
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Z u m Verständnis afrikanischer Religion und Weltanschauung
Multiplikation der Teile — Vergangenheit — mit sich selbst. Dies bedeutet: was „ e w i g " ist, liegt jenseits der Ereignisse, aus denen die menschliche Erfahrung oder Geschichte besteht. c) Die Begriffe Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Wir müssen nun weitere Dimensionen der Zeit und ihren Bezug zur afrikanischen Ontologie erörtern. Wie wir bereits gesehen haben, löst sich der afrikanische ZeitbegrifF, wenn er über einen Zeitraum von wenigen Monaten hinausgreift, in gleichgültiges Schweigen auf. Daraus folgt, daß die Zukunft als wirkliche Zeit praktisch nicht existiert, wenn man von einer relativ kurzen Projektion der Gegenwart in den Z u kunftsbereich bis zu höchstens zwei Jahren absieht. U m Gedankenverbindungen mit den westlichen Begriffen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu vermeiden, schlage ich die Suaheliwörter „Sasa" und „Samani" vor. In unserer Tabelle der verbalen Zeitformen umfaßt Sasa die „Jetztperiode" der Zeitformen i bis 7. Sasa bedeutet Unmittelbarkeit, Nähe, „Jetztheit", es ist die Zeit, die die Menschen unmittelbar angeht, da sie in ihr existieren. Was anderwärts Zukunft heißt, ist von äußerst kurzer Dauer. Das kann nicht anders sein, weil jedes zukünftige Ereignis, um bedeutsam zu sein, so unmittelbar und greifbar bevorstehen muß, daß die Menschen es fast schon erlebt haben. Wenn es daher in weitere Ferne entrückt wird und vom jetzigen Zeitpunkt (Zeitform 4) aus gesehen in mehr als zwei Jahren stattfinden soll, so ist es nicht vorstellbar oder in Worte zu fassen, denn die Sprache hat keine Zeitformen, um diese ferne Zukunftsdimension auszudrücken. Wenn ein Ereignis in noch fernerer Zukunft liegt, rückt seine Wirklichkeit völlig aus der Sasaperiode hinaus. Im afrikanischen Denken „verschluckt" die Sasaperiode folglich jenes Zeitelement, das in der westlichen, linearen Zeitvorstellung als Zukunft bezeichnet wird. In der Sasadimension müssen die Ereignisse, die deren eigentliche zeitschaffende Elemente sind, entweder unmittelbar bevorstehen, gerade Wirklichkeit werden oder kurz zuvor erlebt worden sein. Für den Einzelmenschen ist Sasa der bedeutungsvollste Zeitabschnitt, da er sich an die darin erlebten Vorgänge und Ereignisse persönlich erinnert oder aber sie in Bälde erwartet. Sasa ist eine auf der Erfahrung beruhende Ausdehnung des Jetzt-Moments (Zeitform 4) in die begrenzte Zukunft und in die unbegrenzte Vergangenheit, d. h. das Samani. Sasa ist nicht mathematisch oder zahlen-
Der Begriff Geschichte und Urgeschichte
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mäßig konstant. Je älter ein Mensch ist, desto länger ist seine Sasaperiode. Die Gemeinschaft hat ebenfalls ihr Sasa, welches das Sasa des einzelnen in sich begreift. Doch für die Gemeinschaft wie den einzelnen gilt in gleicher Weise, daß das J E T Z T , wie es in Zeitform 4 Ereignis wird, der am stärksten empfundene Augenblick ist. Das Sasa ist die Sphäre, in der die Menschen sich ihrer Existenz bewußt sind und von der aus sie sich sowohl in die begrenzte Zukunft als vor allem in die Vergangenheit (Samani) versetzen können. Das Sasa ist eine in sich vollständige, abgerundete Zeitdimension, die ihre eigene, wenngleich begrenzte Zukunft, eine dynamische Gegenwart und eine erlebte Vergangenheit besitzt. Man könnte sie Mikrozeit (Kleinzeit) nennen. Die Mikrozeit nimmt f ü r den einzelnen wie für die Gemeinschaft nur insofern Bedeutung an, als sie an ihr teilhaben oder sie erleben. Das Samani ist nicht auf die Sphäre beschränkt, die im westlichen Denken Vergangenheit heißt. Es hat seine eigene „Vergangenheit", „Gegenwart" und „ Z u k u n f t " , jedoch in umfassenderer Bedeutung. W i r könnten es Makrozeit (Großzeit) nennen. Samani und Sasa überschneiden sich und sind nicht voneinander zu trennen. Das Sasa nährt das Samani und löst sich in ihm auf. Aber bevor ein Geschehen im Samani aufgehen kann, muß es sich in der Sasadimension verwirklichen oder konkretisieren. Erst dann „geht" es rückwärtschreitend v o m Sasa in das Samani über. Damit wird das Samani zum Zeitraum, den nichts durchmessen kann. Es ist der Friedhof der Zeit, die Endstation, die Dimension, in der alles seinen Ruhepunkt findet. Es ist der endgültige Lagerspeicher aller Erscheinungen und Ereignisse, das Meer der Zeit, in dem sich alles in eine Wirklichkeit auflöst, die weder Nachher noch Vorher ist. Sowohl Sasa als Samani werden qualitativ und quantitativ begriffen. Mit Bezug auf ein bestimmtes Ereignis oder einen bestimmten Vorgang bezeichnet man sie als groß, klein, kurz oder lang. Im allgemeinen bindet das Sasa den einzelnen an seine unmittelbare Umwelt. Es ist die Zeit bewußten Lebens. Das Samani hingegen ist die Zeit des Mythos, die der Sasaperiode Grund und Sicherheit verleiht und alles Erschaffene bindet, so daß alle Dinge von der Großzeit umfangen sind. d) Der Begriff der Geschichte und Urgeschichte Jedes afrikanische Volk hat seine eigene Geschichte. Diese Geschichte schreitet „rückwärts" von der Sasaperiode ins Samani, v o m Augen-
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Z u m Verständnis afrikanischer Religion und Weltanschauung
blick intensiven Erlebens in den Zeitraum, den nichts durchmessen kann. Im traditionellen afrikanischen Denken gibt es keinen nach „vorwärts" orientierten Geschichtsbegriff, demzufolge die Geschichte einem zukünftigen Höhepunkt oder dem Ende der Welt entgegenstrebt. Da die Zukunft über ein paar Monate hinaus nicht existent ist, kann man von ihr kein goldenes Zeitalter erwarten, keinen Zustand, der sich vom Inhalt des Sasa und Samani grundlegend unterschiede. In der traditionellen Geschichtsauffassung hat die Idee einer messianischen Hoffnung oder eines Weltenendes durch Zerstörung keinen Platz. Mithin kennen die afrikanischen Völker keinen Fortschrittsglauben, der ja schließlich auf der Annahme beruht, daß sich die Bemühungen und Leistungen der Menschheit von einer niedrigen zu einer höheren Stufe emporentwickeln. Die Menschen in Afrika planen weder für eine ferne Zukunft, noch bauen sie „Luftschlösser". Ihr Denken und Streben ist zur Samaniperiode hin orientiert, auf die sich das Sasa zubewegt. Aller Augen warten auf das Samani, da es für sie eine „zukünftige Welt", wie Judentum und Christentum sie verkünden, nicht gibt. In Geschichte und Urgeschichte herrscht der Mythos. Auf dem afrikanischen Kontinent gibt es eine Unzahl von Mythen, die die Erschaffung der Welt, den ersten Menschen, die scheinbare Entrückung Gottes, den Ursprung des eigenen Stammes und seinen Einzug ins gegenwärtige Siedlungsgebiet sowie andere Fragen und Rätsel zu deuten versuchen. Die allgemeine Blickrichtung ist zum Samani hin, denn dieses enthält die Grundlagen des Sasa, deren Kenntnis zu einem besseren Verständnis der Gegenwart unerläßlich ist. Das Samani ist nicht erloschen, sondern mit Ereignissen und Tätigkeiten angefüllt. Es enthält die Antworten auf viele Fragen, die die Menschen stellen: über die Schöpfungsgeschichte, den Ursprung des Todes, die Entwicklung ihrer Sprache und Sitten und das Werden ihrer Stammesweisheit. Das „Goldene Zeitalter" liegt im Samani, und nicht etwa in der äußerst begrenzten oder überhaupt nicht existenten Zukunft. Eine Geschichte oder Urgeschichte dieser Art verdichtet sich gewöhnlich zur sehr summarischen mündlichen Überlieferung, die von Generation zu Generation weitergereicht wird. Wenn wir versuchten, solche Überlieferungen in ein mathematisches Zeitschema zu zwängen, würden sie sich scheinbar nur über wenige Jahrhunderte erstrecken, während sie in Wirklichkeit viel weiter zurückreichen. Einige von ihnen, die in der Form von Mythen erscheinen, widersetzen sich jedem
Der Begriff des Menschenlebens in seinem Bezug zur Zeit
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Versuch, sie in historische Zeit umzurechnen. Jedenfalls kennt die mündliche Überlieferung den Umgang mit Daten nicht. Der Mensch schaut zurück zu seinen Ursprüngen, und er weiß mit Sicherheit, daß nichts diese Welt einem Ende zuführen wird. Es liegt im Wesen der afrikanischen Geschichtsschau, daß es zahllose Mythen über das Samani, aber keine Mythen über das Ende der Welt gibt, da die Zeit ohne Ende ist.3 Die afrikanischen Völker leben in der Erwartung, daß die Menschheitsgeschichte im ewigen Rhythmus das Übergangs vom Sasa zum Samani fortdauert. Nichts läßt darauf schließen, daß dieser Rhythmus je ein Ende nimmt; die Tage, Monate, Jahreszeiten und Jahre folgen endlos aufeinander, wie auch der Rhythmus von Geburt, Hochzeit, Zeugung und Tod unendlich weiterschwingt. e) Der Begriff des Menschen lehens in seinem Bezug zur Zeit
Im Menschenleben offenbart sich ein weiterer natürlicher Rhythmus, der unzerstörbar ist. Für den einzelnen besteht dieser Rhythmus aus Geburt, geschlechtlicher Reifung, Initiation, Ehe, Zeugung, Altern, Tod, Eintritt in die Gemeinschaft der Verstorbenen und endlich Eintritt in die Gemeinschaft der Geister. Es ist ein ontologischer Rhythmus, aus dem diese Hauptmomente im Leben des einzelnen hervorragen. Für die Gemeinde oder Volksgemeinschaft ist es der Kreislauf der Jahreszeiten mit ihren verschiedenen Tätigkeiten wie Saat, Feldbestellung, Jagd und Ernte. Die wichtigsten Ereignisse oder Augenblicke finden stärkere Beachtung als andere und werden oft durch religiöse Riten und Zeremonien unterstrichen. Ungewöhnliche Ereignisse oder solche, die sich dem normalen Rhythmus entziehen, wie Sonnen- und Mondfinsternisse, Dürreperioden, die Geburt von Zwillingen und dergleichen, werden allgemein als böse Vorzeichen betrachtet. Meist fühlt sich die Gemeinschaft verpflichtet, ihnen besondere Aufmerksamkeit zu 3
Die einzige mögliche Ausnahme bilden die Sonjo in Tansania, welche glauben, daß die Welt eines Tages zu Ende schrumpfen wird. Dieser Gedanke beherrscht jedoch nicht ihr Leben, und sie leben weiter, als ob es ihn nicht gebe. Es mag sein, daß zu einem früheren Zeitpunkt ihrer Geschichte ihr Vulkan, der in der Massaisprache Oldonyo Lengai, der Berg Gottes heißt, ausbrach und in ihrem kleinen Land einen „Weltuntergang" herbeiführte. Dieses Ereignis mag dann seinen Niederschlag in Form eines Mythos gefunden haben, der zukunftweisend vor etwaigen weiteren Ausbrüchen warnt. Siehe R . F. Gray: The Sonjo of Tanganyika, 1963, der jedoch keine Erklärung für den Mythos gibt.
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Zum Verständnis afrikanischer Religion und Weltanschauung
widmen, und diese mag die Form religiöser Handlungen annehmen. Das Anormale oder Ungewöhnliche ist ein. Einbruch in die ontologische Harmonie. f) Tod und Unsterblichkeit Sowie der einzelne älter wird, rückt er allmählich von der Sasaperiode ab und nähert sich dem Samani. Seine Geburt ist ein langsamer Vorgang, der erst lange nach der körperlichen Geburt abgeschlossen wird. In manchen Gesellschaften wird ein Mensch erst nach Vollendung der körperlichen Geburt, der feierlichen Namengebung, der Reifefeier und Initiation und schließlich der Ehe oder gar Zeugung als vollwertiger Mensch anerkannt. Danach ist er endlich „geboren", ein ganzer Mensch. In ähnlicher Weise ist der Tod ein Vorgang, der den Menschen allmählich vom Sasa ins Samani befördert. Nach dem körperlichen T o d existiert der einzelne in der Sasaperiode weiter, ohne sofort aus ihr zu entschwinden. Seine Verwandten und Freunde, die ihn im Leben gekannt und im Tode überlebt haben, gedenken seiner. Sie erinnern sich seines Namens, ohne diesen unbedingt zu nennen, sie rufen seine Persönlichkeit, sein Wesen, seine Worte, Taten und Lebensumstände in sich wach. Wenn er „erscheint", wie die Menschen glauben, wird er namentlich erkannt. Die Abgeschiedenen erscheinen in erster Linie den älteren Mitgliedern der hinterbliebenen Familie, fast nie aber Kindern. Sie erscheinen denjenigen Menschen, deren Sasaperiode am längsten gewährt hat. Das namentliche Erkennen ist von größter Bedeutung. Das Erscheinen eines Verstorbenen und seine Namensnennung zum Zeichen des Erkennens setzt sich manchmal über vier bis fünf Generationen fort, solange noch jemand am Leben ist, der einst den Verstorbenen persönlich und namendich gekannt hat. Wenn jedoch der letzte Mensch, der den Verstorbenen kannte, gleichfalls stirbt, entschwindet dieser aus dem Bereich der Sasaperiode. Erst jetzt gilt er im Hinblick auf die Familienbande als völlig tot. Er ist im Samani versunken. Solange man jedoch des Verstorbenen und seines Names gedenkt, ist er nicht wirklich tot. Er lebt, und ich würde eine solche Person als lebend-tot bezeichnen. Der Lebend-Tote (the living-dead), oder die Totenseele, ist ein Mensch, der körperlich tot ist, aber im Gedächtnis jener, die ihn im Leben kannten, weiterlebt und gleichzeitig in der Welt der Geister existiert. Solange man die Totenseele so in Erinnerung behält, befindet sie sich im Stande persönlicher Unsterblichkeit. Ein äußeres Zeichen dieser persönlichen U n -
Tod und Unsterblichkeit
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Sterblichkeit ist die physische Fortdauer des Individuums durch Zeugung, welche bewirkt, daß die Kinder die Züge ihrer Eltern oder Vorfahren tragen. Die Hinterbliebenen verleihen der persönlichen Unsterblichkeit durch verschiedene Handlungen Ausdruck, indem sie z. B. den Verstorbenen mit Ehrerbietung begegnen, ihnen Speisen darbieten und Trankopfer ausgießen und die zu ihren Lebzeiten oder beim späteren Wiedererscheinen von ihnen gegebenen Anweisungen streng befolgen. Der Begriff der persönlichen Unsterblichkeit sollte zum Verständnis der religiösen Bedeutung der Ehe in der afrikanischen Gesellschaft beitragen. Ein Mensch, der nach seinem körperlichen Tode keine nahen Verwandten hat, die ihn im Gedächtnis behalten, wird zu einem Niemand, der wie eine verlöschende Flamme aus dem Menschenleben ausscheidet. Daher hat jeder auf Grund der Schöpfungsordnung die Pflicht, sich zu verheiraten. Wenn nun aber die Ehe eines Mannes kinderlos bleibt oder er nur Töchter hat, sucht er sich eine neue Frau, so daß aus ihr Kinder — vorzugsweise Söhne — geboren werden, die ihn überleben und ihn sowie die anderen Totenseelen der Familie im Zustand persönlicher Unsterblichkeit erhalten. Die Zeugung ist das einzige Mittel um sicherzustellen, daß man nicht der persönlichen Unsterblichkeit verlustig geht. Das Trankopfer in Form von Bier, Milch oder Wasser, das auf die Erde gegossen wird, oder die Darbietung von Speisen an die Totenseelen sind Symbole der Gemeinschaft, der Zusammengehörigkeit und des Gedenkens. Diese Handlungen sind die mystischen Bande, die die Totenseelen mit ihren überlebenden Verwandten verbinden. Sie finden deshalb im Familienkreis statt. Der Familienälteste vollzieht oder beaufsichtigt sie im Namen der Familie kraft der Tatsache, daß er die längste Sasaperiode und daher die am weitesten zurückreichende Erinnerung an den Toten hat. Wenn es die Gelegenheit erfordert, bietet er allen Verstorbenen — den Totenseelen der Familie — die symbolische Mahlzeit dar, wobei vielleicht nur einer oder zwei der Verstorbenen namentlich oder ihrer Stellung in der Familie entsprechend (z. B. Vater oder Großvater) erwähnt werden. Hier handelt es sich keineswegs um sogenannte Ahnenverehrung, mögen diese Handlungen auch Außenstehenden, die die Zusammenhänge nicht verstehen, in einem solchen Lichte erscheinen. Mit der Zeit versinken die Totenseelen am Horizont der Sasaperiode. Dieser Punkt wird erreicht, wenn keiner von denen, die sie persönlich und namentlich kannten, mehr am Leben ist. N u n ist der Vorgang des 3
Mbiti, Afrikanische Religion
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Zum Verständnis afrikanischer Religion und Weltanschauung
Sterbens abgeschlossen. Aber die Totenseelen entschwinden nicht völlig aus der Existenz: sie treten nunmehr in den Stand der kollektiven Unsterblichkeit hinüber. Dies ist der Zustand der Geister, die formell nicht mehr Mitglieder menschlicher Familien sind und zu denen niemand mehr persönlichen Kontakt unterhält. In diesem Zustand werden die Verstorbenen zu Mitgliedern der Familie bzw. Gemeinschaft der Geister (Community of the spirits). Wenn sie jetzt den Menschen erscheinen, weiß man sie nicht mehr beim Namen zu nennen, und sie können Furcht und Schrecken einflößen. Es kommt immer noch vor, daß ihre Namen von Menschen erwähnt werden, vor allem in genealogischen A u f zählungen, aber es sind von nun an leere Namen, aller Persönlichkeit entkleidet, oder bestenfalls mythologische Gestalten, die sich aus Wahrheit und Dichtung zusammensetzen. Solche Geister pflegen keinen persönlichen Umgang mit menschlichen Familien mehr. In manchen Gesellschaften sprechen sie gelegentlich durch ein Medium, oder sie werden zu Hütern der Sippe oder des Volkes. Im letzteren Falle gedenkt man ihrer Namen bei religiösen Anlässen von örtlicher oder nationaler Bedeutung, oder man wendet sich hilfesuchend an sie. Andernorts werden solche Geister in das Heer der Mittler zwischen Gott und den Menschen einbezogen, und die Menschen versichern sich ihrer Fürsprache bei Gott. Die wirkliche R o l l e dieser Geister der Verstorbenen im Bund mit änderen Geistern, die nicht unbedingt menschlicher A b stammung sein müssen, ist es, eine seinsmäßige Zwischenstellung zwischen Gott und den Menschen zu bekleiden. Die Menschen können sich nicht über den Zustand von Geistern hinaus entwickeln oder erheben. Der Geisterstand ist mithin die letzte Bestimmung des Menschen in der afrikanischen Seinslehre. Die religiösen Handlungen in Afrika konzentrieren sich größtenteils auf das Verhältnis zwischen Lebenden und Abgestorbenen. In Wirklichheit bedeutet dies, daß der Mensch versucht, sich in eine Welt hineinzuversetzen, die auch ihm nach seinem Tode bestimmt ist. Wenn die Totenseelen plötzlich dem Vergessen anheimfallen, werden sie aus der Sasaperiode ausgestoßen, man könnte sagen exkommuniziert, ihre persönliche Unsterblichkeit erlischt, und sie gehen in einen Zustand der Existenzlosigkeit über. U n d dies ist die schlimmste Strafe, die ein Mensch sich vorstellen kann. Die Verstorbenen grollen dagegen, und die Lebenden versuchen mit allen Mitteln, einen solchen Frevel zu vermeiden, da sie befürchten, Krankheit und Unglück würden über diejenigen kommen, die ihre toten Angehörigen vergessen. Paradoxerweise liegt der T o d „ v o r " dem einzelnen und ist ein Ereignis,
R a u m und Zeit
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das der „Zukunft" angehört. Wenn er jedoch stirbt, tritt er in den Zustand persönlicher Unsterblichkeit ein, der nicht in der Zukunft, sondern im Samani liegt. g) Raum und Zeit
Raum und Zeit sind eng miteinander verbunden, und oft wird für beide dasselbe Wort verwendet. Wie die Zeit, so wird auch der Raum durch seine Inhalte bestimmt, und wie das Sasa die Sphäre des unmittelbar Erlebten umfaßt, so ist im R a u m vor allem das geographisch Naheliegende von Wichtigkeit. Die Afrikaner sind daher besonders eng mit ihrer Scholle verbunden, denn sie ist konkreter Ausdruck ihres Samani wie ihres Sasa. Die Scholle ist der Wurzelgrund ihrer Existenz und gleichzeitig das mystische Band, das Lebende und Verstorbene eint. Die Afrikaner wandeln auf den Gräbern ihrer Väter, und eine Lösung des mystischen Bandes zur Totenwelt würde Unglück über ihre Familie und das Leben der Gemeinschaft bringen. Eine gewaltsame Vertreibung von der Scholle ist eine Ungerechtigkeit, die kein Fremder ermessen kann. Sogar wenn Leute freiwillig ihre Heimstätten auf dem Lande verlassen und in die Stadt ziehen, um sich dort ihren Lebensunterhalt zu verdienen, werden Bande zerrissen, die unersetzbar sind. Die Umsiedlung bringt vielfach psychologische Probleme mit sich, die durch das städtische Leben bisher noch nicht bewältigt werden konnten. h) Die Entdeckung oder Erweiterung der
Zukunftsdimension
Die Afrikaner sind dabei, die Zukunftsdimension der Zeit zu entdecken. Diese Entdeckung läßt sich teils auf die Lehren christlicher Missionare, teils auf die Erziehung westlichen Stils und den Einbruch der modernen Technik mit all ihren Folgen zurückführen. Im säkularen Bereich drückt sich die Hinwendung zur Zukunft in nationaler Planung für die wirtschaftliche Entwicklung, in politischer Unabhängigkeit und im Ausbau des Erziehungswesens aus. Aber der Übergang von der alten Struktur, die im traditionellen Zeitbegriff begründet ist, zu einer neuen, welche die Entdeckung der Zukunftsdimension in sich begreift, geht nicht glatt vonstatten und könnte durchaus neben anderen Faktoren eine der Ursachen der politischen Unbeständigkeit unserer jungen Nationen sein. Im kirchlichen Leben scheint diese Entdeckung starke chiliastische Erwartungen auszulösen. Dies führt dazu, daß sich viele Christen vor den Anforderungen des irdischen Lebens in einen Zustand hoffender Erwartung auf das Leben im Paradies flüchten. Auf 3*
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Zum Verständnis afrikanischer Religion und Weltanschauung
die gleiche chiliastische H o f f n u n g gehen auch die zahlreichen G r ü n d u n gen v o n Splitterkirchen zurück, die sich meist u m eine das messianische M o m e n t verkörpernde Einzelgestalt scharen. D i e Entdeckung und Erweiterung der Zukunftsdimension enthält keimhaft große Möglichkeiten und Aussichten f ü r die Lebensgestaltung afrikanischer V ö l k e r . W e n n diese richtig erfaßt und schöpferisch nutzbar gemacht werden, können sie sich zweifellos segensreich auswirken. Es besteht allerdings auch die Gefahr, daß sie allzu hemmungslos ins Kraut schießen und zu tragischen Enttäuschungen führen. D e r traditionelle ZeitbegrifF ist innig mit d e m Gesamtleben der A f r i kaner verknüpft und könnte als Schlüssel z u m Verständnis ihrer E i n stellung, ihres Denkens und Handelns dienen. Unter diesem Leitgedanken w e r d e ich mich nun daranbegeben, die afrikanischen R e l i g i o n s f o r m e n und die afrikanische Weltanschauung darzustellen.
DIE N A T U R
GOTTES
Ontologisch ausgedrückt ist Gott der Ursprung und Erhalter aller Dinge. E r ist „ ä l t e r " als die Samaniperiode; er ist außerhalb und jenseits seiner Schöpfung. Andererseits befaßt er sich aber auch persönlich mit seiner Schöpfung, die mithin nicht außerhalb seiner M a c h t und R e i c h weite liegt. Gott ist also gleichzeitig transzendent und immanent, und w i r benötigen ein ausgewogenenes Verständnis dieser beiden Pole göttlichen Seins, w e n n w i r afrikanische Gottesvorstellungen erörtern wollen. 1 In meinem größeren W e r k Concepts of God in Africa (1969) habe ich sämtliche m i r zugänglichen Daten über traditionelle Gottesbegriffe zusammengestellt. Diese Studie befaßt sich mit nahezu 300 V ö l k e r n aus ganz A f r i k a , w o b e i die traditionell christlichen und islamischen Gemeinschaften ausgespart sind. A l l e diese V ö l k e r haben ohne eine einzige Ausnahme eine Vorstellung v o n Gott als d e m höchsten Wesen. Diese minimale und fundamentale Gottesidee ist also allen afrikanischen V ö l 1
Leser, die eine eingehendere und umfassendere Darstellung wünschen, werden auf das Werk von J . S. Mbiti: Concepts of God in Africa (S. P. C. K., London 1969 und Praeger, New York 1969) verwiesen, das im Hartumschlag und broschiert erschienen ist. Dieses und die beiden folgenden Kapitel lehnen sich stark an dieses Werk an, wofür dem Verlag, der Gesellschaft zur Verbreitung Christlichen Wissens (S. P. C. K.), mein Dank gebührt.
Die Natur Gottes
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kern eigen. Freilich gibt es viele Völkerschaften, deren Gottesidee weit über die genannte Minimalvorstellung hinausgeht, aber abgesehen von einigen wenigen umfassenden Studien sind die vorhandenen schriftlichen Belege über die Gottesvorstellungen einzelner Völker unvollständig. Das afrikanische Wissen von Gott drückt sich in Sprichwörtern, kurzen Aussagen, Liedern, Gebeten, Namen, Mythen, Legenden und religiösen Handlungen aus. Diese prägen sich leicht ins Gedächtnis ein und können mühelos an nachfolgende Geschlechter weitergegeben werden, was angesichts des Fehlens heiliger Schriften in den traditionellen Gesellschaften eine Notwendigkeit ist. Man sollte daher keine langen Abhandlungen über Gott erwarten. Aber Gott ist den afrikanischen Völkern kein Fremdling, und das traditionelle Leben kennt keine Atheisten. Dies kommt im Aschantisprichwort zum Ausdruck, welches lautet: „Niemand braucht einem Kind das höchste Wesen zu zeigen". Dies bedeutet, daß ein jeder das Dasein Gottes sozusagen instinktmäßig erfaßt und sogar Kinder Gott erkennen. Afrikanische Gottesvorstellungen sind stark von historischen, geographischen, sozialen und kulturellen Umweltfaktoren geprägt. Daraus erklären sich sowohl die Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die sich beim Vergleich der Gottesvorstellungen im afrikanischen Erdteil ergeben, als auch die Parallelen zu den Glaubensvorstellungen, die man bei Völkern anderer Länder und Kontinente findet, deren Existenzbedingungen denjenigen afrikanischer Völker ähnlich sind. Dies schließt nicht die Tatsache aus, daß einige ideelle und kulturelle Einflüsse, die sich in unserem Kontinent bemerkbar machen, durch Kontakte mit der Außenwelt entstanden sind. Solche Einflüsse sind jedoch auf ein geringes Maß beschränkt und müssen in beiden Richtungen wirksam gewesen sein. Es gibt grundlegende Doktrinen und Glaubenssätze im Christentum, Judentum und Islam, von denen in den traditionellen Religionen keine Spur zu finden ist. Diese Weltreligionen können daher nicht für die Verbreitung derjenigen Gottesvorstellungen in traditionellen Religionen verantwortlich sein, die biblischen oder ganz allgemein semitischen Vorstellungen von Gott ähnlich sind, während zu gleicher Zeit manche unendlich viel wichtigere Aspekte dieser Weltreligionen unbeachtet geblieben sind. Ich vertrete die Meinung, daß die afrikanische Erde fruchtbar genug ist, um ihre eigene, ursprüngliche religiöse Erkenntnis hervorsprießen zu lassen. Es ist bemerkenswert, daß es trotz der großen Entfernungen, die die Völker einer Region von der Bevölkerung anderer Regionen trennt, genügend gemeinsame Glaubensele-
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Die ewigen, und wesenhaften Eigenschaften Gottes
mente gibt, die es uns gestatten, die afrikanischen Gottesvorstellungen in kontinentaler Gesamtschau als Einheit zu behandeln. Allerdings ist die Situation ungleich vielschichtiger, als man beim ersten Eindruck einer grundsätzlichen Einheit annehmen möchte. Ich habe dieses Problem an anderer Stelle zu lösen versucht. Manche Autoren haben sich mit den Gottesvorstellungen einzelner Völker befaßt, aber wir brauchen uns hier nicht mit Dingen abzugeben, die schon anderweitig behandelt worden sind. a) Die ewigen und wesenhaften Eigenschaften Gottes Diese Eigenschaften („attributes") sind schwer zu erfassen und auszudrücken, da sie mehr in den Bereich abstrakter als konkreter Gedankengänge gehören. Allgemein gesehen ist das afrikanische Denken eher konkret als abstrakt. Es lassen sich jedoch eindrucksvolle Beispiele anführen, die die Vorstellung afrikanischer Völker von der ewigen Natur Gottes beweisen. Eine Anzahl Völker sieht Gott als allwissend, allgegenwärtig und allmächtig an. Diese Eigenschaften sind wesentliche Aspekte seines Seins, Teil seiner einmaligen Natur. Auf kein anderes Wesen kann diese Beschreibung angewandt werden. Diese und andere ewige Eigenschaften, auf die wir weiter unten noch eingehen werden, unterscheiden Gott von seiner Schöpfung und weisen ihn nicht nur als den Ursprung, sondern auch als den Erhalter aller Dinge aus. Wenn die afrikanischen Völker Gott als allwissend betrachten, verleihen sie ihm damit die höchste Ehrenstellung, denn Weisheit gilt den Afrikanern als hohes Gut. Sie bringen dadurch indirekt zum Ausdruck, daß Menschenweisheit, zu welcher Höhe sie sich auch erheben mag, begrenzt, bruchstückhaft und angelernt ist. Dagegen ist Gottes Allwissenheit absolut, unbegrenzt und wesenhaft Teil seiner ewigen Natur. Die Zulu und Ruanda kennen Gott als den „Weisen", für die Akan ist er „derjenige, der alles weiß oder sieht". Bei den Joruba ist die Redensart gebräuchlich: „ N u r Gott ist weise"; sie glauben, daß Gott „der Erkenner der Herzen" ist, der „sowohl das Innere als das Äußere des Menschen sieht". 2 Die Metapher des Sehens und Hörens erklärt den Begriff des allwissenden Gottes in konkreter, leicht faßbarer Form. Wir finden daher 2
Danquah, S. 55 (Akan); Idowu, S. 41 (Joruba); Guillebaud bei Smith, S. 1 8 7 (Rundi); Smith und Dale, S. 208 (IIa).
Die Natur Gottes
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Beispiele aus vielen Gegenden. Afrikas, in denen es von Gott heißt, daß er alles sehe oder höre. Bei den Rundi ist einer seiner Namen „der alles Beobachtende", während die sambischen IIa von ihm sagen: „Er hat lange Ohren". 2 Andere Völker, wie die Ganda, vergegenwärtigen sich Gott als „das große Auge" oder als „die Sonne", die überall ihr Licht erstrahlen läßt. Ob die Menschen sich nun Gott buchstäblich als einäugig, mehräugig oder langohrig vorstellen, ist unwesentlich. Wichtig ist nur, daß sie ihn als den Allwissenden betrachten, dem nichts verborgen bleiben kann, da nichts seinem Blick, seinem Gehör oder seinem Wissen entgeht. Er weiß alles, beobachtet alles und hört alles ohne Einschränkung und ohne Ausnahme. Wenn die IIa sagen: „Gott findet nirgendwo und nirgendwann ein Ende", dann beziehen sie sich auf seine allgegenwärtige Natur. Die Bamum drücken denselben Begriff in dem Namen aus, mit dem sie Gott bezeichnen: Ndschinji oder Nnui. Diese Wörter bedeuten nämlich „derjenige, der überall ist". Bei anderen Völkern, z. B. den Rundi und Kono, heißt es ähnlich, man begegne Gott überall, bei den Kamba, Gottes Gegenwart beschütze die Menschen, bei den Joruba und Kono, Übeltäter könnten der Strafe Gottes nicht entrinnen, bei den Schilluk und Ndamba, Gott sei wie der Wind oder die Luft. All dies sind also Versuche, diese ewige und wesenhafte Eigenschaft Gottes: seine Allgegenwart, zu umschreiben. Gottes Allmacht ist ein Begriff, der leichter zu erfassen ist als die obengenannten Eigenschaften. Infolgedessen finden wir zahlreiche konkrete Beispiele aus ganz Afrika, in denen von Gottes Allmacht die Rede ist. Bei einigen Völkern, wie den Joruba, Gombe, Akan und Aschanti, bezeichnet einer der für Gott gebräuchlichen Namen ihn als den „Allgewaltigen" oder „Allmächtigen". Seine Macht wird ganz praktisch verstanden. Die Joruba sagen von Pflichten oder schwierigen Aufgaben, daß sie „leicht zu tun sind, wie wenn Gott sie erfüllen würde, oder schwierig wie Dinge, die Gott nicht ermöglicht". 3 Die Zulu fassen Gottes Macht politisch auf, da politische Machtvorstellungen für eine so machtvolle Nation besondere Bedeutung haben. Sie beschreiben ihn als „denjenigen, der sogar Majestäten niederbeugt" und „der derart brüllt, daß alle Völker vor Schrecken erstarren". 4 Die Gombe, die im dichten Urwald des Kongo leben, sehen Gottes Allmacht im Hinblick 3 4
Idowu, S. 40 f. Smith, S. 109.
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Die ewigen, und wesenhaften Eigenschaften Gottes
auf den Wald und preisen ihn als „den, der die Wälder lichtet". 5 Für dieses Volk ist der Wald ein Machtsymbol, und sie stehen zweifellos in ständigem zähem Ringen, um ihn irgendwie unter Kontrolle zu halten. Für Gott ist dies jedoch kein Problem. Er kann den Wald mühelos lichten oder roden und ist daher allmächtig. Bei anderen Völkern wird Gottes Allmacht in der Ausübung seiner Herrschergewalt über die Natur gesehen, was einige Beispiele erhellen mögen. Die Ruanda haben zwei Sprichwörter, die aussagen, daß „der von Gott beschirmten Pflanze der Wind nie Schaden zufügt" und daß „Gott sehr lange Arme hat". 6 Bei den Kiga gilt Gott als derjenige, „der die Sonne untergehen läßt", und wenn die Kikuju Opfer und Gebete um R e g e n darbringen, so reden sie Gott als den an, der die Berge erbeben und die Flüsse über die Ufer treten läßt. Wind, Sonne und R e g e n sind zwar dem menschlichen Machtbereich, aber nicht der Macht Gottes enthoben, der durch sie und andere Naturkräfte oder -ereignisse („natural phenomena or objects") wirkt. Für andere Völker dagegen, u. a. die Kamba, Kikuju, Teso und Vukusu, drückt sich Gottes Allmacht in seiner Fähigkeit aus, mit den Geistern umzugehen oder sie zu beherrschen, da diese mächtiger sind als die Menschen. In dieser Sicht erscheint die Macht also in hierarchischer Ordnung mit Gott als dem Allmächtigen an der Spitze. Unter ihm sind die Geister und Naturereignisse und weiter unten die Menschen, die vergleichsweise wenig oder überhaupt keine Macht haben. Das Attribut der Transzendenz Gottes muß seiner Immanenz gegenübergestellt werden, da sich die beiden paradoxerweise ergänzen. Dies bedeutet, Gott ist so „ f e r n " (transzendent), daß die Menschen ihn nicht erreichen können, und doch so „nahe" (immanent), daß sie ihn spüren können. Viele ausländische Autoren sind in diesem Punkt in die Irre gegangen, indem sie Gottes Ferne unter Ausschluß seine Nähe betonten. Zeitlich gesehen „erstreckt sich" Gott über die gesamte Samaniperiode hinaus, so daß selbst die menschliche Vorstellungskraft ihn nicht fassen kann. Er erfüllt nicht nur die Samaniperiode, sondern transzendiert sie auch. Die Akan versuchen dies zum Ausdruck zu bringen, indem sie Gott als den preisen, „der nun und von Urzeiten an da ist", 7 und die Tonga, indem sie ihn „den Uralten der T a g e " nennen. Die Gombe 5 6 7
Davidson bei Smith, S. 167. Maquet bei Forde, S. 169. Danquah, S. 55.
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vergleichen diesen Wesenszug Gottes mit dem Wald und nennen ihn daher „den Ewigen der Wälder". 8 Soweit ihre Vorstellungskraft zurückreicht, hat der Wald bestanden, doch Gott war noch vor dem Wald da, denn er hat ihn erschaffen. Nun können sich die Menschen jedoch Gottes Transzendenz räumlich viel besser vorstellen. Man glaubt, daß Gott in weiter Ferne im Himmel „droben" wohne, den Menschen entrückt. Der Himmel in seiner unendlichen Weite verlockt die Menschen natürlich immer wieder zur Betrachtung mit den leiblichen Augen und zur Entfaltung ihrer Vorstellungskraft. In irgendeiner Weise bringen praktisch alle afrikanischen Völker Gott mit dem Himmel in Verbindung. Bei manchen finden sich Mythen, die davon berichten, wie der Mensch vom Himmel auf die Erde kam oder wie Gott den Menschen entrückt wurde und sich in den Himmel zurückzog, wo niemand mehr unmittelbaren Zugang zu ihm hatte. Der Begriff göttlicher Transzendenz kommt klar in einem Sprichwort der Kongo zum Ausdruck, das lautet: „Er ist von keinem anderen erschaffen, und niemand ist jenseits von ihm". 9 Ein „Jenseits" von Gott gibt es nicht, kann es nicht geben. Er ist die Fülle der Seinswirklichkeit, und nichts geht seiner Vollkommenheit ab. Er übersteigt alle Grenzen, seine Allgegenwart währt immer und überall. Er läßt sich nicht in menschliche Begriffe und Bilder fassen; er ist „der Unerklärbare", wie die Gombe ihn zu nennen pflegen. Ontologisch ist er insofern transzendent, als alle Dinge von ihm geschaffen wurden, während er aus sich selbst ist. Dem Range nach steht er „jenseits" anderer beseelter Wesen, der Geister, Menschen, Naturereignisse und Dinge; kraft seiner Macht und seines Wissens ist er der Höchste. Trotz seiner Transzendenz ist Gott jedoch auch immanent, so daß die Menschen mit ihm in Verbindung treten können und es auch wirklich tun. Einer der bekanntesten Preisnamen Gottes bei den Gombe schildert ihn als den „Alles Erfüllenden". Seine Nähe und Nahbarkeit kommt jedoch am besten in den vielen Akten der Gottesverehrung zum Ausdruck, die aus Opfern, Spenden, Gebeten und Anrufungen bestehen. Die Menschen bringen Gott auch mit vielen Naturkräften und Naturereignissen in Verbindung und geben dem Glauben Ausdruck, daß Gott in seiner Schöpfung weiterwirke. Es gibt keinen Raum und keine 8
Davidson bei Smith, S. 166. » Claridge, S. 269.
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Zeit ohne seine Gegenwart, denn er ist gleichzeitig mit allen Dingen. Dies ist trotz des äußeren Anscheins kein Pantheismus, und es gibt keine Beweise dafür, daß die Menschen Gott als alles und alles als Gott betrachten. Die meiste Zeit in ihrem Leben belassen die afrikanischen Völker Gott auf der transzendentalen Ebene und tun so, als ob er fern von ihren täglichen Verrichtungen sei. Dabei sind sie sich aber durchaus der Tatsache bewußt, daß er immanent ist und sich in Naturkräften und -ereignissen kundtut. Daher können sie sich jederzeit und an jedem Ort in Weihehandlungen an ihn wenden. Der Unterschied zwischen diesen aufeinander bezogenen Seinsweisen ließe sich so ausdrücken, daß Gott in der Theorie überweltlich, in der Praxis aber innerweltlich ist. Eine Anzahl afrikanischer Völker glaubt an die Existenz Gottes aus sich selbst und an seine Überlegenheit über alles Seiende. Die Zulus drücken dies am klarsten aus, wenn sie Gott einen Namen geben, der wörtlich bedeutet „der aus sich selbst Seiende" oder „der aus sich selbst ins Sein Getretene".10 Die Bambuti glauben, daß Gott „der erste war, der immer existiert hat und niemals sterben wird". 11 Neben diesen theologischen und philosophischen Definitionen gibt es auch solche, die biologisch geprägt sind. Im Glauben der Kikuju z. B. hat Gott: „ W e d e r Vater noch Mutter, weder W e i b noch Kind, Er ist allein. Er ist weder ein Kind noch ein alter Mann. E r ist derselbe heute, der er gestern w a r " .
Sie fügen hinzu, daß er nicht esse und über keine Boten verfüge.12 In fast gleichlautenden Worten sagen die Herero, daß Gott keinen Vater habe und kein Mann sei. Diese Aussagen bezeichnen Gott also als sich selbst genügend, sich selbst erhaltend und in sich selbst beschlossen, wie er auch aus sich selbst hervorgeht. Es wird streng betont, daß er im Unterschied zur menschlichen Natur unerschaffen, elternlos, ohne Familienbande und ohne jene Dinge existiere, die das Menschenleben ausmachen und erhalten. Er ist völlig auf sich selbst gestellt und von absoluter Unwandelbarkeit. 10 11 12
Smith, S. 109. Schebesta, II, S. 1 7 1 f. Routledge, S. 225 f; Kenyatta, S. 233.
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Aus diesen. Eigenschaften Gottes folgt seine einsame Größe und Hoheit. Bei vielen Völkern, wie z. B. den Akan, Luba, Ngoni und Tonga, heißt Gott „der Große", „der große Gott", „der große König" oder „der unerreicht große Geist". Der bei den Zulu gebräuchliche Hauptname Gottes, Unkulunkulu, bedeutet „der Groß-Große", und der gleiche Name wird auch bei Nachbarvölkern wie den Ndebele verwendet, für die Gott „der Größte der Großen" ist.13 Auch die Transzendenz und Selbstexistenz Gottes weisen auf seine Oberhoheit und Vorrangstellung hin. Allgemein herrscht der Glaube an Gott als Geist vor, mögen die Afrikaner im Denken und Sagen über ihn auch häufig anthropomorphe Vorstellungen und Bilder verwenden. Soweit bekannt ist, gibt es keine Bilder oder körperlichen Darstellungen Gottes in Afrika, was klar darauf hinweist, daß er als Geistwesen verstanden wird. Auch seine Unsichtbarkeit veranlaßt viele Menschen dazu, sich ihn eher geistig als physisch vorzustellen. U m diesen Aspekt Gottes zu begreifen, vergleichen einige Völker, wie die Ga, Ndamba und Schilluk, ihn mit dem Wind oder der Luft. Es gibt keinerlei Hinweise, daß ein Mensch je Gott gesehen hat, obwohl einige vage Berichte über Theophanien, d. h. physische Erscheinungen Gottes, vorliegen. Diese gehen jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit auf Sinnestäuschungen, und nicht auf äußere Erfahrungen zurück. Eine der klarsten Darstellungen Gottes als Geist kommt in einer traditionellen Hyme der Pygmäen vor, welche lautet: Im Anfang war Gott, Heute ist Gott, Morgen wird Gott sein. W e r kann ein Bild Gottes fertigen? Er hat keinen Leib. Er ist wie ein W o r t , das aus deinem Munde kommt. Dieses W o r t ! Es ist nicht mehr. Es ist vergangen und doch lebt es noch! So ist Gott. 14
In einer traditionellen Hymne der Schöna wird Gott als „der Große Geist" angerufen, der Felsen zu Bergen türmt, Zweige sprießen läßt 13 14
Smith, S. 1 0 3 ; Hughes und Velsen, S. 103. Young, S. 146. Er gibt allerdings nicht an, um welche Pygmäengruppe es sich handelt.
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und der Menschheit Regen gibt.15 Hier wird Gott also als tätiger und schöpferischer Geist geschildert. Nun ist Gott allerdings gerade als Geistwesen schwer begreifbar. Die Aschanti nennen ihn daher mit Recht „den unergründbaren Geist", da kein Menschenhirn ihn ausloten, kein Verstand ihn fassen kann. Für die Kongo ist er „das Wunder der Wunder", und alles, was über ihren Verstand geht, wird ihm als „ein Ding Gottes" zugeschrieben. Viele Menschen geben unumwunden zu, daß sie Gottes Beschaffenheit nicht kennen und daß ihnen die Worte Gottes nicht geläufig sind, da Worte doch in gewissem Grade ein Bild des Sprechenden ergeben. Einige gehen so weit zu sagen, daß Gottes Eigenname unbekannt sei, oder sie geben ihm einen ähnlichen Namen wie die Lunda, die ihn „Gott des Unbekannten" nennen, oder wie die Gombe, für die er „der Unerklärbare", oder die Massai, für die er „der Unbekannte" ist.16 In der afrikanischen Gesellschaft drückt der Name eines Menschen allgemein seine Persönlichkeit und sein Wesen aus. Was Gott anbetrifft, so weiß man zwar von einigen seiner Tätigkeiten und und von den Bekundungen seiner Gegenwart, ist aber über seine eigentliche Wesensart völlig im Ungewissen. Es ist eine Paradoxie, daß man ihn „kennt" und doch nicht „kennt". Er ist den Menschen kein Fremder, und doch stehen sie ihm fremd gegenüber; er kennt sie, aber sie kennen ihn nicht. Also erscheint Gott den Menschen als der Geheimnisvolle und Unbegreifbare, sich jeder Beschreibung im menschlichen Bild und Wort Entziehende. Dieses Sichentziehen ist Teil seiner Wesenheit. Um Gottes ewige Natur zu bezeichnen, haben die einzelnen Völker verschiedene Ausdrücke. Die Gombe, für die der Wald Zeitlosigkeit symbolisiert, preisen ihn als „den Ewigen der Wälder". Die IIa, Luba und andere Völker vergleichen Gottes ewige Natur mit der Beständigkeit der Sonne und nennen ihn „Er, der von den Sonnen ist" oder „Er von vielen Sonnen". Gottes Ewigkeit wird hier mit der Sonne aller Sonnen verglichen. Er dauert ewig, und seine ewige Natur linterliegt keinem Wandel und keiner Begrenzung. Die Ganda und Aschanti reden ihn als „den Ewigen" an. Die Joruba betrachten Gott als „den 15 16
Smith, S. 127. In der Lundasprache: Nschambi-Kalunga (Campbell, S. 245); im Gombe: Endalanäala (Davidson bei Smith, S. 167); in der Massaisprache: Ngai (Hinde p. 99). Andere Autoren behaupten allerdings, der Ausdruck bedeute „ R e g e n und Himmel".
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mächtigen, unbeweglichen Felsen, der niemals stirbt". 17 Diese die Unsterblichkeit ausdrückende Metapher wird auch im Sprichwort der Tonga verwendet, welches lautet: „Der Himmel stirbt nie, nur die Menschen sterben", 18 wobei „Himmel" natürlich Gott bedeutet. In einem bekannten Jorubalied wird der gleiche Gedanke betont; darin heißt es: „Man hört nie vom Tode Gottes reden!" Gott ist ewig, er ist nicht dem Wandel unterworfen, sondern dauert immerdar. Er bleibt, der er immer war und kann mithin nichts als Gott sein. Alle afrikanischen Völker erkennen Gott als den Einen an. In einigen Kosmologien bestehen jedoch neben ihm andere Gottheiten und Geistwesen, die eng mit ihm verbunden sind. Diese Wesen sind gewöhnlich Personifikationen der Wirkungskräfte Gottes, Naturereignisse oder Naturkräfte, vergöttlichte Nationalhelden oder Geistwesen, die von Gott als solche erschafFen wurden. In einigen wenigen Fällen, so bei den Bari, Lugbara und Niaturu, wird der Eine Gott unter doppeltem Aspekt gesehen, um die Uberweltlichkeit und Innerweltlichkeit Gottes und das Problem von Gut und Böse zu erklären. Bei den Ndebele und Schöna findet sich Berichten zufolge ein trinitarischer GottesbegrifF, durch den Gott als „Vater, Mutter und Sohn" definiert wird. 19 Wahrscheinlich ist dies mehr eine logische Verlegenheitslösung als eine fundamentale theologische Betrachtung; ihr Zweck ist wohl, Gott in die afrikanische Familienvorstellung einzufügen.
b) Die moralischen Eigenschaften Gottes Über Gottes moralische Eigenschaften liegt wenig Material vor. Viele Völker, wie die Kamba, Ruanda, Ha und Herero, betrachten Gott als barmherzig und voller Güte und Mitleid für die Menschheit. Aus diesem Grunde nennt man ihn den „Gott des Mitleids" und sagt von ihm: „Gott ist freundlich" oder „Gott ist barmherzig". Das Mitleid oder die Güte erlebt man in Gefahren und Schwierigkeiten, Krankheiten und Ängsten. In solchen Situationen ruft man ihn um Hilfe an, und alle Befreiung, aller zuteilgewordene Schutz wird ihm zugeschrieben. Auch wenn die Menschen bereits von Unheil heimgesucht worden sind, rufen sie ihn manchmal als Tröster an, wie es z. B . bei den Nuer ge17 18 19
Idowu, S. 36, 43. Junod, S. 135. Hughes und Velsen, S. 104 und Merwe, S. 11 f.
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schieht. Einige Völker — so die Kamba und Akan — nennen ihn „den Gott des Trostes". Die Mehrzahl der afrikanischen Völker betrachtet Gott als wesenhaft gut, und in vielen Situationen führt man das Gute, das sein Volk erfahren hat, auf ihn zurück. Einige Völker, wie die Kamba, Kongo, Herero, Ibo und IIa, sagen mit Entschiedenheit, daß Gott ihnen nur Gutes getan habe und sie mithin keinen Grund zur Klage hätten. Die Ewe drücken ihre Überzeugung so aus: „Er ist gütig, denn er hat nie die guten Dinge von uns genommen, die er uns verlieh". 20 Für manche Völker offenbart sich die Güte Gottes darin, daß er Unheil abwendet, Regen spendet und Menschen, Vieh und Feldern Fruchtbarkeit angedeihen läßt. Die Ndamba z. B. glauben, daß eine reiche Ernte von Gott kommt, die Vukusu, daß materieller Reichtum von ihm stammt. Die Nandi rufen Gott täglich an, er möge ihren Frauen, ihrem Vieh und ihren Saaten Fruchtbarkeit schenken. In ihrem Glauben an die wesenhafte Güte Gottes halten die Rundi es nicht für nötig, ihm zu danken, da er nur von seinem Recht Gebrauch mache, ihnen Gutes zu erweisen. Es ist jedoch durchaus möglich, daß Katastrophen, Unglücksfälle und Leiden über einzelne Leute oder ganze Familien kommen, ohne daß es eine eindeutige Erklärung dafür gibt. Bei einigen Völkern neigt man dazu, solche Vorgänge auf Gottes Einwirkung zurückzuführen, wobei meist Geister oder Magier eine ausführende Rolle spielen. Oft gilt das Unglück als Strafe für Verstöße gegen bestimmte Sitten oder Traditionen. In solchen Fällen wird Gott nicht als an sich „böse" angesehen. Man versucht lediglich, für sonst schwer erklärbare Tatsachen eine rationale Erklärung zu finden. Dieses Dilemma kommt in der Spruchweisheit einiger Völker Katangas zum Ausdruck, welche besagt, Gott sei „der Vater und Schöpfer, der erschafft und Erschaffenes wieder aufhebt". 21 Die IIa versuchen der Schwierigkeit beizukommen, indem sie sagen, von Gott stammten alle Gaben, aber auch die Fäulnis, die sie in sich trügen. Einige Völker sind der Uberzeugung, Gott könne Zorn an den Tag legen. Tod, Dürre und Überschwemmungen, Heuschreckenschwärme und andere Plagen, die über ein Volk kommen können, werden als Äußerungen seines Zorns gedeutet. Es gibt auch solche, die wie die Tonga und Tiv Donner und Blitz als Zeichen von Gottes Zorn 20
D . Westermann: The Shilluk « Campbell, S. 245.
People, Berlin und Philadelphia 1 9 1 2 , S. 197.
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ansehen, während die Rundi fürchten, daß Ehebruch seinen Zorn erregt und ihn veranlaßt, die Schuldigen durch Unglück zu bestrafen. Eine Anzahl Völker spricht Gott einen Willen zu, der das Weltall lenkt und die Geschicke der Menschheit bestimmt. Wenn die Bambutipygmäen von ihren Jagdzügen heimkehren, ohne ein Wild erlegt zu haben, so betrachten sie dies als Gottes Willen, gegen den sie nichts vermögen. Andererseits glauben die Ruanda, daß man nur durch Gottes Willen eine Frau oder einen Gatten finden, Reichtum erwerben, Arbeit bekommen oder seine Gesundheit wiedergewinnen könne. Wenn die Kamba von einem Vorhaben, sprechen, fügen sie die Worte hinzu: „So Gott will", und andere Völker, wie z. B. die Mende, beenden ihre Gebete mit der Formel „mit Gottes Willen". Unglücksfälle und insbesondere der Tod werden von mehreren Völkern, wie den Kikuju, Lugbara und Nuer, als Gottes Wille hingenommen, mag es daneben auch andere Deutungsversuche geben. Gottes Wille, der das Weltall und das Leben der Menschheit lenkt, ist ein unlösbarer Bestandteil seiner Persönlichkeit. Es ist ein unabänderlicher Wille, und in Situationen, die die menschliche Kraft überfordern, muß der Mensch ihn anrufen oder sich in ihn ergeben. Gottes Wille wird jedoch in gerechter Weise ausgeübt: Gott gilt bei den afrikanischen Völkern als gerecht. Die Nuer glauben, daß Gott immer recht hat, was ihnen auch zustoßen mag. „Gott gleicht die Dinge aus", er belohnt diejenigen, die ein gutes Leben führen, er bestraft jene anderen, die sich bösem Wandel anheimgeben und sieht über Verstöße, die durch Zufall oder Irrtum geschehen sind, hinweg.22 In gerichtlichen Dingen, bei Schwurzeremonien und feierlichen Verfluchungen, die alle vom Afrikaner sehr ernst genommen werden, beruft man sich oft auf die Gerechtigkeit Gottes. Er ist der höchste Richter, der seinen Richtspruch gerecht und unparteilich fällt. Über die Heiligkeit Gottes liegen nur wenige direkte Aussagen von Afrikanern vor. Die IIa vertreten die Auflassung, Gott könne niemals eines Vergehens beschuldigt werden, denn er stehe über jeglicher „Verfehlung", „Missetat" oder „Ungerechtigkeit". In den Augen der Joruba ist Gott „der reine König... der ohne Makel ist".23 Der Begriff der Heiligkeit Gottes wird auch durch die Tatsache bestätigt, daß viele afrikanische Völker strenge Regeln für den Vollzug auf Gott hinzielender Weihehandlungen kennen. So müssen z. B. Opfertiere von einer 22 23
Evans-Pritchard, II, S. 12, 19. Idowu, S. 47.
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bestimmten heiligen Farbe sein, und Priester oder als rituelle Amtsträger fungierende Älteste müssen sich vor und nach der Weihehandlung des Geschlechtsverkehrs und gewisser Speisen oder Tätigkeiten enthalten. Diese formalen Elemente des Ritus sind ein klarer Beweis, daß man Gott als heilig betrachtet. W e n n wir uns nun dem Thema der Liebe Gottes zuwenden, werden wir zu dem Schluß kommen, daß es praktisch keine direkten Aussagen darüber gibt. Im Alltagsleben der Afrikaner stellt man übrigens ähnliches fest. Selten hört man die Leute von Liebe reden. Ein Mensch beweist seine Liebe zu seinem Mitmenschen nicht so sehr durch W o r t e als durch Taten. Daher wird auch die Liebe Gottes in Gestalt konkreter Handlungen und Segensgaben erfahren. Daß Gott die Menschen liebt, nehmen sie als selbstverständlich an, sonst hätte er sie ja nicht erschaffen. Während Bekundungen des Bösen wie Krankheit, Unfruchtbarkeit, Tod, das Fehlschlagen von Unternehmungen usw. der Tücke der Menschen und gelegendich auch der Geister zugeschrieben werden, gelten alle Erscheinungsformen des Guten, wie Gesundheit, Kinderreichtum, Fruchtbarkeit, Wohlstand und Überfluß als Gottes Werk, als Zeichen seiner Liebe zu den Menschen. Die Liebe Gottes wird also erfahren, obwohl man nicht von ihr spricht, als ob sie etwas Ungewöhnliches, von Gottes Handlungen getrennt Bestehendes sei. Die Natur Gottes geht über den Menschenverstand hinaus. W i r haben hier nur ein paar ihrer Wesenszüge angedeutet, wie sie in verschiedenen Teilen Afrikas gesehen werden. W e n n wir uns ein klareres Bild von der Gottesauffassung der Afrikaner machen wollen, müssen wir uns jedoch dem Bereich der Taten Gottes zuwenden. Diese Taten sind eine wesentliche Dimension Gottes und spiegeln letzten Endes seine Natur wider — oder genauer gesagt, was die Menschen sich unter seinem Wesen und Schaffen vorstellen. Daher wollen wir uns jetzt mit den Taten Gottes befassen.
DIE W E R K E GOTTES a) Die Schöpfung In ganz Afrika wird die Schöpfung als das größte W e r k Gottes anerkannt. Der Begriff der Schöpfung findet indirekt dadurch seinen Ausdruck, daß man von Gott sagt, er habe alle Dinge erschaffen, daß
Die Schöpfung
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man ihm den Namen Schöpfer, Former oder Erzeuger gibt und ihn in Gebeten und Anrufungen als solchen bezeichnet. Die Aussagen afrikanischer Völker über die Schöpfertätigkeit Gottes sind reichlich belegt, und wir müssen uns daher hier mit einer Auswahl begnügen. Bei den Akan trägt Gott die Bezeichnung Borebore, d. h. „der Ausgräber, Hauer, Schnitzer, Urheber, Erfinder, Baumeister", 1 und man ist der festen Überzeugung, daß er allein die Welt erschuf. Form und architektonischer Ursprung des Weltalls werden auf Gott zurückgeführt, der mithin als oberster Künstler dasteht. Unter den vier bekanntesten Namen, die die Kamba Gott verleihen, bedeuten zwei „Schöpfer" oder „Erzeuger" und „Zerspalter".2 Der zweite dieser Namen (Mwatuangi) geht auf die Verrichtung des Fleischzerschneidens mit einem Messer oder des Holzspaltens mit einer Axt zurück. Zuerst also erschafft, erzeugt und bildet Gott; sodann verleiht er dem Erschaffenen Form, fügt Einzelzüge hinzu und prägt Besonderheit und Charakter aus. Die beiden Namen ergänzen einander also. Gottes Schöpfertätigkeit wird häufig im Bilde des Töpfers ausgedrückt, wozu sich zahlreiche Belege finden. Bei den Ruanda herrscht der Glaube, daß Gott die Kinder im Mutterschoß forme, und die im Gebäralter stehenden Frauen vergessen daher nie, vor dem Schlafengehen Wasser bereitzustellen, damit Gott ihnen daraus Kinder erschaffen möge. Das Wasser ist unter der Bezeichnung „Gotteswasser" bekannt, und Gott heißt „der Geber von Kindern". Allgemein glaubt man, daß „nichts war, bevor Gott die Welt erschuf". 3 Dies bedeutet, daß der ursprüngliche Schöpfungsakt eine Schöpfung aus dem Nichts war, während Gott später auch bereits vorhandene Dinge zur Fortsetzung seiner Schöpfertätigkeit benützen mag. Dieser Begriff der Schöpfung ex nihilo ist bei den Nuer, Ruanda und Schöna belegt, und wenn man es sich angelegen sein ließe, bei anderen Völkern entsprechende Forschungen zu unternehmen, würde man ihn gewiß auch als Bestandteil ihrer Kosmologien finden. Die IIa verwenden drei Namen, um Gottes Schöpferwerk zu beschreiben. Sie bezeichnen ihn als den Schöpfer, Bildner und Erbauer. Die Tiv, die wegen ihrer Schnitzarbeiten berühmt sind, vergegenwärtigen sich Gott als Zimmermann, der die Welt „schnitzt" und ihr 1
2 3
Danquah, S. 28, 30.
Die Kainbanamen sind Mumbi und Mwatuangi. Maquet bei Forde, S. 166.
4 Mbiti, Afrikanische Religion
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dadurch Form und Gestalt verleiht. Wenn die Lunda von Gott als dem „Vater-Schöpfer" reden, so räumen sie ihm damit eine Vaterstellung ein. Er ist der Vater aller Dinge und wacht mit väterlicher Sorge über sie. Über die Reihenfolge des Schöpfungsprozesses herrscht keine allgemeine Übereinstimmung. Bei den Vukusu, z. B., heißt es, Gott habe zuerst den gestirnten Himmel mit Sonne, Mond, Sternen und Wolken erschaffen; darauf sei die Erschaffung der Erde und schließlich die Erschaffung des Menschen als Mann und Frau erfolgt, und ganz am Ende seien Pflanzen, Tiere und andere irdische Geschöpfe entstanden. Bei den Akan verläuft die Reihenfolge vom Himmel zur Erde, zu den Flüssen, Gewässern, Pflanzen, dann zum Menschen und zu den Tieren. Bei einer Anzahl Völker, darunter den Lozi, Mende und Nandi, sieht man das Werk Gottes mit der Erschaffung des Menschen als vollendet an. Allgemein herrscht der Glaube vor, daß der Himmel vor der Erde erschaffen wurde, doch gibt es für die Erschaffung der „geringeren" Dinge keine bestimmte Reihenfolge. Viele Völker glauben, daß Gott nicht nur das stoffliche All erschaffen, sondern auch die Naturgesetze und die menschlichen Sitten gestiftet habe. Den Aschanti zufolge hat Gott „die Dinge in strenger Ordnung" erschaffen, woraus eine harmonische Weltordnung hervorging, in der jeder seine Pflichten erfüllen konnte.4 Die Joruba sehen Gott als den „Urheber von Tag und Nacht" an und betrachten jeden Tag als seinen Nachkommen.5 Bei den Zulu gelten die Einrichtung der Ehe und die Beschneidungssitte als von Gott angeordnet. Die Nuer, IIa, Lugbara, Nuba und viele andere glauben, daß Gott neben der Erschaffung der Welt auch ihre Sitten, Gesetze und Vorschriffen begründet habe. Darüber hinaus findet sich weithin die Überzeugung, daß die Schöpfertätigkeit Gottes in der ganzen Welt ihren Fortgang nimmt. Bei den Twi z. B. sagt man: „Gott hört niemals auf, Dinge zu erschaffen".6 Besonders die menschliche Fortpflanzung wird Gott zugeschrieben. Einige Völker — so die Zande, Bambuti, Njakjussa und andere — glauben, daß Gott die Empfängnis verursache. Andere sagen schlicht, daß Gott weitere Menschen erschaffe. Den Bari zufolge erhält Gott die Menschheit am Leben, indem er jeden Monat hundert Menschen erschafft, und bei den Indem glaubt man, daß er den Kleinkindern seinen Geist sende. 4 5 6
Lystad, S. 164. Idowu, S. 39. D . Westermann: loc. cit.
Die göttliche Providenz und die Erhaltung der Kreatur
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Gott fährt nicht nur mit der physischen Schöpfung fort, sondern lenkt auch die Geschicke seiner Kreaturen, vor allem der Menschen. Im Jorubamythos erscheint der ungeborene Mensch vor Gott, um sein Schicksal zu wählen, zu empfangen oder aufgeprägt zu bekommen. Die Joruba glauben auch, daß wenn Gott einen Menschen erschafft, er sogleich seine Lebensspanne bemißt.7 In ähnlicher Weise glauben die Mende an die Vorherbestimmung. Dies drückt sich in ihrem Sprichwort aus: „Wenn Gott dir deinen Reis in einem Körbchen vorsetzt, so verlange nicht nach Soße!" Der Sinn dieses Wortes ist, daß ein Mensch nicht danach trachten soll, den Zustand oder die Lebensumstände, die ihm vom Gott bestimmt sind, zu verändern.8 Die Nuer erklären kategorisch, daß alles so sei wie es ist, „weil Gott es so eingerichtet oder gewollt hat". 9 Ahnliche Prädestinationsvorstellungen finden sich bei anderen Völkern, z. B. den IIa, Tswana, Kongo, Rundi und Jao. b) Die göttliche
Providenz
und die Erhaltung
der
Kreatur
Der Name Gottes bei den Mbundu bedeutet „der für die Bedürfnisse seiner Geschöpfe Sorgende".10 Hierin drückt sich eine der elementarsten Glaubensanschauungen über Gott aus, für die es Belege aus ganz Afrika gibt. Gott sorgt in vielfacher Weise für das von ihm Erschaffene, um dessen Weiterbestand zu garantieren. Er gibt Leben, Fruchtbarkeit, Regen und Gesundheit, kurz all die Dinge, welche zur Erhaltung der Schöpfung notwendig sind. Seine Fürsorge bleibt ganz unabhängig vom Menschen, mag dieser auch manchmal um Gottes Hilfe bitten. Im Sonnenschein kommt Gottes Fürsorge zum Ausdruck, wie einige Völker, darunter die Akan, Ankole, Igbira, Kpelle und IIa, glauben. Die Sonne erscheint jeden Tag, sie spendet Licht und Wärme und führt den Wechsel der Jahreszeiten und das Gedeihen der Feldfrüchte herbei, worin sich ihre lebenerhaltende Funktion zeigt. Die Akan nennen Gott daher „den Leuchtenden", um den Zusammenhang zwischen ihm und dem Licht der Himmelskörper, deren Glanz seine Gegenwart in Weltall kündet, zu betonen. Einer der Namen Gottes bei den Ankole ist „Sonne"; sie glauben, daß Gott die Sonne bei Tage und den Mond bei Nacht 7
P. A . Talbot: Tribes of the Niger Delta, London 1932, S. 24. Little bei Forde, S. 1 1 3 . » Evans-Pritchard, II, S. 6f. 10 Campbell, S. 245, mit Bezug auf den Namen Suku.
8
4*
Die Werke Gottes
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scheinen läßt. Für die Igbira symbolisiert die Sonne Gottes Wohltätigkeit und ist Ausdruck seiner Fürsorge. Das über weiteste Räume anerkannte Zeichen von Gottes Fürsorge ist jedoch der Regen. Für die afrikanischen Völker ist Regen stets Segen, und eine der wichtigsten Tätigkeiten Gottes ist es, ihn zu senden. Beispiele dafür gibt es in großer Fülle. So ist Gott z. B. bei den Akan, IIa, Ngoni, Mende, Tswana, Kamba, Tiv und vielen anderen als der „Regengeber" oder „Wassergeber" bekannt. Manche dieser Völker sagen sogar, der Regen sei Gottes Speichel. Der Speichel gilt bei den Afrikanern als Segenssymbol, was dadurch zum Ausdruck kommt, daß ein feierlich ausgesprochener Segen oft von leichtem Spucken begleitet ist. Speichel bedeutet Wohlstand, Gesundheit, Glück und allgemeines Wohlergehen. Weithin ist auch der Glaube verbreitet, daß Gott seine Fürsorge erweist, indem er Menschen, Vieh und Feldern Gesundheit und Fruchtbarkeit schenkt und den Menschen Kinder, Vieh, Nahrung und andere Güter in Hülle und Fülle gibt. Manche Völker beten daher um diese Dinge. So vollziehen die Nuba eine Zeremonie, bei der sie mit den folgenden Worten um die Vermehrung ihres Viehbestandes beten: „Gott, uns hungert, Gib uns Rinder, gib uns Schafe!"
Der zum Opferdienst bestellte Älteste verwendet die Gebetsformel: „Gott, vermehre die Rinder, Vermehre die Schafe, vermehre die Menschen!" 1 1
Die Zulu lehren ihre Kinder, daß die Quelle alles Seienden droben strömt und daß Gott es ist, der den Menschen Leben und Wohlstand verleiht. Wenn eine Bambutifrau feststellt, daß sie ein Kind erwartet, bereitet sie Speise und bringt einen Teil davon in den Wald, um sie Gott darzubringen mit den Worten: „(Gott), von dem ich dieses Kind empfangen habe, N i m m und i ß ! " 1 2
Bei Völkern wie den Ankole, Zande und Ruanda bildet der Name Gottes einen Bestandteil der Namen, die man den Kindern gibt, wodurch ihre Herkunft von Gott anerkannt wird. 11 12
Seligman, S. 394f. Schebesta, I, S. 235.
Die göttliche Providenz und die Erhaltung der Kreatur
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Verschiedene Völker erkennen auf mancherlei Weise auch die Erhaltung des Lebens durch Gott an. Einige — so die Baluhja, Akan und Zulu — drücken dies klar aus und fügen hinzu, daß die Menschheit ohne Gottes Beistand vom Erdboden verschwinden würde. Andere betrachten die Erhaltung der Welt als einen kosmischen Vorgang, der das ganze Weltall umspannt. Bei den Bambuti z. B . heißt es: „Wenn Gott sterben sollte, würde mit ihm die Welt versinken". 13 Eine Anzahl Völker, z. B. die Rundi, Aschanti, Tonga und Nandi, betrachten Gott als ihren Hüter, Wächter, Beschützer und Erhalter. So nennen die Rundi ihn „Beschützer der Armen, Hüter der Armen" und „Erlöser", 14 und die Nyanja sehen ihn als „den Großen Bewahrer des Lebens" an.15 Manche beten, Gott möge sie behüten, besonders während der Schwangerschaft und bei Krankheiten. Die Nuer sind sich Gottes ständiger Obhut bewußt und reden von ihm als dem „Gott, der mit dir schreitet", oder sie sagen: „Gott ist gegenwärtig". 16 Bei den Schilluk wird Gott wie folgt angerufen: „Schütze uns, wir sind in deiner Hand, bewahre uns und rette m i c h . . . " 1 7 Gottes Allgegenwart wird als schützend, erhaltend, unterstützend, rettend und heilend empfunden. Einer der Namen der Ganda für Gott (Ddunda) bedeutet „Hirte", und damit ist offensichtlich die Vorstellung Gottes als Hüter seines Volkes verbunden. Die Kiga bezeichnen Gott als Biheko, d. h. „der alle auf seinem Rücken trug". 18 Dieser Name spielt auf die weitverbreitete afrikanische Sitte an, daß Frauen oder Mädchen Kleinkinder auf ihrem Rücken tragen und gibt ein einprägsames Bild von Gott, der die Menschen mit der zärtlichen Sorgfalt einer Mutter hegt und pflegt. Bei vielen Völkern herrscht der Glaube, daß Gott die Kranken heile. Aus diesem Grunde werden Gebete, Opfer und (jaben im Namen der Kranken und Bedrängten sowie der unfruchtbaren Frauen Gott dargebracht, wie von den IIa, Dschagga, Indem, Schilluk und anderen berichtet wird. Wenn die Heilung eintritt, wird sie oft Gott zugeschrieben, mögen auch medizinische Mittel beim Heilungsvorgang eine Rolle gespielt haben. Man dankt Gott oder erkennt auf andere Weise seine Hilfe an. So sagt man z. B. bei den Kamba, wenn man sich von 13 14 15 16 17 18
Schebesta, II, S. 1 7 1 . Referate meiner Studenten J . Kamenge und D . Soboke (1965). Merwe, S. 1 3 . Evans-Pritchard, II, S. 7 f . Lienhardt bei Forde, S. 158, und Seligman, S. 75. Edel, S. 160.
Die Werke Gottes
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schwerer Krankheit erholt hat: „Ach, ohne Gottes Hilfe wäre ich längst tot". Wenn Menschen aus großer Gefahr errettet werden, verwendet man ähnliche Ausdrücke. Die Menschen sehen die Rettung als Gottes Werk an. Die IIa z. B . bezeichnen ihn als den „Befreier derer, die in Not sind", und der Name Gottes bei den Baluhja — Wele — hat unter anderem die Bedeutung „Rettender, Helfender oder Führender". Die Rundi haben einen Namen für Gott — Haragakisa — welcher bedeutet: „Es gibt einen Erlöser". Gott nimmt also Anteil am menschlichen Geschehen, und die Menschen erleben sein Eingreifen in Form fortwährender Schöpfung, Erhaltung, Fürsorge, Obhut, Pflege, Heilung und Rettung. Diese Vorgänge spielen sich meist in der physischen und konkreten Seinssphäre ab und haben in erster Linie Bezug zum Leben des Menschen. c) Gott und die Heimsuchungen des Menschen Wenngleich Gott, wie wir gesehen haben, seine Schöpfung in tätigem Wirken erhält und versorgt, so gibt es doch im menschlichen Leben Heimsuchungen, die vielen Völkern Rätsel aufgeben. Bei einer statdichen Anzahl von ihnen wird Gott in der einen oder anderen Form zur Erklärung solcher Heimsuchungen herangezogen, wie wir anhand einiger konkreter Beispiele sehen werden. Wenn es den Tonga schlecht ergeht, rufen sie aus: „Der Himmel — oder Gott — hat mich verlassen". Sie führen alle plötzlichen oder unerwarteten Ereignisse auf den Einfluß Tilos zurück, ein Wort, das soviel heißt wie Gott oder Himmel. Die Geburt von Zwillingen bedeutet für sie ¡ein großes Unglück, und wenn sie sich ereignet, betrachtet man sie als ein Zeichen von Tilos Macht. 19 Die Lugbara glauben, Gott suche die Menschen in Gestalt von Geistesstörungen und ansteckenden Krankheiten heim. Wenn in einer bestimmten Familie ein Unglück aufs andere folgt, so sagt man, dies komme von Gott oder sei von ihm zugelassen. Während Magie, Zauberei und Hexerei allgemein als die Hauptursachen einzelner Krankheitsfälle angesehen werden, ist es durchaus nicht ungewöhnlich, Gott zusätzlich die Verantwortung für Krankheiten und insbesondere Epidemien zuzuschreiben. Geistesstörungen hingegen werden eher auf die Geister zurückgeführt, mag man dabei auch an die " Junod, S. 137.
Gott und die Heimsuchung des Menschen
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Mitwirkung menschlicher Urheber glauben. Die Turkana glauben zwar in erster Linie, daß Gott die Menschen von Krankheiten befreit, sind aber auch der Überzeugung, daß er Blutschänder und Tabubrecher mit Krankheiten schlägt. Naturkatastrophen und Viehkrankheiten werden von den Suk als Strafe Gottes für menschliche Missetaten gedeutet. Einige Völker glauben, Gott bediene sich der Geister, um Trübsal über die Menschen zu bringen. So sagen z. B. die Dschagga, Gott sende einen Geist aus, um Pocken und andere Krankheiten zu verursachen, obwohl ein Mensch nur sterben könne, wenn Gott selber es zulasse. Die Soga haben eine Gottheit der Pest, die Gischu eine Pest- und daneben eine Pockengottheit, und die Joruba glauben, daß der Gott der Pocken umgeht, wenn die Sonnenhitze unerträglich ist. Bei einigen Völkern herrscht der Glaube, daß Gott verschiedene Aspekte habe, von denen einer für das die Menschen befallende Unheil verantwortlich sei. Wir haben bereits erwähnt, daß die Lugbara den innerweltlichen Aspekt Gottes als „schlecht" ansehen und ihn mit Unheil in Verbindung bringen. Die IIa glauben wohl an Gottes Güte zu allen Menschen, führen aber nichtsdestoweniger einen großen Teil der Übel und Sorgen des Lebens auf ihn zurück. Bei den Kikuju hat Gott drei Aspekte, von denen einer für verschiedene Arten des Unheils in der Welt verantwortlich ist, die dann als „Gottes Wille" hingenommen werden. In einigen Gebieten Afrikas wird die Ursache aller Unglücke in einem bösen Geistwesen personifiziert, wie unter anderem von den Vukusu, Sukuma, Nyamwesi, Darassa und Lese berichtet wird. Allgemeine Katastrophen wie Dürre, Überschwemmungen, Epidemien, Heuschreckeneinfälle und Kriege können vom Einzelmenschen weder verursacht noch unter Kontrolle gebracht werden. Man führt sie gewöhnlich auf die Tätigkeit Gottes oder auf ein Geistwesen zurück. Wo man Gott für verantwortlich hält, herrscht oft die Anschauung vor, daß er die Menschen für von ihnen angerichtetes Unheil züchtigt. Die Venda z. B. glauben, daß Gott, wenn er auf ihren Häuptling zornig ist, das Land mit Heuschreckenschwärmen und Überschwemmungen bestraft. Die Ndamba halten solche Katastrophen für Kundgebungen von Gottes Willen, die vermutlich richterlicher Natur sind. Die Ngoni, Suk, Nyanja und andere glauben, daß Katastrophen von Gott gesandt sind. Einige, wie die Nuer, nehmen solche Katastrophen als Gottes Willen hin, woran sie nichts ändern können.
Die Werke Gottes
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Der T o d ist vielleicht das geheimnisvollste und rätselhafteste Unheil. Viele Völker betrachten Gott als den Lebensspender, der paradoxerweise auch das Leben wieder fortnimmt, mag man allgemein auch andere Kräfte als unmittelbare Ursache ansehen. Diese Paradoxie wird bei afrikanischen Völkern verschieden ausgedrückt. Die Akan sprechen von Gott sogar in seinem lebenspendenden Aspekt als dem „stets bereiten Schützen" und als der „Töterin und Mutter".20 Die K o n g o sind davon überzeugt, daß Gott nie jemand Übles antut und er doch gelegentlich den T o d zuläßt. In solchen Fällen sagt man v o m Verstorbenen: „ E r starb durch Gott". Die Rundi betrachten Gott als den „Geber von Kindern" und zugleich als den „Kinderhasser", weil sie glauben, daß er sie töte. Bei den Tänzen der Mbundu wehklagen die Frauen: „Gott hat uns um ein Leben betrogen", 2 1 was soviel heißt wie: er hat ihnen ein Mitglied der Gemeinde geraubt. Im Jorubaglauben erschuf Gott den Tod, um den Menschen, dessen Zeit auf Erden erfüllt ist, abzuberufen. Unter den Völkern, die auf die eine oder andere Weise Gott mit dem T o d in Verbindung bringen, befinden sich die Ankole, Zande, Bachwa, Kikuju, Luo, Meru, Nandi, Vukusu und Zulu. Manche betrachten den T o d als Gottes Strafe, andere als sein Zeichen; einige meinen, der T o d sei zum besten des betreffenden Menschen, da Gott ihn heiße, bei ihm Wohnung zu nehmen, andere wiederum glauben, daß der T o d eintritt, wenn jemand einen Fluch auf einen Missetäter herabruft. Die Gebete, Geschenke und Opfer, die man Gott in schweren Krankheitsfällen darbringt, sind ein weiterer Hinweis darauf, daß die Menschen Gott mit dem Tode in Beziehung setzen. Ihre Handlungen deuten darauf hin, daß sie Gott für die letzte Ursache halten oder zumindest annehmen, er könne den T o d abwenden oder aufschieben. Es gibt jedoch auch Gesellschaften, die an die Existenz einer Todesgottheit glauben, so die Ganda, Soga, Edo und Vukusu. Es kann sich dabei um eine Personifikation des Todes oder aber um ein selbständiges Wesen handeln. Im großen und ganzen gibt man Gott nicht die Schuld an den Katastrophen, Unglücks- und Trauerfällen, die über die Menschen kommen. Er wird in erster Linie hinzugezogen, um Dinge, die über den Menschenverstand hinausgehen, zu erklären. Eine solche Erklärung mag außerdem dazu dienen, den v o m Leid Betroffenen Trost zu spenden. 20 21
Meyerowitz, S. 24, 145. Hambly, S. 344.
Gott als Herrscher
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d) Gott als Herrscher In dieser Eigenschaft wird Gott als der Herr, König, Herrscher, Meister und Richter betrachtet. Meist finden wir, daß Völker, die traditionell selber Könige, Häuptlinge oder andere Herrscher mit Zentralgewalt haben oder einst hatten, die ausgeprägteste Vorstellung von Gott als dem König und Herrscher hegen. Darin spiegelt sich zweifellos die politische Struktur der betreffenden Völker wieder, obwohl die Idee von Gottes Herrschergewalt nicht auf Völker mit einer solchen politischen Organisationsform beschränkt ist. Man neigt jedoch dazu, Gestalt und Werk irdischer Herrscher in das Bild, das man sich von Gott macht, einzubringen, wie sich aus vielen Teilen Afrikas eindeutig belegen läßt. Die Ruanda und Rundi betrachten Gott als ihren obersten Herrscher und Lenker. Wenn die Rotse und Luba beten, reden sie Gott als „den Großen König" an, der über alle Dinge regiert oder herrscht. Die Akan sagen, Gott sei der Herrscher des Himmels, der Erde und der Unterwelt. Bei den Indem herrscht der Glaube, Gott regiere über alle Stämme der Erde einschließlich des eigenen. Wenn die IIa auf Jagd gehen, reden sie Gott im Gebet als Häuptling an und bitten ihn, er möge ihnen gestatten, das Wild zu erlegen, das sie jagen werden. Darin deutet sich an, daß man Gott nicht nur als den Herrscher über menschliche Angelegenheiten, sondern auch über die Natur ansieht. Die Zulu betrachten ihn als den König der Könige oder den Häuptling der Häuplinge, eine Bezeichung, die höchste Autorität und absolute Macht beinhaltet. Noch viele andere Völker reden in gleicher Weise von Gott als dem Regierer oder Herrscher über das Weltall. Das Bild von Gott dem König ist stark vom Bild menschlicher Herrscher geprägt. Er wird als hoheitsvoll, absolut, reich und letzten Endes als der Besitzer aller Dinge geschildert. Als König ist Gott Herr und Meister. Bei vielen Völkerschaften wird ihm dieser Titel gegeben, und es wird dadurch angedeutet, daß ihm alle Ehre und Ehrerbietung gebührt. Der Mensch tritt ihm in Demut und Ergebenheit gegenüber. Für die Ruanda ist Gott „der Meister aller", für die Bambuti „der Herr der Zauberkraft", für die Joruba „der Herr des Himmels", und wenn bei den Zulu Vieh vom Blitz erschlagen wird, pflegen sie zu sagen, der Herr habe die ihm zustehende Speise genommen. Als Herr und Meister ist er allmächtig. Er vermag alles: Menschen in Not zu helfen, Werke zu vollenden, die zu tun der Mensch außerstande ist, und Gerechtigkeit zu schaffen. Diese Fähigkeiten drücken sich bei einzelnen Völkern wiederum in der Namengebung aus. So
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Die Werke Gottes
heißt er bei den Rundi „der alles Tuende", die Luba sehen in ihm „den Träger der Lasten", und die Schilluk rufen ihn häufig als letzte Hilfsinstanz im Ungemach an. Viele andere betrachten ihn als den Spender des Lebens, des Regens, des Lichts und aller Dinge. Auf diese Weise wird Gott als der wohlwollende Herr und Meister, und nicht nur als der unumschränkte Herrscher des Weltalls gesehen. Als Herrscher ist er von der Schöpfung losgelöst und steht ihr fern, als Herr und Meister dagegen nimmt er sich ihrer an. Einige Völker betrachten ihre weltlichen Herrscher im gewissen Sinne als sakrale Vertreter Gottes, die über die Menschen regieren. In seiner Eigenschaft als Herrscher und Meister stellt man sich Gott auch als Richter vor. Mit diesem Begriff verbunden ist der Gedanke der Gerechtigkeit, der Strafe und Vergeltung. Traditionelle ethische Sanktionen beziehen ihren Rückhalt aus der Richterfunktion Gottes und tragen dadurch zur Solidarität der Gemeinschaft bei. Wenn die Zande in Krisenzeiten beten, erklären sie Gott gegenüber, sie hätten weder gestohlen noch anderer Leute Hab und Gut begehrt und reden ihn als den an, „der alle Meinungsverschiedenheiten unter uns Menschen beilegt". 22 Für die Elgeyo ist der Blitz Gottes Waffe, um Menschen zu zerstören, die heimlich ihrem Nächsten Unrecht angetan haben. Die Nuba glauben, Gott strafe all diejenigen, die die Traditionen ihres Volkes brechen, da er als der Hüter dieser Traditionen gilt. Bei den Nuer herrscht der feste Glaube, daß Gott Unrecht bestraft und Recht belohnt. Nach Ansicht der Ovambo sind Mord, Diebstahl und Grobheit älteren Leuten gegenüber Vergehen, auf die Gottes Strafe steht. All diese konkreten Beispiele und weitere, die sich anführen ließen, weisen auf die Vorstellung der Afrikaner von Gott als dem höchsten Richter hin, der unparteilich waltet. e) Gott und die
Menschheitsgeschichte
Jedes afrikanische Volk hat seine Geschichte. Bei unserer Besprechung des Zeitproblems wiesen wir darauf hin, daß die Geschichtsvorstellung sich auf das Samani konzentriert und daß die Geschichte infolgedessen als ein Rückwärtschreiten vom Sasa zum Samani, und nicht etwa als eine Vorwärtsbewegung in die Zukunft gesehen wird. Die Geschichte ist im Samani ruhend verankert. Diese Vorstellung kommt auf vielfache Weise zum Ausdruck. Bei den Dschagga z. B. heißt es, Gott nehme 22
Seligman, S. 519 f.
Gott und die Menschheitsgeschichte
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zwar nur geringen Anteil am alltäglichen Geschehen, er habe aber in der Vergangenheit zweimal in die Geschicke der Menschheit eingegriffen und die Menschen ihrer Bosheit wegen zerstört; dabei seien einige Menschen verschont geblieben. Die Meru sind des Glaubens, Gott habe sie vor langer Zeit durch einen spirituellen Führer (Mugwe) aus dem Land der Knechtschaft geführt. Gott habe diesen mit Mut und Stärke für die Aufgabe gewappnet, sein Volk zu befreien und ihm den Weg in sein jetziges Land zu weisen. Im Glauben der Schilluk ist der Stammeskönig auf mystische Weise mit Gott verbunden, den er unter den Menschen vertritt, und Gott gilt ihnen als der eigentliche Begründer des Königtums. Ein anderer Aspekt der Teilnahme Gottes an der Menschheitsgeschichte ist die Überzeugung, daß er auch in das gegenwärtige Geschehen eingreift. Die Venda sind davon überzeugt, daß Gott sich ihnen von Zeit zu Zeit offenbart, meist indem er durch Donnergrollen mit ihrem Häuptling in Verbindung tritt. Die Gischu glauben an Gottes Gegenwart bei der Beschneidungsfeier, und die Lugbara behaupten, er greife in das irdische Geschehen ein, um ihre Gesellschaft zu verändern. Bei den Kikuju sagt man, Gott lebe zwar im Himmel, komme aber von Zeit zu Zeit auf die Erde nieder, um nach dem Rechten zu sehen, zu segnen und zu strafen. Wenn er erscheint, rastet er auf dem Kenia und vier anderen heiligen Bergen. Bei den Galla Äthiopiens schließlich geht die Kunde, Gott sei einst auf die Erde gekommen, um mit der Menschheit zu reden, jetzt aber betrachte er die Erde nur noch durch die Sonne, die sie für sein Auge halten. Wie wir bereits feststellten, erschöpft sich für viele afrikanische Völker Gottes Mitwirkung an der Menschheitsgeschichte im Spenden von Regen, reichlichen Ernten, Gesundheit, Vieh und Kindern, in Heilung, Befreiung und Hilfe, die er ihnen angedeihen läßt, und schließlich in seinem Auftreten in Naturereignissen und Naturkräften. Die Menschen wenden sich ständig in den verschiedensten Andachtshandlungen an Gott. Diese können recht eigentlich als die Antwort des Menschen auf Gottes wirkende Teilnahme am menschlichen Geschehen betrachtet werden. Sie lösen den Menschen nicht aus dem Zusammenhang seiner Umwelt, so daß die Menschheitsgeschichte eigentlich eine anthropozentrisch oder mikrokosmisch gesehene Geschichte dasWeltalls ist. Gott ist in dieses Geschichtsbild einbegriffen, denn Geschichte ereignet sich in seinem Weltall, das er durchwirkt und in dem sogar sein Schweigen als Zeichen seiner göttlichen Tätigkeit gewertet werden kann.
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Gott'und die Natur
G O T T U N D DIE N A T U R Nach Auffassung der afrikanischen Völker lebt der Mensch in einem religiös bestimmten All, so daß alle Naturereignisse und Naturkräfte mit Gott in engem Zusammenhang stehen.1 Sie haben nicht nur in ihm ihren Ursprung, sondern legen auch Zeugnis von ihm ab. Das Gottesverständnis des Menschen ist stark von dem All geprägt, dessen Bestandteil er ist. Der Mensch sieht im Weltall nicht nur Gottes Spur, er betrachtet es als sein Spiegelbild. Ob nun dieses Bild verschwommen ist oder Schärfe und Umriß hat, es ist auf jeden Fall ein Bild Gottes, und zwar das einzige, das die traditionelle afrikanische Gesellschaft kennt. a) Anthropomorphe
Eigenschaften
Gottes
Bis zu einem gewissen Grade betrachtet der Mensch sich als den Mittelpunkt des Alls. Solche Egozentrik führt dazu, daß er das All sowohl anthropozentrisch als auch anthropomorph deutet. W i r haben bereits auf den eindeutig anthropozentrischen Charakter der afrikanischen Ontologie hingewiesen. Der Mensch sieht Gott wie auch die Natur aus dem Blickwinkel seines eigenen Verhältnisses zu ihnen. Folglich gibt es viele Ausdrücke, worin Gott Züge der menschlichen Natur zugeschrieben werden. Wir werden in solchen Fällen von Anthropomorphismus sprechen. In welchem Grade afrikanische Völker die Anthropomorphismen wörtlich nehmen, ist schwer zu sagen. Zumindest sind sie jedenfalls Hilfsvorstellungen, die dazu dienen, jenes Wesen begrifflich zu erfassen, das niemand gesehen hat und von dem man zugegebenermaßen wenig oder nichts weiß. Viele stellen sich Gott als den Vater vor, was aus seiner Tätigkeit als Schöpfer und Erhalter aller Dinge, aber auch aus der inneren Gewißheit der Menschen hervorgeht, daß er in Notzeiten persönlich ansprechbar ist. Die Kamba sehen den Himmel und die Erde als des Vaters „gleichgroße Schalen" an, die kraft des Schöpfungsaktes und Eigentumsrechts ihm gehören und seine Habe enthalten. Die Lunda, Bemba, und andere Völker in und um Sambia herum sprechen von Gott als dem „allumfassenden Vater" und von der Menschheit als seinen Kindern. Für die Suk und Ganda ist Gott nicht nur der Vater der Menschen, sondern auch der Gottheiten und anderer Geistwesen. Diese Vorstellung von 1
Eine eingehendere Behandlung dieser Frage findet sich in meinem größeren Werk Concepts of God in Africa, 1969, Kapitel 8—13.
Anthropomorphe Eigenschaften Gottes
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Gott als dem Vater der gesamten Schöpfung wird auch von anderen afrikanischen Völkern berichtet. Einige von ihnen verwenden das Wort „Vater" als den Eigennamen Gottes oder zumindest als seinen wichtigsten Namen. Die Vaterschaft Gottes kommt auch in Gebeten zum Ausdruck, die erkennen lassen, daß die Beter ihn als ihren persönlichen Vater betrachten, mit dem sie in Verbindung treten können. In Gebeten und Anrufungen der Bambuti, Zande, Nuer, Kikuju und anderer wird er daher als „Vater", „unser Vater", „mein Vater", „Großer Vater", „Vater-Gott" oder „Vater unserer (meiner) Väter" angeredet. Die Bindung an die Vaterschaft Gottes wird besonders in Notzeiten — in Gefahr, Verzweiflung, Krankheit, Kummer, bei Dürre oder ähnlichen Naturkatastrophen — als Bedürfnis empfunden. Einige matriarchalische Gesellschaften, wie die Ovambo und die südlichen Nuba, stellen sich Gott als „Mutter" vor, der aber dieselben Eigenschaften anhaften wie der Vatergestalt Gottes. Gott als Mutter verkörpert außerdem die Vorstellung des Hegens und Pflegens, die sich allerdings in abgeschwächter Form auch in patriarchalischen Gesellschaften findet. Wir können deshalb nicht schließen, daß die Vorstellung von Gott der Mutter auf matriarchalische Gesellschaften beschränkt ist. Beide Vorstellungen sind im übertragenen Sinne zu verstehen. Sie besagen, daß alle Dinge aus Gott hervorgegangen sind und daß er für alle Geschöpfe, insbesondere die Menschen, Sorge trägt. In diesem Sinne bezeichnen viele Völker, z. B. die Bachwa, Bemba, Lugbara und Nuer, die Menschen im allgemeinen oder aber bestimmte Gruppen als „Kinder Gottes", „Söhne Gottes" oder „das Volk Gottes". Einige Völker verleihen Gott körperliche Merkmale oder schreiben ihm körperliche Tätigkeiten zu, während die Mehrzahl den Gedanken betont, man wisse nicht, wie Gott aussehe. Die Akan, Galla, Nandi und Ovambo z. B. sagen, Gott habe Augen, als welche die Sonne, der Mond oder das Firmanent angesehen werden. Manche sind davon überzeugt, daß Gott ihre Gebete hört und alles, was auf Erden vor sich geht, vernimmt, doch ist nur in einem Falle, nämlich bei den IIa, die Aussage belegt, daß Gott Ohren habe. Die Bambuti und DschamDscham stellen sich Gott mit einem langen Bart vor. Von diesen wenigen Beispielen abgesehen, verleihen die afrikanischen Völker Gott keinen Körper. Viel häufiger ist jedoch von Gottes körperlicher Tätigkeit die Rede. Im liturgischen Rahmen sind die Gott dargebrachten Opfer und Gaben
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Gott und die Natur
zum „Essen" und „Trinken" bestimmt, doch wird dies metaphorisch verstanden. Wir haben bereits festgestellt, daß Gott alles „sieht" und „hört" — eine recht einleuchtende Art und Weise, seine Allwissenheit zum Ausdruck zu bringen. Da die Bambuti Gott Weihrauch darbringen, glauben sie offenbar, er „rieche" ihn, zumindest im übertragenen Sinne. Bei den Zulu gilt das Donnergrollen als Gottes fröhliches Spiel, während die Kikuju annehmen, es sei das Knacken seiner Gelenke, wenn er vorüberschreite. Bei einigen Völkern wie den Bambuti und Schöna werden Erdbeben als Gottes Gang über die Erde ausgelegt. Wiederum die Schöna, und mit ihnen andere Völker, sagen von Gott, er schlafe inmitten der Wolken. Es gibt auch Völker, die der Überzeugung sind, Gott könne in Zorn geraten und die Menschen bestrafen. Die offensichtliche Trennung Gottes von den Menschen wird allgemein auf seinen Kummer über menschliche Missetaten zurückgeführt. h) Gott und die Tier- und Pflanzenwelt
Tiere und Pflanzen dienen den Menschen als Nahrung, und es kommt ihnen daher große Bedeutung zu. Bei den afrikanischen Völkern werden sie oft im religiösen Zusammenhang gesehen und in manchen Fällen mit Gottesvorstellungen in Verbindung gebracht. Es gibt Mythen, die den Ursprung der Haustiere zeitlich oder entstehungsmäßig mit der Erschaffung des Menschen gleichsetzen. Die Zulu z. B. berichten, Menschen und Vieh seien demselben Orte entsprungen und Gott habe die Menschen angewiessen: „Diese sollen euch als Nahrung dienen. Verzehret ihr Fleisch und trinket ihre Milch!" Wenn Rinder vom Blitz erschlagen werden, sagt man, Gott habe von seinem Eigentumsrecht Gebrauch gemacht und für seinen Bedarf geschlachtet, was für das Dorf, wo sich solches zuträgt, als segensreich gilt.2 Die Kamba glauben, daß Rinder, Schafe und Ziegen die ersten Menschen, die Gott vom Himmel herabließ, begleitet hätten. Bei den Massai ist der Glaube tief verwurzelt, daß Gott ihnen von Anbeginn Vieh verliehen habe und daß aus diesem Grunde niemand anders berechtigt sei, Vieh zu besitzen. Folglich sehen sie es als ihre Pflicht an, ihren Nachbarvölkern Vieh abzujagen, ohne daß ihnen je der Gedanke käme, sie begingen dadurch Diebstahl oder Raub. In einer Mythe der Nuer heißt es, einst habe Gott die Menschen vor die Wahl gestellt, sich 2
Callaway, S. 41, 53, 57, 60, 90.
Gott und die Tier- und Pflanzenwelt
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zwischen Vieh und Feuerwaffen zu entscheiden. Daraufhin hätten die Europäer und Araber die Feuerwaffen gewählt, die Nuer und Dinka hingegen das Vieh. Rinder, Schafe und Ziegen werden für Opferzwecke und sonstige religiöse Anlässe gebraucht, wofür sich Beispiele aus dem gesamten Kontinent auführen ließen. Viele Völker behandeln ihre Tiere mit großer Ehrfurcht. Die Herero z. B. betrachten ihre Rinder als heilig, da sie ihrer Anschauung nach von ihrem mythischen „Lebensbaum" abstammen, dem menschliches Leben wie auch nichtmenschliche Lebensformen entsprungen sind. Sie essen nur davon, wenn die Tiere bei religiösen Zeremonien geopfert werden. Bei den Dinka ist jeder Stier oder Ochse letztlich zum Opfer bestimmt. Sie glauben, daß Vieh und Kinder Gott gehören, der sie den Menschen nur als Gaben spendet. Die Nandi beten jeden Tag zu Gott, er möge ihrem Vieh Sicherheit und Wohlergehen schenken. Obwohl es in Afrika noch viele wilde Tiere gibt, ist über ihre religiöse Bedeutung wenig bekannt. Kraftvolle Tiere wie Büffel und L ö w e werden bei den Ndamba und Niaturu mit Gott in Verbindung gebracht. Man betrachtet sie als Erscheinungsformen Gottes unter seinem immanenten Aspekt. Eine Anzahl von Völkern des Niltales — so die Fadschulu, Nuer und Madi — beschuldigen die Hyäne, das Seil aus Kuhhaut, das einst Himmel und Erde miteinander verband, durchbissen und dadurch die Trennung der beiden Welten herbeigeführt zu haben. Bei den Kamba und Kwena spielt der Klippdachs beim Gebet um Regen eine wichtige Rolle. Kriechtiere nehmen in der religiösen Vorstellungswelt eine bedeutendere Stellung ein als andere wilde Tiere. Bei einigen Völkern, wie den Vukusu und Sidamo, gilt die Schlange als unsterblich. Andere haben heilige Schlangen, insbesondere Pythonen, die der Mensch nicht töten darf. In einer beträchtlichen Anzahl von Fällen werden Schlangen mit den Totengeistern oder anderen menschlichen Geistern in Verbindung gebracht. Solchen Schlangen gibt man Trank und Speise, wenn sie menschliche Behausungen aufsuchen. In vielen Mythen tritt die Eidechse als der Bote auf, der von Gott die Kunde brachte, daß die Menschen sterben sollten. Das Chamäleon hingegen erscheint in der Rolle des Boten, dem die Aufgabe übertragen war, die Kunde von der Unsterblichkeit oder Auferstehung des Menschen zu bringen, der aber entweder auf dem W e g e trödelte, die Nachricht entstellte oder sie nur stammelnd hervorbrachte. In der Zwischenzeit war ihm die Eidechse
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Gott und die Naturkräfte und Naturereignisse
— oder ein anderer Gegenspieler — zuvorgekommen und hatte die tragische Kunde überbracht. Von den geflügelten Tieren wird das Huhn bei den meisten Völkern für religiöse Zwecke, d.h. hauptsächlich für Opfer, verwendet, die man entweder Gott oder den niederen Geistwesen und Totenseelen darbringt. Obwohl sie ein unscheinbares Tier ist, tritt die Spinne in vielen Mythen und Erzählungen auf. Bei den Akan und Aschanti symbolisiert sie die Weisheit, und daher wird hier Gott der Beiname Ananse Kokroko, d.h. „die große Spinne oder der Weise" verliehen.3 In einer Anzahl von Erzählungen kommen mythische Bäume vor. Die Herero z.B. sprechen von ihrem „Lebensbaum", der in der Unterwelt beheimatet und die Quelle alles Lebens sein soll. Einige Völker, darunter die Nuer und Sandawe, glauben, daß die Menschen von einem Baume abstammen. Andere berichten vom „verbotenen Baum", dessen Frucht zu essen den ersten Menschen von Gott untersagt gewesen sei. Als die Menschen dieses Gesetz gebrochen und von der verbotenen Frucht gegessen hätten, sei der Tod über die Welt gekommen und Gott habe sich dann von den Menschen abgewandt. Dieser Mythos findet sich in abgewandelter Form bei den Bambuti, Dschagga und Meru. Der wilde Feigenbaum gilt vielen Völkern Afrikas als heilig, und in seinem Umkreis werden Gaben und Opfer dargebracht und Gebete verrichtet. Es gibt heilige Haine und Einzelbäume, wie die Sykomore (Maulbeerfeige) und der Affenbrotbaum, die für religiöse Zwecke verwendet oder mit Gott und anderen Geistwesen in Verbindung gebracht werden. Auch Gras findet bei einigen Völkern zu Kultzwecke — Riten, Gebeten und Opfern — Verwendung, so z.B. bei den Massai, Meru und Mao. c) Gott und die Naturkräfte und Naturereignisse In vielen uns bekannten Fällen ist die Gottesvorstellung mit Naturkräften und -ereignissen („natural objects and phenomena") verquickt. Wir haben bereits hervorgehoben, daß für die Afrikaner das Weltall religiös bestimmt ist. Diese Haltung ist klar ersichtlich aus der Art und Weise, wie Gott in verschiedene Naturkräfte und -ereignisse hineingedeutet wird. Wir wollen uns zunächst mit der Himmelswelt und dann mit der Erde beschäftigen. 3
Busia bei Forde, S. 192.
Gott und die Naturkräfte und Naturereignisse
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Die Anschauung, daß Gott den Himmel in gleicher Weise wie die Erde erschuf, herrscht allgemein vor. Der Himmel ist das Gegenstück zur Erde und wird bei den afrikanischen Völkern als Gottes Wohnstatt betrachtet. In ganz Afrika finden sich mythische Erzählungen, die davon berichten, daß Himmel und Erde ursprünglich entweder nahe beisammen oder aber durch ein Seil oder eine Brücke miteinander verbunden gewesen seien und daß mithin auch Gott den Menschen nahegestanden habe. In den Mythen finden sich weitere Erklärungen, wie die Trennung der beiden Bereiche erfolgt sei, aber damit werden wir uns später in Kapitel 9 befassen. Den vorhandenen schriftlichen Quellen zufolge setzen alle afrikanischen Völker in irgendeiner Form Gott mit dem Firmament oder Himmel in Beziehung. Manche sagen, er regiere dort, die Mehrzahl glaubt jedoch, daß er lediglich dort wohne. Einige setzen Gott sogar mit dem Himmel gleich oder betrachten den Himmel als seine wichtigste Erscheinungsform. W i r finden viele Völker, deren Name f ü r Gott soviel wie Firmament, Himmel oder Hochdroben bedeutet. Bei den Bari und Fadschulu z.B. lautet der Ausdruck f ü r Gott Ngun lo ki, was „Gott im Himmel (droben)" heißt. Die Schöna nennen Gott Njadenga, d. h. „der Große des Himmels", oder Wokumusoro, „der dort oben". Der Name Gottes bei den Tiv, Aondo, bedeutet „Himmel, Firmament", und das Turkanawort f ü r Gott, Akudsch, bedeutet wörtlich „(von) oben". Gott ist folglich nicht v o m Himmel und der Himmel nicht von Gott zu trennen; die Schöpfungssphäre weist auf ihren Schöpfer hin, und menschliches Grübeln über den Schöpfer weist zum Himmel. Sonne, Mond und Sterne spielen in den Mythen und Glaubensvorstellungen vieler Völker eine Rolle. Bei den Zulu berichtet man, Gott habe den Menschen nach ihrer Erschaffung Sonne und Mond als Lichtspender beigegeben, so daß sie sehen konnten. Die Lese im Kongo betrachten die Sonne als Gottes rechtes Auge und den Mond als das linke. Bei den Kiga ist Gott derjenige, der die Sonne untergehen läßt. Für die IIa bedeutet die Sonne Gottes Ewigkeit, und er wird von ihnen als „der von den Sonnen (oder Tagen)" bezeichnet. Bei vielen Völkern gilt die Sonne als eine Erscheinungsform Gottes, und dasselbe W o r t — oder ein verwandtes Wort — wird f ü r beide verwendet. Beispiele hierfür finden sich bei den Dschagga (Ruwa für Gott und Sonne), bei Völkern des Aschantihinterlandes (We f ü r beide), bei den Luo (Tschieng f ü r beide), Nandi (Asis für Gott, asista f ü r Sonne), und Ankole (Kasuba f ü r beide). Bei anderen, wie z . B . den Zande, Ibo 5
Mbiti, Afrikanische Religion
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Gott und die Natur
und Meban, gilt die Sonne als Personifikation einer Gottheit oder eines Geistes, gelegentlich auch als einer von Gottes Söhnen. Es gibt jedoch keine konkreten Hinweise darauf, daß die Sonne als Gott oder Gott als die Sonne betrachtet wird, mag die Verbindung zwischen den beiden noch so eng sein. Bestenfalls symbolisiert sie bestimmte Aspekte Gottes wie seine Allwissenheit, Macht, ewige Dauer und sogar seine Natur. Um den Mond ranken sich ähnliche Vorstellungen, obwohl es hier im großen ganzen weniger Assoziationen mit Gott gibt, als dies bei der Sonne der Fall ist. Mir hegen keine Belege dafür vor, daß der Name Gottes mit dem des Mondes gleichgesetzt wird. Bei Völkern wie den Akan, Bambuti, Ndorobo, Luo und Sandawe verkörpert der Mond eine weibliche Gottheit, eine Begleiterin Gottes, die Mutter (Schwester) der Sonne oder einfach einen Geist. Nach Auffassung der Zulu hat der Mond zwei Gemahlinnen, Morgen- und Abendstern, d.i. der Planet Venus in verschiedenen Stellungen. Der Morgenstern ernährt ihn gut, wodurch er zunimmt, während der Abendstern ihm nur kümmerliche Nahrung verabreicht, so daß er wieder abnimmt. Bei den Lese ist der Mond Gottes linkes Auge, und die Nuer glauben, daß Gott im Monde erstrahlt. Eine Anzahl von Völkern, unter ihnen die Njoro, Buschmänner, Katab und Kagoro, halten allmonatlich, insbesondere bei Neumond, bestimmte religiöse Zeremonien ab. Über die Gestirne, Kometen und Meteore hegen nur knappe Angaben vor. Manchenorts werden sie als Verkörperungen von Geistern angesehen, während die Zande, Bambuti und Dschagga sie als Gottes Kinder betrachten und andere wiederum, wie die Venda, Kikuju und Schöna, glauben, Gott selbst tue sich in ihnen kund. Die Kamba lesen aus der Konstellation der Plejaden ab, wann und mit welcher Heftigkeit die Regenzeit im betreffenden Jahr eintreten wird. Der Regen wird von den afrikanischen Völkern als eine der größten Segensgaben Gottes betrachtet. Daher nennt man Gott meist den „Regenspender". Einige Völker, wie die Elgeyo, Ibo, Suk und Tonga, sehen im Regen die Personifikation einer Gottheit, eines übernatürlichen Wesens oder eines Gottessohnes. Andere setzen Gott so eng mit dem Regen in Beziehung, daß beide durch dasselbe oder ein nahe verwandtes Wort bezeichnet werden. So nennen die Didinga Gott Tamukujen und den Regen tamu. Die Idoma verwenden für beide das Wort Owo, das Massaiwort En-kai bezeichnet sowohl Gott als auch den Regen (oder Himmel), und bei den Suk verwenden manche das Wort Ilat für beide. Die IIa und Nuer sprechen davon, daß Gott „im Regen herabfalle",
Gott und die Naturkräfte und Naturereignisse
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unterscheiden dabei jedoch klar zwischen ihm und dem Regen. Andere, wie die Kamba oder Tiv, betrachten den Regen als Gottes Speichel, und dieser ist, wie wir bereits gehört haben, ein ausgeprägtes Segenssymbol. Manche Völker bringen Gott Geschenke und Opfer dar, die mit Bittgebeten um Regen verbunden sind, besonders in Zeiten der Dürre. Im gesamten Erdteil ist der Regenmacher bekannt, dessen Obliegenheit es ist, Gottes Hilfe bei Regenmangel anzurufen und umgekehrt auch dafür zu sorgen, daß er lang andauerndem Regen Einhalt gebietet. Im Donner vernehmen viele Völker, darunter die Bambuti, Venda, Ewe und IIa, Gottes Stimme. Die Kikuju, Zulu und andere deuten ihn als Gottes Bewegung, während die Joruba und Tiv ihn als ein Zeichen von Gottes Zorn betrachten. Bei den Baluhja, Njoro, Soga, Tonga, Joruba und weiteren Völkern wird der Donner als Gottheit, Hahn, Vogel oder als ein anderes Geschöpf personifiziert. Die Vorstellungen über den Blitz sind denen über den Donner sehr ähnlich, da beide Naturvorgänge in enger Beziehung zueinander stehen. Die Kikuju betrachten den Blitz als Gottes blanke Waffe, die ihm den Weg bahnt, wenn er von einer heiligen Stätte zur nächsten umzieht. Die Nuer und Schöna glauben, daß Gott sich im Blitz offenbart. Eine ganz Anzahl von Völkern, darunter die Bachwa, Bambuti, IIa, Ndamba und Zulu, sehen im Blitz Gottes Werkzeug, das dazu dient, Übeltäter zu bestrafen oder seine Absichten in die Tat umzusetzen. Es gibt auch solche, die wie die Bambuti, Ruanda, Ibo und Joruba im Blitz die Personifikation einer Gottheit oder eines anderen Lebewesens sehen. In einer geringen Anzahl von Fällen wird der Wind mit Gott in Beziehung gesetzt. Einige Völker sagen metaphorisch von Gott, er sei wie der Wind oder die Luft oder er ziehe dahin wie der Wind, andere sehen im Wind das Fuhrwerk, mit dem Gott in all seiner Macht durch den Himmel einherbraust. Für die Schöna, Tonga und Zulu sind die Stürme Bekundungen von Gottes Gegenwart, für die Einwohner der Insel Tumbatu nördlich von Sansibar sind sie Zeichen seines Zorns. Die Bambuti, die große Angst vor Stürmen haben, sind des Glaubens, Gott bediene sich dieser, um böse Zungen und Missetaten zu bestrafen. Die Tswana haben eine ähnliche Erklärung für den Hagel, der bei ihnen als Gottes Strafe für die Verletzung althergebrachter Sitten gilt. Wie der Himmel, so weist auch die Erde mancherlei Naturkräfte und -ereignisse auf, die auf verschiedenste Weise mit Gott in Beziehung gesetzt oder sonstwie religiös gedeutet werden. Himmel und Erde wurden als erste Dinge erschaffen. Bei mehreren Völkern herrscht der 5'
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Gott und die Natur
Glaube, Erde und Himmel seien einst durch ein Seil oder eine Brücke zu einer Einheit verknüpft gewesen, dann aber sei das "Weltall durch Zerstörung dieses Bindegliedes in seine beiden Hälften auseinandergefallen. Einige Völker, wie die Haja, Ibo und Itschekiri, sollen eine Erdgottheit oder einen Erdgeist haben, wobei es sich wahrscheinlich u m eine Personifikation handelt. I m Umkreis des Zentralafrikanischen Grabens k o m m e n häufig Erdbeben vor. Die Schöna glauben, Erdbeben würden durch Gottes Daherschreiten verursacht, während die Soga, Kiga und Ankole besondere Erdbebengottheiten für das Erzittern der Erde verantwortlich machen. In verschiedenen Teilen des Kontinents, beispielsweise im Einzugsgebiet des Niger, Sambesi und K o n g o , finden sich Mythen, die von großen Überflutungen in uralten Zeiten künden, welche die Menschheit und die Tierwelt vernichtet hätten. W e n n diese großen Ströme in der Vergangenheit alljährlich über ihre Ufer traten, wurde zweifellos unter den Menschen, ihrem Hab und Gut und auch dem wilden Getier großer Schaden angerichtet. Derartige Naturkatastrophen haben in der Mythologie der davon betroffenen Völker ihren Niederschlag gefunden, und die Schreckenskunde hat so die Jahrhunderte überdauert. In manchen Landstrichen werden daher Ströme und Flüsse personifiziert, oder es werden ihnen Gottheiten bzw. höhere Geister zugeordnet, wie z. B . bei den Atscholi, Ganda, N d a m b a und Joruba belegt ist. V o n Meeren, Seen und Teichen, deren Bestand nicht jahreszeitlich bedingt ist, nimmt man vielfach an, daß ihnen Geister oder Gottheiten innewohnen, die meist versöhnt werden müssen, wenn das Wasser in irgendeiner F o r m Verwendung findet. Beispiele hierfür ließen sich aus ganz Afrika anführen, aber wir wollen hier nur ein paar erwähnen. Die N j o r o bringen dem Geist des Albertsees Geschenke dar, wenn einer v o n ihnen das Gewässer im Kanu überqueren will. Bei den Ganda ist Mukasa der Gott der Meere und Seen, und dieser nimmt in der Rangordnung der N a tionalgottheiten einen bevorzugten Platz ein. Die Haja kennen einen Geist des Viktoriasees, und die Joruba verehren den Meergott Olokun. Bei einigen Völkern, wie den Lugbara und N d a m b a , gelten Felsen als Bekundungen Gottes. Die Lobedu behaupten, Gott habe auf bestimmten Felsen sichtbare Fußspuren hinterlassen, und in einem der Schöpfungsmythen der K a m b a bringt Gott die ersten Menschen aus einem Felsen hervor, der heute noch zu sehen ist. V o n einer Anzahl Völker — den Ruanda, Bari, Venda, Ingassana, Madi, Sonjo u.a. — wird berichtet, daß sie heilige Steine und Felsen haben, die bei reli-
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giösen Riten und Feiern verwendet werden. Heilige Steine spielen oft bei den Zeremonien des Regenmachens eine Rolle. Manchenorts werden Felsen und Felsbrocken als Wohnstätten von Geistern, Verstorbenen oder Totenseelen angesehen. Auch Lehm hat große Bedeutung, da er nach Ansicht der Bambuti, Schilluk, Rundi, Ruanda und Joruba als Stoff zur Bildung des Menschen diente oder noch dient. Hochragende Berge und Hügel gelten allgemein als heilig und haben religiöse Bedeutung. Darüber liegt eine große Anzahl von Zeugnissen aus vielen Teilen des Kontinents vor, doch sollen einige wenige Beispiele genügen. Die Venda und Schöna betrachten die Matobaberge (auch Matopoberge genannt) als eine Stätte, w o Gott sich besonders offenbart. Fünf hohe Berge, darunter der Kenia, die im Kikujulande weithin sichtbar sind, gelten als heilig und sollen Gottes Wohnstatt sein, wenn er die Erde besucht. Die Kikuju verrichten ihre Gebete in Richtung auf den Kenia, den höchsten ihrer heiligen Berge. Die Ndamba setzen Gott mit allen Bergen in Beziehung und meiden diese aus religiösen Gründen; nur der Agoroberg dient ihnen als Wallfahrtsstätte. Die Sonjo haben den Mogongo dscho Mugwe oder „Berg Gottes", der zeitweise dem Gründer und religiösen Führer ihrer Nation als W o h n u n g dient. Berge, Hügel oder andere hochragende Erdformationen werden keineswegs Gott gleichgesetzt, sondern sind lediglich konkrete Zeugen seiner Wesenheit und Gegenwart. Die Tatsache, daß sie dem Himmel „näher" sind als das flache Land, ist ein Grund dafür, sie mit Gott in Verbindung zu bringen. Ihnen kommt auf der Erde die gleiche Bedeutung zu wie der Sonne, und in geringerem Maße dem Mond und den Sternen, am Himmel. Sie sind Stätten der Begegnung nicht nur f ü r die Bevölkerung eines bestimmten Gebietes, sondern auch f ü r die Menschen, Geistwesen und Gott. Bei vielen Völkern werden Berge und Hügel mit Geistern oder Gottheiten in Verbindung gebracht. So glauben z.B. die Kamba, nachts an den Berghängen die Feuer der Geister zu sehen. Die Alur sind davon überzeugt, daß man Geister auf Bergen wahrnimmt, und die Ga und Tumbuka haben eigene Berggottheiten. Auch Höhlen und Erdlöchern haftet bisweilen eine religiöse Bedeutung an. Bei manchen Völkern, so den Kamba, Sotho, Ewe, Jao und anderen, herrscht der Glaube, Gott habe die ersten Menschen aus einem Erdloch oder einer Höhle hervorgebracht. Die Schöna haben ihre berühmten heiligen Höhlen, aus denen Gott angeblich sprechen soll. Bei den Gischu geht die Legende, Gott habe einst in einem tiefen Felsloch auf dem vulkanischen Elgonberg gewohnt.
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Gott und die Natur
Eine Anzahl Völker hütet oder benützt ein „heiliges" Feuer für religiöse Zwecke. Die Herero umhegen das heilige Feuer auf ihren Dorfaltären, und mit ihm ist das Wohlergehen der ganzen Gemeinde aufs innigste verknüpft. Sie geben Gott als den Urheber dieses Feuers an, welches das Leben der Nation, ihren Wohlstand und die Verbindung zur unsichtbaren Welt symbolisiert. Die Kikuju vollführen ein Reinigungszeremoniell für die Ernte, wenn diese zu reifen beginnt. Dazu gehört die Entzündung des heiligen Feuers, das dann in alle Bezirke des Landes getragen wird. Die Menschen betrachten es als „läuternde Flamme" und warten inständig darauf, es mit Reisig in Empfang zu nehmen und ihren Heimstätten zuzuführen, wo die alten Feuer bereits gelöscht worden sind. Das neue Feuer darf bis zur nächsten Reifezeit nicht erlöschen, und dann wird das Zeremoniell wiederholt. Dieses Feuer symbolisiert den Zyklus von Tod und Auferstehung und den Sieg des Neuen über Zerstörung und Entartung. Wahrscheinlich existiert dieses bedeutungstiefe Zeremoniell heute praktisch nicht mehr. Auch die Erntefeier bei den Nandi begreift das Entzünden eines heiligen Feuers und Bittgebete um Gottes Segen für Menschen und Vieh ein. Farben haben eine bestimmte religiöse Bedeutung und werden dementsprechend verwendet. Manche Völker betrachen Schwarz als ihre heilige Farbe. Bei den Venda, Luo, Nandi, Ndebele und Schöna werden Gott schwarze Tiere geopfert oder sonstwie bei religiösen Anlässen verwendet. Andererseits verwenden die Baluhja, Ganda, Tumbatu und Kaffa nur weiße Tiere —• gefiedertes Getier eingeschlossen — für ihre religiösen Riten, da ihre heilige Farbe Weiß ist. Über andere Farben hegen nur knappe Angaben vor. Wie die Farben so haben auch Zahlen religiöse Assoziationen. Über diesen Teilaspekt der afrikanischen Begriffswelt gibt es wiederum nur eine sehr beschränkte Anzahl von Belegen, so daß wir uns mit wenigen Beispielen begnügen müssen. Die Zahl Vier scheint bei den Nandi als heilig zu gelten; zumindest kommt ihr besondere Bedeutung zu. Bei den Schöna und Jie ist die Zahl Sechs heilig; sie opfern Gott jeweils sechs Rinder oder Ochsen. Sowohl Kamba als Vukusu tabuieren die Sieben, die bei den Kamba als „die Sieben der Hunde" bezeichnet wird. Den Ganda dagegen gilt die Neun als heilig, und alle ihre Geschenke, Weihegaben, Opfer und heiligen Gefäße müssen neun — oder ein Vielfaches davon — betragen. Bei vielen afrikanischen Völkern ist es verboten, Menschen oder Vieh zu zählen, teils aus Furcht, daß die so Gezählten vom Unglück befallen werden könnten, teils vielleicht auch,
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weil die Menschen keine Einzelpersonen sind, sondern körperschaftliche Mitglieder einer Gemeinschaft, die sich zahlenmäßig nicht erfassen läßt. Aus allen bisher besprochenen Punkten geht klar hervor, daß der Afrikaner in einem religiös bestimmten Kosmos lebt. Die Natur — im weitesten Sinne des Wortes verstanden — ist kein leeres unpersönliches Objekt oder Phänomen, sondern sie ist mit religiöser Sinnhaftigkeit erfüllt. Der Mensch verleiht den Naturkräften und -erscheinungen Leben, auch wo biologisch betrachtet kein Leben vorhanden ist. Für ihn durchwaltet Gott die Natur und all ihre Erscheinungen. Sie sind sein Werk, sie verkünden ihn und symbolisieren seine Wesenheit und Gegenwart. Die sichtbaren und faßbaren Erscheinungen und Kräfte der Natur zeugen von einer unsichtbaren Welt. Diese unsichtbare Welt drängt sich dicht an die sichtbare heran, und die eine raunt von der anderen. Die Afrikaner „sehen" jene Welt des Unsichtbaren, wenn sie die sichtbare, faßbare Welt betrachten, hören oder fühlen. Dieses Vermögen ist ihr grundlegendes religiöses Erbe. Leider haben ausländische Beobachter aus völliger Unkenntnis der Dinge heraus diese tiefe religiöse Einsicht unserer afrikanischen Völker mißdeutet und sie entweder ins Lächerliche gezogen oder naiv als „Naturverehrung" oder „Animismus" abgetan. Die traditionelle afrikanische Gesellschaft ist der geistigen Dimension unserer Existenz gegenüber in ihrer ganzen Tiefe und Schönheit, ihrem unermeßlichen Reichtum, niemals taub oder blind gewesen. Das Physische und Spirituelle sind lediglich zwei Dimensionen eines und desselben Alls. Diese Dimensionen sind derart ineinander verschachtelt, daß die eine zu gewissen Zeiten und an gewissen Orten zwar einen höheren Wirklichkeitsgrad als die andere haben, diese jedoch nie völlig verdrängen kann. Der religiös bestimmte Kosmos ist für den Afrikaner kein theoretisches Problem, sondern eine empirische Erfahrung, die in Akten der Gottesverehrung ihren höchsten Ausdruck findet. Mit diesen wollen wir uns anschließend befassen.
DIE GOTTESVEBJEHRUNG Die afrikanischen Völker reagieren in mannigfacher Weise auf die spirituelle Welt, der sie mit wachem Bewußtsein gegenüberstehen. Meist nimmt ihre Antwort auf den Anruf dieser Welt die Form der
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Die Gottesverehrung
Verehrung an, die sich in verschiedenen Handlungen und Aussagen kundtut. Die Handlungen können formell oder zwanglos, regelmäßig oder improvisiert, streng nach ritueller Vorschrift oder unzeremoniell ablaufen, sie können Ausdruck der Gemeinschaft oder des einzelnen, W o r t oder Tat sein. Von einer Gesellschaft zur anderen, von einem Gebiet zum anderen finden sich ausgeprägte Unterschiede. So wird z . B . von den Dinka und Nuer berichtet, daß sie fast die ganze Zeit des Wachseins mit religiösen Übungen zubringen, während es andererseits Völker geben soll, die sich ihnen nur gelegentlich widmen. Die Mehrzahl der Afrikaner befindet sich zwischen diesen beiden Extremen; der Häufigkeitsgrad ihrer religiösen Übungen wird sowohl von den Nöten des Augenblicks als von ererbten Gewohnheiten bestimmt. Die religiöse Verehrung ist nicht verinnerlichte Meditation, sondern in erster Linie ausdrucksstarke Geste, d. h. sie nimmt äußere Gestalt an, indem der Körper f ü r sich selbst und den Geist „spricht". Worin bestehen diese Akte der Gottesverehrung, wann, wie und w o finden sie statt? In diesem Kapitel werden wir uns bemühen, Antworten auf diese Fragen zu finden.1 a) Opfer und Weihegaben Z u den allgemein üblichen religiösen Handlungen, die man bei afrikanischen Völkern findet, gehört die Darbringung von Opfern und Weihegaben („sacrifices and offerings") und es bietet sich hier eine überwältigende Fülle von Beispielen an. D a die beiden Ausdrücke oft recht vage gehandhabt werden, möchte ich sie in diesem Buch klar voneinander trennen. Unter „ O p f e r " verstehe ich die Tötung tierischen Lebens zu dem Zwecke, das Tier ganz oder teilweise Gott, anderen übernatürlichen Wesen, den Geistern oder den Totenseelen darzubringen. Die Wörter „Weihegaben" oder „Weihgeschenke" hingegen beziehen sich auf sonstige Opferhandlungen, bei denen keine Tiere getötet, sondern hauptsächlich Nahrungsmittel oder andere Gaben dargebracht werden. In einigen Fällen werden Opfer und Weihegaben an einen oder mehrere der folgenden Empfänger gerichtet: Gott, die Geister und die Totenseelen. Die Empfänger der zweiten und dritten Kategorie werden als Vermittler zwischen Gott und den Menschen betrachtet, so 1
Eine eingehendere Behandlung des Themas findet sich in meinem Buch Concepts of Cod in AJrica (1969) Kapitel 16—20.
Opfer und Weihegaben
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daß in allen Fällen letzten Endes Gott der Empfänger ist, ob sich die Opfernden nun dessen bewußt sind oder nicht. Es sind vier Haupttheorien vorgebracht worden, die Funktion und Sinn von Opfern und Weihgeschenken zu erklären suchen. Es handelt sich um die Gabentheorie, die Sühnetheorie, die Gemeinschaftstheorie und die Danksagungstheorie. Obwohl diese Theorien als solche hier nicht zur Debatte stehen, läßt sich doch sagen, daß einige der in ihnen enthaltenen Gedanken wahrscheinlich im Bewußtsein der Afrikaner lebendig sind, wenn sie ein Opfer darbringen, daß aber keine der genannten Theorien diese Weihehandlungen voll und ganz erklären kann. Wesentlich ist auf jeden Fall, daß zwischen Gott und dem Menschen, dem Menschen und den Geistern, den Lebenden und Verstorbenen ein ontologisches Gleichgewicht gewahrt werden muß. Wird dieses Gleichgewicht gestört, so stößt den Menschen Unheil und Leid zu, oder sie befürchten zumindest, von Unheil befallen zu werden. Das Darbringen von Opfern und Weihgeschenken ist unter anderem auch ein psychologisches Mittel, das ontologische Gleichgewicht wiederherzustellen. Es bietet außerdem Gelegenheit, eine Bindung zwischen Gott und dem Menschen, den Menschen und den Geistern, d. h. also der spirituellen und der physischen Welt, zu schaffen bzw. zu erneuern. Wenn die Weihehandlungen sich an die Totenseelen richten, sind sie Symbole der Verbundenheit. Sie sollen zeigen, daß die Verstorbenen immer noch Mitglieder ihrer menschlichen Familie sind und daß man die Totenseelen in ehrfürchtiger Erinnerung behält. Die Opfer im Familienkreis richten sich meist an die Totenseelen, während größere Gemeinschaften sich mit ihren Opfern entweder unmittelbar oder durch die Vermittlung nationaler oder regionaler Geister oder Gottheiten an Gott wenden. Allerdings gibt es in den Opferbräuchen derartige Unterschiede, daß man sich vorsehen und vor leichtsinnigen Verallgemeinerungen hüten muß. Das bisher Gesagte soll nun anhand von konkreten Beispielen aus verschiedenen Teilen Afrikas illustriert werden. Die Baluhja glauben, daß Gott derjenige ist, „dem heilige Riten gelten und heilige Opfer dargebracht werden". Förmliche Anlässe, um Gott Opfer darzubringen, sind bei ihnen Geburt, Namengebung, Beschneidung sowie Hochzeit, Begräbnis und Ernte. Sie beten zu Gott, wenn sie Opfer darbringen. Bei Begräbnissen sollen solche Gebete den Totenseelen Frieden bringen, während sie zur Erntezeit Freude und Dankbarkeit Gott gegenüber ausdrücken. Auch die Kamba und Kikuju bringen bei wichtigen An-
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Die Gottesverehrung
lassen Opfer dar: bei den Durchgangsriten, an Saatfesten, in der Vorreifezeit und beim Ernten der ersten Feldfrüchte, bei Reinigungszeremonien, die zu Ende einer Epidemie in den Dörfern vorgenommen werden, und vor allem, wenn es übermäßig regnet oder der Regen ausbleibt. Die Kikuju verwenden als Opfertiere meist Schafe einer bestimmten Farbe, während die Kamba einfarbige Ochsen, Schafe oder Ziegen dazu nehmen. Bei ausgedehnter Dürre pflegten letztere früher ein Kind zu opfern, das sie lebendigen Leibes im Kultschrein begruben. Die Akan und Aschanti haben in ihren Gehöften Altäre, auf denen sie Nahrungsmittel, insbesondere Eier, und Palmwein als Weihgeschenke darbieten. Diese sind f ü r Gott bestimmt und ihre Darbringung ist mit Gebeten für die Wohlfahrt der Menschen verbunden. Die Bambutipygmäen und die pygmiformen Bachwa, die als Beerensammler und Jäger ihren Lebenunterhalt bestreiten, legen sorgfältig einen Teil des erbeuteten Fleisches, der Früchte und des Honigs f ü r Gott zurück, da sie vermeinen, jegliche Unterlassung des Opfers würde zu Krankheitsfällen führen oder bewirken, daß einer der Ihren die Fähigkeit, Tiere zu erlegen, verlöre. W e n n eine Bachwafrau sich schwanger fühlt, kocht sie Speise und bringt einen Teil davon in den Wald, w o sie sie Gott mit den Worten darbietet: „Gott, von dem ich dieses Kind empfangen habe, nimm und iß!" Die Rotse bringen Gott täglich ein Geschenk dar, indem sie jeden Morgen einen Holzteller mit Wasser in die Viehkral stellen. Diese Aufgabe obliegt dem Familienältesten, der in Richtung Osten niederkniet und Gott seinen Gruß in Form einer Anrufung entbietet. Von den Dschagga hingegen heißt es, sie opferten Gott nur in Zeiten ärgster Bedrängnis und sonst äußerst selten. Sie entrichten jedoch den Geistern und Totenseelen viele Opfer. In ähnlicher Weise opfern die R u n d i ihrem Heroengeist (Kiranga), der zwischen Gott und ihnen eine Mittlerrolle spielt. W e n n Kiranga versagt, wenden sie sich unmittelbar an Gott. In der Annahme, daß Gott keine Opfer erwartet, opfern die Ankole ihm überhaupt nicht, sondern bringen anstattdessen lediglich den Geistern und Totenseelen Geschenke dar. Auch die Ganda richten ihre Opfer und Weihegaben an die Gottheiten, Geister und Totenseelen. Bei den IIa kennt man verschiedene Anlässe, Gott Opfer und Weihegaben darzubringen. Die Jäger opfern ihm, wenn sie ohne Erfolg gejagt, aber auch, wenn sie ein Wildbret erlegt haben. Die Wegfahrer halten inne, wenn sie einen Fluß erreichen, schöpfen ein wenig Wasser und spritzen es als Opfergabe auf die Erde, wobei sie Gott bitten, er möge
Opfer und Weihegaben
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sie leiten, behüten und segnen. Wenn ein Mann frühmorgens seine Pfeife anraucht, bringt er zunächst Gott ein Rauchopfer dar und dankt ihm, daß er ihn gesund hat aufstehen lassen, um ihn dann zu bitten, er möge ihm einen gedeihlichen Tag geben. In schweren Krankheitsfällen opfert das Familienoberhaupt Speisen und Wasser, die er rechts auf die Schwelle des Hauses stellt, wobei er zu Gott um Heilung der Kranken betet. Von den Joruba werden vielerlei Tier- und Sachopfer berichtet, die „das Wesen der Jorubareligion" ausmachen.2 Nahezu alle Arten von Nahrungsmitteln, Getränken und lebenden Tieren werden hierzu verwendet. Da die Joruba, was die Zahl der von ihnen anerkannten Gottheiten betrifft, alle anderen Völker in den Schatten stellen, gelten diese Gottheiten als die Empfänger, obwohl in Wirklichkeit die Andächtigen selber die Opfergaben verzehren. Um einen besonders machtvollen Segen herabzubeschwören, wurden früher Menschen zum Opfer gebracht, eine Sitte, die vielleicht noch nicht völlig ausgestorben ist. An den Kultschreinen werden täglich Trank- und Speiseopfer dargebracht. Andere Geschenke werden den Gottheiten als Anerkennung für Erfolg, Gesundheit und Kinderreichtum zugedacht, während man bei Dürre, Hungersnot oder schwerer Krankheit Sühnopfer bereitet. Die Joruba kennen auch Ersatzopfer, wenn es sich darum handelt, ein Abkommen zu ändern. Weitere Opfer und Weihegaben sind dazu bestimmt, Angriffe, Übel oder Unheil abzuwenden oder den Erdgeist zu besänftigen. Alle vierzehn Tage bringen die Jorubaschmiede Ogun, dem Gott des Eisens und des Krieges, Hundeopfer dar. Für die Dinka ist jedes Ereignis, jeder Anlaß gut genug, um Gott Opfer darzubringen; bei ihnen ist „jeder Stier oder Ochse letzten Endes zum Opfer vorbestimmt... Das Tieropfer ist der Mittelpunkt aller religiösen Handlungen der Dinka, welche ihre Rinder als vollkommene Opfer betrachten". Da sie ihren Rindern Eigennamen geben, künden sie dem Opfertier vor seiner Tötung an, „für welchen wichtigen und notwendigen Zweck es geopfert wird" und entgelten ihm seinen Tod dadurch, daß sie das nächstgeborene Kind nach ihm benennen, um sein Gedächtnis zu bewahren.3 Da Rinder so wertvoll wie Menschen sind, ist ihre Opferung eine so ernste Angelegenheit, daß sie einem Menschenopfer gleichkommt. Tieropfer sind für die Dinka das 2 3
Bei Idowu S. 1 1 8 — 1 2 5 findet sich eine eingehendere Darstellung. Lienhardt S. 10, 21 f.
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Die Gottesverehrung
fortwährende Band zwischen dem menschlichen und göttlichen Bereich. Auch von den Nuer wird berichtet, daß sie Gott aus vielen Anlässen opfern. Rinder sind die üblichen Opfertiere, und bei wichtigen Anlässen ist die Opferhandlung mit langen Anrufungen Gottes verbunden. Wenn ein Mensch sich auf Reisen befindet, knüpft er Gräser am Wegrand zusammen und betet dabei zu Gott. Diese Beispiele sollen genügen, um zu zeigen, wie afrikanische Völker durch Opfer und Weihegaben auf den Anruf der spirituellen Welt eingehen. Geopfert werden Rinder, Schafe, Ziegen, Hühner, Hunde und manchmal sogar Menschen. Als Weihgeschenke kommen Nahrungsmittel wie Früchte, Mais, Hirse, Nüsse, Maniok, Gemüse, Blätter, Honig und Eier in Betracht, Getränke wie leichter Brei, Milch, Bier, Wein und Wasser, dazu Gegenstände verschiedenster Art wie der Kot des Schliefers, Tuch, Geld, Kreide, Weihrauch, Ackerbaugeräte, Zierstücke, Tabak und Kaurimuscheln. Bei einer Anzahl von Völkern wird auch Blut geopfert. Es wird also fast alles, was sich in Reichweite des Menschen befindet und seinen Zwecken dient, vom einen oder anderen Volk Gott und anderen Geistwesen zum Opfer gebracht. In der Regel gibt es keine Opferhandlungen ohne Gebete. Tieropfer und Geschenke sind die schweigende Antwort auf den Anruf des Spirituellen. Erst durch die Macht des Wortes wird das Schweigen zum Gebet umgeformt. Hiermit wollen wir uns jetzt befassen. b) Gebete, Anrufungen,
Segens- und
Grußformeln
Das Gebet geht häufig, aber nicht unbedingt immer, mit Opfern und dem Darbringen von Geschenken Hand in Hand. Es ist die geläufigste aller religiösen Übungen. Die meisten afrikanischen Gebete sind vom Augenblick eingegeben und dabei kurz und treffend, obgleich es auch Beispiele für lange, formelle Gebete gibt. Die meisten Gebete und Anrufungen sind an Gott gerichtet, andere an die Totenseelen oder ähnliche Geistwesen, von denen viele als Mittler dienen. Nach den uns vorliegenden Berichten wird bei fast allen afrikanischen Völkern gebetet. Allerdings sind die eigentlichen Gebetstexte bisher nicht oft aufgezeichnet worden. Wir werden ein paar Beispiele aus verschiedenen Teilen des Kontinents bringen, um Inhalt und Begriffswelt afrikanischer Gebete zu erläutern. Wenn bei den Baluhja die alten Männer morgens aufstehen, knien sie in Richtung Osten nieder und beten zu Gott. Dabei spucken sie aus
Gebete, Anrufungen, Segens- und Grußformeln
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und bitten ihn, er möge den Tag gut aufgehen lassen, seine Gesundheitsmedizin über die Menschen ausgießen und den bösen Geist vertreiben. Ein anderes Gebet, das alte Männer gewöhnlich sprechen, lautet auszugsweise wie folgt: „ O Gott, hab Erbarmen mit unseren leidenden Kindern, Bring Reichtum heute, wenn die Sonne aufgeht, Bring alles Glück mir heute!" 4
Die pygmiformen Bachwa beten in Krankheitsfällen, vor Antritt einer Reise oder vor dem Aufbruch zur Jagd, Gott möge die Kranken heilen, die Reisenden segnen und den Jägern Wild senden. Die Bambutipygmäen beten ebenfalls in schwierigen Lagen, insbesondere bei Gewitter, vor dem sie große Angst haben. Das Gebet bei Gewitter lautet so: „Großvater, großer Vater, laß es mir Wohlergehen, denn ich gehe in den W a l d " ,
oder wenn sie bei aufkommendem Gewitter bereits in Wald sind: „Vater, deine Kinder haben Angst; siehe, wir werden sterben!" 5
Zur gleichen Zeit brennen sie Weihrauch ab und glauben, daß Gott ihre Gebete erhört, seine Hand ausstreckt, und der Sturm zerstiebt. Sie beten auch vor ihrem Aufbruch zu Nahrungs- und Jagdzügen, Gott möge ihnen helfen, Früchte oder Wild zu finden. Unfruchtbare Frauen beten zu ihm, er möge sie mit Kindern segnen. Von den Galla wird berichtet, daß sie häufig zu Gott beten und ihn anrufen. Jeden Tag beten sie morgens und abends, er möge sie, ihr Vieh, ihre Ernte und ihre Familie beschützen. Wir geben ein solches Gebet im Wortlaut: „ O Gott, du hast mir einen guten Tag gegeben, Gib mir eine gute Nacht. D u hast mir eine gute Nacht gegeben, Gib mir einen guten T a g ! " 6
Auch bei den Rotse ist tägliches Beten üblich, und zwar ist es die Obliegenheit der alten Männer, die frühmorgens aufstehen und Gott 4 5 6
S. Yokoo, Death among the Abaluyia, Schebesta II, S. 23 s. Huntingford, S. 74 f.
Dissertation, Kampala, 1966, S. 66.
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Die Gottesverehrung
Wasser als Weihegabe anbieten. Sie reden Gott als den großen König an, dem sich kein Mensch vergleichen kann und der seinen Dienern Erbarmen und zahllose Gunsterweise schenkt. Die IIa sollen, in besonderer Bedrängnis um Gottes Hilfe beten. Zur Dürrezeit versammeln sie sich und stimmen gemeinsam dieses Bittgebet an: „ K o m m zu uns mit Dauerregen, o Gott, falle!"
Wenn Männer sich auf einem Jagdzug befinden und nichts erbeutet haben, setzen sie sich im Kreis um den Ältesten der Gruppe, der ihnen folgendes Bittgebet vorbetet: „ O Mutalabala, E w i g e r . . . W i r bitten dich, Laß noch vor Sonnenuntergang uns Beute finden",
worauf die anderen, zu Boden kniend, einfallen: „ O Häuptling, laß heute noch uns Beute finden!"
Wenn sie dann ein Wild erlegt haben, schneiden sie einen Teil davon in Stücke, welche der Älteste Gott mit den Worten darbietet: „Ich danke dir für das Fleisch, das du mir gibst, Heute hast du mir beigestanden".
Die anderen klatschen in die Hände, und wenn die Zeremonie vorüber ist, teilen sie das Fleisch unter sich auf und kehren nach Hause zurück.7 Die Lozi versammeln sich vor der Einsaat bei Sonnenaufgang unter Führung des Ortshäuptlings, der einen Altar aus Stöcken und Lehm errichtet. Auf diesen Altar stellt man eine Schüssel, worin jeder Haushalt ein paar Saatkörner, Hacken und Äxte gibt. Dann kniet der Häuptling vor dem Altar nieder und legt nach Osten gewandt seine Hände zusammen, verneigt sich, blickt wieder auf und breitet seine Hände aus. Er wendet sich nach rechts, dann nach links, kniet sich wiederholt hin und steht wieder auf. Das Volk vollzieht seine Bewegungen nach. Schließlich betet der Häuptling im Namen der Gemeinde und bittet Gott, das Volk, die Ackerbaugeräte und die Saat zu segnen, auf daß das Volk sie durch seine Macht zum Guten verwende. Das Volk verneigt sich viele Male und klatscht in die Hände. Sobald die Zeremonie vorbei ist, kann die Einsaat beginnen. Die Lozi beten gleichfalls vor der Jagd, bei Krankheit und wenn sie geträumt haben. Ein Kranker 7
Smith und Dale, S. 208 f.
Gebete, Anrufungen, Segens- und Grußformeln
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setzt den ganzen Tag von der Arbeit aus und verbringt den Ruhetag im Gebet, bis die Sonne untergeht. Obwohl die Mende sich im Gebet unmittelbar an Gott wenden können, richten sie ihre Gebete häufig an die Geister und Totenseelen, die ihnen als Mittler dienen, und enden mit den Worten: „So Gott will!" Die Mittlerschaft der Totenseelen bei den Mende spiegelt den Aufbau ihres gesellschaftlichen und politischen Lebens wider, in dem Vermittler eine wichtige Rolle spielen. Das folgende Gebet sollte diesen Punkt klarmachen: „ O Gott, laß es zu (durch?) Kenei M o m o gelangen, Laß es zu (durch?) N d u a w o gelangen, Laß es zu all unseren Vorvätern gelangen, Die in Deinen Händen sind".
Sodann werden die Namen der Vorväter und der Totenseelen beschworen, da die Leute glauben, daß solche Mitder ihre Gebete Gott überbringen. Man bittet um Segen, Befreiung von Unheil und sogar um Gottes Vergeltung, wo eine Ungerechtigkeit verübt worden ist.8 Bei den Nandi wird von jedem Erwachsenen erwartet, daß er zweimal am Tage ein gemeinsames Gebet verrichtet, eine Vorschrift, die insbesondere von den alten Männern streng eingehalten wird. Jeden Morgen setzen sie sich mit gekreuzten Armen nieder und beten: „Gott, behüte mir die Kinder und das Vieh, Gott, behüte uns das Vieh, Gott, gib uns Gesundheit".
Während eines Krieges beten die Mütter jeden Tag für ihre im Kampfe stehenden Söhne, und einer der Gemeindeältesten, der die Krieger begleitet, betet um ihre sichere Heimkehr. Wenn das Unternehmen erfolgreich ist, danken sie Gott dafür, wenn es fehlschlägt, halten sie eine Reuezeremonie ab, bei der sie Gott um Verzeihung bitten. Herrscht Dürre im Land, so beten sie um Regen und um Schutz für ihre schwangeren Frauen und ihr Vieh.9 Die Nuer kennen häufiges Gebet. Sie reden Gott als „Großvater", „Vater", oder „Unser Vater" an und erheben die Augen und Hände zum Himmel. Einige ihrer Gebete sollen ziemlich lang sein, und es mag vorkommen, daß der Betende speerschwingend in seinem Viehkral 8
Harris bei Smith, S. 281 f; Little, S. 218. « Hollis, A . C . : The Nandi, 1909, S. 4 i f ; Huntingford I, S. 1 3 5 , I44f, 1 5 3 .
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Die Gottesverehrung
auf- und abschreitet. Er kann aber auch in sitzender oder hockender Stellung verbleiben, die Augen zum Himmel gewandt, und nur die Hände mit nach oben gekehrten Handflächen auf- und abbewegen. Die Gebete bezwecken hauptsächlich, die Menschen vom Übel zu erlösen und ihnen ein friedvolles Leben zu sichern. Die Nuer vertreten die Auffassung, daß sie jederzeit beten können, „weil sie gern mit Gott reden, wenn sie glücklich sind" und ihren alltäglichen Verrichtungen nachgehen. Das folgende Gebet mag als typisch gelten: „Unser Vater, es ist Dein Weltall, es ist Dein Wille, laß uns in Frieden leben, laß die Seelen Deines Volkes unbeschwert bleiben. D u bist unser Vater, heb' alles Übel hinweg von unserem Pfad". 1 0
Bei den Joruba ist neben dem Opfer und dem Darbringen von Geschenken das Gebet das Herzstück des religiösen Lebens. Aus diesem Grunde beten die Leute jederzeit und an allen Orten, sogar wenn sie sich auf dem Wege zum Kultschrein befinden. Einige gehen frühmorgens zum Schrein, um zu beten, bevor sie mit irgendjemand sprechen. Die Gebete bezwecken, materielle Segnungen, Schutz vor Krankheiten oder den Sieg über die Feinde und ein langes Leben herabzurufen.11 Diese und ähnliche Beispiele beweisen, daß die Afrikaner im Gebet mit Gott sprechen und ihm jederzeit und an jedem Ort ihr Herz ausschütten. Meist handelt es sich dabei um Bittgebete, die dem Verlangen nach materiellem Wohlergehen wie Gesundheit, Schutz vor Gefahr, Wohlstand oder sogar Reichtum Ausdruck geben. Einige Gebete bringen Dankbarkeit gegenüber Gott zum Ausdruck, und in ein paar Fällen weihen die Menschen ihm ihr Hab und Gut oder ihre Tätigkeiten. Obgleich die meisten Gebete direkt an Gott gerichtet sind, findet man auch Völker, bei denen die Gebete durch Vermittlung der Geister, Vorväter und Totenseelen vorgebracht werden. Im großen und ganzen kommt zwar das Gebet des einzelnen zu Gott durchaus vor, aber oft obliegt es dem Familienoberhaupt oder dem Priester — falls es sich um ein Anliegen von überörtlicher oder nationaler Bedeutung handelt — im Namen des Haushalts oder des gesamten Volkes zu beten. Beim Beten sind verschiedene Stellungen bekannt, was ganz von den Gewohnheiten der einzelnen Völker abhängt. Man kniet nieder oder steht 10 11
Evans-Pritchard, II, p. 7, 9, 22 f. Idowu, S. i n — 1 1 8 gibt eine ausführliche Darstellung.
Gebete, Anrufungen, Segens- und Grußformeln
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aufrecht, fällt vor Gott zu Boden oder nimmt eine sitzende Stellung ein, kreuzt die Arme oder klatscht in die Hände. Bei einigen Völkern spuckt man beim Beten aus, da der Speichel ein Segenssymbol ist, bei anderen erhebt man die Hände und Augen zum Himmel, und in ein paar Fällen wendet man sich einem bestimmten Berg oder einer Himmelsrichtung, z.B. dem Osten, zu. Anrufungen und Beschwörungen sind verkürzte und allgemein verbreitete Formen des Gebets. Sie kommen überall vor und stellen spontane Anreden Gottes dar, mit denen man um sein Eingreifen für einen bestimmten Zweck bittet. Die folgenden Beispiele sind typisch für die verschiedenen Formen: „Gott, gib uns Regen!", „Gott gebe dir Früchte!", „Hilf mir, o Gott", „Gott, erbarme dich meiner!" oder „ O großer Gott!" Gewöhnlich sind Anrufungen die spontanen, ungezwungenen Gebete des einzelnen, aus dem Augenblick geboren. Sie beweisen, daß in den Augen der Menschen Gott ständig nahe und bereit ist, ihnen beizustehen und daß sie überzeugt sind, auch ohne religiöse Formalitäten mit ihm in Verbindung treten zu können. Im religiösen und sozialen Leben der afrikanischen Völker spielt auch das Erbitten und Erteilen des Segens eine wichtige Rolle. Der formelle Segensspruch ist ein weiterer Aspekt des Betens, doch ist dabei in der Regel der Segenende älter oder ranghöher als der den Segen Empfangende. Allgemein gilt dabei Gott als der eigentliche Segensspender. Der Ritus des Segnens ist meist einfach, doch ist er bei einigen Völkern mit Spucken oder dem Bespritzen des zu Segnenden mit Wasser oder einer anderen Substanz verbunden. Die dabei verwendeten Segensformeln sind sich in ganz Afrika ziemlich gleich. So heißt es zum Beispiel: „ M ö g e Gott mit dir gehen!", „Gott bewahre und erhalte dich, bis du deine Kindeskinder siehst!", „Gott stehe dir bei!" oder „Gott segne dich!". „Gott gebe dir (euch) Früchte!" sagt man zu einer kinderlosen Frau oder einem kinderlosen Ehepaar. „Gott mache deine Füße leicht!" heißt soviel wie: er beschütze dich und sei mit dir auf deiner Reise. Man sagt auch: „Gott gebe dir ein reines Gesicht!" (d.h. Mögest du Glück finden) oder „Gott vergrößere deine Stirn!" Bei einigen Völkern gibt es auch gemeinschaftliche Segnungen. W i e bereits erwähnt, bringen die Lozi ihre Ackerbaugeräte und ihr Saatgut zu einer Zeremonie, die unter Leitung ihres Häuptlings stattfindet, damit diese vor Beginn der Einsaat gesegnet werden. Bei einer Anzahl von Völkern werden Erntezeremonien abgehalten, um Gottes Segen auf 6
M b i t i , Afrikanische Religion
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Die Gottesverehrung
die junge Saat herabzurufen. Bei den Einweihungsriten der Gischu spricht der Priester Gottes Segen über die Weihlinge aus. Die Massai halten in regelmäßigen Abständen Zeremonien zur Segnung kinderloser Frauen ab. Der persönliche Segen wird spontan erbeten und erteilt, wenn Menschen voneinander Abschied nehmen oder wenn Eltern im Sterben liegen, während der Gemeinschaftssegen förmlich beantragt werden muß, was meist in Notzeiten der Fall ist. Bei manchen Völkern findet man Gruß-, Willkommens- und Abschiedsformeln in gebetsähnlicher Form. So sagt bei den Ruanda und Rundi, wenn zwei Leute auseinandergehen, der eine: „Geh mit Gott!" worauf der andere erwidert: „Bleibe bei Gott!" Wenn sie im selben Haus oder Gehöft schlafen, sagt der eine: „Verbringe die Nacht mit Gott!" oder: „Mögest du dem freundlich Gesinnten begegnen!", worauf die Antwort gleichlautet. Die Ruanda kennen viele Glückwunschformeln für die verschiedensten Anlässe, und diese begreifen meist den Namen Gottes oder die Bitte um seinen Segen in sich. Wenn z.B. eine lange Zeit kinderlos gebliebene Frau gebiert, gratuliert man dem Paar mit den Worten: „Gott hat euch den Zähnen der Spötter entrissen!" oder „Gott hat eure Schande von euch genommen!" Ist jemand einer Gefahr entronnen, so lautet der Glückwunsch: „Gott hat dich beschirmt" oder „Er steht immer noch auf dir", was bedeutet, daß Gott die betreffende Person am Leben erhält.12 Wenn zwei Mende sich begegnen und einer den anderen fragt, wie es ihm geht, so antwortet dieser: „Keine Unstimmigkeit mit dem Häuptling (Gott)", was bedeutet, daß alles in Ordnung ist. Beim Abschied sagen die Mende: „Möge Gott dich gut geleiten" oder „Gott bewahre dich". 13 Eine Grußformel der Schilluk lautet: „Möge Gott dich behüten!". c) Verschiedene andere Handlungen und Ausdrucksweisen der Gottesverehrung
Bei vielen afrikanischen Völkern findet sich die Sitte, den Namen Gottes in den Namen der Kinder einzuschließen. Dies ist ein Ausdruck der Gottesverehrung, der in einigen Fällen besagt, daß das Kind auf ein Gebet hin geboren worden ist und daß die Eltern daher Gott für dieses Kind danken wollen. In anderen Fällen drückt die Namensform ein besonderes Attribut Gottes aus, welches durch die Begleitumstände 12 13
Guillebaud bei Smith, S. 189 f. Harris bei Smith, S. 280.
Handlungen und Ausdrucksweisen der Gottesverehrung
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der Geburt nahegelegt worden sein mag. Es kann jedoch auch einfach der Wunsch der Eltern vorliegen, Gott durch den Namen des Kindes zu preisen. Solche Namen werden zu lebenslänglichen Wahrzeichen bestimmter GottesbegrifFe, die es auszudrücken gilt, und durch einen solchen Gebrauch werden die Begriffe in konkreter äußerer Form verewigt. Dieser Brauch wird von den Zande, Ruanda, Rundi und Nuer berichtet, und wir können dazu Beispiele liefern. Als Ausdruck von Gottes Weisheit und Macht nennen die Ruanda und Rundi ihre Kinder Ntawujankira, d.h. „Keiner kann ihm seinen Willen verweigern" oder Bisimana, d.h. „Gott weiß alles". Soll die Dankbarkeit der Eltern besonders zum Ausdruck kommen, so erhält das Kind den Namen Ndihokubgajo, was soviel bedeutet wie „Ich lebe, weil er es so gewollt hat" oder Ntirandekura, was bedeutet: „Er hat mich noch nicht fallenlassen". Wollen die Eltern ihr Gottvertrauen beweisen, so heißen die Kinder vielleich Nijibtsi, dessen Sinn ist: „Er weiß um alles" oder Ndajisiga, was soviel heißt wie „Auf ihn baue ich". 14 Solche Namen mögen als weitere Beispiele dienen, daß diese Menschen religiöse Wesen in einem religiös bestimmten Kosmos sind. Sprichwörter dienen allgemein dazu, religiöse Vorstellungen und Gefühle auszudrücken. Leider sind die Sprichwörter bisher kaum wissenschaftlich untersucht worden, und es hegt daher wenig Information über dieses Thema vor. Die Sprichwörter verkörpern die Spuren uralter Formen afrikanischer Lebensweisheit. Bei den Rundi z.B. warnt man einen überheblichen Menschen mit den Worten: „Das Geschöpf ist nicht größer als der Schöpfer". Als Schutz vor Kummer sagt man: „Gott kennt die morgigen Dinge". Wenn ein Mensch in Not ist, trösten ihn die Ruanda mit den Worten: „Der Feind gräbt dein Grab, aber Gott läßt die kleine Tür offen". 15 Gott wird oft in Liedern verehrt, und die meisten Afrikaner singen von Herzen gern. Viele religiöse Versammlungen und Zeremonien sind von Gesang begleitet, was nicht nur dazu beiträgt, religiöses Wissen von Mensch zu Mensch oder von Gruppe zu Gruppe weiterzugeben, sondern auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl und eine Haltung der Solidarität zu schaffen und zu festigen. Andere Lieder dienen dazu, Kleinkinder zu beruhigen oder in den Schlaf zu singen. Man singt bei allen möglichen Anlässen, mag es sich um Geburten, Einweihungsriten, 14 15
6*
Guillebaud bei Smith, S. i94f. Guillebaud bei Smith, loc. cit.
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Hochzeiten oder Sterbefälle handeln. Ein Jägervolk wie die Gombe kennt religiöse Lieder, in denen die Abhängigkeit der Menschen von Gott betont und jeglicher Erfolg ihm zugeschrieben wird. Wie im Falle der Sprichwörter, so sind auch die religiösen Lieder bisher nur im geringen Maße gesammelt und wissenschaftlich untersucht worden. Dabei dürfte der Liederschatz eine wahre Fundgrube für traditionelle Glaubensanschauungen, Ideen, Weisheiten und Gefühle sein. Musik, Gesang und Tanz geben einen tiefen Einblick in das Innenleben der afrikanischen Völker, und die musikalische Inspiration bringt manche Dinge an die Oberfläche, die sonst schwer zugänglich wären. Hiermit haben wir einige Weisen afrikanischer Gottesverehrung kennengelernt. Die Afrikaner kennen kein Glaubensbekenntnis, das sich aufsagen ließe. Ihr Credo ist ihnen innerer Besitz, es ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Ihre Gottesvorstellungen kommen in konkreten Begriffen, in der Haltung des einzelnen und in gemeinsamen Akten der Gottesverehrung zum Ausdruck. Der einzelne glaubt, was andere in seiner Gemeinschaft glauben. Der Glaube ist gemeinschaftsbetont, er ist nicht rein geistig, sondern auch von Nützlichkeitserwägungen bestimmt, er ist praktisch, nicht mystisch. Die Menschen sind unter besonderen Umständen Gott gegenüber aufgeschlossen. Dies gilt besonders für Krisenzeiten. Dann versuchen sie materielle oder geistige Hilfe von ihm zu erhalten. Sie sind keine Gottsucher in dem Sinne, daß Er der höchste Lohn, die letzte Befriedigung der menschlichen Seele ist. Das Wort des Hl. Augustinus von der Unruhe des Menschenherzens, das nur in Gott seine Ruhe finden kann, läßt sich auf das traditionelle religiöse Leben Afrikas nicht anwenden. d) Religiöse Mittler und Spezialisten
Bei vielen afrikanischen Völkern herrscht die Auffassung vor, daß der Mensch sich nicht allein — oder direkt — an Gott wenden sollte, sondern daß es dazu der Vermittlung besonderer Personen oder übermenschlicher Wesen bedarf. Diese Auffassung, die entsprechend in die Praxis umgesetzt wird, scheint in erster Linie im sozialen und politischen Leben der betreffenden Völker begründet zu sein. So besteht z.B. bei einigen Völkern der Brauch, daß die Kinder nur durch Vermittlung ihrer Mütter oder ihrer älteren Geschwister mit dem Vater sprechen können. Bei anderen Völkern treten die Untertanen nur indirekt an ihren Häuptling oder König heran, d. h. durch Mittelspersonen, die ihm
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näherstehen. Solche sozialen und politischen Verhaltensweisen sind keineswegs bei allen Völkern zu finden, jedoch existiert der Vermittlungsgedanke faktisch überall. Dies schließt allerdings nicht aus, daß bei vielen Anlässen sowohl einzelne als auch Gruppen sich ohne die Einschaltung von Vermittlern direkt an Gott wenden. Im Zusammenhang damit ist das Priestertum weit verbreitet. Im allgemeinen genießen Priester eine regelrechte Ausbildung mit anschließender Ernennung oder Weihe. Das Amt wird von Männern oder Frauen ausgeübt und ist vielfach erblich. Die priesterlichen Pflichten bestehen darin, Gaben und Opfer darzubringen, Gebete zu verrichten, öffentliche und private Riten und Zeremonien zu vollziehen, Ratschläge zu erteilen, richterliche oder politische Funktionen auszuüben, Tempel und Kultschreine, falls solche vorhanden sind, in ihre Obhut zu nehmen und vor allem ihr Amt als religiöse Mittler zwischen Gott und den Menschen zu versehen. In einem späteren Kapitel werden wir uns eingehender mit diesem Personenkreis beschäftigen. Bei einigen Völkern kommen Seher, „Propheten" und Orakelpriester vor, deren Funktion bisher noch kaum vintersucht worden ist. Ihre Hauptpflichten scheinen darin zu bestehen, daß sie als rituelle Amtsträger fungieren, Ratschläge in religiösen Fragen erteilen, wenn es sich z.B. darum handelt, den Zeitpunkt bestimmter Zeremonien festzulegen, und daß sie in Träumen oder im Zustand der Besessenheit Botschaften von Gottheiten oder Geistern entgegennehmen und deren Inhalt an die Gemeinde weiterleiten. Orakel sind meist das Sprachrohr von Gottheiten und Geistern; sie sind häufig mit "Weissagung verbunden. Bei den Joruba z.B. werden Personen, die als Orakel dienen, drei Jahre lang ausgebildet und sind im Nebenberuf ärztlich tätig. Auch Wahrsager und Medizinmänner üben manchmal religiöse Funktionen aus. Die Jie in Uganda z.B. glauben, daß ihre Wahrsager Offenbarungen von Gott empfangen. Bei den Lugbara ist man der Ansicht, daß Gott zukünftige Wahrsager bzw. Wahrsagerinnen — vorwiegend handelt es sich hier um Frauen — in ihrer Jugend beruft. Die auserwählte Person irrt in den Wäldern umher und kehrt nach einigen Tagen mit der Macht der Weissagung ausgestattet zurück. Sodann errichtet die Gemeinde ihr einen Kultschrein, die sogenannte Hütte Gottes. Die Wahrsager nennt man „Kinder Gottes", da sie als Bindeglieder zwischen Gott und den Menschen angesehen werden. Die Turkana betrachten den Wahrsager als den wichtigsten Vertreter Gottes, der neben ärztlichen Funktionen die rituelle Reinigung der Alters-
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gruppen durchführt, kriegerische Unternehmungen voraussagt und R e gen erfleht. Bei den Luo hat der Medizinmann in Kriegszeiten die Aufgabe, Opfer und Gebete zu Ehren Gottes zu verrichten. Bei fast allen afrikanischen Völkern finden sich Regenmacher. Diese üben im allgemeinen ihren Beruf unter Hinzuziehung Gottes aus, dem sie Gebete, Opfer und Vertrauen entgegenbringen. Es wird weitgehend angenommen, daß ihr Wissen und ihre Macht von Gott stammen, während einige Völker des Glaubens sind, Gott erscheine den Regenmachern im Traume. W i r werden später auf die Regenmacher und andere Spezialisten erneut zu sprechen kommen. Traditionelle Herrscher gibt oder gab es nicht bei allen Völkern Afrikas. W o jedoch Könige und Häuptlinge vorkommen, gilt ihr Amt gewöhnlich als von göttlichen Kräften begründet odei; erhalten. Die Könige und Häuptlinge werden als politische Oberhäupter, gleichzeitig aber auch als sakrale Personen betrachtet, die Gedeihen und Wohlfahrt ihrer Nation verkörpern. Bei einigen Völkern nehmen die Könige mehr oder weniger führenden Anteil an religiösen Zeremonien. Ihre Person und Stellung spiegelt sich auf jeden Fall im religiösen Leben ihres Volkes wider. So glauben die Venda z.B., daß Gott, wenn er auf ihren Häuptling zornig ist, das Land durch Dürre, Heuschreckenplage oder Überschwemmung bestrafe. Nach ihrer Ansicht erscheint Gott auch in der Nähe des Häuptlingshauses und tut dem Häuptling mit Donnerstimme seinen Willen kund. Bei den Kaonde ist der Häupding oder Vorsteher derjenige, der im Namen und Auftrag des Volkes zu Gott betet, wie auch bei den Lozi der Häuptling vor Beginn der Pflanzzeit das Saatgut und die Ackerbaugeräte segnet. Die Schilluk sind der Überzeugung, daß ihr nationaler Ahnherr Njikang, der zugleich ihr erster König war, Gott sehr nahesteht, und sie erwähnen ihn neben Gott in ihren Gebeten, da sie glauben, er diene als Mittler zwischen ihnen und Gott. Auch die Ältesten spielen bei einer Anzahl von Völkern eine Mittlerrolle. Außer den religiösen Riten, die sie f ü r ihre Gehöfte vollziehen, nehmen sie häufig an Zeremonien für den gesamten Bezirk teil, wobei sie entweder als rituelle Amtsträger auftreten oder den Priestern beim Vollzug der Opferhandlungen und bei der Verrichtung von Gebeten helfen. Die priesterlichen Funktionen fallen ihnen gemeinhin bei Völkern zu, die kein eigentliches Priesteramt kennen, wie z.B. die Kamba, Kikuju, IIa und Nandi. Die Ältesten sind diejenigen Menschen mit dem längsten Sasa, das sich am tiefsten in die Samaniperiod erstreckt, und
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sie stehen deshalb Gott näher als gewöhnliche, d.h. jüngere, Menschen.16 Die Totenseelen nehmen ontologisch eine Stellung zwischen Menschen und Geistern und zwischen Gott und den Menschen ein. Sie reden in der Tat eine Doppelsprache — die der Menschenwelt, aus der sie kürzlich durch den körperlichen Tod „ausgeschieden" sind, und die der Geister, denen sie nunmehr zugesellt sind, bzw. Gottes, dem sie jetzt näherstehen als in ihrem körperlichen Leben. Diese Ausnahmestellung macht die Totenseelen zur größten Mittlergruppe in der afrikanischen Glaubenswelt. Da nun aber jeglicher Mensch infolge seines Todes die Existenzstufe der Totenseele durchläuft, dient er auch früher oder später als Mittler, sei es als einzelner oder als Mitglied einer Gemeinschaft. Dies ist für jeden der höchste religiöse Moment, und sobald dieser Gipfel überschritten ist, werden einige zu gewöhnlichen Geistern, die nicht unbedingt ihre Mittlerrolle weiter ausüben, während wenige Auserwählte zur Stellung von Nationalhelden oder sogar Gottheiten aufrücken. An diesem Punkt sollten wir die Hochachtung, die die afrikanischen Völker ihren Verstorbenen entgegenbringen, besser zu verstehen und würdigen wissen. Der „Totenkult" ist tief im afrikanischen Leben und Denken verwurzelt. Bei manchen Völkern gilt die Fühlungnahme mit Gott als ein Gemeinschaftsakt des sozialen Ganzen, das Lebende und Verstorbene in sich begreift. Normalerweise sind es die Totenseelen und die früher Verstorbenen, die alle menschlichen Wünsche, Nöte, Gebete, Geschenke und Opfer vor das Angesicht Gottes tragen und bisweilen seine Rückantwort den Menschen überbringen. Auf diese Weise findet ständig ein lebhafter Verkehr zwischen dem Sasa und der Samaniperiode statt. Anhand einiger Beispiele wollen wir erläutern, wie diese Vorstellung von der Mittlerrolle der Totenseelen und Geister in die Praxis umgesetzt wird. Wenn bei den Sotho jemand sich an Gott wenden will, ruft er eine Kettenreaktion hervor, indem er sich zunächst an seinen lebenden oder toten Bruder wendet, der die Bitte an seinen Vater weitergibt. Der Vater wendet sich sodann an seinen eigenen Vater, der wiederum seinen Vater anspricht und so fort. Der Vorgang geht weiter, bis die Botschaft einen Verstorbenen erreicht, der würdig ist, vor Gott zu treten. Diese „Person" trägt ihm endlich die menschliche Bitte vor, die sich durch so viele „Münder" fortgepflanzt hat. Die Ngoni geben zu, nicht viel von Gott zu wissen. Sie wenden sich deshalb über ihre Totenseelen und 16
Siehe oben, S. 3 2 — 3 5 .
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Verstorbenen an ihn. Dies geschieht, indem sie die Namen derer, die sie selbst gekannt haben, aufsagen, woraufhin diese bei den Vorvätern der vorangegangenen Generation Fürsprache einlegen, welche wiederum ein Gleiches tun, bis die Botschaft endlich Gott erreicht. Sowohl die Schöna als auch die Venda erachten die Totenseelen ihres Königshauses als Mittler zwischen Gott und dem Volke. Nach Auffassung der Luo beten die Totenseelen, nachdem ihr Leib ordnungsgemäß bestattet worden ist, zu Gott, er möge die Familie der Hinterbliebenen segnen, während die Lotuko davon überzeugt sind, daß ihre Totenseelen bei Gott Fürsprache um Regen einlegen. Beispiele für ähnliche Bräuche und Glaubensanschauungen finden sich bei vielen anderen Völkern. Daran kann man die große Bedeutung ermessen, die den Totenseelen im religiösen Leben Afrikas zukommt. Was Geister und Gottheiten anbetrifft, so liegen uns nur beschränkte Angaben über ihre Mittlerrolle vor. Bei ein paar Völker herrscht die Ansicht, daß Gott die Geister zu dem bestimmten Zweck erschaffen habe, als Mittler zwischen ihm und den Menschen zu dienen, so z.B. bei den Ewe. Ansonsten wird ohne Angabe weiterer Einzelheiten berichtet, daß die Geister eine Mittlerrolle spielen, z.B. bei den Aschanti, Mende, Nandi, Tonga und einigen anderen Völkern. Es mag jedoch sein, daß unsere Quellen von „Geistern" sprechen, wo der Ausdruck „Totenseelen" m.E. zutreffender wäre. Bei den Rundi, Schilluk und Sonjo heißt es von den Nationalhelden oder Gründern, daß sie als Mittler zwischen Gott und den Menschen dienen. Selten hört man, daß Tiere eine Mittlerrolle spielen. Mir liegen nur zwei oder drei derartige Berichte vor. Die Sidamo betrachten Hyänen und Schlangen als Mittler zwischen Gott und ihrem höchsten rituellen Amtsträger. Bei den Niaturu nimmt die Pythonschlange eine Mittlerstellung zwischen Gott und den Abgeschiedenen ein, während die Igbira glauben, daß Tiergeister zusammen mit menschlichen Geistern als Mittler zwischen Gott und den Menschen dienen. Nach den uns vorliegenden Informationsquellen zu urteilen, kommen unbeseelte Gegenstände als Mittler nicht in Betracht. Es ist daher der Schluß erlaubt, daß im allgemeinen weder Tiere noch unbeseelte Gegenstände von den afrikanischen Völkern als Mittler zwischen Gott und den Menschen angesehen werden. Dafür gibt es eine ausreichende Anzahl von Mittlern in Gestalt der Priester, Regenmacher, Ältesten, Wahrsager, Medizinmänner, Könige, Häuptlinge und Totenseelen. Mag manchmal auch leblosen Gegenständen Leben zugesprochen werden,
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mag man gelegentlich Tieren Personalität verleihen, Tatsache ist, daß man eine klare Vorstellung davon hat, wer oder was befähigt ist, die Verbindung zwischen Gott und den Menschen wahrzunehmen. Hier geht es sozusagen um Tod oder Leben, und die Afrikaner wissen daher den Wert der Mittler richtig einzuschätzen. Es überrascht in diesem Zusammenhang nicht, daß in der traditionellen Gesellschaft Afrikas keine Götzenbilder vorkommen, zumindest den mir zur Verfügung stehenden Quellen nach zu urteilen. Tiere, Pflanzen, unbelebte Gegenstände und Naturereignisse befinden sich in einer Kategorie des Seienden, die tiefer als die des Menschen steht und können deshalb nicht die wichtige Rolle von Mittlern zwischen zwei höheren Existenzweisen ausüben. Zeitlich betrachtet ist die ontologische Kategorie des Menschen Bewegung. Im Rhythmus von Geburt, Zeugung und Tod bewegt er sich „rückwärts" durch die Samanidimension der Zeit hindurch und kommt somit Gott auf eine Weise „näher", die weder Tieren noch Naturkräften und -erscheinungen zugänglich ist. So vollzieht sich die menschliche Geschichte im rhythmischen Wechsel, und wenn der Mensch rhythmisch vom Sasa ins Samani hineinwächst, muß er die Phase des Mittlertums entweder als einzelner oder, was meist der Fall ist, als Teil eines sozialen Ganzen durchlaufen. Einige Personen können diese Stellung jedoch bereits bekleiden, während sie physisch noch am Leben sind, so z.B. Priester, Älteste und Regenmacher. Die Mittler spielen im religiösen Leben Afrikas eine zentrale Rolle. Sie verstellen dem Menschen nicht den Weg zu Gott, sie bauen ihm vielmehr eine Brücke. Die Begegnung des Menschen mit Gott durch Akte der Verehrung kann also unmittelbar oder durch Mittler erfolgen. Hierbei kommt dem Mittel geringere Bedeutung zu als dem Zweck. Manchmal wird dieser Zweck nicht vom einzelnen allein, sondern gemeinschaftlich mit der Gruppe, der er angehört, angestrebt und erreicht. Möglicherweise handelt er auch in ihrem Auftrag, wenn sie ihm ihre religiösen Funktionen übertragen hat. In Wirklichkeit ist Religion keine Privatsache und kann sie es nicht sein. Es müssen zwei oder mehr Parteien daran beteiligt sein. e) Anlaß und Ort der
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Nach dem gegenwärtigen Forschungstand kann es als erwiesen gelten, daß die afrikanischen Völker Gott zu jeder Zeit und an jeglichem Ort verehren und daß es keine Regeln gibt, die gottesdienstliche Handlungen zu einer vorgeschriebenen Zeit oder an einem bestimmten Ort
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verlangen. Es kommt hierbei ganz auf die Gepflogenheiten und Bräuche der einzelnen Völker an, die von Fall zu Fall verschieden sind. Bei einigen Völkern, wie den Baluhja, Zande, Galla, IIa, Nandi und Joruba, pflegt man ein- oder zweimal am Tag zu Gott zu beten, gewöhnlich morgens und abends oder zumindest zu einer dieser beiden Zeiten. Opfer und Gebete im Zusammenhang mit Geburts-, Einweihungs-, Hochzeits- und Todesriten kommen bei den Baluhja, Kikuju, Gischu und Turkana vor. Einige Völker, darunter die Kamba, Kikuju, Schilluk, Schöna und Sonjo, halten bei Erntefesten gottesdienstliche Zeremonien ab, bei denen Gott Opfer, Geschenke und Gebete dargebracht werden. In ähnlicher Weise bitten die Kamba, Kikuju, Lozi, Lunda, Nuba und Tikar Gott zur Pflanzzeit, er möge ihre Einsaat und Feldarbeit segnen. In Notzeiten, sei es bei Krieg, Überfällen, Dürre, Naturkatastrophen oder in anderen unheilvollen Situationen, sind besondere Gebete, Anrufungen, Opfer und Weihgeschenke erforderlich. Beispiele hierfür hegen überall reichlich vor. Meist veranstalten die vom Unglück betroffenen Gemeinden öffentliche Zeremonien, bei denen die eben erwähnten Akte der Gottesverehrung vorkommen und die sich bisweilen tagelang hinziehen. Man darf nicht vergessen, daß solche Zeiten großer Not im einen oder anderen Teil Afrikas ständig an der Tagesordnung sind. Indem die Menschen sich als Gruppe zusammenfinden, um Gottes Hilfe herabzuflehen, stärken und ermutigen sie sich nicht nur gegenseitig angesichts der Trübsal, sondern machen auch die Bürde des Leidens für den einzelnen erträglicher. Es gibt noch andere Anlässe, bei denen man sich Gott zuwendet, um ihm Verehrung zu erweisen. Die Pygmäen und die Gombe beten vor oder während der Jagd und Nahrungsuche, die IIa und Nuer beten und bringen Opfergaben dar, wenn sie sich auf Reisen befinden, und die Lotuko opfern und beten, um Erfolg beim Jagen und Fischen zu erzielen. Die Jie und andere Völker halten alljährlich Zeremonien ab, bei denen das Vieh gesegnet und Gottes Gunst für den Viehbestand erfleht wird. Bei den Joruba bringen die Grobschmiede vierzehntäglich Hundeopfer dar. Andere Völker, wie die Njoro, Buschmänner, Katab und Nuer, feiern den Neumond in religiösen Zeremonien, bei denen sie von Gott Wohlstand erflehen. Bevor die Luo Häuser bauen, bringen sie Gott Opfergaben dar und bitten ihn, das neue Heim zu segnen. Die Aschanti betrachten den Donnerstag als heilig und verrichten an ihm keine knechtliche Arbeit. Die Krönungsfeierlichkeiten für Könige und Häuptlinge sind mit religiösen Zeremonien verbunden, und außer-
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gewöhnliche Vorgänge wie die Geburt von Zwillingen oder Sonnenund Mondfinsternisse machen ebenfalls Akte der Gottesverehrung oder andere religiöse Riten erforderlich. Dem einzelnen sind bei der Ausübung seines religiösen Tuns keine Schranken gesetzt. Vielmehr sind religiöse Übungen bei mancherlei Anlässen geboten, beispielsweise bei Mahlzeiten, beim Aufwachen in der Frühe, bei Krankheit und Unfruchtbarkeit, auf der Suche nach verlorenen Gegenständen oder entlaufenen Tieren und bei den verschiedensten Unternehmungen. Dies kann in Form von Gebeten, Anrufungen, Trank-, Speise- und Tieropfern oder Weihegeschenken geschehen. Solche Handlungen erzeugen unter anderem ein Gefühl der Verbundenheit und der Anteilnahme nicht nur an den Freuden des Lebens, sondern öfter noch an seinen Kümmernissen und Schwierigkeiten. Nimmt man die „chronologische" oder mathematische Zeit zum Maßstab, so kann man nicht von festgesetzten Stunden für religiöse Übungen sprechen. Die Afrikaner wenden sich zu jeglicher Zeit an Gott, vor allem aber stets dann, wenn sich die Notwendigkeit dazu ergibt. Priester, Regenmacher und andere „Spezialisten", die Mittlerfunktionen ausüben, wenden sich zweifellos öfter an Gott als das einfache Volk und halten dadurch ständig die liturgische Verbindung zu Gott und der geistigen Welt aufrecht. Obwohl die Menschen in Afrika sich nicht an einen offiziell für religiöse Zwecke bestimmten Ort gebunden fühlen, gibt es Kultschreine, Tempel, Altäre, heilige Haine und andere geweihte Orte, an denen öffentliche Opfer und Gebete stattfinden. Die Kultschreine, die bei vielen Völkern vorhanden sind, weisen von Ort zu Ort beträchtliche Unterschiede im Aussehen und in der ihnen zukommenden Bedeutung auf. Kamba- und Kikujuschreine haben Bäume zum Mittelpunkt. Diese Bäume dürfen nicht gefällt werden, und die Schreine gelten als Freistätte für Tiere wie für Menschen, die folglich dort nicht getötet werden dürfen. Die Schreine der Rundi befinden sich unter bestimmten Baumarten, und die zu Weihehandlungen erscheinenden Menschen setzen sich zunächst ins dürre Laub dieser Bäume, um dann zum Beten niederknien. Außenstehende dürfen den Schrein nur in Anwesenheit oder mit Genehmigung des Kultpriesters betreten. Im Jorubaland sind Schreine überall verbreitet. Sämtliche 1700 Gottheiten der Joruba sollen in den Häusern der Menschen Schreine haben, während man für einige Gottheiten und Geister zusätzlich Schreine in den heiligen Hainen unterhält.
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Die Joruba betrachten den Schrein als das „Antlitz" der betreffenden Gottheit. Es ist nicht leicht zu sagen, was man unter einem Tempel versteht, obwohl der Ausdruck bei verschiedenen Autoren vorkommt. Beim Tempel dürfte es sich um ein größeres Gebäude handeln, das religiösen Zwecken dient und im allgemeinen unter der Obhut eines Priesters steht. Man berichtet von Tempeln bei den Akan, Ganda, Soga, Schöna, Sonjo, Joruba und anderen mehr. Viele Tempel sind aufgegeben worden und zerfallen, während sie bei den Sonjo gut erhalten geblieben sind. Die Nationalgottheiten der Ganda hatten früher Tempel mit bis zu vier Priestern, zu denen noch Medien und Dienerinnen kamen. Es sind jedoch nur wenige davon erhalten geblieben. Altäre sind heilige Orte, an denen Weihegaben hingestellt oder auf denen Tieropfer dargebracht werden. Gewöhnlich befinden sie sich innerhalb der Schreine oder Tempel, werden jedoch auch im Freien errichtet. In den Heimstätten der Akan findet man Altäre in Gestalt dreigegabelter Äste oder Zementsäulen, auf denen eine Schale ruht, welche die Gott dargebrachten Weihgeschenke aufnimmt. In ähnlicher Weise haben die Ibo Hausaltäre, worauf sie Opfergaben der Familie stellen, während es in den Ibodörfern öffentliche Altäre gibt, auf denen Haushaltsgerät und Jagdtrophäen dargebracht werden. Die Kipsigi errichten ihre Altäre aus Stöcken an der Außenwand des Hauses rechter Hand von der Tür. Sie werden für alle Opfer einschließlich der Tieropfer verwendet. Einige Völker, wie die Venda, Schöna und Butawa, benützen auch Höhlen für heilige Handlungen. Heilige Berge gibt es bei den Schöna, Kikuju und .vielen anderen. Verschiedentlich kommt es vor, daß Wegkreuzungen oder Türschwellen als heilige Orte gelten, wo Opfer dargebracht und Gebete verrichtet werden, so bei den IIa und Indem. Von den Bäumen Afrikas werden der wilde Feigenbaum, der Affenbrotbaum, der Kapokbaum oder die Sykomore im Bedarfsfall in Kultschreine zur Gottesverehrung umgewandelt. In ähnlicher Weise können Flußufer, Wasserfälle, Felsen und Ruinen wie die Simbabwes als heilige Stätten zu Kultzwecken dienen. Wir sind zu dem Schluß berechtigt, daß Ort und Zeit der Gottesverehrung in Afrika keinen Beschränkungen unterliegen. Gott ist allgegenwärtig und läßt sich überall und jederzeit „erreichen". Er wird stets dann und dort verehrt, wo sich die Notwendigkeit ergibt. Sind Ort und Zeit festgelegt, so ist dies auf Grund regelmäßiger Praxis der
Gottheiten und Gefährten Gottes
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Fall, und nicht etwa auf Grund starrer Regeln, welche über die Gottesverehrung befinden. Der Begegnung des Menschen mit Gott und der spirituellen Welt sind keine Grenzen gesetzt. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß auch die religiösen Mittler lediglich eine Hilfe und keine absolute Notwendigkeit beim Versuch des Menschen sind, mit Gott in Verbindung zu treten bzw. zu bleiben. Hierdurch wird erneut klar, daß der Kosmos für die afrikanischen Völker zutiefst religiös bestimmt ist, ob man ihn nun zeitlich oder räumlich begreift, und daß das Menschenleben ein. religiöses Erfahren dieses Kosmos ist. Auf diese Weise finden die afrikanischen Völker in der gesamten Existenz einen religiösen Sinn.
GEISTWESEN, GEISTER U N D TOTENSEELEN Die spirituelle Welt der afrikanischen Völker ist in dichter Fülle von Geistwesen, Geistern und den Seelen der Verstorbenen belebt. Sie haben eine klare Einsicht in die spirituelle Wirklichkeit, ob diese nun absolut oder als Welt des Scheins verstanden wird. Z u m Verständnis ihres religiösen Ethos und ihres philosophischen Begriffsvermögens ist es wesentlich, daß wir außer ihren Gottesvorstellungen auch ihre Vorstellungen über die spirituelle Welt betrachten. Wir haben wiederholt auf die Einheit der spirituellen und der physischen Welt hingewiesen, die sich so weitgehend mischen und ineinander verschränken, daß es nicht immer leicht, vielleicht aber auch gar nicht notwendig ist, eine Scheidelinie zwischen ihnen zu ziehen. Obwohl die spirituelle Welt eine so wichtige Rolle im afrikanischen Leben spielt, ist sie wissenschaftlich noch nicht ernsthaft untersucht worden. 1 Dies ist einer der schwächsten Punkte in der wissenschaftlichen Erfassung afrikanischer Religion und Weltanschauung. Die Geister gehören im allgemeinen derjenigen ontologischen Existenzweise an, die zwischen Gott und dem Menschen liegt. In großen Zügen lassen sich zwei Kategorien von Geistwesen unterscheiden: die ursprünglich als solche erschaffenen und die aus Menschen hervorge1
In vielen der im bibliographischen Anhang am Ende dieses Werkes aufgeführten Bücher finden sich Hinweise auf die Geister, jedoch wird das Thema kaum je ausführlich behandelt.
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Geistwesen, Geister und Totenseelen
gangenen. Man. kann sie jedoch auch unterteilen in Gottheiten, Gefährten Gottes, gewöhnliche Geister und Totenseelen. Unsere Zeitanalyse wird von großem Nutzen sein, wollen wir die Geistwesen in die rechte Kategorie einordnen und verstehen, warum sie bei den Afrikanern so eindeutig als diese oder jene erkannt werden. Nunmehr können wir also diese Wesen, die die Geisterwelt bevölkern, kritisch betrachten. a) Gottheiten und Gefährten Gottes Ich verwende das Wort „Gottheit", um Personifikationen von Gottes Tätigkeiten und Erscheinungsformen, von Naturerscheinungen und Naturkräften (d.h. die sogenannten „Naturgeister") sowie vergöttlichte Helden und mythologische Gestalten zu bezeichnen. Manchmal ist es schwierig, diese einzelnen Geister gegeneinander abzugrenzen, insbesondere weil verschiedene Autoren die Begriffe „Götter", „Halbgötter", „Gottheiten", „Naturgeister", „Ahnengeister" und dergleichen recht lose verwenden. Gottheiten gelten allgemein als von Gott in der ontologischen Kategorie der Geister erschaffen. Sie sind mit ihm verbunden und stellen oft seine Wirkkräfte oder Erscheinungsformen dar, und zwar entweder als Personifikationen oder als Geistwesen, die über den wichtigsten Naturkräften oder Naturerscheinungen walten. Einige von ihnen sind zu Göttern erhobene Nationalhelden. Dies kommt jedoch selten vor, und wenn es geschieht, so wird der betreffende Heros meist mit einer Funktion oder Form der Natur in Verbindung gebracht. Konkrete Beispiele mögen diesen Punkt illustrieren. Die Aschanti haben einen Pantheon von Gottheiten, durch die Gott sich kundtut. Sie sind als abosom bekannt, gelten als „von Ihm abstammend" und sollen die Rolle von Dienern Gottes und von Mittlern zwischen ihm und seinen Geschöpfen spielen. Ihre Zahl ist im Ansteigen begriffen, und für die wichtigeren Stammesgottheiten werden Feste abgehalten. Mindere Gottheiten widmen sich dem Schutz des einzelnen, und man glaubt, die abosom seien von Gott ausdrücklich zu dem Zweck geschaffen worden, die Menschen zu behüten.2 Bei den Njoro spiegelt die Einteilung der Gottheiten die Tätigkeit, Lebenserfahrung und soziale und politische Struktur des Volkes wider. Es gibt den Gott des Krieges, den der Blattern, der Ernte, der Gesundheit und Heilung, des Wetters, des Sees, des Viehs und dazu mindere Klangottheiten. Bei den 2
Busia bei Forde, S. 1 9 1 f; Lystad, S. 163 f.
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Soga, Edo und anderen sind die Gottheiten in ähnlicher Weise gegliedert. Die Joniba haben eintausendsiebenhundert Gottheiten (Orischa), was offenbar die größte Götteransammlung bei irgendeinem afrikanischen Volk darstellen dürfte. Diese Gottheiten werden sowohl mit Naturereignissen und Naturkräften als auch mit menschlicher Tätigkeit und Erfahrung in Verbindung gebracht. Es heißt, daß sie Gott „jährlich Tribut an eigener Substanz in Anerkennung seiner Oberherrschaft" zollen. In Parallele zum gesellschaftlichen und politischen Aufbau der Joruba bilden diese Gottheiten eine Hierarchie. Orischa-nla ist „die oberste Gottheit" des Landes und handelt als Gottes irdischer Stellvertreter in schöpferischer und ausführender Funktion. Orunmila steht im Ruf, eine allsprachige Gottheit zu sein, die „jegliche auf dem Erdball gesprochene Sprache" versteht und Gottes Allwissenheit verkörpert. Diese Gottheit tritt mit den Menschen durch ein Orakel in Verbindung und gilt außerdem als großer Arzt. Dem Gotte Ogun ist Eisen und Stahl zu eigen. Ursprünglich war er ein Jäger, der den anderen Gottheiten den Weg zur Erde bahnte und daher auch zum „Häuptling unter den Gottheiten" gekürt wurde. Er ist allgegenwärtig. Er ist der Gott des Krieges, der Jagd und aller Tätigkeiten und Dinge, die mit Eisen zusammenhängen. Schango verkörpert Gottes Zorn, wenngleich er der Legende nach eine historische Gestalt aus der Gegend von Oyo bei Ibadan war. Er ist der Gott des Donners und des Blitzes und wird entsprechend verehrt. Dies sind nur einige der Jorubagottheiten, die Idowu in seinem Buch in eingehender Weise behandelt.3 Es gibt viele Völker, bei denen sich nur eine oder zwei bedeutendere Gottheiten vorfinden. Die Bambuti erkennen Tore als die für den Tod zuständige Gottheit an und bezeichnen ihn als „das Tor des Abgrunds" und „den Geist der Toten". 4 Bei den Dinka ragen unter den wichtigeren Göttern drei besonders hervor; Macardit, der als letzte Erklärung für Unglück und Leiden herangezogen wird, Garang, der mit den Männern in Beziehung gesetzt wird und vom Himmel herabfahrend in ihren Leib eingeht, und schließlich Abuk, der die Tätigkeiten der Frauen beaufsichtigt.5 Die Vukusu schreiben ihre bösen und leidvollen Erfahrungen einer Gottheit des Bösen (Wele gumali) zu, die Diener haben soll.6 Die 3 4 5 6
Idowu, S. 55—106. Schebesta, II, S. i74f. Lienhardt, S. 81 f. G. Wagner: The Bantu of North Kavirondo (Bd. I, Oxford 1949), S. 175f.
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Geistwesen, Geister und Totenseelen
Walamo haben eine Gottheit, die mit dem Regen in Verbindung gebracht wird und auf einem Berge wohnen soll, wohin die Menschen denn auch während einer Dürreperiode Geschenke bringen. Es ließen sich leicht noch andere Beispiele anführen, aber für unsere Zwecke möge das soweit Gesagte genügen. Ins Auge sticht, daß das Wetter und andere Naturvorgänge gewöhnlich mit Gottheiten in Verbindung gebracht oder als solche personifiziert werden. Die bedeutsameren Naturgegebenheiten und -kräfte wie Sonne, Berge, Meere und Seen, Flüsse und Felsen werden gleichfalls entweder mit Gottheiten verknüpft oder ihnen gar gleichgesetzt. Hierzu gibt es Beispiele aus vielen Teilen Afrikas. Im vorwissenschafdichen Lebenskreis vermag eine solche Logik bzw. Mentalität durchaus manche Rätsel der Natur und der menschlichen Erfahrung zu deuten. Im Laufe der Jahrhunderte ist sie zum festen Bestandteil der Weltbetrachtung geworden, und zwar in einem solchen Maße, daß sie im Unterbewußten das kollektive und individuelle Denken und die Grundeinstellung der afrikanischen Völker prägt. Selbstverständlich gibt es hier örtliche Varianten, doch ist das Gesamtbild im traditionellen Lebenskreis ziemlich einheitlich. Die genannten Gottheiten sind wirklich „zeitlos". In den Augen der betreffenden Völker sind sie immer dagewesen. In gewisser Hinsicht stehen sie dem Menschen „näher" als Gott, weil sie im menschlichen Dasein ständig als Donner und Blitz, Flüsse oder Seen, Sonne oder Mond erfahren werden. Es nimmt daher nicht wunder, daß die Menschen einige von ihnen als Mittler betrachten oder sogar einen Kult für sie entwickelt haben. Diese Gottheiten dürfen im gewissen Sinne als halb physisch und halb spirituell gelten, denn in der Vorstellung der Menschen ist die Kraft, die physische Dinge in Bewegung setzt, ein Geistwesen. Die meisten der bestimmte Eigenschaften verkörpernden Gottheiten, wenn nicht alle, sind menschlicher Vorstellungskraft entsprungen. Dadurch wird jedoch ihre reale Existenz nicht berührt. Für die betreffenden Völker sind die Gottheiten wirkliche Wesen. Mit zunehmender wissenschaftlicher Erkenntnis wird man zweifellos die meisten dieser Gottheiten hinwegerklären, bis am Ende die überragende Gottheit der Wissenschaft als einzige das Zepter schwingt. Neben den genannten Wirkkräften besteht noch eine andere Kategorie mit Gott verbundener Geistwesen, die vorwiegend mythologischen Charakter tragen. Die Aschanti betrachten die Erde als weibliche Gottheit, die gleich nach Gott kommt und der zu Ehren der Donnerstag
Gottheiten und Gefährten Gottes
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heilig ist. Für die Ibo ist die Erde die Tochter Gottes, welche die Menschen beschützt und die Feldfrüchte zum Gedeihen bringt. Bei den Zulu spricht man von der sogenannten „Himmelskönigin", die von außerordentlicher Schönheit sein soll. Regenbogen, Nebelhauch und Regen sind Ausstrahlungen ihrer Herrlichkeit, und sie ist von Licht umwoben. Sie ist eine Jungfrau, und eine der Fertigkeiten, die sie die Frauen lehrte, ist die Bierherstellung. Eine Anzahl Völker, darunter die Ganda, Dinka, Suk und Tiv, glauben, daß Gott einst Kinder, vor allem Söhne, hatte, von denen einer zum Begründer ihrer Nation wurde. Bei einigen anderen Völkern findet sich die Ansicht, daß Gott einen oder mehrere Brüder hatte, die beim Zustandekommen der menschlichen Gesellschaft eine Rolle spielten. Einige dieser Geistwesen werden als Boten oder Diener Gottes geschildert, eine Vorstellung, die sich in mehreren Teilen Afrikas nachweisen läßt. Die Dschagga berichten von einem Diener Gottes, der seine Anweisungen ausführt. Es war dieser Diener, der die Menschen bloßstellte, als sie das göttliche Verbot, von einer bestimmten Jamsknolle zu essen, übertreten hatten, und die Sache Gott meldete. Da sandte Gott ihn zurück, um die Menschen zu strafen, was noch zwei weitere Male geschah, als die Menschen Böses taten. Man ist der Überzeugung, daß derselbe Bote auch heute noch von Gott gesandt wird, um Krankheit, Hungersnot, Krieg, Tod u n d . . . Kinder zu bringen. Die Swasi wissen von Gottes einbeinigem Boten zu berichten. Andere Völker personifizieren Naturkräfte und -erscheinungen oder beschreiben sie im mythologischer Form als Gottes Vertreter oder Diener. Die Suk z. B . betrachten den Regen als Gottes Diener, dem es obliegt, Wasser zu tragen. Wenn das Wasser vergossen wird, erleben die Menschen es in Gestalt von Regen. Die Didinga essen keinen Fisch, da die Fische ihrer Anschauung nach als Gottes Boten im Blitz zur Erde gekommen sind. Diese mythologischen Gestalten geistiger Natur gehen im großen ganzen auf das Bestreben der Menschen zurück, Zeitloses und in anderem Zusammenhang als göttlich Erfahrenes in die Geschichtlichkeit einzuschmelzen. Sie dienen dazu, Gebräuche, Vorstellungen oder gesellschaftliche Einrichtungen zu erkären, deren Ursprung sonst im Vergessen der Samaniperiode dem historischen Blick entrückt würde. Eine solche Erklärung ist ein unbewußter Versuch, Phänomene, die entweder schwer zu begreifen sind oder geheimnisumhüllt tiefer und tiefer in der Samaniwirklichkeit versinken, in das Sasa zurückzuholen. 7
Mbiti, Afrikanische Religion
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Geistwesen, Geister und Totenseelen b) Die Geister
Bei allen afrikanischen Völkern wird von einer Unzahl von Geistern berichtet, die sich aber ebensowenig in eine Definition zwängen lassen wie in das Reagenzglas des Experimentators. Anstatt Klarheit zu schaffen, tragen die schriflichen Quellen noch weiter zur allgemeinen Verwirrung bei. In diesem Buch haben wir versucht, die relativ gehobenen Geistwesen unter dem Begriff „Gottheit" zu behandeln. Von dieser hierarchischen Unterscheidung ausgehend, können wir sagen, daß Geister die „gewöhnlichen" Geistwesen sind, deren Standort sich unter dem der Gottheiten, jedoch über dem der Menschen befindet. Es handelt sich hier also um die „Durchschnittsbevölkerung" der Geisterwelt. Wenn man den Ursprung der Geister ergründen will, ist es schwierig, aus den Aussagen und Ansichten afrikanischer Völker zu diesem Problem ein klares Bild zu gewinnen. V o n einigen Geistern wird angenommen, daß sie als eigenständige Art erschaffen wurden. Sie sollen sich dann wie andere Lebewesen fortgepflanzt und vermehrt haben. Die meisten Völker scheinen jedoch des Glaubens zu sein, daß die Geister das bleibende Element des Menschen nach seinem physischen Tode sind. Der Geist ist mithin die letzte Existenzform des Menschen, sein Wechseloder Entwicklungspunkt, über den er nicht hinausgehen kann, abgesehen von wenigen nationalen Heroen, die möglicherweise vergöttlicht werden. Die Geistwerdung ist die Bestimmung des Menschen; jenseits davon besteht nur Gott. Diejenigen Völker, die Gottheiten anerkennen, betrachten diese als eine weitere Gruppe, die in der Seinshierarchie eine Mittelstellung zwischen Gott und den Geistern einnimmt. Der Mensch braucht sich nicht an die Hoffiiung zu klammern, daß er dereinst Geist wird; er wird es ohnehin, genau wie ein Kind unter normalen Umständen zum Erwachsenen heranreift. Bei einigen Völkern rekrutieren sich die Geister noch aus zusätzlichen Quellen, da man dort glaubt, auch Tiere hätten ihren jeweiligen Geist, der neben den menschlichen und außermenschlichen Geistern in der Geisterwelt fortexistiert. Geister sind unsichtbar, können sich jedoch den Menschen sichtbar machen. In Wirklichkeit sind sie allerdings am Horizont der Samaniperiode versunken, so daß die Menschen sie weder körperlich noch geistig wahrnehmen können. Die Erinnerung an sie ist trübe geworden. Man „sieht" sie lediglich, weil die Gemeinschaft an ihre Existenz glaubt. Und doch sind die Menschen mit ihren Tätigkeiten vertraut, und in vielen Volkssagen ist von Geistern die Rede, die in menschlicher Form
Die Geister
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auftreten und als menschliche Personen handeln, mag die Übertreibung auch ein wesentliches Moment in solchen Beschreibungen sein. Auf Grund ihrer Unsichtbarkeit nimmt man an, daß sie auch allgegenwärtig sind und niemand mit Sicherheit sagen kann, wo sie sich befinden. Da die Geister am Samanihorizont versunken sind, befinden sie sich im Vergleich zum Einzelmenschen im Stande der kollektiven Unsterblichkeit. Sie stehen durch keine Familien- oder sonstigen persönlichen Beziehungen mit den Menschen in Verbindung und gehören nicht mehr zu den Totenseelen. Obwohl sie dem Wesen nach weder gut noch böse sind, werden sie von den Menschen gefürchtet. Diejenigen von ihnen, die einst Menschen waren, sind ihrer menschlichen Namen verlustig gegangen. Für die lebenden Menschen sind die Geister daher Fremdlinge oder Außenseiter und gehören der dinglichen Kategorie an. Oft werden sie als ES bezeichnet. Anthropozentrisch betrachtet beruht die Seinsweise der Geister auf einer Entpersönlichung und nicht auf einer Erfüllung oder Reifung des Menschen. Der Tod ist deshalb ein Verlust, und die Existenzform des Geistes bedeutet Schwund des Individuums, Verflüchtigung der Persönlichkeit und Auslöschung des Namens. Die Person wird stufenweise zum Geist, zum Ding gemindert und ist damit kein Mensch mehr. Als Gruppe haben die Geister mehr Macht als die Menschen, genau so wie im physischen Bereich die Löwen den Menschen überlegen sind. Und doch sind die Menschen in gewisser Hinsicht besser daran. Menschliche Spezialisten vermögen die Geister nach Gutdünken zu lenken und im Zaum zu halten. Wenn auch die Menschen die Geister fürchten, so sind sie paradoxerweise doch gleichzeitig in der Lage, dieselben Geister zu vertreiben oder menschlichen Zwecken dienbar zu machen. Bei einigen Völkern werden nur die gehobeneren Geister (vermutlich die in die Kategorie der Gottheiten fallenden) anerkannt und oft mit Naturvorgängen oder -kräften in Verbindung gebracht. Trotz ihres Glaubens an die Allgegenwart der Geister geben die Menschen bestimmte Orte als ihre besondere Wohnstätte an. Bei einigen Völkern, wie den Baluhja, Ruanda und Ibo, ist man der Ansicht, daß die Geister im unterirdischen Bereich oder in der Unterwelt hausen. Die Ruanda z. B. sagen, in diesem Gefilde herrsche „der, in dessen Hut man dem Vergessen anheimfällt", während bei den Ibo eine Königin in der Unterwelt herrscht. Die Idee eines unterirdischen Reiches geht natürlich auf die Tatsache zurück, daß die Toten in der Erde bestattet werden. Die Erde bietet sich mithin, zumindest symbolisch, als die neue 7*
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Heimstätte der Abgeschiedenen an. Einige Völker, darunter ein Teil der Ewe und Buschmänner sowie die Momwu-Mangutu, haben jedoch das Reich der Geister in überirdische Bezirke wie Luft, Sonne, Mond oder Sterne verlegt. Bei der Mehrzahl aller Völker ist man der Ansicht, daß die Geister in Wäldern und Forsten, Flüssen und Bergen oder in unmittelbarer Nachbarschaft der Dörfer wohnen. Sie teilen also mit den Menschen denselben geographischen Bereich. Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, daß die Menschen sich selbst zu beschützen streben und zum anderen Teil darauf, daß sie in ihrer Vorstellung davor zurückschrecken, in eine völlig fremdartige Umgebung eingehen zu müssen, wenn sie zu Geistern werden. Man könnte sagen, daß der Mensch in einem gewissen Sinne sich selbst zu sehr im Mittelpunkt sieht, um sich von sich selber zu lösen und sich aus seiner natürlichen, gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umwelt zu entfernen. Dadurch werden nun aber die Geister zu Zeitgenossen der Menschen. Sie sind immer bei ihnen. Der Mensch würde mit Unbehagen reagieren, wäre die Seinsweise der Geister zu sehr von seiner eigenen entfernt. Dadurch würde das existentielle Gleichgewicht gestört, das nur durch Opfer und Gebet wiederhergestellt werden kann. In der Tat können sich die Menschen ihre nächste Seinsstufe als Geister vorstellen, bleiben dabei aber geographisch auf derselben Stufe haften. W o immer die Welt der Geister sich auch befinden mag, in der Vorstellung gleicht sie fast aufs Haar dem Lande, in dem der spätere Geist sein irdisches Leben verbrachte. Sie hat ihre Ströme, Täler, Berge, Wüsten und Wälder. Die Tätigkeit der Geister ist im großen und ganzen der des menschlichen Lebens gleich, mögen auch gewisse Tätigkeiten hinzukommen, die sich dem Wissen der Menschen entziehen. Dennoch ist die Geisterwelt in mancher Hinsicht radikal von der Menschenwelt verschieden. Sie ist den Augen der Menschen verborgen. Man weiß oder glaubt zu wissen, daß sie da ist, aber man sieht sie nicht mit dem körperlichen Auge. Ausschlaggebend aber ist, daß die Geister, mögen sie auch entpersönlichte Rückstände von Einzelmenschen sein, Gott wesensmäßig näherstehen, wenn nicht auf Grund ethischer Kriterien, so darum, weil sie unmittelbaren Zugang zu ihm haben. Während die Menschen, wie allgemein geglaubt wird, auf Mittler angewiesen sind, ist dies bei den Geistern nicht der Fall, da sie direkt mit Gott in Verbindung treten können. Wir haben oben bereits vermerkt, daß bei
Die Geister
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vielen afrikanischen Völkern die Geister und Totenseelen als Mittler dienen, welche die Opfer oder Gebete der Menschen vor Gott bringen und möglicherweise seine Antwort an die Menschen zurückerstatten. Wir haben gleichfalls bei einigen Völkern die Anschauung vorgefunden, daß Gott sich bestimmter Diener oder Vertreter bedient, um seine Absichten im All zu erfüllen. Die Geister füllen den Seinsbereich des Samani zwischen Gott und dem menschlichen Sasa aus. Ihre Existenzform überbrückt die ontologische Transzendenz Gottes. Der Mensch ist immerfort Kreatur, aber er bleibt nicht ewig Mensch, und seine Existenz vollzieht sich in der Polarität Geist: Mensch. Der einzelne Geist mag vergehen oder ewig bestehen, aber die Gemeinschaft der Geister ist und bleibt wesentlicher und integrierender Bestandteil der afrikanischen Seinsschau. In gewissem Sinne bedeutet der Eintritt in die Geisterwelt ein soziale Erhöhung. Daher erweisen die afrikanischen Völker ihren Totenseelen und einigen der gehobeneren Geister Ehre und Hochachtung. Im Hinblick auf die Sasa- und Samaniperiode sind die Geister „älter" als die Menschen — sie sind völlig in die Samaniperiode eingegangen. Ihr höheres Alter veranlaßt die Menschen, sie in demselben Sinne zu ehren, wie die Jugend ältere Männer und Frauen ehrt, mögen sie nun unmittelbar zur eigenen Familie gehören oder nicht. An den Geistern gemessen sind die Menschen die junge Generation. Ihre Ehrerbietung gegenüber jenen, die endgültig in die Samaniperiode eingegangen sind, ist mithin ein elementares Erfordernis des gesellschaftlichen Anstandes. Die Geister erscheinen den Menschen nicht so häufig wie die Totenseelen, und von ihrem Erscheinen ist vorwiegend in Volkssagen die Rede. Sie können böswilligen Schabernack treiben oder auch Gutes stiften. Man fürchtet sie mehr aus einem Gefühl der Fremdenscheu heraus als auf Grund ihrer Geisternatur oder der Dinge, die sie vielleicht anstellen könnten. Ihr Körper soll schattengleich sein, obwohl sie bisweilen auch Menschen-, Tier-, Pflanzengestalt oder die Form unbelebter Gegenstände annehmen. Die Menschen sprechen davon, daß sie die Geister in Weihern, Höhlen, Hainen, auf Bergen oder in der Umgegend ihrer Dörfer sehen, wo sie tanzen, singen, Vieh hüten, ihre Felder bestellen oder ihre Kinder versorgen. Einige Geister erscheinen insbesondere Wahrsagern, Priestern, Medizinmännern und Regenmachern auch im Traume, um ihnen bestimmte Mitteilungen zu machen. Es kommt häufig vor, daß solche Personen als Teil ihrer normalen Ausbildung und
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Berufsausübung die Geister zu befragen haben. Bei vielen Völkern ist der Glaube verbreitet, daß die Geister die Menschen beim Namen rufen, daß man jedoch niemand sieht, wenn man sich nach dem Rufenden umdreht. Dies hört sich wie ein neckisches Spiel der Geister an, die sich dabei wahrscheinlich köstlich amüsieren. In den Volkserzählungen heißt es, die Geister schliefen bei Tage und blieben nachts wach. Da die Geister unsichtbar, allgegenwärtig und unberechenbar sind, tut man gut daran, ihnen aus dem Weg zu gehen. Wenn sie oder die Totenseelen den Menschen zu häufig erscheinen, so wirkt dies beunruhigend. Sie ergreifen dann von den Menschen Besitz, und Krankheiten wie Irrsinn oder Fallsucht werden ihnen zugeschrieben. Die Besessenheit durch Geister kommt in irgendeiner Form bei praktisch allen afrikanischen Völkern vor. Nun ist jedoch Geisterbesessenheit nicht immer etwas, was man fürchten muß, sondern es kommt durchaus vor, daß sie als wünschenswert gilt. In manchen Fällen wird sie sogar durch besondere Tänze und Trommelrhythmen herbeigeführt, was bis zum physischen Zusammenbruch des Betreffenden gehen kann. Wenn ein Mensch derart besessen ist, spricht häufig der Geist durch ihn. Er spielt also die Rolle eines Mediums, und die von ihm überbrachte Botschaft wird von den Adressanten mit höchster Spannung aufgenommen. Im großen ganzen aber zeitigt die Geisterbesessenheit, besonders wenn sie unverlangt eintritt, böse Folgen. Der Besessene kann schwere Qualen leiden, der Geist kann ihn von Heim und Herd vertreiben, so daß er in den Wäldern Zuflucht suchen muß, er kann ihn veranlassen, ins Feuer zu springen und Verbrennungen zu erleiden, seinen Körper mit scharfen Gegenständen zu peinigen oder gar anderen Böses anzutun. Auf dem Höhepunkt der Geisterbesessenheit verliert nämlich der davon Betroffene seine eigene Persönlichkeit, und seine Handlungen werden von der „Persönlichkeit" des Geistes diktiert, der über ihn gekommen ist. Der Besessene wird unruhig, findet keinen Schlaf mehr, und wenn die Besessenheit sich länger hinzieht, leidet seine Gesundheit darunter. Frauen sind für die Besessenheit anfälliger als Männer. Eine der Hauptaufgaben der traditionellen Ärzte und Wahrsager ist die Geisteraustreibung, und wenn Geister ein ganzes Dorf in Gefahr bringen, nimmt man gewöhnlich zu bestimmten Zeremonien Zuflucht, um sie zu vertreiben. Bei einigen Völkern muß beim Umzug von einem Dorf zum anderen zeremoniell auch die Mitnahme der Geister erfolgen. Dadurch wird sichergestellt, daß die Familiengeister und insbesondere die Totenseelen ihre lebenden Verwandten begleiten und nicht an einer Stätte hinter-
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lassen werden, an der niemand mehr ihrer gedenkt, um ihre persönliche Unsterblichkeit zu gewährleisten. Die Beziehungen der Menschen zu den Geistern sind von Volk zu Volk verschieden. Die Beziehung ist jedoch im Grunde echt, wirkungsund kraftvoll, besonders wenn es sich um die Geister der in jüngerer Zeit Verstorbenen handelt, die wir die Lebend-Toten oder Totenseelen genannt haben. Um diesen Kontakt aufrechtzuerhalten, vollzieht man verschiedene Riten, wozu das Überreichen von Nahrungsmitteln oder anderen Gegenständen und das Gießen von Trankopfern wie Bier, Milch, Wasser und sogar Tee oder Kaffee — letzteres für die „modernisierten" Geister — gehört. Bei manchen Völkern geschieht dies täglich, bei den meisten kommt es allerdings weniger häufig vor. Solche Weihegaben sind für den ältesten unter den Verstorbenen bestimmt, der vielleicht noch zu den Totenseelen gehört, den Lebenden aber bereits so fernstehen kann, daß man sich seiner nur noch bei genealogischen Aufzählungen erinnert. Die Weihegaben werden ihm dargebracht in der Annahme, daß er Speise und Trank mit den anderen Mitgliedern der Familiengruppe teilt. Die Darbringung der Weihegaben kann sich stumm vollziehen, sie kann aber auch von Worten begleitet sein, sei es in Form von Gebeten, Beschwörungen oder Anweisungen an die Toten. Diese Worte dienen als Brücke zwischen Lebenden und Toten und als Zeugnis, daß die Verstorbenen für die Lebenden noch nicht tot sind. Wer solche Handlungen unterläßt, beweist damit, daß er seine Verbindung zu den Verstorbenen völlig gelöst, die Geister also vergessen hat. Dies gilt als folgenschwere Unterlassung, die das Gewissen der Gemeinschaft wie des einzelnen belastet. Jegliches Unglück, das über die Menschen kommt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit als logische Folge einer solchen Vernachlässigung der Geister angesehen, es sei denn, man betrachtet Magie und Zauberei als die wahre Ursache. Jenen Geistern, die keiner bestimmten Familie verbunden sind, werden häufig Opfergaben in Geisterschreinen dargebracht, sofern es solche gibt. Derartige Schreine gehören der ganzen Gemeinde und stehen oft unter der Obhut eines Priesters. Einige der Geister, denen eine solche Ehre zuteil wird, werden ihrer Funktion entsprechend verehrt. Den Wassergeistern z. B. werden Opfer dargebracht, wenn man zur Fahrt auf dem Wasser oder zum Fischen rüstet, und die Waldgeister werden befragt, wenn man sich anschickt, den Wald zu roden, um neues Ackerland zu gewinnen. Hier verschmelzen die Geister mit der Kategorie der Gottheiten, die wir bereits oben beschrieben haben.
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Geistwesen, Geister und Totenseelen c) Die Totenseelen
Die Verstorbenen bis zu fünf Generationen von der Gegenwart aus gerechnet fallen in eine andere Kategorie als die gewöhnlichen Geister, die wir bereits einer Betrachtung unterzogen haben. Sie befinden sich innerhalb der Sasaperiode und sind im Stande persönlicher Unsterblichkeit: ihr Sterben ist noch unvollendet. Daher haben wir diese Totenseelen auch als Lebend-Tote bezeichnet. Sie sind das Bindeglied zwischen den Menschen und der Geisterwelt. Was wir über die Geister gesagt haben, bezieht sich zum Teil auch auf die Totenseelen. Diese sind jedoch im Gegensatz zu den Geistern zweisprachig. Sie sprechen die Sprache der Menschen, unter denen sie bis „vor kurzem" weilten, sie sprechen aber auch die Sprache Gottes und der Geister, da sie wesensmäßig Gott näherkommen als die Menschen. Sie sind diejenigen „Geister", denen bei den afrikanischen Völkern die größte Bedeutung zukommt, denn nur durch die Totenseelen wird die Geisterwelt den Menschen zum persönlichen Erlebnis. Sie sind immer noch Bestandteil ihrer menschlichen Familie, die persönliche Erinnerungen an sie wachhält. Die beiden Gruppen werden durch ihr gemeinsames Sasa zusammengehalten, mag dieses auch für die Totenseelen in schneller Bewegung auf das Samani hin entschwinden. Die Totenseelen sind immer noch Menschen; sie sind noch nicht zu Dingen, Geistern, d. h. zum ES geworden. Von Zeit zu Zeit kehren sie zu ihren Menschenfamilien zurück und teilen ihre Mahlzeiten mit ihnen, und sei es auch nur in symbolischer Weise. Sie sind über alles, was in der Familie vorgeht, unterrichtet und nehmen lebhaften Anteil daran. W e n n sie erscheinen — gewöhnlich dem ältesten Mitglied des Haushalts — werden sie beim Namen angeredet. Sie erkundigen sich, wie es u m die Familie steht und warnen manchmal sogar vor drohender Gefahr oder tadeln jene, die ihre besonderen Anordnungen nicht befolgt haben. Sie sind die Hüter des Familienlebens, der Traditionen, ethischen Normen und alles Tuns. Jeglicher Verstoß gegen den Familienkodex ist letzten Endes ein Verstoß gegen die Ahnen, die die Rolle einer unsichtbaren Familienund Gemeinschaftspolizei spielen. Weil die Totenseelen noch menschliche Züge tragen, sind sie die besten Mittler zwischen Gott und den Menschen. Da sie kürzlich noch unter ihnen weilten, kennen sie all ihre Nöte, haben aber gleichzeitig direkten Zugang zu Gott. Allerdings sind einige Völker der Ansicht, daß die Totenseelen nur indirekt über ihre eigenen Vorfahren Verbindung mit Gott aufnehmen können. W i e dem
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auch sei, die Menschen wenden sich jedenfalls bei geringeren Anlässen öfter an sie als an Gott selbst. Mögen die Totenseelen auch keine Wunder wirken oder ungewöhnliche Dinge tun, um den Menschen in ihren Nöten zu helfen, so fühlen diese sich doch seelisch erleichtert, wenn sie ihren Ältesten, die in beiden Welten stehen, das Herz ausschütten können. Hiermit soll allerdings keineswegs gesagt sein, daß in den Beziehungen zwischen den Menschen und ihren toten Angehörigen paradiesische Zustände herrschten. Die Menschen sind sich völlig im klaren darüber, daß nach dem physischen Tode zwischen ihnen und den Totenseelen eine Schranke errichtet worden ist. Wenn die Totenseelen zurückkehren und ihren Verwandten erscheinen, so ruft ein solches Erlebnis kaum eitel Freude hervor, und wenn es sich zu häufig wiederholt, wird es mit Widerwillen vermerkt. Man sagt zu den Totenseelen nicht: „Bitte, nimm Platz und warte, bis das Essen gerichtet ist!" noch verabschiedet man sich von ihnen mit den Worten: „Grüße den oder jenen in der Geisterwelt von mir!" obwohl solche Aufforderungen nach den Regeln des gesellschaftlichen Anstandes und der Gastfreundschaft normalerweise zum guten Ton unter Afrikanern gehören. Die Darbietung von Trank und Speise an die Totenseelen ist zwar eine Willkommensgeste und ein Akt der Gastfreundschaft, ist aber paradoxerweise gleichzeitig ein Wink an die ungebetenen Gäste, sich wieder zu entfernen. Sie sind erwünscht und unerwünscht zugleich. Wenn sie nicht ordnungsgemäß bestattet worden sind oder wenn jemand sie vor ihrem Tode beleidigt hat, befürchten ihre Verwandten oder diejenigen, die sich an ihnen vergangen haben, daß sie Rache an ihnen üben werden, und zwar in Form von Unglück, besonders Krankheit, oder Geistererscheinungen von beängstigender Häufigkeit. Hat jemand es versäumt, ihnen Speise und Trank anzubieten, wo dies normalerweise der Brauch ist, oder hat er es unterlassen, die vor ihrem Sterben von ihnen erteilten Anweisungen auszuführen, so neigt er dazu, alle Unglücksfälle und Leiden seines Lebens auf den Zorn der Totenseelen zurückzuführen. Aus diesem Grunde werden Bestattungsriten und -bräuche, vorgeschriebene Trankund Speiseopfer und dergleichen stets peinlich genau eingehalten. Bei einigen Völkern werden die Gräber besonders gepflegt, da man von den Verstorbenen annimmt, sie hausten im Umkreis dieser Gräber, von denen einige sogar in ihren eigenen Häusern angelegt sind. Man widmet den Totenseelen vier oder fünf Generationen lang besondere Aufmerksamkeit, bis nur noch wenige oder schließlich überhaupt keine ihrer engeren Angehörigen mehr am Leben sind. Wenn der letzte Mensch,
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der einen bestimmten Verstorbenen persönlich kannte, seinerseits stirbt, ist der Vorgang des Sterbens für diesen endgültig abgeschlossen. Man erinnert sich seiner nicht mehr namentlich, er ist kein „menschliches Wesen" mehr, sondern Geist, Ding, ES geworden. Er ist am sichtbaren Horizont der Samaniperiode versunken. Nunmehr ist die Familie der Verpflichtung enthoben, ihn bei den üblichen Trank- und Speiseopfern für die Toten weiter mitzuberücksichtigen, es sei denn, er nimmt einen gewichtigen Platz im Rahmen genealogischer Aufzählungen oder in der Kette der Mittler zwischen Mensch und Gott ein, wie es bei einigen Völkern der Fall ist. Wenn dieser Zeitpunkt erreicht ist, sind natürlich auch längst weitere Totenseelen auf der Bildfläche erschienen, die größere Aufmerksamkeit von den Lebenden verdienen oder erheischen. Diejenigen, welche ins Stadium vollgültiger Geister „vorgerückt" sind, verschmelzen nun mit der Geisterwelt, und die Lebenden verlieren mit dem Kontakt auch jegliches besondere Interesse an ihnen. Sie haben keinen Anteil mehr an der menschlichen Sasaperiode, mögen sie auch weiterhin im Umkreis der Menschen fortexistieren. Ihre Existenzebene ist von derjenigen der Menschen verschieden. Ontologisch gesehen sind sie Geister, nichts als Geister. Bei einigen Völkern glaubt man, die Totenseelen könnten „wiedergeboren" werden. Es handelt sich hier jedoch lediglich um eine teilweise Reinkarnation, da nicht die Gesamtpersönlichkeit wiedergeboren wird, sondern nur bestimmte ihrer Wesensmerkmale oder körperlichen Kennzeichen. Da die Totenseelen zu einem Teil „Mensch", zum anderen „Geist" sind, werden wir bei unserer Erörterung der Todes- und Jenseitsvorstellungen auf sie zurückkommen. Sie müssen nämlich unter beiden Aspekten betrachtet werden. Nunmehr wollen wir anhand konkreter Beispiele, die von verschiedenen afrikanischen Völkern stammen, das über die Geister und Totenseelen Gesagte klarmachen. Unsere schriftlichen Quellen kennen keine Unterscheidung zwischen diesen beiden Gruppen, und Ausdrücke wie „Ahnengeister", „Ahnen", „Manen" oder einfach „Geister" werden unterschiedslos im einen wie im anderen Falle verwandt. „Ahnengeister" oder „Ahnen" sind irreführende Begriffe, da sie sich nur auf jene Geister beziehen, die die eigentlichen Vorfahren der Lebendigen sind. Dadurch wird der Begriff unnötig eingeschränkt, da es auch Geister und Totenseelen von Kindern, Brüdern, Schwestern, unfruchtbaren Frauen und anderen Angehörigen gibt, die keinesfalls den „Vorfahren" gleichzusetzen sind. Man täte gewiß gut daran, die beiden Ausdrücke „Ahnengeister" und „Ahnen" abzuschaffen
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und stattdessen jeweils von „Geistern" oder „Totenseelen" („die livingdead") zu reden. Die Atscholi kennen drei Arten von Geistern. Die erste umfaßt die Sippengeister, die als „Eigentum" des Häuptlings gelten und denen man auf Hügeln und an Flüssen Kultschreine errichtet. An zweiter Stelle kommen die Geister, man darf wohl annehmen: die Totenseelen bestimmter Verwandter, von denen einige Linienhäuptlinge sind und die als wohlwollend und schutzbringend angesehen werden, während die Seelen anderer Verwandter, die mit Groll im Herzen von hinnen gingen, sehr gefürchtet sind. Die dritte Gruppe besteht aus „Geistern unbekannter Personen und gefährlicher Tiere... die in Bächen, Felsen, Sträuchern usw. hausen sollen. Sie sind feindselig eingestellt und verursachen dem einzelnen Krankheiten und andere Mißgeschicke".7 Bei den Kamba heißt es, einige Geister seien als solche von Gott erschaffen worden, während andere einst Menschen gewesen seien. Gott gebietet über sie und sendet sie manchmal als Boten aus. Manche sind freundlich und wohltätig, andere übelwollend. Die Mehrzahl von ihnen ist jedoch „neutral" oder „gut und böse" zugleich wie die Menschen. Viele Leute behaupten, Geister gesehen zu haben, besonders an Berghängen und Flußufern. An solchen Orten kann man nachts auch ihre Lichter brennen sehen, ihre Rinder brüllen oder ihre Kinder weinen hören. Es ist der Glaube verbreitet, daß Frauen Geister zu Gatten haben und von ihnen geschwängert werden können. Im traditionellen Leben sind die Familien sehr darauf bedacht, den Totenseelen Trankopfer in Form von Bier, Milch oder Wasser und Speisen in kleinen Mengen darzubringen. Von der Besessenheit durch Geister und Totenseelen wird allgemein berichtet, mag diese auch heutzutage weniger häufig vorkommen als in früheren Jahren. Um die Jahrhundertwende brach im südlichen Landesteil die Geisterbesessenheit in größtem Maßstabe aus und pflanzte sich wie ein Lauffeuer durch die Gemeinden fort. Manche Wahrsager und Medizinmänner erhalten im Traum oder durch Erscheinungen von Geistern und Totenseelen Anweisungen, die sich auf die Diagnose, Behandlung und Verhütung von Krankheiten beziehen. Eine stattliche Anzahl von Leuten berichtet davon, daß sie Geister und Totenseelen zu Gesicht bekommen hätten, als sie entweder allein waren oder sich in Gesellschaft anderer Männer und Frauen befanden. Zwei 7
Okot p'Bitek: „The Concept of Jok among the Acholi and Lango", in: The Uganda Journal, Bd. X X V I I , Nr. 1, Marz 1963, S. 15—29.
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mir befreundete Geistliche berichteten die folgenden Geistererlebnisse: Der eine von ihnen kehrte abends mit einem Schulkameraden von der Schule nach Hause zurück. Sie mußten einen Bach überqueren, auf dessen gegenüberliegendem Ufer sich ein Hügel erhob. Als sie sich dem Bach näherten, erblickten sie auf dem Hügel vor sich Lichter, obgleich dort gewöhnlich kein Mensch wohnte. Mein Freund fragte seinen Begleiter, was das sei und erhielt zur Antwort, er solle sich nicht fürchten, es sei das Feuer der Geister. Sie mußten am Hang entlanggehen, und mein Freund hatte Angst. Sein Begleiter versicherte ihm, er habe solche Feuer schon öfter gesehen; sie bräuchten nur chrisdiche Hymnen zu singen und es würde ihnen kein Leid geschehen. Sie zogen also singend weiter, und als sie am Hügel vorübergingen, begannen die Geister mit Steinen nach ihnen zu werfen. Ein paar Steine rollten ihnen vor die Füße, aber keiner traf sie. Als die beiden Jungen den Berg beinahe hinter sich hatten, erblickten sie ein Feuer, von schattenhaften Gestalten umgeben, welche die Geister waren, wie der Gefährte meinem Freund zuraunte. Einige der Geister waren damit beschäftigt, andere mit Peitschenhieben zu traktieren und sie zu fragen: „Warum habt ihr die Jungen nicht erwischt? Warum habt ihr sie nicht getroffen?" Die beiden Jünglinge hörten, wie einige der Geister unter den Schlägen aufschrien, konnten aber nicht verstehen, welchen Entschuldigungsgrund sie angaben, daß ihre Steinwürfe die Jungen verfehlt hatten. Der andere Geistliche erzählte mir, wie er im Alter von etwa zwanzig Jahren mit mehreren anderen jungen Männern in den Wald gegangen sei, um Honig aus der Rinde eines verdorrten Baumes zu sammeln. Es handelte sich nicht um Bienenhonig, sondern um den Seim einer kleinen Insektenart, die nicht sticht und in verschiedenen Teilen des Landes vorkommt. Die gesuchte Stelle war weit von den Dörfern entfernt. Als die jungen Leute den Baum erreicht hatten, kletterte mein Freund hinauf, um Rinde und Stamm des Baumes aufzuschneiden. Während er noch auf dem Baum saß, hörte er plötzlich ein Pfeifen wie von Schäfern und Rinderhirten. Er hielt in seiner Arbeit inne, und er und seine Kameraden lauschten schweigend. Sie hörten klar und vernehmlich das Pfeifen und ein Geräusch von Kühen, Schafen und Ziegen, das aus dem Wald zu ihnen an ihrem Honigbeuteplatz herüberdrang. Das Geräusch und die Stimmen wurden immer lauter, je näher die unsichtbare Schar kam, und den jungen Männern wurde klar, daß es sich hier um Geister handelte. Da Menschen ihr Vieh niemals
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in den Wäldern, sondern immer nur auf freiem Gelände weiden lassen und da außerdem der Ort zu weit von den menschlichen Niederlassungen entfernt war, als daß Dorfbewohner ihr Vieh hätten hier hindurchtreiben können, war überhaupt kein anderer Schluß zulässig. Sie schauten in die Richtung, aus der die Geräusche kamen, konnten aber niemanden erblicken. Und doch kam die Geräuschquelle immer näher. Da beschlossen die Männer, ihren Honig im Strich zu lassen und um ihr Leben zu laufen. Sie kehrten nie mehr an diesen Ort zurück. Es gibt noch weitere Geschichten dieser Art, und man hat in den meisten Fällen keinen Grund, an ihrer Echtheit zu zweifeln, besonders wenn sie von Leuten erzählt werden, welche die berichteten Dinge selber erlebt haben. Die Ankole haben Schutzgeister (etnandwa) für ihre Liniengruppen, die hilfreicher und wohlwollender Natur sind. Die Familiengeister (emisimu) oder Totenseelen bestrafen böse Handlungen, und man glaubt, daß sie für viele Unglücksfälle verantwortlich seien, die nicht auf Hexerei und Magie zurückzuführen sind. Für die Schutzgeister gibt es einen Kult. Die Totenseelen kümmern sich sehr um Familienangelegenheiten, wie die folgende Geschichte klarmacht, die ich von verschiedenen Personen gehört habe. Alle Befragten hatten entweder die Begebenheit selber erlebt oder kannten die Familie, in der sie sich zugetragen hatte. U m das Jahr 1962 starb ein Mann und hinterließ Anweisung, seine Frau solle unter keinen Unständen das Familiengrundstück verkaufen. Sie beschloß aber, alle Warnungen der Brüder des Verstorbenen in den Wind zu schlagen, ging hin und verkaufte das Land. Der Käufer wurde gewarnt, daß Unheil über seine Familie kommen werde, wenn er auf diesem Grund und Boden siedelte. Der Mann machte nicht den Eindruck, als ob er diese Warnung ernst nehme und baute ein neues Haus. Kurz darauf geschahen in dem Haus lauter sonderbare Dinge. Wenn z.B. Wasser im Topf siedete, kam es vor, daß dieser umkippte und das Wasser sich über das Feuer ergoß, so daß es erlosch. Wenn man friedlich im Hause saß, konnte es einem geschehen, daß man von unsichtbaren Kräften Hiebe erhielt oder von draußen mit Steinen beworfen wurde. Die Familie rief den Ortsgeistlichen herbei mit der Bitte, er möge im Hause beten. Als er aber eintrat, wurde er von Knüppeln so übel zugerichtet, daß er das Weite suchte. Daraufhin wandte die Familie sich an die Polizei, und zwei Beamte waren gleich zur Stelle. Auch sie wurden von unsichtbaren Händen mit Steinen beworfen und mußten
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ihr Heil in der Flucht suchen. Das Leben an diesem Ort wurde unerträglich, und der Käufer des Grundstücks sah sich gezwungen, es zu räumen und wegzuziehen. Die Frau kehrte zurück und mit ihr kehrte wieder Frieden ein. Die Leute, die diese Vorgänge aus allernächster Nähe erlebt hatten, schlössen daraus, daß die Seele des Toten, der den Verkauf des Grundstücks verboten hatte, es sich angelegen sein ließ, die Familie des unerwünschten Käufers zu behelligen. Bei den Aschanti gibt es Geister, die Bäumen, Flüssen, Tieren, Amuletten und dergleichen Leben verleihen. Auf etwas niedrigerer Ebene befinden sich die Familiengeister, von denen man annimmt, daß sie immer gegenwärtig sind und Schutzfunktionen ausüben. Die Bambutigeister sollen angeblich Gott als „Jagdhüter" dienen und werden als kleine, dunkelhäutige, weißhaarige Wesen geschildert, die in hohlen Bäumen wohnen und kräftig stinken. Bei den Ewe glaubt man, daß die Geister von Gott als Mittler zwischen ihm und den Menschen erschaffen worden seien. Obwohl sie unsichtbar sind, verleiht die Phantasie ihnen Menschengestalt. Angeblich beschützen sie die Menschen, sind mit Naturkräften und Naturdingen verquickt und können sich fortpflanzen. Die Fadschulu glauben, jeder Mensch habe zwei Geister, von denen einer gut und der andere böse sei. Bei den Ganda kann man die Geister in drei Gruppen einteilen. Die erste besteht aus den Totenseelen (misimu), die mit menschlichen Familien verbunden sind und um die Heimstätten herum hausen sollen. Daher „sehen" oder „hören" die Menschen sie, und zumindest in früheren Zeiten pflegte jeder Haushalt einen Kultschrein für sie zu haben, worin Trank- und Speiseopfer gestellt wurden. Es gibt auch heutzutage noch Häuser mit solchen Schreinen. Im großen ganzen sind die misimu wohlwollend, abgesehen von denjenigen, die entweder zu Lebzeiten böse Menschen waren oder vor ihrem Tode beleidigt worden sind. Daneben gibt es eine Gruppe von Geistern (misambwa), die im Gegensatz zu den Totenseelen keine engen Familienbande mit Lebenden mehr kennen. Diese werden mit Naturdingen — Felsen, Bächen, Bäumen und Tieren — in Verbindung gebracht. Obwohl sie gefürchtet sind und als allgegenwärtig gelten, neigen sie dazu, ihre Tätigkeit auf bestimmte Örtlichkeiten oder Sippen zu beschränken. Einige gelten als „Eigentum" eines Klans oder einer bestimmten Siedlungsgegend und werden kultisch verehrt. Zur dritten Gruppe gehören die als balubaale bezeichneten Geister, meist Nationalheroen und Führer-
Die Totenseelen
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gestalten, die sozial und religiös erhöht worden sind. Unter ihnen befinden sich solche, die wir oben bereits als Gottheiten bezeichnet haben, wie der Gott des Krieges (Kikuba), der Meere und Seen (Mukasa) und des Todes (Walumbe). Ein Autor 8 gibt ihre Zahl als dreiundsiebzig an, was allerdings von anderen Ganda bestritten wird. Früher hatte man für die gehobeneren balubaale Tempel, aber davon sind heute nur noch wenige übrig. Die kultische Verehrung dieser Geister erreichte eine hohe Entwicklungsstufe auf nationaler Ebene, wenngleich die Könige es sich gelegentlich leisten konnten, einen solchen Kult zu mißachten, während sie ihn ein anderes Mal förderten oder gar von ihm abhängig wurden. Unter dem Gesichtswinkel der Samaniperiode betrachtet, scheint es, daß die balubaale eine Mischung von historischen und mythologischen Gestalten sind, die mit Personifikationen der bedeutenderen Naturereignisse und -kräfte oder menschlicher Tätigkeiten zusammenfallen. Nicht nur Außenstehenden, sondern auch den Ganda selber fällt es schwer, sich ein klares Bild von den balubaale und der gesamten Geisterwelt dieses Volkes zu machen.9 Die Geistervorstellungen der Ganda werden noch zusätzlich kompliziert durch eine Form von kraftspeichernden Geistwesen, die unter der Bezeichnung mayembe (wörtlich „Horner") bekannt sind. Es sind dies Gegenstände, hauptsächlich Büffelhörner und Hirschgeweihe, die von Wahrsagern und Medizinmännern bei der Ausübung ihres Berufes benützt werden; sie treten in Tätigkeit, wenn die Geister von den Eigentümern der mayembe gerufen werden. Die Geister für sich allein betrachtet sind keine mayembe, und auch die Hörner können ohne Zutun der Geister nicht die Funktion der mayembe ausüben. Erst das Zusammenspiel der beiden ruft die mayembe hervor, und nur Fachleuten ist die richtige Methode bekannt, ein solches Zusammenwirken zu erzielen. Ein mächtiger und erfahrener Wahrsager kann seine eigenen mayembe schaffen, welche von anderen Wahrsagern sogar nach seinem Tode noch ausgeliehen oder befragt werden können. Oft gibt man den mayembe Eigennamen, die deklamiert oder gesungen werden, wenn die Wahrsager die Geister herbeirufen wollen. Die mayembe werden für allerlei Tätigkeiten verwendet, wie z.B. Wahrsagung, Diagnose und 8
A. Kagwa: Empisa z'Abaganda (1905) zitiert bei Welbourn s. unten. ® Zum eingehenderen Studium lese man F. B. Welbourn: „Some Aspects of Kiganda Religion", in The Uganda Journal, Bd. X X V I , Nr. 2, Sept. 1962, S. 171 f.
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Heilung von Krankheiten, die „Mehrung" der Liebe zwischen Ehegatten, das Wiederfinden verlorener Gegenstände und die Verhütung von Angriffen durch Magie oder andere mayembe, deren sich ein Feind bedient. Die ihnen innewohnende Kraft ist unterschiedlich. Eine Sorte von mayembe, die unter dem Namen kifaalu (Panzerwagen, Traktor oder Rhinozeros) bekannt ist und während des zweiten Weltkrieges bzw. danach auftauchte, wird besonders gefürchtet und gilt als tödlich. Man nimmt an, daß sie entweder aus Kenia oder Ruanda gekommen ist. Ein Wahrsager versicherte meinen Studenten 1967, daß viele Ganda kifaalu besäßen, aber man hält ihren Besitz geheim, da sie dazu dienen, Feinde oder Übeltäter heimzusuchen, zu behexen oder zu töten. Oft sind die Opfer Männer, die anderen Männern die Frau wegnehmen oder ihre Schulden nicht bezahlen. Die Benutzung und der Kauf von kifaalu scheinen sich zu einem lukrativen Geschäft zu entwickeln, und man zahlt einem Spezialisten bis zu dreihundert Schilling (etwa einhundertfünfzig Mark), damit er einen kifaalu mit einem Schädigungs- oder Racheauftrag aussendet. Viele Wahrsager geben sich jedoch mit der kifalu-UnteT3.it der mayembe nicht ab. Es ist nicht klar erkenntlich, welcherlei Geister zur Herstellung von mayembe hinzugezogen werden. Jedenfalls handelt es sich hierbei nicht, oder nur in seltenen Fällen, um Totenseelen. Es liegt die Vermutung nahe, daß die Geister der obengenannten zweiten Kategorie entstammen, jedoch innerhalb dieser einem bestimmten Typ angehören. In ähnlicher Weise wie die Ganda erkennen die Kikuju drei Arten von Geistern an. An erster Stelle stehen die Totenseelen, d.h. die verstorbenen Familienmitglieder, von denen die Eltern die wichtigsten sind. In der Kikujusprache sind sie als die „Geister der Eltern oder Vorfahren" (ngoma da aciari) bekannt. Diesen gibt die Familie Speiseund Trankopfer zum Zeichen der Verbundenheit und des Einsseins. Kenyatta betont, daß die für die Totenseelen bestimmten Gebets- und Kulthandlungen sich von der Gottesverehrung unterscheiden. Das Betragen des einzelnen oder der gesamten Familie kann den Totenseelen gefallen oder auch mißfallen, und sie handeln in dieser Situation stets, wie sie gehandelt hätten, wenn sie noch in Menschengestalt lebten. Die zweite Art besteht aus den Klangeistern, ngoma da moherega, deren Augenmerk hauptsächlich auf die Wohlfahrt der Nation auf Klanebene gerichtet ist. Sie handeln bzw. werden um Rat gefragt, wenn es um das Leben und Verhalten der Klanmitglieder geht. An dritter Stelle
Die Totenseelen
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kommt die Kategorie der Geister, die sich um die Altersklassen und die Nation als Ganzes kümmern. Sie sind als ngoma cia riika bekannt. In der Sicht der Kikuju ist die Geisterwelt genau wie ihre eigene Gesellschaft strukturiert. Diese dritte Kategorie von Geistern darf man sich nicht als Gottheiten vorstellen, da die Kikuju wie auch andere Völker solche nicht anerkennen. Es scheint, daß einige der Geister, vermutlich jene, deren Verbindungen zu Klan und Volk sehr lose geworden sind, sich gegen die Menschen wenden und Krankheiten verursachen. Von solchen Geistern glaubt man, daß sie sich in der Nähe der Heimstätten verstecken und daß der Wind sie von einer Heimstätte zur anderen weiterweht. Aus diesem Grunde hält man den Wirbelwind für eine Zusammenrottung von Geistern, die einen Angriff auf Menschen vorbereiten. Bei Ausbruch einer Epidemie versammeln sich die Leute in dem betreffenden Gebiet, um sich gegen die Geister zu Wehr zu setzen. Wenn diese geschlagen sind, nehmen sie die Epidemie mit sich fort und scheuen davor zurück, noch einmal wiederzukommen, um vielleicht nur eine weitere Niederlage einzustecken. Die beste Zeit für diese Zeremonie ist abends bei Mondaufgang. Die Gemeinde setzt einen Tag fest, und wenn der Zeitpunkt gekommen ist, erschallen Rriegshörner. Auf dieses Zeichen hin stürzen alle mit Stöcken, Keulen und anderen hölzernen Kampfmitteln bewaffnet aus dem Haus. Es werden keine Waffen aus Metall benützt, da diese das Blut der Geister vergießen könnten, das den Boden entweihen würde. Man klopft die Büsche ab, stößt Schreie aus, und die Menschenmenge bewegt sich auf beiden Ufern dem Flusse entgegen. Wenn sie dort ankommt, werden die Stöcke unter fortdauerndem Tönen der Kriegshörner ins Wasser geworfen. Die Leute schütteln den Staub aus den Kleidern und von den Füßen, um etwaige Spuren der Geister zu tilgen, und kehren dann fröhlich singend nach Hause zurück, wobei sie Sorge tragen, sich nicht umzublicken. Am folgenden Tag rasieren die Mütter den Kindern, die nicht am Angriff auf die Geister teilnehmen konnten, die Haare ab. Die Rasur erfolgt in Kreuzform, da man glaubt, der Anblick der Kinder werde so die bösen Geister abschrecken. Dann werden die Kinder gewaschen und mit roter Ockerfarbe bemalt.10 In dieser Schlacht stellt man sich die Geister durchaus menschlich vor; sie nehmen die Stelle des Feindes ein, der angegriffen und besiegt werden muß. Die Stöcke symbolisieren zu Beginn der Geisterjagd die menschliche Macht; sobald sie ins Wasser 10
Kenyatta, S. 260 f.
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Mbiti, Afrikanische Religion
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geworfen werden., symbolieren sie hingegen die besiegten Geister, die nun vom Strom des Todes hinweggeschwemmt werden. Der Staub verkörpert vermutlich die Epidemie, und in der Geste des Staubabschütteins von Kleidern und Füßen wird der Sieg der Menschen über die Epidemie symbolisiert, wie auch die Geister, die sie hervorriefen, besiegt worden sind. Das Rasieren der Kinder ist eine weitere dramatische Darstellung der Niederlage der Geister und gleichzeitig eine Symbolhandlung, die „Tod und Auferstehung" von der Epidemie bedeutet. Über Bedeutung und Ursprung des Kreuzes kann ich nichts Bestimmtes sagen, doch ist es immerhin interessant, daran zu erinnern, daß die Christen es seit vielen Jahrhunderten unter anderem zum Schutz vor Angriffen böser Geister verwendet haben. Wenn es stimmt, daß das Christentum einst in ferner Vergangenheit diesen Teil Äquatorialafrikas erreicht hat, so ist es bedeutsam und bemerkenswert, daß das „Zeichen des Kreuzes" im Kampf gegen die Kräfte des Bösen die einzige Spur des Christentums ist, die in den traditionellen Glaubensvorstellungen und im Brauchtum zurückblieb. Es ist jedoch möglich, daß Historiker und Archäologen noch weitere Spuren entdecken werden. Bis dahin wird die Sache nichts weiter als Spekulation bleiben. Wir müssen die Geister hier verlassen. Sie werden jedoch hin und wieder erneut auftauchen. Zu den Totenseelen werden wir zurückkehren, wenn wir das Geschick des Menschen nach dem Tode behandeln. Einige Teile dieses Kapitels sind nichts weiter als Verallgemeinerungen, zu denen wir gezwungen waren, weil nur dürftige schriftliche Informationen über die Geister vorliegen. Sobald vollständigeres Material zur Verfügung steht, werden sich einige der von mir gemachten Aussagen zweifellos als falsch erweisen, und ich werde dann meine Ansichten mit dem größten Vergnügen im Lichte neuerer Erkenntnisse einer Revision unterziehen. Wie unsere konkreten Beispiele klar gezeigt haben, lassen sich die Verallgemeinerungen nicht ohne weiteres auf die verschiedenen afrikanischen Völker anwenden, und der Leser wird gebeten, mit diesen Begriffen sehr vorsichtig umzugehen und sie nicht wahllos auf einzelne Völker oder Bezirke anzuwenden. Was auch immer die Wissenschaft tun mag, um die Existenz oder Nichtexistenz der Geister zu beweisen, feststeht jedenfalls, daß die Geister für die afrikanischen Völker eine Realität sind, mit der man rechnen muß, ob diese Realität nun klar, verschwommen oder verwirrt ist. Sie verdient mehr als nur akademische Aufmerksamkeit.
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DIE S C H Ö P F U N G U N D D E R U R Z U S T A N D DES M E N S C H E N Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß das afrikanische Seinsverständnis im Grunde anthropozentrisch ist. Der Mensch steht im Mittelpunkt des Seienden, und die afrikanischen Völker sehen alles übrige in seinem Bezug zur zentralen Stellung des Menschen. Gott dient dazu, Ursprung und Erhaltung des Menschen zu erklären. Es ist, als ob Gott um des Menschen willen existiere. Die Geister nehmen in der Seinsordnung eine Zwischenstellung zwischen Gott und dem Menschen ein. Sie dienen dazu, die Bestimmung des Menschen nach dem Erlöschen des physischen Lebens zu erklären. Der Mensch kann nicht fortwährend in der Sasaperiode verbleiben, er zieht in einer R ü c k wärtsbewegung in die Samaniperiode ein. Wie lange er jedoch auch im Strom der Zeit dahinziehen mag, er bleibt ein Geschöpf des Übergangs zwischen Gott und dem körperhaften Menschen. Tiere, Pflanzen, Land, Regen und andere Dinge der Natur oder Naturvorgänge stellen die Umwelt des Menschen dar, welche von den afrikanischen Völkern in ihr tiefreligiöses Weltbild einbezogen wird. Wir haben bereits gesehen, wie einigen dieser Naturdinge und Naturerscheinungen Leben und Persönlichkeit verliehen wird, so daß streng genommen in afrikanischer Sicht „nichts seinem Wesen nach tot oder ohne Leben (Sein)" ist. Der übrige Teil dieses Buches ist einer Untersuchung des afrikanischen Menschenbildes gewidmet, und zwar wollen wir den Menschen unter dem Aspekt seiner Geschöpflichkeit, als Gemeinschaftswesen und als Wesen im Wandel betrachten. a) Schöpfung und Ursprung des Menschen Praktisch jedes afrikanische Volk hat seinen eigenen Ursprungsmythos bzw. seine eigenen Mythen. Hermann Baumanns Buch Schöpfung und Urzeit des Menschen im Mythus der afrikanischen Völker (1936) unternimmt die kolossale Aufgabe, 2000 dieser Mythen zu analysieren. In dieses Buch, das 1964 im unveränderten Nachdruck erschienen ist, konnten gewiß nicht alle existierenden Mythen aufgenommen werden, zumal manche von ihnen nicht einmal schriftlich fixiert sind. Leider ist das Buch für nichtdeutsche Leser noch nicht in andere Sprachen übersetzt. Zudem ist es auch für Leser, die des Deutschen mächtig sind, vor allem wegen der vielen afrikanischen Orts- und Völkernamen eine 8*
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schwierige Lektüre. Es ist jedoch trotz seiner Vorurteile und Fehlurteile ein sehr nützliches Nachschlagewerk für das Studium menschlicher Ursprünge. Für die Mehrzahl afrikanischer Völker steht die Erschaffung des Menschen am Ende — oder, mit der Dingwelt verglichen, jedenfalls ziemlich am Ende — des götdichen Schöpfungswerkes. Der Mensch tritt gewöhnlich als Mann und Frau, in männlicher und weiblicher Form auf. Allgemein wird Gott als der Urheber des Menschen anerkannt, mag auch die Art und Weise der Erschaffung den Mythen der einzelnen Völker entsprechend verschieden ausfallen. Ein paar Beispiele mögen diesen Befund illustrieren. Im Schöpfungsbericht der Baluhja heißt es: Gott erschuf den Menschen, damit die Sonne jemand hatte, für den sie scheinen konnte. Dann erschuf er Pflanzen, Tiere und Vögel, daß sie ihm als Speise dienten. Zuerst wurde der Mann erschaffen und dann das Weib, damit es dem Manne Gefährtin und Gesprächspartnerin sei. Die Lozi erzählen, Gott sei noch Erdenbewohner gewesen, als er nach Erschaffung aller Dinge den Menschen erschuf. Er sei dann dazu übergegangen, die verschiedenen Völker zu begründen, jedes mit eigenen Sitten und Gebräuchen und eigener Sprache. Den Lugbara zufolge hat Gott, der Überweldiche, vor langer, langer Zeit die ersten Menschen als Mann und Weib erschaffen. Diese beiden gaben einem Sohn und einer Tochter das Leben, die ein Paar wurden und männliche und weibliche Kinder hervorbrachten. Auf diese Weise mehrte sich die Menschheit auf der Erde. Auch die Mende sagen, Gott habe zuerst alle Dinge dieser Erde und dann erst die Menschen als Mann und Weib erschaffen. Was den eigentlichen Schöpfungsvorgang betrifft, so können wir die vorhandenen Mythen unter verschiedenen Kategorien begreifen. Es gibt Völker, die der Ansicht sind, Gott habe den Menschen aus Ton geformt, wie der Töpfer Töpfe macht. Daher nennt man ihn oft den Töpfer, Former oder Bildner. Die Schilluk glauben, Gott habe bei der Herstellung des Menschen verschiedenfarbigen Ton verwendet, woraus sich die unterschiedliche Hautpigmentierung der Menschen erkläre. Sodann habe er dem Menschen Beine zum Gehen und Laufen, Hände zum Pflanzen des Korns und einen Mund, um es zu essen gegeben. Darauf habe er ihm eine Zunge zum Singen und Reden und schließlich Ohren verliehen, damit er den Klang der Musik und des Tanzes und die Reden der großen Männer hören könne. Erst dann habe er den Menschen als
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ein vollständiges Wesen ausgesandt.1 Hier haben wir zweifellos ein schönes Bild vom Werk eines geschickten Töpfers. Auch die Bambutipygmäen haben eine sehr eindrucksvollen Mythe von der Formung des Menschen aus Ton. In ihrer Schilderung formte Gott den Körper des ersten Menschen durch Kneten, „überzog ihn dann mit einer Haut und goß Blut in den leblosen Körper. Da atmete der erste Mensch, und das Leben erwachte in ihm, und Gott flüsterte ihm leise ins Ohr: ,Du wirst Kinder zeugen, die im Walde leben werden'". 2 Baumann kommt zu dem Schluß, daß der Gedanke der Erschaffung des Menschen aus Lehm in Afrika weitverbreitet ist.3 Bei den Kamba, Sotho, Herero, Schöna, Nuer und anderen finden wir Mythen, die von der Hervorbringung des Menschen durch Gott aus einer Erdhöhle, aus einem Ursumpf oder aus Bäumen handeln.4 Im westlichen Mittelteil des Kambalandes bei Nzaui befindet sich ein Felsen mit einer Höhle darin, aus der Gott das Urelternpaar hervorgebracht haben soll. Im Mythos der Herero ließ Gott die ersten Menschenwesen, Mann und Frau, aus dem mythischen „Lebensbaum", der in der Unterwelt stehen soll, hervorgehen. Baumursprungsmythen sollen von der Küste Angolas bis zur Gegend des Sambesi weitverbreitet sein und kommen außerdem in anderen, aber kleineren Bezirken Saires und des Sudans sowie anderswo vor. Bei den Nuer glaubt man, daß eine Tamarinde, die 1918 niederbrannte, der Baum gewesen sei, von dessen Ästen die Menschen abfielen oder unter dem eine Höhle gewesen sei, woraus die ersten Menschen hervortraten. Gott war es, der sie schuf und ihnen unterschiedliche Hautfarbe, Ausdauer im Wettlauf und Körperkraft verlieh.5 In einigen wenigen Fällen ist davon die Rede, daß Gott die Menschen aus einem Gefäß hervorgebracht habe. In einem der Ursprungsmythen der Zande waren Menschen und Dinge zusammen in einem Kanu versiegelt, das unter allen Söhnen Gottes (Sonne, Mond, Sterne, Nacht und Kälte) nur die Sonne zu öffnen vermochte, indem sie es erhitzte und die Versiegelung zum Schmelzen brachte. Da traten die Menschen und Dinge daraus hervor. Die Dschagga sagen, Gott habe ein Gefäß, 1 2
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Young, S. 146. Schebesta, II, S. 179 f. stellte kategorisch fest, als er diese Geschichte hörte, daß „keinerlei biblischer Einfluß auf die Pygmäen in Frage kommt". Baumann, S. 203 f. Baumann, S. i86f., 193 f., 2 i 9 f . Evans-Pritchard, II, S. 6f.
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das Menschen enthielt, aufgebrochen und sie geheißen, ins Freie zu treten und zu leben. Aus diesem Grunde nennt man ihn „Gott, der die Menschen durch Zerbrechen hervorbrachte". In einem mit dieser Ursprungsmythe verwandten Mythenkomplex bei den Ewe, Luba, Massai, Nandi, N u p e und anderen herrscht der Glaube an den Ursprung des Menschen aus einem Bein oder Knie. Die Kniegeburt erfolgte aus einem anderen Wesen, das offensichtlich den Menschen ähnlich war. Das Bein schwoll an und brach schließlich auf, woraufhin auf der einen Seite eine männliche, und auf der anderen eine weibliche Gestalt ins Freie trat. All diese Erzählungen klingen ein wenig märchenhaft, wie sehr sie auch versuchen, den Ursprung des Menschen in dramatischer Weise auszudrücken. Bei vielen Völkern in zerstreut hegenden Teilen Afrikas, insbesondere längs des Niloberlaufs, kündet der Mythos die Herkunft des Menschen v o m Himmel oder aus einer anderen Welt. Der Grundgedanke dieser Anschauung ist, daß Gott den Menschen anderswo erschuf und ihn dann in diese Welt hinunterließ oder aber daß der Mensch aus diesem oder jenem Grunde selber hinabstieg und hier seßhaft wurde. In der Schöpfungsgeschichte der Kamba ließ Gott die ersten beiden Menschenpaare aus den Wolken auf die Erde hinab. Sie brachten Rinder, Schafe und Ziegen mit. Die beiden Paare pflanzten sich fort, so daß ihre Kinder untereinander heiraten und die Menschheitsfamilien auf Erden begründen konnten. In ähnlicher Weise berichten die Bachwa, wie Gott alles einschließlich der ersten Menschen erschaffen und diese v o m Himmel auf die Erde hinabgelassen habe. Dies waren natürlich die Pygmäen selber, und deshalb nennen die Bachwa sich „die Kinder Gottes". Im Mythos der Dschagga stieg der erste Mensch auf einem Spinnfaden v o m Himmel herab, weswegen man der Spinne bei den Dschagga Achtung erweist. Nach Ansicht der Ndamba gibt es jenseits unserer Welt eine andere, die älter, unsichtbar und sehr fern ist. Aus jener anderen Welt kam das erste Menschenpaar, von Gott erschaffen, der in beiden Welten all Dinge schuf. Darstellungen dieses allgemeinen Typs finden sich bei den Aschanti, Zande, Njoro, Massai, Mandari, Mbundu, Lugbara, Luo, Turkana und anderen Völkern in ganz Afrika. Diese Verbildhchung des menschlichen Ursprungs weist dem Menschen eine Stellung zu, die von der anderer irdischer, erschaffener Dinge verschieden ist. Er k o m m t von „oben", aus einer anderen Region des Alls, und sein Ursprungsort ist Gott „näher" als der aller anderen Kreaturen.
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h) Der Urzustand des Menschen und Gottes Fürsorge für ihn Vielen Schöpfungsberichten zufolge wurde der Mensch ursprünglich in einen Zustand der Glückseligkeit, kindlicher Unwissenheit und U n sterblichkeit hineinversetzt, oder es war ihm die Fähigkeit gegeben, nach dem Tode aufzuerstehen. Gott versah ihn auch mit dem Lebensnotwendigen, und zwar entweder durch unmittelbare Hilfe oder indem er ihm die Mittel beigab, seinen Lebensbedarf mühelos aus der Natur zu bestreiten. Der Mensch lebte also mehr oder weniger in einem paradiesartigen Zustand. W i r werden diese allgemeinen Bemerkungen durch ein paar Legenden erläutern. Der Aschantitradition zufolge erfreute sich der erste Mensch einer Vorzugsstellung. Gott erschuf alle Dinge einschließlich der Geister zu seinem Schutz und Nutzen. Dann „befahl er den Tieren, die Pflanzen zu essen, und er befahl dem Menschen, desgleichen zu tun und von den Wassern zu trinken. Auch befahl er dem Menschen, das Fleisch der Tiere zu genießen." 6 In einer Bambutimythe heißt es, Gott habe die ersten Menschen mit Nahrung, Unterkunft, Unsterblichkeit und der Gabe der Verjüngung bei herannahendem Alter versehen. Sie lebten glücklich und es mangelte ihnen an nichts. In ähnlicher Weise sprechen die Tswana v o m Urzustand als einer Zeit des Glücks, des Friedens und der Seligkeit, da die Menschen weder aßen noch tranken noch starben. Bei den Fadschulu ist in der Darstellung dieses Glückszustandes von zwei ursprünglich vorhandenen Welten die Rede. Die Einwohner dieser beiden Welten pflegten einander durch Trommelklang zu Tanzvergnügungen einzuladen. Das Ende des Glückes kam, als die Hyäne das die beiden Welten verbindende Seil entzweibiß. Ahnliche Legenden machen unter den Völkern des oberen Weißen Nils die Runde. Gott sorgte auch für die ersten Menschen. Bei den Baluhja geschah dies in Gestalt des Regens, der ihnen Wasser gab, der Tiere, von denen sie die Huftiere als Nahrung auswählten, sowie in Gestalt verschiedener Fischarten. Den Legenden der Atscholi zufolge lehrte Gott die ersten Menschen die wesentlichen Dinge des Lebens wie Ackerbau, Kochen und Bierbrauen. Die Zande glauben, Gott habe dem Menschen die Kunst der Magie und die Kenntnis der Herstellung von Medizin verliehen. In ähnlicher Weise sind die Ewe überzeugt, daß Gott nach der Erschaffung der ersten Menschen magische Kräfte in die Welt sandte. 6
Lystad, S. 164.
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Die Hottentotten, Meru, Kamba, Zulu und viele andere berichten, daß die ersten Menschen die Gabe der Unsterblichkeit oder der Auferstehung nach dem Tode besessen hätten, obwohl in einigen Versionen diese Gabe aus verschiedenen Gründen die ersten Menschen gar nicht erst erreichte. Die Anschauung, daß die Haustiere, wie Rinder, Schafe, Ziegen und Hunde, als Gabe an die ersten Menschen von Gott stammen, findet sich u. a. bei den Nuer, Kamba und Pare. Gott sorgte jedoch für die ursprünglichen Menschen nicht nur in materieller Hinsicht. Er war selber den Menschen nahe, und bei einigen Völkern wird er als unter ihnen lebend oder zumindest als gelegentlicher Besucher geschildert. Ihr Verhältnis glich einer Familienbeziehung, in der Gott der Vater und die Menschen die Kinder waren. Er spendete seine Gegenwart und alle übrigen Dinge ergaben sich aus der Beziehung der Menschen zu ihm, solange er unter ihnen weilte. Manche Mythen schildern diese Urzeit als einen Zustand des Glücks und der Seligkeit, und einige fügen hinzu, daß die ersten Menschen weder Speise noch Trank benötigten und daß sich deshalb niemand dieser Existenznotwendigkeiten wegen abzuplacken brauchte. Andere Mythen weisen allerdings auch auf die Unwissenheit der Menschen in vielen Dingen hin. In der Darstellung der Baluhja z.B. wußte das erste Menschenpaar nicht, wie es sich beim Geschlechtsverkehr verhalten sollte und versuchte es ohne Erfolg mit der Achselhöhle. Nur durch Zufall entdeckten die Ureltern die rechte Methode, als nämlich die Frau auf den Kornspeicher stieg, um Korn zu holen, während der Mann unten stand und in die Höhe blickte. Die Kakwa und Tiv berichten, die ersten Menschen hätten keinerlei Kenntnis von der Landbestellung gehabt, bis Gott sie gelehrt habe, Feldfrüchte auf dem Ackerboden anzubauen. Dagegen glauben die Zulu, daß Gott den Menschen von Anbeginn den Feldbau befohlen habe mit den Worten: „Möge es Menschen geben, und mögen sie Nahrung anbauen und essen!" Gott lehrte die Menschen noch weitere Fertigkeiten. In der Tradition der Atscholi lehrte er sie Kochen, Bierbrauen und Jagen, während er nach Aussage der Bambuti die Menschen das Schmieden lehrte — ein unerläßliches Element im Jägerleben der Pygmäen. Aus diesen und ähnlichen Beispielen ersehen wir, daß Gott durch seine Gegenwart den Hauptbedürfnissen der Menschheit abhalf: Nahrung, Kenntnis grundlegender Fertigkeiten, Haustiere, Licht und Feuer, Waffen und Werkzeuge, Kinder, Ärzte und Heilmittel — all dies zusetzlich zur Unsterblichkeit, Verjüngung oder Auferstehung nach
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dem Tode. Auch wenn dem Menschen die höheren Geben der U n sterblichkeit und Auferstehung vorenthalten wurden oder verlorengingen, war er immer noch gewappnet zum Leben und Überleben und Gott ließ ihn nicht zugrunde gehen auf dem Antlitz der Erde. In dieser Familienbeziehung erlegte Gott dem Menschen bestimmte Regeln oder Gebote auf, und solange er diese befolgte, blieb sein Verhältnis zu Gott gesund und unerschüttert. Aber diese Beziehung zerbrach mit tragischen Folgen für den Menschen. Mit dieser unglückseligen Entwicklung wollen wir uns nun befassen. c) Die Trennung von Gott und Mensch Die Mythen, die vom Ende der glücklichen Beziehung zwischen Gott und dem Menschen und von ihrer Trennung handeln, werden bei den einzelnen Völkern in verschiedener Weise erzählt. Wir werden einige der darin zum Ausdruck kommenden Gedanken herausgreifen und dann aus ihnen sowie aus anderen Berichten unsere Schlüsse ziehen. In der mythologischen Tradition der Aschanti wohnte Gott ursprünglich im Himmel, war aber den Menschen nahe. Die Mutter dieser Menschen stieß ihn dauernd mit der Mörserkeule, wenn sie die herkömmliche Speise, Fufu genannt, stampfte. U m den Stößen zu entgehen, zog Gott höher. Da wies die Frau ihre Söhne an, alle Mörser zusammenzutragen und aufeinanderzutürmen, damit sie Gott folgen könnten. Als nur noch eine Mörserlänge fehlte, riet sie ihren Kindern, den untersten Mörser wegzunehmen, um die Lücke zu füllen. Gehorsam folgten sie ihrem Geheiß, brachten aber dadurch nur den ganzen Turm zum Einsturz, so daß viele von ihnen getötet wurden. Die Überlebenden gaben es auf, Gott „nach oben" zu folgen.'' In der Schilderung der Mende wohnte Gott unter den ersten Menschen. Sie pflegten ihn so oft um Dinge anzugehen, daß er nach einem anderen Ort umzog. Vor seiner Abreise traf er jedoch ein Abkommen mit ihnen, das ihre Beziehungen zu ihm und untereinander regelte. Er ging zu seiner Wohnstatt im Himmel, weswegen die Mende ihn Leve, d. h. „Empor" oder „Hoch" nennen.8 Bei einer Anzahl von Völkern, darunter den Bambuti, Ruanda, Rotse, Buschmännern, Dschagga, Pare und Elgeyo, ist von einem bestimmten Gebot die Rede, das Gott den Menschen zu befolgen aufgab. 7 8
Busia bei Forde, S. 192. Harris bei Smith, S. 278 f.
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Als die Menschen es brachen, trennten sich die Wege Gottes von denen der Menschen. Einer Bambutimythe zufolge war es den ersten Menschen verboten, vom Tahu-Baum zu essen, einer anderen Mythe zufolge war es ihnen untersagt, Gott anzuschauen. Den Ruanda hatte Gott verboten, dem von ihm gejagten Tod Unterschlupf zu gewähren. Die Rotse durften keine Tiere essen, da diese ursprünglich ihre Brüder hätten sein sollen. Für die Pare galt das Verbot, Eier zu essen, während bei den Dschagga eine bestimmte Jamssorte (ula) mit einem ähnlichen Speiseverbot belegt war. Ein verwandter Mythenkreis findet sich bei den Völkern der Region des oberen Weißen Nils, wie den Bari, Fadschulu, Lugbara, Madi und Topotha. Ihren Schöpfungsberichten zufolge waren Himmel und Erde ursprünglich durch ein Seil oder eine Brücke miteinander verbunden. Zeitweise wohnte Gott auch unter den Menschen auf der Erde. Dieses Seil wurde durch Zufall oder von der Hyäne zerrissen und so das Band zwischen Gott und den Menschen gelöst. Es gibt ein paar Völker, die zu berichten wissen, daß Gott sich wegen des Rauches, der von den Feuern der Menschen aufstieg, zurückzog. In der Darstellung der Jao wohnte Gott ursprünglich unter den Menschen, bis sie lernten, durch Reibung Feuer zu erzeugen. Da steckten sie das Grasland in Brand, und Gott zog sich in den Himmel zurück. Die Entrückung Gottes hat also verschiedene Ursachen. Sie geht entweder auf den Ungehorsam, die unheilvollen Belästigungen, deren die Menschen sich schuldig machten, oder auf das Zerreißen des Bandes zwischen Himmel und Erde zurück. Auf welche Weise auch immer die Entrückung sich vollzog, sie hatte für den Menschen nachteilige, ja tragische Folgen. Der Mensch war der Hauptverlierer, sein Urständ war zerrüttet. Nach Aussage der Bambuti verließ Gott die Menschen, es kam der Tod, und der Mensch verlor die Glückseligkeit, den Frieden und die freie Nahrungszufuhr. In der Darstellung der Ruanda frevelte eine Frau, indem sie unter Verachtung von Gottes Gesetz dem Tod ein Versteck anbot; daraufhin beschloß Gott, daß die Menschen den Tod bei sich behalten sollten, und seitdem ist er nicht von ihnen gewichen. Die Buschmänner sagen, die Menschen hätten die Gabe der Auferstehung verloren und dann sei der Tod unter ihnen erschienen. Nach Auffassung der Dschagga kamen Krankheiten und Altersschwäche über die Menschen, sie verloren die Gabe der Verjüngung, und der Tod setzte ein. Wo die Verbindung zwischen Himmel und Erde abgebrochen war, schwand auch die Seligkeit der „himmli-
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sehen Heimat" dahin, und die Menschen mußten sterben, um in die jenseitige Welt zurückkehren zu können, wie einige Mythen lehren. Die afrikanische Vorstellung vom glücklichen Leben scheint voraussetzen, daß Gott unter den Menschen weilt, sie kraft seiner Gegenwart mit Nahrung, Unterkunft, Frieden, Unsterblichkeit oder der Gabe der Auferstehung versieht und ihnen ein moralisches Gesetz gibt. Für viele Völker ist dieser Glückszustand nur im goldenen Zeitalter des Samani vorstellbar, während andere ihn sogar im mythologischen Bereich völlig aus den Augen verloren haben. Es ist bemerkenswert, daß sich unter den vielen Mythen, die vom ersten Menschen und dem Verlust seines Urstandes handeln, meines Wissens nicht ein einziger befindet, der eine Lösung des Problems oder eine Wiedergewinnung des Verlorenen auch nur andeutungsweise versuchte. Der Mensch akzeptierte die Entrückung Gottes, und bei einigen Völkern wurde Gott in der Ferne des Samani belassen; nur in Krisen- und Notzeiten tritt er in die Sasaperiode ein. In wechselndem Maße versucht sich die Mehrheit afrikanischer Völker, wenn auch vielleicht nicht alle, in kultischen Handlungen, wie sie in Kapitel 7 beschrieben wurden, Gott zu nähern. W i r fanden jedoch keine Anhaltspunkte dafür, daß der Mensch Gott um seiner selbst willen sucht oder daß der menschliche Geist nach Gott als dem reinen und absoluten Ausdruck des Seins „dürstet". Ist man vielleicht berechtigt zu sagen, daß kultische Handlungen in Afrika im Grunde vom Nützlichkeitsprinzip geprägt sind und in erster Linie auf das verlorene Paradies, und nicht so sehr auf Gott selbst hinzielen? Da die Menschen in diesen Handlungen nach etwas Vergangenem suchen, das in der fernen Samaniperiode liegt, ergibt sich, daß es keine Mythen geben kann, die von einer künftigen Wiedergewinnung des verlorenen Paradieses oder von der Aufhebung des gegenwärtigen Zustandes handeln. Solange ihr Zeitbegriff zweidimensional ist, d. h. sich in Sasa und Samani erschöpft, können sich die afrikanischen Völker keiner glorreichen „Hoffnung" hingeben, der entgegenzuleben der Menschheit bestimmt wäre. Von der Sasaperiode aus betrachtet, zieht sich das verlorene Paradies immer weiter ins Samani zurück, bis es sogar aus dem mythologischen Bewußtsein entschwindet. Dies ist in der Tat bei vielen Völkern eingetreten, denen die bildhafte Vorstellung vom Urzustände des Menschen verlorengegangen ist. Wenn der einzelne oder die Gemeinschaft Nahrung und Regen in genügender Menge haben, dazu Kindersegen, Gesundheit und Wohlstand, sind sie irgend-
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Die Schöpfung und der Urzustand des Menschen
wie dem. ursprünglichen Zustand des Menschen nähergekommen. In solchen Zeiten wenden sie sich im allgemeinen nicht so häufig in zweckgebundenen Kulthandlungen an Gott, wie wenn diese Dinge in Frage gestellt sind. Doch hinter solchen flüchtigen Einblicken in die urständliche Seligkeit des Menschen, ob diese nun in ihrer reichen Fülle oder nur schemenhaft begriffen wird, liegt in quälender Unerreichbarkeit die Gabe der Auferstehung, hegt der Verlust der menschlichen Unsterblichkeit, lauert das Ungeheuer: der Tod. Hier müssen die afrikanische Religion und Weltanschauung sich geschlagen geben: sie haben keine Lösung gebracht. Dies ist und bleibt die bedenklichste Sackgasse im sonst so fruchtbaren Denken und religiösen Empfinden afrikanischer Völker. In diesem Punkt zeigen sich unsere traditionellen Religionen vielleicht von der schwächsten und dürftigsten Seite, wenn man sie mit Weltreligionen wie dem Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus oder Hinduismus vergleicht. Die traditionellen Religionen bleiben im Stammes- oder Nationalbewußtsein befangen, da sie keinen Ausweg, keine wie auch immer beschaffene Erlösungsbotschaft für die gesamte Menschheit zu bieten haben. Ist es also den anderen Religionen gerade in dieser Hinsicht gelungen, universalen Anklang und Anhänger in aller Welt zu finden? Werden Religionen lediglich dann zu Weltreligionen, wenn sie über einen Zustand hinauswachsen, in dem man nur ins Samani mit all seinen mythologischen Schätzen schaut, um den Durchbruch in die Zukunft mit all ihren vielleicht ebenso mythologischen Erlösungsversprechungen zu wagen? Zu solcher „Erlösung" gehören die Rettung vor dem Ungeheuer Tod, die Wiedergewinnung der Unsterblichkeit und die Rückgabe der Auferstehung. Auf diesem Gebiet haben die Weltreligionen Aussicht, die traditionelle Religion und Weltanschauung Afrikas auszustechen, nicht so sehr durch Zwang als dadurch, daß sie das zweidimensionale Leben und Denken der afrikanischen Völker durch dieses neue Element bereichern. Nur eine dreidimensionale Religion kann darauf hoffen, im heutigen Afrika, das im wachsenden Maße eine dritte Zeitdimension entdeckt und sich dieser anpaßt, zu überdauern. Es liegt die Vermutung nahe, daß die Völker des Mittleren Ostens und Indiens eben darum befähigt waren, nicht nur Erlösungs-, sondern auch Weltreligionen zu entwickeln, weil eine ziemlich klar umrissene Zukunftsdimension in ihrem Zeitbewußtsein verankert war. Ohne den Begriff einer fernen Zukunft wären diese Religionen wie die afrikanischen nur Stammes- oder Nationalreligionen geblieben.
Die Stämme, Nationen oder Völker Afrikas
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ETHNISCHE GRUPPEN, VERWANDTSCHAFTSBEZIEHUNGEN U N D D E R EINZELMENSCH Alle Hauptrassen der Erde sind in Afrika vertreten, und die Mitglieder jeder einzelnen Gruppe können sich mit Recht darauf berufen, Afrikaner zu sein. Die Ethnologen und Anthropologen haben die Bewohner Afrikas in großen Zügen folgendermaßen eingeteilt: Die Khoisaniden — Buschmänner und Hottentotten — die im allgemeinen von kleinem Wuchs und von leichter, gelblicher Hauttönung sind, finden sich zerstreut in Gebieten des südlichen und östlichen Afrikas. Die europiden Völker sind von mittlerem bis hohem Wuchs, leichter, bräunlicher bis rosiger Hauttönung und wohnen im äußersten Süden sowie im nordöstlichen und nördlichen Teil des Kontinents. Im südlichen Afrika sind sie „Neuzuwanderer"; sie haben dort die eingesessenen Völker aus den besten Landstrichen vertrieben oder sie abgeschlachtet. Die mongolide Gruppe bewohnte früher die Insel Madagaskar, aber im Laufe der Jahrhunderte hat sie sich mit den negriden Völkern des Festlandes stark vermischt. Die heutigen Einwohner Madagaskars sind meist kleinwüchsig und dunkelhaarig und ihre Hautfarbe durchläuft die ganze Skala von schwarz über braun und gelb bis zu rosig. Die negriden Völker finden sich in fast allen Teilen des Kontinents, den sie in früheren Jahrtausenden bis nach Ägypten und Marokko im Norden hin besiedelten. Sie sind von mittlerer bis sehr hoher Statur, und ihre Hautfarbe ist schwarz bis dunkelbraun oder braun. Die Bambutiden (Pygmäen) wohnen im Kongogebiet, sind von sehr kleiner Gestalt und weisen eine leichtgetönte, braungelbliche Hautfarbe auf. Natürlich hat es sowohl biologisch wie kulturell immer ethnische Vermischung gegeben, und man sollte die Rassenunterschiede, die vielleicht nur akademischen Wert haben, nicht überbetonen. Leider gibt es gewisse Gebiete insbesondere im südlichen Afrika, wo die Rassenunterschiede über alle Maßen emporgesteigert worden sind, um einen Rassismus zu untermauern, welcher auf die soziale und wirtschaftliche Unterdrückung der „nichtweißen" Völker hinzielt, die in ihrer Mehrheit die eingesessenen Bewohner des Landes sind, von ihren Menschenrechten ganz zu schweigen. Auch in anderen Teilen Afrikas sind in jüngerer Zeit Konflikte entstanden, die auf ethnische Unterschiede oder Stammesinteressen zurückzuführen sind.
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Ethnische Gruppen, Verwandschaftsbeziehungen, Einzelmensch a) Die Stämme, Nationen oder Völker Afrikas
Die meisten der eingesessenen Völker Afrikas leben seit Hunderten von Jahren in Einheiten oder Gruppen, die gemeinhin als Stämme bezeichnet werden. Es ist schwer zu sagen, w o ein „Stamm" aufhört, denn die Menschenzahl, die den einzelnen Stamm ausmacht, schwankt ganz beträchtlich. Die Joruba Nigerias werden auf zwölf Millionen geschätzt, während die Hadzapi in Tansania weniger als tausend Seelen zählen und manche „Stämme" sogar im Begriff sind, völlig auszusterben. Wie viele „Stämme" es in Afrika genau gibt, scheint kein Mensch zu wissen. Eine genaue Zählung würde wahrscheinlich zwischen acht und zwölfhundert Stämme ergeben, und das Endergebnis hinge zum Teil davon ab, ob man Trennungslinien zwischen nahe verwandten Stämmen zöge und wie diese verliefen. In G. P. Murdocks Buch Africa (1959) findet man eine ziemlich umfassende Liste dieser Stämme, dazu eine Zusammenfassung ihrer kulturellen Eigenarten. In jüngerer Zeit hat jedoch der Gebrauch des Wortes „Stamm" unangenehme Nebenbedeutungen angenommen. Aus diesem Grunde und angesichts der Tatsache, daß größere Stammesgruppen, die eine halbe Million oder mehr Mitglieder zählen, Nationen gleichkommen, habe ich den Gebrauch des Wortes „Stamm" in diesem Buch und anderen Veröffentlichungen tunlichst vermieden und es vorgezogen, von einem „ V o l k " oder „Völkern" zu reden. Was sind also die Hauptunterscheidungsmerkmale der verschiedenen afrikanischen Völker? In erster Linie hat jedes Volk seine eigene, unverkennbare Sprache und nicht einfach einen Dialekt. Diese Sprachen sind natürlich miteinander verwandt, und die Gelehrten haben sie in Familien oder Klassen eingeteilt. Die Hauptsprachgruppen sind die Bantusprachen, die in Ost-, Zentral- und Südafrika gesprochen werden und in westlicher Richtung bis hin nach Kamerun reichen, die hamitosemitischen Sprachen in Südost- und Nordafrika, die Khoisansprachen im Süden, das MalaiischPolynesische auf der Insel Madagaskar, das Nigritische im westlichen Afrika und die Sudansprachen, deren Verbreitungsgebiet der Sudan und die Regionen weiter westwärts sind. Dazu kommen die europäischen Sprachen: Englisch, Französisch, Portugiesisch, Spanisch und Afrikaans, die mit örtlichen Varianten meist in den früheren Kolonialgebieten gesprochen werden. Französisch und Englisch sind die wichtigsten internationalen Sprachen. Sie haben hier eine Bleibe gefunden, und wir täten gut daran, sie schlicht und einfach als „afrikanische" Sprachen zu
Die Stämme, Nationen oder Völker Afrikas
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betrachten, da sie das größte uns von den Kolonialmächten hinterlassene Vermächtnis sind, ein Erbe, das uns niemand rauben kann. Das Arabische ist die am weitesten verbreitete Sprache in Afrika, und w o man es vorfindet, findet man auch den Islam. Gelegentlich wird versucht, einheimische Sprachen wie z.B. Kisuaheli und Haussa besonders zu fördern, aber es bleibt abzuwarten, ob diese sich auch nur auf nationaler Ebene völlig durchsetzen können, vom Wettbewerb auf internationaler Ebene gar nicht zu reden. Man hat den Eindruck, daß die Mehrzahl der jungen Afrikaner ein stärkeres Interesse daran hat, eine euroafrikanische Sprache zu erlernen und zu meistern, als ihre Spannkraft auf National- oder Stammessprachen zu verwenden. Welche Empfindungen und Argumente man auch privat dem Sprachproblem in Afrika gegenüber vorbringen mag, man muß den Tatsachen und der Realität ins Auge sehen. Einige der einheimischen Sprachen sind im Absterben begriffen, zum Teil vielleicht, weil auch die Völker, die sie sprechen, sich in Auflösung befinden, hauptsächlich aber auf Grund der modernen Erziehung und der Landflucht. Es gibt so viele afrikanische Sprachen wie es Völker gibt. Man möchte schier sagen, daß der Fluch von Babel mächtig auf unserem Kontinent eingeschlagen hat. Diese große Anzahl von Sprachen steckt oft hinter den Schwierigkeiten, die das nationale Selbstverständnis in modernen afrikanischen Staaten belasten. Aber selbst wenn man in zukünftigen Zeiten eine hohe Sprachensterblichkeit voraussetzt, wird Afrika noch über viele Generationen hinaus genügend Sprachen für alle Sprachbeflissenen der Welt zu bieten haben. Ein weiterer Faktor, der zur Bestimmung oder Beschreibung der einzelnen Völker dient, ist die geographische Lage. Jede Gesellschaft hat zumindest dem Herkommen nach ihren eigenen geographischen Bereich, ihren Grund und Boden und ihr Land. Die Größe des von ihr bewohnten Landstriches ist unterschiedlich, so daß einige Völker weitläufige Gebiete bewohnen, während andere, die vielleicht zahlenmäßig stärker sind, sich mit geringerem Grundbesitz begnügen müssen. Einige Völker, die vorwiegend Hirten und nicht Ackerbauer sind, wandern natürlich auf ihrer nomadischen Suche nach Wasser und Weidegründen über ausgedehnte Landstriche. W o keine natürlichen Grenzen wie Flüsse oder Gebirgszüge vorhanden waren, ergaben sich an den Grenzen zwischen den verschiedenen Völkerschaften oft Spannungen, die von Zeit zu Zeit in Kämpfe ausarteten, wie es auch in der Geschichte anderer Nationen der Welt der Fall ist. Als Europa den afrikanischen Kontinent
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Ethnische Gruppen., Verwandschaftsbeziehungen, Einzelmensch
auf der Kongokonferenz in Berlin 1885 aufteilte, wurden viele afrikanische Völker durch die neue, oft willkürliche Grenzziehung der K o lonialmächte gespalten. Diese führte zu tragischen Situationen, kam es doch durchaus vor, daß ein Teil einer und derselben Stammesgruppe diesem, und ein anderer jenem Kolonialsystem zugeschlagen wurde. Die gegenwärtige Teilung Berlins ist ein ironisches, wenn nicht gar tragisches Gegenstück en miniature zur vielfachen Teilung, die einst von dieser Stadt aus Afrika aufgezwungen wurde. Anstatt den unmöglichen und äußerst explosiven Versuch einer Revision und Rückgängigmachung der kolonialen Grenzen zu unternehmen, sind die modernen Staaten Afrikas übereingekommen, diese beizubehalten und zu respektieren, mag ihr Fortbestehen auch schmerzlich sein. Ein Fortschritt könnte nur erzielt werden, wenn die Staaten sich politisch zusammenschlössen und dadurch die koloniale Zerstückelung überwänden. Weiteres Merkmal eines Volkes ist seine gemeinsame Kultur. Die Mitglieder eines Volkes haben Anteil an der gemeinsamen Geschichte, die zumindest im mythologischen Denken häufig bis zum ersten von Gott erschaffenen Menschen oder zu den nationalen Führern zurückreicht, welche der Struktur der betreffenden Gesellschaft ihr Gepräge gegeben haben. Die Namen der Ureltern und anderer nationaler Heroen sind in manchen Gesellschaften noch unvergessen. So sagen z.B. die Kikuju, ihre Ureltern seien Kikuju und Mumbi gewesen, die der Vukusu waren Umngoma und Malava, die der Bambuti Mupe und seine Frau Uti, während man bei den Lugbara von Gboroghoro und Meme und bei den Herero von Mukuru und Kamangarunga spricht. Die Schilluk erwähnen Njikang als den großen nationalen Heros; die Ganda haben Kintu, die Sonjo Khambageu und die Tiv Tukuruku, der bei ihnen gleichzeitig als der erste Mensch gilt. Diese Gestalten tragen dazu bei, ein Bewußtsein gemeinsamer Abstammung zu schaffen sowie Einigkeit und Zusammengehörigkeitsgefühl zu fördern. Sie verkörpern das Nationalbewußtsein eines Volkes. Die gemeinsame Kultur kommt auch in Form von allgemeingültigen Sitten und Gebräuchen, ethischen Anschauungen und Normen des Sozialverhaltens sowie in der Ding weit der Musikinstrumente, Haushaltsgegenstände und Speisen und schließlich in der Vorliebe für bestimmte Haustiere zum Ausdruck. Man findet vielfach kulturelle Ähnlichkeiten, die völkische und sprachliche Unterschiede überbrücken, während es andererseits Völker gibt, die sich in ihren Kulturmerkmalen stark voneinander abheben, obgleich sie seit Generationen nebeneinander existieren.
Die Stämme, Nationen oder Völker Afrikas
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Jedes Volk hat seine eigene, klar unterscheidbare soziale und politische Organisationsform. Die Familie, die Altersklassen, die gesellschaftlich besonders herausragenden Einzelpersonen, die Ehesitten, überlieferten Regierungsformen, politischen Führergestalten und dergleichen sind Kriterien, an Hand derer sich sowohl Ähnlichkeiten wie Unterschiede in der Gesellschaftsform ermitteln lassen. Einige Völker haben B e zirkshäuptlinge oder -Vorsteher, die über Teile des „Stammes" herrschen und deren A m t erblich sein kann. Andere haben traditionelle Könige, die oft absolute Macht ausüben und mit Hilfe von Ratsgremien und Häuptlingen über die ganze Nation herrschen. Es kommt auch vor, daß die politische Autorität an Altersklassen delegiert wird, z . B . bei den Galla, oder den Ältesten beiderlei Geschlechts zufällt, wie bei den Kamba und Kikuju. Religiöse Glaubensvorstellungen und -tätigkeiten sind schwer zu definieren, da die Religion bei den afrikanischen Völkern alle Lebensbereiche durchdringt. Bisherige Untersuchungen über Glaubensvorstellungen und -praktiken in Afrika haben erwiesen, daß es auf diesem Gebiet wahrscheinlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt, wie wir in diesem Buch denn auch darzulegen versuchen. Jedes Volk hat seine spezifische Religionsform, und der einzelne kann nicht von einer Stammesreligion zur anderen bekehrt werden. Er muß in einer bestimmten Gesellschaft geboren sein, um gänzlich am religiösen Leben des Volkes teilnehmen zu können. W i e die Dinge der materiellen Kultur, so werden auch religiöse Ideen und Tätigkeiten ausgetauscht, sobald Völker miteinander in Berührung kommen, mag es auch keine organisierten missionarischen Bestrebungen geben, durch welche eine Gruppe die andere zu bekehren sucht. Dieser Ideenaustausch erfolgt spontan und läßt sich wahrscheinlich am ehesten im praktischen Bereich feststellen, so beim Regenmachen, bei der Bekämpfung von Magie und Hexerei und beim Versuch, mit Unglücksfällen fertigzuwerden. In solchen Fällen ist es durchaus möglich, daß man Fachkenntnisse von Nachbarvölkern zunächst entlehnt und sich dann völlig aneignet. Grundvorstellungen wie den Gottes- und Geisterglauben, den Glauben an das Fortleben des Menschen nach dem Tode, an Magie und Hexerei scheint man auch dann beibehalten zu haben, wenn ein Volk sich im Laufe der Jahrhunderte aufspaltete oder in verschiedene Zweige auflöste, wobei dann die neuen Gruppen selbständige „Stämme" bildeten, die wir jetzt im Rahmen der volks- und sprachmäßigen Gruppierung afrikanischer Völker als solche erkennen können. Daraus erklärt sich 9
Mbiti, Afrikanische Religion
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Ethnische Gruppen, Verwandschaftsbeziehungen, Einzelmensch
wahrscheinlich die Tatsache, daß wir in Afrika heute über weite Strecken die gleichen Grundvorstellungen, antreffen. Aus demselben Grunde ähneln sich bei vielen Völkern die Namen für Gott und die Bezeichnungen für den Medizinmann, die Magie und die Geister, wie denn auch die Wörter für Mensch, Haus, Regen und dergleichen, denen elementare Bedeutung zukommt, verwandte Züge aufweisen. Damit haben wir die Hauptcharakteristika eines afrikanischen „Stammes" oder Volkes, einer afrikanischen Gesellschaft oder Nation aufgezeigt. Der einzelne muß ein gebürtiges Mitglied dieser Gemeinschaft sein und kann seine Stammeszugehörigkeit nicht ändern. Die rituelle Aufnahme in eine andere Stammesgemeinschaft erfolgt nur in seltenen Fällen, was sowohl für Afrikaner als auch für Nichtafrikaner gilt. Das Stammesgefühl ist auch in modernen afrikanischen Staatswesen noch eine mächtig wirkende Kraft, wenngleich es wie die Temperatur je nach den obwaltenden Umständen bisweilen schwankt. h) Verwandtschaftsbeziehungen
Ein tiefempfundenes Verwandtschaftsgefühl und alles, was damit zusammenhängt, ist von jeher eine der stärksten Kräfte im traditionellen Leben Afrikas gewesen. Die Verwandtschaftsbeziehungen beruhen entweder auf den Banden des Blutes oder auf jenen, die durch Verlobung und Heirat zustande kommen. Das Verwandtschaftsverhältnis wirkt bestimmend auf die mitmenschlichen Beziehungen in einer gegebenen Gemeinschaft ein; es ist maßgebend für Ehesitten und -Vorschriften und regelt das Verhalten des einzelnen gegenüber seinem Mitmenschen. Man kann sogar sagen, daß das Verwandtschaftsgefühl dem gesamten Leben des „Stammes" seinen Zusammenhalt gibt und dabei derart weit gefaßt wird, daß es durch das „totemistische" System auch Tiere, Pflanzen und unbelebte Gegenstände mit einbegreift. Nahezu alle Begriffe auf dem weiten Feld zwischenmenschlicher Beziehungen können v o m Verwandtschaftssystem her verstanden und gedeutet werden. Hier liegt also ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des Verhaltens, Denkens und der Lebensführung des einzelnen innerhalb der Gesellschaft, der er angehört. Die Mehrzahl der anthropologischen und soziologischen Studien, die sich mit den afrikanischen Völkern befassen, behandeln, wenn auch nicht erschöpfend, gewisse Aspekte der Verwandtschaftssysteme einzelner Völker. Die beste Abhandlung ist das von A. R . Radcliffe-Brown
Verwandschaftsbeziehungen
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und D. Forde herausgegebene Buch African Systems of Kinship and Marriage. Das Thema ist schwierig, und eine eingehende Behandlung würde den Rahmen der vorhegenden Arbeit sprengen. Wir begnügen uns deshalb damit, seine große Bedeutung hervorzuheben und einige Beobachtungen zu vermelden. Das Verwandtschaftssystem ist wie ein großangelegtes Netz, das sich horizontal in jeder Richtung erstreckt und mithin jedes Mitglied einer gegebenen Lokalgruppe umfaßt. Dies bedeutet, daß jeder einzelne als Bruder oder Schwester, Vater oder Mutter, Großmutter oder Großvater, Vetter, Schwager, Onkel oder Tante oder durch eine andere verwandtschaftliche Beziehung mit jedem anderen verbunden ist. Da nun-alle Mitglieder der Gruppe untereinander verwandt sind, gibt es zahlreiche Verwandtschaftsbezeichnungen, die die genaue Art der verwandtschaftlichen Beziehung zwischen zwei Individuen zum Ausdruck bringt. Wenn sich in einem Dorf zwei Unbekannte begegnen, ist es eine ihrer ersten Obliegenheiten herauszufinden, in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis sie zueinander stehen. Sobald sie ausgetiftelt haben, welche Rolle das Verwandtschaftssystem ihnen zuteilt, richten sie ihr Verhalten zueinander den von der Gesellschaft vorgeschriebenen Umgangsnormen entsprechend ein. Stellt sich z.B. heraus, daß sie „Brüder" sind, so betrachten sie sich als ebenbürtig bzw. als älteren oder jüngeren Bruder. Sind sie aber „Onkel" und „Neffe", so wird der „ N e f f e " wahrscheinlich dem „Onkel" mit größtem Respekt begegnen, falls die in der betreffenden Gesellschaft geltenden Normen es so verlangen. Es ist durchaus möglich, daß die beiden sich von diesem Augenblick an der entsprechenden Verwandtschaftsbezeichnung bedienen, indem sie sich z.B. als „Bruder", „ N e f f e " , „Onkel" oder „Mutter" anreden, wobei die zugehörigen Eigennamen nicht unbedingt erforderlich sind. Da dem so ist, hat ein Mensch buchstäblich Hunderte von „Vätern", „Müttern", „Onkeln", „Frauen" oder Hunderte von „Söhnen und Töchtern". Das Verwandtschaftssystem hat gleichzeitig auch eine vertikale Dimension, welche die Abgeschiedenen und die Ungeborenen umfaßt. Bei vielen afrikanischen Völkern gehört es zur traditionellen Erziehung der Kinder, daß sie ihren Stammbaum auswendig lernen. Die Genealogie gibt ein Gefühl der Tiefe und des historischen Dazugehörens, des Verwurzeltseins und damit der heiligen Verpflichtung, die genealogische Linie weiter fortzuführen. Durch ihre Herkunft sind die in der Sasaperiode lebenden Menschen fest mit jenen verbunden, die bereits ins Samani eingegangen sind. Die Genealogien stellen ein geheiligtes Mittel 9'
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Ethnische Gruppen, Verwandschaftsbeziehungen, Einzelmensch
dar, sich oder sein Volk zum Samani hin zu orientieren, w o ein jedes Volk seine Wurzeln hat. Mit Hilfe der Genealogien werden alle im Samani und in der Sasaperiode Existierenden im endlosen Rhythmus des Menschenlebens zu „Zeitgenossen". Bei einigen Völkern reicht der Stammbaum bis zum mythischen Stammvater oder zu anderen Nationalheroen zurück, was den Heutigen ein Gefühl stolzer Genugtuung gibt. Genealogische Bande dienen auch sozialen Zwecken, insbesondere wenn es sich darum handelt, Beziehungen zwischen einzelnen Menschen anzuknüpfen. Man kann durch das Aufsagen seiner genealogischen Linie feststellen, in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis man sich zu anderen Personen einer bestimmten Gruppe befindet. Auch die Organisationsform, die sich bei verschiedenen Völkern entwickelt hat und der entsprechend die Gesamtgesellschaft in Klane, Quartiere, Familien, Haushalte und schließlich Individuen zerfällt, beruht auf genealogischer Grundlage. Die größte und wichtigste Gruppenform innerhalb des Stammesverbandes ist der Klan. Einige Völker haben bis zu hundert Klane. Die Klansysteme in Afrika sind jedoch keineswegs einheitlich ausgebildet. Es gibt patriarchalische Klane, in denen die Abstammung durch die väterliche Linie zurückverfolgt wird, aber man findet insbesondere in Teilen des mittleren, westlichen und nördlichen Afrikas auch matriarchalische Klane mit matrilinealer Abstammung. Die Klane sind gewöhnlich durch Totemismus gekennzeichnet, d.h. jeder Klan hat ein Tier oder den Teil eines Tiers, eine Pflanze, einen Stein oder ein Mineral als Totem. Die Mitglieder eines Klans behandeln ihr Totem mit größter Sorgfalt. Wenn es ein Tier ist, dürfen sie es z.B. weder töten noch essen. Das Totem ist sichtbares Symbol der Einheit, der Verwandtschaft und des Zusammengehörigkeitsgefühls. Oft ist man imstande, die Genealogie bis zum Urvater und Begründer des Klanes zurückzuverfolgen, es sei denn, man hat ihn vergessen oder die genealogische Kette ist durch Gedächtnisschwund an irgendeiner Stelle unterbrochen worden. Einige der Klane wurden von Männern, andere von Frauen begründet, während wieder andere sich als Reaktion auf bestimmte historische Gegebenheiten entwickelt zu haben scheinen. Ein weiteres Merkmal, das den meisten Klanen eignet, ist das Verbot der Heirat innerhalb der Gruppe. Man spricht in diesem Falle von einem exogamen Klan. Bei einigen Völkern ist jedoch die Ehe innerhalb des Klans erlaubt; die Anthropologen und Soziologen bezeichnen solche Klane als endogam. Die Zahl der Klanmitglieder schwankt beträchtlich.
Die Familie, Haushalt und Einzelperson
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Während manche Klane mehrere tausend Menschen zählen, haben andere nur um die hundert Angehörige. Der einzelne muß in den Klan hineingeboren werden und kann seine Klanzugehörigkeit nicht ändern, wenngleich bei einigen Völkern die Heirat zu einem Wechsel oder zur Abschwächung der ursprünglichen Klanzugehörigkeit des einzelnen führen kann. Bei verschiedenen Völkern haben die Klane ihren eigenen, zusammenhängenden Landbesitz, während sie bei anderen über das ganze Stammesgebiet verstreut leben. Bei einigen Völkern ist es möglich, die Klanzugehörigkeit eines Menschen an Hand seines Namens oder Herkunftsortes festzustellen, während dies bei anderen nur möglich ist, wenn der Betreffende selber über seinen Klan Auskunft gibt. Die Funktion des Klansystems besteht nicht nur darin, dem Verwandtschaftsgefühl eine örtlich begrenzte Basis zu geben, sondern auch, eine engere menschliche Zusammenarbeit besonders in Notzeiten herbeizuführen. Bei inneren Auseinandersetzungen schlössen sich früher die Klanangehörigen zusammen, um ihre angriffslustigen Nachbarn abzuwehren. Gerät ein Mensch in Schwierigkeiten, so wendet er sich gewöhnlich an seine Klangenossen und an andere Verwandte um Hilfe. Dies ist z.B. der Fall, wenn er eine Geldbuße zu entrichten hat, die etwa durch die fahrlässige Verwundung oder Tötung eines anderen Menschen oder durch die Beschädigung von Sachgütern fällig geworden ist, wenn er Tauschgüter für den Erwerb einer Frau zusammenbringen muß oder — wie es heutzutage vorkommt — das Studium junger Klanangehöriger in höheren Lehranstalten des In- oder Auslandes finanziell unterstützen will. Bei einigen Völkern wird der Klan auf der Zwischenstufe zur Familie hin noch weiter in Unterklane oder „Quartiere" unterteilt. Diese dienen dazu, Klanangelegenheiten, mit denen der Klan sich nicht in seiner Gesamtheit zu befassen braucht, auf lokaler Ebene zu erledigen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit kann im Laufe der Zeit aus einer solchen Unterabteilung ein neuer, unabhängiger Klan erwachsen. Das „Quartier" besteht aus Mitgliedern, die auf einen gemeinsamen Vorfahren vor etwa sechs bis acht Generationen zurückgehen. c) Die Familie, Haushalt und
Einzelperson
Für die afrikanischen Völker beinhaltet das Wort Familie eine viel größere Mitgliedschaft als in Europa oder Nordamerika. In der traditionellen Gesellschaft umfaßt die Familie Kinder, Eltern, Großeltern,
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Ethnische Gruppen, Verwandschaftsbeziehungen, Einzelmensch
Onkel, Tanten, Brüder und Schwestern, die vielleicht schon eigene Kinder haben, und andere unmittelbare Verwandte. In manchen Gegenden existiert eine Einrichtung, welche die Anthropologen Großfamilie nennen. Darunter versteht man allgemein, daß zwei oder mehr Brüder (in einer patrilokalen Gesellschaft) oder Schwestern (in einer matrilokalen Gesellschaft) in einem Gehöft oder jedenfalls nahe beieinander ihre Familie gründen. Diese vereinigten Haushalte sind wie eine einzige, große Familie. In beiden Fällen kann die Anzahl der Familienmitglieder von zehn bis hundert reichen, wenn etwa einem Mann mehrere Frauen gehören. Bei einigen Völkern herrscht der Brauch, die Kinder für einige Monate oder Jahre zu Verwandten zu schicken, bei denen sie dann leben. Solche Kinder zählen als Mitglieder der Familie, bei der sie sich gerade befinden. Die Familie umfaßt auch die verstorbenen Verwandten, die wir als Totenseelen bezeichnet haben. Diese sind in der Erinnerung der hinterbliebenen Familienangehörigen lebendig, und man glaubt, daß sie an den Angelegenheiten der Familie, zu der sie in ihrem physischen Leben gehörten, weiterhin Anteil nehmen. Die Hinterbliebenen dürfen die Verstorbenen nicht vergessen, da man sonst fürchtet, daß ihnen oder ihren Verwandten Unheil drohe. Je älter ein Mensch vor seinem Tode war, desto ausgedehnter war auch seine Sasaperiode und desto länger gedenkt man seiner und betrachtet ihn als integrierenden Bestandteil der Familie. Die Menschen bieten den Totenseelen Speise- und Trankopfer, weil sie immer noch der Familie angehören. Die so dargebrachten Speisen und Getränke sind Zeichen der Gemeinsamkeit, des Einsseins und Gedenkens, der Hochachtung und Gastfreundschaft, welche man jenen erweist, die die Wurzeln oder Säulen der Familie sind. Die Totenseelen geben der ganzen Familie Rückhalt und mystische Bindekraft. Man sagt von den verstorbenen Familienangehörigen, daß sie zu Besuch kämen und den Lebenden erschienen. Die Totenseelen, die so erscheinen, erkundigen sich nach den Familienangelegenheiten, warnen vor Gefahren, tadeln die Lebenden, die es versäumt haben, bestimmte Anweisungen zu befolgen, oder verlangen Speise — gewöhnlich Fleisch — und Trank. Wenn die Verstorbenen gekränkt worden sind, so heißt es oft, daß sie Rache nehmen oder Sühne heischen werden. Der afrikanische Familienbegriff umfaßt auch die ungeborenen Mitglieder, die sich noch in den Lenden der Lebenden befinden. Sie sind die Knospen der Hoffnung und Erwartung, und jede Familie versucht
Die Familie, Haushalt und Einzelperson
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sicherzustellen, daß ihre eigene Existenz nicht ausgelöscht wird. Sie trifft Vorsorge für ihre Fortdauer und bereitet sich auf das Kommen der Ungeborenen vor. Aus diesem Grunde sind afrikanische Eltern stets darauf erpicht, daß ihre Kinder Ehepartner finden. Geschieht dies nicht, so wird dadurch praktisch der Tod der Ungeborenen und eine Minderung der Familie als Ganzes bewirkt. Der Haushalt ist die kleinste Familieneinheit, die aus den Kindern, Eltern und bisweilen den Großeltern besteht. Man könnte ihn als „Abendfamilie" bezeichnet, denn es ist gewöhnlich abends, daß der Haushalt wirklich er selbst ist. Abends sind die Eltern mit ihren eigenen Kindern im selben Haus beisammen. Sie sprechen über private Dinge, die ihren Haushalt betreffen, und die Eltern unterweisen ihre Kinder in den Obliegenheiten des häuslichen Bereichs. Der Haushalt in Afrika ist das Gegenstück zur „Familie" in der europäischen oder amerikanischen Gesellschaft. Wenn ein Mann zwei oder mehr Frauen hat, untersteht ihm auch eine entsprechende Anzahl von Haushalten, da sich jede Frau gewöhnlich innerhalb des Gehöfts, wo auch die anderen Frauen mit ihren Haushalten untergebracht sind, ihr eigenes Haus bauen läßt. Das Gebiet oder Gehöft, das ein Haushalt oder auch gemeinsame Haushalte innehaben, ist im afrikanischen Wortsinne ein Dorf. Es umschließt Häuser, Gärten oder Felder, falls diese sich in der Nähe befinden, den Viehstall, die Kornspeicher, den Hof, die Dreschtenne, bei einigen Völkern die draußen gelegene Feuerstelle der Männer, den Kinderspielplatz und gegebenenfalls auch die Kultschreine der Familie. Bei einigen Völkern ist das Dorf umzäunt, wodurch es als Einzelhaushalt oder Familieneinheit gekennzeichnet ist. In der Regel haben afrikanische Häuser Rundform und sind um den Dorfplatz herum angelegt, so daß mehrere Häuser eines Gehöfts einen Kreis oder Halbkreis bilden. Die Häuser sind meist dem Mittelpunkt des Dorfbereichs und dem Haupteingang des Dorfes zugekehrt. Es ist schwer, mit Bestimmtheit zu sagen, was die Rundform der Häuser und Siedlungen bedeutet. Symbolisiert sie den Rhythmus der Natur, das Weltall in Miniatur? Oder bedeutet der Kreis Sicherheit, als sei das Dorf ein großes Gefäß, in das Menschen, Vieh und Ernte eingehen und sich vor äußeren Gefahren bergen können? Ich weiß es nicht, und man kann über die symbolische Bedeutung der afrikanischen Dorfform, die im gesamten tropischen und südlichen Afrika solch bemerkenswerte Ähnlichkeit aufweist, nur Spekulationen anstellen.
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Ethnische Gruppen, Verwandschaftsbeziehungen, Einzelmensch
Bisher haben wir vom Leben und der Existenz der Gemeinschaft gesprochen. Was ist nun hier der Einzelmensch, und welches ist sein Platz in dieser Gemeinschaft? Im naturvölkischen Leben Afrikas kann der einzelne nicht für sich existieren, sondern nur als Glied der Gemeinschaft. Er verdankt seine Existenz anderen Menschen, worunter sowohl die vergangenen Generationen wie seine Zeitgenossen zu verstehen sind. Er ist einfach ein Teil des Ganzen. Daher muß die Gemeinschaft den einzelnen schaffen, hervorbringen, denn er hängt von der korporativen Gruppe ab. Die körperliche Geburt allein genügt nicht. Das Kind muß Eingliederungsriten bestehen, um völlig in der Gesellschaft aufzugehen. Diese Riten dauern lebenslänglich an, da der einzelne in seinem Leben verschiedene Stufen der Gemeinschaftsexistenz durchlaufen muß. Die letzte Stufe ist erreicht, wenn er stirbt, und auch dann noch wird er rituell in eine Gemeinschaft, die größere Gemeinschaft der Toten und der Lebenden, aufgenommen. Wie Gott den ersten Menschen als Menschen Gottes erschuf, so bildet nun der Mensch selber den Menschen zum Gemeinschaftswesen um. Dies ist eine zutiefst religiöse Handlung. Der einzelne wird sich nur im Hinblick auf andere Menschen seiner Eigenart, seiner Pflichten, Vorrechte und Verantwortlichkeiten sich selbst und anderen gegenüber bewußt. Wenn er leidet, so leidet er nicht allein, sondern mit der Gruppe, der er angehört; wenn er sich freut, so freut er sich nicht allein, sondern mit seinen Artgenossen, Nachbarn und Verwandten, ob diese nun tot oder noch am Leben sind. Wenn er heiratet, so steht er nicht allein, und auch seine Frau „gehört" nicht ihm allein. Im gleichen Sinne gehören seine Kinder der Gemeinschaft, mögen sie auch nur den Namen des Vaters tragen. Was immer dem einzelnen widerfährt, geht die ganze Gruppe an, und was der ganzen Gruppe widerfährt, ist ebenso Sache des einzelnen. Das Individuum kann nur sagen: „Ich bin, weil wir sind, und weil wir sind, bin ich". Dies ist einer der Kernpunkte in unserem Verständnis des afrikanischen Menschenbildes. Wir sind die lange religiöse Straße von Gott zu den Geistern und zum Menschen als Individuum hingewandert. Mag es auch den Anschein haben, daß ein Teil des ethnologischen und soziologischen Materials in diesem Kapitel weniger ausgesprochen „religiöse" Momente aufweist, so ist es doch vonnöten als Grundlage zu den Problemen, die in den übrigen Kapiteln dieses Buches noch zu behandeln sind. W i r sind beim Individuum angelangt und werden nun mit ihm die Lebensspanne
Schwangerschaft
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von der Geburt bis zum Tode durchmessen. Der einzelne ist ein tiefreligiöser Mensch, der in einem intensiv religiös bestimmten Weltall lebt. Durch seine Sasaperiode wandert er dem Samani entgegen, und wir wollen ihn auf seiner Reise begleiten.
G E B U R T U N D KINDHEIT Bei den afrikanischen Völkern ist die Geburt eines Kindes ein Vorgang, der bereits lange vor der Ankunft des Kindes in dieser Welt beginnt und noch lange danach andauert. Sie ist nicht einfach ein isoliert dastehendes Ereignis, das man unter einem bestimmten Datum in den Kalender einträgt. Die Natur bringt das Kind zur Welt, aber die Gesellschaft macht aus ihm ein soziales Wesen, eine gemeinschaftsbezogene Person. Denn der Gemeinschaft obliegt es, das Kind zu behüten, zu ernähren, aufzuziehen, zu bilden und auf manche andere Weise in seine weitere Umwelt einzugliedern. Kinder sind die Knospen der Gesellschaft, und jede Geburt ist wie das Kommen des Frühlings, der das Leben ersprießen und die Gemeinschaft gedeihen läßt. Die Geburt eines Kindes ist daher nicht nur ein Anliegen der Eltern, sondern vieler Verwandten, ob sie nun leben oder bereits gestorben sind. Die Verwandtschaftsbeziehungen spielen hier eine bedeutende Rolle, so daß das Kind nicht ausschließlich „mein Kind", sondern nur „unser Kind" sein kann. a)
Schwangerschaft
Sie ist das erste Anzeichen, daß ein neues Mitglied der Gesellschaft unterwegs ist. Die werdende Mutter gilt daher als besondere Person, der von Seiten ihrer Nachbarn und Verwandten eine Vorzugsbehandlung zuteil wird, welche vor der Geburt beginnt und danach weiter fortgesetzt wird. Bei manchen afrikanischen Völkern wird die Ehe erst als vollgültig oder vollzogen betrachtet, wenn die Frau einem Kind das Leben geschenkt hat. Die erste Schwangerschaft gilt daher als Besiegelung der Ehe und als ein Zeichen, daß die Frau völlig mit der Familie und dem Verwandtenkreis ihres Gatten verschmolzen ist. Unglücklich die Frau, die keine Kinder bekommt, denn mögen ihre anderen Eigenschaften auch noch so hervorragend sein, ihre Kinderlosigkeit ist schlimmer als die Teilnahme an einem Völkermord. Bei ihr endet nämlich
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Geburt und Kindheit
das menschliche Leben in einer Sackgasse, und zwar nicht nur für ihre genealogische Linie, sondern auch für sie selbst. Wenn sie stirbt, so wird niemand, der aus ihrem Blut hervorgegangen ist, ihrer gedenken und sie dadurch im Stande persönlicher Unsterblichkeit erhalten. Man wird sie einfach vergessen. Auch wenn ihre Kinderlosigkeit nicht selbstverschuldet ist, so wird sie dadurch in den Augen der Gesellschaft keineswegs losgesprochen. Ihr Gatte kann der Situation in etwa dadurch abhelfen, daß er mit einer anderen Frau Kinder erzeugt, aber die kinderlose Frau trägt dennoch eine Wunde, die durch nichts geheilt werden kann. Sie muß dafür leiden, ihre eigenen Verwandten müssen dafür leiden, und ihr Zustand ist eine nicht wiedergutzumachende Demütigung, der im naturvölkischen Leben jegliche Quelle des Trostes versagt bleibt. Bei manchen afrikanischen Völkern muß die Schwangere gewisse tabuistische Meidungsgebote und Vorschriften beobachten, teils weil die Schwangerschaft sie ritual „unrein" macht, hauptsächlich aber, um sich und das werdende Leben zu schützen. Eine der am häufigsten geltenden Vorschriften betrifft den Geschlechtsverkehr während der Schwangerschaft. Bei einigen Völkern stellen die Ehegatten den Geschlechtsverkehr bis nach der Geburt völlig ein, sobald die Frau feststellt, daß sie ein Kind erwartet. Bei anderen Völkern wird er etwa zwei bis drei Monate vor der Niederkunft eingestellt. Die Enthaltsamkeit wird von der Frau auch nach der Geburt weitergeübt, und zwar manchmal nur wenige Tage, aber in manchen Fällen bis zwei oder drei Jahre lang. Der Gatte braucht nicht so lange enthaltsam zu leben, da er eventuell andere Frauen hat. Im Durchschnitt enthalten sich die Frauen, bis die Kinder entwöhnt sind, aber diese Sitte ist von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden. Eine weitere Vorschrift betrifft die Nahrung: hoffenden Müttern ist es verboten, gewisse Speisen zu genießen, da man befürchtet, diese könnten die Gesundheit oder Sicherheit von Mutter oder Kind gefährden oder sie könnten ihnen nach der Geburt Unheil bringen. Bei den Kamba z.B. darf die werdende Mutter während der letzten drei Monate der Schwangerschaft keine Bohnen, kein Fett und kein Fleisch mit Giftpfeilen getöteter Tieren essen. Außer anderen Nahrungsmitteln nimmt sie eine bestimmte Art Erde zu sich, die man in Termitenhügeln oder an Bäumen findet. Diese Erde wird von einer besonderen Ameisenart vorgekaut und dann auf Bäumen oder im Gras aufbewahrt oder in Gestalt von Ameisenhaufen aufgetürmt. Auch für Nichtschwangere hat
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der Geschmack dieser Erde nichts Abstoßendes. Die Erde soll den Leib des Kindes „stärken". Die in solchen Speisevorschriften zum Ausdruck kommenden Anschauungen haben zweifellos einigen wissenschaftlichen Wert, da sie sich aus der Erfahrung des Volkes entwickelt haben. Es wäre z.B. durchaus möglich, daß der Genuß von Fleisch mit Pfeilgift getöteter Tiere tatsächlich Frühgeburten verursacht hat und daß die Ameisenerde Mineralien enthält, die dem Leib des Kindes im Mutterschoß tatsächlich „Stärke" geben. Bei den Ingassana kehrt die Schwangere in ihr Elternhaus zurück, wenn die Stunde der Geburt naht. Bei mehreren anderen Völkern herrscht der gleiche Brauch. Uber seine Bedeutung bin ich mir nicht ganz im klaren. Vielleicht handelt es sich um eine symbolische Dramatisierung, die das „Abholen" des Kindes aus einer anderen — der unsichtbaren ? — Welt darstellt. Oder es wird vielleicht die Rückkehr des Lebens zu der Heimstätte symbolisiert, von der die Frau stammt. Dem Brauch mag insofern auch soziale Bedeutung zukommen, als er den Angehörigen ankündigt, daß die Frau fruchtbar ist und Kinder hervorbringen kann. Ein weithin beobachtetes Tabu bezieht sich auf die Arbeit und den Gebrauch von Werkzeugen. Bei den Kamba und Kikuju z.B. werden vor der Geburt alle Waffen und eisernen Gegenstände aus dem Haus der werdenden Mutter entfernt, da eiserne Gegenstände den Blitz anziehen sollen. Bei den Ingassana darf weder die werdende Mutter noch ihr Mann vor der Geburt des Kindes Feuer tragen. Diese und ähnliche Meidegebote beweisen den Schutz und die Fürsorge, die Mutter und Kind genießen. Es gibt auch Vorschriften, die mitmenschliches Verhalten regeln. Bei den Mao z.B. darf die Frau nicht direkt mit ihrem Gatten sprechen, wenn sie schwanger geht. Das Paar verständigt sich durch eine Mittelsperson miteinander. Was dies bedeutet, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Es gibt mehrere Möglichkeiten. Vielleicht macht die Schwangerschaft die Frau ritual unrein, so daß ihr Mann vor ihr beschützt werden muß. Vielleicht auch handelt es sich um eine Methode, den Gatten an den Belastungen, die die Schwangerschaft mit sich bringt, teilnehmen zu lassen. Diese Sitte ist anscheinend ein Mittel, die Frau, die ein Kind erwartet, vor allen körperlichen, seelischen und ritualen Schäden zu bewahren, die sie sonst durch direkten Kontakt mit ihrem Gatten erleiden könnte.
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Es gibt Völker, bei denen Gebete für Mutter und Kind an Gott gerichtet werden, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Die Nandi beten um Schutz für ihre werdenden Mütter. Wenn eine Bambutifrau gewahr wird, daß sie ein Kind erwartet, kocht sie Essen und bringt einen Teil davon in den Wald, wo sie es Gott mit einem Dankgebet darbietet. Manchmal werden dabei entsprechend Riten vollführt, und einige werdende Mütter tragen vielleicht schützende Amulette. b) Die eigentliche Geburt
Die mit der eigentlichen Geburt zusammenhängenden Praktiken und Vorstellungen sind je nach dem Ort stark verschieden, und wir werden nur ein paar Beispiele zur Erläuterung anführen. Die Geburt findet meist im Hause der werdenden Mutter oder, wo es die Sitte so erheischt, im Hause ihrer Eltern statt. In einigen Fällen gibt es jedoch besonders für diesen Zweck gebaute Kreißhäuser, die sich entweder inner- oder außerhalb des Dorfes befinden. Bei den Udhuk herrscht die Sitte, daß die Schwangere, deren Niederkunft unmittelbar bevorsteht, sich allein in den Busch begibt, um dort zu entbinden. Sie kann jedoch eine Verwandte bitten, sie auf diesem Gang zu begleiten. Diese Sitte scheint aus einer älteren Sitte hervorgegangen zu sein, auf Grund deren eine Frau, die Zwillinge zur Welt brachte, mit diesen zusammen getötet wurde. Wenn sie nun aber von anderen Menschen entfernt gebiert, weiß niemand, ob sie Zwillinge bekommen hat, da sie im Falle einer Zwillingsgeburt einen der Zwillinge töten und mit dem anderen nach Hause zurückkehren würde. In vielen Gegenden kann fast jede ältere Frau unter normalen U m ständen die Rolle der Hebamme spielen, obgleich es hierfür im allgemeinen Spezialistinnen gibt. In der Regel ist es während der Geburt Männern verboten, sich in dem Hause aufzuhalten, wo die Entbindung stattfindet. Bei einigen ethnischen Gruppen werden Maßnahmen ergriffen, die der Frau bei den Wehen helfen sollen. Die Woloffrauen z.B. gehen auf und ab oder stampfen Korn in einem Mörser. Bei anderen Völkern werden für den gleichen Zweck Kräuter verwendet. Bei der Entbindung nimmt die Gebärende gewöhnlich Hockstellung ein. Wenn eine Kikujufrau ein Kind geboren hat, schreit sie fünfmal, wenn es ein Junge, und viermal, wenn es ein Mädchen ist. Der Mutterkuchen und die Nabelschnur sind die Symbole der Verbundenheit des Kindes mit der Mutter, mit dem weiblichen Geschlecht
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und mit dem Zustand der Tatenlosigkeit. Sie sind daher bei den meisten afrikanischen Völkern Gegenstand sorgfältigster Behandlung. Die Kikuju z.B. legen den Mutterkuchen auf einem unbebauten Acker nieder und bedecken ihn mit Körnern und Gras, die die Fruchtbarkeit symbolisieren. Das unbestellte Feld selber ist ein Symbol der Fruchtbarkeit, Kraft und Frische, und seine Benützung kommt einem schweigenden Gebete gleich, der Schoß der Mutter möge für die Geburt weiterer Kinder fruchtbar und stark bleiben. Bei den Didinga wird die Plazenta in der Nähe des Hauses vergraben, worin die Geburt stattgefunden hat, bei den Ingassana wird sie in eine Kalebasse getan, die man an einem bestimmten Baum (gammeiza) aufhängt, und bei den Wolof wird sie im Hinterhof vergraben, während man aus der Nabelschnur bisweilen ein Amulett fertigt, das man dem Kinde umhängt. Körperlich begriffen bedeuten Plazenta und Nabelschnur die Trennung des Kindes von der Mutter, doch ist diese Trennung nicht endgültig, da die beiden einander noch nahe sind. Aber das Kind fängt nun an, dem weiteren Kreise der Gemeinschaft anzugehören. Aus diesem Grunde wird die Plazenta in der Nähe des Hauses verwahrt oder in eine Kalebasse getan, so daß ein jeder sie sehen kann. Das Kind hat indessen schon seine Reise zur Eingliederung in die Gemeinde angetreten, und die Trennung von Mutter und Kind schreitet im gleichen Maße fort, wie die Eingliederung in die weitere Gemeinde wirksam wird. Bei einigen Völkern, so bei den Ndebele, werden Nabelschnur und Nachgeburt unmittelbar unter dem Fußboden des Hauses bestattet, wo die Geburt stattgefunden hat. Paradoxerweise ist also das Kind der Mutter nahe und beginnt doch gleichzeitig, von ihr fortzustreben und dem Zustande entgegenzuwachsen, von dem sich sagen läßt: „Ich bin, weil wir sind, und da wir sind, bin ich". Es finden sich auch noch andere Möglichkeiten, Plazenta und Nabelschnur zu beseitigen. Die Jansi werfen sie in einen Fluß. Auch diese Handlung hat symbolische Bedeutung. Das Kind ist nunmehr öffentliches Eigentum, es gehört der ganzen Gemeinschaft und ist nicht mehr das Eigentum einer einzelnen Person. Die Bande, die es mit der Einzelperson oder dem Einzelhaushalt verbinden, werden symbolisch zerstört und aufgelöst, indem man Plazenta und Nabelschnur in den Fluß wirft. Die Erinnerung an solche Bande soll ausgelöscht werden. Welche Methode man auch bei der Beseitigung der Nabelschnur und Plazenta anwendet, die Beseitigung als solche weist darauf hin, daß
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das Kind dem Zustand der Schwangerschaft abgestorben ist und nun auf einer neuen Existenzstufe lebt. Es ist gleichfalls dem Zustande des Alleinseins im Mutterschoß abgestorben und dafür zum neuen Leben der Teilnahme an der menschlichen Gesellschaft erstanden. Die Ereignisse unmittelbar nach der Geburt des Kindes weisen in ihren Einzelzügen große Unterschiede auf. Bei einigen Völkern darf dem Kind erst Muttermilch gegeben werden, wenn die Reinigungsriten vollzogen worden sind, bei anderen bleiben Mutter und Kind einige Tage voneinander getrennt. Wieder andere halten Mutter und Kind mehrere Tage oder gar Wochen lang vor dem Blick der Öffentlichkeit verborgen. Im allgemeinen ist die Geburt ein Anlaß zu Feiern und Freudenfesten, wozu die Verwandten und Nachbarn der Eltern des Kindes eingeladen werden. Wir wollen ein paar Beispiele bringen. Wenn bei den Kamba ein Kind geboren ist, schlachten die Eltern am dritten Tag eine Ziege oder einen Stier. Viele Leute kommen herbei, um mit der Familie zu frohlocken, und die Frauen versammeln sich, um dem Kind einen Namen zu geben. Er ist als „der Name ngimas" bekannt, wobei das Wort ngima die aus diesem Anlaß bereitete Festspeise bezeichnet. Bei den W o l o f muß die Frau erst den Ritus des Sprungs über ein Feuer in vier Richtungen vollziehen, ehe sie sich auf ihr Bett niedersetzen darf. Dann hält die Hebamme der Mutter das Kind dreimal hin, um es ihr erst beim vierten Mal zu überreichen. Dieser Ritus soll Wahnsinn verhüten. Bevor das Neugeborene zum ersten Mal an die Brust gelegt wird, gibt man ihm einen Zaubertrank zu trinken, der hergestellt wird, indem man einen auf eine Holztafel geschriebenen Koranvers abwäscht. Sodann wird noch am Tag der Geburt eine Ziege geschlachtet. In der darauffolgenden Woche werden weitere Riten vollzogen. Im Geburtshause brennt Tag und Nacht ein Feuer. Daneben steht ein Eisenstab, der dazu dient, Baumwollsamen aus Baumwolle zu pressen, und ein Topf, worin sich abgekochte Teile einer Wasserpflanze (rat) befinden. Die Frau trinkt aus diesem Topf Wasser. Zweige von rat und einer bestimmten Baumsorte werden vor der Haustür und am Eingang zum Gehöft hingehängt. Das Messer oder Metallstück, womit die Nabelschnur durchschnitten wurde, bleibt unter dem Kopfkissen des Kindes verborgen. Mutter und Kind müssen sich im Hause aufhalten. Wenn die Mutter jedoch einen dringenden Grund hat, das Haus zu verlassen, muß sie das Messer bei sich tragen und als Ersatz Stengel einer bestimmten Pflanze nahe
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beim Kopf des Kindes niederlegen.1 Sobald diese Zeit vorüber ist, wird dem Kind ein Name gegeben. Es ist der Zweck dieser Riten, Mutter und Kind zu schützen, und sie sind voll symbolischer Bedeutung. Das nie verlöschende Feuer ist Symbol der Fortsetzung des Lebens, das Messer symbolisiert Schutz und Trutz den Mächten des Bösen gegenüber, während die Koranverse übelwollende Geister abwehren sollen. Der Zwangsaufenthalt im Hause symbolisiert den Tod, die Trennung von der Gemeinschaft, und wenn er zu Ende ist, werden Mutter und Kind wieder auferweckt und in die Gemeinde aufgenommen. Erst dann erhält das Kind seinen Namen, der Symbol seiner Persönlichkeit ist. Wir wollen nun ein anderes Beispiel von den Kikuju betrachten. Hier schneidet der Vater nach der Geburt des Kindes vier Zuckerrohrstengel ab, wenn seine Frau ein Mädchen, oder fünf, wenn sie einen Jungen geboren hat. Der Saft aus dem Zuckerrohr wird der Mutter und dem Kind eingeflößt, und die ausgelaugten Reste werden zu rechter Hand des Hauses hingelegt, wenn es ein Junge, oder links, wenn es ein Mädchen ist. Rechts ist die Symbolseite des Mannes, Links die der Frau. Das Kind wird dann gewaschen und mit Öl eingerieben. War es eine schwere Geburt, so opfert der Vater eine Ziege und bestellt einen Medizinmann, damit dieser das Haus reinigt. Mutter und Kind werden dann vier Tage lang eingeschlossen, wenn das Kind ein Mädchen ist, oder fünf Tage, wenn es sich um einen Jungen handelt. Während der Einschließungszeit dürfen nur nahe weibliche Verwandte sowie Dienerinnen das Haus besuchen. Wenn diese Zeit vorüber ist, wird der Mutter das Kopfhaar abrasiert, und ihr Gatte opfert ein Schaf als Dankesgabe an Gott und die Totenseelen. Solange die Seklusion währt, darf sich kein Mitglied der Familie im Fluß waschen, es wird kein Haus im Dorfe saubergefegt, und es darf kein Feuer von einem Haus ins andere getragen werden. Als Abschlußhandlung stattet die Mutter nach Ende der Einschließungsperiode den Feldern einen symbolischen Besuch ab und sammelt dort Süßkartoffeln. Danach kehrt ein jeder im Dorf zu seinen alltäglichen Verrichtungen zurück. Diese Kikujuriten und -sitten haben wiederum eine ganz bestimmte Bedeutung. Wie wir bereits oben gesehen haben, symbolisiert die Seklusion den Begriff des Todes und der Auferstehung: Tod oder Absterben dem alten Lebensbereich gegenüber und Auferstehung zum erfüllten 1
Gamble, p. 62.
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Leben. Es ist, als ob Mutter und Kind stellvertretend für alle anderen in der Familie „stürben" und „auferständen". Das Abrasieren des Haupthaars der Mutter ist eine weitere Handlung, die den Tod des alten, und die Erweckung zum neuen Leben symbolisiert. Das Haar stellt ihre Schwangerschaft dar, deren Ende das Abschaben des alten Haares erforderlich macht, damit dem neuen Haar — Symbol des neuen Lebens — der Weg freigemacht wird. Die Frau ist nun ein neues Wesen, bereit, ein neues Kind in ihren Schoß aufzunehmen, so daß der Strom des Lebens weiterfließen kann. Das Haar symbolisiert gleichzeitig das Band zwischen Mutter und Kind, und sein Abschaben bedeutet, daß das Kind nunmehr nicht nur ihr, sondern der Gesamtheit der Verwandten, Nachbarn und anderen Mitglieder der Gesellschaft gehört. Sie darf das Kind nicht mehr als ihr ausschließliches Eigentum betrachten. Es ist nun „verstreut" wie das Haar ihres Hauptes und hat hundert Mütter, hundert Väter, hundert Brüder und Hunderte von anderen Anverwandten. Das Waschverbot, das Reinigungsverbot für die Häuser sowie das Verbot, Feuer von Haus zu Haus zu tragen, symbolisieren den Stillstand des normalen Lebens, den Tod des gemeinschaftlichen Lebens in der Erwartung eines neuen Lebensrhythmus, den die Geburt des Kindes darstellt. Im Kinde wird die ganze Gemeinschaft neu geboren; sie wird wiederbelebt, erneuert und mit frischer Kraft erfüllt. Nach vier bis fünf Tagen beginnt das Leben wieder mit neuem Schwung. Wir haben bemerkt, daß ein Schaf geopfert wird. Dieses Opfer bezeichnet im Leben des einzelnen einen jener Höhepunkte, die bei den Kikuju immer mit Opfern und Gebeten feierlich begangen werden. Nicht nur Gott wird in das Geschehen einbezogen, sondern auch die Totenseelen, die gleichfalls an der Freudenfeier teilnehmen. Das Kind gehört ihnen im selben Maße, wie es der Menschenfamilie angehört. Für die Kikuju sind damit jedoch die mit der Geburt verbundenen Riten noch keineswegs abgeschlossen. Solange das Kind noch klein ist, vollziehen sie weitere Riten, die sie für nötig erachten, damit es ein vollgültiges Mitglied ihrer Gesellschaft werden kann. Insgesamt sind vier weitere Riten erforderlich. Bei einem von diesen legt der Vater dem Kind Armbändchen aus Ziegenfell an. Danach ist das Kind eine vollständige Person, und die Eltern dürfen nun wieder normale Geschlechtsbeziehungen aufnehmen. Wenn das Kind etwa fünf oder sechs Jahre alt ist, folgt ein weiterer Ritus, der es ihm fortan erlaubt, Ziegen zu hüten. Der Ritus der Armbändchen symbolisiert das Band zwischen
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dem Kind und der ganzen Nation. Das Armbändchen ist ein Glied in der langen Kette des Lebens, welche das Kind mit den Lebenden wie mit den Abgeschiedenen verbindet. Es ist der Ring der Menschheitsgenerationen, der das Samani mit dem Sasa verknüpft. Tatsächlich gleicht jede Generation einem solchen kleinen Armband, einem Glied in der Kette menschlicher Existenz. Es ist ein heiliges Band, das niemals zerbrochen werden darf. Nach einiger Zeit folgt wieder ein Ritus. Dieser ist unter der Bezeichnung „zweite Geburt" bekannt (kuciaruo keri, wörtlich: „zweimal geboren werden") und wird auch als „Wiedergeburt" (kuciaruo ringi) oder „Geborenwer den aus einer Ziege" (kuciareiruo mbori) bezeichnet. Diese Zeremonie findet statt, bevor das Kind initiiert wird, und wenn es die „zweite Geburt" nicht erlebt, kann es sich nicht voll am Leben der Gemeinschaft beteiligen. Es darf weder an der Beerdigung seines Vaters teilnehmen, noch darf es zur Einweihungszeremonie zugelassen werden, heiraten, ein Erbe antreten oder an irgendeinem Ritus teilnehmen. Dieser Ritus ist folglich absolut unerläßlich im Leben der Kikuju. Er besteht darin, daß das Kind zwischen sechs und zehn Jahren eine Wiederholung seiner Geburt aufführt. Sollte seine Mutter gestorben sein, so nimmt eine andere Frau ihre Stelle ein. Diese wird von nun an als die Mutter des Kindes betrachtet. Das Kind wird zwischen die Beine der Mutter geschoben und mit Ziegendarm an ihrem Leib befestigt. Der Darm wird dann zerschnitten, und das Kind ahmt den Schrei des Neugeborenen nach. Es folgen die vorgeschriebene Kopfrasur der Mutter, die Reinigung des Hauses und der Ausgang der Mutter zur Nahrungssuche auf den Feldern.2 Dieser Ritus symbolisiert die physische Geburt, findet aber in einem Alter statt, w o nicht zu befürchten ist, daß das Kind das Geschehen wieder aus dem Gedächtnis verliert. Dadurch wird die Geburt, und damit der Eintritt in die Sasaperiode, dem Kinde zum bewußten Erlebnis. Aber mit diesem Ritus endet auch die erste Kindheit, und das Tor zur vollen Teilnahme am Leben der Gemeinschaft ist nun erreicht. Jetzt ist das Kind bereit, die Initiationsstufe zu betreten und an den Tätigkeiten und Verantwortlichkeiten gemeinschaftsgeprägter Männlichkeit teilzunehmen. Von der Zeit der Unwissenheit tritt es hinüber in die Zeit des Wissens, vom Zustand passiver Mitgliedschaft in der Gemeinde wechselt es zum neuen 2
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Middleton, I, S. 59 f. Ich habe diesen Riten meine eigene Deutung gegeben und dargelegt, wie ich sie verstehe. Mbiti, Afrikanische Religion
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Zustand aktiver und verantwortlicher Mitgliedschaft im Gemeinschaftsleben über. Der Mensch hat sein Teil dazu beigetragen, das von Gott der Gemeinschaft in körperlicher Ganzheit geschenkte Wesen zu „erschaffen", ihm beim Wachstumsprozeß zu helfen und es zu veredeln. Wir haben einer ziemlich genauen Prüfung der Riten zweier Völker — der Wolof an der Westküste Afrikas und der Kikuju an der Ostküste, die durch fünftausend Kilometer voneinander getrennt sind — beträchtlichen Platz eingeräumt. Es finden sich hier im Symbolischen einige Ähnlichkeiten, wie sie nicht nur zwischen diesen beiden Völkern bestehen. Es gibt allerdings auch Unterschiede, insbesondere was die eigentlichen Riten und ihre Bedeutung betrifft. Wir könnten hier vielleicht verschiedene Beispiele erwähnen, die sich mit den Riten der Ndebele und Sonjo im Zusammenhang mit der Kennzeichung der Kinder durch Stammesnarben oder -zeichen befassen. Die Ndebele bohren ihren Kindern, wenn diese etwa zehn. Jahre alt sind, Löcher in die Ohrläppchen und stecken nach der Operation einen Holzpfropfen in die Öffnung, um ein Zuwachsen zu verhindern. Dies ist ein Stammeszeichen, wodurch der junge Ndebele als solcher erkannt und in die Gemeinschaft eingegliedert wird. Auch die Sonjo müssen allesamt ein Stammeszeichen (ntemi) tragen, und zwar auf der linken Schulter. An diesem Zeichen hoffen sie erkannt zu werden, wenn ihr nationaler Heros Khambageu am Ende der Tage wiederkehrt, um sie zu „erlösen". Solche Zeichen dienen der Erkennung, der Eingliederung ins soziale Ganze und der vollberechtigten Mitgliedschaft im Stamme. Sie sind das unverlöschliche Siegel, auf dem die Worte stehen: „Ich bin, weil wir sind, und weil wir sind, bin ich." Der einzelne wird mit der übrigen Gemeinschaft, den Lebenden und Toten, vereint, und nach menschlichem Ermessen kann ihn fürderhin nichts mehr von dieser verschworenen Gemeinschaft trennen. Die Geburt von Zwillingen und Drillingen gilt als ein außergewöhnliches Ereignis. Daher werden Zwillinge und Drillinge in vielen afrikanischen Gesellschaften entweder mit größter Furcht empfangen oder aber mit besonderer Sorgfalt behandelt. Früher wurden in einigen Gesellschaften solche Kinder getötet, während bei anderen die Mutter mitsamt den Kindern umgebracht wurde. Jedoch war die Zwillingsund Drillingstötung nicht allgemein der Brauch, da andere Gesellschaften die Ankunft von Zwillingen mit größter Freude und Genugtuung als Zeichen überquellender Fruchtbarkeit begrüßten. Bei einigen Völkern glaubt man, daß auf diese Weise geborene Kinder besondere
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Kräfte besäßen. In Zentralafrika z.B. sind sie als „die Kinder Gottes und des Himmels" (Tilo) bekannt, und wenn einem Dorfe Unheil droht, wendet man sich an sie mit dem Auftrag, für die Gemeinde zu beten. Diese zwiespältige Behandlung der Zwillinge und Drillinge muß noch sorgfältig untersucht werden. Einerseits frohlocken die Menschen, wenn sie den Strom des Lebens fließen sehen, dann aber verwandelt sich ihre Freude paradoxerweise in Kummer, wenn Zwillinge zur Welt kommen. Ich vermute, daß die Geburt von Zwillingen, da sie etwas Außergewöhnliches, dem normalen Rhythmus der Dinge Zuwiderlaufendes darstellt, zu dem Gefühl Anlaß gibt, sie müsse dementsprechend auch außergewöhnliche Folgen zeitigen, und zwar entweder in Gestalt von Unheil, was die Tötung der Kinder und gegebenenfalls der Mutter erforderlich macht, oder in Gestalt ungewöhnlicher Kräfte, die äußerste Sorgfalt und Rücksicht bei der Behandlung solcher Kinder angeraten erscheinen lassen. Zwillinge oder Drillinge sind nicht an sich böse oder außergewöhnlich; es ist das Ungewöhnliche des Ereignisses ihrer Geburt, was die Menschen veranlaßt, sie mit außergewöhnlichen Dingen in Verbindung zu bringen. Das Gleiche geschieht bei Sonnenund Mondfinsternissen oder anderen seltenen Naturereignissen. Besäße man schriftliche Aufzeichnungen über die Geschichte und sonstige Geschehnisse, so würden diese „ausgefallenen" Naturereignisse auf dem Hintergrund einer Zeittafel größeren Maßstabes weniger ausgefallen erscheinen. Im naturvölkischen Leben werden Ereignisse jedoch nur dem Gedächtnis anvertraut, und dadurch kommt es leicht zu Übertreibungen oder Vereinfachungen auf Kosten der rechten Proportionen. Die Tötung von Zwillingen und Drillingen, w o und wann sie auch immer geschah, sollte nicht einfach aus Gefühlsgründen verurteilt werden, wie streng man sie auch aus ethischen Gründen ablehnen mag. V o m Gesichtspunkt des gesellschaftlichen Ganzen empfand man solche Geburten als Vorboten kommenden Unheils, als Bedrohung kollektiver Existenz. Sie waren ein Zeichen, daß Schlimmes geschehen sein mußte, um sie zu bewirken und daß noch Schlimmeres über die Gemeinschaft kommen würde, wenn man das „Böse" nicht ausmerzte. Man tötete daher die Kinder um der größeren Gemeinschaft willen, um die übrigen Menschen zu reinigen, zu beschützen und zu „erlösen". Geschah dies nicht, so bestand die Gefahr, daß nicht nur die Zwillinge selber leideti müßten, sondern auch die übrige Gemeinschaft völliger Vernichtung anheimfallen würde. Die Tötung scheint daher in guter Absicht erfolgt zu sein, und nicht etwa als ein Akt der Grausamkeit gegen die Kinder. 10*
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Es war eine blutige Operation am Volkskörper, durch den Volkskörper und für den Volkskörper. Da dieser Glaube bei einigen Gesellschaften sehr tief eingewurzelt war, bezweifle ich, daß es den modernen Regierungen gelungen ist, die Zwillingstötung völlig zu unterbinden. In diesem Zusammenhang müssen wir die erschreckend hohe Säuglingssterblichkeit in der traditionellen Gesellschaft erwähnen. In einigen Fällen hatte sie ein solches Maß erreicht, daß etwa die Hälfte aller lebend geborenen Kinder vor Vollendung des zehnten Lebensjahres starben. Dank der modernen Medizin und besserer Kinderpflege ist jedoch diese hohe Sterblichkeitsrate bei Kindern immer weiter zurückgegangen. Als Pioniere dieses großen Werkes haben sich die christlichen Missionare hervorgetan. Es wurde dann schnell von afrikanischen Regierungen übernommen oder vervollständigt. Aber immer noch sind Krankheiten und Unternährung die größten Feinde der afrikanischen Kinder und Kleinkinder, insbesondere gleich nach der Entwöhnung. In der traditionellen Gesellschaft gibt es kaum eine Mutter, die nicht den Kummer, ein Kind zu verlieren, am eigenen Leibe erfahren hätte. Doch steht sie in ihrem Kummer nicht allein, denn ihre Gemeinde und alle afrikanischen Völker trauern mit ihr. c) Namengebung und Stillzeit
Nahezu allen afrikanischen Namen haftet eine bestimmte Bedeutung an. Die Namengebung ist daher ein wichtiges Ereignis, das in vielen Gesellschaften durch feierliche Zeremonien begangen wird. Einige Namen nehmen Bezug auf die Begleitumstände der Geburt des Kindes. Wenn z.B. bei der Geburt Regen fällt, wird dem Kind möglicherweise ein Name gegeben, der gleichbedeutend ist mit „Regen", „regnerisch" oder „Wasser". Befindet sich die Mutter zur fraglichen Zeit auf Reisen, so nennt man das Kind vielleicht „Reisender", „Fremder", „Straße" oder „Wanderer". Wird es während einer Heuschreckenplage geboren, so könnte dieser Umstand ihm eventuell den Namen „Heuschrecke', „Hungersnot" oder „Schmerz" eintragen. Andere Namen beziehen sich auf die Persönlichkeit des einzelnen, auf seinen Charakter oder wichtige Lebensereignisse. In vielen afrikanischen Gesellschaften nimmt die Verleihung von Namen kein Ende, so daß ein Mensch, der ein hohes Alter erreicht, auf eine stattliche Sammlung von Namen hinweisen kann. Wieder andere Namen, die Kindern gegeben werden, stammen von den Totenseelen. Dies ist der Fall, wenn man annimmt,
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daß der Tote zum Teil im Kinde reinkarniert worden ist, insbesondere wenn die Familienangehörigen Ähnlichkeiten zwischen dem Kind und einer bestimmten Totenseele feststellen. In einigen Gesellschaften herrscht auch die Sitte, den Kindern die Namen der Großeltern zu geben. N a m e und Person sind identisch, und manche Namen geben eine Beschreibung des so Benannten, vor allem die im Zuge des Heranwachsens erworbenen Namen. Angesichts des afrikanischen Namengebungspraxis ist es oft verwirrend und sinnlos, von „Familiennamen" zu reden, da jeder Mensch seine eigenen Namen hat. V o n einigen wenigen Völkern abgesehen kommt es nicht vor, daß sich alle Mitglieder einer bestimmten Familie in den Gebrauch eines einzigen „Familiennamens" teilen. Auch ist zu beachten, daß die Afrikaner ihre Namen oft ohne jegliche Formalitäten ändern, und eine Person, die sich heute z . B . auf der Schule, der Universität oder dem Finanzamt unter einem bestimmten Namen eintragen läßt, kann morgen schon unter einem anderen Namen auftreten. Diese Praxis richtet nicht nur Verwirrung an, sondern hat bisweilen auch recht ärgerliche Folgen. W i r kehren nun zur Erstverleihung des Namens zurück und führen dazu konkrete Beispiele aus verschiedenen Teilen Afrikas an. Bei den W o l o f findet die Namengebung eine Woche nach der Geburt des Kindes statt. Aus diesem Anlaß werden Freunde und Verwandte der Familie vorher benachrichtigt, und wenn es das Erstgeborene ist, versammelt sich eine große Festgemeinde. Die Zeremonie findet an derselben Stelle statt wie die Geburt und beginnt kurz vor Mittag. Bei Anbruch des Festtages löscht die Mutter des Kindes das Feuer und fegt das Haus aus. Dann nimmt sie ein Bad, und der Säugling wird mit dem im vorigen Kapitelteil erwähnten heilenden Wasser gewaschen. Dies sind Symbolhandlungen, die das Ende eines Lebensabschnitts und den Beginn eines neuen bezeichnen. Die Besucher und Gäste bringen Geschenke, und zwar überreichen die Frauen ihre Geschenke der Kindesmutter, während die Männer sie dem Vater geben. In der Mitte des Anwesens wird eine Matte ausgebreitet, worauf eine alte Frau, gewöhnlich die Hebamme, mit dem Kind auf dem Schöße sitzt. Das Kind wird nun rasiert, wobei man auf der rechten Seite anfängt. In greifbarer Nähe steht eine Tonschale mit roten und weißen Kolanüssen, Baumwolle und Hirse. Die roten Kolanüsse bedeuten ein langes Leben, die weißen bedeuten Glück. Eine ältere Person streicht dem Kind mit den Händen über den Kopf, spricht ein Gebet und spuckt ihm dann in die Ohren, um den Namen in den Kopf des Kindes einzuprägen.
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Danach wird der Name laut der anwesenden Menge verkündet, und es werden Gebete gesprochen, die ein langes Leben und Wohlergehen erflehen. Zum Schluß versteckt man Mutter und Kind, wenn es sich um eine Erstgeburt handelt, damit kein mit dem bösen Blick Behafteter sie sieht. Die Festgemeinde verbringt den Rest des Tages mit Tanzen und Schmausen, und zur Feier des Tages wird eine Ziege oder ein Schaf geschlachtet. Der Name des Kindes richtet sich gewöhnlich nach dem Tag der Woche, an dem das Kind geboren wurde, ein Brauch, der auch bei einigen Völkern Ghanas zu finden ist. Die Schöna kennen keine besondere Zeremonie anläßlich der Namengebung, die einige Tage nach der Geburt vom Vater allein vorgenommen wird. Bei den Luo wird der Name des Kindes ausgesucht, während es schreit. Man zählt eine Reihe von Namen der Totenseelen vor ihm auf, und wenn das Kind bei der Nennung eines bestimmten Namens zu schreien aufhört, empfängt es diesen Namen. Die Kamba geben ihren Kindern am dritten Tage nach der Geburt einen Namen und halten aus diesem Anlaß eine Freudenfeier ab. Am vierten Tage hängt der Vater dem Kind ein eisernes Halsband um; danach gilt es als vollwertiger Mensch, der keinen Kontakt zur Geisterwelt mehr unterhält. Vorher sieht man das Kind als einen den Geistern gehörenden „Gegenstand" an, und sollte es vor der Namengebungszeremonie sterben, so würde die Mutter ritual unrein werden und müßte sich Reinigungsriten unterziehen. Nach der Namengebung vollziehen die Eltern am selben Abend einen rituellen Koitus. Mit diesem Ritual wird die Trennung des Kindes von den Geistern und Totenseelen und seine Aufnahme in die Gesellschaft besiegelt. Die Namen werden von Frauen gewählt, die selber Kinder haben, und den meisten von ihnen kommt ein bestimmter Sinn zu. Die festgesetzte Zeitdauer und die Art und Weise des Stillens der Kinder fallen sehr verschieden aus. In einigen Gesellschaften stillt die Mutter zwei Jahre oder noch länger, und während dieser Zeit sind Geschlechtsbeziehungen mit ihrem Gatten nicht statthaft. Bei anderen Völkern kann jede stillende Frau aufgefordert werden, das Kind einer anderen zu nähren. Manchmal begreift der Vorgang des Stillens und Entwöhnens auch eine Verschickung des Kindes zu Verwandten ein. Während der Stillzeit wird das Kind an der Brust oder auf dem Rücken der Mutter oder eines anderen weiblichen Mitglieds der Dorfgemeinschaft getragen. Dieser enge Kontakt zwischen Mutter und Kind gibt dem Kinde psychologisch ein tiefes Gefühl der Geborgenheit.
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Gewöhnlich stillen afrikanische Mütter ihre Kinder an jedem erdenklichen Ort. Sie empfinden keinerlei Verlegenheit oder Scham, ihre Brust offen zur Schau zu tragen. Die Brüste sind Symbole des Lebens, und je stärker sie entwickelt sind, desto mehr weiß man sie zu schätzen, sind sie doch ein Zeichen, daß die betreffende Frau einen reichlichen Milchvorrat für ihr Kind hat. Wenn stillende Mütter auf Marktplätzen, bei kirchlichen Versammlungen oder im Autobus ihre Brust freimachen, um ihr Kind zu nähren, so wird dies weder als nackt noch als geschlechtlich aufreizend empfunden. Wer solche Mütter unanständig findet, sollte überprüfen, ob er den afrikanischen Begriff der „Nacktheit" überhaupt verstanden hat. Holzschnitzereien, die Mutter und Kind darstellen, betonen oft besonders die Brüste, denn diese sind der Stolz der Mutterschaft und verkünden: „Ich bin fruchtbar". Fruchtbarkeit ist aber das Ideal einer jeden afrikanischen Frau. Wir haben gesehen, wie Geburt und Kindheit Teile eines religiösen Vorgangs sind, bei dem das Kind dauernd in eine religiöse Sphäre, bestehend aus Tätigkeiten und Haltungen, eingetaucht ist, die es bereits lange vor der Geburt umfängt. Das Kind setzt nicht nur die Linie des leiblichen Lebens fort, was dadurch zum Ausdruck kommt, daß einige Völker es als Reinkarnation der Verstorbenen ansehen, sondern es wird auch zum zutiefst religiösen Brennpunkt elterlicher Hoffnung, da die Eltern in ihm den Garanten ihrer persönlichen Unsterblichkeit sehen. Die leiblichen Aspekte der Geburt und die Zeremonien, die mit Schwangerschaft, Geburt und Kindheit Hand in Hand gehen, werden stets aus dem Blickwinkel religiöser Empfindung und Erfahrung betrachtet. Alles deutet darauf hin, daß ein neues religiöses Wesen in eine zutieft religiös geprägte Gemeinschaft und in eine religiöse Welt hineingeboren wurde.
EINWEIHUNGS- U N D PUBERTÄTSRITEN Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, wie Kinder leiblich und religiös-geistig geboren werden. Die Geburts- und Kindheitsriten führen das Kind in das Leben der Gesamtgemeinschaft ein, aber sie stellen lediglich ein Vorstufe dar. Das Kind verhält sich dabei passiv und hat noch einen langen Weg vor sich. Es muß der Kindheit entwachsen und leiblich., sozial wie religiös in das Erwachsenenstadium treten. Dieser
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Einweihungs- und Pubertätsriten
Wechsel stellt auch einen Übergang von passiver zu aktiver Mitgliedschaft in der Gesellschaft dar. Die meisten afrikanischen Völker kennen besondere Riten und Zeremonien, um diese große Veränderung besonders zu unterstreichen, und nur einige wenige halten keine Einweihungs- und Reifefeiern ab. Die Initiation der Jungen ist einer der Höhepunkte im Rhythmus des Einzellebens, welcher dem Lebensrhythmus der Gesamtgruppe angepaßt ist. Was mit dem einzelnen jungen Menschen geschieht, geht kollektiv seine Eltern, Verwandten, Nachbarn und die Totenseelen an. Die Initiationsriten haben, abgesehen von den drastischen körperlichen Eingriffen und dem Eindruck, den diese im Weihling hervorrufen, mancherlei symbolische Bedeutung. Bevor wir konkrete Beispiele anführen, können wir uns mit einigen der religiösen Sinngehalte befassen. Die Jugendlichen werden rituell in die Kunst des Gemeinschaftslebens eingeführt. Dies geschieht, während sie fern von den Dörfern zurückgezogen im Walde oder in eigens für die Zeremonie gebauten Hütten wohnen. Sie müssen eine Zeit der Loslösung von der Gesellschaft und des Fernseins vom Vaterhaus durchlaufen. Während dieser Zeit werden sie in geheimen Dingen unterwiesen, bis man ihnen erlaubt, wieder zu ihren Angehörigen nach Hause zurückzukehren. So erleben sie symbolisch das Sterben, das Leben in der Geisterwelt und die Wiedergeburt. Die Wiedergeburt, d.h. der Akt der Rückkehr zur Familie, betont in dramatischer Weise die Tatsache, daß die Jünglinge jetzt neue Menschen mit neuer Persönlichkeit sind. Sie sind ihrer Kindheit ledig, und in einigen Gesellschaften werden ihnen sogar völlig neue Namen verliehen. Ein weiterer wichtiger Sinn der Riten liegt darin, daß die Weihlinge in die Erwachsenwelt eingeführt werden. Sie dürfen jetzt an allen Rechten und Pflichten der Gemeinschaft voll Anteil nehmen. Sie treten in der Stand der Verantwortlichkeit ein, erwerben neue Rechte und übernehmen neue Verpflichtungen, deren Erfüllung die Gesellschaft von ihnen verlangt. Diese Eingliederung in das Leben der Erwachsenen ist gleichzeitig eine Einführung in die Welt der Totenseelen und die des ungeborenen Lebens. Die Initiationsriten geben den jungen Menschen das nötige Rüstzeug für ihr Geschlechtsleben, für Ehe, Fortpflanzung und Familienverantwortung. Von nun an dürfen sie ihr Blut für ihr Land vergießen und ihre biologische Saat pflanzen, so daß die Bahn für die nächste Generation frei ist.
Initiationsriten bei den Kamba
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Die Initiationsriten verfolgen einen eminent erzieherischen Zweck. Sie bezeichnen oft den Beginn eines Wissenserwerbs, der den Nichteingeweihten verwehrt bleibt. Die Initiation ist eine Zeit des Erwachens zu neuen Dingen, ein Morgenrot der jungen Generation. Sie lernt Strapazen überstehen, miteinander leben, gehorchen, sie erlernt die Geheimnisse und Wunder der Mann-Weibbeziehung. In einigen Gebieten, besonders in Westafrika, schließen die jungen Männer sich Geheimgesellschaften an, von denen eine jede ihre eigenen Geheimnisse, ihre eigenen Betätigungen und ihre eigene Sprache hat. Wir werden nun die Initiationsriten anhand konkreter Beispiele betrachten. In manchen Einzelheiten gibt es natürlich beträchtliche Unterschiede, aber Sinn und Grundbedeutung weisen überall frappante Ähnlichkeiten auf. Bei den meisten Völkern finden die Initiationsriten während der Pubertät statt, aber es gibt Stämme, bei denen sie vor oder nach der Pubertät vollzogen werden. Es wäre daher irrig, sie lediglich als „Reifefeiern" zu bezeichnen. a) Initiationsriten bei den Kamba
Die Einweihungsriten bei den Kamba zerfallen in drei Teile, von denen die beiden ersten die wichtigsten sind. In früherer Zeit mußte ein jeder die beiden ersten Stufen durchlaufen, während nur eine geringe Anzahl von Männern die dritte Stufe kennenlernte, die den über Vierzigjährigen vorbehalten war. Ohne Initiation kann kein Mensch ein vollberechtigtes Mitglied des Kambavolkes sein. Wie alt oder groß er auch sein mag, solange er nicht initiiert ist, stößt er nur auf Verachtung und wird sein Leben lang als Knabe oder Mädchen betrachtet. Die Kinder müssen sich der ersten Stufe der Initiationsriten unterziehen, wenn sie etwa vier bis sieben Jahre alt sind. Die Zeremonie findet in den Monaten August bis September statt, wenn es trocken und verhältnismäßig kühl ist. Es werden sowohl Knaben (Zirkumzision) als Mädchen beschnitten (Exzision). Der Tag der Zeremonie wird für ein bestimmtes Gebiet im voraus angekündigt. Wenn er gekommen ist, werden alle Weihlinge von ihren Eltern und Verwandten zu dem Hause geführt, wo die Zeremonie stattfinden soll. Männliche Spezialisten beschneiden die Knaben, während weibliche Spezialisten die Operation an den Mädchen durchführen. In beiden Fällen wird ein besonderes Messer benützt. Der körperliche Eingriff findet in aller Morgenfrühe statt. Bei den Knaben wird das Präputium abgeschnitten, und bei
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Einweihungs- und Pubertätsriten.
den Mädchen wird ein kleiner Teil der Klitoris in ähnlicher Weise entfernt. Die Männer versammeln sich, um den Knaben zuzuschauen, und die Frauen, um die Mädchen zu beobachten. Die Operation ist schmerzhaft, aber die Kinder werden ermutigt, sie ohne Jammern und Schreien zu ertragen. Diejenigen, die die Prüfung tapfer bestehen, werden von der Gemeinschaft in überschwenglicher Weise gepriesen. Danach findet eine öffentliche Lustbarkeit mit Tanz, Gesang und Biergelage statt, wobei auch den Totenseelen Trank und Speise dargeboten werden. Wenn im Laufe der folgenden Wochen die Wunde im Heilen begriffen ist, besuchen die Familienangehörigen die neugeweihten Knaben und Mädchen und bringen ihnen Geschenke wie Hühner, Geld, Schmuck und sogar Schafe und Rinder, sofern der Geber es sich leisten kann. Damit ist die erste Stufe der Initiation abgeschlossen. Welches ist ihr Sinn und ihre Bedeutung? Das Abschneiden der Haut vom Geschlechtsorgan symbolisiert in dramatischer Form die Trennung von der Kindheit. Es ist ein Parallelvorgang zum Abschneiden der Nabelschnur gleich nach der Geburt. Durch das Geschlechtsorgan ist das Kind mit dem Stande der Unwissenheit, Untätigkeit und möglicherweise Impotenz (Geschlechtslosigkeit) verbunden. Sobald aber diese Verbindung gelöst ist, ist der junge Mensch auch vom Stande der Unwissenheit und Untätigkeit befreit. Er wird dafür in den Stand des Wissens, der tätigen Bemühung und der Fortpflanzung hineingeboren. Solange ein Mensch noch nicht eingeweiht ist, kann er nicht heiraten und darf keine Kinder zeugen oder zur Welt bringen. Das Vergießen seines Blutes auf dem Erdboden bindet den Weihling in mystischer Weise an die Totenseelen, die symbolisch unter der Erde leben oder zumindest durch das Ausgießen eines Trankopfers auf den Boden erreicht werden können. Es ist das Blut der Neugeburt. Die körperlichen Schmerzen, welche die Kinder aushalten müssen, sind ein Vorgeschmack auf die Schwierigkeiten und Leiden, die sie im späteren Leben zu überstehen haben werden. Das Aushalten von körperlichen und seelischen Schmerzen gilt beim Kambavolk als große Tugend, wie übrigens auch bei anderen afrikanischen Völkern, da dem Leben in Afrika aus vielen Quellen Schmerz und Qual zufließen. Die den Initianden von ihren Angehörigen gegebenen Geschenke sind Willkommenszeichen der Gemeinschaft, in die sie nun voll aufgenommen werden. Sie weisen gleichfalls symbolisch auf die Tatsache hin, daß die jungen Leute von nun an Eigentum besitzen und erwerben können, daß sie neue Rechte erwerben und sagen
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d ü r f e n : „Dies ist mein Eigentum", auch w e n n sie es vielleicht mit der G r u p p e gemeinsam besitzen. D e r Besitz v o n Eigentum f ü h r t schießlich zur nächsten wichtigen Stufe, der Zeit der Ehe. Das Tanzen u n d Feiern trägt zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls bei u n d betont die Zusammengehörigkeit der Gruppe. Erst nach dieser ersten Initiationsfeier dürfen junge Leute an öffentlichen Tanzveranstaltungen teilnehmen. Die T r a n k - u n d Speisegaben an die Totenseelen besiegeln u n d erneuern das Band zwischen den Menschen u n d ihren Toten, zwischen der sichtbaren u n d unsichtbaren W e l t . Es ist hier jedoch zu bemerken, daß Kinder, die v o r der W e i h e bereits ihre Eltern verloren haben, viel später zur Initiation zugelassen w e r d e n als sonst üblich. W a r u m dies so ist, ist nicht völlig klar, doch dürfte der G r u n d dafür sein, daß m a n den Kindern m e h r Zeit z u m Wachsen geben will, da die W e i h e ihnen eine große V e r a n t w o r t u n g aufbürdet. Zwischen der ersten u n d zweiten Initiation gibt es keine bestimmte Zeitspanne. D i e zweite Initiation kann v o n einem Zeitpunkt wenige W o c h e n nach der ersten bis etwa z u m fünfzehnten Lebensjahr jederzeit anberaumt werden. W ä h r e n d die erste Initiationsfeier körperliche D i n g e z u m Mittelpunkt hat, verfolgt die zweite vor allem erzieherische Zwecke. D i e zweite Feier, die als die große oder Hauptinitiation bekannt ist, w i r d v o n einen Haushalt veranstaltet, der selber gerade keine Weihlinge stellen kann. Es gilt als eine große Ehre, Träger der Veranstaltung zu sein, u n d m a n glaubt, diese Ehre den Totenseelen der Familie zu verdanken. Die Feier dauert vier bis zehn Tage. W ä h r e n d eines Teils dieser Zeit werden die Weihlinge v o n der Öffendichkeit ferngehalten u n d leben in Hütten, die in einiger Entfernung v o m D o r f e errichtet w o r d e n sind. In ihrer Begleitung befinden sich Aufseher u n d Lehrer, denen die V e r a n t w o r t u n g übertragen ist, ihren Zöglingen eine Einf ü h r u n g in alle Probleme der Mannbarkeit zu geben. Diese Tätigkeit w i r d v o n den K a m b a als das „Bebrüten der W e i h l i n g e " bezeichnet, ein Vergleich mit d e m B r ü t v o r g a n g bei den Vögeln. A m ersten T a g lernen die Kandidaten Lieder erzieherischen Inhalts u n d begegnen symbolischen Hindernissen. A m zweiten Tage müssen sie einem schrecklichen Untier, mbusya (Rhinozeros) genannt, gegenübertreten. In einigen Teilen des Landes müssen n u r die Jünglinge dieses Abenteuer bestehen, w ä h r e n d es in andern Landesteilen sowohl f ü r Jünglinge als auch Mädchen V o r schrift ist. Es handelt sich bei diesem Tier u m ein v o n Menschenhand hergestelltes Gefüge aus Baumästen u n d Stöcken, in dessen Innerem
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jemand ein furchterregendes Gebrüll ausstößt, das sich wie die Stimme eines Ungeheuers anhört. Die Weihlinge wissen nicht, was es ist, denn schließlich ist dies eines der Geheimnisse der Initiationszeremonie. Nachher dürfen sie diesen Vorgang den Nichteingeweihten nicht verraten. Sie treten tapfer gegen das „Rhinozeros" an und schießen mit Pfeil und Bogen darauf, um es zu töten, wie man einen ungeschlachten Gegner töten würde. In der darauffolgenden Nacht vollziehen der Mann und die Frau, die bei der ersten Zeremonie die Beschneidung vornahmen, einen rituellen Geschlechtsakt, und die Eltern des Weihlings tun in der dritten und siebenten Nacht desgleichen. Am dritten Tage üben die Weihlinge das Leben der Erwachsenen. Die Jünglinge gehen mit Pfeil und Bogen „kleinen Kalibers" auf die Jagd, und die Mädchen schneiden kleine Zweige ab, die Brennholz für das Heim symbolisieren. Später am selben Tag spucken die Operateure der ursprünglichen Beschneidungszeremonie als Segensgeste Bier über die Weihlinge aus, und die Jugendlichen kehren in ihr Buschhaus zurück. Hier müssen sie Hindernisse überwinden, die ihnen in den Weg gestellt werden. Jeder Junge bekommt einen besondern Stock, den er nicht aus der Hand geben darf. Am Abend findet für die Weihlinge ein Tanz statt, wobei die Jungen an den Mädchen mit ihren Stöcken symbolische geschlechtliche Handlungen vollführen. Am folgenden Tag müssen sie als Prüfungsaufgabe Rätsel lösen, die in die Stöcke eingeschnitzt oder in den Sand gezeichnet sind. Danach ziehen die Jungen aus, um Zuckerrohr zu beschaffen — eine erlaubte Form des „Diebstahls", die für diesen besonderen Zweck als zulässig und notwendig gilt. Aus dem Zuckerrohr bereiten sie Bier für die aufsichtführenden Amtsträger. Am fünften Tag begeben sich Weihlinge und Amtsträger zusammen zum heiligen Baum, der gewöhnlich ein Feigen- oder Sykamorenbaum am Ufer eines Flusses ist. Die Aufseher zapfen dem Baum etwas Saft ab und geben jedem Weihling davon. Die Weihlinge machen damit die Geste des Trinkens und dürfen hiernach alle die Speisen zu sich nehmen, die zu essen man ihnen am Vortage untersagt hatte. Unter diesem Baum ritzen die Operateure den Weihlingen leicht das Geschlechtsorgan an, worauf dann Bier gegossen wird. Am sechsten Tage geht alles friedlich zu. Am siebten Tage dagegen vollführen die Jungen die Pantomime eines Überfalls auf eine Viehherde, während die Mädchen rufen, die Feinde seien gekommen. Damit
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ist die Zeremonie meist zu Ende, und die jungen Leute kehren nach Hause zurück. Ihre Eltern vollziehen in der darauffolgenden Nacht einen rituellen Geschlechtsakt.1 Unsere lange Beschreibung zielt darauf hin, die Bedeutung des Initiationsritus ziemlich eingehend zu illustrieren. Gewisse Sinngehalte dieser Zeremonie werden ohne weiteres klar. Durch ihr Zusammenleben in den besonders hergerichteten Hütten im Walde wird das Denken der jungen Leute auf das Leben in der Gemeinschaft ausgerichtet. Ihr Gemeinschaftserlebnis spiegelt das Leben im Gemeindeverband im kleinen wider. Die Amtsträger spielen die Rolle der Ältesten, und es ist von äußerster Wichtigkeit, daß die Jungen den Alteren gehorchen und ihnen Respekt zollen, ob sie nun ihre Eltern sind oder nicht. Die Seklusion dient dazu, daß die Weihlinge sich völlig auf ihr Erlebnis und ihre Tätigkeit konzentrieren können, ist aber gleichzeitig auch ein Spiel vom Tod. Für die jungen Leute wie für die weitere Gemeinschaft kündigt sich ein neuer Lebensrhythmus an. Wenn die Zeit der Abgeschlossenheit vorüber ist, treten sie als voll qualifizierte und rechtlich anerkannte Männer und Frauen hervor, die Familien gründen, Väter und Mütter werden und ihr Land verteidigen dürfen, woraus sich der Scheinüberfall und die symbolische geschlechtliche Handlung erklären, die ein Teil der Zeremonie sind. Die schreckenerregende Szene mit dem Rhinozeros ist ein psychologisches Mittel, den Ernst des Initiationsvorganges zu unterstreichen, aber auch eine Mutprobe, die bezweckt, die Furcht der Weihlinge zu vertreiben, so daß sie bei Gefahr nicht fliehen, sondern sich und ihre Familie tapfer verteidigen. Die auf Stöcken geschnitzten oder im Sand gezeichneten Rätsel sind Symbole jenes Wissens, zu dem die Kandidaten nunmehr vollen Zugang haben. Die Weihlinge sind von jetzt an berechtigt, alle Geheimnisse des Stammeslebens und -wissens zu erfahren, wenn man die Sonderkenntnisse bestimmter exklusiver Gruppen ausnimmt. Der Ritus am heiligen Baum ist eine Mahnung, voll am religiösen Leben teilzunehmen, aber auch ein symbolischer Besuch bei den Totenseelen und Geistern, die dort hausen sollen. Durch diesen Besuch wird die Verbindung mit der Samaniperiode und mit der spirituellen Wirklichkeit bestätigt und die Erinnerung an die Gegenwart der Totenseelen wachgehalten. Die Erlaubnis, vorher verbotene Speisen wieder zu genießen, ist ein symbolischer Hinweis darauf, daß den Weihlingen nun der Weg zur vollen 1
D. N . Kimilu: Mukamta Waw'o,
Nairobi, 1962, S. 3of; Middleton I, S. 88f.
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Einweihungs- und Pubertätsriten
Teilnahme an allen Angelegenheiten der Nation offensteht. Der leichte Einschnitt am Geschlechtsorgan, der unter dem heiligen Baum vorgenommen wurde, deutet auf die Heiligkeit des Geschlechtlichen vor Gott, den Geistern, den Totenseelen und der menschlichen Gemeinschaft hin. Die Heimkehr der Weihlinge kommt einem Wiederauferstehungserlebnis gleich: der Tod ist überwunden, ihre Absonderung beendet, und nun schließen sie sich erneut ihrer Gemeinde an, diesmal als neue Männer und Frauen, die als solche voll anerkannt und geachtet werden. Der rituelle Koitus der Eltern, welcher die Zeremonie besiegelt, besagt auf symbolische Weise, daß ihre Kinder jetzt fruchtbar sind, daß sie die Initiation bestanden haben und berechtigt sind, die brennende Fackel des Lebens weiterzutragen und daß schließlich eine neue Generation ihre Lehrjahre abgeleistet hat und zum Dienst an der Gemeinschaft bereitsteht. Die Kamba-Männer können sich noch einem dritten Initiationsritus unterziehen, wenn sie das vierzigste Lebensjahr überschritten haben. In Wirklichkeit nimmt aber nur eine geringe Zahl daran teil, und die Zeremonie ist so geheim, daß unter Nichtteilnehmem nur wenig davon bekannt ist. Sie kommt einem rituellen, mystischen Erlebnis gleich. Nachdem der eigentliche Ritus zu Ende ist, müssen die Kandidaten weitere Stufen durchlaufen. Der Ritus umfaßt unter anderem schwere Belastungsproben und Qualen. Dabei vollbringen die Männer Handlungen, die nicht als ihre eigenen angesehen werden, da sie sich in einem Zustand völliger Selbstentäußerung befinden. Die Zeremonie wird fern von den Dörfern im geheimen abgehalten, und die zur Initiation erschienenen Männer stehen unter einem so streng verbindlichen Geheimhaltungseid, daß sogar diejenigen von ihnen, die später Christen werden, sich nicht dazu bereitfinden, über die wirklichen Vorgänge Auskunft zu geben. h) Initiationsriten
der
Massai
Bei den Massai finden alle vier bis fünf Jahre für die jungen Leute von zwölf bis sechzehn Jahren Beschneidungsriten statt. Alle zusammen Beschnittenen bilden eine Altersklasse, die ein Leben lang zusammenhält, und nehmen besondere neue Namen an. Zur Vorbereitung auf die Zeremonie versammeln sich alle Weihlinge zunächst waffenlos und mit weißem Ton bemalt. Dann verbringen sie an die zwei Monate damit, das Land zu durchstreifen. Am Vortag der Zeremonie waschen
Initiationsriten der Massai
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die Knaben sich in kaltem Wasser. Nach dem Abschneiden der Vorhaut wird das Blut in einer Ochsenhaut gesammelt und jedem Knaben damit der Kopf gesalbt. Die Knaben werden vier Tage lang in strenger Seklusion gehalten, wonach sie in Frauenkleidung, mit weißen, tonbemalten Gesichtern und einem Kopfschmuck aus Straußenfedern wieder in Erscheinung treten. Ein paar Wochen später, wenn ihre Geschlechtsorgane verheilt sind, wird ihnen der Kopf kahlrasiert; nun können sie sich das Haar neu wachsen lassen und zu Kriegern avancieren. Für die Mädchen gibt es eine eigene Zeremonie, bei der ein Teil des Geschlechtsorgans abgeschnitten oder durchbohrt wird. Sie nehmen als Kopfputz Gras oder die Blätter eines bestimmten Baumes (der Dumoder Astpalme). Wenn ihre Wunden verheilt sind, können die Mädchen sich verheiraten. In einigen Teilen des Landes Verden ihnen die Köpfe glattrasiert.2 Wir messen diesem Beispiel eine ähnliche Bedeutung bei wie der Kamba-Zeremonie. Sämtlichen Zeremonien liegt der gleiche Sinn zugrunde: die Lostrennung von der Kindheit und die Aufnahme in die Welt der Erwachsenen. Der am Geschlechtsorgan vorgenommene Eingriff des Schneidens oder Durchbohrens und das Abrasieren des Haupthaares symbolisieren den Bruch mit dem alten Stande und den Eintritt in einen neuen. Das Beschmieren des Gesichtes mit weißem Ton ist das Symbol einer neuen Geburt, eines neuen Menschen und eines neuen sozialen Standes. Wenn die Zeremonie vorüber ist, fängt für die Männer die Kriegerlaufbahn an. Sie dürfen nun ihr Land verteidigen oder Kriegszüge gegen andere Völker unternehmen. Die Frauen sind bereit zu heiraten, was häufig auch auf der Stelle geschieht. So wird der Rhythmus des Aufbruchs einer neuen Generation dramatisch dargestellte. Die jungen Leute, die gemeinsam die Initiation bestanden haben, bleiben für den Rest ihres Lebens rituell und mystisch miteinander verbunden. Sie sind in Wirklichkeit ein Leib, eine Gruppe, eine Gemeinschaft, ein Volk. Sie helfen sich gegenseitig auf vielfache Art. Die Frau eines Mannes ist zugleich auch die Frau der anderen Männer in derselben Altersklasse, und wenn ein Angehöriger der Initiationsgruppe einen anderen besucht, ist er berechtigt, mit der Frau seines Gastherrn zu schlafen, mag dieser nun zu Hause sein oder nicht. Damit wird die Gruppensolidarität in einem ganz entscheidenden Punkte betont, so daß der einzelne zutiefst empfindet: „Ich bin, weil wird sind, und weil 2
A . van Gennep: The Rites of Passage. Englische Ausgabe i960, S. 85 f.
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Einweihungs- und Pubertätsriten
wir sind, bin ich". Diese Solidarität schafft ein Gefühl der Sicherheit und des Einsseins und eröffnet dem einzelnen immer neue Möglichkeiten der Teilnahme an der Gemeinschaftsexistenz. c) Weibliche Initiationsriten bei den Nandi3 U m eine Darstellung der weiblichen Initiation zu bieten, nehmen wir das Beispiel der Nandi, deren Initiationsriten zu den höchstentwickelten und ausgiebigsten gehören. Die weibliche Weihefeier der Nandi ist „eine Vorbereitung auf das Erwachsensein und auf den Hausfrauenstand", und keine Frau kann ohne sie heiraten. Lange vor der Weihe, und zwar von etwa zehn Jahren ab, müssen die Mädchen mit den Jungen zusammen in Schlafstätten übernachten, die als sikiroino bekannt sind.4 Diese Sitte ist obligatorisch, und wenn Mädchen sich ihr zu entziehen versuchen, dürfen die Jungen sie schlagen, ohne daß die Eltern sich einmischen. Die Sitte bezweckt, die Mädchen sexuelle Selbstbeherrschung und das rechte Verhalten Männern gegenüber zu lehren. Wenn die Jungen und Mädchen gemeinsam übernachten, ist Geschlechtsverkehr nicht statthaft. Später wird untersucht, ob die Mädchen ihre Unschuld bewahrt haben. Sollte dabei festgestellt werden, daß sie ihre Jungfräulichkeit eingebüßt haben, so kommt große Schmach und der Zorn der Gesellschaft über sie und ihre Familie. In manchen Fällen werden solche Mädchen mit Speerwürfen getötet, während die Unversehrten Kühe oder Schafe zum Geschenk erhalten. Wenn der Zeitpunkt der Initiationsriten gekommen ist, führen mehrere Familien ihre Töchter zusammen, um sie gemeinsam einweihen zu lassen. Die Mädchen sind jetzt etwa vierzehn Jahre alt. Ihre Freunde achten darauf, daß die Mädchen für das Fest geziemend und schön angezogen sind und geben jedem einzelnen „einen Perlenhut sowie Oberschenkel- und Fußgelenkglocken". Mit diesem schwerfälligen Prunk ausgestattet geht das Mädchen von Haus zu Haus und kündigt seinen Angehörigen den Zeitpunkt der Zeremonie an. Die Oberschenkel3
4
S. Cherotich: „The Nandi Female Initiation and Marriage and Christian Impact upon It", Dini na Mila, Kampala, Bd. 2, Nr. 2/3, Dezember 1967, S. 62—77, wo sich eine vollständige und sehr interessante Darstellung findet, woraus die wesentlichsten Züge und die Zitate dieses Abschnitts mit freundlicher Erlaubnis der Verfasser in entnommen wurden. Ein sikiroino ist ein Haus, wo die Mädchen und jungen Männer eines bestimmten Dorfes oder einer Gruppe von Dörfern sich nachts zum Schlafen einfinden.
Weibliche Initiationsriten bei den Nandi
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glocken, von denen vier an jedem Schenkel getragen werden, sind das offizielle Kennzeichen, daß die Initiationsfeier der Trägerin kurz bevorsteht. Die Nacht vor dem festlichen Tage verbringen die Mädchen mit ihren Freunden im sikiroino. Die Mädchen sind sehr aufgeregt, denn ihr größter Tag steht ihnen bevor. „Sie werden von einer Art Irrsinn befallen, der sie alle Schmerzen und Ängste verachten läßt und sie in andere Wesen verwandelt. Daraus erklärt sich, wie die Mädchen eine solch harte Ausbildung durchhalten und die schmerzhafte Operation überstehen können." Am Morgen des Tages, an dem die Zeremonie stattfindet, gehen die Mädchen mit einer „Lehrerin" oder „Aufseherin" in den Wald, um Feuerholz zu schlagen. Das Schlagen erfolgt in zeremonieller Form; Lehrerin und Weihling zerkleinern zusammen ein Stück Feuerholz, wobei sie die Axt gemeinsam halten. Diese Handlung bezweckt, die Zusammengehörigkeit der Weihlinge hervorzuheben, die sich nun als ein Leib, als eine Gruppe empfinden. Die Lehrerin, welche motiriot (Mz. motirenik) genannt wird, ist als Begleiterin der Weihlinge während der ganzen Zeremonie dabei. Sie hilft ihnen, bringt ihnen Neues bei und schläft bei ihnen. Sie ist das Symbol ihrer Einheit, ihre Beraterin, Stärkerin und Trösterin. Es wird nun ein Tanz für die Mädchen und ihre Freunde veranstaltet, währenddessen die mit der Leitung der Zeremonie betrauten Frauen im Hause, wo die Zeremonie stattfinden soll, scharfe Brennesseln zurechtlegen. Der Tanz dauert bis in die Nacht hinein. Dann beginnt die körperliche Seite des Initiationsvorganges. „Die Mädchen setzen sich nieder, und ihre Klitoris wird mit Band fest verschnürt. Dadurch wird jede weitere Blutzufuhr zur Klitoris gehemmt. Danach tanzen und springen die Mädchen noch einmal umher. Sie tanzen bis zur Erschöpfung. Dann treten alle zusammen, um von einer Ältesten den Segen zu empfangen. Sie betet darum, daß die Hände der Lehrerinnen (motirenik) leicht sein und ihre Aufgabe erfolgreich ausführen mögen. Alle stimmen ihr bei, indem sie das Wort wisis (leicht, nicht schwer) wiederholen". Die Jungen fangen nun an, die Mädchen zu hänseln; sie nennen sie Feiglinge und was es sonst noch an Schimpfnamen gibt. Damit beabsichtigt man, Mut und Tapferkeit in den Mädchen zu erregen, die gern den erforderlichen Mut an den Tag legen, wenn es zur eigentlichen Operation kommt. Die Mädchen singen, blasen schrille Pfeifen und prahlen, wenn ihre Freunde kämen, bräuchten sie nicht mehr auf Ii
Mbiti, Afrikanische Religion
Einweihungs- und Pubertätsriten
Tierfellen zu schlafen, sondern dürften auf Mädchenschenkeln ruhen. Dabei läuten sie kräftig ihre Glocken und „singen sich zu Tode". Noch später an diesem Abend begeben die jungen Männer sich auf kurze Zeit zur Ruhe. Die Mädchen werden von ihren Lehrerinnen ins Operationshaus geführt, wo Frauen ihre Klitoris mit den scharfen Brennesseln stechen. Dadurch wird die Klitoris betäubt und schwillt gleichzeitig an. Auch die Brüste werden mit Nesseln bestrichen. Die Frauen singen laut, um jedes etwaige Schreien der Mädchen, das durch die schmerzhafte Berührung mit den Nesseln hervorgerufen wird, zu übertönen. Am nächsten Tag begeben die Menschen sich in der Frühe zum Ort, wo die Zeremonie stattfinden soll und bleiben in etwa hundertfünfzig Metern Entfernung stehen. Die aktiv an der Zeremonie teilnehmenden Frauen bilden einen Kreis, und in der Mitte wird der Stuhl der Beschneiderin aufgestellt, die ein krummes Messer hält. In der Zwischenzeit haben die Frauen die Mädchen auf ihre Jungfräulichkeit untersucht. Jene, die noch Jungfrauen sind, dürfen zur Operation auf einem Schemel sitzen, während diejenigen, die keine Jungfrauen mehr sind, auf dem nackten Erdboden sitzen müssen. Die Initiandin sitzt mit weitgespreizten nackten Beinen und schaut zum Himmel. Die Beschneiderin hält die Klitoris mit der linken Hand fest und schneidet sie mit einer blitzschnellen Bewegung der Rechten ab. Das Mädchen empfindet jetzt noch keinen Schmerz, weil die Geschlechtsorgane von den scharfen Nesseln betäubt sind. Es stellt sich nur eine leichte Blutung ein, es sei denn, was aber selten vorkommt, daß die Blutgefäße nicht richtig abgebunden sind. Darauf schnallen die Mädchen sich ihre Schenkelglocken um. Die Zuschauer stürzen weg, um die Nachricht zu verbreiten, welche von den Mädchen Feiglinge, welche Jungfrauen gewesen sind und welche sich vorbildlich verhalten haben. Für die nähere und weitere Verwandtschaft der Weihlinge ist dies der kritischste Augenblick. Wird von einem Mädchen berichtet, daß es sich feige benommen habe oder keine Jungfrau gewesen sei, so schämen sich seine Eltern und Brüder so sehr, daß sie damit drohen, sich oder das Mädchen umzubringen. Nur das Eingreifen anderer Leute hält sie davon ab, die Drohung tatsächlich wahrzumachen. Wenn die körperliche Operation vorüber ist, legen die Mädchen Kleider aus Tierfellen an und beginnen, kräftig die Schenkelglocken zu läuten. Ihre Freunde beglückwünschen sie und nehmen den Putz und
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die sonstige Ausstattung, die sie ihnen aus Anlaß der Weihe gegeben hatten, wieder zurück. Die Mädchen sagen nun ihren Freunden und Verwandten Lebewohl. Die Eltern der Weihlinge nehmen eine Kletterpflanze (sinendet) mit nach Hause, die sie an ihrer Haustür aufhängen zum Zeichen, daß ihre Tochter initiiert worden ist. Hat ihre Tochter sich als feige erwiesen, so ist die Pflanze leicht angedörrt. Die Mädchen und ihre Helferinnen ziehen sich jetzt auf sechs Monate bis drei Jahre in die Abgeschiedenheit zurück. Dies ist die Zeit der Erziehung und Einführung in das Wissen und die Weisheit des Stammes. An den ersten vier Tagen haben die Mädchen große Schmerzen, und man gibt ihnen Milch zu trinken und Fleisch zu essen, ob sie wollen oder nicht. Danach essen sie mit hölzernen Löffeln (seketik), bis ihre Einweihungszeit vorüber ist. Sie gelten als religiös unrein und dürfen nichts berühren. Wenn eine von ihnen ihre Wunde berührt, wird sie von den Amtsträgerinnen heftig geschlagen. Sie dürfen Männer nie zu Gesicht bekommen, und wenn sie abends oder frühmorgens ausgehen, müssen sie ihr Haupt bedecken und den Blick niederschlagen. Den Rest des Tages müssen sie innen bleiben. Die Amtsträgerinnen oder Lehrerinnen unterrichten die Mädchen in Haushaltsdingen und ehelichen Beziehungen. Dabei werden Anweisungen gegeben, wie die Frau mit ihrem Mann schläft, wann sie sich des Geschlechtsverkehrs zu enthalten hat — während der Schwangerschaft und nach der Geburt, bis das Kind gehen gelernt hat — wie sie für den Mann anziehend bleibt und wie sie Kinder großzieht. Die Mädchen lernen auch „anständige" Eßsitten. Es ist z. B. verboten, gleichzeitig Fleisch zu essen und Milch zu trinken, und Kinder dürfen nicht gleichzeitig Honig und Fleisch essen, da sonst die Bienen ihre Stöcke im Stich lassen. Sie lernen das Notwendigste über das Wetter, über das Fleißigsein, die Rückgabe geliehener Gegenstände, über Freundlichkeit und Höflichkeit usw. Die Kenntnisse in der Kinderpflege gelten als der wichtigste Teil der Erziehung. Die Nandisitte erlaubt es den Männern nicht, ihre Kinder vor dem zehnten Lebensjahr oder sogar darüber hinaus zu berühren oder irgendetwas mit ihnen zu tun zu haben. Die Kindererziehung ist daher völlig Frauensache. Nach der Geburt eines Kindes gilt die Frau als unrein. Sie darf etwa sechs Monate lang oder noch länger nichts berühren und nicht einmal für ihren Mann kochen. Bevor sie ihr Kind stillen darf, muß sie sich erst im Fluß waschen und mit emporgehobenen Händen zurückkehren. Wenn sie sich dann hingesetzt hat, bringt man das Kind und legt es ihr auf den Schoß, 11*
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so daß sie es nähren, kann. Sollte sie sich nicht streng an diese Vorschrift halten, so kann viel Kummer und Leid oder sogar ihr Tod die Folge sein. Während dieser erzieherischen Phase der Seklusion „beginnt das Mädchen langsam, sich auf die Lebensweise der Frau einzustellen und wird so allmählich in Gedanken, Worten und Werken zur Erwachsenen. Sie vergißt ihr früheres Ich und blickt mit Verachtung auf ihre Vergangenheit herab. Sie hat entdeckt, wo sie im Leben wirklich hingehört. Sie ist gut genährt und in den meisten Fällen überfüttert". Wenn die Seklusionszeit vorüber ist, „sind die Mädchen sehr verändert... Sie sind riesengroß und gut im Fleisch. In ihrem körperlichen, seelischen und geistigen Gebaren hat eine wahre Revolution stattgefunden". Sie trauen sich nun zu, Hausarbeit zu leisten und die ihnen zufallende Verantwortung in der Gemeinde voll zu übernehmen. Oberflächlich betrachtet ist diese Initiationspraxis im Aussterben begriffen, was allerdings sehr langsam vor sich geht. Die Angriffe der christlichen Missionare auf diese Sitte haben keine großen Erfolge gezeitigt. Moderne junge Männer, die uneingeweihte Mädchen heiraten, lassen sie in aller Heimlichkeit „abfertigen", und auch Eltern, die nicht den Mut aufbringen, ihre Tochter öffentlich weihen zu lassen, tun es im geheimen. Man glaubt, daß bei einem uninitiiert gebliebenen Mädchen die Klitoris über Gebühr lang wird und sich verästelt und daß die Kinder nicht initiierter Frauen stets anormal sind. Nicht initiierte Frauen werden als „Kinder" betrachtet, und ihre Abkömmlinge heißt man „Kindeskinder". Unter diesen Umständen versteht man leicht die psychologische Bedeutung der Initiationsfeier. Wenn eine Person diese Zeremonie nicht mitgemacht hat, ist sie wirklich „niemand", „unvollständig" und noch ein „Kind". In einer Atmosphäre, wo die Gemeinschaftsexistenz über alles gilt, wäre es ein Ding der Unmöglichkeit, sich über eine solche Zeremonie hinwegzusetzen und nicht dafür büßen zu müssen. Früher oder später würde die betreffende Frau zur Zielscheibe des Spottes ihrer gesamten Verwandtschaft und Nachbarschaft werden, und alles Unglück, das über sie oder ihre Familie käme, würde der „klaffenden Lücke" in ihrem ritualen Wachstum zugeschrieben. Sobald die Mädchen die Seklusionsperiode zu Ende des Initiationsritus durchlaufen haben, heiraten sie. Während sie noch in der Abgeschiedenheit weilen, werden zwischen ihren Familien und denen ihrer Freunde Ehevorbereitungen getroffen. Wer diese Zeremonie nicht mitmacht, läuft Gefahr, unverheiratet zu bleiben oder mißgestaltete Kinder zu
Die Reifefeier bei den Ndebele
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gebären. "Das moderne Leben führt jedoch allmählich zu Veränderungen in Haltung und Praxis des Nandivolks. Obgleich die weiblichen Initiationsriten der Nandi sich vielleicht in Einzelheiten von denen anderer Völker unterscheiden, ist ihre Grundbedeutung doch ziemlich die gleiche. Es handelt sich u m ein Ritual der Reifung, u m eine dramatische Darstellung des Bruchs mit der Kindheit und der darauffolgenden Eingliederung in die Welt der Erwachsenen. Das Geschlechtsorgan ist das Symbol des Lebens. Durch den blutigen Eingriff werden seine Ausgänge freigelegt, so daß das Leben ungehemmt dahinströmen kann. Die Absonderung der W e i h linge symbolisiert den Tod, das Pflanzen der Saat in der Erde, und ihr Ende entspricht dem Sprießen der Schößlinge, der Auferstehung zu einem neuen Leben der Verantwortung. Durch die Initiationsriten f ü r Mädchen wie für Jünglinge erhält das Gemeinschaftsleben der Nation kräftigen Auftrieb, sein Rhythmus wird beschleunigt, seine Lebenskraft erneuert. Daher vergeht sich eine jede, die ihre Teilnahme an der Zeremonie verweigert oder den harmonischen Ablauf der Feier stört, indem sie sich feige zeigt oder ihre Jungfräulichkeit verloren hat, in gröblicher Weise an der gesamten Nandigesellschaft, ja sie tötet die Nation. Es nimmt daher nicht wunder, daß die von ihren Töchtern oder Schwestern in Schande gestürzten Eltern oder Brüder ihrerseits nun dazu bereit sind, sich und die Mädchen u m der Gemeinschaft willen umzubringen. Die Zeremonie ist ein zutiefst sakraler Vorgang, denn auf ihr beruht das Überleben der Nation. Sie ist die feierliche religiöse Dramatisierung des. menschlichen Sieges über T o d und Zerfall. d) Die Reifefeier bei den Ndebele W i r wollen nun noch kurz einen anderen Ritus betrachten, der sich von den oben beschriebenen Initiationsriten unterscheidet. Anstelle des förmlichen Initiationsritus haben die Ndebele eine kurze, doch genau so wirkungsvolle Zeremonie, u m den Umbruch zur Geschlechtsreife feierlich zu begehen. W e n n ein Knabe seinen ersten nächtlichen Samenerguß hat, steht er am nächsten Morgen in der Frühe vor allen anderen Leuten auf und geht nackend zum Fluß, u m sich zu waschen. Danach kehrt er heim und bleibt draußen vor seiner Heimstatt am Tor, das zum Kuhstall führt, stehen. W e n n die anderen Jungen ihn dort sehen, k o m men sie herbei und schlagen ihn mit Stöcken. Er flieht in die Wälder und hält sich etwa zwei bis drei Tage dort auf, wobei er von den anderen
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Einweihungs- und Pubertätsriten
Knaben sorgfältig unter Beobachtung gehalten wird. Während dieser Zeit darf er tagsüber keine Speisen zu sich nehmen, sondern nur nachts. Wenn die Zeit vorüber ist, kehrt er nach Hause zurück, wo der Naturheilkundige oder Medizinmann ihm mit Arznei versetzte Nahrung gibt. Dies geschieht in zeremonieller Form. Der Medizinmann schmiert etwas Maisbrei an das Ende eines Stockes und schleudert ihn dem Jungen entgegen, der ihn. mit dem Mund auffangen muß. Wenn ihm dies gelingt, erteilt der Medizinmann ihm drei oder vier Stockschläge, um ihn abzuhärten. Sein Vater und seine Verwandten schenken ihm Rinder, Schafe und Ziegen. Die Mädchen müssen sich nach ihrer ersten Menstruation einer langen Waschung in kaltem Wasser unterziehen. Einige Tage später veranstalten ihre Eltern ein großes Fest, wonach die Mädchen einen richtigen Rock zu tragen beginnen. Damit sind sie befugt zu heiraten.« Das Motiv von Tod und Auferstehung findet seinen Ausdruck im Verhalten der Knaben, die einige Tage lang im Walde hausen müssen. Der Bruch mit der Kindheit wird durch den Akt des Waschens dramatisiert. Diese rituelle Waschung gibt vielleicht auch der tieferen religiösen Idee der Reinigung vom Stande des unfruchtbaren Lebens Ausdruck. Sie ist gleichzeitig eine dramatische Darstellung der Vorbereitung auf das Leben der Erwachsenen und alles, was es umfaßt: Ehe, Eigentumserwerb, Verantwortung. In diesem Zusammenhang ist auch das Schlagen der Jungen zu deuten, das sie abhärten soll. Als „hart" zu gelten ist eine positive Eigenschaft, die den Betreffenden dazu berechtigt, voll in die größere Gemeinschaft mit all ihren Vorrechten und Ver-i antwortlichkeiten aufgenommen zu werden. In Westafrika gibt es weitbekannte Geheimgesellschaften für Männer und Frauen, denen man nur durch einen bestimmten Initiationsritus beitreten kann. Man liest auch, daß es bei den Ibo besondere Häuser zum Mästen der Mädchen gebe. In diesen Häusern werden die Mädchen mehrere Monate lang isoliert gehalten und dabei genährt und mit Öl gesalbt. Wenn sie ihre maximale Dicke erreicht haben und runde Wangen, stattliche Busen und prächtige Fettpolster um die Taille herum aufweisen, gelten sie als ehetauglich.7 Die dickste Frau ist auch die schönste. Korpulente Damen aus Europa und Amerika würden in Afrika ohne weiteres Schwärme von Verehrern anziehen. 6 7
Hughes und van Velsen, S. 96. f. Parrinder, I, S. 95 f.
Ehe und Zeugung In Afrika wandeln sich die Verhältnisse zusehends, und die Initiationsriten sind vielleicht von diesen Wandlungen am stärksten betroffen. Dies geschieht zum Teil, weil die Kinder im fraglichen Alter zur Schule gehen und zum anderen Teil, weil die chrisdichen Missionare und einige Regierungen diese Praktiken angegriffen oder mißbilligt haben. Wo jedoch Initiationsriten zum traditionellen Lebenszyklus gehörten, hält sich die Praxis noch, wenn manchmal auch in abgeänderter oder vereinfachter Form. Daß die Initiationsriten im traditionellen Leben von äußerster Wichtigkeit sind, braucht nicht weiter betont zu werden. Sollten sie zum Aussterben verurteilt sein, so werden sie jedenfalls eines langsamen und qualvollen Todes sterben. Für die Teilnehmer sind sie die „Mitte" des Lebens, nicht nur, weil sie oft mit den Umwälzungen der Reifezeit zusammenfallen, sondern auch, weil sie eine ganze Lebensphase beschließen, nämlich die Kindheit im weitesten Sinne des Wortes, und eine neue Lebensphase eröffnen: das Erwachsensein mit all seinen Konsequenzen. Angesichts dieser radikalen Veränderungen dramatisieren viele afrikanische Gesellschaften diese Lebenswende und verknüpfen sie mit körperlich-seelischen Erlebnissen, die dem einzelnen unvergeßlich bleiben.
EHE UND ZEUGUNG Die Ehe ist eine vielschichtige Angelegenheit, deren wirtschaftliche, soziale und religiöse Aspekte sich oft so sehr überschneiden, daß sie schwer von einander zu trennen sind. Wir vollen uns nur kurz mit der religiösen Seite befassen, sollten dabei aber stets die Tatsache im Auge behalten, daß es auch diese anderen Dimensionen noch gibt, die zu einem volleren Verständnis afrikanischer Ehevorstellungen und -gebräuche beitragen können. Für die afrikanischen Völker ist die Ehe der Brennpunkt des Lebens. Sie ist der soziale Ort, wo alle Mitglieder einer Gemeinschaft sich begegnen: die Verstorbenen, die Lebenden und die Ungeborenen. Hier stoßen alle Zeitdimensionen zusammen, hier wiederholt und erneuert sich das Drama der Geschichte und schöpft neue Kräfte. Die Ehe ist ein Schauspiel, zu dem keine Zuschauer zugelassen werden: jeder ist Schauspieler oder Schauspielerin. Sie ist mithin eine Pflicht, ein Gebot der gesamten Gesellschaft und ein Mitschwingen im Lebensrhythmus,
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Ehe und Zeugung
dem sich niemand versagen darf. Wer sich ihr entzieht, ist ein Fluch für die Gemeinschaft, ein Gesetzesbrecher und Rebell, er ist nicht nur abnorm, sondern untermenschlich. Wer es unter normalen Umständen versäumt, sich zu verheiraten, verwirft die Gesellschaft und wird daher auch von ihr verworfen. In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, daß Ehe und Zeugung in der afrikanischen Gesellschaft eine Einheit bilden. Ohne Zeugung ist die Ehe unvollkommen. Es ist dies eine Einheit, die zumindest teilweise die verlorene Gabe der Unsterblichkeit, von der wir in Kapitel 9 sprachen, wiederzugewinnen versucht. Die Ehe ist eine religiöse Verpflichtung; wer sie erfüllt, trägt Lebenssaat zum Kampfe der Menschheit gegen den Verlust der ursprünglichen Unsterblichkeit bei. Biologisch pflanzen sich die beiden Gatten in ihren Kindern fort, und so wird der Weiterbestand der langen Menschheitskette gewährleistet. In einigen Gesellschaften herrscht der Glaube, daß die Totenseelen zum Teil reinkarniert werden, d. h. daß Aspekte ihrer Persönlichkeit oder ihrer körperlichen Merkmale in ihren Nachkommen wiedererscheinen. Ein Mensch, der keine Nachkommen zeugt, löscht daher faktisch das Feuer des Lebens aus und stirbt auf ewig, da die Linie seiner leiblichen Weiterexistenz abbricht, wenn er nicht heiratet und Kinder zeugt. Die Ehe ist eine heilige Vereinbarung und Verpflichtung, die man nicht brechen oder mißachten darf. Der zweite W e g der als Einheit verstandenen Ehe und Zeugung zur Wiedererlangung der Unsterblichkeit führt über die Totenseelen. Wir haben bereits die Bedeutung der „persönlichen Unsterblichkeit" erwähnt, welche die Mitglieder einer menschlichen Familie ihren Totenseelen bewahren. Solange es in einer Familie Menschen gibt, die einen körperlich Gestorbenen im Gedächtnis behalten, so lange auch ist dieser nicht wirklich tot. Er lebt im Geiste seiner Verwandten und Freunde, die ihn kannten, als er noch Menschengestalt hatte. Sein Name ist immer noch Ausdruck einer Persönlichkeit, und er kann denjenigen Mitgliedern seiner Familie erscheinen, die ihn gekannt haben und mit dem Namen anzureden vermögen. Diese geben ihm auch Speise und Trank als Zeichen der Verbundenheit und Erinnerung. Wie wir bereits gesehen haben, ist dies bei afrikanischen Völkern von äußerster Wichtigkeit. In der eigenen Familie wird das persönliche Gedächtnis der Totenseelen nach ihrem physischen Tode am längsten wachgehalten. Ich habe gehört, wie ältere Leute zu ihren Enkelkindern sagten, die zu lange mit dem Heiraten zu warten schienen: „Wenn du nicht heiratest und
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Kinder bekommst, wer wird dir dann ein Trankopfer darbringen, wenn du stirbst?" Dies ist bei traditionsbestimmten afrikanischen Völkern ein ernstes Anliegen. Wehe also dem Menschen, der nach seinem physischen Tode niemanden hat, der sich seiner erinnert. Die schlimmste Strafe, die jemand erleiden kann, ist es, ohne einen nahen Angehörigen dazustehen, der ihm nach dem Tode die persönliche Unsterblichkeit bewahrt. Wer stirbt, ohne sich verheiratet und Kinder bekommen zu haben, ist gänzlich von der menschlichen Gesellschaft losgelöst und isoliert. Er ist ein Ausgestoßener, der alle Menschheitsbande durchschnitten hat. Ein jeder muß deshalb heiraten und Kinder hervorbringen. Darin liegt die größte Hofnung und Erwartung, die der einzelne sich selber und die Gemeinschaft dem einzelnen bieten kann. Wenn wir uns das vor Augen halten, werdet; wir eher die Sitten, Einrichtungen und Vorstellungen verstehen können, die mit der afrikanischen Ehe verknüpft sind, wie z. B. das Geben von Brautgeschenken, die Vielweiberei, das Levirat (erblicher Erwerb der Frauen des verstorbenen Bruders), die Verheiratung der Kinder durch die Eltern und dergleichen. Ich möchte die Menschen anderer Kulturen und anderer Herkunft dringend bitten, wenigstens den Versuch zu machen, den Sinn der Ehe und des Familienlebens in Afrika zu verstehen und nicht voreilig harte Urteile über unsere traditionellen Ehesitten und -Vorstellungen zu fällen.
a) Die Vorbereitung auf Ehe und Zeugung Die Vorbereitung auf die Ehe ist ein langwieriger Vorgang, dessen Höhepunkte bisweilen in ritueller Form begangen werden. Wenn ein Kind körperlich geboren ist, muß es auch rituell oder religiös geboren werden, um als echtes Mitglied der Gemeinschaft zu gelten. Ein paar Jahre später durchläuft es eine Reihe von Initiationsriten. Diese Riten bezeichnen das Hineingeborenwerden der jungen Leute in den Stand der Reife und Verantwortung. Sie bewirken in dramatischer Form die Eingliederung der Jüngeren ins Volksganze. Erst nach der Initiation, falls diese vorgeschrieben ist, wächst eine Person religiös und sozial zur vollen Mannbarkeit mit ihren Geheimnissen, Erwartungen, Vorrechten und Verantwortlichkeiten empor. Einer der erzieherischen Zwecke der Einweihungsriten ist es, die jungen Leute mit den Problemen der Sexualität, Ehe, Zeugung und des Familienlebens vertraut zu machen. Man kann also sagen, daß die Initiation eine rituelle Heiligung und Vorbereitung auf die Ehe bedeutet; erst wenn sie vollzogen ist, dürfen
Ehe und Zeugung
die jungen Leute heiraten. Da die ganze Gemeinschaft an den Initiationsriten teilnimmt, ist es auch die Gesellschaft als Ganzes, welche die jungen Leute auf die Ehe und das Familienleben vorbereitet. Abgesehen von der Initiation erziehen auch die Eltern und sonstigen Anverwandten die Kinder allmählich zum Verständnis ehelicher Dinge, besonders bei Völkern, bei denen man keine Initiationsfeiern kennt. Die Mädchen lernen, wie man Nahrung zubereitet, wie man sich Männern gegenüber verhält, Kinder pflegt, den Mann versorgt und sonstige Haushaltspflichten erfüllt. Die Knaben werden in Männergeschäften unterrichtet; dazu gehört die Viehzucht, das richtige Benehmen gegenüber Schwägern, Schwägerinnen und anderen angeheirateten Verwandten, der Erwerb von Reichtum, der in Gestalt der Mitgift als Teil des Verlobungs- und Ehevertrages den Eltern der Erwählten übereignet werden muß, und die Verantwortung, die man als Familienoberhaupt trägt. Es ist oft schwer, das sexuelle Wissen unmittelbar von den Eltern an die Kinder weiterzugeben. Wahrscheinlich haben es die Mädchen in dieser Hinsicht besser als die Jungen, da sie mehr Zeit bei der Mutter oder älteren weiblichen Verwandten zubringen als die Jungen etwa beim Vater. Die geschlechtliche Aufklärung erfolgt zum großen Teil durch andere junge Leute, wobei oft eine Mischung aus Wahrheit, Dichtung, Unwissenheit, wilden Vermutungen und Witzeleien zustandekommt. An den Schulen und Universitäten im heutigen Afrika findet man allerdings oft noch größere Unkenntnis in diesen Dingen. Die jungen Leute, die sie absolvieren, lernen vielleicht, wie man einen Frosch seziert, können aber nichts über die menschliche Fortpflanzung oder die Gründung einer Familie erfahren. Offensichtlich sind die traditionellen Methoden der Vorbereitung junger Leute auf den Ehestand und die Fortpflanzung den zweifelhaften Errungenschaften der Schulen und Universitäten auf diesem Gebiet überlegen.
b) Die Wahl des Ehepartners
Die Sitten bei der Gattenwahl in Afrika sind verschieden. In einigen Gesellschaften wird die Wahl von den Eltern vorgenommen, und zwar kann dies bereits vor der Geburt der Kinder geschehen. Wenn ein Haushalt z. B. einen kleinen Jungen hat, besuchen die Eltern einen anderen Haushalt, wo es ein kleines Mädchen gibt oder wo eine Mutter gerade ein Kind erwartet, und reichen ihre „Bewerbung" um das vorhandene Mädchen oder um das noch ungeborene Kind ein, in der
Die Wahl des Ehepartners
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Hoffnung, es möge sich um ein Mädchen handeln. Manchmal werden solche Absprachen getroffen, wenn zwei Frauen gleichzeitig die Gewißheit haben, daß sie schwanger sind. Die Kinder heiraten jedoch erst, wenn sie alt genug sind, nicht etwa gleich nach der Geburt oder im zarten Alter. Beispiele hierfür werden aus der Sudanregion berichtet. Ziemlich weitverbreitet ist die Sitte, daß die Eltern und Verwandten eines jungen Mannes an die Eltern eines bestimmten Mädchens herantreten und die Eheanbahnung betreiben. Dies geschieht um die Zeit der Initiation, die, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, oft mit der Reifezeit zusammenfällt. Wenn entweder das Mädchen oder der junge Mann sich der Wahl des in Aussicht genommenen Partners sehr entschieden widersetzt, so werden die Verhandlungen abgebrochen, wenngleich es Fälle gibt, in denen man Zwang oder Druck ausübt, damit der widerstrebende junge Mensch den von seinen Eltern und Verwandten erwählten Partner heiratet. Normalerweise ist es jedoch so, daß die Eltern mit voller Zustimmung ihres Sohnes oder ihrer Tochter die Auswahl vornehmen. Bei anderen Völkern sind es die jungen Leute selber, die ihre Wahl treffen und dann die Eltern darüber verständigen. Daraufhin beginnen die Eltern und Verwandten mit den Verlobungs- und Heiratsverhandlungen. Da der einzelne seine Existenz der Existenz der Gesamtgruppe verdankt, ist es von wesentlicher Bedeutung, daß andere Mitglieder dieser Gruppe hinzugezogen werden, wenn es darum geht, den wichtigsten Lebensvertrag des einzelnen, nämlich die Ehe, abzuschließen. Wir werden einige Beispiele anführen, um zu illustrieren, wie diese Dinge sich im wirklichen Leben abspielen. Bei den Udhuk finden Brautwerbung und Ehe in jungen Jahren statt. Wenn ein Junge beschließt, ein bestimmtes Mädchen zu heiraten, tritt er ihr auf dem Dorfpfad entgegen und erklärt ihr offen seine Absichten. Das Mädchen täuscht Entrüstung vor, und ihre Gefährtinnen jagen den jungen Mann weg. Zu Hause angekommen, stellt sie ihr Bett an die Rückwand des Hauses. Nachts wenn alles schläft, sucht der Junge das Haus auf und steckt seine Hand durch alle möglichen Öffnungen in der Wand, bis er schließlich das Mädchen berührt. Sie tastet seine Hand ab und erkennt ihn an den Schmuckstücken, die er trägt. Wenn sie ihn immer noch abweisen will, stößt sie laute Rufe aus, so daß ihre Eltern erwachen. Der junge Mann läuft dann schleunigst fort und kehrt wahrscheinlich nie mehr wieder, um seine Überredungskünste nochmals
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zu versuchen. Wenn das Mädchen dagegen das Heiratsangebot annehmen will, verhält es sich ruhig, und die beiden unterhalten sich im Flüsterton. In den nächsten Tagen und Wochen wiederholt der Jüngling seine Besuche bei dem Mädchen. Sobald ihr Verhältnis enger wird, legt das Mädchen Perlen an, worauf ihre Eltern sich sogleich erkundigen, wer der Freier ist, obwohl sie bereits bestens über alles unterrichtet sind. Wenn die Eltern mit der Wahl einverstanden sind, dürfen sich die jungen Leute fortan öffentlich treffen, und einer Eheschließung steht nichts mehr im Wege.1 Bei den Wolof liegt die Eheanbahnung in den Händen der Eltern. Wenn ein junger Mann ein Mädchen trifft, das er heiraten möchte, berichtet er seinem Vater über die Angelegenheit. Seine Eltern senden einen Mittelsmann zu den Eltern des Mädchens, um sich zu erkundigen, ob sie einem Ehevorschlag günstig gesonnen sind. Ist dies der Fall, so schicken die Eltern des jungen Mannes dem Vater des Mädchens Kolanüsse und dazu einen förmlichen Heiratsantrag. Der Vater des Mädchens zieht sodann Weib und Tochter zu Rate, und wenn sie einwilligen, gibt auch er seine Zustimmung und teilt die Kolanüsse unter seinem Haushalt und seiner Familie, seinen Nachbarn und Freunden auf. Jetzt beginnt für die jungen Leute der offizielle Teil der Brautwerbung, und jedes Mal, wenn der junge Mann sein Mädchen besucht, muß er der Familie Kolanüsse und der Erwählten neue Kleider für alle Feste des Jahres mitbringen. Wenn der Freier bereits verheiratet ist und lediglich eine weitere Frau nehmen will, führt er normalerweise zusammen mit seiner ersten Frau die Verhandlungen, und wenn seine Eltern noch am Leben sind, werden auch diese wahrscheinlich mithelfen.2 Die Verwendung eines Mittelsmannes bei den Heiratsverhandlungen wird auch von den Kiga berichtet. Wenn die Eltern die Heirat ihres Sohnes arrangieren wollen und ein passendes Mädchen in Aussicht genommen haben, vertrauen sie die Sache einem besonders zuverlässigen nahen Verwandten an. Dieser spielt dann die Rolle des Heiratsvermittlers. Er sammelt Informationen über das Mädchen und seine Familie und erstattet der Familie des jungen Mannes Bericht. Sind sie damit zufrieden, so begeben sich die Eltern des Mannes und der Mittelsmann (kirima oder kishahi) zu den Eltern des Mädchens und tun ihre Absicht kund. Sollten die anderen Eltern nicht willens sein oder wenig Begeisterung 1 2
Cerulli, S. 23. Gamble, S. 66.
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an den Tag legen, so ist es Sache des Mittelsmannes, den Weg zu bahnen. Der Mittelsmann spielt auch eine bedeutende Rolle, wenn die Zeit der eigentlichen Eheschließung gekommen ist. Die Brautleute dürfen nicht zusammenkommen, bis die Hochzeit stattfindet.3 In der traditionellen Gesellschaft ist eine Heirat zwischen nahen Verwandten nicht zulässig. Da die Verwandtschaftsbande sehr weitläufig sind, nehmen auch die Eheverbote einen weitgespannten Rahmen ein. In der Regel sind die Klane exogam, d. h. man heiratet eine Person aus einem anderen Klan. Wo eine Heirat innerhalb des Klans statthaft ist, wird sorgfältig untersucht, ob das Paar nicht nahe verwandt ist. Derartige Eheverbote sind stark tabuiert. Man befürchtet z. B., daß die Totenseelen solche Ehen mißbilligen und daher Unheil über die Betreffenden bringen. Einige Menschen, wie Leprakranke, Fallsüchtige oder Geistesgestörte, finden es schwer oder gar unmöglich, sich Ehepartner zu beschaffen. Wenn es sich um Frauen handelt, kommt es allerdings nicht selten vor, daß sie uneheliche Kinder zur Welt bringen. c) Verlobung und Brautwerbung
Gewöhnlich werden bei der Verlobung oder zur Zeit der Brautwerbung keine besonderen Zeremonien abgehalten. Bei einigen Völkern kommen sie jedoch vor, und wir werden ein konkretes Beispiel von den Toro zur Illustration anführen. Bei diesem Volke werden die Eheverhandlungen von den Eltern in die Wege geleitet und vorangetrieben. Dies geschieht oft, wenn zwei Männer sich bei einem Biergelage treffen. Der eine sagt zum anderen: „Ich habe dir eine Frau (oder: einen Mann) gegeben," worauf der andere in Erwiderung niederfällt und Dank sagt. Dann erst wird das Thema offiziell angeschnitten. Die beiden Männer gehen nun nach Hause und sagen ihren Kindern Bescheid. Ein paar Tage später besuchen die Eltern des jungen Mannes die des Mädchens, wobei sie mindestens zwei Kalebassen Bier mitbringen. Bei ihrer Ankunft bieten die Eltern des Mädchens ihnen die Früchte des Kaffeebaumes an—früher wurden andere Früchte gereicht — und zünden eine Pfeife an, aus der der Vater des jungen Mannes vier Züge tut. Die beiden Elternpaare unterhalten sich lange über die verschiedensten 3
A . V . Byabamazima wies allerdings bei einer akademischen Diskussion im Oktober 1967 daraufhin, daß dies nur bei strikter Anwendung der traditionellen Methode vorkomme.
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Ehe und Zeugung
Themen, bis der Vater des Jungen schließlich einen förmlichen Heiratsantrag vorbringt. Er verwendet dabei die Worte: „Ich bin gekommen, um in diesem Hause geboren zu werden, um euer Sohn zu sein, euer Diener, wenn ihr es wünscht, um euer Vieh zur Tränke an den Fluß zu führen, euch einen Viehstall zu bauen, euch Kleider zu kaufen und bei der Befriedigung all eurer Bedürfnisse zu helfen. Ich bin bereit, all diese Dinge und noch vieles mehr zu tun, wenn ihr mir nur eine Frau für meinen Sohn gebt!" In der Regel wird dem Antrag stattgegeben, und dann setzen die beiden Parteien die Anzahl der Geschenke fest, die der Familie des Mädchens entrichtet werden müssen. Meist sind es etwa drei bis vier Kühe oder deren Gegenwert in Geld. Man trinkt einheimisches Bier und begleitet dann die Eltern des jungen Mannes nach Hause zurück. Sobald die vereinbarte Brautgabe entrichtet worden ist, wird der Zeitpunkt der Hochzeit festgesetzt.4 Dieses Ritual hat nichts Dramatisches an sich, ist aber voller Sinnbedeutung. Bier ist das Symbol der Freundschaft, der Verbundenheit, des Sich-Einsfühlens und Genehmseins. Es wird von vielen afrikanischen Völkern bei Zeremonien, Festen und Vertragsabschlüssen getrunken. Das Bier, das die Eltern des junges Mannes den Eltern des Mädchens bringen, zeigt ihre freundliche Einstellung, ihre Bereitschaft, mit der anderen Familie enge Freundschaftsbande zu knüpfen und einen Ehevertrag zu schließen. Die Kaffeefrüchte sind Symbol der Fruchtbarkeit, Ertragsfähigkeit und Ergiebigkeit. Die brennende Pfeife symbolisiert das Willkommensein und dient als Zeichen, daß man gemeinsam an etwas Anteil nimmt und in schöner Eintracht den Odem des Lebens atmet. Die vom Vater des jungen Mannes gehaltene förmliche Rede bedeutet, daß der Sprecher sich und seine Dienstbarkeit um seines Sohnes willen anbietet. Die Ehe ist für seinen Sohn eine absolute Notwendigkeit, und der Vater ist daher willens, sich zum Opfer zu bringen, sich als Diener zu demütigen und zum Sklaven zu erniedrigen, damit sein Sohn ein Weib finde. Er ist bereit, sein Ich in der Familie aufgehen zu lassen, von welcher sein Sohn eine Frau bekommt. Der Vater ist hier die Brücke, das Band und der feierliche Knoten, der zum Ehebund geschürzt wird. Er zögert nicht, seine eigene Existenz hintanzusetzen, um in seinem Sohne und durch seinen Sohn wiederaufzuleben. Dies ist ein feierlicher religiöser Akt väterlicher Hingabe um des Sohnes und der Gemeinschaft willen. 4
M. Nyakazingo in einem Aufsatz, Februar 1965.
Die Hochzeitsfeier
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d) Die Hochzeitsfeier Es gibt so viele Hochzeitsbräuche wie es afrikanische Völker gibt. In einigen Gesellschaften dauert die Feier viele Tage und ist reich an Ritualen. Bei anderen Völkern müssen der Bräutigam und seine Anhänger gegen das Gefolge der Braut ankämpfen, um sie zu erringen. Mag dieser Kampf auch bloß symbolische Bedeutung haben, so fließt doch bisweilen im Laufe des Kampfes auch Blut. Daneben gibt es Völker, bei denen der Jüngling das Mädchen zu sich nimmt und mit ihr zusammenlebt, bis sie ein Kind gebiert. Erst dann werden die Hochzeitsriten vollzogen. Bei matrilokalen Gruppen zieht der Mann meistens ins Haus der Frau, wo die beiden einen eigenen Hausstand begründen. Wir werden nun ein konkretes Beispiel anführen, um darzutun, wie afrikanische Ehe- und Heiratsbräuche sich in der Praxis ausnehmen, und dann ihren Sinn zu erklären. Zu diesem Zweck kehren wir wieder zu den Toro zurück. Wenn die Hochzeitsgabe überreicht worden ist, wird ein Abend für die Hochzeitsfeier festgesetzt. Am betreffenden Abend schickt der Bräutigam neun starke Männer aus, um die Braut abzuholen. Wenn sie am Hause der Brauteltem ankommen, müssen sie erst vom Dach ein dort angebrachtes Bündel von Blättern (ekikarabo) herunterholen. Gelingt es den starken Männern nicht, das Bündel zu entfernen, so bekommen sie auch das Mädchen nicht, und es findet keine Hochzeit statt. Sind sie dagegen erfolgreich, so dürfen sie die Braut mit sich führen. Aber auch dies ist nicht einfach, denn sie müssen das Mädchen auf den Schultern zum neuen Heim tragen. Auf dem Rückweg singen die Männer, um das weinende Mädchen zu trösten und den zu Hause Harrenden anzukündigen, daß die Braut unterwegs ist. Bei ihrem Eintreffen wird die Gesellschaft vom Bräutigam empfangen, der mit dem Speer in der Hand am Eingang des Hofes steht. Die Braut wird nun ins Haus gebracht, wo die Eltern des Bräutigams an der Wand sitzen. Es erfolgt sodann ein Ritus, bei dem der Bräutigam abwechselnd viermal zuerst auf dem Schoß seines Vaters und dann auf dem Schoß seiner Mutter sitzt. Diese Handlung wird von der Braut wiederholt, aber nur je dreimal. Sie wird dann zu einem anderen Haus geführt, das für den festlichen Anlaß besonders hergerichtet ist. An der Tür dieses Hauses steht ein bereits verheiratetes Mitglied der Familie des Bräutigams. Diese Person spricht zur Braut die Worte: „Du fandest mich in diesem Hause verheiratet. Du wirst hinweggehen und mich hier so
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Ehe und Zeugung
lassen, wie du mich gefunden hast!" Diese Rede bezweckt, die Braut davon abzuhalten, daß sie ihr neues Heim wieder verläßt. Sie ist auch das Zeichen zum Beginn des Tanzens und Schmausens. Am folgenden Morgen kehren die zur Feier geladenen Gäste nach Hause zurück. Die jungen Eheleute waschen sich in sehr kaltem Wasser, welches von der Schwester der Braut im umfriedeten Hof bewacht wurde. Sie treten an das Wasser, entkleiden sich und bespritzen sich mit dem Wasser. Dies ist das Ritual des Sichbindens und der Reinigung vom Ledigenstande. In symbolischer Sicht bedeuten diese rituellen Waschungen einmal den Tod des früheren Lebens der Unfruchtbarkeit und zum anderen Mal die Auferstehung eines neuen Lebens der Zeugung. Zwei Tage lang wird die Neuvermählte vor der Öffentlichkeit verborgengehalten, und wenn diese Zeit vorüber ist, kommen ihre Familienangehörigen von Hause und bringen ihr Geschenke. Sie werden herzlich willkommen geheißen und mit größter Hochachtung behandelt. Man gibt ihnen eine Pfeife zu rauchen, dazu Kaffeebeeren sowie Speise und Trank. Jetzt wird die Neuvermählte aus der Kammer geführt und der Öffentlichkeit vorgestellt. Man zählt die von ihren Angehörigen gebrachten Geschenke, von denen einige unter denjenigen Verwandten des Mannes verteilt werden, die bei den Hochzeitsvorbereitungen geholfen haben. Die Tante der jungen Frau erhält das größte Geschenk, weil sie es war, die die Braut von ihrem früheren Hause zum neuen begleitete und während der Zeit der Seklusion bei ihr blieb. Wenn sich herausstellt, daß die Braut eine Jungfrau ist, erhält die Tante eine Kuh zum Geschenk, während eine weitere Kuh mitsamt den Bettlaken, die die Blutflecken der Jungfräulichkeit aufweisen, ihrer Mutter geschickt wird. Diese Zeichen der Jungfräulichkeit bringen der Mutter und ihrer Familie die größte Ehre ein.5 Wir sehen in diesen Hochzeitsbräuchen manche tiefere Bedeutung. Der Brauch, den Angehörigen der Braut ein Angebinde zu überreichen, ist in wechselndem Maße in ganz Afrika verbreitet. Dafür gibt es verschiedene Bezeichnungen wie Brautgebinde, Brautgabe, Brautpreis, Mitgift (in diesem Falle fälschlich verwendet) und „lobola". Die meisten dieser Ausdrücke sind entweder unzureichend oder irreführend. Die Schenkung erfolgt in Form von Rindern, Geld, Nahrungsmitteln und anderen Gegenständen. Bei einigen Völkern kommt es vor, daß die betreffenden Familien Bräute austauschen. Bei anderen müssen der 5
Nyakazingo.
Die Hochzeitsfeier
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Bräutigam und sein Angehörigen obendrein Dienstleistungen verrichten, und in matrilokalen Gruppen wohnt der Mann bei seinen Schwiegereltern und arbeitet mehrere Jahre für sie, um sich seine Frau zu „verdienen". Die Brautgabe („marriage gift") ist eine wichtige Einrichtung in der afrikanischen Gesellschaft. Sie ist ein Zeichen der Dankbarkeit, welche die Angehörigen des Bräutigams den Angehörigen der Braut erweisen, weil diese das Mädchen gehegt und gepflegt haben und ihr jetzt gestatten, ihren Bewerber zu ehelichen. Die Gabe dient dazu, sie zu Hause zu „ersetzen" und die Familie daran zu erinnern, daß sie das Haus verlassen wird oder bereits verlassen hat, ohne indes gestorben zu sein. Sie ist nicht nur für ihre Familie, sondern auch für die Angehörigen ihres Gatten eine Person von höchstem Wert. Bei der Hochzeit wird sie nicht geraubt, sondern in gegenseitigem Einvernehmen der beiden Familien ihrem Gatten übergeben. Die Gabe erhöht den ihr zugemessenen Wert als Person und als Ehefrau. Auch verleiht die Gabe dem Wert der Braut und dem Ehevertrag rechtliche Gültigkeit. Diese Einrichtung ist das konkreteste Symbol des Ehebundes und der Sicherheit; unter keinen Umständen stellt sie eine Form von „Bezahlung" dar, wie Außenstehende so oft irrtümlicherweise behauptet haben. Die Wörter, die man in den afrikanischen Sprachen verwendet, um die Überreichung der Hochzeitsgabe zu bezeichen, sind in den meisten Fällen grundverschieden von jenen Wörtern, die den Kauf oder Verkauf von Gegenständen auf dem Marktplatz zum Inhalt haben. Überdies bringen nicht nur der Mann und seine Angehörigen Geschenke, auch die Angehörigen der Braut überreichen Gaben, mögen diese auch geringeren materiellen Wert als die Geschenke des Mannes haben. Die beiden Familien sind in ein Verhältnis zueinander getreten, das unter anderem einen Austausch von Sachgeschenken und anderen Gaben erforderlich macht. Dies ist auch dann noch der Fall, wenn das Mädchen schon längst verheiratet ist und eigene Kinder hat. Wenn aber die Ehe zerrüttet ist und eine Scheidung unvermeidlich wird, bekommt der Gatte bei einigen Völkern möglicherweise einen Teil der den Angehörigen seiner Frau gegebenen Geschenke zurück, während er bei anderen Völkern völlig leer ausgeht. Die Torositte, die Braut auf den Schultern zu tragen — übrigens ein sehr bequemes Beförderungsmittel — wird von den meisten anderen afrikanischen Völkern nicht geübt. Sie ist dazu angetan, den Wert der Braut zu zeigen. Aber ihr Hauptzweck ist wohl die dramatische Daria
Mbiti, Afrikanische Religion
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Ehe und Zeugung
Stellung der Tatsache, daß das Mädchen jetzt von der einen Familie losgetrennt und einer anderen einverleibt wird. Außerdem symbolisiert sie den völligen Bruch der jungen Frau mit dem Ledigenstande. Sie wird nun eine vollwertige, reife Person. Der Ledigenstand ist Kindheit, der Ehestand Reife und Segensfülle. Wenn ein lediger Mensch stirbt, schlagen die Toro seinen Leichnam mit Dornzweigen, um darzutun, daß ein Unverheirateter in den Augen der Gesellschaft keinen Respekt verdient. Die Ehe verleiht daher einen Rang, der nicht nur in diesem Leben, sondern auch im Jenseits Gültigkeit hat. Das Mädchen feiert die Erhebung in diesen Rang, indem es sich tragen läßt. Vor dem Ritus ist sie „niemand", danach ist sie „jemand". Das abwechselnde Sitzen auf dem Schoß der Eltern bedeutet eine rituelle Neugeburt. Braut und Bräutigam werden beide neugeboren, sie werden zu Zwillingen und treten rituell in das Stadium der Reife ein. Der Ritus bedeutet ebenfalls, daß die Fackel des Lebens, der Trommelschlag, der alles Lebende durchdringt, an die nächste Generation weitergegeben wird. Ein neuer Rhythmus beginnt. Jetzt ist es an dem jungen Paar, sich fortzupflanzen, seine eigenen Kinder auf dem Schoß zu halten, sie zu hegen und so den Strom der menschlichen Generationen im Fluß zu halten. Sobald dieser Ritus vorbei ist, können die jungen Eheleute in das eigens für sie bereitgestellte Haus gehen und die Ehe vollziehen. Das Blut der Jungfräulichkeit ist ein Zeichen, daß das Leben bewahrt, die Quelle des Lebens nicht bereits verschwendet worden ist und daß das Mädchen und seine Verwandten die Heiligkeit der menschlichen Fortpflanzung geachtet haben. Nur in der Ehe darf dieses heilige Blut vergossen werden, denn damit wird den in den Lenden verborgenen Familienmitgliedern das Tor geöffnet, auf daß sie hervortreten und sich den Lebenden und Totenseelen zugesellen können. Die Jungfräulichkeit vor der Ehe wird bei manchen afrikanischen Völkern sehr hochgeschätzt, während man bei anderen mehr oder weniger erwartet, daß das Paar schon vor der Ehe Geschlechtsverkehr gehabt hat. Die Jungfräulichkeit symbolisiert nicht nur körperliche, sondern auch moraliche Reinheit, und eine Braut, die ihre Unschuld noch hat, gereicht ihren Eltern, ihrem Gatten und ihren Verwandten zu größtem Ruhm und Ansehen. Wie die Hochzeitsgabe die beiden Familien und ihre Anverwandten verbindet, so fügt der Ritus des gemeinsamen Bades auf feierliche Art die beiden Ehegatten zu eins zusammen. Das Wasser wäscht den früheren Zustand des Ledigseins hinweg und heiligt den neuen Zustand verant-
Polygamie und erblicher Erwerb von Frauen oder Ehemännern
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wortungsbewußter Mündigkeit, der mit der Absicht verbunden ist, neues Leben zu zeugen. Das Wasser macht zuerst das Paar „bereit". Später wäscht es die Flecken des jungfräulichen Blutes weg. Die zweitägige Einschließung des Paares symbolisiert seinen Abschied von Ledigenstande. Das Leben der Unreife, Kindlichkeit und Unfruchtbarkeit erstirbt in ihnen. Ihr Erscheinen in der Öffentlichkeit ist ein Akt der Auferstehung zum neuen Leben der Reife und Zeugung. Die Hochzeitsbräuche anderer afrikanischer Völker unterscheiden sich in mancher Hinsicht von den hier besprochenen der Toro. Aber aus dem behandelten Beispiel haben wir doch einige der Grundbegriffe von Ehe und Zeugung ersehen können. Nun müssen wir kurz noch einige andere Aspekte der Ehe in der afrikanischen Gesellschaft erörtern. e) Die Polygamie und der erbliche Erwerb von Frauen oder Ehemännern Genau genommen sollte der Ausdruck Polygamie bedeuten, was seine griechischen Bestandteile besagen, nämlich „Vielheirat", und dies könnte sich auf Frauen, Ehemänner und die Häufigkeit der Eheschließung beziehen. Im volkstümlichen Sprachgebrauch versteht man darunter jedoch eine Ehe zwischen einem Mann und zwei oder mehreren Frauen. Die richtige Bezeichnung hierfür wäre Polygynie, während eine Ehe zwischen einer Frau und zwei oder mehr Männern als Polyandrie zu bezeichnen ist. Ich werde den Ausdruck Polygamie im volkstümlichen Sinne verwenden, obwohl ich mir bewußt bin, daß dies sprachlich nur zum Teil gerechtfertigt ist. Zwei oder mehrere Frauen zu heiraten, ist eine Sitte, die man in ganz Afrika findet, mag sie auch bei einigen Völkern weniger häufig vorkommen als bei anderen. Die Sitte ist der traditionellen Sozialstruktur und dem Denken des Volkes gut angepaßt und erfüllt manchen nützlichen Zweck. Ehe und Zeugung werden im afrikanischen Denken und in der afrikanischen Theologie als Hilfsmittel bei der teilweisen Wiedergewinnung oder Erreichung der verlorenen Unsterblichkeit angesehen. Je mehr Kinder ein Mann hat, desto stärker ist die Macht der „Unsterblichkeit" in seiner Familie; die Zahl der Kinder hängt jedoch von der Zahl der Frauen ab. Der Mann mit zahlreicher Nachkommenschaft besitzt in dieser die beste Garantie seiner „Unsterblichkeit", denn in ihrer Vielzahl wird er „wiedergeboren", wird die Erinnerung an ihn wachgehalten, wenn er körperlich bereits gestorben und in seine „persönliche Unsterblichbeit" eingegangen ist. Die Haltung iz»
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Ehe und Zeugung
eines solchen Mannes läßt sich in die Worte fassen: „Je mehr wir sind, desto größer bin ich." Kinder sind der Ruhm der Ehe; je mehr Kinder, desto größer der Ruhm. Die Polygamie steigert auch das soziale Ansehen der Familie. Die afrikanischen Völker sind zutiefst von der Uberzeugung durchdrungen, daß eine große Familie ihrem Oberhaupt höchstes Ansehen in den Augen der Gemeinschaft verschafft. Oft gründen reiche Familien auf polygamen Ehen. Wenn die erste Frau keine Kinder bekommt oder nur Töchtern das Leben gibt, so ergibt sich daraus fast zwangsläufig, daß ihr Mann eine weitere Frau nimmt, teils um der unmittelbaren Gefahr der Kinderlosigkeit zu begegnen, teils um das Gefühl der Angst und Scham loszuwerden, welches seine scheinbare Unfruchtbarkeit hervorruft. Produktiv in dem Sinne zu sein, daß man Kinder hervorbringt, ist eines der Wesensmerkmale vollendeter menschlicher Reife. Je produktiver ein Mensch ist, desto mehr trägt er zur Existenz der Gesamtgesellschaft bei. Wenn eine Familie aus mehreren Frauen mitsamt ihren Haushalten besteht, so bedeutet dies, daß in Notzeiten immer jemand da ist, der Hilfe leisten kann. Hier liegt das Geheimnis gemeinschaftlicher Existenz. Wenn z. B. eine Frau gebiert, so sind ihre Mitfrauen da, um sie zu pflegen und ihre Kinder zu versorgen, bis sie wieder zu Kräften kommt. Wenn eine Frau stirbt, sind andere da, die sich ihrer Kinder annehmen. Wenn sie erkrankt, holen die anderen Frauen am Fluß Wasser, schneiden Brennholz, kochen und besorgen weitere nötige Hausarbeiten. Ist eine der Frauen unfruchtbar, dann gebären die anderen für die Familie Kinder, so daß die Fackel des Lebens nicht erlischt. W o man auf die bäuerliche Landbestellung zur Bestreitung des Lebensunterhalts angewiesen ist, sind die vielen Kinder einer polygamen Ehe ein wirtschaftlicher Aktivposten, auch wenn sie eine Menge Nahrung verbrauchen. Die Polygamie trägt dazu bei, die eheliche Untreue besonders auf seiten des Mannes zu verhüten und die Prostitution einzudämmen. Dies ist von besonderem Wert in der modernen Zeit, da die Männer heutzutage gewöhnlich zum Arbeiten in die Städte und Großstädte ziehen und ihre Frauen und Kinder auf dem Lande zurücklassen. Wenn der Mann, mehrere Frauen hat, kann er es sich leisten, jeweils eine mit sich in die Stadt zu nehmen, während die anderen zu Hause bleiben, um die Kinder und den ländlichen Familienbesitz zu betreuen. Später
Polygamie und erblicher Erwerb von Frauen oder Ehemännern
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können dann die Frauen sich abwechseln. In solchen Fällen ist nicht zu erwarten, daß der Mann sich Konkubinen hält oder Prostituierte aufsucht. Auch die Frauen haben Gelegenheit, etwas von ihrem Mann zu sehen und ihre ehelichen Gefühle zu befriedigen, ohne daß sie unerträglich lange auf ein Zusammensein mit ihm warten müssen. Manchmal begleiten auch ein paar Kinder die Mutter in die Stadt zum Vater und bleiben eine Weile dort. Auf diese Weise lassen sich einige der psychischen Belastungen der Familie aus dem Wege schaffen. Wenn Familien so groß sind, wie es bei vielen Afrikanern der Fall ist, ergeben sich Pflichten, die eine geringere Anzahl von Familienmitgliedern kaum erfüllen könnte. Zu solchen Pflichten gehört, daß man das Vieh in den Wäldern oder auf der Ebene hütet, Kinder verwahrt, die Felder bestellt, im Walde Feuerholz sammelt und am Fluß Wasser holt, nach verirrten Schafen und Rindern sucht, zum Geldverdienen in die Stadt geht, kocht, neue Häuser und Kornspeicher baut, auf die Jagd oder zum Sammeln ausgeht, wo dies zu den lebenswichtigen Beschäftigungen für den Unterhalt der Familie gehört, und dergleichen. Diese Pflichten fallen leichter, wenn es viele Leute in der Familie gibt, die sich darin teilen oder sie im Geiste echter Zusammenarbeit gemeinsam verrichten können. Es geht mir hier nicht darum festzustellen, ob die Polygamie richtig oder falsch, gut oder schlecht ist; ich lege einfach die Tatsachen dar und versuche, das Denken und Erleben von Menschen, die in polygamen Situationen zu Hause sind, richtig zu würdigen. Die Polygamie hat durchaus ihre Probleme, und es wäre sehr falsch zu behaupten, daß in polygamen Familien alles zum besten stünde. Nicht selten kommen Auseinandersetzungen und Streitereien zwischen den Frauen oder Kindern vor. Der Mann handelt grausam, wenn er einige Frauen zugunsten anderer, insbesondere der Neuzugänge, vernachlässigt. Wenn ein Mann mit mehr als sechs Kindern nicht verhältnismäßig wohlhabend ist, bedeutet es für ihn eine große Belastung, alle diese Kinder in modernen Schulen erziehen zu lassen oder auch nur zu kleiden oder zu ernähren, sollte in einem bestimmten Jahr die Ernte sehr schlecht sein. Außerdem gibt es Erziehungs- und Wachstumsprobleme, mit denen man in einer überdurchschnittlich großen Familie schwerer fertig wird. Andererseits ist darauf hinzuweisen, daß die Probleme polygamer Familien allgemein menschliche Probleme sind und nicht unbedingt durch die Polygamie als solche hervorgerufen werden. Schließlich gibt es auch in monogamen Familien Afrikas, Europas oder Asiens ungelöste Pro-
Ehe und Zeugung bleme. Der Anteil polygamer Familien an der Gesamtbevölkerung dürfte selbst bei Völkern, die die Polygamie am stärksten ausüben, 25 Prozent nicht übersteigen. Dieser Anteil ist langsam im Schwinden begriffen, aber damit entstehen neue Ehesituationen und die damit verbundenen Probleme. Ziemlich häufig findet man auch die Sitte, daß ein Mann die Frau seines verstorbenen Bruders ererbt. Unter Bruder ist nicht nur ein Sohn derselben Mutter, sondern jeder nahe Verwandte zu verstehen. Wir haben weiter oben darauf hingewiesen, daß ein Mensch dank des weitläufigen Verwandtschaftssystems, das man bei den meisten afrikanischen Völkern findet, buchstäblich Hunderte von Brüdern hat. Der Bruder, der Frau und Kinder seines verstorbenen Verwandten erbt, erfüllt alle Pflichten eines Gatten und Vaters. Die nach Übernahme dieser Erbschaft geborenen Kinder gehören dem Verstorbenen. Bei einigen Völkern gelten sie allerdings als die Kinder des „neuen" Vaters. In manchen Gesellschaften kommt es vor, daß die Eltern eines vor seiner Verehelichung gestorbenen jungen Mannes für diesen eine Hochzeit „in absentia" abhalten, so daß der Tote nicht von der Kette des Lebens losgelöst bleibt. Das biologische Band mag dabei nur eine geringe Rolle spielen, denn in der Kette des Lebens kommt dem mystischen Band überragende Bedeutung zu. Die verstorbenen Söhne oder Brüder befinden sich als Totenseelen noch im Zwischenreich von Tod und Leben und sind daher nicht völlig abwesend, da sie noch Mitglieder ihrer Menschenfamilie sind. Es können daher einem Manne noch lange nach seinem physischen Tode Kinder geboren werden, die die genealogische Linie fortsetzen, das Eigentum erben, das ihrem toten Vater gehört hätte, und ihm Trankopfer auf die Erde gießen, auch wenn sie ihn nicht körperlich gekannt haben. Verhältnismäßig wenige Völker kennen die Sororatsehe, die darin besteht, daß der Mann eine Schwester seiner verstorbenen Ehefrau heiratet. Der dieser Sitte zugrunde liegende Gedanke ist ähnlich wie bei der im vorigen Abschnitt geschilderten Leviratsehe. Der Begriff „Schwester" muß im Rahmen des Verwandtschaftssystems im weitesten Sinne verstanden werden. Wenn eine Frau keine Kinder gebiert, kommt es gelegentlich vor, daß ihr Gatte ihre „Schwester" zur Frau nimmt, ob die erste Frau nun verstorben ist oder noch lebt. Bei noch wenigeren Völkern geschieht es, daß zwei leibliche Schwestern mit demselben Mann verheiratet sind. Hier hat man anscheinend von der Sororatsehe einen anderen Begriff.
Ehescheidung und Trennung
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In beiden Fällen, der Sororats- wie der Leviratsehe, sehen wir wieder das lebensanschauliche Bewußtsein des einzelnen am Werk: „Ich bin, weil wir sind, und weil wir sind, bin ich". Die Existenz des einzelnen bedingt die Existenz der Gesamtheit, und wenn der einzelne auch physisch stirbt, so tut sein Tod doch seiner sozialen und rechdichen Existenz keinen Abbruch, da das „Wir" anstelle des „Ich" weiterexistiert. Diese Kontinuität ist von großem psychologischem Wert. Sie gibt dem Menschen in der sonst unsicheren Welt, in welcher die afrikanischen Völker leben, ein Gefühl der Sicherheit. In diesem Lichte besehen, ist das umständliche Verwandtschaftssystem wie eine Versicherung, die sowohl die physischen wie die metaphyischen Dimensionen des Menschenlebens umfaßt. f ) Ehescheidung und Trennung
Die Ehescheidung ist ein sehr heikles Kapitel im ehelichen Verhältnis. In der afrikanischen Situation muß die Frage, was eine Scheidung ausmacht, im Hinblick auf die Tatsache beantwortet werden, daß die Ehe ein anhaltender Vorgang, und nicht etwa ein punktuelles Ereignis ist. In vielen Gesellschaften ist dieser Vorgang erst abgeschlossen, wenn das erste Kind geboren wird, wenn alle Hochzeitsgaben entrichtet worden sind oder wenn die ersten Kinder eines Paares verheiratet sind. An der Ehe sind viele Leute beteiligt, nicht nur Mann und Frau, und auch die Übergabe von Geschenken in Form von Vieh, Geld oder Arbeitskraft spielt eine Rolle. Wenn der Ehevertrag vollständig erfüllt ist, ist er sehr schwer wieder zu lösen. Wenn aber eine Auflösung zustandekommt, hinterläßt sie in der betreifenden Gemeinschaft eine tiefe Wunde. Es gibt zwar afrikanische Völker, bei denen die Scheidung häufig vorkommen und keine Schwierigkeiten bereiten soll. Aber es gibt auch andere, bei denen im traditionellen Rahmen die Scheidung entweder völlig unbekannt oder sehr selten ist. Die meisten Völker befinden sich zwischen diesen beiden Extremen. Zu den Scheidungsgründen gehört Sterilität oder Unfruchtbarkeit, besonders bei der Frau. Dies ist wahrscheinlich der weitaus häufigste Scheidungsgrund, da man durch die Unfähigkeit, Kinder zu gebären, den Strom des Lebens hemmt. Wo der Gatte impotent oder unfruchtbar ist, kann sein „Bruder" die sexuellen Pflichten erfüllen und an seiner Stelle die Frau schwängern, um die Ehe vor dem Zerfall zu retten. Ist aber die Frau unfruchtbar, so kann ihr Mann eine zweite Frau nehmen,
Ehe und Zeugung
dabei aber die unfruchtbare erste Frau behalten und dadurch die „erste" Ehe retten. Andere Scheidungsgründe sind die ständige Grausamkeit des Gatten, die Ausübung oder der Verdacht der Magie und Hexerei aufseiten der Frau sowie ständige eheliche Untreue oder das Imstichlassen des einen durch den anderen Partner. Bei einigen Völkern zerbricht die Ehe völlig, wenn sich bei der Hochzeit herausstellt, daß die Braut keine Jungfrau mehr ist. Eine Wiederverheiratung nach der Scheidung kommt oft vor, besonders wenn die Frau schon einige Kinder hat, die sie nach der Scheidung behält. Für eine unfruchtbare Frau oder eine Frau, die zu alt ist, um noch weitere Kinder zu bekommen, ist es schon bedeutend schwieriger, einen Gatten zu finden. Da afrikanische Frauen im allgemeinen vor dem 25. Lebensjahr heiraten, ist der Ehevorgang bei ihnen abgeschlossen, wenn sie das Klimakterium erreichen, und nur in seltenen Fällen finden Scheidungen nach diesem Zeitpunkt statt. Häufiger als die Scheidung kommt eine zeitweise Trennung zwischen Mann und Frau vor. Der Grund hierzu kann ein Streit zwischen den Ehegatten oder zwischen der Frau und den Angehörigen des Mannes sein; vielleicht auch hat der Ehemann nicht die zwischen den beiden Familien vereinbarte Brautgabe in voller Höhe entrichtet, vielleicht ist einer der Partner untreu gewesen, vielleicht hat es auch Eifersüchteleien zwischen den ,,Ko-Frauen" oder sonstige Spannungen in der Familie gegeben. In solchen Fällen geht die Frau für ein paar Tage oder sogar ein paar Jahre zur eigenen Familie zurück, bis man sich wieder versöhnt hat oder die Ursache der Trennung behoben ist. Solche Trennungen können sich aber derart lang hinziehen, daß die beiden Eheleute neue Partner finden und die erste Ehe in Scheidung endet. Das moderne Leben zwingt Mann und Frau dazu, für lange Zeit getrennt zu leben, wenn der Mann in einer fernen Stadt arbeitet oder an einem entfernten Ort studiert, während er seine Gattin zu Hause auf dem Lande zurückläßt. Auch derartige unvermeidliche Trennungen haben eine nachteilige Wirkung auf die Ehe und führen in schwierigen Fällen zur Scheidung. Die Kinder eines geschiedenen oder getrennten Ehepaares sind natürlich schwer betroffen. Es ist jedoch daraufhinzuweisen, daß im traditionellen Lebensbereich, in welchem die Verwandtschaft eine bedeutende Rolle im Leben des einzelnen spielt, solche Kinder nicht so sehr unter der Scheidung oder Trennung leiden, wie es sonst der Fall sein würde. In der modernen Familie bringen Scheidung und Trennung für die Kinder ungleich größere Gefahren mit sich als im Rahmen der tradionsgebundenen Gesellschaft.
Die Stellung und Funktion des Geschlechtlichen in der Ehe
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g) Die Stellung und Funktion des Geschlechtlichen in der Ehe Bei afrikanischen Völkern dient das Geschlechtliche nicht nur biologischen, sondern auch religiösen und sozialen Zwecken. Zur Fortpflanzung und Entspannung spielt das Geschlechtliche in jeder normalen Ehe und bei jedem Volk der Welt die ihm offensichtlich zufallende wichtige Rolle. Es gibt afrikanische Völker, bei denen rituelle Handlungen feierlich mit einem wirklichen oder auch nur symbolischen Geschlechtsakt zwischen Mann und Frau oder zwischen anderen Kontrahenten eröffnet oder beschlossen werden. Dies kommt einer feierlichen Besiegelung oder Unterzeichnung gleich, wobei das Geschlechtliche eine heilige Handlung und ein „Sakrament" ist, das innere, spirituelle Werte zum Ausdruck bringt. Bei einigen Völkern, wie bei den Njakjussa, glaubt man, daß der männliche Same für Kinder gefährlich sei, und die Frau hält sich entweder während der Stillzeit von ihrem Manne fern oder muß sich nach dem Geschlechtsverkehr gründlich waschen. Bei den Njakjussa glaubt man auch, die neuvermählte Frau stelle für ihre Eltern eine große Gefahr dar und eine Frau solle keine Kinder mehr zur Welt bringen, nachdem ihr Sohn sich verheiratet hat. Bei manchen Völkern ist es ein schweres Vergehen, wenn die Kinder die Genitalien ihrer Eltern betrachten oder darüber spotten. Die Geschlechtsorgane sind das Tor zum Leben. Für viele afrikanische Völker sind die Genitalien und das Gesäß die am sorgfältigsten bedeckten Körperteile. In der Sicht des traditionsgebundenen Afrikaners bedeutet „Nacktheit", daß diese nicht bedeckt sind. Vielleicht hat die religiöse Haltung zum Geschlechtlichen seine soziale Anwendung hervorgebracht. Bei afrikanischen Völkern bringt das Verwandtschaftssystem unter anderem Beziehungen mit sich, bei denen die körperliche Meidung zwischen bestimmten Personen sorgfältig beachtet wird. Dies ist z. B . bei einem Mann und seiner Schwiegermutter, einer Frau und ihrem Schwiegervater oder Brüdern und Schwestern über zehn Jahre der Fall. Körperliche Meidung beschützt die betreffenden Personen vor geschlechtlichem Kontakt. Daneben gibt es aber auch die „Scherzbeziehung", bei der die Menschen freier sind und lediglich die Verpflichtung haben, gesellschaftlichen Kontakt zu pflegen, wodurch sie sich körperlich nahekommen und auch außerhalb der ehelichen Verbindung zwanglos zum Geschlechtsverkehr finden. Es gibt in Afrika Gebiete, wo das Sexuelle Ausdruck der Gastfreundschaft ist. Dies bedeutet, daß wenn ein Mann einen anderen besucht, der
Ehe und Zeugung Gastgeber nach landläufiger Sitte dem Besucher seine Frau, Tochter oder Schwester zur Verfügung stellt, so daß die beiden miteinander schlafen können. Bei anderen Völkern haben Männer ein sexuelles Anrecht auf die Frauen ihrer Brüder, wobei man bedenken muß, daß ein Mann hier Hunderte von Brüdern hat, deren Frauen potentiell auch seine Frauen sind. W o das System der Altersklasse sehr strikt angewandt wird, wie bei den Massai, sind die Mitglieder einer Initiationsgruppe berechtigt, geschlechtliche Beziehungen mit den Frauen anderer Mitglieder zu pflegen. Sollte der Ehemann durch die Umstände gezwungen sein, von seiner Frau entfernt zu leben, dann kann das betreffende Paar es mit passiver Unterstützung der Gemeinde so einrichten, daß ein Freund — normalerweise jemand, der in die „Bruder"-Kategorie fällt — bei passender Gelegenheit diese Frau aufsucht und Geschlechtsverkehr mit ihr pflegt, zum Teil um ihren Trieb zu befriedigen und so zu verhüten, daß sie sich mit irgend jemand einläßt, manchmal aber auch, um sie zu schwängern und für den abwesenden „Vater" Kinder aufzuziehen. Zu ähnlichen Abmachungen kommt es, wenn der Gatte entweder zu jung oder impotent bzw. steril ist. In all diesen Fällen gilt die geschlechtliche Tätigkeit als sozial tragbar; wieweit man sich aber im wirklichen Leben an die Norm hält, läßt sich ohne eine sorgfaltige Untersuchung des Gegenstandes nicht mit Bestimmtheit sagen. Die geschilderte religiöse und soziale Anwendung des Geschlechtlichen wird heiliggehalten und hochgeachtet. Jeder sittliche Mißbrauch wird schwer geahndet. Geschlechtliche Vergehen aller Art werden klar als solche deklariert, was beweist, daß das Geschlechtliche in seiner rechten Anwendung heilig ist und daher geschützt werden muß. Ohne uns in Einzelheiten zu verlieren, wollen wir hier ausführen, was bei afrikanischen Völkern einen Verstoß gegen geschlechtliche Sitten darstellt. Man redet von ritualen Verstößen, wenn Leute, auch Ehepaare, sich über gewisse Tabus und Ritualvorschriften hinwegsetzen, die zu bestimmten Zeiten geschlechtliche Beziehungen verbieten. Wenn ein Ehebruch aufgedeckt wird, kommt es zu strenger Bestrafung. Bei einigen Völkern wurde früher die schuldige Person, besonders wenn es sich um einen Mann handelte, ausgepeitscht, gesteinigt, zur Zahlung einer Entschädigung gezwungen, enthauptet oder verstümmelt. Diese strenge Art der Bestrafung von Ehebruch und anderen Verstößen gegen die Sexualmoral hat in der modernen Zeit Abänderungen oder Abmilderungen erfahren, ist aber nicht völlig aufgegeben worden. Unzucht, Blutschande, Vergewaltigung, Verführung, homosexuelle
Die Stellung und Funktion des Geschlechtlichen in der Ehe
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Beziehungen, Beischlaf mit einem tabuierten „Verwandten", Unzucht mit Tieren, das Beobachten der Genitalien der Eltern — Eltern hier im weitesten Sinne zu verstehen — durch Kinder, all diese Tatbestände stellen Verstöße gegen die gesellschaftliche Sexualmoral dar. Die Gesellschaft ahndet diese Verstöße auf verschiedene Art und Weise. Die afrikanische Völker sind sehr feinfühlig jeglicher Abweichung von den gültigen Sexualnormen gegenüber. Ihre Haltung ist dabei im wesentlichen religiös bestimmt, denn jegliches Vergehen stört die reibungslosen Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft, der auch die Verstorbenen angehören. Aus diesem Grunde sind nach vielen dieser Verstöße rituelle Reinigungen erforderlich, ob nun der Missetäter körperlich bestraft wird oder nicht, da sonst Unheil die Folge sein kann. Die Ehe ist mithin eine religiöse Pflicht und Schuldigkeit. Sie bildet den Brennpunkt, in dem verstorbene, gegenwärtige und zukünftige Mitglieder der Gesellschaft sich begegnen. Für die Unverheirateten und ihre Angehörigen ist sie Hoffnung und Erwartung; ist diese einmal erfüllt und hat die Zeugung stattgefunden, so kann der einzelne geruhsam der Samaniperiode entgegentreiben. Seine feierliche Pflicht ist getan. Vorgänge wie die Partnerwahl, die Hochzeitsvorbereitung, die eigentliche Hochzeit und die Geschenkübergabe sind nur äußere Zeichen eines religiösen Ereignisses, von dem man sagen könnte: „Wir verrichten ein heiliges Werk". In ähnlicher Weise werden physiologische Aspekte wie Jungfräulichkeit, Zeugung, Polygamie, Unfruchtbarkeit und Scheidung, erblicher Erwerb von Frauen oder Ehemännern, das Geschlechtliche in seinen verschiedenen Anwendungsformen, sexuelle Verfehlungen usw. hauptsächlich als religiöse Dimensionen des Ehe- und gesellschaftlichen Lebens erfahren und gewertet. Die Ehe ist mithin ein Weihespiel, bei dem jeder ein religiöser Mitspieler ist, und kein normaler Mensch kann sich seinem dynamischen Ablauf entziehen.
D E R T O D U N D DAS LEBEN NACH D E M T O D E Wir haben gesehen, daß mit der Geburt der Rhythmus einer neuen Generation anbricht und daß die bei der Geburt vollzogenen Riten das Kind zu einem sozialen, gemeinschaftsbezogenen Wesen machen. Die Initiationsriten setzen diesen Prozeß fort und machen den jungen Menschen zu einem reifen, verantwortungsbewußten, aktiven Mitglied
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Der T o d und das Leben nach dem Tode
der Gesellschaft. Die Ehe macht ihn zu einem schöpferischen, sich weiterzeugenden Wesen und bringt ihn mit den Verstorbenen und den kommenden Generationen in enge Verbindung. Zum Schluß kommt der Tod als unvermeidbare und bei vielen Völkern als zerstörerisch empfundene Erscheinung. Der Tod steht zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Geister, zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren. Im Zusammenhang mit dem Tode, der Bestattung, der Erbteilung, den Totenseelen, der Welt der Abgeschiedenen, den Besuchen der Totenseelen bei ihren Familien, der Wiedergeburt und der Weiterexistenz der Seele gibt es viele, oft komplizierte Zeremonien. Der Tod geht jeden an, einerseits weil jedermann ihm früher oder später persönlich entgegentreten muß und andererseits, weil er jeder Familie und Gemeinde Wunden schlägt und Kummer bringt. Es nimmt daher nicht wunder, daß die sich auf den Tod beziehenden Riten meist sehr umständlich sind. Es wäre sinnlos zu erwarten, daß wir das Todesthema hier in angemessener Form behandeln könnten, aber es gibt anregende Untersuchungen, auf die der Leser verwiesen sei.1 Wir werden ein paar Einzelfälle betrachten, um afrikanische Vorstellungen über den Tod und das Jenseits zu illustrieren, und dann aus diesen und anderen Betrachtungen einige Schlüsse ziehen. a) Der Tod bei den Ndebele Wenn ein Mensch ernstlich erkrankt ist, halten Verwandte an seinem Bett Wache. Unter diesen müssen zumindest ein Bruder und der älteste Sohn des Kranken sein, da diese beiden die Krankheitsursache, die im allgemeinen auf Magie oder Hexerei zurückgeführt wird, untersuchen und Gegenmaßnahmen ergreifen müssen. Wenn der Kranke weiter in Schmerzen dahinsiecht, töten seine Verwandten das sogenannte „Tier der Vorfahren", wobei es sich gewöhnlich um einen Ochsen oder bei armen Leuten um eine Ziege handelt. Die Tötung dieses Tieres soll angeblich den Tod beschleunigen. Manchmal wird allerdings auch versucht, den Kranken zu beleben, indem man ihm kaltes Wasser über den Körper gießt und ihn den Rauch bestimmter Kräuter einatmen läßt. 1
Unter den vielen anthropologischen Studien, die man hier nennen könnte, behandeln die folgenden das Thema besonders eingehend: M . Wilson: Rituals of Kinship among the Nyakysusa (1957), J . R . Goody: Death, Property and the Ancestors (1962) und S. Y o k o o : Death among the Abaluyia (Dissertation am Makerere University College, Kampala 1966).
Der Tod bei den Ndebele Die Gegenwart des ältesten Sohnes am Sterbebett ist ein Zeichen, daß der Sterbende in seinen Kindern lebt, und gibt ihm die tröstende Gewißheit, daß jemand da ist, der sich seiner erinnern und ihn im Stande „persönlicher Unsterblichkeit" erhalten wird, wenn er körperlich gestorben ist. Auch das Schlachten des sogenannten Tieres der Vorfahren ist eine symbolträchtige Handlung, die die verstorbenen und lebenden Mitglieder der Familie aneinander bindet. Darüber hinaus ist es eine Garantie, daß der Sterbende nicht in ein feindseliges, fremdes Land geht, sondern in eine freundliche, ja festlich gestimmte Gemeinschaft umzieht. Die Totenseelen sind beim Sterben ihres menschlichen Verwandten gegenwärtig, und durch das Schlachten des Tieres kann auch die Bitte an sie ausgedrückt werden, den T o d des Kranken zu beschleunigen und so sein Leiden abzukürzen. Unmittelbar nach dem Tode fängt der Bruder an, auf einem unbestellten Grundstück ein Grab auszuheben, und andere Männer kommen hinzu, u m ihm zu helfen. Dann wird der Leichnam in eine Decke gewickelt; früher verwandte man ein Tierfell. W e n n der Verstorbene das Familienoberhaupt ist, wird sein Leichnam durch ein Loch in der W a n d aus dem Hause und dann durch eine Öffnung im Zaun aus dem Gehöft getragen. Er darf nicht durch die Tür des Hauses oder das Tor des Gehöfts getragen werden. Hierin symbolisiert sich wahrscheinlich der Glaube, daß der Verstorbene nicht fortgegangen ist und das Gehöft auf immer verlassen hat. Eigentlich ist noch gegenwärtig. Dann folgt das Leichenbegängnis. Zuerst k o m m e n die Männer, die als Leichenträger fungieren, dann die Frauen. Einem Leichenzug zu begegnen, bedeutet Unglück, und daher geht man ihm aus dem Wege. Das Grab ist in ost-westlicher Richtung angelegt, vermutlich u m den Lauf der Sonne wiederzugeben. Der älteste Sohn schlägt mit einem Speer auf das Grab, und dann wird der Körper mit dem Gesicht nach Süden ins Grab gebettet. Der Leichnam wird auf der Seite liegend bestattet, und zwar müssen Männer auf der rechten, Frauen auf der linken Seite liegen. Man legt ein paar persönliche Habe ins Grab und schaufelt es dann mit Erde zu. Auf dem Grabe und u m das Grab herum werden Dornzweige aufgehäuft, u m Tiere und möglicherweise Hexen v o m Ausgraben des Toten abzuhalten. N u n kehren die Beerdigungsteilnehmer nach Hause zurück, w o man ein Tier schlachtet, das als „das Begleittier (des Verstorbenen)" bezeichnet wird. Für einen Mann nimmt man einen Ochsen, f ü r eine Frau eine Ziege. Das Fleisch wird geröstet und salzlos gegessen, sämtliche Knochen
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Der Tod und das Leben nach dem Tode
werden restlos verbrannt. Die Knochenasche wird gesammelt, und der Medizinmann stellt daraus „Medizin" her, von der alle Anwesenden trinken. Den ersten Schluck der Medizin nehmen sie zu sich, während sie den zweiten ausspeien. Dann gehen alle Leute zum Fluß, waschen sich und kehren von dort nach Hause zurück. Der Bruder und der älteste Sohn des Verstorbenen verbringen die Nacht zusammen im Gehöft. Zwei oder drei weibliche Verwandte oder Freunde bleiben ebenfalls im Hause und nehmen an der Leichenklage teil, die am Tag nach dem Begräbnis stattfindet. Die Frauen bleiben ungefähr eine Woche. In der Frühe des nächsten Tages besuchen der Bruder und der Sohn das Grab, um zu sehen, ob es beschädigt worden ist. Finden sie es unberührt vor, so nehmen sie an, daß der Mann eines natürlichen Todes gestorben ist, hat sich aber jemand daran zu schaffen gemacht, so rufen sie einen Wahrsager herbei und beauftragen ihn, die wahre Todesursache zu untersuchen und Gegenmaßnahmen zu treffen. Einen Monat bis drei Monate später wird die Trauergemeinde nochmals zusammengerufen, um das Ritual des „Waschens der Feldhacken" zu vollziehen. Aus Anlaß dieser Feier wird Bier gebraut, alle bei der Beerdigung verwandten Werkzeuge werden damit gewaschen, und den Kindern im Gehöft wird Medizin verabreicht. Ein Jahr später erfolgt eine weitere Zeremonie, die als „die Zeremonie des Zurückrufens der Seele zur eigenen Familie" bekannt ist. Sie ist allerdings auf Männer und Frauen beschränkt, die vor ihrem Tode verheiratet waren. Aus diesem Anlaß versammeln sich alle Verwandten und Freunde zu einem großen Fest, auf dem getanzt wird. Aus Getreide, das nach dem Tode des Mannes angebaut wurde, und aus Samen, die von außerhalb des eigenen Gehöfts stammen müssen, wird Bier gebraut. Bei dieser Zeremonie fallen alle infolge des Todesfalles bisher dem normalen Leben auferlegten Beschränkungen weg, und das Leben nimmt wieder seinen alten Lauf. Nun können die Witwen wieder heiraten, der Besitz des Toten wird aufgeteilt und ein neues „Tier der Vorfahren" ausgewählt. Dieses Tier ist normalerweise ein schwarzer Ochse, niemals jedoch ein Schaf. Es wird von nun an vom Haupterben, gewöhnlich dem ältesten Sohn, versorgt. Die Zeremonie setzt rituell der durch den Tod verursachten Unterbrechung des Lebens ein Ende.2 In den erwähnten Bestattungssitten kann man einen tiefen Sinn erkennen. Der Speer, mit dem der älteste Sohn auf das Grab schlägt, 2
Hughes und van Velsen, S. ioof. Die Auslegung stammt jedoch von mir.
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ist eine Verteidigungs- und Schutzwaffe, die auf diese Weise alle Gefahren behebt, welche dem Toten auf seiner Reise ins neue Land und bei seiner Ankunft dort drohen. Die als Grabbeigaben mit dem Leichnam beerdigten persönlichen Habe sollen ihn begleiten, damit er nicht arm in das Jenseits eingeht. Diese Dinge sind ein Stück von ihm und dürfen ihm von den Hinterbliebenen nicht abgenommen werden, sonst erscheint er ihnen, um sein Eigentum zurückzuverlangen. Das nach der Bestattung getötete „Begleittier" dient dazu, ihn auf der Reise mit Nahrung zu versorgen und ihm im Jenseits einen eigenen Viehbestand zu verschaffen. Das Trinken der aus Knochenasche hergestellten „Medizin" ist ein Ritus, der den Verstorbenen mystisch mit den noch lebenden Mitgliedern seiner Familie und Gemeinde vereinigt. Das Waschen im Fluß ist ein ritueller Reinigungsakt, da der Tod eine Verunreinigung darstellt. Dasselbe gilt für den eine paar Monate später vollzogenen Ritus, bei dem die Werkzeuge mit Bier gewaschen werden. Bei dieser Zeremonie gibt man den Kindern als Maßnahme gegen den Tod eine schützende Medizin zu trinken. Die letzte Zeremonie ist einerseits eine symbolische „Wiederbelebung", „Zurückrufung" oder „Einladung" des Toten, die bezweckt, im Jenseits den Kontakt zu ihm wiederherzustellen, und andererseits eine formelle Wiederaufnahme des normalen Lebens. Hier wird in ritueller Form der Sieg des Menschen über den Tod gefeiert, denn der Tod hat den Rhythmus des Lebens nur gehemmt, nicht etwa zerstört. Aus der Zeremonie geht außerdem hervor, daß der Verstorbene nicht wirklich tot ist. Er ist eine Totenseele, mit der man Fühlung aufnehmen, die man einladen und in den Kreis der Lebenden zurückbringen kann. Das neue „Tier der Vorfahren" symbolisiert die fortdauernde Gegenwart der Totenseelen in der Familie und bei ihrem Volk. Diese Zeremonien bezeugen auch die große religiöse Bedeutung von Ehe und Fortpflanzung bei afrikanischen Völkern. Der Sohn spielt in allem fortwährend eine der Hauptrollen: bei den Bestattungsriten für seinen Vater, im Hochhalten seines Gedächtnisses und bei der Pflege des Ochsen, der die Menschenwelt mystisch mit der Welt der Verstorbenen verbindet. Einem Unverheirateten wird die letzte der drei Zeremonien vorenthalten, da diese in mancher Hinsicht den wichtigsten und bedeutungsvollsten aller Versuche des Menschen darstellt, seinen S;eg über den Tod zu symbolisieren. Dadurch dürfte zum Ausdruck kommen, daß der Unverheiratete wirklich vom Tod übermannt worden ist; er wird nicht zurückgerufen oder feierlich in die Menschenfamilie eingeladen.
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b) Der Tod bei den Baluhja Wenn mit ziemlicher Sicherheit feststeht, daß der Tod nahe ist, wird der Kranke vor das Haus — oder mitten in den Innenraum des Hauses — seiner Hauptfrau getragen, und alle Verwandten werden über das bevorstehende Ereignis unterrichtet. Jeder muß erscheinen, denn wer nicht kommt, setzt sich entweder dem Verdacht aus, mit magischen Kräften gegen den Sterbenden gewirkt zu haben, oder der Geist des Toten könnte später an ihm Rache üben, da Nichterscheinen als Respektlosigkeit dem Sterbenden gegenüber angesehen wird. Der Bruder oder Sohn des Todkranken schlachtet am Familienschrein (lusambwa) ein Schaf oder eine Ziege, wobei er die Worte spricht: „Ihr alle, die ihr bereits gestorben seid, kommt und esset dieses Fleisch!" und die Namen der Verstorbenen anruft. Sodann wird das Fleisch von der Familie verzehrt. Auch der Sterbende nimmt am Mahle teil, wenn er noch die Kraft dazu besitzt. Das Opfertier ist die letzte Gabe des Mannes an seine Totenseelen, durch die er diese bittet, ihn in Frieden aufzunehmen. Dann sagt er seiner Familie Lebewohl und bittet um Verzeihung für alle Kränkungen, die er unwissentlich den Mitgliedern seiner Familie und den übrigen Verwandten zugefügt hat. Wenn jemand, der Magie gegen ihn angewandt hat, von dem Fleische ißt, soll er angeblich krank davon werden. Der Sterbende gibt nun Anweisungen hinsichtlich der Verteilung seines Besitztums, während alle um ihn herumsitzen und schweigend auf seinen Tod warten. Sobald der Tod eingetreten ist, bricht seine Frau in Wehklagen aus, und alle Söhne und Töchter und die übrigen Anwesenden stimmen mit ein. Der Klageruf für einen Mann lautet: „Je— je— je —; je — je — je — ! " und für eine verstorbene Frau: „wo-i — wo-i — wo-i ; wo-i, wo-i, wo-i !" Während der Wehklage streichelt die Frau den Toten. Dann geht sie hinaus, begleitet von anderen Anwesenden, und setzt ihr Wehklagen von Gehöft zu Gehöft, von einem Fluß zum anderen, von einem Wald zum anderen fort und zieht bis zu ihrem Geburtshaus, falls dieses nicht zu weit entfernt ist. Die Frauen legen dabei ihre Hände an den Hinterkopf, während die Männer Gräser und Büsche mit Stöcken und Prügeln abklopfen und die alten Männer Horner blasen. Handelt es sich bei der verstorbenen Person um eine junge Frau mit höchstens zwei Kindern, so wird die Leiche in das Haus ihrer Eltern zurückgeschickt, und ihr Mann bekommt seine Brautgabe zurück. Die Ehe gilt nicht als ganz vollzogen, solange die Frau nicht einer größeren
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Anzahl Kinder das Leben geschenkt hat. Früher bewahrte man den Leichnam des Toten einen Tag lang im Hause auf, aber heutzutage wird er außerhalb des Hauses aufgebahrt. Man legt ihn auf ein Tierfell und bedeckt ihn mit Bananenblättern oder einem Leopardenfell, wenn der Tote im Leben ein bedeutender Mann war. Der Leichnam eines Klanhäuptlings wird zwei Tage lang aufbewahrt, um ihm Hochachtung zu erweisen und seinem Geiste zu Gefallen zu sein. Die Leiche eines Kindes wird nur wenige Stunden aufbewahrt und dann beerdigt. Da die Menschen in der heutigen Zeit weit von ihrer Heimat entfernt arbeiten, werden die Leichen Erwachsener zwei Tage lang aufgebahrt, um Verwandten in der Fremde die Anreise zu ermöglichen. Nachts hält man bei dem Toten Leichenwache, vor allem um nach der Hexe oder dem Zauberer Ausschau zu halten, die zurückkehren könnten, um sich am Ergebnis ihrer üblen Machenschaften zu ergötzen. Die Nachbarn und Verwandten bringen Bier und Speise. Einige spielen Musikinstrumente, andere singen Klagelieder und tanzen. Damit ist einerseits die Absicht verknüpft, den Geist des Toten zu erfreuen, und andererseits, die ihres Unterstützers beraubte Familie zu trösten. Wenn die Witwe eine treue Gattin gewesen ist, tanzt sie Speere schwingend und Klagelieder singend um den Toten. Ist sie über das Gebäralter hinaus, so legt sie das Gewand ihres toten Gatten an, was eine junge Witwe niemals wagen würde, da sie sonst keine Kinder mehr bekäme. Am Tag des Begräbnisses wird die Witwe von einer älteren Witwe an den Fluß geführt und mit Lehm bemalt, während ihre Kinder und Anverwandten sich selber bemalen. Der Zug zum Fluß geht unter Weinen, Singen, Wehklagen und Tanzen vor sich. Der Lehm ist das Symbol der Trauer. Auf dem Heimweg wird gesungen, in die Luft gesprungen, getanzt, es werden schrille Schreie ausgestoßen und Speere, Keulen, Stöcke und Schilder geschwungen. Die Witwe preist ihren Gatten, indem sie beispielsweise die Worte spricht: „Mein Gatte war sehr gut zu mir. Er gab mir viele Kinder. Er war ein tapferer Krieger und hat viele Feinde getötet". In der Zwischenzeit graben vier Brüder oder dem Toten nahestehende Klanangehörige das Grab. Keine Frau oder unbeschnittene Person ist hierzu befugt, und ein Vater darf auch nicht für seinen Sohn oder seine Tochter, ein Mann nicht für seine Gattin das Grab ausheben. Wenn ein Mensch eines unnatürlichen Todes gestorben ist, z. B. durch Blitzschlag oder Selbstmord, so fürchten die Leute sich davor, ihm sein Grab zu graben, da diese Arbeit sie mit Unreinheiten behaften würde. Man 13
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zahlt den Totengräbern daher eine Ziege, die sie töten, u m die U n reinheiten mit ihrem Blute abzuwaschen. Das Grab eines Familienoberhauptes legt man im Hause seiner ersten Frau an, das einer Frau, eines unverheirateten Sohnes, einer unverheirateten Tochter oder eines verheirateten Mannes ohne Kinder oder mit höchstens zwei Kindern linksseitig hinter dem Hause, das des Regenmachers im Mittelpunkt seines Hauses. Für jemand, der einer Epidemie zum Opfer gefallen ist, hebt man das Grab am Fluß oder im Busch auf, damit er die Heimstätte nicht verunreinigt, und für einen Buckligen oder Selbstmörder im Freien hinter dem Gehöft. Das Grab hat rechteckige Form. Sein Boden wird mit Gras oder Bananenblättern ausgelegt; für einen Klanhäuptling nimmt man jedoch eine Kuhhaut. Das eigentliche Begräbnis findet am frühen Nachmittag statt, wenn es sich u m eine Frau oder einen gewöhnlichen Mann handelt. Es findet jedoch erst gegen Sonnenuntergang statt, wenn der Tote ein hervorgender Mann war. W a r er ein berühmter Krieger, ein Klanhäuptling, ein Familienoberhaupt oder ein älterer Mann, so geht dem Begräbnis die Zeremonie des „Topfzerbrechens" voraus. Zu diesem Zweck zerbricht ein Enkel des Verstorbenen feierlich einen Koch- oder Biertopf, u m durch diese Handlung den erlittenen Verlust zu symbolisieren. Der Leichnam wird nach "Westen gekehrt beerdigt und ist dabei völlig nackt wie bei seiner Geburt. Der Zustand der Nacktheit symbolisiert die Geburt im Jenseits. Eine körperlich mißgestaltete Person oder eine Hexe wird ohne jegliche Zeremonie bestattet. Beim Begräbnis einer unfruchtbaren Frau müssen alle Unverheirateten und Kinderlosen sich von der Leiche fernhalten, damit sie nicht von der gleichen Tragödie befallen werden. In einigen Teilen des Landes wird das Grab nun zum neuen Schrein aller Totenseelen der Familie. Die Totengräber töten eine Ziege, deren Blut über das frische Grab bzw. den Schrein gespritzt wird. Die Ziege und ihr so verspritztes Blut sind Zeichen des Dankes an den Verstorbenen f ü r den R u h m und Reichtum, den er der Familie hinterlassen hat. Für einen Greis oder eine Respektsperson findet am Tag nach dem Begräbnis die Zeremonie des „Viehtreibens" (schilemhe) statt. Sie entfällt jedoch für jemand, der keinen Sohn hat, wenn ihm auch andere Ehren erwiesen werden dürfen. U m diese Zeremo nie in die Wege zu leiten, werden alle Rinder versammelt und mit Kräutern oder Gras geschmückt. Die Leute bemalen ihre Gesichter mit weißem Ton, legen Kriegsgewänder aus Kuhhaut, Leopardenfell oder Gras an und tragen Speere,
Der Tod bei den Baluhja
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Keulen, Stöcke und Schilde. Jeder Klan treibt der Reihe nach sein Vieh in die Heimstätte und singt und tanzt dort. An Liedern gibt man Kriegslieder, Hochzeitslieder, Klageweisen, Preislieder auf den Verstorbenen und Loblieder zum besten, die seine Leistung für die Gemeinde würdigen. Die Leute klopfen auf Bananenstauden, Büsche oder auf das Dach des Hauses, während zwei oder drei Brüder des Verstorbenen die „Viehtriebstrommel" rühren. Die Zeremonie bezweckt, den Geist des Toten zu vertreiben, damit er nicht an der Heimstätte verweilt und Unglück bringt. Am Tag nach dem Viehtrieb wird die Zeremonie der Kopfrasur vollzogen. Alle, die mit dem Verstorbenen entweder auf dem Totenbett oder während des Begräbnisses in Berührung gekommen sind, müssen sich ihr unterziehen. Man glaubt, daß sein Atem Unreinheit verursache, wodurch allen, die mit dem Toten in Berührung gekommen sind, eine Krankheit am Kopfe kleben bleibe. Das abrasierte Haar wird versteckt, damit keine Hexe seiner habhaft wird und kein Vogel es zum Nestbau benützt. Im letzteren Falle befürchtet man, daß der ehemalige Besitzer des Haares an chronischen Kopfschmerzen leiden werde. Die Kopfrasur fängt bei der Witwe an, dann folgen die Totengräber, Söhne, Töchter und andere. Es wird ein Huhn oder eine Ziege getötet, und alle, die an der Zeremonie teilnehmen, essen von dem Fleisch. Erst dann dürfen sie nach Hause zurückkehren.3 Auch ohne eine ausführliche Deutung der Sterbe- und Beerdigungsriten bei den Baluhja tritt die Paradoxie des Todes klar hervor. Der Sterbende wird von allen Lebewesen getrennt, und doch müssen zwischen den Lebenden und den Toten dauernde Bande erhalten bleiden. Die Verwandten und Nachbarn kommen, um den Sterbenden Lebewohl zu sagen, und doch herrscht durch seine Kinder und durch das die beiden Welten einende Ritual Kontinuität. Der Tod verursacht rituale Unreinheit, wie er auch das normale Leben unterbricht, aber dieser Zustand dauert nicht an, da die Reinigung erfolgt und dann das normale Leben wieder seinen Gang nimmt. Das Grab ist Symbol der Trennung von Toten und Lebendigen, aber indem man es in einen Schrein für die Totenseelen verwandelt, wird es paradoxerweise zum Treffpunkt beider Welten. In diesen Baluhjariten sehen wir auch, wie die Gemeinschaft in den Tod des einzelnen hineinbezogen wird und wie die ganze Gemeinde, das Vieh einbegriffen, dem in eine andere Welt Abreisenden 3
S. Yokoo: Death among the Abaluyia. S. 34—39.
13*
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eine bewegende Abschiedsfeier gibt. Sogar die Totenseelen sind beteiligt, da sie es sind, die den Neuankömmling empfangen. Das Entkleiden des Leichnams und die Bestattung in völliger Nacktheit gibt der Vorstellung vom Tode als Geburt in einer jenseitigen Welt überzeugend äußere Gestalt. c) Ursachen und Sinn des Todes
In einen früheren Kapitel sahen wir, daß die meisten afrikanischen Völker dem Erscheinen des Todes in der Welt bereits eine mythologische Deutung gegeben haben.4 Seit Urzeiten hat der Mensch den Tod als Teil des natürlichen Lebensrhythmus hingenommen, und doch glaubt man paradoxerweise bei jedem Todesfall, daß er äußere Gründe habe, wodurch er sowohl natürlich als auch unnatürlich ist. Man fühlt sich verpflichtet, unmittelbare Todesursachen aufzuspüren und als solche zu bezeichnen. Als bei weitem häufigste Ursache gelten Magie, Zauberei und Hexerei. Diese kommen bei allen afrikanischen Völkern vor, obwohl der Nachdruck jeweils verschieden ist. Oft wird jemand angeklagt, eine dieser Methoden angewandt und dadurch den Tod eines anderen Menschen verursacht zu haben. Wir werden dieses Thema weiter in Kapitel 16 behandeln. Bei manchen Völkern wird der Fluch sehr gefürchtet, denn ein kraftvoller Fluch soll angeblich dem Menschen, gegen den er sich richtet, den Tod bringen. Als weitere Todesursache kommen die Totenseelen und Geister in Betracht. Dies gilt für solche, die einer bestimmten Familie zugehören, insbesondere für diejenigen Totenseelen, die vielleicht vor ihren Tode beleidigt worden sind oder einen Groll gegen jemand hegen. Obwohl man befürchtet, daß die Totenseelen den Tod verursachen können, liegen wenig Anhaltspunkte für die Überzeugung vor, daß sie ihn tatsächlich bewirken. Dieser Punkt ist in Untersuchungen über afrikanische Geistervorstellungen sehr oft falsch dargestellt worden. Wenn eine Familie den Eindruck hat, daß die Totenseelen unzufrieden sind, so ergreift sie sogleich Maßnahmen, um die alte Harmonie wiederherzustellen, damit sich die Situation nicht so sehr verschlechtert, daß am Ende der Tod droht. Die vierte Kraft, die den Tod verursachen kann, ist Gott, besonders in Fällen, für die sich keine zufriedenstellende Erklärung findet, z. B . bei Blitzschlag, Altersschwäche (d. h. natürlichem Tod) oder wenn jemand ein wichtiges 3
Siehe Kapitel 9 weiter oben sowie H. Abrahamsson: The Origin of Death, Uppsala 1 9 5 1 , der die Mythen eingehender behandelt, und Ulli Beier: The Origin ofLife and Death, London (1966), der ein paar ähnliche Mythen bringt.
Ursachen und Sinn des Todes
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Gebot übertreten oder eine Sitte verletzt hat. Auch wenn Gott als die letzte Ursache des Todes angesehen wird bringt man oft andere Z w i schenkräfte ins Spiel, um dem Verdacht der Menschen einen Anhaltspunkt zu geben und einen Sündenbock zu finden. Für praktisch jeden Tod in Afrika müssen eine oder mehrere Todesursachen angegeben werden. Dies bedeutet also, daß der Tod, obwohl er zugegebenermaßen in die Welt gekommen und nicht mehr aus ihr gewichen ist, im Einzelfalle als unnatürlich und verhütbar gilt, weil er nach Auffassung der Menschen immer von einer fremden Kraft verursacht wird. Wenn diese Kraft, dieses Agens ihn nicht verursachte, so würde der Mensch nicht sterben. So wird also die unmittelbare Wirkungsweise des Todes unter den Menschen logisch und weltanschaulich verstanden. Was das Phänomen des Sterbens anbetrifft, so wollen wir zunächst die Ausdrücke betrachten, mit denen der eigentliche Vorgang umschrieben wird. Aus ihnen können wir Schlüsse auf die Todesvorstellungen des Volkes ziehen. Bei den Soga sagt man, wenn ein Mensch gestorben ist: „Er hat seinen letzten Atemzug getan", „Er hat sich ruhig verhalten", „Er ist gegangen", „Er ist hinunter zum Grabe gegangen", „Der Tod befahl unserem Freund, sein Bündel zu schnüren und zu gehen", „Er ist so trocken, als ob er von gestern sei", „Sein Leben brach wie ein morscher Stock entzwei". Wenn es sich um einen alten Mann aus einer anderen Familie handelt, so sagt man: „Es ist recht so, er ist gestorben, er hatte genug gegessen". Über den Tod eines Mörders oder einer Hexe sagt man: „Laßt ihn fahren, er hat sein Werk getan, damit ist wieder ein Esser weg". Von jemandem, der unbeliebt war, heißt es, der Tod (walumbe) „hat ihn geschlagen", „hat ihn sein Essen aufessen lassen", „hat ihn einschlafen oder sich niederlegen lassen", „hat ihn trocken gemacht", „hat ihn steif gemacht", „hat ihn ruhig werden lassen", „hat ihn umgeniest", „hat ihn weit weggehen lassen" oder „der Tod hat ihn niedergemäht oder niedergezwungen". 4 Bei den Baluhja wird der Tod oder das Sterben als „Schlafen" bezeichnet (wenn es sich um einen alten Mann handelt, der eines friedlichen Todes gestorben ist), von einem Selbstmörder sagt man, er sei „durch sich selbst gefallen", während ein Ermordeter „einen Pullover trägt"; allgemein sagt man, jemand habe „das Bettuch betreten" (womit auf die Tatsache Bezug genommen wird, daß die Leiche nach dem Tode — wenngleich nicht für die eigentliche Bestattung — in ein Tierfell gehüllt oder mit 4
A . Bulima-Nabwiso: Aufsatz über die Bestattungsriten der Soga, März 1966.
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Bananenblättern bedeckt wird), er sei „zum Orte der Toten gegangen" oder „heimgegangen", während es von einem sehr verhaßten Menschen heißt, er habe „nach einem Ausgang gesucht" oder „das Bein gehoben".5 Die Kamba benützen die folgenden Ausdrücke: „der Gesellschaft der Großväter nachfolgen", „heimgehen", „aufhören zu schnarchen", „geholt oder vorgeladen werden", „die Seele entleeren", „auf ewig schlafen", „vertrocknen, verdorren oder verdunsten", „hinscheiden", „gerufen werden", „die Menschen verwerfen", „Nahrung verweigern", „empfangen oder weggeholt werden", „zurückkehren", „enden oder zu Ende sein", „mit dem Atem zu Ende kommen", „abreisen oder gehen", „dorthin gehen, wo andere hingegangen sind", „die Menschenwelt verlassen, aufgeben oder im Stich lassen", „zusammenbrechen oder verfallen", „Eigentum Gottes werden" oder „eine Fehlgeburt haben" (auf Personen bezogen, die früh sterben). Ahnliche Ausdrücke ließen sich aus anderen Teilen Afrikas anführen. Wir können daraus einige Schlüsse ziehen. Der Tod wird als Abreise, und nicht als völlige Vernichtung einer Person aufgefaßt. Der Tote zieht weiter, um sich der Gesellschaft der Verstorbenen anzuschließen. Die einzige größere Veränderung ist der Zerfall des Leibes, während der Geist in eine andere Existenzstufe übergeht. Einige der Ausdrücke, die Tod umschreiben, reden von „Heimgang", was bedeutet, daß das Leben einer Pilgerfahrt gleicht. Die wahre Heimat ist im jenseitigen Leben, da man von dort nicht mehr scheidet. Ein Teil der Person wird im Tode völlig zum Stillstand gebracht. Sie schläft, um nie wieder zu erwachen. Der Tod ist grausam, er „macht steif", „mäht nieder" oder bringt eine Person zum „Verdunsten", mag sie auch im Leben nach dem Tode weiterexistieren. Die Grausamkeit des Todes wird in Totenklagen besonders hervorgehoben. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür liefern die Atscholi, wenn sie singen: Feuer wütet in Layima, Wütet im Tale des Cumuflusses, Alles ist gänzlich zerstört. Oh, meine Tochter, Könnt' ich das Haus der Mutter des Todes finden, Ich würde eine Fackel aus langen Gräsern winden. Könnt' ich das Haus der Mutter des Todes finden, So würde auch ich alles gänzlich zerstören. Feuer wütet in Layima. s Yokoo, S. 13 f.
Ursachen und Sinn des Todes
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Der Kampf zwischen Mensch und Tod kommt in einer anderem Totenklage lebhaft zum Ausdruck: Siehe, Oteka kämpft allein, Der Stier stirbt allein. O Männer von Geschlechte der Awic, Was hat der Sohn meiner Mutter euch getan, daß er verlassen ist? Siehe, der Krieger kämpft auf eigene Faust. Mein Bruder ist bewaffnet mit Bögen und widerhakigen Pfeilen, Er kämpft allein, kein Helfer ihm zur Seite. Mein Bruder kämpft allein, Er ringt mit dem Tode.®
Dasselbe Gefühl menschlicher Hilflosigkeit im Angesichte des Todes spricht auch aus einem Grabgesang der Akan: Wir sind eines Führers beraubt, Der Tod läßt uns führerlos... Er ist tot und hat uns führerlos gelassen. Ach, Mutter! Ach, Vater!... Ach, Mutter! Ach, V a t e r ! . . . Wir werden hinweggetragen. Der Tod trägt uns alle h i n w e g . . . 7
Der Tod ist also ein Ungeheuer, dem der Mensch in äußerster Hilflosigkeit gegenübersteht. Die Verwandten sehen einen Menschen sterben und können ihm nicht helfen, dem Tod zu entfliehen. Er ist jedes Menschen ureigene Angelegenheit, in die kein Außenstehender eingreifen oder sich einmischen kann. Hier erreichen Todesangst und -schmerzen ihren Höhepunkt. Im Rahmen der afrikanischen Begriffs- und Glaubenswelt gibt es keine Heilung und kein Entrinnen vom Tode. Eine Analyse der Begräbnissriten und Beisetzungsarten gibt Aufschluß über weitere afrikanische Todesvorstellungen. Die Beerdigung ist die übliche Methode, mit dem Leichnam zu verfahren, jedoch sind die Beerdigungssitten verschieden. Bei einigen Völkern beerdigt man die Leiche im Hause, wo die betreffende Person lebte, als sie der Tod ereilte, bei anderen im Innenbereich des Gehöfts, wo ihre Heimstätte lag; 6
7
J. Okot p'Bitek: „The Concept of Jok among the Acholi and Lango", in: The Uganda Journal, B d . X X V I I , N o . 1, 1963, S . 20. J . H . N k e t i a : Funeral Dirges of the Akan People, A c c r a (1955), S . I22f.
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manche Völker beerdigen den Leichnam hinter dem Gehöft und wieder andere am Geburtsort. Form und Größe der Gräber sind verschieden: einige sind rechteckig, andere kreisförmig, manche habe eine Aushöhlung im Boden des Grabes, worin der Leichnam, gebettet wird. Es gibt auch Völker, bei denen der Leichnam in einem großen Topf beigesetzt wird. In manchen Gegenden kennt man die Sitte, Grabbeigaben wie Speisen, Waffen, Hocker, Tabak, Kleidung und früher auch die Frau oder Frauen des Verstorbenen mitzubeerdigen, damit diese den Verstorbenen auf seiner Reise in die jenseitige Welt begleiten. Daneben findet man allerdings Völker, die keine Beerdigung kennen und den Leichnam in einen Fluß oder Busch werfen, w o er von wilden Tieren und Raubvögeln gefressen wird. Bei anderen gibt es besondere Bestattungshütten, in denen der Körper entweder unbegrenzt oder zumindest mehrere Monate oder Jahre lang aufbewahrt wird, wonach die Reste gesammelt und begraben werden. Bei einer Anzahl von Völkern wird der Schädel, der Unterkiefer oder ein sonstiger Körperteil des Toten abgetrennt und von der Familie aufbewahrt. Damit ist der Glaube verbunden, daß der Verstorbene in diesem Schädel oder Kiefer gegenwärtig sei. Auf jeden Fall dient dieser Teil des Toten der Familie als konkrete Erinnerungsstütze, daß ihr Verstorbener im Jenseits weiterlebt. Diese Methoden der Leichenbeseitigung gelten in erster Linie für Erwachsene oder eines natürlichen Todes Gestorbene. Kinder, Unverheiratete, Selbstmörder oder von wilden Tieren Getötete sowie Opfer von Krankheiten wie Lepra, Pocken oder Epilepsie werden möglicherweise nicht mit denselben vollständigen Bestattungsriten beigesetzt. Allerdings wirken sich die Veränderungen der modernen Zeit so aus, daß die Bestattungsweise für jedermann immer ähnlicher wird. Hieraus geht erneut hervor, daß die Menschen eine zwiespältige Anschauung vom Tode haben. Er ist Trennung, nicht aber Vernichtung; der Tote wird plötzlich von der menschlichen Gesellschaft losgelöst, und doch klammert sich die engere Gruppe an ihn. Das beweisen die komplizierten Bestattungsriten sowie weitere Verfahren, mit dem Toten in Verbindung zu bleiben, die wir weiter unten besprechen werden. Der Tod wird also zu einem stufenförmigen Prozeß, der erst ein paar Jahre nach dem eigentlichen körperlichen Tod zur Vollendung kommt. Im Augenblick des körperlichen Todes wird der Mensch zum Lebend-Toten, zur Totenseele. Er ist weder physisch am Leben, noch ist er für die engere Gruppe tot. Seine eigene Sasaperiode ist zu Ende, er tritt gänzlich in die Samaniperiode ein, aber von Standpunkt derjenigen
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aus betrachtet, die ihn kannten, wird er in der Sasaperiode zurückgehalten, aus der er nur allmählich entschwinden kann. Verstorbene, die niemand in der Sasaperiode zurückhält, sterben hingegen sofort — eine große Tragödie, die unter allen Umständen zu vermeiden ist. d) Das Leben nach dem Tode Bei Völkern, die daran glauben, daß das Jenseits in einer anderen Welt oder an einem fernen Ort liegt, werden meist Nahrungsmittel und Waffen mit dem Toten beerdigt, um ihn auf seiner Reise zwischen den beiden Welten zu nähren und zu schützen. Für die meisten Völker ist jedoch die zukünftige Welt geographisch gesehen in Wirklichkeit „hier", und ihre Trennung v o m Diesseits beruht nur darauf, daß sie dem menschlichen Auge verborgen ist. Die Dschagga sind des Glaubens, die Reise von dieser zur jenseitigen Welt beanspruche neun Tage und die Seele müsse eine gefährliche Wüstenregion durchqueren. Bei ihrer Ankunft am Ziel ihrer Reise müsse ihr von den älteren Geistern Einlaß gewährt werden. U m die Anstrengungen der Reise zu mildern, wird der Leichnam mit Fett eingerieben, der Mund mit Milch gefüllt und der Körper in Häute gewickelt, um ihn mit Nahrung zu versorgen und vor der stechenden Wüstensonne zu bewahren. Es wird auch ein Stier f ü r den Großvater des Verstorbenen geschlachtet, damit er dem Toten bei seiner Ankunft in der jenseitigen Welt hilft. Die Lodagaa glauben, das Land der Toten liege im Westen und sei durch den Todesfluß von unserer Welt getrennt. Sobald die Bestattungsriten vollzogen sind, begibt sich die Seele auf die Reise. A m Fluß wird sie mittels eines Fährgeldes von zwanzig Kaurimuscheln übergesetzt, das Freunde und Verwandte beim Begräbnis spenden. Aber die Überquerung dieses Flusses ist eine Prüfung, deren Härte von der früheren Lebensführung des Verstorbenen abhängt. Daher überqueren „ g u t e " Menschen den Fluß ohne Schwierigkeit, während „böse" aus dem Nachen fallen und den Fluß durchschwimmen müssen, was bis zu drei Jahre dauern kann. Die größten Schwierigkeiten stellen sich Schuldnern, Dieben, Hexen und solchen Toten entgegen, die anderen einen Wunsch verweigert haben. Entweder wird ihnen der Übergang verwehrt, oder ihre Überfahrt erweist sich als besonders gefährlich. 8 Auch die Ga glauben, die Seele müsse nach dem Tode einen Fluß überqueren; bei der Ankunft 8
Goody, S. 3 7 1 f, gibt eine interessante und vollständige Beschreibung.
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am jenseitigen Ufer werde ihr das Nasenbein zerbrochen, woraus sich erklärt, daß die Verstorbenen durch die Nase sprechen. Dies waren nur einige Beispiele zum Wesen und zur Bedeutung der Reise ins Jenseits. Es gibt viele afrikanische Völker, die sich keinerlei geographische Trennung zwischen den beiden Welten vorstellen können, und sobald ein Mensch körperlich tot ist, kommt er in seiner Geistergestalt „dort" an. Dies bedeutet aber, daß man sich eine Zusammensetzung des Menschen aus körperlicher und geistiger Substanz vorstellt, und bei einigen Völkern wird diesen Substanzen noch ein „Schatten", „ein Atemhauch" oder eine „Persönlichkeit" beigegeben. Es ist nicht immer leicht, eine Person in mehr als zwei Teile zu teilen, und auf diesem Gebiet dürften noch weitere Untersuchungen und Forschungen notwendig sein. Wir haben bereits in Kapitel 8 das Thema Geister und Totenseelen angerührt. Einige Völker stellen sich das Jenseits unterirdisch vor, wahrscheinlich weil die Toten bei ihnen in der Erde bestattet werden. Der Erdboden, auf dem die Menschen einhergehen, ist daher die Ebene, auf der die Totenseelen und ihre lebenden Verwandten sich zuinnigst begegnen. Die Erde — das Grab — ist es, die sie dem Anblick ihrer Blutsgenossen entzieht und in Wirklichkeit ihre physische Existenz als Menschen aufhebt. Paradoxerweise ist es jedoch dieselbe Erde, die es den Menschen gestattet, durch Ausgießen von Trankopfern, Darbringen von Speiseopfern und sogar durch das Befragen des Orakels mit den Totenseelen Verbindung aufzunehmen. Daher findet man die Familienschreine für die Totenseelen meist in der Nähe der Stelle, wo das Oberhaupt oder das älteste Mitglied der Familie begraben liegt, und die Kulthandlungen für die Totenseelen finden immer im näheren Umkreis der eigentlichen Familiengruft statt. Das Land hält das Sasa der Lebendigen und das Samani der Verstorbenen zusammen, und wie wir im dritten Kapitel dieses Buches sahen, werden für Zeit und R a u m oft dieselben Wörter gebraucht. Für die afrikanischen Völker hat der Erdboden die religiöse Aufgabe, die vergangenen und gegenwärtigen Generationen, Samani und Sasa, mystisch zu vereinen. Viele Völker vermuten die Heimat der Verstorbenen in der Umgegend menschlicher Behausungen. Es kommt vor, daß sie aus diesem Grunde einen Körperteil des Toten als Symbol seiner fortdauernden Gegenwart aufbewahren. Andere Völker müssen ihre Totenseelen feierlich umbetten, wenn das ganze Dorf eine neue Wohnstatt sucht. All diese Dinge beweisen, welch starke mystische Anziehungskraft die
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Verstorbenen auf die Lebenden ausüben. Bei nur wenigen Völkern glaubt man, die Verstorbenen der gegenwärtigen und gerade vergangenen Generation hausten in Wäldern und auf Bergen ziemlich weit von den Siedlungen entfernt, in denen sie einst lebten. Aber auch in diesem Falle bleiben die Totenseelen mit ihren irdischen Verwandten in Verbindung, indem sie ihnen Besuche abstatten oder Trank- und Speiseopfer von ihnen erhalten. Eine Anzahl Völker, dabei die Sotho, Lozi, Lugbara, Schilluk, Turkana und Joruba, glauben, daß die Seele des Menschen nach dem Sterben zum Himmel gehe oder Gott nahekomme. Dadurch wird sie jedoch nicht von ihren menschlichen Verwandten losgerissen, die auf ihrer Überzeugung beharren, daß die Totenseele ihnen nahe ist und durch Gebet, Trank und Opfergaben erreicht werden kann. Wie wir bereits hervorgehoben haben, spielen die Totenseelen eine Mitterrolle zwischen Gott und den Menschen oder zwischen den Menschen und wichtigen, aber ihnen fernerstehenden Vorfahren. Die Mehrheit der afrikanischen Völker erwartet im Leben nach dem Tode keinerlei Gericht oder Lohn. Hiervon gibt es nur wenige Ausnahmen. Die Joruba glauben, daß der Mensch nach dem Tode vor Gott erscheinen und Rechenschaft über sein Erdenleben ablegen müsse: Für all unser irdisches Tun Werden wir kniend im Himmel Rechenschaft g e b e n . . . Z u Füssen Gottes unseren Fall darlegen.'
Die soeben erwähnten Lodagaa fürchten, daß die „bösen" Menschen beim Ubergang über den Fluß des Todes Leid erwarte und daß jeder bei der Ankunft im Jenseits eine Bestrafung — eine Art Schikane — von Seiten der älteren Geister erleiden müsse. Die Lozi tragen Stammeserkennungszeichen an den Armen und Ohren, um in Jenseits erkannt und ins frohe Leben aufgenommen zu werden. Ahnlich glauben auch die Sonjo, das Tragen eines Erkennungszeichen an der Schulter werde ihre Identifizierung ermöglichen, wenn ihr Nationalheros zurückkehrt, um sie zu „erlösen". Bei den Joruba herrscht über das endgültige Los der Verstorbenen Ungewißheit; einige werden an einen guten Ort geschafft, andere an einen schlechten. Die erste Gruppe trifft Verwandte und lebt mehr oder weniger wie die Menschen im Diesseits, während die zweite Gruppe endlosen Leiden ausgesetzt ist. Jene Lozi, die keine Stammeszeichen 9
Idowu, 2 . 1 8 9 , 1 9 9 .
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tragen, bekommen im Jenseits Fliegen zur Speise und werden auf einer Straße in Marsch gesetzt, die sich endlos dahinwindet, bis sie sich in einer Wüste verliert, w o sie Hungers und Durstes sterben. Von diesen wenigen Ausnahmen abgesehen, haben wir keine konkreten Beweise dafür, daß das Jenseits unter dem Gesichtspunkt der Strafe oder Belohnung betrachtet wird. Für die Mehrzahl afrikanischer Völker ist das Jenseits nur eine Fortsetzung des Lebens, das seine menschliche Gestalt mehr oder weniger beibehält. Dies bedeutet, daß die Persönlichkeit des Menschen erhalten bleibt, der soziale und politische R a n g weitergilt, die Unterscheidung der Geschlechter nach wie vor besteht, die menschlichen Tätigkeiten jeweils ihr Gegenstück im Jenseits haben, Reichtum oder Armut des einzelnen unabänderlich bleiben, kurz, daß das Jenseits auf mancherlei Weise eine Kopie des gegenwärtigen Lebens ist. Obwohl die Seele v o m Körper getrennt wird, glaubt man doch, sie behielte die meisten, wenn nicht alle körperlichen und gesellschaftlichen Merkmale bei, die im menschlichen Leben eine R o l l e spielen. Wieder sehen wir, daß der Mensch den Tod, der A u f lösung und Trennung ist, nicht in seiner ganzen Radikalität anerkennt und daß die afrikanischen Völker die Verschüttung des Lebens durch den T o d zugeben und doch zugleich leugnen. Ein Mensch stirbt und lebt dennoch weiter: er ist ein Lebendig-Toter, eine Totenseele. Was auch immer mit der spirituellen Komponente des Menschen bei seinem Tode geschieht, die hinterbliebenen Angehörigen wollen nicht, daß er sogleich ihrer Sasaperiode entgleitet, sie halten an ihm fest, erinnern sich seiner und erhalten ihn so im Zustand persönlicher Unsterblichkeit. Darum überlebt er als Person, als namentlich Bekannter, als „ m e i n " oder „unser" Vater, Bruder, Sohn oder Großvater. Es ist also die heilige Pflicht der Familie, die Totenseele zeitlich betrachtet in Sichtweite der Sasaperiode zu halten. Hier tritt nun bei praktisch allen afrikanischen Völkern der Kult der Totenseelen in Erscheinung. In ihm vollzieht sich das Ringen zwischen Samani und Sasa. Jeder will, daß man sich seiner „erinnert", ihn auf die Seite des menschlichen Sasa zieht und am Leben erhält, auch wenn Körper und Geist sich längst getrennt haben. Dies gilt nicht nur für die sogenannten Ahnen. e) Das Los der Seele Der T o d verkündigt die Eröffnung des Konfliktes zwischen den Kräften des Sasa und des Samani. Sobald ein Mensch stirbt, wird er zur Totenseele, d. h. zum Geist in dem Sinne, daß er nicht mehr im
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Körper wohnt. Dennoch behält er Züge bei, die es gestatten, ihn körperlich zu beschreiben. Er behält seinen Eigennamen, so daß er bei seinem Erscheinen von der Familie als der oder jener erkannt wird. Auf manche Weise wird er zur Familie gezählt, obwohl seine Angehörigen sich der Tatsache bewußt sind, daß er sie verlassen hat. Ein Teil seines Wesens überlebt im Gedächtnis jener, die ihn zu seinen Lebzeiten kannten, und in den Kindern, die er hinterläßt. Es ist hauptsächlich seine Familie, die ihn sozusagen „im Gange hält". Wenn die Totenseele erscheint, so erscheint sie den Angehörigen ihres Haushalts oder ihrer Familie und nur selten — falls überhaupt — Leuten, die nicht unmittelbar mit ihr verwandt sind. Mögen die Totenseelen den Verwandten, die sie erblikken, auch noch so wirklich scheinen, es geht ihrer Begegnung jene herzliche Wärme ab, die Begegnungen von Freunden oder Verwandten im diesseitigen Leben auszeichnet. Es werden keine Grußformeln ausgetauscht — bei afrikanischen Völkern ein äußerst wichtiges Mittel gesellschaftlicher Fühlungnahme — und wenn die Totenseele wieder Abschied nimmt, trägt man ihr keine Grüße an andere Totenseelen auf. Im mitmenschlichen Bereich ist also etwas geschehen, eine Abkühlung hat eingesetzt, und eine wirkliche Distanz zwischen den Totenseelen und den Menschen macht sich bemerkbar. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß die Totenseelen Anweisungen geben, sich nach der Familie erkundigen, Gaben erheischen und sogar drohen können, Mitglieder der Familie dafür zu bestrafen, daß sie bestimmte Anweisungen nicht ausgeführt oder sich nicht genügend um die Totenseelen gekümmert haben. Die Leute sind darauf erpicht, stets ihr bestes für die Totenseelen zu tun, hauptsächlich weil diese der Hilfe bedürftig sind, genau wie kleine Kinder von den Erwachsenen versorgt werden müssen. Die persönliche Unsterblichkeit einer Totenseele hängt praktisch von ihrer Nachkommenschaft ab. Gleichzeitig nehmen die Totenseelen eine Mittelstellung zwischen Gott und den Menschen und zwischen den Menschen und den Geistern ein. Die Beziehungen zwischen den Menschen und ihren Totenseelen werden hauptsächlich durch Trankund Speiseopfer, andere Geschenke, Gebete und die Einhaltung ordnungsgemäßer Riten für die Verstorbenen sowie die Befolgung der von ihnen gegebenen Anweisungen aufrechterhalten. Dieser Vorgang dauert auf persönlicher Basis an, solange jemand, der die Totenseele kannte, noch am Leben ist. Dies kann bis zur vierten oder fünften Generation der Fall sein. Bis dahin ist die Totenseele immer weiter in der Samaniperiode versunken, und nur dünne Gedächtnis-
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stränge halten sie immer schwächer werdend in der menschlichen Sasaperiode fest. Wenn die letzte Person, die einen Toten kannte, ihrerseits stirb, verliert die Totenseele völlig den Stand persönlicher Unsterblichkeit und versinkt am Horizont der Sasaperiode. Jetzt ist sie für die übrigen Menschen tot. Der Vorgang des Sterbens ist vollendet. Die Totenseele wird nun zum Geist, der in den Stand kollektiver Unsterblichkeit versetzt wird. Nach menschlichen Begriffen geht diesem sein Eigenname und damit die menschliche Persönlichkeit verloren. Er wird zum Neutrum und ist fortan nicht mehr „er" oder „sie". Dieses neutrale Wesen ist einer von Myriaden Geistern, die aller Menschlichkeit verlustig gegangen sind und damit die letzte Bestimmung der menschlichen Seele erreicht haben. Der Mensch ist wesensmäßig dazu bestimmt, sein Menschentum zu verlieren, dafür aber sein vollgültiges Geistertum zu gewinnen. Von diesem Endpunkte aus gibt es keine Weiterentwicklung und keine rückläufige Entwicklung mehr. Gott steht jenseits des Endpunktes, und in der afrikanischen Vorstellungswelt gibt es keinerlei Hoffnung oder Möglichkeit, daß die Seele teilnehmen könnte an der Göttlichkeit Gottes. Bei ein paar Völkern ist man allerdings davon überzeugt, daß Nationalheroen oder Gründer der Nation Gott sehr nahestehen. Als Beispiel nennen wir die Schilluk, welche Njikang, den Stifter ihrer Nation, so verherrlicht sehen, die Nupe, welche Tsoedi, ihren ersten König, und die Sonjo, welche Khambageu, den Helfer des Volkes in materiellen und religiösen Dingen, ähnlich verherrlichen. In solchen Fällen werden die Heroen manchmal so eng mit Gott in Verbindung gebracht, daß man Gebete, Opfer und Geschenke sowohl an Gott als auch an den Heros richtet, als bestehe keine klare Unterscheidung zwischen den beiden. Es gibt Völker, wie die Joruba, Ibo, Akan und Ganda, die Gottheiten anerkennen, von denen einige vormals historische Gestalten waren, die jetzt über die gewöhnlichen Geister erhoben worden sind. Diese Gottheiten sind insofern eine Ausnahme, als der einzelne nicht die Hoffnung hegt, schließlich zur Gottheit zu werden, da der normale Rhythmus des Werdegangs der menschlichen Seele solches nicht vorsieht. Obwohl ein abschließendes Urteil in dieser Frage erst nach eingehenderer Untersuchung der Gottheiten gesprochen werden kann, darf man wohl jetzt schon die Vermutung äußern, daß all diejenigen, welche zu den Gottheiten versetzt worden sind, in ihrem menschlichen Dasein politische oder gesellschaftliche Führungspositionen innehatten, die dann in das Leben nach dem Tode transponiert wurden. Wenn
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diese Vermutung sich bestätigt, dann haben diese Gottheiten sich nicht aus dem Zustand — oder nach Durchlaufung des Zustandes — gewöhnlicher Geister höherentwickelt, sondern lediglich die hierarchische Stellung beibehalten, die sie bereits als Menschen innehatten. Einige der Gottheiten sind ohnehin nur Personifikationen v o n Naturkräften oder -erscheinungen, so daß das Problem der menschlichen Bestimmung sich in ihrem Falle überhaupt nicht stellt. Das vorliegende Material läßt den Schluß zu, daß die menschliche Seele in traditioneller afrikanischer Sicht der Seinsweise der Geister zubestimmt ist und nicht über diesen Punkt hinausgehen kann, mögen auch einige dieser Geister vielleicht eine höhere Stellung einnehmen als andere. Die kollektive U n sterblichkeit ist die Sackgasse menschlicher Bestimmung im Jenseits. Ob diese Unsterblichkeit relativ oder absolut ist, kann ich nicht eindeutig beurteilen, denn die afrikanischen Vorstellungen scheinen in diesem Punkt ziemlich vage. Einige Geister werden mit Naturerscheinungen und -kräften in Beziehung gesetzt, einige lösen bei Menschen, die ihnen begegnen, Furcht und Schrecken aus, andere kommen in Gestalt der Besessenheit über die Menschen, doch die Mehrzahl scheint sich menschlichem Kontakt und menschlichem Denken zu entziehen. Das Samani hat nun den Sieg errungen. Es kann alle diese Geister sein eigen nennen, und der Mensch hat keine sichere Handhabe, Dinge zu durchdringen, die seinem Blickfeld entschwunden sind. Bei vielen afrikanischen Völkern finden sich Genealogien. Wenn sie über vier oder fünf Generationen hinausgehen, sind sie f ü r die Lebenden leere Namen. Die genealogischen Namen sind wie Wirbelknochen: die letzten Überreste dessen, was das Samani hinweggefegt hat. Sie können uns nicht das ganze Skelett enthüllen. Wenn die Totenseelen in den Zustand gewöhnlicher Geister versinken, gehen viele andere Namen verloren. V o n vielen afrikanischen Völkern wird der Glaube an die Wiederverkörperung oder Seelenwanderung berichtet. Meist handelt es sich hier allerdings um teilweise Wiederverkörperung in dem Sinne, daß man nur von einigen Charakterzügen oder äußeren Merkmalen der Totenseele sagt, sie seien in ihren Kindern „wiedergeboren". Dies geschieht natürlich hauptsächlich im Familien- und Verwandtenkreise. Die reinkarnierte Totenseele existiert jedoch getrennt weiter und hört nicht auf zu bestehen. Meiner Vermutung nach leitet sich dieser Glaube zum einen Teil daraus her, daß die Leute dem Bewußtsein der Nähe ihrer Totenseelen Ausdruck verleihen wollen, und ist zum anderen
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Der Tod und das Leben nach dem Tode
Teil ein Versuch, eine rein biologische Erscheinung zu erklären, die nicht nur bei Menschen, sondern, auch bei Tieren vorkommt. Wenn jemand, der einen Verstorbenen im Stande persönlicher Unsterblichkeit erhält, in einem Kinde biologische oder charakterliche Ähnlichkeiten mit diesem Verstorbenen, feststellt, hat er gleich den Eindruck, daß die Totenseele zu den Lebenden „zurückgekehrt" sei, da sie ja noch nicht ins Vergessen der Samaniperiode versunken ist. Daher berührt es die Gemeinschaft schmerzlich, wenn jemand unverheiratet stirbt, weil dadurch seine Aussichten auf eine Wiedergeburt fast auf ein Nichts zusammenschrumpfen. Wohl heißt es, jeder könne auf diese Weise wiedergeboren werden, ob verheiratet oder ledig, ob jung oder alt, aber meist sind es doch Verstorbene, die eigene Kinder hatten. Bei einigen Völkern wird ausdrücklich betont, daß Unverheiratete oder Kinderlose nicht reinkarniert werden können. In Wirklichkeit werden nur wenige im vollen Wortsinne wiedergeboren, während einige in mehreren Kindern gleichzeitig wiedergeboren werden, wobei das Geschlecht der Totenseele keine Rolle spielt. Der Glaube an die Wiedergeburt kommt bei einigen Völkern darin zum Ausdruck, daß sie ihre Kinder nach derjenigen Totenseele benennen, die ihrer Ansicht nach in diesen wiedergeboren ist. Obwohl es auch den Glauben an partielle Wiedergeburt gibt, nimmt man nicht an, daß ein jeder automatisch wiedergeboren wird. Bei einigen Völkern ist der Glaube an die Wiedergeburt überhaupt nicht bekannt. Wenn die Verwandten feststellen, daß eine ihrer Totenseelen reinkarniert worden ist, so freuen sie sich darüber. Sie sehen darin eine weitere Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Lebenden und Toten eng zu gestalten. Wenn die Totenseele endgültig in die Samaniperiode eingetreten und zum gewöhnlichen Geist geworden ist, schwindet jede Möglichkeit einer Reinkarnation. Dies bedeutet, daß es sich bei der partiellen Wiedergeburt, falls sie überhaupt stattfindet, um ein zeitlich begrenztes Phänomen handelt, das nur möglich ist, solange die Totenseele sich noch im Stande persönlicher Unsterblichkeit befindet. Die Seele des Menschen ist dazu bestimmt, ein gewöhnlicher Geist zu werden, und ist dieses Stadium einmal erreicht, so besteht keine Möglichkeit mehr, daß sie zur menschlichen Existenzweise zurückkehrt. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß bei einigen Völkern der Glaube herrscht, die Geister oder auch Totenseelen besuchten die Menschen in Gestalt von Schlangen, Ratten, Eidechsen oder anderen Tieren, die dann nicht getötet werden dürfen.
Medizinmänner
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In Afrikas religiöser und weltanschaulicher Sicht bedeutet das Grab die letzte Besiegelung des menschlichen Schicksals, wenn auch der Mensch im Jenseits weiterlebt. In einem beschleunigten Rhythmus geht die Entwicklung v o m Tode über das Stadium persönlicher Unsterblichkeit der Totenseelen zum Stadium kollektiver Unsterblichkeit, die für die gewöhnlichen Geister gilt. Dieser letzte Takt des Rhythmus mag ein Ende haben oder nicht. Es gibt jedoch nichts, auf daß man hoffen könnte, da jedem dasselbe Schicksal beschert ist. Trotzdem scheinen ältere Leute keine Angst vor der „Abreise" in das Jenseits zu haben und sehnen sich vielleicht sogar danach. Weder für den einzelnen noch für die ganze Menschheit gibt es eine Auferstehung. Für einen solchen Begriff ist auch gar kein Platz in einer Welt, in welcher der Vorgang des Sterbens den einzelnen unwiderstehlich v o m Sasa ins Samani befördert, von der Zeitstufe intensiven persönlichen Erlebens zur Zeitstufe des Entschwindens, auf der alles Menschentum restlos ausgelöscht wird. Die Verstorbenen wachsen Gott nicht spirituell entgegen, noch werden sie ihm ähnlich, wenn auch einige als Mittler zwischen Gott und den Menschen dienen und über mehr Macht und Wissen verfügen als diese. Hierin erschöpft sich die anthropozentrische Schau v o m Schicksal des Menschen. Nach traditioneller afrikanischer Auffassung ist T o d gleich T o d ; gleichzeitig ist er der Beginn einer unwiderruflichen ontologischen Abreise des einzelnen v o m Menschentum zum Geistertum. Jenseits dieses Punktes schweigen sich afrikanische Religion und Weltanschauung vollständig aus, oder sie bleiben äußerst vage. Nichts kann diesem Prozeß Einhalt bieten, nichts kann ihn rückgängig machen, und der T o d ist das Ende des wirklichen und vollständigen Menschen.
SPEZIALISTEN: M E D I Z I N M Ä N N E R , R E G E N M A C H E R , KÖNIGE UND PRIESTER Dies ist eins der Gebiete, auf denen das Problem der Terminologie äußerst schwierig ist, ob wir nun die hier erörterten Personen einzeln oder als Gruppe beschreiben. Ich werde diese Menschen Spezialisten nennen im Hinblick auf ihre spezielle Aufgabe, Kenntnis und Erfahrung in religiösen Dingen. Es werden jedoch auch andere Ausdrücke verwendet werden wie „Träger der Religion", „heilige Männer", „religiöse Amtsträger" oder „rituale Führer". Wie wir sehen werden, gibt es 14
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Spezialisten: Medizinmänner, Regenmacher, Könige und Priester
verschiedene Ausdrücke für jeden der Spezialisten. Einige dieser Ausdrücke überschneiden sich, wie ja auch die Wesensart und die dem einzelnen zugeteile Rolle einiger Spezialisten sich überschneiden. Das schriftliche Material über dieses Gebiet ist von recht unterschiedlicher Qualität; neben guten und sorgfältig durchgeführten Untersuchungen gibt es unzuverlässige und völlig wertlose Arbeiten. Es muß auch besonders darauf hingewisen werden, daß Spezialisten, da sie nun. einmal einer speziellen Kategorie von Menschen angehören, ihre eigene Sprache, Symbolik, Fertigkeit, praktische Methode, ihr eigenes tiefgehendes Spezialwissen und ihre ureigene, dem heiligen Amt angemessene Persönlichkeit haben, die dem Durchschnittsmenschen verborgen bleiben, ob er nun ein Dorfgenosse oder ein wissensdurstiger Gelehrter ist. Infolgedessen liegt noch sehr viel unerschlossener Wissensstoff vor, der gesammelt und veröffentlicht werden könnte. Die Spezialisten spielen im Leben der afrikanischen Dörfer und Gemeinden eine wichtige Rolle, aber wir werden unsere Erörterung auf ihre religiöse Bedeutung beschränken. a)
Medizinmänner
Für die afrikanischen Völker sind die Medizinmänner ein wahres Geschenk und eine nützliche Hilfe. Andere Namen, mit denen der Medizinmann bezeichnet wird, sind: Kräuterdoktor, traditioneller Arzt oder waganga, wie er auf Kisuaheli heißt. Obwohl Meister der Heilkunst, haben die Medizinmänner am meisten unter den Verleumdungen in Wort und Schrift von Seiten europäischer und amerikanischer Schriftsteller und anderer Leute zu leiden gehabt. Man nennt sie „witchdoctors", sie so in den Bannkreis der Hexerei rückend, ein Schimpfwort, das man lieber begraben und vergessen sollte. Jedes Dorf in Afrika hat einen Medizimann in greifbarer Nähe. Er ist der Freund der Gemeinde, der allen jederzeit zur Verfügung steht und vielmals im Leben des einzelnen und der Gemeinde eine wichtige Rolle spielt. Es gibt keine feste Regel für die „Berufung" eines Menschen zum Amte des Medizinmanns. Sie kann erfolgen, wenn er noch jung und unverheiratet ist, aber auch in seinen mittleren oder späteren Lebensjahren. In anderen Fällen vererbt ein Medizinmann sein Amt seinem Sohne oder einem anderen jüngeren Verwandten. Es gibt Medizinmänner, die des Glaubens sind, daß Geister oder Totenseelen sie in Träumen, Visionen oder in wachen Stunden berufen hätten. Der Beruf des Medizinmanns wird von Männern wie von Frauen ausgeübt. Sie
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bringen unterschiedliche persönliche Eigenschaften mit, doch erwartet man gewöhnlich von einem Medizinmann, daß er zuverlässig, von aufrechter Gesinnung, freundlich, hilfsbereit und in der Lage ist, die Nöte der Menschen zu erkennen. Auch darf er keine maßlosen Honorarforderungen stellen. Im allgemeinen sind die Medizinmänner einflußreich, obwohl sie bei einigen Völkern abgesehen von ihren beruflichen Pflichten keine offizielle Stellung bekleiden. Das berufliche Können und der Erfolg der Medizinmänner sind natürlich von Fall zu Fall verschieden. Bei einigen Völkern schreibt man den Medizinmännern besondere Gaben oder Kräfte zu, die sie entweder von Geburt an besitzen oder durch das Verzehren einer bestimmten „Medizin" erworben haben sollen. Die Medizinmänner müssen in jedem Falle eine mehr oder weniger fachgerechte Ausbildung durchmachen. Bei den Zande z. B. ist ihr Ausbildung langwierig und kostspielig, und die Vorausbildung setzt in manchen Fallen bereits mit fünf Jahren ein. Wenn ein junger Mensch den Wunsch ausdrückt, Medizinmann zu werden, wird er von seinem zukünftigen Lehrmeister, der die Ernsthaftigkeit seiner Absichten feststellen will, auf Herz und Nieren geprüft. Dann, gibt man ihm Medizin zu essen, der die Kraft innewohnen soll, „seine Seele zu stärken und ihm die Prophetengabe zu verleihen. Er wird durch ein öffentliches Begräbnis in die Zunft eingeführt, man gibt ihm den Schleim der Hexerei zu trinken und führt ihn an die Quelle eines Baches, wo man ihm die verschiedenen Kräuter, Sträucher und Bäume zeigt, aus denen Medizin gewonnen wird". Das ist also das Zulassungsverfahren für Medizinmänner bei den Zande, in Wirklichkeit ein langwieriger und komplizierter Vorgang. Jeder Lehrmeister hat für seine Schüler eigene Vorschriften, z. B. sich des Genusses von Elefanten- oder Rattenfleisch und verschiedener Pflanzen sowie des Geschlechtsverkehrs oder des Badens mehrere Tage lang zu enthalten, nachdem sie gewisse Medizinen von ihrem Lehrer eingenommen haben. Auch die Kosten der Ausbildung sind unterschiedlich, und die Bezahlung erfolgt von Zeit zu Zeit, während der Kandidat fortfährt, Kenntnisse zu erwerben, die gelegentlich darin bestehen, daß er in einem oder zwei Monaten die Eigenschaften einer bestimmten Medizin erlernt.1 1
E. E. Evans-Pritchard: Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande (1937), S. 202—50 gibt eine vollständige und eingehende Darstellung der Ausbildung der Medizinmänner. Es ist vielleicht die beste Einzeluntersuchung über Medizinmänner in Afrika.
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Das Beispiel der Zande läßt sich unter keinen Umständen auf alle afrikanischen Völker anwenden. Bei vielen ist die Ausbildung weniger strikt organisiert. In jedem Falle gehört jedoch zur Ausbildung eine Art Lehrzeit. Die Anwärter erwerben Kenntnisse auf den folgenden Gebieten: die medizinische Verwertbarkeit, die medizinischen Eigenschaften und Verwendungsarten verschiedener Kräuter, Blätter, Wurzeln, Früchte, Rinden und Gräser sowie verschiedener Gegenstände wie Mineralien, tote Insekten, Knochen, Federn, Pulver, Rauch aus verschiedenen Stoffen, Tier- und Insektenlosung, Schalen, Eier usw.; die Ursache, Heilung und Verhütung von Krankheiten und anderen Formen menschlichen Leidens (z. B. Unfruchtbarkeit, Mißerfolg bei Unternehmungen, Unglück, Mißernten); Magie, Zauberei und Hexerei, ihre Bekämpfung und ihr Gebrauch; das Wesen der Geister und Totenseelen und der Umgang mit ihnen sowie verschiedene andere Geheimnisse, deren einige Außenstehenden auf keinen Fall preisgegeben werden dürfen. Wenn die Ausbildungszeit vorüber ist, wird der Anwärter bei einigen Völkern formell vor der Öffentlichkeit in den Berufsstand der Medizinmänner eingeweiht, so daß jeder ihn und seine Qualifikationen erkennen kann. Bei manchen Völkern, wie bei den Zande, bilden die Medizinmänner Vereinigungen oder Zünfte. Die Pflichten der Medizinmänner sind mannigfaltig und überschneiden sich mit denen anderer Spezialisten. Wir möchten diesen Punkt mit zwei Beispielen illustrieren. Bei den Ndebele liefert der Medizinmann mit Medizin präparierte Pflöcke für die Tore einer neuen Heimstätte. Er bekämpft Hexerei und Magie, indem er ihre Wirkung vereitelt und sie manchmal auf das Haupt ihrer Urheber zurücksendet. Nach dem Begräbnis vollzieht der Medizinmann die Zeremonie des „das Grab Schlagens", falls die betreffende Person durch Hexerei ungekommen ist. Die Zeremonie findet bei Sonnenuntergang statt. Sohn und Bruder des Toten besuchen das Grab zusammen mit dem Medizinmann. Dieser trägt einen mit Medizin präparierten Stab, mit dem er auf das Grab schlägt und dabei die Worte spricht: „Soundso, erwache! Geh' hin und kämpfe!" Man glaubt, daß der Geist des Toten nun aufwacht und in Gestalt eines kleinen Tieres zum Hause der Hexe hingeht, die ihn getötet hat. Das Tier hält sich dort auf, bis einer der Familienangehörigen der Hexe es erblickt und tötet. Daraufhin sterben ihre Angehörigen einer nach dem anderen. Wenn die Familie der Hexe ihre Schuld eingesteht, zahlt sie Vieh an die Familie des Toten, und der Rachefluch wird von ihr genommen bzw. es wird ein mächtiger Me-
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dizinmann herbeigerufen, um ihn aufzuheben oder ihm Einhalt zu gebieten. Bei den Zande heilt der Medizinmann die Kranken und warnt vor drohender Gefahr. Er ist es, der Mißerfolg bei der Jagd und bei der Feldbestellung behebt. „Er kann Böses tun oder beschützen, töten oder heilen". Er greift Hexerei und Magie mit seiner Medizin an und hält immer einen genügenden Vorrat davon für diesen und andere Zwecke bereit. Man sagt, daß Edle sich der Dienste von Medizinmännern versichern, „weil ihre Magie gute Magie ist. Sie fügt niemandem Unheil zu und schützt viele vor Schaden". Alle Leute stimmen darin überein, daß „der Medizinmann harmlos ist, und jeder preist seine Medizin", wenn auch vielleicht die Medizinmänner untereinander kämpfen, was sie übrigens können, ohne anderen Leuten zu schaden. Sie werden ständig vor Gericht oder in Privathäuser gerufen. Außerdem üben sie den Wahrsagerberuf aus. Sie zeigen ihre Künste bei Seancen, die anberaumt werden, um Hexen zu überwachen, ihre Pläne bloßzustellen und ihnen das Handwerk zu legen. In allen entscheidenden Situationen können die Zande den Medizinmann herbeirufen „mit dem allgemeinen Auftrag, Hexenwerk in der Nachbarschaft aufzuspüren und Leute davor zu beschützen". Auch Stammesfürsten zählen zu den Klienten und Protektoren der Medizinmänner, insbesondere um sich Schutz vor Hexerei und politischer Verschwörung zu verschaffen. Jeder Medizinmann ist „ein berufsmäßiger Denunziant der Hexerei". 2 Von Evans-Pritchards Arbeit über die Zande und ähnlichen Darstellungen ausgehend, können wir die Aufgaben eines Medizinmannes nun zusammenfassen. In erster Linie befaßt er sich mit Krankheiten und Unglück. Diese werden bei afrikanischen Völkern allgemein auf das Übelwollen oder Übeltun von Nebenmenschen, die sich dabei der Hexerei und Magie bedienen, zurückgeführt. Der Medizinmann muß daher die Krankheitsursache feststellen, den Schuldigen entdecken, die Art der Krankheit diagnostizieren, die richtige Behandlung anwenden und eine Wiederkehr des Unheils verhüten. Seine Behandlungsmethode ist also teils physiologischer, teils „spiritueller" oder psychologischer Art, wodurch dem Leidenden das sichere Gefühl gegeben wird, daß alles sich zum Guten wendet. Der Medizinmann ist für den Kranken praktisch Arzt und Seelsorger zugleich. Seine Medikamente werden aus 2
Hughes und van Velsen, S. 108.
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Pflanzen, Kräutern, Pulver, Samen, Wurzeln, Säften und anderen Flüssigkeiten, Holzkohle und dergleichen hergestellt, und zu seinen Behandlungsmitteln gehören Aderlaß, Massagen, Nadeln oder Dornen. Manchmal springt er über den Patienten, murmelt Beschwörungen oder imponiert ihm mit seiner Bauchredekunst. Vielleicht verlangt er von ihm, ein Huhn oder eine Ziege zu opfern, gewisse Tabus einzuhalten oder gewisse Speisen und Personen zu meiden. All diese Dinge geschehen unbeschadet der Tatsache, daß er ihm bereits Medikamente verabreicht hat. In afrikanischen Dörfern sind Krankheiten und Unglückfälle religiöse Vorgänge, denen man nur mit religiösen Mitteln beikommen kann. Die Medizinmänner sind sich dessen bewußt und versuchen, dieses Bedürfiiis auf religiöse oder religiös scheinende Art zu stillen. Natürlich haben einige der bei der Behandlung von Krankheiten vollzogenen Handlungen keinen Wert an sich. Sie sind aber psychologisch wirksam und spielen zweifellos eine große Rolle bei der Gesundung der Kranken und der Hilfeleistung für die Leidenden. In diesem Fall gibt weniger das angewandte Mittel als vielmehr der Zweck den Ausschlag. So fassen jedenfalls der Medizinmann und sein Patient die Situation auf, die sie zusammengeführt hat. In großen und ganzen widmet der Medizinmann dem Patienten viel Zeit und persönliche Aufmerksamkeit, wodurch er einen tiefen Einblick in das Innenleben des Patienten erhält. Auch wenn man einem Patienten erklärt, daß er an Malaria leide, weil eine Anophelesmücke ihn gestochen habe, will er immer noch wissen, warum die Mücke gerade ihn, und nicht jemand anders gestochen hat. Die einzige Antwort auf diese Frage, die die Leute zufriedenstellt, ist, daß jemand die Mücke durch magische Beeinflussung ausgesandt oder veranlaßt habe, ihn zu stechen. In der Sicht der afrikanischen Völker werden Leiden, Unglück und Krankheit alle magisch „verursacht". Zur Bekämpfung des Unglücks oder der Krankheit muß auch ihre Ursache ausfindig gemacht und bekämpf, ausgerottet oder bestraft werden. Hieraus erklärt sich der Wert, den man der Arbeit des traditionellen Medizinmannes beimißt. Solange die Menschen Krankheit und Unheil als religiöse Vorgänge betrachten, wird auch der traditionelle Medizinmann weiterwirken und gedeihen. Moderne Krankenhäuser mögen die physiologische Seite der Krankheiten mit Erfolg behandeln; darüber hinaus gibt es aber auch eine religiöse Dimension des Leidens, für die sie sich nicht zuständig fühlen. Aus diesem Grunde werden viele Patienten sich gleichzeitig an die Krankenhäuser und an die Medizinmänner wenden, ohne einen Wider-
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Spruch darin zu sehen, obwohl sie, sofern sie Christen sind, die Hilfe des Medizinmanns nur heimlich in Anspruch nehmen. Eine weitere wichtige Obliegenheit der Medizinmänner ist es, Verhütungsmaßnahmen zu ergreifen. Wir haben bereits daraufhingewiesen, daß alle Menschen, die Krankheit und Leiden erfahren, darin dunkle Kräfte am Werk sehen, die von ihren Feinden und Neidern gegen sie entfesselt worden sind. Dazu gehören Magie, Hexerei, Zauberei, der Böse Blick oder üble Worte. Der Medizinmann muß deshalb den Leuten Gegenmittel liefern. Diese bietet er gewöhnlich in Form von Amuletten, Riten, die in den Häusern oder auf den Feldern der Hilfesuchenden vollzogen werden, oder Medizin, die entweder eingenommen oder in den Körper eingerieben wird. Die Medizinmänner leisten auch Hilfe zur Erhöhung der Leistungskraft oder zur Erlangung von Erfolg im Leben. Sie stehen dem Manne, der mehr Liebe von seiner Frau gewinnen will, mit Rat und Tat zur Seite, sie helfen impotenten Männern, behandeln Leute, die ihr Geschäft zum Blühen bringen wollen, sie liefern Studenten und Schülern verschiedene Hilfsmittel, damit sie ihre Examina bestehen können und vollziehen bestimmte Riten, um die Fruchtbarkeit und Ergiebigkeit der Felder oder des Viehs zu mehren. Unfruchtbare Frauen (oder ihre Männer und Verwandten) suchen ständig bei ihnen Rat, um endlich Kinder hervorbringen zu können. Es ist auch Pflicht der Medizinmänner, Hexen das Handwerk zu legen, Zauberei zu entdecken, Flüche hinwegzunehmen sowie die Geister und Totenseelen unter Kontrolle zu halten. Sie haben Zugang zu den Kräften der Natur und zu anderem Wissen, das der Öffentlichkeit kaum bekannt oder gänzlich unbekannt ist. Daher vertraut die Öffentlichkeit ihnen auch die Aufgabe an, alles, was der Gemeinschaft schaden kann, hinwegzuschaffen. Auf diesem Gebiet spielen die Glaubensvorstellungen der Menschen eine entscheidende Rolle, ob es sich nun um objektive Wirklichkeit handelt oder nicht. Die Medizinmänner symbolisieren also die Hoffnung der Gesellschaft auf Gesundheit, Schutz und Sicherheit vor bösen Mächten, Glück und Wohlergehen. Sie sind auch verantwortlich für die rituelle Reinigung, wenn jemandem Böses zugestoßen oder wenn er unrein geworden ist. Diese Männer und Frauen sind keine Dummköpfe. Sie sind im Durchschnitt intelligent und verrichten ihr Werk mit großer Hingabe. Andernfalls kommen sie einfach nicht vorwärts, und ihr
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Unternehmen floriert nicht. Wie in jedem anderen Land und in jedem anderen Beruf, so gibt es auch hier Leute, die ihre Mitmenschen aus Gewinnsucht und durch zweifelhafte Reklame bewußt betrügen. Darüber hinaus findet man auch echte Medizinmänner, die sich bei der Ausübung ihres Berufes schädlicher Praktiken bedienen. Mögen in der Tätigkeit der Medizinmänner auch gewisse Mißbräuche offenbar werden, so wäre es doch äußerst ungerecht, ihren Berufsstand als solchen zu verurteilen. Die Medizinmänner sind die Freunde, Seelsorger, Psychiater und Ärzte der traditionsgebundenen afrikanischen Dörfer und Gemeinschaften. Sogar in modernen Städten findet man noch Medizinmänner, die beruflich und wirtschaftlich florieren. Die seelische und körperliche Belastung des städtischen Lebens hat neue Bedürfnisse geschaffen, und diese Männer leisten zweifellos einen Beitrag zur Lösung der neuen Probleme mittels traditioneller Methoden. Man hat jedoch den Eindruck, daß die Medizinmänner in der Stadt weniger zuverlässig sind als die auf dem Lande. Dies erklärt sich zum einen Teil aus dem unpersönlicheren Leben der städtischen Gesellschaft, zum anderen aus der Geldwirtschaft, die zu schneller Bereicherung durch redliche oder unredliche Mittel geradezu anreizt. Der Medizinmann ist einer der Spezialisten, deren Beruf in Afrika wahrscheinlich über mehrere Generationen hinaus noch in seinem Fortbestand garantiert ist, insbesondere weil die Veränderungen der modernen Zeit zu einer Steigerung menschlicher Nöte und Bedürfnisse führen und er die Ausübung seines Berufes nach und nach in die Bevölkerungszentren verlegt, wo diese Bedürfnisse in ihrer konzentriertesten Form auftreten. Man weiß von führenden Politikern in einer Anzahl afrikanischer Länder, daß sie Medizinmänner konsultieren, und dasselbe gilt für Universitätsstudenten. Dadurch kann das Ansehen der Medizinmänner nur steigen und der Fortbestand ihres Berufes gesichert werden. Es ist bekannt, daß Universitätsabsolventen selber Medizinmänner oder Mitarbeiter von Medizinmännern geworden sind, und ich habe gehört, daß in mindestens zwei Ländern Medizinmänner Hand in Hand mit Ärzten in Krankenhäusern oder in ihrer Praxis arbeiten. Zweifellos wird eine sorgfältige Erforschung der traditionellen Medizin und ihrer Heilmethoden eines Tages der Menschheit von großem Nutzen sein. Mein eigene, nicht sehr ausgedehnte Feldforschung unter dem Medizinmännern hat mir bestätigt, daß ihnen menschlich und beruflich Achtung gebührt. Nur wenn man im Geiste der Demut an sie herantritt, kann man als Gelehrter oder Wissen-
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schaftler Zugang zu ihrem Spezialwissen erlangen, wobei zu bedenken ist, daß einige der Spezialkenntnisse nur von Eingeweihten und wahrscheinlich unter einem Geheimhaltungseid erworben werden können. b) Geistermedien und Wahrsager
Diese Spezialisten gehören sowohl ihrer Ausbildung wie ihren Obliegenheiten nach zur Kategorie der Medizinmänner. Sie befassen sich jedoch in ihrem Beruf auch mit den Totenseelen und Geistern, was Medizinmänner im allgemeinen nicht tun. Dies ist jedoch eine rein theoretische Unterscheidung, und oft spielt derselbe Spezialist sowohl die Rolle des Medizinmannes wie die des Wahrsagers. In den afrikanischen Sprachen werden für beide oft dieselben Namen verwendet. Die Hauptaufgabe der Geistermedien ist es, die Menschen mit den Totenseelen und den Geistern in Verbindung zu setzen. Durch sie empfängt man Botschaften aus der jenseitigen Welt, oder man erhält Kenntnis von Dingen, die sonst schwer oder unmöglich zu erfahren wären. Man kann z. B. durch ein Medium, das mit der Geisterwelt in Verbindung tritt, einen verlorenen Gegenstand wiederfinden oder herausbekommen, wer einen bestohlen hat. Medien können diese Funktion nur ausüben, wenn sie von einem Geist „besessen" sind. Ansonsten sind sie „normale" Menschen ohne besondere Fähigkeiten. Was sie auszeichnet, ist die Fähigkeit, besessen zu werden oder mit der Geisterwelt in Verbindung zu treten, obwohl der Erfolg eines solchen Versuchs auch von der Bereitschaft des Verstorbenen oder anderer Geister abhängt, in sie zu fahren und sich durch sie mitzuteilen. Ich wurde kürzlich etwa zwanzig Kilometer von Kampala Zeuge eines Falles von Geisterbesessenheit, den ich auf Tonband aufnahm. Das Medium war ein in ein Rindentuch gekleideter junger Mann. Er steckte sich einen Ring aus einer Kletterpflanze an und hielt eine andere, etwa einen halben Meter lange Pflanze in den Händen. Dann setzte er sich im Zimmer des Wahrsagers nieder, wo etwa fünfundzwanzig bis dreißig Leute versammelt waren. Einer der Männer stimmte ein sehr stark rhythmisiertes Lied an, und die übrige Menge fiel singend, händeklatschend und mit kleinen Kürbisflaschen rasselnd mit ein. Der zum Medium Bestimmte saß ruhig auf dem Fußboden, ohne auch nur den Kopf zu wenden. Das Singen und Rasseln dauerte etwa dreizehn Minuten, und dann fingen plötzlich die Hände des jungen Mannes zu zittern an. Drei oder vier Minuten später begann er, mit völlig ver-
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änderter Stimme zu reden. Das Singen hörte auf, und der Wahrsager konnte etwa fünfzehn Minuten lang mit dem Medium sprechen, doch verlangte das Medium — oder der Geist in ihm — mitten im Gespräch, man sollte ein neues Lied anstimmen. A m Ende sprang das Medium herum wie ein Frosch, schlug mit dem Kopf schwer auf den Boden auf und klopfte sich mit der Faust sehr heftig zwei- oder dreimal an die Brust. Dann war er wieder „normal". Als ich ihn nachher ausfragte, versicherte er uns, daß er sich dessen, was er während der Zeit als M e dium gesagt oder getan habe, nicht bewußt sei. Meine Kollegen und ich hatten den Eindruck, daß er völlig bei Verstand war und uns über seine Gefühle und Handlungen während des Trancezustandes die Wahrheit sagte. Der Geist, der in diesen jungen Mann, welcher übrigens der Lehrling eines Wahrsagers war, eindrang, wird nach Aussagen des von uns besuchten Wahrsagers seit 1958 in seinem Haus aufbewahrt und wohnt in einem BüfFelhorn (yemhe auf Luganda). Hier haben wir also das Beispiel eines Geistermediums, das mit einem Wahrsager öder Medizinmann zusammenarbeitet. Das Medium gibt Auskunft über die Ursache, Art und Behandlung von Krankheiten oder sonstigem Unheil sowie über Diebstähle und verlorene Gegenstände. Sodann obliegt es dem Wahrsager, die v o m Medium erhaltenen A n weisungen zu befolgen oder auszulegen. In einigen Fällen können auch Wahrsager oder Medizinmänner „besessen" und zeitweilig zu Medien werden. Im medialen Zustande verliert die Person ihr Eigenwesen und ihre Sinne und wird ganz einfach zum Werkzeug des in ihr wirkenden Geistes. Sie kann dann dazu gebracht werden, den Wünschen des Geistes entsprechend zu handeln und zu reden, anscheinend ohne sich irgendwie zu verletzen. Ich habe Augenzeugenberichte über Fälle gehört, in denen das Medium mit der Zunge ein rotglühendes Messer oder Eisen beleckte, bis es abkühlte, ohne sich Hand oder Zunge zu verbrennen. Das von mir oben beschriebene Medium schien v o m Aufschlagen des Kopfes auf den Boden oder von den eigenen Faustschlägen auf die Brust keine wahrnehmbare Verletzung davonzutragen. Der junge Mann atmete jedoch sehr schwer und seine Armmuskeln waren während seines medialen Zustandes äußerst angespannt. Die Geister, welche Medien aufsuchen, sind ungefährlich. Sie sind freundlich, gelten als willkommenene Gäste und bleiben im übrigen nur kurze Zeit in den Medien. Die meisten Medien sind Frauen. Es gibt noch eine andere Art von Medien, die Priestern, Tempeln und Kultschreinen angeschlossen sind. Solche Medien kommen bei den
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Aschanti, Ganda, Ewe, Fon, Joruba und einer Anzahl anderer Völker, vorwiegend in Westafrika, vor. Es wird z. B. berichtet, daß „viele Priester in Dahome niemals selber von Geistern besessen werden, daß jedoch ihren Tempeln Geistermedien angeschlossen sind, die sich nach Beheben in Trance versetzen können. Die Besessenheit . . . tritt in der Regel zum ersten Mal ein, wenn die betreffende Person eine öffentliche religiöse Zeremonie besucht. Angeregt vom Rhythmus des Tanzes und dem Beispiel einiger erleuchteter Kultanhänger, fällt der Neuling in einem Anfall zu Boden oder springt in den Ring und tanzt in ausgefallensterWeise. Die die Zeremonie leitenden Priester legen dies als Zeichen göttlicher Berufung aus und fordern den so Erleuchteten ernstlich auf, sich für den Dienst an einem Gotte ausbilden zu lassen". Die Ausbildung kann zwei oder mehr Jahre dauern. Während dieser Zeit muß der Kandidat ein strenges Keuschheitsgebot einhalten. Zum Schluß wird ein Opfer dargebracht, und der Kandidat spricht zu seiner Gottheit: „Heute hast du deine Ehe mit mir geschlossen". Danach darf das Medium heiraten oder — falls es bereits verheiratet ist — seine Stellung und Pflichten als Ehepartner wiederaufnehmen.3 Bei den Ga werden die Medien von Priestern ausgebildet, einige auch von Priestern oder Dorfältesten ernannt. Wenn sie bereits verheiratet sind, müssen sie ihre Familie verlassen; wenn ihre Ausbildung aber vorüber ist, dürfen männliche Medien oder Medizinmänner sich wieder verheiraten. Für viele dauert die Ausbildung zwei bis drei Jahre, und es wird strikteste Disziplin gewahrt. Wenn eine Person, die die Berufung zum Medium erhalten hat, ihr nicht Folge leistet, sagt man: „Der Geist — oder die Gottheit — wird ihn so sehr quälen, daß er den Verstand verliert". Während der Ausbildungszeit schläft der Kandidat auf dem harten Fußboden und darf sich auch in kühlen Nächten nicht genügend zudecken; er hackt Brennholz, holt Wasser und enthält sich völlig des Geschlechtsverkehrs. Zur Ausbildung gehört auch das Tanzen im Zustande der Geisterbesessenheit. Dazu höre man die folgende Schilderung: „Verschiedene Leute treten jeweils zu zweit oder zu dritt in den Kreis, tanzen und verschwinden dann wieder in der Menge. Die Medien können sich ihnen anschließen und wie gewöhnliche Menschen tanzen, halten es aber oft für unter ihrer Würde und bleiben ruhig sitzen. Plötzlich nimmt ein weibliches Medium einen besorgten und bedrückten Ausdruck an und beginnt zu zittern und sich auf seinem 3
E. G. Parrinder: West African Religion
(verbesserte Auflage 1961), S. 78f.
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Schemel hin- und herzuwiegen, wobei es schrecklich mit den Augen rollt und vielleicht auch sich wild gebärdet und in die Luft schlägt". Die Diener „stellen die Frau sodann auf die Füße und manövrieren sie in den Hintergrund, w o sie sie ausziehen, bemalen und mit ihrem Gras- oder farbigen Baumwollrock, ihren Perlen, Fußspangen, Glöckchen und Amuletten schmücken. Dann führen sie sie wieder vor". Sie tänzelt unter milden Verrenkungen dahin und bleibt dabei „stundenlang in ständiger Bewegung auf den Beinen. Sie vollbringt oft Wunder an Ausdauer, die im gewöhnlichen Leben unmöglich wären". Während der Geisterbesessenheit kann sie eine oder mehrere Persönlichkeiten verkörpern. Dies hängt davon ab, wie viele Gottheiten oder Geister gleichzeitig bei ihr eingekehrt sind. Dann bringt sie in ihrem Gebaren die Eigenart der Gottheit oder des Geistes zum Ausdruck, die von ihr Besitz ergriffen haben, indem sie z. B . als Krieger, als schwangere Frau oder als Lahmer auftritt. Manchmal „dringen auch Tiergeister in Medien ein und veranlassen sie zu bellen, die Zähne zu fletschen oder auf allen Vieren zu kriechen". Wenn der Anfall zu Ende geht, ruft der Geist aus ihr, daß es Zeit zur Abreise sei, und sie bricht in den Armen der Diener zusammen: „Sie sieht aus, als sei sie gerade vom Schlaf erwacht, und in der Tat sagen weibliche Medien immer, sie erinnerten sich überhaupt nicht an die beim Tanz von ihnen gespielte Rolle". Bei einer alten Frau nimmt das Gesicht wieder einen greisinnenhaften Ausdruck an, „während sie beim Tanzen ganz jung aussah". Hervorragende Geistermedien halten jährlich Feste ab, um ihrer Gottheit oder ihrem Geist zu danken, und diese Feste werden auch von Leuten besucht, denen die Medien geholfen haben.4 Von den Fon und einigen Jorubagruppen liegen Berichte über „Klöster" vor, in denen Medien ausgebildet werden. Die Ausbildungszeit beträgt neun Monate für einen Jungen und drei Jahre für ein Mädchen. „ Z u Anfang wird der Novize vom Gott besessen, aber wenn er aus der Abgeschlossenheit des Klosters wieder auftaucht, ist er nicht einfach ein verändertes Wesen, sondern eine neue und andersartige Persönlichkeit. Er erkennt seine eigenen Eltern oder früheren Gefährten nicht mehr, spricht eine andere Sprache, als sei er ein Fremder aus einem fernen Land, und trägt einen neuen Namen. Fortan ist es strengstens verboten, ihn bei seinem alten Namen zu rufen, und er wird seine alte 4
J . M . Field: Religion S. 100—109.
and Medicine
of the Ga People (1937, Neudruck 1961),
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Sprache langsam wiedererlernen, wenn er aus dem Kloster hervorgeht und wieder bei seiner Familie lebt. „Die Anlernlinge sind gewöhnlich zehn bis sechzehn Jahre alt, obgleich sich bisweilen auch Verheiratete unter ihnen befinden. Die Auswahl der Anlernlinge kann zwanglos bei den Tänzen anläßlich der alljährlichen Zeremonien zur Nachwuchsbeschaffung erfolgen, oder ein Jüngling wird auf Geheiß des Oberpriesters von seiner Familie zur Verfügung gestellt. Es kann aber auch sein, daß die Eltern aus Dankbarkeit ein Kind der Gottheit weihen, weil ihre Gebete erhört worden sind. Wenn der Novize nicht bereit ist, sich der Ausbildung zu unterziehen, wird er bei Nacht und Nebel ins Kloster geschafft. Der Priester stellt dem Anwärter auf das Noviziat die folgende Frage: „Der Gott hat mir gesagt, er wolle dich heute berufen. Bist du damit einverstanden?" Die Antwort darauf muß Ja! lauten. A m folgenden Tag findet ein Einweihungstanz statt, und an den sieben anschließenden Tagen werden weitere Zeremonien vollzogen. Zum Schluß wird der Novize zum Gefangenen der Gottheit. Er zieht sich nun in eine völlige Klausur zurück, bis sein Werdegang vollendet ist. Während dieser Zeit muß seine Familie ihn im Kloster weiterhin mit dem Lebensnotwendigen versorgen, darf ihn jedoch nicht sehen. Die klösterliche Ausbildung begreift eine Reihe von Dingen in sich. Die Novizen üben „die Nachahmung des Todes und der Auferstehung", nehmen an Opferhandlungen teil, müssen sich von Zeit zu Zeit ihr ganzes Haar abrasieren lassen, das am Schluß gesammelt und verbrannt wird, trinken aus irdenen Töpfen, essen nach Geschlechtern getrennt mit der linken Hand, die der Gottheit gehört, gemeinsam aus einer Schüssel, enthalten sich streng aller geschlechtlichen Beziehungen und werden hart bestraft, wenn sie sich eines gröberen Verstoßes schuldig machen. Da das Hauptziel der Ausbildung darin besteht, neue Persönlichkeiten zu schaffen, lernen die Kandidaten eine neue Sprache, welche sie später bei der Ausübung ihrer Pflichten als Medien und zur Begrüßung anderer Medien verwenden. Sie erhalten jeder einen neuen Namen, unter dem sie fortan bekannt sind. Sie tragen das gleiche Gewand und leben im Kloster, das aus etwa einem Dutzend Häusern besteht, von denen eins der Tempel der Gottheit ist. Die Novizen versammeln sich an dem Tage, der der Gottheit heilig ist, zu „gemeinsamen Andachtsübungen". Sie lernen auch die für Medien geltenden Regeln in Bezug auf Essen, Trinken und Kleidung, die Lieder, Gebete und Segenssprüche ihres Kultes sowie die Tänze und geistigen Übungen, die
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Spezialisten: Medizinmänner, Regenmacher, Könige und Priester
notwendig sind, um den Zustand der Besessenheit (oder den medialen Zustand) hervorzurufen. Sie verrichten tägliche Haushaltspflichten wie Ausfegen und Putzen und. lernen handwerkliche Fertigkeiten wie Weben, die später zur wertvollen Einnahmequelle für sie werden. Im Frühstadium der Ausbildungszeit werden ihnen rituale Tätowierungen auf Hals, Wangen und Schultern eingeritzt, deren Größe und Form sich nach den verschiedenen Gottheiten richtet. Zumindest die Gesichtstätowierungen wachsen sich zu dauernden Narben aus. Nach sieben Monaten dürfen die Kandidaten gelegentlich das Kloster kurz bei Nacht verlassen. Es ist ihnen aber untersagt, mit Fremden zu sprechen, die ihnen etwa unterwegs begegnen. Wenn die Ausbildungszeit zu Ende ist, erhalten sie vom Oberpriester letzte Anweisungen hinsichtlich ihrer Arbeit und letzte Verhaltensregeln, insbesondere „nicht zu töten, nicht zu stehlen, nicht zu betrügen, nicht stolz zu sein, Eltern und Gemeindeältesten zu gehorchen, verschwiegen zu sein" und nicht zu streiten, auch wenn sie dazu herausgefordert werden. „Eine große Feier wird abgehalten, um die Entlassung der Neugeweihten aus dem Kloster festlich zu begehen. Freunde und Verwandte kommen in hellen Scharen herbei, um diese Feier zu erleben, Geld und Kleidung zu stiften und den Segen zu erhalten. Es ist eine kostspielige Angelegenheit, deren Kosten von den Familien der Neugeweihten bestritten werden". Von nun an nehmen die erfolgreichen Kandidaten ihr normales Leben wieder auf und fangen an, ihren Beruf auszuüben. Wenn sie wollen, kehren sie zur weiteren Ausbildung ins Kloster zurück oder suchen es im Frühling zu Auffrischungskursen auf.5 Wir haben nun verschiedene Arten von Medien beschrieben. Welches ist ihre Bedeutung, und wie sollen wir ihre Rolle in der afrikanischen Gesellschaft verstehen? Die Geister und Gottheiten, die über ein Medium kommen, entstammen dem Zeitraum des Samani. Dadurch daß sie Menschen in der Sasaperiode aufsuchen, werden sie für uns zu Zeitgenossen. Der mediale Zustand dient dazu, die Vergangenheit in die Gegenwart zu rücken und die Persönlichkeit jener Wesen, die hinter dem Horizont der Sasaperiode beheimatet sind, in die menschliche Geschichte einzubringen. Dieses Phänomen ist jedoch zeitlich begrenzt, und sobald der Zustand der Besessenheit endet, rücken die beiden Zeiträume wieder auseinander. Das Erlebnis scheint Kräfte zu erzeugen, 5
Parrinder II, S. 81—94, gibt eine vollständige Schilderung, die in unseren zwei Abschnitten in gedrängter Form wiedergegeben ist.
Geistermedien und Wahrsager
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die jenseits des Menschlichen liegen und das Medium in den Stand setzen, körperliche und geistige Tätigkeiten auszuüben, die unter normalen Umständen äußert schwierig oder gefährlich wären. Diese Besessenheit ist im großen und ganzen nicht schädlich und ruft in der Gesellschaft keinen Unwillen hervor. Was das Medium anbetrifft, so kehrt es von einigen Ausnahmefällen abgesehen ins normale Leben zurück, sobald der Zustand der Besessenheit zu Ende ist. Während der Besessenheit verliert der einzelne zeitweilig die Kontrolle über seine Persönlichkeit und spiegelt anstattdessen den Einfluß oder die sich Bahn brechende Persönlichkeit von Geist oder Gottheit in sich wider. Man glaubt, aus der Geisterwelt nützliche Mitteilungen zu erhalten, wobei dahingestellt sei, ob diese nun echt sind oder nicht. Aus diesem Grunde arbeiten die Medien Hand in Hand mit Wahrsagern, Medizinmännern oder Priestern, denen es obliegt, die über die Medien eintreffenden Botschaften zu empfangen, zu übertragen oder auszulegen. Die Medien sind wie Rundfunkgeräte, die zwischen zwei Endpunkten fungieren: der Sendequelle — den Geistern oder Gottheiten — und den Empfänger der Sendung — Wahrsagern, Medizinmännern oder Priestern. Sie verlieren — oder tun manchmal, als verlören sie — ihre geistigen und körperlichen Sinne, so daß die Geisterwelt durch sie einen Einbruch in die menschliche Welt wagen kann, ohne dadurch irgenwelche Störungen, Angstreaktionen oder Abscheu hervorzurufen. Die Medien verrichten willig und hingabevoll die saure Arbeit des Brückenschlags zwischen den beiden Welten. Sie bereichern das religiöse Wahrnehmungsvermögen und die religiöse Betätigung ihrer Gemeinschaft und verleihen ihnen einen dramatischen Akzent. Die Menschen geben jedoch umgekehrt den Geistern oder Gottheiten durch die Medien nur spärliche Hinweise und Anordnungen, da ihnen die Rolle zufällt zu gehorchen, die Weisungen der Geisterwelt zu befolgen oder ihrer Segnungen zu harren. Mir Hegt keinerlei Material vor, das zu dem Schluß berechtigte, daß Gott bei diesen Vorgängen je in Erscheinung tritt. Besondere Beachtung verdient der Begriff von „Tod und Auferstehung", der insbesondere bei der Ausbildung und im Rahmen der Tätigkeiten von Medien, die gewissen Gottheiten dienen, lebendig ist. Die besten Beispiele hierfür finden sich bei den Fon und Joruba. Auch die Idee der Erneuerung spielt eine hervorragende Rolle, besonders in der Ausbildungszeit, wenn die Kandidaten zumindest ritual und symbolisch ihre frühere Persönlichkeit abstreifen und eine neue Persönlichkeit erwerben, die dem Dienst an der Gottheit und an der Gemein-
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Spezialisten: Medizinmänner, Regenmacher, Könige und Priester
schaft geweiht ist. Wir können hier gewisse Ähnlichkeiten mit den Kindheits-, Initiations- und Hochzeitsriten feststellen. Die Novizen werden von der Solidarität der gewöhnlichen Gesellschaft losgelöst, sie sind für sie so gut wie tot, wenn sie ins Kloster eintreten. Während ihrer Seklusion wachsen sie wie die Leibesfrucht im Mutterschoß, und es ist bedeutsam, wenn auch wahrscheinlich nicht bewußt durchdacht, daß die Ausbildung der Jünglinge neun Monate dauert, was der Schwangerschaftsperiode beim Menschen entspricht. Dann werden die Anlernlinge „wiedergeboren", sobald sie aus der Seklusion wieder hervorkommen. Sie erhalten neue Namen als Zeichen der Erneuerung und Wiedergeburt, des Neubeginns und der Wiederauferstehung. Sie sind dann befähigt, zu ihren Frauen zurückzukehren oder sich zu verheiraten und wieder ihr alltägliches Leben zu leben. Aber sie sind jetzt in die Geheimnisse ihrer Gottheiten oder Geister eingeweiht und tragen sowohl äußere als auch innere Zeichen der Hingabe an ihre Berufung als Medien. Fortan ist ihre Persönlichkeit zwischen zwei Welten geteilt: der Menschenwelt im gewöhnlichen Leben und der Geisterwelt im Zustande der Besessenheit. Wie schon ihr Name besagt, widmen sich die Wahrsager in erster Linie der Wahr- oder Weissagung. In der Regel geschieht dies jedoch im Rahmen weiterer zusätzlicher Funktionen, insbesondere solcher, die medizinischer oder sogar priesterlicher Art sind. Durch Wahrsager werden die Geheimnisse des Menschenlebens enthüllt. Sie benützen dabei Medien, Orakel, den Zustand der Besessenheit, die dinglichen Hilfsmittel der Wahrsagung, aber auch ihren gesunden Menschenverstand, intuitive Erkenntnisse und Einblicke, Hypnose und anderes Geheimwissen. Sie halten auch immer Augen und Ohren offen, so daß sie über alle Vorgänge in ihrer Gemeinde genauestens unterrichtet sind und bei der Wahrsagung auf einen Fundus brauchbarer Kenntnisse zurückgreifen können. Durch die Art ihres Berufes sind sie von einer unnötigen Aura des Geheimnishaften umgeben, die aber in den Augen ihrer Gemeindemitglieder ihre Größe und Würde und den ihnen gebührenden Respekt nur erhöhen kann. Daher wenden die Leute sich ohne Hemmungen in privaten wie öffentlichen Angelegenheiten an sie. Wie die Medizinmänner, deren Praxis sie nebenbei oft versehen, werden die Wahrsager als Freunde der Gemeinschaft betrachtet. Sie spielen neben der eigentlichen Wahrsagung die Rolle von Ratgebern, Richtern, Tröstern, Spendern von Sicherheit und Selbstvertrauen in bedrängter Lage, Seelsorgern und Priestern, Sehern, Problemlosem und
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Enthüllcrn von Geheimnissen wie Diebstählen, drohenden Gefahren und kommenden Ereignissen. Mit wenigen Ausnahmen sind die afrikanischen Systeme der Wahrsagung noch nicht sorgfältig untersucht worden, obgleich man Wahrsager und Wahrsagung fast in jeder Gemeinde findet. Die Jorubawahrsagung, die als das Ifasystem bekannt ist, ist von Parrinder beschrieben worden.6 Sie steht mit Orunmila, der Gottheit der Wahrsagung, im Zusammenhang. Dementsprechend heißt der Wahrsager wie bei den Fon der „Vater der Geheimnisse"; er hält jeden fünften Tag als den „Tag der Geheimnisse" ein, an dem die Befragung des Orakels stattfindet. Das Ifasystem besteht aus einer Serie von 256 Figuren „von denen jede ihren eigenen Namen hat und die gebildet werden, indem man entweder sechzehn Palmkerne oder eine Kette von acht Halbkernen oder -schalen verwendet", die auf ein Orakelbrett gewürfelt werden. Vor diesem Brett sitzend, handhabt der Meister die Kerne in schneller Folge, wobei er die Ergebnisse in zwei Reihen auf dem Brett aufzeichnet. Das Ganze stellt ein kompliziertes Geflecht aus Zahlen, Kombinationen, Namen und verschiedenen Deutungen dar, aus denen der Wahrsager dem Befrager des Orakels schließlich das Fazit vorlegt. „Das Ifasystem der Wahrsagung wird bei allen wichtigen Anlässen des Lebens angewandt". Dies gilt sowohl für die Joruba wie für die Fon. Ein Wahrsager kann selber zur Befragung des Ifa-Orakels raten. Gewöhnlich wird das Orakel von Männern, gelegentlich aber auch von Frauen befragt. Die Wahrsager werden von anderen Wahrsagern privat ausgebildet und arbeiten für eine Dauer von drei bis sieben Jahren als Lehrlinge. Einige ererben auch den Beruf von ihrem Vater. Zur Ausbildung gehören das Erlernen der Namen und Zeichen für die Figuren der Wahrsagung sowie der dazugehörigen Sprichwörter und Legenden und das Studium der praktischen, rituellen und kultischen Aspekte der Wahrsagung. Es findet eine Schlußfeier statt, der andere Wahrsager aus der Umgegend beiwohnen. Auf dieser Feier wird dem Neuling das Recht der Berufsausübung verliehen. Der Höhepunkt der Einweihung ist erreicht, wenn der neue Wahrsager „Flammen aus einer Lampe in die Hand 6
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Parrinder II, S. 137—55, woraus die hier angeführten Beispiele des W a h r sagens bei den Joruba und F o n entnommen sind. Eine ausführlichere Studie ist die v o n B . Maupoil: La Géomancie à l'ancienne Côte des Esclaves, Paris 1 9 4 3 . Mbiti, Afrikanische Religion
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Speziasliten: Medizinmänner, Regenmacher, Könige und Priester
nimmt, ohne sich dabei die Haut zu verbrennen". Danach betet er täglich allein zu Orunmila und einmal im Monat gemeinsam mit seiner Familie, die er dann in sein Gebet einschließt. Parrinder stellt fest, daß das Ifasystem keine Elemente mythischer Astrologie enthält und daß es mit gewissen Abwandlungen in Nigeria, Dahome, Togo und Ghana vorkommt. In verschiedenen Teilen Afrikas gibt es weitere Methoden der Wahrsagung, wie den Gebrauch von Wahrsagungssteinen, Kürbisflaschen, Zahlen, das Lesen der Handfläche, das Bilden und Sehen von Bildern in Töpfen voll Wasser, die Auslegung von Tierspuren, die Wahrnehmung und Deutung von Geräuschen sowie Seancen, bei denen der Wahrsager oder sein Medium mit der Geisterwelt Fühlung aufnimmt. Einige Wahrsager, wahrscheinlich sogar eine große Anzahl, machen keine formgerechte längere Ausbildung mit, wie sie bei den Joruba und wenigen anderen westafrikanischen Völkern Brauch ist. Sie erlernen ihren Beruf mehr durch die Praxis als durch „Schulbesuch", wobei es darauf ankommt, welchen anderen Beschäftigungen sie außerdem noch nachgehen. Es gibt zweifellos welche, die aus reiner Gewinnsucht Wahrsager werden und sich mit billigen Zaubertricks behelfen. Die Kunst der Wahrsagung gibt uns große Rätsel auf, die ich hier keineswegs zu lösen vorgebe. Zwischen den Wahrsagern und belebten oder unbelebten außermenschlichen Kräften findet eine Art Verständigung oder Gedankenaustausch statt. Worum es sich hierbei genau handelt, ist schwer zu sagen. Vielleicht spielen dabei des Wahrsagers Fähigkeiten außersinnlicher Wahrnehmung eine Rolle, vielleicht wirken unabhängige spirituelle Kräfte mit, vielleicht auch handelt es sich um Telepathie, erhöhte menschliche Wahrnehmung oder aber eine Kombination all dieser Möglichkeiten. Auf jeden Fall ist die Wahrsagung ein weiteres Gebiet, das zur Kompliziertheit des afrikanischen Weltbildes und der afrikanischen Welterfahrung beiträgt. Die Wahrsagung verbindet auf eine ihr eigene Weise die physische und spirituelle Welt, wodurch sie sich als religiöse Tätigkeit ausweist. Der Wahrsager nimmt eine Mittlerfunktion zwischen dem Physichen und Psychischen, der Menschen- und Geisterwelt wahr, um damit seiner Gemeinschaft zu dienen. In der Regel sind die Wahrsager Männer, während die überwiegende Zahl der Medien Frauen sind. Manchmal üben sie als Verheiratete gemeinsam diese Berufe aus.
Regenmacher
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c) Regenmacher Der Regen wird bei afrikanischen Völkern als ein großer Segen betrachtet. Man freut sich stets, wenn es regnet, es sei denn, übermäßiger Regen beschädigt die Ernte oder verursacht unheilvolle Überschwemmungen. Ob Bauern oder Hirten, der Lebensunterhalt der Afrikaner hängt gänzlich vom Regen ab. In der Nähe des Äquators gibt es gewöhnlich zwei Regenzeiten und zwei Trockenzeiten im Jahr. In weiterer Entfernung vom Äquator verschmelzen diese allmählich zu einer langen Regenzeit und einer langen Trockenzeit. Für beide Zonen gilt aber im gleichen Maße, daß ein längeres Ausbleiben des Regens eine spärliche Ernte oder gar ihre völlige Vernichtung zur Folge hat, daß also Kummer und Sorgen allenthalben ihren Einzug halten. Der Rhythmus des Gemeinschaftslebens wird von den Jahreszeiten bestimmt, und bei manchen Völkern wird der Übergang von einer Jahreszeit zur anderen dementsprechend rituell begangen. Es gibt Riten für mancherlei Anlässe wie das Einsetzen des Regens, das Saatfest, die Feier der Erstlingsfrüchte, das Einbringen der Ernte und die Eröffnung der Jagd oder Fischerei. Diese Gemeinschaftsriten und -tätigkeiten spielen eine große Rolle bei der Stärkung des Solidaritätsbewußtseins und Gemeinschaftsgefühls und tragen zur gesellschaftlichen und geistigen Erziehung der jungen Leute bei. Ein solcher Gemeinschaftsritus ist auch das Regenmachen. Die Regenmacher gehören bei den meisten afrikanischen Völkern zu den wichtigsten Einzelpersönlichkeiten. Die Zulu nennen ihre Regenmacher die „Hirten des Himmels" und betrachten sie tatsächlich als Hirten der Menschen, des Viehs und der Pflanzen, die alle auf Regen angewiesen sind. Manchmal ist das Regenmachen eine königliche Funktion. Die beste Beschreibung von Person und Werk einer königlichen Regenmachergestalt findet sich über die Lobedu.7 Die Königin der Lobedu ist zugleich auch ihre oberste Regenmacherin. In dieser Doppelstellung dient die Regenkönigin dem Lande als politisches Oberhaupt und höchste Fürsorgerin. Ihr R u h m und ihr Ansehen beruhen mehr auf ihrer Regenmacherei als auf ihrer politischen Stellung, obgleich jede der beiden Funktionen den Wert der anderen erhöht. Ihre Stimmungen sollen das Wetter beeinflussen, und man glaubt, daß bei ihrem Tode die Dürre unvermeidbar sei. Ihr Wissen empfängt sie von den Totenseelen und gibt es an ihre Nachfolgerin weiter. Unter ihr arbeiten Hilfsregenmacherinnen, aber in letzter Instanz 7
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E . J . und J. D. Krige: The Realm of a Rain-Queen (2. Auflage i960).
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Spezialisten: Medizinmänner, Regenmacher, Könige und Priester
entscheidet sie, ob Regen gemacht oder ihm Einhalt geboten werden soll. Ihre Fähigkeit, dem Regen Einhalt zu gebieten, kann als Waffe gegen ihre Feinde in den Nachbargebieten dienen. Bei den Koma wohnen die Regenmacher in Höhlen und trinken mit Wasser vermischte Milch. Die Menschen ziehen in Prozessionen zu ihnen hin und bringen Geschenke mit. Ein Teil der Regenzeremonie besteht darin, daß man dem Regenmacher eine Tierhaut voll Wasser bringt, das er öffentlich austrinkt. Die Regenmacher bei den benachbarten Udhuk vollziehen komplizierte Riten, bei denen rote, weiße und blaue Regensteine verwendet werden.8 Die Kamba pflegten früher als Teil des Regenopfers ein Kind lebendig zu begraben. Dies war erforderlich, wenn das Land von einer großen Dürre heimgesucht wurde. Die Regenmacher bei den Katab richten ihre Bittgebete direkt an Gott, wenn aber der Regen eintritt, danken sie ihren fernsten Vorfahren dafür. Die Lugbara glauben, Gott habe den Regenmachern und Wahrsagern besondere mystische Kräfte verliehen und sagen daher von ihnen: „Regenmacher kennen die Worte Gottes; das ist ihre Aufgabe". 9 Im Sudan sowie im südlichen Afrika bilden die Regenmacher eine Klasse für sich und haben eine Macht- und Autoritätsfülle, welche die jedes beliebigen anderen Individuums übertrifft. Bei einigen Völkern werden das Wissen und die Fähigkeiten des Regenmachers vom einzelnen auf seine nächsten Verwandten vererbt. Aus den angeführten Beispiel, zu denen sich noch weitere aus ganz Afrika hinzufügen ließen, können wir die Bedeutung des Regenmachens ersehen. Obgleich die Mehrzahl der Regenmacher Männer sind, gibt es auch Regenmacherinnen, wie wir am Beispiel der Regenkönigin bei den Lobedu gesehen haben. Ihre Aufgabe ist es nicht nur, Regen zu „machen", sondern auch, ihm „Einhalt zu gebieten", wenn innerhalb kurzer Zeit zuviel Regen fällt oder wenn er zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht besonders wilkommen ist. Aus Uganda und Nigeria hört man, daß Brautpaare Regenmacher engagieren, um bei ihrer Hochzeitsfeier Regen zu verhüten, und das nicht ohne Erfolg. Wenn es dem Regenmacher nicht gelingt, Regen hervorzurufen, so kann dies nicht nur zu Prestigeverlust führen, sondern sogar sein Leben in Gefahr bringen. 1965 hörte ich von einem Fall, der sich bei den Luo abgespielt hatte: ein Regenmacher, dem es während einer großen Dürre nicht 8
Cerulli S. 36. * Middleton II, S. 3 1 , 207, 258.
Regenmacher
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gelungen war, Regen hervorzubringen, wurde ins Gefängnis gesteckt, einerseits, um ihn zu beschützen, und andererseits, um die Wut seiner Gemeinde zu besänftigen. Im März 1968 wurden in Tansania fünfRegenmacher ins Gefängnis gebracht, weil sie angeblich zuviel Regen verursacht hatten, der die Saaten zerstörte. Das Leben der Menschen, ihr Glück und "Wohlergehen, hängt vom Regen ab. Bei vielen Völkern begleiten Riten oder andere Zeremonien die Regenmacherei, welche stets eine Gemeinschaftsangelegenheit ist. Es werden Geschenke und Opfer dargebracht und Gebete verrichtet, die sich alle entweder unmittelbar oder durch die Mittlerschaft der Totenseelen und anderer spiritueller Kräfte an Gott wenden. Aus vielen Teilen Afrikas wird berichtet, daß in der Anschauung des Volkes wie auch der Regenmacher selber Gott allein Regen „machen" oder „erzeugen" kann. Daher spielen die Regenmacher die Rolle von Mittlern, mögen sie auch noch zu zusätzlichen Mitteln greifen, um ihr Betätigungsfeld zu erweitern und ihre Stellung auszubauen. Das Bedürfiiis und Verlangen der Gemeinschaft nach Regen wird stets ihnen zugeleitet. Bei einigen Völkern gibt es allerdings keine offiziellen Regenmacher. Dort kann jeder Älteste, der bestimmte Bedingungen für eine solche Aufgabe erfüllt, als ritueller Amtsträger bei der Regenzeremonie auftreten. Vor allem in den dürreren Landstrichen Afrikas neigt man dazu, dem Amt und der Person des Regenmachers eine soziale und sogar politische Vormachtstellung einzuräumen, während man sich bei anderen Völkern, solange der Regenfall normal ist, recht wenig um ihn kümmert. Da aber die Regenmacher keine Dummköpfe sind, verstehen sie es, sich durch ihre geistigen Fähigkeiten auf führende Stellungen in ihrer Gemeinde emporzuarbeiten, so daß sie auf mehreren Gebieten zugleich „Spezialisten" sind. Einige amtieren als Wahrsager, Medizinmänner, Medien und Priester. All dies sind Mittlerpositionen zwischen den Menschen und Gott oder dem Geisterreich. Zur eigentlichen Praxis des Regenmachens gehört der Gebrauch sakraler Gegenstände, insbesondere der sogenannten Regensteine. Hierbei handelt es sich entweder um seltene Steine oder solche, die angeblich vom Himmel gefallen sind. Das Abbrennen von „Regenblättern" oder anderen Brennstoffen ist eine weitere Methode. Der aufsteigende Rauch soll den Regen am Himmel „einfangen" und zur Erde niederbringen. Bei anderen Riten wird auf verschiedene Weise Wasser verwandt; z. B. wird die Stätte des Regenmachens oder die dort versammelte Menge feierlich mit Wasser bespritzt, es wird Wasser aus heiligen Brunnen geschöpft oder
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Spezialisten: Medizinmänner, Regenmacher, Könige und Priester
Schweiß gesammelt und dann in der Luft versprüht. Das Wasser symbolisiert bei diesen Vorgängen den Regen. Die Menschen, die sich mit der Kunst des Regenmachens oder der Regeneinstellung befassen, sind in der Wetterkunde sehr beschlagen und haben oft lange Zeit darauf verwandt, ihr Wissen zu erwerben. Es wird ihnen von anderen Regenmachern übereignet oder durch die Beobachtung des Himmels oder der Lebensgewohnheiten von Bäumen, Insekten und anderen Tieren gewonnen. Die Astronomie und der gesunde Menschenverstand gehen hier oft Hand in Hand. Es wäre z. B. niemand töricht genug, auf dem Höhenpunkt der Trockenzeit die Hervorrufung von Regen zu versuchen. Die Augen der Regenmacher sind auf den Himmel gerichtet, nicht nur, um die Wetterbedingungen zu studieren, sondern auch, um zu Gott zu flehen, der den Regen erzeugt und ihn den Menschen schenkt. Ohne Gebet vermögen sie weder Regen zu machen, noch ihn. fernzuhalten. Der Regen wird bei afrikanischen Völkern als ein heiliges Phänomen betrachtet. Wir haben bereits festgestellt, daß er bei einigen so eng mit Gott in Beziehung gesetzt wird, daß man für beide dasselbe Wort verwendet und z. B. bei einsetzendem Regen sagt: „Es fällt Gott". Bei anderen bedeutet der Name Gottes „Regengeber". Viele personifizieren den Regen oder glauben, er werde von einer allerdings dem Himmelsgott unterstehenden Gottheit gelenkt. Bei einigen werden Ruhetage eingehalten, um den Anbruch der Regenzeit zu begehen, und viele begrüßen dieses Ereignis mit Danksagungszeremonien und Bitten um genug Regen. Für die meisten ist Regen der deutlichste Ausdruck der Güte und Vorsehung Gottes. So sieht man den Regen also als das ewige, mystische Band zwischen den vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Generationen. Im Rhythmus der Natur ist er konkret faßbar und von schier endloser Dauer. Wie er einst kam, so kommt er nun und in alle Zeit. Die afrikanischen Völker sehen kein Ende dieses Lebensrhythmus der Schöpfung ab. Da der Regen von oben kommt, verbindet er den Menschen mit dem Göttlichen, ^ls rhythmische Konstante der Natur wird der Regen stark religiös gesehen. Wer mit ihm umgeht, vollführt ein Werk von größter religiöser Tragweite. Der Regen ist das OfFenbarwerden des Ewigen im Hier und Heute. Mithin erfleht der Regenmacher nicht bloß den Regen schlechthin, sondern symbolisiert auch den Zugang des Menschen zu den Segnungen von Zeit und Ewigkeit.
Könige, Königinnen und Hertscher
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d) Könige, Königinnen und Herrscher
Da dies ein weitgespanntes Thema mit umfangreicher dazugehöriger Literatur ist,10 werden wir uns mit einigen Bemerkungen begnügen. Die Personen in dieser Kategorie stehen mit den anderen „Spezialisten" wie Medizinmännern, Regenmachern, Wahrsagern und Priestern nicht auf derselben Stufe. Sie haben kraft ihres Amtes eine besondere Stellung im afrikanischen Leben und Denken inne. Man muß jedoch bedenken, daß nicht bei allen afrikanischen Völkern traditionelle Herrscher in Gestalt von Königen, Königinnen oder Häuptlingen anzutreffen sind. Wo solche Herrscher vorkommen, sind sie nicht lediglich politische Führer. Sie sind mystische und religiöse Oberhäupter, göttliche Symbole der Gesundheit und Wohlfahrt ihres Volkes. Der einzelne Herrscher mag als Mensch keine hervorragenden Gaben oder Fähigkeiten besitzen, aber sein Amt ist das Bindeglied zwischen menschlicher Herrschaft und der Herrschaft des Spirituellen. Sie sind daher gottbegnadete oder sakrale Herrscher, ein Abglanz von Gottes Herrschaft über das All. Man betrachtet sie als die irdischen Vizekönige Gottes und gibt ihnen erhabene Stellungen und Titel wie „Erlöser", „Beschützer", „Kind Gottes", „Häuptling der Gottheiten" oder „Herr über Erde und Leben". Man glaubt, sie könnten ihre Wünsche in die Tat umsetzen, z. B. dem Regen gebieten, und bringt sie mit Gott in Zusammenhang, indem man sie als Fleischwerdung Gottes oder als urprünglich vom Himmel stam10
Siehe u. a. K . A . Busia: The Position of the Chief in the Modern Political System of the Ashanti, Oxford 1 9 5 7 ; E. L. R . Meyerowitz: The Divine Kingship in Ghana and Ancient Egypt, London i960; T . Irstam: The King of Ganda, Stockholm 1944; M . J . Herskovits: Dahomey: an Ancient African Kingdom, 2 Bde., N e w Y o r k 1 9 3 8 ; J . Beattie: Banyoro, an African Kingdom, N e w Y o r k i960; M . S. M . Kiwanuka: Mutesa of Uganda, Nairobi 1 9 6 7 ; E. E. Evans-Pritchard: The Divine Kingship of the Shilluk, Cambridge 1948; M . Fortes und E. E. Evans-Pritchard, Hsg.: African Political Systems, Oxford und London 1940; P. Hadfield: Traits of Divine Kingship in Africa, London 1949; E . J . und J . D. Krige: The Realm of a Rain Queen, Oxford 1 9 4 3 ; H . C o r y : The ntemi, London 1 9 5 1 ; O. Pettersson: Chiefs and Gods, Lund 1 9 5 3 ; Y . Asfa: Haile Sellassie, Emperor of Ethiopia, London 1 9 3 6 ; W . T . H . Beukes: Der Häuptling in der Gesellschaft der Süd-, Ost- und Zentralbantuvölker, Hamburg 1 9 3 1 ; W . Schilde: „ D i e afrikanischen Hoheitszeichen" in Zeitschrift für Ethnologie, L X I , 1929; L. A . Fallers: The King's Men, Oxford 1964; A . I . R i c h a r d s : East African Chiefs, London i960; R . E. S. Tanner: „ T h e Installation of Sukuma Chiefs", in African Studies X V I , 1 9 5 7 ; B . A . Pauw: Religion in a Tswana Chiefdom, Oxford i960. Viele diese Werke enthalten wertvolle Bibliographien.
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mend ansieht. Sie selber sind davon überzeugt, daß Gott ihr Führeramt in der Samaniperiode eingesetzt hat. Ursprung und Persönlichkeit der Könige sind von Mythen umrankt, und sie werden durch allerlei Tabus, Verbote und abergläubische Vorstellungen abgeschirmt. Folglich sind die Herrscher keine gewöhnlichen Männer und Frauen. Sie bekleiden ein besonderes Amt und symbolisieren das Band zwischen Gott und den Menschen. Diese geheiligte Stellung der afrikanischen Herrscher kommt auf mancherlei Weise zum Ausdruck. Einige Herrscher dürfen sich im gewöhnlichen Leben überhaupt nicht sehen lassen; sie tragen einen Schleier, nehmen ihre Mahlzeiten allein ein, z. B. bei den Schilluk, Ganda und Schöna, ihr Essen und Schlafen zu erwähnen ist tabu. Bei einigen Völkern, so den Lunda, Nyamwesi und Ganda, darf der König den Erdboden nicht mit den Füßen berühren und muß sich entweder tragen lassen oder auf einer besonderen Matte gehen. Körperliche Ausscheidungen und Absonderungen des Herrschers wie Speichel, Kot, Haare und Fingernägel müssen in der Erde vergraben werden, damit sie nicht von gewöhnlichen Leuten gesehen oder in bösartiger Absicht gegen ihn verwendet werden. Um die Stellung des Königs zu stärken und zu schützen, werden verschiedene Maßnahmen ergriffen, wozu hauptsächlich Blutopfer an Tieren, Untertanen, Gefangenen, das Tragen und Aufbewahren von Amuletten, die Befragung von Wahrsagern und die rituelle Tötung der Herrscher (Königsmord) gehören. Bei Völkern wie den Ganda, Lunda und Luba werden gewisse Körperteile des toten Herrschers, wie z. B. der Unterkiefer, der Schädel oder die Geschlechtsteile, aufbewahrt und in Zeremonien verwandt oder vom regierenden Herrscher wie ein Orakel befragt. In vielen Gegenden nimmt der Herrscher an nationalen Feiern teil, wobei er oft die führende Rolle spielt und als Priester, Regenmacher, Wahrsager oder Mittler zwischen Gott und den Menschen auftritt, z. B. bei den Lobedu, Schilluk, Schöna und Sukuma. Auf jeden Fall haben fast alle Herrscher Kultschreine, Tempel, heilige Haine, eigene Priester und Wahrsager in ihrem Palast oder nicht weit davon entfernt. Der Geist des verstorbenen Königs kann auch weiterhin eine aktive Rolle in den nationalen Angelegenheiten seines Volkes spielen, indem er über seinen Nachfolger oder ein anerkanntes Medium kommt, wiedergeboren wird, bei Befragungen seine Stellungnahmen abgibt oder Opfer und Geschenke entgegennimmt. Die Zulu, Schilluk, Aschanti, Lunda, Nyamwesi und andere opfern und beten an den Gräbern der verstorbenen Könige. Oft sind die Gräber heilige
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Stätten, die von Dienern, Wächtern und manchmal Priestern betreut werden. Bei einigen Völkern dienen sie auch als Freistätten für Mensch und Tier, die dort nicht getötet werden dürfen. Könige werden für heilig erachtet, allerdings mehr im rituellen als im geistlichen Sinne, und man muß daher Gutes von ihnen reden, ihnen respektvoll begegnen, sich vor ihnen verbeugen oder niederknien, ihnen sexuelle Verfügungsrechte über seine Frauen einräumen, ihnen Steuern und Abgaben entrichten und gehorchen; man darf nicht ihre Kleidung nachahmen oder direkt mit ihnen in Kontakt kommen und muß ihnen sogar Verehrung und Huldigung darbringen.11 Unter diesen Unständen ist der Tod eines Herrschers natürlich ein großes Ereignis für seine Nation. Einige Völker wie die Njoro, Schöna, Lobedu und Amhara töteten früher rituell ihre Herrscher, wenn diese alt oder krank wurden, Verwundungen erlitten, zu Unzufriedenheit Anlaß gaben oder wenn ihre Regierungszeit abgelaufen wat. Die Todesart war entweder Vergiften, Erdrosseln, Ersticken oder Selbstmord. Dieser Brauch wird aus ganz Afrika berichtet. Bei einigen Völkern, z. B. den Ganda, Zulu, Amhara, Ngoni, Gogo und Schilluk, wird der Tod des Königs geheimgehalten. Der Zeitraum der Geheimhaltung kann von wenigen Tagen bis zu einem oder mehreren Jahren reichen, er kann bis zur Wahl und Einsetzung des neuen Königs oder bis nach dem Begräbnis oder nach der Räucherung der Leiche dauern, wie es in Saire vorkommt. Da der König heilig ist, darf von seinem Tod nicht auf normale Weise gesprochen werden. Bei den Njoro z. B. sagt man: „Die Milch ist verschüttet", bei den Amhara: „In dieser Jahreszeit weht für Könige eine böse Luft". Man sagt auch ganz einfach, der König sei zum Himmel zurückgekehrt, aufgefahren oder krank geworden. Der Tod des Herrschers bringt den Lebensrhythmus zum Stillstand oder zerrüttet ihn zeitweilig. Bei den Tswana, Ganda und Njoro z. B. tritt Arbeitsruhe ein, bei den Rundi, Ankole und Ruanda wird der Begattung von Mensch und Tier Einhalt geboten, und bei den Schilluk, Lunda, Amhara, Luba und anderen folgt eine Zeit völliger Anarchie, Zügellosigkeit und chaotischer Zerrüttung. Früher bestand auch die Sitte, dem verstorbenen Herrscher Gesellschaft und Nahrung mit auf den Weg zu geben, und aus diesem Grunde wurden seine Frauen, Diener, Sklaven, einige Untertanen, Gefangene und Rinder getötet und mit ihm bestattet, 11
T. Irstam: The King of Ganda, 1944, S. i8of.
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z. B. bei den Ganda, SchiUuk, Kpelle und Nyamwesi. 12 Da Gesundheit und Wohlstand des Königs die Wohlfahrt der Nation symbolisieren, ist es verständlich, daß sein Tod einen völligen Bruch in ihrem Leben bedeutet und nur ein neuer Herrscher die Ordnung wiederherstellen und die Rückkehr zur Normalität versinnbildlichen kann. Da sich für den König im Jenseits das Leben fortsetzt, muß er mit Frauen, Dienern und Nahrung versehen sein, um in der Geisterwelt seine Vorzugsstellung wahren zu können. Es werden umständliche Bestattungsriten vollzogen; nur bei einigen Völkern wird der verstorbene Herrscher still und heimlich beigesetzt. Im Thronfolgerecht gibt es in Afrika beträchtliche Unterschiede. Als Nachfolger des Herrschers kommen sein Sohn, Bruder, Neffe, Onkel, seine Mutter, Tochter oder andere Angehörige der königlichen Verwandtschaft in Frage. Bei einige Völkern wird der neue Herrscher von einer Ratsversammlung, von den führenden Ministern oder durch Absprache mit den Geistern der verstorbenen Herrscher gewählt. Für die Krönung des neuen Herrschers gelten viele Bräuche und Zeremonien. Irstam hat diese gut zusammengefaßt; er erwähnt Zeremonien, die Tod und Wiedergeburt symbolisieren, z. B. bei den Schilluk, das Tragen besonderer Gewänder durch den König bei den Ganda, Amhara, Njoro und vielen anderen, die Verleihung eines neuen Namens an den Herrscher bei den Amhara, Galla und Tonga, rituelle Waschungen oder Besprengungen bei den Haussa, Schilluk und Kongo, Salbung des Königs mit Öl oder Ton bei den Amhara, Njoro, Ankole und anderen, die sehr verbreitete „Inthronisierung", die gleichfalls ziemlich häufig durchgeführte Krönung, die Darbringung von Menschenopfern bei den Schilluk, Ganda und anderen sowie die Tötung von Verwandten, welche Anspruch auf den Thron erheben könnten, bei den Galla, Amhara, Njoro, Rundi und den Herrschern von Benin in Nigeria. Wo man ein heiliges Feuer hütet, wird dieses beim Tode des Herrschers ausgelöscht und anläßlich der Krönung seines Nachfolgers erneut entzündet. Bei einigen Völkern, wie den Schilluk und Kpelle, macht man sich nach der Krönung eine Zeitlang über den König lustig, verspottet ihn und stellt ihm Schwierigkeiten in den Weg, um ihn Demut zu lehren.13 12
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Irstam, S. 1 4 2 f. Man ziehe dieses W e r k für eine eingehenden Vergleich der Krönungsbräuche zu Rate. Irstam, S. 56.
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Die Herrscher haben ihre Hoheitszeichen, in denen sich auch die Achtung des Volkes vor ihnen widerspiegelt. Bei den Ganda, Amhara, Schilluk und anderen Völkern veranlaßt man den König bei der Krönung, einen Königshügel zu besteigen, der als Symbol seiner kosmischen Machtübernahme auf seine neue Stellung an der Spitze der Nation hinweist. Als Zepter tragen die Könige Zweige, Speere, einen Stab, eine Gabel, ein doppelschneidiges Schwert, eine Lanze oder eine Hacke. Bei den meisten Völkern sind ihre Gewänder zumindest zum Teil aus Leoparden- oder Löwenfell, da diese Tiere Macht und Stärke symbolisieren. In ganz Afrika sind Königstrommeln bezeugt. Diese gelten als heilig und werden nur bei bestimmten Anlässen oder zur Verkündung wichtiger Botschaften gerührt und in heiligen Häusern aufbewahrt. Die Throne sind von unterschiedlicher Größe, Form und Materialzusammensetzung. Einige sind mit Gold, Perlen, Straußen- oder anderen Federn, Seide, Hörnern oder Bände belegt oder ausgeschlagen, einige sind tragbar und andere bestehen aus einer einfachen irdenen Sitzfläche, die mit Löwen- oder Leopardenfellen überzogen ist. Die Bewahrung des heiligen Feuers, das mit dem König oder Herrscher in Beziehung gesetzt wird, läßt sich bei vielen afrikanischen Völkern nachweisen. Beim Tode eines Herrschers wird dieses Feuer zum Verlöschen gebracht, bei der Einsetzung eines neuen Herrschers aber wieder entzündet, so bei den Njoro, Schilluk, Amhara und anderen. Dieses Feuer muß während der ganzen Regierungszeit eines Königs ständig am Brennen gehalten werden und darf bei einigen Völkern auch nur vom neuen Herrscher entzündet werden. In vielen Gegenden hat man den Herrschern heilige Rinder zugesellt, so bei den Lunda, Pare, Gogo, Haussa, Schöna, Tswana und anderen. Diese werden zur Fleisch- und Milchgewinnung, aber auch als Opfertiere verwendet, und oft dient ihr Fell dazu, den Leichnam des toten Herrschers darin einzuhüllen.14 Das Feuer und die Rinder gehören nicht unbedingt zu den Hoheitszeichen des Herrschers, sind aber mit seinem Wohlergehen und seiner Stellung eng verknüpft. Das Feuer symbolisiert Leben, Dauer und Vitalität, sein Brennen versinnbildlicht den Wohlstand von Herrscher und Volk. Die Rinder versinnbildlichen Fürsorge in Form von Speise, Trank und Eigentum und sind ein Mittel, um mit der Geisterwelt in Verbindung zu bleiben, indem man sie opfert und den Leichnam des Herrschers in die Häute einwickelt. Das Blut des Königs, das die ureigenste Substanz 14
Irstam, S. 91 f, 131 f.
236 Spezialisten: Medizinmänner, Regenmacher, Könige und Priester seines Lebens und mithin des Lebens der Nation ist, darf auf keinen Fall vergossen werden — ein Tabu, das von vielen Völkern in ganz Afrika eingehalten wird. Auch die Herrscher selbst müssen verschiedene Tabus beachten, deren Verletzung sie vom Amt disqualifizieren könnte. Wie die Könige, Königinnen, Häuptlinge und andere Herrscher in ihre heilige Stellung eingesetzt und mit größter Ehrerbietung behandelt werden, so zollt man auch ihren Verwandten besondere Hochachtung. Die Königin, die die Frau, Schwester oder Mutter des regierenden Herrschers sein kann, erfreut sich z. B. bei den Amhara, Lobedu und anderen größter Wertschätzung. Auch seine Mutter, worunter man entweder die richtige biologische Mutter, eine bestimmte Frau des königlichen Haushalts oder eine zur Königsmutter ernannte Außenseiterin versteht, kann großen Einfluß haben, wie es bei den Zulu und Amhara der Fall ist. Bei einigen Völkern muß der König eine agnatische Schwester ehelichen, z. B. bei den Schilluk, Lunda und Ruanda. Zu den wichtigen Hofbeamten des Königs gehören die Unterhäuptlinge, Ratsmitglieder, Berater, Statthalter, Lehrer und die religiösen Amtsträger wie Priester und Wahrsager. Mit ihrer Hilfe erhält der Herrscher seine Autorität über das Königreich aufrecht, bleibt er über alle Vorgänge informiert, ist er für seine Untertanen erreichbar, behauptet er seine Stellung und bleibt er in Kontakt mit der Geisterwelt. So sehen also die Persönlichkeit und das Amt des traditionellen Herrschers bzw. der Herrscherin aus. In der Kolonialzeit neigte die Verwaltung dazu, die traditionellen Herrscher in ihre politische Struktur einzugliedern. Ihre Macht und ihr Charisma haben beträchtlich abgenommen. In einigen Fällen schafften die Kolonialregierungen das traditionelle Herrschaftsgefüge völlig ab, was nicht immer friedlich geschah. Bei gewissen Völkern hat das Königsamt jedoch den Übergang zur Unabhängigkeit der modernen afrikanischen Staaten überdauert, und in einigen Fällen übernahmen Herrscher sogar führende Stellungen. Als z. B. Uganda 1962 seine Unabhängigkeit erlangte, wurde der damalige König der Ganda Präsident Ugandas und blieb es bis zu seinem Sturz im Jahre 1966, während Seretse Khama Oberhaupt seines Landes Botswana wurde, als dieses 1966 seine Unabhängigkeit wiedererlangte. Kaiser Haile Selassie von Äthiopien vertritt vielleicht das älteste regierende Herrschergeschlecht der Welt. Der heutige Trend läuft jedoch auf die Auflösung des traditionellen Herrschertums in Afrika hinaus, und was oben im Präsens geschildert wurde, trifft in
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vielen Situationen entweder überhaupt nicht mehr oder nur noch in abgewandelter Form zu. Die Auflösung oder Schwächung des traditionellen Herrscheramts muß natürlich zu Spannungen, wenn nicht zum offenen Zusammenstoß zwischen den Herrschern und ihren Anhängern einerseits und den afrikanischen Staatsmännern andererseits führen, die in nationalstaatlichen Begriffen denken und ein örtlich begrenztes Königtum als Hindernis ansehen. Das Amt des traditionellen Monarchen verliert allmählich seinen sakralen Charakter und scheint in wohl kaum beneidenswerter Weise bis zu einem Punkte abzusinken, wo es politisch gesehen ein Anachronismus und wirtschaftlich ein Passivposten wird. Das Schicksal afrikanischer Herrscher kann sicherlich im weltweiten Rahmen gesehen werden, hat man doch allgemein den Eindruck, daß die Menschheit vielleicht die traditionellen Monarchen, deren Geschichte ihr Bild in der Gegenwart nicht immer erhellt, zur Genüge gekostet hat. Daher werden wenige den traditionellen Herrschern nachtrauern, wenn ihr Amt durch eine neue, gegenwartsbezogene aber nicht unbedingt weniger korrupte politische Struktur abgelöst wird. Sakrale Herrscher sind innig mit der Samaniperiode verquickt; sie sind ihr zu sehr verhaftet, als daß sie ohne weiteres in den Bereich der Zukunftsdimension emporgehoben werden könnten, welche die afrikanischer Völker jetzt entdeckt haben und zu erweitern beginnen. Ihre Stärke lag oder liegt immer noch in den religiösen Mythen, Traditionen und Tabus, von denen sie umgeben sind und die sich alle zum Samani hin orientieren. Ohne einen Mythus der Zukunft bleibt diesen Herrschern weder die Stellung noch der Respekt erhalten, deren sie in der Geschichte ihres Volkes sicher sein konnten. Vielleicht mehr noch als veränderte politische Vorstellungen ist ein gewandelter Zeitbegriff die Hauptkraft, welche gegen die sakralen Herrscher arbeitet. Verbänden sich mit dem Amt und der Stellung dieser Herrscher messianische Elemente und ZukunftshofBiungen, so könnte das sakrale Herrschertum in den Strom der afrikanischen Gegenwartsgeschichte einmünden. Da aber die Zukunftsdimension in der afrikanischen Gesellschaft so kurz bemessen war, konnte es keine messianische Hoffnung geben, und unsere traditionellen Herrscher sind nur in der Sasa- und Samaniperiode verwurzelt. Sie können jetzt höchstens noch darauf hoffen, daß sich im Zuge der Minderung oder Auflösung ihres Amtes ein zählebiger Mythus um sie und ihre Funktion herumrankt. Im westlichen Afrika werden sie wahrscheinlich länger dauern als anderswo.
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Spezialisten: Medizinmänner, Regenmacher, Könige und Priester
Es wird eine interessante Aufage sein, den Wandel religiöser Glaubensanschauungen und Glaubenspraxis zu studieren, die sich im traditionellen Leben im Bannkreis der Persönlichkeit und des Amtes sakraler Herrscher entwickelt haben und die natürlich unterhöhlt werden, wenn die zentrale Gestalt solcher Strukturen entfernt oder entscheidend geschwächt wird. Vielleicht werden bei den betreffenden Völkern Königskulte Wiederaufleben oder geschaffen werden, die tote, des Landes verwiesene oder abgesetzte Könige zum Mittelpunkt haben und die um sie rankenden Mythen heilighalten. Aber die mit königlichen Ereignissen und Persönlichkeiten verbundenen traditionellen Tätigkeiten werden sicherlich aussterben oder durch gegenwartsnähere nationale Ereignisse und Führer ersetzt werden. Persönlichkeitskulte scheinen in der afrikanischen Mentalität tief eingewurzelt zu sein und sind leichter auf neue Situationen zu übertragen als auszurotten. e) Priester, Propheten und Religionsstifter Über Priester gibt es hinreichend Literatur, obwohl der Begriff locker verwandt wird und fast alle religiösen Führer einbegreift. 15 Genau genommen sind Priester Religionsdiener, die in Tempeln ihr Amt ausüben, doch wird das Wort im afrikanischen Zusamenhang zur Bezeichnung all jener verwendet, die religiöse Funktionen erfüllen, ob nun in Tempeln, Kultschreinen, heiligen Hainen oder an anderen Stätten. Priester sind bei vielen Völkern bezeugt, darunter die Ankole, Joruba, Ibo, Akan, Schöna, Ganda, Soga, Ewe und Sonjo. Die Tradition des Priestertums ist in Westafrika stärker vertreten als in anderen Teilen des Kontinents. Darüber schreibt Parrinder, daß „Priester und den Göttern geweihte Medien zur Vorbereitung auf den Kultdienst abgesondert werden und eine Art Weihe und Ausbildung erhalten. Es gibt verschiedene Methoden der Ausbildung, von sehr einfachen zu höchst komplizierten, aber der Priesterstand ist unverkennbar als Klasse entwickelt. . . . Die Ausbildung der Priester kann die Absonderung von der Welt, die Unterweisung im Gesetz und manchmal die .Besessenheit' 15
In vielen anthropologischen und religiösen Schriften wird das Priestertum behandelt, z. B . bei E. B . Idowu: Olodumare: God in Yoruba Belief London 1962, E. G. Parrinder: African Traditional Religion, London 1954/1962, ders.: West African Religion, London 1961. A . Friedrich: Afrikanische Priestertümer, Stuttgart 1939, E. O.James: Das Priestertum, Wiesbaden o.J., E. W . Smith Hsg.: African Ideas of God, London 1961, E. E. Evans-Pritchard: Neur Religion, Oxford 1956, E. Lienhardt: Divinity and Experience, Oxford 1961.
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durch die Gottheit umfassen. Der Beruf des Priesters und Mediums ist hochgeehrt und steht im allgemeinen Männern wie Frauen offen". 16 Über die Priester bei den Joruba schreibt Idowu: „Der Priester ist immer eine wichtige Gestalt in der Gesellschaft gewesen. Er ist aus der Gesellschaftstruktur der Joruba nicht wegzudenken, da die Religion der Grundton ihres nationalen Lebens ist. Praktisch wird nichts ohne priesterlichen Beistand getan, denn abgesehen davon, daß er die ,Seele' der Gemeinschaft betreut, spielt er auch bei der Einsetzung von Königen und Häuptlingen eine führende Rolle". 1 7 Wir geben hier nun einige Hinweise über die Priester und verweisen im übrigen unsere Leser, die sich eingehender informieren wollen, auf die betreffende Literatur. Der Priester ist der Hauptmittler, er steht zwischen Gott oder einer Gottheit und den Menschen. Wie der König politisches Symbol der Gegenwart Gottes ist, so ist der Priester religiöses Symbol Gottes unter seinem Volke, obgleich wir die Unterscheidung zwischen religiöser und politischer Sphäre nicht besonders betonen sollten, da beide Personen religiöse „Spezialisten" sind und bei einigen Völkern eine und dieselbe Person beide Ämter in sich vereinigt. Bei den Ewe z. B. werden die Priester von Gott „berufen", dann ausgebildet, initiiert und zum Schluß geläutert oder „geweiht". Zu ihren Pflichten gehören das Vollziehen täglicher oder wöchentlicher Riten, die Darbringung von Trankopfern und das Gebet um Segen oder um die Behebung von Unfruchtbarkeit und Not. Bei den Ganda pflegte der König beim alljährlichen Nationalfest eine führende Rolle zu spielen, indem er neun Männer, neun Frauen, neun Rinder, neun Ziegen, neun Hühner sowie neun Traglasten Rindentuch und Kaurimuscheln opferte.18 Die Lozi haben einen Hohenpriester, der in einer nationalen Krise Gott Opfergaben darbringt. Unter ihm dienen andere Priester, die vom König und seinem Kronrat ernannt werden, um die Verantwortung für die Königsgräber zu übernehmen. Der Priester hat in erster Linie religiöse Aufgaben. Da aber die Afrikaner die Religion nicht von anderen Lebensbereichen absondern, hat er gewöhnlich auch noch andere Funktionen. Er ist der geistliche und rituale Hirte der Gemeinde oder Nation und amtiert bei Opferfeiern und anderen Zeremonien, die in sein Ressort fallen. Er kann auch mit " Parrinder II, S. 75 f. 17 Idowu, S. 139. Siehe auch S. 129 f. 19 J. Roscoe: The Baganda, 21965, S. 298. Siehe auch S. 292 f.
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Spezialisten: Medizinmänner, Regenmacher, Könige und Priester
der Geisterwelt Verbindung aufnehmen, indem er selber die Funktion des Mediums versieht oder andere als Medien einsetzt. W o es Tempel gibt, findet man oft Medien, und zwar gewöhnlich Frauen, die abgesehen von ihrer Tätigkeit als Orakel der betreifenden Gottheiten oder Geister zur Instandhaltung des Tempels beitragen.Wo zur Vorbereitung auf das Priesteramt eine längere Ausbildung gehört, sind Priester die Wahrer nationaler Gesittung, Lebensweisheit, Meidungsgebote, Theologie und sogar der durch mündliche Überlieferung tradierten Geschichte. Durch solche umfassenden Kenntnisse eignen sie sich als politische Führer, Richter und rituale Fachleute. Bei den Rukuba Nordnigerias z. B. sind die Priester gleichzeitig Dorfvorsteher. Zu ihrem Aufgabenbereich gehört es, bei Gott Fürbitte für das Volk zu leisten, die Regenzeremonien zu vollziehen und ihre Gemeinde bei den Fruchtbarkeitsfesten anzufahren. Jeder Priester unterzieht sich einer siebenjährigen Bewährungszeit — manchmal dauert sie noch länger. Sollten sich während seiner Bewährungszeit Dürre oder Seuchen einstellen oder sollte es eine Frauenknappheit geben, so wird er disqualifiziert und abgesetzt. Bei den Butawa wird der Hohepriester gewählt und mit dem Titel „Landesvater" ausgezeichnet, während die Hohepriesterin „Landesmutter" haißt. Das Volk betrachtet sie also als Symbole des Daseins, Gedeihens und der Fortdauer des Landes. Bei einigen Völkern dienen die Priester sowohl Gott als auch den Göttern oder nur den letzteren. Dies gilt natürlich nur für Völker, die außer Gott weitere Gottheiten anerkennen, wie z. B. die Ankole, Ganda, Aschanti und Joruba. Wenn die Leute hingehen, um Weihegaben darzubringen oder Bittgebete an Gott oder die Gottheiten zu richten, sind es die Priester, die sie empfangen, die ihre Weihegaben entgegennehmen und sinnvoll verwenden und für jene, die ihrer bedürfen, Fürbitte leisten. Sie sind die lebenden Vertreter ihres Kultes. Die Priester befassen sich auch mit nichtgeistlichen Dingen wie Jagen, Schmieden und gesellschaftlichen Tätigkeiten. Selten kommt es vor, daß sie unverheiratet bleiben, und bei einigen Völkern ist das Priesteramt erblich. Man erwartet von den Priestern gewisse Maßstäbe sozialen, moralischen und ethischen Verhaltens, obwohl es hier kein Einheitsmaß gibt. Im großen und ganzen handelt es sich bei den Priestern und Priesterinnen um Menschen, deren Charakter die Achtung ihrer Mitmenschen verdient. Sie sind vertrauenswürdig, fromm, den Traditionen ihres Amtes, Gott oder den Gottheiten, denen sie dienen, zutiefst ergeben und können außerdem auf eine solide Berufsausbildung hinweisen. Es
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gibt Vorschriften, die den. moralischen und spirituellen Zustand der Priester vor, während und unmittelbar nach dem Vollzug ihrer Amtspflichten bei formellen Zeremonien regeln. Es kann ihnen z. B . verboten sein, Geschlechtsverkehr zu pflegen, gewisse Speisen zu genießen, unter die Leute zu gehen oder bestimmte Kleider zu tragen. Wenn bei den Ganda einer der Priester starb, unterwiesen die übriggebliebenen Priester Mukasas — der Seegottheit — „seinen Nachfolger und weihten ihn in sein Amt ein. Beim Gottesdienst trugen diese drei Priester das gleiche Gewand, das aus zwei gut gearbeiteten Rindentüchern bestand, die über beiden Schultern verknüpft waren. Dazu hatten sie neun weiße Ziegenfelle um die Hüften gewunden. Sie rasierten sich ihr Haar ab, wobei jeder sein eigenes Muster hatte". 16 "Wenn sie in ihre priesterlichen Gewänder gehüllt sind, dürfen die Gläubigen sie weder berühren noch ihnen nahetreten. Die Priester der Sonjo und ihre Familien tragen nur Kleider aus Tierfellen, und ausgebildete Priester mit Amtsbefugnis tragen am linken Handgelenk Metallarmbänder. Wir sollten uns darüber im klaren sein, daß es in jeder afrikanischen Gesellschaft rituale Führer verschiedener Art gibt. Bei Opferhandlungen und Gebeten im Familienkreis wird der Haushalt gewöhnlich vom Familienoberhaupt angeführt oder vertreten. Jede Gemeinde hat Älteste oder andere anerkannte Führer, die bei Gemeinschaftsriten, Hochzeiten, bei der Beilegung von Streitigkeiten, Initiationsfeiern, Durchgangsriten, Regenzeremonien, Reinigungszeremonien, Ernennungen, bei der Instandhaltung von Kultschreinen und anderen heiligen Orten und Gegenständen sowie verschiedenen anderen Veranstaltungen der Gemeinde die Leitung übernehmen. Dies sind priesterliche Aufgaben, auch wenn die amtierenden Personen im engeren Sinne des Wortes nicht Priester genannt werden können. Sie sind „Laienpriester" ohne hauptberufliche Anstellung. Im strikten biblischen Sinne des Wortes Prophet und der prophetischen Bewegung gibt es, soviel ich weiß, keine Propheten in der traditionellen Gesellschaft Afrikas. Ich führe dies in erster Linie auf das Nichtvorhandensein einer ausgedehnten Zukunftsdimension im afrikanischen Zeitbegriff zurück, obgleich möglicherweise auch noch andere Faktoren hierbei eine Rolle spielen. Sobald diese Dimension entdeckt und entfaltet .wird, treten gleich auch verschiedene Arten von „Propheten" 19
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Roscoe, S. 296. Mbiti, Afrikanische Religion
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auf, wie die wachsende Zahl „prophetischer" Führer in den unabhängigen christliche Sekten Afrikas beweist. Einige Anthropologen wollen von Propheten wissen, die sie bei gewissen afrikanischen Völkern beschreiben. Diese „Propheten" gehören in Wirklichkeit zur Kategorie der Wahrsager, Seher und Medien und können in der Gesellschaft noch andere religiöse oder politische Funktionen innehaben. Bei den Nuer z. B. „können Propheten im Auftrag einzelner oder der Leute in ihrer Nachbarschaft bei Krankheit, zur Behebung von Unfruchtbarkeit und bei anderen Anlässen, bei denen geistlicher Beistand vonnöten ist, Opfer darbringen, doch bestand die soziale Hauptfunktion der führenden Propheten früher darin, Überfälle auf die Dinka zum Zwecke des Viehdiebstahls zu leiten und gegen die verschiedenen fremden Stämme zu kämpfen, die den Nuer zu schaffen machten". Ein Prophet ist ein Mensch, „der von einem Luftgeist besessen ist". Evans-Pritchard beschreibt die Nuer-Propheten als „eine Entwicklung jüngeren Datums" und mißt ihnen charismatische Kräfte bei, deren Wirksamkeit weniger auf ihr Amt als auf ihre Persönlichkeit zurückzuführen sei. „Wenn sie als Propheten reden, so redet der Geist durch ihre Lippen (Theopneustie). Der Prophet, der eine Aussage machen will, sagt: ,Ich bin Soundso', d. h. er nennt den Namen des Geistes... Die Rede des Propheten und die des Geistes sind völlig miteinander vermischt und ineinander verschachtelt, so daß man sie nicht trennen kann". Der Autor weist darauf hin, daß „die Propheten mit bestimmten Geistern, den sogenannten Geistern der Luft oder Kindern Gottes Umgang haben, während die Priester sich ausschließlich mit Gott befassen. Gott kehrt nicht bei Menschen ein, um sie zu inspirieren".20 Ein weiteres Beispiel läßt sich von den Meru anführen, die einen religiösen Führer haben, der als der Mugwe bekannt ist. Bernardi bezeichnet ihn als Propheten. Amt und Gestalt des Mugwe haben mythologische Ursprünge und sind mit der Volkwerdung der Meru verknüpft. Die alten Männer sagen: „Seine Macht stammt aus derselben Quelle wie die Meru selber". Seine Macht ist erblich und besteht aus großen moralischen Tugenden. Er muß von allen körperlichen und moralischen Mängeln frei sein, er muß die alten Sitten der Meru genau befolgen, und seine Ausbildung muß im jugendlichen Alter beginnen. Die Ausbildung wird vom regierende Mugwe sorgfältig überwacht. Er muß nüchtern sein, allen Menschen Freundlichkeit erweisen und eine 20
Evans-Pritchard, II, S. 45, 303 f.
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glückliche Ehe führen. Er versieht das Amt des Richters, betet für das Volk, segnet es und flucht jenen, die solches verdienen. Man glaubt, der Mugwe stehe mit Gott direkt in Verbindung und trage daher die Nöte und Bitten der Menschen Gott vor. Man sieht in ihm den Hüter der Stammesmedizin, und er übt auch das Amt des Wahrsagers aus. Er verfügt über elterliche Autorität, die von Zwangsmitteln und dem Recht der Verfluchung mitgetragen wird. 21 Aus diesen beiden Beispielen, die sich noch weiter ergänzen ließen, dürfen wir schließen, daß die Bezeichnung „Prophet" im strengen Sinne des Wortes auf gelegentlich als solche bezeichnete Personen nicht immer unbedingt zutrifft, mag ihr Aufgabenbereich auch Prophetenpflichten einschließen. Diese Personen spielen die Rolle von politischen und ritualen Führern, Medien, Wahrsagern und sogar Rechtsberatern und Seelsorgern für den einzelnen wie für die Gemeinschaft. Da unsere Untersuchung über das gesamte Spezialistentum dieser Art bei weitem nicht hinreichend ist, sind wir nicht in der Lage, über diese kurzen und flüchtigen Bemerkungen hinauszugehen. Mir sind auf jeden Fall in der traditionellen Gesellschaft keine „Propheten" bekannt, die nach Art biblischer oder koranischer Propheten Auspruch darauf erhöben, Sprachrohr des Allerhöchsten zu sein. Meines Wissens gibt es auch keine Religionstifier. Da die Religion mit dem Lebensganzen eins ist, wäre es nahezu sinnlos, von Religionsgründern zu reden. Es gibt allerdings Staatengründer, um die herum sich ein Kult und eine religiöse Mythologie gebildet haben, so daß sie ein wesentlicher Bestandteil der religiösen und weltanschaulichen Lebenshaltung des betreffenden Volkes sind. Diese Entwicklung wollen wir mit zwei Beispielen belegen. Für die Schilluk ist Njikang der Begründer der Nation, ihr erster König, Kulturheros und Mittelpunkt aller religiösen Tätigkeit. Er soll „verschwunden" anstatt gestorben sein und wird für unsterblich gehalten. Er versieht nun das Amt des großen Mittlers zwischen den Schilluk und Gott und soll irgendwie an Gott Anteil haben. Die Menschen richten ihre Gebete an Gott über Njikang und kennen insbesondere ein Gebet, welches ihnen angeblich Njikang selbst beigebracht hat. Gott und Njikang sind im Denken und Tun dieses Volkes eng verknüpft. Njikang wird dem All, und das All wird Njikang gleichgesetzt. Man sagt, die Schilluk verstünden den abstrakten Begriff „Gott" durch ihr Begreifen des weniger abstrakten Njikang. Die Ahnenreihe 21
iS»
B. Bernardi: The Mugwe, a Failing Prophet, Oxford 1959.
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Njikangs läßt sich auf einen Mann zurückverfolgen, der vom Himmel herabkam oder von einer besonderen Schöpfungstat Gottes herrührte.22 Die Sonjo führen ihr religiöses Leben und das gesamte Leben ihres Volkes auf eine Gestalt zurück, die Khambageu heißt. Ihren Mythen zufolge erschien Khambageu vor vielen Jahren „elternlos" ganz einfach unter dem Volke. Er lebte unter ihnen, vollzog wunderbare Rrankenheilungen, öffnete den Blinden die Augen, sorgte für reichliche Ernten und erweckte gar Tote auf. Er wirkte auch als Richter, der Streitfälle schlichtete, und ging von Dorf zu Dorf, wo er jeweils eine Zeitlang lebte. Wenn die Menschen seiner überdrüssig wurden, mißhandelten sie ihn und versuchten gar, ihn zu töten, wodurch er gezwungen wurde, in andere Dörfer zu fliehen. Endlich alterte er, ging in sein Haus und starb. Vor dem Sterben hatte er die Leute angewiesen, seinen Leichnam in einem bestimmten Dorf zu begraben oder ihn auf einem Felsen an der Sonne trocknen zu lassen. Diese Leute begruben ihn jedoch nicht, wo er begraben sein wollte, sondern legten ihn in einem anderen Dorf zu Grabe. Als dies bekannt wurde, gingen die Bewohner des Dorfes, in dem er hätte begraben werden sollen, hin um seinen Leichnam zu verlangen. Sie gruben das Grab auf, fanden es aber leer. Nur die Sandalen, die Khambageu getragen hatte, fanden sie. Es ward berichtet, einige Leute hätten ihn aus dem Grabe erstehen und zur Sonne fliegen sehen. Dies ist der Mythos Khambageus, der nun eng mit Gott in Verbindung gebracht und ihm gleichgesetzt wird. Er soll die Himmel regieren und die Sterne zu Kindern haben. Das religiöse Leben der Sonjo dreht sich um ihre Khambageulegenden. Sie haben heilige Stätten, Bäume, Tempel, Traditionen und Sitten, die sich auf sein Leben beziehen, und räumen ihm eine zentrale Stellung im Leben der Nation ein. Die Parallelen zwischen dem Leben Khambageus und dem Leben Jesu stechen ins Auge, doch weist Gray nachdrücklich darauf hin, daß die Geschichte Khambageus nicht durch christlichen Einfluß oder kulturelle Berührungen in neuerer Zeit entstanden ist. 23 Trotz gewisser Ähnlichkeiten 22
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E. E. Evans-Pritchard: The Divine Kingship of the Shilluk of the Nilotic Sudan, Cambridge 1948, S. 1 7 , 2 1 ; G. Lienhardt: „ T h e Shilluk of the Upper N i l e " in African Worlds, Hsg. D . Forde, 1954, S. 146, i 4 9 f . R . F. Gray: The Sonjo of Tanganyika, 1963, enthält eine vollständige B e handlung des Themas, doch findet man eine kürzere Darstellung im A u f satz desselben Autors: „ S o m e Parallels in Sonjo and Christian M y t h o l o g y " , in African Systems of Thought, Hsg. M . Fortes und G. Dieterlen, 1965, S. 49—61.
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sollte nicht die Tatsache in Abrede gestellt werden, daß hier auffallende und bedeutsame Abweichungen von der biblischen Geschichte vorhegen und daß das religiöse Leben der Sonjo keine Form angenommen hat, die der christlichen Kirche irgendwie nahekäme. Da aber Khambageu völlig im religiösen und völkischen Leben der Sonjo aufgegangen ist, kommt ihm am ehesten der Doppeltitel eines Religionsstifters und Staatsgründers zu. Der Mythos von Khambegeu steht bei den afrikanischen Völkern einzig da. Dabei haben viele Völker hervorragende Nationalhelden historischen, mythologischen oder gemischten Ursprungs, und einige von diesen werden als Gottheiten, d. h. religiöse Gestalten verehrt. Vielfach erfüllen diese eine Mittlerfunktion und versinnbildlichen den Ursprung und die Einheit der Nation. Religiöse Reformer, Missionare oder offizielle Verbreiter traditioneller Religion und Weltanschauung kommen nicht vor. Bei einigen Völkern gab es allerdings Führer, die zu ihrer Zeit Neuerungen, bisher unbekanntes kulturelles Ideengut, Veränderungen oder Maßnahmen einführten, welche allesamt religiöse Folgen hatten. Diese Veränderungen zielten jedoch in erster Linie auf das nationale Leben als Ganzes hin und konnten daher keine rein religiösen Zwecke verfolgen. Die in ihnen enthaltenen religiösen Elemente waren auf die Tatsache zurückzuführen, daß die Religion das ganze Leben durchdringt. Wir kennen jedoch die Geschichte traditioneller Religionen nicht gut genug, um mit Sicherheit feststellen zu können, welche religiösen Wandlungen erfolgt sind und ob es eigentliche R e former gegeben hat oder nicht. Hiermit hätten wir die religiösen „Spezialisten" bei afrikanischen Völkern vorgestellt. Die von uns gegebene Liste ist jedoch nicht vollständig und die Diskussion nicht erschöpfend. Man könnte z. B. Familienund rituelle Älteste, Operateure bei Einweihungsriten und Personen wie Zwillinge, Bucklige und Geisteskranke erwähnen, die infolge biologischer und milieubedingter Umstände mit religiöser Ehrfurcht betrachtet und achtungsvoll behandelt werden. Auch sie spielen eine wenngleich inoffizielle Rolle als „Spezialisten", teils durch ihre tatsächlichen Handlungen und teils auf Grund der religiösen Haltung, die die Gemeinschaft ihnen gegenüber einnimmt. Sie gehören zum religiösen Milieu in der afrikanischen Gesellschaft. Die „Spezialisten" sind in der Tat die Wahrer religiösen Wissens, religiösen Brauchtums und damit des gesamten religiösen Lebens der Gemeinschaft. Durch sie erhält die Geschichte der traditionellen Gesell-
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schaft Afrikas ihren sakralen und religiösen Charakter. Die „Spezialisten" sind die symbolischen Berührungspunkte zwischen der historischen und der spirituellen Welt. Auf ihnen beruht die Stetigkeit und das Wesen afrikanischen Lebens und Denkens. Sie sind die Männer, Frauen und Kinder, deren heilige Gegenwart in der Gesellschaft ihr Leben und das der Gemeinde zu einem zutiefst religiösen Erlebnis gestaltet. Jedes Dorf liegt im Wirkungsbereich eines oder mehrerer solcher „Spezialisten". In ihnen konkretisiert sich die Teilnahme des Menschen am religiösen Universum. Ohne sie würde die afrikanische Gesellschaft dieses religiöse Phänomen aus dem Auge verlieren und jeden Kontakt zu ihm einbüßen. Die afrikanische Religiosität weiß ihre Gegenwart in jeglicher Gemeinde zu schätzen, und daraus ergibt sich die Möglichkeit, daß ein einziger „Spezialist" in mehr als einer Eigenschaft in Erscheinung tritt.
MYSTISCHE KRAFT, MAGIE, HEXEREI UND ZAUBEREI Über das Thema Magie und Hexerei in Afrika liegt eine große Menge Literatur vor.1 Man ist jedoch unangenehm berührt, wenn man sieht, wieviel Unwissenheit, Vorurteile und Fälschungen in den Büchern, Zeitungen und Unterhaltungen unserer Zeitgenossen zum Ausdruck kommen. Die Diskussion findet zwischen zwei gegnerischen Lagern statt. Im größeren Lager befinden sich jene, die gröbste Unkenntnis, irrige Ideen, übertriebene Vorurteile und eine abschätzige Gesamthaltung an den Tag legen, um den Begriff der mystischen Kraft herabzusetzen und zu schmähen. Das andere, kleinere Lager ist durch ein paar Gelehrte vertreten, die die Ansichten der Afrikaner über diese Kraft, die Ängste, die sie auslöst, sowie ihre Anwendung und Handhabung durch einheimische Spezialisten durchaus ernstnehmen. Die meisten Zerrbilder sind durch europäische und amerikanische Schriftsteller, Missionare und Ko1
Z . B . E. E. Evans-Pritchard: Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande, Oxford 1937, E. G. Parrinder: Witchcraft, Penguin, London 1958, J . Middleton und E. H . Winter, Hsg.: Witchcraft and Sorcery in East Africa, London 1963, H. Debrunner: Witchcraft in Ghana, Kumasi 1959, G . Bloomhill: Witchcraft in Africa, Kapstadt 1962, dazu die verschiedenen anthropologischen und soziologischen Werke, die Abschnitte über Magie enthalten.
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lonialbeamte entstanden. Jeder Afrikaner, der im traditionellen Lebensbereich aufgewachsen ist, wird zweifellos etwas über diese mystische Kraft wissen, die sich oft in Gestalt von Magie, Weissagung, Hexerei und geheimnisvollen Phänomenen kundtut, welche den nahehegenden wissenschaftlichen Erklärungen zu spotten scheinen. Ich werde dies mit ein Paar Schilderungen illustrieren und dann einige allgemeine Bemerkungen machen. Als ich noch ein Schuljunge war, fiel ein Heuschreckenschwarm in meine Heimat ein. Ein älterer Mann, der unser Nachbar und obendrein mit uns verwandt war, verbrannte auf seinem Feld eine „Medizin", um die Heuschrecken fernzuhalten. Innerhalb weniger Stunden hatten diese praktisch jedes Fleckchen Grün — Gras, Bäume und Saaten — kahlgefressen und waren in großen Schwärmen wieder fortgeflogen. Jeder war voll Kummer und Entsetzen über die große Tragödie, die uns befallen hatte, denn Heuschreckeneinfälle bedeuten immer, daß alle Nahrung zerstört wird und die Menschen einer Hungersnot entgegengehen. In unserer Gemeinde verbreitete sich jedoch die Kunde, daß die Heuschrecken im Feld unseres Nachbarn, der „Medizin" verwandt hatte, die Saaten überhaupt nicht angerührt hätten. Ich ging hin, um mich selber zu überzeugen und stellte fest, daß seine Saaten tatsächlich unversehrt gebheben waren, während die Felder seiner Nachbarn völlig verwüstet dalagen. Ich hatte davon gehört, daß verschiedene Leute Antiheuschreckenmedizin besäßen, aber dies war der erste Mensch, von dem ich wußte, daß er solche Medizin tatsächlich verwendet hatte, dazu mit positivem Ergebnis. In dem Buche Ju-Ju in My Life (1966) gibt der Autor, J. H. Neal, eine Darstellung seiner Erfahrungen mit mystischen Kräften in Ghana, wo er zehn Jahre lang — bis 1962 — Hauptkommissar bei der Kriminalpolizei war. Neal, der Engländer ist, sah diese Kräfte am Werk, bekam sie am eigenen Leib zu spüren und bekämpfte sie, bis er schließlich selber zu ihnen Zuflucht nehmen mußte. Nur wenige Europäer haben je solche Dinge in Afrika erlebt und würden sie wohl auch nicht für möglich halten. Wir wollen diesem Buch zwei Schilderungen entnehmen. Während der Bauarbeiten am neuen, modernen Hafen in Tema bei Accra begann unter geheimnisvollen Umständen Baumaterial und Ausrüstung zu verschwinden. Berichte darüber erreichten Neal, der hinging, um die Sache zu untersuchen. Die Arbeiten fanden unter europäischer Aufsicht statt, und Neal gab einem der Aufseher Ratschläge,
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Mystische Kraft, Magie, Hexerei und Zauberei
wie man bessere Sicherheitsmaßnahmen gegen Diebstahl treffen könnte. Als er weggehen wollte, beklagte dieser Aufseher sich bei ihm, daß ein Baum ihm Kopfzerbrechen bereite. Neal ging hin, um den Baum zu sehen, und fand ihn allein in einer großen Einfriedung stehend, w o alle anderen Bäume und Sträucher bereits gerodet worden waren. Es war ein unscheinbarer Baum. Der Aufseher berichtete Neal, es sei ihm mit seiner ganzen mechanischen Ausrüstung nicht gelungen, den Baum auszureißen. Der afrikanische Vorarbeiter wies beharrlich darauf hin, daß es sich um einen „magischen" Baum handele, der nur entfernt werden könne, wenn der ihm innewohnende Geist sich dazu bereitfände, ihn zu verlassen und in einen anderen Baum umzuziehen. Ein traditioneller „Priester", wahrscheinlich ein Wahrsager, wurde herbeigerufen. Er verlangte, man solle dem Geist drei Schafe und drei Flaschen Gin opfern. Sein eigenes Honorar belief sich auf hundert Pfund — über 1100 Mark. Als das Blut der getöteten Schafe am Fuße des Baumes vergossen worden war, wozu der Gin als Trankopfer am. Wurzelansatz hinzukam, wurde der Wahrsager zum Medium und unterhielt sich mit dem Geist. Er überredete ihn, den Baum zu verlassen und in einen anderen, noch besseren Baum umzuziehen. Als der Ritus zu Ende war, kommandierte der europäische Aufseher Traktoren und Raupenschlepper zum Entwurzeln des Baumes herbei, aber derWahrsager gebot ihm, innezuhalten und sagte, ein paar afrikanische Arbeiter könnten dem Baum ausreißen. Das taten sie denn auch zum Erstaunen der europäischen und zur Genugtuung der afrikanischen Zuschauer mit der größten Leichtigkeit.2 Weitere Erlebnisse solch geheimnisvoller Art überzeugten Neal, daß an diesen Kräften und den damit verbundenen Anschauungen etwas Wahres sein mußte. Er wurde selber zum Gegenstand von Angriffen v o n Seiten der Magier u n d m u ß t e Gegenmaßnahmen ergreifen,
um sich davor zu schützen. In einem anderen Kapitel berichtet er, wie seine Feinde Kräfte zum Angriff auf ihn aussandten. Da er aber bereits unter dem Schutz einer von afrikanischen Experten bereiteten „Medizin" stand, kam er nicht zu Schaden. Anstattdesssen spaltete die mystische Kraft zwei große Bäume vor seinem Hause. Er erlitt nur ein Jucken am Körper, das durch medizinische Behandlung im Hospital nicht geheilt werden konnte, aber durch einen traditionellen Medizinmann behoben wurde. A n anderer Stelle berichtet er, wie ein Magier 2
J. H. Neal: Ju-Ju in My Life, London 1966, S. 19—24.
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eine Schlange aussandte, um ihn zu töten. Diese gelangte an sein Haus, als er und zwei afrikanische Diener gerade den Körper einer Kobra betrachteten, die sie draußen getötet hatten. Die zweite Schlange war jedoch eine „magische" Schlange. Als sie sich dem Hause näherte, hielt sie plötzlich inne, als sei sie auf eine unsichtbare Mauer gestoßen. Neal schreibt, dies sei genau an der Stelle gewesen, wo rings um sein Haus herum „Medizin" im Boden vergraben worden war, um ihn zu beschützen. Beim Anblick der Schlange erkannten die Diener sofort, daß es eine „magische" Schlange von todbringender Giftigkeit war, gegen deren Biß es kein Heilmittel gab. Sie sagten ihm, die Schlange würde nicht bluten, wenn man sie tötete, aber er glaubte es ihnen nicht. Da nahmen sie ihre Buschmesser und schlugen der Schlange den Kopf ab. Zu seinem Erstaunen kam kein Tropfen Blut aus dieser magischen Schlange.3 Ende 1967 erzählte ein Freund, den ich seit der Schulzeit kenne, meiner Frau und mir, daß ein älterer Mann, mit dem er ernstlich Streit gehabt habe, Schlangen ausschicke, um seine ganze Familie zu töten. Herr M. sagte, zweimal innerhalb kurzer Zeit seien Schlangen in sein Haus geschlichen und bis zu den Betten seiner Kinder vorgedrungen, während diese nachts schliefen. Glücklicherweise wurden sie getötet, bevor sie die Kinder beißen konnten. Herr M. beschloß, etwas zu unternehmen. Was es war, wollte er uns zuerst nicht verraten, da er befürchtete, als Geistlicher würde ich ihn „verurteilen". Als er zu Weihnachten nach Hause aufs Land ging, befragte er einen Medizinmann und Spezialisten, der ihm Anweisungen gab, welches Ritual er vollziehen müsse, um die Schlangen zu töten, die das Leben seiner Familie bedrohten. Herr M. tötete einen Hahn und hielt sich genau an die Anweisungen des Medizinmannes. Am nächsten Morgen waren sieben Schlangen vor der Haustür versammelt, wo er das Hahnenblut vergossen hatte. Er konnte sie in aller Ruhe töten, und seit der Zeit sind seine Frau und Kinder im Hause nicht mehr von Schlangen behelligt worden. Bloomhill erzählt in ihrem Buch Witchcraft in Africa die Geschichte einer europäischen Farmerin in Rhodesien, deren nächster Nachbar ein europäischer Farmer war. Beide waren unverheiratet und schienen zueinander zu passen. Der Mann machte der Frau einen Heiratsantrag, der angenommen wurde. Eines Abends besuchte sie ihn unerwartet 3
Neal, S. 77—85. Berichte von weiteren Vorfällen lese man in diesem Buch
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Mystische K r a f t , M a g i e , Hexerei und Zauberei
und stellte zu ihrer Erbitterung fest, daß er sich mit seiner afrikanischen Magd eingelassen hatte. Zornentbrannt nannte sie die Magd eine „dreckige schwarze Hündin" und brach die Verlobung ab; ihren Verlobten wollte sie nie mehr wiedersehen.4 Am nächsten Tag sah die Frau „eine schwarze Hündin und einen weißen Widder" auf ihrer Farm, und wenige Augenblicke später war ihr Hund tot, als sei er von einer Schlange gebissen worden. Zwei Tage später kamen dieselben Tiere, „die schwarze Hündin und der weiße Widder", und drangen in einen Viehkral ein. Wenige Minuten später lag ihre beste Jersey-Kuh mit zerbrochenen Vorderbeinen im Sterben. Die Farmerin wurde von einem Unglück nach dem anderen heimgesucht, und dies geschah jedesmal, nachdem sie „die schwarze Hündin und den weißen Widder" gesehen hatten. Schließlich bestellte sie einen erfahrenen afrikanischen Medizinmann. Dieser bereitete die richtige „Medizin" und folgte von der Farmerin begleitet am nächsten Nachmittag heimlich den beiden Tieren. Die Tiere tauchten in einen nahen Fluß, erschienen wieder an der Oberfläche und gingen zum Haus des europäischen Farmers. Die Frau und der Medizinmann folgten ihnen dorthin und fanden sie noch wassertriefend vor. Aber sie waren keine Tiere mehr. Sie waren der Farmer und seine afrikanische Magd. Der Medizinmann gab ihnen seine „Medizin" aus einem Horn zu trinken und heilte sie von dem unheilvollen Vermögen, sich in Tiere zu verwandeln. Damit hatte auch die Not der Farmerin ein Ende.5 Jeder afrikanische Dorfbewohner könnte eine Unzahl solcher Geschichten erzählen. Für den Außenstehenden hören sie sich mehr nach Dichtung als nach Wahrheit an. Aber die gesamte psychische Atmosphäre des afrikanischen Dorflebens ist vom Glauben an die mystische Macht erfüllt. Die afrikanischen Völker wissen, daß dem Universum außer den Dingen, die unter die im 3. Kapitel beschriebenen Seinskategorien fallen, eine weitere Macht oder Kraft innewohnt, gleich wie man sie nennt. Es ist schwer zu bestimmen, was sie ist und wie sie sich äußert. Auch wenn man Abstriche macht für Zaubertricks, schlichten Betrug, Aberglauben, die Verwendung heimlicher Kommunikationsmittel und andere Weisen geschickter Ausnützung der Naturgesetze, steht man immer noch Phänomenen gegenüber, die nicht wissenschaftlich hin4
Engl, bitch = „Hure".
5
G . Bloomhill: Witchcraft in Africa, Kapstadt 1 9 6 2 , S . i 6 4 f .
„ H ü n d i n " mit der vulgären Nebenbedeutung „ W e i b s s t ü c k " ,
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wegerklärt werden können. Die oben von mir geschilderten Vorfälle sind nicht besonders dramatisch, können jedoch keineswegs als Taschenspielerei oder Fälle von Hypnose abgetan werden. Auch sind sie kaum als das Ergebnis des psychischen Zustandes der sie erlebenden Menschen anzusehen. Soviel mir bekannt ist, gibt es keine afrikanische Gesellschaft, die nicht an die mystische Kraft in der einen oder anderen Form glaubte. Sie zeigt sich in mancherlei Gestalt und wird auf mancherlei Weise erlebt. Im Wort hegt mystische Kraft, insbesondere wenn es von einem Älteren oder sozial Höhergestellten an einen Jüngeren gerichtet wird. Die Worte der Eltern z. B. enthalten „Kraft", wenn sie zu Kindern gesprochen werden. Sie „verursachen" Glück, Erfolg, Fluch, Frieden, Kummer oder Segen, besonders wenn sie in Krisenzeiten geäußert werden. Die Worte des Medizinmanns wirken durch die Medizin, die er verabreicht, und sie sind es, mehr noch als das heilende Kraut, die zur Gesundung führen oder Unheil vereiteln sollen. Förmlich ausgesprochene Flüche oder Segenssprüche haben daher eine äußerst starke Wirkung, und manche Menschen legen große Entfernungen zurück, um einen solchen Segen zu erhalten, während sie zur gleichen Zeit jeder Verfluchung sorgfältig aus dem Wege gehen. Die im vorigen Kapitel besprochenen Spezialisten verfügen sowohl als Individuen wie dank ihres Amtes über beträchtliche mystische Kraft. Es gibt mystische Kraft, die Menschen befähigt, auf feuriger Lohe zu wandeln, auf Nägeln oder Dornen zu hegen, Fluch oder Leid, ja den Tod, aus der Ferne zu senden, sich in Tiere zu verwandeln (Lykanthropie) und durch bloßes Spucken auf eine Schlange diese aufplatzen und sterben zu lassen. Es gibt eine Kraft, die Einbrecher betäubt, so daß sie auf frischer Tat ertappt werden können, und die unbelebte Dinge in biologische Lebewesen verwandelt. Es gibt eine Kraft, die Eingeweihte instand setzt, Geheimnisse, verborgene Informationen, ja die Zukunft zu durchdringen oder Diebe und andere Schuldige zu entlarven. Die Afrikaner wissen das und versuchen auf mancherlei Weise, daraus Nutzen zu ziehen. Aus diesem Grunde tragen sie Amulette, nehmen „Medizin" ein oder lassen sich den Körper damit einreiben. Sie ziehen Fachleute zu Rate, besonders Wahrsager und Medizinmänner, um den verhängnisvollen Auswirkungen dieser Kraft entgegentreten zu können oder um von ihnen mit „Hochspannung" versehene Gegenstände zu erlangen, die dieselbe Kraft enthalten. Einige zahlen sogar unglaubliche Summen, um sich in dieser oder jener Form Zugang zu ihr zu verschaffen.
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Die meisten Menschen, wenn nicht alle, fürchten sie, und viele sind ihr im normalen Leben begegnet. Diese mystische Kraft ist keine Erfindung. Was sie auch sein mag, sie ist Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, mit der die Afrikaner rechnen müssen. Im guten oder im schlimmen Sinne ist ein jeder direkt oder indirekt von den Anschauungen und Tätigkeiten beinflußt, welche sich an diese Kraft knüpfen, besonders wenn sie als Magie, Zauberei oder Hexerei in Erscheinung tritt. Nun können wir also unsere Aufmerksamkeit der Magie, Zauberei und Hexerei zuwenden, ohne jedoch das Thema erschöpfend zu behandeln. Die Magie wird im allgemeinen unter dem Gesichtspunkt der „guten" und „bösen" Magie gesehen. Die Hinzuziehung guter Magie wird von der Gesellschaft als annehmbar und achtbar betrachtet. Vor allem sind es die Spezialisten, und unter ihnen besonders Medizinmänner, Wahrsager und Regenmacher, die ihre Kenntnisse dieser mystischen Kraft zum Wohle ihrer Gemeinschaft einsetzen. Man bedient sich ihrer bei der Behandlung von Krankheiten, als Gegenmaßnahme gegen Unheil und bei der Abwehr, Schwächung oder Zerstörung böser Kräfte oder der Hexerei. Der Wahrsager oder Medizinmann verschafft den Menschen mystische Kraft in Form von Amuletten, Pulvern, Lappen, Federn, Figuren, besonderen Beschwörungsformeln oder Einschnitten am Körper. Er verwendet die Kraft zum Schutz von Heim und Familie, Vieh und Feldern und anderem Eigentum. Wenn man ein afrikanisches Anwesen betritt, kann man z. B. einen gabelförmigen Pfosten in der Mitte des Hofes stehen sehen. Vielleicht gewahrt man auch eine Topfscherbe auf dem Dach des Hauses oder ein paar mit Asche gezogene Linien auf der Schwelle, wenn man das Anwesen betritt. Wenn man zum Felde weitergeht, sieht man vielleicht ein Horn aus dem Boden ragen oder eine alte Kürbisflasche an einem Baum hängen. Bei Kleinkindern sieht man häufig, daß sie gewundene Arm- oder Halsbänder tragen, daß ihr Haar abrasiert ist, abgesehen von Haarbüschelchen, die auf den kleinen Kahlköpfen stehengeblieben sind, oder daß die Haarbüschel zusammengeknotet sind. Diese und Hunderte anderer Gegenstände oder Zeichen weisen auf den Glauben des Volkes an die mystische Kraft hin. Einige sind zum Schutze gedacht, während andere bezwecken, Gesundheit, Glück oder Wohlstand zu bringen. Bei vielen afrikanischen Völkern scheut man davor zurück, die Kinder oder den Besitz eines anderen zu loben. Der Grund für dieses Tabu liegt darin, daß die mystische Kraft veranlaßt werden könnte, dem so gepriesenen Kinde oder
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Besitztum den schlimmsten Schaden zuzufügen. Man muß gute Augen haben, um die Bedeutung der Zeichen und Gegenstände, die man im afrikanischen Heim, auf Feldern, Besitzgegenständen und auch am Körper findet, zu „lesen" und zu verstehen. Es gibt zweifellos Leute, die glauben, daß die von ihnen getragenen oder sonstwie verwendeten Gegenstände ihnen Schutz oder Wohlstand verleihen könnten. In einem solchen Falle würde man von Magie sprechen. Andere jedoch glauben, daß die Gegenstände an sich keine eigene Macht besitzen, sondern jene Kraft symbolisieren, die von Gott kommt. Diese Kraft kann direkt von Gott kommen, sie kann aber auch über die Geister bzw. Totenseelen geleitet werden oder der unsichtbaren Naturkraft im Universum entstammen. Amulette und ähnliche Gegenstände können ihre Wirksamkeit verlieren. Der Besitzer muß sich in diesem Falle neue beschaffen oder wenn möglich die alten wie eine Autobatterie wiederaufladen lassen. An diesem Punkt verschmelzen Religion und Magie und lassen sich nicht eindeutig voneinander trennen, wie denn auch dem Christentum und Islam stellenweise noch Magie anhaftet. Manche Leute sparen weder Geld noch Mühe, um diese Art magischen Schutzes zu erlangen und durch magische Mittel zu Reichtum zu kommen. Unter den Talismanlieferanten gibt es echte Experten, während andere um des Gewinnes willen billigen Schund hefern. Der am häufigsten auftretende Spezialist ist der Medizinmann, von dem wir bereits gesprochen haben. Er wendet „gute Magie" an, desgleichen der Wahrsager und der Regenmacher, die sich vorwiegend für das Wohl der Gemeinde einsetzen. Diese Spezialisten sagen, daß die von ihnen erschlossene mystische Kraft letzten Endes von Gott stamme, und wie wir bereits gesehen haben, gehört es zu ihrem Beruf, unmittelbar oder durch Vermittlung der Totenseelen und Geister zu Gott zu beten und seine Hilfe zu erflehen. Mithin handelt es sich hier um „spirituelle" Kraft, die durch physische Mittel erwirkt wird, wobei wir uns stets vor Augen halten müssen, daß die beiden Welten für die afrikanischen Völker ein einziges Universum bilden. Die Geister haben leichter Zugang zu dieser Kraft als die Menschen. Dieser Umstand steigert vielleicht den hohen Rang, den man den Verstorbenen einräumt, auch wenn sie als Kinder hinwegerafft wurden, denn nach dem Tode treten die Totenseelen in eine höhere „dynamische"Seinsstufe ein als die Lebenden. In der Regel dürften jüngere Leute wohl kaum je versuchen, die mystische Kraft gegen ältere Mitglieder ihrer Gesellschaft einzusetzen
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es sei denn, sie handelten in Notwehr. Je älter ein Mensch und je hervorragender sein sozialer Rang ist, desto höher veranschlagt man auch die mystische Kraft, über die er kraft seiner Persönlichkeit oder durch den Besitz krafthaltiger Amulette und ähnlicher Gegenstände verfügt. Im Vorübergehen sei erwähnt, daß es in einigen der christlichen Abfallkirchen, insbesondere im südlichen und westlichen Afrika, Männer und Frauen gibt, die auf den Umgang mit dieser Kraft spezialisiert sind. Zum Wesen der bösen Magie gehört erstens der Glaube an die Verwendbarkeit dieser Kraft zur Schädigung der Menschen und ihres Eigentums und zweitens die Umsetzung dieses Glaubens in die Praxis. Hier finden wir die Zauberei und andere damit verwandte Praktiken am Werk. Wir müssen jedoch darauf hinweisen, daß der Glaube an die böse Magie zum großen Teil von Angst, Argwohn, Eifersüchteleien, Unwissenheit oder falschen Anklagen gespeist wird, die in afrikanischen Dörfern anzutreffen sind. Die Menschen haben Angst, ihre Haare, Nägel, Kleider oder andere Dinge, mit denen sie normalerweise in enge Berührung kommen, irgendwo liegenzulassen, da diese von ihren „Feinden" zu finsteren magischen Machenschaften verwendet werden könnten. Dazu gehört, daß man sie verbrennt, durchsticht oder sonstwie beschädigt, um dadurch die Person, von der sie stammen, in Mitleidenschaft zu ziehen. Eine weitere Angstvorstellung besteht darin, daß man befürchtet, der böse Nachbar könnte einem durch Einritzen der Fußstapfen mit Dornen ein Leid zufügen. James Frazer bezeichnet diesen Vorgang als „ansteckende Magie". Eine andere nützliche Kategorie, die er verwendet, ist die der „homöopathischen Magie", für welche sich in der afrikanischen Gesellschaft endlos Beispiele anführen ließen. Es handelt sich hierbei um den Glauben, daß alles, was mit einem Gegenstand geschieht, der einem anderen ähnlich sieht, den letzteren in Mitleidenschaft ziehe. Z. B. kommt es vor, daß der Feind eines Menschen eine Puppe verfertigt, die diesen Menschen darstellt, und ihm dadurch zu schaden glaubt, daß er die Puppe verbrennt oder durchsticht. Diese beiden Kategorien magischer Glaubensvorstellungen und Gebräuche können jedoch auf gute wie böse Weise Verwendung finden. Nur wenn sie in böswilliger Absicht verwendet wird, verurteilt man die mystische Kraft als „schwarze Magie", „böse Magie" oder „Zauberei".
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Der Begriff „Zauberei"setzt streng genommen die Verwendung von Giftstoffen voraus, die jemandem in Speise oder Trank gegeben werden. Dies ist jedoch lediglich eine akademische Spitzfindigkeit. Für die afrikanischen Völker bedeutet Zauberei den antisozialen Gebrauch mystischer Kraft. Zauberer sind die meistgefürchteten und bestgehaßten Mitglieder der Gemeinschaft. Man lebt in ständiger Furcht, sie könnten sich aller erdenklichen Mittel bedienen, um ihre Mitmenschen oder deren Hab und Gut zu schädigen. Sie schicken z. B. Fliegen, Schlangen, Löwen oder andere Tiere aus, um ihre Gegner anzugreifen oder mit Krankheiten zu behaften, sie spucken aus und heißen den Speichel unter heimlichen Beschwörungen, jemandem Schaden zuzufügen, sie wühlen Gräber auf, um Menschenfleisch oder Menschenknochen für ihre üblen Zwecke zu fleddern, sie beschwören Geister, andere Menschen anzufallen oder Besitz von ihnen zu ergreifen. Der Afrikaner ist zutiefst davon überzeugt, daß all die vielen Übel, Unglücke, Krankheiten, Tragödien, Unfälle, Kümmernisse und unseligen Geheimnisse, denen sie sich gegenübersehen, durch mystische Macht in der Hand eines Zauberers oder Hexenmeisters verursacht werden. So können wir es z. B. verstehen, daß eine Mutter, die ihr Kind durch Malaria verloren hat, sich nicht mit der wissenschaftlichen Erklärung zufrieden gibt, ein mit Malariaparasiten behafteter Moskito habe das Kind gestochen und ihm Leiden und Tod gebracht. Sie möchte in Erfahrung bringen, warum der Moskito gerade ihr Kind und nicht das einer anderen Mutter gestochen hat. Die einzige befriedigende Antwort ist, daß „jemand" den Moskito geschickt oder sonstwie böse Magie gegen ihr Kind eingesetzt hat. Das ist zwar keine wissenschaftliche Antwort, ist aber für die Mehrzahl der afrikanischen Völker eine Realität. Wir können uns vielleicht der Moskitos ohne weiteres entledigen und dadurch viele Krankheiten verhüten, aber es wird immer Unfälle, Unfruchtbarkeit von Frauen, Mißgeschicke und andere unangenehme Geschehnisse geben. Für die Afrikaner sind dies keine rein physischen Erfahrungen. Es sind mystische Erfahrungen, denen ein tiefer religiöser Sinn innewohnt. Die Leute auf den Dörfern reden offen darüber, denn diese Dinge gehören ihrer realen Welt an, mögen die Wissenschaftler und Theologen sagen, was sie wollen. Nichts Übelbringendes geschieht „durch Zufall", alles wird von irgend jemandem entweder direkt oder mit Hilfe der mystischen Kraft verursacht. Wenn man die Ohren offenhält, kann man hören, wie in jedem Dorf Leute namentlich für Unglück, Krankheit, Unfälle und andere Formen des Leidens verantwortlich gemacht werden.
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Mystische Kraft, Magie, Hexerei und Zauberei
Meist wird Frauen, die Schuld an. dem Übel, das anderen zustößt, zugeschoben. Manche Frau hat schon unter solchen Anschuldigungen gelitten und wird auch weiterhin darunter leiden. Von den Zauberern, bösen Magiern, Hexen und gelegentlich Medizinmännern und Wahrsagern, die für solche Praktiken gewonnen werden, glaubt man, daß sie Fliegen, Fledermäuse, Vögel und andere Tiere sowie Geister und magische Gegenstände (wie die magische Schlange, die nicht blutet) aussenden, um ihre Zwecke zu erreichen. Sie richten mit dem „bösen Blick" Schaden an, sie vergraben Medizin an einer Stelle, an der das Opfer vorbeigehen muß, sie verstecken in seinem Haus oder auf seinem Feld magische Gegenstände oder senden ihm aus der Entfernung den „Tod". Vielleicht auch verwandeln sie sich selber in Tiere, u m ihre Opfer anzugreifen, oder sie plazieren eine schädliche Medizin dort, wo das Opfer ihrer Berechnung nach damit in Berührung kommen muß. All dies bedeutet, daß sich die Leute auf den Dörfern nicht völlig sicher fühlen können. Es bedeutet weiterhin, daß auch das geringste Ungemach und der geringfügigste Kummer dem Mißbrauch mystischer Kraft zugeschrieben werden. Aus diesem Grunde wenden sich die Menschen an Medizinmänner und Wahrsager, um von ihnen magische Gegenstände zu Schutzzwecken zu erhalten. Das dieser Verhaltensweise zugrunde liegende Prinzip ist, daß der gute Gebrauch dieser Kraft ihrem bösen Gebrauch entgegenwirken und dem Verwender relative Sicherheit bescheren wird, solange seine „Medizin" möchtiger ist als die seines Widersachers. Amulette, Medizin, die entweder eingenommen oder eingerieben wird, Gegenstände auf dem Dach oder auf den Feldern, Einschnitte, Knoten und viele andere sichtbare und unsichtbare, geheime oder offen zur Schau getragene Sicherheitsmaßregeln werden bei allen Völkern in ernster religiöser Absicht angewandt, um ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit zu schaffen, das Bewußtsein, unter starkem Schutz zu stehen. Aus dieser Perspektive heraus geht uns die Bedeutung der Wahrsager und Medizinmänner auf, die neben der Beschaffung von Gegenständen zum Schutz und zur Heilung auch Reinigungsriten für Menschen und Wohnstätten, welche dem Angriff der mystischen Kräfte ausgesetzt waren, vollziehen können. Sie verabreichen auch Medizin zur Heilung oder „Abkühlung" von Menschen, die des Mißbrauchs mystischer Kraft für böse Zwecke verdächtig sind. Früher wurden solche Übeltäter von ihrer Gemeinschaft hart bestraft. Sie wurden mit Steinen beworfen, geschlagen, zur Zahlung von Sühnegeld gezwungen oder mußten ihre Taten gar mit dem Tode
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büßen. Auch heute noch kann man ziemlich oft in der Zeitung lesen, daß Leute, die im Geruch standen, böse Magie geübt zu haben, tätlich angegriffen und gelegentlich auch umgebracht worden sind. Eine moderne Tendenz im Gebrauch mystischer Kraft tritt in der Tätigkeit der sogenannten Geldverdoppler in Erscheinung. Diese U n wesen ist im westlichen Afrika bezeugt, kann aber genau so gut auch anderswo auftreten. Die Geldverdoppler betrügen Leute, indem sie sie auffordern, an einer bestimmten Stelle Geldbeträge zu hinterlegen und ihnen versprechen, das Geld auf wundersame, magische Weise zu verdoppeln und nach einiger Zeit den Besitzern zukommen zu lassen. Wenn die Leute wiederkommen, um ihr Geld abzuholen, finden sie die Beutel oder Schachteln entweder leer oder mit Stand, Blättern, Steinen und anderem wertlosem Zeug gefüllt vor. Es verlautet, daß auch gebildete Leute, unter ihnen Pastoren, den Geldverdopplern auf den Leim gehen. Der Ausdruck „Hexerei" wird von Anthropologen und Soziologen in einem ganz bestimmten Sinne verwandt. Nach ihrer Auffassung sind Hexen — bei denen es sich meist um Frauen handelt — Menschen, denen eine Kraft innewohnt, vermittels derer sie nachts ihren Körper verlassen und sich mit anderen Hexen treffen können, oder die es vermögen, das Leben ihrer Opfer „auszusaugen" oder „auszuzehren". Einige Völker, z. B . die Zande, sind imstande, die genaue Stelle im Körper einer Hexe anzuzeigen, an der die „Hexerei" ihren Sitz hat. Wenn wir diesen Sprachgebrauch streng anwenden, stellt sich heraus, daß einige afrikanische Völker einen solchen Hexenglauben überhaupt nicht hegen. Einige Hexen sind sich zudem nicht der Tatsache bewußt, daß sie Hexen sind. Folglich erscheint die Hexerei als ansteckende oder erbliche Tendenz. Einige Frauen haben sich selbst im Verdacht, Hexen zu sein, sind es aber nicht. Es kann vorkommen, daß sie sich, ohne es zu wollen, zumindest körperlich, mit anderen „Hexen" nachts treffen, um Pläne zu schmieden oder Erfahrungen auszutauschen. Ich gebe zu, daß dieser Teil meiner Informationen nach freier Erfindung klingt, und es könnte sich durchaus herausstellen, daß er äußerst schwer zu beweisen ist. Im volkstümlicheren, erweiterten Sinne bezeichnet der Ausdruck Hexerei jeglichen Mißbrauch mystischer Kraft zu bösen Zwecken, was meist im geheimen geschieht. Die afrikanischen Völker kennen kaum die eigentlich recht akademische Unterscheidung zwischen Hexerei, 17
Mbiti, Afrikanische Religion
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Mystische Kraft, Magie, Hexerei und Zauberei
Zauberei, böser Magie, dem bösen Blick und anderen Arten des U m gangs mit mystischer Kraft zum Schaden von Mensch oder Eigentum. Gewöhnlich findet man in Afrika ein einziges Wort zur Bezeichnung dieser verschiedenen Begriffe, wie sie in europäischen Sprachen vorkommen, und ein und dieselbe Person wird verdächtigt oder beschuldigt, von dieser oder jener Möglichkeit, seine Mitmenschen zu schädigen, Gebrauch gemacht zu haben. Ich neige dazu, die Ausdrücke „Hexe" oder „Hexerei" im erweiterten, volkstümlichen Sinne zu verwenden, denn hier trennen sich vielleicht die Wege des Theologen und des Anthropologen. Es fällt einem auf jeden Fall leichter, von „Verhexung" zu sprechen als von „Vermagisierung" oder dergleichen, um die Verwendung mystischer Kraft zum Schaden anderer zu bezeichnen. Welche Terminologie sich auch schließlich durchsetzen mag, es steht absolut fest, daß die afrikanischen Völker an das Vorhandensein von Individuen glauben, die Zugang zur mystischen Kraft haben und sie für zerstörerische Zwecke verwenden. Im nichtwissenschaftlichen Lebenskreis kann ein solcher Glaube nicht von Furcht, Unwahrheit, Übertreibung, Argwohn, freier Erfindung und Irrationalität frei sein. Wie auch immer die Realität der Hexerei aussehen mag, das Vorhandensein des Hexenglaubens in jedem afrikanischen Dorf läßt sich jedenfalls nicht bestreiten. Feststeht auch, daß er einen jeden Menschen angeht, ob nun im guten oder schlechten Sinne. Er ist ein Teil des religiösen Glaubensgefüges. Z u m Schluß dieses Kapitel wollen wir ein paar Hauptpunkte zusammenfassen. Die afrikanischen Völker sind sich einer mystischen Kraft im Universum bewußt. Diese Kraft stammt letzten Endes von Gott, wohnt jedoch in der Praxis physischen Gegenständen und Geistwesen inne bzw. geht von ihnen aus. Das bedeutet aber, daß das All nicht statisch oder „tot" ist. Es ist im Gegenteil ein dynamisches, „lebendiges" und krafterfülltes All. Der Zugang zur mystischen Kraft ist hierarchisch geregelt in dem Sinne, daß Gott absolut über sie gebietet, die Geister und Totenseelen Teile von ihr besitzen und einige Menschen sie in beschränktem Maße abzweigen und nützen können. Jede Gemeinschaft erfährt diese Kraft oder Macht entweder als nützlich und daher willkommen, als neutral oder aber als schadenbringend und folglich böse. Auf der positiven Seite wird die mystische Kraft zum Heil und Schutz, zur Vorbeugung und zu produktiven Zwecken verwandt. Darum tragen die Afrikaner Amulette am Körper und bewahren eine Vielfalt anderer magischer
Der Ursprung und die Natur des Bösen
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Gegenstände unter ihren Besitztümern, in Heim und Feld auf. Die Medizinmänner und Wahrsager sind diejenigen, die sich am besten in der Herstellung, Verteilung und Verwendung dieser als Kraftträger fungierenden Artikel, auch „Medizin" genannt, auskeimen. Auf der negativen Seite dient die mystische Kraft dazu, Seele und Gesundheit der auserwählten Opfer auszuzehren, Menschen anzufallen, Unglück zu verursachen und anderen das Leben zur Hölle zu machen. Die Hexen, Zauberer, bösen Magier und mit dem bösen Blick Behafteten verwenden diese Kraft zu antisozialen Tätigkeiten. Von Zeit zu Zeit unternimmt jede Gemeinschaft eine Aktion gegen die Zauberer und Hexen. Man spürt sie auf, bestraft sie, „kühlt" sie ab, heilt sie und ergreift sonstige Maßnahmen gegen sie. Ein jeder ist ständig vor ihren Freveltaten auf der Hut, mögen sie nun auf Wirklichkeit oder Einbildung beruhen. Viele Leute geben große Summen aus, um sich Zugang zur mystischen Kraft zu verschaffen. Die Menschen, die im Umgang mit ihr die größte Erfahrung haben, verbringen Jahre damit, sich ihr Wissen und ihre Fertigkeiten anzueignen, die zum Teil vor Außenstehenden streng geheimgehalten werden. Solche Experten haben den Umgang mit dem Mysterium des Alls zu einer wahren „Wissenschaft" ausgebaut. Es liegen Berichte über phantastische Erlebnisse und Phänomene vor, die man auf mystische Kraft zurückführt. Einige von diesen widersetzen sich jeglichem Nachvollzug und jeglicher Erklärung durch diemoderne Wissenschaft. Der von uns behandelte Gegenstand — mystische Kraft, Magie, Zauberei und Hexerei sowie die dazugehörigen Glaubensvorstellungen — hat außer der religiösen noch andere Dimensionen. Die sozialen, psychologischen und ökonomischen Aspekte lassen die Diskussion um den Gegenstand noch komplexer erscheinen und erschweren ein rechtes Verständnis. Außerdem ist dieses Thema eng mit dem Problem des Bösen verwandt. Damit wollen wir uns nun befassen.
D E R BEGRIFF DES BÖSEN, ETHIK U N D GERECHTIGKEIT a) Der Ursprung und die Natur des Bösen
Aus unseren früheren Betrachtungen erhellt, daß die afrikanischen Völker ein ausgeprägtes Bewußtsein des Bösen in der Welt zeigen und sich auf mancherlei Weise bemühen, es zu bekämpfen. Uber den Ur17
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Der Begriff des Bösen, Ethik und Gerechtigkeit
sprang des Bösen herrschen mehrere Ansichten. Viele Gesellschaften stellen kategorisch fest, Gott habe das Böse nicht geschaffen, noch füge er ihnen in irgendeiner Form Böses zu. Die IIa z. B. sind der Auffassung, Gott sei immer im Recht: „(Er) kann keiner Verfehlung geziehen, er kann nicht angeklagt oder in Frage gestellt werden... Er tut allen allezeit Gutes". 1 Von einem Aschantipriester wird berichtet, er habe gesagt: „Gott schuf die Möglichkeit des Bösen in der W e l t . . . Er hat in jedem Menschen das Wissen von Gut und Böse erschaffen und ihm erlaubt, seinen Weg zu wählen", ohne ihm Verbote oder seinen Willen aufzuzwingen. Aus verschiedenen Mythen haben wir ersehen, daß bei der ursprünglichen Erschaffung des Menschen durch Gott Harmonie herrschte und eine Familienbeziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf bestand und daß ferner die ersten Menschen lauter Gutes genossen. Nach Auffassung einiger Völker nimmt das Böse in Geistwesen, die aber nicht Gott sind, seinen Ursprung oder wird mit diesen in Beziehung gesetzt. Ein wichtiger Bestandteil dieser Auffassung ist die Personifikation des Bösen selbst. Bei den Vukusu z. B . gibt es eine böse Gottheit, die von Gott ursprünglich gut erschaffen wurde, sich später aber gegen ihn wandte und anfing, Böses zu tun. Dieser bösen Gottheit stehen böse Geister zur Seite, und alles Übel geht nunmehr von ihnen aus. So wird zwischen den guten und bösen Kräften in der Welt eine Art Zweikampf ausgetragen. Es gibt andere Völker, die den Tod, Epidemien, Heuschreckenplagen und andere Katastrophen als eigenständige Gottheiten ansehen oder der Überzeugung sind, sie würden von Gottheiten verursacht. Bei fast allen afrikanischen Völkern ist der Gedanke zu finden, daß die Geister entweder der Ursprung des Bösen oder zumindest dessen Wirkkräfte sind. Wir haben gesehen, daß die Totenseelen nach vier oder fünf Generationen ihre persönlichen Bande zur Menschenfamilie einbüßen und zum ES, zu Fremdlingen werden. Wenn sie des menschlichen Kontaktes enthoben sind, werden sie als „böse" und „schadenbringend" eingestuft und gefürchtet. Zum großen Teil handelt es sich hier einfach um die Angst vor dem Unbekannten, doch glaubt man von einigen fest, daß sie Geisterbesessenheit und verschiedene Krankheiten wie Fallsucht und Irrsinn verursachen. Wenn der Körper einer Totenseele nicht vorschriftsmäßig bestattet worden ist, wenn sie einen Groll hegt, sich vernachlässigt fühlt oder wenn ihre Anweisungen nicht 1
Smith und Dale, S. 199 f., 207, 2 r i .
Der Ursprung und die Natur des Bösen
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befolgt werden, soll sie angeblich Rache nehmen oder die Missetäter bestrafen. In diesem Falle sind es die Menschen, die die Totenseele zu „bösen" Taten herausfordern. Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, daß es in jeder Gemeinde Leute gibt, die im Verdacht stehen, durch Magie, Zauberei oder Hexerei heimtückisch gegen Verwandte und Nachbarn zu wirken. Wie wir bald noch weiter erläutern werden, liegt hier der Schwerpunkt des Bösen, wie die meisten Menschen es erfahren. Die mystische Kraft ist an sich weder gut noch böse. Wird sie aber von gewissen Leuten in bösartiger Weise manipuliert, so wird sie als böse erfahren. In dieser Auffassung gilt das Böse als unabhängiges und äußeres Objekt, das allerdings nicht aus sich selbst heraus handeln kann, sondern von Kraftträgern — Menschen oder Geistern — zur Entfaltung gebracht werden muß. Wie in jeder menschlichen Gesellschaft, so gelten auch bei afrikanischen Völkern soziale Ordnung und sozialer Friede als heiliges und wesentliches Gut. W o das Gefühl für das Gemeinschaftsleben so tief gründet, muß die Solidarität der Gemeinschaft unbedingt gewahrt bleiben, sonst träten Zersetzung und Zerstörung ein. Diese Ordnung wird primär auf der Grundlage von Bluts- oder Verwandschaftsbanden verstanden, wodurch gleichzeitig manche Spannungssituationen entstehen, da jeder mit jedem verwandt ist und sich sozialschädigendes Verhalten besonders verhängnisvoll auswirkt. Wenn ein Mann ein Schaf stiehlt, werden personale Beziehungen sofort in Mitleidenschaft gezogen, weil das Schaf einem Mitglied der Gemeinschaft gehört, das vielleicht der Vater, ein Bruder, eine Schwester oder ein Vetter des Diebes ist. Die Folgen eines solchen Verstoßes gegen die Gemeinschaft hat nicht nur der Dieb, sondern seine gesamte Verwandtschaft zu tragen. Es existieren daher viele Gesetze, Sitten, Verhaltensnormen, Vorschriften, Regeln, Bräuche und Tabus, die den Moralkodex und die ethische Grundlage einer bestimmten Gemeinde oder Gesellschaft bilden. Einige davon werden heilig gehalten und gelten als von Gott oder den Nationalheroen eingesetzt. Sie entstammen dem Samani, wo die Vorväter versammelt sind. Diese Herkunft gibt den Sitten und Vorschriften der Gemeinschaft ihren sakralen Charakter. Jeder Bruch des Verhaltenskodex wird als böse, falsch oder schlecht angesehen, denn er stellt eine Verletzung der gültigen sozialen Ordnung und des sozialen Friedens dar. Er muß daher von der Gemeinschaft der Lebenden und Abgeschiedenen geahndet werden. Auch Gott selber kann strafend eingreifen und Gerechtigkeit walten lassen.
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Der Begriff des Bösen, Ethik und Gerechtigkeit
In den menschlichen Beziehungen wird auf das hierarchische Prinzip, das teils auf dem. Alter, teils auf sozialer Stellung beruht, starker Nachdruck gelegt. In der Praxis läuft dies darauf hinaus, daß eine Stufenleiter von Gott bis zum jüngsten Kinde reicht. Gott ist der Schöpfer und Vater der Menschheit, er hat die höchste Stellung inne und ist die letzte Instanz, auf die man sich berufen kann. Unter ihm stehen die Gottheiten und Geister, die mächtiger sind als der Mensch und von denen einige die Gründer und Vorväter verschiedener Völker waren. Als nächste kommen die Totenseelen, unter welchen wiederum diejenigen an erster Stelle stehen, die sich einst den Initiationsriten unterzogen, geheiratet und Kinder großzogen haben, die also vollwertige Menschen waren. Bei den Menschen umfaßt die hierarchische Ordnung Könige, Herrscher, Regenmacher, Priester, Wahrsager, Medizinmänner, Familienälteste, Eltern, ältere Brüder und Schwestern und schließlich die jüngsten Mitglieder der Gemeinschaft. Die Autorität mehrt sich in aufsteigender Ordnung vom Kleinstkind bis zum Höchsten Wesen und wird als solche anerkannt. Was das Individuum betrifft, so ist die Gemeinschaft, der es angehört, seine höchste Autorität. Diese Autorität ist wiederum so abgestuft, daß sich ein Teil davon in den Händen der Familie oder Großfamilie, ein Teil bei den Ältesten eines bestimmten Bezirks, ein Teil beim Klan und ein weiterer Teil im Volksganzen befindet, welcher letztere je nach Lage der Dinge auf Zentralherrscher übertragen werden kann. Nach Ansicht einiger Völker können sowohl einzelne als auch das Volk in seiner Gesamtheit oder in Gestalt seines Häuptlings oder Königs sich gegen Gott vergehen. Die Rundi z. B. sind des Glaubens, Gott zürne einem Menschen, der Ehebruch begeht. Die Bachwa glauben, daß Gott Menschen bestraft, welche stehlen, ihre betagten Eltern vernachlässigen, Mord oder Ehebruch begehen. Die Venda sagen, daß wenn ihr Häuptling sich an Gott verginge, dieser das gesamte Volk durch Heuschreckenplagen, Überschwemmungen oder andere Katastrophen strafen würde. Die meisten afrikanischen Völker erkennen Gott als den obersten Schutzherrn von Gesetz und Ordnung, von moralischen und ethischen Grundsätzen an. Daher ist der Bruch einer solchen Ordnung, ob er nun von einem einzelnen oder von der Gruppe verursacht wird, letzten Endes ein Verstoß, an dem die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit Schuld trägt. Bevor die Kikuju z. B. Opfer darbringen und um Regen beten, befragen sie erst einen Wahrsager oder Seher, warum Gott es zuge-
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lassen habe, daß eine so lange Dürre über sie gekommen sei. Das Opfertier muß einfarbig sein und von einer Person gestiftet oder gekauft werden, die ehrlich und vertrauenswürdig ist und weder „Mord, Diebstahl oder Vergewaltigung" begangen hat noch „mit Gift (Hexerei) oder Vergiftung irgendwie in Verbindung gebracht werden kann".2 Aus diesem Beispiel wie auch aus den vorhergehenden ersehen wir, daß Mord, Diebstahl und dergleichen als Vergehen gegen Gott betrachtet werden. Die Schuld einer Einzelperson fällt auf ihren ganzen Haushalt, Vieh und sonstiges Eigentum eingeschlossen, zurück. Die Schuldbefleckung des einzelnen wirkt sich kollektiv als Schuldbefleckung all dessen aus, was ihm angehört, mag es sich um Menschen, Tiere oder materielle Güter handeln. Wir haben die Schöpfungsmythen betrachtet und festgestellt, daß der Ungehorsam der Ureltern ihre Nachkommen als Teilhaber an einem gemeinsamen Verstoß gegen Gottes Ordnung in Mitleidenschaft zog, daß also die Strafe, die Gott an ihnen vollzog (Tod, Trennung von Gott, Entzug freier Nahrung, Verlust der Unsterblichkeit und dergleichen) automatisch auf ihre ganze Nachkommenschaft überging. Ein weiteres Beispiel wollen wir nun aus dem Leben der Nuer entnehmen. Bei ihnen kann es als Verstoß gegen Gott gelten, wenn ein Mensch übermäßig stolz auf sein Vieh oder auf seine vielen Kinder ist. Dadurch wird Gott bewogen, ihm das Vieh oder die Rinder wegzunehmen. Bei den Nuer heißt es deshalb: „Es ist das schlimmste Vergehen, ein kleines Kind zu preisen", und die richtige Bezeichnung für das Kind lautet: „dieses schlimme Ding". Die Nuer glauben, daß Gott früher oder später einen Menschen bestraft, der Böses tut und daß die Strafe nicht nur ihn trifft, sondern auch die ganze Gemeinschaft, von der er nur ein Teil ist. Die Lobpreisung eines Kleinkindes kann zu seinem Tode führen, obwohl nicht das Kleinkind der Übeltäter ist, sondern die Person, die Gott gegenüber stolz ist. Wie viele afrikanische Völker haben auch die Nuer verschiedene Verhaltensregeln. Moralische Vergehen, die aus der gewollten oder zufälligen Übertretung dieser Regeln herrühren, bringen sowohl dem Übeltäter als auch anderen für die Verfehlung nicht direkt verantwortlichen Personen Unglück. Für die Nuer liegt das Böse nicht im Akt selbst, sondern in der Tatsache, daß Gott den Akt bestraft.3 Dadurch daß ein Mensch eines bestimmten Vergehens 2 3
Kenyatta, S. 243 f. Evans-Pritchard, II, S. 14 f., 189 f.
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Der Begriff des Bösen, Ethik und Gerechtigkeit
schuldig wird, bringt er sich und andere Menschen in die gefährliche Lage, daß Gott ihn und seine Mitmenschen bestraft. Da die Folgen böse sind, muß auch die Handlung, welche sie heraufbeschwört, böse sein. Die äußeren Symptome weisen nur auf das Böse im Inneren hin, und das äußere Unheil kann andere Leute anstecken, die nahe mit dem Missetäter verwandt sind. So stellt sich nach Ansicht der Nuer die Logik dieses Sachverhalts dar, und es möchte scheinen, daß viele andere afrikanische Völker sich einem solchen Gedankengang anschließen würden. Etwas ist böse, weil es bestraft wird, es wird nicht bestraft, weil es böse ist. Es gibt aber auch Völker, bei denen die Anschauung zu finden ist, daß man sich nicht gegen Gott vergehen kann. Die Ankole z. B . erkennen Gott als das Urprinzip aller Ordnung an, doch kann der einzelne sich nicht an Gott versündigen, noch kann er sich ihm gegenüber schuldig fühlen. 4 Bei den Zande, Akan, Swasi, Ruanda und anderen herrscht die Auffassung, daß Gott keinen Einfluß auf die moralischen Werte der Menschen hat. Es gibt jedoch verschiedenen Arten von Vergehen, die sich nach allgemeiner Ansicht gegen die Geister und Totenseelen richten. Wir haben bereits dargelegt, daß die Totenseelen, und in geringerem Maße auch die Geister, als Mittler zwischen Gott und den Menschen dienen und daß sie die Hüter und Ordnungskräfte von Stammesethik, -moral und -sitte sind. Handelt es sich bei diesen Geistern um die einstigen Gründer oder Vorväter der Nation, so herrscht allgemein der Glaube, daß sie viele der Gesetze und Sitten ihres Volkes begründet haben. Jeder Verstoß gegen diese Sitten ist daher nicht nur ein Vergehen gegen die menschliche Gesellschaft, sondern auch gegen die Geister und Totenseelen. Ein Vergehen ist am schwersten, wenn es sich gegen die Patri archen, Könige oder andere Edle richtet. Wenn keine Maßnahmen zur Abwendung des Frevels getroffen werden, bleibt nur die Bestrafung der Frevler und ihrer Verwandten übrig. Die meisten Vergehen gegen Geister und Totenseelen finden jedoch im Kreise der Familie statt. Daher erfolgt dort die Darbringung von Trank- und Speiseopfern, so daß die Familienmitglieder ein gutes Verhältnis zu ihren verstorbenen Verwandten wahren können. Außerdem wird dadurch das Gemeinschaftsgefühl der beiden Gruppen gestärkt und verhütet, daß der Kon4
F. B . Welbourn in einem Referat anläßlich einer Konferenz über den „ H o c h gott", 1964.
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takt abbricht. Wenn die Totenseelen Forderungen stellen oder Anweisungen geben, werden diese meistens sofort gehorsam befolgt, es sei denn, sie gehen weit über das übliche Maß hinaus. Wir haben den Geschlossenheitscharakter afrikanischer Gemeinschaften betont, die durch ein Netz von Bluts- und Verwandschaftsbeziehungen und anderen sozialen Strukturen eng verknüpft sind. Im Rahmen dieser Situation sieht man fast jede Erscheinungsform des Bösen, das ein Mensch erleidet, als von Mitgliedern seiner Gemeinschaft verursacht an. In ähnlicher Weise ist jeder moralische Verstoß, dessen er sich schuldig macht, direkt oder indirekt gegen Mitglieder seiner Gesellschaft gerichtet. Das hierarchische Prinzip muß hier zur Erklärung hinzugezogen werden. Wenn von einem Vergehen die Rede ist, so bedeutet dies in der Regel, daß eine Person von niedrigem Rang, Stand oder Alter sich gegen einen sozial Höhergestellten oder Älteren vergangen hat. Das Vergehen kann sich auch gegen einen Gleichrangigen richten. Es kommt hingegen kaum vor, daß ein Höhergestellter einer Verfehlung gegen eine tieferstehende Person bezichtigt werden kann. Das Böse oder das als böse und anstößig Geltende wirkt in aufsteigender Linie vom Niedrigeren zum Höheren, und wenn z. B . eine Hexe ein kleines Kind verhext, stellt sie sich durch diese Handlung auf eine niedrigere Stufe als das Kind. So wird also lebensanschaulich das verstanden, was im Rahmen mitmenschlicher Beziehungen das Böse ausmacht. Ein Akt wird nicht aus seinem inneren Wesen heraus als böse gewertet, sondern auf Grund der Frage, wer ihn an wem vollzieht und von welcher R a n g stufe aus er erfolgt. Diesem Prinzip entsprechend kann Gott seiner Schöpfung nichts Böses antun. Wir haben bereits Völker wie die Kamba und Herero erwähnt, die der festen Überzeugung sind, daß sie Gott keine Opfer zu bringen brauchen, weil er ihnen nichts Böses zufügt. Wenn man das Gefühl hat, daß ein Unheil oder eine Katastrophe von Gott geschickt worden ist, so deutet man dies nicht als ein Vergehen Gottes, sondern als eine durch eigene Missetaten heraufbeschworene Strafe. In diesem Sinne können sich im großen und ganzen auch die Geister und Totenseelen nicht gegen die Menschen vergehen, kann der König oder Herrscher sich nicht gegen seine Untertanen, der Alteste in der Dorfgemeinschaft sich nicht gegen jüngere oder ihm unterstellte Personen und können schließlich die Eltern sich nicht gegen ihre Kinder vergehen. Wenn die Eltern etwas tun, was die Kinder verletzt und ein Vergehen gegen sie darstellt, so wird dies von den Kindern nicht als solches emp-
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Der Begriff des Bösen, Ethik und Gerechtigkeit
funden. Vielmehr sind Gemeinde, Klan und Volk oder die verstorbenen Anverwandten die von dieser Verfehlung wirklich Betroffenen, da sie hierarchisch höherstehen als die Eltern. Folglich bestrafen nicht die Kinder selber, sondern die in ihnen gekränkte und beleidigte Gemeinde, der Klan oder die Totenseelen solche Eltern. Soweit das ideale Modell. Wie bei allen Verallgemeinerungen gibt es freilich auch hier Ausnahmen. Wenn der König z. B. gegen die von den Stiftern der Nation begründeten Sitten und Gesetze verstößt, gilt dies als Vergehen gegen seine Untertanen, weil er der althergebrachten Ordnung zuwiderhandelt. In Wirklichkeit vergeht er sich auch gegen die Patriarchen und Heroen der Nation, mithin gegen Wesen einer höheren Rangstufe. Nimmt er jedoch einem seiner Untertanen die Kuh weg, so darf das nicht als Vergehen gegen den Eigentümer der Kuh gewertet werden, denn der König war es, der die Kuh nahm, und er hat das Recht, sie zu nehmen. In dieser eng verknüpften Gemeinschaft, in der die mitmenschlichen Beziehungen sich trotz ihrer Weitläufigkeit so intensiv gestalten, findet man vielleicht die hervorstechendsten Widersprüche des afrikanischen Lebens. Das in Gemeinsamkeit gelebte Leben führt dazu, daß jedes Mitglied der Gemeinschaft in der Augen der anderen Mitglieder in gefährlicher Nacktheit dasteht. Dieses Leben ist paradoxerweise der Schauplatz von Liebe und Haß, Freundschaft und Feindschaft, Vertrauen und Argwohn, Freude und Kummer, großherzigem Zartgefühl und galliger Eifersucht. Es ist Brennpunkt von Sicherheit und Unsicherheit zugleich, und der einzelne wie die Gemeinschaft werden hier integriert oder zerstört. Jeder kennt jeden, und der Mensch kann nicht Individualist, sondern nur Gemeinschaftswesen sein. Jede Form des Schmerzes, Unglücks, Kummers oder Leides, jedes Siechtum und jede Krankheit, jeder Tod, ob der eines alten Mannes oder eines Säuglings, jede Mißernte auf den Feldern, jeder Fehlschlag beim Jagdzug in der Wildnis oder beim Fischzug auf den Gewässern, jedes böse Omen und jeder böse Traum — diese und alle anderen Erscheinungsformen des Bösen, denen der Mensch gegenübersteht, werden irgend jemandem in der Gemeinschaft zugeschrieben. Man mag wohl natürliche Erklärungen finden, aber auch mystische Erklärungen müssen hinzugezogen werden. Für jeden Kummer wird ein Sündenbock geschaffen. Je beschränkter der Radius der Bluts- und Familienbande ist, desto mehr Sündenböcke müssen gefunden werden. Frustrationen, seelische Störungen, emotionale Spannungen und andere Zustände des inneren Menschen werden bereit-
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willig nach außen projiziert und inkarniert, d. h. sie nehmen in einem anderen Menschen Gestalt an oder werden auf Umstände zurückgeführt, die es erlauben, äußere Wirkkräfte für innere Zustände verantwortlich zu machen. Hier finden wir also eine weite Skala von Möglichkeiten für Verstöße eines oder mehrerer Individuen gegen andere innerhalb derselben geschlossenen Gemeinschaft. Der aus intensiven Personalbeziehungen zusammengesetzte Lebenskreis begünstigt ungemein die Entwicklung des Glaubens an Magie, Zauberei, Hexerei mitsamt all den Ängsten, Vorstellungen und Gebräuchen, die dieser Glaube mit sich bringt. Ich bezweifle keinen Augenblick, daß es außermenschliche, spirituelle Kräfte gibt, die manchmal in der menschlichen Geschichte und in der menschlichen Gesellschaft zu wirken scheinen. Jedoch ist der Glaube an die mystische Kraft größer als die Funktionsweisen, die dieser Kraft in der menschlichen Gesellschaft tatsächlich offenstehen. Die afrikanischen Dorfgemeinschaften sind tief von einer psychologischen Atmosphäre durchdrungen, die sowohl wirkliche als auch eingebildete Mächte des Bösen heraufbeschwört. Diese führen zu weiteren Spannungen und Anschuldigungen, zu Eifersucht, Argwohn und Verleumdung und machen wiederum Sündenböcke notwendig: ein wahrer Teufelskreis. Wir wollen uns von der akademischen nun der praktischen Seite des Problems zuwenden, um das Dargelegte zu illustrieren. Innerhalb dieser so intensiv gemeinschaftsbetonten Gesellschaft zeichnen sich endlose Manifestationen des Bösen ab. Dazu gehören Mord, Raub, Notzucht, Ehebruch, Lüge, Diebstahl, Grausamkeit besonders gegen Frauen, Streitsucht, Beschimpfung, Unehrerbietigkeit gegen Personen höheren Ranges, Beschuldigungen wegen angeblichen Ungehorsams und dergleichen. In dieser Atmosphäre gibt es nicht nur düstere oder helle Seiten. Diese Dinge sind schwer zu beschreiben. Man muß sie miterlebt haben oder auf dem Dorfe aufgewachsen sein, um sich eine Vorstellung von der Abgründigkeit des Bösen und seinen Folgen für Individuum und Gesellschaft machen zu können. Der Besucher in einem afrikanischen Dorf kann nicht umhin, sich unmittelbar berührt zu fühlen von der Bereitwilligkeit, mit der die Menschen spontan Gefühle der Freude, Liebe, Freundschaft und Großherzigkeit äußern. U m aber im Lot zu bleiben, muß man sich vor Augen halten, daß die Afrikaner Menschen sind und häufig auch Gefühlen des Hasses und Argwohns, der seelischen Belastung, Angst und Eifersucht ebenso spontan Ausdruck verleihen. Ihrer Natur nach sind die Afrikaner weder Engel noch Teufel,
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Der Begriff des Bösen, Ethik und Gerechtigkeit
aber diese beiden Möglichkeiten sind potentiell in ihnen angelegt und treten entsprechend in Erscheiiiung. Sie können so gütig sein wie die Deutschen, aber sie können auch ebenso mörderisch wie diese sein, sie können so großzügig wie die Amerikaner, aber auch so gierig wie Amerikaner sein, sie können so freundlich wie die Russen, aber auch ebenso grausam wie die Russen sein, sie können so ehrlich wie die Engländer, aber auch genau so heuchlerisch wie diese sein. In ihrer menschlichen Natur sind die Afrikaner den Deutschen, Schweizern, Chinesen, Indern oder Engländern gleich — sie sind Menschen. Nicht nur im sozialen, sondern auch im ritualen Bereich sind Verstöße möglich. Jede afrikanische Gesellschaft hat Vorschriften und Bestimmungen, die alle Riten und Zeremonien regeln. Erfolgt ein Verstoß gegen diese, so muß häufig ein Reinigungsritus vollzogen werden. Wir können hier ein Beispiel von den Kikuju anführen, die zur Reinigung eines Menschen vom ritualen Bösen den Ritus des „Erbrechens der Sünde" vollziehen. Zu diesem Zwecke wird eine Ziege geschlachtet und ihr Mageninhalt ausgenommen. Bei geringfügigeren Anlässen findet der Ritus unter der Leitung eines Ältesten statt, während bei ernsteren Vergehen die Anwesenheit eines Medizinmannes erforderlich ist. Der Mageninhalt wird zuerst mit Medizinen vermischt. Sodann nimmt der als ritualer Amtsträger auftretende Älteste einen Pinsel, mit dem er einen Teil der Mischung auf die Zunge des Missetäters aufträgt, wobei er dessen Vergehen aufzählt. Jedesmal spuckt der Missetäter die Mischung auf dem Boden aus. Danach werden die Wände seines Hauses mit derselben Mixtur bestrichen. Das so gereinigte Haus muß nun abgebrochen werden. Dieser Ritus ist voll einer Symbolik, die unschwer zu erfassen ist.
h) Strafe und
Wiedergutmachung
Die meisten afrikanischen Völker glauben, daß Gott die Menschen in diesem Leben strafe. Folglich kümmert er sich um das moralische Leben der Menschheit und erhält so das moralische Gesetz aufrecht. Von wenigen Ausnahmen abgesehen findet sich nirgends der Glaube, daß der Mensch im Jenseits für seine Missetaten im irdischen Leben bestraft werde. Wenn Strafe eintrifft, dann nur im diesseitigen Leben. Aus diesem Grunde neigt man dazu, das über einen Menschen gekommene Unheil dahingehend auszulegen, daß der Leidtragende eine moralische oder rituale Verhaltensnorm verletzt und Gott, die Geister,
Strafe und Wiedergutmachung
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Ältesten oder andere Mitglieder der Gesellschaft dadurch beleidigt hat. Dies steht nicht im Widerspruch zu dem Glauben, daß jegliches Unglück auf das Wirken einiger Gemeindemitglieder, besonders Magier, Zauberer und Hexen, gegen ihre Mitmenschen zurückzuführen sei. Diese Dorflogik ist im afrikanischen Denken etwas ganz Normales, und obwohl ich sie nicht begreifen kann, akzeptiere ich sie. Die Ruanda und Rundi drücken Gottes Strafmaßnahmen in dem Sprichwort aus: „Gott übt im stillen Rache". 5 Die Nuer stellen einen Zusammenhang zwischen der Krankheit und der ihr zugrunde liegenden Verfehlung her und bringen daher Opfer dar, um der Strafverfolgung Einhalt zu gebieten. „Im einen Falle liegt der Nachdruck auf den Handlungen, von denen aus man erwartungsvoll der Krankheit entgegensieht, um diese bei ihrem Eintreten mit jenen zu identifizieren. Im anderen Falle liegt der Nachdruck auf der Krankheit, von der aus man auf die Verfehlungen zurückblickt, welche sie herbeigeführt haben könnten, auch wenn man keinen Versuch unternimmt herauszufinden, worin sie bestehen".0 Dasselbe ließe sich von vielen anderen afrikanischen Völkern sagen. Jede Gemeinschaft oder Gesellschaft hat ihre eigene bestimmte Form der Wiedergutmachung und Strafe für die verschiedensten Verstöße gegen Gesetz und Moral. Diese reichen von der Todesstrafe für Zauberei, Hexerei, Mord, Ehebruch und ähnlichen Verbrechen bis zur Entrichtung einer Buße in Form von Rindern, Schafen oder Geld in leichteren Fällen, wie z. B. der fahrlässigen Verletzung eines Gefährten oder dem Abfressen von Kartoffelkraut durch entlaufene Schafe in Nachbars Garten. Gewöhnlich befassen sich die Altesten des Bezirks mit Streitfällen und Zwistigkeiten, die sich aus verschiedenen Arten moralischer Schädigung oder Verstößen gegen Sitte und Ritus ergeben. W o es traditionelle Häuptlinge und Herrscher gibt, haben diese die Pflicht, Recht und Ordnung zu wahren und in ihrem Bereich Gerechtigkeit zu üben. Heutzutage gibt es von der Regierung eingesetzte Gerichte die jedoch in manchen Fällen auf die Dienste der Ältesten zurückgreifen und dadurch gewisse Züge des alten, angestammten Rechts bewahrt haben. Eine Sonderform der Rechtsprechung ist der Fluch. Sie beruht auf dem Prinzip, daß dem Verfluchten, falls er wirklich schuldig ist, Übel im Sinne der in der Verfluchungsformel verwendeten Worte wider5 6
Guillebaud in Smith, S. 200. Evans-Pritchard, II, S. 194.
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Der Begriff des Bösen, Ethik und Gerechtigkeit
fahren wird. Man glaubt, durch gute Magie einen unbekannten Dieb oder einen ähnlichen Übeltäter verfluchen zu können. Die meisten Verfluchungen kommen jedoch im Familienkreis vor. Hierbei gilt das Prinzip, daß nur ein hierarchisch Höhergestellter einen niedriger Stehenden mit Erfolg verfluchen kann, und nicht etwa umgekehrt. Sehr gefürchtet ist der von Eltern, Onkeln, Tanten oder anderen nahen Verwandten gegen jüngere Familienmitglieder geschleuderte Fluch. Als schlimmster Fluch gilt jedoch der auf dem Sterbebett ausgestoßene, da es nach dem Tode des Verfluchers praktisch unmöglich ist, ihn wieder rückgängig zu machen. Wenn der Schuldige Reue zeigt und um Aufhebung des Fluches bittet, kann der Verflucher ihn entweder aus eigener Kraft oder in schweren Fällen auf rituelle Weise widerrufen. In afrikanischen Dörfern kursieren viele Geschichten von Flüchen, die sich erfüllt haben, wenn die betreffende Person schuldig war. Wenn jemand dagegen nicht schuldig ist, bleibt der Fluch ohne Wirkung. Ein in aller Form ausgesprochener Fluch ist bei sämtlichen afrikanischen Völkern sehr gefürchtet, und wie die Angst vor der Hexerei, so trägt auch die Angst vor einem solchen Fluch dazu bei, schlechte Beziehungen besonders im Familienkreis in erträglichen Grenzen zu halten. Eine andere Methode, gediegene menschliche Beziehungen zu schaffen oder aufrechtzuerhalten, sind in gebührender Form geleistete Eide. Es gibt Eide, die die Menschen auf mystische Weise aneinanderbinden. Am bekanntesten ist derjenige, welcher die allerdings nur lose definierte „Blutsbrüderschaft" begründet. Bei diesem Eidschwur ist es erforderlich, daß zwei Menschen, die nicht eng miteinander verwandt sind, sich einem Ritual unterziehen, welches oft den Austausch kleiner Mengen Blutes zum Inhalt hat. Das Blut wird entweder getrunken oder in die Haut des Eidespartners eingerieben. Danach betrachten sich die beiden als wirkliche Blutsbrüder oder -schwestern und bleiben für den Rest ihres Lebens einander eng verbunden. Auch ihre Familien werden von diesem Bruderpakt berührt, so daß z. B. ihre Kinder sich nicht miteinander verheiraten können. Dieser Eid erlegt den Eidespartnern große moralische und mystische Verpflichtungen auf, und jeder Bruch des Vertrages, so fürchtet man, bringt Unheil. Ein Eid wird auch geleistet, wenn Menschen sich den sogenannten Geheimgesellschaften anschließen, wenn sie in Durchgangsriten eingeweiht oder in einen Beruf wie die Wahrsagerei eingeführt werden. Daneben gibt es verschiedene Geheimhaltungseide. Oft müssen auch Kinder vor dem Tode ihrer Eltern einen Eid schwören, wenn diese die Kinder streng an ihre Anweisungen binden
Zusammenfassung und Schluß
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oder zur Erfüllung der an sie gestellten Forderungen verpflichten wollen. Die Eidesleistung kann mehr oder weniger folgenschwer sein. Einige Eide sollen im Fall eines Eidbruchs den T o d zur Folge zu haben, während andere nur für eine begrenzte Zeit Unheil und Schmerz in irgendeiner Form mit sich bringen. Die Eidesleistung beruht auf dem Glauben, daß Gott oder eine höhere Kraft, die über dem Einzelmenschen steht, den Eides- oder Vertragsbrüchigen bestraft. W i e Verfluchungen so werden auch Eide mit größter Furcht betrachtet und oftmals auf rituelle Weise und unter großem Kostenaufwand abgenommen. c) Zusammenfassung und Schluß Die afrikanischen Vorstellungen von Moral, Ethik und Gerechtigkeit sind bisher noch nicht vollständig untersucht worden und werden in vielen Büchern entweder überhaupt nicht oder nur im Vorübergehen erwähnt. Zu den wenigen Ausnahmen gehört der Ibadaner Theologe Idowu, der ein ganzes Kapitel seines Buches dem Problem Gottes und der moralischen Werte bei den Joruba widmet. Er legt dar, daß die moralischen Werte f ü r die Joruba von der Natur Gottes selbst herrühren, den sie als den „Reinen König", den „Vollkommenen König" den „Weißgekleideten, der droben wohnt" betrachten und der der „wesenhaft weiße Gegenstand, der weiße Stoff ohne Muster, gänzlich weiß" ist. Der Charakter (Iwa) ist das Kernstück der Jorubaethik. Von ihm hängt sogar das Leben eines Menschen ab. So sagt das Volk z . B . : „ D e m sanften Charakter liegt das Seil des Lebens unzerrissen in der Hand" oder „Guter Charakter ist des Menschen Hüter". Ein guter Charakter tut sich wie folgt kund: durch Keuschheit vor der Ehe und eheliche Treue, Gastfreundschaft, Großzügigkeit (das Gegenteil von Selbstsucht), Güte, Gerechtigkeit, Wahrheit und Rechtschaffenheit als wesentliche Tugenden, durch Vermeidung von Diebstahl, Einhalten von Verträgen und Vermeidung von Falschheit, durch Beschützen der Armen und Schwachen, besonders der Frauen, durch Ehrerbietigkeit älteren Leuten gegenüber und Vermeidung von Heuchelei. 7 Dieser Kalalog ließe sich nach Hinzufügung weiterer guten Charaktereigenschaften auf viele afrikanische Völker anwenden. Er bezieht sich auf den traditionellen Begriff von „Gut" und „Schlecht" oder „Böse", d. h. auf die Moral und das Ethos einer bestimmten Gesellschaft. 7
Idowu, S. 144—68. Vergleiche auch P. Tempels: Bantu-Philosophie, S. 7 5 — 1 0 8 , w o einige seltsam anmutende Schlußfolgerungen zu finden sind.
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W i r können hier zwischen dem „moralisch Bösen" und den „natürlich Bösen" unterscheiden. Das moralisch Böse bezieht sich auf die Handlungen eines Menschen gegen seinen Mitmenschen. Das Sozialverhalten wird von Gesetzen, Sitten, Vorschriften und Tabus bestimmt. Jede Verletzung der Verhaltensnorm ist Ausdruck des moralisch Bösen. D a f ü r lassen sich zahllose Beispiele bei afrikanischen Völkern anführen. Das moralisch Böse ist das Gegenteil der Entwicklung und Bekundung guter Charaktereigenschaften. Tatsächlich können w i r sagen, daß ein Charakter „ g u t " ist, weil er ein Bild guten Verhaltens abgibt. Die Anschauung von moralisch „ G u t " oder „ B ö s e " beruht letzten Endes auf der Natur der interpersonalen Beziehungen in der betreffenden Gemeinschaft. Es gibt fast keine „geheime S ü n d e " ; das äußere Verhalten entscheidet, ob eine Sache oder ein Mensch „schlecht" oder „ g u t " ist. Eine Person ist nicht an sich „ g u t " oder „böse", sondern sie handelt gut, wenn ihr Verhalten sich nach den Sitten und Vorschriften ihrer Gemeinschaft richtet, oder schlecht, wenn dies nicht der Fall ist. Es gilt nicht als „böse", mit der Frau eines anderen zu schlafen, wenn die Gesellschaft, die dies verbietet, die beiden nicht ertappt. Bei einigen Völkern ist es in der Tat ein Zeichen von Freundschaft und Gastlichkeit, wenn man einem Gast seine Frau, Tochter oder Schwester f ü r die Nacht anbietet. Eine Handlung ist nicht an sich schlecht, sondern es k o m m t auf die Beziehungen an, die bei dieser Handlung mitspielen. W e n n die vorhandenen Beziehungen nicht in Mitleidenschaft gezogen werden und wenn eine Entdeckung des Verstoßes gegen die Sitte ausbleibt, dann ist die Handlung nicht „ b ö s e " oder schlecht. Menschen, die Hexenwerk, böse Magie und Zauberei treiben, sind die Inkarnation des moralisch Bösen. Sie gehen ihrer Natur nach darauf aus, menschliche Beziehungen zu zerstören, die moralische Integrität der Gesellschaft zu unterwühlen und den Erfordernissen der Gesittung zuwiderzuhandeln. Daher sind solche Menschen außerdem auch W e r k zeuge des natürlich Bösen oder werden zumindest damit in Verbindung gebracht. W e n n sich also Unfälle, Krankheiten und Unglücke ereignen, suchen die Leute sofort nach den Urhebern des Bösen, d. h. Hexen, Zauberern, Nachbarn oder Verwandten, die böse Magie gegen sie verübt haben. Auch wenn, wie w i r bereits hervorgehoben haben, Gott letztlich als Erhalter der moralischen Ordnung gilt, so glaubt man doch nicht, daß er sich unmittelbar mit ihrer Aufrechterhaltung befaßt. Anstatt dessen sind Patriarchen, Totenseelen, Älteste, Priester oder sogar Gottheiten
Zusammenfassung und Schluß
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die täglichen Hüter menschlicher Moral. Soziale Vorschriften mit stark moralischem Einschlag regeln den unmittelbaren Kontakt zwischen Einzelpersonen sowie zwischen dem Menschen und den Totenseelen und Geistern. Diese Vorschriften beziehen sich also auf den zwischenmenschlichen Bereich und berühren kaum das moralische Verhältnis des Menschen zu Gott. Man könnte eine lange Liste solcherVorschriften zusammenstellen: Töte keinen anderen Menschen, es sei denn im Kriegsfalle, stiehl nicht, zeige dich Leuten in höherer Stellung gegenüber nicht unehrerbietig, pflege keinen Geschlechtsverkehr mit einer ganzen Reihe von Personen, wie z. B. der Frau eines anderen Mannes, deiner Schwester, anderen nahen Verwandten oder Kindern, gebrauche keine bösen Worte, besonders einem Höhergestellten gegenüber, hüte dich vor Verleumdung und Lüge, verachte einen Krüppel nicht und mache dich nicht über ihn lustig, nimm einem anderen nicht sein Stück Land weg, beobachte die vielen Tabus und Vorschriften hinsichtlich der Körperteile, des rechten Benehmens Verwandten gegenüber und der Tätigkeiten wie Jagd, Fischfang und Essen, halte dich in rituellen Dingen genau an die Vorschriften usw. Der Katalog positiver Gebote ist gleichermaßen lang und enthält Dinge wie: Sei freundlich, hilf jenen, die dich um Hilfe anrufen, lege Gastfreundlichkeit an den Tag, übe eheliche Treue, respektiere die Ältesten, übe Gerechtigkeit, tritt jenen, die alters- und standesmäßig über dir stehen, in Demut entgegen, entbiete den Leuten deinen Gruß, besonders wenn sie dir bekannt sind, halte dein beeidigtes Wort, entschädige die, welche du verletzt oder deren Eigentum du beschädigt hast, folge den Sitten und Traditionen deiner Gesellschaft. Der Katalog der Dinge, die man tun und lassen soll, ist so lang und ausführlich, daß der Mensch sich sein Leben lang ständig moralischen Anforderungen gegenübersieht. Dies ist besonders schwerwiegend in einem Lebenskreis, in dem das Selbstverständnis des einzelnen auf dem Prinzip beruht: „Ich bin, weil wir sind, und weil wir sind, bin ich". Wie wir bereits gesehen haben, wird das Verhalten des Menschen innerhalb der afrikanischen Gesellschaft, in welcher der einzelne infolge der weitläufigen Verwandtschaftsbeziehungen völlig „nackt" dasteht, von seinen Mitmenschen auf unbequeme Weise ständig an den moralischen Anforderungen gemessen. Wenn seine Lebensart diesen Anforderungen nicht entspricht, erregt er zwangsläufig Aufmerksamkeit. Das Wesen der afrikanischen Moral ist daher nicht so sehr spirituell als vielmehr gesellschaftlich orientiert; sie ist vorwiegend Verhaltensmoral, iS
Mbiri, Afrikanische Religion
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Der Begriff des Bösen, Ethik und Gerechtigkeit
nicht Wesensmoral. W i r könnten hier v o n dynamischer Ethik anstatt statischer Ethik reden, denn sie definiert in erster Linie, was ein Mensch tut, und nicht so sehr, was er ist. D i e Freundlichkeit ist keine T u g e n d , es sei denn, jemand verhält sich freundlich; der M o r d w i r d erst dann zur bösen Tat, w e n n er an einem Mitglied der eigenen Gemeinschaft begangen wird. Ein Mensch ist v o n Natur weder „ g u t " noch „schlecht" („böse"); dies hängt ausschließlich v o n seinem T u n und Lassen ab. N a c h meinem Dafürhalten ist dies eine notwendige Unterscheidung, w e n n man v o m afrikanischen Moralbegriff sprechen will. Sie sollte auch zu unserem Verständnis des Glaubens an Hexerei, M a g i e und Zauberei beitragen. A n diesem Punkt können w i r zur zweiten Form des Bösen übergehen, die w i r als das „natürlich B ö s e " bezeichnet haben. Hierunter verstehe ich jene Erfahrungen i m Leben des Menschen, die mit Leiden, Unheil, Krankheiten, Katastrophen, Unfällen und anderen Formen v o n K u m m e r und Schmerz verbunden sind. Sie sind bei jedem afrikanischen V o l k wohlbekannt. D i e meisten v o n ihnen lassen sich durch „natürliche" Ursachen erklären. A b e r w i e w i r gesehen haben, geschieht f ü r die afrikanischen V ö l k e r nichts v o n ungefähr oder durch Zufall, alles m u ß seine Ursache in einem äußeren Urheber haben, sei er Mensch oder Geistwesen. W e n n unsere Analyse i m vorigen Abschnitt Gültigkeit hat, dürfte klar sein, daß die der Auffassung v o m „moralisch B ö s e n " zugrunde liegende L o g i k es nicht gestattet, das „natürlich B ö s e " schlicht auf „natürliche Ursachen" zurückzuführen. M a n sucht immer einen Täter oder Urheber, der dieses Böse verursacht. Bei einigen Völkern herrscht die Auffassung, ein Mensch leide, weil er gegen irgendein Gebot verstoßen habe und Gott oder die Geister deshalb den Missetäter bestraften. In diesem Falle ist eigentlich der Betreffende die Ursache seines eigenen Leidens. Erst objektiviert er die Ursache in der Außenwelt, dann läßt er sie auf sich selbst zurückfallen. In den meisten Fällen jedoch führt man das Leiden in seiner mannigfachen Gestalt auf menschliche Urheber zurück, und zwar fast ausschließlich Hexen, Zauberer und Beherrscher böser Magie. W i r haben gesehen, daß diese die Inkarnation des Bösen sind, w i e es sich in sozialer Sicht darstellt. Sie sind auch verantwortlich für die „Verursachung" dessen, was objektiv als das „natürlich B ö s e " gilt, indem sie Beschwörungen aussprechen, mystische Kraft, Medizin oder den „bösen B l i c k " in A n w e n d u n g bringen, sekundäre Urheber des Bösen w i e Fliegen und andere Tiere entsenden, ihren Mitmenschen Böses wünschen, H a ß - oder Eifersuchtsgefühle hegen und allerlei andere
Die Ursachen des raschen Wandels
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Geheimmethoden praktizieren. Die diesen Ansichten zugrunde liegende Logik besagt, daß das „natürlich Böse" gegenwärtig wird, weil die genannten unmoralischen Urheber existieren. Diese aber sind böse, weil sie böse Taten verrichten. Wiederum muß ich bekennen, daß mir diese Logik fremd ist, aber im Interesse unseres Verständnisses afrikanischer Religion und Weltanschauung akzeptiere ich sie. Die Beurteilung einer Person als „ g u t " oder „schlecht" rührt bei afrikanischen Völkern eine besonders tiefe Bedeutungsschicht an, denn sie faßt das Gesamtbild dieser Person im Geflecht ihrer Handlungen zusammen. Man „liebt" nicht im luftleeren R a u m ; nur Taten tun kund, daß ihre Antriebskraft die Liebe ist. Man „haßt" auch nicht im luftleeren R a u m ; nur Taten zeigen an, welche Motivation ihnen zugrunde liegt. In diesem Erlebnisbereich ist die Welt der Natur nicht von der Menschenwelt geschieden. Im Erfahren des Bösen sehen die afrikanischen Völker, wie gewisse Einzelmenschen frevlerisch in den sonst glatten Ablauf des natürlichen Weltalls eingreifen. Hier beobachten wir wiederum, daß die afrikanische Ontologie stark auf den Menschen als Mittelpunkt bezogen ist. Bisher haben wir uns in unserer Diskussion auf die traditionelle Gesellschaft konzentriert. W i r können es nicht dabei belassen, sondern müssen auch die Veränderungen, die in ganz Afrika vor sich gehen, in unser Bild einbeziehen. Diese Veränderungen sind gewiß f ü r die traditionellen Religionen und f ü r die afrikanische Weltanschauung bedeutsam; sie gestalten sie und werden von ihnen gestaltet. W i r wollen ihnen die letzten drei Kapitel widmen.
D E R M E N S C H I M W A N D E L U N D SEINE P R O B L E M E Im traditionellen Bereich, w o meist der zweidimensionale afrikanische Zeitbegriff vorherrscht, ist das menschliche Leben relativ beständig, ja fast statisch. Ein fester Lebensrhythmus ist die Norm, und radikale Veränderungen sind entweder unbekannt, stoßen auf starken Widerspruch oder erfolgen langsam und kaum merklich. Aber von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab haben überall in Afrika rasche und radikale Veränderungen eingesetzt, die gegen Mitte des 20. Jahrhunderts besondere Stoßkraft gewannen. Keine Untersuchung afrikanischer Probleme oder Begriffe wäre ohne eine Erwähnung dieses Phänomens vollständig.
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Der Mensch im Wandel und seine Probleme
Meist sind nur die sozialen Aspekte der Veränderungen hervorgehoben worden, doch sind diese so umfassend, daß sie die gesamte Existenz der afrikanischen Völker berühren und auch auf das religiöse, wirtschaftliche und politische Leben einwirken. W i r haben nachgewiesen, daß die afrikanischen Völker in ihrem traditionellen Leben tief religiös sind und das Universum religiös erfahren. Dies bedeutet, daß die moderne Entwicklung in Afrika auf eine religiös ausgerichtete Gesellschaft stößt, deren religiöse Haltung und religiöses Leben sie beeinflußt und von deren traditioneller Religiosität sie ihrerseits beeinflußt wird. a) Die Ursachen des raschen Wandels Afrika ist in eine weltweite Revolution verwickelt, die durch ihre Dynamik der menschlichen Kontrolle zu entgleiten droht. Es ist eine Revolution, die die ganze Menschheit erfaßt, und es kann sich daher kein Volk oder Land diesem neuen Rhythmus der Menschheitsgeschichte völlig entziehen. In Europa und Nordamerika reicht diese Revolution drei bis fünf Generationen zurück, während wir in Afrika fast alle der ersten Generation dieser Umbruchszeit angehören, der in nur wenigen Jahrzehnten der W e g bereitet wurde. Unvermittelt ist eine Weltrevolution in Afrika eingefallen, ohne daß der Kontinent physisch oder psychologisch darauf vorbereitet gewesen wäre. Jetzt dröhnt ein neuer, schneller Rhythmus aus den Trommeln von Wissenschaft und Technik, modernen Kommunikationsmitteln und Massenmedien, Schulen und Universitäten, Städten und Siedlungen. Nichts kann diesem Rhythmus Einhalt gebieten oder sein Tempo verlangsamen. Der afrikanische Mensch muß sich erheben und wohl oder übel in der Weltarena mittanzen. Sein altes Selbstverständnis und sein Weltbild sind zerrüttet und müssen dem sich wandelnden universellen Menschen Platz machen, der an die Stelle des Stammesmenschen tritt. So wirkt also die allgemeine, weltweite Revolution auf die afrikanische Gesellschaft ein, aber es gibt auch unmittelbare Gründe f ü r den jetzt stattfindenden Wandel. Das Christentum Westeuropas und Nordamerikas ist nicht einfach als Träger der Frohen Botschaft des Neuen Testaments nach Afrika gekommen, sondern als ein komplexes Gebilde, bestehend aus westlicher Kultur, Politik, Wissenschaft, Technik, Medizin, Schulen und neuen Methoden, die Natur zu erobern. Das Evangelium ist seinem Wesen nach bereits revolutionär, aber das Christentum in seiner modernen Rückwendung nach Afrika ist geradezu zum Hauptträger aller Elemente
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der technologischen Weltrevolution geworden. Man muß natürlich grundsätzlich zwischen dem Evangelium und dem Christentum unterscheiden, da diese in bestimmten Punkten nicht deckungsgleich sind. Die Missionare traten allenthalben als Pioniere des Schulwesens auf, und die von ihnen gegründeten Schulen wurden zu Pflanzstätten des Wandels. Sie säten das Evangelium, sie säten das Christentum, und sie säten vielleicht unbewußt und unbeabsichtigt auch die neue Revolution. Denn die jungen Männer und Frauen in diesen Schulen eigneten sich nicht nur die Religion, sondern auch Kenntnisse in den Naturwissenschaften, in der Politik, Technik und anderen Wissensgebieten an. Dieselben jungen Leute waren es auch, die sich als erste von ihrer Verwurzelung im Stamme lösten. Außerdem trugen sie als erste die modernen Veränderungen auf die Dörfer. Durch die Missionare kam auch die europäische Medizin und Hygiene, deren Einfluß zu Beginn allerdings nur langsame Fortschritte machte. Außer ihrer physischen Wirkung bereitete die neue Medizin die Menschen auch psychologisch auf die westliche Kultur und Erziehung vor und steigerte ihre Aufnahmebereitschaft. Schließlich begann durch die neuartige ärztliche Fürsorge unter Verwendung moderner medizinischer Erkenntnisse die Kindersterblichkeit abzunehmen, und man brachte allmählich Krankheiten wie Pocken, Malaria und Magenleiden, welche immer die häufigsten Todesursachen bei afrikanischen Völkern gewesen waren, unter Kontrolle. Ein besserer Gesundheitszustand infolge ärztlicher Betreuung führt zum Bevölkerungszuwachs, und ein höherer Bevölkerungsstand bringt natürlich neue Probleme mit sich. Die physische Ausbreitung Europas nach Afrika hin setzte also die afrikanischen Völker den anderswo stattfindenden Umwälzungen aus. Die europäische Eroberung Afrikas erreichte in der Berliner Kongokonferenz 1885 offiziell ihren Höhepunkt. Hier nahmen die europäischen Mächte die politische Verteilung ganz Afrikas vor, ausgenommen Äthiopien und Liberia. Die Besitznahme Afrikas durch Europa bedeutete unter anderem die Ankunft europäischer Siedler, Geschäftsleute, Goldund Diamantengräber sowie einer Kolonialverwaltung, die Gründung neuer Städte, den Bau von Straßen und Eisenbahnen, die Einführung neuer Gesetze und neuer Wirtschaftssysteme. Europa begann also bewußt oder unbewußt, Afrika umzugestalten und in mancher Hinsicht sich ähnlich zu machen. Sogar europäische Namen wurden an die Stelle afrikanischer Orts- und Personennamen gesetzt, die oft religiöse Be-
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deutung hatten. In unserem Erdteil wurde allenthalben so manches Kleinengland, Kleindeutschland, Kleinfrankreich oder Kleinitalien eingepflanzt. Europa hatte Afrika aufgeteilt, es war entschlossen, Afrika zu beherrschen, und es begann, Afrika zu verändern. Dies war der Rhythmus einer neuen Zeit, und keine Macht der Welt konnte ihm Einhalt gebieten. Stellenweise versuchten die Afrikaner Widerstand zu leisten, wurden aber von den Europäern überwältigt und wie Tiere abschlachtet. Ihre Dörfer wurden niedergebrannt, Männer und Frauen ins Gefängnis gesteckt und die Menschen gewungen, ihren Grund und Boden aufzugeben und sich als Arbeiter auf europäischen Farmen oder als „Hausboys" europäischer Herren und Herrinnen zu verdingen. Der sich anbahnende Wandel vollzog sich unter Blut und Tränen, unter Zustimmung oder mit Gewalt, durch Unterdrückung und Erniedrigung, redliche oder unredliche Mittel, eigene Wahl oder Unterjochung. Jede radikale Umwälzung in der Menschheitsgeschichte kostet Menschenblut, Kummer und Leid. Afrika bildete keine Ausnahme. Es hat für den Wandel, der von außen begann und ihm ursprünglich aufgezwungen wurde, einen hohen Preis entrichtet. Die Umwälzung kam also sowohl durch friedliche Mittel als durch Gewalt zustande, und Afrika konnte nie mehr dasselbe sein wie zuvor. Einige Kolonialmächte blieben nur verhältnismäßig kurze Zeit hier, da sie von ihren Konkurrenten zum Rückzug gezwungen wurden, andere mußten schließlich dem Druck des afrikanischen Nationalismus nachgeben, während ein paar immer noch das Heft in der Hand haben, wenn auch ihre Tage zweifellos gezählt sind. Einige der Kolonialmächte entwickelten ihre afrikanischen Dependenzien auf dem Gebiet der Erziehung, der Wirtschaft und des Gesundheitswesens, andere hingegen zwangen die Afrikaner einfach in ihren Dienst und beuteten mit ihrer Hilfe afrikanisches Kupfer und Gold und afrikanische Diamanten aus, ohne etwas Nennenswertes für die Wohlfahrt der Bevölkerung zu tun. Europa übt weiter große Macht und starken Einfluß in Afrika aus, mögen auch etwa vierzig afrikanische Länder dem Gesetze und Ritus nach unabhängig sein. Die europäische und amerikanische Kontrolle über Afrika liegt vorwiegend auf wirtschafdichem und kirchlichem Gebiet; sie wird durch den schleichenden Einfluß der Massenmedien ergänzt. Auch Rußland, China und Japan arbeiten sich immer weiter in Afrika vor. Das Weltgeschehen in Amerika, Europa und Asien wirkt stark auf Afrika ein, so daß die Völker unseres Erdteils immer mehr in das Leben anderer Völker der Welt einbezogen werden.
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b) Die Art des Wandels Der in Afrika stattfindende Wandlungsprozeß ist umfassend und berührt alle Lebensbereiche. Auf die Gesamtgesellschaft bezogen, hat man diesen Wandlungsprozeß als „Enttribalisierung" d. h. Auflösung des Stammesgedankens, bezeichnet. Dies bedeutet, daß das traditionelle Leben gefährlich unterminiert ist und das Gefühl der Stammeszugehörigkeit dahinschwindet, weil die Zugehörigkeit zu anderen Gruppen ihre Ansprüche an den einzelnen und die Gemeinschaft geltend macht. Im traditionellen Leben ist die Familie der Mittelpunkt sowohl der Einzel- wie der Gemeinschaftsexistenz. Sie ist der Bereich, in welchem ein Mensch wirklich zum Bewußtsein seiner selbst und anderer Mitglieder seiner Gesellschaft findet. Nun ist die Familie aber der von der Entwicklung am schwersten betroffene Teil des afrikanischen Lebens. Innerhalb einer einzigen Familie oder eines Haushalts koexistieren manchmal zwei radikal verschiedene Welten. Die Kinder gehen vielleicht auf die Universität, während die Eltern Analphabeten sind, deren Hauptbeschäftigung darin besteht, mit Holzstöcken ihre Felder zu bestellen. In einer solchen Familie gibt es zweierlei Erwartungen, die man ans Leben stellt, zweierlei wirtschaftliche Maßstäbe, kulturelle Interessen und Weltauffassung. Natürlich sind einige Familien stärker betroffen als andere. Der Kulturwandel zeigt sich äußerlich auf verschiedene Weise an, so in der Erziehung, Kleidung, Wohnung, Ernährung und im moralischen Verhalten. Letzten Endes wird der Wandel aber am stärksten vom einzelnen empfunden, von ihm bejaht oder abgelehnt, beschleunigt oder gebremst. Der moderne Wandel hat viele Menschen in Afrika in Situationen gebracht, die im traditionellen Leben völlig unbekannt sind und auf die dieses Leben niemanden gebührend vorzubereiten vermag. Manche werden direkt oder indirekt gezwungen, Heim, Haus und Verwandtschaft zu verlassen und in Goldbergwerken, in der Industrie, in europäischen Haushalten oder auf europäischen Farmen zu arbeiten. Diese gewaltsame Loslösung von der Scholle, mit der der Afrikaner mystisch verbunden ist, und das Geworfensein in Situationen, in denen der alte Sinn gemeinschaftlicher Existenz verlorengegangen ist, haben in der Industrie, in den Bergwerken und Großstädten entmenschte Wesen geschaffen. Im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen werden die Individuen von der Moral und Gesittung ihrer Gemeinschaft gelöst und gehen der traditionellen Solidarität verlustig. Sie haben keine festen
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Wurzeln mehr. Entwurzelt und nicht wieder eingepflanzt, treiben sie unbeständig im Leben dahin. Als Einzelwesen leben sie noch, aber f ü r die Gemeinschaft aus Vorväterzeiten sind sie tot. Für den einzelnen ist der Wandlungsprozeß zu plötzlich erfolgt und hat ihn in ein Dunkel getaucht, auf welches die Tradition ihn nicht vorbereiten konnte. Er ist den Traditionen seiner Gesellschaft und dem Wurzelgrund, welchem er entstammt, entfremdet. Paradoxerweise ist der einzelne aktiv in den Wandlungsprozeß einbezogen und steht ihm dennoch fremd gegenüber. Er ist also im traditionellen Stammesleben und im Leben der modernen Zeit gleichermaßen ein Fremdling und schwankt zwischen zwei Standorten: der traditionellen Solidarität, die ihm alles bot: Land, Gesittung, Ethik, Durchgangsriten, althergebrachte Rechtsprechung, religiöse Teilnahme und eine historische Tiefendimension, und der modernen Lebensweise, welcher das gewohnte Solidaritätsbewußtsein völlig abgeht. Bestenfalls bietet der gesellschaftliche Wandlungsprozeß ihm die Hoffnung und Anwartschaft auf eine bessere Zukunft. Das traditionelle Leben wird schleunigst in die Vergangenheit abgeschoben, und je weiter es zurückweicht, in desto goldenerem Glänze erstrahlt es. Der einzelne wird mithin zum Objekt eines in zwei entgegengesetzten Richtungen verlaufenden Doppelprozesses, der ihn teils in die Samaniperiode und teils in die Zukunft zieht. Die Spannung zwischen diesen beiden ist f ü r die Mehrheit der Afrikaner weder harmonisch, noch löst sie schöpferische Impulse aus. Der in Afrika stattfindende Wandlungsprozeß zeigt noch weitere, allgemeine Aspekte. Auf dem politischen Sektor befindet sich der afrikanische Kontinent immer noch im Umbruch. Als die Kolonialmächte kamen, zerstörten, unterdrückten oder veränderten sie die traditionellen politischen Einrichtungen. Viele Völker, die nie in ihrer Geschichte, oder nur f ü r kurze Zeit, einer Fremdherrschaft unterworfen waren, fanden sich plötzlich ohne politische Macht. Jahrelang lag ihr politisches Talent brach. Aber diese Demütigung konnten sie auf die Dauer nicht verwinden. Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann der afrikanische Nationalismus gewaltig an Stoßkraft. Er vertrieb zum Teil die Kolonialherren mit Gewalt und und konnte zum anderen Teil in den neuen afrikanischen Staaten eine koloniale Regierungsstruktur friedlich übernehmen. Aber die Macht des Nationalismus ist so ungeheuer, daß die sich kaum bändigen läßt. Die politische Situation, in der die afrikanischen Völker sich heute befinden, ist genau so gefährlich, schwer durchschaubar und fremdartig wie die Situation unter der
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Kolonialherrschaft. Der Geist, der während der Zeit dieser Herrschaft das Feuer des Nationalismus entzündete, hat nichts von seiner Kraft eingebüßt, sondern hat noch mehr Feuer aufflackern lassen, seitdem den meisten afrikanischen Staaten die Unabhängigkeit wiedergegeben worden ist. Er wird rastlos weiterwirken, bis seine Energie nutzbar gemacht und in eine andere Richtung gelenkt wird. Der politische Brei Afrikas brodelt immer noch im Topf, und groß ist der Mann, der darin rühren kann, ohne sich zu beschmutzen oder zu versengen. Die in Afrika eingeführte Wirtschaftsform ist in erster Linie Geldwirtschaft. Ihre Macht ist auch im abgelegensten Teil des Kontinents spürbar. Allenthalben werden landwirtschaftliche Erzeugnisse angebaut, die nicht zum Eigenverbrauch bestimmt sind, wie Kaffee, Tee, Kakao, Baumwolle und Tabak. Viele Menschen sind als Lohnempfänger in mancherlei Berufen tätig. Diese neue Wirtschaftsform bringt den Begriff der Zeit als Ware, die man kaufen und verkaufen kann, mit sich. Sie hat Geldverdienen und Geldausgeben im Gefolge, und die damit verbundenen Gefahren, Versuchungen und Schwierigkeiten sind groß. Die afrikanischen Staaten erkennen immer klarer, daß ihr Fortschritt und Wohlstand von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abhängen. Viele, wenn nicht alle, werden in wachsendem Maße zu Opfern der sogenannten Wirtschaftshilfe reicher Industrienationen. Diese Hilfe ist immer mit bestimmten Bedingungen verknüpft, und ihre Höhe ist im Verhältnis zu den Bedürfnissen so gering, daß ihr Nutzeffekt weit hinter der beabsichtigten Propagandawirkung zurückbleibt. Jedermann weiß, daß die „armen" Nationen ärmer und die reichen Nationen reicher werden. Folglich befinden sich die reicheren Nationen im Vorteil. Sie sind auch keineswegs gewillt, diesen Vorteil aufzugeben oder ihre Güter gleichmäßiger zu verteilen. Warum sollten sie es auch? Ein anderer Aspekt des modernen Wandlungsprozesses in Afrika ist die Verstädterung. Vor der Kolonialzeit gab es traditionellerweise nur wenige Städte, wenn man von Nordafrika —• insbesondere Ägypten — Äthiopien, der Ostküste und einigen Städtegründengen im westlichen Afrika absieht. Auch jetzt noch ist die Bevölkerung, die ihren festen Wohnsitz in den Städten hat, gering, während der überwiegende Bevölkerungsteil zumindest zeitweise auf dem Lande beheimatet ist. Aber die Bevölkerungsbewegung vom Lande in die Städte erfolgt so schnell, daß viele Städte in wenigen Jahrzehnten wie Pilze aus dem Boden schießen. Beispiele hierfür ließen sich aus dem ganzen Erdteil anführen.
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Die überstürzte Verstädterung schafft mehr Probleme, als überhaupt bewältigt werden, können. W i r werden im nächsten Kapitelteil auf diese zurückkommen. Große Veränderungen gehen auch in der religiösen Sphäre vor sich. Traditionelle religiöse Begriffe und Gebräuche lassen sich nicht völlig mit der sich wandelnden Lage in Einklang bringen. Allerdings paßt auch das Christentum, dessen Einfluß die meisten Menschen ausgesetzt worden sind, sich nicht völlig dem traditionellen afrikanischen Leben oder den Schwierigkeiten der modernen Umbruchszeit an, gleich ob diese nun in Afrika oder in Europa und Amerika zu bewältigen ist. Ein neuer Zwiespalt ist nach Afrika hineingetragen worden und hat einen Keil zwischen Religion und Leben getrieben. Damit ist etwas nie Dagewesenes geschehen. Jene, die das Christentum der Neuzeit in Afrika einführten, brachten auch Zweifel und Unglauben mit. Einige Afrikaner versuchen nun, ohne Religion zu leben, oder zumindest glauben sie es. Inwieweit sie damit Erfolg haben, bleibt abzuwarten. Diese Erscheinung findet man häufiger in den Städten und unter der Bildungselite als in anderen Bevölkerungsschichten. Der gesellschaftliche Wandlungsprozeß hat auch einen spezifisch kulturellen Aspekt. Die naturvölkischen Kulturen sind oder waren auf den traditionellen Lebenszusammenhang abgestimmt, der radikalen Neuerungen wenig oder überhaupt keinen R a u m gab. Die moderne Umbruchszeit versucht nun eine Kulturform heimisch zu machen, die sich zumindest auf afrikanischem Boden recht seicht ausnimmt. Es ist eine Kultur des Alphabets und der Comics, der Schlagermusik und des Transistorradios, des Fernsehens und der Illustrierten mit Bildern halbnackter Frauen, des Individualismus und wirtschaftlichen Wettbewerbs, der Massenproduktion und hektischer Lebensbeschleunigung. Männer und Frauen sind gezwungen, in zwei Halbkulturen zu leben, die nicht zur Bildung einer einzigen Kultur zusammenfinden. Die Überbringer der fremden Kultur geben den Afrikanern nur einen Teil ab, den anderen behalten sie f ü r sich. Die Afrikaner andererseits nehmen nur einen Teil dieser Kultur entgegen und weisen den anderen zurück. Von ihrer traditionellen Kultur stoßen sie gleichfalls einen Teil beiseite und behalten den anderen. Der Wandel zur Moderne hin hat der Zeit in Afrika eine Zukunftsdimension verliehen. Dies ist vielleicht die dynamischste und zugleich gefährlichste Entdeckung der afrikanischen Völker im zwanzigsten Jahrhundert. Ihre Hoffnungen sind aufgestachelt und richten sich auf
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die Zukunft. Sie arbeiten, für den Fortschritt, warten auf die unmittelbare Verwirklichung ihrer Hoffnungen und erschaffen neue Zukunftsmythen. An diesem Punkte geht uns auf, warum es Afrika an Stabilität auf politischem, wirtschaftlichem und kirchlichem Gebiet mangelt. Afrika will verweifelt in die Zukunftsdimension einbezogen werden. Der Nachdruck verlagert sich vom Samani und Sasa auf das Sasa und die Zukunft, und wir haben Anteil an dem historischen Augenblick, da dieser wichtige Übergang bewirkt wird. Aber irgendwo liegt hier eine große Illusion verborgen. Es ist viel leichter, den alten Adam der Tradition abzustreifen als die Rüstung anzulegen, die der Zukunftsdimension des Lebens angemessen ist. Die Illusion beruht auf der Tatsache, daß diese beiden völlig verschieden gearteten Vorgänge miteinander identifiziert werden. Dieses mangelnde Unterscheidungsvermögen macht sich in allen Bereichen des modernen afrikanischen Lebens bemerkbar, und solange es so bleibt, wird die Situation weiterhin voller Unsicherheits- und Gefahrenmomente sein. Die gegenwärtigen Strukturen in Politik, Wirtschaft, Bildungswesen und Kirche begünstigen leider den Fortbestand dieser Illusion. Hierin also liegt das Dilemma, die Tragödie des schnellen Wandlungsprozesses in Afrika. c) Probleme des raschen
Wandels
Wie wir bereits im vorigen Abschnitt feststellten, hat Afrika plötzlich die Zukunftsdimension der Zeit entdeckt. Diese Entdeckung hat eine gefährlich unsichere psychologische Situation geschaffen, die dem politischen, wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Leben des Kontinents ein einzigartiges Gesicht verleiht. Wir können nur kurz einige der vom modernen Wandlungsprozeß heraufbeschworenen Probleme andeuten. Die auf dem Stammeswesen beruhenden Lebensstrukturen, welche über Generationen vom zweidimensionalen Zeitbegriff geprägt wurden und auf ihn hin orientiert waren, lassen sich jetzt nicht nutzbringend auf die neue Zukunftsorientierung übertragen. Zwei der stärksten Kräfte, die den traditionellen Strukturen entgegenwirken, sind der moderne Nationalstaat und die Verstädterung. Die unmittelbar auf die Kolonialherrschaft folgende historische Phase ist durch die Geburt der afrikanischen Nationen gekennzeichnet. Diese Nationen sind aus Völkern mannigfacher Kultur, Geschichte, Sprache und Tradition zusammengesetzt. Manchmal wiegen die Faktoren der nationalen Einheit leichter als die der Uneinigkeit. Zwar brauste
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der R u f Uhuru! (Freiheit) mit beispielloser Einstimmigkeit durch die Lande, aber ist eine Nation nicht doch etwas Tieferes und Ernsteres als bloß ein Uhuru-Chor? Gewiß ist es möglich, ein Nationalbewußtsein zu entwickeln, das der alten Stammessolidarität gleichkommt und sie ersetzen kann, aber noch stehen wir dem Machtwechsel zu nahe, als daß sich das Vorhandensein dieses Bewußtseins klar und schlüssig beweisen ließe. Die Aushöhlung oder Zerstörung der Stammessolidarität schafft nicht automatisch ein ausgewogenes, ausgereiftes nationales Zusammengehörigkeitsgefühl. Das ist bloße Illusion, eine Illusion, die noch verstärkt wird durch die Kurzsichtigkeit, mit der man die Zukunftsdimension betrachtet und der sich auch die Kolonialmächte nicht ganz entziehen konnten. Die gegenwärtige Lage bietet jedoch den afrikanischen Völkern eine große, lockende Aufgabe und Verantwortung, und es wäre verfehlt, die Zukunft nur in den düstersten Farben zu malen. Oberflächlich betrachtet ist also die Stammessolidarität aus den Fugen geraten, aber in einer tieferen Schicht ist das Unterbewußtsein des alteigenen Samani erhalten geblieben. Die Nationwerdung rührt nur an die Oberfläche, sie ist die offizielle Bewußtseinshaltung des modernen Afrikas. Aber das Unterbewußtsein des Stammeslebens schlummert nur, es ist nicht tot. Diese beiden Schichten stehen nicht immer in einem harmonischen Verhältnis zueinander, sondern können sogar zum beiderseitigen Schaden in offenen Konflikt geraten. Der Stammesegoismus stellt als Gegenpol zur Nationwerdung eine große Gefahr dar. In gewissen Kreisen fördert man nun ein Wiederaufleben von Stammesriten und Stammesbräuchen, die Magie feiert in den Großstädten fröhliche Urständ, und man bemüht sich auch auf nationaler Ebene, die Stammeskulturen zu bewahren und zum Aushängeschild des Nationalstolzes zu machen. Auf materieller oder wirtschaftlicher Ebene strebt man klar die Pflege des individuellen oder nationalen Wohlstands an. A u f der Gefühlsebene hingegen sehnt man sich zum Solidaritätsbewußtsein des Stammes und seinen festen Grundlagen zurück. Die modernen afrikanischen Nationen kennen kein Zusammengehörigkeitsgefühl mit langer Tradition und fester Grundlage, das dem über einen langen Zeitraum entwickelten Stammesbewußtsein ebenbürtig wäre. Darum versuchen verschiedene Länder in Afrika ganz richtig, eine politische Lebensform zu entwickeln, die ihren Bedürfnissen in der heutigen Welt entspricht. Einige dieser Versuche gehen jedoch über das Experimentierstadium nicht hinaus. So finden wir z. B . das sogenannte
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Einparteiensystem, welches besagt, daß die herrschende politische Partei versucht, alle anderen Parteien auszuschalten. Daneben finden wir das Experiment des sogenannten Afrikanischen Sozialismus, welches zumindest auf dem Papier bestrebt ist, u. a. die traditionellen Wirtschaftssysteme der alten Gemeinschaften den Erfordernissen einer modernen Nation anzupassen. In Tansania ist in der berühmt gewordenen „Aruscha-Erklärung" von 1967 das Prinzip der „Selbsthilfe" proklamiert worden. Wieweit diesen Experimenten Erfolg beschieden sein wird, sei dahingestellt, aber die Begeisterung, mit der man sie begrüßt hat, und die Publizität, von der sie umgeben sind, täuschen vielleicht über bestimmte Grundzüge der menschlichen Natur hinweg, welche diese Experimente zum Erlahmen bringen könnten, noch ehe sie vom Papier in die Praxis umgesetzt sind. Auf örtlicher Basis finden wir die Aktivität politischer Gruppen, deren Energien oft in den Dienst positiver Zielsetzungen, wie Schul- und Straßenbau, gestellt werden. Es fragt sich nur, ob diese Energien auch weiterhin immer auf positive und konstruktive Ziele gelenkt werden können. Auf der Ebene internationaler Beziehungen bestehen Zusammenschlüsse afrikanischer Staaten wie die im Dezember 1967 geschaffene Ostafrikanische Gemeinschaft und die Union der Staaten von Zentralafrika, die im April 1968 entstand. Gespräche über die weitere Ausdehnung dieser Gruppierungen und über neue Zusammenschlüsse sind im Gange. Die Organisation für Afrikanische Einheit wurde 1963 geschaffen. Eines ihrer Schlagworte ist der laute Schrei nach afrikanischer Einheit, die zur Zeit mehr ein Mythus als eine unmittelbare Möglichkeit ist. In jedem Volk machen sich in den unteren Bereichen die Kräfte des Stammesdenkens und des Regionalismus bemerkbar, während gleichzeitig in den höheren Schichten als Gegengewicht die Anziehungskraft des Panafrikanismus spürbar ist. Die Beschränkung der wirtschaftlichen und menschlichen Reserven Afrikas dürfte zur Zeit einer baldigen politischen Einigung auf kontinentaler Basis im Wege stehen. In der Weltpolitik reden die afrikanischen Länder viel davon, daß sie in der ideologischen und politischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West eine neutrale Haltung einnähmen. Ich bin der Auffassung, daß niemand neutral sein kann. Nicht einmal die Toten sind neutral. Wir erhalten sowohl von kapitalistischen als auch von kommunistischen Ländern Wirtschaftshilfe und lassen uns von ihnen Berater schicken. Diese Hilfe wird nicht ohne Hintergedanken geleistet, aber nur wenige
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Menschen sehen die Falle oder hüten sich gar davor, hineinzutappen. Es gibt politische und wirtschaftliche Bande, die uns zu Sklaven der Länder machen, welche die Hilfe gewähren. Auf die Dauer muß jede fortwährende Hilfe unsere Entwicklungsmöglichkeiten untergraben. Unter dem eingesetzten Personal befinden sich Geheimagenten, und die Botschaften fremder Länder sind nicht ganz über politische Einmischung erhaben, sondern organisieren manchmal Staatsstreiche, wie sie in unabhängigen afrikanischen Ländern immer wieder stattfinden, oder stehen den Verschwörern mit Rat und Tat zur Seite. Angesichts unserer wirtschaftlichen Armut sind wir f ü r die politische oder ideologische Propaganda mächtiger Staaten eine willkommene Zielscheibe, und wir sollten uns über diese hilflose Lage im klaren sein. Es gibt auch viele schwierige soziale Probleme, sind doch alle menschlichen Probleme letzten Endes sozialer Natur. Die traditionelle Gesellschaft ist zerrüttet, darüber hilft kein Jammergeschrei hinweg, und wir müssen uns mit diesem fait accompli abfinden. Es gibt keinen W e g zurück, wir können nur auf Gedeih und Verderb voranschreiten. Eine neue Gesellschaftsform ist im Entstehen begriffen, die teils aus der alten Gesellschaft hervorgegangen ist und teils spezifisch den Erfordernissen des modernen Wandlungsprozesses entspricht. Die Entstehung dieser neuen Gesellschaft, mag sie im Endeffekt aussehen wie sie will, ist mit neuen Problemen verbunden, die gleichzeitig auch die traditionelle Gesellschaft belasten. Die meisten Probleme stellen sich f ü r die Stadtbewohner, und zwar in Form von Wohnungsnot, Elendsvierteln, Geldverdienen und Geldausgeben, Alkoholismus, Prostitution, Korruption und Arbeitslosigkeit f ü r Tausende junger Leute, die auf der Straße Hegen. Viele Menschen kommen plötzlich v o m Lande in die Stadt, w o die Wurzeln der Tradition fehlen, u m ihnen die Eingewöhnung zu erleichtern. Andere wiederum haben fast ihr ganzes arbeitsfähiges Alter in den Städten verbracht und wissen im Ruhestand nicht Rechtes dort anzufangen, haben aber auch den Kontakt zum Landleben verloren, so daß ihnen eine Rückkehr aufs Land nicht leicht fällt. Es besteht das Problem der ledigen Mütter und jener anderen Frauen, die auf ein paar Tage oder Wochen ihre Männer in der Stadt besuchen und dabei schwanger werden. Es gibt die Armen, die auf der Straße sitzen und u m Geld oder Nahrung betteln, weil sie entweder Krüppel oder lediglich arbeitsscheu sind. Es gibt das Problem der unerwünschten Kinder, der Waisen, der Verbrecher, Straffälligen und Strafgefangenen, die alle der besonderen sozialen Fürsorge bedürfen, u m eine Erziehung zu
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erhalten, oder in die Gemeinschaft eingegliedert werden zu können. Ein klaffender Riß tut sich auf zwischen den wenigen relativ Reichen in den Führungstellen der Regierung und des Handels und der besitzlosen Masse, die kaum genug verdient, um ihr Leben zu fristen. Dieses unausgeglichene Verhältnis von Reich und Arm kann nur zu Unzufriedenheit, Eifersucht, Gier, Eigentumsdelikten oder gar zum offenen Aufstand führen. Aus den sozialen Problemen ergeben sich wiederum ethische und moralische Probleme. Das Ethos des Stammesgedankens ist der Stammessolidarität angemessen, läßt sich dafür aber nicht ohne weiteres auf die sich wandelnde Situation anwenden, in der die städtische Gesellschaft einen eigenen Moralbegriff entwickelt, der ihrer Lebensweise entspricht. Die Blutszugehörigkeit übt in der Großstadt eine geringere Macht aus als auf dem Lande. Der Individualismus des städtischen Lebens verlangt nach eigenen Verhaltensnormen. Während das Individuum im ländlichen Bereich „nackt" vor den anderen da steht, ist es in der Großstadt in seinem eigenen Universum befangen. Der Begriff des „Nachbarn" geht in den beiden Situationen weit auseinander. In der Großstadt steht das Individuum in einer zusammengewürfelten Masse von Männern und Frauen verschiedener Sprache, Rasse und Nationalität vereinzelt da. Diese Menschen sind nicht durch Bande des Blutes oder der Heirat miteinander verbunden, sondern durch Beruf, gemeinsamen Arbeitsplatz, Klubs, Fabriken, Vereine, Freizeitbeschäftigungen, Gewerkschaften, Sport, politische Parteien, Konfessionen und religiöse Gemeinsamkeiten. Das Individuum steht mittendrin, und seine Zugehörigkeit erstreckt sich oft über mehrere dieser Gruppierungen. Das traditionelle Solidaritätsbewußtsein, das den einzelnen sagen läßt: „Ich bin, weil wir sind, und weil wir sind, bin ich", wird ständig angeschlagen, untergraben und in mancher Hinsicht zerstört. Der Akzent verlagert sich vom „ W i r " des traditionellen Gemeinschaftslebens auf das „Ich" des modernen Individualismus. Die Schule, die Kirche, der wirtschaftliche Wettbewerb und die Zukunftsdimension der Zeit mit all ihren erfüllbaren und unerfüllbaren Versprechungen sind die Hauptfaktoren, die einzeln oder zusammenwirkend auf eine Orientierung hinarbeiten, die von der Gemeinsamkeit fort- und zum Individualismus hinführt. So entdeckt der einzelne dann inmitten der vielen Menschen, die in der Stadt wohnen, daß er allein ist. Wenn er erkrankt, wissen vielleicht nur ein oder zwei andere Menschen davon und kommen ihn besuchen. Wenn er hungert, stellt er fest, daß es eine Schande oder
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kaum der Mühe wert ist, seinen. Nachbarn um Speise anzubetteln. Wenn er schlechte Nachricht von seinen Angehörigen auf dem Lande erhält, muß er allein vor sich hinweinen, mögen auch Hunderte anderer Menschen in der Fabrik oder im Bus Tuchfühlung mit ihm haben. Die den einzelnen umgebende Masse ist ihm gegenüber blind und taub, sie ist gleichgültig und kümmert sich nicht um ihn als Person. Fast bei jeder Lebenswende spürt der einzelne, der unter den sich wandelnden Lebensbedingungen in der Großstadt lebt, daß er mitten im Menschengewühl allein oder gar einsam ist. Er macht sich ein neues Bild von sich selbst und den anderen Menschen. Dies ist besonders für die vielen, die auf dem Lande geboren und aufgewachen und dann im jugendlichen Alter auf Arbeitssuche in die Stadt gezogen sind, eine schmerzliche Entdeckung. Der Individualismus macht den Menschen seiner selbst bewußt, aber sein Selbstbewußtsein gründet nicht auf dem traditionellen Zusammengehörigkeitsgefühl, das seinem Wesen und seiner Form nach dem Individualismus wenig oder gar keinen Platz einräumt, und auch nicht auf einer neuen Solidarität, da bisher keine konkrete neue Gemeinschaftsform an die Stelle der von der Geschichte zum Untergang bestimmten Strukturen getreten ist. Der einzelne entdeckt lediglich die Existenz seiner Individualität, ohne zu wissen, woraus diese besteht. Es fehlt ihm die Sprache, ihr Wesen und ihre Bestimmung zu erfassen. Auch die Familie ist in dieser Zeit des Umbruchs großen Belastungen ausgesetzt. Sie schrumpft von der traditionellen Großfamilie zur Familie im modernen Sinne zusammen, die sich aus Eltern und Kindern zusammensetzt. Die Autorität und Ehrerbietung, die den Eltern im Zeichen traditioneller Moral und Gesittung zukamen, werden von der jungen Generation in Frage gestellt, und in vielen Familien begehren die Kinder gegen ihre Eltern auf. Der Umstand, daß Kinder und junge Leute von zu Hause entfernt leben müssen, um die Schule oder Universität zu besuchen, läuft auf eine Schwächung des Familienzusammenhangs hinaus. Die Erziehung der Kinder geht immer mehr von den Eltern und der Gemeinde auf die Schule und die Lehrer über und entartet zur Buchgelehrsamkeit als Selbstzweck, anstatt eine Vorbereitung auf das Leben und den künftigen Beruf zu sein. Eheschließungen werden immer häufiger zu einer Angelegenheit des einzelnen, beziehungsweise zweier Personen, während sie früher die ganze Familie und die Stammesgemeinschaft angingen. Dies mag durchaus eine Verbesserung sein, aber die neuzeitliche Sitte ist nichtsde-
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stoweniger für die Eltern und Anverwandten schmerzlich. Sie finden es unerträglich, daß ihr Sohn oder ihre Tochter eine Ehe eingeht, ohne sie um Rat zu fragen oder ihnen Mitteilung davon zu machen. Solche Eheschließungen erschweren u. a. den Austausch von Hochzeitsgaben unter den Verwandten und machen ihn oft unmöglich. Manche Eltern verlangen neuerdings kostspielige Brautgaben und verweisen dabei auf die Tatsache, daß sie ihr Vermögen darauf verwandt haben, ihre Töchter in modernen Schulen ausbilden zu lassen. Sie vergessen dabei allerdings, daß auch die Erziehung des Bräutigams für seine Eltern und Verwandten mit großen Unkosten verbunden ist. Die Unbeständigkeit von Ehe und Familie hat unter den neuzeitlichen Belastungen bedeutend zugenommen und zu einer höheren Scheidungsund Trennungsquote als im traditionellen Leben geführt. Die Polygamie ist im Aussterben begriffen, was allerdings ein langwieriger Prozeß ist. Dafür nimmt in den Großstädten das Konkubinat reißend zu. Einer der Gründe hierfür ist, daß verheiratete Männer oft ihre Frauen auf dem Lande zurücklassen müssen, wenn sie zum Arbeiten in die Stadt ziehen und dort monate- oder gar jahrelang bleiben, ohne zu ihrer Familie zurückzukehren. Die sich daraus ergebende seelische Belastung bringt die Männer dazu, andere Frauen zu sich zu nehmen, die vor dem Gesetz nicht mit ihnen verheiratet sind. In jeder afrikanischen Stadt trifft man auf Prostitution, die für manche Frauen eine wirtschaftliche Notwendigkeit ist, da sie ihnen hilft, ein wenig Geld zu verdienen, einen Wohnplatz zu finden und einige der Bedürfnisse des Stadtlebens zu bestreiten. Die Notwendigkeit, die die Männer zwingt, in der Stadt zu arbeiten, während ihre Frauen und Kinder daheim auf dem Lande zurückbleiben, führt zu einem der ernstesten Probleme, die die städtische Lebensform mit sich bringt. Eine Trennung wird unvermeidbar, teils wegen der Wohnungsknappheit in der Stadt, teils weil die Männer es sich nicht leisten können, ihre ganze Familie bei sich zu behalten, aber auch, weil sie vielleicht auf dem Lande ein kleines Anwesen und ein paar Stück Vieh ihr eigen nennen, um die sich jemand kümmern muß. Die geographische Trennung der Familie bedeutet für die Ehepartner seelisch und gefühlsmäßig wie auch sexuell eine schwere Belastung. Zudem wachsen die Kinder ohne den Vater auf, und ihre Vorstellung von ihm erschöpft sich in dem Wissen, daß in einer fernen Stadt irgend jemand lebt, der ihnen gelegentlich Geld für Kleidung und Schulgeld schickt und vielleicht einmal in Jahr, vielleicht auch nur alle zwei Jahre nach Hause kommt. Für die Frau ist der Mann einfach jemand, der einmal im Jahr oder noch 19
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seltener auf sie herabsteigt, um seine Geschlechtslust zu stillen, sie zu schwängern und dann wie der Dieb in der Nacht zu verschwinden. An den täglichen Aufgaben und Pflichten, die sich aus der Gründung einer Familie ergeben, hat er kaum Anteil. Die Frau ist für die Kinder Mutter und Vater zugleich. Es ist unvermeidlich, daß ein solches Familienleben alle Angehörigen der Familie ernstlich belastet. Man muß jedoch sagen, daß viele Frauen sich in einer solchen Lage redlich bemühen, den Kindern ein Zuhause zu schaffen und die entstehenden Probleme voll Mut und Rechtschaffenheit anpacken. Ein weiterer markanter Zug der modernen afrikanischen Familie ist die Tendenz zur Mischehe. Diese Art der Ehe ist insofern gemischt, als die Partner verschiedenen Stämmen, Konfessionen, Rassen oder Nationalitäten angehören. An sich sind solche Ehen nicht einzigartig oder von anderen Ehen grundsätzlich verschieden, aber manchmal führt doch die unterschiedliche Abstammung und Prägung der Partner dazu, daß der Zusammenhalt, die Widerstandskraft oder gar die Existenz ihrer Beziehung in Frage gestellt wird. Eine starke Belastung der Ehe ergibt sich auch aus dem Bildungsgefälle zwischen den Ehegatten, besonders wenn der Mann nach der Eheschließung ein Universitätstudium absolviert oder sich in Europa weiterbildet, während seine Frau nur die Volks- oder Mittelschule besucht hat. Eine Anzahl dieser Ehen scheint unter der Belastung zusammenzubrechen. Auch das Fehlen einer vernünftigen Erziehung fürs Leben wirkt sich nachteilig auf die moderne afrikanische Familie aus. Während die Jungen und Mädchen in der traditionellen Gesellschaft insbesondere bei den Initiationsriten und auch noch danach in allen Fragen des Geschlechtlichen, der Ehe und Familie unterwiesen werden, geben die heutigen Schule einen solchen Vorbereitungsunterricht nur in sehr beschränktem Maße und oft überhaupt nicht. Diese Schulen verbringen mehr Zeit damit, den jungen Leuten das Sezieren von Fröschen und die Geschichte der Kolonialzeit beizubringen, als ihnen den Weg zu einem glücklichen Ehe- und Familienleben zu weisen. Wenn dieses Erziehungssystem mit seinen überalterten Strukturen nicht bald verändert wird, gehen wir einem tragischen Chaos im Bereiche der Gesellschaft, der Moral und der Familie entgegen. Die Unglückssaat ist aufgegangen und die Ernte nicht mehr weit. Die Erziehung ist heute in Afrika vielleicht die Sache, von der am meisten Aufhebens gemacht wird. Seit der Wiedergewinnung ihrer
Probleme des raschen Wandels
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Unbhängigkeit sind die afrikanischen Staaten bestrebt gewesen, die Anzahl ihrer Schulen und Hochschulen zu verdoppeln oder gar zu verdreifachen. Einige dieser Schulen leiden unter Lehrermangel, an anderen unterrichten hauptsächlich Ausländer, während manche nur über eine behelfsmäßige oder unzureichende Lehrmittelausrüstung verfügen. Die meisten Kinder erhalten nur sechs bis zehn Jahre lang einen Unterricht, durch den sie weder auf einen Beruf noch auf das Leben als Erwachsene vorbereitet werden. Dieses Erziehungssystem kann eines Tages nur zu gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Chaos führen. Eine wachsende Anzahl von Afrikanern begibt sich zur Universitäts- und technischen Ausbildung nach Übersee. Die Kosten sind beträchtlich, und die meisten dieser Studenten finden es schwer, ihr Studium zu finanzieren. Andere Probleme sind das Erlernen neuer Sprachen, die Anpassung an eine fremde Lebensweise und die rassische Diskriminierung im Gastland. Da sie praktisch in jedes Land der Welt gehen, kommt außerdem hinzu, daß sie unter den Einfluß der verschiedensten politischen, wirtschaftlichen und Erziehungssysteme geraten, die sich schwer unter einen Hut bringen lassen, wenn die Studenten in ihr Heimatland zurückkehren und Arbeit aufnehmen. Dies ist jedoch immer noch besser, als überhaupt keine höhere Bildung zu haben. Wir wollen uns nun den kulturellen Problemen der Neuzeit in Afrika zuwenden. Immer mehr gebildete Afrikaner werden sich bewußt, daß der Kulturwandel sie ihrer angestammten kulturellen Tradition entfremdet hat, ohne ihnen dafür einen befriedigenden Ersatz zu bieten. Dieses Bewußtsein hat zu einer verstärkten Suche nach der afrikanischen Kultur geführt, die aus der traditionellen Solidarität hervorgehend in die moderne Welt hineingestellt werden soll. Dieser Versuch einer Wiederentdeckung der kulturellen Welt von Gestern findet in der Négritude, im Begriff der Afrikanischen Persönlichkeit und im erneut wachgewordenen Interesse an Volksmusik, Volkstanz und Volksmärchen vielfältigen Ausdruck. Gleichzeitig streben die afrikanischen Künstler bewußt danach, Werke der bildenden Kunst, Dramen, Gedichte, Romane und Musik zu schaffen, die spezifisch afrikanisch und dabei doch in der Welt von Heute beheimatet sind. Es verbleibt uns jetzt nur, etwas über den religiösen Aspekt der modernen Umwälzungen in Afrika zu sagen. Wir wollen ihm ein Kapitel widmen, obwohl ihm offensichtlich mehr zustünde, wie denn auch 19*
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Christentum, Islam und andere Religionen in Afrika
die anderen Dimensionen des afrikanischen Menschen im Wandel eingehender behandelt werden könnten, als es der knappe Raum uns hier gestattet.1
CHRISTENTUM, ISLAM U N D A N D E R E R E L I G I O N E N IN A F R I K A Bisher haben wir uns mit den traditionellen afrikanischen Vorstellungen in Religion und Weltanschauung befaßt und im letzten Kapitel die sich zutiefst wandelnde Situation in Afrika behandelt. Unser Überblick bliebe jedoch unvollständig, wenn wir nicht auch das Christentum und den Islam erörterten, die beide in Afrika beheimatet und tief in der Geschichte unseres Kontinents verwurzelt sind. Diese beiden Religionen erheben Anspruch auf die Anhängerschaft der afrikanischen Völker 1
Die Wandlungen im heutigen Afrika sind aufmerksam verfolgt worden und bilden den Gegestand einer umfangreichen Literatur. Wir können hier nur einige Titel nennen: G. Hunter: The New Societies of Tropical Africa, Oxford 1962, S. und P. Ottenberg Hsg. : Cultures and Societies of Africa, New York i960, P . C . L l o y d : Africa in Social Change, London 1967, Chinua Achebe: Okonkwo oder das Alte stürzt, D. Ü. Stuttgart 1959, A. W. Southall und P. C. W. Gutkind: Townsmen in the Making, London 1956, M. Banton Hsg.: Political Systems and the Distribution of Power, London 1965, M . J . Herskovits und M. Harwitz Hsg. : Economic Transition in Africa, London 1964, R . Dumont: L'Afrique Noire est mal partie, Paris 1962, J. S. Coleman und C. C. Rosberg Hsg.: Political Parties and National Integration in Tropical Africa, Berkeley und Los Angeles 1964, G. C. Carter Hsg. : Politics in Africa, New York 1966, B. Davidson: Which Way Africa?; the Search for a New Society, London 1964, K. Nkrumah: Consciencism London 1964, ders. : Africa Must Unite, London 1963, L. van den Berghe Hsg.: Africa: Social Problems of Change and Conflict, San Francisco 1965, T. Mboya: Freedom and After, London 1963, A. A. Mazrui: Towards a Pax Africana, London 1967, ders: On Heroes and Uhuru Worship, London 1967, A. O. Odinga: Not Yet Uhuru, London 1967, K. D. Kaunda: Zambia Shall Be Free, London 1962, J . E. Goldthorpe: An African Elite, Nairobi 1965, J. R . Rees Hsg.: Africa: Social Change and Mental Health, New York 1959, U N E S C O : Social Implications of Industrialisation and Urbanisation in Africa South of the Sahara, Paris 1956, A. Phillips Hsg.: Survey of African Marriage and Family Life, London 1953, A. W. Southall Hsg.: Social Change in Modern Africa, Oxford/London 1961, W . H. Sangree: Age, Prayer and Politics in Tiriki, Kenya, Oxford/London 1966, R . E. S. Tanner: Transition in African Belief, Maryknoll, New York 1967. Die meisten dieser Werke enthalten brauchbare Bibliographien.
Das Christentum in Afrika
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und sind seit dem neunzehnten Jahrhundert insbesondere in das Gebiet der herkömmlichen Naturreligionen vorgedrungen. Es liegt bereits eine umfangreiche und immer noch anwachsende Literatur über das Christentum und den Islam in Afrika vor, und es ist daher nicht meine Absicht, im enggesteckten Rahmen dieses Kapitels die mannigfachen Aspekte dieser und weiterer Religionen vollständig zu behandeln. Meine Beobachtungen werden sich auf einige der wichtigsten Charakterzüge des Christentums und Islams im Zuge ihrer neuerlichen Ausbreitung in Afrika und auf ihre Begegnung mit dem traditionellen Lebenskreis beschränken, den wir in diesem Buch in den Vordergrund gestellt haben. Im folgenden und letzten Kapitel werde ich einige der Probleme zu Diskussion stellen, die sich im Zusammenhang mit den Umwälzungen der heutigen Zeit aus der Koexistenz der verschiedenen Religionen in Afrika ergeben. Offensichtlich sind diese Probleme zu komplex, als daß sie auf wenigen Seiten hinreichend dargestellt werden könnten. Aber schon der bloße Hinweis auf sie dürfte genügen, der vorhegenden Einführung in die afrikanische Religion und Weltanschanung einen passenden Abschluß zu geben. a) Das Christentum in Afrika Das Christentum in Afrika hat ein so hohes Alter, daß man es mit Recht als einheimische, traditionelle, afrikanische Religionsform bezeichnen kann. Lange vor dem Aufbruch des Islams im siebten Jahrhundert war das Christentum in ganz Nordafrika, Ägypten, Äthiopien und Teilen des Sudans fest etabliert. Es war eine dynamische Form des Christentums, die große Gelehrte und Theologen wie Tertullian, Origenes, Klemens von Alexandrien und Augustinus hervorbrachte. Die afrikanische Christenheit leistete durch ihre Gelehrsamkeit und Theologie, durch ihre Teilnahme an kirchlichen Konzilien, durch die Verteidigung des Glaubens, die Klosterbewegung, die Übersetzung und Erhaltung der Heiligen Schrift, das Märtyrertum, die berühmte Katechetenschule von Alexandrien, die Liturgie und freilich auch durch Häresien und Meinungsstreitigkeiten einen gewichtigen Beitrag zur Entwicklung des Christentums. Der Islam, das Heidentum und dazu politische Hindernisse hemmten schließlich nicht nur die Ausbreitung des afrikanischen Christentums, sondern stellten selbst seine Existenz in Frage, so daß die alte Kirche in Afrika zusammenschrumpfte und nur in Äthiopien und Ägypten
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Christentum, Islam und andere Religionen in Afrika
überleben konnte. In diesem Ländern hat das Christentum sowohl als weltumfassender Glaube wie als einheimische Religion seine Eigenart bewahrt. Während die Kirche in Ägypten die Rolle einer Minderheit spielt, hat sie in Äthiopien immer eine führende und bevorzugte Stellung innegehabt. Jahrhundertelang war die Kirche in Äthiopien von dauerndem Kontakt zur übrigen christlichen Welt abgeschnitten. Diese Isolierung trug zum Teil dazu bei, daß sie einzigartig afrikanische Züge annahm, minderte aber auch ihre Spiritualität herab und hinterließ ihr das Erbe einer konservativen Grundeinstellung, die bei dem Versuch der Kirche, sich den Gegebenheiten der Neuzeit anzupassen, ein zähes Hindernis darstellt. Ihre Rundkirchen, eine große Zahl von Heiligen, häufiges Fasten und allmonatliche Feste, die Ehrenstellung der Seligen Jungfrau Maria, die Einhaltung vieler jüdischer Gebräuche, die Rangordnung von Diakonen, Priestern und Bischöfen, die sieben Sakramente, eine prächtige Liturgie, ihr mächtiger aber nur selten gebildeter Klerus und ihre monophysitische Gotteslehre sind die Hauptmerkmale der Äthiopischen Orthodoxen Kirche. Sie ist wahrhaft „afrikanisch" insofern, als diese Wesenszüge sich viele Jahrhunderte lang entwickelt haben und Ausdruck einer Welt sind, die nicht von außen her verformt wurde. Dies erhellt aus der Tatsache, daß die äthiopischen Christen „an eine ganze Heerschar von bösen Geistern glauben"... „ Z u m Schutze gegen diese und andere Geister trägt jedermann Amulette, die aus magischen Gebeten und Formeln bestehen, welche von Priestern auf Schriftrollen geschrieben oder in kleine Büchlein eingetragen und in Lederfutteralen um den Hals oder am Arm getragen werden. Man findet Moslems, die diese christlichen Amulette neben anderen, von ihren eigenen heiligen Männern stammenden, tragen" 1 . Die Geisterbeschwörung ist eine der Hauptaufgaben des Klerus. In Äthiopien ist das Christentum Staatsreligion. Die Geschichte und Politik des Kaisertums ist eng mit der Kirchengeschichte und dem kirchlichen Leben verknüpft. Während die Kirche in Äthiopien die Einfälle des Islams überlebte und ihre Stellung als führende religiöse Macht im Lande behaupten konnte, wurde sie in Ägypten beinahe ausgelöscht, wie es in anderen Teilen Nordafrikas geschah. Die Überreste der Koptischen Kirche können auf eine lange Tradition bis hin zur Zeit der Apostel zurückblicken, und die Kopten glauben fest daran, daß der Hl. Markus ihre Kirche gegründet habe. In der Mitte des siebten Jahrhunderts wurde 1
J . S. Trimingham: Islam in Ethiopia,
Oxford/London 1952, S. 28.
Das Christentum in Afrika
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Ägypten von den Arabern erobert, und der Islam setzte sich im Lande fest. Die Kirche durchlief Zeiten der Ruhe und des Friedens, mußte aber auch Zwangsmaßnahmen und Verfolgungen von Seiten des Islams und islamischer Regierungen erdulden, die die Zahl der Christen auf etwa vier Prozent der heutigen Bevölkerung verringerten. Zum Vergleiche sei erwähnt, daß der christliche Bevölkerungsanteil in Äthiopien fünfundfiinfzig Prozent beträgt. Die Koptische Kirche weist viele Ähnlichkeiten mit der orthodoxen Kirche Äthiopiens auf. Beide unterstanden jahrhundertelang demselben Patriarchen von Alexandrien. Diese Christen verwenden die arabische Sprache, da das Koptische ausgestorben ist, obwohl man es wie das Lateinische noch in liturgischen Büchern findet, allerdings mit arabischem Paralleltext. Sie halten viele Fasttage ein und spiegeln in manchen Dingen die Art des Christentums wider, wie es in Äthiopien geübt wird. Ihr Klerus ist hierarchisch nach Diakonen, Priestern und Bischöfen geordnet, und an der Spitze steht der Patriarch. Dies sind also die beiden Hauptgebiete des heutigen Afrikas, in denen das Christentum eine echt afrikanische, einheimische, alteigene Religion ist, welche tief in der Geschichte und den Traditionen der Menschen wurzelt, die sich zu ihr bekennen. In Nubien und anderen Teilen des Sudans lebte sie viele Jahrhunderte lang bis vor nicht allzu langer Zeit fort, um dann den Mächten, die sich ihr entgegenstellten, zu erliegen. Die Urkirche in diesen beiden Ländern betrieb keine bewußte Missionierung nach außen hin, obwohl reichlich Beweise vorliegen, daß das Verbreitungsgebiet des Christentums über das heutige Äthiopien und Ägypten hinausging. Die Römisch-Katholische Kirche begann vom Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts an, durch ihre Priester aus Portugal an der Westküste, der Ostküste und der Kongomündung religiöse Arbeit zu leisten. Diese war jedoch in erster Linie für die europäischen Händler bestimmt, und es gelang dem römischen Christentum nur an wenigen Stellen, in das Innere vorzudringen und eine nennenswerte Anzahl von Afrikanern zu erreichen. Als dann Dänemark, Holland und England ihre Handels- und Kolonialtätigkeit über die Meere ausdehnten, widmeten sich auch Geistliche aus diesen Ländern der Betreuung einer steigenden Anzahl von Europäern. In dieser Frühzeit machte sich jedoch das abendländische Christentum unter den Völkern Afrikas kaum bemerkbar, wenn auch ein paar Gemeinschaften, vor allem an der Kongomündung, bekehrt wurden. Die eigentliche moderne Ausbreitung des Christentums in Afrika setzte
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Christentum, Islam und andere Religionen in Afrika
mit der am Ende des achtzehnten Jahrhunderts beginnenden Rückkehr freigelassenner christlicher Sklaven nach Westafrika ein. U m die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zählte das Christentum eine Anhängerschaft mit steigender Tendenz entlang der Küste von Sierra Leone bis Nigeria. Diesmal erfolgte die Expansion von sich aus und brauchte sich nicht einmal auf die ständige Hilfe der Geistlichkeit zu stützen. Gleichzeitig gelang der Einbruch in das Innere des Kontinents. Die nächste Phase, die im neunzehnten Jahrhundert anhob, stand im Zeichen missionarischer Bemühungen. Nun steigerte sich das Interesse Englands, der übrigen europäischen Länder und der Vereinigten Staaten an Afrika, wie die Ankunft von Landhaschern, Philanthropen, Forschern, Missionaren, Jägern, Händlern, Journalisten und vielen anderen Gruppen aus diesen Ländern beweist. Für unsere Zwecke ist es wichtig festzustellen, daß christliche Missionare aus Europa und Amerika entweder kurz vor der Landnahme durch die Kolonialstaaten oder gleichzeitig damit in das Innere Afrikas vordrangen. Das Bild von Christentum, das den Afrikanern so vermittelt wurde und das größtenteils auch heute noch gilt, ist sehr stark von der Kolonialherrschaft und allem, was damit zusammenhing, geprägt. Diese Zeit ist uns noch zu nahe, als daß wir das eine vom anderen unterscheiden könnten, eine Tatsache, die durch das Kikujusprichwort bestätigt wird: „Einen römisch-katholischen Priester und einen Europäer gibt es nicht — beide sind ein und dasselbe!" Ein weiterer charakterischer Zug des Missionschristentums ist darin zu sehen, daß buchstäblich jede christliche Sekte und Konfession, die in Europa und Amerika existiert, auch in Afrika tätig ist. Infolgedessen macht man sich in Afrika vom Christentum kein einheitliches Bild. Verschiedene kirchliche Strukturen und Traditionen sind aus Übersee nach Afrika eingeführt worden, und die afrikanischen Christen haben sie übernommen, ohne auch nur ihre Bedeutung oder Herkunft zu begreifen. Diese Konfessionen sind mehr darauf bedacht, „vollkommene" Anglikaner, Katholiken, Lutheraner, Baptisten, Adventisten, Quäker usw. heranzubilden, als aus ihren Anhängern gute Gefolgsleute Christi zu machen. Die religiöse Zersplitterung ist einer der schlimmsten Trennungsfaktoren im heutigen Afrika. Einige Konfessionen pflegten früher handgreiflich aneinander zu geraten, während sie sich heute im hitzigen Predigtwettstreit um Seelen bemühen. Das Christentum hat sich in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts durch die vereinten Anstrengungen überseeischer Missionare und einheimischer Konvertiten schnell ausgebreitet. Die Schulen wurden zu
Das Christentum in Afrika
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Pflegestätten der Christengemeinden, und den Neubekehrten wurde der Ehrentitel „Leser" verliehen. Dasselbe Gebäude wurde die Woche hindurch als Schule, samstags und sonntags aber als Kirche — zum Konfirmandenunterricht bzw. Gottesdienst — verwendet. Wie wir bereits festgestellt haben, sind die Afrikaner, die eine Schulbildung genossen haben, am stärksten vom Wandlungsprozeß der neuen Zeit erfaßt worden. Es muß hier vermerkt werden, daß die Missionare, welche die neuzeitliche Phase der Ausbreitung des Christentums in Zusammenarbeit mit ihren afrikanischen Helfern in die Wege leiteten, fromme, aufrichtige und opferbereite Männer und Frauen waren. Sie waren jedoch keine Theologen. Einige von ihnen hatten nur geringe Bildung, und die meisten afrikanischen Prediger und Katecheten waren entweder Analphabeten oder hatten nur recht dürftige Kenntnisse. Diese Arbeiter im Weinberg kümmerten sich mehr um praktische Bekehrungsarbeit, Erziehungsfragen und Krankenbetreuung als um irgendwelche akademisch-theologischen Probleme, die sich aus dem Auftreten des Christentums in Afrika ergaben. Das Missionschristentum war anfänglich nicht für eine ernstliche Auseinandersetzung mit der traditionellen Religion und Weltanschauung oder den sich ankündigenden modernen Umwälzungen gewappnet. Darum befindet sich die Kirche im heutigen Afrika in einer Zwangslage: sie muß versuchen, ohne eine eigenständige Theologie auszukommen. Die vielleicht verhängnisvollste Entwicklung im modernen afrikanischen Christentum ist das Entstehen unabhängiger Separatistenkirchen. Im allgemeinen handelt es sich hierbei um kleine Sekten, die sich von den Missionskirchen oder voneinander losgesagt haben. Man spricht von etwa fünftausend solcher Abfallbewegungen in ganz Afrika. Fast alle sind aus der Anglikanischen, Lutheranischen oder Protestantischen Kirche hervorgegangen, während wahrscheinlich keine einzige der Orthodoxen Kirche entstammt und nur etwa zwei bis drei sich von der Römisch-Katholischen Kirche abgespalten haben. Mindestens ein Fünftel der Christen in Afrika gehört solchen Splitterkirchen an. Für ihre Vermehrung und ihren Weiterbestand lassen sich mehrere Ursachen anführen. Wir können diese nur aufzählen, ohne uns eingehender damit zu beschäftigen, da über dieses Thema bereits eine umfangreiche Literaturs vorliegt. 2 Über die Abfallbewegungen in den afrikanischen 2
Siehe die am Ende dieses Abschnitts angeführte Literatur.
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Christentum, Islam und andere Religionen in Afrika
Kirchen ließe sich wohl manches Abfällige sagen, doch stellen sie auf ihre Weise den Versuch afrikanischer Völker dar, dem Christentum ein einheimisches Gepräge zu geben und es so auszulegen, daß es für sie sinnvoll und praktisch verwirkbar wird. Das Ärgernis der in den protestantischen Missionskirchen obwaltenden Spaltung hat unter den afrikanischen Neuchristen Schule gemacht. Verschlimmert wird die Situation noch dadurch, daß die Missionare, die ein in sich gespaltenes Christentum ins Land trugen und verbreiteten, auf die Begründer ihrer Konfession, ihre Abart des Christentums und ihre Tradition auch noch stolz waren oder es noch sind. Dadurch entsteht der Eindruck, daß Kirchenspaltungen ohne Bedeutung sind. V o m afrikanischen Standpunkt aus folgert man daraus, daß es angesichts der vielen von den Missionaren vertretenen Konfessionen nichts ausmacht, wenn auch die Afrikaner ihre eigenen, von afrikanischen Mitchristen gegründeten und geleiteten Kirchen haben. Schließlich sind im eigenen Lande hergestellte Waren oft billiger als Importgüter. Einer der Gründe für die häufigen Loslösungsbewegungen von den Missionskirchen ist die Kontrolle, die die Missionare über die afrikanischen Neuchristen und Kirchengemeinden ausüben. Dies läuft darauf hinaus, daß die Europäer und Amerikaner in kirchlichen wie in politischen Dingen als Herrscher über die Afrikaner betrachtet werden. Wenn Afrikaner gegen die politische Herrschaft der Europäer aufbegehrten, wurden sie mit Geldstrafen belegt, ausgewiesen, ins Gefängnis geworfen oder hingerichtet. Begehrten sie aber gegen die Herrschaft der Missionare in der Kirche auf, dann konnten sie schlimmstenfalls exkommuniziert werden, und wenn dies geschah, hatten sie die Möglichkeit, ihre eigenen Kirchen zu organisieren, die von der Missionsherrschaft frei waren. Hier konnten sie die Herren sein. So hat also der betont paternalistische Führungsstil der Missionare viele afrikanische Christen veranlaßt, auf lokaler Ebene ihre Unabhängigkeit durchzusetzen und alle organisatorischen Bindungen an die Missionskirchen zu lösen. Darüber hinaus gilt natürlich, daß der afrikanische Nationalismus sich nicht einfach auf den politischen Bereich beschränken kann. Solange die Kirche in fremden Händen ist, mögen es auch die Hände von Brüdern in Christo sein, solange auch werden die Afrikaner sich auf ihrer Suche nach kirchlicher Freiheit gegen den Status quo auflehnen. Gewöhnlich wird diese Freiheit in den unabhängigen Kirchen bzw. durch sie verwirklicht.
Das Christentum in Afrika
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Oft spielten in. den Auseinandersetzungen, die zur Spaltung von Kirchen führten, auch Persönlichkeitskonflikte und Rivalitäten um die Führung zwischen Missionaren und afrikanischen Christen sowie zwischen manchen Afrikanern selber eine Rolle. Eine weitere Ursache der Spaltungserscheinungen, die vielleicht nicht ohne weiteres ersichtlich ist, dürfte darin liegen, daß es dem Missionschristentum nicht gelungen ist, tief genug in die afrikanische Religiosität einzudringen. Wir haben dargelegt, wie religiös die Afrikaner sind und daß sie im traditionellen Leben ohne Religion überhaupt nicht auskommen können. Für viele Afrikaner reduziert sich der Sinn der Missionskirche einfach auf eine Reihe von Vorschriften, die einzuhalten sind, auf Versprechungen, die in der zukünftigen Welt eingelöst werden sollen, auf Hymnen ohne Rhythmus, gewisse Rituale und ein paar andere äußerliche Dinge. Sie vertritt ein Christentum, das sich sechs Tage in der Woche hinter verriegelten Türen verschanzt, um am Sonntag jeweils zwei Stunden lang und dann vielleicht noch einmal in der Woche in Erscheinung zu treten. Das Christentum findet in der Kirche statt, der Rest der Woche geht leer aus. Die Afrikaner, denen auf Grund ihrer Tradition ein religiöses Vakuum fremd ist, finden die religiöse Ausbeute bei dieser Art von Christentum gering, da es nicht ihr ganzes Leben ausfüllt oder ihrem Weltverständnis entgegenkommt. Zudem kommen sich afrikanische Christen in Missionskirchen oft völlig deplaziert vor. So gründet z. B. die christliche Lehre zum großen Teil auf Büchern, welche manche ältere Christen nicht zu lesen imstande sind. Die Texte der Kirchenlieder sind Übersetzungen europäischer und amerikanischer Originale; ihre Weisen sind arm an Rhythmus und können nicht von Körperbewegungen als religiöser Ausdrucksform begleitet werden. Für die meisten Afrikaner ist der Gottesdienst in Missionskirchen einfach langweilig. Die unabhängigen Kirchen stellen den Versuch dar, „einen Ort zu finden, wo man sich heimisch fühlt", 3 nicht nur im Rahmen des Gottesdienstes, sondern auch im gesamten Bekenntnis und Ausdruck christlicher Glaubenshaltung. In der Obhut der unabhängigen Kirchen können die afrikanischen Christen ihren Tränen freien Lauf lassen, ihren Kummer lauthals verkünden, ihre spirituellen und körperlichen Nöte zur Sprache bringen, auf die Welt, in der sie leben, eingehen und ihr Inneres vor Gott entblößen. 3
Der Ausdruck wird von F. B. Welbourn und B. A. Ogot in ihrer Studie: A Place to Feel at Home, Oxford/Nairobi 1966, verwendet.
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Christentum, Islam und andere Religionen in Afrika
Die Entfremdung des afrikanischen Menschen ist nicht nur durch das Missionschristentum, sondern auch durch die im vorigen Kapitel behandelten Wandlungsprozesse der Neuzeit herbeigeführt worden. Diese Wandlungen haben das Solidaritätsbewußtsein der alten Stammesgemeinschaft erschüttert und einer wachsenden Anzahl afrikanischer Völker den sicheren Boden unter den Füßen entzogen. Die Unabhängigkeitsbestrebungen innerhalb der Kirche stellen den Versuch dar, neue Grundlagen zu schaffen, die vielleicht das zerfallende Solidaritätsbewußtsein ersetzen können. Die ziemlich geringe Mitgliedschaft der einzelnen unabhängigen Kirchen macht sie zu einem psychologischen Schutzgebiet, in dem entwurzelte Männer und Frauen Trost finden können, dazu ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, Geborgenheit und Anerkennung ihres Eigenwertes. In diesem Zusammenhang ist die von Sundkler gemachte Beobachtung aufschlußreich, daß in der Südafrikanischen Union die Apartheidspolitik eine der Hauptursachen für das Entstehen der vielen Abfallbewegungen ist.4 Ich sehe allerdings auch das Zeitproblem als eine wichtige Ursache der Loslösungsbewegungen in der Kirche an. Es ist bedeutsam, daß sie fast alle der anglikanisch-protestantischen Kirchlichkeit entsprungen sind, welche in Afrika Einzelbekehrungen, die Lektüre der Bibel — die ganz oder teilweise in viele afrikanische Sprachen übertragen worden ist — und eine futuristische Hoffnung auf das baldige Kommen des Gottesreiches gefördert hat. Da der traditionelle Zeitbegriff, wie wir gesehen haben, die beiden Dimensionen des Samani und Sasa betont, ohne die Zeitspanne, die über ein paar Zukunftsjahre hinausreicht, ernstlich zu berücksichtigen, muß die Hoffnung auf ein unmittelbar bevorstehendes Paradies dieses für afrikanische Christen in greifbare Nähe rücken. Soll diese Hoffnung für sie echte Bedeutung annehmen, so bedarf sie der Verwirklichung vor aller Augen. Afrikanische Christen können sich nicht vorstellen, daß das Ende der Welt ein der Geschichte enthobener Mythus ist, der sich nicht ohne weiteres in den Begriffshorizont einzelner Männer und Frauen einordnen läßt. Sie warten auf die Verwirklichung dieser Zielvorstellung, sehen dann aber, wie der Tod nach ihren christlichen Verwandten greift. Von der zweiten Christengeneration an setzt die Ernüchterung ein, und genau an diesem Punkt machen sich auch Spaltungserscheinungen bemerkbar. Die Mitglieder 4
B . G. M . Sundkler: Bantu Prophets in South Africa, London 1948, 2. Auflage 1961.
Das Christentum in Afrika
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der so entstehenden messianischen Sekten sehen vielleicht unbewußt, wie ihre Hoffnung auf ein baldiges Kommen des himmlischen Reiches in ihrem Führer oder in den Prinzipien und Wesenszügen ihrer neuen Sekte zumindest teilweise verwirklicht wird. In ihrer neuen Bewegung nimmt die Zukunftsdimension konkrete Gestalt und Sinnfülle an. Hier sei es uns gestattet, einige der Hauptmerkmale dieser kirchlichen Abfallbewegungen Afrikas aufzuzeigen, da diese eine Form des Christentums auf dem Kontinent darstellen. Die meisten von ihnen legen großen Wert auf ihre Unabhängigkeit von der Kontrolle der Missionare. Es ist jedoch bemerkenswert, daß es neben den fünftausend Abfallbewegungen, die sich von den Missionskirchen losgesagt haben, weitere tausend gibt, die ihnen noch angeschlossen sind. Ihre Unabhängigkeit gilt in erster Linie bezüglich der Organisationsform, Führung, Entscheidungsgewalt und Finanzen. In anderen Dingen werden die Missionskirchen nachgeahmt, und einige Splitterkirchen wollen durchaus die Verbindung mit denjenigen Kirchen in Afrika und außerhalb des Kontinents aufrechterhalten, die auf eine längere Geschichte zurückblicken können. In den unabhängigen Kirchen spielen Offenbarung und Krankenheilung eine große Rolle. Einige verbieten ihren Anhängern den Gebrauch europäischer Medizin und lehren sie, sich völlig auf Gottes Allmacht zu verlassen, die durch Gebet und Heilungszeremonien zur Entfaltung gebracht wird. Offenbarungen erfolgen in Träumen und Visionen oder entspringen der Meditation der religiösen Führer, die sich auf unbestimmte Zeit an einen einsamen Ort zurückziehen. Auch das Wirken des Heiligen Geistes nimmt eine besondere Stellung ein. Beim Gottesdienst erwarten die Gläubigen, daß er über sie kommt. Wenn dies geschieht, reden sie in fremden Zungen. In diesen Kirchen wird die Bibel gewöhnlich wörtlich ausgelegt. Man muß sich allerdings vor Augen halten, daß manche ihrer Führer des Lesens völlig unkundig sind, daß die Masse der Gläubigen eine recht kümmerliche Erziehung genossen hat und daß folglich hier niemand je eine theologische Hochschule oder ein Priesterseminar besucht hat. Bei einigen Gruppen herrscht die Tendenz vor, sich fast ausschließlich an das Alte Testament und seine Lehren zu halten. Manchmal haben Frauen Führungsstellungen inne. Sie werden von ihren Anhängern voll anerkannt und respektiert. Die Disziplin wird in diesen Gruppen recht unterschiedlich gehandhabt. Einige der unabhängigen Kirchen sind sehr streng und verbieten
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Christentum, Islam und andere Religionen in Afrika
ihren Mitgliedern, Schweinefleisch zu essen, Alkohol zu trinken, mehr als eine Frau zu haben, europäisch zu tanzen, sich, aufreizend zu benehmen, zu betteln usw., ganz abgesehen davon, daß sie sie eindrücklich mahnen, schwere Sünden wie Ehebruch, Mord, Diebstahl und Trägheit zu meiden. Andere Kirchen dagegen üben mehr Nachsicht. Übeltäter werden je nach der Schwere ihres Vergehens bestraft. Einige werden mit Geldbußen belegt, anderen wird eine Bewährungsfrist zugebilligt, und wieder andere werden sogar exkommuniziert, wenn sie sich als notorische Sünder entpuppen. In der gottesdienstlichen Praxis neigen die unabhängigen Gruppen dazu, sich dem Vorbild der Missionskirchen anzuschließen, von denen sie sich ursprünglich abgespalten haben. Allerdings werden bei ihnen Dinge wie Singen und Predigen, Beten für die Kranken, Geisteraustreibungen und die Unterstützung ihrer Führer und in Angriff genommener Projekte durch Geld- und Sachspenden viel ernster genommen. Die meisten von ihnen, wenn nicht alle, behalten das Sakrament der Taufe bei, und manche Mitglieder können sich beliebig oft taufen lassen. Dagegen nimmt die Eucharistie einen ziemlich bescheidenen Platz ein oder wird völlig fallengelassen. Bei der Feier christlicher Feste machen sich wieder starke Unterschiede bemerkbar. So begehen einige Sekten nicht das Weihnachtsfest, weil es ihrer Ansicht nach in Europa mit heidnischen Bräuchen verknüpft ist. Es ist schwer, die Wirkungskraft und das Niveau der unabhängigen Kirchen in Afrika richtig abzuschätzen. Einige von ihnen haben religiöse Praktiken der afrikanischen Tradition in sich aufgenommen, die ausgesprochen unchristlich sind und den christlichen Gehalt ihrer Lehre zu ersticken bzw. auf ein niedriges Maß herabzudrücken drohen. Andere dagegen zeigen ein hohes Maß an christlicher Lebensverantwortung, wie man aus dem sittlichen Verhalten ihrer Mitglieder und der in der Gemeinde herrschenden Atmosphäre schließen kann, in welcher den existentiellen Problemen des einzelnen genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird. Einige der unabhängigen Gruppen, oder zumindest ihre Führer, sind Drangsalen und Verfolgungen seitens der Missionskirchen und Regierungen angesetzt. Im Falle der letzteren übernehmen auch unabhängige afrikanische Regierungen bisweilen die frühere Unterdrückerrolle der Kolonialherren. Oft zwingt eine solche Verfolgung die religiöse Bewegung in den Untergrund und verleiht ihr dadurch größere Stoßkraft. Wie immer man die Ursachen, die zur Entstehung der unabhängigen Kirchen geführt haben, und ihre heutigen
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Entwicklungstendenzen beurteilen mag, daß sie ein wichtiges Element i m afrikanischen Christentum sind, ist nicht zu bestreiten. M a n übertreibt allerdings wahrscheinlich, wenn man in ihnen die Träger einer „afrikanischen
Reformation"
sieht,
wie
einige Autoren
sie
gerne
bezeichnen. 5 A u f der anderen Seite steht die Art afrikanischen Christentums, die wir bereits als Missionschristentum bezeichnet haben. W i r müssen es in unsere Diskussion einbeziehen, da uns diese beiden christlichen Organisationsformen am besten Aufschluß über den Kontakt zwischen dem Christentum und der afrikanischen Tradition geben. B e i der Besprechung der Ursachen, die zur Bildung unabhängiger Kirchen führten, haben wir bereits einige Wesenszüge des Missionschristentums angedeutet. Sein hervorstechendster Z u g ist vielleicht seine organisatorische Ausbreitung. Mag es auch mit dem Stigma des Kolonialismus, der Fremdartigkeit, des Westlertums und eines paternalistischen Gebarens behaftet sein, so zeichnet es sich andererseits doch durch große Entwicklungsmöglichkeiten, straffe Organisationsform, Institutionalisierung, feste Bindungen an die historischen Traditionen des Christentums, finanzielle Stärke, Personalhilfe aus Übersee, ein gesteigertes ökumenisches Interesse und den bewußten Versuch aus, sich mit den modernen Problemen Afrikas auseinanderzusetzen. Natürlich sind einige Missionskirchen in diesen Dingen weiter forgeschritten als andere. Das Missionschristentum behält viele Anachronismen bei, die zum Teil von der betreffenden europäischen oder amerikanischen Mutterkirche längst abgestreift worden sind, z. B . auf dem Gebiet der Liturgie, des Kirchengesangs, der Glaubensartikel und Doktrinen, der Architektur und bildlicher Darstellungen, des A u f baus der Kirche und der Geistlichkeit. Afrikanische Neuchristen, die sich zum Missionschristentum bekennen, versuchen oft, soviel wie möglich davon in sich aufzunehmen. Aber dieses Christentum ist tief in der europäisch-amerikanischen Kultur verwurzelt. Die von Williamson in seiner Studie über das Christentum bei den Akan gemachten Beobachtungen scheinen die Situation bei anderen afrikanischen Völkern gut wiederzugeben. Er schreibt, die missionarischen Bemühungen hätten sich darauf konzentriert, die Neubekehrten v o m Leben i m traditionellen R a u m fortzulocken und sie einer neuen 5
Siehe die faszinierende und umfassende Einzelstudie über diese religiösen Bewegungen Afrikas von D. B. Barrett: Schism and Renewal, London und Nairobi, 1968.
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Christentum, Islam und andere Religionen in Afrika
Lebensweise zuzuführen, die nach den Begriffen der Missionare echter, zivilisierter und christlicher Ausdruck des neuen Glaubens war. „Ein Akan wurde dadurch Christ, daß er der neuen, vom Missionar eingeführten Ordnung anhing und nicht etwa, indem er im Rahmen traditioneller Religiosität auf sein Heil hinarbeitete..." Das Ergebnis läßt sich wie folgt zusammenfassen: „Was als Christentum gilt, wie es von vielen verstanden wird, ist die Verwerfung des Götter- und Fetischglaubens, die Kirchenmitgliedschaft, die Entrichtung kirchlicher Abgaben und der Gehorsam kirchlichen Vorschriften gegenüber". Williamson kommt zu den Schluß, daß das Missionschristentum „sich als unfähig erwiesen hat, sich in die spirituelle Weltanschauung der Akan einzufühlen oder seine eigene Botschaft auf sie abzustimmen. Seine Wirkung wird dadurch abgeschwächt". Diese Art des Christentums versuchte die Akan aus ihrem traditionellen Lebenskreis herauszulösen, und nicht etwa, sie innerhalb ihres eigenen Lebenskreises zu erlösen.6 Zu solchen beunruhigenden Feststellungen kam ein Mann, der sechsundzwanzig Jahre als Missionar in Ghana gewirkt hatte und dort auch starb. Aus Ostafrika werden ähnliche Zustände berichtet. Welbourn, der nahezu zwanzig Jahre lang als „Missionar", Studentenseelsorger, Heimtutor und Dozent in Uganda tätig gewesen ist, und Ogot schreiben, die protestantische und katholische Form des Christentums habe für ihre afrikanischen Anhänger stets die Trennung von der eigenen Gesellschaft und das Zusammengehen mit den Europäern bedeutet, wie die Übernahme europäischer Namen, die Mitgliedschaft in Missionskirchen, die westliche Erziehung und die darauf begründete Hoffnung, im Missions- oder Regierungsdienst voranzukommen, bewiesen. Diese Form des Christentums unternehme keinen ernstlichen Versuch, „Ahnen und Hexen, Gesang und Tanz in das christliche System einzubeziehen". Die beiden Autoren kommen zu dem Schluß, daß „die Kirche hinsichtlich der Bekehrung eines ganzen Volkes versagt hat, und zwar zumindest zum Teil deshalb, weil sie es im wesentlichen nicht verstand, Afrika mehr als ein westliches Abbild ihres Glaubens darzubieten... Die Kirche kann den Menschen erst dann das Gefühl geben, einer nationalen oder weltweiten Gemeinschaft anzugehören, wenn sie gelernt haben, sich 6
S. G. Williamson: Akan Religion and the Christian Faith, Accra 1965, S. i7of. Vgl. auch die aus soziologischer Sicht durchgeführte Studie über die Sukuma von R . E. S. Tanner: Transition in African Belief, Maryknoll, N e w York, 1967.
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in ihrer engeren Heimat heimisch zu fühlen". 7 In einer anderen Studie entwickelt Welbourn den Gedanken, daß die Missionare sogar den afrikanischen Neuchristen nur einen Teil der Dinge gegeben hätten, die ihnen eigentlich zugedacht waren, den anderen Teil hingegen zurückbehalten hätten. In ähnlicher Weise hätten die Afrikaner nur einen Teil davon akzeptiert und alles übrige verworfen. Damit ist seiner Meinung nach das charakterisiert, was er als „die Missionskultur und die afrikanische Antwort darauf" bezeichnet.8 Ein anderer Autor, der die Reaktionen der Nigerianer auf das Christentum zusammenfaßt, kommt zu der Schlußfolgerung: „Das Christentum hat auf viele den Eindruck gemacht, es sei vorwiegend eine gesellschaftliche Organisation, in der sich die Verehrung Gottes und des Mammons trefflich miteinander vereinbaren ließe und die für die Symbole der Mitgliedschaft und die Spendung der Sakramente Bezahlung verlange. Viele Bekehrungen sind aus materiellen Gründen erfolgt... Für viele ist daher das Christentum etwas ganz Oberflächliches, das keine echten Antworten auf die persönlichen Schwierigkeiten des Lebens weiß und auch keinen wirklichen Einfluß auf die Probleme menschlichen Zusammenlebens ausübt".» Im selben Sammelband bemerkt ein anderer Autor, der sich mit der Situation in Kamerun befaßt: „Ein Christ wurde definiert als .jemand, der die Bräuche aufgegeben h a t ' . . . Viele Traditionen fielen dem Vergessen anheim und wurden nicht ersetzt. Dadurch entstand der Eindruck eines kulturellen Vakuums, das sich zum großen Teil auf die Verbreitung des Christentums zurückführen ließ. Ein Bischof konnte damals sagen: ,Wir produzieren Christen, aber das Leben nimmt sie wieder von uns'. Das bedeutet, daß das kulturelle Substrat von der Bekehrung ausgeschlossen war". 1 0 Ahnliche Beobachtungen lassen sich aus vielen Teilen Afrikas anführen. Sie alle tragen zum Bild eines Missionschristentums bei, das nicht tief in die traditionelle Religiosität Afrikas eingedrungen ist. Am stärksten hat sich sein Einfluß auf kulturellem Gebiet bemerkbar gemacht. 7
F. B. Welbourn und B. A. Ogot: A Place to Feel at Home, Oxford/London/ Nairobi 1966, S. 140, 143 f. F. B. Welbourn: East Africa Rebels, London 1961, insbesondere S. 169f. » J. B. Schuyler, S. J.: „Conceptions of Christianity in the Context of Tropical Africa: Nigerian Reactions to Its Advent", in dem Sammelband: Christianity in Tropical Africa, Hsg. C. C. Baeta, London/Oxford 1968, S. 220. 10 R . Bureau: „Influence de la Christianisation sur les institutions traditionelles des ethnies cotieres du Cameroun", bei Baeta S. i8of. 8
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Eine andere Studie, die sich mit der industriellen und städtischen Situation befaßt, kommt zu dem Schluß, daß „viele afrikanische Christen die Rolle der Religion vorwiegend unter materialistischen- und Nützlichkeitsgesichtspunkten begreifen... Es ist unvermeidlich, daß das Christentum eng mit dem Begriff der Zivilisation verbunden i s t . . . Die Berechtigung, sich als Kirchenmitglied zu bezeichnen, mag die Verbindung zur Kirche auch äußerst dürftig sein, verleiht ein gewisses Prestige. Bei Kirchenausschlüssen oder beim Überwechseln zu einer anderen Konfession fällt der Prestigeverlust oft am schwersten in die Waagschale". 11 Es ist also sowohl auf dem Dorfe wie in der Stadt ein hervorstechender Zug des Missionschristentums, daß es oberflächlich, mit westlicher Kultur und westlichen Materialismus durchsetzt ist und daß ihm die wahren Tiefen der afrikanischen Gesellschaft noch verschlossen sind. Das Missionschristentum hat jedoch darüber hinaus gewisse andere Aspekte, über die man nicht einfach hinwegsehen kann. Wie die alte Kirche Afrikas so hat auch das neue Afrika bereits christliche Märtyrer gestellt, besonders unter den Ganda und Kikuju, aber auch in Gestalt isolierter Einzelmenschen auf dem ganzen Kontinent, die einen Glauben gefunden haben, für den zu sterben sich lohnt. Man denke auch an die ostafrikanische Erweckungsbewegung, die in den frühen dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts — oder einigen Autoren zufolge in den späten zwanziger Jahren — von Ruanda ausgehend weite Teile der Kirche und Gesellschaft in Ost- und Zentralafrika ergriff. Ihr größter Beitrag zum Leben der Kirche hat darin bestanden, daß die Anhänger des Erweckungsgedankens innerhalb ihrer Glaubensgemeinschaften wirkten, anstatt eine neue Sekte zu bilden, und daß sie immer noch eine Atmosphäre christlicher Gemeinsamkeit und Brüderlichkeit ausstrahlen, die sich spontan über alle Unterschiede des Bekenntnisses sowie der Stammesund Rassenzugehörigkeit hinwegsetzt. Das Missionschristentum unternimmt auch bewußte Anstrengungen, sich drängenden Aufgaben zu stellen und sein geistliches Amt so auszuüben, daß es den Nöten des heutigen Afrikas wenigstens zum Teil gerecht wird. Wir haben bereits gesehen, daß die Missionare Pioniere moderner Erziehung waren. In Zusammenarbeit mit afrikanischen Christen haben sie weiterhin auf dem Gebiete des Grund- und Höheren 11
J. V . Taylor und D. A. Lehmann: Christians of the Copperbelt, London 1961, S. 272 f.
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Schulwesens Großes geleistet, wenn auch ihre Schulen in steigendem Maße organisatorisch und finanziell von den unabhängigen afrikanischen Regierungen übernommen werden. Auch auf dem Gebiete des Gesundheitswesens hat die Kirche beachtliche Leistungen aufzuweisen. Sie kann hier wiederum auf Pionierdienste zurückblicken, versäumt darüber aber nicht, Krankenhäuser und Krankenstationen weiter energisch zu betreiben und christliche Ärzte und Pflegepersonal für den Dienst in kirchlichen, privaten und regierungseigenen Einrichtungen bereitzustellen. Auf dem Gebiet der Literatur liegen Veröffentlichungen christlicher Bücher, Traktate und Zeitschriften vor. Die Rundfunkstationen strahlen Programme religiösen und erzieherischen Inhalts aus, die ihnen von kirchlichen Organisationen auf Vereinbarung mit den staatlichen Rundfunkanstalten und den beiden hauptsächlichen kirchlichen Sendern in Liberia und Äthiopien zur Verfügung gestellt werden. Obwohl nach außen hin weniger bemerkbar, durchdringt doch der Einfluß christlicher Ethik und Moral das Leben vieler von der christlichen Lehre berührter Menschen. Unter den Führern der unabhängigen afrikanischen Nationen sind, von den Moslemstaaten natürlich abgesehen, viele bis zu einem gewissen Grade durch die Schule christlicher Erziehung gegangen, und die meisten von ihnen haben sich irgendwann einmal zum Christentum bekannt. In ihrem Dienst an den Völkern Afrikas gibt es unverkennbare Anzeichen der christlichen Ideale, von denen sie geprägt worden sind. Einige nehmen auch als Laien aktiv am kirchlichen Leben teil. Daneben steht die große Zahl afrikanischer Katecheten, Erweckungsprediger, Laien, Kirchenältester, Nonnen, Diakone, Geistlicher, Priester, Bischöfe, Erzbischöfe und Kardinäle, aus denen sich das Gros kirchlicher Amtsträger und Amtshelfer zusammensetzt. Sie sind ein konkreter Beweis dafür, daß das Christentum in Afrika ernstzunehmen ist und von den afrikanischen Völkern akzeptiert wird. Viele Kirchen in Afrika werden sich allmählich der sozialen Bedürfnisse ihrer Zeit bewußt, besonders im städtischen Bereich. In verschiedenen Gebieten werden Studienprogramme organisiert und praktische Maßnahmen unternommen, um zu einer realistischen Einschätzung der Bedeutung des Christentums in Afrika zu kommen und zu ergründen, wie dieses über die Bekehrung der Menschen hinaus am besten in den Dienst der afrikanischen Völker gestellt werden kann. Die 1963 gegründete Allafrikanische Kirchenkonferenz betreut in etlichen organisatorischen Unterabteilungen die verschiedensten Aufgabenbereiche. In fast zwanzig afrikanischen Ländern existiert ein Christlicher Rat. In Z u 20*
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sammenarbeit mit der Allafrikanischen Kirchenkonferenz befassen sich diese Ratsgremien nicht nur mit ökumenischen Fragen, sondern auch mit den Problemen der Familie, Erziehung, Jugendarbeit, Literatur, der städtischen Lebensform, dem Flüchtlingsproblem und der Glaubensverbreitung in der modernen Welt. Es haben Konferenzen stattgefunden wie die zu Kampala, auf der die Allafrikanische Kirchenkonferenz ins Leben gerufen wurde, das Christliche Jugendforum in Nairobi (Dezember 1962 bis Januar 1963), die erste Tagung afrikanischer Theologen in Ibadan (Januar 1966) und das Zweite Vatikanische Konzil zu R o m (1962—65), an dem siebzig afrikanische Kleriker teilnahmen. Von Zeit zu Zeit werden Studienseminare einberufen, so das Ökumenische Zentrum in Mindolo, Sambia, das Siebente Internationale Afrikanische Seminar an der Universität von Ghana, welches das Thema „Das Christentum im tropischen Afrika" behandelte, und die Religionswissenschaftliche Forschungstagung, die von Dezember 1967 bis Januar 1968 in Nairobi stattfand. Auf vielen solcher Treffen finden sich Vertreter der Römisch-Katholischen, Lutherischen und Anglikanischen Kirche sowie anderer Bekenntnisse zusammen. Außer diesen interkonfessionellen Gemeinschaftsveranstaltungen, die die Rolle des Christentums in Afrika zu definieren oder zu werten versuchen, findet man Bestrebungen lokaler kirchlicher Stellen oder die Initiative einzelner, die sich in der Forschung und Diskussion, in freiwilliger oder bezahlter Arbeit, in Klubs, in der Gefangenenbetreuung, Volkswohlfahrt, Übersetzung von Büchern, Seelsorge und im christlichen Zeugnis kundtut. Manche dieser Einzelmenschen und Gemeinden verleihen ihrem Christenglauben unter äußerst schwierigen Bedingungen Ausdruck, z. B . im von der Apartheid befallenen Südafrika, in Kolonialgebieten, Flüchtlingslagern und bürgerkriegsartigen Situationen.12 Meiner Auffassung nach leistet das Missionschristentum also einen wirklichen Beitrag zum Fortschritt in Afrika, wenn es auch bisweilen mit Recht zu Kritik Anlaß gibt. So zeichnet sich allmählich das Gesamtbild des Christentums in Afrika ab mit seinen Spaltungen und Vorwärtsentwicklungen, Belastungsproben und Leistungen, Erfolgen und Niederlagen, seiner Oberfläch»2 Die Haltung der Kirche zu afrikanischen Existenzfragen ist interessant dargestellt in dem W e r k von T . A . Beetham: Christianity and the New Africa, London 1967, insbesondere auf S. 9 1 — 1 4 9 . Eine andere Betrachtungsweise findet sich bei A . Hastings: Church and Mission in Modern Africa, London 1967.
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lichkeit und seinem Fremdcharakter, seiner Volksferne und seiner Einsatzfreudigkeit, seiner Kraft und seinen Wirkungsmöglichkeiten, seiner Teilnahme an der Kultur und seiner Untergrabung der Tradition, seinem Mangel an eigenständiger Theologie und seinem Heer von heimischen und überseeischen Helfern. Das Christentum ist eine Macht, die man in Rechnung stellen muß, ob in Dörfern oder Städten, in Schulen oder Elendsvierteln, in der Regierung oder im Geschäftsleben. Man mag seinen Anhängern spöttisch ihre Herkunft von dieser oder jener Glaubensrichtung der unzähligen Missionskirchen oder Abfallbewegungen bescheinigen, im Grunde sind diese doch alle Zeugen christlicher Gegenwart in Afrika, ob sie nun ihren Glaubensidealen gerecht werden oder nicht. Die unabhängigen Kirchen scheinen dem traditionellen Denken und Trachten und der besonderen Religiosität Afrikas nähergekommen zu sein als die Missionskirchen. Hingegen sind diese besser darauf eingestellt, mit der Zeit zu gehen, mag es bei ihnen auch Anzeichen von Rückständigkeit und konservativem Beharren geben. Auf jeden Fall sind die beiden Formen des Christentums aufeinander angewiesen, vielleicht sind sie auch im Augenblick notwending, doch könnte die Wirkungskraft des Christentums durch eine Zusammenarbeit im Geiste der Demut natürlich nur gewinnen. Die alte Kirche in Ägypten und Äthiopien hat ihre starken und schwachen Seite und kann die beiden neueren Formen des Christentums sowohl bereichern als von ihnen lernen. In den letzten Jahren hat es Bestrebungen gegeben, die alte Form des Christentums mit den neueren Formen näher zusammenzubringen, während es früher wegen der Lehren und Bekehrungsmethoden fremder Missionare bisweilen zu Reibungen kam. Der Statistik nach ist Lesotho das christlichste Land Afrikas. Es folgen die Südafrikanische Republik, Gabon, Namibia, Äthiopien, Sa'ire, Kongo, Uganda usw. Historisch stehen allerdings Ägypten und Äthiopien an erster Stelle. Unter dem Gesichtspunkt der Anpassung des Christentums an die von der Tradition geprägten Bedingungen des Landes sind wahrscheinlich Madagaskar, Ghana, Nigeria und Kenia führend, obwohl dieser Eindruck vielleicht täuscht. „Christentum" ist ein sehr dehnbarer Begriff, und in Afrika wird der Versuch gemacht, es mit diametral entgegengesetzten Gruppenzielen in Einklang zu bringen. Die Parteigänger der Apartheidspolitik in Südafrika berufen sich auf das Christentum, um die von ihnen geübte Praxis der Rassentrennung und Unterdrückung von Afrikanern und Farbigen zu rechtfertigen. Einige kirchliche Abfallbewegungen sind gleichzeitig, wenn
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nicht gar in erster Linie, politische oder nationalistische Bewegungen. Manche Missionare lehrten uns, die Afrikaner seien die verfluchten Nachkommen Noä, während viele afrikanische Christen in Südafrika sich auf der Suche nach dem „Schwarzen Christus" befinden. Das Christentum hat also in Afrika bisher schon viele Zwecke erfüllt, wobei es höchst fraglich ist, ob diese theologisch alle zu rechtfertigen sind. Was immer das Christentum auch dem einzelnen und der Gemeinschaft in Afrika bedeutet, feststeht, daß es auf diesem Kontinent große Zukunftsaussichten hat, wenngleich einige Autoren seine Zukunft in den düstersten Farben malen. Im großen und ganzen sind die Afrikaner geneigt, das Christentum anzunehmen und es sich zu eigen zu machen. Die drei Formen, in denen es in Erscheinung tritt, stellen vielleicht einen echten Versuch dar, den entscheidenden Durchbruch zu erzwingen und die Stabilität des Christentums im gesamtafrikanischen Raum zu sichern.1 13
Über das Christentum in Afrika liegt eine große Menge Literatur von unterschiedlicher Qualität vor, doch befaßt sich nur ein geringer Teil dieser Literatur mit der Begegnung von Christentum und traditioneller Religion und Weltanschauung. Unter den allgemeinen Werken können wir außer den oben angeführten noch folgende erwähnen: C. G. Baeta: Prophetism in Ghana, London 1962, E. B. Idowu: Towards an Indigenous Church, Oxford/London 1965, R . Oliver: The Missionary Factor in East Africa, London 1965, J. B. Webster: The African Churches Among the Yoruba 1888—1922, Oxford 1965, V. E. W. Hayward, Hsg.: African Independent Church Movements, London 1963, C. P. Groves: The Planting of Christianity in Africa, 4 Bde., London 1948—58, R . Ledogar, Hsg.: Katigondo: Presenting the Christian Message to Africa, London 1965, S. Neill: A History of Christian Missions, London 1964, J . Mullin: The Catholic Church in Modern Africa, London 1965, D. A. Payne Hsg.: African Independence and Christian Freedom, Oxford/London 1965, H. W. Turner: Profile Through Preaching, London 1965, Ders.: History of an African Independent Church, 2 Bde., Oxford/London 1967, J . F. Faupel: African Holocaust: The Story of the Uganda Martyrs, London 19Ö2, H. Biirkle Hsg.: Theologie und Kirche in Afrika, Stuttgart 1968, B. Gutmann: Afrikaner-Europäer in nächstenschaftlicher Entsprechung, Stuttgart 1966, E. Benz Hsg.: Messianische Kirchen, Sekten und Bewegungen im heutigen Afrika, Leiden 1965, H. J. Marguli: Aufbruch zur Zukunft: Chiliastischmessianische Bewegungen in Afrika und Südostasien, Gütersloh 1962, P. BeyCrhaus Hsg.: Begegnung mit messianischen Bewegungen in Afrika, Weltmission Heute, Heft 33/34, Stuttgart 1967, J . V. Taylor: The Growth of the Church in Buganda, London 1958, Ders.: The Primal Vision, London 1963, E . G . Parrinder: Religion in an African City, London 1953, B. G. M. Sundkler: The Christian Ministry in Africa, London i960, M. Brandel-Syrier: Black Woman in Search of God, London 1962. Desgleichen liegen Berichte über
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b) Der Islam in Afrika14 Wie das Christentum, so kann auch der Islam in Afrika als einheimische, traditionelle, afrikanische Religionsform bezeichnet werden. Im Zeiträume eines Jahrhunderts nach dem Tod des Propheten Mohammed im Jahre 632 n. Chr. war der Islam über ganz Nordafrika hinweggebraust, hatte das Afrikanische Horn überschwemmt und befand sich entlang der Ostküste in südlicher Richtung weiter auf dem Vormarsch. W o er auf das Christentum stieß, kam es zu langwierigen Kämpfen, bis der Islam sich überall außer in Äthiopien festsetzte, wenngleich die Christen in Ägypten erst Ende des dreizehnten oder Anfang des vierzehnten Jahrhunderts effektiv ihre Macht einbüßten.15 Umgekehrt blieben in den Tiefebenen Äthiopiens vereinzelte Bevölkerungsinseln mohammedanischen Glaubens erhalten. Im Zuge der Handelsbeziehungen, die sich entlang den Handelsstraßen zwischen dem mosleminischen Norden und den westafrikanischen Reichen entfalteten, begann der Islam bereits vom 9. Jahrhundert an mit Stoßrichtung nach Süden unter den westafrikanischen Völkern vorzudringen, besonders jenen, die am Rande der Sahara siedelten. Im Sudan ging die Durchdringung, deren Träger arabische Händler und Studientagungen und Konferenzen vor, z.B. Christian Responsibility in an Independent Nigeria, Lagos 1962, All Africa Seminar on the Christian Home and Family Life, abgehalten in Mindolo, Sambia 1963, veröffentlicht in Genf 1963, The Church in Changing Africa, Konferenz abgehalten in Ibadan, Nigeria, 1958, veröffentlicht in N e w York 1958, Catholic Education in the Service of Africa, Konferenz abgehalten in Kinschasa, Veröffentlichung in Brazzaville 1966, Christian Education in Africa, Konferenz in Salisbury, Veröffentlichung in London 1963, und Berichte christlicher afrikanischer Studenten, die alljährlich Studientage zur Diskussion verschiedener Themen einberufen, sowie die folgenden Zeitschriften: Africa Theological Journal, Makumira, Usa River, Tansania, Ministry, Morija, Lesotho, Flambeau, Jaunde, Kamerun, African Ecclesiastical Review, Katigondo, Masaka, Uganda, Dini na Mila: Revealed Religion and Custom, Makerere, Kampala, Uganda, The Bulletin of the Society for African Church History, Ibadan, Nigeria/Aberdeen, Schottland, Ghana Bulletin of Theology, Legon, Accra, Ghana, Sierra Leone Bulletin of Religion, Freetown, Sierra Leone, The International Review of Missions, Genf/London und eine Anzahl örtlich verbreiteter Zeitschriften in Englisch, Französisch oder afrikanischen Sprachen. 14
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Ich bin meinem islamistischen Kollegen Mr. Said Hamdun sehr dankbar, daß er den folgenden Abschnitt durchgesehen und nützliche Verbesserungsvorschläge gemacht hat. Einige Gelehrte würden dieses Datum ein wenig früher ansetzen.
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Eroberer waren, in ost-westlicher Richtung v o r sich. Schließlich nahmen sie die in der Nähe v o n Khartum gelegene Hauptstadt des christlichen Nubierreiches ein und ermöglichten es dem Islam dadurch, in der Folgezeit die Stelle des Christentums einzunehmen. T r o t z d e m machte der weitere Vorstoß nach Süden nur geringe Fortschritte und blieb bei etwa io° nördlicher Breite stecken. A n der ostafrikanischen Küste erschien der Islam wahrscheinlich i m 7. Jahrhundert. Er konnte sich dabei auf bereits vorhandene arabische Siedlungen und einen blühenden Handel stützen. Jedoch blieb er abgesehen v o m Gebiet der heutigen Republik Somalia auf die Küstengebiete beschränkt und begann erst am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts i m Z u g e der Ausbreitung des arabischen Elfenbeinund Sklavenhandels ins Landesinnere vorzudringen. A n der Küste ist der Islam fest verwurzelt, insbesondere in Sansibar, Mombasa, K i l w a , L a m u sowie auf anderen Inseln und in anderen Städten. Die zu Ende des 15. Jahrhunderts eintreffenden Portugiesen stießen i m 16. und 17. Jahrhundert wiederholt mit den Arabern zusammen. Gleichzeitig machten auch afrikanische V ö l k e r den letzteren das Leben schwer. Das Ergebnis war, daß viele der islamischen Kulturzentren an der Küste der Z e r störung anheimfielen. Als die arabischen- und Suahelihändler i m 19. Jahrhundert ihre Stellung erneut verstärken konnten und ins Landesinnere vorzudringen begannen, w o b e i sie die heutigen Staaten Uganda, Malawi, Sambia und Sai're erreichten, setzte bereits die europäische Durchdringung des Kontinents ein. D i e Schnelligkeit und Tiefe der islamischen Durchdringung wurde durch diese neue Konkurrenz auf politischem, wirtschaftlichem und religiösem Gebiet gehemmt, bevor eine nennenswerte Anzahl afrikanischer V ö l k e r z u m Islam bekehrt werden konnten. D i e jetzige Lage läßt sich so umreißen, daß Afrika etwa nördlich des 10. Breitengrades vorwiegend mosleminisch ist. Das islamische Gebiet erstreckt sich v o n Senegal in östlicher Richtung bis nach Äthiopien hin, das allerdings z u m größeren Teil außerhalb seiner Einflußsphäre liegt, und umfaßt sodann das gesamte Somalia und die Ostküste bis nach Mocambique i m Süden hin sowie verhältnismäßig kleine Gruppen v o n Moslems in den angrenzenden Gebieten, d. h. Uganda und Tansania. Im Senegal, in Mauretanien, Gambia, Niger, Tschad, Nordnigeria und dem Sudan beträgt der islamische Bevölkerungsanteil über vierzig Prozent und steigt in einigen Moslemstaaten Afrikas auf über neunzig Prozent an. D i e Gesamtzahl der Moslems in Afrika wird auf etwa siebzig
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bis hundert Millionen geschätzt, denen schätzungsweise fünfzig bis siebzig Millionen Christen gegenüberstehen. Mag auch eine genaue Zählung das Verhältnis leicht verschieben, so dürfte doch als erwiesen gelten, daß der Islam unter den verschiedenen Religionen Afrikas die größte Anhängerschaft hat. Auch der Islam hat seine Splittergruppen, obwohl ihre Zahl keineswegs an die der christlichen Sekten heranreicht. Die meisten von ihnen hatten ihren Ursprung außerhalb Afrikas, wurden aber bald nach hier eingeführt. Daneben gibt es allerdings auch in Afrika entstandene islamische Sekten, deren afrikanischer Einschlag unverkennbar ist. Die dynamische Ahmedija-Sekte z. B. wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Mirsa Ghulam Ahmad (1835 in Indien geboren, 1908 gestorben) gegründet und hat sich im Laufe ihrer kurzen Geschichte bereits gespalten. Sie ist in Westafrika und in jüngerer Zeit auch in Ostafrika äußerst rührig, hat aber ihre Zentrale immer noch in Indien. Diese Sekte ist zahlenmäßig in wahrhaft erstaunlicher Weise gewachsen; ihr Reformeifer und ihre Kritik am rechtgläubigen Islam steigern sich dementsprechend. Ob die Ahmedija-Bewegung allerdings einen tiefgreifenden Einfluß auf die Afrikaner ausübt, ist zweifelhaft. Ein Autor bemerkt zu ihrer Stellung in Westafrika: „Manchmal wird die Bewegung von ihren Anhängern als eine missionarische Kraft dargestellt, welche die Basis des Islams erweitere. In Wirklichkeit trägt die Ahmedija-Bewegung so gut wie nichts zur Bekehrung des Heidentums bei. Es gibt nur hin und wieder ein paar Ahmedis, die als Heiden geboren wurden. Diese wurden aber zunächst zum Islam und dann erst zur Ahmedija-Sekte bekehrt. Sie rekrutiert fast alle ihre Anhänger aus den Reihen des rechtgläubigen Islams und des Christentums" 16 Daneben finden wir die Schi'a-Sekte, eine frühe islamische Abfallbewegung, die in Afrika hauptsächlich unter eingewanderten Mohammedanern indo-pakistanischer Abstammung vertreten ist, die sich meist im östlichen Küstengebiet niedergelassen haben. Die Sunniten sind eine andere, später entstandene Sekte, die unter fast allen eingeborenen afrikanischen Moslems die vorherrschende Gruppe darstellt. Die Ismaeliten sind der liberale Flügel der Schi'a-Bewegung. In Afrika sind sie meistens Einwanderer und Nachkommen von Einwanderern aus Indien und Pakistan, obwohl sie auch einige afrikanische Konvertiten 16
H. J . Fisher: Ahmadiyyah: a Study in Contemporary Islam on the West African Coast, Oxford/London 1963, S. 185.
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in ihren Reihen aufzuweisen haben. Trotz ihrer zahlenmäßigen Geringfügigkeit ist diese Sekte, die unter der Leitung ihres weltlichen und geistlichen Oberhauptes, des Agha Khan steht, recht finanzkräftig, sehr rührig in der Sozialarbeit, besonders im Erziehungs- und Gesundheitswesen, und spielt in den Ländern, in denen ihre Gemeinden ansässig sind, auch eine politische Rolle. Die indischen und afrikanischen Mitglieder dieser Sekte haben jedoch nicht viel Kontakt zur Außenwelt, obwohl ihre Schulen allen Besuchern ohne Rücksicht auf Rasse oder Religionsbekenntnis offenstehen. Außer diesen gibt es noch weitere islamische Sekten und Bewegungen, mit denen wir uns aber nicht zu befassen brauchen, da unser Hauptinteresse dem Islam und seinen Beziehungen zu den angestammten Religionen Afrikas gilt. Wir werden erst ein paar konkrete Beispiele aus verschiedenen Teilen Afrikas und von verschiedenen Völkern bringen, in denen der Islam Wurzeln geschlagen hat. Dann werden wir versuchen, einige Schlüsse zu ziehen. Der Islam wurde den Wolof in Senegambien im n . Jahrhundert gebracht. Gleichwohl erfolgte die größte Bekehrungswelle erst zu Ende des 19. Jahrhunderts. Die Wolofmoslems halten die Fastengebote, die fünf vorgeschriebenen Tagesriten und die islamischen Feste, sie geben Almosen und begeben sich auf Wallfahrt, wie das Gesetz es befiehlt. Ihre Wallfahrt unternehmen sie allerdings nicht nach Mekka, sondern zur Moschee in Baol, dem Zentrum der von einem afrikanischen Moslem um 1886 gegründeten muridistischen Sekte. Von sieben Jahren ab erhalten die Wolofknaben islamischen Unterricht, in dem sie Gebete rezitieren, Koranstellen auswendig lernen und in der arabischen Schrift unterwiesen werden. Die Moslems haben aber noch viele Vorstellungen und Bräuche aus dem traditionellen Lebensbereich beibehalten. So befürchten sie z. B., daß einem Kind Böses widerfahren könnte, wenn jemand es lobt oder preist. Nach der feierlichen Namengebung wird das Kind vor der Öffentlichkeit versteckt, um zu verhüten, daß ihm durch den bösen Blick ein Leid geschieht. Bei der Wahrsagung werden Methoden, die der Naturreligion entstammen, mit der Verwendung islamischer Almanache verbunden. Man hat nach wie vor große Angst vor Hexenwerk und glaubt fest an die Existenz und das Wirken der Geister, wozu man vom Islam den Glauben an den Teufel (Scheitan) übernommen hat, „der die Menschen wahnsinnig macht und Kinder stehlen kann, um sie durch mißgestaltete oder anormale Kinder zu ersetzen". Die Geister werden in gute, böse und mutwillige Geister
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eingeteilt. Diese Einteilung stammt offenbar aus der muselmanischen Lehre. „In einigen Gebieten haben die Frauen einen älteren Geisterbesessenheitskult beibehalten, während die Männer Moslems sind". DieWolof beobachten noch traditionelle Riten, obwohl diese manchmal mit islamischen Ideen versetzt sind. Während einer Dürre z. B. beten die Männer in der Moschee um Regen. Wenn der Regen sich aber nicht einstellt, „vollführen ihre Frauen einen Regentanz, wobei sie in Lumpen gehüllt erscheinen oder Männerkleidung tragen, dazu aus altem Plunder verfertigten Zierrat. Dann ziehen sie in einer Prozession aus dem Dorf hinaus. Die Kindern sammeln Äste oder Sträucher und peitschen damit nach ihrer Rückkehr das Grab des Dorfgründers". Die Hochzeitsriten stellen eine Mischung aus traditionellen und mohammedanischen Elementen dar, während die Bestattungszeremonien sich vorwiegend nach dem Islam orientieren. Gamble faßt die Gesamtsituation des Islams bei den Wolof folgendermaßen zusammen: „Trotz des islamischen Einflusses ist eine viel tiefere Schicht heidnischer Glaubenshaltung und Sitte bei den Wolof immer noch unverkennbar... Männer und Frauen sind mit Amuletten um die Hüften, am Hals, an Armen und Beinen überladen, die ihnen sowohl Schutz vor allem möglichen Übel verleihen als auch Hilfe bei der Erfüllung bestimmter Wünsche gewähren sollen. Meist enthalten diese ein Stück Papier, worauf ein Schriftgelehrter eine Koranstelle oder ein Diagramm aus einem Buch der arabischen Mystik aufgezeichnet hat. Dieses Papier wird dann verpackt, verklebt und mit Leder überzogen. Manchmal allerdings befindet sich im Amulett auch ein Stück Knochen oder Holz, ein Pulver oder eine Tierklaue".17 Dies alles sind eher typisch afrikanische als islamische Merkmale. Wir sind ihnen bereits in vielen traditionellen Gesellschaften begegnet. Bei den Nupe in Nordnigeria setzte die Bekehrung zum Islam unter dem König Dschibiri um 1770 ein, obwohl bereits einige seiner Vorgänger mohammedanische Namen trugen. Am Ende des Jahrhunderts war der Islam fest im Lande verwurzelt. Dennoch hat der Islam „nur einen Teil der Bevölkerung erreicht und blieb auch bei den Bekehrten oft lediglich eine Oberflächenerscheinung". Er bot ihnen neue Zeremonien, die ihr traditionelles Zeremoniell ergänzten, ohne es indes zu ersetzen. In der frühesten Phase waren die Haupttriebfedern der Bekehrung Geltungssucht — die herrschende Klasse bestand aus Moslems 17
D. P. Gamble: The Wolof of Senegambia, London 1957, S. 64—72.
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—, die Aussicht auf den versprochenen Schutz vor Versklavung und die Hoffnung der Bauern und Handwerker, sich der Gönnerschaft des Adels versichern zu können. Die Nupemoslems halten sich nicht streng an die islamische Tradition. Von den fünf Grundpflichten des Islams z. B. erkennen sie nur zwei an, nämlich die täglichen Gebete und das Fastengebot. Das Geben von Almosen, die Wallfahrt und das Bekenntnis des Gottesglaubens haben sie fallenlassen. Das letztere hat für sie keine Bedeutung, da sie wie alle afrikanischen Völker in ihrer Naturreligion einen höchsten Gott anerkennen. Sie sagen ihre vorgeschriebenen Gebete in arabischer Sprache auf, während sie ihre persönlichen Gebete in der Nupesprache verrichten. Sie feiern drei der sieben großen islamischen Feste, nämlich Neujahr (Muharram), Id el Fitr, das „Fastenbrechen" zum feierlichen Abschluß des Fastenmonats Ramadan, und Id el Asa oder Id el Kibir, das große Fest im Wallfahrtsmonat, der das Jahr beschließt. Es wird berichtet, daß die Nupe kein sonderliches Interesse an der historischen Entwicklung und Verbreitung des Islams zeigen und die mosleminische Heiligenkunde und Kosmologie leicht durcheinanderbringen. Die Moslemfrauen gehen nie verschleiert, und obwohl sie in der Moschee nicht zugelassen werden, lernen die Mädchen aus den oberen Schichten den Koran. Die islamischen Lehrer und religiösen Anführer, die in großer Zahl vorhanden sind, haben nur geringe oder überhaupt keine Bildung und können allenfalls ein paar Kapitel aus dem Koran auswendig. Die Ehesatzungen, besonders jene, die mit Brautgaben und unkomplizierter Scheidung zu tun haben, die Beschneidung und Wahrsagerei, die rituelle Regelung der Verwandtschaftsverhältnisse und das Verbot, Schweinefleisch zu essen, sind Punkte, in denen die islamische Tradition und die des Nupevolkes sich ähneln und daher leicht zusammenfinden, so daß der Islam sich hier gut in das herkömmliche Denken und Brauchtum der Nupe einfügt. Während man in einigen islamischen Ländern das Sororat kennt, ist dies bei den Nupe streng verboten. Dafür halten sie ehern an ihrer Tradition der Leviratsehe fest. In Erbschaftsangelegenheiten gehen die Ansichten stark auseinander, und die Nupetradition hat sich hier gegenüber dem islamischen Gesetz behauptet. Dadurch wurde die Kleinstparzellierung des Landes verhütet, die sich zwangsläufig aus der Anwendung islamischer Vorschriften ergeben hätte. Da der Islam dem Nupevolk als Religion der Eroberer und der herrschenden Klasse gebracht wurde, folgert Nadel: „In erster Linie kommt es auf die Angleichung an die Kultur der Oberschicht an, während der Er-
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lösung vom Unglauben lediglich sekundäre Bedeutung zukommt". Die Bekehrung ist hier nicht so sehr „religiöser" als vielmehr „sozialer" Natur. Sie gibt einem das Gefühl stolzer Überlegenheit, läßt dabei aber die tieferen Schichten menschlicher Wertvorstellungen unberührt. Offenbar sind mystische und ekstatische Formen des Islams hier unbekannt.18 In seinem Werk über den Islam in Sudan kommt Trimingham zu dem Schluß, daß die Afrikaner südlich des io° nördlicher Breite fast völlig unbeeinflußt vom Islam seien. Nördlich dieses Breitengrades „breitet sich der Islam nur durch den Zusammenbruch der extremsten Form des Klansystems aus". Aber auch dann bedeutet er noch keine revolutionäre Neuerung, denn „er vermag die animistische Seele nicht zu erobern, da er sich der animistischen Geisterbeseelung des Lebens anpaßt. Diese Anpassungstendenz im Islam hat zur Folge gehabt, daß er keinen Beitrag zur religiösen Höherentwicklung des Afrikaners leisten konnte". Nur die eschatologische Hoffnung des islamischen Glaubens auf ein jenseitiges Leben in materieller Segensfülle stößt auf starkes Interesse. Ansonsten „löst der Islam im Naturmenschen, seinem Gemeinschaftsleben und seiner Gesittung nur geringe innere Erschütterungen aus, denn der Islam übernimmt die wesentlichen Züge des Heidentums durch Synkretismus. Die heidnischen Sitten werden beibehalten, aber ihr Geist geht verloren". 19 Ein anderer Autor, der den Islam bei den in derselben Region angesiedelten Nuba schildert, kommt zu einem ähnlichen Schluß: „Der Islam hat bisher noch keinen ernstlichen Einbruch in die Sozialstruktur der Nuba erzielt... Der Klanaufbau und viele traditionelle Elemente bleiben intakt", auch w o der Islam schon vor mehreren Jahrhunderten seinen Einzug gehalten hat. Auf kultureller Ebene, wie bei Namengebungszeremonien, Einweihungsriten und Hochzeitsbräuchen, werden die herkömmlichen „Elemente zum Teil islamisiert oder aber sie bleiben wie eh und je bestehen und tragen nur nach außen hin islamisches Gepräge". 20 18 19
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S. F. Nadel: Nupe Religion, 1954, S. 232—258. J . S. Trimingham: Islam in the Sudan, Oxford/London 1949, S. 248f. Mr. Hamdun hat mich allerdings darauf hingewiesen, daß der 10. Breitengrad als Grenzlinie des Islam im Sudan „äußerst zweifelhaft" sei. R . C. Stevenson: „Some Aspects of the Spread of Islam in the Nuba Mountains (Kordofan Province, Republic of the Sudan)", erschienen als Aufsatz in dem von I. M. Lewis herausgegebenen Sammelwerk: Islam in Tropical Africa, Oxford/London 1966, S. 226 f.
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Wenn wir uns in unserem kurzen Überblick nun weiter nach Osten wenden wollen, müssen wir uns mit der Lage des Islams in Äthiopien, Eritrea und Somalia befassen. Trimingham unterscheidet zwei Arten islamischer Kultur: die der Nomaden und die der Stadt- oder Dorfbewohner. Über die erste Gruppe schreibt er, es gebe „praktisch keinen Einfluß des Islams auf die Heiden". W o man den Islam annimmt, erfolgt der Vorgang in drei Stufen. Während der ersten Phase machen sich die Leute lediglich „in oberflächlicher Weise gewisse Elemente aus der materiellen Kultur der Moslems" zu eigen, wie z. B. Kleidung, Schmuck und Speisegewohnheiten. In der zweiten Phase werden „eigentliche religiöse Elemente der islamischen Kultur" übernommen, insbesondere die Erkenntnis, daß Personen oder Dingen eine überpersönliche Macht innewohnt und durch sie hindurch wirkt. Wie wir bereits gesehen haben, ist diese Erkenntnis in den traditionellen Gesellschaften Afrikas durchaus verbreitet. Sie ist also nicht spezifisch mohammedanisch, bietet aber einen Berührungspunkt. Die dritte Phase ist „gekennzeichnet durch einen echten Glauben an die Wirksamkeit islamischer Sanktionen und weist tatsächliche Veränderungen in Sitte und Lebensführung auf". Dies ist der Punkt, an dem die Anhänger des neuen Glaubens öffentliche Andachtsstätten aufsuchen, ihre rituellen Gebete verrichten, den Fastenmonat (Ramadan) einhalten und eine Anzahl islamischer Meidungen beobachten. Wie Trimingham aber weiter feststellt, gilt selbst auf dieser Stufe: „Die alten Glaubensvorstellungen verlieren für das Leben des afrikanischen Moslems nicht ihre Gültigkeit; gewisse Vorstellungen gewinnen ganz im Gegenteil durch die islamische Neuorientierung frische Lebenskraft". Als Beispiele führt er die den Totenseelen erwiesene Achtung, den Glauben an Naturgeister, das Tragen von Amuletten und die Angst vor Hexenwerk an, welche allesamt gestärkt aus der Begegnung mit den Islam hervorgegangen sind. Überdies gerät das islamische Gesetz mit den traditionellen Gesetzesformen in Konflikt. 21 Ich darf hier den konkreten Fall der Boran in Nordkenia anführen, die zu den dort ansässigen Völkern gehören. Es ist festzustellen, daß der islamische Kultureinfluß sich bei ihnen anscheinend hauptsächlich in materiellen Gegenständen wie Zierraten und Waffen kundtut. Dagegen ist die Viehhaltung, die ihre Hauptbeschäftigung ausmacht, kaum von Islam betroffen. Die Familiensitten weisen nach wie vor traditionelle Grundzüge auf, obwohl sich in den Durchgangs- und anderen Riten, 21
J. S. T r i m i n g h a m : Islam in Ethiopia, Oxford/London 1952, S. 27of.
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die Bezug zur Einzelperson oder zur Familie haben, naturvölkische und islamische Vorstellungen und Praktiken mischen. Es soll überhaupt keine Scheidung vorkommen, was im Widerspruch zur islamischen Praxis an anderen Orten steht. Auch die Vorschriften, die Erbschaftsangelegenheiten regeln, sind der Tradition zutiefst verhaftet und von der islamischen Lehre unberührt geblieben. Daraus ergibt sich der Schluß, daß nur diejenigen Boran, welche von den Somali besiegt und von ihrem eigenen Volkstum isoliert worden sind, den Islam angenommen haben, und zwar in einer Ausprägung, die dem Somali-Islam entspricht, während jene, die noch in der Tradition verwurzelt sind, den Islam ablehnen oder kaum von ihm Notiz nehmen.22 An der Ostküste, wo der Islam im 7. Jahrhundert in Erscheinung trat, hat er inzwischen eine feste Bleibe gefunden. Unter den Afrikanern sind es, abgesehen von den in Ostafrika seßhaft gewordenen Arabern und Persern, vor allen Dingen die Suaheli, die sich ihm zugewandt haben. In den traditionellen Gesellschaften ist der Totenkult im islamischen Gedankengut verankert worden. Da sich aber unter den Verstorbenen „heilige Männer" des Islams befinden, kann man beobachten, daß Pilgerreisen an ihre Schreine unternommen und in einigen Fällen Moscheen zu ihrem Gedächtnis errichtet werden. „Weniger fromme Menschen werden auch verehrt, jedoch in einer Weise, die stärker an Ahnenverehrung denken läßt". Die Totenseelen werden mittels einer „besonderen Formel beschwichtigt", man opfert ihnen weiße Hühner, und sie tun sich ihren lebenden Verwandten im Traume kund. Der islamische Einfluß macht sich insofern bemerkbar, als man des Glaubens ist, die Geister lebten bis zum Tage der Auferstehung in der Unterwelt. Die Geomantie und Wahrsagung gehen auf naturvölkische Quellen zurück, während die Astrologie dem islamischen Kulturkreis entlehnt ist. Die Moslems bringen Opfer dar und geben Almosen, um Erfolg zu haben oder Übel abzuwehren. Sie tragen Amulette, um einen guten Fischzug zu tun oder um Schutz für Vieh und Wohnstätten zu erwirken. Einige ihrer Amulette enthalten Koranverse. Magie, Zauberei und Hexerei haben immer noch starken Einfluß auf das Volk, und die Medizinmänner behandeln nicht nur menschliche Leiden, sondern exorzieren auch, wobei sie als magische Formeln manchmal Koranzitate
22
P. T . W . Baxter: „Acceptance and Rejection of Islam among the Boran of the Northern Frontier District of Kenya" in: Islam in Tropical Africa, S.248f.
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verwenden. 23 Aus diesen Beispielen ergibt sich einwandfrei, daß sich hier islamische Indeen mit dem Gedankengut der Naturreligionen stark vermischt haben. Es scheint, daß der Islam im küstenfernen Binnenland Ostafrikas, wenn überhaupt, so keinen tiefgehenden religiösen Einfluß ausgeübt hat. Es wird z. B . berichtet, daß der Islam und die islamische Kultur mit der Religion und Gesellschaftsstruktur der Gogo unvereinbar seien.24 Bei den Ganda und Soga sind die Mohammedaner noch in der Minderzahl, obgleich der Islam bereits vor Mitte des 19. Jahrhunderts in Uganda erschien. In letzter Zeit haben diese Mohammedaner jedoch stärker auf ihr Recht gepocht, als religiöse Gemeinschaft zu existieren. Sie haben als Schlächter und TaxichaufFeure fast eine Monopolstellung, und jedes Jahr fliegt eine größere Anzahl von ihnen zur Wallfahrt nach Mekka. In Ostafrika finden sich die afrikanischen Moslemgemeinden hauptsächlich in den Städten; in den ländlichen Bezirken treten sie nur in geringer Dichte auf. Die Ahmedija-Bewegung, deren missionarische Tätigkeit 1934 in Mombasa einsetzte, hat sich im Binnenland bis nach Kampala in Uganda ausgebreitet. Ihre Zentrale, die ursprünglich in Tabora (Tansania) war, befindet sich jetzt in Nairobi (Kenia). Eine afrikanische Anhängerschaft erwächst ihr insbesondere durch ihre Lehrtätigkeit in eigenen Schulen, durch Koranübersetzungen ins Kisuaheli, Luganda, Kikamba und Kikuju, durch eine Regionalzeitung, die auf Englisch, Kisuaheli und Luganda erscheint, sowie durch Traktate, Missionsarbeit und Angriffe auf andere islamische Bekenntnisse und das Christentum. Diese Beispiele der Begegnung zwischen dem Islam und den traditionellen afrikanischen Gesellschaften ergeben zusammengenommen ein klares Bild der Situation. Lewis hat sie in seiner Einleitung zu Islam in Tropical Africa bestens umrissen.25 Wir werden auf seine Hauptpunkte Bezug nehmen und ein paar weitere hinzufügen, die sich aus einem 23
24
25
A . H. J . Prins: The Swahili-Speaking Peoples of Zanzibar and the East African Coast, London 1961, S. 1 1 3 f. Siehe auch J . S. Trimingham: Islam in East Africa, Oxford 1964, und L. P. Harries: Islam in East Africa, London 1954. P. J . A . R i g b y : „Sociological Factors in the Contact of the Gogo of Central Tanzania with Islam", in: Islam in Tropical Africa, S. 268-—95, insbesondere S. 288 f. I. M . Lewis, Hsg.: Islam in Tropical Africa, Oxford/London 1966, S. 20—91. Dieses W e r k enthält eine Sammlung von Referaten, die beim 5. Internationalen afrikanischen Seminar an der Ahmadu Bello Universität in Saria (Nigeria) im Januar 1964 vorgetragen und diskutiert wurden.
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Überblick über den Islam in den traditionellen Gesellschaften Afrikas ergeben haben. A u f dem politischen Sektor macht Lewis geltend, daß afrikanische Zentralherrscher dazu neigen, Elemente islamischer R e l i g i o n und mosleminischer Kultur- und Organisationsformen aufzunehmen, die zur Stärkung und Ausdehnung ihrer vorhandenen Autorität dienen können. A u c h bereichern sie ihre Königsriten mit mosleminischen Amtsinsignien und rituellen Elementen aus dem Islam. A u ß e r d e m ist v o n Zeit zu Zeit der sogenannte „heilige K r i e g " (Dschihad) mit glühender religiöser Uberzeugung geführt worden. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Mahdistenbewegung i m Sudan, deren Führer A h m a d ibn 'Abdullah (1844—85) war. Obgleich diese Dschihad blutig ausfiel, besaß sie ein Rechtssystem und eine ausgezeichnete Organisation. W e n n es z u m Kontakt zwischen dem islamischen R e c h t (Scharia) und der alteigenen afrikanischen Rechtspraxis k o m m t , ergibt sich eine komplizierte Lage. In Angelegenheiten, in welchen die beiden Systeme übereinstimmen, z. B . bei unstatthaften Geschlechtsbeziehungen, Diebstahl und Wiedergutmachung, stützen und stärken sie sich gegenseitig. In Erbangelegenheiten jedoch, die Land, Vieh, sonstigen Besitz und die Familie z u m Gegenstand haben, hält man sich häufiger an traditionelle Verfahrensweisen als an islamische Vorschriften. Lewis weist allerdings darauf hin, daß man i m Z u g e der sich wandelnden wirtschaftlichen Bedingungen, die neuerdings Einzelunternehmungen begünstigen, bereitwillig auf jene Aspekte des islamischen Rechts zurückgreift, die den Gedanken der wirtschaftlichen Unabhängigkeit des einzelnen betonen. Es besteht z. B . ein erheblicher Unterschied zwischen den Somalinomaden und ihren Vettern in der Stadt. D i e letzteren setzen sich über die herkömmlichen Verpflichtungen h i n w e g , die ihnen aus der Blutszugehörigkeit erwachsen, und rechtfertigen ihr Verhalten unter Hinweis auf eine strenge Auslegung der Scha'ria. In einigen Fällen ändert sich sogar die Stellung der Frau grundlegend, u m dem islamischen R e c h t zu entsprechen, z. B . bei den Haussa, deren Frauen dem Herkommen nach die Feldarbeit verrichten, diese aber aufgeben und ihren Männern überlassen, sobald sich diese bekehren. A u c h auf dem Gebiete der Ehesitten und des Ehebegriffs bestehen große Unterschiede zwischen dem Islam und der afrikanischen Tradition. In matrilinealen Gesellschaften ergibt sich eine Konfliktsituation, w e n n der Gatte ein Moslem ist, während die Frau unbekehrt bleibt. Ihre Kinder geraten dadurch in eine äußerst schwierige Lage. W e n d e t sich nun aber auch die Frau dem Islam zu, so wechseln sie beide v o n den zi
Mbiti, Afrikanische Religion
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Christentum, Islam und andere Religionen in Afrika
traditionellen zu den islamischen Vorschriften bezüglich der Erbfolge und des Elternrechts über. Die islamische Brautgabe (Mahr oder Sadak) läßt sich leicht in die afrikanische Tradition, Hochzeitsgeschenke auszutauschen, einfügen. Die einzige leichte Abänderung besteht darin, daß man dazu neigt, der Braut, und nicht so sehr ihren Verwandten, den größten Anteil zukommen zu lassen, z. B. bei den Somali, Fulani und Haussa. In Situationen, die es erforderlich machen, daß jemand die Witwe eines anderen erbt oder eine Levirats- bzw. Sororatsehe eingeht — alles Ehesitten, die das islamische Recht mißbilligt — „werden die traditionellen Rechte der Partnerübernahme beibehalten". Jedoch können Witwen, die ihre Verbindung zur Familie des verstorbenen Gatten lösen wollen, dies erreichen, indem sie einen Antrag beim islamischen Gericht stellen. In jedem Falle müssen die Witwen jedoch die vom Islam vorgeschriebene Enthaltsamkeitsfrist (Idda) einhalten, bevor sie sich wieder verheiraten können. Hier hegt wiederum eine Ähnlichkeit mit einigen traditionellen Bräuchen vor.26 Was rein religiöse Glaubensvorstellungen und Riten anbetrifft, so findet man auch hier Übereinstimmungen und Abweichungen zwischen dem Islam und den traditionellen Religionsformen. Wie wir gesehen haben, wird der Begriff der Existenz Gottes von den afrikanischen Völkern allgemein anerkannt. Er entspricht der Kerndoktrin des Islams, der in seinem kürzesten und fundamentalsten Glaubenssatz zum Ausdruck kommt: „Es gibt nur einen Gott, Allah, und Mohammed ist sein Prophet". Die Einheit Gottes braucht also den traditionellen Religionen gegenüber von Islam nicht besonders betont zu werden. Dagegen läßt sich die Stellung Mohammeds schwerer mit traditionellen Verstellungen in Einklang bringen, wie denn die Afrikaner es auch unmöglich finden, Jesus Christus ihrer eigenen Vorstellungswelt und Geschichte zuzuordnen. Der Koran erwähnt eine große Anzahl von Geistwesen: Engel, Dschirms und Teufel, die sich leicht in die religiöse Sphäre des alten Afrikas einfügen lassen. „Der Islam verlangt von seinen neuen Anhängern nicht, daß sie ihr gewohntes Vertrauen auf alle mystischen Kräfte aufgeben". Traditionelle Heroen und Stammväter, die bisweilen als Mittler fungierten, stimmen nun mit dem anerkannten islamischen Begriff des Heiligen überein. Die kultische Verehrung der Totenseelen wird aus der afrikanischen Tradition übernommen und „besteht in islamischer Gestalt fort", so daß die abgeschiedenen Vorfahren im Islam die Rolle 26
Lewis, S. 4 J — 5 7 .
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von Fürsprechern übernehmen, die sich bei Gott für die Menschen verwenden. So sind z. B. ..die Klan- und Familienvorfahren bei den Somali effektiv kanonisierte islamische Heilige, die in die Gesamtschar der Heiligen des Islams eingereiht werden". Bei den Songhai werden einige traditionelle Heroen zu Engeln und andere zu Dschinns, d. h. gewöhnlichen Geistern. Da aber der strenggläubige Islam die Naturgeister geringachtet, neigen die afrikanischen Moslems dazu, ihnen gegenüber eine negative Haltung einzunehmen, sie zu verurteilen und in die Welt der nichtmosleminischen Dschinns zu verbannen. W o die örtlichen. Bedingungen günstig sind, bleiben die Besessenheitskulte häufig erhalten, so bei den Suaheli, Songhai und in den westafrikanischen Geheimgesellschaften. Die Geisterbesessenheit wird vom reinen Islam mißbilligt, doch kehren afrikanische Moslems, vor allem Frauen, zu diesem Kultformen zurück, um Trost in Kümmernissen zu finden, für die der Islam keine Heilung bietet. Im Bereiche der Wahrsagung und Magie besteht vielfach Übereinstimmung zwischen dem Islam und traditionellen Vorstellungen und Praktiken. Die islamische Glaubenspraxis steht der Wahrsagung und dem Gebrauch guter Magie wohlwollend gegenüber. Dagegen verdammt sie Zauberei und Hexerei, läßt aber an ihrer Wirksamkeit keinen Zweifel bestehen. Der Islam „billigt durchaus magische Handlungsweisen, die auf berechtigte Ziele hingerichtet sind, wie die Heilung von Krankheiten, die Verhütung und Beschränkung von Unglück und die Sicherung von Wohlstand und Erfolg", wenn auch im Hintergrund die Hoffnung auf Gott ausschlaggebend ist. Einige Moslems bedienen sich der Wahrsagerei, um Konvertiten zu beeindrucken und für ihre Sache zu gewinnen. Hexerei und Zauberei sehen sie aber nur als gerechtfertigt an, wenn sie dazu dienen, die Rechte von Menschen zu schützen und Übeltäter zu entlarven.27 Islamische Rituale und Gebete bei Geburten, Hochzeiten und Beerdigungen lassen sich ziemlich leicht in die vorhandenen traditionellen Vorstellungen und Bräuche einschmelzen. In einigen Fällen führt der Islam Neuerungen ein, wie z. B. die Zirkumzision bei den Ganda- und Sogamoslems, deren eigene Stammessitte keine Beschneidung der Knaben kennt. Bei den Völkern des Sudans, Äthiopiens und Somalias hat der Islam Berichten zufolge auch die Klitorisbeschneidung und die Infibulation (Schließung der kleinen Schamlippen) eingeführt oder 27
Lewis, S. 58—65.
21*
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Christentum, Islam und andere Religionen in Afrika
gefördert. Im Zusammenhang mit der Totenbestattung ist die islamische Sitte, den Leichnam zu waschen, weitverbreitet, gleichfalls die Beweihräucherung des Leichnams, die Benützung einer Bahre und die Anlage des Grabes in Richtung Mekka. Ähnlichkeiten zeigen sich auch im Trauerritual, welches Waschungen, Seklusion, körperliche Reinigung und geistliche Läuterung umfaßt. Der traditionelle Glaube an das Fortleben nach dem Tode wird jedoch von der islamischen Eschatologie überdeckt: das Paradies mit seiner vorwiegend materialistisch gedachten Seligkeit wird fortan zum Bestimmungsort der Gläubigen, während die Hölle den Ungläubigen vorbehalten bleibt. In den Naturreligionen kommt eine solche Zweiteilung im Schicksal der Verstorbenen nicht vor, und abgesehen von ein paar unscharf formulierten Ausnahmen leben die „Guten" und die „Bösen" in der jenseitigen Welt gemeinsam weiter, ohne Lohn oder Strafe zu empfangen. Was das islamische Jahr anbetrifft, so stellt Lewis fest, daß „der islamische Mondkalender zusammen mit der Religion überall übernommen wird und gewöhnlich andere Zeitrechnungen verdrängt, es sei denn, diese sind fest in einem unveränderlichen jahreszeitlichen Zyklus wirtschaftlicher Interessen verankert". Man übernimmt die arabischen Monatsnamen und übersetzt sie meist in die Stammessprache, „wobei dem sozialen und religiösen Gehalt des betreffenden Monats Ausdruck verliehen wird". Bei den Mende-Moslems z. B . heißt der Fastenmonat Ramadan „Mond der Entbehrung". Unter den wichtigsten islamischen Festen wird das „Fest des Fastenbrechens" am Ende des Ramadans weit und breit unter größtem Jubel begangen. Das Geben von Almosen für die Armen wird anscheinend als eine Art Versicherungspolice angesehen, die vor allem die ewige Seligkeit und Gottes Gunst einbringt. Die Almosen werden den Opfergaben gleichgesetzt. Die Wallfahrt nach Mekka (Hadsch) ist kostspielig und schwer einzuhalten, erfreut sich aber trotzdem unter afrikanischen Moslems großer Beliebtheit. Jedes Jahr treten in vielen Ländern des tropischen Afrikas ganze Flugzeugladungen von Pilgern die Reise an, und Moslems, die sich die Mekkareise nicht leisten können, wallfahren zu örtlichen Heiligtümern.28 Der Islam in Afrika scheint aus der Errichtung der Kolonialherrschaft beträchtlichen Nutzen gezogen zu haben. Lewis berichtet, daß die Kolonialmächte nicht den Versuch gemacht hätten, den Islam abzu28
Lewis, S. 67—74.
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schaffen und daß es ihnen, abgesehen von den Belgiern im heutigen Saiire, nicht einmal gelungen sei, seine Ausbreitung zu beschränken. „Die Gesamtwirkung der Kolonisation war einer erneuten Ausbreitung des Glaubens eher förderlich", und die Kolonialherrscher „halfen sogar ihren muselmanischen Untertanen, Moscheen und Schulen zu bauen; sie unterstützten oft direkt die Wallfahrt nach Mekka oder erleichterten ihre Organisierung". Außerdem trugen die von der Kolonialherrschaft geschaffenen Bedingungen auf ihre Weise zur Ausbreitung des Islams bei, z. B. durch Steigerung des Handels, Gründung neuer Städte, Einwanderung von Moslems aus Indien und Pakistan nach Afrika und schnelle, friedlichere Verkehrsmöglichkeiten. Dies hatte zur Folge, daß sich die Zahl der Moslems im tropischen Afrika innerhalb eines halben Jahrhunderts verdoppelte. „Der Kolonialfriede führte absichtlich oder unabsichtlich zu einer beispiellosen Ausdehnung des Islams... In einem halben Jahrhundert europäischer Kolonisation erzielte der Islam eine größere Breiten- und Tiefenwirkung als in zehn Jahrhunderten vorkolonialer Geschichte".29 In einer persönlichen Mitteilung Hamduns kommt jedoch zum Ausdruck, daß er die Behauptung, die Kolonialherrschaft habe zur Verbreitung des Islams im tropischen Afrika beigetragen, immer mehr in Zweifel ziehe. „Eher ist das Gegenteil der Fall gewesen". Welche von diesen Ansichten berechtigter ist, sei dahingestellt. Es läßt sich jedoch kaum von der Hand weisen, daß die Kolonialherrschaft und die geographische und zahlenmäßige Ausbreitung des Islams im tropischen Afrika eindeutig zusammenfallen und daß ferner die afrikanische Unabhängigkeit der Zunahme islamischen Einflusses durchaus nicht Einhalt geboten hat. So sieht also das Bild des Islams in den traditionellen Gesellschaften Afrikas aus. An der religiösen Front hat der Islam wenig geleistet, um die afrikanische Religiosität zu bereichern oder sie gar von Grund auf zu verändern. Nur im Rituellen, d. h. in Äußerlichkeiten, hat man sich seine Bräuche angeeignet, während die eigentliche religiöse Substanz der Tradition trotz ihrer islamischen Verbrämung von äußeren Einflüssen unberührt bleibt. In einigen Ausnahmefällen führt der Islam Veränderungen herbei, z. B. wenn matrilineale Familien nach der Bekehrung ihre Lebens- und Organisationsformen auf vaterrechtlicher Grundlage neuordnen. Der neuzeitliche Wandel tritt jedoch dann in Erscheinung, wenn die Interessen des einzelnen auf dem Spiele stehen, besonders wenn Leute 29
Lewis, S. 76—82.
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ihre ländliche Heimat verlassen und in der Stadt eine neue Bleibe suchen. In diesem Falle beruft der einzelne sich unter dem Eindruck neuer wirtschaftlicher Bedingungen und Bildungschancen gern auf den Koran, um seine persönlichen Interessen auf Kosten der Hilfe an die Sippe, wie sie die Tradition vorschreibt, zu wahren. Im Gegensatz zum Christentum scheint der Islam in Afrika offiziell nicht den Versuch zu unternehmen, sich den sozialen Problemen zu stellen, die sich aus den Umwälzungen der heutigen Zeit ergeben. Natürlich gibt es Ausnahmen, und die Ismaeliten sind ein gutes Beispiel einer Moslemgemeinschaft, deren Bemühungen um die Nöte der modernen Gesellschaft sich nicht einfach im Almosengeben erschöpfen. Die Moslemstaaten der Saharazone und Nordafrikas haben ihre eigenen Sozialprogramme. Die in Laufe der letzten hundert Jahre in traditionellen afrikanischen Gesellschaften entstandenen islamischen Gemeinden verlassen sich jedoch mehr auf traditionelle Hilfsmethoden, die auf dem Gemeinsinn und der Blutszugehörigkeit beruhen, als auf spezifisch islamische Formen der Hilfe. Die größten Gefahren für den Islam im tropischen Afrika hegen im Konservativismus und in einer verknöcherten Rechtsauffasung. Hamdun hat mich darauf hingewiesen, daß auch der Säkularismus besonders in Westafrika eine schwere Gefahr für den Islam darstellt. Zweifellos werden weitere Bekehrungen von Anhängern sowohl der Naturreligionen wie des Christentums zum Islam erfolgen. Die tieferen religiösen Elemente des Islams, welche man bisher nur zögernd angenommen hat, werden jedoch auch in Zukunft in den islamisierten Gesellschaften Afrikas kaum Wurzel fassen können. Ähnlichkeiten in Glauben und Ritus zwischen dem Islam und den Naturreligionen erleichtern wohl schnelle und glatte Bekehrungen, hemmen aber gleichzeitig eine tiefergehende Entwicklung, die dem radikalen Ganzheitsanspruch des Islams entspräche. Dies bedeutet also, daß die traditionellen Religionen und der Islam sich einander anpassen. Diese Tendenz wird von den wenigen vorhandenen Untersuchungen zum Thema bestätigt. Der Mangel an Radikalität in der Begegnung der beiden Religionsformen ruft den Eindruck hervor, daß der Islam in den traditionellen Gesellschaften des tropischen und südlichen Afrikas nur als leichte Tünche, die religiöse Erfahrungen und soziale Anliegen überdeckt, eine Zukunft hat. Dazu kommt, daß die Moslemführer nur über eine mangelhafte Bildung verfügen und den modernen Problemen gegenüber nicht immer aufgeschlossen sind. Ihre Kenntnis des Korans und des islamischen Rechts
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soll hier nicht in. Frage gestellt werden. Mit einer solchen Kenntnis allein werden sie aber nicht weit kommen, wenn es darum geht, ihren Glauben der modernen Welt nahezubringen. Falls es ihnen nicht gelingt, den Islam für die Fragen, Probleme und Situationen, denen die junge Generation immer häufiger gegenübersteht, relevant zu machen, wird er in ihren Händen Rost ansetzen. Ironischerweise gibt es im tropischen Afrika mehr christliche Gelehrte als Moslems auf dem Gebiet der Islamstudien, obwohl die Zahl der letzteren im Steigen begriffen ist. Soll der Islam überleben und einen ernstlichen Beitrag zur Führung und Lenkung Afrikas leisten, das nach neuen Werten, Grundlagen und Orientierungspunkten sucht, so darf er sich keineswegs mit bloßen Bekehrungserfolgen begnügen, sondern muß bereit sein, sich selber vom modernen Menschen bekehren zu lassen, d. h. modernisiert und auf den neuesten Stand gebracht zu werden. Wenn er diesen entscheidenden Anpassungsprozeß versäumt, wenn seine Starre und Rechtsmeierei es ihm nicht gestatten, sich der wechselnden Gestalt unserer heutigen Welt anzugleichen, dann wird der Islam im neuen Afrika zwar statistisch ein Riese bleiben, religiös aber zum Anachronismus herabsinken.1 c) Andere
religiöse
Traditionen
in
Afrika
Das afrikanische Judentum ist in mindestens zwei Gebieten belegt. Die älteste Gemeinschaft ist die der Falascha oder Schwarzen Juden, die zu den Agauvölkern Äthiopiens gehören. Jahrhundertelang hat dieses afrikanische Volk an einer Religionsform festgehalten, die eine Mischung aus alttestamentlichem Judentum und christlichen Elementen darstellt. Die Falascha können kein Hebräisch, ihre Priester benützen 30
Über den Islam im tropischen Afrika liegt eine ungeheure Literatur in arabischer Sprache und in europäischen Sprachen vor. Über die Begegnung des Islams mit den traditionellen Religionen ist indes wenig gearbeitet worden. Es sei uns gestattet, außer den in diesem Abschnitt bereits erwähnten Werken noch einige weitere zu erwähnen: J . N . D. Anderson: Islamic Law in Africa, London 1954, J . H. Greenberg: The Influence of Islam on a Sudanese Religion, N e w Y o r k 1946, A . Gouilly: L'Islam dans l'Afrique Occidentale Française, Paris 1952, I. M . Lewis: Marriage and the Family in Northern Somaliland, Kampala 1962, Vincent Monteil: L'Islam Noir, Paris 1964, J . S. Trimingham: Islam in West Africa, London 1959, ders: A History of Islam in West Africa, Oxford/London 1962, J . C . Froelich: Les Musulmans d'Afrique noire, Paris 1962, R . Reusch: Der Islam in Ostafrika, Leipzig 1931, und Zeitschriften wie The Muslim World (Hartford) und Islamic Culture (Haidarabad).
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Christentum, Islam und andere Religionen in Afrika
aber das Alte Testament und die Apokryphen, die beide in in einer Schwestersprache des Äthiopischen, dem Geez, verfaßt sind, als ihre Heilige Schrift. Die Anhänger dieser Religion halten streng die von der Bibel vorgeschriebenen Reinigungsgesetze und die Heiligung des Sabbats ein. Sie üben die Beschneidung von Knaben und Mädchen. Die Falascha, welche etwa fünfzigtausend Seelen zählen, sind ein geschicktes, arbeitsames Volk. Es ist erstaunlich, daß sie ihre Eigenart und ihr religiöses Gemeinschaftsgefühl bewahrt haben, obgleich sie in einem traditionell christlichen Land leben, und daß man sie immer noch als einheimische Vertreter des Judentums in Afrika anzusprechen vermag. Offensichtlich machen sie nicht den Versuch, Anhänger zu gewinnen. Eine weitere Gemeinschaft afrikanischer Juden ist in Ostuganda zu finden. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft nennen sich selber Bajudaja, d. h. Juden, Nachkommen Juda. Einzigartig an dieser Gemeinschaft ist, daß sie erst zu Beginn dieses Jahrhunderts auftrat und sich aus den ortsansässigen Afrikanern aus der Umgegend von Mbale zusammensetzt. Ihre Gründung geht auf einen Afrikaner, Semei Kakungulu, zurück, der um die Jahrhundertwende eine führende Rolle in der Geschichte Ugandas spielte. Kakungulu war Christ anglikanischer Konfession, nahm an den „Religionskriegen" teil und half später den Briten, in Ostuganda ihre Verwaltung aufzubauen. In seiner Enttäuschung darüber, daß weder die Kirche noch die Briten ihm eine hohe Stellung gaben, schloß er sich einer unabhängigen Kirche, der Bamalakigruppe, an, die etwa 1913 gegründet wurde, sich äußerst schnell ausbreitete und in ihrer Expansion in Ostuganda von ihm gefördert wurde. Er war ein eifriger Bibelleser; seine Lektüre führte ihn von der unabhängigen Kirche weg und brachte ihn dem Judentum näher. 1919 ließ er sich zusammen mit seinem ältesten Sohn beschneiden. Er beschnitt seine später geborenen Söhne und gab ihnen jüdische Namen. Dabei hielt er jedoch an christlichen Traditionen wie der Heiligen Eucharistie (Kommunion), der Kindertaufe und dem Gebet des Herrn fest, nannte sich allerdings von 1919 an einen Juden. Im Jahre 1926 begegnete er einem jüdischen Händler namens Jussuf, von dem er jüdische Riten und Sitten und die Grundprinzipien des Judaismus kennenlernte. Die Begegnung mit Jussuf bewirkte die radikalsten Veränderungen in Kakungulus Begriff vom Judentum und in seiner Religionsausübung. Er erkannte Jesus Christus nicht mehr an, verwarf das Neue Testament und alle christlichen Praktiken und führte die Einhaltung des Samstags als des heiligen Sabbats ein. Er legte jüdische Kleidung an, wie Jussuf
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sie trug, und begann mit seinen Anhängern, jüdische Feste zu feiern und hebräische Monatsnamen zu verwenden. Vor seinem Tode zwei Jahre später traf er nochmals zwei Juden, die ihn und seine Anhänger, deren Zahl inzwischen auf etwa zweitausend angestiegen war, in der jüdischen Religion weiter unterwiesen und bestärkten.31 Die Abajudaja, wie sie in der Mehrzahl heißen, nahmen später zahlenmäßig ab. In jüngerer Zeit jedoch hat die Bewegung wieder einen neuen Aufschwung genommen, der auf die Kontakte zum Weltjudentum zurückzuführen ist. Auch die Anhängerzahl steigt wieder. An ihrem Hauptort haben die Abajudaja eine Synagoge erbaut, während man in den umliegenden Ortschaften einige kleinere Synagogen findet. Gleichwohl sind ihre Kinder durch die Umstände zum Besuch christlicher Schulen gezwungen, und die Anhänger der jüdischen Lehre haben weder eine starke Führung, noch werden sie religiös richtig unterwiesen. Ihre Gebete, die unter der Leitung von Samson Israeli stattfinden, verrichten sie jetzt nach Norden, d. h. nach Jerusalem, gewandt. Oded, der eine Untersuchung über diese Gemeinschaft angestellt hat, berichtet folgendes: „Samson Israeli entpuppte sich zu meiner Überraschung als großer Bibelkenner. Er wußte genau, welche Kapitel und Verse der Bibel sich mit den verschiedenen Miswoth befassen. Er konnte einen großen Teil des Alten Testaments in der Gandasprache auswendig. Er wußte auch recht gut über Einzelheiten der Ritualvorschriften Bescheid. Alle Mitglieder der Gemeinde fasten am Jom Kippur und feiern sämtliche im Alten Testament erwähnten Feste. Keiner ißt am Passahfest Brot. Von Israel hatten sie kaum etwas gehört, interessierten sich aber sehr für Jerusalem und wollten wissen, ob der Tempel bereits wiederaufgebaut sei. Zum Schluß brachten sie einige Bitten vor. Sie wünschten aus Israel ein Gesetzbuch (Sepher Thora), Gebetschals (Tallitim), Gebetbehälter zum Annageln an den Türrahmen (Mesusoth) und wenn möglich ein Lehrbuch in englischer Sprache, das ihnen die Hauptgebote (Miswoth) und die Gesetze des Judaismus vermitteln sollte. Sie beabsichtigten, es in die Gandasprache zu übersetzen. Sie sprachen auch den Wunsch aus, einer ihrer jungen Leute, der die Höhere Schule abgeschlossen hatte und Englisch konnte, möge nach Israel reisen und dort in der jüdischen Lehre unterrichtet werden. Nach seiner Rückkehr 31
E. Ullendorf: „Hebraic-Jewish Elements in Abyssinian (Monophysite) Christianity", in: Journal of Semitic Studies, I. 1956, S. 2 1 6 — 2 5 6 , J . S. Trimingham: Islam in Ethiopia, London/Oxford 1952, S. i9f., E. Damman: Die Religionen Afrikas, 1963, S. 248f.
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nach Uganda würde dieser ihr Rabbi sein und ihnen dabei helfen, die jüdischen Miswoth in Einklang mit dem jüdischen Gesetz einzuhalten". Oded hat den Kontakt zwischen dieser afrikanischen Judengemeinde und dem Weltverband für die Verbreitung des Judentums hergestellt, der seitdem finanzielle Hilfe schickt. Zwischen seinem ersten Besuch 1962 und seinem letzten im Jahre 1966 stieg die Zahl dieser Gemeinde von 350 auf 500 an. Einige der Konvertiten waren ursprünglich Christen oder Moslems. Ihre Missionierungstendenzen kommen in ihrem Briefkopf zum Ausdruck, welcher lautet: DIE V E R B R E I T U N G DES JUDENTUMS IN UGANDA. Offensichtlich sind sie sehr darum bemüht, auf demselben Niveau zu bleiben wie das Judentum. „Sie möchten genau so gute und echte Juden wie alle orthodoxen Juden in der Welt sein. Da sie kürzlich Verbindung mit dem Weltverband aufgenommen haben, hoffen sie dieses Ziel zu erreichen".32 Über diese Gemeinschaft liegen mir keine weiteren Informationen vor. Vor allen ist mir nichts bekannt über die Begegnung zwischen dem Judentum und und den traditionelle Glaubensvorstellungen und -praktiken. Es ist möglich, daß sich viele Berührungspunkte, Ähnlichkeiten und gemeinsame Interessen vor allem ritueller Natur ergeben, die den afrikanischen Anhängern das Bekenntnis des Judentums näherbringen. Sollte jedoch die Tendenz vorherrschen, die Anhänger nur auf das Bekenntnis des Judentums zum Samani — zur Vergangenheit — zu verpflichten, ohne daß der Versuch einer ernstlichen Auseinandersetzung mit unserer modernen Welt unternommen würde, so bliebe diese Form afrikanischen Judentums nichts weiter als ein religiöses Museumsstück, das vielleicht als Touristenattraktion geeignet wäre aber nicht einmal den religiösen Erwartungen seiner Mitglieder echte Impulse geben könnte. In diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß das Judentum Jahrhunderte vor dem Aufstieg des Christentums in Nordund Nordostafrika heimisch war. Alexandrien nahm eine Vorzugsstellung als Sitz des Judentums und jüdischer Gelehrsamkeit ein. Zudem gleicht das religiöse und soziale Leben der alten Juden in mancher Be32
A . Oded: „ A Congregation of African Jews in the Heart of Uganda" in Dilti na Mila, Kampala, Bd. 3, N r . 1, 1968, S. j£. Dies ist die einzige Arbeit über diese Gemeinde, und ich verdanke ihr meine Informationen. Derselbe Autor hat in der Jewish Chronicle eine Kurzfassung veröffentlicht. Eine längere Studie von A . Oded und M . Twaddle unter dem Titel Abayudaya Community of Eastern Uganda ist in Vorbereitung.
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ziehung dem vieler afrikanischer Gesellschaften, deren religiöses Denken wir einer Betrachtung unterzogen haben. Einige offenbare Unterschiede liegen darin begründet, daß das Judentum eine prophetische Bewegung und eine messianische Zukunftserwartung hervorbrachte, welche im traditionellen Bereich keinerlei Parallelen haben. Die alten Juden waren in mancher Hinsicht eher „Afrikaner" als „Asiaten", und gäbe es nicht das Rote Meer, so hätten sie vielleicht weniger Verbindungen mit Vorderasien als mit Afrika gehabt. In der heutigen Zeit findet man in Südafrika, Kenia und anderen Gebieten jüdische Gemeinden, die sich mit Handel beschäftigen. Die Juden in Ägypten und den nordafrikanischen Staaten sind historisch tief in Afrika verwurzelt. In früheren Zeiten fanden bei afrikanischen Völkern, wie den Berbern der Sahara, Bekehrungen zum Judentum statt. Die gegenwärtigen Spannungen zwischen Juden und Arabern haben jedoch zu einem neuen Auszug der Juden aus diesen nordafrikanischen Ländern geführt. Im Bewußtsein ihrer Volkheit und vielleicht auch auf Grund der auf ihren Wanderungen und in der Zerstreuung erlittenen Verfolgungen neigen die Juden dazu, unter sich zu bleiben, so daß sie nur geringen oder indirekten Einfluß auf das Kulturleben ihrer Gastvölker ausüben. Man darf aber nicht übersehen, daß sie auf allen Gebieten der Kultur und Wissenschaft große Männer hervorgebracht haben, deren Wirken auf weltweiter Ebene spürbar ist. Auf religiösem Gebiet könnten sie allerdings noch weit stärkeren Einfluß ausüben und mehr Anhänger unter den Nichtjuden gewinnen, als bisher der Fall gewesen ist. Doch hat vielleicht ihre religiöse Selbstabscheidung ihr Überleben als Volk und ihr religiöses Gemeinschaftsgefühl erst ermöglicht und dadurch wiederum ihre kulturelle Wesenseinheit und ihren wirtschaftlichen Wohlstand gestärkt. Der Hinduismus ist die Hauptreligion Indiens. In Afrika findet er sich fast ausschließlich bei indischen Volksgruppen, die in West-, Süd- und Ostafrika anzutreffen sind. Mehrere Jahrtausende lang unterhielt Indien Handelsbeziehungen zur Ostküste Afrikas, aber erst in der Kolonialzeit begannen sich Inder in Afrika niederzulassen. Der Hinduismus ist eine Lebensweise eigener Art mit bestimmten religiösen und lebensanschaulichen Satzungen sowie sozialen und wirtschaftlichen Strukturen, die für das Leben der Hindus maßgebend sind. Das Kastenwesen ist nach Afrika exportiert worden, doch ist die Zahl der Unberührbaren verschwindend gering. Die Hindugemeinden bewahren ihre eigenen Geburts-, Hochzeits- und Todesriten, darunter die Feuerbestattung; ihre Religion kennt viele Gottheiten und eine Unzahl von Glaubens-
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Vorstellungen. Wie bei anderen Religionsformen gibt es strenggläubige Anhänger wie auch Hindus, die von den religiösen und philosophischen Elementen des Hinduismus kaum einen Begriff haben. Der heutige Hinduismus umfaßt eine Anzahl von Sekten. Daneben gibt es andere Gruppen, die sich bereits vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden von ihm gelöst haben. In Ostafrika beherbergen die Hindutempel die verschiedensten Gottheiten, und ein jeder kann ohne Rücksicht auf Kaste, Konfession oder Rasse zur Andacht oder Meditation diese Tempel aufsuchen, wenn er nur bereit ist, seine Schuhe auszuziehen. Viele Andachtshandlungen der Hindus werden jedoch zu Hause vorgenommen. In den meisten Häusern befinden sich Kultschreine, an denen die Familienmitglieder opfern und beten. Die Schreine enthalten Götterbilder, Figuren und Darstellungen heiliger Männer; bisweilen sieht man sogar Bilder von Jesus Christus. Heilige Männer aus Indien statten den Hindugemeinden in Afrika Besuche ab, was zur Erneuerung und Stärkung ihrer Kultformen und ihres Gemeinschaftslebens beiträgt. Diwali ist das wichtigste Hindufest, das in Afrika gefeiert wird. Es bezeichnet den Sieg des Guten über das Böse, und dieser Sieg wird durch eine Lichterfülle symbolisiert. Einige Hindus behaupten, der Nil sei einer ihrer heiligen Ströme. Auch die Mondberge in Uganda und im Kongo und der Vulkangipfel des Meru in Tansania gelten ihnen als heilig. Der Nil ist der örtliche Ersatz für den Ganges, obwohl man nicht den Eindruck hat, daß dem in der Praxis wirklich so ist. Auf jeden Fall ist der alte Glaube, der besagt, daß Hindugottheiten nicht übers Meer ziehen und ihnen keine Tempel in fremden Landen erbaut werden sollten, anscheinend aufgegeben worden, da sie nun den Indischen Ozean überquert haben und einige sogar nie wieder nach Indien zurückgekehrt sind. Die jungen Hindus halten sich weniger streng an das Kastensystem und an die Schutzvorschriften, die vor Unreinheit bewahren. Die meisten von ihnen essen Fleisch, Rindfleisch einbegriffen, und glauben nur in recht verschwommener Form an den allwissenden Gott, ohne sich auf eine tiefere Auseinandersetzung mit der Hinduphilosophie einzulassen. Nur wenn es ans Heiraten geht, müssen sie den Wünschen und Traditionen ihrer Eltern Reverenz erweisen und unter anderem die Ehevereinbarungen einhalten, die von ihren Eltern, und zwar innerhalb derselben Kaste, geschlossen werden. Meines Wissens haben sich nur etwa ein Dutzend Afrikaner in Ostafrika zum Hinduismus bekehrt. Man muß als Hindu geboren sein und
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zum Hindu erzogen werden, u m sich in die Gesellschaftsstruktur des Hinduismus einfügen und sich seine Glaubensansichten und -praktiken zu eigen machen zu können. Dadurch ist für Außenstehende eine Bekehrung zum Hinduismus praktisch unmöglich. Die meisten der afrikanischen „Konvertiten" sind mit Indem verheiratete Frauen, und die mir zugänglichen Informationen lassen darauf schließen, daß sie in den gesellschaftlichen Kreisen, in denen ihre Männer verkehren, akzeptiert werden. Ich weiß auch von zwei afrikanischen Männern — dem einen in Mbale, Uganda, und dem anderen in Nakuru, Kenia — die Hindus geworden sind, da sie ursprünglich bei Indern angestellt waren. Sie haben Gudscharati gelernt, sind in den Häusern der Inder willkommen, haben eigene Kultschreine und feiern Hindufeste. Als ich eine meiner Informantinnen fragte, welcher Kaste diese afrikanischen Hindus angehörten, erhielt ich zur Antwort: „Sie haben keine Kaste. W i r werden eine neue Kaste für sie schaffen müssen, wenn noch mehr Afrikaner Hindus werden!" Auf meine Frage, ob es diesen Männern gestattet sein würde, indische Frauen zu heiraten, antwortete sie: „Ich glaube nicht, ich möchte es bezweifeln!" Diese Aussagen lassen darauf schließen, daß die afrikanischen Hindus nicht völlig in den Hindugemeinden aufgegangen sind, mögen sie auch bis zu einer bestimmten Stufe akzeptiert werden. Uber afrikanische Hindus Hegen keine Arbeiten vor, und wir können folglich ihren Fall nicht in angemessener Weise darlegen. 33 Unter den Volksgruppen indischer Herkunft in Afrika gibt es noch andere, allerdings kleinere religiöse Gemeinschaften, darunter die Sikhs, Dschainas und Parsen, außerdem Christen und zahlreiche Moslems. Die Sikh-Religion und der Dschainismus sind entfernte Ableger des Hinduismus, während die parsische Religion eine Form des Zoroastrianismus aus Persien ist. Die Sikhs in Ostafrika sind bestrebt, sich ständig niederzulassen und in ihrer neuen Heimat einen Beitrag zum Aufbau der Nation 33
Mir ist keine Literatur über den Hinduismus in Afrika bekannt. Meine Informationen beruhen auf persönlichen Kontakten mit Indern in Ostafrika. Da die indischen Gemeinschaften stark an wirtschaftlichen Unternehmungen in Afrika beteiligt sind, ist dieser Aspekt ihres Lebens in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur berücksichtigt. Natürlich gibt es eine ausgedehnte Literatur über allgemeine Fragen des Hinduismus, darunter folgende Werke: A . C . Bouquet: Hinduism, London 1948, J . N . Farquhar: Crown of Hinduism, Oxford/Madras 1 9 1 5 , S. Radhakrishnam: A Hindu View of Life, London 1 9 3 3 , außerdem Die Bhagavadgita in verschiedenen Ausgaben und Kommentaren.
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zu leisten.34 Ich habe nur von einen Afrikaner gehört, der sich der Sikhgemeinschaft angeschlossen, einen Sikh-Namen angenommen und die Kleidung der Sikhs übernommen hatte. Von afrikanischen Dschainas oder Parsen ist mir nichts bekannt. Sie und die Hindugemeinden sind in sich geschlossene, abgekapselte soziale Gruppen, die auf Grund ihrer religiösen Weltanschauung als „religiöse Gemeinschaften" angesprochen werden können, ob nun ihre einzelnen Anhänger den religiösen Grundlehren und Praktiken ihrer Gemeinschaft entsprechend leben und von ihnen Kenntnis haben oder nicht. Im Gegensatz zu den Christen und Moslems haben sie keinen „Glauben" zu verkünden, keine missionarische Dynamik zu verzeichnen, was unseren Feststellungen bezüglich der Naturreligionen Afrikas ziemlich genau entspricht. Ihre Einwirkung auf das afrikanische Leben ist in erster Linie wirtschaftlicher Art. Daneben tritt ihr religiöser oder gar kultureller Einfluß in den Hintergrund. Für den einfachen Afrikaner setzen sich die indischen Gemeinschaften aus Krämern, Händlern, Geschäftsleuten, Bauunternehmern, Angestellten, Drogisten und Ärzten zusammen.35 Der Behaismus ist die jüngste der Weltreligionen. Sie wurde offiziell im Jahre 1863 von Baha'Allah (geb. 1817 in Persien, gest. 1892) verkündigt. 36 Ihr Welthauptsitz befindet sich in Haifa (Israel), aber für Afrika ist der Sitz in Kampala (Uganda) zuständig, w o sich gleichfalls ihre Hauptkultstätte — auch Tempel genannt — für Afrika befindet. Die Lehre Baha 'Allahs erreichte zum ersten Mal afrikanischen Boden, als sein Enkel und Erbe Abb Al-Baha 1 9 1 1 eine Rundreise zu ihrer Ver34
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Dazu lese man die positiven Äußerungen der Sikhs zu den neuen Staatengründungen in Afrika in N . Singh, Hsg.: Sikhs of Kenya Say Harambee, Nairobi 1963, Opening Ceremony of New Sikh Temple, Siri Guru Singh Sabha, Nairobi 1963. Einen recht interessanten allgemeinen Überblick über die Drittelmillion Asiaten indopakistanischer Herkunft in Ostafrika gibt D . P. Ghai, Hsg.: Portrait of a Minority, Oxford/Nairobi 1965. Im Jahre 1863 verkündete Baha 'Allah seinen Anhängern, er sei der „ E r wählte Gottes, der von allen Propheten Verheißene". Einige Jahre später gab er seine Sendung öffentlich bekannt, gewann mehr Anhänger, die später unter der Bezeichnung Baha'is bekannt wurden, und begann dann, den Königen und Herrschern dieser Welt eine Reihe von Sendschreiben oder Berufungen zuzuschicken. Das Ridvanfest wird zum Gedächtnis der E r klärung Baha 'Allahs v o m 2 1 . April bis 3. Mai 1863 begangen. Daneben gibt es andere Feste, die an sein Leben und das seiner Jünger anknüpfen. Das Fasten wird neunzehn Tage vor dem Frühlingsäquinoktium eingehalten. Mir ist nicht bekannt, wieweit afrikanische Baha'is fasten und Feste begehen.
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breitung durch Ägypten und die Länder des Westens unternahm. Im tropischen und südlichen Afrika traf der Baha'i-Glaube jedoch erst bedeutend später ein. Erst 1951 gelangte er nach Kenia und Uganda. Seine Anhänger behaupten aber, er besitze in ganz Afrika ein großes Gefolge. Seine Hauptanziehungskraft beruht auf der Verkündigung, daß die ganze Menschheit, alle Religionen, Glaubensbekenntnisse, Propheten und Sekten eins seien. Er predigt Brüderlichkeit, Gerechtigkeit, gleiche Rechte und Privilegien und ein harmonisches Verhältnis zur Wissenschaft. Er verdammt Vorurteil, Sklaverei, Askese, Mönchtum und Priesterstand und befürwortet allgemeine Schulbildung, Ausrottung der Armut, Einehe und Gehorsam der Regierung gegenüber. All dies sind edle Ziele, aber auf dem afrikanischen Schauplatz sieht man keine Anzeichen ihrer konkreten und praktischen Verwirklichung. Im Haupttempel der Baha'i in Kampala finden sich nur eine paar Leute zur Andachtsübung ein. Unter den afrikanischen Anhängern dieses Glaubens stellt man kaum eine Spur des Gemeinschaftsgeistes fest, der die Baha'i auszeichnen sollte. Die großmütige Bereitschaft, alles und jeden zu vereinen, enthält schon den Keim der Zersetzung in sich, der den Baha'iGlauben aushöhlt. Ihm fehlt ein echtes mystisches Ziel, das dem einzelnen das Gefühl gibt, auf ihn komme es an. Darüber hinaus läßt ein so weitgespanntes Einheitsziel für die unmittelbaren, persönlichen Probleme des einzelnen nicht genügend Raum, mag der Glaube auch die Verbesserung der gesamten Menschheit auf sein Programm gesetzt haben. Der Mangel an Zeremoniell und strukturierter Führung im Behaismus ist der afrikanischen Tradition zutiefst fremd. Im ganzen genommen scheint es, daß die Afrikaner in den Städten den Lehren und Idealen des Baha'i-Glaubens aufgeschlossen gegenüberstehen und daß einige sie als vernünftige Lebensideale annehmen. Ich habe aber nicht den Eindruck, daß dieser Glaube Tiefgang hat oder bisher dörfliche Gemeinschaften erreichen konnte. Die Baha'i betätigen sich eifrig als Missionare und Propagandisten ihrer Lehre. Ihre Hauptwaffe ist ihre Pamphletliteratur in afrikanischen und europäischen Sprachen. In Uganda haben sie sogar zwei Schulen, die von Kindern christlicher, mohammedanischer und heidnischer Familien besucht werden. Diese Schulen sind zweifellos gute Pflanzstätten ihres Glaubens, die ihre Anhängerschaft steigern werden.37
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Die Literatur über die Baha'i-Bewegung ist in Zunehmen begriffen, doch gibt es meines Wissens keine Studie über die Bewegung in Afrika. A n
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Afrika ist also ein Riesentiegel, in dem sich die Religionen aus aller Herren Ländern zusammenfinden. Viele Universitäten im tropischen Afrika, wie die Universität von Sierra Leone, Legon in Ghana, Ibadan und Ife in Nigeria, Kinschasa in der Republik Saire, Makerere in Uganda, Nairobi in Kenia, die Haile Selassie I. Universität in Äthiopien und die Universität von Lesotho, Botswana und Swasiland in Lesotho haben das Studium der Religionswissenschaft und Philosophie in ihre Lehrpläne aufgenommen. Dadurch erkennen sie die große Bedeutung der Religion als Rückgrat des afrikanischen Lebens sowie die Notwendigkeit an, sie gründlich zu erforschen, will man das alte und das moderne Afrika verstehen. In den Abteilungen oder Fakultäten der obengenannten Universitäten, an denen man sich das Studium des Christentums, des Islams und der traditionellen Religionen Afrikas zur Aufgabe gemacht hat, wird keineswegs versucht, einer dieser Religionsformen eine Vorrangstellung einzuräumen und die anderen herabzusetzen oder aus ihrer Vielheit eine einzige, für ganz Afrika verbindliche Religionsform herauszukristallisieren. Eine jede wird nach ihrer akademischen Wertigkeit, ihrer Stärke und ihren Schwächen dargestellt und untersucht. So werden die Studierenden der Religionswissenschaft mit allen Religionsformen vertraut gemacht, wobei jede Religion auf ihre Weise das Verständnis der anderen erhellt. In Afrika ist die Religion jedoch nicht das Monopol der Akademiker, sondern eine Realität, die sich im Strom der Zeitgeschichte der afrikanischen Völker dahinbewegt, im gleichen Maße aber auch den von ihnen ererbten Traditionen innewohnt, mögen sie auch einige dieser Traditionen aufgegeben haben. Ich möchte behaupten, daß die Religion, in welcher Form sie auch heute erscheint oder historisch aufgetreten ist, im traditionellen Afrika eine Schlüsselstellung einnimmt und auch im modernen Afrika eine entscheidende Rolle zu spielen hat. Dieser Frage soll das -Schlußkapitel unseres Überblicks über die afrikanische Religion und Weltanschauung gewidmet sein.
allgemeinen Werken wären zu nennen: J . E. Esslemony: Baha'u'llah und the New Era, Wilmette, Illinois, durchgesehene Auflage 1950; Baha'i Publishing Trust: Gleanings from the Writings of Baha'u'llah, London 1 9 5 5 ; Prayers and Meditations of Baha'u'llah, zusammengestellt und übersetzt von S. EfFendi, London 1957, Abdu'l-Baha: Foundations of World Unity, Wilmette 1945-
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DIE SUCHE N A C H N E U E N W E R T E N U N D DIE S T A N D O R T B E S T I M M U N G DES MENSCHEN a) Das Kräftespiel der Religionen
Unser Überblick hat gezeigt, daß die afrikanischen Völker in ihrem traditionellen Leben stark religiös gebunden sind. Mehr als jede andere Kraft bestimmt die Religion ihr Weltverständnis und ihre empirische Teilnahme am Weltablauf, wodurch das Leben zur religiösen Erfahrung wird. Sein heißt soviel wie in einem religiösen Weltganzen religiös sein. Dies ist das Seinsverständnis, das den afrikanischen Mythen, Sitten, Traditionen, Glaubensvorstellungen, Handlungen und Sozialbeziehungen zu Grunde liegt. Bis zu einem bestimmten geschichtlichen Wendepunkt beherrschte diese traditionelle religiöse Einstellung mit einem nahezu absoluten Ganzheitsanspruch die afrikanische Vorstellungswelt und Lebenserfahrung. In der religiösen Auseinandersetzung sind drei Religionsformen von alters her führend gewesen: das Christentum, der Islam und die traditionellen Religionen. Das Christentum ist seit zweitausend Jahren in Afrika beheimatet und konnte einst flächenmäßig nahezu die Hälfte des Kontinents sein eigen nennen. Der Islam hat durch Schwert und Glaubenskraft ein Drittel der Bevölkerung Afrikas zu seinen Anhängern gemacht. Weitere, wenn auch der Zahl nach schwächere Religionen, die zur bewegten religiösen Situation der Gegenwart beitragen, sind Judaismus, Hinduismus, Sikhismus und Behaismus. Die Völker, deren traditionelle Religionen wir oben untersucht haben, unterhegen immer mehr dem Einfluß der anderen Religionen und der neuen Ideologien, welche an sie herangetragen werden. Die traditionellen Religionen werden immer weiter zurückgedrängt und verlieren das Alleinrecht, die übergeordneten Werte, den Standort des Menschen und den Sinn des Lebens zu bestimmen. Sie sind unterhöhlt aber noch nicht gestürzt. Fast überall machen sich Zeichen des Umbruchs bemerkbar, zumindest im bewußten Denken. Aber aus den Tiefen des Unterbewußten strahlt immer noch ein starker Einfluß auf den einzelnen und die Gemeinschaft aus, wenn es auch nicht mehr die einzige Quelle ist, nach der der Mensch sich orientiert. Die Unterhöhlung des traditionellen Solidaritätsbewußtseins macht die Suche nach neuen Werten, nach einer neuen Identität und nach Sicherheit erforderlich, welche die religiöse Lebensordnung früher dem einzelnen wie der Gruppe in hinreichendem Maße bot. Diese Suche 22
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scheint sich jedoch mehr auf die religiöse Sphäre als auf den Bereich der Ideologien zu konzentrieren. Die Ideologien sind neu und können nur von einer winzigen Minderheit der afrikanischen Elite begriffen werden. Die Religion hingegen erfaßt jeden einzelnen, von den Universitäten zu den Schulen, vom Palast bis zum Dorf, von den Alten bis zu den Jungen. Ich möchte behaupten, daß die afrikanischen Völker den Umbruch zur Moderne als religiöses Phänomen erfahren und daß ihre Reaktion auf die Veränderungen in der religiös motivierten Suche nach einem festen Halt besteht. Die wichtigsten und größten Bewerber im Ringen um die Seele Afrikas sind die traditionellen Religionen, der Islam und das Christentum. Die beiden letzten betätigen sich missionarisch, d. h. sie zielen daraufhin, Anhänger unter den Menschen zu gewinnen, die bisher nicht zu ihrer Gefolgschaft gehörten. Sie breiten sich aus, indem sie die Naturreligionen in die Defensive drängen und erwarten von diesen, daß sie sich still verhalten, ihren Predigtfeldzug über sich ergehen lassen, ihr Beispiel nachahmen, zurückweichen bis zur Selbstaufgabe, verschwinden und schließlich dem Vergessen anheimfallen. Sowohl das Christentum wie der Islam wenden allerlei Methoden an, um die traditionellen Religionen in Staub und Asche zu verwandeln oder zum historischen Anachronismus zu stempeln. Ihr ganzes Denken und Handeln ist im Grunde auf dieses Ziel ausgerichtet. Eine sorgfaltige Prüfung der religiösen Gesamtsituation ergibt jedoch einwandfrei, daß das Christentum und der Islam beim Zusammentreffen mit den traditionellen Religionen in ganz erstaunlichem Ausmaß an der Oberfläche steckengeblieben sind, da sie den afrikanischen Menschen in seiner historischen und kulturellen Verwurzelung, seiner sozialen Dimension, seinem Selbstverständnis und seinen Erwartungen nicht erfassen konnten. Natürlich gibt es Ausnahmen, aber unsere Behauptung läßt sich mit Beispielen aus vielen Teilen des tropischen Afrikas dokumentarisch belegen, wie wir im vorigen Kapitel gezeigt haben. Das religiöse Gesamtbild Afrikas ist also äußerst komplex, doch kann man darin mehrere zeitgenössische Erfahrungsweisen unterscheiden. Sie alle tragen dazu bei, das Allverständnis der Menschen und ihre Mitbeteiligung am Leben zu prägen.
Die Bekehrung ist der offenkundigste und dynamischste religiöse Vorgang. In Afrika vollzieht er sich dauernd, und zwar in folgender Richtung:
Das Kräftespiel der Religionen
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Ausgangsstufe:
Kon versionsstufe :
Afrikanische Naturreligionen Christentum Islam
Christentum, Islam, Behaismus. Islam, Behaismus. Christentum, Behaismus.
Eine vollständige Bekehrung ist nie ein punktuelles historisches Geschehnis, sondern stets ein Prozeß, der den inneren Menschen und seine gesamte Umwelt in Anspruch nimmt. Es kann mehrere Generationen dauern, bis sie in einer bestimmten Gemeinschaft zur vollen Reife gelangt. Auch dann noch muß sie sich ständig erneuern, soll sie im Laufe der Geschichte relevant bleiben. Die um Bekehrungen bemühten Religionen sollten vielleicht größere Geduld im Umgang mit afrikanischen Völkern an den Tag legen. Zweitbekehrungen sind ein klarer Hinweis darauf, daß Afrika sich auf der Suche nach einer angemessenen religiösen Lebensform befindet. Sie vollziehen sich meist innerhalb der Weltreligionen, und zwar in folgender Weise: 1. Konversionsstufe: Christentum Islam Behaismus Christliche Sekte Islamische Sekte
2. Konversionsstufe:
Islam, Behaismus, Judentum Christentum, Behaismus, Judentum Christentum, Islam Christliche Sekte Islamische Sekte.
Der Bekehrungsvorgang beschränkt sich in diesen Fällen meist auf den Wechsel von einer christlichen oder islamischen Sekte zu einer anderen, wobei man die außergewöhnliche Anzahl der Sekten in Afrika, von der wir schon berichtet haben, in Rechnung stellen muß. III. Die Abtrünnigkeit oder der Rückfall ist ein weiteres dynamisches Moment in der religiösen Arena Afrikas. Sie setzt ernstlich bei Christen und Moslems der zweiten und späterer Generationen ein oder macht sich bemerkbar, wenn der einzelne in eine Krisensituation gerät oder starken Beanspruchungen ausgesetzt ist. Es handelt sich hier vorwiegend um Einzelfälle, und nicht um kollektive Absetzbewegungen vom Christentum und Islam zu den traditionellen Religionen und zum Säkularismus hin. Die Abtrünnigkeit stellt für die beiden Weltreligionen die größte Gefahr dar. Die Christen führen beredt Klage darüber, während die Moslems sie entweder dulden oder nicht wahrhaben wollen. Diejenigen, welche sich auf diese Weise absetzen, beweisen durch ihre Handlung, 22-
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Die Suche nach neuen Werten und die Standortbestimmung
daß sie im Christentum oder Islam weder einen sinnvollen Standort noch Sicherheit und Geborgenheit gefunden haben. Sie kehren daher zur Glaubensbasis ihrer Väter zurück oder wenden sich in einer geringeren Anzahl von Fällen dem Säkularismus zu, mit dem sie nur ihre weitere Suche bemänteln. In einem gewissen Sinne kommt die Abtrünnigkeit einem Verdammungsurteil über die großen Religionen gleich, welche erst viele Anhänger zu gewinnen suchen, um sie dann enttäuscht und unbefriedigt wieder von dannen gehen zu lassen. IV. Eine neuerliche Erscheinung ist das religiöse Konkubinat zwischen Partnern, die fast jeder möglichen Tradition entstammen. Meist findet es jedoch zwischen dem Christentum und den Naturreligionen, dem Christentum und dem Islam oder dem Islam und den Naturreligionen statt. Der Behaismus fordert mehr oder weniger zu einer solchen synkretistischen Lauheit auf, und eine Anzahl von Afrikanern befleißigen sich dieser Haltung. Immer öfter hört man Afrikaner behaupten: „Alle Religionen sind sich gleich". Stimmt das so ohne weiteres? Diese Spielart der Religiosität hat weder Gestalt noch Tiefe und geht oft auf ausgesprochene religiöse Trägheit zurück. Sie verleiht ein Gefühl sozialer Sicherheit und gestattet einem, dem jeweiligen Ganzheitsanspruch der an solchen Konkubinatsformen beteiligten Religionen aus dem Wege zu gehen. V. Die Akkulturation ist ein ernster zu nehmendes Element der Suche nach einer angemessenen Religionsform. Wir haben bereits gesehen, daß das Christentum und der Islam bei ihrem Eindringen in die traditionelle Gesellschaft schwer mit westlicher bzw. islamischer Kultur und westlichen oder islamischen Institutionen befrachtet waren. Sie betraten jedoch kein kulturelles Brachland, sondern fanden afrikanische Völker vor, die tief in ihrer eigenen kulturellen Tradition verwurzelt waren. Diese Begegnung hat zum Vorgang der Akkulturation geführt, einer Art von „kultureller Rassenkreuzung", wie sie L. S. Senghor genannt hat. Als wir von der Begegnung zwischen westlichem Christentum und den traditionellen Gesellschaften Afrikas sprachen, wiesen wir bereits auf den Vorgang des teilweisen Behaltens und der teilweisen Zurückweisung hin. Die islamischen Kulturen und Institutionnen haben zwar nicht genau denselben Prozeß mitgemacht, wir haben aber gesehen, daß die afrikanischen Moslems, wenn es um ihre teuersten Werte geht, entweder all das am Islam verwerfen, was ihre Sicherheit zu bedrohen scheint, oder ihn nur zum Teil und in abgewandelter Form annehmen,
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soweit er ihren persönlichen Interessen entspricht. Das sich hier abzeichnende Gesamtbild ist dadurch charakterisiert, daß die kulturellen Traditionen Afrikas eine inoffizielle „Taufe" über sich ergehen lassen müssen, um in der christlichen oder islamischen Lebensweise aufzugehen, wie sie von den Afrikanern verstanden wird. Derselbe Vorgang umfaßt auch eine gegenläufige Tendenz, derzufolge das Christentum und der Islam zurechtgebogen werden müssen, um in die kulturelle Umwelt der afrikanischen Völker zu passen. Dieses Phänomen konnten wir am Beispiel der kirchlichen Abfallbewegungen und der Adaptionsformen islamischer Präsenz in der traditionellen Gesellschaft beobachten. Die Pflanzstätten solch hybrider Kulturen sind von jeher die Schulen, und die gebildeten Afrikaner sind wandelnde Lehrbeispiele materieller und religiöser Akkulturation. Dies ist die umfassendste Kulturerscheinung in Afrika; niemand bleibt von ihr unberührt. War sie jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach ursprünglich auf das religiöse Leben beschränkt, so verlagert sie sich jetzt immer mehr in den weltlichen Bereich. Die meisten Menschen nehmen allerdings ihre religiösen Ansichten, ihre Einstellung und Handlungsweise in die sich ihnen eröffiiende neue Welt mit. Die Akkulturation erscheint als unvermeidliche und im Grunde gesunde gegenseitige Befruchtung von Kulturen und Religionen. Auf ihr beruhen auch die Kulturen Europas, Arabiens und Afrikas, die jetzt auf afrikanischem Boden miteinander in Berührung treten. VI. Schließlich kommen wir zur völligen Abkehr von der Religion im Zeichen des Säkularismus, Kommunismus und Kapitalismus, die jedoch nur von einer verhältnismäßig kleinen Gruppe vollzogen wird. In ihrer extremen Form verachten und verwerfen diese Ismen die Religion oder stellen sich ihr sogar entgegen. Als Absetzbewegungen von der Religion sind jedoch auch sie für jegliche Erörterung der Religion aufschlußreich. In Afrika haben diese irreligiösen Ismen bisher noch nicht viele Konvertiten aufzuweisen, doch ist man durchaus auf sie aufmerksam geworden. Die Naturreligionen leisten ihnen nicht bewußt Widerstand, und der Islam steht ihnen ziemlich gleichgültig gegenüber. Nur das Christentum, vor allem seine missionarische Variante, leistet ihnen Widerstand oder geht sogar zur Offensive über. Ich sehe keine unmittelbar bevorstehende kommunistische Revolution in Afrika voraus, obwohl sozialistische Prinzipien in verschiedenen Ländern des Kontinents durchaus nutzbringend zur Anwendung kommen können. Der Säkularismus läuft auf eine Unterminierung der Religion hinaus, doch wäre es für die Religion sicherlich besser, dem säkularisierten Leben
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Die Suche nach neuen Werten und die Standortbestimmung
religiöse Grundsätze einzuimpfen als blind gegen den Säkularismus Front zu machen. Sollen die beiden unversöhnliche Feinde bleiben, oder ist es nicht vielmehr die Pflicht der Religion, ihre Präsenz in einer entgöttlichten Welt zu rechtfertigen und zu behaupten? Der Kapitalismus ist antireligiös, wenn er den Menschen derart ausbeutet, daß er einfach zum Werkzeug oder Roboter wird und seine Menschlichkeit einbüßt. Ein Kapitalismus, der den Menschen auf die rein materielle Ebene hinabzwingt, widerspricht dem religiösen Menschenbild, das den Menschen in allen Religionen als körperliches und geistiges Wesen auffaßt. In dieser Beziehung stellen die traditionellen Religionen Afrikas eine Herausforderung an die moderne Welt dar, da sie ein System entwickelten, das säkulare, sozialistische, kommunistische und kapitalistische Elemente harmonisch zu einem religiösen Ganzen zusammenfügte. Nüchtern betrachtet könnten auch sowohl das Christentum wie der Islam den theologischen Standpunkt vertreten, daß sich all diese Elemente mit ihren Anschauungen von Gott, Mensch und Universum vereinbaren ließen. Es liegt kein Grund vor, weshalb man es zulassen sollte, daß diese Ismen dem Zugriff des religiös bestimmten Menschen in Afrika entgleiten und zu „Feinden" der Religion werden, solange dieser historisch und theologisch dazu berechtigt ist, sie als seine Werkzeuge zu verwenden. Ob er sie in seinen Griff bekommt oder ob sie ihn zu ihrem Objekt machen, ist schließlich ein beträchtlicher Unterschied. b) Das Kräftespiel der Ideologien
Neben der religiösen Gärung in Afrika gibt es auch ideologische Bewegungen, welche die Frage „Wer bin ich?" zu formulieren und zu beantworten suchen. Wir haben gezeigt, daß die traditionelle Religion und Weltanschauung viele Generationen hindurch die Grundlage aller menschlichen Identität, Selbstfindung und Sicherheit gewesen ist. Im 18. Kapitel haben wir dann kurz ein Bild der veränderten Lage im heutigen Afrika entworfen. Die alte Sicherheit ist nun in ihren Grundfesten erschüttert und jeder einzelne, ob auf dem Dorf oder im Elendsviertel der Großstadt, ob in der Politik oder Wirtschaft, ob Christ, Mohammedaner oder Anhänger einer Naturreligion, hat die Anforderungen der neuen Zeit verspürt. Er muß sein Ich und seine Sicherheit in einem Wust widerstreitender Tendenzen finden. Einige von diesen sind religiöser Art, wie wir bereits oben umrißhaft gezeigt haben,
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während andere rein ideologischer Natur sind. Die letzteren können wir hier nur kurz streifen. I. Die Ökumenische Bewegung christlicher Kreise trachtet unter anderem danach, die Tragödie der Spaltung zu beheben und eine Verständigung zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen herbeizuführen. Im Falle Afrikas bedeutet die Ökumenische Bewegung, daß die Christen hier wie überall in der Welt ihre Eigenart als Lutheraner, Katholiken, Anglikaner, Orthodoxe oder Mitglieder unabhängiger Kirchen aufgeben müssen, damit die gesamte Christenheit geeint dasteht. Die Ökumenische Bewegung ist zersetzend, nicht etwa weil sie die Traditionen der vielen kirchlichen Richtungen zerstörte, sondern weil sie über diese hinausgeht, so daß sie nicht mehr Maß und Ziel kirchlicher Identität sind, sondern lediglich als Wegbereiter eines neuen christlichen Menschenbildes dienen. Dies ist nämlich die theologische Zielsetzung der gegenwärtigen christlichen Einheitsbestrebungen. Die afrikanischen Christen werden immer mehr auf diese Bewegung aufmerksam und sind wahrscheinlich eher bereit, ihre praktischen Forderungen in die Tat umzusetzen als es bei den überseeischen Kirchen der Fall ist, welche ihren historischen Verschiedenheiten bereits feste institutionelle Form verliehen haben. Daneben gibt es allerdings christliche Gruppen in Afrika, die sich der ökumenischen Idee leidenschaftlich widersetzen. Der Durchschnittschrist versteht ohnehin nicht, worum es hier überhaupt geht. Die wirkliche Gefahr für die Ökumenische Bewegung in Afrika hegt nicht in der Unwissenheit über ihre Zielsetzung oder in der Opposition einiger Sekten. Ihr Dilemma ist vielmehr innerer Art und besteht darin, daß die einmal erreichte Einheit der Kirche sehr wohl die theologische Stagnation aller Beteiligten im Gefolge haben könnte. Wenn der Einheitsgedanke zu einem Festpunkt der afrikanischen Christenheit werden soll, dann muß diese Einheit so verstanden werden, daß sie zur Wesenseinheit mit Christus hinführt. Angesichts eines Einheitsbegriffs, der den ganzen Menschen und den ganzen Kosmos als Eigentum Christi versteht, erscheint alles sonstige Einheitsgerede als absurd. Von seiner christozentrischen Identität ausgehend, hat der Mensch völlige Wahlfreiheit, sich behebig als Afrikaner, Nationalist, Neutralist, Gewerkschaftler oder sogar Bettler zu begreifen. Auf diese höchste Stufe muß das Christentum in Afrika hinzielen. Ohne eine solche theologische Zukunftsschau kann die ökumenische Ideologie in Afrika nur mit Lippenbekenntnissen rechnen, mögen wir auch scheinbar Fortschritte auf dem Wege zur christlichen Einheit innerhalb der Kirchen machen.
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II. Die Négritude ist eine philosophische und kulturelle Ideologie fremden Ursprungs. Der Ausdruck wurde von dem westindischen Dichter Aimé Césaire geprägt und dann von einem anderen großen Dichter, Leopold Sédar Senghor, überhöht und mit philosophischem Gehalt ausgestattet. Senghor definiert den Begriff der Négritude sowohl positiv als negativ auf verschiedene Weise: „Négritude... ist nicht die Verteidigung einer Haut oder Hautpigmentierung... Négritude ist das Bewußtsein, die Verteidigung und Entwicklung afrikanischer Kulturwerte. Négritude ist ein Mythus... Sie ist das Bewußtsein, mit dem eine bestimmte soziale Gruppe ihre eigene Situation in der Welt wahrnimmt, und sie ist Ausdruck dieser Situation durch das konkrete Bild". Im Hinblick auf das politische Leben sieht er die Négritude wie folgt: „Sie ist Demokratie, beseelt vom Gefühl brüderlicher Gemeinschaft zwischen den Menschen". In der kulturellen Sphäre offenbart sich die Négritude „tiefschichtiger in Werken der Kunst, die echtester Selbstausdruck eines Volkes sind. Sie ist ein Gefühl für Bild und Rhythmus, ein Gefühl für Symbol und Schönheit". In ziemlich überschwenglicher Weise ruft Senghor dann aus: „Die Négritude ist also ein Teil der Afrikanität. Sie besteht aus menschlicher Wärme". Er beschwört die Afrikaner, sich für die Négritude zu entscheiden: „ W i r sollten der Négritude gegenüber nicht neutral bleiben. Wir müssen uns mit hellsichtiger Leidenschaft für sie einsetzen... " Nur so können die afrikanischen Völker zum Wachstum dessen, was er Afrikanität nennt, beitragen und darüber hinaus auf den Bau der „universalen Kultur" hinarbeiten. Denn „Négritude ist die Summe aller Zivilisationswerte der afrikanischen Welt. Sie ist nicht Rassismus, sie ist Kultur". 1 Gewiß haben diese Erklärungen des Hauptapostels der Négritude die Ideologie aus ihrer ursprünglichen Position der Verteidigung, des Angriffs und der Inspiration herausgeführt und ihr einen Platz gewonnen, an dem sie zu einem Instrument des Aufbaus nicht nur für Afrika, sondern für seine visionäre „Universalkultur" wird. Man mag sich aber die Frage vorlegen, was die Négritude zu einem spezifisch afrikanischen Wesenszug macht, da man die Dinge, die Senghor über sie sagt, auch auf die Völker anderer Erdteile anwenden kann. Der Begriff der Négritude mit seinen vielen Spielarten und Definitionen ist ein 1
L. S. Senghor: Prose and Poetry, Hsg. J. Reed und C . Wake, Oxford/London 1965, S. 96f. Die meisten Zitate sind Senghors „Discours devant le parlement du Ghana", Februar 1961, entnommen.
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ideologischer Orientierungspunkt für die zahlenmäßig nicht ins Gewicht fallende Elite besonders der französischsprachigen Völker Westafrikas. Auf dem Dorfe versteht oder billigt niemand ihre philosophische Ausdrucksweise. Sie ist ein Mythus des Samani, wenn sie „die Summe aller zivilisatorischen Werte der afrikanischen Welt" meint. Sie ist daneben aber auch eine Zukunftsmythus, wenn sie sich das Ziel setzt, zur makro-mythischen „Universalkultur" beizutragen. Im ganzen betrachtet ist die Négritude also eine angenehme Fingerübung für die Elite, die sie herbeiwünscht, sucht und findet, wenn sie das afrikanische Samani betrachtet und im gleichen Atemzug eine afrikanische Zukunft erhofft. Sie hat weder Dogmen noch Tabus, weder Festtage noch Zeremoniell. Man braucht sie nur in der Vorstellung heraufzubeschwören, und schon ist sie zur Stelle. Behalte einen klaren Kopf, und du wirst sie gleich schauen. Die Négritude ist, weil sie angeblich ist. Man identifiziert sie mit Schwarzafrikanern, aber identifizieren die Afrikaner sich mit ihr? Hierin besteht das Dilemma der Négritude als Ideologie. III. Die afrikanische Persönlichkeit ist eine andere gängige Ideologie, die sich auf der Suche nach neuen Werten, Grundlagen und einer neuen Standortbestimmung befindet. Fast jeder Vorkämpfer der afrikanischen Persönlichkeit hat seine eigene Vorstellung und Definition von ihr. Am besten scheint sie auf das Reich der Kunst anwendbar zu sein. Mphahlele bemerkt dazu, daß ein afrikanischer Künstler, der mit „afrikanischen Themen, Rythmen und Spracheigentümlichkeiten (umgeht)... nicht umhin kann, eine afrikanische Persönlichkeit auszudrücken. Dazu bedarf es keines Mystizismus". Und doch, „der Künstler muß weiterhin nach seiner afrikanischen Persönlichkeit suchen. Daran kommt er nicht vorbei, denn immerhin handelt es sich in Wirklichkeit um die Suche nach seiner eigenen Persönlichkeit, nach der Wahrheit über sich. Wird ihm aber die afrikanische Persönlichkeit zum Schlachtruf, so erstarrt seine Haltung zur Attitüde, zur Manier, und seine künstlerische Gestaltung wird darunter leiden". Das ist Mphahleles Warnung an den Künstler, aber er warnt gleichermaßen das breite Publikum: „Wir leisten unserem Künstler keine Hilfe, wenn wir mit der afrikanischen Persönlichkeit wie mit Blechbüchsen an seinen Ohren rappeln.. Jeder Künstler in der Welt, ob Afrikaner oder nicht, muß unter Schmerzen seine Kunst von Nachempfundenem und falschen Tönen reinigen, bevor er seinen eigenen Weg findet. Man soll den Künstler dieser Entwicklung überlassen. Er soll sie mit Hangen und Bangen überstehen
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und durch seine eigene Kunst Befreiung finden". 2 Wenn die sogenannte afrikanische Persönlichkeit am besten durch den Künstler dargestellt wird, was soll denn aus den vielen Millionen Afrikanern werden, die keine Künstler sind? Wodurch können sie „die Wahrheit über sich selbst" entdecken, d. h. zur Einheit des Selbst finden und ihrer Existenz Sicherheit verleihen? Manche afrikanische Intellektuelle und Politiker glauben Afrika einen großen Dienst zu tun, wenn sie unter dem Deckmäntelchen der „afrikanischen Persönlichkeit" Gefühlswallungen heraufbeschwören. Bei einer Konferenz über den Beitrag der Religionen — Christentum, Islam und Naturreligionen — zur afrikanischen Persönlichkeit und Kultur, die 1961 in Abidschan (Elfenbeinküste) stattfand, blieb einigen von uns Teilnehmern und Referenten der eigentliche Sinn dieses mystischen Begriffs ein Buch mit sieben Siegeln.3 Bis heute ist mir kein Mensch bekannt, der mit der „Afrikanischen Persönlichkeit" etwas Rechtes anzufangen wüßte. Sollen wir für sie einstehen, sie fördern, schaffen, pflegen, erfinden, uns ihr konform verhalten, sie töten und begraben oder nur von ihr träumen wie von einem schönen Mythus ? Wann wird die „afrikanische Persönlichkeit" überhaupt sie selbst? Wo verlaufen ihre geographischen und historischen Grenzen? Dies sind keine müßigen rhetorischen Fragen. Was immer man unter „afrikanischer Persönlichkeit" verstehen mag, sie ist Ausdruck afrikanischer Diaspora, die eine neue Heimat, Identität, Geborgenheit und einen neuen Lebenssinn sucht. Da sind diejenigen, welche sie auf einen biologischen Wurzelgrund zurückführen und sie wie auch die Négritude mit Schwarzafrika gleichsetzen. Es gibt leidenschaftliche Verfechter der Vorstellung, daß „Schwarzsein" etwas Mystisches, eine besondere Tugend und Beschaffenheit ist, auf die man stolz sein muß. J. K. Aggreys Wort: „Wer nicht stolz auf seine Hautfarbe ist, hat keine Lebensberechtigung" fällt in diese Kategorie. Derselbe Aggrey sagte, wenn er in den Himmel käme und Gott ihn fragte, welche Hautfarbe er sich im Falle einer Rückkehr auf die Erde wünschte, so würde er antworten: „Herr, mache mich so schwarz wie es eben geht!" In Ghana konnte man vormals Schilder mit der Inschrift „Schwarzer Stern" sehen. Ich habe mir bisher noch nicht erklären können, wie ein 2 3
E. Mphahlele: The African Image, London 1962, S. 2 1 f. Der Konferenzbericht und die Referate sind veröffentlicht worden unter dem Titel: Colloque sur les religions, Présence Africaine, Paris 1963.
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Stern schwarz sein und gleichzeitig wie ein richtiger Stern leuchten kann. In den Vereinigten Staaten ist es neuerdings gang und gäbe, von „Black Power" zu reden. Angesehene Schriftsteller haben sich redlich bemüht zu beweisen, daß Schwarzafrika die Wiege der Zivilisation war. Diop z. B. hat nachgewisen, daß die altägyptische Zivilisation von Schwarzafrikanern hervorgebracht worden ist.4 Genügt es nun aber, die sogenannte afrikanische Persönlichkeit in Richtung Samani zu projizieren? Die Ideologie schlägt schon von sich aus eine stärker schöpferische Richtung ein. So brachte sie z. B. 1966 das erste Schwarzafrikanische Festival der Künste in Dakar zustande,5 während Présence Africaine im Verein mit der Gesellschaft für afrikanische Kultur, die beide ihren Sitz in Paris haben, das Negertum im kulturellen Bereich fördert. Man muß jedoch zugeben, daß das Bewußtsein der „Schwärze" beinahe zur fixen Idee wird, da immer mehr Menschen das Schwarzsein als Orientierungspunkt, Identität und Quelle gesteigerten Selbstbewußtseins entdecken. Dabei ist es lediglich ein Mythus, der nicht einmal die Tatsache berücksichtigt, daß der größte Teil der afrikanischen Völker braun und nicht schwarz ist. Afrika ist größer als der Mythus des Schwarzseins, und nicht alle seine Völker und Kulturen können in die engen Kategorien Schwarzafrikas gezwängt werden. IV. Afrikanische Einheit und Panafrikanismus. Die politische Bühne ist der Ort der dynamischsten ideologischen Auseinandersetzungen in Afrika. Afrikanische Einheit, Sozialismus und Panafrikanismus sind zu Gemeinplätzen geworden. Zu seiner Zeit war Kwame Nkrumah der ausgesprochenste Vorkämpfer der afrikanischen Einheit. Er warf sein ganzes Gewicht in die Waagschale, um sie „hier und jetzt" zu verwirklichen. Er predigte nicht nur die afrikanische Einheit, sondern symbolisierte auch die Suche nach ihr. Sein Eintreten für die afrikanische Einheit erreichte mit der Schaffung der Organisation für Afrikanische Einheit 4
5
C . A . D i o p : Antériorité des civilisations nègres: mythe ou vérité historique? Paris 1967. Ders.: Nations nègres et culture, Paris 1955, L'Unité culturelle de l'Afrique Noire, Paris i960 und L'Afrique Noire précoloniale, Paris i960. I m selben Geiste sind die Bücher v o n Basil Davidson geschrieben: The African Awakening, London 1955, The African Past (Hsg. B . Davidson), London 1964, Black Mother, London 1 9 6 1 , Old Africa Rediscovered, London 1959 und The Growth of African Civilization, London 1965. In deutscher Übersetzung sind von ihm erschienen: Urzeit und Geschichte Afrikas, Hamburg 1 9 6 1 , Die Afrikaner, K ö l n 1970. Z u dieser Kategorie gehört auch J . J a h n : Muntu, Umrisse der neoafrikanischen Kultur, Düsseldorf 1958. Siehe den Bericht Colloque sur l'Art nègre, Paris 1966.
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in Addis Abeba im Jahre 1963 seinen Höhepunkt. Während aber die anderen Staatsoberhäupter das Endziel unterstützten und es als groß, überragend und ideal bezeichneten, konnten sie sich seinem Wunsch nach unverzüglicher Verwirklichung nicht anschließen.6 Senghor befürwortet ein schrittweises Erreichen dieses Ziels: „Ich glaube nicht, daß die Vereinigten Staaten von Afrika eine Sache f ü r morgen s i n d . . . W i r müssen Afrika Stufe für Stufe vereinigen und aus ihm einen Kontinent machen, der anderen Kontinenten offensteht". Voraussetzung dieser Einheit ist die „Unabhängigkeit des Geistes und eine kulturelle Unabhängigkeit, die jeder anderen Unabhängigkeit vorausgehen muß". Trotzdem scheint der afrikanischen Einheit f ü r Senghor im Vergleich zu anderen Werten nur zweitrangige Bedeutung zuzukommen: „ W i r wollen unsere politische Befreiung, damit wir unsere Négritude, unsere wirklichen schwarzen Werte, gebührend zum Ausdruck bringen können". 7 Nyerere, ein weiterer Befürworter der afrikanischen Einheit, ist ähnlich realistisch, wenn er sagt, sie „müsse durch gegenseitige Vereinbarung gleichberechtigter Partner zustande kommen". Weniger realistisch erscheint daneben die Vorstellung, eine solche Einheit sei der Schlüssel zur Lösung aller afrikanischen Probleme: „ D i e Einheit ist daher wesentlich für die Sicherheit, Unantastbarkeit und Entwicklung Afrikas. Sie muß in einer Form stattfinden, die diese Dinge sicherstellt, da sie sinnlos wäre", wenn sie die politische Ausbeutung nicht ausschalten und die innere Sicherheit sowie die Verteidigung nach außen hin nicht gewährleisten könnte. Mit dem Sozialismus ist er jedoch besser vertraut und glaubt mit Senghor, dieser sei „in unserer Vergangenheit verwurzelt, in der traditionellen Gesellschaft, die uns hervorgebracht hat. Der moderne afrikanische Sozialismus kann aus dem Erbe seiner Tradition die Erkenntnis übernehmen, daß die .Gesellschaft' eine Erweiterung der fundamentalen Familieneinheit ist". 8 In einer scharfsinnigen Analyse dieser und anderer politischer Ideen weist Mazrui darauf hin, daß f ü r die Suche nach einer Pax Africana „die Entkolonisierung sehr wohl eine notwendige Vorbedingung sein 4 7 8
K. Nkrumah: Africa Must Unite, London 1 9 6 3 , 1 speak of Freedom: a Statement of African Ideology, London 1961 und Consciencism, London 1964. Senghor: op. cit. S. 65f, 74. J. K. Nyerere: Freedom and Unity: Uhuru na Umoja, Oxford/Daressalam 1966, S. 170, 335. Siehe auch die Veröffentlichung der Regierung von Kenia: African Socialism and Its Application to Planning in Kenya, Nairobi 1965.
Abschluß: Die Religion und das afrikanische Dilemma
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mag. Aber sie reicht bei weitem nicht aus". Dem Prinzip des unteilbaren Afrikas steht die Furcht vor dem Partikularismus entgegen: „Der Mythus vom klassenlosen Afrika sowie die Verunglimpfung des ,Stammesegoismus' sind weitere Bekundungen desselben Prinzips .afrikanischer Einheit'. Das gleiche gilt für den Vorzug, den man dem .Sozialismus' gibt, weil er im Rufe steht, eine zum Mittelpunkt hinstrebende Ideologie zu sein, welche der nationalen Integration dienlich ist". Er kommt zu dem Schluß, daß die Politiker noch weit von ihrem Ziel entfernt seien; daher „geht die Suche nach einem afrikanischen Frieden weiter, der von Afrika selbst behütet und erhalten werden kann". 9 Die allgemeine politische Unsicherheit in Afrika zeigt sich einerseits im Gerede über „Neutralität", andererseits im Einschwenken auf eine bestimmte politische Linie, sie zeigt sich in den Angriffen auf den wirklichen und eingebildeten „Neokolonialismus", im R u f nach „Brüderschaft" dieser oder jener Art und im endlosen Anberaumen regionaler und kontinentaler „Gipfelkonferenzen". Der gleichen Unsicherheit entsprungen aber positiver im Endergebnis sind wirtschaftliche Experimente wie die Schaffung von Wirtschaftsgemeinschaften, die Zusammenarbeit mit den früheren Kolonialherren durch Mitgliedschaft im britischen Commonwealth und der französischen Communauté, die assoziierte Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Empfang beträchtlicher Entwicklungshilfe in Form von Finanzen und Personal sowohl aus kapitalistischen als auch aus kommunistischen Ländern. All diese politischen Ideologien und wirtschaftlichen Entwicklungsversuche lassen darauf schließen, daß in Afrika ein gewisser Fortschritt stattfindet. Aber es ist ein tastender Fortschritt, dem es an konkretem Gehalt, historischer Verwurzelung und einem klaren, praktischen Ziel mangelt, einem Ziel, das für den einzelnen richtungweisend ist und dem er sich mit voller Hingabe seiner Persönlichkeit widmen kann. c) Abschluß:
Die Religion und das afrikanische
Dilemma
Wir haben versucht, das Dilemma zu analysieren, in das die afrikanische Gesellschaft geraten ist, welche zwar im traditionellen Gemeinschaftsgefühl wurzelt, aber immer stärker den Ansprüchen einer Zeit 9
A . A . Mazrui: Towards a Pax Africana, London 1967, 211 f.
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des Umbruchs ausgesetzt wird. Dadurch sind die Grundlagen ihrer Existenz und das Bewußtsein unerschütterlicher Sicherheit ins Wanken geraten. Afrika muß nun nach neuen Werten, einer neuen Identität und einem neuen Selbstbewußtsein suchen. Im politischen und kulturellen Bereich werden Versuche unternommen, die Idee der modernen Zeit mit den Werten unseres afrikanischen Samani in Verbindung zu bringen. Von der Demokratie heißt es, sie sei im alten Afrika gäng und gäbe gewesen, und auch von der Negritude und der afrikanischen Persönlichkeit, dem Sozialismus und der afrikanischen Zivilisation behauptet man, sie hätten schon immer existiert. Dieses Argument bezieht seine Stärke aus der Behauptung, daß diese Ideen „gut", „wertvoll" und „ehrenwert" seien, weil sie einst im alltäglichen Leben unserer Vorfahren ihre Verwirklichung gefunden hätten. Sie besitzen daher für die Gegenwart Gültigkeit, weil sie einst zum traditionellen Leben Afrikas gehörten. Nun ist es allerdings äußerst schwierig zu beweisen oder auch zu widerlegen, daß diese Ideen bis ins afrikanische Samani zurückverfolgt werden können. Sentimentalität wäre hier durchaus fehl am Platze. Zum Schluß erhebt sich die Frage, ob der Religion in Afrika in dieser Zeit quälender Probleme und Anforderungen noch ein Platz und eine Rolle zusteht. Fast jede Religionsform der Welt ist auf unserem Kontinent vertreten, so daß er wie ein Abladeplatz aller Religionen der Menschheit aussieht. Wenn die Gelegenheit bestünde, würde auch jede Ideologie der Welt hier Fuß zu fassen versuchen. Die stärksten Leistungen der traditionellen Religionen Afrikas sind aufs Samani beschränkt. In dieser Zeit entwickelte jede Gesellschaft die ihr angemessene Religionsform, während die Religion wiederum die Entwicklung der Gesellschaft gestaltete, in der sie verankert war. Später wurden die traditionellen Religionen auf gefährliche Weise institutionalisiert und drangen in jeden Lebensbereich ein. Dieselbe schicksalhafte Institutionalisierung macht sich im alteingesessenen Christentum Ägyptens und Äthiopiens sowie im Islam in denjenigen Gebieten bemerkbar, in denen er historisch tief verwurzelt ist. Die Religion hat in Afrika eine eigene Gesellschaft mit deutlich religiös bestimmter Moral, Ethik, Kultur, mit spezifischen Regierungsformen, Traditionen, mitmenschlichen Beziehungen und eigenem Weltbild geschaffen. Die tiefe Verwurzelung der Religion, ihre Institutionalisierung und die Durchdringung des gesamten afrikanischen Lebens führten aber auch dazu, daß sie ihre oberste Kontrollfunktion und ihre absolute Auto-
Abschluß: Die Religion und das afrikanische Dilemma
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rität einbüßte, als die afrikanischen Völker sich neuen Problemen und radikalen Veränderungen gegeniibersahen. Der Zerfall der alten Ordnung bedeutet auch den Zerfall der institutionalisierten Religion, sei es nun der Islam, das Christentum oder eine traditionelle Religionsform. In neue Schläuche gehört neuer Wein. Wenn eine Religion nicht diesem Prinzip entsprechend verfährt, ist sie zum Aussterben verurteilt. Das alteingesessene Christentum, der in seine Rechtspositionen verrannte orthodoxe Islam und die traditionellen Religionen waren nicht genügend auf radikale Veränderungen vorbereitet und können heute den Menschen nicht auf allen seinen Wegen begleiten, auf die der moderne Wandel ihn führt. Dieses Unvermögen rührt nicht aus der Unzulänglichkeit der Religion als solcher her, sondern erklärt sich daraus, daß ihre Gestalt, ihre Ausdrucksformen, Glaubensstrukturen und Denkgewohnheiten allesamt dem Gemeinschaftsethos der Samaniperiode entsprechen, das eine Antwort auf ganz andere historische Gegebenheiten und Umweltfaktoren war als diejenigen, die das Leben des Menschen von heute bestimmen. Mag auch die Religion in ihrer institutionalisierten Form mit den raschen Wandlungsprozessen nicht Schritt gehalten haben, so bleibt doch trotz aller Veränderungen die religiöse Orientierung des afrikanischen Lebens erhalten. Die religiösen Kräfte, die in Afrika am Werk sind und sich in Erstund Zweitbekehrungen, Akkulturationsvorgängen und sogar in der Apostasie äußern, versuchen die Anhängerschaft des ohnehin schon religiös engagierten Menschen zu gewinnen. Wie diese, so sind auch ideologische Bewegungen wie Négritude, Afrikanische Persönlichkeit und Afrikanischer Sozialismus in erster Linie vergangenheitsorientiert. Daneben weisen sie jedoch ihrer Intention nach auch in die Zukunft. Hierin unterscheiden sie sich von der traditionellen Religiosität, die bei allem Reichtum an Samanimythen keinerlei Zukunftsmythus aufweist. Die gegenwärtige religiöse Unruhe und die Dynamik der Ideologien haben dazu beitragen, daß nun in den traditionellen Gesellschaften des tropischen Afrikas Zukunftsmythen aufzukeimen beginnen. Richtung und Schwerpunkt des Mythus verlagern sich nun allmählich vom Samani auf das Sasa und die Zukunft. Ein Sasa und eine Zukunft existieren in der Négritude, im Begriff der afrikanischen Persönlichkeit, im afrikanischen Sozialismus, in der ökumenischen Bewegung des Christentums, in den Moslembruderschaften und im Nationalismus. Daneben gibt es rein futuristische Erwartungen wie das Paradies und den Messianis-
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mus bei den Christen und Moslems, die afrikanische Einheit, ein afrikanisches Wirtschaftswunder und den Zusammenbruch der Apartheid. A n der Schwerpunktverlagerung des Mythus ist die Religion also durchaus nicht unbeteiligt, hauptsächlich natürlich, weil sie ihre eigenen Mythen v o m Jetzt und Jenseits hat, zum Teil aber auch, weil der Mythus seiner inneren Natur nach eine Schöpfung der Religion ist. Im modernen Afrika sollte der Religion jedoch eine wichtigere Rolle zukommen als die, lediglich neue Mythen zu liefern und alte wiederzubeleben. Ob sie ihr Monopol für das Weltverständnis oder die Teilnahme des Menschen an der Welt behauptet oder verliert, ist angesichts der Herausforderungen und Zwangssituationen der heutigen Zeit ohne besondere Bedeutung für Afrika. Sie sollte ihre Aufgabe darin sehen — und dazu ist sie durchaus in der Lage — dem afrikanischen Menschen das notwendige Rüstzeug zu verschaffen, damit er die wichtigsten Grundprobleme seines Lebens neu durchdenken und Sinn und Sicherheit in diesem Leben finden kann. Mithin ist es nicht so sehr durch ihre Beschäftigung mit dem Samani oder der Zukunft als vielmehr durch eine Konzentration auf das Sasa, daß die Religion im heutigen Afrika einen dauerhaften Beitrag leisten kann. W i e wir gesehen haben, hat der Islam, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Sein verknöcherter Rechtsbegriff und die Langsamkeit seiner Anpassung an moderne Bedürfnisse werden gewiß dazu führen, daß er in der Stagnation dahindämmert und den Menschen nichts mehr zu sagen hat, es sei denn, er ändert sich radikal und unverzüglich. Das Missionschristentum unternimmt bewußt den Versuch, der menschlichen N o t in den Elendsvierteln und Flüchtlingslagern, Schulen und Hospitälern, in rassischen, politischen und religiösen Spannungsgebieten zu begegnen sowie dem Zusammenbruch der Familie und der Vereinsamung in den Städten durch Gemeinschaftsaktionen zu steuern. Vielleicht ist das Christentum weniger erfolgreich, wenn es darumgeht, sich um die Situation des Einzelmenschen und seine persönlichen Probleme auf dem Gebiete der Sexualität, des Alkoholismus, der Rassenvorurteile, des Stammesegoismus, der Korruption, Unehrlichkeit, geschäftlicher Sorgen, um Furcht, T o d und die Schatten der Verstorbenen zu kümmern, alles Probleme, die dringend einer Lösung bedürfen, will jemand heutzutage Afrikaner und zugleich Christ sein. Die traditionellen Religionen haben keine gelehrten Verfechter, die ihre Sache vertreten oder sie in Gehalt und Ausdrucksformen zu moder-
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nisieren suchen. Da sie alle Bereiche der traditionellen Gesellschaft durchdringen, liegt ihre besondere Stärke darin, daß jeder Appell zur Reaktivierung traditioneller Werte und Gebräuche letzten Endes ein religiöser Appell ist. Solange Menschen die Tradition in Gegenwart und Vergangenheit wertschätzen oder gar abgöttisch verehren, wird ihre Religiosität, ob man sie als solche erkennt oder nicht, in der Gefühlswelt der afrikanischen Völker weiterhin einen bevorzugten Platz einnehmen. Mögen auch im Zuge der Verstädterung die Riten und Zeremonien in den Hintergrund treten, so werden doch die Glaubensinhalte afrikanischer Religionen über viele Generationen hinaus weiter fortleben, denn der Glaube stirbt langsamer als seine äußeren Formen. Selbst in den Städten wird es immer vereinzelte Gruppen geben, die zumindest aus Neugier die Glaubensinhalte und Kultformen traditioneller Religionen am Leben erhalten werden. Glaubensvorstellungen, die mit Magie, Zauberei, Geistern und Totenseelen verknüpft sind, laufen nicht Gefahr, schnell aufgegeben zu werden. Desgleichen wird in Städten und Dörfern ein wenn auch verschwommener Gottesglaube fortleben, obwohl zu befürchten ist, daß die gottesdienstlichen Handlungen angesichts der wachsenden Schwierigkeiten immer unregelmäßiger stattfinden und ins Geheimkultartige absinken, während sie früher öffentliche Kundgebungen eines spontanen Gemeinschaftsgefühls waren. Die Religionen in Afrika sollten einzeln, gemeinsam oder im gegenseitigen Wettstreit dazu in der Lage sein, zur Schaffung neuer moralischer und ethischer Wertmaßstäbe beizutragen, die unsere im Wandel begriffenen Gesellschaft angemessen sind. Ihnen obliegt auch die Verantwortung, angesichts des Machtmißbrauchs, der Gewalt, potentieller Kräfte der Zerstörung, der Enthumanisierung durch den Industrialisierungsprozeß, des wissenschaftlichen Fortschritts und der Suche nach Frieden ein neues Menschenbild mitzugestalten und die Menschenwürde zu definieren. Ließe man dem Säkularismus freien Lauf, so würde er den Menschen zum statistischen Roboter erniedrigen, der den Politikern als Stimmfutter dient, für die Kapitalisten in der Fabrik mehr Güter produziert, für kommunistische Revolutionäre eine Ziffer in der Volkszählung abgibt oder einfach im Hörsaal, im Bus oder in der Menschenschlange im Kampf um einen Napf Reis sich durchzusetzen versucht. Nur die Religion bringt den nötigen Sinn auf für die Würde des Menschen als Individuum, Person und Kreatur mit körperlicher, geistiger und seelischer Dimension. Nur die Religion umfaßt alle Mitglieder der menschlichen Gesellschaft und räumt einem jeden den 23
Mbiti, Afrikanische Religion
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gleichen Platz ein, ob er nun ein Schwachsinniger oder ein Philosoph, ein Sklave oder ein Student, ein Bettler oder Herrscher ist. Sie bringt Ursprung, Erfahrung und Bestimmung aller Menschen auf einen gemeinsamen Nenner. Nur die Religion gibt jedem Menschen das Rüstzeug, die Tiefe seines "Wesens auszuloten. Die Frage nach dem Wesen des Menschen erschöpft sich nicht im „Wer bin ich?", sondern findet ihre notwendige Ergänzung in einer neuen Definition von Begriffen wie „mein Bruder", „mein Nächster", „das Weltall" und der gesamten Existenz. Im praktischen Bereich fällt der Religion die Rolle zu, beim Werke der Versöhnung, Harmonie, Sicherheit und des Friedens mit sich selbst, der Gemeinschaft, der Nation und dem All mitzuwirken und die Wertmaßstäbe, an denen der einzelne, die Gemeinschaft, die Nation und die Menschheit sich orientieren, mitzubegründen. Wenn die Religionen Afrikas vor dieser Aufgabe versagen, sinken sie zum Anachronismus ab. Wie das Salz der Erde, das seine Würzkraft verloren hat, finden sie dann im heutigen Afrika keinen Platz mehr. Ich bin jedoch Optimist. Ich sehe voraus, daß die Religionen in Afrika ihren Einfluß weiter ausüben werden, und zwar auf drei Ebenen. I. Die Kontaktreligion besteht darin, daß ein Mensch es nicht als widersprüchlich ansieht, einer Mischung aus Glauben und Praxis zweier oder mehrerer Religionen in Afrika anzuhängen. Wie wir gesehen haben, überschneiden sich das Christentum, der Islam und die traditionellen Religionen in manchen Punkten, und so ist es wohl dem einzelnen ein leichtes, ein überzeugter Christ oder Moslem zu sein und gleichzeitig Elemente der Naturreligion in sein Leben aufzunehmen. Er mag einen christlichen oder mohammedanischen Namen führen, er mag ein Kruzifix oder ein Moslemkäppchen tragen, er weiß aber über diese Äußerlichkeiten hinaus wenig über den tieferen Sinn des Christentums oder Islams, und wenn er ihnen noch so ergeben ist. Sein unbewußtes Leben ist zutiefst traditionell geprägt, während er bei wachem Bewußtsein auf eine der Weltreligionen hinorientiert ist. Da er zu zwei oder mehr Religionsformen Verbindung hat, findet er sich selbst und seine Interessen in der „Kontaktreligion" bestätigt. II. Religion als Soforthilfe. Diese Art der Religion tritt meist in gewissen Lebenskrisen in Erscheinung, so bei Krankheit, Notstand, Verzweiflung, Todesfällen und anderen tragischen Ereignissen, oder sie spielt bei wichtigen privaten und öffentlichen Anlässen eine Rolle: Geburten, Hochzeiten, Leichenbegängnissen, Nationalfeiertagen wie dem Unabhängigkeitstag, Staatsbegräbnissen sowie bei der Zwangsausweisung
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oder beim Sturz der herrschenden Klasse. In solchen Augenblicken fühlt man sich z u m Beten gedrängt und wünscht, daß Gott mit v o n der Partie sei. W i e i m traditionellen Stammesleben wendet man sich dann also der R e l i g i o n zu, teils w o h l nur, u m sich mit ihr zu brüsten, teils aber auch, weil man in ihr ein echtes Mittel sieht, die durch die Situation ausgelösten Gefühle der Spannung oder überschwenglicher Freude abzureagieren. Gebildete und Ungebildete sind dieser Spielart der R e l i g i o n zugetan. Dabei halten sich die einfachen D o r f b e w o h n e r mehr an die traditionellen Methoden, u m die in solchen Augenblicken erforderliche Hilfe zu erlangen, z. B . magische Praktiken, Wahrsagung, Kontaktaufnahme mit den Totenseelen und V o l l z u g der entsprechenden Zeremonien und Riten. Möglicherweise gehen sie nach Erfüllung dieser traditionellen Pflichten auch noch in die Kirche oder Moschee. D i e Gebildeten gehen gewöhnlich nur zur Kirche oder Moschee. W e n n nationale Anliegen zur Debatte stehen, predigen sie Nationalismus und machen vielleicht vernünftige Verbesserungsvorschläge. In all diesen Fällen w i r d eine religiöse Atmosphäre geschaffen, w i e die Gelegenheit sie gerade erfordert. Das Bewußtsein, daß die R e l i g i o n jederzeit auf A b r u f bereitsteht, gibt den Menschen ein Gefühl der Sicherheit. III. Religion als Transfusion. In dieser Form dürfte die R e l i g i o n w o h l den größten Einfluß auf die afrikanischen V ö l k e r ausüben. Hier w i r d sie zu einem Element sozialer Gleichförmigkeit ohne theologische Tiefendimension, ohne persönlichen Einsatz oder gar Märtyrertum. Sie existiert einfach in den Glaubensvorstellungen des einzelnen, ob er nun ein bewußt religiöser Mensch ist oder nicht. Sie besteht nicht als Institution, kann aber in Krisensituationen oder an den großen kirchlichen oder islamischen Festen unvermittelt in Erscheinung treten. Sie räumt auch den religiösen Minderheiten einen Platz ein: den streng bibelgläubigen, orthodoxen, puritanischen und konservativen Anhängern einer K o n fession oder religiösen Tradition. Sie ist so tolerant w i e sie gleichgültig ist. Dies ist aber die Form des religiösen Lebens, mit der Afrika rechnen m u ß , w e n n es darauf ankommt, der Moral, der Ethik, den W e r t m a ß stäben und den sozialen Bedingungen seiner V ö l k e r ein neues Gepräge zu geben. Es ist eine Religion, die sich hinter den Kulissen abspielt. W e n n die Menschen sich auch vielleicht gegen den offen zu T a g e tretenden Bekehrungseifer religiöser Gruppen und die religiöse Unterweisung in Schulen und Universitäten zur W e h r setzen, so lehnen sie doch die R e l i g i o n als solche nicht ab und bezweifeln nicht, daß sie edle N o r m e n setzt. Allerdings befürchten sie möglicherweise, ihren 23»
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Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Am ehesten läßt sich Religion als Durchdringung noch im Rahmen der Familie vermitteln, vielleicht auch in der Schule, da diese beiden Verbände das Weltbild des Individuums und seine Teilnahme an der Welt am stärksten prägen. Hier braucht die Religion sich nicht in einem einheitlichen Glaubensbekenntnis zu äußern, noch brauchen sich ihre Anhänger zu versammeln, um ihren Glauben in der Öffentlichkeit praktisch zu bekunden. Sie bedarf keiner offiziellen Verfechter, keiner großen Vorhaben und Zeremonien, keiner Gebäude und Priester. Durch die Ethik, die Ideale, Lehren, Normen, Prinzipien und Erfahrungen der bestehenden Religionen, ob Christentum, Islam, traditionelle Religion Afrikas, Judaismus, Hinduismus oder Behaismus, macht die Transfusions- oder Durchdringungsreligion ihren Einfluß auf den einzelnen und die Gesellschaft geltend. Sie schließt die Anhänger dieser Religionsformen nicht aus, sondern zählt ganz im Gegenteil auf die Kirchenfrommen, die gläubigen Mohammedaner und alle übrigen, die die Fackel der Religion durch die Menschheitsgeschichte weitertragen. So sehe ich also die religiöse Transfusion, auf welche die afrikanischen Völker zustreben. Unsichtbar, unbeachtet und ohne jeglichen offiziellen Auftrag sind es doch die religiösen Traditionen Afrikas, die als einzige keimhaft die Möglichkeit enthalten, dem Leben der afrikanischen Gesellschaft eine dauerhafte Grundlage und Richtung zu geben. Der Mensch lebt nicht vom Brot der Wissenschaft und Politik allein, er braucht auch die Vitamine der Ethik und Moral, des Glaubens und der Hoffnung, der Liebe und Geborgenheit, des Trostes und Zuspruchs im Angesicht des Todes und der Lebenstragik. Er will das Gefühl haben, daß er als Person unschätzbaren Eigenwert hat und bei seinem Tode nicht gleich vergessen oder gar zunichte wird. Diese Dinge versucht die Religion zu bieten. Wenn die formlose Transfusion religiöser Elemente dem Menschen auf seiner Suche nach Identität und Sicherheit behilflich ist, dann haben die institutionalisierten Religionen, ob sie fortbestehen oder untergehen, Afrika ein Vermächtnis und eine Quelle der Inspiration von bleibendem Wert hinterlassen. Angesichts dieses großen religiösen Erbes brauchen die bestehenden Religionen nicht besorgt zu sein, wenn der innere Kreis ihrer praktizierenden Anhänger gering ist. Sie sollten in dem Gedanken Trost finden, daß sie einen Teil der Menschheit aus der weltlichen in die heilige Geschichte und aus der Sklaverei formaler Religiosität zu freiheitlicher Selbstverwirklichung geführt haben. Dies klingt natürlich mehr nach
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Mythus als nach praktischer Wirklichkeit, und ich für meinen Teil sehe die lange mythologische Wanderung zur Wirklichkeit hin als einen unnötigen Umweg an. Es gibt einen kürzeren Weg zur menschlichen Reife und Selbsterfüllung. In der heutigen Welt nimmt das Christentum, das genau so „einheimisch", „traditionell" und „afrikanisch" ist wie die anderen Religionsformen, die wir hier einer Betrachtung unterzogen haben, eine Schlüsselstellung ein, da es einzig und allein Aussicht hat, mit den Problemen und Anforderungen des modernen Afrikas fertig zu werden, dem einzelnen wie der Gemeinschaft inneren Zusammenhalt zu geben und sie zur Mündigkeit zu führen. Ob die anderen Religionsformen und Ideologien, die zur Zeit in Afrika verbreitet sind, auch bei bestem Willen etwas radikal Neues zu sagen haben, was nicht bereits im Christentum verankert ist, möchte man füglich bezweifeln. Dennoch beruht die Stärke und Einzigartigkeit des Christentums nicht auf der Tatsache, daß seine Lehre, seine Praxis und Geschichte all jene Hauptelemente enthalten, die man auch in den anderen Religionen findet. Das Einzigartige am Christentum ist Jesus Christus. Er ist der Stein des Anstoßes für alle Ideologien und Religionsformen, und wenn seine Lehre auch zum Teil mit ihrer Lehre und Verkündigung übereinstimmt, so ragt doch seine Gestalt über alle Religion und Ideologie empor und läßt sich nicht in sie fassen. Er ist „der Mensch für andere" und geht doch über das Menschsein hinaus. Daher verdient er, und nur er es, Ziel und Maß für den einzelnen und die Menschheit zu sein. Ob die Menschen dieses letzte Ziel religiös oder ideologisch erreichen, ist vielleicht unwesentlich. Wenn der Mensch seine volle Größe und Wesenseinheit erreichen will, braucht er ein außermenschliches, absolutes und zeitloses Leitbild. Genau dies sollte das Christentum bieten, seinen eigenen Anachronismen und Spaltungen in Afrika zum Trotz. Ich betrachte die traditionellen Religionen, den Islam und die anderen Religionsformen als Vorstufe und sogar als wesentliche Grundlage für die Suche nach dem letzten Ziel. Aber nur dem Christentum fällt die furchtbare Verantwortung zu, den Weg zu jener endgültigen Wesenseinheit, zur Grundlage aller Dinge und zur Quelle der Sicherheit zu weisen. Bis allerdings der einzelne und die Gemeinschaft dieses Ziel erreicht haben, müssen das Christentum, der Islam, die der Tradition verhafteten Religionen Afrikas sowie die übrigen Religionen und Ideologien weiterwirken, um ihren eigenen Fortbestand und das Uberleben der ganzen Menschheit zu gewährleisten. Bis dahin ist in Afrika genügend Spiel-
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Die Suche nach neuen Werten und die Standortbestimmung
räum für religiöse Koexistenz, Zusammenarbeit und auch für einen gegenseitigen Wettbewerb vorhanden. Das entscheidende Kriterium für die Weiterexistenz dieser Religionen auf unserem Kontinent ist nicht, welche von ihnen am Ende siegen wird. Entscheidend ist vielmehr, ob die Menschheit es als Verlust oder Gewinn buchen kann, daß sie der Religion eine Vorzugsstellung in der Menschheitsgeschichte, auf der Suche des Menschen nach seinen Ursprüngen und seiner Wesensbestimmung, in seinem wechselhaften Verhältnis zur Umwelt und bei der Formulierung seiner Zukunftshoffiiungen und -erwartungen eingeräumt hat.
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