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German Pages 308 Year 2016
Pamela Feldman-Savelsberg Migranten, Recht und Identität
Kultur und soziale Praxis
Pamela Feldman-Savelsberg ist Inhaberin einer Stiftungsprofessur als Broom Professor of Social Demography and Anthropology an der Department for Sociology and Anthropology des Carleton College, USA. Sie ist Direktorin des Programms »African and African American Studies«.
Pamela Feldman-Savelsberg
Migranten, Recht und Identität Afrikanische Mütter und das Ringen um Zugehörigkeit in Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Textil aus Kamerun (2013), fotografiert von Heidi Eyestone, Fotografin des Departments für Kunst und Kunstgeschichte des Carleton College im Jahr 2015 © Pamela Feldman-Savelsberg Korrektorat & Satz: Angelika Wulff, Witten Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3652-9 PDF-ISBN 978-3-8394-3652-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort und Danksagung | 7 Kapitel Eins: Einleitung – „Itʼs Hard Being a Mother Here“ | 13
„Es ist schwer, hier Mutter zu sein“ | 13 Konzepte | 21 Forschung zu Müttern unterwegs: Methoden und Daten | 32 Zusammenfassung der Argumentation: Schaffen von Zugehörigkeit durch Kinder | 42 Aufbau des Buchs | 46 Kapitel Zwei: Kamerunische Herausforderungen | 49
Herausforderungen der Zugehörigkeit: historische und politische Wurzeln | 51 Herausforderungen der Reproduktion: Migration, Ehe und Mutterschaft | 59 Herausfordernde Verbindungen: emotionale Schaltkreise zwischen Dorf und Stadt | 67 Herausforderung der Migration: Wege der Migranten in Kamerun und darüber hinaus | 76 Kapitel Drei: Die Gründung kamerunischer Familien in Berlin | 83
„Madame ou Mademoiselle“ in Deutschland: eheliche und familiäre Beziehungen | 86 Kinderkriegen in Deutschland | 105 Schlussfolgerung | 123 Kapitel Vier: Kinder kamerunischer Familien in Berlin | 127
Die Erziehung von Vorschulkindern und die Mehrdeutigkeit von Zugehörigkeit | 132 Die Erziehung von Schulkindern: Erfolg und Zugehörigkeit... zu was? | 150 Schlussfolgerung | 170
Kapitel Fünf: Zugehörigkeit und gesellschaftliches Engagement | 175
Ngó Ndé, Ngó Ndé – Ngó Koni: ein Vereinstreffen | 180 Nach Großmutters Rezept: Geselligkeit und flüchtiges Vertrauen auf einer Jahresendfeier | 190 „Shake your shoulders with us“: eine Born-House-Feier | 200 Der Kindertisch und Verse für Großvaters Totenwache: die Einführung von Kindern in das Gemeinschaftsleben | 209 Schlussfolgerung | 217 Kapitel Sechs: Im Schatten des Staates | 221
Im Schatten des Leviathan | 225 Begegnungen mit dem rechtlich-bürokratischen Labyrinth | 228 Neue Grenzen ziehen: Familie, Ehe und die „gute“ Kindererziehung | 251 Hilfesuche beim Staat: häusliche Gewalt und andere Katastrophen | 268 Schlussfolgerungen | 273 Fazit | 275 Literatur | 281
Vorwort und Danksagung
Viele KamerunerInnen haben großzügig ihre Zeit zur Verfügung gestellt und mir über ihre Leben, Hoffnungen und Herausforderungen berichtet. Ich bin ihnen für ihre Wärme und Offenheit dankbarer als ich es ausdrücken kann. Um ihrer Anonymität willen, müssen sie hier ungenannt bleiben. Fast alle haben ihre eigenen Pseudonyme gewählt, oft mit einem beeindruckenden Sinn für Humor. Ich erinnere mich an viel Augenzwinkern und ausgelassenes Lachen, wenn Frauen sagten „Aw, then let me be called…“ Die Geschichten, die die KamerunerInnen untereinander und mir gegenüber erzählen, verbinden die Erzählenden und Zuhörer mit Menschen, Orten und Ideen. Mir helfen sie, eine Geschichte zu erzählen, eine unter vielen möglichen Geschichten über afrikanische Migration und die Gründung von Familien in Europa. Ich habe mich bemüht, die Vielfalt unter „Cameroonian migrant mothers“ und die Besonderheiten ihrer Biografien und Ambitionen wiederzugeben, und gleichzeitig die von vergleichbaren Bedingungen generierten Muster zu identifizieren. Andere vor mir haben Geschichten über Migration und das Streben nach Wohlergehen erzählt. Die meisten Ethnologen, die dies tun, streben danach, die Humanität und das agentische Potenzial der am meisten Benachteiligten und Marginalisierten hervorzuheben. Sie präsentieren ein starkes moralisches Argument für den Anspruch dieser Menschen auf grundlegende Rechte und Leistungen angesichts überwältigender globaler Ungleichheiten. Dieses Anliegen hat viele Migrationsforscher zu einer Konzentration auf das Leiden irregulärer Migranten veranlasst, derjenigen also, die internationale Grenzen ohne die Sicherheit von Visa und Aufenthalts- oder gar Arbeitserlaubnis überschreiten. Viele solcher oft nuancierter und sensitiver ethnologischer Arbeiten über verschlossene Türen haben mich inspiriert. Unabsichtlich haben solche Schriften aber dazu beigetragen, andere Arten von Migranten von dem „master narrative“ zu verbannen. Es besteht die Gefahr, dass ihre gut gemeinte Konzentration letztendlich stereotype
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Vorstellungen von Migranten, vor allem afrikanischen Migranten, als ungesetzlich, illegal(isiert), verarmt und hilfsbedürftig verstärkt. Meine kamerunischen Gesprächspartner/inn/en sind sich solcher Narrative wohl bewusst, und sie hoffen auf eine andere Geschichte. Sie klagen bitterlich über die Darstellung ihrer Existenz als Opfer struktureller Gewalt und berichten über Leben voll von Familienbanden, Gemeinschaftsleben und Ausbildungserfolgen. Sie erzählen, wie staatliche Institutionen und das Recht auf ihre Leben einwirken und wie sie sich ihnen gegenüber positionieren. Ihre Reaktionen reichen von Bewunderung über verschiedenartige Navigationsstrategien bis hin zur Vermeidung. Mütter sprechen über Recht und Gesetz, wenn sie zeigen wollen, wie sie ihr Ausländersein erleben und beschreiben dabei die Relevanz von Recht für legale ebenso wie illegale Immigranten. Die Geschichte, auf die meine kamerunischen Interviewpartner hoffen, schließt Bedingungen der Illegalität als nur eine der von Migranten gelebten Erfahrungen mit ein. Einige Leser/inn/en werden überrascht sein, unter meinen kamerunischen Gesprächspartnerinnen eine Ärztin, eine Ingenieurin, eine Expertin für vergleichende Literaturwissenschaft, eine Wissenschaftshistorikerin, mehrere Masterund Doktorandenstudentinnen anzutreffen, eine Doktorandin gar, deren Betreuerin Richterin am Bundesverfassungsgericht ist. Andere Interviewte sind Sekretärinnen, Buchhalterinnen, ambulante Pflegerinnen, Zimmermädchen und Hausfrauen. Wieder andere sind arbeitslos, einige von ihnen Flüchtlinge. Manche dieser Kamerunerinnen haben ausgedehnte Perioden eines irregulären Migrantenstatus und das damit verbundene Trauma durchlebt, während andere als legale Immigrantinnen gekommen und geblieben sind. Einige von ihnen haben die deutsche Staatsbürgerschaft erworben. Geprägt durch solch vielfältige Biografien und Bedingungen bewältigt jede dieser Frauen auf ihre eigene Art die sich ihr wie allen entgegenstellenden Herausforderungen der Zugehörigkeit, der Reproduktion und der durch Migration bedingten Erfahrung. Sie erinnern uns nicht nur daran, dass eine Geschichte immer einen Kontext hat („a story is always situated“; Abu-Lughod 1993: 15), sondern auch daran, dass es immer viele verschiedene Geschichten gibt. Ich bin vorsichtig vorgegangen, um zwischen den Geschichten zu unterscheiden, die mir individuelle Frauen über ihre Leben erzählten und der Geschichte, die ich erzähle, indem ich innerhalb dieser reichen Variation Muster identifiziere. Ich benutze Schriftart, um zwischen wörtlicher Rede und erinnerter Rede zu unterscheiden. Ich gebe wörtliche Zitate aus den Interviewtranskripten in Kursivschrift wieder und Zitate aus Aufzeichnungen in den Notizbüchern meiner ethnographischen Arbeit in regulärem Schriftbild.
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Ich danke vor allem Elizabeth Beloe, Marie Biloa Onana, und Victoria Yiwumi Faison, die mich gedrängt haben, zu diesen verschiedenen Geschichten zu sprechen. Meine Diskussionen mit ihnen und mit Forschern in Berlin – Hansjörg Dilger, Susann Huschke, Annett Fleischer, und Heide Casteñeda – haben mir geholfen, die Ethik anthropologischer Repräsentation zu reflektieren. Meine Gastgeber und Kolleg/inn/en während eines großzügigen Stipendiums am Käte Hamburger Kolleg „Recht als Kultur“ in Bonn – insbesondere Werner Gephart, Nina Dethloff, Raja Sakrani, Joachim Savelsberg, Maurizio Ferraris, Elizabeth Suzanne Kassab und Greta Olson – haben mir geholfen, über die Mechnismen nachzudenken, durch die Geschichten über Recht sowohl auf die Arbeit der Selbstrepräsentation von Migranten als auch auf die anthropologischer Repräsentation einwirken. Die oben genannten Personen sind nur einige der vielen Individuen, die – zusätzlich zu mehreren Institutionen – zu diesem Buch beigetragen haben. Weil die der Arbeit zugrundeliegende Forschung drei Jahrzehnte intensiver Beschäftigung mit Kamerun umfasst, schulde ich vielen Betreuern, Gastgebern und Institutionen der Forschungsförderung Dank, die meine Arbeit in Bangangté, Yaoundé und Berlin ermöglicht haben und all dies zu einer positiven Erfahrung haben gedeihen lassen. Hier hebe ich vor allem die hervor, die den Berliner Teil meiner Forschung gefördert haben. Ich danke der Wenner-Gren Foundation for Anthropological Research, die mir ein Post-Ph.D. Research Grant und ein Osmundsen Initiative Supplement zur Ermöglichung meiner Feldforschung in Berlin während des akademischen Jahres 2010-2011 gewährten. Das Carleton College unterstütze großzügig exploratorische Forschung im Sommer 2009 durch ein Small Faculty Development Grant, ebenso wie meine Forschung während des Jahres 2010-2011 durch ein Hewlett Mellon Fellowship in Ergänzung eines Sabbatical Leaves. Während der Zeit des Schreibens unterstützte mich das Carleton College durch einen Humanities Center Student Research Assistance Grant (2013) für Forschung im Feld der Rechtsanthropologie, ein „leave of absence supplement“, und – durch den Broom Chair in Social Demography and Anthropology – mit einem Beitrag zur deutschen Übersetzung. Ich danke dem Max Planck Insititute for Social Anthropology in Halle, vor allem seinem LOST (Law, Organization, Science and Technology) Forschungskolloquium und dem Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin und seiner Arbeitsgruppe zur Medizinanthropologie, deren Gastfreundschaft ich mich im Jahr 2010-2011 erfreute. Die intellektuelle Stimulation und die Ermutigung, die sie während meiner Feldarbeit gewährten, waren von unschätzbarem Wert. Damals und während anschließender Besuche in Berlin und Halle habe ich
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vor allem von langen und inspirierenden Gesprächen mit meinen Gastgebern – Richard Rottenburg und Hansjörg Dilger – und auch mit Katharina Schramm, Andrea Behrends, und Astrid Bochow in Halle, und Elizabeth Beloe, Susann Huschke, Dominik Mattes, Caroline Meier zu Biesen, Britta Rutert, und Mustafa Abdullah an der Freien Universität Berlin profitiert. Ich danke Annett Fleischer, die damals gerade ihr Doktorat an der Freien Universität Berlin erworben hatte, dafür, dass sie mir 2009 zu ersten Kontakten ins Feld verhalf und mich auch in den Folgejahren immer unterstützte. Für weitere Kontakte danke ich Hervé Tchemeleu vom Afrika Medien Zentrum ebenso wie Drs. Anatole und Flaurance Kenfack. In Berlin halfen mir mehrere Organisationen durch ihre Mitarbeiter, den institutionellen Kontext der Formierung von Migrantenfamilien zu verstehen. Ich danke zunächst und vor allem Rosaline MʼBayo und ihren Mitarbeiterinnen beim ViA (Verein für interkulturelle Arbeit) ebenso wie anonymen Individuen bei Balance, ProFamilia, Malteser Migranten Medizin, MediBüro Berlin, Deutsche AIDS-Hilfe und dem Zentrum für Flüchtlingshilfen und Migrationsdienste, Berlin. Ebenso wie meine kamerunischen Gesprächspartnerinnen stellten sie mir großzügig ihre Zeit und Expertise zur Verfügung. Daneben danke ich Carolyn Sargent für ihre Einladung, ihr Forschungsfeld in Paris zu besuchen. Sie half mir so, die Bedeutung der Größe von Immigrantengruppen bei der Untersuchung afrikanischer Migration nach Europa zu verstehen. Ich hätte dieses Buch nicht ohne ein großzügiges Stipendium des Käte Hamburger Kollegs „Recht als Kultur“ an der Friedrich-Wilhelm Universität in Bonn schreiben können. Ich schulde seinen Direktoren Werner Gephart und Nina Dethloff sowie seiner damaligen Direktorin für akademische Programme Raja Sakran großen Dank – ebenso wie seinen akademischen und administrativen Mitarbeitern. Die Umgebung, die das Kolleg bereitstellte, bot genau die richtige Kombination von intellektueller Stimulation einerseits und Schutz vor Ablenkungen von der Arbeit des Schreibens andererseits. Fragen, die meine Mitstipendiaten – aus fünf Disziplinen, acht Ländern und sechs Kontinenten – stellten, halfen mir – so hoffe ich – meine Gedanken so zu formulieren, dass sie für ein interdisziplinäres und internationales Publikum zugänglich sind. Ich hatte Gelegenheit, Teile dieser Forschung in verschiedenen Kontexten vorzutragen, unter anderem bei Jahrestreffen der American Anthropological Association ebenso wie bei Vortragsreihen der Working Group on Anthropology and Population, Department of Anthropology, Brown University; des Rockefeller Bellagio Center; des Joint Institutes Colloquium des Seminars für Ethnologie (Martin Luther Universität-Halle) und des Max Planck Institute for Social Anthropology. Weitere Vortrags- und Diskussionsgelegenheiten boten das Colloqui-
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um on Law, Organizations, Science, and Technology, Max Planck Institute for Social Anthropology; der Working Group on Medical Anthropology, Freie Universität Berlin; das Kolloquium des Instituts für Sozial- und Kulturanthropologie, Freie Universität Berlin; das Kölner Ethnologische Kolloquium, Universität Köln; der Workshop „Trust and Intimacy in Relationships of Health and Healing: Perspectives from Africa, Past and Present,“ Freie Universität Berlin; die Dialogos Faculty Lecture Series, Humanities Center and Learning Teaching Center, Carleton College; die Angelina Weld Grimké Lecture in African and African American Studies, Carleton College; das Department of Anthropology, Macalester College; die Council for European Studies 19th International Conference of Europeanists; das Minnesota Population Center, University of Minnesota; der International Roundtable Series, Hamline University; der Workshop „Rethinking Care: Anthropological Perspectives on Life Courses, Kin-Work and their trans-local entanglements,“ IKG Work and the Human Lifecycle in Global History, Humboldt Universität Berlin; das Marriage and Family Therapy Program, St. Maryʼs University in Minnesota; und schließlich eine Reihe von Konferenzen und Workshops des Käte Hamburger „Recht als Kultur“: das Fellows Colloquium, das Forum „Law as Culture,“ und die Konferenzen „Globalization and Documentality: à propos ‚Documentality‘ by Maurizio Ferraris“ und „The Normative Complex: Legal Cultures, Validity Cultures, Normativities“. Bei jeder dieser Gelegenheiten erhielt ich hilfreiche Hinweise, verdiente Kritik und lebhafte Debatten, die meine Schreibarbeit beflügelten. Ich kann nicht die Namen aller Gesprächspartner auflisten, darf aber zumindest Caroline Bledsoe, Heide Castañeda, Cati Coe, Hansjörg Dilger, Maurizio Ferraris, Marie-Claire Foblets, Jessaca Leinaweaver, Elizabeth Kassab, Martin Ramstedt, Richard Rottenburg, Carolyn Sargent, Daniel Jordan Smith und Bruce Whitehouse erwähnen. Ich bin FreundInnen und KollegInnen dankbar, die das Manuskript in Teilen oder ganz gelesen und fruchtbares Feedback gegeben haben, vor allem Erdmute Alber, Elizabeth Beloe, Jennifer Cole und Christian Groes (dem ich das Konzept der „affective circuits,“ d.h. emotionale Schaltkreise, verdanke), Heike Drotbohm, Alma Gottlieb, und Flavien Ndonko. Zahlreiche ForschungsassistentInnen und studentische MirarbeiterInnen halfen bei der Fertigstellung des Manuskripts. Elizabeth Beloe steuerte unschätzbare Forschungsassistenz im Feld bei und initiierte einen Prozess, durch den wir Freunde und Kollegen wurden. Julia Baumhauer und Claire Spilker kamen ihre mulitlingualen Talente und ethnographischen Erfahrungen zustatten, als sie die Interviewaufnahmen transkribierten. Am Carleton College kodierten Rafadi Hakim und Anna Morrison meine dreisprachigen Interviews mit Sorgfalt und Be-
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geisterung. Elizabeth Durham, Leah Eby, und John Trevino legten die Grundlagen für ihre Arbeit. Lyssa Searcy und Emily Scotto steuerten wertvolle bibliographische Assistenz bei. Mary Buswell, Emily Rifkin, Katie Shaffer, Isaac Shapiro und Lindsey Walters überprüften demographische Daten und bibliographische Referenzen. Mein herzlicher Dank geht an alle diese zukünftigen Forscher. Ich möchte auch Daniela Reger für ihre sorgfältige und kompetente Übersetzung des englischen Manuskripts ins Deutsche danken. Schließlich muss ich meinem Ehemann Joachim und Töchtern Anna und Rebecca danken. Joachim Savelsbergs Humor und Geduld haben unser gemeinsames Leben auf drei Kontinenten bereichert. Als Kollege, Freund und Ehepartner hat er immer gewusst, wann offene Kritik oder ein ermutigendes Wort am Platz war. Unsere Gespräche im Laufe vieler Jahre, vor allem auch bei langen und zahlreichen Spaziergängen während unseres Bonner Jahres entlang des Rheins, haben meine Argumente geschärft. Joachim ist und wird immer mein wichtigster Gesprächspartner bleiben. Er und unsere Töchter halfen mir, die Freuden und Herausforderungen der Formierung einer transnationalen Familie zu erfahren. Während meiner Feld- und Schreibarbeit meisterten wir geographische Distanz, auch in Zeiten, in denen unsere Familie Geburt, Krankheit und Tod erfuhr. Ihnen allen bin ich dankbar.
Kapitel Eins: Einleitung „Itʼs Hard Being a Mother Here“
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Am Anfang eines Jahres intensiver Zusammenarbeit zu Fragen von Mutterschaft, Mobilität und Zugehörigkeit – gleichzeitig der Beginn unserer inzwischen jahrelangen Freundschaft – saß ich mit meiner kamerunischen Forschungsassistentin bei einer Tasse Kaffee in der Berliner Universitätsbibliothek. Magni1, selbst Migrantin und Mutter, sagte mir: „Wir sind immer unterwegs, für uns selbst und für unsere Kinder“. Wie viele meiner Gesprächspartner verkörpert auch diese junge Frau das Gehetztsein einer arbeitenden Mutter, die sich durch ihren Alltag kämpft, die bürokratisch geregelte geografische Mobilität über internationale Grenzen hinweg und die Mobilität des sozialen Aufstiegs einer internationalen Studentin. Ihr Wille, die Umstände zu verbessern, unter denen sie ihre Familie großziehen muss, ist der Motor dieser Bewegung. Eben diese Mobilität ist eine Herausforderung für die emotionalen und sozialen Bindungen, die Zugehörigkeit ausmachen ‒ eine komplexe Mischung aus Bestätigung durch einen und die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Ort oder einer Gruppe. Wie viele andere, mit denen wir gesprochen haben, befindet sich auch Magni in der Situation, dass ihre Bindungen, ihre Habe und ihre Loyalität zwischen Kamerun und Deutschland aufgeteilt sind. Im Laufe unserer Zusam-
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Hier und im Folgenden sind alle Namen Pseudonyme. In den meisten Fällen wählten meine Gesprächspartner ihre eigenen Pseudonyme im Rahmen der Einverständniserklärung aus. Zum weiteren Schutz der Privatsphäre habe ich unbedeutende, aber möglicherweise bezeichnende Einzelheiten mitunter geändert.
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menarbeit haben Magni und ich viele Geschichten über die Schwierigkeiten von Migrantinnen hinsichtlich Reproduktion und Zugehörigkeit gehört, die in der immer wiederkehrenden Äußerung „Es ist schwer, hier Mutter zu sein“ sprachlich kondensiert werden. Kamerunische Mütter in Deutschland waren bei der Geburt ebenso wie bei der Betreuung der Kleinkinder oft „völlig auf sich selbst gestellt“. Ihre Schwierigkeiten waren emotionaler wie sozialer, medizinischer wie rechtlicher Natur. In Magnis Nachdenken über Mobilität zeigen sich ebenso wie in den Erzählungen der kamerunischen Mütter die Herausforderungen, denen migrierte Mütter sich gegenübersehen, wenn sie die unterschiedlichsten Anforderungen bewältigen müssen ‒ angefangen bei denen, die sich aus ihren persönlichen Zielen ergeben, bis hin zu den Erwartungen ihrer Familien, ihrer diasporischen Gemeinschaften und des Staats. Mehr Afrikaner als jemals zuvor wandern nach Europa ein; sie kommen als Familien, um ihre Familie zu versorgen und um neue Familien zu gründen. Was bedeutet Zugehörigkeit in einer stetig in Bewegung begriffenen Welt? Wie schaffen Mütter mit Migrationshintergrund für sich selbst, für und durch ihre Kinder ein Gefühl der Zugehörigkeit? Ein Jahrzehnt nach Anbruch des neuen Jahrtausends war diese Spannung zwischen Mobilität, Verwurzelung und Reproduktion bei meiner Zusammenarbeit mit kamerunischen Müttern in Berlin deutlich zu spüren. Jede Frau erzählte von anderen Problemen bei der Mutterschaft unterwegs und sie berichteten darüber, wie diese Schwierigkeiten sie dazu veranlassten, soziale Netzwerke zu erweitern und zu stärken, während andere Verbindungen auf Eis gelegt wurden. Dieses Buch untersucht, wie kamerunische Frauen in Deutschland versuchen, Zugehörigkeit durch die Geburt und die Erziehung von Kindern zu schaffen und was während dieses Prozesses mit den Bindungen geschieht, die sie an den Herkunfts- wie an den Orten der Migration haben. Kamerun ist ein kleines Land zwischen West- und Zentralafrika mit einer Landmasse, die in etwa die Größe Kaliforniens hat. Insofern immer mehr seiner ungefähr 22 Millionen Einwohner (World Bank 2013) nach einer Ausbildung, nach Jobs und nach einem neuen Leben in Europa suchen, ist die Migration von Kamerunern nach Berlin, nach Deutschland, eine Variante des größeren Phänomens der afrikanischen Migration in den Globalen Norden. Wenn Afrikaner nach Europa oder Nordamerika auswandern, werden ihre Familien, Gemeinden und nationalen Loyalitäten über mehrere Kontinente verteilt und infolgedessen komplexer und vielfältiger. Eine Studie zu Mutterschaft und Kindererziehung unter Kamerunern in Berlin versetzt uns in die weitaus größere Welt der afrikanischen Migration und transnationalen Familienbildung.
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Ein Großteil der Literatur zu transnationalen Familien untersucht, wie Frauen durch die Weitergabe von Kindern – etwa durch Pflegeelternschaft, Adoption und andere Formen der übertragenen Elternschaft – Verbindungen zu anderen aufbauen und pflegen (z.B. Alber, Martin und Notermans 2013; Coe 2013; Leinaweaver 2008, 2013; Parreñas 2005; Reynolds 2006). Doch was passiert, wenn Mütter und Kinder zusammen umziehen oder im Migrationsland geborene Kinder bei ihren migrierten Müttern bleiben? In diesem Fall bringen Migrantinnen nicht einfach die zweite Generation auf die Welt. Indem es Fürsorge aus unterschiedlichen Richtungen anzieht, hilft ein Kleinkind seiner Mutter bei der Eingewöhnung am neuen Ort. Der Schulbesuch älterer Kinder und das Verständnis anderer Mütter für die Schwierigkeiten bei der Erziehung Jugendlicher bietet Müttern mit Migrationshintergrund weitere Gelegenheiten, um zu reflektieren, was es heißt, afrikanisch zu sein, während man sich in Europa ein neues Leben aufbaut. Auch wenn kamerunische Mütter häufig äußern, dass es schwer sei, hier Mutter zu sein, so ist ihnen doch bewusst, dass ihre Kinder gleichermaßen Probleme und Chancen für ihre neuen Leben in Deutschland schaffen. Von der Phase der liebevollen Säuglingspflege bis hin zur turbulenten Pubertät – nutzen Kinder ihren Müttern beim Knüpfen von Verbindungen zu den unterschiedlichsten sozialen Netzwerken. Aus der Zugehörigkeit zu diesen sozialen Netzwerken ‒ Verwandtschaftsgruppen und Haushalte, Gemeindeverbände für ethnische Gruppen oder Migranten sowie Staaten ‒ ergeben sich unterschiedliche Umstände und Empfindungen. Durch ihre Kinder können Frauen eine Staatsbürgerschaft, eine nationale oder ethnische Identität, emotionale Bindungen oder Gefühle der Anerkennung, Akzeptanz und des Trosts erhalten oder bewahren. Die Zugehörigkeit von Frauen kann durch ein Gefühl (einen inneren Zustand), durch Handeln (durch das Verhalten nach bestimmten Normen) oder einen Akt (z.B. wenn ein Bürokrat eine Frau als hilfsbedürftig einstuft) erzeugt werden. Bei der Interaktion mit Familienmitgliedern zwischen Deutschland und Kamerun, mit Migrantenverbänden oder deutschen Beamten schaffen die Migranten-Mütter auf unterschiedliche Weise Zugehörigkeit durch Rechte, Pflichten und Erwartungen bezüglich finanzieller Transaktionen (Geldüberweisungen, Gebühren, Steuern), Entscheidungsfindung (Wahlen, Ratschläge), physischer Anwesenheit (Aufenthalt und Besuche), körperlicher Fürsorge (für Mütter und Kleinkinder) und der Verwendung von Symbolen (einschließlich Sprachwahl und Anredeformen). Migration erschwert Zugehörigkeit2 und strapaziert einige Verbindungen bis zum Zerreißen, während sie gleichermaßen neue ermöglicht.
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Eine kleine Auswahl an umfassenderen konzeptuellen Arbeiten von Anthropologen zu politischen Aspekten der Zugehörigkeit beinhaltet Krause und Schramm (2011) und
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Kameruner wandern häufig aus, um die Umstände zu verbessern, unter denen sie Familien gründen. In Kamerun ist Reproduktion schwierig. Harte Arbeit, schlechte Ernährung und Krankheit beeinträchtigen die Fruchtbarkeit der Frauen. Frauen haben nur begrenzt Zugang zu Gesundheitsversorgung und eigenem Einkommen; Korruption (Transparency International 2014) und Diskriminierung aus ethnischen und politischen Gründen sind weit verbreitet. Zusätzlich zur Armut fürchten sich Frauen auf dem Land vor Hexerei im Konkurrenzkampf unter mehreren Ehefrauen in polygamen Haushalten. Und weil Frauen ihre Geburtsfamilien verlassen, um sich dem Haushalt des Mannes anzuschließen, kommt es durch die physische Distanz zu einer Schwächung des von den Herkunftsfamilien ausgehenden Schutzes und ihrer Unterstützung, wodurch sich die Reproduktion noch unsicherer gestaltet. Tatsächlich erinnerten mich die Aussagen, die ich in Berlin über die Schwierigkeiten der Mutterschaft in der Diaspora gehört habe, an frühere Begegnungen mit Müttern im ländlichen und städtischen Kamerun, genauer gesagt an eine immer wieder auftauchende Geste, bei der die Hände zusammengeklatscht und dann mit den Handflächen nach oben wieder geöffnet werden, um anzudeuten „Wir haben nichts“ – nicht genügend Kinder, nicht genügend Nahrungsmittel oder materielle Güter oder die Bedingungen, um gesunde Familien großzuziehen. Die Schwierigkeiten, die es im ländlichen Kamerun für ein erfolgreiches Großziehen von Kindern und für das Schaffen von Zugehörigkeit gibt, führen schon lange zur Abwanderung in städtische Gebiete. Das gilt insbesondere für den Personenkreis, der im Mittelpunkt meiner Forschung steht – Menschen, die aus dem auf einem Plateau gelegenen und zwei kamerunische Provinzen umspannenden Grasland stammen, die französischsprachigen Bamiléké der WestRegion und ihre ethnischen Vettern aus der englischsprachigen NordwestRegion (siehe Abb.1.1). Die Bamiléké machen 30 Prozent und Anglophone 20 Prozent der kamerunischen Bevölkerung von insgesamt 22 Millionen Menschen aus. Wie wir in Kapitel Zwei sehen werden, haben beide Gruppen eine langjährige Geschichte der Arbeitsmigration sowie der politischen Opposition gegenüber dem Zentralstaat. Eine Reihe wirtschaftlicher und politischer Krisen in Kamerun seit den 1980er Jahren hat ethnische Grenzen verschärft und politisiert, ein Phänomen, das Wissenschaftler als politics of belonging (Politik der Zugehörigkeit) bezeichnen (z.B. Geschiere 2009). Infolgedessen gibt es Teile in Kame-
Yuval-Davis (2006) sowie Kannanehs Ethnografie, die politische Zugehörigkeit mit reproduktiven Praktiken verknüpft (2002).
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Abbildung 1.1: Karte von Kamerun. Karte: Katie Schaffer und Isaac Shapiro
run, in denen sowohl Bamiléké als auch Anglophone als ethnisch Fremde (allogènes) betrachtet werden und unter Diskriminierung beim Wahlrecht, beim Bildungszugang und sogar bei der Gewährung von Handelslizenzen für die Stadt leiden. Der Zugang zu medizinischer Versorgung und die Ernährung einer Familie sind hier wirklich schwere Unterfangen. Zusammengenommen bedingen all diese Umstände reproduktiver Unsicherheit in Kamerun, ein Phänomen, das Kameruner bushfalling nennen, die Suche nach dem Glück im Ausland. Bush bezeichnet einen unbekannten Ort, der gleichzeitig reich an Möglichkeiten und voll mysteriöser Gefahren ist. Fall bush bedeutet wörtlich, zu jagen oder abgelegene Felder zu bewirtschaften, doch im heutigen Kamerun meint es die Migration nach Europa, Nordamerika und gelegentlich auch in den Nahen Osten oder nach Asien (Alpes 2011; Fleischer 2012; Nyamnjoh 2011; Pelican und Tatah 2009; Pelican 2013). Die Missstände, unter
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denen die Frauen der Bamiléké und Anglophonen in Kamerun leiden und die das bushfalling motivieren, sind von entscheidender Bedeutung, um verstehen zu können, wie kamerunische Mütter sich in Berlin fühlen. Obwohl transnationale Migration ein Weg ist, den kamerunische Frauen einschlagen, um kamerunische Hindernisse für die Gründung und Versorgung ihrer Familie zu bewältigen, macht sie Reproduktion und Zugehörigkeit für die Frauen noch schwieriger. Durch Migration treffen afrikanische Frauen „choices for their future children and for their childrenʼs future“ (Shandy 2008: 822) auf der Basis von rechtlicher, wirtschaftlicher, kultureller und emotionaler Logik. Diese Entscheidungen bringen Opfer mit sich, da Mütter den Schoß ihrer Familien und vertraute Rituale hinter sich lassen, um sich den materiellen, sozialen und emotionalen Herausforderungen eines Neuanfangs an einem fremden Ort zu stellen. Aufgrund bürokratischer Grenzen und hoher Kosten gestaltet es sich schwierig, einen Partner zu finden, zu heiraten und schwanger zu werden, wodurch transnationale Kameruner gezwungen werden, mit immer Neuem zurechtzukommen. Die gleichen Grenzen erschweren es auch entfernten weiblichen Verwandten, frischgebackenen Müttern und ihren Säuglingen körperliche und emotionale Fürsorge zukommen zu lassen. Räumliche Mobilität ist zwar eine Möglichkeit, um Erfolg zu haben, sozial mobil zu sein und Mittelschichts-Ambitionen umzusetzen, doch die Migration erfordert auch den Umgang mit ganz neuen Arten von Erwartungen. Migrierte Mütter müssen vor allen Dingen mit Zugehörigkeitserwartungen umgehen können, die von Verwandten zu Hause ebenso ausgehen wie von Gesetzen und bürokratischen Verfahren in Deutschland. Der Migrationskontext trägt also zur Unsicherheit kamerunischer Mütter hinsichtlich der physischen, kulturellen und sozialen Reproduktion bei. Frauen bemühen sich, diese Unsicherheit zu bewältigen, indem sie Verbindungen schmieden, die sie als Mütter unterstützen und es ihnen ermöglichen, sich um andere zu kümmern. Einen Partner zu finden, schwanger zu werden, Kinder zur Welt zu bringen und großzuziehen ‒ mit anderen Worten: Praktiken der physischen und sozialen Reproduktion ‒ verbindet Mütter mit Familien, Gemeinschaften und Staaten. Wenn sich zum Beispiel Eltern um ihre Kinder kümmern, erfüllen sie Familienerwartungen, während sie gleichzeitig auf die Hilfe entfernter Verwandter oder Leistungen von Gemeindeverbänden und staatlichen Sozialeinrichtungen zurückgreifen. Durch diese Art von Austausch werden Mütter in sich überlappenden Feldern sozialer Beziehungen eingebettet, die dadurch die Basis für ihre mehrschichtige Zugehörigkeit bilden.3 Mütter knüpfen, unter-
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Obwohl sie ein anderes Vokabular verwendet, beschäftigt sich die umfangreiche anthropologische und soziologische Literatur des 20. Jahrhunderts zu sozialen Netzwerken
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halten und pflegen zielgerichtet Netzwerke durch ihre reproduktiven Praktiken (Astone et al. 1999). Und Mütter treffen ihre reproduktiven Entscheidungen zum Teil, weil sie sich nach diesem Gefühl der Wertschätzung und Anerkennung sehnen, das Zugehörigkeit mit sich bringt. Indem Mütter durch ihre Erziehungsmethoden Zugehörigkeit schaffen, bauen sie auch soziale Beziehungen über große Entfernungen auf. Diese Beziehungen bilden ein Netzwerk, das durch ständige Interaktion und laufenden Austausch aufrechterhalten wird. Mütter gestalten ihre eigene Zugehörigkeit und die ihrer Kinder, indem sie sich in bestimmte Netzwerke integrieren – angefangen bei transnationalen Netzwerken, durch die medizinische Ratschläge ausgetauscht und vertraute und wirksame Arzneien über die Meere geschickt werden, über Verbände, in denen Migranten aus der gleichen kamerunischen Stadt in monatlichen Treffen zusammenkommen, bis hin zu Babysitting-Freundschaften, die sich ganz alltäglich in Einrichtungen wie Studentenwohnheimen und Kindertagesstätten ergeben (Small 2009: 108, 115). Innerhalb dieser Netzwerke handeln Mütter ihre Zugehörigkeit im Rahmen des Austauschs von Fürsorge, Geld, Gütern und Gesprächen aus. Weiter hinten in diesem Kapitel werde ich diese Beziehungen anhand des Bildes elektrischer Schaltkreise darstellen, über die ein diskontinuierlicher Austausch stattfindet, der gleichzeitig auf externe Bedingungen und die Emotionen des Beziehungsnetzwerks der Mütter anspricht. In Anlehnung an Jennifer Cole und Christian Groes (2016) nenne ich diese Verflechtungen des Austauschs und der Zugehörigkeit emotionale Schaltkreise (affective circuits). In diesem Buch werden wir feststellen, dass Mütter mehrere, manchmal widersprüchliche Erwartungen unter einen Hut bringen, indem sie Beziehungen knüpfen, aufgeben und wieder aufnehmen, die über Verwandtschaft, Gemeinschaftsorganisationen und staatliche Akteure entstanden sind. Indem sie Kinder bekommen, sich um sie kümmern und die Fürsorge anderer annehmen, bauen kamerunische Frauen emotionale Verbindungen zu mehreren sozialen Netzwerken auf. Die Etablierung emotionaler Schaltkreise ist entscheidend dafür, wie Mütter Zugehörigkeit schaffen. In diesem Buch werde ich unterschiedliche Varianten aufzeigen, wie Kinder für Migranten-Mütter zu einem Mittel werden können, um emotionale Schaltkreise innerhalb dreier Interaktionssphären zu knüpfen. Wenn Mütter von Kleinkindern mit Verwandten interagie-
mit unterschiedlichen Praktiken der Zugehörigkeit. Netzwerkbasierte Konzepte der Eingebettetheit, der Kommunikation, der sozialen Unterstützung und des sozialen Kapitals sind hier am relevantesten (s. Boswell 1969; Coleman 1988; Emirbayer und Goodwin 1994; Granovetter 1973, 1985; Lin 1999; Marsden 1987; Mitchell 1969; Pescosolido 1986, 1992; Portes 1998; Uehara 1990; Valente et al. 1997).
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ren, unterscheiden sich die weitergereichten Dinge, die emotionale Ladung des Austauschs und die ihm zugrundeliegende Logik von dem, was bei Verbindungen mit Vereinigungen der aus der Heimatgemeinde stammenden Migranten oder dem Staat durch die Schaltkreise fließt. Familien fördern die Zugehörigkeit zu Verwandtschaftsgruppen durch den Austausch im Rahmen von Ereignissen wie der Heiratsvermittlung oder der Geburt und Pflege eines Neugeborenen. Enge Freundschaftsnetzwerke übernehmen zum Teil die Funktionen verwandtschaftlicher Fürsorge und dienen gleichermaßen als Brücken zu gemeinschaftlich basierten Netzwerken. Hometown Associations ‒ monatliche Zusammenkünfte von Migranten mit Wurzeln in der gleichen kamerunischen Stadt ‒ institutionalisieren die Zugehörigkeit zu einer locker definierten kamerunischen diasporischen Gemeinschaft. Vor ihrer Migration erlebten die Mütter, wie traditionelle Gemeinschaften in Kamerun Zugehörigkeit durch ein auf Verwandtschaft und Treue basierendes Gewohnheitsrecht regeln und wie der kamerunische Staat nicht nur über die Staatsbürgerschaft bestimmt, sondern durch ethnische Quoten auch eine mehr partikulare, ortsbezogene Zugehörigkeit schafft. Nach ihrer Einwanderung haben kamerunische Mütter festgestellt, dass der deutsche Staat Mütter und Kleinkinder durch unterschiedliche Regelungen – den Aufenthaltsort, die Gesundheitsversorgung oder die frühkindlichen Erziehung betreffend – eingliedert. Sowohl direkt als auch vermittelt über die Ratschläge und Warnungen, die Migranten im Hinblick auf rechtliche Regelungen untereinander weitergeben, beeinflusst der deutsche Staat somit die Interaktion kamerunischer Mütter mit deutschen Anderen ebenso wie mit ihren Landsleuten. Auf jeder dieser Ebenen – Verwandtschaft, Gemeinschaft und Staat – wirkt sich die Regelung von Kindererziehung und Bürgerschaft darauf aus, wie Frauen ihre Kinder erziehen und Zugehörigkeit schaffen. Kamerunische Mütter bewältigen die Probleme des Mutterseins hier während ihres Unterwegsseins, indem sie situationsabhängig bestimmte emotionale Schaltkreise pflegen und andere vorübergehend ruhen lassen. Auf diese Weise handhaben Frauen die bedingte Natur der Zugehörigkeit – für sich selbst und für ihre Kinder. Dieses Buch beschäftigt sich mit der Geburt von Kindern und Gemeinschaften durch Bewegung und Verwurzelung sowie durch Bindungen, die Individuen und Familien in einem Meer der globalen Mobilität verankern. Es handelt von ehrgeizigen kamerunischen Müttern auf der Suche nach einem guten Leben, in dem sie Familien gründen und ihre Kinder in einer Welt multipler, simultaner Zugehörigkeit großziehen können. Dieses Buch untersucht die Frage, wie Migranten-Mütter diese multiple Zugehörigkeit schaffen, indem sie emotionale Schaltkreise durch und für ihre Kinder aufbauen. Und es geht um das Statische dieser Bindungen, das ein Hindernis für die Hoffnungen und Ziele kameruni-
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scher Mütter ist. Kamerunische Migranten-Mütter sind Vermittlerinnen, die sich reflexiv durch strukturelle Hindernisse hindurch und um sie herum arbeiten, um Verbindungen zwischen Familien, kulturellen Gemeinschaften und deutschen Behörden zu schmieden. Das Buch konzentriert sich auf die Geburt und die Erziehung von Kindern als Prozesse der Schaffung von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit für kamerunische Mütter in Berlin. Es setzt allerdings zu Hause, also in Kamerun, an. Wir können die Bemühungen dieser Frauen zur Bewältigung der reproduktiven Unsicherheit nur nachvollziehen, wenn wir die ländlichen und städtischen Zusammenhänge in Kamerun verstehen. Das unsichere Verhältnis zwischen Zugehörigkeit und Reproduktion in Kamerun und gleichermaßen für Kameruner in Deutschland bewirkt – und wird erzeugt durch – Bewegung. Dieses Buch untersucht, wie diese Spannungen durch die Anstrengungen der Frauen, Netzwerke mit Verwandten, Gemeinschaftsorganisationen und Behörden zu knüpfen, aufgelöst, bewältigt und vervielfältigt werden. Über diese emotionalen Schaltkreise geben Migranten-Mütter Gefühle, Unterstützung und Ideen weiter, durch die sie sich in einer neuen kulturellen, reproduktiven und juristischen Landschaft zurechtfinden.
K ONZEPTE Vier Konzepte bilden den Kontext meiner Ausführungen: reproduktive Unsicherheit, Zugehörigkeit, emotionale Schaltkreise (d.h. von Gefühlen geprägte gesellschaftliche Netzwerke) und das rechtliche Bewusstsein. Ich betrachte reproduktive Unsicherheit als Motivationsfaktor für Bewegung, darunter auch für den Drang junger Kameruner zu geografischer und sozialer Mobilität. Mobilität erschwert Zugehörigkeit, die sowohl juristisch-politische als auch emotionale Aspekte umfasst. Rechtliche Eingliederung und emotionale Zugehörigkeit bedingen Formen der Verbundenheit sowie den alltäglichen Austausch und führen zur Etablierung emotionaler Schaltkreise in den sozialen Netzwerken der kamerunischen Frauen. Geschichten über Zugehörigkeit und Ausgrenzung, über Begegnungen mit Nachbarn, Lehrern, Ärzten und Beamten werden über diese sozialen Bindungen weitergegeben und schlagen sich in Form eines rechtlichen Bewusstseins und politischer Subjektivität nieder. Emotionale Schaltkreise und rechtliches Bewusstsein sind die Instrumente, mit denen Mütter auf ihrem Weg die heiklen Klippen von Reproduktion und Zugehörigkeit umschiffen.
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Reproduktive Unsicherheit Zusammenhänge zwischen Reproduktion und Zugehörigkeit werden vor allem in den Fällen sichtbar, in denen die Reproduktion fehlschlägt. Ich schlage den Begriff reproduktive Unsicherheit zur Benennung der Umstände und Ängste in Verbindung mit diesen reproduktiven Schwierigkeiten vor. Reproduktive Unsicherheit umfasst sowohl die soziale und kulturelle Reproduktion (z.B. die Reproduktion sozialer Ungleichheit unter kulturell definierten Gruppen) als auch die biologische Reproduktion (die Fortpflanzung der Menschen, um all diese Gruppen überhaupt zu bevölkern). Meine Gesprächspartner aus Berlin äußerten mir gegenüber, alle Reproduktion in der Diaspora sei eine Herausforderung, jedoch illustrieren einige Beispiele aus meiner Arbeit unter den Bamiléké in Kamerun, dass die biologische und soziale Reproduktion auch in den Herkunftsgemeinschaften (die Migrationsforscher als Ausgangsgemeinschaften bezeichnen) fehlschlagen kann. Eine Frau kann mit Unfruchtbarkeit konfrontiert sein (Feldman-Savelsberg 1999) oder wiederholt Fehlgeburten erleiden (Feldman-Savelsberg, Ndonko und Yang 2006), wodurch ihre Ehe und Gemeinschaftszugehörigkeit gefährdet werden. Mit einer Abtreibung verstößt sie unter Umständen gegen eine Reihe kultureller Verbote, um kulturell angemessene Modelle von Mutterschaft zu wahren (Feldman-Savelsberg und Schuster o.D.). Ihre Reproduktion kann Teil einer ethnischen Stereotypisierung im Kontext autochthoner Bewegungen werden, die zum Ziel haben, Bamiléké-Migranten von der vollständigen kamerunischen Staatsbürgerschaft auszuschließen (Feldman-Savelsberg und Ndonko 2010; Geschiere 2007). Diese und andere Probleme für Reproduktion und Zugehörigkeit treten in der medizinisch und politisch tückischen Situation im subsaharischen Afrika häufig auf. Diese kamerunischen Beispiele belegen die wichtige Wechselbeziehung zwischen biologischer Reproduktion, kulturellen Ansichten der Fortpflanzung und sozialer Reproduktion. Die menschliche biologische Reproduktion ereignet sich im Rahmen gesellschaftlicher Institutionen, die Modelle der sexuellen Partnerschaft und der für die Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt erforderlichen körperlichen Gesundheit gestalten. Von gleicher Bedeutung für die reproduktive Unsicherheit ist die Art und Weise, wie die Beteiligte die Prozesse verstehen, woher Kinder kommen und wie sie entstehen (Delaney 1991). In den 1980ern in Bangangté ‒ dem obersten Stammesfürstentum der Bamiléké (Fondom in kamerunischem Pidgin-Englisch und in englischsprachiger Fachliteratur zu Kamerun), in dem meine lange Forschungsbeziehung zu Kamerun begann ‒ erklärten Eltern zum Beispiel die Fortpflanzung anhand aussagekräftiger, kulinarischer Metaphern von heißem Sex, geschlechtsspezifischen Zutaten und Kochtopf-Mutter-
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leibern. Dreißig Jahre später beschreiben ihre Kinder, inzwischen kosmopolitische migrierte Mütter in Berlin, die Fortpflanzung in biomedizinischen Begriffen und haben doch die Ängste ihrer Mütter bezüglich der gesellschaftlichen Konflikte im Fall von Unfruchtbarkeit beibehalten. Die kamerunischen Ansichten zur Fortpflanzung haben sich mit der Zeit zwar geändert, aber sie betten die biologische Reproduktion eindeutig in den Kontext sozialer Beziehungen ein. Die Umstände der Geburt schaffen soziale Beziehungen auf mehreren Ebenen, da ein Kind in eine Abstammungslinie hineingeboren wird, die ehelichen und familiären Bande seiner Eltern stärkt und die Staatsbürgerschaft entweder durch seine Abstammung (jus sanguinis) oder den Geburtsort (jus solis) erlangt. Der Erhalt dieser Beziehungen und der damit verbundenen Werte, Standards und potenziellen Ungleichheiten begründet mit der Zeit die soziale Reproduktion (Bourdieu 1977, Edholm, Harris und Young 1978). Wie Colen in ihrem Werk zur stratifizierten Reproduktion (1995) zeigt, sind sowohl biologische als auch soziale reproduktive Arbeiten verteilte Prozesse unter mehreren Akteuren – Müttern, Vätern, Geschwistern, Tanten, Großmüttern und nicht verwandten Betreuern (s. Laslett und Brenner 1989, Goody 2008, Coe 2013). Verteilte reproduktive Arbeit schafft eine Reihe von Beziehungen, die unsicher werden können – durch koloniale und postkoloniale Einmischung, durch strukturierte Missverständnisse zwischen reproduktiven Gesundheitsdienstleistern und eingewanderten Kunden (Sargent 2011) und durch die ausschließende Eingliederung (exclusionary incorporation) (Partridge 2012), mit der afrikanische Einwanderer an europäischen Ufern begrüßt werden. Es ist ersichtlich, dass zahlreiche materielle, kulturelle und soziale Umstände die menschliche Reproduktion, kulturelle Zugehörigkeit und soziale Reproduktion problematisch gestalten. Reproduktive Unsicherheit umfasst die Bedingungen und die soziale Erfahrung dieser Schwierigkeiten und Verflechtungen (FeldmanSavelsberg, Ndonko und Yang 2005). Die Umstände, die zur Unsicherheit der biologischen und sozialen Reproduktion führen (z.B. soziale Bestimmungsfaktoren wie gesundheitliche Ungleichheit aufgrund von Armut, Infektionskrankheiten, sozialen Spannungen, Gewalt), sind vorwiegend politischer wie auch wirtschaftlicher Natur sowie häufig mit inländischer und länderübergreifender Arbeitsmigration verknüpft. Diese Umstände rufen persönliche und kollektive Ängste hervor, den emotionalen Aspekt der reproduktiven Unsicherheit. Die emotionale Kraft der reproduktiven Unsicherheit wird durch sprachliche und körperliche Gewohnheiten offenbart und (re)produziert, die Angst vor reproduktiven Unglücksfällen – von Unfruchtbarkeit und Fehlgeburt bis hin zum „demografischen Diebstahl“ (Castañeda 2008) – ausdrücken, sowie durch Besorgnis über die Fähigkeit, eine bestimmte Form der gesellschaftlichen Organisation und
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ein Gefühl der kulturellen Besonderheit wahren – oder reproduzieren – zu können.4 Zugehörigkeit Zugehörigkeit (belonging) ist eine Art der Verbundenheit, die in der Anthropologie eine entscheidende Rolle spielt, von den ersten Studien zur Verwandtschaft bis hin zu aktuelleren Werken über Reproduktion und Migration (z.B. Leinaweaver 2008, 2011). Nichts könnte für die Anthropologie bedeutender sein, als die Gestaltung und das Fortbestehen kulturell definierter Gruppen und die Art und Weise, wie die Gruppenmitgliedschaften entstehen und von Individuen wahrgenommen werden. Trotz der faktischen Durchlässigkeit ihrer Grenzen sind diese Gruppen – aufgrund von Merkmalen wie Verwandtschaft, Wohnort, Geschlecht, Ethnizität, Religion oder Staatsbürgerschaft – die Bausteine der gesellschaftlichen Organisation. Der Prozess, durch den jemand für sich selbst und seine Angehörigen die Mitgliedschaft in einer Gruppe – als Zugehörigkeit – schafft und wahrt, ist ein wichtiger Teil der reproduktiven Arbeit. Tatsächlich geht es bei sozialer Reproduktion nicht nur um die Nachbildung strukturierter Beziehungen unter Individuen und Gruppen, es geht dabei auch um die Reproduktion emotionaler Schaltkreise – ein Gefühl der Zugehörigkeit – zu diesen Gruppen und Positionen. Zugehörigkeit ist ein weitreichender Begriff, der eine Verbundenheit beschreibt, die auf der Grundlage existiert von 1) sozialer Stellung, 2) emotionaler Bindung durch Selbstidentifikation und 3) institutionellen, rechtlichen und behördlichen Definitionen, die Zugang zu sozial definierten Orten und Gruppen gewähren und gleichzeitig Grenzen zwischen ihnen aufrechterhalten (YuvalDavis 2006 in Krause und Schramm 2011: 118). Bei einem genaueren Blick auf diese drei Säulen der Zugehörigkeit stellen wir fest, dass Zugehörigkeit gefühlt, ausgeübt bzw. hergestellt oder zugeschrieben bzw. auferlegt werden kann. Die soziale Stellung kamerunischer Mingranten-Mütter lässt sich an einem Kreuzungspunkt von Klasse, Hautfarbe, Geschlecht und Staatsbürgerschaft verorten (z.B. als gebildete, schwarze Frau mit kamerunischer Staatsbürgerschaft),
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Ähnliche Verwendungen des Begriffs Unsicherheit zur Bezeichnung einer Kombination aus politisch-wirtschaftlichen Bedingungen, symbolischen Bedeutungen und affektgeladener Alltagserfahrung finden sich in der Betrachtung der Ernährungsunsicherheit von Devisch, De Boeck und Jonckers (1995), in Ashforths Arbeit zur spirituellen Unsicherheit (2005) und in Robinsons Werk zum Verhältnis zwischen einer Ethik der Fürsorge und einer globalen menschlichen Sicherheit (2011).
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und häufig werden aus diesen sozialen Stellungen präskriptive Kategorien, die Migranten-Müttern übergestülpt werden und dadurch ihre Handlungen einschränken. Mütter mit Migrationshintergrund werden nicht nur von anderen in verschiedene soziale Kategorien und Gruppen eingeordnet, sie identifizieren sich auch selbst mit solchen. Sie spüren also ein emotionales Zugehörigkeitsgefühl. Sie können sich durch die tiefe emotionale Verpflichtung zu Idealen der kameradschaftlichen Ehe (Hirsch 2003; Hirsch und Wardlow 2006) und der Erziehung ihrer eigenen Kinder (Coe 2013) nach einer Zugehörigkeit zur Mittelschicht und den Annehmlichkeiten und dem Ansehen dieser Stellung sehnen. Indem sie im Sinne gesellschaftlich anerkannter Verhaltensnormen handeln, stellen Mütter ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen her. Mütter schaffen verschiedene Arten der Zugehörigkeit, wenn sie sich auf bestimmte Anrechte berufen (z.B. Hilfe von Verwandten nach einer Geburt erwarten), Verpflichtungen nachkommen (z.B. Geldüberweisungen an Familienmitglieder und Steuerzahlungen an den Staat) oder an Entscheidungen teilhaben (z.B. bei der Äußerung ihrer Meinung auf Treffen der Hometown Associations). Mütter stellen auch durch ihre physische Anwesenheit Zugehörigkeit her (z.B. bei der Pflege von Familienangehörigen oder der Erfüllung von Visaauflagen) und indem sie sich entscheiden, ihren Kindern entweder eine kamerunische Landessprache (Französisch oder Englisch) oder Deutsch beizubringen. Diese unterschiedlichen Wege der Zugehörigkeit können sich entweder ergänzen oder widersprechen und sind kontextspezifisch. In Abhängigkeit von der Situation können sich MigrantenMütter mit allen anderen Müttern, mit anderen schwarzafrikanischen Einwanderern jedes Geschlechts, mit denen aus ihrer Heimatstadt oder mit Mitgliedern aus ihrem weiteren Familienkreis identifizieren. Vor einem Jahrhundert, als ihre Kinder auf der Suche nach Arbeit auswanderten, mahnten die Großmütter in den Dörfern sie, sich stets „daran zu erinnern, wo ihre Nabelschnur vergraben ist“, sich also an die Familie und die Erde zu erinnern, aus der sie kommen und der sie Treue schulden. Mit ebendieser Redensart erziehen Migranten-Mütter ihre Kinder, um eine emotionale Bindung zu ihrer entfernten Familie und ihrem Herkunftsort aufrechtzuerhalten. Sie lehren ihre Kinder – mit wechselndem Erfolg –, sich mit dem Schwarzsein, mit Afrika, mit Kamerun und mit der Heimatregion ihrer Vorfahren zu identifizieren. Die Förderung einer emotionalen Bindung der Zugehörigkeit stellt aus wenigstens zwei Gründen eine knifflige Aufgabe dar. Erstens wünschen sich Mütter, dass ihre Kinder erfolgreich sind und sich in Deutschland integrieren, und sie verlangen von ihnen die vollendete Fertigkeit, zwischen kamerunischen und deutschen Verhaltensmustern zu wechseln. Zweitens sind sogar in Kamerun die sozialen
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Gruppen, zu denen man eine emotionale Bindung aufbauen kann, zahlreich, und ihre Identitäten sind überlappend und häufig Gegenstand politischer Konflikte. Streitigkeiten über Grenzziehung, Grenzerhalt und gespaltene Loyalitäten stehen im Mittelpunkt des Ansatzes der Zugehörigkeitspolitik, der die Wissenschaft in Kamerun dominiert (z.B. Eyoh 1998; Fonchingong 2005; Geschiere 2009; Jua 2005; Ndjio 2006; Nyamnjoh und Rowlands 1998; Page, Evans und Mercer 2010). Diese Wissenschaft definiert Zugehörigkeit im Sinne der Politik des primären Patriotismus in multiethnischen Staaten, die von Binnenmigration und ‒ manchmal gewaltsamen ‒ Debatten über Rechte und Anerkennung charakterisiert sind (z.B. Broch-Due 2005; Geschiere und Gugler 1998, Evans 2010). Gehören Individuen mehr zu ihrem Herkunftsort oder zu ihrem Wohnort? Sind sie loyaler gegenüber ihrer ethnischen Gemeinschaft (z.B. einem lokalen Stammesfürstentum) oder dem Nationalstaat? Und wo genießen Menschen im Kontext der Binnenmigration die Grundrechte auf Aufenthalt, Beschäftigung und politische Repräsentation?5 Im heutigen Kamerun stellen sich diese Fragen nicht nur im Hinblick auf Individuen, sondern auch bezüglich Gruppen. Staatliche Akteure und die Medien stellen die Loyalität ethnischer Gruppen und von Regionen infrage, die eine Geschichte politischer Opposition haben. Sie schüren in den Zielgemeinschaften (in den Stadt- und Plantagengebieten im südlichen Drittel des Landes) Unmut gegen die Binnenmigranten, indem sie Gebrauch von Begriffen wie Autochthone und Fremde machen. Autochthonie, „aus“ oder von „der Erde“ geboren zu sein (Geschiere 2009: 2), scheint eine ortsbasierte Zugehörigkeit für Zuerstkommende als gegeben festzulegen und sie „gegen Fremde“ oder spätere Ankömmlinge abzugrenzen (Whitehouse 2012: 13, Hervorhebung im englischen Original). Der Autochthonie-Diskurs verneint also die sozial und kulturell basierte Zugehörigkeit von Flüchtlingen, Migranten und deren Nachkommen (s. Malkki 1992; Ong 2003). Gleichermaßen naturalisiert die Konzentrierung auf die Blutslinie die abstammungsbasierte Zugehörigkeit, ob nun beim „Ethno-Marketing“ zur Ausnutzung der Ethnizität unter amerikanischen Ureinwohnern (Comaroff und Comaroff 2009: 92, 108) oder in Staatsbürgerschaftssystemen auf der Grundlage des jus sanguinis (wie in Deutschland). Deutsche Gesetze gegen die doppelte Staats-
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Eine ähnliche Reihe an Fragen kann auch im Hinblick auf Migranten gestellt werden, die internationale Grenzen überqueren. Wie wir in Kapitel Sechs sehen werden, wird Zugehörigkeit im deutschen populären Diskurs im Sinne von Integration, Loyalität gegenüber dem Ausgangs- vs. dem Zielland durch Diskussionen über die doppelte Staatsbürgerschaft und die räumliche Verteilung von Grundrechten anhand des Asylrechts und der Festung Europa definiert.
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bürgerschaft für Personen aus anderen Ländern als der Europäischen Union oder der Schweiz, scheinen die gelebte Realität afrikanischer Migranten zu verleugnen, zu der simultane Zugehörigkeit sowohl im Hinblick auf politische als auch auf kulturelle Subjektivitäten gehört (Krause und Schramm 2011). Nicht nur der mächtige Staat – ob nun der kamerunische oder der deutsche – verwehrt simultane Zugehörigkeit; in Berlin haben die auf einer genealogischen Verbindung zu einem Heimatort basierenden Mitgliedschaftsbestimmungen von Hometown Associations die gleiche Wirkung, wenn auch in einem kleineren Maßstab. Die Festlegung von Zugehörigkeit nach den Kriterien von Ort und Verwandtschaft hat keine tiefen historischen Wurzeln in Afrika (Whitehouse 2012: 210), ihre emotionale Wirkung aber ist erheblich. Transnationale kamerunische Migranten verzweifeln daran, dass ein langjähriger Aufenthalt in Deutschland und sogar die deutsche Staatsbürgerschaft nicht zur Akzeptanz als Deutscher führt; gleichzeitig befürchten sie, dass ihr in Deutschland geborener Nachwuchs den Bezug zu ihrer Kultur und Sprache verliert, und sie bemühen sich deshalb, die Einflüsse der Aufnahmegesellschaft in Grenzen zu halten. Die Qual der Ausgrenzung ist niemals weit entfernt von der Wärme gastlicher Geselligkeit, die von Mercer, Page und Evans als die „stillere“ Form der Zugehörigkeit bezeichnet wird; Geselligkeit drückt eine Art und Weise aus, auf die „loyalty to ‚home‘ can provide the language, ideas and values to enable cooperation […] and to establish the right way to live comfortably together within a place“ (2008: 232). Wir sehen also, dass Zugehörigkeit viele Facetten hat, von der politischen Zugehörigkeit der Elite, die Verbundenheit für ihre politischen Ziele ausnutzt, über die rechtliche Eingliederung durch Staatsbürgerschaft und staatliche Regulierung, bis hin zur emotionalen Seite mit Akzeptanz, Identifikation und Loyalität. Obwohl ich zur Kenntnis nehme, dass sich diese Facetten in der Herstellung von Zugehörigkeit wechselseitig bedingen, konzentriere ich mich hier auf die emotionale Zugehörigkeit, die durch Familie, Gemeinschaftsorganisationen und rechtliche Strukturen geschaffen wird. Emotionale Schaltkreise Die emotionale Seite der Zugehörigkeit ist für ausgewanderte kamerunische Mütter viel mehr als das Gefühl der Akzeptanz, das mit der Identifikation, Loyalität und Behaglichkeit eines Einzelnen einhergeht, wenn er aufgenommen, oder der schmerzlichen Missachtung, wenn er ausgeschlossen wird. Diese Art der Zugehörigkeit wird in gesellschaftlichen Beziehungen erzeugt, nachgebildet und herausgefordert. Emotionale Zugehörigkeit ist daher ein Bestandteil des Eingebettetseins in soziale Netzwerke, deren dehnbare Beziehungsstruktur Verbin-
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dungen schafft, die durch stetige Interaktion und laufenden Austausch aufrechterhalten werden. Wir können uns diese von Müttern geknüpften Beziehungen als Verbindungen vorstellen, über die Geld, Güter und Medikamente, Pflegekinder und Besucher, Liebe, moralische Unterstützung und Forderungen übermittelt werden. Dieser finanzielle, beratende, physische und symbolische Austausch ist genau das Mittel zur Ausübung von Zugehörigkeit, das wir oben erkannt haben. Wie im Fall von elektrischen Verbindungen oder Schaltkreisen sind diese Austauschbeziehungen aber nicht fortlaufend, sondern können vernachlässigt, abgebrochen, blockiert und wieder aufgenommen werden (Cole und Groes 2016). Schwangere Frauen mit unsicherem Aufenthaltsstatus vermeiden es beispielsweise häufig, ihren Müttern von den harten Umständen des Migrantenlebens zu berichten. Doch nicht nur der Zustand der Verbindungen, auch die Richtung des Informationsflusses kann sich gelegentlich ändern. Manchmal findet der Austausch trotz eines Ethos der langfristigen Gegenseitigkeit nur in eine Richtung statt ‒ zumindest unter Verwandten. Diese Vielfalt sozialer Netzwerke, nenne ich (nach Cole und Groes 2016) emotionale Schaltkreise (affective circuits), um zu verdeutlichen, dass die über sie ausgetauschten Dinge mit den affektiven Elementen der Zugehörigkeit zu Familien und Gemeinschaften verflochten sind und diese gleichermaßen zum Ausdruck bringen. Die Politik von Staaten erzeugt Netzwerke zwischen Behörden, die Vorschriften durchsetzen, und den Migranten. Diese staatliche Politik bildet also eine Art der Verbindung, oder auch eine Unterbrechung, die bestimmt, wer wohin zieht, wer wohin gehört und wie, und die infolgedessen auch mit über den Erfolg oder Misserfolg entscheidet, den nach Europa migrierte Afrikaner haben. Wie jeder andere Besuch bei einem Konsulat oder Ausländeramt veranschaulicht etwa die Situation von Verwandten, denen ein Visum für die perinatale Pflege ihrer eingewanderten Schwester oder Tochter verweigert wird, die Intensität der Emotionen, mit denen staatlich basierte Verbindungen der Zugehörigkeit geladen sind. Hometown Associations, Verwandte, Kollegen und Geliebte, die mehr oder weniger in sozialen Netzwerken verknüpft sind, erzeugen andere Arten emotionaler Schaltkreise. Jeder dieser emotionalen Schaltkreise übt politische und gesellschaftliche Kontrolle (und Motivation) auf die Leben und die Familien von Migranten-Müttern aus. Im Hinblick auf Diskussionen darüber, ob soziales Kapital epiphänomenal für soziale Netzwerke ist oder aktiv von sozialen Akteuren geschaffen wird (Astone et al. 1999), behaupte ich, dass emotionale Schaltkreise mehr als externe Zwänge oder Motivationsfaktoren für die reproduktiven Praktiken von Migranten-Müttern sind. Vielmehr entstehen emotionale Schaltkreise, wenn Frauen Zugehörigkeit suchen, entgegenbringen und hervorrufen,
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indem sie sich selbst und ihre Kinder gezielt in überlappende, mehrschichtige soziale Netzwerke einbetten. Diese Netzwerke ermöglichen intensive Pflegeökonomien, die MigrantenMütter mit afrikanischen Verwandten und deutschen Anderen (Immigrationsbeauftragten, Sozialarbeitern des Jugendamts, Nachbarn, Lehrern, Ärzten) verbinden. Sie werden überaus wichtig, wenn Migranten-Mütter reproduktiven Herausforderungen gegenüberstehen – von der Empfängnis bis zur Geburt, von der Säuglingspflege bis zur Schulausbildung. Zur Geburtshilfe und pädiatrischen Versorgung tauchen aus diesen Netzwerken Gruppen von Verwandten, Freunden und Bekannten auf ‒ was Medizinanthropologen als „Therapy Management Groups“ (Janzen 1978, 1987) bezeichnen ‒, um das Problem zu ermitteln, Heilmittel auszuwählen und Trost zu spenden. Wenn diese Funktionen von Netzwerken übernommen werden, die sich über den europäischen und afrikanischen Kontinent erstrecken, nennen wir sie transnationale Therapienetzwerke (Krause 2008). Da die Arbeit der Reproduktion über den medizinischen Aspekt hinausgeht, erfasst der Begriff der emotionalen Schaltkreise die in hohem Maße geschlechtsspezifische Arbeit, Verantwortung und Gefühlswelt, die MigrantenMütter übernehmen, um ihre Kinder – und sich selbst – in unsicheren Umständen zu verankern und großzuziehen, besonders gut (Whyte 1997). Die Beteiligung kamerunischer migrierter Mütter an emotionalen Schaltkreisen schafft für sie Zugehörigkeit und hilft ihnen, reproduktive Unsicherheit zu bewältigen. Rechtliches Bewusstsein Eine unmittelbare Quelle der Unsicherheit für kamerunische Migranten-Mütter ist das Gesetz, denn deutsche Rechtsinstitutionen beeinflussen viele Aspekte des täglichen Lebens (Breyer 2011). Kameruner interagieren mit Behörden bei wichtigen statusändernden Maßnahmen, von denen internationale Grenzüberschreitungen gekennzeichnet sind, etwa bei der Einholung von Visa oder bei der Einbürgerung. Wie alle deutschen Einwohner kommunizieren auch sie mit Beamten, um gewöhnliche Vorgänge wie die Ummeldung bei Meldeämtern abzuwickeln, von denen eine Unzahl an Transaktionen abhängt – von der Eröffnung eines Bankkontos über den Abschluss eines Telefonvertrags bis hin zur Beantragung eines Bibliotheksausweises. Wie wir in diesem Buch noch feststellen werden, werden reproduktive Prozesse wie die Geburt und die Erziehung von Kindern ebenfalls durch das Gesetz und den Umgang mit Behörden gerahmt, angefangen bei der Beantragung einer Geburtsurkunde für ein neugeborenes Kind bis hin zur Einholung einer Gesundheitsbescheinigung für die Schulanmeldung. Der Einwanderungsstatus ist dabei entscheidend, denn er bestimmt die Leichtigkeit und
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sogar über die Machbarkeit der Aufgaben, die das tägliche Leben und den Lebensunterhalt ausmachen. Die Macht der Gesetze ist daher unabhängig davon spürbar, ob die Menschen sie verstehen oder nicht. In Anbetracht meines Interesses am kamerunischen Zugehörigkeitsgefühl untersuche ich hier nicht das Recht per se, sondern konzentriere mich auf das rechtliche Bewusstsein (legal consciousness) – also darauf, wie das Gesetz von gewöhnlichen kamerunischen Migranten erlebt und begriffen wird (s. Merry 1990). Beim Aufbau von Zugehörigkeit und bei der Erzeugung oder Verbesserung reproduktiver Unsicherheit steht nicht im Vordergrund, was Recht ist, sondern was es nach Ansicht der Akteure ist. Wie bei der Zugehörigkeit und der reproduktiven Unsicherheit handelt es sich beim rechtlichen Bewusstsein nicht um eine einzelne Eigenschaft oder Einstellung, sondern eher um einen Strom gemeinsamen soziokulturellen Wissens, der durch soziale Interaktion zutage tritt. Rechtliches Bewusstsein ist ein Prozess, durch den „actors construct, sustain, reproduce, or amend the circulating (contested or hegemonic) structures of meanings concerning law“ (Silbey 2005: 334). Die Geschichten, die sich Kameruner über Momente der Akzeptanz und Ablehnung, über Begegnungen mit Nachbarn, Lehrern, Ärzten und Beamten erzählen, schlagen sich in einer kollektiven Vorstellung darüber nieder, wie man an einem neuen Ort mit dem und trotz Gesetz zurecht kommt. An diesem Punkt werden Kulturen, einschließlich rechtlicher Kulturen, gestaltet, infrage gestellt und verwoben. Eine nähere Beschäftigung mit dem rechtlichen Bewusstsein zeigt, dass Recht nicht nur in bürokratischen Rechtsinstitutionen zu finden ist, sondern auch das tägliche Leben durchdringt. Auf diese Weise sind rechtliches Bewusstsein und emotionale Schaltkreise die Mittel, mit denen sich Kameruner den zusammenhängenden Herausforderungen der reproduktiven Unsicherheit und Zugehörigkeit stellen. Das rechtliche Bewusstsein verknüpft auch die Ebenen von Familie, Gemeinschaftsorganisationen und Staat. Die Verbreitung von Geschichten über alltägliche Freuden und Sorgen, auch über das Aufeinandertreffen mit deutschen Beamten, ist ein wichtiges Element der Sozialität kamerunischer Migranten; Migranten tauschen Geschichten im familiären Kreis und bei Gemeinschaftstreffen über die gleichen emotionalen Schaltkreise aus, über die sie auch Fürsorge schenken und Zugehörigkeit schmieden. Durch die Interaktion mit Behörden und die Berichterstattung darüber entsteht ein Verständnis des Rechts, denn es beeinflusst soziale reproduktive Praktiken wie die binationale Ehe (Fleischer 2012) oder die Disziplinierung von Kindern, wenn es um Erfolg im Bildungssystem geht (Kamga 2014). Mehrere kamerunische Mütter, mit denen ich gesprochen habe, waren davon überzeugt, dass ihre Kinder sie verhaften lassen könnten, wenn sie ihnen auch nur einen leichten Klaps androhten, und wussten
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daher nicht mehr weiter, wenn es darum ging, ihren Kindern Manieren beizubringen. Wie wir in Kapitel Fünf sehen werden, schafft das rechtliche Bewusstsein der Kameruner durch seinen Prozess der sozialen Interaktion und Bedeutungsbildung situationsspezifische Einheiten der Zugehörigkeit, bei denen unterschieden wird zwischen zu Hause/nicht zu Hause und wir/sie (Feldman-Savelsberg und Ndonko 2010; Kohlhagen 2006a). Innerhalb von Hometown Associations werden Ver- und Misstrauensmuster sowie Modelle zur Streitbeilegung durch Interaktionen zwischen denjenigen mit und denjenigen ohne geregelten Einwanderungsstatus gebildet (Kohlhagen 2006b). Und wie wir in Kapitel Sechs sehen werden, können Migranten-Mütter mit größeren finanziellen, symbolischen und informativen Mitteln das Recht anwenden oder sich zumindest damit identifizieren, seine Vorgaben zu befolgen. Diejenigen, die sich in einer heikleren Position befinden, vermeiden vielleicht sogar den Umgang mit allen Arten von Behörden und versuchen, dem Gesetz aus dem Weg zu gehen (Castles 2007). Der „Schatten des Leviathan“ treibt manchmal die angreifbarsten Migranten ‒ die mit einem ungeregelten Einwanderungsstatus ‒ zur Nutzung alternativer Mechanismen der Konfliktregelung und Streitbeilegung (Spittler 1980). In anderen Fällen, insbesondere bei häuslicher Gewalt, greifen kamerunische Mütter auf die rechtlichen und sozialen Leistungen zurück, die der deutsche Staat und lokale Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Berlin bieten. Während der soziale Status so die Einstellung zum Gesetz formt, beeinflusst das Gesetz gleichermaßen den sozialen Status der Migranten. Das Arbeitsrecht für Einwanderer entwertet die Qualifikationen der Migranten in den Zielländern; dadurch verlieren Migranten ihren Sozialstatus im Zuwanderungsland, während sie in den Ausgangsgemeinschaften einfach aufgrund der Tatsache, dass sie bushfallers sind, symbolisch an Status gewinnen. Durch die Migration nach Berlin kann eine in Kamerun ausgebildete Fremdsprachensekretärin oder spezialisierte Kinderkrankenschwester zum Beispiel einfach zu einer arbeitslosen Mutter werden, die einen vorgeschriebenen Kurs für Deutsch als Fremdsprache besucht. Mütter mit Migrationshintergrund sehen sich vor, damit durch den Klatsch anderer Migranten dieses Statusparadox der Migration (Nieswand 2011) Verwandten und Freunden zu Hause in Kamerun nicht klar wird. Frauen bewältigen ihre Unsicherheit daher, indem sie den Mustern von Vertrauen und Misstrauen in Gemeinschaftsorganisationen folgen, um ausgewählte emotionale Schaltkreise zu verlangsamen oder zu beschleunigen, um Verbindungen fallen zu lassen und wiederaufzunehmen. Diese Beispiele belegen, dass uns die Beschäftigung mit dem rechtlichen Bewusstsein ermöglicht, die anderen Konzepte der reproduktiven Unsicherheit, der Zugehörigkeit und der emotionalen Verbindung miteinan-
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der zu verflechten und so aufzudecken, wie sie – und das Gesetz – die Interaktionen innerhalb der und zwischen den Ebenen von Familie, Gemeinschaft und Staat durchziehen.
F ORSCHUNG ZU M ÜTTERN UNTERWEGS : M ETHODEN UND D ATEN Ich habe das Geflecht von reproduktiver Unsicherheit, Zugehörigkeit, Einstellungen gegenüber dem Gesetz und den Netzwerken, die emotionale Schaltkreise stützen, anhand aufeinander aufbauender Projekte untersucht, in deren Rahmen ich einer Gemeinschaft über drei Jahrzehnte lang an verschiedene Orte gefolgt bin – vom kamerunischen Land in seine Hauptstadt und dann weiter nach Berlin. An jedem nachfolgenden Schauplatz wuchs das Ausmaß der Gemeinschaft. Dieses Buch basiert auf meinen Feldforschungen an allen drei Schauplätzen. Während ich von einem Forschungsort und -projekt zum nächsten wechselte, beeinflussten meine persönlichen Erfahrungen mit Mutterschaft ‒ und transnationaler Mutterschaft ‒ meine Beziehungen zu kamerunischen Müttern, die Dinge, die wir einander anvertrauten und zweifellos die Art und Weise, wie ich die Besonderheiten ihrer Leben und Geschichten aufgefasst und interpretiert habe.6 Direkt nach der Universität schloss ich mich 1980 dem Peace Corps an, um an einem Projekt zur Gesundheitserziehung im ländlichen Kamerun mitzuarbeiten. Das erste Mal eine Geburt mitzuerleben, die Hand einer verängstigten Mutter im Teenageralter zu halten, während sie sich durch die Wehen kämpft, war für mich sowohl eine bewegende als auch eine lebensverändernde Erfahrung. Ich begann, mir ganz neue Gedanken über meine Zukunft als Anthropologin sowie über meine mögliche Zukunft als Mutter zu machen. Das war der Anfang eines Schemas, nach dem jeder Besuch in Kamerun und jedes Forschungsprojekt Fragen aufwarf, die zur Basis des nächsten Projekts wurden. Drei Jahre nach meinen Erlebnissen im Peace Corps begann ich meine Feldforschung in Bangangté, einem ländlichen Stammesfürstentum der Bamiléké (von den Kamerunern Fondom genannt)7, indem ich damit anfing, einen Sommer
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Siehe Abu-Lughod (1993) zur Bedeutung von „Ethnografien des Besonderen“ (ethnography of the particular) sowie der Rolle von Freundschaft bei anthropologischer Feldforschung.
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Die lokalen Gemeinschaften im Grasland – darunter die englischsprachigen Bewohner der Nordwest-Region und die französischsprachigen Bamiléké der Westregion – werden von sakralen Häuptlingen regiert, die auch als göttliche Könige bezeichnet wer-
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lang Geschichten über Frauen zu sammeln, die durch Hexerei unfruchtbar geworden waren. Durch weitere Archiv- und Feldforschung in den folgenden Jahren fand ich heraus, dass Frauen und Männer Unfruchtbarkeit als ein Sinnbild für den Ausdruck ihrer geschlechtsspezifischen Besorgnis bezüglich der Zugehörigkeit zu und der Reproduktion von Abstammungslinien benutzten, die ihrer Ansicht nach durch die politische Eingliederung des Fondoms in den kamerunischen Staat bedroht wurde (Feldman-Savelsberg 1999). Als teilnehmende Beobachterin lebte ich von Dezember 1985 bis Dezember 1986 auf dem Palastgelände des Königs (Fons) und führte zahlreiche Unterhaltungen darüber, was es braucht und was es bedeutet, in Bangangté und als Frau der Bamiléké Mutter zu werden. Als Reaktion auf die Verwunderung meiner Gesprächspartner über die Tatsache, dass ich im fortgeschrittenen Alter von 28 noch kinderlos war, musste ich erklären, wie meine seltsamen kulturellen Ideale (z.B. vor dem Kinderkriegen eine abgeschlossene Berufsausbildung zu haben) sowie das Leben auf einem anderen Kontinent als mein Ehepartner, meinen eigenen Eintritt in die Mutterschaft verzögert haben. Ich hörte, wie Mütter abwandernde Jugendliche ermahnten: „Vergiss nicht, wo deine Nabelschnur vergraben ist!“ Das machte mich auf die Bedeutung der Emigration in lokalen Vorstellungen von reproduktiver Gefährdung aufmerksam. Archivforschung förderte zutage, dass es sich dabei um ein im letzten Jahrhundert bei den Bamiléké und Grassfieldern verbreitetes Problem handelt. Ich begleitete die Ehefrau eines Fons in den Süden Kameruns, als sie sich an die städtische Diaspora von Bangangté wandte und erhielt so die Anregung für mein nächstes Projekt in Yaoundé, der Hauptstadt und Metropole mit knapp 2,5 Millionen Einwohnern. Im Yaoundé der 1990er und frühen 2000er wurde der Umgang der Frauen mit reproduktiven Ereignissen tiefgreifend von ihren Erlebnissen als ethnische Fremde auf der Höhe der Autochthonie-Debatten beeinflusst. Die AutochthonieDebatten, auf Französisch das autochthone-allogène-Problem, waren Diskussionen darüber, ob Binnenmigranten innerhalb von Kamerun wirklich zu ihren Wohnorten oder den Orten ihrer ethnischen Herkunft gehörten, was oben schon bezüglich der Politik der Zugehörigkeit erörtert wurde. Kamerun hatte vor kurzem zu einem politischen Mehrparteiensystem gewechselt, wodurch der Diskurs
den (s. Frazer 1922, Feeley-Harnik 1985). Die Begriffe zur Benennung dieser Herrscher sind je nach Lokalsprache unterschiedlich (z. B. mfən in Bangangté oder fo in Bafoussam). Der Einfachheit halber verwende ich, in Anlehnung an den üblichen Gebrauch bei englischsprachigen Bewohnern und im öffentlichen Diskurs auch zunehmend bei den französischsprachigen, den Begriff Fon für die Herrscher und Fondom für die Gemeinschaft.
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aus Kameruns kolonialer Vergangenheit und der Kampf um Unabhängigkeit, der Staatspolitik sowohl mit Reproduktion als auch Zugehörigkeit verknüpft, neu entfacht worden waren. Als ehemalige deutsche Kolonie wurde Kamerun während des Ersten Weltkriegs zwischen Großbritannien und Frankreich in einem Völkerbundmandat aufgeteilt, erlangte dann 1960 die Unabhängigkeit und wurde 1961 zu einer bilingualen Bundesrepublik. Die Loyalität der frankophonen Bamiléké (30% der kamerunischen Bevölkerung) wird infrage gestellt, seit sie sich zur Zeit der Unabhängigkeit (1956-1973) dem bewaffneten Widerstand gegen die machthabende Partei angeschlossen haben.
Abbildung 1.2: Schlagzeile der kamerunischen Zeitung Le Patriote Nr. 391, Juni 4-10 (2001), S. 1. „Il n’y a pas de problème Bamiléké au Cameroun“ („Es gibt kein BamilékéProblem in Kamerun“) – ein ironischer Hinweis auf die umstrittene Natur von Zugehörigkeit der in Kamerun lebenden Bamiléké. Foto: Pamela Feldman-Savelsberg
Diese Vergangenheit der Beziehung der Bamiléké zur politischen Opposition fällt mit ihrem Ruf für unternehmerischen Ehrgeiz und hohe Fruchtbarkeit zusammen und schafft so ethnische Stereotypen hinsichtlich des sogenannten „Bamiléké-Problems“ (Geschiere und Nyamnjoh 2000; Geschiere 2007; Kago
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Lele 1995).8 Anglophone Kameruner (20% der kamerunischen Bevölkerung) haben einen ähnlichen Ruf für unternehmerischen Ehrgeiz sowie eine Geschichte der Arbeitsmigration und einheimischen Diasporabildung als come no goes (ein Pidgin-Ausdruck zur Beschreibung von Arbeitsmigranten, die kommen um zu bleiben, anstatt in ihre Heimat zurückzukehren). Doch Anglophone haben ihr eigenes „Anglophonen-Problem“ (Konings und Nyamnjoh 2003) und sehen sich politischer und linguistischer Marginalisierung in einem frankophon dominierten Land gegenüber. Während des Übergangs zur Mehrparteienregierung in den 1990ern wurde Kameruns größte Oppositionspartei im englischsprachigen Teil der größeren Graslandregion ins Leben gerufen. Der kamerunische öffentliche Diskurs verbindet sowohl den Nordwesten (anglophones Grasland) als auch den Westen (Bamiléké) mit Oppositionspolitik; angesichts offizieller Notstände, öffentlicher Gewalt und der fortwährenden Anzweiflung ihrer Loyalität in der nationalen Arena sahen sich viele Bamiléké und Anglophone gezwungen, erst in den Städten und dann in Übersee Zuflucht zu suchen. Als ich in Yaoundé, der Landeshauptstadt, meine Forschung (1997-2002) zur Aushandlung reproduktiver Praktiken durch Bamiléké-Frauen im Kontext ihrer Hometown Associations durchführte, war durch eine Verfassungsänderung gerade ein Mehrparteiensystem eingeführt worden. Die neuen politischen Parteien wurden schnell mit bestimmten ethnischen Gruppen und Regionen in Verbindung gebracht. In diesem Zusammenhang förderte Interessenspolitik eine ethnische Bevorzugung bei der Bereitstellung von Dienstleistungen des kamerunischen Staats – zum Nachteil der Bamiléké und Anglophonen unter den Bürgern. Seitdem haben sich ethnische Spaltungen in Kamerun mit den wiederholten Wirtschaftskrisen nur verschärft. Diskriminierung, hohe Arbeitslosigkeit sowie hohe Gebühren und Bestechungsgelder erschweren den Zugang zur Gesundheitsversorgung. Die Jugend der Anglophonen und Bamiléké beschwert sich, dass Korruption und fehlende Zukunftsaussichten – was Jua als den Verlust von Übergangswegen bezeichnet (2003) – die Gründung und Versorgung von Familien behindern. Gegenwärtige materielle Bedingungen treffen auf emotionsgeladene kollektive Erinnerungen. Die Bevölkerung der Bamiléké-Region und des anglophonen Graslands erinnert sich an die Gewalt im Zuge der Unabhängigkeit, wenn sie durch Gerüchte über Technologien wie Sterilisierungsimpfungen
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Einige Bamiléké reagieren auf öffentliche Warnungen bezüglich der mutmaßlichen Gefahr einer Herrschaft der Bamiléké, indem sie sich selbst als Igbo oder Juden von Kamerun bezeichnen und metaphorische Brücken zu anderen Orten, Zeiten und Personen schlagen, die als tödlich problematisch galten.
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Staatskomplotte gegen ihre Fertilität befürchtet (Feldman-Savelsberg, Ndonko und Schmidt-Ehry 2000).9 Ich habe festgestellt, dass die Hometown Associations der Bamiléké-Frauen ihnen das soziale Kapital boten, um angesichts der dreifachen Bürde von reproduktiven Herausforderungen, ethnischer Diskriminierung und – in vielen Fällen – städtischer Armut zurechtzukommen (se débrouiller) (Feldman-Savelsberg und Ndonko 2010). Meine Feldforschung in Yaoundé basierte auf in Bangangté geknüpften Beziehungen und kombinierte teilnehmende Beobachtung, eine zweistufige Netzwerkbefragung unter den 166 Mitgliedern der Hometown Association von sechs Bamiléké-Frauen und anschließende Tiefeninterviews mit fünfzig Frauen. Diese Forschung basierte außerdem auf gemeinsamen Erfahrungen. Viele der Frauen, mit denen ich in Yaoundé gesprochen habe, hatten Fehlgeburten, Totgeburten oder einen neonatalen Todesfall in Verbindung mit mindestens einer ihrer Schwangerschaften erlitten. Darüber hinaus hatten viele von ihnen diesen Verlust durchlebt, als entweder ihr Ehepartner oder eine andere wichtige Vertrauensperson sich im Ausland befand, um Ausbildung oder Karriere voranzutreiben. Nur ein paar Jahre früher hatten mein Mann und ich unsere erste Tochter im Alter von gerade einmal fünf Tagen verloren. Als uns diese Tragödie traf, hatten wir gerade einen internationalen Umzug hinter uns und richteten uns in einer neuen Stadt Tausende von Meilen entfernt von allen Verwandten oder alten Freunden ein, die einem Trost hätten spenden können. Als meine Interviewpartner mich nach meinen eigenen Erfahrungen als Mutter fragten, konnten wir trotz unserer unterschiedlichen Hintergründe leicht die Freuden und Sorgen transnationaler Mutterschaft nachempfinden. Ihre einfühlsame Neugier erstreckte sich auch auf den Umstand, dass mich während meiner Feldforschung ein ganzer Kontinent von meinen kleinen Kindern trennte. Dass mein Ehemann während meiner Abwesenheit mit den Kindern in seine Heimat Deutschland reiste und dort seine Verwandten besuchte, erschien meinen kamerunischen Freunden in Yaoundé wie ein vertrautes und bedeutendes Muster. Durch diese persönlichen Gespräche und meine Sammlung reproduktiver Geschichten aus Yaoundés aufkommender Mittelschicht entdeckte ich, dass Zeiträume transnationaler Migration für Bamiléké-Frauen in Kamerun eine zunehmend wichtige Rolle bei der Familiengründung spielten. Da meine Gesprächspartner der Meinung waren, dass die Diskriminierung der Bamiléké den Weg zum Wohlstand der Mittelschicht versperrte, verbrachten Ehemann und Ehefrau der aufkommenden gebildeten
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Von der kolonialen bis zur postkolonialen Ära haben Bamiléké den Staat als Bedrohung für ihre Reproduktion angesehen (Feldman-Savelsberg 1999; Terretta 2007).
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Elite ihre Zeit damit, Chancen im Ausland zu verfolgen und ließen oft den Ehepartner zu Hause zurück, um sich um die junge Familie zu kümmern. Ich war neugierig, ob sich die manchmal schmerzlichen kulturellen und politischen Spaltungen, die ich vorher in Kamerun beobachtet hatte, in der transnationalen Diaspora wiederholten und wie sie sich auf Familien auswirken könnten. Aus diesem Anlass verbrachte ich zwischen 2010 und 2011 über zwölf Monate mit Feldforschung bei kamerunischen Müttern in Berlin. Ich habe mich aus mehreren Gründen für Berlin entschieden. Seit der Geschichte des Holocaust haben Debatten über ‚Rasse‘, Fremdartigkeit und Zugehörigkeit eine bedeutende Position in der deutschen Öffentlichkeitskultur eingenommen. Als kosmopolitische Hauptstadt des wiedervereinten Deutschlands ist Berlin häufig der Mittelpunkt dieser Diskussionen (Mandel 2008). Ferner hat Deutschland eine besondere Beziehung zu Kamerun. Deutschland war Kameruns erste Kolonialmacht und ist gegenwärtig durch aktive Auslandshilfe und kulturelle Präsenz in Kamerun vertreten. Deutschlands Kolonialherrschaft über Kamerun endete jedoch im Ersten Weltkrieg. In einer überraschenden Wendung der Geschichte betrachten junge Kameruner Deutschland daher als attraktives Migrationsziel, gerade weil es nicht eine der letzten beiden Kolonialmächte Kameruns ist, nämlich England oder Frankreich. Deutschlands Stellung als erfolgreichste Wirtschaftsmacht in der Eurozone macht es noch attraktiver, genauso wie – ironischerweise – seine genaue Bürokratie. Mehrere Kameruner in Berlin erzählten mir, dass die deutschen Einwanderungsbestimmungen zwar streng sind, aber auch berechenbar. Aufgrund der Schwierigkeiten bei der Universitätszulassung – vor allem bei begehrten Studiengängen und insbesondere für Bamiléké (die sich diskriminierenden Quoten gegenübersehen) und Anglophone (die mit linguistischer Diskriminierung zu kämpfen haben) – spielt das Ziel einer höheren Bildung eine große Rolle, wenn Kameruner ihre Gründe für eine Migration darlegen. Berlin hat drei angesehene Universitäten und mehrere andere Institute für weiterführende Bildung. Ein früher Migrationsweg von Kamerun zu diesen Universitäten entstand Mitte der 1980er vor der Wiedervereinigung Deutschlands, als sowohl die Bundesrepublik als auch die Deutsche Demokratische Republik gezielt Stipendien für Kameruner einführten (GTZ 2007: 7). Mit seiner fast kostenlosen Universitätsausbildung ist Berlin besonders unter der aufkommenden Mittelschicht Kameruns zu einem der beliebtesten Ziele geworden (Fleischer 2012). Viele kamerunische Migranten-Mütter kommen als Studenten nach Berlin oder schließen sich einem studierenden Ehepartner an und erhalten einen legalen Aufenthaltstitel über Gesetze zur Regelung von Familienzusammenführungen. Familienzusammenführungen und Bildungsmigration sind in der Tat die häufigsten Formen der legalen Einwanderung von Kamerun nach Deutschland. Im Jahre
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2012 wanderten etwas mehr als 2.000 Kameruner nach Deutschland ein, von denen 1.044 mit einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis gemäß dem neuen Aufenthaltsrecht kamen. Davon kamen 636 Kameruner als Studenten, 250 im Rahmen einer Familienzusammenführung, 219 als Asylbewerber und nur 53 mit Arbeitserlaubnis. Die Gesamtanzahl der 2012 in Deutschland registrierten kamerunischen Studenten betrug 6.016 und machte 27,2% aller Studenten aus SubsaharaAfrika aus (Rühl o.D.; Dick o.D.). Diese Migrationswege prägen die Zusammensetzung der kamerunischen Bevölkerung in Deutschland, die ziemlich jung, im gebärfähigen Alter und relativ gut gebildet ist sowie einen unverhältnismäßig hohen Anteil an Bamiléké und/oder Anglophonen aufweist. Kameruner kommen weiterhin in steigender Anzahl nach Deutschland, während die Einwanderung aus anderen Ländern in Subsahara-Afrika zurückgeht. In Deutschland waren 2012 16.000 Kameruner offiziell gemeldet, von denen weit über zwei Fünftel Frauen sind (Statistisches Bundesamt 2013; Schmid 2010: 147). Einige junge kamerunische Paare wandern zusammen aus, andere gehen neue Beziehungen in Deutschland ein und viele von ihnen gründen Familien; zwischen 2005 und 2012 wurden in Deutschland 8.961 kamerunische Geburten registriert. Berlin selbst hat mit 1.928 dokumentierten (und wahrscheinlich um ein Vielfaches mehr nicht dokumentierten) Migranten eine beträchtliche kamerunische Migrantenpopulation (Abb. 1.3), die sich in der 3,5 Millionen Einwohner starken Metropole geografisch zerstreut10 (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2013: 22). Im Vorfeld sowie im Anschluss an mein Jahr der Feldforschung in Berlin führte ich eine rolling ethnography (sich im Zeitverlauf wiederholende ethnographische Untersuchung) während Aufenthalten in den Sommer- und Winterferien durch. Während dieser Perioden der Feldforschung weitete ich meinen Fokus von Migranten aus Bangangté auf Migrantinnen von den französischsprachigen Bamiléké und den anglophonen Grassfieldern sowie auf deren Familien aus. Trotz ihrer unterschiedlichen Kolonialgeschichten auf der französischen und britischen Seite der heute inländischen Grenze in Kamerun haben Bamiléké und anglophone Grassfielder kulturelle und soziale Strukturen in ihren Fondoms (kleine Königreiche oder sakrale Stammesfürstentümer), eine Geschichte der Arbeitsmigration und des damit verbundenen Lebens in den südlichen Städten von Kamerun sowie die sozio-politische Marginalisierung in der aktuellen Zugehörigkeitspolitik gemein. Beide Gruppen sind unter den kamerunischen Migranten in Deutschland ungleich vertreten.
10 In den Stadtteilen Mitte (insb. Wedding), Reinickendorf und Lichtenberg bilden sich allmählich Ballungszentren kamerunischer Migranten.
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Abbildung 1.3: Karte der Verteilung der Kameruner über die 12 Bezirke Berlins. Karte: Katie Schaffer und Isaac Shapiro
In Berlin besuchte ich Treffen der Hometown Association des Dorfes, in dem ich mit meiner Feldforschung begonnen hatte. Ich führte außerdem teilnehmende Beobachtungen in Wohnungen, bei Lebensereignissen, in Kindertagesstätten, Sozialämtern und medizinischen Kliniken sowie über fünfzig Interviews mit transnationalen Kamerunern durch. Die Mehrheit der halbstrukturierten Tiefeninterviews wurde in den Wohnungen von Frauen vorgenommen, einige auch auf Fluren in der Stadtverwaltung, in einer ruhigen Ecke eines Einkaufszentrums, in einem Café, einem Gemeindezentrum und einer Arztpraxis. Ich habe hauptsächlich kamerunische Migranten-Mütter und werdende Mütter sowie ein paar Frauen mit Unfruchtbarkeitsproblemen, zwei Paare und sieben Männer interviewt. Das Alter meiner kamerunischen Interviewpartner reichte von 18 bis 43 Jahren und ihre Kinder waren Neugeborene oder bis zu fünfzehn Jahre alt.
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Da ich neugierig war, inwiefern sich die Erfahrungen kamerunischer Mütter mit dem deutschen Diskurs und der deutschen Handhabung der Familiengründung bei Migranten überschnitten, interviewte ich auch deutsche Beamte an Orten, an denen kamerunische Mütter Sozialleistungen beantragen und bürokratischen Verpflichtungen nachkommen, während sie sich und ihre Familien in Berlin einrichten. Diese Anderen waren Mitarbeiter in Familienplanungszentren, Kliniken für Nichtversicherte, Sozial- und Einwanderungsbehörden, in einem Bildungszentrum für jugendliche Migranten, einem Heim für Asylbewerber und der afrikanisch geführten, gemeinschaftsbasierten Organisation, in der ich ehrenamtlich tätig war. Diese Organisation führte unter kürzlich eingewanderten Afrikanern Beratungen und Präventionsarbeit zu AIDS durch. Meine Sprachkompetenz in Englisch, Deutsch und kamerunischem Französisch sowie die Kenntnisse in zwischenmenschlicher Etikette, die ich durch meine langjährigen Aufenthalte in Kamerun erworben hatte, halfen mir bei meiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Dolmetscherin und Begleiterin, wenn Kunden Termine bei Sozialämtern oder Kliniken hatten. Durch die ehrenamtliche Tätigkeit lernte ich Maimouna kennen, eine junge Frau die aus humanitären Gründen Asyl beantragt hatte und deren Reise durch die deutsche Bürokratie ich in Kapitel Sechs beschreiben werde. Der Migrantenstatus macht selbst rechtlich, wirtschaftlich und beruflich abgesicherte Einwanderer angreifbar und die Arbeit mit Migranten wird dadurch zu einer ethisch und zwischenmenschlich delikaten Angelegenheit. Magni – meine Forschungsassistentin, deren Bemerkung dieses Kapitel eingeleitet hat – arbeitete eng mit mir zusammen, um kamerunische Frauen mit den unterschiedlichsten Migrationserfahrungen ausfindig zu machen und bestimmte Orte zu ermitteln, an denen ich mit großer Wahrscheinlichkeit Leute treffen und beobachten konnte, wie Kameruner ihre Kinder in der Diaspora großziehen.11 Bei der Auswahl unserer Interviewpartner berücksichtigten wir verschiedene Schlüsselbereiche (darunter Ethnizität, Beruf, Bildung, Migrationshintergrund, Familienstand und -zusammensetzung sowie geografische Verteilung). Wir achteten genau auf die Aussagen unserer Befragten, dass Migrantengemeinschaften falsch dargestellt werden, weil Öffentlichkeit und Sozialwissenschaften sich nur auf
11 Die Arbeit mit Orten und ihren gatekeepers (Schlüsselpersonen) ist als ortsbezogene Erhebung (site-based sampling) bekannt, ein Verfahren, das Arcury und Quandt (1999) als besonders relevant für medizinisch-anthropologische Forschung in städtischen Gebieten betrachten. Im Gegensatz zur willkürlichen Auswahl einer repräsentativen Stichprobe wird die Auswahl von Interviewten auf Basis bestimmter, für die Studie relevanter Eigenschaften als theoretische oder zielgerichtete Erhebung bezeichnet (Oliver 2006).
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den Aspekt der Illegalität konzentrieren. Es ließ sich nicht vermeiden, dass wir dem Fluss des Vertrauens und den Freunden der Freunde unserer Gesprächspartner folgten, auch wenn die Gefahr bestand, unbeabsichtigt auf die Schneeballauswahl zurückzugreifen. Uns war bewusst, dass einzelne gatekeepers (Schlüsselpersonen) unter den Migranten sehr wahrscheinlich Personen in ähnlichen Positionen und mit ähnlichen Vorstellungen vorschlagen würden, genau wie man von institutionellen Schlüsselpersonen zu ihren Kunden und damit zu Personen in bestimmten Kategorien der Bedürftigkeit geführt wird. Doch Vertrauen (oder eher Misstrauen) innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaften und sozialen Netzwerke (siehe auch Cole 2014) war ein häufiges Thema bei meinen Gesprächspartnern und das Knüpfen von Kontakten über Freunde von Freunden somit eine notwendige Voraussetzung, um Forschung in einer diasporischen Bevölkerung durchführen zu können. Vertrauen und Misstrauen beeinträchtigten auch das Verhältnis der Frauen zu mir als Forscherin (Feldman-Savelsberg 2011). Dass ich ihnen Erfahrungen meiner eigenen Zeit der transnationalen Mutterschaft anvertraute, trug einerseits dazu bei, dass unser Austausch von Geschichten mehr auf Gegenseitigkeit beruhte und meiner Meinung nach auch ergiebiger war. Andererseits machte mein Wissen über Kamerun und seine Bewohner – manchmal auch einschließlich gemeinsamer Bekannter – es für meine Interviewpartner riskant, sich mir anzuvertrauen. Wie konnten sie sicher sein, dass ich keinen Klatsch über sie unter Freunden und Familie in Kamerun verbreiten würde? Zur Linderung ihrer Verletzlichkeit und ihres Misstrauens ließ ich meine Gesprächspartner ihre eigenen Pseudonyme für aufgezeichnete und nicht aufgezeichnete Interviews auswählen. Die drei miteinander verbundenen Projekte, die diesem Buch zugrunde liegen, verfolgen die Erlebnisse von Frauen, die an drei unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen historischen Zeiten Mutter werden und Momente erfahren, in denen Ethnizität und Zugehörigkeit stark politisierte Themen sind. Einige der Unterschiede, die wir in dörfischen, städtischen und transnationalen Umgebungen wahrnehmen, unterliegen im Lauf der Zeit Veränderungen. Die Migranten-Mütter, die ich in Berlin getroffen habe, waren während meiner Arbeit in Bangangté noch Kleinkinder und als ich meine Forschungen in Yaoundé durchführte, waren sie erst zu Jugendlichen herangewachsen. Die Zusammenführung ihrer Geschichten hilft uns zu verstehen, dass die schwierige Situation kamerunischer Frauen in ihrem Heimatland beeinflusst, wie Mütter im Umbruch Verbindungen aufbauen, die sie dabei unterstützen, in Deutschland eine Familie zu gründen und großzuziehen. Die Herstellung einer Verbindung zwischen den Leben der Mütter in Kamerun und denen der kamerunischen Mütter in Deutschland hat zudem weitere Fol-
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gen für die Entwicklung eines Dialogs zwischen anthropologischen Teilfeldern. Der Schnittpunkt zwischen Zugehörigkeitspolitik und Reproduktionspolitik wurde von Anthropologen bisher kaum untersucht (s. Kanaaneh 2002). Gleichermaßen wird die Forschung zu heimischen Diaspora (domestic oder internal diasporas, ethnische Gemeinden innerhalb nationaler Grenzen) nur selten mit transnationalen Diaspora-Studien in Verbindung gebracht (Coe 2011; Mercer, Page und Evans 2008). Im nächsten Abschnitt werde ich die Argumentation des Buches zusammenfassen und seine breitere Relevanz für Reproduktions- und Migrationsforschung umreißen.
Z USAMMENFASSUNG DER ARGUMENTATION : S CHAFFEN VON Z UGEHÖRIGKEIT DURCH K INDER Ob in ihren Hochlanddörfern im weitläufigen Grasland der Bamiléké und Anglophonen, im städtischen Yaoundé oder im kosmopolitischen Berlin, die Leben kamerunischer Mütter sind erfüllt von Bewegung. Sogar bevor sie Mütter werden, haben kamerunische Frauen unter Umständen mehr Erfahrung darin, unterwegs zu sein, als an einem Ort zu verweilen. In den folgenden Kapiteln werden Sie mehrere kamerunische Frauen kennenlernen – Individuen mit ihren eigenen idiosynkratrischen Biografien und Problemen –, deren Migrationshintergründe damit verknüpft sind, wie sie in Familien leben und diese aufbauen. Sie werden erfahren, dass Hortense als junges Mädchen umzog, damit sie in einer Familie aufwachsen konnte, die sie ernähren und zur Schule schicken konnte, um dann erneut umzuziehen, als die Chancen in der Hauptstadt verlockender schienen. Hortenses Freundin Paulette kam im Zuge ihrer Ehe, die unter keinem guten Stern stand, in das dörfische Umfeld und verließ dieses wieder. Begleiten Sie mich nach Berlin und treffen Sie Lily, die als junges Mädchen ihrer Mutter nach Frankreich folgte und sich später ihrem Ehemann in Deutschland anschloss und so kontinentale und nationale Grenzen auf der Suche nach besseren Bedingungen überquerte, unter denen sie sich einen Lebensunterhalt verdienen und eine Familie gründen konnte. Wir werden erfahren, dass sowohl Marthe als auch Rose ihre aufkeimenden Karrieren aufgegeben haben, um zu ihren Ehemännern zu stoßen und Familien in Deutschland zu gründen. Marthe ist hochgebildet und mit einem Kameruner mit einem unbefristeten Aufenthaltstitel verheiratet, während Rose nach der Scheidung von ihrem Ehemann eine Zeit des unregelmäßigen (illegalen) Aufenthalts durchstehen musste. Wir werden erfahren, dass Marthe und Rose sich infolgedessen vollkommen unterschiedlichen Folgen für ihre Familiengründung, den Anschluss an kamerunische diasporische Netzwerke und die
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Integration in deutsche Rechtskategorien gegenübersahen. Wir werden außerdem Bih kennenlernen, die mir sagte: „Oh, I have big dreams, but the problem is how to accomplish it. Everyone dreams, right?“ Als Waise und akademisch begabt, wanderte Bih mit einem Stipendium nach Berlin aus, um mit ihrem Ehemann wiedervereint zu sein, der bald sein Studium in Deutschland abschließen sollte. Als kultivierte Kosmopolitin, die die Traditionen ihres Heimatlandes wertschätzt, führte Bihs Streben nach einer Geburt „the right way“, mit der Unterstützung durch erfahrene weibliche Verwandte, sie über den Ozean nach Nordamerika. Dort verbrachte sie Zeit mit ihrer älteren Schwester und Schwägerin, die selbst Teil einer wachsenden kamerunischen Diaspora sind. Paradoxerweise gefährdet genau der Kurs, den Frauen einschlagen, um Reproduktion und Zugehörigkeit durch Reproduktion zu ermöglichen, auch ihre Zugehörigkeit und bringt neue Änderungen mit sich. Obwohl kamerunische Frauen lange versucht haben, ihre Zugehörigkeit durch Babys zu begründen, erschwert ihre Migration nach Deutschland diesen Prozess. Einerseits ermöglicht es die Migration diesen jungen Frauen, „novel orientations toward their social worlds“ (Cole 2010: xi) im Rahmen ihres Übergangs zur Mutterschaft anzunehmen. Andererseits ist es schwer, liebevolle Beziehungen über große Entfernungen aufrechtzuerhalten, zu lernen, wem man in einer diasporischen Gemeinschaft trauen kann oder eine schwindelerregende Anzahl an Vorschriften im Einwanderungsland einzuhalten. Migration macht es auch komplizierter, einen Status (z.B. Staatsbürgerschaft) und Gefühle (z.B. tröstliche Akzeptanz) aufrechtzuerhalten, die Zugehörigkeit bedingen. Von der Suche nach einem Ehemann über die verschiedenen Phasen von Geburt, Säuglingspflege und Erziehung von Schulkindern schmieden kamerunische Mütter Verbindungen mit Verwandten, anderen Migranten und deutschen institutionellen Akteuren. Diese Verbindungen helfen Müttern bei der Bewältigung von Schwierigkeiten rund um die Reproduktion. Gleichzeitig stärken diese verflochtenen Beziehungen die Zugehörigkeit der Mütter und lösen die Probleme, die das Muttersein hier so schwierig gestalten. Frauen pflegen diese Verbindungen mit Bedacht, um sie an ihre sich ändernden Umstände als junge Mütter innerhalb der kamerunischen Diaspora anzupassen. Sie versuchen zu kontrollieren, welche Art von Informationen, Gütern, Geld und Emotionen zwischen ihnen und den drei verschiedenen Gruppen an Akteuren ausgetauscht werden: Verwandte, die entweder in Kamerun zurückbleiben oder an anderen Migrationszielen verstreut sind; andere Migranten, die in Hometown Associations organisiert sind; und der deutschen Staat und seine humanitären Akteure. Im restlichen Teil dieses Buches werden wir sehen, dass diese drei Interaktionsebenen sich gegenseitig beeinflussen können, dass jede eine andere grundle-
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gende Logik und einen bestimmten Satz im Umlauf befindlicher Elemente hat. Eine Untersuchung der Beschaffenheit und des Inhalts verzögerter Gegenseitigkeit bei emotionalen Schaltkreisen mit Verwandten zeigt uns, das sich ein generationenübergreifender Austausch im Laufe der Zeit wandelt. Wir werden zum Beispiel Eveline kennenlernen, die vorübergehend den Kontakt zu ihrer Familie verlor, während sie in Deutschland Asyl beantragte. Sobald Eveline den Flüchtlingsstatus erhalten hatte, konnte sie die gekappte Verbindung zu ihrer Mutter wieder aufnehmen. Doch Eveline konnte es sich immer noch nicht leisten Geschenke oder Geld nach Kamerun zu schicken; stattdessen unterstützte Evelines Mutter ihre ausgewanderte Tochter und ihren Enkelsohn, indem sie kleine Pakete schickt „especially when she sees someone who is coming [nach Deutschland]“, Geschenke, die Liebe und Zusammenhalt ausdrücken. Evelines Mutter geht davon aus, dass sich diese Richtung des Austauschs über den emotionalen Schaltkreis im Laufe der Zeit umkehren wird, sobald ihre Tochter in Deutschland richtig Fuß gefasst hat. Eveline sehnt sich nach dem Tag, an dem sie ihrer Mutter Geld, Konsumgüter und Fürsorge zukommen lassen kann. „And me“, meint sie, „I donʼt send her much, because Iʼm not working yet, itʼs a little hard.“ Die Änderungen des Inhalts, der Richtung und der emotionalen Wertigkeit dieses Austauschs zu beobachten, lehrt uns nicht nur etwas über kamerunische Migranten in Berlin. Diese Beobachtungen umfassen auch weiterführende Lektionen darüber, wie der „developmental cycle of domestic groups“ (Entwicklungszyklus) (Goody 1958) und die historischen wirtschaftspolitischen Zusammenhänge emotionaler Schaltkreise „global care chains“ (globale Pflegeketten) (Hochschild 2000; Parreñas 2000) unter transnationalen Migranten prägen. In Einklang mit aufkommender Forschung zum Gemeinschaftsleben unter afrikanischen Migranten in Europa (Cole 2014; Mercer, Page und Evans 2008) werden wir feststellen, dass das Gemeinschaftsleben von Migranten den kamerunischen Einwanderern in Berlin zwei Wege vorgibt. Jahresendfeiern von Migrantenverbänden und Zeremonien zu wichtigen Lebensereignissen, wie Feiern zur Einführung eines neuen Babys in die Gemeinschaft (siehe auch DʼAlisera 1998), erzeugen Gefühle angenehmer Geselligkeit, wenn Menschen Rezepte aus der Heimat und freundschaftliches Geplänkel austauschen. Doch nicht jeder verbale Austausch ist freundschaftlich. Die Zugehörigkeit zu Verbänden und damit das Recht zur Teilhabe an dem, was ein Interviewter als „islands of home“ bezeichnet, wird durch Satzungen bezüglich Abstammung, Gebühren und regelmäßiger Anwesenheit bei monatlichen Treffen geregelt. Diejenigen, die diese Regeln nicht befolgen oder nicht befolgen können, werden zum Gegenstand öffentlicher Diskussion. Gleichermaßen können auch Eltern, deren Kinder zu deutsch werden, in die Situation kommen, dass andere Migranten ihre Erzie-
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hungsmethoden hinterfragen. Wenn kamerunische Mütter die Gesellschaft anderer Migranten aus ihrer Heimat suchen, haben sie gleichzeitig Angst vor Klatsch und sogar davor, bei deutschen Behörden verraten zu werden. Diese komplexe Beschaffenheit emotionaler Schaltkreise im Gesellschaftsleben kamerunischer Migranten dient als abschreckendes Beispiel für die Verklärung der Gemeinschaft, die Aufrechterhaltung traditioneller Rechtsformen in einem neuen Umfeld (Kohlhagen 2006b; Spittler 1980) und den möglichen Beitrag von Hometown Associations zur wirtschaftlichen Entwicklung (Beloe o.D.; Mercer, Page und Evans 2008: 49-54). Die Geschichten, die uns kamerunische Mütter über Begegnungen mit anderen Migranten und deren Vermeidung erzählen, führen uns nicht zu einem unumstößlich schlechten Bild der Abneigung (Ferguson 2006: 192-193), sondern eher zu einer differenzierten Sicht der Formen und Konsequenzen des Gemeinschaftslebens afrikanischer Migranten. Sowohl Familien- als auch Gemeinschaftsleben spielen sich im Schatten des Staates ab und die Erzählungen kamerunischer Mütter über das Großziehen von Familien in Berlin offenbaren die formalistische Logik ihrer emotionalen Schaltkreise mit dem deutschen Staat und humanitären Akteuren. Wie es auch bei anderen Migrantengruppen in anderen europäischen und nordamerikanischen Ländern der Fall ist, setzen deutsche Bürokraten Normen durch, die kamerunische Mütter in die Kategorien Staatsbürger/Nicht-Staatsbürger, legal/illegal, unabhängig oder bedürftig einordnen. Kamerunische Frauen lernen, sich selbst in Kategorien der „Verdientheit“ einzufügen (Fassin 2011; Ticktin 2011). Sie zahlen ihre Steuern, bringen Kinder mit der richtigen Art von Staatsbürger oder einem Vater mit unbefristetem Aufenthaltstitel zur Welt und erfüllen die deutschen Normen guter Kindererziehung. Einige nehmen eine bedürftige oder angreifbare Rolle ein, um sich einen vorteilhafteren Einwanderungsstatus in Verbindung mit dem Recht zu arbeiten, dem Anspruch auf Sozialleistungen und Zugang zu guter medizinischer Versorgung zu sichern. Andere lehnen die Kategorisierung als bedürftig ab oder scheitern daran, die Entscheidungsbefugten von ihrer Bedürftigkeit zu überzeugen. Es können auch Tragödien eintreten, zum Beispiel wenn eine Frau das Sorgerecht für ihr Kind verliert oder abgeschoben wird. Doch der bedrohliche Schatten des Staats kann sich wie in Fannys Fall auch in einen schützenden Schirm verwandeln, als ein Frauenhaus die junge Kamerunerin vor ihrem gewalttätigen Ehemann geschützt und ihre Abschiebung verhindert hat. Weniger dramatisch, aber von größerer Bedeutung für viel mehr Migrantenfamilien ist die weitreichende Verbreitung der staatlich vorgeschriebenen, kostengünstigen und qualitativ hochwertigen Kinderbetreuung in Berlin, die es arbeitenden Müttern ermöglicht, ihre Kinder bei sich zu behalten, anstatt sie von ärmeren Verwandten in Afrika aufziehen zu lassen (siehe auch Coe 2013). Diese
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Beobachtungen, die auf Besonderheiten kamerunischer Mütter in Berlin gründen, haben weitreichendere Folgen für das Verständnis der Politiken, die Migrantenfamilien in der Europäischen Union betreffen. In Berlin hat es die Einführung einiger politischer Richtlinien (z.B. Regelungen dazu, wer bei Familienzusammenführungen als Familienmitglied zählt) kamerunischen Müttern erschwert, einen ergiebigen Austausch mit Verwandten zu pflegen – insbesondere die direkte Fürsorge in Momenten mit großer reproduktiver Bedeutung – und somit ihre Kinder auf die Art und Weise zu erziehen und zu sozialisieren, die sie als angemessen betrachten. Die Umsetzung anderer Politiken hat jedoch zu einem dichten Netzwerk von Sozialleistungen geführt, das es Migranten-Müttern ermöglicht, die Schule zu besuchen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ihre Kinder in Berlin großzuziehen. Da die Kinder bei ihren Müttern bleiben, werden sie zu entscheidenden Akteuren bei der gesellschaftlichen Integration ihrer Mütter im Anschluss an die Einwanderung nach Deutschland. Kinder können bei unterschiedlichen Typen von Akteuren Fürsorge und Interesse auslösen und so einen Austausch anregen, der über emotionale Schaltkreise stattfindet. Die Bedürfnisse von Kleinkindern und der Status, den sie ihren Müttern verleihen, kann manchmal die Blockaden durch Entfernung, Misstrauen und Gesetz durchbrechen, die ansonsten drohen, diesen Austausch zu unterbrechen. Kamerunische Mütter in Berlin benutzen ihre Kinder, um diese komplexen, emotionsgeladenen Verbindungen des Austauschs zu handhaben und sich so durch die doppelte Schwierigkeit von Reproduktion und Zugehörigkeit in der Diaspora zu schlagen. Ich will jedoch unter keinen Umständen andeuten, dass der Einsatz ihrer Kinder auf diese Art eine selbstsüchtige Strategie ist. Stattdessen opfern Migranten-Mütter die Gesellschaft, die soziale Unterstützung, die Behaglichkeit und Vertrautheit der Zugehörigkeit in Kamerun, um nach gesellschaftlicher Mobilität „für die Kinder“, wie sie sagen, zu streben, indem sie ihre reproduktiven Leben und Beziehungen mit der Anstrengung koordinieren „immer unterwegs zu sein“.
AUFBAU
DES
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Begleiten Sie mich also bei der Erforschung emotionaler Schaltkreise. Diese sind auf die Familien konzentriert, bilden sich in den Hometown Associations der Migranten, und sie operieren im Schatten des Staates. Wir können sie an den unterschiedlichen Orten beobachten, die Migranten-Mütter durchlaufen und an denen sie ihre Zelte aufschlagen wollen. Und solche Beobachtung hilft uns zu verstehen, wie kamerunische Frauen mit Wurzeln im englisch- und französischspra-
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chigen Grasland sich das zukünftige Leben und ihre Familie vorstellen, wie sie ortsspezifische reproduktive Unsicherheiten durch Hilfesuche vor Ort sowie durch Migration bewältigen und wie sie entlang ihres Weges Netzwerkverbindungen neu knüpfen und immer auch wieder kappen. Wir werden kamerunische Frauen kennenlernen, die als Individuen mit einzigartigen Biografien, Problemen und Strategien auftreten, um Familien zu gründen und Kinder großzuziehen. Sie erzählen einander (und mir) Geschichten und entwickeln so kulturelle Repertoires (Coe 2013; Swidler 1986), ihre Einstellung zum Gesetz und ihre Vorstellungen zur Zugehörigkeit. Direkte Zitate aus Interviews und teilnehmender Beobachtung, die hier in Kursivschrift gedruckt sind, bieten uns einen Einblick in ihre Lebens- und Ausdrucksweisen. Jedes der folgenden Kapitel beleuchtet unterschiedliche Aspekte affektiver Schaltkreise, die Migrantenmütter durch und für ihre Kinder einrichten, um die sich ihnen in den Weg stellenden Herausforderungen zu bewältigen. Kapitel Zwei, „Kamerunische Herausforderungen“, zeigt, wie die Zugehörigkeit, Reproduktion, Verbindung und Migration und damit einhergehende Herausforderungen seit langer Zeit Migration innerhalb und jenseits der Grenzen Kameruns motivieren. Aufbauend auf Konzepten von Horizont, Widerspruch und Erwartung (Johnson-Hanks 2006; Graw und Schielke 2012) schildert dieses Kapitel, wie Frauen für sich und ihre Kinder „Emigrierbarkeit“ kultivieren, warum sie emigrieren und warum sie es in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts tun. Kapitel Drei und Vier erkunden den wechselhaften Charakter des Aufbaus verwandtschaftsbasierter affektiver Schaltkreise durch Migrantinnen im Laufe ihrer reproduktiven Lebensabschnitte und ihrer Mutterschaft. Kapitel Drei, „Die Gründung kamerunischer Familien in Berlin“, rückt den Prozess, in dem Mütter durch Eheschließung und Geburten soziale Verbindungen und damit Zugehörigkeit schaffen, in den Mittelpunkt. Kapitel Vier, „Kinder kamerunischer Familien in Berlin“, behandelt die Bemühungen von Müttern, soziale Beziehungen für ihre Kinder aufzubauen, sie gleichzeitig in Netzwerke sozialer Beziehungen einzubetten und kulturelle Einstellungen und Identitäten zu generieren. Kapitel Fünf, „Zugehörigkeit und gesellschaftliches Engagement“ berichtet, wie affektive Schaltkreise durch Migrantenvereine initiiert werden, wie sie soziale Verbindungen innerhalb der Diaspora vertiefen, dabei aber nicht unbedingt Vertrauen und Intimität generieren. Es erkundet Potenziale und Behinderungen zivilgesellschaftlichen Engagements durch die Beobachtung mehrerer Szenen: ein Routinetreffen eines Vereins, eine Jahresparty, eine Willkommensfeier für ein neugeborenes Kind – eine Veranstaltung, durch die Kindern ihre Kultur vermittelt werden soll – und die Trauerfeiern für einen verstorbenen kamerunischen Großvater. Kapitel Sechs, „Im Schatten des Staates“, verknüpft die Themen dieses Buches.
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Es vermittelt, wie es sich anfühlt, ein Ausländer zu sein. Es zeigt, dass Mütter nach ihrem Zuzug nach Berlin Herausforderungen reproduktiver Unsicherheit und Probleme der Zugehörigkeit zumindest teilweise bewältigen – aber manchmal auch replizieren. Sie tun dies durch den Aufbau von Netzwerken und die Mitteilung von Orientierungen gegenüber der Rechtskultur des neuen Landes. Ein kurzes Fazit führt noch einmal durch das Buch und bietet eine Zusammenfassung der Ergebnisse.
Kapitel Zwei: Kamerunische Herausforderungen „Then we were many, as many as the blades of grass that now grow in the royal compound.“ (CHEʼELOU, BANGANGTÉ, 1986)
Die Sonne strahlte auf uns herab, als Cheʼelou und ich an einem Tag im Jahr 1986 zusammen auf einem kleinen, grasbewachsenen Hügel saßen. Ich war eine junge amerikanische Anthropologin, hatte noch kein Kind zur Welt gebracht und stellte Forschungen darüber an, wie Frauen ihren Ängsten im Hinblick auf sozialen und politischen Wandel durch Redensarten, speziell Beschwerden über Unfruchtbarkeit, Ausdruck verliehen. Cheʼelou war eine der vielen Frauen des Fon (Königs) von Bangangté, einem bedeutenden Stammesfürstentum der Bamiléké in der französischsprachigen Hochlandregion der Republik Kamerun. Cheʼelou war eine vitale Frau Mitte achtzig ohne Kinder und war die Kinderfrau des derzeitigen Fon. Cheʼelou wurde unter den anderen Ehefrauen des Fon als intelligente und tüchtige Landwirtin respektiert, die mit vielen Weisheiten bezüglich der Bamiléké-Traditionen aufwarten konnte und die wirkungsvollsten Methoden zur Beilegung persönlicher Streitigkeiten kannte. Cheʼelou war außerdem meine adoptierte Großmutter, oder besser gesagt, sie hatte großzügigerweise mich als Enkelin adoptiert. Cheʼelou hatte mich durch Worte und Beispiele unterrichtet und mich getadelt, wenn ich Fragen über Dinge stellte, die für sie offensichtlich waren, aber häufig saßen wir einfach nur beieinander und genossen die Anwesenheit der anderen. An diesem traurigen Oktobertag sahen wir zu, wie einige der anderen jüngeren Ehefrauen des Fon langsam um ein frisches Grab tanzten und das Trauerlied O ne na ya, mama (Wohin gehst du, Mama?) anstimmten. Früher in dieser Wo-
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che waren drei ältere Ehefrauen des Fon verstorben, ein tragisches Aufeinandertreffen von hohem Alter und unzureichender Gesundheitsversorgung. (Abb. 2.1) Nach der dreitägigen öffentlichen Trauer für die anderen Ehefrauen war Cheʼelou betrübt und erschöpft. Während sie ihren Bambusstab umklammerte – das Zeichen ihres Ehrenstatus als Frau nach den Wechseljahren – beklagte Cheʼelou leise nicht nur das Hinscheiden einer geschätzten Freundin, sondern auch das Ende des lebhafteren Palastlebens ihrer frühen Kindheit.
Abbildung 2.1: Bangangté 1986. Che’elou, eine ältere Frau des Fon von Bangangté, sitzt auf einem Grashügel, während sie das Begräbnis einer Mitehefrau beobachtet. Ihre Klage „Wir waren viele, so viele wie die Grashalme die nun auf dem königlichen Palastgelände wachsen“ ist ein Kommentar zu der Notlage von Zugehörigkeit, Reproduktion, Verbindung und Migration, der die Bamiléké und andere Grassfielder in Kamerun ausgesetzt sind. Foto: Pamela Feldman-Savelsberg
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Als sie kurz nach der Thronbesteigung von König (Fon) Njiké II. 1912 geheiratet hatte, erlebte Cheʼelou das Palastgelände als lebendigen und gut organisierten Ort, an dem knapp 150 Königsfrauen, deren Kinder, Würdenträger und Diener des Königs lebten. Als bewohnter, zivilisierter Ort wurde das Palastgelände immer frei von Gras gehalten und verfügte über gestampfte Erdwege und Höfe. Das Palastgelände der Gegenwart war erheblich spärlicher bevölkert und die anderen dreizehn Ehefrauen neben Cheʼelou waren weit weniger penibel als sie, wenn es um das Unkrautjäten auf den Höfen ging. Bei nur 16 Erwachsenen (einschließlich mir, der ansässigen Anthropologin) und 23 Kindern, die auf dem Palastgelände lebten, waren viele der Orte, die in Cheʼelous Jugend noch bewohnt gewesen waren, inzwischen mit Savannengras überwuchert oder verwandelten sich wieder in einen Wald. Cheʼelous nostalgische Klage „Then we were many, as many as the blades of grass that now grow in the royal compound“ war die schmerzliche Andeutung der Gefühle einer älteren Frau bezüglich des physischen und sozialen Niedergangs des Palastlebens und Bangangtés im Allgemeinen. Cheʼelou beschwerte sich über die Entvölkerung des Palasts und andere Bamiléké teilten Cheʼelous Besorgnis hinsichtlich der abnehmenden Fruchtbarkeit, der Landflucht und der Schwierigkeiten bei der Reproduktion der Lebensart der Bamiléké in Anbetracht der wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen, denen sich Kamerun noch immer gegenübersah (Feldman-Savelsberg 1999: 175-177). Junge Leute beklagten ihrerseits den Mangel an Möglichkeiten auf dem Land, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, das nötige Geld für Hochzeit und Familiengründung zu beschaffen und ihre neu gewonnenen Ausbildungen nutzbringend einzusetzen. Wenn sie diese Chancen andernorts in Kamerun suchten, wurden junge Bamiléké und ihre englischsprachigen Landsmänner aus dem Grasland mit Diskriminierung als ethnisch Fremde konfrontiert. Cheʼelous Klagen erinnern uns daran, dass Familiengründung und Zugehörigkeit für Frauen, die von den Bamiléké stammen oder aus dem Grasland kommen, schon seit langem eine Herausforderung sind und die Migration innerhalb Kameruns und darüber hinaus ein Bestandteil dieser Herausforderung ist.
H ERAUSFORDERUNGEN DER Z UGEHÖRIGKEIT : HISTORISCHE UND POLITISCHE W URZELN Zu dem Zeitpunkt, an dem Cheʼelou 1912 Fon Njike II. heiratete, war Kamerun seit fast dreißig Jahren eine deutsche Kolonie. Weder Njikes royale Gefolgsleute noch die lokalen Kolonialbeamten sahen den bevorstehenden Ausbruch des Ers-
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ten Weltkriegs oder den baldigen Wechsel der Kolonialherrschaft in Kamerun voraus – Ereignisse, die eine langjährige Geschichte dramatischer Umbrüche fortsetzen sollten. Noch vor der Kolonialzeit wurde die Region, die heute die Republik Kamerun bildet, von über zweitausend Jahren afrikanischer Völkerbewegungen geprägt. An der Stelle, an der die westafrikanische Küste eine scharfe Biegung macht, also an der geografischen und kulturellen Grenze zwischen West- und Zentralafrika, sind zahlreiche Völker durch das spätere Kamerun gezogen und haben sich manchmal auch dort niedergelassen. Infolgedessen kann Kamerun eine reichhaltige kulturelle Vielfalt sowie eine langjährige Geschichte wandernder ethnischer Grenzen und Loyalitäten vorweisen. Im Rahmen dieses kulturell vielfältigen Kontexts blickt das Hochland mit seinem Graslandplateau auf eine besonders dynamische Geschichte zurück. Das zwischen trockener Savanne und Sahel liegende und vom (heutzutage) überwiegend muslimischen Norden und Regenwald bis zum (heutzutage) überwiegend christlichen Süden reichende Kameruner Grasland erstreckt sich über zwei Provinzen des heutigen Kameruns – die englischsprachige Nordwest-Region (auch bezeichnet als „westliches Grasland“) und die französischsprachige Westregion (auch „östliches Grasland“ genannt). Das Grasland ist eines der am dichtesten besiedelten Gebiete Kameruns. Laut Schätzungen von Kameruns Nationalem Statistikamt lag die Gesamtbevölkerung Kameruns 2013 bei 21.143.237, während die durchschnittliche Bevölkerungsdichte bei 45,4 Personen pro Quadratkilometer lag. Im Gegensatz dazu beläuft sich die durchschnittliche Bevölkerungsdichte in den beiden Provinzen der Graslandregion auf 134,28/km2 (Westregion) und 109,9/km2 (Nordwest-Region) (Republic of Cameroon 2013: 86-87). Aus dem Grasland stammende Menschen machen – in Ballungsgebieten sowie in der ländlichen Heimat – rund 40% der kamerunischen Gesamtbevölkerung aus. Bangangté, wo Cheʼelou die meiste Zeit ihres Lebens verbracht hat, ist eines von mehreren hundert Bamiléké-Stammesfürstentümern im östlichen Grasland. Die ersten Bamiléké-Königreiche (auch oberste Stammesfürstentümer oder Fondoms genannt) kamen während des 16. Jahrhunderts auf, als Völkerwanderungen in der nördlichen Savannenregion von Adamaoua die Prä-Tikar Ndobo auf das Bamiléké-Plateau verdrängten (Notué und Perrois 1984: 10-14). Gründerlegenden vieler Bamiléké-Dynastien über den „Jägerkönig“ spiegeln einen historischen Prozess wider, bei dem Fremde eine Mischung aus Eroberung, List und der Schließung neuer Bündnisse einsetzten, um die Herrscher ursprünglich autochthoner Völker zu werden. Erbfolgestreitigkeiten, die Suche nach neuen Jagd- und Anbaugebieten sowie Wanderungen von Flüchtlingen, die Kriegen zwischen den Königreichen entkommen wollten, sorgten für einen anhaltenden Wechsel der Anzahl und Grenzen von Bamiléké-Königreichen bis zum 19. Jahr-
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hundert (Feldman-Savelsberg 1999: 43-48). Infolgedessen schafft die eigentliche Beschaffenheit der Bamiléké- und ähnlicher Grasland-Entitäten (das Sultanat Bamoun und die Fondoms des westlichen Graslands) seit langem Herausforderungen für die Zugehörigkeit ihrer Bevölkerung. In persönlichen Biografien werden immer wieder Fragen der Herkunft, Grenzüberquerung und Gefolgschaft aufgeworfen. Diese Fragen der Zugehörigkeit und Loyalität waren mit dem Fernhandel mit Waren (Elfenbein, Palmöl, Holz, Eisenwerkzeuge) und Menschen (Sklaven und Leibeigene) verknüpft, der Grasland-Königreiche mit anderen afrikanischen Staaten und entstehenden europäischen Mächten verband (Warnier 1985). Den Sklavenhandel umgaben die geheimnisumwitterte Verwendung von Medizin und Täuschung, insbesondere wenn Haushaltsvorstände – vielleicht überhäuft mit Pflichten oder auf der Suche nach Reichtum und Ansehen – angeblich heimlich ihre jungen Verwandten verkauften (Argenti 2007, Warnier 1985). Solche Taten sorgten für einen wiederkehrenden Prozess großangelegter „forms of violence and mass destabilization that were originally of exogenous origin“ (Argenti 2007: 242) und wurden durch Betrügereien und Machtspielchen der lokalen Elite in kleinerem Rahmen ersetzt (Bayart 1979, 1993). Der europäische Sklavenhandel, der nach der Ankunft portugiesischer Händler an der kamerunischen Küste im Jahr 1472 seinen Anfang nahm, schaffte ein kulturelles Erbe der Angst hinsichtlich interner und externer Kräfte, die den Grasland-Königreichen und den Familien, die sie bewohnen, den Wohlstand, die Gesundheit und die Menschen entziehen. Diese Ängste fanden in einem neu aufkommenden Glauben an anthropophagische Hexerei Ausdruck, der Zombies in einer Parallelwelt propagierte, sowie in analogen Diskursen des Staates, wie zum Beispiel einem „menschenfressenden“ Hexer (Ardener 1970; Geschiere 1997, 2013; Hours 1985). In der Kolonialzeit schürten Vorschriften bezüglich Arbeiterrekrutierung und Gesundheitsversorgung diese Ängste, während sie gleichzeitig neue Formen der Zugehörigkeit begründeten. Kameruns Kolonialzeit begann am 12. Juli 1884, als Duala-Könige an der Küste einen Vertrag mit dem deutschen Kaiserreich schlossen. Bis 1890 waren deutsche Kolonialbeamte, Händler und Missionare zur bergigen Grasland-Region vorgedrungen. Dort fanden sie ein dicht besiedeltes und reich kultiviertes Gebiet vor, das von Wegen und Schildern durchzogen war, die auf aktive Handels- und diplomatische Beziehungen zwischen den Stammesfürstentümern hindeuteten (Hutter 1892; Kaberry 1952; Nkwi 1987; Tardits 1960: 66). Durch lokale Fons agierend begannen Kolonialbeamte mit der Rekrutierung von Zwangsarbeitern zum Bau von für das Kolonialprojekt so dringend benötigten Straßen, Eisenbahnstrecken und Häfen. Eingeborene Herrscher wurden mit Statussymbolen – z.B. zweistöckigen, im Kolonialstil erbauten Steinpalästen –
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und der Möglichkeit belohnt, für die Kolonialverwaltung eingetriebene Steuern abzuschöpfen. Volkszählungen legten fest, wer als Untertan welches Fürstentums oder Unterfürstentums galt und verbanden die Menschen noch enger mit einem bestimmten Ort oder einer bestimmten Gruppe als dies vorher der Fall gewesen war (Kuczynski 1939). Grassfielder gehörten in einer Form von verschachtelter, doppelter Staatsbürgerschaft gleichzeitig zu ihrem Königreich und zur Kolonialregierung. Die deutsche Kolonialzeit war nur von kurzer Dauer (Rudin 1938). Während des Ersten Weltkriegs wurde die deutsche Kolonie Kamerun zwischen 1914 und 1916 nach und nach von französischen und britischen Streitkräften eingenommen. Durch ein Mandat des Völkerbunds wurde die Kolonie zwischen Frankreich und Großbritannien aufgeteilt, wobei ungefähr 80% des Territoriums unter die französische Herrschaft fiel. Die 1920 eingerichteten Mandate von BritischKamerun und Französisch-Kamerun wurden nach dem Zweiten Weltkrieg als UN-Treuhandmandate weitergeführt (LeVine und Nye 1974). Die Grenze zwischen Französisch- und Britisch-Kamerun verlief mitten durch das Grasland und festigte dadurch eine terminologische Unterscheidung zwischen den Bamiléké (und Bamoun) im französisch besetzten östlichen Grasland und den eng mit ihm verbundenen Fondoms – für gewöhnlich als Grasland-Königreiche bezeichnet – im britisch besetzten westlichen Grasland. Diese komplexe Kolonialgeschichte hinterließ das Vermächtnis einer offiziellen Zweisprachigkeit, dualer Rechts- und Bildungssysteme und religiöser Heterogenität. Unter dem französischen und britischen Mandat wurden Bildung und Gesundheitsversorgung für die indigene Bevölkerung des Graslands weitgehend einer Reihe unterschiedlicher christlicher Missionarsgruppen überlassen (Ngongo 1982). Die Bereitstellung von Gesundheitsversorgung wurde sogar zu einem Rekrutierungswerkzeug neuer Konvertiten (Debarge 1934). Frauen und Männer ohne Erbe, die auf der Suche nach alternativen Möglichkeiten zur Selbstentfaltung waren, machten die Mehrheit der frühen Konvertiten aus (Basel Mission o.D.). Sie drückten ihr Gefühl der Zugehörigkeit zu ihren neuen religiösen Gemeinschaften durch rituelle Praktiken (Kirchenbesuche), Bekleidung (aus bedrucktem Kattun), ihre Verhaltensmuster im Hinblick auf Kommensalität und Zeitpläne (z.B. Einnahme von Mahlzeiten zu einem festen Zeitpunkt um einen Tisch herum und mit Besteck im europäischen Stil) und die Wahl der Gesundheitsversorgung (Besuch von Missionskrankenhäusern statt Wahrsagern und Kräuterkundigen) aus. Sich überlappende Nationalitäten der Kolonien und Stammesfürstentümer sowie religiöse Bekehrungen veranschaulichen die Komplexität der Zugehörigkeit, die Graslandbewohner der Kolonialzeit bewältigen mussten. Wir stellen
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fest, dass ein und dieselbe Person in mehreren Verbindungsformen anerkannt, akzeptiert und aufgenommen werden kann. Die Zugehörigkeit kann aufgezwungen sein, wie es zum Beispiel der Fall war, als Volkszähler die Graslandbewohner nötigten, sich an bestimmten Tagen an vorgesehenen Punkten zu versammeln, damit sie einem bestimmten Zuständigkeitsbereich zugeordnet werden konnten (Egerton 1938: 177-179). Zugehörigkeit kann auch durch die Befolgung des Protokolls gegenüber Mitgliedern der Königsfamilie oder das Anlegen der Kleidung eines modernen christlichen Konvertiten ausgedrückt werden. Diese Verhaltensweisen können gleichzeitig Gefühle der Verbundenheit oder Loyalität widerspiegeln und einer Person die Inanspruchnahme von Rechten ermöglichen, zum Beispiel die Teilnahme an Festen oder die Möglichkeit, das Kind auf eine Missionarsschule zu schicken. Arbeitsbeziehungen stellen eine weitere Facette der Komplexität der Zugehörigkeit im Kamerun der Kolonialära dar. Durch Zwangsarbeit (die in den französischen Gebieten erst 1946 offiziell endete) und als Reaktion auf den steigenden Bedarf an Bargeld wanderten immer mehr junge Männer in südliche Handelszentren wie Douala, Nkongsamba, Buea und Yaoundé aus (Dongmo 1981). Dort arbeiteten sie an Projekten für die koloniale Infrastruktur, auf Tee-, Palmölund Bananenplantagen, als Lkw- und Taxifahrer oder eröffneten kleine Geschäfte. Sie verdienten Bargeld, um an einer immer stärker monetarisierten Wirtschaft teilhaben zu können; sie zahlten Steuern, kauften Konsumgüter und ließen zukünftigen Schwiegereltern Geld und Geschenke – den Brautpreis – zukommen. Durch die Arbeitsmigration der Männer blieben viele der Frauen im ländlichen Grasland als Haushaltsvorstände zurück, was die Beziehungen der Frauen zu ihren angeheirateten Familien gegenüber denen zu ihren Herkunftsfamilien auf subtile Weise veränderte. Besuche von Blutsverwandten und die Übergabe von Kindern in deren Obhut waren für Frauen auf dem Land wichtige Methoden, um ihre wachsende Liste an Aufgaben zu bewältigen (Feldman-Savelsberg 1999: 57). Moralische Unterstützung, der Austausch von Essen und die Weitergabe von Kindern trugen im Rahmen der männlichen Arbeitsmigration zu den emotionalen Schaltkreisen der Frauen im ländlichen Grasland bei. Da männliche Arbeitsmigranten bei ihren Heimatbesuchen sexuell übertragbare Infektionskrankheiten an ihre Frauen und Geliebten im Grasland weitergaben (Retel-Laurentin 1974), waren Frauen auf ihre emotionalen Schaltkreise angewiesen, um Behandlungen für diese Infektionen und die daraus resultierende sekundäre Unfruchtbarkeit zu bekommen. Mit der Zeit schlossen sich immer mehr Frauen der Arbeitsmigration vom Land in die Stadt an und Familien aus dem Grasland begannen, sich in Kameruns Ballungszentren niederzulassen und diasporische Gemeinschaften zu grün-
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den. In Yaoundé kamen 1918 zum Beispiel die ersten Einwanderer der Bamiléké an (Feldman-Savelsberg und Ndonko 2010: 375). 1923 wurden Siedler der Bamiléké durch eine Wohnraumverordnung der französischen Kolonialregierung aus dem Stadtzentrum Yaoundés in die (damaligen) Randbezirke der Stadt vertrieben (Dongmo 1981: 87), was die Entstehung „städtischer Siedlungen“ förderte (Gans 1962). Diese ethnischen Enklaven ermöglichten den häufigen persönlichen Kontakt und wurden die Grundlage der sozialen Reproduktion städtischer Bamiléké. 1957, drei Jahre vor der Unabhängigkeit Kameruns, war die Migration der Bamiléké nach Yaoundé nicht länger ein rein männliches Phänomen; Geschlechterverhältnisse der Bamiléké-Migranten wiesen einen leichten Vorsprung der Frauen auf (Dongmo 1981: 93). Besuche, zirkuläre Migration, Geldsendungen und die Pflege der Nichten und Neffen vom Land hielten die Verbindung der Stadtbewohner zu ihrer ländlichen Verwandtschaft aufrecht. Die Teilnahme an Hochzeiten, Beerdigungen und Versöhnungsritualen mit Ahnen sorgte für eine weitere Festigung des anhaltenden Zugehörigkeitsgefühls der städtischen Grassfieler gegenüber ihren Familien, das sich nun zwischen ihren ländlichen Heimatorten und städtischen Außenposten erstreckte. Darüber hinaus bauten viele Stadtbewohner Häuser auf dem Land ihrer Vorfahren, die gleichzeitig Investitionen in einen möglichen Altersruhesitz und eine ländliche Wirtschaft des gesellschaftlichen Ansehens waren (den Ouden 1987; Ndjio 2009). Durch die Gründung von Hometown Associations wahren Mitglieder ‚heimischer Diaspora‘ (Mercer, Page und Evans 2008: 12) des Graslands nicht nur ihre Zugehörigkeitsgefühle gegenüber ihren Heimatstädten, sondern auch ihre Rechte und Anerkennung als Angehörige des Stammesfürstentums ihrer Herkunft. Diese engen Bande zu einem ethnischen Heimatland verkomplizieren die Art und Weise, wie die andere Menschen (v)erkennen, dass Grassfielder gleichzeitig zu den Kamerunern gehören. Kämpfe über ‚primären Patriotismus‘ (Geschiere und Gugler 1998) haben in Kamerun eine langjährige Geschichte, die über einfache Fragen der gespaltenen Loyalität zwischen partikularistischen ethnischen Identitäten und der eher allgemeinen Identifizierung als Angehöriger eines Nationalstaats hinaus geht. Über einen Zeitraum von 17 Jahren (1956-1973), der den Übergang Kameruns von einem dualen Treuhandmandat zur Unabhängigkeit (1960) und Wiedervereinigung (1961) umfasst, lieferte sich eine radikal nationalistische politische Partei einen bewaffneten Kampf mit der Kolonialregierung sowie der unmittelbar darauffolgenden postkolonialen Regierung Kameruns. Was als Arbeiterbewegung unter der 1955 gesetzlich verbotenen Union des Populations du Cameroun (Union der Völker Kameruns) begann, wandelte sich zu einem bewaffneten, antikolonialen Kampf, der von gewalttätigen staatlichen
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Vergeltungsmaßnahmen begleitet wurde. Obwohl er ursprünglich eigentlich politischer Natur war, entwickelte sich dieser Konflikt mit der Zeit immer stärker zu einer ethnischen Auseinandersetzung. Die allgemein als les troubles (die Unruhen) bezeichnete Gewalt zwischen UPC-Kämpfern (maquisards oder Guerillakämpfer) konzentrierte sich im Hochland der Bamiléké und sowohl Regierungsberichte als auch einige Wissenschaftler betitelten den Aufstand als die „Bamiléké-Rebellion“ (Joseph 1977; Terretta 2013). Durch ihre Redensarten zur reproduktiven Unsicherheit (Feldman-Savelsberg, Ndonko und Song 2005) und über die Art und Weise, wie die sie Heimat als eine Einheit der Zugehörigkeit definieren (Feldman-Savelsberg und Ndonko 2010: 382), erinnern sich Bamiléké-Frauen an das Trauma einer lange andauernden Zeit der Gewalt. Während eines Interviews 2002 in Yaoundé entsann sich Josiane einer ihrer Kindheitserinnerungen: „Jʼavais même déjà onze ans ou douze ans… que sont les maquisards qui ont détruit chez nous, à Bazou… Les maquisards, ils avaient brûlé la maison qui était en étage chez nous. Cʼétait la chefferie. Cʼétait à la chefferie, Eh. Eh!… Ma grand-mère me disait que si elle ne sʼétait pas enfuie avec tel oncle, on lʼaurait tué.“
Einerseits war dieses Ereignis Ausdruck einer Rebellion der entmündigten Jugend gegen die lokale Elite, die mutmaßlich von Kolonialmächten unterstützt wurde. Andererseits kontrollieren Bamiléké und Fons des Graslands aus lokaler, politisch-religiöser Sicht die Fruchtbarkeit ihres Territoriums und Volks. Ein Angriff auf den Palast war daher gleichzeitig auch ein Angriff auf die Fähigkeit der Frauen, Kinder zu gebären und die Nahrung anzubauen, die sie ernährt. Josianes Freundin Nanette brachte die Gewalt der 1950er und 1960er Jahre mit der erlebten Ausgrenzung der Bamiléké zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Verbindung: „Quand il y a un petit problème, on dit, chassons les bami, chassons les Bamiléké. On les chasse pour récupérer nos biens… [Les Bamiléké sont] généralement les étrangers.“ Dieses Gefühl der schmerzlichen Marginalisierung, als Fremder im eigenen Land behandelt zu werden, erreichte einen neuen Höhepunkt, als Kamerun in den 1990ern einen dramatischen politischen Wandel erlebte. Eine wirtschaftliche Rezession und Strukturanpassungsprogramme hatten seit Mitte der 1980er Jahre verheerende Auswirkungen auf das Einkommen kamerunischer Familien. Länder des Globalen Nordens kürzten ihre Auslandshilfe nach dem Ende des Kalten Kriegs. In diesem historischen Kontext forderten kamerunische Politiker – und insbesondere die Jugend – lautstark die Einführung einer Mehrparteiendemokratie. Sie organisierten eine Bewegung unter dem Namen Geisterstadt (Ghost Town oder Villes Mortes), einen General-
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streik, der länger als ein Jahr dauerte. Die Beharrlichkeit der Beteiligten half dabei, eine nationale Verfassungskonferenz und eine Gesetzesänderung im Dezember 1990 anzustoßen (Kelodjoue et al 2012). Bei den Wahlen 1991 waren nach Jahrzehnten des Einparteiensystems erstmals mehrere politische Parteien zugelassen. Die politische und wirtschaftliche Krise der 1990er verschärfte die Aufmerksamkeit für ethnische Gegensätze und die Unterscheidung zwischen Zuerstkommenden oder Leuten vom Land (autochthones) und späteren Ankömmlingen (allogènes). Diese „politics of belonging“ (Geschiere und Gugler 1998; Goheen 1996; Nyamnjoh und Rowlands 1998) kam in Zweifeln über Loyalität, in verunglimpfenden Kommentaren und offener Diskriminierung auf der Ebene organisierter politischer Parteien und Staatskunst sowie in informellen Interaktionen unter Kaufmännern und Kunden, zwischen Nachbarn und Immobilienspekulanten zum Ausdruck (Scopa 2010). In dem Vierteljahrhundert seit den Anfängen der Geisterstadt-Bewegung haben sich Kameruns unterschiedliche politische Parteien vermehrt auf die Seite bestimmter ethnischer Gruppen und/oder Regionen geschlagen. In diesem politischen Kontext sind sich Individuen ihrer Abstammung und ethnischen sowie regionalen Identitäten bewusster geworden. Manchmal lassen sie sich ihre ethnische Identität buchstäblich auf den Leib schneidern und tragen Kleidung aus bedrucktem Stoff, eine Imitation des blau-weißen Tuchs, das die Zugehörigkeit zur Königsfamilie anzeigt (Feldman-Savelsberg 2005), kombiniert mit dem Motiv einer Doppelglocke, einem Musikinstrument, das auf fast allen öffentlichen Festen im Grasland zum Einsatz kommt. Auch bei ihrer verbalen Ausdrucksweise wurden Kameruner in den 1990er und 2000er Jahren deutlicher, was die Aufrechterhaltung der Grenzen anbelangt. In Yaoundé beschwerte sich Georgine 2002 bei mir, dass die gegenseitige Unterstützung, die BamilékéFrauen einander zukommen lassen, von konkurrierenden ethnischen Gruppen als Nachweis für Tribalismus aufgefasst wird: „Les gens sʼunissent par selon les tribus. Les Bamiléké vont faire leur réunion… ce qui fait que les choses restent entre les tribus et comme bon généralement les Bamiléké sont généralement toujours et toujours mal vus… tu sens que peut-être que celui-ci est plus camerounais que moi. Sentir Bamiléké maintenant on se dit que bon au Cameroun il y en a qui sont encore plus intégrés que les autres. Une hiérarchie dans les tribus quoi.“
Der kamerunische Wissenschaftler Jacques Kago Lele behauptet, dass BamilékéMinister zögern, sich zusammen in der Öffentlichkeit zu zeigen, damit nicht der Verdacht aufkommt, dass sie sich gegen die Regierung verschwören (Kago Lele
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1995: 87-88), was gleichzeitig schrecklich verworrene Integrationsstrategien und die emotional geladene Perspektive der Ausgeschlossenen in der Politik der Zugehörigkeit offenbart (Feldman-Savelsberg und Ndonko 2010: 384). Zusammengefasst lässt sich sagen, dass kamerunische Mütter – eigentlich alle Kameruner – gleichzeitig Familien, Gemeinschaften und, als Staatsbürger, auch dem Staat der Republik Kamerun angehören. Jede dieser verschachtelten Zugehörigkeiten kann dabei zu einem Hafen sicherer Verbindungen mit wichtigen Menschen und Orten werden, also mit anderen Worten, ein Gefühl von Zuhause erzeugen. Die Zugehörigkeit zu Familien, Gemeinschaften und Ländern bringt aber auch praktische und emotionale Herausforderungen mit sich. Diese Herausforderungen der Zugehörigkeit bedingen die historischen und politischen Wurzeln der Migration kamerunischer Mütter nach Europa.
H ERAUSFORDERUNGEN DER R EPRODUKTION : M IGRATION , E HE UND M UTTERSCHAFT Im gesamten Grasland, was sowohl die französischsprachigen Bamiléké in der Westregion als auch die aus den kulturell zugehörigen obersten Stammesfürstentümern in der englischsprachigen Nordwest-Region mit einschließt, ist die Reproduktion der Frauen eng mit den Herausforderungen der Zugehörigkeit verknüpft. Viele sind der Auffassung, dass ethnisch-politische Machtkämpfe ‒ durch die Schwächung der spirituellen Autorität des Fon, die Entstehung von Eifersüchteleien und damit verbundene Hexereiangriffe, direkte körperliche Übergriffe und bewaffnete Nötigung ‒ zu physischen reproduktiven Herausforderungen wie Unfruchtbarkeit, Fehlgeburten und unzureichender Geburtshilfe beitragen. Traditionelle Regelungen hinsichtlich Landbesitz und Erbschaft schaffen eine Klasse erbloser Männer, die weiterziehen müssen, um neues Land für ihre Frauen zu finden, das sie bewirtschaften können, oder um neue Möglichkeiten zu erschließen, mit denen sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen und eine Familie ernähren können. Lokale eheliche Bräuche sind die Grundlage der Entstehung neuen Lebens auf eine gesellschaftlich und spirituell akzeptable Weise; sie wirken wie eine Zentrifugalkraft, die junge Männer und Frauen über die Grenzen ihrer Heimatdörfer hinaus trägt. Männer streben nach Land zur Bewirtschaftung und einem Brautpreis, um ihnen eine Heirat und Ansprüche auf die Kinder zu ermöglichen, die sie vielleicht zeugen. Bei der Eheschließung baut der Mann ein Haus und eine Küche für seine Braut und richtet damit die Rahmenbedingungen zur Reproduktion einer Familie um den symbolischen Kochtopf-Mutterleib ein. Zu-
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dem sind Hochzeiten in einen Prozess des fortlaufenden Austauschs eingebettet. Die Übergabe des Brautpreises, das Teilen von Essen und die Äußerung von Segenswünschen schmieden Bande zwischen den Familien des Brautpaars. Das alles kostet Geld und das Streben nach Geld zur Ermöglichung einer gesellschaftlich akzeptablen Fortpflanzung motiviert Männer zur Migration vom Land in die Stadt. Auch Frauen migrieren schon lange zwischen ländlichen Stammesfürstentümern, um im Sinne der Bräuche der Bamiléké und anderen Grassfielder auf die für sie als richtig erscheinende Weise Kinder zu bekommen. Es dürfen nur Paare heiraten, die weder über die väterliche Linie noch über die mütterliche Linie miteinander verwandt sind. Anthropologen bezeichnen diese Vorgehensweise als Abstammungs-Exogamie. Da die Ehe in den meisten Gemeinschaften des Graslands virilokal mit patrilokalen Präferenzen ist ‒ was bedeutet, dass die Frau zum Ehemann zieht und sich dort niederlässt, wo er ihr ein Haus gebaut hat (bevorzugt in der Nähe der Haushalte von Vater und Brüdern) ‒ ziehen Frauen bei der Heirat fast immer von einem Dorf oder Stammesfürstentum in ein anderes. Da Frauen außerhalb ihrer Abstammungslinie heiraten, ziehen sie manchmal ein ganzes Stück weit weg, um sich auf die richtige Weise fortzupflanzen. Sie ziehen von Dorf zu Dorf, von einem Fondom zum nächsten und seit Mitte des 20. Jahrhunderts auch in Stadtgebiete. Wenn sie zu ihrem Ehemann an einen neuen Ort ziehen, müssen Frauen häufig einem neuen Fon (König oder geistlicher Führer) die Treue schwören und eine neue Sprache lernen. Die Männer und Frauen, die durch die Beteiligung an dieser Binnenmigration die Zeugung neuen Lebens anstreben, müssen sich an ein Leben als ethnisch Fremde in ihrem eigenen Land gewöhnen. Neben der Anpassung an ein neues Klima, fremde Sprachen und Bräuche haben sie häufig auch mit Vorurteilen zu kämpfen. Binnenmigranten lernen schnell, dass es nicht nur die eine kamerunische Art gibt, um Familien großzuziehen; sie müssen hart und zielgerichtet arbeiten, damit ihre Kinder die Werte der Bamiléké und Grassfielder verinnerlichen. Um die Herausforderungen der Reproduktion nachvollziehen zu können, beginnen wir mit einem genaueren Blick auf das Verwandtschaftssystem und Familienkonzept im Gewohnheitsrecht des Graslands. Im Zentrum des Verwandtschaftssystems der Grassfielder steht die Abstammung, also die Beziehungsformen, die über die Generationen hinweg durch die Verwandtschaft zu einem gemeinsamen Vorfahren geschaffen werden. Obwohl verschiedene Königreiche im Grasland entweder die väterliche Abstammungslinie (Hurault 1962, Pradelles 1994), die mütterliche Linie (Nkwi 1976; Vubo 2005), oder eine duale Abstammung (Feldman-Savelsberg 1995) in den Vordergrund stellen, bleibt die Ab-
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stammung das Grundkonzept, das soziale Zugehörigkeit, Erbschaft, Verpflichtungen gegenüber Vorfahren und die Auswahl des Ehepartners regelt. Im Bamiléké-Königreich Bangangté werden Abstammungslinien als ntun nda bezeichnet, das Fundament des Hauses (Feldman-Savelsberg 1999: 50). Bangangté berufen sich auf die Zugehörigkeit zu zwei Abstammungslinien in unterschiedlichen sozialen Umfeldern, was Anthropologen duale Abstammung nennen. Die väterliche Linie bestimmt die Zugehörigkeit zu einem Dorf und bei männlichen Erben die Vererbung traditioneller Ehrentitel, Ländereien, Häuser und Ehefrauen. Die Abstammung mütterlicherseits bestimmt die Erbschaft moralischer und rechtlicher Verpflichtungen gegenüber Angehörigen der Abstammungslinie und bei weiblichen Erben die Vererbung von Titeln und beweglichen Sachen (z.B. Decken, Metalltöpfe und andere Haushaltsgegenstände). Von der gleichen Mutter abstammende Personen werden auch pam ntoʼ oder „Uterusgruppe“ genannt (Brain 1972: 53-59) und können in der traditionellen Rechtsprechung füreinander einstehen, darunter auch bei der Beilegung von Anklagen wegen Hexerei durch Weissagung und Giftproben. Jedes Oberhaupt einer Abstammungslinie wählt einen Erben oder eine Erbin, der oder die dann rechtlicher Vertreter ihrer Vorfahren wird, ihre Titel in traditionellen Vereinigungen, ihre Rechte und Pflichten gegenüber Angehörigen (d.h. erblosen Geschwistern und bei männlichen Erben den Witwen des Vaters) und ihre Verwahrung der Ahnenschädel übernimmt. Vorfahren greifen in das Schicksal ihrer Nachkommen ein, strafen sie mit Krankheit und Unfruchtbarkeit, wenn sie verärgert sind, oder schützen sie vor Unglück und segnen sie mit Fruchtbarkeit, wenn sie zufrieden sind. Damit ihre Vorfahren ihnen gewogen bleiben, führen Nachkommen Versöhnungsriten vor den Ahnenschädeln (tu, der Kopf) durch ‒ sie reden mit ihnen, bringen ihnen Opfer dar und schützen sie vor den Elementen. Einige Jahre nach der Beerdigung graben die Erben und Erbinnen die Schädel ihrer Vorfahren aus und bringen sie in Tongefäßen und/oder speziell errichteten Gräbern unter. Nicht-Erben müssen sich darauf verlassen, dass ihre erbenden Geschwister die Vorfahren zufriedenstellen, damit sie nicht von Krankheiten und anderen Unglücken befallen werden. Dieser Fall trat bei einer Ausgrabung ein, der ich 1986 beiwohnte. Eine der Ehefrauen des Fon hatte eine Enkelin zu ihrer Erbin ernannt. Einige Jahre nach dem Tod der königlichen Ehefrau hatten mehrere Schicksalsschläge die Familie getroffen: Ein Angehöriger hatte einen Autounfall, ein anderer fiel durch die Aufnahmeprüfung für eine Stelle im öffentlichen Dienst und eine andere Verwandte stellte fest, dass sie keine Kinder bekommen konnte. Weil die Erbin der verstorbenen Frau im Ausland war, um dort ihre Ausbildung zu machen, hatte
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eine ihrer Angehörigen mütterlicherseits ‒ eine ältere Frau ‒ vorübergehend ihre Aufgabe als Betreuerin des Schädels der verstorbenen Königin übernommen. Zuerst wurde ein Wahrsager bestellt, um die genaue Lage des Grabs in Erfahrung zu bringen. Anschließend kam die matrilineale Verwandte der Erbin mit einigen Helfern, um eine Grube zu graben und nach dem Schädel der toten Königin zu suchen. Sobald sie den Schädel gefunden hatten, befreite sie ihn vorsichtig aus der roten Lateriterde. Die Frau wandte sich mit normaler, ruhiger Stimme an den Schädel und erklärte ihm, warum sie anstelle der Erbin gekommen war. Sie versprach, den Schädel vor dem kalten Regen und der heißen Sonne zu schützen und ihn mit Opfergaben der neuen Ernte zu füttern. Sie bat den Schädel, die Familie in Frieden zu lassen und sie vor allen zukünftigen Unglücken zu schützen. Schließlich legte sie den Schädel in eine Plastiktüte und machte sich auf den Heimweg. Gut für seine Vorfahren zu sorgen, ist nach den Bräuchen des Graslands ein wesentlicher Bestandteil der Entstehung von neuem Leben und Familien, denn nur mit dem Segen der Ahnen kann eine Frau Kinder gebären. Tatsächlich ist Fruchtbarkeit das wichtigste Zeichen für Glück und Unfruchtbarkeit steht für großes Unglück. Männer und Frauen der Bamiléké erklären Sex, Verhütung und Schwangerschaft anhand der Symbolik des Kochens. Sex ist heiß und genau wie Feuer bringt er eine gewaltige transformative Kraft genauso wie potenzielle Gefahren mit sich. Wenn ein Mann eine Frau schwängert, dann „kocht er die Frau“ (Goldschmidt 1986: 58). Männer „hüten das Feuer“ und „bereiten den Weg“ zur Erleichterung der Geburt, wenn sie während der Schwangerschaft Geschlechtsverkehr mit ihrer Frau haben (Nzikam Djomo 1977: 61; Feldman-Savelsberg 1999: 84). Aus Sicht der Frau sind Kochen und sexuelle Annäherung eng miteinander verknüpft. Wenn Frauen vom Land eine Mahlzeit für einen Mann kochen, drücken sie Liebe, das Verlangen nach Sex und die harte Arbeit der ehelichen Pflicht aus (Njiké-Bergeret 1997: 14-45). Der Bangangté-Begriff für Ehe lautet nâ nda und bedeutet wörtlich übersetzt drinnen kochen. Tamveun, ein weiser, alter Mann, der mich während meiner Feldforschung 1986 die Sprache von Bangangté, Medumba, gelehrt hat, erklärte die tiefere Bedeutung dieses Ausdrucks: „Nâ nda is marriage. An unmarried woman cooks on the road, in the open where just anyone can smell the delicious aromas from her cooking pot. A married woman cooks inside, cooks inside her kitchen. Only her husband tastes her food and sniffs the aroma from her cooking pot. Her husband builds her the kitchen. Then she does not have to cook on the road. Later her kitchen is full of children“ (Feldman-Savelsberg 1995: 484).
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Die in dem Begriff Ehe enthaltene Symbolik spiegelt die Erfahrungen von Bräuten wider, die gemäß den Regeln der Abstammungs-Exogamie von außerhalb kommen und nach drinnen wechseln, in die Abstammungslinie ihres Ehemanns. Frauen lernen, dass sie in dieser von ihrem Ehemann errichteten Eheküche Kinder bekommen müssen, um Zugehörigkeit in diesem neuen Umfeld zu schaffen. In dieser Eheküche wird von Ehemann und Ehefrau abgemessen, um das richtige Verhältnis von männlichen und weiblichen Zutaten zu bekommen – das Wasser (Samen) und Blut des Mannes vermischt mit dem Wasser und Blut der Frau. Der Geschlechtsakt vermischt diese Zutaten ebenso wie ein guter Koch die Sauce umrührt, damit sie andickt und in ihrem Kochtopf (ihrem Mutterleib) Form annimmt und so ein neuer Mensch entsteht oder abgemessen wird. Frauen Beschreiben ihre Empfindung des Anschwellens oder Wachsens während der Schwangerschaft als analog zum Aufquellen des Maismehls, wenn eine Ehefrau den allgegenwärtigen täglichen Maisbrei (fufu) kocht. Als Celeste, eine Mutter in den Zwanzigern, 1986 in der von einer Mission betriebenen Mutter-Kind-Klinik in Bangoua auf ihre Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchung wartete, beschrieb sie diese biomedizinischen, pränatalen Untersuchungen unter Verwendung ebendieser Kochsymbolik: „Pamé, you can hear noises in your belly. It is like a bubbling pot, and the doctor hears it through his horn [stethoscope]“ (FeldmanSavelsberg 1999: 86). In Bangangté spielte die Symbolik von heißem Sex, mütterlichen Herdstellen, Kochtopf-Mutterleiben und Fortpflanzungszutaten während der 1980er Jahre eine bedeutende Rolle in den Äußerungen der Frauen zur Unfruchtbarkeit. Die sich über mehrere soziale Ebenen – von den körperlichen Empfindungen des Einzelnen über angespannte Ehebeziehungen in einer geschlechtsspezifischen Haushaltsordnung bis hin zu Beschwerden über die schwache Herrschaft des Fon (der ein „schlechter Koch“ sei) – erstreckenden Kochmetaphern kleiden die reproduktiven Unsicherheiten in Worte, die in den „drei Körpern“ vorkommen, wie Scheper-Hughes und Lock es nennen (1987). Die Lebenserfahrung des „individual body-self“ kommt in metaphorischen Beschreibungen zum Ausdruck, durch die Frauen ihre körperliche Empfindung von Schwangerschaft mitteilen. Auf der analytischen Ebene des „social body“ (Scheper-Hughes und Lock 1987: 19), benutzen Frauen der Bangangté durch Kommentare über das physische Leiden des fon (wie seiner Leberzirrhose) den Körper als natürliche Symbol (Douglas 1970), um ihre Sorgen über die soziale Reproduktion und schwache Regierungsleistung auszudrücken. Evident wird der disziplinierende Aspekt des „body politic“ (Scheper-Hughes und Lock 1987: 26) durch die Art und Weise, in der Frauen ihr Leiden an belasteten ehelichen Beziehungen durch das Kochen fader Speisen zum Ausdruck bringen. Kulinarische Symbole wie Salz und Palmöl
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kommen in solchen Handlungen zum Einsatz. Kurz, Beschwerden der Frauen über Unfruchtbarkeit deuten auf Bereiche persönlichen und sozialen Unbehagens hin (Feldman-Savelsberg 1999: 100-101). Die Geburt von Kindern und die Reproduktion der Lebensweisen der Bamiléké sind keine einfache Angelegenheit. Harte Arbeit, schlechte Ernährung und Krankheit beeinträchtigen die Fruchtbarkeit der Frauen. Mütter im ländlichen Kamerun klatschen für gewöhnlich in die Hände und öffnen sie dann mit den Handflächen nach oben, um anzuzeigen „wir haben nichts“ – nicht genügend Kinder, nicht genügend Nahrung oder materielle Güter oder die Bedingungen, um gesunde Familien großzuziehen. Sie verwenden die Kochsymbolik, um sich über Ehemänner zu beklagen, die nicht die richtigen Zutaten zur Verfügung stellen, mit anderen Worten Ehemänner, die ihren Haushalt nicht hinreichend versorgen können und lange Zeit abwesend sind, was die Chancen der Frauen verringert, schwanger zu werden. Zusätzlich zur Armut fürchten sich Frauen auf dem Land vor Hexerei durch Konkurrenzkampf und Missgunst unter mehreren Ehefrauen in einem polygamen Haushalt. Sie sprechen dabei von Hexerei und verwenden Redensarten aus den Bereichen Kochen und Essen. Konkurrentinnen verwenden okkulte Kräfte, um „Zutaten“ zu stehlen, um den Fötus „am Topfrand kleben zu lassen“ und so eine ordentliche Entwicklung zu verhindern (FeldmanSavelsberg 1999: 116-119). Hexen verschlingen die Organe ihrer Opfer und ergehen sich lieber in selbstsüchtiger Zerstörung als Leben zu erschaffen. Die physische Distanz der Frauen schwächt häufig den von ihren Herkunftsfamilien ausgehenden Schutz sowie deren Unterstützung und macht die Reproduktion dadurch noch unsicherer (Feldman-Savelsberg 2016). Reproduktive Unsicherheit hat historische Wurzeln im Grasland. Wir haben bereits gelesen, dass die Arbeitsmigration der Kolonialzeit zur Verbreitung sexuell übertragbarer Infektionskrankheiten wie Gonorrhoe beigetragen und zu einer sekundären Unfruchtbarkeit in der Graslandregion geführt hat (Farinaud 1944: 79). Drakonische Maßnahmen bei der Bekämpfung der Schlafkrankheit unter der Leitung des Kolonialarztes Eugène Jamot in den 1920ern sowie Kampagnen zur Pockenimpfung 1945 (Farinaud 1945: 113) wurden von vielen Bamiléké zu der Zeit als Bedrohung ihrer Selbstbestimmung und Fruchtbarkeit ausgelegt (Feldman-Savelsberg 1999: 146). Erinnerungen an die Zeit der Unruhen, als die UPC sich auf einen ausgedehnten bewaffneten Konflikt mit französischen Kolonialstreitkräften und später mit dem kamerunischen Staat einließ, nehmen eine wichtige Stellung in den Äußerungen der Bamiléké zur reproduktiven Unsicherheit ein. In Anträgen an den UN-Treuhandrat zählte der Frauenflügel der UPC – die Union Démocratique des Femmes Camerounaises (UDEFEC) – die vielen Wege auf, auf die Kolonialmächte die Fruchtbarkeit ihrer Feinde,
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die größtenteils von den Bamiléké waren, angriffen. Einerseits beschwerten sich die Antragstellerinnen über die fehlende Infrastruktur für Geburtshilfe, was im folgenden Antrag erwähnt wird: „As soon as they built the Dibang dispensaries, they forbade us to have our babies anywhere in the village other than the dispensary. There were cases of still-hirths. A room of three square metres is used to accommodate ten new mothers. Look at the diseases our new born babies catch“.1
Andererseits hegten sie ein tiefes Misstrauen gegenüber den potenziell genoziden Absichten des Gesundheitspersonals (Feldman-Savelsberg, Ndonko und Yang 2005: 13-14). „Whites came to Cameroon for no other reason than to cheat blacks... The Doctor infects us with all sorts of sicknesses. For us dying is as common as shitting; this is what decreases the population so they can uproot our liberation movement.“2
Zu einer Zeit des Regierungswechsels, als Präsident Ahmadou Ahidjo 1982 zurücktrat und Paul Biya in den darauffolgenden Jahren seine Führungsposition etablierte, beschwerten sich Männer und Frauen der Bamiléké bitterlich über Regierungspolitiken, die ihre Fähigkeit bedrohten, sich als Bamiléké zu entfalten. Sie hatten das Gefühl, dass staatliche Kontrolle und die Kooptation lokaler Heiler sie Hexereiangriffen schutzlos auslieferten. Die Zeit von les troubles wird von Bamiléké-Frauen aktiv als ein Zeitraum bezeichnet, in dem diejenigen mit einem schlechten Herzen auf den Geschmack von Blut gekommen sind und die Frauen sorgten sich daher, dass ein Ausbruch von Hexerei ihre Fähigkeit Kinder zu gebären gefährden könnte. Durch die Symbolik einer fruchtbaren Küche, die von abwesenden Ehemännern, eifersüchtigen Ehefrauen, einer Epidemie der Hexerei und einem räuberischen Staat ausgeplündert wird, verknüpfen Bamiléké-Frauen reproduktive Unsicherheit mit verschiedenen Erfahrungsebenen. Paulettes Geschichte veranschaulicht, welche Rolle reproduktive Unsicherheit bei der Migration einer jun-
1
Antrag der Société des femmes Bomp, UPC-Lokalkomitee an die Besuchsmission, eingegangen am 25. Juni 1956, TIPET.51894 Abschnitt 11 (zitiert in Terretta 2000: 99 f.). Siehe auch Terretta 2013.
2
Marie-Anne Nsoga an die im Haus von Mbok Souzanne abgehaltene UDEFECVersammlung, 6. Dezember 1956, Babimbi (zitiert in Terretta 2000: 101).
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gen Frau innerhalb Kameruns spielte – von der Stadt in eine unglückliche Ehe auf dem Land und wieder zurück in die Stadt. Eine misslungene Ehe: Paulettes Geschichte Paulette, eine in der Stadt aufgewachsene Nachkommin der Königsfamilie, heiratete während eines Besuchs zu Hause (au village), in der Stadt und dem Stammesfürstentum ihrer ethnischen Wurzeln, den Fon von Bangangté. Nachdem Monate verstrichen waren, ohne dass sie ein Kind empfangen hatte, offenbarten Besuche bei Heilern und Wahrsagern, dass Paulette von einem König Bangangtés abstammte, der vor mehreren Generationen gelebt hatte. Da der gegenwärtige Fon einer direkten Erblinie angehörte, zählte er nach den strengen Verwandtschaftsregeln als Paulettes Vater. Paulette glaubte, dass dieser unbeabsichtigte, klassifikatorische Inzest zur Unfruchtbarkeit der Ehe mit dem König geführt hatte und ihr Leben im Palast daher nicht länger tragbar war. Ihre Abreise nach Douala, Kameruns größter Hafenstadt, sorgte für hitzige Diskussionen unter den anderen Ehefrauen des Fon und ihren Nachbarinnen. Wir wissen bereits, dass die reproduktiven Laufbahnen der Bamiléké-Frauen für gewöhnlich sowohl räumliche Bewegung als auch genealogische Untersuchungen umfassen. Wenn die Inzestdiagnose des Wahrsagers stimmte, ist das Versäumnis einer gründlichen Überprüfung von Paulettes Abstammung in Bangangtés dualem Abstammungssystem sicherlich symptomatisch für den Zusammenbruch traditioneller Wissenssysteme. Ansonsten hätten sowohl Paulettes Eltern aus auch die rituellen Experten des Königs die Abstammung der Verlobten mehrere Generationen zurück untersucht. Was für ein trauriges Zeichen der zeitgenössischen Ignoranz und Missachtung der Verwandtschaftsregeln, tuschelten die Leute. Oder wurde Paulettes Unfruchtbarkeit stattdessen durch Hexerei verursacht? „Jeder wusste“, dass zur Zeit der maquis (Guerillakämpfer in den Jahren unmittelbar vor und nach der Unabhängigkeit) Leute mit „schlechten Herzen“ (ntʉ kəbwɔ) auf den „Geschmack von Blut“ kamen. In einem historischen Zeitraum, in dem Machthierarchien zwischen Stammesoberhäuptern und Untertanen und zwischen Älteren und Jugend gestört waren, begannen viele Bewohner Bangangtés, sich Gewalt mit Ausdrücken der Hexerei zu erklären. Sie waren der Ansicht, dass während les troubles aufgetauchte Übeltäter ihre schändlichen Taten selbst nach dem Aufstand und seiner gewalttätigen Unterdrückung noch fortsetzten und die Angreifbaren zunehmend um sich greifenden Hexereiübergriffen aussetzten.
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Und dass Paulette sich weder an das Landleben als Bäuerin noch an die besonderen Pflichten als Ehefrau des Fon gewöhnen konnte, zeigt nur wie hart es ist, die Lebensweise von Bangangté unter einer wachsenden städtischen Bevölkerung im Exil zu reproduzieren. Klatsch über Paulettes Abreise bezog sich auch auf die komplizierte und unangenehme Eingliederung ihres Fondom in die politischen und wirtschaftlichen Strukturen des kamerunischen Staats. Die Leute sprachen davon, dass das Königreich vom Staat „verschlungen“ wird und verwendeten damit eine kannibalistische Redewendung der Hexerei zur Beschreibung der politischen und wirtschaftlichen Ausbeutung. Immer mehr junge Menschen versuchten, durch Migration in die Städte und Plantagen im Süden Kameruns ihr Glück zu finden oder zumindest über die Runden zu kommen. Dort lernten sie neue Einstellungen kennen, wurden zu „weich“ für die harte landwirtschaftliche Arbeit und vernachlässigten ihre Pflichten gegenüber Älteren und Vorfahren. Viele Großmütter beklagten sich, dass junge Menschen wie Paulette „vergaßen, wo ihre Nabelschnur vergraben ist“. Diese emischen (Insider-)Erklärungen ergänzten meine eigene etische (analytische, Beobachter-)Perspektive, dass Paulette abreiste, weil die meisten ihrer Netzwerkverbindungen in Bangangté nur oberflächlicher Natur waren und eine erhebliche negative Wirkung ausübten. Paulettes Verwandte und Bekannte boten ihr nicht genügend emotionale Unterstützung in ihrer Stellung als neue Ehefrau des Fon.
H ERAUSFORDERNDE V ERBINDUNGEN : EMOTIONALE S CHALTKREISE ZWISCHEN D ORF
UND
S TADT
Im gleichen Jahr, in dem Paulette Bangangté verließ, lebte auch Hortense, die Nichte des Fon, auf dem Palastgelände. Eine Pflegschaft bei den königlichen Ehefrauen ermöglichte es Hortense, die Schule in der nahegelegenen Stadt zu besuchen. Hortense war ehrgeizig und träumte davon, ein angenehmeres und erfüllendes Leben zu führen als ihre verarmte und kränkliche Mutter, die nicht in der Lage war, sie aufzuziehen. Mir war niemals ganz klar, inwieweit Hortense die Sichtweise ihrer Mutter nachvollziehen konnte, dass ihre Mutter ihre Beziehungen zu ihrem Bruder und seinen vielen Ehefrauen hatte spielen lassen, um für Hortense genau die sozialen Bindungen zu schaffen, die für den Aufbau eines besseren Lebens nötig sind. Hortenses Geschichte führt uns in die Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung von Beziehungen ein, die sich für Kameruner ergeben, deren Verbindungen zwischen Dorf und Stadt und – da dies der Schwerpunkt des restlichen
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Buchs ist – über internationale Schauplätze hinaus ausgedehnt werden. Wie pflegen Mütter unterwegs ihre Beziehungen, die sie mit zerstreuten Familienmitgliedern, mit bedeutenden Orten und den Erinnerungen, die ihnen ein Gefühl von Zuhause und Zugehörigkeit vermitteln, verbinden? Gewundene Pfade: Hortenses Geschichte
Abbildung 2.2: Hortense als Schülerin eines Gymnasiums zusammen mit einer der FonEhefrauen. Bangangté 1986. Foto: Pamela Feldman-Savelsberg
Als ich Hortense 1986 zum ersten Mal traf, war sie noch eine fleißige Gymnasialschülerin. Nach ihrem Schulabschluss suchte sie jedoch den sozialen Status, den materiellen Komfort und die intellektuelle Stimulation des Lebens am École Normale Supérieure in Yaoundé. Ein Jahrzehnt später hatte Hortense ihr Studium abgeschlossen und war Gymnasiallehrerin geworden. Sie hatte geheiratet und es nach Empfängnisproblemen und mehreren Fehlgeburten endlich geschafft, ein eigenes Kind zu bekommen. Hortense hielt den Kontakt zu ihren Cousinen aufrecht, mit denen sie in Bangangté aufgewachsen war und die inzwischen über Kamerun und Europa verstreut lebten. Hortense war sogar diejenige, die mich bei mehreren meiner Besuche in Yaoundé Ende der 1990er und Anfang der 2000er und durch E-Mail-Verkehr in den darauffolgenden Jahren am regelmäßigsten über den Verbleib und die Schicksale derer auf dem Laufenden hielt,
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die ich als Kinder gekannt hatte. Nach ihrer eigenen Selbstdarstellung und den Berichten ihrer Cousinen sowie ihrer ehemaligen Pflegemutter zu schließen, schien Hortense jemand zu sein, der sich ein Leben aufgebaut hatte, in dem sich Mutterschaft, Karriere und die relative Behaglichkeit des Stadtlebens vereinen ließen. Doch Hortense sah sich auch geflüsterten Beschwerden ihrer Kollegen gegenüber, dass sie und andere Bamiléké den öffentlichen Dienst übernehmen und Land von den rechtmäßigen Eigentümern der Hauptstadt, den autochthones (Ureinwohner, Menschen „der Erde“) aufkaufen würden. Geldentwertungen und unregelmäßige Gehaltszahlungen bedeuteten, dass Hortense und ihre kleine Familie finanziell gerade so über die Runden kamen und im Hochhaus eines öffentlichen Wohnungsprojekts am Cité Verte in Yaoundé unterkommen mussten. Zu unserem letzten Treffen 2002 kam Hortense mit bandagiertem Arm und Gesicht. Sie war zwei Tage zuvor in einem Taxi in Yaoundé überfallen worden. Dieser Überfall zerstörte Hortenses Gefühl der Sicherheit. Sie begann, sich für Lehrerstellen im Ausland zu bewerben und bezog sogar mich in ihre Suche ein, um Privatschulen zu finden, die eine französische Muttersprachlerin und Expertin für Sprachpädagogik und den Lehrplan für französische Literatur an Mittelschulen einstellen würden. Es scheint wohl, als sei Hortense von dem „bush fallingVirus“ infiziert worden, einem intensiven Verlangen, ein leichteres und abenteuerliches Leben in Europa zu finden. Obwohl sie es mir gegenüber nicht zugab, hat sie wohl auch auf internationalen Dating-Websites nach einem europäischen Partner gesucht, um neue emotionale Schaltkreise aufzubauen, die den Wunsch nach Heiratsmigration und nach einem komfortableren Familienleben zu erfüllen versprachen (Johnson-Hanks 2007). Wie es manchmal vorkommt, ist der emotionale Schaltkreis zwischen uns – aus in Briefen und E-Mails ausgetauschten Erinnerungen und Neuigkeiten, Besuchen und Telefongesprächen und kleinen Geschenken als Ausdruck der Zuneigung – mit der Zeit schwächer geworden. Nach einer Funkstille von sechs Jahren nahm ich 2011 wieder Kontakt zu Hortense auf. Ich erfuhr, dass sich das ehemals verträumte Schulmädchen Hortense 2006 – zwanzig Jahre nachdem Paulette den Palast des Fon verlassen hatte – von ihrem Ehemann und einzigem Kind getrennt hatte, um einen Franzosen zu heiraten und nach Europa zu ziehen. Hortense erzählte mir nur wenige Einzelheiten über ihr eigenes Leben oder die Fernerziehung ihres Kindes und berichtete nur, dass sie nun in Paris lebte und ihre Tochter bereits eine weiterführende Schule in Yaoundé besuchte. Da Hortense auf das gleiche Repertoire der Pflegschaft zurückgreift, das sie selbst als Kind erlebt hatte, kann ich nur vermuten, wie hart sie wohl arbeiten muss, um ihre
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Tochter über internationale Grenzen hinweg emotional und finanziell zu unterstützen. Paulettes und Hortenses Geschichten veranschaulichen, dass es schwer ist, in den Bamiléké-Stammesfürstentümern und in Yaoundé Mutter zu werden und zu sein. Sie deuten auf die Herausforderungen für Beziehungen hin, denen sich Frauen in der heimischen Diaspora der Stadt stellen müssen. Durch die sozialen Bindungen, die sie zwischen ihrem Zuhause in den Dörfern und ihren städtischen Wohnsitzen aufrechterhalten – und aufgeben – erleben wir, wie Hortense und Paulette die Probleme der Zugehörigkeit und reproduktiven Unsicherheit bewältigen. Insbesondere Hortenses Geschichte zeigt, wie sich Biografie und Geschichte durch die Art und Weise überschneiden, auf die eine junge Frau soziale Bindungen schafft und trennt oder sie wieder aufnimmt, wenn sich ihre Lebensumstände ändern. Als Hortense von Bangangté nach Yaoundé zog, schloss sie sich einer städtischen Diaspora der Bamiléké an, die mehrere Generationen zurückreicht. Diese interne oder heimische (im Gegensatz zur internationalen) Diaspora hielt Verbindungen zu ihren Herkunftsorten aufrecht. Ihre Bande zu einem Heimatort basiert auf einer gemeinsamen Identität, die von größeren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kontexten abhing (Mitchell 1969; 1987; Schildkrout 1978; Shack und Skinner 1979; Trager 1998, 2001). Daher änderte sie sich im Verlauf der Zeit und wies deutliche Abweichungen nach Geschlecht und sozialer Schicht auf (Feldman-Savelsberg und Ndonko 2010: 1). Obwohl Männer der Oberschicht aus den Städten Verbindungen zu Heimatdörfern vorwiegend als Ressource nutzten, um ein Geschäft aufzubauen oder eine politische Karriere zu fördern, stellte die Identifizierung mit dem Heimatort zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch eine Belastung für Migranten wie Hortense dar, die vom Land in die Stadt zogen. Die geflüsterten Feindseligkeiten, mit denen Hortense an ihrem Arbeitsplatz konfrontiert wurde, belegen ein Klima der „increasing obsession with autochthony“ (Geschiere und Gugler 1998: 309). Einerseits war der emotionale, materielle und sogar spirituelle Austausch unter Verwandten zwischen ländlicher Heimat und neuem städtischen Wohnsitz wesentlicher Bestandteil der physischen und sozialen Reproduktion. Wie sonst könnte eine Frau Mutter werden und ihre Kinder als Teil einer Familie, einer Abstammungslinie oder eines Volkes großziehen? Das Gefühl der Zugehörigkeit und die Verpflichtung zu gegenseitiger Unterstützung durch den Zusammenschluss zu Hometown Associations zum Ausdruck zu bringen, unterstrich andererseits die ethnischen Unterschiede und lieferte Nahrung für die Abneigung, die andere Stadtbewohner gegenüber diesen ethnisch Fremden aus Kameruns Grasland empfanden.
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Unter den in Kameruns Hauptstadt Yaoundé lebenden Bamiléké sind Hometown Associations ein wesentlicher Bestandteil der gesellschaftlichen Organisation in der Stadt und ergänzen Verwandtschaft als eine wichtige Anlaufstelle für Vertrauen, gegenseitige Hilfe und Zugang zu Unterkunft und Beschäftigung (siehe auch Barkan et al 1991; Englund 2001; Little 1965; Woods 1994). Die meisten Hometown Associations der Bamiléké in Yaoundé sind nach Geschlechtern getrennt und unterscheiden zwischen Oberschicht und Nicht-Oberschicht. Von 1997 bis 2002 führte ich zusammen mit dem kamerunischen Anthropologen Flavien Ndonko eine Studie zu den sozialen Netzwerken durch, die BamilékéFrauen in sechs Hometown Associations aufbauten und wir untersuchten, wie innerhalb dieser Netzwerke gegenseitige Unterstützung, Vorstellungen zu reproduktiven Praktiken und kollektive Erinnerungen an ethnisch begründete Gewalt ausgetauscht wurden (Feldman-Savelsberg und Ndonko 2010). Wir fanden heraus, dass die Reproduktion unter den Bamiléké, einschließlich des Erhalts der Kultur und der Hilfe bei zentralen Ereignissen (Geburt, Tod), einer der wichtigsten Schwerpunkte der Hometown Associations von Frauen ist. Obwohl wirtschaftlich gut gestellte und hochgebildete Frauen ihr Verhältnis zum Heimatort anders definieren als weniger privilegierte Frauen3, war die soziale Reproduktion im weiteren Sinne der Zweck einer Formalisierung gemeinsamer Verbindungen zu einem Heimatort mithilfe von Hometown Associations. Die städtischen Hometown Associations der Bamiléké-Frauen beruhen auf einer reichhaltigen Geschichte des Verbandslebens in ländlichen Gebieten ‒ für Männer und für Frauen, in der vorkolonialen Vergangenheit bis zur Gegenwart ‒ einschließlich Verbänden königlicher Würdenträger, Jugendvereinen der verschiedenen Stammesfürstentümer und Arbeitsgruppen, die gegenseitige Unterstützung bei landwirtschaftlichen Aufgaben anboten (Tardits 1960; Hurault 1962; Njiké-Bergeret 2000). Am wichtigsten für das außerverwandtschaftliche Gemeinschaftsleben der ländlichen Bamiléké-Frauen ist wahrscheinlich die Tontine (ncüα in Bangangté) oder Spar- und Kreditgruppe (Ardener und Burman 1995, Niger-Thomas 1995; Rowlands 1995). Durch meine Mitgliedschaft in ei-
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Hochgebildete und wirtschaftlich gut aufgestellte Frauen der beiden von uns untersuchten Hometown Associations, die sich selbst als „elitär“ beschreiben, engagieren sich nach eigener Aussage dafür, die „Entwicklung“ von der Stadt in ihre Heimatdörfer zu tragen. Im Gegensatz dazu veranstalteten Hometown Associations, deren Mitglieder sich aus Frauen aus verarmten oder wirtschaftlich gemischten Gegenden in Yaoundé zusammensetzen, häufig nostalgische Feste, um die Wärme und Geschmäcker des Dorfs in die Stadt zu bringen (Feldman-Savelsberg und Ndonko 2010: 387389).
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ner Spar- und Kreditgruppe in Bangangté habe ich erfahren, dass die Tontinen der Bamiléké-Frauen vom Land sich regelmäßig treffen; jede Woche erhält ein Mitglied der Tontine den Topf mit den wöchentlichen Bareinlagen. Obwohl viele den Wunsch haben, den Topf als Startkapital für die Gründung eines kleines Geschäfts zu verwenden, zwingt die Frauen die Verantwortlichkeit für den Haushalt für gewöhnlich, die Ersparnisse stattdessen für Schulgebühren, Gesundheitsversorgung, Nahrungsmittel und Kleidung auszugeben (Rowlands 1995). Seit 1918 kommen Bamiléké nach Yaoundé (Dongmo 1981: 87) und organisieren dort Hilfsgemeinschaften für gegenseitige Unterstützung, die auf den Tontinen ihrer Heimatorte basieren. Diese Hometown Associations ermöglichten es ihnen, diskriminierende Praktiken von Kolonialbanken zu umgehen und das Spar- und Kreditsystem zu personalisieren; Betrug gab es selten, da dieser als Verletzung der sozialen Vertrauensverhältnisse in einem Netzwerk aus Frauen galt, die sich regelmäßig persönlich trafen. Hometown Associations bieten eine Anlaufstelle für Verwandtschaft auf Besuch, Handelspartner und Kollegen in anderen Teilen Kameruns. Bei vielen der von uns interviewten Frauen hatten Hometown Associations den Eltern bei der Flucht vor den Unruhen in den 1950er und 1960er Jahren geholfen und ihre eigene Ausbildung, Partnersuche und Migrationspläne nach Yaoundé erleichtert (Feldman-Savelsberg und Ndonko 2010: 377). Neben der Unterstützung, die Hometown Associations der Bamiléké in Yaoundé den Stadtbewohnern bieten, verstärken sie zudem ortsbasierte Identitäten oder erzeugen sie sogar. Sie spielen eine bedeutende Rolle für die Bemühungen der Frauen in den Städten, Zugehörigkeit zu schaffen und zu leben, um sich und ihre Kinder in einer mobilen Welt zu verankern. Hometown Associations helfen daher vom Land in die Stadt gewanderten Frauen aus dem Grasland beim Aufbau einer flexiblen Struktur von Verbindungen, die sich mit verwandtschaftlich basierten Beziehungen überschneiden und diese ergänzen. Ghislaines Geschichte ist ein Beispiel dafür, wie sich in der Stadt lebende Bamiléké-Frauen, darunter auch Neuankömmlinge, in drei wichtigen Belangen Hilfe suchend an ihre Hometown Associations wenden: wirtschaftliches Überleben, reproduktive Gesundheit und Beerdigungen. Mit jedem dieser drei Bereiche gehen die Verbreitung von Vorstellungen zur richtigen Verhaltensweise, der Austausch materieller Güter und Empfindungen gegenseitiger Verpflichtung, Dankbarkeit und gelegentlich auch Missgunst einher. Ghislaines Geschichte wird uns daher vor Augen führen, welche Rolle Hometown Associations bei der Bildung und Aufrechterhaltung emotionaler Schaltkreise spielen.
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Hometown Associations als Helfer in schwierigen Zeiten: Ghislaines Geschichte Ghislaine wuchs in der Bamiléké-Diaspora im Bezirk Moungo, nahe der Stadt Nkongsamba auf. Die Bamiléké kamen zum ersten Mal vor einem Jahrhundert durch Zwangsarbeit an Infrastrukturprojekten und als Arbeiter und Kleinhändler auf der Suche nach Geld für die Zahlung von Steuern und Brautpreis in das Moungo-Tal. Die ursprünglich als Plantagen- und Eisenbahnarbeiter ins Moungo-Tal eingewanderten Bamiléké halfen bei der Gründung der Stadt Nkongsamba. Sie liegt am Ende der zwischen der Hafenstadt Douala und dem von Plantagen durchzogenen Hinterland der Littoral-Region verlegten Eisenbahnstrecke und wurde zu einem wichtigen Handelszentrum. Später, während der politischen Gewalt in Verbindung mit der Entkolonialisierung und Unterdrückung der UPC (Union des Populations Camerounaises), flohen viele Bamiléké vor les troubles in ihren Heimatorten und ließen sich im Moungo-Tal nieder, um dort Landwirtschaft zu betreiben oder kleine Unternehmen in und um Nkongsamba zu gründen. Ghislaine wuchs somit zwar in einem von Bamiléké geprägten Umfeld, jedoch außerhalb der geografischen Heimat der Bamiléké auf. In diesem Umfeld hatte Ghislaine die Erfahrung gemacht, dass die Mitgliedschaft in einer Hometown Association Voraussetzung war, um als Teil der Bamiléké-Gemeinschaft und sogar als ordentlich in die Gesellschaft integrierte Person betrachtet zu werden. Ghislaine zog als 18-jähriges Schulmädchen nach Yaoundé. In Einklang mit der Vorgehensweise, die Kinder vom Land bei Verwandten in der Stadt in Pflege zu geben, wurde Ghislaine von einer älteren Cousine aufgenommen, damit sie eine weiterführende Schule in der Hauptstadt besuchen konnte. Sie lebten in einem Viertel Yaoundés, das Mokolo genannt und seit 1923 größtenteils von Bamiléké der Arbeiterklasse bewohnt wird (Dongmo 1981: 87). Dort lernte Ghislaine ihren zukünftigen Ehemann kennen und innerhalb eines Jahres wurde sie schwanger. Als noch unverheiratete Frau kehrte sie für die Geburt des Kindes zu ihren Eltern nach Hause zurück. „Je suis rentrée encore chez mes parents pour accoucher. [Mon mari] est venu là-bas me rejoindre. On a fait les trucs coutumiers, le mariage coutumier, puis à lʼétat civil.“ Nachdem sie ein Jahr bei ihren Eltern verbracht hatten, kehrten Ghislaine und ihr Ehemann nach Yaoundé zurück. Mit ihrem kleinen Sohn ließen sie sich dann in der gleichen von Bamiléké dominierten, wirtschaftlich verarmten Gegend von Mokolo in Yaoundé nieder, wo sie sich zum ersten Mal getroffen hatten. Ghislaines Umzug zurück nach Yaoundé ist eine Geschichte voller Hoffnungen, die von einer reproduktiven Tragödie zerschlagen wurden, und von Ein-
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samkeit gelindert durch die Unterstützung ihrer Hometown Association. Nach ihrer Rückkehr nach Yaoundé trat Ghislaine den Femmes Bangangté de Mokolo bei, einer der von Flavien Ndonko und mir untersuchten Hometown Associations. Frisch verheiratet und ohne Freunde in der unmittelbaren Nachbarschaft erlitt Ghislaine zwei verheerende Verluste. Zuerst starb ihr anfälliger und kränklicher Sohn an Malaria. „Il était régulièrement malade. Même avant de mourir, il nʼétait plus trop, trop souffrant. Il a eu un léger palu, puis cʼétait la mort. Quand je lʼai emmené à lʼhôpital, il est [déjà] mort.“ Kurz darauf endete Ghislaines nächste Schwangerschaft in einer Fehlgeburt. Als sie sich ein Jahrzehnt später an diese Ereignisse erinnert, erzählt Ghislaine von der Unterstützung, die sie von den Mitgliedern der Hometown Association in ihrer Nachbarschaft erhielt. „En ce moment là, étant une nouvelle dans un quartier, je nʼavais pas encore dʼamies… Quand tu arrives dans un quartier, tu es nouvelle, tu nʼas pas dʼamis. En tout cas, la réunion mʼavait assisté, parce que dès que je suis arrivée, jʼai commencé directement la réunion… du quartier. Ils mʼont assisté moralement et puis même financièrement. Nous, quand un membre perd son enfant, on lʼassiste toute la soirée. Dès que le corps part au village, eux ils rentrent.“
Ghislaines emotionaler Schmerz, der bei ihrer Erzählung von der doppelten Tragödie zehn Jahre später deutlich wird, war umso schwerer zu ertragen, weil die geografische Entfernung zu ihren nächsten Verwandten so groß ist. Ihr Schmerz wurde zum Teil durch die Unterstützung neuer Verbindungen gelindert, die sie durch ihre Hometown Association geknüpft hatte. Darüber hinaus spendeten Ghislaines Ehemann, ihr Schwager und ihre Schwiegermutter ihr Trost, als sie ihre Fehlgeburt erlitt und bildeten so eine spontane Therapy Management Group (Janzen 1987). Ghislaine berichtete, dass sie eines Nachmittags Blutflecken in ihrer Unterhose entdeckte und verzweifelt zum Arbeitsplatz ihres Mannes lief, um ihm davon zu erzählen. Ihr Ehemann brachte Ghislaine dann in das nahegelegene städtische Hospital, wo man ihr Bettruhe verordnete. Doch seine Mutter und sein älterer Bruder waren beunruhigt wegen der wiederholten Unglücksfälle und wollten sie in einem vertrauenswürdigen Missionshospital in der Nähe ihrer Heimat in der Bamiléké-Stadt Bafoussam behandeln lassen. Dort würde sie nicht nur in einem bekannten Missionshospital betreut werden, sondern sich auch in der Nähe von Wahrsagern befinden, die mögliche spirituelle Ursachen ihres anhaltenden Unglücks untersuchen konnten. „De lʼhôpital, on mʼa donné un repos couché. Entre temps, mon beau-frère de Bafoussam est quitté avec ma belle-mère. Ils sont venus me chercher. Donc, je ne sais pas si cʼest la
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longue distance là qui avait fait que cet enfant, je ne sais pas. Puisquʼun repos couché doit être vraiment couché, parce quʼavec la longue distance, oui, les secousses de la voiture… Quand je suis arrivée à lʼOuest… le lendemain, je suis partie à lʼhôpital, le matin avec ma belle-sœur… Bon, là-bas, il nʼy avait pas moyen… Cʼétait déjà sorti.“
Ghislaines Geschichte zeigt, wie zerbrechlich Fruchtbarkeit als Teil der Pathologie von Armut und Macht sein kann (Farmer 2003). Da die Kombination aus kolonialen Arbeitsregimes und einem brutalen antikolonialen Aufstand Familien wie die von Ghislaine aus ihren Heimatorten vertrieb, blieb vielen Bamiléké nichts anderes übrig, als diasporische, ethnische Enklaven in anderen Teilen Kameruns zu gründen. Lange währendes Misstrauen gegenüber den Bamiléké in Verbindung mit einem System der Vetternwirtschaft, das Ressourcen in die Heimatgegenden mächtiger Regierungsakteure leitete, bedeuteten für junge Menschen wie Ghislaine, dass sie in größere Städte reisen mussten, um eine weiterführende Schule besuchen zu können. Diese Art der Binnenmigration förderte emotionale Schaltkreise unter Verwandten, die über mehrere kamerunische Ortschaften verstreut lebten, machte unmittelbare physische Unterstützung in Zeiten medizinischer Notfälle jedoch unmöglich. Nicht aus Angehörigen bestehende Netzwerke wie Hometown Associations konnten begrenzte moralische und finanzielle Hilfe bieten, allerdings nicht in dem Maß, in dem enge Familienmitglieder Fürsorge spenden können. In dem Versuch, reproduktive Schwierigkeiten mit einer Mischung aus biomedizinischen und lokal gebräuchlichen Diagnose- und Behandlungsmethoden zu heilen, reisen Frauen wie Ghislaine und die für sie sorgenden Verwandten unter gefährlichen Bedingungen über schlecht befestigte Straßen. Diese Umstände erhöhten die Wahrscheinlichkeit medizinisch sowie emotional tragischer Folgen. Die Familie von Ghislaines Ehemann kümmerte sich um sie so gut sie konnte und kam unter größten Anstrengungen ihrem Gefühl der Verpflichtung gegenüber gefährdeten Verwandten nach. Reproduktive Unglücksfälle wie neonatale Todesfälle und wiederholte Fehlgeburten ziehen häufig langwierige Suchen nach der Ursache für diese Ereignisse nach sich. Der Tod von Neugeborenen und noch Ungeborenen stellt in Kamerun ein „unnatürliches und entsetzliches Ereignis“ dar (Njikam Savage 1996: 95). In den Dörfern sorgen Fehlgeburten, Totgeburten und neonatale Todesfälle daher für große Unruhe unter der weiteren Verwandtschaft einer Frau. Sie ziehen Wahrsager zurate, um die Quelle dieser reproduktiven Störungen ausfindig zu machen und flehen die Ahnen an, den Rest der Familie zu segnen und zu schützen. Familien unterziehen die unglückliche Mutter gegebenenfalls auch Reinigungsritualen und wenden sich an Heiler, die sie durch das Einreiben von Kräutertinkturen in Kratzwunden an ihren Armen,
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Handgelenken und Schläfen vor zukünftigen spirituellen Angriffen „abschirmen“ (Feldman-Savelsberg, Ndonko und Yang 2006: 21). Da reproduktive Probleme aufgrund der lange dauernden Diagnose und Behandlung im Fall wiederkehrender Unglücksfälle stigmatisiert sind, haben sich nicht alle Frauen, die ich in Yaoundé getroffen habe, Hilfe suchend an ihre Angehörigen gewandt. Obwohl es nicht ausdrücklich verboten ist, über Fehlgeburten, Totgeburten oder neonatale Todesfälle zu sprechen, fürchteten viele Bamiléké-Frauen zu Beginn des 21. Jahrhunderts als mögliches Opfer von Hexerei, als Ziel des Zorns einer ihrer Vorfahren aufgrund von eigenem oder fremdem Fehlverhalten oder sogar selbst als Hexe betrachtet zu werden, die ihr eigenes Kind „verschlungen“ hat. Diese Ängste verstärkten den Wunsch vieler Frauen, ihren Verlust für sich zu behalten. Ferner zogen es viele Frauen aus der Stadt vor, sich ausschließlich auf biomedizinische Behandlungen zu verlassen, denn „rather than the herbs of the past, we now need the hospital“ (Feldman-Savelsberg, Ndonko und Yang 2006: 22). Damit vermieden sie es, ihren Verwandten – oder zumindest bestimmten Verwandten – von ihren reproduktiven Tragödien erzählen zu müssen. In der Stadt lebende Bamiléké-Frauen, mit denen ich gesprochen habe, fühlten sich nach eigenen Angaben zwischen widersprüchlichen emotionalen Impulsen gefangen – dem Wunsch nach Privatsphäre im Hinblick auf ihr reproduktives Unglück verbunden mit den intensiven Empfindungen von Einsamkeit und Verlassenwerden (Feldman-Savelsberg, Ndonko und Yang 2006: 22). Die emotionale Kraft ihrer Reaktionen untermauert, dass dies mehr als eine Veranschaulichung der Art und Weise ist, wie emotionale Schaltkreise aufgenommen und getrennt werden. Fälle wie der von Ghislaine erinnern uns eher daran, dass Bamiléké- und andere Frauen aus dem Grasland in städtischer Diaspora innerhalb Kameruns mit der Herausforderung konfrontiert werden, welche sozialen Verbindungen sie wann und wie pflegen möchten.
H ERAUSFORDERUNG DER M IGRATION : W EGE DER M IGRANTEN IN K AMERUN UND DARÜBER HINAUS Die Herausforderungen von Zugehörigkeit, Reproduktion und Verbindung, denen sich kamerunische Frauen gegenüber sehen, treten im Kontext der Migration auf. Wir haben festgestellt, dass mehrere Wanderungen im Laufe der Geschichte die Bedingungen für die heutigen Herausforderungen der Zugehörigkeit geschaffen haben, die aus dem Grasland stammende Kameruner bewältigen müssen. Vorkoloniale Völkerwanderungen und die Arbeitsmigration der Kolonialzeit haben zu komplexen und zeitlich instabilen ethnischen Gruppierungen beigetragen.
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Postkoloniale Kämpfe um Existenzsicherheit und Macht haben den ethnischen und ortsbasierten Zugehörigkeiten von Gruppen und Einzelpersonen gleichermaßen politische und emotionale Kraft verliehen (M. Rosaldo 1980; R. Rosaldo 1989). Emotion und Politik durchdringen auch Geschichten der Bewegung in Verbindung mit Heirat und sozialer Regeneration – die Bemühungen der Akteure zu „reproduce, recreate, and transform their families, social relations and cultural forms“ (Cole und Groes 2016: 6; Cole und Durham 2007: 17). Frauen aus dem Grasland ziehen nicht nur für das Zusammenleben mit ihren Ehemännern von einer lokalen politischen Einheit (z.B. einem Dorf oder Stammesfürstentum) in eine andere, sondern auch zur Knüpfung von Bündnissen unter Familien. Die Ehemigration der Frauen im Kameruner Grasland vereint Geschlechterpolitik mit Diplomatie unter Abstammungslinien, Dörfern, Unterfürstentümern und Königreichen. Diese Frauen wandern weiter, verlassen die Königreiche des Graslands und ziehen in die Städte und industrialisierten Gebiete Südkameruns. Dort schmieden sie Verbindungen mit anderen Migranten vom Land, indem sie Hometown Associations gründen, bedeutende Gemeinschaften, in denen Frauen ein Gefühl der Zugehörigkeit reproduzieren. Mithilfe dieser Vereinigungen erhalten Frauen aus dem Grasland insbesondere Zugang zu den Vorteilen städtischer Bedingungen, unter denen sie sicher Kinder bekommen und großziehen, erfolgreich sein und geschätzte Merkmale des modernen Menschseins erlangen können. Unter den Bamiléké und anderen Völkern des Graslands jemand zu sein, ist mit einer langen Tradition der „Dynamik“ und Leistungsorientierung verknüpft (z.B. Dongmo 1981; Wakam 1994). Die Leistungsorientiertheit der Bamiléké kam in der Vergangenheit durch das Anstreben traditioneller Titel und den Aufstieg in Titelgesellschaften zum Ausdruck (Notué und Perrois 1984), zeigte sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts aber zunehmend durch die Ansammlung von Reichtum (Tardits 1960). Eine Methode der Bamiléké, um zu Wohlstand zu kommen, war die ta nkap Heirat, bei der ein Familienoberhaupt für seine Tochter statt eines Brautpreises die Rechte an der Verheiratung und patrilinealen Identität der Töchter seiner Tochter behielt. Indem er zum ta nkap, wörtlich übersetzt Vater durch Geld, seiner Enkelinnen wurde, konnte der Patriarch sich diese ehelichen Rechte später zunutze machen, um Heiraten zu kontrollieren und Brautpreise für eine große Zahl an Enkelinnen einzustreichen. Obwohl diese Vorgehensweise 1927 und 1928 von den Franzosen für gesetzeswidrig erklärt wurde, schürte sie über die gesamte Kolonialzeit hinweg die Bedenken bezüglich der Konzentration des Reichtums unter den Kolonisierten (Rolland 1951; Tardits 1960: 22). Durch die ta nkap Heirat war eine Form der Leistungsorientiertheit
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der Bamiléké eng mit der Kontrolle älterer Männer über die Bewegungsfreiheit, Heirat und Reproduktion jüngerer Frauen verknüpft. Für die Mehrheit der Bamiléké, insbesondere nicht erbende junge Männer (und später auch Frauen), bedeutete das Streben nach wirtschaftlichem Erfolg die Migration nach Süden auf der Suche nach Lohnarbeit. Die Migration auf der Suche nach wirtschaftlichem Wohlstand begann im frühen 20. Jahrhundert parallel zu mehr erzwungenen Formen der Bewegung (Argenti 2007). Als die koloniale Landwirtschaftspolitik der Franzosen sich zur Mitte des Jahrhunderts erst einmal gelockert hatte, begannen die Menschen mit dem Anbau von Kaffee und – in geringerer Größenordnung – Kakao. Frauen erweiterten ihren Anbau von Nahrungspflanzen, um wachsende Ballungszentren zu versorgen (Guyer 1987). Die Suche nach Ackerland für diese neuen Formen der Vermögensbildung trieb viele zur Migration in das Moungo-Tal nahe dem Ende der Eisenbahnstrecke in Nkongsamba. Das Streben nach der Anhäufung von Reichtum durch Handel, Transport und bezahlte Beschäftigung begründete wiederum die Migration in Handels- und Verwaltungszentren im südlichen Teil Kameruns. Das Leben in der Stadt ermöglichte Bamiléké und anderen Grassfieldern den Erwerb von Konsumgütern. Diese Wirtschaftsgüter machten nicht nur das tägliche Leben komfortabler, sondern wurden auch zu Formen symbolischen Kapitals (Bourdieu 1983) und signalisierten Erfolg und Modernität durch das, was Rowlands (1996) als eine glänzende, strahlende Ästhetik beschrieben hat. Eine erfolgreiche, moderne Person zu sein, bedingt verstärkt das Streben nach den Kompetenzen und Qualifikationen akademischer Bildung. Technische Fähigkeiten und intellektuelles Können sind weit mehr als nur ein Mittel zu Wohlstand und die symbolische Zurschaustellung einer modernen Ästhetik – sind Quellen des Stolzes. Während meiner Feldforschung in Yaoundé beschrieben sich die Bamiléké selbst als intelligent, fleißig und lernbegierig. Sie beschwerten sich bitterlich darüber, dass ihr Zugang zur Hochschulausbildung in Kamerun durch ein ethnisches Quotensystem beschränkt wird. Die meisten kamerunischen Universitäten sind öffentliche, von der Zentralregierung kontrollierte Einrichtungen. Das ethnische Quotensystem bei der Hochschulzulassung soll angeblich sicherstellen, dass Angehörige aller ethnischen Gruppen der Zugang zur Universität ermöglicht wird und ist Teil einer nationalen Politik der ‚regionalen Ausgewogenheit‘ (Nkwi und Nyamnjoh 2011). Doch da es ohne Berücksichtigung der demografischen Struktur Kameruns aufgebaut wurde, dient dieses ethnische Quotensystem lediglich dazu, den Hochschulzugang für Bamiléké-Studenten sowie für englischsprachige Studenten zu beschränken (Kom 2011; Zambo Belinga 2011). Die regionale Ausgewogenheit bzw. das ethnische Quotensystem trägt zum Verlust transnationaler Pfade und der Sorge von Ang-
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lophonen und jugendlichen Bamiléké bezüglich fehlender Zukunftsperspektiven bei (Jua 2003). Eine Ausbildung im Ausland gewinnt daher nicht nur durch ihr symbolisches Ansehen an Reiz, sondern auch, weil sie eine Lösung für das Problem zu bieten scheint, dass sich viele in Kamerun blockiert fühlen. Die Verfolgung einer akademischen Ausbildung nimmt einen hohen Stellenwert in der Argumentation kamerunischer Migranten ein. In den späten 1990er und frühen 2000er Jahren erzählten mir junge Menschen in Yaoundé, dass persönliche Beziehungen zu einflussreichen Akteuren wichtiger als Leistungen geworden waren, wenn man sich einen Platz in begehrten Studiengängen wie zum Beispiel Medizin sichern wollte. Ein Jahrzehnt später nannten Kameruner in Berlin diese Situation als zentrales Motiv für die Auswanderung nach Europa. Für Bamiléké-Migranten ist die Migration eine Methode, um die diskriminierenden Quoten für die Hochschulzulassung zu umgehen. Gleichermaßen wandern auch Anglophone aufgrund mangelnder Aussichten auf eine akademische Ausbildung in englischer Sprache aus. Denn im offiziell zweisprachigen Kamerun werden die Bildungseinrichtungen von der französischsprachigen Mehrheit dominiert. Seit Mitte der 1980er haben gezielte Stipendien kamerunische Universitätsstudenten sowohl in die Bundesrepublik Deutschland als auch in die Deutsche Demokratische Republik geführt (GTZ 2007: 7). Die Rückkehr dieser Bildungsmigranten aus dem noch nicht wiedervereinigten Deutschland Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre sorgte dafür, dass die Möglichkeit der Migration ein Teil des Traums – der ausgemalten möglichen Zukunft – immer mehr junger Menschen wurde. Zurückkehrende Migranten richteten auch praktische Netzwerke für eine spätere Kettenmigration ein, um erweiterte Chancen im wiedervereinten Deutschland zu ergreifen. Mit seiner fast kostenlosen Hochschulausbildung und der entfernten Kolonialverbindung, die einen frühen wenn auch schmalen Migrationsweg ebnete, ist Deutschland zu einem besonders beliebten Ziel unter Kameruns aufkommendem Mittelstand geworden (Fleischer 2012). Wie viele afrikanische Migranten suchen auch Kameruner nach Erfolgschancen in Europas Wirtschaftsmächten. Durch Unterhaltungen, Nachrichtenberichte und einige übertriebene Darstellungen des Glücks von zurückgekehrten Besuchern entwickeln junge Kameruner Erwartungen von leicht zu bekommenden Arbeitsstellen und einem einfacheren Leben in Europa (Graw und Schielke 2012). Die Kombination der Bildungs-, Wirtschafts- und Flüchtlingsbewegung aus Kamerun ergibt für dieses Land eine Nettomigrationsrate von -0,5 (pro 1000 Einwohnern) im Vergleich zu 1,3 für Deutschland und 3,1 für die USA (United Nations 2012). Da das deutsche Einwanderungsrecht eine legale Arbeitsmigration beinahe unmöglich macht, bedienen sich Kameruner in ihrem Streben nach
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wirtschaftlichen Chancen mehrerer größtenteils klassen- und statusbasierter Strategien. Einige wenige Auserwählte mit hohem Bildungsstand schaffen es, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Andere sind bushfaller, Abenteurer, die ihr Glück im entlegenen, geheimnisvollen europäischen bush suchen und den geregelten Einwanderungsstatus genauso häufig verlieren wie sie ihn wiederbekommen. Um Kontakt zu Migrationshändlern – doki men – in Kamerun herzustellen, die sie bei ihrem Migrationsversuch unterstützen, greifen bushfaller auf das Wissen zurück, das unter ihren Bekannten weitergegeben wird (Alpes 2011). Sobald sie angekommen sind, mobilisieren sie die ihnen zur Verfügung stehenden gesellschaftlichen Beziehungen, um zu erfahren, wie sie zurechtkommen und ihren Aufenthalt an einem neuen Ort sichern können (Fleischer 2012). Wie wir in späteren Kapitel noch feststellen werden, schlägt sich die rechtliche und soziale Angreifbarkeit weniger begünstigter kamerunischer Migranten in Anstrengungen nieder, eine Familie zu gründen und großzuziehen – in neuen reproduktiven Unsicherheiten bedingt durch die Migrationsumstände. Familienzusammenführungen und Bildungsmigration bleiben die häufigsten Formen der legalen Einwanderung von Kamerun nach Deutschland. Von ungefähr 2.000 Kamerunern, die 2012 nach Deutschland eingewandert sind, kamen 1.044 mit einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis gemäß dem neuen Aufenthaltsrecht an.4 Davon kamen 636 als Studenten, 250 im Rahmen einer Familienzusammenführung, 219 als Asylbewerber und nur 53 mit Arbeitserlaubnis. In Deutschland waren 2012 mehr als 6.000 kamerunische Studenten registriert, die 27,2% aller Studenten aus Subsahara-Afrika ausmachten (Rühl o.D.; Dick o.D.). In Übereinstimmung mit diesen Zahlen kommen viele kamerunische MigrantenMütter als Studenten oder um sich einem studierenden Ehepartner anzuschließen. In den reproduktiven Lebensläufen und Geschichten der Familiengründung unter Bamiléké-Frauen, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Yaoundé lebten, spielten Zeitabschnitte transnationaler Migration gewiss eine bedeutende Rolle. Zur aufkommenden Bildungselite gehörende Mütter beschrieben, dass sie sich durch die Teilnahme an Sprachkursen am Goethe-Institut und dem British Council auf ihr Auslandsstudium vorbereiteten. Sie nutzten das Internet, um sich mit den für ausländische Studenten zugänglichen Studiengängen vertraut zu machen. Und französischsprachige Mütter schickten ihre Kinder vermehrt in englisch-
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2.010 laut den Aufzeichnungen des Statistischen Bundesamts und 2.080 im Ausländerzentralregister 2012 (Rühl o.D.; Dick o.D.).
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sprachige Schulen, um ihre Sprachkompetenz zu fördern und sie „auswanderungsfähig“ zu machen. Migration war zudem auch eine eheliche Strategie unter der aufkommenden Bildungselite. Die Koordination verschiedener Lebensereignisse – einschließlich der Verfolgung einer Ausbildung, dem Start einer Karriere, der Eheschließung und der Geburt von Kindern – wurde dadurch verkompliziert, dass die Ehepartner abwechselnd eine Ausbildung und Berufserfahrung im Ausland suchten (Johnson-Hanks 2006). Diese Abstimmungsarbeit zeigte sich auf eine anfänglich überraschende Art und Weise: durch einen Vergleich der Abtreibungspraktiken zwischen Frauen der Ober- und Unterschicht in Yaoundés Bamiléké-Diaspora. Obwohl der städtischen Grasland-Diaspora angehörende Frauen aus der Oberschicht über mehr Mittel und umfangreichere Kenntnisse zu neuen Verhütungsmethoden verfügen, machen sie häufig Gebrauch von der Abtreibung. Stadtfrauen der Oberschicht können sich Abtreibungen unter medizinisch sicheren Bedingungen leisten und haben weniger von den Folgen einer Abtreibung zu befürchten (Feldman-Savelsberg und Schuster o.D.: 20). Frauen der Oberschicht haben unmittelbaren Zugang zu professionellen Abtreibungsdiensten, weil auch Gynäkologen und andere medizinische Fachkräfte zu ihren unmittelbaren sozialen Netzwerken gehören. Gut ausgestattete Privatkliniken, in denen Abtreibungen von Ärzten durchgeführt werden, die nach Ansicht der Frauen aufgrund ihrer Herkunft aus dem Grasland vertrauenswürdig sind, bieten Frauen der Oberschicht sowohl medizinische Sicherheit als auch Schutz vor einer gesellschaftlich und gesetzlich riskanten öffentlichen Enthüllung. Frauen der Oberklasse unterschieden sich jedoch von wirtschaftlich weniger gut gestellten Frauen in Yaoundé, weil sie ihre Abtreibungsentscheidungen im Rahmen einer ehelichen Strategie zur Koordination von Familiengründung, Ausbildung und Beruf trafen. Im Gegensatz dazu entschieden sich Frauen der Mittel- und Unterschicht heimlich für eine Abtreibung, meistens am Beginn und zum Ende ihrer reproduktiven Laufbahnen, um entweder eine Schwangerschaft als Jugendliche zu vermeiden oder die Familienplanung „abzuschließen“5. Sowohl das Kinderkriegen als auch die Abtreibung waren bei Paaren der Oberschicht Teil des Plans, Ausbildung und Karriere voranzutreiben, um ihre Vorstellung der perfekten modernen Familie umzusetzen. Da sie von Schwiegermüttern sowie anderen Verwandten und Bekannten genau beobachtet wurden, bewiesen Paare der Oberschicht ihre eheliche Legitimität, indem sie zwei oder drei Kinder bekamen; anschließend konnten sie eine Weiterbildung im Ausland in
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Zu den moralischen und gesellschaftlichen Überlegungen westafrikanischer Frauen bezüglich des „Abschlusses“ der Familienplanung, siehe Bledsoe 2002.
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Angriff nehmen und die gewünschte Familiengröße nach der Rückkehr nach Kamerun vollenden. Doch was passierte, wenn eine Frau während des Auslandsaufenthaltes ihres Mannes schwanger wurde? Frauen der Oberschicht, die an unserer Studie der sozialen Netzwerke und reproduktiven Gesundheit von Bamiléké teilnahmen, entschieden sich bei einer ungewollten Schwangerschaft während des Zeitraums vor dem vierten Kind durchweg für eine Abtreibung. Eine Mutter von drei Kindern wurde zum Beispiel schwanger kurz bevor ihr Mann für eine akademische Ausbildung ins Ausland reiste und nachdem sie selbst sich vor kurzem die Zulassung zu Yaoundés angesehener École Normale Supérieure gesichert hatte. Ihr Ehemann ermutigte sie zu einer Abtreibung und holte den Rat sowie die Diskretion von Ärzten innerhalb ihres Freundeskreises ein. Das Paar bekam sein viertes Kind, nachdem beide ihren Abschluss gemacht und sich in Yaoundé wieder vereint hatten. Dadurch schufen sie sich das, was die meisten Frauen der Oberschicht als die „perfekte moderne Familie“ betrachteten. Kamerunische Migranten entscheiden sich jedoch immer öfter zu bleiben und sich in Deutschland niederzulassen, um ihre Familien in einem neuen, europäischen Umfeld aufzuziehen. Da so vielen Frauen mit Studentenvisa oder über eine Familienzusammenführung nach Deutschland einreisen, ist die kamerunische Migrantenbevölkerung in Deutschland jung, relativ gut gebildet und im gebärfähigen Alter. Viele kommen mit Ehepartnern und gelegentlich auch mit Kleinkindern. Andere gehen hier neue Beziehungen ein und finden einen Ehepartner innerhalb der wachsenden kamerunischen Diaspora. Diese jungen Paare begrüßen neue Babys in ihrer Mitte. Die fast 9.000 zwischen 2005 und 2012 registrierten Geburten kamerunischer Mütter in Deutschland sind ein Beleg für die kamerunische Familiengründung in der Diaspora (Rühl o.D.). In dieser neuen Umgebung sorgen Mütter für ihre Säuglinge, interagieren mit deutschen Gesundheitsdienstleistern und staatlichen Bürokratien. Da sie durch ihre angestrebte Ausbildung und verschiedene Formen der Beschäftigung ausgelastet sind, bringen sie ihre Kinder in staatlich geförderten Kindertagesstätten unter. Diese Mütter wollen ihren Kindern die bestmöglichen Chancen bieten und informieren sich daher über das Angebot an wohnortnahen, bilingualen, internationalen und talentfördernden Schulen in Berlin. Weil sie sich außerdem Sorgen über den Verlust ihrer kulturellen Identität machen, bringen die Mütter ihre Kinder auch mit zu kamerunischen Gemeinschaftsveranstaltungen. In den folgenden Kapiteln werden wir mehr über die unterschiedlichen Methoden kamerunischer Mütter zur Bewältigung der Herausforderungen von Zugehörigkeit, Reproduktion und Verbindung nach ihrer Niederlassung in Deutschland erfahren.
Kapitel Drei: Die Gründung kamerunischer Familien in Berlin „Pour moi bon cʼest important la famille, de toute façon. Je sais que en Afrique, cʼest important la famille, très important dʼailleurs, je dirais.“ (LILY, BERLIN, 2011)
Lily legte einen seltenen Moment der Stille ein und ließ uns Zeit, um zusammen auf ihrem Sofa zu sitzen und ihr Familienfotoalbum mit Hochzeitsporträts und Baby-Schnappschüssen anzusehen. Lilys drei Kinder waren alle entweder in der Schule oder in der Kita, ihr eigener Unterricht an der Berufsschule war für diesen Tag bereits vorbei und es war noch nicht Zeit zu kochen. Das war mein vierter Besuch bei Lily zu Hause, nachdem uns Magni im letzten Herbst in der Kita bekannt gemacht hatte. Seitdem hatte ich Lily beim Tragen ihrer schweren Einkaufstüten geholfen, ihre Pfingstkirche besucht und sie bei der Verbesserung von Bewerbungen für einen Praktikumsplatz unterstützt. Anfangs hatte mir Lily von der bedeutenden Weisheit von les mamans erzählt, der erfahrenen weiblichen Verwandtschaft, die in Kamerun einer Frau während Schwangerschaft, Geburt und der kostbaren, überwältigenden ersten Wochen der Säuglingspflege immer zur Seite steht. An diesem grauen Nachmittag, kurz bevor der Frühling wieder in Berlin Einzug hielt, brachte die Betrachtung von Lilys Fotoalbum unser Gespräch wieder zurück zu Familienbanden. Lily kam aus einer großen Bamiléké-Familie, in der die meisten Mitglieder von der kamerunischen Hafenstadt Douala in die Außenbezirke von Paris auswanderten, als Lily etwa 17 Jahre alt war. Erst nachdem sie ihren Mann kennenlernte, der sowohl Universitätsstudent als auch Diakon in seiner Pfingstkirche
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war, zog sie nach Berlin. Ihre Kirche unterstrich eine bereits unter vielen kamerunischen Migranten in Berlin ablaufende Veränderung des Familienbildes, d.h. eine zunehmende Konzentrierung auf die Kernfamilie, in der Eltern ihre biologischen Kinder aufziehen. Lily diskutierte mit mir die lebendige Spannung zwischen den Bedürfnissen der Kernfamilie und den emotionalen und materiellen Verpflichtungen von Migranten-Ehefrauen gegenüber ihrer Herkunftsfamilie und weiteren Verwandtschaft. „De fois on… confond un peu les choses, on met souvent la famille avant sa propre famille, cʼest à dire son mari, ses enfants. Des fois on regarde trop à la mère ou au père, avant le mari et les enfants. Et vice-versa. Le mari qui va regarder trop à sa mère par rapport à sa femme et ses enfants. Cʼest ça un peu le problème quʼon a un peu entre Africains. On arrive pas à faire cette différence. Et cʼest pas bon. Mais bon, je suis dʼavis que la famille est très important, de toute façon. Surtout quand les relations sont très étroites. Quand vous avez de bonnes relations, comme cʼest le cas dans ma famille. Jʼai de très bonnes relations avec ma mère, mes sœurs, mes frères. Et ça cʼest important quoi.“
Für Lily und andere Frauen, deren Geschichten hier erzählt werden, sind verwandtschaftlich basierte emotionale Schaltkreise zwischen kamerunischen Herkunftsorten und europäischen Zielorten weit mehr als Verpflichtungen, die in einem angespannten Verhältnis zur Entwicklung der Ideale von der Kernfamilie stehen. Emotionale Schaltkreise unter zerstreuten Verwandten sind ein wichtiger Teil des Migrantenlebens. Migranten-Mütter stützen sich auf diese emotionalen Verbindungen, wenn sie sich pragmatischen und emotionalen Problemen im Hinblick auf die Reproduktion und Zugehörigkeit an einem neuen Ort gegenüber sehen. Wir haben festgestellt, dass sowohl Frauen aus dem französisch- als auch dem englischsprachigen Grasland (Bamiléké und Frauen aus den zahlreichen anglophonen Fondoms) versuchen, durch Mobilität die reproduktive Unsicherheit zu überwinden, mit denen sie in ihrer ländlichen Heimat und ihren städtischen Wohnsitzen in Kamerun konfrontiert werden. Durch die Migration schaffen sie jedoch neue Formen der reproduktiven Unsicherheit und neue Probleme für die Zugehörigkeit. Diese Herausforderungen wandeln sich im Verlauf der Mutterschaft und führen zu veränderten Lösungsstrategien der Mütter. Jeder Schritt im Lebensverlauf schafft neue Bedürfnisse, neue moralische Gebote und neue Möglichkeiten, sich mit anderen zu verbinden. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit verwandtschaftlich basierten emotionalen Schaltkreisen, die sich bilden und wandeln, wenn kamerunische MigrantenMütter Familien gründen. Es konzentriert sich auf die Mitwirkung verwandtschaftlich basierter emotionaler Schaltkreise an den Herausforderungen der Re-
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produktion, mit denen Frauen in den frühen Phasen der Familiengründung konfrontiert werden. Dazu gehört auch, einen Sexual- und Liebespartner zu finden und diese Partnerschaft durch die Ehe zu formalisieren. Die ersten Schritte der Familiengründung umfassen auch die bisweilen schwierige Aufgabe, die Familienplanung zu diskutieren und die Fortpflanzungsziele an die Realität des Migrantenlebens anzupassen. Einigen Paaren fällt das Kinderzeugen leicht, während andere Migranten größere Anstrengungen unternehmen müssen, um in einem fremden spirituellen und medizinischen System ein Kind zu empfangen. Diese Last bleibt meistens an den Frauen hängen. Weitere Herausforderungen ergeben sich mit dem Erlebnis der Schwangerschaft und der pränatalen Sorge, der Geburt und der Betreuung von Neugeborenen. So vieles ist neu und voller Möglichkeiten, wenn man eine Beziehung eingeht, ein Kind bekommt oder eine Familie gründet. Sowohl Möglichkeiten als auch Neuheiten beinhalten die Konfrontation mit dem Unbekannten, die Forderungen nach Entscheidungen und die teilweise versteckten Machtdynamiken, die Einfluss darauf nehmen, welche Entscheidungen verfügbar und akzeptabel sind (Taussig, Hoeyer und Helmreich 2013: 4, 6). Sich dem Unbekannten zu stellen, kann beunruhigend sein; die Verknüpfung neuer Möglichkeiten der Familiengründung mit den Ungewissheiten der Migration kann geradezu überwältigend sein. Daher bieten sich diese frühen Phasen der Familiengründung für eine Untersuchung der Lösungen an, die kamerunische Migranten für die Probleme der Familiengründung und Kindererziehung innerhalb einer mobilen Diaspora finden. In Kamerun ist dies ein Lebensabschnitt, in dem Frauen mobil werden und von ihren verwandtschaftlich basierten sozialen Netzwerken auf besonders intensive Art umgeben sind. Wenn kamerunische Mütter erklären, dass „es schwer ist, eine Mutter in Berlin zu sein“, dann stellen sie kamerunische Erwartungen der Realität in Berlin gegenüber; sie beklagen sich über die Schwierigkeit „ganz allein zu sein“. Die physische Trennung von Heimat und Familie sorgt für Schwierigkeiten in den Gemeinschaften der Migranten-Mütter und auch in den Familien daheim. Die Halt gebenden emotionalen Schaltkreise schaffen ebenso Komplikationen. Verwandtschaftliche Beziehungen brechen gelegentlich unter der Last von Familienstreitigkeiten oder der Scham über unerreichte Migrationsziele zusammen. Frauen schmieden transnationale emotionale Schaltkreise mit Familienmitgliedern und anderen Migranten, um die vor ihnen liegenden Probleme der Reproduktion und Zugehörigkeit zu bewältigen, aber sie lernen auch auszuweichen, sich zu verstellen und unabhängig zu handeln, wenn diese Verbindungen zu belastend werden.
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Was sagen die Äußerungen kamerunischer Migranten über die emotionalen Schaltkreise aus, die junge Mütter mit ihren Verwandten über nationale und kontinentale Grenzen aufbauen? Wie knüpfen Frauen durch ihre reproduktiven Tätigkeiten Verbindungen zu zerstreuten Familienmitgliedern? Welche Art von Ratschlägen, Gütern, Geld, Unterstützung und Forderungen fließen entlang dieser Verbindungen? Fließen sie nur in eine Richtung oder kommt es zu einem Austausch? Wie reagieren Typen, Symmetrie, Intensität und emotionale Ladung dieser Austausche auf die körperliche Distanz transnationaler Familiennetzwerke? Und vor allem: Wie erleben Migranten-Mütter diese verwandtschaftlich basierten emotionalen Schaltkreise, wenn sie versuchen, reproduktive Probleme bei der Migration zu bewältigen? Natürlich sind verwandtschaftlich basierte emotionale Schaltkreise nicht nur für Migrantinnen wichtig, die ein Kind bekommen; sie bleiben auch während der Kindererziehung von entscheidender Bedeutung. Im nächsten Kapitel setzen wir die Untersuchung der Geschichten von Frauen über Familienbande fort und konzentrieren uns auf die Herausforderungen, die sich ergeben, wenn man ein Gefühl der Zugehörigkeit für seine Kinder schaffen will. In den darauffolgenden Kapiteln erforschen wir weitere Formen emotionaler Schaltkreise, an denen Migrantinnen bei den komplizierten und miteinander verflochtenen Aufgaben von Reproduktion und Zugehörigkeit beteiligt sind. Nun wenden wir uns den Beziehungen zu, die kamerunische Frauen mit den zukünftigen Vätern ihrer Kinder eingehen. Sich auf eine Beziehung mit einem Mann einzulassen ist mit der Migrationslaufbahn von Frauen genauso verknüpft wie ihre reproduktive Zukunft. Diese dyadischen Beziehungen sind in ein umfassenderes Netzwerk von Familienzugehörigkeit eingebettet, das gleichzeitig von ihnen erweitert wird.
„M ADAME
OU M ADEMOISELLE “ IN D EUTSCHLAND : EHELICHE UND FAMILIÄRE B EZIEHUNGEN EthnologInnen schreiben seit langem über die Art und Weise, wie eine Ehe Beziehungen zwischen Familien herstellt. Die Ehe kann ein Bündnis zwischen Verwandtschaftsgruppen bilden (Lévi-Strauss 1969). In Kapitel Zwei haben wir festgestellt, dass die Ehe unter Bamiléké und anderen Völkern des Graslands in Kamerun schon lange eine Basis zur Festigung von Allianzen und zur Demonstration von Treue unter royalen Abstammungslinien, dem niederen Adel und den übrigen Bürgern ist. Darüber hinaus setzt die Ehe eine Kaskade von Austauschen in Bewegung, die Verwandtschaft aneinander binden – rechtlich, strukturell und
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emotional. Emotionale Schaltkreise werden gebildet, wenn die Familien von Braut und Bräutigam aufeinander treffen. Durch sie werden materielle Güter an die Familie der Braut übertragen, Rechte an der Arbeit und den Kindern der Braut an die Familie des Bräutigams übermittelt und Äußerungen bezüglich Solidarität, Verpflichtungen, Sorge und Moral ausgetauscht. Die mit dem Zusammenkommen eines Paars ins Leben gerufenen emotionalen Verbindungen bestehen auch über die Hochzeit und den Zeitraum ehelicher Zuwendungen hinaus. Verheiratete Schwestern und Töchter reisen für einen Besuch nach Hause und bekommen dort im Idealfall auch ihr erstes Kind. Kinder besuchen ihre Großeltern, Tanten und Onkel und werden manchmal auch von ihnen großgezogen. Viel später weinen, trauern und tanzen angeheiratete Verwandte auf Beerdigungen und Gedenkfeiern. Die Ehe führt auch zu einer Wandlung von Beziehungen innerhalb von Verwandtschaftsgruppen. Braut und Bräutigam haben einen weiteren Schritt auf der Reise zum Erwachsensein und zur gesellschaftlichen Reife gemacht. Ihr Status gegenüber ihren Eltern, Geschwistern und anderen Verwandten ändert sich. Im ländlichen Kontext baut der Bräutigam seiner Frau ein Haus und eine Küche, damit sie drinnen kochen kann. Die Braut zieht ins Dorf des Bräutigams und schafft so zwischen Dörfern und Stammesfürstentümern Wege für zukünftige Beziehungen. Im städtischen Kontext von Kamerun kehren Braut und Bräutigam für die traditionelle Hochzeitszeremonie zurück au village,1 halten eine Hochzeit in Weiß in der Kirche ab und/oder schließen die zivile Ehe vor einem Richter. Trauzeugen und Gäste reisen an, bringen Geschenke und feiern, bevor das junge Paar einen neuen (neolokalen) Haushalt gründet. Sobald das Paar verheiratet ist, interessieren sich immer weitere Verwandtschaftskreise für sein reproduktives Leben und erwarten Kinder, damit mehr Leute dazukommen (make people), die das Netzwerk und die Reichweite der Familie erweitern (Smith 2001). Das Zusammenfinden als Paar und die Heirat sind zwei Wege der Familiengründung. Im kamerunischen Kontext begründet die Ehe einen gemeinsamen Haushalt für Ehefrau und Ehemann und geht idealerweise dem Kinderkriegen voraus. Widersprüchliche Erwartungen und strukturelle Umstände erschweren es Paaren, die Liebesbeziehung mit Familienpflichten, Arbeit, Ausbildung und Kinderkriegen in Einklang zu bringen, um einen idealisierten Zeitplan umzusetzen (Johnson-Hanks 2006). Diese Koordinationsarbeit ist sogar noch anspruchsvoller, wenn Kameruner ins Ausland ziehen und Familienmitglieder sich vorübergehend oder dauerhaft über internationale Grenzen zerstreuen. Migranten mit Mittelschicht-Ambitionen haben sich emotional am stärksten einer idealisier-
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Kann als „im Dorf“ oder als „zu Hause“ übersetzt werden.
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ten, modernen Ordnung der Dinge bei der Familiengründung verschrieben. Ihre Idealvorstellung ist es, auf Basis romantischer Gefühle und einer rationalen Beurteilung der zukünftigen Treue und materiellen Verantwortung umworben zu werden, vor der Ehe eine gute Ausbildung und einen vielversprechenden Berufsweg zu haben, mit der elterlichen Zustimmung zu heiraten und erst nach der Hochzeit Kinder zu bekommen. Ironischerweise sind es eher ambitionierte Frauen, die eine Migration anstreben, wodurch sich weitere Komplikationsebenen für Partnersuche, Familiengründung und Mutterschaft unterwegs ergeben. Die Frage Madame ou Mademoiselle? als Auftakt zu Flirt und Liebesbeziehung hat für Kameruner in Berlin einen besonderen Stellenwert. Die Liebesgeschichten von Maria, Jucal, Soʼnju und Fanny veranschaulichen, wie kamerunische Migranten-Mütter Liebe, Migration und Familiengründung miteinander verbinden. Ihre Geschichten über das Finden von Partnern und das Veranstalten von Hochzeiten zeigen, wie ihre Ehen die Beziehungen zu Eltern, Geschwistern und angeheirateten Verwandten verändert haben, die später ihre Erfahrungen als werdende Mütter beeinflussen würden. Marias Geschichte bildet den Rahmen für den Umgang mit drei Arten der Ehe im Kontext der Migration. Die Erzählungen von Jucal, Soʼnju und Fanny stellen Variationen der ehelichen Umstände sowie deren Auswirkungen auf die Aufrechterhaltung verwandtschaftlich basierter Verbindungen der Zugehörigkeit dar. Maria Mars Liebesgeschichte Maria Mar ist eine 29 Jahre alte, warmherzige und heitere Mutter von drei Kindern, die seit fast acht Jahren in Berlin lebt. Maria hat einen deutschen Abschluss in Wirtschafts- und Finanzwissenschaft; als wir uns 2010 kennenlernten, befand sich Maria gerade im Mutterschaftsurlaub von ihrer Stellung in einem Industrieunternehmen. In Marias Wohnung war ein Porträt von ihr selbst, ihrem Ehemann Paul, ihren zwei Töchtern und – scherzte sie – ihrem kleinen Sohn zu sehen, der sich noch im hervorwölbenden Bauch seiner Mutter versteckte. Anhand Marias Selbstdarstellung wurde offensichtlich, dass ihr Foto der sichtbare Nachweis für die Bedeutung war, die kameradschaftliche Ehe und die Kernfamilie in einer aufkommenden Mittelschicht haben (Hirsch und Wardlow 2006). Marias Liebesgeschichte veranschaulicht schrittweise Migrationsmuster sowie den schrittweisen Prozess, mit dem Kameruner drei mögliche Arten der Ehe schließen: die traditionelle, bürgerliche und kirchliche oder weiße Hochzeit. Kamerunische Migranten wie Maria Mar und Paul begegnen den Kosten und bürokratischen Hürden internationaler Reisen mit Innovationen bei der Erfüllung
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ehelicher Bräuche. Durch diese Innovationen werden Familienmitglieder auf neue Art mit dem Paar verbunden und es entstehen neue Pfade für zukünftige Ratschläge und Austausche. Letztlich zeigt Marias Geschichte auch, wie zufällige Begegnungen sich mit den strukturellen Gegebenheiten überschneiden, die bestimmen, wie die Liebe sich in einer globalen, mobilen Welt entwickelt (s. Cole und Thomas 2009). Maria Mar und Paul wuchsen in der gleichen Gegend von Bamenda auf, der provinziellen Hauptstadt der englischsprachigen Hälfte der hochländischen Graslandregion. Maria erklärte, dass sie im gleichen Dorf aufwuchsen und meinte damit, dass sie aus dem gleichen Fondom von Mankon stammen, das heute innerhalb der Stadtgrenzen von Bamenda liegt. Pauls Familie lebte in der Nähe der Kirche, die Maria Mars Familie besuchte und daher ergaben sich für sie häufig Gelegenheiten zu gegenseitigen Beobachtungen und Gesprächen. „We really knew each other, but like youth… we were really close to each other, we even used to go out together but just like normal friends. I think we had feelings for each other because I liked him, he liked me but we never you know… officiated anything.“ Dann folgte Paul dem unter transnationalen Kamerunern verbreiteten schrittweisen Migrationsmuster und zog in die Hauptstadt Yaoundé. Viele Jahre lang verloren die beiden den Kontakt zueinander. In der Zwischenzeit war Maria mit einem Studentenvisum nach Berlin gereist, denn seit sie als Schulmädchen die Geschichte des deutschen Kolonialforschers Eugen Zintgraff2 gehört hatte, war sie fasziniert von der deutschen Kolonialgeschichte. Später entschied sie sich, dass Wirtschaft und Finanzen mehr berufliche Erfolgsaussichten boten und nach zwei Jahren des Studiums traf sie zufällig erneut auf Paul, dieses Mal in Berlin. „Then love started growing here… it was a wonderful surprise, I canʼt explain. Sometimes I feel it is the will of God that it is just working that way.“ Wie viele Migranten-Paare entwickelte sich die Beziehung von Maria und Paul, während sie gleichzeitig versuchten, Sprachunterricht, Seminararbeiten, Teilzeit-Jobs und anhaltende Verpflichtungen gegenüber Verwandtschaft und Gemeinschaftsorganisationen unter einen Hut zu bringen. Und wie bei vielen anderen war die Bewältigung reproduktiver Ereignisse – ein tragischer, medizinisch indizierter Schwangerschaftsabbruch, eine freudige Geburt – Teil von Marias und Pauls Koordinationsarbeit, die den Zeitpunkt ihrer Hochzeit bestimmte.
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Eugen Zintgraff war einer der ersten europäischen Entdeckungsreisenden, der 1889 während einer durch das deutsche Außenministerium finanzierten Unternehmung das kamerunische Grasland, Teil der soeben errichteten deutschen Kolonie Kamerun, erreichte (Fardon 2006: 5).
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Kameruner schließen die Ehe auf drei verschiedene Weisen – als traditionelles Ritual, als zivile Eheschließung und als kirchliche Trauung. Aufgrund persönlicher Entscheidungen, familiärer Erwartungen und verfügbarer Ressourcen heiraten einige Paare nur auf eine Weise, während andere alle drei Arten durchführen (Johnson-Hanks 2006). Über einen Zeitraum von fünf Jahren führten Maria und Paul alle drei Hochzeitszeremonien durch, wenn auch mit kleinen Anpassungen an die finanziellen und rechtlichen Einschränkungen des Migrantenstatus. Hochzeiten sind Anlässe, die den Bund von Ehemann und Ehefrau öffentlich in ein größeres Netzwerk aus Familienbanden einbetten. Wie in anderen Fondoms im Grasland und in vielen afrikanischen Gesellschaften südlich der Sahara werden auch in Marias Heimatort in Mankon mit der Brautgabe produktive und reproduktive Rechte und Pflichten zwischen Verwandtschaftsgruppen übertragen (Comaroff 1980). Erst wenn die Familie des Bräutigams der Familie der Braut eine vorher ausgehandelte Kombination aus Geld, materiellen Gütern und (eventuell) Arbeit übergeben hat, wird die Ehe als rechtskräftig betrachtet. Maria und Paul war es wichtig, den Austausch von materiellen Gütern und Gelübden unter ihren Verwandtschaftsgruppen vor der zivilen und weißen Hochzeit durchzuführen. Maria erläuterte ihren Sinn für die richtige Ordnung der Dinge, in der traditionelle Rituale, die einen materiellen und emotionalen Austausch unter einem größeren Kreis von Akteuren veranlassen, Vorrang haben und daher zuerst geschehen müssen. Marias und Pauls finanzielle Situation als Studenten und die Komplikationen mit den Visa, die eine grenzüberschreitende Reise mit sich brachte, hielten Maria und Paul jedoch von einer Reise nach Kamerun ab. Also handelten sie innovativ, führten die Trauung per Stellvertreter durch und feierten anschließend die zivile Eheschließung in Deutschland. Erst mehrere Jahre später, als Maria und Paul beide eine Stelle in Deutschland hatten, reisten sie nach Kamerun, um die traditionellen Rituale persönlich zu absolvieren und eine Hochzeit in Weiß zu veranstalten. MM: „We got married legally here in Germany and then we went back to Cameroon and then we did the wedding there. But with us before the legal marriage we must do the traditional rite, the necessities. So my husband did that and that could be arranged without us.“ PFS: „So you did the traditional rites in Cameroon.“ MM: „In our absence… I had to choose one of my sisters to stand on my behalf to represent me [as the bride] and give my word that I agree.“ PFS: „And then you went and had the white wedding?“ MM: „Yes, we went back… even after our first two [living] children [were born]. We went 2008, in December… Before the white wedding we had to conclude the traditional wed-
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ding. Yes, the essentials we had already done but we had to finish it since we were there and present… It was very wonderful! It was so nice.“
Die Trauung per Stellvertreter oder Eheschließung in Abwesenheit findet statt, wenn die Braut oder der Bräutigam oder beide aufgrund reisetechnischer Schwierigkeiten nicht persönlich anwesend sein können. Der öffentliche Austausch von Brautgabe, Gelübden der Verbundenheit zwischen Familienmitgliedern und Segenswünschen für die Frischvermählten kann den Bund ungeachtet ihrer Anwesenheit legalisieren. Nahestehende Familienmitglieder, zum Beispiel Marias Schwester, agieren als Stellvertreter bei der Abgabe von Gelübden, dem Vergießen von Trankopfern und dem Einreiben mit Palmöl und Rotholzpulver. Diese Arrangements sind in der großen Graslandregion, auch bei den frankophonen Bamiléké, gut bekannt. Ariane, eine 25-jährige Bamiléké, Vorstandsmitglied ihrer Hometown Association, Studentin an der Technischen Hochschule und Mutter eines kleinen Kindes, beschreibt ihre Vertrautheit mit der Trauung per Stellvertreter unter Bamiléké-Migranten in Berlin. „Généralement cʼest pour le cas de lʼEurope, quand lʼhomme parfois ne peut pas se déplacer, la famille va et il y a un représentant de la famille de lʼhomme qui joue son rôle. Cʼest généralement ça. Il y a souvent eu des cas comme ça. Et puis la dote se fait malgré tout.“ Auf die gleiche Weise, auf die Maria das traditionelle Ritual als „Notwendigkeit“ bezeichnet hat, betont Ariane, dass die Ehe im Sinne des kan, des Gewohnheitsrechts der Bamiléké, eher durch den Austausch der Brautgabe als durch die Anwesenheit von Braut und Bräutigam rechtskräftig wird. Wie alle Übergangsriten sind Hochzeiten Momente, in denen die Wandlung des Sozialstatus öffentlich sichtbar gemacht wird (Piot 1999) und soziale Beziehungen dokumentiert werden (Ferraris 2013: 286). In äußerst mobilen Volksgruppen dient statt schriftlicher Urkunden ein Video der Trauung per Stellvertreter (Abb. 3.1) als Beleg für die Gültigkeit der rechtlichen Beziehung. Bei meiner ehrenamtlichen Arbeit als Sachverständige an einem amerikanischen Einwanderungsgericht habe ich erlebt, dass Fotos von Trauungen per Stellvertreter als Beweise vorgelegt wurden und in Asylfällen erfolgreich die Ehe nachgewiesen haben. Paare spielen diese Hochzeitsvideos immer wieder zu Hause in ihren Wohnzimmern ab, um den Hochzeitsablauf und die fürsorgliche Mitwirkung der Verwandtschaft erneut zu durchleben und zuschauenden Freunden und Angehörigen zu demonstrieren. Auf diese Weise werden Hochzeitsvideos zu einer andauernden Bekundung der verwandtschaftlichen Beziehungen und dauerhaften Familienzugehörigkeit. Das Hochzeitsvideo von Maria und Paul zeichnet emotionale und materielle Austausche auf, die langjährige emotionale Schaltkreise zwischen und unter dem neuen Paar und seiner Verwandtschaft begründet haben.
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Abbildung 3.1: Screenshot eines Videos einer Stellvertreter-Heirat, von den Verwandten an das Paar gesendet. Solche Videos dokumentieren die Feier einer traditionellen Heiratszeremonie in Abwesenheit von Braut und/oder Bräutigam. Foto: Anonym
Diese emotionalen Schaltkreise waren die Pfade, über die später das Interesse der Familie an der Familiengründung von Maria und Paul sowie Ratschläge bezüglich Gesundheitspflege und Kindererziehung flossen. Nach meiner Erfahrung mit traditionellen Hochzeiten in Bangangté in den 1980er Jahren wurde das Einreiben der Braut mit Palmöl und Rotholzpulver – beides „rot wie das Blut der Geburt“ – von Fruchtbarkeitssegen begleitet. Im Einklang mit ihrer späteren Selbstdarstellung als Frau, die mit einiger Mitwirkung ihres Mannes, aber ohne „Familiendruck“, selbstständig eigene reproduktive Entscheidungen trifft, spielte Maria die zentrale Rolle der Fruchtbarkeitssegen bei traditionellen Hochzeitszeremonien herunter. Stattdessen beschreibt Maria die Wandlung der traditionellen Hochzeitsrituale im Grasland. Die Segnungen bei ihrer Trauung per Stellvertreter betonten eher den Schutz als die Fruchtbarkeit und das Ritual wurde „modernisiert“ und ist inzwischen „nur noch ein Symbol“. „The family of my father and that of my mother they have to put their blessings together so they both brought their oils, from both sides… They use palm oil and camwood and they bless it… And they only do that after the dowry [bridewealth] has been paid [by the groomʼs family] and they are satisfied and then they give that blessing… Anyway they do a bit on my sister [during the marriage-by-proxy] but they had to do it perfectly on me [when we visited Cameroon several years later]. And you know everything has been modernized, because at first... it was a must that they will pour the oil on you, meaning like oil
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bath, they will pour it on you. But everything it is just a symbol, they didnʼt find it necessary to be doing all the [details, with palm oil and camwood]… from your head to toes. And thereafter you have to run around and share the blessing, you catch people and rub them with the oil and it is a nice gesture but that oil… [lacht mit angeekelter Miene] So thanks to this modernization… I just had it on my shoulders, on my leg and it is like protection, you know?! They say if you kick a stone let the stone get broken not your leg but the stone will break instead of your leg.“
Diese Schutzsegen gehen von beiden Seiten der Familie der Braut aus, von der väterlichen sowie der mütterlichen Linie. Die Familie des Bräutigams hat durch Menge und Art der übergebenen Brautgabe demonstriert, dass sie Maria schätzt, ja sogar liebt. Trotzdem benötigt die Tochter Schutz, wenn sie sich auf das Leben unter der Verwandtschaft ihres Ehemanns einlässt. Vielleicht benötigte Maria einen besonders starken Schutz, da sie die internationale Migration mit all ihren anstrengenden Ungewissheiten wagte. Maria berichtete am ausführlichsten über ihre traditionellen Hochzeitszeremonien, sowohl über die Trauung per Stellvertreter, die Paul zur Erfüllung „der Notwendigkeiten“ arrangiert hatte, als auch über die teilweise Wiederholung, um alles „perfekt zu machen“, sobald sie und Paul nach Kamerun reisen konnten. Doch kurz nachdem die Trauung per Stellvertreter durchgeführt worden war, schlossen Maria und Paul die zivile Ehe in Deutschland. Maria nannte dies ihre „gesetzliche Ehe“ und in der Tat brachte sie eindeutige Dokumente mit sich, die von der deutschen Einwanderungsbehörde sowie der kamerunischen Botschaft gesetzlich anerkannt wurden.3 Anschließend dauerte es mehrere Jahre, bis die beiden ihren Abschluss machten, eine feste Stelle in Deutschland fanden und ihren neuen Aufenthaltsstatus festigten, bevor sie nach Kamerun zurückkehrten. Maria und Paul mussten sparen, um die Kosten ihrer Hochzeit in Weiß in Kamerun bezahlen zu können. Als zurückkehrende Migranten wurde von ihnen erwartet, dass sie Geschenke für die Familienmitglieder mitbringen. Vor der weißen Hochzeit führten Maria und Paul das traditionelle Ritual noch einmal persönlich durch und beauftragten einen Kameramann mit der Aufzeichnung der Zeremonie. Sie zahlten für Essen und Getränke und für den Kirchensaal in der römischkatholischen Kirche in ihrem Teil von Bamenda-Stadt. Und keine weiße Hochzeit wäre vollkommen ohne Marias weißes Hochzeitskleid, Pauls Anzug und
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Seit Januar 2009 erlaubt es ein neues Ehegesetz in Deutschland, dass die kirchliche Trauung vor der standesamtlichen Eheschließung durchgeführt wird. Trotzdem ist nur die Eheschließung vor dem Standesamt rechtskräftig (siehe § 1310 und § 1588 BGB [Dethloff 2012: 38]).
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hübsche Kleider für die beiden kleinen Töchter, die zwischen dem ersten und letzten dieser vielen Hochzeitsrituale geboren worden waren. Hochzeitsfeiern machen Spaß, sind aber teuer. Die traditionellen, staatlichen und kirchlichen Zeremonien verknüpfen den weiteren Verwandtschaftskreis der Familien von Braut und Bräutigam bereits in neuen Konfigurationen miteinander. Darüber hinaus entstehen durch Handlungen im Rahmen der Hochzeit, wie zum Beispiel durch die finanzielle Unterstützung, anhaltende Verbindungen und wechselseitige Verpflichtungen. Durch den gemeinsamen Spaß auf der Feier bildet sich eine kollektive Efferveszenz (Durkheim 1915; Collins 2005), eine emotionale Energie, die positive Gefühle in die Zukunft trägt. Durch Maria Mars Geschichte erfahren wir, dass Verbindungen aus der Kindheit und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Ort als Grundlage für eine spätere Liebesgeschichte dienen können. Obwohl Maria persönliche Entscheidungen und die kameradschaftliche Ehe in ihrer Selbstdarstellung hervorhebt, weist sie auch auf die vielen verschiedenen Arten hin, auf die Familienmitglieder an ihrer Heirat mit Paul beteiligt waren. Maria und Paul haben Form, Zeitpunkt und Koordination mehrerer Hochzeitszeremonien (die sich jeweils an unterschiedliche Referenzgruppen richteten) an ihre Situation als junge afrikanische Migranten in Europa angepasst. Durch diese Hochzeit entstanden potenzielle Verbindungen unter Familienmitgliedern; einige entwickelten sich zu verwandtschaftlich basierten emotionalen Verbindungen der Zugehörigkeit, die Maria später bei ihrer Mutterschaft und der Bewältigung reproduktiver Krisen unterstützten. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, profitieren auch andere Mütter von den bei Hochzeiten und sogar einfachen Heimatbesuchen erzeugten positiven Emotionen, wenn sie in Kamerun Pflegevorkehrungen für ein oder mehrere Kinder treffen müssen. Marias Geschichte veranschaulicht außerdem, wie Klassenherkunft die Wahrscheinlichkeit der erfolgreichen Koordination von Ausbildung, Beruf und reproduktiven Tätigkeiten als Migrant erhöht. Durch Besuche, mit und ohne ihre Anwesenheit durchgeführte Rituale und den Austausch von Telefonaten und Fotos haben Maria und Paul die Meilensteine von Heirat, Geburt und der Entwicklung ihrer Kinder mit ihren Familienmitgliedern in Kamerun geteilt. Die bilinguale Erziehung ihrer Kinder hat die Leichtigkeit der generationsübergreifenden Kommunikation und das Zugehörigkeitsgefühl weiter verstärkt. Nicht alle Migranten lassen andere trotz ihrer guten Hoffnungen und Pläne an ihrem glücklichen Schicksal teilhaben. Manche Migranten mit hohen Bildungsabschlüssen und gesetzlichen Wegen zur Migration, wie z.B. Jucal, erleben trotz alledem einen schweren Statusabstieg, der ihre reproduktiven Leben beeinträchtigt. Andere wie Soʼnju und Fanny kommen mit weniger Humankapital und begrenzteren
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Aufenthaltsrechten an. Unter diesen Umständen werden Liebe und Reproduktion instrumentalisiert – und schrecklich kompliziert. Beide Frauen mussten anfangs Anstrengungen und Isolation durchstehen. Nach diesen Erlebnissen ist Soʼnju gegenüber Klatsch aus Migrantengemeinschaften weiterhin misstrauisch, während Fanny sich gezielt bemüht, abgebrochene Verbindungen zwischen ihrem Verlobten und seinen Eltern in Kamerun zu kitten. Die Komplexität von Liebe, Ehe und Zugehörigkeit: Jucal, Soʼnju und Fanny Jucals Liebesgeschichte Jucals Familiengeschichte hat sie viel darüber gelehrt, entwurzelt zu werden und sich ein Zuhause an einem neuen und unvertrauten Ort in Kamerun zu schaffen. Jucals Heirat hat ihre Zugehörigkeit zu diesem neuen Ort verstärkt, obwohl sie durch sie ironischerweise in ein fremdes Land gelangte und neuen Ungewissheiten bezüglich Zugehörigkeit und Reproduktion ausgesetzt wurde. Jucal ist eine 36-jährige Bamiléké-Frau, deren Familie seit zwei Generationen in der englischsprachigen Region von Kamerun lebt. Ursprünglich verließ die Familie ihr Dorf in der Nähe des obersten Stammesfürstentums von Bangangté in den 1950er Jahren, als ein nationalistischer, antikolonialer Aufstand und dessen brutale Bekämpfung die gesamte Bamiléké-Hochebene erschütterten. Auf den industrialisierten Palmölplantagen in der Südwest-Region suchte Jucals Familie Schutz vor les troubles sowie Arbeit. Sie wurden zu come no goes, wie sie in Pidgin bezeichnet werden. Die Variabilität von Problemen der Zugehörigkeit zeigt sich darin, dass Jucal ein stärkeres Gefühl der Zugehörigkeit, der emotionalen Identifikation, gegenüber der kleinen Stadt hegt, in der sie aufgewachsen ist, als gegenüber ihrem Herkunftsdorf. Im Gegensatz zu vielen anderen Bamiléké in der frankophonen Hauptstadt Yaoundé war Jucal keiner Diskriminierung seitens Ortsansässigen ausgesetzt, die ihre ethnische Identifikation mit den Bamiléké verstärkte. Ihre Ehe und sozialen Beziehungen stützen andere Erkenntnisse, dass Ehen und Freundschaften in Kamerun trotz der zunehmenden Politisierung von ethnischen Unterschieden in den letzten 20 Jahren auch über ethnische Grenzen hinweg vorkommen (Pelican 2012). In Jucals Fall bot die Kombination aus gemeinsamer Sprache (was auch die Gemeinsamkeit bedeutet, eine linguistische Minderheit in Kamerun zu sein), Ähnlichkeiten bei den Bräuchen zwischen Bamiléké und englischsprachigen Grassfieldern und einer während der Schulzeit entstandenen Jugendfreundschaft die Grundlage für ihre Beziehung zu Francis.
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Ihre alte Flamme, einen Auswanderer nach Berlin aus dem englischsprachigen Grasland, entdeckte Jucal wieder, als er seiner Alma Mater bei einem Heimaturlaub einen Besuch abstattete. „My husband is my, he is my first boyfriend. I knew him back in Cameroon. We went to school together, then he first of all migrated to Deutschland. Then later on he came back and [we] made a traditional marriage. By then I was at the university in Buea [zu dieser Zeit die einzige englischsprachige Universtät in Kamerun] Then later on, after my bachelors, I [migrated via] family reunification… So I came here to Germany.“
Die Tatsache, dass Francis ein bushfaller (Auswanderer zu Kontinenten, auf denen das Gras vermeintlich grüner ist) mit gültigen Papieren war, könnte ihn noch attraktiver gemacht haben. Auf Grundlage des Protagonisten im Roman Snare (2013) der kamerunischen Schriftstellerin Priscillia Manjoh könnten wir das zumindest erwarten. Jucal beschrieb ihr Liebeswerben und ihre Heirat jedoch nicht in strategischer Hinsicht. Jucal studierte Soziologie an der Universität Buea, als Francis nach langer Abwesenheit wieder nach Kamerun kam. Sie war zu ihrer Schulzeit eng mit ihm befreundet gewesen. Doch nach einem Missverständnis brach der Kontakt zwischen den beiden ab, als Francis 1996 als Student nach Deutschland reiste. Dort traf und heiratete er „the German lady“, wie Jucal sie nennt. Während dieser Zeit änderte Francis seine Karrierelaufbahn, um in Deutschland bessere Berufsaussichten zu haben. Wie in anderen europäischen und nordamerikanischen Ländern besteht aufgrund eines Mangels an Pflegekräften in Verbindung mit der alternden Bevölkerung in Deutschland ein hoher Bedarf an Altenpflegern und Pflegehilfen. Da sie ein relativ niedriges Ausbildungsniveau und nur grundlegende deutsche Sprachkenntnisse erfordern, sind dies verbreitete Stellen für Einwanderer. Für kamerunische Einwanderer, die ein deutsches Universitätsstudium aufnehmen oder sogar mit Bachelorabschlüssen ankommen, bedeutet eine Umschulung zum Altenpfleger einen Statusabstieg, um einen sicheren Job zu haben. Francis brach daher sein Studium der Agrarwissenschaft ab, um die zweijährige Ausbildung zum Altenpfleger zu absolvieren. In der Zwischenzeit konnte Francis nach drei Jahren Ehe mit seiner deutschen Frau die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen. Einige Jahre später wurde seine deutsche Frau krank und verstarb. Als Francis nach dem Tod der German lady für einen Besuch nach Kamerun zurückkehrte, kam er als Witwer, alleinstehender Vater und deutscher Staatsbürger zurück, der ein Besuchervisum für seinen Geburtsort brauchte. Während seines Aufenthalts entfachten Jucal und Francis ihre Beziehung neu, die acht Jahre lang in tiefem Schlummer gelegen hatte. Sie planten ihre gemeinsame Zukunft
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und sprachen mit ihren Familien in den Süd- und Nordwest-Regionen. Vor Francisʼ Rückkehr nach Deutschland hielten sie eine traditionelle Hochzeitszeremonie mit Besuchen, der Darbietung des bridal package (Brautgabe) und dem Austausch von Gelübden zwischen den beiden, ihren Eltern und ihren weiteren Familienkreisen ab. Die Mitglieder von Francisʼ westlichem Grasland-Fondom und Jucals Bamiléké-Familie hatten die gleichen traditionellen Hochzeitsbräuche gemeinsam, wie es bereits vorher in Marias Geschichte beschrieben wurde. Als Jucal ihr Soziologiestudium mit dem Bachelor abschloss, hatte Francis sich um den Papierkram gekümmert, damit Jucal über die Regelung der Familienzusammenführung zu ihm nach Berlin kommen konnte. Betrachten wir ein paar Zahlen, um Jucals Migration über die Familienzusammenführungsregelung besser einordnen zu können: 2012 kamen 31% der kamerunischen Neuankömmlinge, die einen befristeten Aufenthaltstitel in Deutschland bekamen, über die Familienzusammenführungsregelung; in Berlin liegt die Zahl bei 40%.4 Andere Migrationswege – zum Beispiel aus ausbildungstechnischen, beruflichen oder humanitären Gründen – könnten de facto auch der Familienzusammenführung dienen. Soʼnjus Liebesgeschichte Wie Jucal ist auch Soʼnju eine englischsprachige Bamiléké-Frau Mitte dreißig, die seit mehreren Jahren in Berlin lebt. Soʼnjus Vorfahren stammten ursprünglich aus Bahouoc, das nahe dem Ort meiner ersten kamerunischen Recherchen im Bamiléké-Fondom Bangangté liegt, und flohen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vor den Stammeskriegen im Zuge der frühen deutschen Kolonialzeit in das neu gegründete Flüchtlings-Fondom bei Bali-Bawock.5 Soʼnju hat
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In Deutschland wurden 2012 2.080 kamerunische Neuankömmlinge registriert, von denen 1.044 befristete Aufenthaltstitel erhielten, davon 324 für Zwecke der Familienzusammenführung. Von 193 kamerunischen Neuankömmlingen in Berlin erhielten 153 befristete Aufenthaltstitel, davon 61 (40%) zur Familienzusammenführung und 86 (56%) für Bildungszwecke (Dick o.D.).
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Bahouoc im Französischen bezeichnet das Fondom in der Nähe von Bangangté und die englische Schreibweise Bawock steht für ein Fondom im Unterbezirk Bali der Nordwest-Region, das ca. 1905 durch Massenmigrationen in der großen Graslandregion gegründet wurde (Chilver 1964). Ein Jahrhundert später haben die Ethnisierung der Politik und Politisierung der Zugehörigkeit Bawock dazu ermutigt, sich zunehmend mit ihrer Bamiléké-Herkunft zu identifizieren (Page, Mercer und Evans 2010: 350). Ein Disput über Grenzziehung und Landrechte 2006 und 2007 endete in Gewalt, die 2.000 Bawock-Flüchtlinge dazu zwang, auf dem Gelände der Bamenda Confer-
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sich eine starke Bamiléké-Identität bewahrt und verwendet einen Lobnamen, der Prinzessin aus Bangangté bedeutet. Im Gegensatz zu Jucal und Maria kam Soʼnju ohne Universitätsabschluss und schwanger nach Deutschland und ließ ein Kind zurück, das von ihrer Mutter betreut wurde. Sie kam mit einem Touristenvisum, das der Vater ihrer Kinder organisiert hatte, der zu diesem Zeitpunkt noch mit einer deutschen Frau verheiratet war. Ihre Geschichte veranschaulicht, wie schwer und kompliziert es ist, als irregulärer Migrant eine Familie zu gründen. Soʼnju war Gymnasialschülerin und anschließend Bürokraft, als sie sich erstmals auf eine romantische Beziehung mit Nya einließ. Sie machte die mittlere Reife (es fehlte nur ein Jahr zum höchsten Schulabschluss) und einen zusätzlichen einjährigen Computer-Software-Kurs, bevor sie eine Stelle als Sekretärin fand. Zusammen mit ihrer Mutter und dem Kleinkind, das sie von ihrem Freund Nya bekommen hatte, lebte sie in Bamenda. In der Zwischenzeit war Nya auf Einladung eines Freundes nach Deutschland ausgewandert, dort geblieben und hatte seinen Aufenthalt später durch die Ehe mit einer deutschen Frau legalisiert. Nach einem seiner Heimatbesuche legten Nyas und Soʼnjus Familien Geld zusammen, damit sie nach Deutschland auswandern konnte. Nya holte die Reisepapiere für Soʼnju ein, kaufte ihr ein Flugticket und mietete eine kleine Wohnung für sie. Da Nya mit seiner deutschen Frau verheiratet bleiben wollte, bis er einen dauerhaften Aufenthaltstitel bekommen würde, hielt er Soʼnju dazu an „im Schatten zu bleiben“, um den Kontakt mit anderen Leuten zu vermeiden, und den Ratschlägen anderer Kameruner zu misstrauen. Während dieser Zeit der Isolation wurde Soʼnju mit ihrem dritten Kind schwanger und ein Jahr später mit ihrem vierten Kind. „My husband told me not to ask, because when you go and ask, people will tell you one idea [i.e., give bad advice]… because he suffered the same thing when he came… Because at that time he was with a German woman, so I was just indoors, it was not easy. I didnʼt go out. Or I just go out to do shopping and come back. I did not visit anybody during that time… He rent a flat for me and I was there… [I was afraid to] have contact with people and then have problems. So I decided to stay alone with my pregnancy.“
Nach der Migration war Soʼnju über mehrere Jahre nicht nur von Gemeinschaftskontakten in Berlin abgeschottet. Auch ihre Verbindungen zu ihrer Familie daheim brachen ab. Obwohl ihre Angehörigen Nya bei der Finanzierung ihrer
ence Hall zu lagern, woraufhin der Gesundheitsbeauftragte des Bezirks Bamenda Bedenken über eine Seuchengefahr äußerte (Nkematabong 2007).
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Reise nach Deutschland geholfen hatten und obwohl Soʼnjus verwitwete Mutter ihre erste Tochter großzog, widerstrebte es Soʼnju ihnen mitzuteilen, wie das Leben im entfernten europäischen Busch wirklich war. Ihre temporäre Abwendung machte sich besonders während ihrer Schwangerschaft bemerkbar. „But even if I am pregnant I donʼt always say until I deliver… because when you tell they will ask every time you make a call… Until I deliver after two days I call and tell. Yes, my mother is always angry about that,… she is always angry when I am pregnant when I donʼt tell. ‚I am your mother, I am not your aunt or your stepmother, I am your mother, you could have told me.“
Über Soʼnjus verwandtschaftlich basierte emotionale Schaltkreise wurde eine Mischung aus Abwendung, Sorge und Zorn übertragen und einige Informationen wurden überhaupt nicht übermittelt. Beispielhaft für die wechselhafte Beschaffenheit emotionaler Verbindungen nahm Soʼnju wieder eine vertrauensvollere und offenere Kommunikation mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern auf, nachdem sich ihr Leben in Berlin gefestigt hatte. Beinahe fünf Jahre nach Soʼnjus Ankunft in Berlin konnte sich Nya von seiner deutschen Frau scheiden lassen, ohne seinen Aufenthaltstitel zu verlieren. Er und Soʼnju reisten für eine traditionelle Hochzeit nach Hause, die im Heim der Familie der Braut abgehalten wurde. Dieser Anlass ermöglichte es Soʼnju, ihre Zuneigung zu ihrer Familie und ihre Ehrbarkeit als verheiratete Mutter zu demonstrieren. Fünf Monate später schlossen Soʼnju und Nya die zivile Ehe in der kamerunischen Botschaft in Berlin. Mit den Papieren ihrer zivilen Eheschließung und Nyas dauerhafter Aufenthaltserlaubnis erhielten Soʼnju und ihre Kinder endlich einen sicheren und dauerhaften Einwanderungsstatus. Als ich Soʼnju zwei Jahre später kennenlernte, hatten sie und Nya die Einwanderung von Soʼnjus jüngerer Schwester nach Berlin finanziert, damit Soʼnjus „darling junior sister“ bei der Pflege ihres vierten Kindes helfen konnte. Soʼnju hatte außerdem einen sechsmonatigen, staatlich subventionierten Kurs in der Altenpflege abgeschlossen, ihre zwei älteren deutschen Kinder in einer Tagesstätte untergebracht und war nun etwas frustriert auf der Suche nach einer bilingualen Schule, die ihren fünfjährigen Sohn im nächsten Schuljahr aufnehmen würde. In ihrem Wohnzimmer stellte Soʼnju Fotos ihres ältesten Kinds in der traditionellen Tracht der Bamiléké aus dem Grasland zur Schau. Sie beschrieb ihren emotionalen und materiellen Austausch als entspannter, nachdem ihre eigene Ehe- und Einwanderungssituation sich stabilisiert hatte. Doch wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, macht sich Soʼnjus frühes Erlebnis der Isolation durch anhaltendes Misstrauen gegenüber Gemeinschaftsorganisationen bemerkbar. Statt einer Ge-
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meinschaft aus gleichgesinnten Migranten aus Bahouoc boten Soʼnju eher familiär basierte emotionale Schaltkreise ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Heimat, wenn auch mit schwankender Intensität. Fannys Liebesgeschichte Andere Frauen mit einem schwierigen Start als Migrantinnen schlagen andere Wege ein. Einige, wie Iris und Eveline, entscheiden sich, ihre Kinder als alleinstehende Mütter großzuziehen. Iris erklärte, dass eine Beziehung mit einem Partner gut sein kann, da man mit den emotionalen und pragmatischen Aufgaben des Lebens nicht völlig alleine gelassen wird. Doch manchmal, berichtet sie, ist es besser alleine zu sein, als mit den Problemen zu kämpfen, die ein Mann mit sich bringen kann. Eveline ist der gleichen Ansicht: „Si tu es avec un homme qui te dérange tout le temps, qui te crée seulement des problèmes, cʼest mieux que tu sois seul. Mais il y a des hommes qui sont compréhensif, il y a les hommes qui sont dur de caractère. Si tu as un homme dur de caractère, cʼest mieux dʼêtre seule. Mais un homme compréhensif, cʼest vraiment mieux.“
Andere wie Fanny können bedrohliche Situationen hinter sich lassen, um ihr Glück in einer neuen Beziehung zu finden. Fanny, eine bilinguale (Englisch und Französisch) Sekretärin, die in Yaoundé für ein internationales Unternehmen arbeitete, wurde widerwillig zur Migrantin. Nur durch den Druck ihres deutschen Ehemanns, den sie auf der Arbeit kennengelernt hatte, ließ sie ihre geliebte Stiefmutter und ihre Geschwister zurück, um in eine süddeutsche Großstadt auszuwandern. Als ihr Ehemann anfing, sie emotional und körperlich zu misshandeln, griff Fanny über ihren deutschen Sprach- und Integrationskurs auf Hilfe zurück, lebte in einem Frauenhaus und zog schließlich nach Berlin. Fanny überdachte eine Rückkehr nach Kamerun, schämte sich jedoch zu sehr heimzukommen, ohne im Ausland etwas erreicht zu haben. Fanny konnte auch nicht zurück in ihren alten Job in der Firma, die ihren gewalttätigen Ex-Ehemann beschäftigte. „While this was going on, time was also running out, I was like getting used to the system. It was difficult going back and starting things all over again… My family was there for me, but I had to think about my life too. From where to go and start back or from where to continue. When I looked [at] the both sides back in Cameroon and here I saw that I could make it easier and faster here than going back home at that moment.“
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Obwohl sie einen Statusabstieg durchgemacht hat und nun Büroräume reinigt und in einer kleinen Wohnung lebt, ist Fanny nun glücklich mit Cedric verlobt, einem Bamiléké aus dem Bezirk Ndé. Auf indirektem Weg waren familiär basierte emotionale Schaltkreise der Ausgangspunkt für Fannys und Cedrics zufällige Begegnung und ihre lange Liebesgeschichte. Während der Probleme mit ihrem misshandelnden deutschen Ehemann war Fanny in engem telefonischem Kontakt mit ihrer Stiefmutter in Yaoundé geblieben. Sie verbrachte auch viel Zeit damit, ihrer Schwester – ebenfalls eine Einwanderin nach Berlin – bei der Kinderbetreuung zu helfen. Fanny holte ihre Nichte von der Kita ab und brachte ihren Neffen zum Kinderarzt, wenn ihre Schwester beschäftigt war. Diese Familienbande bedeuteten, dass Fanny weiterhin mit dem verwandtschaftlichen Netzwerk aus Geschwistern und Cousins verknüpft blieb, die als Übermittler von Waren, Geschenken und Neuigkeiten zwischen Kamerun und Deutschland agierten. Als Fanny nach Westdeutschland reiste, um dort einen Cousin zu treffen, der „some stuff from Cameroon“ mitgebracht und versprochen hatte, etwas Paracetamol für ihre Stiefmutter mit zurück zu nehmen, traf sie auf Cedric, ihren zukünftigen Bamiléké-Ehemann. Laut Fanny dauerte die Anbahnung der Beziehung lange und begann zurückhaltend mit Telefonaten, da sich beide nach früheren Enttäuschungen verletzlich fühlten. Fanny erklärte: „I have trusted people and they have disappointed me.“ Schließlich besuchte Cedric Fanny an den Wochenenden und brachte ihr als Geschenke eine Handtasche und Schuhe mit, die in der symbolischen Sprache der materiellen Fürsorge Gegenseitigkeit ausdrücken.6 Fanny machte sich Sorgen, ob ihre Schwester ihren Besucher gutheißen würde, doch als ihre Schwester sie ermutigte, die Handtasche zu benutzen, wusste Fanny, dass sie einverstanden war. Die Liebesbeziehung von Fanny und Cedric bot Anlass zur Erneuerung abgebrochener verwandtschaftlich basierter Verbindungen der Zugehörigkeit. Cedric hatte sich von seiner mittelständischen, ambitionierten Familie entfremdet. Cedric war mit einem Studentenvisum eingereist und konnte sein Studium ab-
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In vielen afrikanischen Ortschaften wird Fürsorge genauso sehr durch materielle Austausche wie durch persönliche Interaktion zum Ausdruck gebracht. Coe (2013: 28, 173-194) beschreibt dies wortgewandt für die Beziehung zwischen globalen Migranten-Eltern und ihren in Ghana lebenden Kindern; unter Verwendung mündlich überlieferter Geschichten erläutern Moore und Vaughn (1994: 156-177) die materielle Fürsorge für Ehefrauen und ihre Angehörigen, wie sie von Bemba-Männern, Arbeitsmigranten in den sambischen Kupferminen, praktiziert wird.
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schließen, hatte allerdings Schwierigkeiten, eine Beschäftigung in seinem Fachgebiet zu finden. Er lernte eine deutsche Frau kennen und heiratete sie, aber „[...] things werenʼt the way he thought. It was tough with him, too. But he had been with his wife for four years together before they separated. And he had no contact with his family because it was like a problem for his wife. So he just like isolated himself, no friends, nothing.“
Nachdem er an Depressionen gelitten hatte und von seiner deutschen Frau quasi gezwungen worden war, den Kontakt zu seiner Familie abzubrechen, fällt es Cedric immer noch schwer, wieder eine unbekümmerte Kommunikation mit seiner Verwandtschaft in Kamerun aufzunehmen. Fanny arbeitet gezielt daran, sie einander wieder näherzubringen. „Even ʼtil now his family goes through me to talk to him. They never had that access of getting to him, talking to him and stuff like that. Even the [his] mother was very, very happy.“ *** Diese vier Liebesgeschichten veranschaulichen die unterschiedlichen Wege, über die kamerunische Migranten zu Paaren zusammenfinden und heiraten. Wenn Migranten-Paare mit der Koordination wichtiger Ereignisse wie Hochzeit und Geburt konfrontiert werden, stehen sie einer Vielzahl von Entscheidungen gegenüber. Traditionelle Zeremonien können persönlich oder mit Stellvertretern abgehalten werden. Zivile Eheschließungen können an einem kamerunischen Gericht, in der kamerunischen Botschaft in Berlin oder in einem deutschen Standesamt vorgenommen werden. Einige meiner Interviewpartner lebten auch unverheiratet in einer langjährigen Beziehung mit mehreren Kindern zusammen in Berlin, was in Kamerun vor einer Generation noch unerhört gewesen wäre. Vielleicht waren die Öffentlichkeit und die familiären Verpflichtungen der Ehe für sie zu kompliziert oder finanziell, logistisch und emotional zu belastend. Oder vielleicht waren sie auch (aus Gründen, die mit dem rechtlichen Bewusstsein zu tun haben und in Kapitel Sechs näher untersucht werden) der Ansicht, dass unverheiratete Eltern in Deutschland einen besseren Zugang zu Sozialleistungen haben. Obwohl nicht alle kamerunischen Migranten-Paare mit Kindern heiraten oder verheiratet bleiben, ist die Ehe weiterhin ein idealisierter Weg zur respektablen und gesicherten Familiengründung.7 Die Hochzeiten kamerunischer Mig-
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Als Paar zusammen zu bleiben ist ein schwieriges und komplexes Unterfangen, insbesondere für diejenigen mit weniger Mitteln und diejenigen, die unter weniger günsti-
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ranten schmieden neue emotionale Schaltkreise und verändern bereits bestehende. Eine flexible Anpassung an die Migrationssituation bedeutet, dass Hochzeiten mit und ohne Anwesenheit von Familienmitgliedern und sogar mit und ohne Anwesenheit von Braut und Bräutigam abgehalten werden können. Jugendlieben, Familienzusammenführungen und die Begegnung mit dem MigrantenEhemann im Urlaub – ihren häufig sorgfältig inszenierten Heimatbesuchen aus „dem ausländischen Busch“ – sind alles Teile des Puzzles. Das gilt ebenso für Situationen des Kummers, wenn Kinder in Kamerun zurückgelassen oder kamerunische Partnerschaften und sogar komplette Haushalte mit Kindern geheim gehalten werden müssen, während einer der Partner „die Papiere besorgt“. Dieser Kummer führt manchmal zu Störungen der emotionalen Schaltkreise, die Migranten zu ihren Familienmitgliedern in Kamerun (und oft auch zerstreut an verschiedenen anderen Orten im Ausland) unterhalten. Einige Störungen drehen sich darum, wie viel weitererzählt oder geheim gehalten werden soll. Aufgrund der Sorge um nahestehende Menschen, die sich keine Gedanken machen sollen, war die Spannung zwischen „Wahrheit und Distanz“ (Baldassar 2007) eine ständige, unterschwellige Besorgnis im Hinblick auf die Aufrechterhaltung emotionaler Schaltkreise und Netzwerke zu Daheimgebliebenen. Manche Störungen der Verbindungen traten auch auf, als sich Migranten von ihren Familien entfremdeten, weil sie über das Versagen beim Erreichen ihrer Ziele deprimiert oder enttäuscht waren, oder von ihren deutschen Partnern entmutigt wurden. Fast alle Migranten-Mütter, die ich kennengelernt habe, befanden sich in einer Beziehung mit anderen Kamerunern. Einige von ihnen, oder vielmehr ihre derzeitigen Partner, hatten jedoch vorher Beziehungen mit gebürtigen Deutschen gehabt. Viele hatten eine starke Meinung zu diesen Beziehungen. Es gibt sicherlich liebevolle und dauerhafte Beziehungen zwischen kamerunischen Migranten und deutschen Partnern. Doch ebenso sicher werden Ehen zwischen zwei Deutschen oder zwei Kamerunern auch aus anderen Gründen als Liebe eingegangen (Fleischer 2012). Nichtsdestotrotz beschreiben die kamerunischen MigrantenMütter, mit denen ich gesprochen habe, binationale Ehen zwischen Kamerunern und Deutschen als spannungsgeladen aufgrund von Auseinandersetzungen über
gen Umständen auswandern. Migranten, die mit einer unsicheren Arbeitsstelle unter schlechten oder erniedrigenden Bedingungen konfrontiert sind, haben es schwer, materielle Bekundungen der Zuneigung zu beschaffen; sie unterhalten mehr oder weniger unbewusst mehrere Beziehungen für die unterschiedlichsten Zwecke, um materiellen Austausch mit Zuneigung zu kombinieren (Manjoh 2013; Mohrmann 2013).
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die Fürsorge für den weiteren Familienkreis und die Gründung eigener Familien.8 Mrs. Black9, eine 33-jährige Produktionshelferin, meint zum Beispiel: „Sometimes I would like to send money to Cameroon to help my family or so, but my husband will not really – you know he doesnʼt see it like it is very important. He will ask me, why are you doing that? It is not really your money, you have to… He cannot understand, because I know the situation… Like I have my mother is still living. I have three, like two brothers and a sister there in Cameroon that I have to take care of them. And I have aunties and uncles, cousins, all those, you know. We Africans we have really big family. So everybody – when you are here in Europe they all look at you, you know. And everybody donʼt have problems, you donʼt have to help all of them, but you know you cannot hear problems and you just sit without helping.“
Die heutigen deutschen Vorstellungen der Unabhängigkeit von Angehörigen prallen auf die kamerunischen Maßstäbe von Familiensolidarität, insbesondere im Hinblick auf Geldsendungen an die kamerunische Verwandtschaft. Kamerunische Migranten fassen die Beschwerden ihrer deutschen Partner über Bitten um Geldsendungen daher eventuell als Aufforderung auf, verwandtschaftlich basierte emotionale Schaltkreise abzubrechen. Äußerungen zu Ehen zwischen kamerunischen Frauen und deutschen Männern im Besonderen betonten die Meinungsverschiedenheiten bezüglich des Kinderwunschs. Die meisten kamerunischen Frauen betrachten das Kinderkriegen als natürlichen Bestandteil des Erwachsenenlebens einer Frau und der Familiengründung. Viele bezeichnen die niedrigen Geburtsraten in Deutschland und Männer, die sich eine kinderlose Ehe wünschen, als Beweis dafür, dass Deutsche
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Sowohl Fleischer (2012) als auch Bledsoe und Sow (2011a: 185) machen uns darauf aufmerksam, dass Überwachung und Belästigung von staatlichen Behörden, die Scheinehen vermuten, binationale kamerunisch-deutsche Ehen schädigen können. Bei ihrer ausführlichen demographischen Ethnographie stellte Fleischer fest, dass junge kamerunische Migranten infolge einschränkender deutscher Einwanderungsregelungen „orient their marital and reproductive lives in Germany more toward Germans than toward their compatriots“ (Bledsoe and Sow 2011a: 184). Meine Forschung deutet darauf hin, dass diese Orientierung von relativ kurzer Dauer sein könnte und langjährige kamerunische Einwohner in Deutschland eher Beziehungen mit anderen Kamerunern suchen.
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Mrs. Black wählte ihr Pseudonym ausdrücklich als ironische Erwiderung darauf, dass ihre Hautfarbe in Deutschland ein bestimmendes Merkmal des „master status“ ist (Hughes 1945: 357).
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„keine Kinder mögen“. Manche, wie Gisèle und Ntecheun, berichten mit Bitterkeit über ihre Ehen mit einem deutschen Mann, die ohne gemeinsame Kinder und mit der Scheidung endeten. Andere, wie Mrs. Black und Rachel, sprechen über anhaltende Spannungen bezüglich des Kinderkriegens in ihrer ansonsten harmonischen binationalen Ehe. Mrs. Black, eine Patientin am Berliner Fertility Center, erzählt, wie schwer es für sie war, ihren Mann davon zu überzeugen, sie zu Terminen zu begleiten: „I really had to convince him really, because… he did not really want it, he was not really into it. It brought us a lot of problems, you know, most of our problems were about this child thing, you know.“ Rachel ist bereits Mitte dreißig und sehnt sich nach einem zweiten Kind, einem Spielkameraden für ihre achtjährige Tochter. Doch ihrem arbeitslosen Mann widerstrebt es, noch ein hungriges Maul stopfen zu müssen. Rachel deutet an, dass er befürchtet, eine neue Schwangerschaft würde ihren Arbeitsplatz gefährden; seine Abhängigkeit von ihr als einziger Geldverdienerin dämpft seinen Wunsch nach weiteren Kindern. Obwohl sie eher selten sind, tragen Berichte über den nicht vorhandenen Kinderwunsch weißer Ehemänner deutscher Abstammung in Gesprächen über Unterschiede und Zugehörigkeit ein erhebliches symbolisches Gewicht. Das Austragen und Aufziehen eines Kindes ist unter Bamiléké und anderen Völkern des Graslands eine Möglichkeit, die Ehe zu vervollständigen. Die Geburt eines Kindes weckt das Interesse der Familienmitglieder und regt die Fürsorge an, die über emotionale Schaltkreise weitergegeben wird. Rachel, Mrs. Black und andere schütteln ungläubig ihre Köpfe darüber, dass nicht jeder nach dieser Art von Banden strebt.
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Wenn die Ehe bereits die bestehenden emotionalen Verbindungen der Zugehörigkeit junger Frauen mit ihrer Verwandtschaft stärkt und die Familie durch die Knüpfung neuer Verbindungen mit angeheirateten Verwandten erweitert, gilt dies für die Geburt eines Kindes umso mehr. Die Geburt eines Kindes macht eine Frau – ob in Bangangté, in Yaoundé oder in Berlin – in den Augen ihrer Familie und Gemeinschaft zu einer vollwertigen Erwachsenen. Wie in vielen anderen Situationen vervollständigt die Geburt eines Kindes die Ehe, etwas „the ceremony itself merely gestures to“ (Leinaweaver 2013: 76). Sie ist Bestandteil der Zeugung neuer Menschen (making people) für die Abstammungslinie (Smith 2001), der Erweiterung und Verjüngung des Familiennetzwerks und der Erschaffung von Angehörigen und „wealth in people“ (Guyer und Eno Belinga 1995). Schwanger zu werden und ein Kind zur Welt zu bringen erfüllt die Wünsche, die
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von den Eltern und Schwiegereltern der Braut durch fertilitätsbezogene Hochzeitsrhetorik und -symbolik zum Ausdruck gebracht werden. Wie die folgende Unterhaltung mit KemKarine zeigt, festigt dies auch die Verpflichtungen zwischen den Ehepartnern und über sie auch die Pflichten gegenüber weiteren Kreisen der Familienzugehörigkeit. PFS: „Did your relationship to your partner change after having children?“ KK: „It has not changed, we still love ourselves. It is just the distance because he is not in the Nähe.“ [Ihr Partner konnte innerhalb seines Arbeitsbereichs nur in einem anderen EULand Arbeit finden.] PFS: „Do you think that having children makes the relationship last longer?“ KK: „With children the relationship would be until the end of life because even if you are not living under the same roof in the same house but because of the children, if he is angry with me he has to call the children and talk to me.“
Für Kameruner in Berlin stellt die physische Distanz von der informellen familiären Kontrolle in Kombination mit den verschiedenen Belastungen der Migration eine Gefährdung der ehelichen Stabilität dar. Einige Migranten-Mütter behaupteten, dass Kinder dabei helfen würden zu verhindern, dass ihre Ehemänner „den Blick schweifen lassen“. Als Migrantin bringen Schwangerschaft und Kinderkriegen für diese Lebensphase charakteristische Herausforderungen mit sich. In den späteren Kapiteln werde ich mich noch mit den gemeinschaftlichen und rechtlichen Implikationen der Geburt kamerunischer Kinder in Deutschland beschäftigen. Hier konzentriere ich mich auf Familienbande. Kamerunische Frauen begründen ihren Kinderwunsch als Teil des Daseins als Frau, als Afrikanerin oder als Bamiléké (manchmal auch im Gegensatz zu dem, was sie als deutsche Art betrachten). Sie sind der Ansicht, dass ihre Familienträume sich in Deutschland schwer umsetzen lassen und ändern infolgedessen ihre Fortpflanzungsziele. Da keine weiteren Familienmitglieder körperlich anwesend sind und Druck machen, treffen Ehemänner und -frauen ihre Entscheidungen bezüglich der Familienplanung größtenteils als Paar. Die Mütter, mit denen ich gesprochen habe, empfanden das als Erleichterung. Doch die Tatsache, dass Mitglieder des weiteren Familienkreises und deren lokale Kenntnisse nicht zur Verfügung stehen, lässt Mütter mit einem Gefühl des „Alleinseins“ zurück.
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Familienträume Ich traf Tessy, eine dreißigjährige „noch unbeschäftigte“ Computerprogrammiererin im Büro einer deutschsprachigen Afrika-Zeitschrift. Tessy wuchs in Douala, der größten Hafenstadt Kameruns, in einer hauptsächlich von Bamiléké bewohnten Gegend auf. Sie lebt inzwischen seit über zehn Jahren in Deutschland, war erst Studentin, dann Ehefrau und ist nun Mutter von zwei Vorschulkindern. In einer Mischung aus Deutsch und Französisch berichtet Tessy leidenschaftlich über die Werte, die sie als Jugendliche verinnerlicht hat und die sie auch heute noch trotz des völlig unterschiedlichen Kontexts vertritt, den sie in Deutschland erlebt. „Und weil ich in Deutschland lebe, [was Leute hier machen] hat von diesem Prinzip gar nichts zu tun. [Trotz alledem] das bleibt immer in mir.“ Tessy drückt Werte der Bamiléké aus dem Blickwinkel der Mutterschaft aus. Von Fortpflanzungszielen über Arten der Anrede und Formen der Fürsorge bieten ihr Kindererziehung und insbesondere Mutterschaft ein Modell für soziale Solidarität. Wie für viele andere meiner Gesprächspartner ist auch für Tessy der Wunsch Mutter zu werden selbstverständlich. „Je sais cʼest dès lʼenfance quand jʼavais six ans je nʼavais pas de poupée, cʼest vrai, mais je coupais des branches dʼherbes que je disais, ça cʼest ma fille, ça cʼest mon fils. Donc déjà dès lʼenfance il y a cette idée dans la tête: Tu dois grandir, tu dois avoir des enfants, tu dois... je sais pas. Je ne me suis jamais posée la question, est-ce que jʼaurai des enfants?… Ça a toujours été mon idée, je grandis, jʼai mes enfants, jʼai mon mari, jʼai mes enfants et famille.“
Wie Tessy ist auch Ariane für ein Hochschulstudium nach Berlin eingewandert. Als Bamiléké, die in Kamerun mit ethnischen Quotenregelungen konfrontiert war und als Frau auf dem von Männern dominierten Gebiet der Ingenieurswissenschaft, konnte Ariane ihren Ausbildungstraum in Kamerun nicht so einfach verwirklichen. Sobald sie in Berlin war, teilte sie ihre Zeit zwischen der Organisation von Studiengruppen an der Technischen Universität, ihrer Position als Vorsitzende bei monatlichen Zusammenkünften ihrer Hometown Association, ihrem Teilzeit-Studentenjob und der Betreuung ihres Ehemanns und kleinen Sohns auf. Und wie Tessy erzählt auch Ariane von Kindheitsträumen über die Gründung einer Familie, die mit den pronatalistischen Werten/Traditionen von Großfamilien der Bamiléké verknüpft sind. Doch sie berichtet auch, wie schwer es ist, diese Träume in Deutschland auszuleben.
108 | M IGRANTEN, R ECHT UND I DENTITÄT „Enfin, pour moi cʼest vrai que cʼétait un rêve de mener une vie de famille avec un mari, des enfants. Mais en Europe cʼest pas facile en Allemagne, cʼest déjà pas facile parce que on sait que bon, chez nous surtout la tradition Bamiléké cʼest faire beaucoup dʼenfants, trois, quatre, cinq, par exemple. Et puis, en Europe, enfin ici en Allemagne… je commence à me rendre compte que cʼest pas facile. Parce que les enfants ici, enfin, éduquer les enfants ici cʼest beaucoup dʼargent, cʼest beaucoup de temps, tellement.“
Ariane fährt fort und äußert das oft gehörte Leid kamerunischer MigrantenMütter über das „Alleinsein“ – mit ihrer Schwangerschaft, mit der Kinderbetreuung in der Zeit unmittelbar nach der Geburt und mit den komplizierten Aufgaben bei der Erziehung von Kleinkindern, während man sich ein Leben an einem neuen Ort aufbaut. Die Abwesenheit der Familie trägt zu den miteinander verflochtenen Schwierigkeiten von Reproduktion und Zugehörigkeit „in der Fremde“ bei. „Au Cameroun on nʼa pas le souci, parce quʼil y a la famille qui est toujours là. Mais ici déjà quand tu accouche lʼenfant te concerne seule. Il faut aller chez le médecin, il faut aller à la crèche, tout ça, ça te concerne seule, ou alors le papa, ton mari et toi. Cʼest déjà un premier, euh, handicap pour ne pas faire beaucoup dʼenfant. Cʼest à dire que le rêve commence déjà à mourir, parce que.... quand je venais en Allemagne, je me dis, ah, jʼaurais… au moins quatre enfants. Mais plus le temps passe, plus je me dit, hehe, peutêtre même à deux ce serra trop, parce que cʼest pas facile. Un enfant tʼoccupe tout le temps puis te bouffe tout ton temps. Tu nʼas plus de vie, parce quʼil faut faire avec lʼenfant. Bon, maintenant étude, boulot, enfant.“
Da die Träume von einer Familie sich in Deutschland nur schwer verwirklichen lassen, ändern junge Frauen wie Ariane infolgedessen ihre Fortpflanzungsziele.10 Das tun sie nicht nur als Individuen, sondern indem sie Erfahrungen untereinander austauschen und gemeinsam gehegte Vorstellungen darüber bilden, was erstrebenswert und was möglich ist.
10 In einem für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erstellten Bericht über reproduktives Verhalten und Migration merkten Schmid und Kohls an, dass die Fortpflanzung von Migrantinnen sich an die Maßstäbe und Werte des fortpflanzungsschwachen Deutschlands anpasst (2011: 5). Afrikanische Frauen haben mit 2,6 Kindern pro Frau die höchste Geburtsrate in Deutschland (verglichen mit den 1,3 von gebürtigen Deutschen) (2011: 6). Die Autoren stellen große Unterschiede bei der Fruchtbarkeit von Migrantinnen auf Basis von ehelichem Status und Bildungsstand fest (2011: 7).
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„Je connais des filles qui ont étudiés, médecine même parfois, bref, elle étudie et elle a les enfants. Premièrement elles mʼont souvent dit, Ariane, tu peux pas facilement mélanger les deux. Si tu veux faire des enfants, tu vas faire, mais sache que tu seras très lente à lʼuni. Si jamais tu veux continuer avec les études. Au pire des cas tu peux arrêter. Parce que si il faut aller à lʼécole, enfin, avec des enfants, allez les laisser à la crèche, aller à lʼécole, les récupérer, faire des petites courses, venir faire à manger, le temps dʼaller travailler ou dʼaller jobber, il faut se reposer, sans compter peut-être le cas où lʼun des enfants est malade, ou alors... Autant de stress, elles mʼont dit. Vraiment cʼest pas facile. Alors soit, si tu as les études des cinq ans, tu les planifies sur sept à huit ans et tu vas à ton rythme parce que tu as dʼautres charges, tu ne peux pas te comporter comme une étudiante qui nʼa que ses études et son job. Ça déjà cʼest impossible, déjà même si tu nʼas pas dʼenfant, le moment où tu as un homme, cʼest déjà différent. Il faut faire à manger pour lʼhomme, il faut, il faut.“
Wie Ariane berichtet, verbreiten kamerunische Migrantinnen Geschichten über die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man Ehe und Kinderkriegen – kurz gesagt, die Familiengründung – mit den Anforderungen des Studiums und dem Verdienen des Lebensunterhalts vereinbaren will. Redewendungen wie „elles mʼont souvent dit“ illustrieren, wie neuere Migranten von ihren erfahreneren, in vorangegangenen Jahren immigrierten, Landsleuten lernen. Geschichten über Herausforderungen der Koordination von Familiengründung mit anderen Lebensprojekten wandern durch Migrantennetzwerke und kristallisieren sich in geteilten Orientierungen mit Blick auf Prokreation und das Aufziehen von Kindern.11 Ihre Koordinationsarbeit bezüglich dieses entscheidenden Umstands, bei dem eine Schwangerschaft lediglich in Erwägung gezogen wird (Johnson-Hanks 2006), kompliziert sich noch weiter durch die rechtlichen und gesellschaftlichen Erfahrungen des Migrantenlebens. Den Einwanderungsstatus zu behalten ist – für Tessy und Ariane als Studenten – nicht nur erforderlich, um den Aufenthalt zu sichern, sondern auch um Zugang zu einer Krankenversicherung zu haben. Frauen ohne geregelten Einwanderungsstatus müssen sich bezüglich ihrer reproduktiven Gesundheitsbedürfnisse auf Wohltätigkeit verlassen. Wie Bih berichtet, die wir bereits in Kapitel Eins kennengelernt haben, ändern sich darüber hinaus
11 Siehe Ewick and Silbey (2003), die eine grundlegende Diskussion der Rolle zirkulierender Narrative in der Konstruktion und Reproduktion von Rechtsbewusstsein bieten. Kamerunische Migrantinnen konstituieren durch das Teilen von beispielhaften Geschichten gleichzeitig ein reproduktives Bewusstsein, Migrantenbewusstsein und Rechtsbewusstsein.
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langsam die Geschlechterrollen bei kamerunischen Migranten-Paaren; inzwischen übernehmen auch Männer bestimmte Haushaltsarbeiten. Trotzdem weist Ariane darauf hin, dass die geschlechtliche Trennung der Hausarbeit – bei der Frauen sich um die Bedürfnisse der Männer kümmern, insbesondere im Hinblick auf das Einkaufen, Kochen und Saubermachen – zu einem großen Teil immer noch durch die Erwartungen und Gewohnheiten von Migranten-Paaren ausgelebt wird. Emotionale Schaltkreise zur entfernten Familie können nicht die tägliche Hilfe ersetzen, die nur die Kopräsenz weiblicher Verwandtschaft bieten kann. In Kamerun – ob in den kleinen Orten und Dörfern des Graslands oder in der städtischen Bamiléké-Diaspora in Yaoundé – sind frischverheiratete Frauen beträchtlichem familiären Druck im Hinblick auf eine hohe Fruchtbarkeit ausgesetzt. Einwanderinnen in Berlin können diese Wünsche ihrer Familienmitglieder leichter ignorieren, da sie über eine große geographische Entfernung von der Verwandtschaft getrennt sind. Zudem bilden sich bei einigen Familien von Migranten neue Wünsche und Erwartungen von ihren Migranten-Töchtern. Iris, eine alleinstehende Bamiléké-Mutter in den Dreißigern aus Berlin, erzählte mir von einer Reality-Sendung über das diasporische Leben, die sie dreht. Sie beschrieb, wie einige Familien Migranten dazu drängen keine Kinder zu bekommen, um so die Geldüberweisungen an die wartenden Verwandten in der Heimat zu erhöhen. „I have a case where the family had to warn a friend of mine, donʼt give birth to children anymore, two is okay. We are dying here, you need to work. All those children you are having is for what?“ Iris berichtete, dass diese Migranten, die nicht gelernt hatten „stark und unabhängig zu sein“, die ihre verwandtschaftlich basierten emotionalen Verbindungen nicht gekürzt oder abgebrochen hatten, ihre reproduktiven Entscheidungen gegebenenfalls unter dem Druck familiärer Forderungen treffen. Iris beschrieb das als einen wichtigen Spannungsfaktor für eheliche Beziehungen in der Diaspora. „It has to bring a problem in their marriage. Because the man said it is impossible – the man overheard the telephone discussion [zwischen seiner Frau und ihren Eltern], because the girl was like… the man wanted children and the girl said ‚no, for what? We just met here in Europe, I cannot go on with my life like that, having children. This two is okay. I have not helped my family since I came here. Two for me is okay.‘ And the man said, ‚hello, you are married and I am the man, we are a couple, we need to decide our life, not your family telling you what to do…‘ So it automatically brings a problem in the relationship.“
Die Schwäche familiär basierter emotionaler Schaltkreise, wie es meine kamerunischen Gesprächspartner in Berlin beschrieben haben, schafft Vor- und Nach-
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teile für die Träume von der Familiengründung. Einerseits können familiär basierte emotionale Schaltkreise als schwach angesehen werden, weil die Dichte der Beziehungen und die Dichte des emotionsgeladenen Austauschs über diese Verbindungen mit der Entfernung und mit den offenen Geheimnissen der Migration – der bereits früher in diesem Kapitel erwähnten Spannung zwischen Wahrheit und Distanz (Baldassar 2007: 399) – abnehmen kann. Zudem sind diese emotionalen Schaltkreise schwach, weil bestimmte Formen der Fürsorge, vor allem für junge Mütter, der Anwesenheit bedürfen. Wie wir in Kapitel Eins im Fall von Bih gesehen haben und in Kapitel Sechs noch eingehender untersuchen werden, machen es die pragmatischen und rechtlichen Schwierigkeiten, mit denen Afrikaner bei einer Reise nach Europa konfrontiert werden, der weiblichen Verwandtschaft fast unmöglich, frischgebackene Mütter während längerer Aufenthalte mit praktischer körperliche Pflege zu unterstützen. Ob sie nun wie in Irisʼ Schilderungen zu Geldüberweisungen gedrängt werden oder wie Ariane den fehlenden Trost liebender Fürsorge beklagen, Migranten-Mütter erleben diese Schwächung familiär basierter emotionaler Schaltkreise als Nachteil. Das Fehlen der unmittelbaren familiären Unterstützung schreckt davor ab, sogar die einigermaßen niedrig angesetzten Fortpflanzungsziele der „idealen, modernen kamerunischen Familie“ mit vier Kindern zu verfolgen. Die Schwächung familiär basierter emotionaler Schaltkreise bringt jedoch auch einen Vorteil für die Paare mit sich, die den Wert unabhängiger ehelicher Entscheidungen bezüglich der Familienplanung betonen. Diese Paare haben zumeist eine höhere formale Bildung und streben einen mittelständischen Lebensstil mit größerem Ehrgeiz an. Sie legen Wert auf eine kameradschaftliche Ehe, eine gemeinsame Entscheidungsfindung zwischen Mann und Frau und die positiven Aspekte bei der Erziehung der eigenen Kinder innerhalb der Kernfamilie. Auch wenn die Umstände des wahren Lebens nicht an dieses Ideal heranreichen, schätzten die Migranten-Mütter, mit denen ich zu tun hatte, die Unabhängigkeit vom familiären Einfluss bei Entscheidungen hinsichtlich der Familienplanung. Sie wiesen darauf hin, dass nur sie allein die Bedingungen wirklich verstehen könnten, unter denen sie als Migranten leben und daher am besten in der Lage wären, reproduktive Entscheidungen zu fällen. Hannah, eine Umweltwissenschaftlerin, die zusammen mit ihrem Bamiléké-Ehemann einen kleinen Familienbetrieb führt, ging näher auf die häufig vorgebrachten Erklärungen für die Änderung der reproduktiven Ziele nach einer Migration nach Europa ein. Neben der Herausforderung, alles alleine bewältigen zu müssen und „getting tired“, berichtete Hannah, dass in Deutschland „there are more intense expectations for parenting, and these expectations fall just on the parentsʼ shoulders.“ Nach einer Fehlgeburt und zwei schwierigen und gefährlichen Geburten haben Hannah und
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ihr Ehemann „gemeinsam entschieden“, sich mit nur zwei Kindern zufrieden zu geben. Im Hinblick auf Reproduktion, Kindererziehung und sogar religiöse Ideologien stellte Hannah die eheliche Entscheidungsfindung im Rahmen der Unabhängigkeit von den Anliegen der weiteren Familie dar. Obwohl ihre Stiefmutter und die beiden Schwestern ihres Vaters ihr bei Ferngesprächen aus Kamerun den Ratschlag erteilten „give many children“, meinte Hannah, dass die Ermutigung zum Kinderkriegen aus der Ferne „is just talk, different from pressure.“ Die Verwandtschaft kann reden, aber aus ihrer Position in kamerunischen Provinzstädten heraus können sie die täglichen Belastungen der Kindererziehung nicht schultern. Mit der auf die Kernfamilie beschränkten Verantwortung erscheinen die Ratschläge entfernter Angehöriger Hannah und anderen wie ihr noch eher als „nur Gerede“. Die meisten Frauen maßen dem Druck Kinder zu bekommen, den Eltern, Schwieger- und Stiefmütter eventuell auf sie ausgeübt haben, wenig Bedeutung bei. Mehrere Frauen berichteten, dass dieses „Gerede“ manchmal die Form von freundlichen Mahnungen annehmen kann, dass das Leben mehr bereithält als die Erfüllung beruflicher und finanzieller Ziele. „All Alone“: Wer kümmert sich um Mutter und Kind? Kamerunische Migranten-Mütter schrauben ihre Familienträume zurück, weil sie wissen, dass die Schwangerschaft und Kinderbetreuung in Deutschland „ganz alleine“ schwer ist. Sie durchleben die emotionale Einsamkeit sowie die pragmatischen Schwierigkeiten bei der Koordination ihres reproduktiven und alltäglichen Lebens in einem fremden Land ohne die unterstützende (und/oder einmischende) Anwesenheit des weiteren Verwandtschaftskreises. Sie sind sich außerdem bewusst, dass „es schwer ist, hier Mutter zu sein“, weil sie untereinander Geschichten austauschen, die das Kinderkriegen in Kamerun mit dem Kinderkriegen in Deutschland vergleichen. Christine, ein politischer Flüchtling der Bamiléké, vergleicht ihre Erfahrung als jugendliche Mutter in Yaoundé mit der Geburt ihres zweiten Kindes nach ihrer Migration nach Deutschland. „Au Cameroun par exemple on est encadré, on a la famille et ici tu es seule, seule, seule. Et bon au Cameroun par exemple, quand jʼai fait mon premier fils… jʼétais avec ma mère, jʼétais encore chez mes parents. Cʼest ma mère qui mʼa amené à lʼhôpital, jʼai accouché, elle était à lʼhôpital avec moi, après elle mʼa ramené à la maison. Oui jʼétais là. Donc à la maison on préparait – cʼétait la fête. Chaque soir on buvait, on mangeait, il y avait de la visite… il y avait beaucoup de gens. Porter lʼenfant. Oui,… pendant un mois il y avait toujours des gens, de la visite, comme ça. Oui. Et on mʼaidait aussi à laver la vaisselle de lʼenfant, oui. Moi jʼétais seulement couchée. Quand je me levais le matin on partait même
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me laver, je venais on me donnait à manger. Après je me couche, on sʼoccupe de lʼenfant. Mais ici… seule.“
Durch die Verbreitung solcher Geschichten schaffen Migrantinnen eine gemeinsame Orientierung und ein kollektives Vokabular, also einen Diskurs, der ihre Erlebnisse in die beiden idealtypischen Sphären eines äußerst sozialen und unterstützenden Kameruns und eines überwältigend komplexen Deutschlands gliedert, wo alle Mütter alleine dastehen. Die von jungen Müttern geäußerten Klagen unterstreichen, dass es in Deutschland gesellschaftlich und emotional schwerer ist, schwanger zu sein, Kinder zu gebären und sich um Kleinkinder zu kümmern als in Kamerun. In der heimischen Diaspora inländischer Migranten, von den Bamiléké und dem englischsprachigen Grasland bis zu den Großstädten, sind die emotionalen Schaltkreise zur Verwandtschaft stark. Nicht nur Wörter, sondern auch Güter und Menschen können ungehindert fließen; Mütter, Schwestern und Tanten können einfach zur frischgebackenen Mutter reisen und sich um sie und ihr Neugeborenes kümmern. Verglichen damit vermissen kamerunische Mütter in Deutschland die soziale und praktische Unterstützung weiblicher Verwandter. In Kapitel Eins erzählte uns Lily vom bedeutenden Wissen von les mamans. Dieses Wissen wird durch körperliche Fürsorge, Gesten und Gewohnheiten verkörpert, die sich einfacher demonstrieren als in Worte fassen lassen. Wenn die Großmutter das Baby badet, es im Arm hält und mit unausgesprochenem Nachdruck in die Augen ihrer Tochter blickt, vermittelt sie gleichzeitig körperliche, emotionale und didaktische Fürsorge. Dieses Wissen von les mamans lässt sich leider nicht über Kontinente hinweg vermitteln. Die über die verwandtschaftlich basierten emotionalen Schaltkreise von Migranten-Müttern übermittelte Fürsorge beschränkt sich auf besorgte und beratende Worte, auf Nörgeleien und den beschränkten Austausch medizinischer Therapien. „All alone“ zu sein ist für kamerunische Migrantinnen eine umso größere Herausforderung, wenn sie sich reproduktiven Problemen gegenüber sehen. Weiter oben haben wir bereits erfahren, dass Mrs. Black hart daran arbeiten musste, ihren deutschen Ehemann von der Ernsthaftigkeit ihres Kinderwunschs zu überzeugen. „He has three sisters, you know, and just one of them has children… The other ones… they donʼt see any reason why they have to have children. So like where I grew up in Cameroon,… to be a woman, you have to have a child. That is our culture. You are supposed to have a child… I think it is [lacht] like my right to have a child.“
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Nach sieben Jahren Ehe war Mrs. Black noch immer nicht schwanger. Wäre sie in Kamerun gewesen, hätte sie diskrete Ratschläge für eine Behandlung von Familienmitgliedern und Freunden bekommen. In Abhängigkeit von ihren Mitteln hätten ihre Verwandten Mrs. Black auf einem langen Therapieweg mit verschiedenen Heilmitteln begleitet – ja, sie sogar dorthin geschleift. In Berlin konnte sich Mrs. Black nicht auf familiäre Netzwerke verlassen. Sie nahm die Angelegenheit selbst in die Hand. „It was not really working. I bought things like, like, hormone tester… here in Deutschland like just in the pharmacy you can buy to see… your time that you are in the ovulation and then you have to meet, you can get pregnant and so. I did all those things you know, but it was not working… So I donʼt know how many gynecologists I changed in a year.“
Vor der Auswanderung nach Deutschland hatte Mrs. Black als junge Frau ein Baby zur Welt gebracht, das später der doppelten Gefahr von Tropenkrankheiten und der häufig unzureichenden Gesundheitsversorgung in Kamerun erlag. Da sie schon einmal schwanger geworden war, begann Mrs. Black die Unfruchtbarkeit auf männlicher Seite zu vermuten. Ihr Gynäkologe schickte sie schließlich zum Fertility Center. „Until [in] the end they sent me to this fertility center. When I went there so they told me I have to bring my husband to check, because everything [with me] was okay, you know. So it took almost a year [for him] to even accept to go to the fertility center, to go and check his sperms… He realized it was, as I said… that it was very important for me… Luckily he went and found out that his sperms were so low, you know. And the only way we can have children is through this… künstliche… artificial insemination. So that is what we are trying now to do.“
Mrs. Black drückte ihre Dankbarkeit darüber aus, dass ihre Mutter, mit der sie häufig telefoniert, sie nicht unter Druck setzt ein Kind zu bekommen. „No, no, Gott sei Dank, I donʼt have [pressure]. My mother she is really… well in the beginning she was asking me like what is happening? Well I told her what was going on in the house, you know. And [pause] she just said… she has already about three grandchildren… She is just praying that the thing will happen.“
Tatsächlich bietet ihr ihre Mutter über die Telefonate moralische Unterstützung aus der Ferne, die umso wichtiger ist, da Mrs. Black in ihrer binationalen Ehe um ihr „right to have [or even wish for] a child“ kämpfen musste.
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Ähnlich wie Mrs. Black hatte auch Jucal Probleme schwanger zu werden und wurde Patientin des Fertility Center. Jucal schreibt die Schwierigkeiten bei der Empfängnis dem Stress zu, den sie als Migrantin und frischverheiratete Frau durchlebt hat. Jucal nahm mehrere Gelegenheitsjobs unter ihrer Qualifikation an, um Francisʼ mageren Pflegerlohn aufzubessern. Sie bemühte sich, Deutsch zu lernen, um ein Masterstudium in Sozialarbeit an einer privaten katholischen Hochschule beginnen zu können. Nach einem Jahr Ehe war sie immer noch nicht schwanger. Sie und Francis besuchten das Fertility Center, wo sich Jucal einer Hormontherapie unterzog und schließlich mit einem Jungen schwanger wurde. Jucals lang ersehnte Empfängnis setzte ihrem Stress jedoch kein Ende. Sowohl sie als auch ihr Ehemann hatten unwissentlich die Distanzierung von familiären Bindungen und einen paradoxen Abstieg des sozialen und beruflichen Status gegen Bewunderung zu Hause und die Hoffnung auf zukünftige Gelegenheiten eingetauscht (Nieswand 2011). Während ihrer Schwangerschaft fühlte Jucal sich zu belastet, um weiterhin arbeiten zu können und musste ihr privat finanziertes Sozialarbeitsstudium aufgeben. Francisʼ Beschäftigung als Altenpfleger reichte aus, um seine Familie (gerade so) zu ernähren, aber nicht, um den Privatunterricht seiner Frau zu bezahlen. Im Einklang mit den Vorstellungen der materiellen Fürsorge (Coe 2013) versorgte Francis sie finanziell und über seinen Zugang zur Krankenversicherung. Er war bei der Geburt ihres Sohnes dabei und sagte ihr „nice words“, während sie in den Wehen lag. Francis beglückwünschte Jucal, als sie das pausbäckige Baby mit seinem dichten Haarschopf in ihren Armen wiegte. Jucal ist nicht die einzige Frau, die ich kennengelernt habe, die aufgrund der Belastung durch die Schwangerschaft ohne familiäre Unterstützung ihr Studium abbrechen musste. Als bei ihr Schwangerschaftsdiabetes diagnostiziert wurde, war Sophie nicht mehr in der Lage, ihr Studium an der Technischen Universität im nahegelegenen Brandenburg fortzusetzen. Nachdem sie schwanger wurde, brach Marthe ihr Masterstudium in einem anderen europäischen Land ab, um zu Alain nach Berlin zu kommen. Sie durchlebte eine schwierige Schwangerschaft und – trotz Alains ungewöhnlich umfangreicher Hilfe im Haushalt – heftige Einsamkeit während der langen, schlaflosen Nächte mit ihrem unter Koliken leidenden Baby. Sie rekapitulierte die Situation wie folgt: „On ne vient pas ici pour faire des enfants.“ Und obwohl sie in ihrem Universitätsstudium bleiben konnte, war Hannah während ihrer ersten Schwangerschaft extremen Belastungen ausgesetzt und erlitt eine tragische Fehlgeburt. Hannah erklärt, dass ihr „entire system was depressed“. Sie war der Belastung durch ihr Studium, ihre finanziellen Bedürfnisse und ihrer Sorge darüber ausgesetzt, was ihre Familie von der Schwangerschaft halten würde, da sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht verheiratet war. Sie fühlte sich einsam und unsicher und erzählte nur ihrer Schwester von der
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Schwangerschaft und Fehlgeburt. Ihr Arzt überwies sie an einen Psychologen, der mit ihr über Stressbewältigung sprechen sollte. „This was some sort of therapy“, meinte Hannah als sie sich daran erinnerte, wie der fade Geschmack des Mensaessens in dieser Zeit zu einem Symbol des Fremdseins wurde und das Heimweh verstärkte. Bei fehlender familiärer Unterstützung wenden sich Migrantinnen in manchen Fällen auch Freunden oder Nachbarn zu. Maria, deren Liebesgeschichte wir in diesem Kapitel bereits kennengelernt haben, war nach einer medizinisch notwendigen Abtreibung unzufrieden mit ihrer Geburtshelferin. Geplagt von Selbstzweifeln erhielt Maria moralische Unterstützung über Telefonate mit ihrer Familie, doch über die Entfernung konnte sie nicht darauf hoffen, Ratschläge zu medizinischem Personal zu bekommen. Sie holte von mehreren Freundinnen Empfehlungen für eine Frauenärztin ein, die für den freundlichen Umgang mit afrikanischen Patienten bekannt war und ist seitdem zufrieden mit ihrer Betreuung. Justine, die eine freundschaftliche Beziehung „like family“ zu Barbara aufgebaut hat, erhielt Hilfe von inandergreifenden Netzwerken, als sie ihre erste Schwangerschaft mit dem Ende ihres Studiums der Informatik koordinierte. „I think like my first son, I had him when I was still studying, that was a bit difficult, coordinating, house, children, and then studies and I had to work too. But as time went on… I was able to plan it effectively so that I could use the time effectively… The Kita helped and support was like from friends, I had also financial support from my family and then the friends that were there and could like, when I had to work I had to like call for a friend or to come and take care also.“
Viele Migranten-Mütter hatten nicht so viel Glück wie Justine und konnten sich nicht auf eine Familie verlassen, die sie finanziell unterstützte. Sowohl Christine, die wir bereits vorhin kennengelernt haben, als auch Eveline wurden schwanger und bekamen ihr Kind, während sie in Asylbewerberheimen lebten. Während ihre Anträge bearbeitet wurden, lebten die beiden Frauen unter besonders isolierten Bedingungen. Christine beschreibt die ihr nicht offene Wahl eines Gynäkologen und die Regelung der Genehmigungen, um das Asylbewerberheim für Arztbesuche verlassen zu dürfen. „Ah non, non, tu nʼas pas de choix... pour aller à lʼhôpital, chez le gynécologue par exemple. Il faut prendre le Krankenschein. Il faut aller au social, prendre le Krankenschein et partir chez le gynécologue avec. Donc quand tu vas chez le gynécologue, sʼil dit par exemple, bon, tu vas revenir repasser dans deux semaines ou dans un mois, avant
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cette date il faut dʼabord partir prendre le Schein ou Krankenschein, avant de te rendre chez lui.“
Als bei ihr die Wehen einsetzten, erhielt sie nur zufällig durch einen glücklichen Umstand zumindest minimale soziale Unterstützung. Es war nämlich ein anderer kamerunischer Asylbewerber anwesend, der aufgrund der gemeinsamen nationalen Zugehörigkeit und des geteilten Schicksals mit ihr mitfühlte und etwas Verantwortung übernahm. „Quand jʼai accouché ici il y avait aussi un garçon camerounais au Heim, qui nous aidait aussi, oui. Mais par exemple quand jʼai commencé les contractions, cʼest le gars qui est parti signaler au gens du social en bas et ils ont appelé lʼambulance. Lʼambulance est venue me chercher. À lʼhôpital, quand jʼai accouché, jʼai fait une semaine – non jʼai fait huit jours parce que jʼai accouché par césarienne… et durant les huit jours jʼai eu combien de visite? Deux visites seulement! Oui. Parce quʼentre temps le garçon qui était au Heim est aussi tombé malade, donc il ne pouvait pas – vu la distance aussi – quitter le Heim pour venir à lʼhôpital. Cʼétait la distance, cʼétait long.“
Die meisten Asylbewerberheime in der Nähe von Berlin liegen in kleinen Ortschaften im umliegenden Bundesland Brandenburg (Abb. 3.2), deren Einwohner häufig Abneigung gegenüber den Asylbewerbern empfinden. Öffentliche Transportmittel sind kompliziert und teuer, ebenso wie der Zugang zu Telefonen und die Möglichkeit, zu Hause anzurufen; die Auflage der Residenzpflicht erfordert jedes Mal eine schriftliche Genehmigung, wenn ein Asylbewerber den Landkreis seines Wohnheims verlassen will. Eveline ist eine ausgebildete Schneiderin, die momentan darauf wartet, dass ihr Baby in die Kindertagesstätte kommt, damit sie einen deutschen Sprach- und Integrationskurs beginnen kann. Sie berichtet über die Verletzlichkeit, die man als Asylbewerber fühlt und die ihre Fähigkeit beeinträchtigte, während ihrer Schwangerschaft Hilfe anzunehmen. Erstens war sie durch die politische Gewalt während Kameruns Ghost-Town-Bewegung traumatisiert, die ihre Migration veranlasst hatte. „Je suis venu ici en Allemagne parce quʼon avait déjà trop de problèmes chez nous en Afrique… Problèmes politiques, les gens qui sʼattaquer et tout ça, donc les gens qui perdaient les vies par rapport à la politique et tous… Cʼest pourquoi jʼétais venu ici.“
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Abbildung 3.2: Eine Flüchlingunterkunft in Bad Belzig, einer kleinen Stadt im Bundesland Brandenburg außerhalb von Berlin, 2011, ähnlich der Flüchtlingsunterkunft, wo Christine und Eveline jeweils über ein Jahr verbrachten. Foto: Pamela Feldman-Savelsberg
Zweitens war sie sich bewusst, dass nur sehr wenigen kamerunischen Asylbewerbern tatsächlich Asyl in Deutschland gewährt wird.12 Drittens lernte Eveline in Anbetracht der langen Jahre des Wartens, der (zumindest aus Sicht von Flüchtlingen) undurchsichtigen Abläufe und der Belastung mit Fremden auf engstem Raum zusammenzuleben, anderen Menschen zu misstrauen. Frischgebackene Mütter, erzählte sie, brauchen den vertrauenswürdigen Rat von Freunden, auch wenn dieser später nach hinten losgeht. „De toutes les façons, au début on a toujours besoins dʼaide, on a toujours besoins de renseignement, cʼest à dire, la première fois quʼon va chez un docteur, on a toujours besoin de quelquʼun pour vous guider… [mais] même un ami de confiance peut toujours trahir, mais on risque toujours dans la vie.“
12 Im Jahrzehnt vor meiner Feldforschung (2000-2009) betrug die durchschnittliche Gesamtschutzquote (einschließlich Asylanerkennung, Flüchtlingsschutz und Abschiebungsverbot) 5,02%. Von 2010 bis 2011 lag die durchschnittliche Gesamtschutzquote bei 9,2%. Davon lag der durchschnittliche Prozentsatz derjenigen, denen Asyl gewährt wurde, von 2000-2009 bei 0,29% und von 2010-2011 bei 0,93% (Gumann o.D., basierend auf Quellen von BAMF, Statistischem Bundesamt und der Bundespolizei).
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Eveline vergleicht das Leben als Migrantin mit wenig vertrauenswürdiger Unterstützung mit dem Leben in Kamerun, umgeben von der Hilfe der unmittelbaren Familie. „Ici parce quʼon a déjà peu de gens chez qui faire confiance déjà. Au Cameroun vous avez au moins votre famille, la famille.“ Aufgrund der Zustände im Asylbewerberheim wurde Evelines Kontakt und Austausch mit ihrer Familie vorübergehend abgeschnitten und der Anschluss über ihre verwandtschaftlich basierten emotionalen Schaltkreise riss ab. Nachdem ihr schließlich Asyl gewährt wurde und sie unabhängig in Berlin lebt, konnte Eveline diese Verbindung wieder aufnehmen. Sie erzählt, dass ihre Mutter ihr kleine Pakete mit materiellen Geschenken schickt, die Liebe und Verbundenheit mit ihrem kleinen Enkel ausdrücken. „Oui, elle fait souvent des petits paquets pour envoyer pour son petit-fils, surtout quand elle voit quelquʼun qui vient, elle fait un petit paquet [lacht]. Bon, moi jʼenvoie... je ne lui envoie pas grand-chose, parce que déjà je ne travaille pas, cʼest un peu dur.“ Eveline erfreut die Hoffnung, die Mittel für eine Erwiderung der Gefälligkeiten zu haben, um ihre Wertschätzung und Zuneigung zu ihrer Mutter durch kleine Geschenke zu zeigen, die über bekannte Reisende zwischen Kamerun und Deutschland versendet werden. Wenn Mütter wie Eveline, Christine, Jucal, Soʼnju, Maria oder Lily über die Pflege von Kleinkindern in Deutschland sprechen, betonen sie die praktischen und emotionalen Schwierigkeiten, wenn man alles allein erledigen muss. Wir haben bereits festgestellt, dass die Hilfe weiblicher Verwandter nach der Geburt in Kamerun eine starke kulturelle Erwartung ist. In der Alltagstheorie ist es für die erfolgreiche Milchbildung von entscheidender Bedeutung, dass einer neuen Mutter – wie oben von Christine beschrieben – Ruhe gegönnt und sie mit sauberen Bädern und frischem Essen verwöhnt wird. Das Füttern der Mutter und die Übernahme alltäglicher Aufgaben fördern daher gleichzeitig das mütterliche und das kindliche Wohl. Kamerunische Mütter lernen, dass Besucher die physische und soziale Entwicklung des Säuglings fördern. Wenn sie den Säugling baden, halten und mit ihm spielen, stärken sie seinen Körper und tragen dazu bei, dass er der Welt mit einem „freundlichen Blick“ begegnet (DeLoache und Gottlieb 2000; Gottlieb 2004; Keller, Voelker und Yovsi 2005). Besuche von Verwandten sind Teil des Kreislaufs gegenseitiger körperlicher und emotionaler Fürsorge; sie sind Bräuche, die Verwandtschaft als „gemeinschaftliches Sein“ (mutuality of being) und symbolische Vorstellung von Zugehörigkeit ausmachen (Sahlins 2013). Diese Erwartungen von Kopräsenz und körperlicher Hilfe machen die Entfernung von der Geburtsfamilie für neu gewordene, einsame Mütter umso verheerender. Während Eveline daher vielleicht bei dem Gedanken an die kleinen Pakete ihrer Mutter vor Freude lacht, kämpft sie wie viele andere mit den
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Tränen, wenn sie den Chor wiederholt, dass das Muttersein schwer ist, weil man in Deutschland als Migrant völlig allein dasteht. Der Mangel sozialer Unterstützung durch weibliche Verwandte, die mit der Mutter zusammen (oder in der Nähe) wohnen, wird durch die von Eveline beschriebenen kleinen Päckchen gelindert, durch Medien wie Handys und Skype, die eine internationale Kommunikation ermöglichen, und durch die Gründung transnationaler Therapienetzwerke. In ihrer Arbeit über ghanaische Einwanderer in London erinnert Kristine Krause uns daran, dass in transnationalen Netzwerken Krankheit (oder in unserem Fall Geburt und Säuglingspflege) „can activate intensive exchange [of solace, information, materia medica, and money] between friends and family“ (2008: 236). Fanny lernte ihren Verlobten zum Beispiel bei einem Treffen mit einem Cousin kennen, um Geschenke abzuholen, die er ihr aus Kamerun mitgebracht hatte; sie zeigte sich erkenntlich, indem sie Paracetamol an ihre Angehörigen in Kamerun zurückschickte. Wenn Soʼnjus Baby „is disturbing“, kaut sie die getrockneten, süßen Samen von Ndzim-ndzim-Schoten und sprüht die Spucke auf seine Stirn oder seinen Bauch, um es zu beruhigen. Soʼnjus Ehemann reist häufig nach Kamerun; bei seinen Besuchen versorgen ihn Soʼnjus Verwandte mit Ndzim-ndzim-Schoten, die er für sie mitnimmt. „They always give him, because for all the Bamiléké that must be in the house. When you are sleeping and have bad dreams, you [(unhörbar) place it under your pillow].“
Abbildung 3.3: Eine Ndzim-ndzim-Schote, für Soʼnju durch ihre emotionalen Schaltkreise beschafft. Viele Schwangere kauen die süßen, nach Anis schmeckenden Samen der getrockenten Schoten, um ihre Schwangerschaftsübelkeit zu lindern. Foto: Lindsey Walters
Aufgrund der unterschiedlichen Vorstellungen von Medizin und Säuglingspflege befolgen Migranten-Mütter nicht immer den Rat ihrer transnationalen Therapienetzwerke oder verwenden die Produkte, die sie über ihre emotionalen Schaltkreise erhalten. Nachdem sie unerwünschte Ratschläge bezüglich der Koliken ih-
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res Babys bekommen hatte, schob Ariane den Kauf des Heilmittels in einem Afro-Shop so lange auf, bis ihr Sohn diese Phase überstanden hatte. „Bon, euh, pour lʼenfant, quand il était tout bébé, avec des douleurs là au ventre, les douleurs de bébé là dans les trois premiers mois... Les coliques là, voilà... On me conseillait de prendre un produit là à lʼafro shop. Bon je nʼavais même pas cherché et je trainais toujours et puis les trois mois sont vite passaient. Ce quʼil fait que matière santé je nʼachète pas grand-chose. Autre les mèches, peut-être pour me faire tresser. Mais même jusquʼà là, cʼest un peu cher, donc parfois je préfère demander depuis le Cameroun peut-être mes parents, ma famille, quʼon me lʼenvoie. Quand jʼai des amis qui reviennent.“
Andererseits bittet Ariane ihre Eltern, ihr Haarprodukte zu schicken, insbesondere Haarverlängerungen, die in Berlin zu günstigen Preisen nur schwer zu finden sind. Hin und her reisende Freunde dienen als Kuriere für Geschenke und Gefälligkeiten der Familien. Telefonanrufe und – für die Angehörigen, die Zugang zu Computern und Internet haben – Skype ermöglichen Familien miteinander zu sprechen, das Geplapper eines Säuglings zu hören und frischgebackene Mütter moralisch zu unterstützen. Als sie beschreibt, wie sie mit der Einsamkeit fertig wird, erklärt Eveline: „Oui, je suis contente dʼêtre ici, sauf que ma famille me manque aussi de temps en temps. [PFS: Et quʼest-ce que vous faites quand la famille vous manque?] Je les appelle. Je cherche une carte, je les appelle, on cause, je les entends et puis là sa passe encore.“ Lily, die wir in Kapitel Eins kennengelernt haben, und deren Geschichte dieses Kapitel einleitete, hat zu ihrer Mutter einen engeren Kontakt als zu anderen und telefoniert fast täglich mit ihr. Vielleicht konnten Lily und ihre Mutter die Lage der anderen besser nachvollziehen, weil ihre Mutter ebenfalls eine Einwanderin in einem anderen europäischen Land war. Im Gegensatz dazu waren die meisten Frauen, mit denen ich gesprochen habe, bei ihrer Kommunikation mit in Kamerun zurückgebliebenen Eltern viel vorsichtiger, da sie nicht wollten, dass die Eltern sich Sorgen machen oder erkennen, wie schwer die Umsetzung der Migrationsziele war. Soʼnju, die den Ärger ihrer Mutter auf sich zog, weil sie erst nach der Geburt ihrer Kinder von ihren Schwangerschaften erzählte, ist wohl ein Extremfall im Rahmen einer allgemeinen Tendenz der Selbstkontrolle und Umsicht.13 Sowohl bei der Dichte des
13 Eveline berichtete, dass es einige Krankheiten (vielleicht eine indirekte Bezugnahme auf AIDS) gibt, von denen man weder der Familie noch Freunden berichten kann, was die Einholung von Ratschlägen, Empfehlungen oder materieller Hilfe in Form von Medikamenten erschwert. Sie schlägt vor, im Internet anonym nach Rat zu suchen.
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materiellen Austauschs (das Senden von Geld und Medikamenten) als auch bei der Kommunikation über Krankheit, Schwangerschaft und andere Probleme, waren die transnationalen Therapienetzwerke unter den Kamerunern in meiner Bekanntschaft schwächer als die von Krause für den Fall ghanaischer Migranten in London beschriebenen. Ob es nun um die Suche einer Behandlung zur Empfängnis, die Bewältigung einer Schwangerschaft oder um die Verarbeitung einer Fehlgeburt geht: Kamerunische Migranten-Mütter in Berlin können sich nicht darauf verlassen, dass sie über ihre familiär basierten emotionalen Schaltkreise das gleiche Maß an Fürsorge wie bei der körperlichen Anwesenheit in einer vertrauten Umgebung erhalten. Für diese Probleme sowie für Geburt und Säuglingspflege haben entfernte Familienmitglieder keine lokalen sozialen Netzwerke, an die sie sich für medizinische Ratschläge wenden können. Aufgrund der Kosten und Postdiebstähle ist es schwierig, der neu gewordenen Mutter und ihrem Baby rechtzeitig Geschenke zukommen zu lassen, denn die erfolgreiche Übermittlung hängt größtenteils von der zufälligen Verfügbarkeit vertrauenswürdiger Kuriere zwischen Kamerun und Deutschland ab. Besuche für die Pflege von Mutter und Neugeborenem nach der Geburt – einschließlich der damit einhergehenden Sozialisierung und Liebe – sind sogar noch schwerer zu bewerkstelligen, da sie durch Kosten und Bürokratie behindert werden. Nur sehr wenige Frauen verfügen über die finanziellen und rechtlichen Mittel, um sich während der Schwangerschaft diese Unterstützung zu holen, wie Bih in Kapitel Eins es getan hat. Mutter und Kind mit vielen Verwandten zu umgeben, um eine erste Basis für den Aufbau von Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu schaffen, ist im Kontext der Migration unmöglich. Die Austausche über familiär basierte emotionale Schaltkreise zu dieser heiklen Zeit von Geburt und Säuglingsalter beschränken sich auf moralische Unterstützung aus der Ferne. Soʼnjus Vergleich zwischen dem Mutterwerden in Kamerun und Deutschland hebt hervor, wie solche Einschränkungen der emotionalen Verbindungen andere Auswirkungen auf die Mütter als auf die Väter haben.
„Bon, moi je crois que peut-être si vous avez une maladie que vous voulez parler à personne, si vous savez déjà quelle tranche de médicine peut vous traiter, [seufzt], vous pouvez chercher sur le net. Là peut-être le net pourra vous guider ou vous allez partir. Parce que fait confiance vraiment, c'est vraiment pas évident. Cʼest vraiment pas évident, cʼest cette personne qui va vous rire demain avec ça.“ (Vgl. NzimegneGölz 2002; M’bayo 2009).
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Soʼnju: „A mother in Cameroon it is not really a mother because people will be always there to help you. But here you must do everything alone… they will always take the child and I relax…Here it is not easy.“ Magni: „Why is it not easy? You have your husband.“ Soʼnju: „A husband, wow. [Alle lachen] Not easy.“ PFS: „So your husband doesnʼt take care of the children too much?“ Soʼnju: „He takes care of them not so much. So for me I donʼt even care if he takes care or not, because my [widowed] mother brought us up without our father.“
Die relative Langlebigkeit einer patriarchischen Geschlechtertrennung bei der Arbeit und schwache transnationale Therapienetzwerke fallen zusammen und übertragen Migranten-Müttern die alleinige Verantwortung für die Säuglingspflege in Deutschland. Wie viele andere Mütter drückt Soʼnju dies im Hinblick auf die harte Arbeit der Selbst- und Säuglingsfürsorge und das traurige Gefühl „allein“ zu sein aus.
S CHLUSSFOLGERUNG Kamerunische Migrantinnen in Berlin werden mit unterschiedlichen Herausforderungen für Reproduktion und Zugehörigkeit konfrontiert. Mütter bemühen sich, die Forderungen ihres persönlichen Strebens, ihrer Familien, ihrer diasporischen Gemeinschaften und des Staats miteinander zu vereinbaren. In diesem Kapitel haben wir uns auf die Konstellation der persönlichen Erwartungen der Frauen, ihre sich ändernden reproduktiven Ziele und die Bedürfnisse und Forderungen ihres weiteren Familienkreises konzentriert. Um dieser komplexen Geschichte eine Form zu verleihen, folgen wir in diesem und im nächsten Kapitel den verschiedenen Beziehungen und Forderungen, mit denen Mütter an unterschiedlichen Punkten ihrer Mutterschaft konfrontiert werden – von der Partnersuche über Schwangerschaft und Geburt bis hin zur Erziehung von Säuglingen, Kleinkindern und Jugendlichen. Wie jedes Elternteil weiß, findet zwischen diesen Phasen häufig ein fließender Übergang statt. Das Großziehen von Kindern ist immer mit Überraschungen verbunden, denn gerade wenn man denkt, eine bestimmte Entwicklungsphase bewältigt oder gemeistert zu haben, stellt sich schon die nächste Herausforderung. Doch die kindliche Entwicklung und die medizinischen, schulischen und religiösen Einrichtungen, die Eltern und Kinder auf ihrem Weg begleiten, schaffen einige klare Einschnitte und ein Gefühl von Etappen, durch die wir unsere Exposition organisieren können.
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Die frühen Phasen der Familiengründung eignen sich besonders gut für eine Untersuchung der Art und Weise, wie die Frauen die Herausforderungen der biologischen Reproduktion durch die Mobilisierung verwandtschaftlich basierter sozialer Netzwerke bewältigen. Gleichzeitig beeinflussen die reproduktiven Handlungen der Frauen – die entscheidenden Ereignisse von Partnerschaft, Heirat und Geburt – ihre Verbindungen zur Verwandtschaft. Als Maria, Soʼnju, Jucal und Fanny heirateten oder sich verlobten, knüpften sie neue Beziehungen. Als Tessy, Ariane, Hannah und andere schwanger wurden und Kinder zur Welt brachten, änderten sich ihre Beziehungen zu ihrem weiteren Verwandtschaftskreis. Diese Beziehungen hatten über die Zeit sowie über nationale und sogar kontinentale Grenzen hinweg Bestand. Die Entfernung hat die Qualität dieser Beziehungen und der Austausche, die sich im Rahmen so wichtiger reproduktiver Ereignisse ergeben, jedoch stark prägt. Wenn Migrantinnen den alltäglichen und manchmal außergewöhnlichen Herausforderungen der Familienplanung begegnen, werden Ratschläge, materielle Güter und moralische Unterstützung über verwandtschaftlich basierte emotionale Schaltkreise übermittelt. Doch nicht nur Unterstützung, sondern auch aufdringliche Nachfragen und ärgerliche Forderungen finden mitunter ihren Weg über diese Verbindungen. Trotz finanzieller und rechtlicher Hindernisse kommen auch Menschen über diese Verbindungen – wenn Paare wieder zueinander finden, wenn Kinder zur Betreuung zur Großmutter geschickt werden und wenn Familienmitglieder zu Besuch kommen. Art und Intensität der über die verwandtschaftlich basierten emotionalen Schaltkreise stattfindenden Austausche wandeln sich mit der Zeit und unterscheiden sich speziell im Kontext der Migration von den gleichen Verbindungsarten in Situationen, in denen alle Familienmitglieder in Kamerun leben. Wie bei einem ungleichmäßigen Radio- oder Internetempfang werden verwandtschaftlich basierte emotionale Schaltkreise stärker und schwächer, erleben Perioden großer Intensität (zum Beispiel bei Hochzeiten oder Geburten) und können ebenso heruntergeschraubt, eingestellt und wieder aufgenommen werden. Die Neuheit beim Beginn einer Beziehung und der Gründung einer Familie ist zugleich aufregend und überwältigend; sie ist umso überwältigender für Migrantinnen in einer neuen, fremden und manchmal feindseligen Umgebung. Doch gerade wenn Migrantinnen der familiären Wärme und Unterstützung am dringendsten bedürfen, werden ihre verwandtschaftlich basierten emotionalen Schaltkreise ironischerweise schwächer. Die Unterschiede zwischen den alltäglichen Lebenswelten in Kamerun und Deutschland können zu Missverständnissen führen. Besonders entscheidend ist jedoch, dass auch die engsten Beziehungen die körperliche Distanz nicht überwinden können. Frauen stellen fest, dass sie
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ohne die Kopräsenz von Verwandten zurechtkommen müssen, die ihnen in Kamerun jeden Tag mit pragmatischer Unterstützung unter die Arme gegriffen hätten. Diese Herausforderung kommt in zwei oft wiederholten Sätzen zum Ausdruck: „Itʼs hard being a mother here“ und „here I am all alone“. Trotz der Abschwächung emotionaler Schaltkreise in transnationalen Familien bleiben Familienbande pragmatisch und besonders emotional von Bedeutung, wie Lily uns berichtet hat. In einer Studie der Beziehungen zwischen Großeltern und Enkeln in ländlichen Städten in Ghana macht uns Sjaak van der Geest darauf aufmerksam, dass „kinship and relatedness need to be demonstrated in public even when their ‚content‘ has dwindled“ (2004: 47). Wenn kamerunische Migrantinnen Geschichten weitergeben, in denen die Schwierigkeiten des Mutterwerdens und -seins in Deutschland beklagt werden, demonstrieren sie dadurch paradoxerweise die andauernde Bedeutung von Verwandtschaft. Ihre Klagen über den Schmerz der Einsamkeit sind eine Art, Verwandtschaft und Zugehörigkeit Bedeutung beizumessen. Dieses Kapitel über die Gründung kamerunischer Familien in Berlin zeigt, wie Migrantinnen emotionale Schaltkreise durch Heirat und Kinderkriegen schmieden. Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit der gesellschaftlich reproduktiven Arbeit von Migranten-Müttern, um emotionale Schaltkreise für ihre aufwachsenden Kinder aufzubauen. Bei der Erziehung von Vorschülern, Schulkindern und Jugendlichen bemühen sich Mütter, ihren Kindern ein Gefühl der emotionalen Identifikation mit ihren kamerunischen Wurzeln zu vermitteln. Das ist das Bemühen um Zugehörigkeit – doch der Zugehörigkeit zu was? Welche Kultur sollen kamerunische Eltern vermitteln? Auf welche Weise entsteht eine Spannung zwischen dieser sozialen Reproduktion und der sozialen Mobilität? Und welche Rollen spielen emotionale Schaltkreise zu Familienmitgliedern in Kamerun bei den Versuchen der Mütter, Zugehörigkeit für ihre Kinder zu schaffen?
Kapitel Vier: Kinder kamerunischer Familien in Berlin „[Je me sens] pas étrangère, pas de regard bizarre peut-être des autres, pas un système vraiment nouveau pour moi. Cʼest chez moi, enfin. Avec la famille, avec toute cette chaleur familiale et tout ce que cela comporte.“ (ARIANE, BERLIN, 2011)
Als sie über die Bedeutung von Zugehörigkeit grübelt, kommt Ariane die Wärme familiärer Verbindungen in den Sinn. Für diese junge Mutter und internationale Studentin in Berlin sind Erinnerungen an das Familienleben auch mit Erinnerungen an die Heimat verknüpft. Für Ariane ist Heimat gleichzeitig ein Ort und ein Gefühl.1 Eigentlich sind es sogar mehrere Orte – die Wohnung ihrer Eltern und die Nachbarschaft in der kamerunischen Hafenstadt Douala, das Land ihrer Großeltern und die Ahnenschreine im Stammesfürstentum der Bamiléké in Bangangté. Heimat löst auch eine Vielzahl an Gefühlen aus – Wärme und Schutz, Loyalität, Vertrautheit, ein Ort ungezwungener Zugehörigkeit. Ariane stellt chez moi der von ihr erlebten Fremdheit in Berlin gegenüber, den seltsamen Blicken, die sie auf sich zieht, dem Gefühl des Andersseins und der anhaltenden Anstrengung, sich in einem fremden und bürokratischen Umfeld zurecht zu finden. Arianes Definition von Zugehörigkeit im Sinne familiärer Wärme könnte auch eine Bezugnahme speziell auf Bamiléké-Symbole sein, wie zum Beispiel die warme Herdstelle oder den Kochtopf als Mutterleib. Der Herd, auf dem der
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Siehe Feldman-Savelsberg und Ndonko 2010 zur situationsspezifischen Bedeutung von Heimat als ein Element der Zugehörigkeit unter Mitgliedern der urbanen Bamiléké-Diaspora in Kamerun.
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Kochtopf steht, wird als Ort der gemeinsamen Substanz, der Verpflegung und des Geschichtenerzählens aufgefasst, was zusammengenommen Verwandtschaft ausmacht. Alternativ könnte Arianes Bezugnahme auf die familiäre Wärme auch nur eine gebräuchliche Formulierung sein, ein klischeehafter Verweis darauf, wie Familien sein sollten. Arianes Worte erinnern uns zumindest daran, dass die meisten von uns, einschließlich kamerunischer Migranten-Mütter, Teil einer Familie sind und dadurch die vielen Schichten der Zugehörigkeit schaffen. Im vorherigen Kapitel haben wir erfahren, dass junge Migranten-Mütter wie Ariane ihre Zugehörigkeit zu ihren Familien durch das Kinderkriegen stärken. Durch das Kinderkriegen nehmen Mütter neue Rollen ein und tragen zur Fortführung der Abstammungslinie bei. In diesem Kapitel beschäftigen wir uns schwerpunktmäßig mit der Aufgabe von Müttern, Zugehörigkeit für ihre heranwachsenden Kinder zu schaffen. Wie vermitteln Ariane und andere Mütter aus Kamerun, die inzwischen in Berlin leben, ihren Kindern ein Gefühl von Heimat? Wie sieht diese Heimat aus? Ziehen Ariane und andere Mütter wie sie kamerunische Kinder in Berlin groß oder sind sie Kamerunerinnen, die aus kultureller Sicht deutsche Kinder aufziehen? Durch ihre Methoden der Kindererziehung und die Pflege sozialer Netzwerke versuchen Migranten-Mütter, ihren Kindern in einer Welt globaler Mobilität eine Orientierungshilfe zu bieten. Sie möchten ihren Kindern das Gefühl vermitteln, dass sie eigene Wurzeln und Traditionen haben, dass sie stolz auf ihre Identität sein und diese akzeptieren können, anstatt sich dafür zu schämen – mit anderen Worten, emotionale Zugehörigkeit zu ihrer Herkunftskultur. Gleichzeitig arbeiten die Mütter hart daran, ihren Kindern Eigenschaften anzuerziehen, die globale Mobilität ermöglichen oder erleichtern. Dazu gehören bestimmte Charakterzüge, besondere Fähigkeiten und Rechte. Mütter bringen ihren Kindern zum Beispiel bei, anpassungsfähig zu sein und mehrere Sprachen zu sprechen; sie bemühen sich, ihren Kindern Bürgerrechte in einem europäischen oder nordamerikanischen Land zu verschaffen. Die Mütter hoffen außerdem, sowohl diese Eigenschaften als auch die kamerunische Zugehörigkeit ihrer Kinder durch den Aufbau von Beziehungen zwischen ihren Kindern und dem weiteren Verwandtschaftskreis zu stärken. Wie wir bereits festgestellt haben, schaffen Beziehungen zwischen Kindern und anderen Verwandten Verbindungen, über die Waren, Ratschläge, Besuche und Fürsorge übermittelt werden. Diese verwandtschaftlich basierten emotionalen Schaltkreise unterstützen Mütter auch bei der Arbeit der sozialen Reproduktion. Die Kindererziehung ist sozial reproduktive Arbeit. Im Kontext afrikanischer Migration nach Europa ist nicht immer ganz klar, was genau sozial reproduziert wird und wie. Dieser Mangel an Klarheit, dem sich kamerunische Migranten-
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Eltern gegenüber sehen, steht im Einklang mit neuesten Erkenntnissen zu Kultur und ethnischer Zugehörigkeit in der Ethnologie. In den letzten Jahrzehnten hat sich unter Ethnologen verstärkt die Ansicht verbreitet, dass Kultur und Zugehörigkeit „von Natur aus unvollendet“ (inherently unfinished) (Hutchinson 1996: 28) und resistent gegen Typisierung (Abu-Lughod 2008) sind sowie durch eine Kombination aus politischen Manövern (Asad 1973; Geschiere 2009) und persönlichen Interessen (Barth 1969; Cohen und Bledsoe 2002) vermittelt werden. Im Hinblick auf Kultur und Zugehörigkeit wird daher deutlich, dass die bei der Kindererziehung von Migranten mitwirkende soziale Reproduktion Anpassungen, Umstellungen, Kompromisse und die Entwicklung neuer Einsichten mit sich bringt. In einer großartigen Studie zu ghanaischen, transnationalen Familien zeigt Coe, dass Teile des Repertoires sozialer und kultureller Kindererziehung2, die aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit ansonsten keiner Erörterung bedürfen, bei einer Gegenüberstellung mit der Neuheit von Migrantenerfahrungen stärker ins Bewusstsein rücken. Die elterliche Kompetenz afrikanischer Migranten in Europa und den Vereinigten Staaten „feels fragile and hard-won“ (Coe 2013: 151). Innerhalb der Migrantengemeinschaft wird der Ruf der Eltern durch Klatsch kontrolliert, die Eltern befürchten, dass es ihren Kindern an Ehrgeiz mangelt und sie Chancen vergeuden und die disziplinarischen Methoden der Eltern werden vielleicht sogar vom Staat sanktioniert. „In this state of unease, parents become self-conscious about their repertoire.“ (Coe 2013: 152) Da ihre Kinder in Berlin aufwachsen, werden kamerunische Eltern mit den unterschiedlichsten Situationen konfrontiert, in denen sie sich in Bezug auf ihr Erziehungsrepertoire mehr oder weniger unsicher fühlen. Es ergeben sich immer neue Situationen, während die Kinder die Phasen vom Säuglingsalter über den Schuleintritt bis zur Pubertät durchlaufen und simultan dazu auch die Mütter die verschiedenen Etappen des Mutterseins durchleben. In jeder Phase interagieren Mütter durch ihre Kinder mit verschiedenen Verwandtschaftsgruppen sowie mit deutschen Gesundheits-, Sozialdienst- und Bildungseinrichtungen. Eine Untersuchung dieser Situationen ermöglicht es uns, die Entstehung neuer Vorstellungen und Methoden bezüglich sozialer Reproduktion und Zugehörigkeit in einer mobilen Bevölkerung nachzuvollziehen. Eveline zum Beispiel erahnt bereits die Schwierigkeiten, die bei der Betreuung ihres Sohnes auf sie zukommen werden, bis er das Schulalter erreicht. Sie
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Coe definiert ein Repertoire als „a set of cultural resources or frameworks – ways of speaking, thinking, and feeling about family – that mobilize material resources and people in ways that are considered normal and natural“ (2013: 5).
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vergleicht seine Situation mit der eines älteren Sohnes, den sie bei ihrer Mutter in Kamerun zurückgelassen hat und ihr wird klar, was gute Erziehung für sie bedeutet und wie schwer es für sie ist, diese unter den derzeitigen Bedingungen umzusetzen. „Ici tu es seule. Élever un enfant seule, cʼest pas du tout facile. En Afrique on a nos mamans, nos frères, nos sœurs, des amis, tu peux laisser lʼenfant à ton ami et puis tu sors. Mais ici cʼest pas le cas… Naja, ici je veux dire que lʼéducation de lʼenfant est plus dure ici... parce que déjà la langue te bloque... Oui et à lʼécole il va parler allemand. Et bon, à supposer que dans lʼavenir, si il fait déjà une Schule… quand il revient à la maison tu dois lʼaider avec ses devoirs, mais là... tu peux pas lui montre que tu dois faire comme ça. … Avec celui qui est en Afrique, tu… comprends tous ce quʼil fait à lʼécole. Tu peux lʼaider mieux par rapport à celui qui est ici. Donc pour aider celui qui est ici, il faut vraiment sʼintégrer. Cʼest dur. Tous les jours on pense à la vie de nos enfants. On fait les enfants et on les voit grandir, cʼest beau de les voir grandir, mais lʼéducation... On se demande, je me demande tous les jours comment sera son éducation.“
Evelines Aussage offenbart mehrere Themen: das Alleinsein, die fehlende gemeinsame Sprache, die Fremdheit des deutschen Schulsystems und die besorgten Hoffnungen für die Zukunft der Kinder. Im vorherigen Kapitel lehrten uns Eveline und andere, dass frischgebackene Bräute und junge Mütter durch die physische Distanz zur weiteren Familie – insbesondere zur weiblichen Verwandtschaft – auf sich allein gestellt sind, während sie sich an diesen neuen Lebensabschnitt und ihre neue Lage anpassen. Hier deutet Eveline darauf hin, dass das überwältigende Gefühl, mit den vielen Aufgaben der Kindererziehung allein zu sein, Mütter über die gesamte Mutterschaft hinweg verfolgt. Mütter von Vorschulkindern, Grundschulkindern und Jugendlichen sehen sich bei der Erziehung ihrer Kinder in Berlin zwei Herausforderungen gegenüber. Erstens müssen sie ihre Erziehungsmethoden an eine neue Umgebung anpassen und ihren Kindern irgendwie vermitteln, was sie als wichtigste Elemente ihrer Kultur betrachten. Die Anpassung der Eltern ist ein fortwährender Prozess, der nicht durch die Migration, sondern auch durch die Entfaltung biografischer Phasen bedingt ist. Die Aufgabe der Eltern, im Verlauf des Lebens Zugehörigkeit für ihre Kinder zu schaffen, ist schon schwer genug, wenn eine unüberwindbare Distanz zwischen ihnen und dem physischen und sozialen Umfeld ihrer angestrebten, imaginären Zugehörigkeit besteht3 – in unserem Fall Kamerun. Zugehörigkeit für Kinder zu schaffen, ist eine doppelt so schwere Herausforderung,
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Siehe Benedict Anderson (2006) zu „imaginären Gemeinschaften“ und Nationalismus.
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da immer ein subtiles Gleichgewicht mit den Versuchen der Mütter herrscht, ihren Kindern bei der Anpassung an und der Integration in die deutsche Gesellschaft zu helfen. Ich habe oft Mütter mit gemischten Gefühlen verkünden hören, dass sie „deutsche Kinder haben“, die fließend Deutsch sprechen und tadellos die deutschen Umgangsformen beherrschen, aber nur wenig Interesse für die kamerunischen Lebensweise aufbringen können. Die zweite Herausforderung bei der Kindererziehung in Berlin besteht darin, die Kinder auf akademischen Erfolg vorzubereiten und sie Durchsetzungsvermögen zu lehren. Mütter hoffen, dass in Kamerun geschätzte Werte wie Respekt, Disziplin und die Identifizierung mit den familiären und kulturellen Wurzeln ihren Kindern die nötige Kraft geben, um als Schwarzafrikaner durch das deutsche Kindergarten- und Schulsystem zu kommen. Kamerunische Migranten-Mütter kommen mit dem starken Wunsch nach Deutschland, hier etwas zu erreichen – für sich und für die Zukunft ihrer Kinder. Kamerunische Mütter unterscheiden sich aus demografischer Sicht von anderen afrikanischen Einwanderern in Deutschland, weil viele von ihnen mit einem Schul- oder Hochschulabschluss ankommen und entweder mit einem Studentenvisum einreisen oder als Studenten im Land bleiben. Die Mütter, die ich kennengelernt habe, unterscheiden sich auch durch ihr Selbstbild; sie erwähnten häufig, dass sich Kameruner durch einen hohen Bildungsstand von anderen Afrikanern abheben und dieser auch Bamiléké und Anglophone von anderen Kamerunern unterscheidet. Sie ärgern sich über deutsche Stereotypen, dass afrikanische Migranten arm, benachteiligt und illegal sind; insbesondere hochgebildete kamerunische Migranten-Mütter beschäftigen sich intensiv mit der Erziehung, um das Humankapital ihrer Kinder zu kultivieren.4 Von der Vorschule bis zu den höheren Klassen bemühen sich Mütter, ihre Kinder trotz wahrgenommener oder erwarteter Diskriminierung auf akademischen Erfolg vorzubereiten. Für die Erfüllung dieser anspruchsvollen Aufgabe greifen Mütter zugleich auf kamerunische Formen der Zugehörigkeit und auf Erkenntnisse darüber zurück, wie sie das deutsche System am besten nutzen können, um ihre Kinder zu führen. Durch die Vorstellung der alltäglichen Erziehungsmethoden der Mütter wirft dieses Kapitel eine grundlegende Frage auf: Herrscht eine Spannung zwischen sozialer Reproduktion und sozialer Mobilität? Falls ja, wie bewegen sich Mütter
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Für komparative Materialien über Ambitionen, die Immigranteneltern, vor allem Mütter mit Blick auf die Ausbildung ihrer Kinder entwickeln – und möglicherweise resultierende emotionale Rückschläge – siehe die Kontroversen zu dem Begriff chinesischamerikanischer „tiger moms“ (Chua 2011; Juang, Qin,and Park 2013; Qin 2006; Suárez-Orozco, Todorova und Qin 2006).
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zwischen diesen beiden Unterfangen? Da die Methoden und moralischen Imperative der Kindererziehung sich im Lebensverlauf ändern, verfolge ich in diesem Kapitel die Verflechtung von sozialer Reproduktion, Zugehörigkeit und Mobilität bei den Müttern von Kindern in verschiedenen Entwicklungsphasen.
D IE E RZIEHUNG VON V ORSCHULKINDERN UND DIE M EHRDEUTIGKEIT VON Z UGEHÖRIGKEIT Kamerunische Eltern interagieren mit ihren Neugeborenen und Kleinkindern auf eine Art und Weise, die kulturspezifische Dispositionen fördert. Durch Spiele, Sprachwahl und Körperpraktiken helfen sie ihren Kindern bei der Verinnerlichung des Kamerunisch-Seins5. Doch da Migranten-Mütter (und -Väter) arbeiten müssen, verbringen sie viele Stunden am Tag getrennt von ihren Kindern. In fast allen Fällen bedeutet das, dass die Kinder in öffentlich verwalteten oder subventionierten Tagesstätten und nicht von Verwandten oder anderen Mitgliedern einer kulturellen Gemeinschaft versorgt werden. Dort interagieren die Kinder mit deutschen Spielkameraden und Betreuern. Die Kinder erlernen nicht nur die deutsche Sprache und deutsche Verhaltensweisen, sie beginnen auch, sich mit einem deutschen Habitus zu identifizieren und diesen als normal und unbelastet anzusehen. Nach Verlassen der Tagesstätte erwarten die Eltern jedoch von ihren Kindern, dass sie sich entsprechend kamerunischer Erwartungen verhalten. Von frühester Kindheit an werden die Kinder kamerunischer Migranten daher mit der Mehrdeutigkeit von Zugehörigkeit konfrontiert. Mütter wissen um das kulturelle Tauziehen, mit dem ihre Kinder zu kämpfen haben. Wenn sie über ihre Rollen in der Kindererziehung nachdenken, sprechen Mütter über den Unterschied zwischen der Erziehung kamerunischer Kinder in Deutschland und der Erziehung kulturell deutscher Kinder durch Kameruner. Mütter sehen sich daher der schwierigen Aufgabe gegenüber, für ein Gleichgewicht zwischen der Schaffung kamerunischer Zugehörigkeit und der Förderung einer Anpassung an das deutsche Umfeld zu sorgen. Die Kita ist ein wichtiger Schauplatz, an dem sich dieser Drahtseilakt abspielt. Überraschenderweise kann dieser deutsche, institutionelle Rahmen auch ein Ort sein, um insbesondere kamerunische Verbindungen zu knüpfen. In diesem Abschnitt beschäftige ich mich zuerst mit der Art und Weise, wie die Eltern die Verkörperung von Zugehörig-
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Ich schließe mich den Eltern an und verwende Cameroonian-ness (Kamerunisch-Sein) als Glosse für das, was häufiger lokal, regional oder ethnisch begründete Identitäten in Kamerun sind.
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keit bei ihren Babys und Kleinkindern fördern. Anschließend untersuche ich die Rolle der Kita und den Stolz sowie den Frust bei der Erziehung deutscher Kinder. Abschließen werde ich mit den unterschiedlichen Bemühungen der Mütter, ihre Kinder kamerunisch zu halten. Frühe Verkörperung Die Methoden der Säuglings- und Kleinkindbetreuung von Kamerunern – oder genauer gesagt, von Grassfieldern, Bamiléké oder Bangangté – helfen diesen jungen Menschen, einen kulturspezifischen Habitus zu verkörpern (Bourdieu 1977; Csordas 1994; Strathern 1996). Diese Methoden verbinden das Kind mit seinen Eltern, mit deren Verwandten und nahestehenden Freunden und mit einem Heimatort. Sowohl Mütter als auch Väter überreichen ihre Babys bereitwillig Besuchern, ermutigen das Wohlbefinden bei verschiedenen Betreuern und lehren, keine Angst vor Fremden zu haben (Gottlieb 2004). Sie sprechen Englisch oder Französisch mit ihren Kindern – die bevorzugten Sprachen von Migranten, die meistens selbst aus multiethnischen, urbanen Zentren in Kamerun stammen. Auch wenn sie die Sprache ihres Heimatdorfes nicht beherrschen, verwenden Eltern Spitznamen in dieser Lokalsprache und sprechen ihre Kinder manchmal mit ihrem ndap an, einem Lobnamen, der auf das Herkunftsdorf der Mutter oder des Vaters hindeutet. Väter und vor allen Dingen Mütter erinnern sich an Geben-und-Nehmen-Spiele in der Lokalsprache, ein beliebter Zeitvertreib, der Babys und Kleinkindern den einfachen Brauch der Gegenseitigkeit lehrt. Als ich Marthe und Alain das erste Mal bei ihnen zu Hause besuchte, lachten sie begeistert, als ich ihre kleine Tochter auf Marthes Schoß direkt ansah und kò (nehmen) auf Medʉmbα6 sagte, um das Geben-und-Nehmen-Spiel einzuleiten. Während ich der kleinen Yvonne wiederholt meinen Stift anbot und von ihr zurückgeben ließ, sagte Marthe die Wörter des Geben-und-Nehmen-Spiels auf. Doch sogar diese einfachen Bräuche haben ihre Grenzen innerhalb der kamerunischen Diaspora in Berlin. Wie bereits erörtert wurde, kommen nur wenige Familienmitglieder zu Besuch. Auch für die Familienangehörigen, die ebenfalls nach Europa ausgewandert sind und im gleichen Land oder der gleichen Stadt leben, sind die Strecken lang, die Bahnfahrten teuer und die Zeit kurz. Dadurch beschränkt sich die tägliche Interaktion auf eine kleine Gruppe – Mitglieder des gleichen Haushalts, in der Regel eine Kernfamilie. Darüber hinaus sind übliche Körperpraktiken (Mauss 1979), die eine motorische Stimulierung und die frühe
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Medʉmbα ist die Sprache von Bangangté, dem Bamiléké-Stammesfürstentum, in dem ich ab 1980 meine Forschung durchführte.
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Aneignung motorischer Kompetenz fördern (Keller, Voelker und Yovsi 2005: 160), wie beispielsweise das Herumtragen des Babys in einem Tragetuch auf dem Rücken, in einem kalten, winterlichen Klima unpraktisch, wenn sowohl Mutter als auch Kind Mäntel tragen müssen. Körperpraktiken wie die Beschneidung kleiner Jungen kennzeichnen Zugehörigkeit; manche würden sagen, dass bei der männlichen Beschneidung die kamerunische Zugehörigkeit im wahrsten Sinne des Wortes in den Körper eingeritzt wird. Doch in Deutschland ist die Beschneidung alles andere als selbstverständlich. Jucal erzählte mir, die männliche Beschneidung „is not a tradition, itʼs not a culture here in Germany, they donʼt do circumcision.“ Jucal fiel es schwer in Worte zu fassen, warum die Beschneidung dazu gehört, um Kameruner oder Bamiléké zu sein, sie beharrte jedoch darauf, dass die Beschneidung ein wichtiger Bestandteil der Erziehung ihres Sohnes als Kameruner ist. „I donʼt just know. Itʼs just like it is something in the brain. Every male in Cameroon is circumcised. So I donʼt know whether... I just know itʼs something. Although here they say it might [be] there is dirt inside, people donʼt know how to clean it so well so itʼs good you cut it in order to be clean. But I just know that every man should be circumcised. Not should but where I come from they do that… even if you are undressing in like in beach or what so ever, people will be looking.“
Als ich 2011 mit Jucal über die vor kurzem stattgefundene Beschneidung ihres Sohnes sprach, übernahm die Krankenversicherung nicht die Kosten für Beschneidungen, die aus kulturellen Gründen durchgeführt wurden. Von ihrem Kinderarzt erhielt Jucal die Adressen von Kinderchirurgen, „so many addresses, so I just called, itʼs business, you pay them [200€] for their services.“ 2012 löste der Beschluss eines Kölner Gerichts, dass Beschneidung Körperverletzung darstellt, einen Aufschrei unter türkischen und jüdischen Organisationen in Deutschland sowie den großen deutschen Kirchen aus.7 Seitdem soll ein neues Gesetz
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Die ersten Artikel, die zum Kölner Beschneidungsfall erschienen, erörterten seine rechtsverbindliche Wirkung und anfängliche Kritik (z.B. Die Welt 27. Juni 2012 und 29. Juni 2012) hauptsächlich auf Basis religiöser Begründungen (z.B. Express 2012, Süddeutsche Zeitung 5. Juli 2012), einschließlich eines analogischen Brückenbaus zum Holocaust (Süddeutsche Zeitung 16. Juli 2012). Innerhalb eines Monats erschienen journalistische Kommentare hinsichtlich des rechtlich-kulturellen Dilemmas, medizinischer Meinungen und der Natur religiöser Identitäten (z.B. Rabinovici 2012, Sachsenröder 2012, Polke-Majewski 2012), gefolgt von Leitartikeln, die die männli-
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den rechtlichen Status der männlichen Beschneidung klären (§1631d Beschneidung des männlichen Kindes). Doch da kamerunische Beschneidungspraktiken eher auf Bräuchen als auf der Doktrin einer Weltreligion beruhen, bleibt ihre Situation ungewiss. Die Kita als Schauplatz simultaner Integration und Entfremdung Wie viele andere kamerunische Mütter, die ich kennengelernt habe, klatschte KemKarine in die Hände und rief „thank God for the Kita!“ Die Kita ist bereits in die Alltagssprache der Migranten vorgedrungen und gehört zur deutschen Umgangssprache, die sie in ihre Gespräche auf kamerunisch geprägtem Englisch oder Französisch einfließen lassen. Ohne den Zugang zu diesen Kindertagesstätten in Berlin könnten Mütter von Kleinkindern keiner Arbeit nachgehen, keine Sprach- oder Integrationskurse besuchen oder zur Universität gehen. KemKarine arbeitet zum Beispiel als Zimmermädchen und reinigt die Zimmer in einem großen Hotel. Arbeit als Zimmermädchen bringt schlechte Bezahlung, geringen gesellschaftlichen Status und körperliche Leiden, eine wenig begehrte, aber häufige erste Arbeit für afrikanische Immigrantinnen in Berlin. Wenn sie auf der Arbeit ist, besuchen ihre zwei kleinen Söhne im Vorschulalter die Kita in der Nähe ihrer Wohnung im früheren Ostberlin. Dort sind die Mieten niedrig und ein nahegelegenes Studentenwohnheim bedeutet, dass es zumindest eine kleine Gruppe afrikanischer Migranten-Mütter gibt, die ihre Kinder in die gleiche Kita schicken. KemKarine versucht, so viele Stunden wie möglich zu arbeiten, da sie für eine Reise nach Kamerun mit ihren zwei Kindern spart. Ihr Schrank ist gefüllt mit Nutella-Gläsern, Pampers und anderen Geschenken, die sie unter Verwandten und Freunden in Kamerun verteilen möchte. Es wäre KemKarines erster Heimatbesuch nach ihrer Flucht aus einem kamerunischen Gefängnis, in dem sie vor fast zehn Jahren wegen der Teilnahme an einer politischen Demonstration gelandet war. Seitdem hat KemKarine die einsamen Jahre in einem Asylbewerberheim überstanden, ihr wurde politisches Asyl gewährt und sie hat sich in Berlin ein Leben aufgebaut. Sie meint: „Things are very o.k. for me now… At least I can be able to pay my bills, I can be able to take my children out for a weekend… like for a change to eat something in McDonaldʼs.“ Als einfache Angestellte kann KemKarine in dem Hotel keine idealen Arbeitsbedingungen aushandeln. Sie steht immer auf Abruf und ihre Arbeitsstun-
che Beschneidung als eine archaische Form der Körperverletzung bezeichneten (z.B. Ehrmann 2012, Kelek 2012, Schmidbauer 2012).
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den sind daher sowohl unregelmäßig als auch unvorhersehbar. KemKarine arbeitet oft auch am Wochenende. Da die Kita nur tagsüber unter der Woche geöffnet hat, muss KemKarine aufgrund ihrer Arbeitszeiten eine Alternative für die Kinderbetreuung finden. Der Vater der Kinder, ein Kameruner mit deutscher Staatsbürgerschaft, arbeitet inzwischen in einem anderen EU-Land; seine monatlichen Besuche bei KemKarine und ihren zwei kleinen Jungen erlauben es ihm nicht, diese Lücken in der Kinderbetreuung zu füllen. KemKarine berichtet von ihrem Leid, bei Freunden um Gefallen bitten zu müssen. „Yes, when I have to work during the weekend, like Saturday and Sunday when the Kita is closed, I find it at times very difficult. I have to start making calls from Wednesday…, ‚please I have to work on Saturday; I have to start job at 8 oʼclock. Can you please help me, can I bring my kids to your place?‘“
Mütter, insbesondere alleinerziehende Mütter wie KemKarine, pflegen Verbindungen zu anderen Kamerunern, die ihnen bei der Bewältigung von Arbeitsbedingungen helfen, die sich nicht mit dem öffentlichen Kinderbetreuungsangebot vereinen lassen. Diese Verbindungen veranschaulichen die Verflechtung verwandtschaftlich und gemeinschaftlich basierter Netzwerke und zu den anderen Kamerunern gehören sowohl Verwandte als auch Freunde. Familiäre Anredeformen deuten darauf hin, dass nicht-genealogische Beziehungen, in deren Rahmen es zu einer gegenseitigen Kinderbetreuung kommt, im Migrationskontext verwandtschaftsähnliche Formen annehmen können. „So at times my own Cameroonian sister, we do cooperate, we love ourselves but if not I wouldnʼt have been working for two years“, erklärt KemKarine. „If we donʼt cooperate, single mothers like us, we find it very difficult. There are times that Kita is also closed during holidays, you have to work. So you look. We have to cooperate. You have to call friends and relatives.“ Die Schwesternschaft der gemeinsamen Migrantenerfahrung, der beiderseitige Bedarf und die gegenseitige Hilfe sind bei alleinerziehenden Müttern in Niedriglohn-Jobs wie bei KemKarine wahrscheinlich besonders ausgeprägt. Durch das Knüpfen von Beziehungen für die Betreuung ihrer Kinder schaffen Migranten-Mütter durch ihre Kinder Verbindungen für ihr eigenes finanzielles Überleben. Die Kita dient als ein Ort, an dem Beziehungen unter gleichgesinnten kamerunischen Migranten aufgebaut werden. Durch ihren Besuch der Kita helfen Vorschulkinder ihren Müttern also beim Aufbau zwangloser, sozialer Unterstützungsnetzwerke. Das gilt vor allem für studierende Mütter – die Mehrheit der
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regulären kamerunischen Migranten8, da die Kita Schnittpunkte mit vielen anderen Schauplätzen der alltäglichen Interaktion hat. Wie viele andere Studenten haben auch Bih und Barbara ihre Zeit in Berlin in einem Studentenwohnheim begonnen. Da Studenten häufig in der Nähe anderer Studenten wohnen, ergeben sich für sie Gelegenheiten zu spontanen Treffen, zur gegenseitigen Überwachung, zur Hilfesuche und zum Aufbau von Vertrauen in das Studentenwohnheim und seine unmittelbare Nachbarschaft sowie in die Kita. Nicht studierende Migranten-Mütter sind stärker auf die Kita angewiesen, um anderen Müttern in einer Situation des täglichen Miteinanders zu begegnen. Bei beiden Müttergruppen dienen die Kinder als Bindemittel an den vom Soziologen Mario Small als routine organizations (Alltagsorganisationen) bezeichneten Schauplätzen (Small 2009).9 Bih und Barbara lernten sich in der Kita neben ihrem Studentenwohnheim kennen. Sie griffen sich gegenseitig unter die Arme – holten die Kinder der anderen von der Kita ab und wechselten sich beim Babysitten ab, um Abendkurse zu besuchen und als Verkäuferinnen in einem Lebensmittelgeschäft zu arbeiten, damit sie sich als Studenten über Wasser halten konnten. Nachdem Barbara ihr Kind geboren hatte, war Bih dort, um zu kochen, sauber zu machen und Barbara, ihren Ehemann und ihre älteren Kinder zu unterstützen. Bih wurde, in den Worten von KemKarine, Barbaras „kamerunische Schwester“. Ihre gegenseitige Hilfe ergänzte die Betreuungsmethoden der wenigen genealogischen Verwandten, die ebenfalls nach Berlin oder in die unmittelbare Umgebung ausgewandert waren. Inzwischen streben beide Frauen ihren Doktortitel an. Das Vertrauen, das sich zwischen ihnen aufgebaut hat, nachdem sich ihre Wege in zwei Alltagsorganisationen kreuzten – im Studentenwohnheim und in der Kindertagesstätte – ermöglichte den jungen Müttern die Verfolgung ihrer Migrationsziele, während sie ihre Kinder großzogen, denn, wie Barbara mir sagte „all reproduction in the diaspora is a reproductive challenge.“ Dieses Vertrauen ist ein entscheidendes Element in den Erziehungsstrategien der Frauen, da sie positive Umfelder für ihre Kinder suchen. Für KemKarine be-
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Im Jahre 2012 wurden 61% der neuen vorübergehenden Aufenthaltstitel an Studenten vergeben; unter den Frauen reisten 56,2% der Neuankömmlinge mit Studentenvisa ein.
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Literatur zur Abgabe von Kindern betont auch, dass Kinder räumlich zerstreute Frauen und Haushalte verbinden. Siehe zum Beispiel Åkesson, Carling und Drotbohm 2011; Alber, Martin und Notermans 2013; Bledsoe und Sow 2011b; Coe 2013; und Goody 2008 für westafrikanische Beispiele und Leinaweaver 2008, 2013 zu Lateinamerika sowie Parreñas 2005 zu Südostasien.
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deutet das Beste für ihre Kinder Verlässlichkeit, wenn sie nachts und an den Wochenenden arbeiten muss. Im Gegensatz dazu ist Bih wählerischer, wenn es um das Betreuungsumfeld ihres Kindes geht. Neben Barbara erreichen nur wenige andere Personen ihren Maßstab der Kinderbetreuung. In Kapitel Eins erfuhren wir zum ersten Mal von Bihs Tatkraft bei der Verfolgung „the best interest of her child“, wie sie es ausdrückt, als sie in die USA reiste, um dort ihr Kind unter der Anleitung ihrer international verstreuten Verwandten zur Welt zu bringen. „Actually“, meint Bih, „it matters a lot to me, the person whom I leave my child with. I have two people, [Barbara] and another friend. Even if someone offers to I do not feel [like] keeping my child everywhere. I have people that I trust. When I donʼt know you well it will be difficult for me to leave my child. It is a child, you understand, itʼs not a [piece of] luggage.“
Bih wählt Betreuer, die ihre strengen Erwartungen in Bezug auf den Respekt gegenüber Erwachsenen durchsetzen, Einrichtungen, die die intellektuelle Entwicklung fördern und Situationen, in denen sich ihr Kind wohlfühlt. Als Bihs Kind noch ein Baby war, nahm sie sich Zeit, um Vertrauen zu der öffentlich geförderten Kita in ihrer Nachbarschaft aufzubauen. „Actually the thing is here we are lucky here in Berlin to have a very good system, when it comes to Kindergarten or Kita, with students. Because just directly behind our home there is a Kindergarten there that [serves children]… especially from students… So actually my baby got an admission there when she was two months old. But I never wanted to because she was still very young so I was scared. So I [stayed] at home with her for two more months… But then I realized I could not do anything so I had to give her to the Kita when she was four months old... So I was paying to keep the space but I stayed at home with her because I was scared.“
Durch Hilfsgelder für Studenten wurde die Kita für Bih und James bezahlbar, den letztendlich bezahlten sie nur 54€ pro Monat. Nachdem James seinen Abschluss gemacht und eine Stelle in seiner Fachrichtung gefunden hatte, stiegen die Kosten auf 200€; das war eine erhebliche Belastung für das Budget des jungen Paares, doch die Kosten waren immer noch niedriger als das, was Eltern in den Vereinigten Staaten für eine vergleichbare Betreuung bezahlen müssten. Glücklicherweise feierte ihre kleine Tochter kurz nach James Einstieg in eine Vollzeitstelle ihren dritten Geburtstag. Dadurch konnten sie einen entscheiden-
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den Vorteil in Anspruch nehmen: In Berlin ist der Kita-Besuch für Kinder ab dem dritten Geburtstag kostenlos.10 Ohne sichere und erschwingliche Betreuung würden viele kamerunische Migranten ihre Kleinkinder wahrscheinlich in die Obhut in Kamerun lebender Verwandter geben. Diese Fürsorgemodelle sind unter westafrikanischen Migranten üblich, die in Ländern mit weniger entwickelten Sozialeinrichtungen leben (wie zum Beispiel in den Vereinigten Staaten) (Coe 2013).11 Der gute Zugang zu bezahlbarer Betreuung in Berlin ermöglicht es arbeitenden Müttern, ihre Kinder bei sich zu behalten und sie in Deutschland großzuziehen. Die tägliche Interaktion, wenn sie ihre Kinder in der Kita abgeben oder von dort abholen, hilft Müttern bei der Knüpfung von Beziehungen mit anderen. Die auf diese Weise aufgebauten Verbindungen zu anderen Kamerunern bilden Netzwerke der gegenseitigen Hilfe, die ihren Anfang damit nehmen, dass man bei der Kinderbetreuung einspringt und schließlich zur Entwicklung einer diasporischen Gemeinschaft beitragen. Verbindungen zu anderen Eltern – asiatischer, osteuropäischer, türkischer oder deutscher Abstammung – und den größtenteils deutschen Erziehern bieten Gelegenheiten zur Beobachtung und Erörterung von Erziehungsmethoden. Die Beteiligung kamerunischer Frauen an Eltern-Lehrer-Treffen und Einzelgesprächen ist ein wichtiger Aspekt ihrer sozialen Integration in die Zielgesellschaft. Nicht nur Mütter, sondern vielmehr ihre Kinder werden durch den Be-
10 Das Bundesgesetz in Deutschland räumt Eltern einen rechtlichen Anspruch auf einen Kita-Platz für Kinder im Alter von einem Jahr und älter ein, aber nur wenige Bundesländer können die Nachfrage decken. Berlin bildet mit ca. 5.000 freien Plätzen (Köhler 2013) in ungefähr 2.300 Kitas und einem intensiven Tagesstätten-Ausbauprogramm seit März 2014 eine Ausnahme (Rautenberg o.D.). Während es Wartelisten bei besonders begehrten Tagesstätten in Vierteln mit vielen jungen Familien gibt, können Kinder einen Kita-Platz innerhalb der Stadt bekommen, wo es keine Wartelisten auf Ebene des Landesregierung gibt (Rautenberg o.D.). Bis zu drei Jahre vor dem Eintritt in die Grundschule können Kinder öffentlich subventionierte Kitas kostenlos unter Verwendung von Kita-Gutscheinen besuchen, die ihre Eltern beim Jugendamt ihres Bezirks erhalten. 11 Die so entstandenen transnational zerstreuten Familien unterscheiden sich von den in westafrikanischen Ländern üblichen Pflegeabkommen im Hinblick auf das Alter des Kindes, die Richtung des Wohlstands und die Statusunterschiede zwischen biologischen Eltern und Betreuern. Sie unterscheiden sich auch von Pflegeabkommen, bei denen Bamiléké-Teenager Kamerun verlassen, um zu entfernten Verwandten zu ziehen, die sich in Frankreich erfolgreich niedergelassen haben (Kamga 2014).
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such der Kita in deutsche Sozial- und Kulturstandards integriert; Eltern sehen das zwiespältig. „Ich habe ein deutsches Kind“: Zwischen Stolz und Frust Bei meinen Gesprächen mit Frauen wie Bih, Barbara und KemKarine habe ich wiederholt Varianten des Satzes „Ich habe ein deutsches Kind“ gehört. In einigen Fällen bezogen sich Mütter damit auf die deutsche Staatsbürgerschaft ihrer Kinder. In anderen Fällen beschrieben sie dadurch eine Reihe von Präferenzen und Verhaltensweisen, die ihre Kinder als kulturell deutsch auszeichnen. Die meisten Kinder zogen es vor, Deutsch statt dem Englisch oder Französisch der Heimat ihrer Eltern zu sprechen und spielten auch mit ihren Geschwistern auf Deutsch. In der Kita lernten die Kinder den lockeren Umgang mit Generationsgrenzen, sprachen Erzieher mit dem Vornamen an, stellten Rückfragen und stellten sogar die Autorität infrage. Die Kinder entwickelten unterschiedliche Geschmäcker beim Essen und ziehen Spaghetti und Eiscreme der scharf gewürzten kamerunischen pepe soup vor. Die Eltern beobachteten die deutsche Sozialisierung ihrer Kinder mit einer Mischung aus Stolz, Frust und Angst. Ihre Kleinen schafften es kulturell in Berlin und eigneten sich eine Kulturkompetenz an, die ihnen das zukünftige Leben in Deutschland oder andernorts in Europa erleichtern würde. Doch die Eltern empfanden die Nahrungs- und Konsumpräferenzen ihrer Kinder als leicht befremdlich. Wichtiger ist jedoch, dass die meisten Eltern entsetzt über das waren, was sie als ernsthaften Mangel an Respekt deutscher Kinder gegenüber Älteren ansahen. Die Eltern befürchteten, dass dieser Mangel an Respekt später in aufmüpfiges Verhalten ausarten könnte. Sie waren besorgt, dass ihre Kinder später nicht motiviert oder gewillt sein könnten, die ihnen in Europa offenstehenden Chancen zu nutzen. Die Mütter malten sich die Zukunft aus und waren beunruhigt, dass ihre Kinder sich bei einem Besuch ihres kamerunischen Heimatlands fremd fühlen würden und es ihnen als Erwachsenen unangenehm wäre, ihre vielleicht nach Kamerun zurückgekehrten Eltern zu besuchen. Einige MigrantenEltern fühlen sich durch die Bedürfnisse ihrer Kinder in Deutschland gefangen und debattieren heftig darüber, wie lange ein Kind in Deutschland bleiben kann, bevor ein Punkt erreicht wird, an dem es kein Zurück mehr gibt und die Kinder sich nicht mehr an das kamerunische Konsumverhalten oder die Umgangsformen mit Älteren (Respekt), Gleichaltrigen (Teilen, Spielen) und Schulautoritäten anpassen können. Zwischen Mitte der 2000er Jahre, als ich das erste Mal in Erwägung zog, kamerunischen Migranten an ihre europäischen Zielorte zu folgen und – seit
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meiner Feldforschung 2010-11 in Berlin – der rolling ethnography, die ich während meiner Besuche bis 2014 durchführte, scheint sich die Orientierung der Migranten gegenüber ihren Zielorten gewandelt zu haben. Früher kamen die Migranten, um eine Ausbildung zu bekommen oder Geld zu verdienen und anschließend mit einem besseren Status nach Kamerun zurückzukehren. Doch heute lassen sich die Migranten vermehrt in Berlin nieder – sie machen ihren Abschluss, suchen sich eine Arbeitsstelle, starten eigene Unternehmen und gründen eine Vielzahl von Vereinen mit kulturellen, religiösen und Entwicklungszielen. Kamerunische Familien in Deutschland zu gründen und Kinder großzuziehen ist ein wichtiger Aspekt einer allmählichen Verschiebung hin zu einer dauerhaften Niederlassung12. Die meisten Mütter, mit denen ich gesprochen habe, ordneten sich selbst irgendwo zwischen den beiden Polen temporärer Migration und dauerhafter Niederlassung ein. Viele beabsichtigten, irgendwann zurückzukehren, aber hatten noch keine festen Pläne, wann sie dies tun würden.13 Dieses Leben im Konjunktiv, in einer Welt, in der sie vielleicht zurückkehren oder bleiben könnten/sollten/würden, beeinflusste ihre Erziehungsstrategien und die Art der Zugehörigkeit, die sie ihren Kindern anerziehen wollten. KemKarine ist eine der vielen Mütter, die vage Pläne für eine Rückkehr nach Kamerun haben, sobald ihre Kinder erwachsen und selbstständig sind. In Kamerun würde sie sich „frei“, „zwanglos“ und „zu Hause“ fühlen. Doch für KemKarine war Kamerun auch ein Schauplatz politischer Gewalt, vor der sie die Flucht ergriff. In der Zwischenzeit erzieht sie ihre Kinder so, dass sie in Berlin so gut wie möglich zurechtkommen und geht davon aus, dass sie in Deutschland bleiben werden. Als ich sie nach einem Vergleich zwischen kamerunischen und deutschen Erziehungsmethoden fragte, antwortete KemKarine: „I raise them in
12 Bledsoe und Sow (2011a) sind einige von vielen, die nahelegen, dass mehr Arbeiter und ihre Familien aus Angst in Europa bleiben, dass sie nicht mehr zurück können, weil die Einholung der entsprechenden Papiere, die afrikanischen Migranten die Einreise in und Ausreise aus der Festung Europa ermöglichen, sich so schwierig gestaltet. Das könnte auch bei einigen meiner Gesprächspartner der Fall gewesen sein. Andere wiederum besorgen sich die deutsche Staatsbürgerschaft, damit sie ungehindert reisen, ihre beruflichen Chancen verbessern und ihren Kindern eine Zukunft sichern können. Neben einer dauerhaften Ansiedelung für die Kinder sprechen sie von mangelnden Beschäftigungsmöglichkeiten in Kamerun und ihren eigenen zunehmenden Problemen, sich an die täglichen Unannehmlichkeiten ihres Heimatlandes zu gewöhnen. 13 Siehe Stollers Arbeit über westafrikanische Immigranten in New York City, die für ihren Lebensabend eine Rückkehr in ihre Heimat im Niger, Mali, Senegal, und Guinea planen (2001; 2014).
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both, particularly in the German way, because they stay here. They just have to know little about Cameroon, because I am the one going to settle back home. They are going to remain here. So they need to know much about their system.“ Für KemKarine war der Sprachgebrauch ein Schlüsselindikator für die Fähigkeit ihres Sohnes, sich im „German system“, wie sie es nennt, zurechtzufinden und sich mit ihr und ihren Verwandten zu verständigen. „They speak German in kindergarten; they speak English in the house. Mostly English in the house. At times they want to speak German but I donʼt want them to speak German in the house.“ Die Erziehung von Kindern in einer anderen Sprache und Kultur ist sowohl kognitiv als auch emotional eine Herausforderung. KemKarine äußert ihr Leid im Hinblick auf gegensätzliche Identitäten und ihre fortwährende Verantwortung gegenüber den besten Interessen ihrer Kinder. „This is really difficult because first, my children are German and I am a Cameroonian. So at times like when you have stress I wish I could go back home. Then in turn when you look at your children, they are still very young and they are Germans. At times you even cry. But for me I know that I am a Cameroonian. Because I am here [in Berlin], I want to raise my children, I want to give them the best. When they are big – 20 years, 18 years – I [will] go back. Thatʼs why I keep in touch with my people at home.“
KemKarine gibt ihren Kindern „das Beste“, indem sie sie „auf deutsche Art“ erzieht und Versicherungen zur Absicherung ihres zukünftigen finanziellen Wohlergehens abschließt. Gleichzeitig macht sie ihre Söhne durch Telefonanrufe zu Hause und Besuche bei Verwandten in Kamerun mit „der kamerunischen Art“ vertraut. Einzusehen, dass sie und ihre Kinder keine primäre kulturelle Zugehörigkeit gemeinsam haben, macht KemKarine das Herz schwer. Andere Eltern teilen KemKarines Leid. Jucal, die wir bereits im vorherigen Kapitel kennengelernt haben, beschreibt ihr Baby als „German by citizenship, Cameroonian by culture.“ Alain, Marthes Ehemann und Vater des Kleinkinds Yvonne, übt starke Kritik an kamerunischen Eltern, die „sich nicht die Mühe machen, ihren Kindern von Afrika zu erzählen“. Für ihn ist der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft als pragmatischer Schritt zur Erhöhung der Chancen auf dem Arbeitsmarkt nachvollziehbar; die Identifizierung mit der eigenen Kultur und seinem Herkunftsort ist jedoch ein moralisches Gebot. Obwohl Alains und Marthes Kind kurz vor dem Besuch einer örtlichen, deutschsprachigen Kita (statt einer der wenigen bilingualen deutsch-französischen Kitas) stand, war Alain überzeugt, dass Eltern das moralische Gebot, die Zugehörigkeit ihrer Kinder zu formen, durch den Sprachgebrauch zu Hause, anhaltende Verbindungen
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zur Verwandtschaft und die Teilnahme an Gemeinschaftsfesten umsetzen könnten. Bih und ihre Freundin Barbara machten sich eher Gedanken darüber, was ihre Kinder in der Kita lernten, während sie zu deutschen Kindern heranwuchsen. Sie sorgten sich um den formalen Lehrplan – bezüglich kognitiver Entwicklung und Schulreife – sowie um das Gelernte außerhalb des Lehrplans – was ihre Kinder über ihren Platz als Farbige in der deutschen Gesellschaft lernten. Bih und Barbara brachten häufig ihr Erstaunen und auch ihren Ärger über den Vorschullehrplan zum Ausdruck. „Why“, fragte Bih, „do they spend so much time at the Kita drawing pictures rather than learning letters and numbers?“ Barbara unterhielt uns mit Geschichten über Diskriminierung und wahrgenommene Beleidigungen in ihrer Kita, während Bih bestätigend nickte. Barbara hatte beobachtet, wie einem afrikanischen Kind die letzten Krümel angeboten wurden, während andere in der Klasse bei den Weihnachtsplätzchen zuerst zugreifen durften. Sie beschwerte sich, dass die Erzieher ihren Sohn eher zum Trommeln ermutigten, anstatt seine sprachliche Kompetenz zu fördern. Barbara und Bih interpretierten letzteren Vorfall im Sinne der Klischeevorstellung, dass Afrikaner „nur gut für Sport und Unterhaltung sind“. Wie viele andere Mütter machten Barbara und Bih sich sorgen, dass ihre Kinder diese Beleidigungen und Stereotypen als normal verinnerlichen und ihr Selbstbewusstsein infolgedessen abnimmt. Geschichten über Konflikte in Kitas enthüllten, dass auch das Selbstbewusstsein der Mütter anfällig für Angriffe war. Als Barbara ihre Besorgnis ansprach, dass eine Tochter in einer bestimmten Spielgruppe aggressive Verhaltensweisen lernt, erwiderte der Erzieher, dass Barbara ihrer Tochter nicht genug Aufmerksamkeit schenken könne, weil ihre Familie „so groß“ ist. Barbara empfand das nicht nur als Beleidigung ihrer mütterlichen Kompetenz. Sie hatte darüber hinaus das Gefühl, dass ihre überdurchschnittlich große Familie zu einem Sinnbild der „demografischen Bedrohung“ fruchtbarer Ausländer im weniger fruchtbaren Deutschland geworden war (Casteñeda 2008). Ich habe wiederholt beobachtet, dass Mütter ihre Kinder als Mittel benutzten, um ihr Leid bezüglich fehlender Zugehörigkeit zum Ausdruck zu bringen. Mit der Wildheit einer beschützenden Mutter bemerkte Barbara: „I may be a foreigner, but my children are not – why should they be excluded?“ Dieses Beschützerverhalten trägt den Stachel der eigenen Ausgeschlossenheit der Mütter und ihrer Entfremdung, die sie gegenüber ihren eigenen, in einer fremden Sprache und Kultur sozialisierten Kindern empfinden.
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Wie bleiben Kinder kamerunisch? Wie wirken Mütter also ihrem schleichenden Gefühl der Entfremdung von ihren deutsch sozialisierten Kindern entgegen? Wie sorgen sie dafür, dass ihre Kinder in einem deutschen Kontext kamerunisch bleiben? Kinder kamerunisch bleiben zu lassen, erfordert viel Voraussicht bei der Erziehung. Da immer noch die kamerunischen Migranten-Mütter in erster Linie für die Kindererziehung verantwortlich sind, lastet ein Großteil dieser sozial reproduktiven Arbeiten auf ihren Schultern. Um ihren Kindern kamerunische Sitten und die Identifizierung mit ihren kamerunischen Wurzeln anzuerziehen, bedienen sich die Mütter alltäglicher Strategien der Disziplin, bilingualen Erziehung, Namensgebung und Anerkennung von Geschenken von Hometown Associations. Die außergewöhnlichen Situationen eines Besuchs in der Heimat erfordern häufig eine jahrelange Vorbereitung und sind der Höhepunkt bei der Bekanntmachung der Kinder mit kamerunischen Geschmäckern, Klängen und Verwandten. Betrachten wir Bih, die den größten Nutzen aus deutschen Möglichkeiten und kamerunischen Werten ziehen will, um ihr Kind als flexiblen aber verankerten Kosmopolit zu erziehen. Bih sieht kulturelle Anpassungsfähigkeit als Mittel zur Bewältigung der Herausforderungen eines transnational mobilen Lebens. „At times I try to take my child to some programs that are attended predominately by foreigners or Germans too, so that she can integrate. We are in Germany,… so I must introduce her so that she can be able to cope. She is living here, she is growing here. I am living here and I canʼt cope here if I donʼt know much about the people, too.“
Bih (die ihre Tochter später auf eine bilinguale, internationale Schule schickte) schätzt auch das deutsche Schulsystem. „I always want my child to have the Cameroonian identity… As a mother you always want the best for your child. I want her to have the best values from Cameroon and the best values from here, too… The schools, the formal education here is more advanced than that in Cameroon, talking about books and everything, itʼs better.“
Trotzdem sieht Bih klare Einschränkungen bei einer deutschen Erziehung und überzeugende Gründe, ihr Kind „auf die kamerunische Art“ zu erziehen. Bihs größte Sorge ist das Verhalten. Sie ist geschockt über das respektlose Verhalten deutscher Kinder gegenüber Erwachsenen.
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„When we talk about the character of the children growing here, that is my personal opinion, I donʼt really like it because I find a lot of children here disrespectful… We have that kind of strict boundary that children are not having boyfriends when you are very young,… it is almost like an unwritten law to stand up and let an elderly person sit. Itʼs like you donʼt talk back to your parents when they are talking to you.“
Bih erkennt, dass kamerunische Kinder das unverschämte Verhalten von gleichaltrigen Deutschen und der lockeren Einstellung der Kita-Erzieher übernehmen. Wie andere kamerunische Mütter erwartet Bih von ihrem Kind, dass es sein Verhaltensmuster zwischen den verschiedenen Aufenthaltsorten wechselt. Bih beschreibt (und ich habe beobachtet), dass kamerunische Mütter das Verhalten ihrer Kinder untereinander überwachen, um bei der Aufrechterhaltung eines Konzepts von Grenzen zu helfen, die nicht übertreten werden sollten. „She would never do things that she does with her friends with me or elderly people. [When] she is with [Barbara] she can never answer her back… She would never do that because I try to be very strict and she knows she is not right.“ In Deutschland geborene kamerunische Kinder kontrollieren ihr Verhalten auch untereinander. Bih erzählte eine Geschichte darüber, wie ihre und Barbaras Töchter andere Kinder in der Kita konfrontierten. „I was at daycare two days ago and I had to pick up her and Barbaraʼs daughter. And there was one German child there that was just shouting to the mother, ‚Du blöde Mama!‘ Then my child and [Barbaraʼs] child were saying, ‚Du darfst das nicht sagen. Es gibt keine blöde Mamas, es gibt nur blöde Kinder!‘ [lacht] It was very funny. I was so shocked. I told them after that, ‚Yes, es gibt auch keine blöde Kinder.‘ But itʼs because they [kamerunische Kinder] have known that with parents there is a very strict boundary. You can say something when you play with your friends, but not to your mother… The [German] mother was just standing there and saying nothing. And that is what I really find amazing with the German culture. They say it is not good to be so strict with the child, but I believe to some certain level [it is].“
Bih beschrieb auch ihre Reaktion, wenn ihre Tochter schlägt oder mit Sand wirft. „You hold [your hand] down and you very seriously talk to her. Not like ‚nein, man darf das nicht machen‘ [mit einer sanften Stimme], like the Germans do.… When it comes to respect I am very strict on her with that. Because I realize it is something else here.“ Ich warf ein: „Do you worry about her being more like German children?“ Bih antwortete: „Yeah. I worry about that so much, ja so much and thatʼs what I think makes me be a bit
146 | M IGRANTEN, R ECHT UND I DENTITÄT harder on her, because of those worries… I wouldnʼt be that very strict if I was in Cameroon because I knew she would grow up adopting to those values there. But I try to be a bit harder, because I know that she has only me to learn from. But in Cameroon she would have me and the society.“
Bih betrachtet Respekt gegenüber Älteren als kamerunischen Charakterzug und Disziplin als eine anglophone Eigenschaft, die von britischen Kolonialmodellen beeinflusst wurde. Im Gegensatz dazu sieht Tessy (die arbeitslose Diplom-Ingenieurin, die wir im vorherigen Kapitel kennengelernt haben) Respekt in spezifisch ethnischem Sinne als eine Eigenschaft, die vorwiegend den Bamiléké zugeschrieben werden kann und den einzigartigen Minderheitenstatus sowie die politisierte Ethnizität der Bamiléké in Kamerun widerspiegelt. Trotzdem stellen Tessy und Bih eine ähnliche Kombination aus kindlichem Gehorsam gegenüber Älteren und der gemeinsamen Verantwortung von Erwachsenen bei der Beaufsichtigung der moralischen Erziehung der Kinder als kamerunisch oder Bamiléké dar. Tessy beschreibt ihre eigene Erziehung in einem Bamiléké-Milieu im städtischen Kamerun auf folgende Weise: „Es gab so diese, wie sagt man, Richtlinien, das heißt du musst so machen, so so so machen und das muss man einfach machen ohne Fragen zu stellen, weil es ist so bei uns Bamiléké.“ Tessy fährt fort, dass Respekt eine erkennbare Bamiléké-Eigenschaft ist, die sie entschieden ihrer Tochter und ihrem kleinen Sohn vermitteln will, um den Einflüssen deutscher Nachgiebigkeit entgegenzuwirken. „Bamiléké zu sein ist für mich nur Respekt… Das heißt, ich kann nicht jemanden anderes beleidigen, weil bei uns geht das sowas nicht, ob als Kind, als Mutter oder als Großmutter, es ist bei uns verboten. Und das versuche ich auch meinen Kindern sowas beizubringen, das heißt, sie darf freundlich sein, Respekt zeigen… Et quand un Bamiléké parle, ça se ressent. Parce que au moins là on va dire ‚Bonjour monsieu‘, lʼautre va dire‚Bonjour‘. Donc Bamiléké déjà cʼest respect, et là quel que soit le cas, ça se voit.“
Tessy erklärt, dass Kameruner und vor allem Bamiléké die gegenseitige Verantwortung haben, den Kindern Respekt durch Disziplin beizubringen. Sie beschreibt es als einen Wert der „Mütterlichkeit“, den Frauen ausüben und Kinder verstehen lernen müssen. „Bei uns Bamiléké heißt ‚mütterlich‘,… alle Kinder sind meine Kinder… Wenn ich ein Kind aus Kamerun… treffe, ich brauch nicht zu wissen wer deine Mama ist, wenn du etwas falsch machst, ich kann dich… genau sagen, das geht nicht, du darfst sowas nicht machen, obwohl ich deine Mutter nicht kenne. Für mich es ist egal, weil es ist ein Kind,
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ich bin auch Mutter. Das heißt, die Mutter dieses Kindes kann auch für meine Tochter sowas sagen. Bei mir zum Beispiel sagt man nicht ‚meine Mama‘, das ist verboten, man sagt ‚Mama…‘ So versuche ich auch meinen Kindern beizubringen, weil ich eine Bamiléké bin und bei uns es ist so… Ça veut dire, la maman cʼest la maman de tous les enfants, cʼest la maman qui fait la cuisine, cʼest tout ça. Donc pour moi cʼest ça être Bamiléké.“
Die frühkindliche deutsche Erziehung erschwert die Vermittlung dieser Bamiléké-Werte an Kinder. Tessy teilt Bihs Bedenken, ihre Kinder in einem Umfeld des Gewährenlassens und antiautoritärer Erziehungsmethoden Respekt zu lehren. Beide Mütter sind sich bewusst, dass ihre Kinder zu Hause und in der Kita oder Schule widersprüchliche Botschaften erhalten, „parce que ce quʼon dit à lʼenfant à la maison, elle rentre avec autre chose de lʼécole. Cʼest à dire la mentalité allemande de lʼécole, et je ne veux pas dire que la mentalité allemande est mauvaise, mais ça ne passe pas avec ce que nous on connaît.“ Tessy erwartet viel von ihrer fünfjährigen Tochter, zum Beispiel, dass sie drei Sprachen spricht (fließend Deutsch und Französisch und etwas Feʼe Feʼe-Bamiléké). Tessy erwartet auch, dass ihre Tochter weiß, wann sie kamerunische Verhaltensweisen und wann sie deutsche Verhaltensweisen an den Tag zu legen hat. Eine häufige Situation ist die Frage, wann bestimmte Anredeformen zu verwenden sind. Als Tessys kleines Mädchen in die Kita kam, machten sich die anderen Kinder über sie lustig. „Pourquoi tu dis Madame Ines? Es ist doch Ines.“ Sogar die Erzieherin war verstört und verstand nicht, dass das Kind respektvolles Verhalten gegenüber Erwachsenen anwendete. „Parce que en fait elle savait, que quand on voit une personne on dit madame, madame,… parce que cʼest une grande personne, ce nʼest pas une personne de ton âge, tu dois donner le respect.“ Da sie Verständnis für die Beschwerde ihrer Tochter hat, dass „tout le monde va se moquer de moi“, erlaubt Tessy ihrer Tochter inzwischen den Wechsel zwischen verschiedenen Verhaltensweisen entsprechend der Situation und ermutigt diesen sogar. Tessy bemüht sich außerdem, ihrer Tochter das Vokabular beizubringen, mit dem sie auf die Sticheleien der anderen Kinder reagieren kann. Tessys Beispiele zeigen die weitreichende Voraussicht, die bei der Erziehung benötigt wird, um Kinder in einer Situation von dualer Zugehörigkeit und Bikulturalismus bei sozialen Interaktionsformen großzuziehen. Tessy träumt von einer afrozentrischen Schule für ihre Kinder. „Si [il aurait] une école africaine, mais il nʼy en a pas. Donc… elle essaye de faire la différence entre lʼécole et la maison, entre le cadre des amis et le cadre de la famille, cʼest tout. Et à cet effet on essaye de voir si un peu tous les ans peut-être les envoyer au Came-
148 | M IGRANTEN, R ECHT UND I DENTITÄT roun, quʼils aient au moins cette mentalité africaine ou bien pour ne pas dire Bamiléké et Camerounaise. Et quʼils sachent aussi faire la différence, cʼest tout.“
In Ermangelung einer afrozentrischen Schule bedienen sich Tessy und andere zusätzlicher Strategien, um dafür zu sorgen, dass ihre Kinder kamerunisch bleiben. Beispielsweise geben sowohl Barbara als auch Bih ihren Kindern afrikanische Namen. Barbara erklärte mir, dass ihre eigenen Eltern von der Schulausbildung und Kirchenlehre der Kolonialzeit beeinflusst worden waren und ihren Kindern daher europäisch-stämmige Namen von literarischen Figuren und Heiligen gaben. Im Gegensatz dazu wollte Barbara, dass ihre Kinder „jedes Mal, wenn sie mit ihrem Namen unterschreiben, wissen woher sie kommen“. Maria ergreift jede Gelegenheit, um ihre Kinder an die Geschenke zu erinnern, die sie als Babys von Verwandten und bei Zeremonien während der Treffen ihrer Hometown Association bekommen haben. Die Erinnerung an erhaltene Geschenke half ihr, ihre Kinder an eine imaginäre kamerunische Gemeinschaft zu binden. Als sie über Methoden nachdachten, um die Identifizierung ihrer Kinder mit Kamerun zu wecken oder aufrechtzuerhalten, erwähnten Tessy, KemKarine, Solange und Justine alle Reisen nach Hause, nach Kamerun. Solange präsentierte ihrer Familie ihr neugeborenes Baby in den Semesterferien. KemKarine verbrachte Jahre mit der Vorbereitung ihres großen Heimaturlaubs und sparte Geld, um Geschenke und teure Flugtickets kaufen zu können. Kurz vor Beginn seiner Schulzeit in der ersten Klasse reiste Justine mit ihrem Sohn nach Kamerun und meldete ihn für zwei Monate an einer kamerunischen Vorschule an. Sie wollte nicht, dass er nur die Familie kennenlernt, sondern auch das Alltagsleben in einem kamerunischen Kontext. Nach ihrer Rückkehr nach Berlin hatte Justine Bedenken bezüglich des Bilds von Afrika, das ihrem Kind durch Fernsehsendungen über wilde Tiere vermittelt wurde. „One day I was telling him that Cameroon is part of Africa, he told me no, Cameroon is not part of Africa. Cameroon cannot be part of Africa because in Africa there are just animals there and Cameroon is different. The people in Africa are very poor, they donʼt have anything, they cannot wear clothes, but Cameroon...“ In Kamerun hatte er gesehen, dass die Kinder frisch gebügelte Schuluniformen tragen, dass die Banken mit Klimaanlagen ausgestattet sind und große Gebäude Fahrstühle haben. Während seines Aufenthalts in Kamerun hatte er keine großen Wildtiere gesehen, nicht einmal ein kleines Äffchen. Justine behauptet, dass ihr Sohn weiterhin nicht überzeugt davon ist, dass Kamerun zu Afrika gehört. Trotz ihrer Aufregung über die öffentliche Darstellung ihres Kontinents ist sie jedoch erleichtert, dass ihr Sohn eine eigenständige Vorstellung von Kamerun entwickelt hat.
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*** Heimatbesuche sind seltene und betonte Möglichkeiten kamerunischer Mütter, um ihre Kinder an Familienmitglieder und Heimatstädte in Kamerun zu binden. Diese Besuche sind intensive Erlebnisse der Gefühle, Anblicke, Geschmäcker und Gerüche, die als sinnliche Untermauerung der Zugehörigkeit dienen. Sie ergänzen länger andauernde, alltägliche Erziehungsformen, durch die Mütter die emotionale Verbindung ihrer Kinder zu Kamerun fördern. Kamerunische Mütter sind sich bewusst, dass ihre in Deutschland geborenen Kinder nicht eindeutig zu und nach Kamerun gehören. Stattdessen empfinden ihre Kinder Zugehörigkeit zu mehreren – kamerunischen und deutschen – Identitätspunkten. Mütter sorgen sich um die emotionalen Herausforderungen, mit denen ihre Kinder im Umgang mit dieser simultanen Zugehörigkeit zu kämpfen haben. Sie machen sich auch Gedanken darüber, wie sie die Identifizierung ihrer Kinder mit ihren kamerunischen Wurzeln angesichts des vorherrschenden deutschen sozialen und institutionellen Umfelds, in dem sie aufwachsen, aufrechterhalten können. Durch Telefongespräche mit Verwandten, Verabredungen zum Spielen mit kamerunischen Freunden und besondere Anlässe mit einem Austausch von Geschenken und Essen bemühen sich Mütter, die Beziehungsnetzwerke ihrer Kinder mit anderen kamerunischen Migranten aufzubauen und zu pflegen. Diese emotionalen Schaltkreise bieten den Kindern Gelegenheiten, sich kamerunisch zu fühlen und zu verhalten. Durch das Erzählen von Geschichten über Kindererziehung (mir und anderen befreundeten Migranten) machen kamerunische Mütter deutlich, dass soziale Verbundenheit lediglich ein Aspekt ist, der das Heranwachsen der Kinder zu moralischen, erfolgreichen Erwachsenen fördert. Um den Charakter ihrer Kinder zu formen – und um sicherzustellen, dass ihre Kinder ihren Charakter durch gute kamerunische Verhaltensweisen demonstrieren –, setzen Mütter strenge Regeln bezüglich des Respekts für die Grenzen zwischen den Generationen durch. Dieser Respekt legt das Fundament für Selbstdisziplin und Durchsetzungsvermögen in schwierigen Situationen, die Mütter als entscheidend für den späteren Erfolg ihrer Kinder in der Schule und im Leben erachten. Sobald ihre Kinder in die Schule kommen, setzen kamerunische Mütter die Strategien fort, die in den Geschichten von Bih und Tessy und in den Erlebnissen von KemKarine, Barbara und anderen beschrieben wurden. Sie entwickeln zusätzliche Methoden, die dafür sorgen sollen, dass ihre Kinder kamerunisch bleiben, während sie und ihre Kinder neue Entwicklungsphasen durchleben und mit neuen Institutionen interagieren. In diesem Abschnitt habe ich mich auf Vorschulkinder konzentriert, denn als ich 2010-11 den Großteil meiner Feldarbeit durchführte, waren die Kinder der
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meisten meiner Gesprächspartner in diesem Alter. Während die kamerunische Bevölkerung in Berlin altert und sich mehr und mehr einlebt, kommen immer mehr Kinder von Kamerunern in die Schule. Die Spannungen, die Mütter zwischen der Sozialisierung ihrer Kinder als Kameruner und der Ermutigung ihrer Anpassung an die deutsche Gesellschaft erleben, halten an und verstärken sich sogar, wenn ihre Kinder das lokale Schulsystem durchlaufen. Nachdem sie einige Szenarien in der Kita ihrer Kinder beobachtet hatte, macht Barbara ihrem Ärger über die Diskriminierung und Stereotypisierung afrikanischer Immigrantenkinder Luft; Mütter von Schulkindern haben ähnliche Sorgen bezüglich der Ausgrenzung, der sich ihre Kinder gegenüber sehen könnten. Der nächste Abschnitt befasst sich ausführlicher mit der Art und Weise, wie die Mütter ihre Kinder im Schulalter durch ausgeprägte Kultivierung des Humankapitals der Kinder bis hin zur Lehre von Durchsetzungsfähigkeit durch Zugehörigkeit vor erwarteter Diskriminierung schützen wollen.
D IE E RZIEHUNG VON S CHULKINDERN : E RFOLG UND Z UGEHÖRIGKEIT ... ZU WAS ? Mütter möchten, dass ihre Kinder in der Schule an der Spitze ihrer Klasse stehen. Kamerunische Mütter hoffen, dass akademische Höchstleistungen die Schwierigkeiten abmildern, mit denen ihre Kinder als Migranten und als Schwarze auf der untersten Stufe einer implizit rassistischen Hierarchie konfrontiert werden (Campt 2004; Oguntoye et al. 2006; Partridge 2012). Die Mütter bemühen sich, ihren Kindern Hilfsmittel für den schulischen Erfolg an die Hand zu geben, darunter Mehrsprachigkeit, kognitive Entwicklung, Respekt gegenüber Autorität und Disziplin. Obwohl die besondere Form, die sie annehmen, noch ziemlich neu ist, bezeichnen Mütter diese Charakterzüge als ausdrücklich kamerunisch oder Bamiléké. Die Mütter glauben, dass sie durch die Gestaltung von Fähigkeiten und Verhalten als Identitätsmerkmale gleichzeitig kamerunische Lebensweisen nachbilden und soziale Mobilität in einem globalen Kontext fördern. In der Praxis müssen Mütter ständig Kompromisse zwischen ihren kamerunischen Idealen und den Anforderungen der Kindererziehung in Berlin eingehen. Die folgende Szene einer Einschulungsparty illustriert einen solchen Kompromiss im Kontext eines neu erfundenen Rituals.14
14 Siehe das von Hobsbawm und Ranger herausgegebene The Invention of Tradition, das eine theoretische Ausarbeitung des Konzeptes „invented ritual“ bietet (1983).
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Die Einschulungsparty In der heutigen deutschen Gesellschaft ist der Schuleintritt eines Kindes durch Rituale gekennzeichnet, die das Leben zu Hause mit dem Schulleben verknüpfen. Im neunzehnten Jahrhundert brachten deutsche Erstklässler an ihrem ersten Schultag erstmals Schultüten oder Zuckertüten mit, große mit Süßigkeiten gefüllte Papptüten (Balk 2013). Ursprünglich bereiteten die Paten die Zuckertüten für ihre Patenkinder vor, um ihnen den Eintritt in die Welt des Lernens zu versüßen, eine Aufgabe, die allmählich von den Eltern übernommen wurde. Mit der Zeit wurden die Zuckertüten immer aufwendiger und kommerzialisierter und sind inzwischen mit Motiven aus den neuesten Kinderfilmen dekoriert und mit Schulmaterial, kleinen Spielzeugen sowie Süßigkeiten gefüllt. Der Klassenstatus und sogar die politische Orientierung einer Familie wird anhand der Größe und Gestaltung der Zuckertüte eines Kindes ersichtlich; einige umweltfreundliche Familien basteln personalisierte, 100%ig biologische Zuckertüten für ihre Kleinen. Ein vor nicht allzu langer Zeit eingeführtes Ritual ist die private Einschulungsparty.
Abbildung 4.1: Happi’s beste Freundin posiert an ihrem ersten Schultag mit ihrer Zuckertüte (Schultüte) und zwei Freundinnen ihrer Mutter vor der Schule. Foto: Elizabeth Beloe
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Durand (2004) bezeichnet die Einschulungsparty als eines von mehreren deutschen Ritualen der Individuation. Einschulungspartys in unterschiedlichen Größen und Ausführungen werden in der Regel von den Eltern des Kindes organisiert und haben den Charakter einer besonderen Geburtstagsfeier. Die folgende Darstellung veranschaulicht, wie eine kamerunische Familie diese von Deutschen ins Leben gerufene Tradition in eine kamerunische Feierlichkeit umwandelte.15 Barbara wollte, dass ihre Tochter Happi die Schulzeit mit Begeisterung beginnt. Was wäre dafür eine bessere Methode als ihr das Gefühl zu geben, etwas Besonderes zu sein? Barbara hatte von anderen Eltern in der Kita und bei einer Orientierungsveranstaltung, die von der Schule ihrer Tochter abgehalten wurde, von den Einschulungspartys gehört. Sie überzeugte ihren Ehemann Kelvin, für solch eine Feier ein Datum am Wochenende kurz vor Beginn des Schuljahres festzulegen. Barbara, ihre Freunde und ihre kleine Tochter bezeichneten das Ereignis alle mit dem deutschen Begriff: die Einschulungsparty. Barbaras enge kamerunische Freundinnen Bih, Anne und Justine verbrachten Tage damit, ihr bei der Zubereitung des Essens für die große Feier zu helfen. Ich kam am festgelegten Spätnachmittag im August in der Wohnung von Barbara und Kelvin an, die Luft hatte bereits eine kalte Schärfe, die darauf hindeutete, dass der Herbst schon vor der Tür stand. Happi war nirgendwo in Sicht, umgeben von einem Knäuel aus Kindern die Brettspiele in einem der Kinderzimmer spielten. Das Wohnzimmer war stattdessen voller Erwachsener. In kamerunischer Manier waren an allen vier Wänden Stühle aufgereiht, so dass ein großer freier Platz statt kleiner Grüppchen entstanden war. Die erwachsenen Gäste unterhielten sich mit ihren Nachbarn, wanderten herum und bedienten sich am Essen, unterhielten Babys und verschwanden gelegentlich, um einem Kind die Windel zu wechseln. Ich konnte verschiedene Gruppen hören, die Geschichten aus dem alltäglichen Leben erzählten, über Lokalnachrichten aus Berlin und kamerunische Politik diskutierten. Der Gesprächslärm wurde durch lautes Gelächter von einer Gruppe auf der anderen Seite des Raums unterbrochen, die sich mit lustigen Erzählungen zu unterhalten schien. Die meisten Gäste waren Schwarzafrikaner, obwohl auch Nachbarn deutscher und lateinamerikanischer
15 Kamerunische Mütter gehen ähnliche kulturelle Kompromisse ein, damit ihre Kinder kamerunisch bleiben und das auch bei gemeinschaftlicheren Schulritualen. Nachdem Happi ein Schulmädchen geworden war, überzeugte Barbara sie, sich für den Karnevalsumzug ihrer Schule anstatt als Prinzessin Lilifee als Prinzessin des Graslands zu verkleiden.
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Abstammung an der Feier teilnahmen. Das Gemurmel der Gespräche wechselte nahtlos von Englisch auf Deutsch und wieder zurück. In der Zwischenzeit waren Barbara und ihre Freundinnen damit beschäftigt, das üppige Buffet aufzufüllen, das auf einem Tisch im Flur serviert worden war. Kochbananen, Bohnen in Tomatensauce, gehackter Bitterspinat mit gemahlenen Kürbiskernen und gekochter Fufu aus Gries boten einen farbenfrohen Anblick. Die Geschmäcker und Gerüche der Grassfield-Küche erinnerten die Gäste an die Heimat. Tischdecken aus kamerunischen Stoffen trugen zu einem Dekor bei, das die kamerunische Identität stolz zur Schau stellte. Nachdem einige Stunden auf der Feier verstrichen waren, klatschte Barbara in die Hände, um die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich zu lenken und brachte einen großen, mit Zuckerguss dekorierten Blechkuchen herein. Die Kleinkinder im Alter zwischen vier und sieben Jahren strömten aus dem Kinderzimmer, um sich zu ihren Eltern und kleineren Geschwistern zu gesellen. Happi stand mit formaler Steifheit, wenn auch mit kleinen Zuckungen freudiger Erwartung, bereit, um das erste Kuchenstück entgegenzunehmen. Die Ankunft des Kuchens löste die frühere räumliche Grenze zwischen Erwachsenen und Kindern auf. Mehrere Erwachsene wünschten Happi alles Gute für den Schulbeginn. Happi brachte mir ein Stück Kuchen zu meinem Sitzplatz neben dem Bücherregal. Sie nutzte die Gelegenheit, mir ihre Schulsachen zu zeigen – einen pinken Schulranzen mit Motiven von Prinzessin Lilifee, ein dazu passendes Mäppchen und einen Schuhkarton voller Malutensilien. Durch mein Interesse ermutigt, holte Happi dann noch einen Stapel Arbeitshefte hervor, die sie zur Vorbereitung auf die Schule durchgearbeitet hatte und zeigte mir stolz, wie sie schon ihren Namen schreiben, auf Deutsch und Englisch vorlesen und einfache Rechenaufgaben lösen konnte. Ihre Lieblingstiere waren Kätzchen und ihre Lieblingsfarben Pink und Lila. Die Anordnung der Stühle im Wohnzimmer, die relative räumliche Trennung zwischen den Aktivitäten der Erwachsenen und Kinder sowie die Auswahl des Essens erinnerten mich an Feste, an denen ich im städtischen Kamerun teilgenommen hatte – darunter Geburtstagsfeiern für Kinder in der urbanen Mittelschicht. Obwohl Happi das Mädchen des Tages war, waren das Wohnzimmer, die Küche und der Flur auf Erwachsene ausgerichtet und wurden auch von diesen beherrscht. Ich war mir nicht sicher, ob die kamerunische Identität hauptsächlich öffentlich ausgelebt wurde, um ein Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Gästen zu wecken, oder um Happi in diesem entscheidenden Moment ein Gefühl der Zugehörigkeit einzuflößen. Mit dem Erscheinen des mit Zuckerguss überzogenen Kuchens und den mit Prinzessin Lilifee verzierten Schulsachen wurde die Inszenierung von Identität
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zu einer Lektion in Sachen Kompromiss. Die deutsche Tradition der Einschulungsparty wurde zu einer Mischung aus einer kamerunischen Feier und einer Zurschaustellung deutscher Konsumwünsche. Es wäre falsch anzunehmen, dass diese Konsumprodukte – die an kleine Kinder und ihre Eltern vermarktet werden – lediglich einem kamerunischen Kind bei der Eingliederung in gleichaltrige Gruppen deutscher Kinder helfen sollten. Stattdessen hatte dieses junge Kind kamerunischer Eltern die deutschen Konsumwünsche als Teil eines größeren Pakets verinnerlicht, durch das man zu einem deutschen Kind wird. Happis Ernsthaftigkeit, ihre Fähigkeit, zwischen deutschen und kamerunischen Verhaltensweisen hin und her zu wechseln und ihre Eingebettetheit in Gruppen kamerunischer und deutscher Kinder, kennzeichnen die mehrdeutige, simultane und multiple Zugehörigkeit dieser Sechsjährigen. Happi war (und bleibt) sowohl kamerunisch als auch deutsch – und bereit für die Schule. Geförderte Anfänge: ausgeprägte Kultivierung des Humankapitals von Kindern Durch Erinnerungen an Ereignisse wie die Einschulungsparty äußerten kamerunische Eltern eine gewisse Abkopplung von ihren Kindern und schüttelten den Kopf über die Begeisterung ihrer Kinder über Prinzessin Lilifee und niedliche Kätzchen.16 Viel deutlicher als diese oberflächlichen Anzeichen für eine kulturelle Kluft zwischen Eltern und Kindern zeichnete sich die Angst der Mütter ab, dass ihren Kindern der Weg zum Erfolg versperrt werden könnte. Am Rande meiner Interviews tauschten Magni (meine kamerunische Forschungsassistentin) und andere Mütter Informationen über Kitas, Schulreife, Wartelisten und besondere bilinguale und Begabtenprogramme aus. Da Magni schon etwas länger in Berlin lebte als die meisten meiner Interviewpartnerinnen und ebenfalls Kinder im Schulalter hatte, waren meine Gesprächspartner begierig, von ihr zu lernen. Als Mütter sich vor und nach unseren Interviews mit Magni unterhielten, betonte Magni die Wichtigkeit der Schulreife. Insbesondere bei gut gebildeten Gesprächspartnern fiel Magnis Ratschlag auf fruchtbaren Boden. Wir haben bereits erfahren, dass Eltern wie Barbara und Bih verärgert darüber waren, dass ihre Kinder in der Kita nur Bilder malten und auf Rhythmusinstrumente schlugen, anstatt ihre Buchstaben und Zahlen zu lernen. Wir haben auch mitbekommen, dass Barbaras Tochter Happi stolz war, sogar schon vor Schulbeginn ihre auf-
16 Das Interesse kleiner Jungen an Autos und Fußball sorgte nicht für das gleiche Ausmaß irritierten Unglaubens, was der Interpretation kultureller Unterschiede von Migranten-Eltern eine geschlechterspezifische Dimension verleiht.
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strebenden schulischen Leistungen zu zeigen; Happis Stapel Arbeitshefte belegt die Mühe, die Barbara in Happis Vorbereitung auf die Schule investiert hat. Diese auf die Förderung der kognitiven Entwicklung konzentrierten Bemühungen stehen in Einklang mit den Ratschlägen von Magni, die sie in Zusammenhang mit der Interviewsituation gegeben hat. Magni riet gleichgesinnten Müttern, ihre fünf- und sechsjährigen Kinder auf Entwicklungsprüfungen vorzubereiten, indem sie ihre Kinder Zahlen, Buchstaben, Farben, Ähnlichkeiten und Unterschiede und den Umgang mit Puzzleteilen lehren. Magni erklärte mir, dass kamerunische Eltern aufgrund ihrer Erfahrungen in Kamerun davon ausgehen, dass die Vorschule die Kinder auf den Schuleintritt vorbereiten würde. Relativ neuen kamerunischen Einwanderern war nicht klar, dass gebildete, mittelständische Deutsche den Lehrplan der Vorschule durch viele Zusatzaktivitäten ergänzten. In der Kita wurden kamerunische Mütter mit der Umschreibung deutscher Mütter konfrontiert, dass die Vorschule eine wertvolle Zeit der Freiheit und Selbstentfaltung ist (Durand 2004). Da sie die Bemühungen deutscher Eltern beobachteten, ihre Kleinen vor den Zwängen der Schule zu schützen, war es für kamerunische Eltern schwer vorstellbar, dass deutsche Eltern Anstrengungen unternahmen, um ihren Kindern das Lesen, Schreiben und Zählen beizubringen. Magni versuchte sie aufzuklären und drängte die Eltern, ihren fünfjährigen Kindern konkrete Fertigkeiten beizubringen. Magni befürchtete, dass ausländische und insbesondere schwarze Kinder anders beurteilt und sogar in besondere Bildungsprogramme gedrängt werden würden, wenn sie nicht von Anfang an gute Leistungen erbrachten. Magni beriet meine Gesprächspartner auch zur optimalen Unterbringung ihrer Kinder in einer Schule. Kluge Mütter wie Magni – Berufstätige, Universitätsstudenten, die schon mehrere Jahre im Land waren und ihre Freunde – legten sich eine Strategie zurecht, indem sie ihre Kinder für eine frühe Einschulung anmeldeten (wenn sie eher ein Kann-Kind als ein Muss-Kind sind) und sich nach allen Seiten mit mehreren Schulformen absicherten. Das erfordert ein gutes Verständnis des deutschen Schulsystems und der Schullandschaft in Berlin. Meine Gesprächspartner holten sich diese Informationen daher von Magni. Die Mütter, die ich kennengelernt habe, waren den Schulen in ihrer Nachbarschaft gegenüber misstrauisch und sorgten sich um die Sicherheit ihrer Kinder in den häufig ziemlich verarmten Stadtvierteln. Viele bemühten sich, ihre Kinder in bilingualen Schulen unterzubringen. Diese Schulen, so argumentierten sie, würden ihren Kindern das Lesen und Schreiben der englischen oder französischen Sprache ihrer kamerunischen Verwandten lehren und ihnen später den Weg über Deutschland hinaus zu internationalen Chancen ebnen. Barbaras Tochter Happi wurde auf einer bilingualen, englisch-deutschen Schule aufgenommen, wo sie
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nach Schulschluss noch an einer Reihe von Zusatzaktivitäten von Musik bis Karate teilnimmt. In den Jahren unmittelbar im Anschluss an meine Feldarbeit in Berlin hielt mich Bih über ihre Suche nach der idealen Schule für ihr Kind auf dem Laufenden. Sollte es eine bilinguale Schule sein, wie die öffentlich geförderte Schule, die Happi besucht? Sollte es eine Schule sein, die auf Deutsche ausgerichtet ist, die eine bilinguale Bereicherung ihrer Kinder anstreben, oder eher eine mit internationaler Ausrichtung? Oder sollte sie den amerikanischen Pass ihrer Tochter nutzen, um sie auf die amerikanische John F. Kennedy School mit einem englischsprachigen Lehrplan zu schicken? Bih verbrachte Stunden mit Schulbesuchen, Gesprächen mit Schulleitern und der Begutachtung von Klassenräumen und außerschulischen Programmen. Hochgebildete kamerunische Eltern – Universitätsabsolventen und solche mit höheren Abschlüssen – förderten intensiv die schulischen Fähigkeiten ihrer Kinder. Mehrere unter ihnen – wie Barbara, Bih und Tessy – hatten Kinder, die von ihren Lehrern als schulisch begabt eingestuft wurden. Das half ihnen, ihre Kinder in begehrten bilingualen Schulen unterzubringen. Einige Mütter mit einer weniger formalen Ausbildung und geringeren Mitteln, wie zum Beispiel Lily, konnten trotzdem noch bilinguale Schulen finden, auch wenn sie nicht zu den angesehensten gehörten. Lilys ältestes Kind im Alter von neun Jahren steigt jeden Tag zwischen den U-Bahnlinien um, damit es eine bilinguale, deutschfranzösische Schule im von der Arbeiterklasse geprägten Viertel Neukölln besuchen kann. Andere Mütter hatten weniger Glück und spiegeln die soziale Ungleichheit unter kamerunischen Einwanderern in Berlin wider. Soʼnju war besonders frustriert bei ihrer Suche nach der optimalen Schule für ihren fünfjährigen Sohn. Als ich sie nach ihren Plänen für die Schulausbildung ihres Kindes fragte, meinte sie „going back home would be best.“ Soʼnju hatte keine konkreten Pläne zurückzukehren oder ihr Kind für den Schulbesuch unter den wachsamen Augen ihrer Verwandten nach Kamerun zu schicken. Trotzdem drückte sie viele der Zweifel an europäischen Umständen der Kindererziehung aus, die auch in Forschungen zu Migrantenkindern dokumentiert wurden, die zu Pflegeabkommen nach Westafrika zurückkehrten (Bledsoe und Sow 2011b; Coe 2013; Mazzucato und Schans 2011; Whitehouse 2012). „For me, I donʼt see good education here. Just when I see the children in the Straβe, I donʼt [want to] see my child grow up like that.“ Soʼnju war über schlechte Einflüsse in der verarmten Nachbarschaft der Arbeiterklasse besorgt, wo sie nur wenige Beziehungen vertrauensvoller Unterstützung geknüpft hatte. „Just like now my child this year will be going to primary school. But we cannot find a good school for him. Everywhere we are going it is full, it is full. And now he even has to go by Au-
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gust [nur vier Monate nach diesem Interview], he is going to start primary school then.“ Die Schulen, in denen Soʼnju eine Aufnahme beantragte, waren alle bilinguale oder englischsprachige Schulen, weil „English school is good like for example when the child is schooling in Cameroon and going to English school then there will not be too much problem.“ Soʼnju wollte ihr Kind auf eine mögliche Rückkehr nach Kamerun vorbereiten und dachte, dass ihr Sohn sich dort leichter integrieren könnte, wenn er bereits englischen Schulunterricht hatte. Sie und ihr Ehemann bauten sich langsam ein Haus in Bamenda auf, nicht weit entfernt von der Verwandtschaft ihres Mannes. Ob sie dauerhaft nach Kamerun zurückkehren würden, war noch ungewiss. Sicher war allerdings, dass Soʼnjus Klassenstatus und die mangelnde Schulreife ihres Sohnes ihn zu einem weniger attraktiven Kandidaten für wählerische bilinguale Schulen machten, als die Kinder von Universitätsabsolventen wie Barbara und Bih. Mit ihnen hatte Soʼnju die Hoffnungen bezüglich der Schulbildung ihrer Kinder gemein, nicht aber ihre Möglichkeit, optimale Bedingungen für den Erfolg zu schaffen. Die gesellschaftliche Stellung kamerunischer Mütter beeinträchtigte ihre Möglichkeiten und ihre Motivation, die Schulreife ihrer Kinder – eine Form des frühkindlichen Humankapitals (Bourdieu 1983) – mit ausreichender Intensität zu fördern, um ihnen einen Vorsprung zu verschaffen. „Woher kommst du?“: Die Lehre von Durchsetzungsvermögen durch Zugehörigkeit Ob kamerunische Kinder akademisch darauf vorbereitet sind, in der Schule zu glänzen oder nicht, ihre Lehrer und Klassenkameraden geben ihnen manchmal das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Durch ihre Hautfarbe unterscheiden sich kamerunische Kinder auffällig von der Mehrheit ihrer Klassenkameraden, die vorwiegend europäischer, türkischer oder nahöstlicher Abstammung sind. Bei Einwanderern und Minderheiten wird Unauffälligkeit im deutschen öffentlich Diskurs geschätzt, was ich bei einer Podiumsdiskussion zur Rassismus-Falle bei der Werkstatt der Kulturen festgestellt habe.17 Die Auffälligkeit dunkler Hautfarben
17 Playing in the Dark oder Die Rassismus-Falle in der Werkstatt der Kulturen, 4. Nov. 2010, moderiert von Dr. Michel Friedman (ehemaliger stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland) mit Teilnahme von Dr. Iman Attia, Dr. Maisha Eggers, Petra Rosenberg und Dr. Michal Bodemann, alle Experten im Hinblick auf Bildung und die Soziologie des Rassismus und mit jeweils muslimischem, schwarzafrikanischem, Sinti- und Roma- sowie jüdischem Hintergrund.
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veranlasst vielleicht zu gut gemeinten, aber trotz alledem unwillkommenen Fragen der Klassenkameraden der Kinder und bei zufälligen Begegnungen an öffentlichen Schauplätzen. Mütter berichteten mir von der Verwirrung ihrer in Deutschland geborenen und in Berlin aufgewachsenen Kinder, wenn sie sich entscheiden müssen, wie die Antwort auf die ewige Frage „Woher kommst du?“ lautet. Ihre Besorgnis spiegelte sich ziemlich zugespitzt in dem Theaterstück Heimat – Bittersüße Heimat wider, das im April 2011 von der Theatertruppe Label Noir im Ballhaus Naunystraße in Berlin aufgeführt wurde. Das Stück über die schwarzdeutsche Erfahrung öffnete mit den Begegnungen einer jungen afrodeutschen Frau, die auf einer Parkbank sitzt und von offensichtlich ethnisch Deutschen aufdringlich gefragt wird: „Woher kommen Sie?“ Diese sind anschließend erstaunt über die junge, schwarze Frau, die „so gut Deutsch spricht, obwohl es doch so eine schwere Sprache ist“. Die Bitterkeit über Fragen wie „woher kommst Du?“ erwächst aus dem spezifisch deutschen Kontext, in dem Nationalität bis 2000 ausschliesslich durch Abstammung definiert wurde.18 Das „wo?“ bedeutet möglicherweise ein Verständnis von Zugehörigkeit, das ortsgebunden und in deutschen Gemälden und Literatur aus der romantischen Ära repräsentiert ist (Saul 2009). Aber in Deutschland beziehen sich sowohl Staatsbürgerschaft als auch das dominante Verständnis von Zugehörigkeit auf ein ethno-nationales Verständnis von Abstammung (Brubaker 1992: 114ff.). Die durch die Blutlinie definierte Deutschheit war zuerst im Bürgerschaftsrecht aus dem Jahr 1913 gegen Ende der willhelminische Ära kodifiziert worden (Eley und Palmowski 2008: 6). Wissenschaftler haben Kontinuitäten und Diskontinuitäten der dem deutschen Staatsbürgerrecht zu Grunde liegenden Kriterien (z.B. Brubaker 1992; Eley und Palmowski 2008; Sammartino 2008), bio-politischer Untertöne (Grosse 2008) und entsprechender Ängste vor kosmopolitischer Unterschiedlichkeit debattiert (Mandel 2008). Der kulturelle Kontext von Bürgerschaft findet seinen Ausdruck in einem unklaren, ja sogar widersprüchichn Verständnis von Zugehörigkeit (Yue 2000: 178, 181). Bei einer Podiumsdiskussion über die „Rassismusfalle“,
18 Im Englischen wird der Begriff Rassepolitik (racial politics) benutzt, der drei Dimensionen umfasst, jede mit ihrer eigenen Geschwindigkeit. Recht, etwa Bürgerschaftsrecht, war zwischen 1913 und der Nazi-Ära stabil ebenso wie in der Zeit zwischen 1949 und 1999; seit 2000 hat es erhebliche Modifikationen gegeben. Verwaltung (policy), die Verwaltungsvorschriften und praktiken einschließt, reagiert dynamischer auf sich verändernde Bedingungen. Kulturelle Schemata mögen für große Teile der deutschen Bevölkerung hinter Veränderungen von Recht und Politik hinterherhinken, bei anderen Gesellschaftsgruppen verändern sie sich schneller.
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die ich in der Werkstatt der Kulturen in Neukölln hatte beobachten können, betonten die Sprecher, dass die deutsche Öffentlichkeit Unauffälligkeit schätzt. Wenn wir freilich das auf jus sanguinis beruhende Bürgerschaftsrecht und ein generalisiertes öffentliches Unbehagen an Unterschiedlichkeit als alleinige Indikatoren deutscher Ethnopolitik auswählen, konstruieren wir ein essentialisiertes Verständnis deutschen Nationalcharakters und zeichnen in der Tat eine verzerrte Karrikatur. Dennoch kontextualisieren diese Indikatoren die Reserviertheit kamerunischer Mütter, wenn ihre Kinder rassisch-ethnisch gefärbten Fragen begegnen. Einige Mütter sind sich wohl der deutschen Geschichte und ihrer Rassepolitik bewusst; ihre Gefühle sind in den schmerzlichen Erinnerungen aus alltäglichen Erfahrungen von „blackness“ in Berlin reflektiert, die in Plantation Memories (Kilomba 2008) und Deutschland Schwarz Weiss (Sow 2008) niedergeschrieben sind. Beide Bücher waren mir von meinen Gesprächspartnerinnen geschenkt worden. Kamerunische Mütter berichteten sowohl von mehreren Begegnungen, ähnlich der „woher kommst Du?“-Frage, die sie und ihre Kinder erlebt haben, als auch von ihren Schwierigkeiten, eine angemessene Erwiderung zu formulieren. Die immer umsichtige Tessy wollte ihrem Kind das Vokabular mitgeben, mit dem es anderen Leuten eine Antwort auf die Frage „Woher kommst du?“ geben kann. Im Kindergarten hatte Tessys Tochter geantwortet, dass sie in Berlin geboren wurde, woraufhin ihre Spielkameraden erwiderten: „Aber du bist aus Afrika“. Die Einbettung der Narrative der Erlebnisse ihrer Tochter in ihre eigene Einwanderungsgeschichte erinnert Tessy an den Stich der Beleidigungen, denen sie sich kurz nach ihrer Ankunft in Deutschland gegenüber sah, und an ihr Gefühl der Hilflosigkeit, nichts in einer neuen Sprache erwidern zu können.19 Sie wollte nicht, dass ihre Tochter auf die gleiche Weise leiden muss. Da sie besonders beunruhigt über den anstehenden Wechsel ihrer Tochter vom Kindergarten in die Schule war, arbeitete Tessy hart daran, ihrer Tochter Stolz auf ihre afrikanischen Wurzeln und Bamiléké-Kultur einzuflößen, in dem Glauben, dass eine solche Verwurzelung sie angesichts rassistischer Mikroaggressionen anderer Kinder durchsetzungsfähig machen würde. Gleichzeitig lehrte Tessy ihre Tochter, bestimmt auf Nachfragen zu ihrer dualen Zugehörigkeit – ihr Aufwachsen in
19 Tessy setzte die Narrative über die Begegnung ihrer Tochter in Bezug zu ihrer eigenen Leidensgeschichte über die Diskriminierung eines Professors zu Beginn ihrer Studienzeit in seinem Labor. Das Erzählen/Verbreiten von Geschichten bildet die Basis gemeinsamer Vorstellungen über die Schwierigkeiten des Lebens als Migrant/denen sich ihre Kinder gegenüber sehen/denen sich schwarze Einwanderer gegenüber sehen und wie man ihnen mit Durchsetzungsvermögen begegnet.
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Berlin und ihre afrikanischen Wurzeln – zu antworten. „Je ne veux pas quʼelle insulte, non, là loin de moi, mais quʼelle essaye aussi parce que si elle ne dit rien cʼest elle qui en souffre en fait… Parce que quand tu ne réponds pas, tu rentres fâché.“ Iris, die Drehbuchautorin aus dem vorherigen Kapitel, bereitet ihre Tochter ebenfalls darauf vor, sich gegen Kränkungen zu behaupten, indem sie sie über ihre Wurzeln unterrichtet. Iris spricht mit ihrer Tochter über das Haus ihres Großvaters im Bamiléké-Stammesfürstentum Bangangté und über ihre eigene Kindheit im englischsprachigen Buea. Iris nimmt ihre siebenjährige Tochter mit zu Treffen ihrer Hometown Association und gelegentlich auch zu Besuchen bei ihrer Familie in Kamerun. Sie antwortet offen auf die Feststellungen ihrer Tochter, dass „African people are always too loud. They are always like quarreling. And… they are always laughing.“ Iris schaut zusammen mit ihrer Tochter nigerianische Filme an, setzt ihr pikante kamerunische Gerichte vor und bringt ihr Englisch, Französisch und Pidgin bei. „When she was small she would ask me why is it that she is black. And I would tell her, yes you are black because you are from Africa. Africa is a continent like this and [I] take the map and show her… It is not that you are black you are not beautiful… And sometimes if I see that she is like asking me some question that is a little bit painful and embarrassing,… like – what I can say – racism… I will cover it up with religion. If she says, ‚mama you know I was playing today; the other child said you should not play with her because she is brown‘… I really feel the pain, you know… But she is still young for me to tell her. So I will just put it religiously. I will say,… it is just children, I donʼt think they really believe in God, because then God said you should not hate this person.‘“
Iris Erziehungsrepertoire umfasst Unterricht über Afrika und die Übermittlung der Botschaft Black is beautiful. Sie ergänzt ihre Strategie Durchsetzungsfähigkeit durch Zugehörigkeit, indem sie rassistische Diskriminierung durch religiöse Erklärungen abfedert. Wie es auch bei vielen anderen kamerunischen Müttern und ihren in Deutschland geborenen Kindern der Fall ist, weiß Iris um den täglichen Zwiespalt ihrer Tochter zwischen ihren kamerunischen Wurzeln und ihrer deutschen Identität. „She will say, ‚my mama is from Cameroon, I have an auntie from Nigeria.‘ And the little children say, ‚and you?‘ She said, ‚I am Deutsch.‘ You know. For her identity is Deutsch. But I make her to know, ‚you were born in Deutschland. Yes you are Deutsche. But I am Cameroonian and Bamiléké Cameroonian, that is where my parents were born, that is my
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Opa and everything.‘ I tell her. So her identity, she has decided her own identity, her own community.“
Gleichzeitig erkennt Iris das Interesse ihrer Tochter an der Bildung einer Identität gegenüber ihren Schulkameraden und ihre eigene Verantwortung als Mutter an, sie mit „Wurzeln und Kultur“ zu verankern. Die Wurzeln, die Iris vermittelt, reichen von der Einstellung bezüglich Respekt und Disziplin, die – wie wir bereits feststellen konnten – auch für die Mütter von Vorschulkindern wichtig war, bis hin zu volkstümlichen und sprachlichen Aspekten. „But what I… emphasize mostly is just her roots and culture… She used to be naughty sometimes and I always told her, in my culture it is like this… [It] helps me a lot if I can hand… this cultural heritage to my daughter. She dances, I teach her to dance my traditional dance… of Grassland… and make her to enjoy my traditional music. … I bring her traditional dresses, yes. … I really like take my time to teach her the Cameroon culture. She speaks pidgin… That is street language, you know, it is the language that most parents donʼt want their children to learn… And often people ask me, why do you talk pidgin to her? I say, so that she should not be lost.“
Irisʼ letzte Bemerkung „damit sie sich nicht verliert“ ist aufschlussreich. Iris meint damit nicht nur, dass sie sicherstellt, dass ihre Tochter während ihrer Besuche in Kamerun eine Lingua franca sprechen kann, sondern auch, dass ihre Verwurzelung in der kamerunischen Kultur es ihr ermöglicht, Herausforderungen mit Nachdruck zu begegnen. Eltern verstehen, dass sie ihren Kindern Werkzeuge für ihr zukünftiges Durchsetzungsvermögen an die Hand geben müssen und ihre Kinder sich noch nicht selbst behaupten können. Das trifft vor allem im Umgang mit Behörden und weniger mit Spielplatzrüpeln zu. Und in solchen Situationen ist es entscheidend, dass eine Mutter die Richtlinien einer gebildeten, mittelständischen Präsentation ihrer selbst kennt, um den Klischees von Lehrern und Schulleitern über ungebildete und hilflose Afrikaner entgegenzuwirken. Hélènes Situation ist ein gutes Beispiel. Ich kenne Hélène schon jahrelang, seit meiner frühen Feldarbeit in Bangangté. Als ich erfuhr, dass sie und ihr Ehemann sich im südlichen Technologiegürtel Deutschlands eingerichtet hatten, rief ich an, um mich auf den neuesten Stand zu bringen und Berichte über ihr Familienleben und die Erfahrung mit deutschen Schulen zu hören. Hélène erzählte mir, wie wichtig es ihr war, mit den Lehrern ihrer Söhne zu sprechen, damit die Kinder nicht sofort als Schüler eingestuft wurden, bei denen es gerade einmal für die Hauptschule
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reichte20. Einer ihrer Söhne, ein Fünftklässler, hatte es gerade aufs Gymnasium geschafft. Hélènes jüngerer Sohn, der zweisprachig auf Deutsch und Französisch erzogen wurde, war vor kurzem in die erste Klasse gekommen und hatte ein Jahr voller Einschulungstest hinter sich. Als sein Lehrer sich über die mangelhafte deutsche Grammatik des kleinen Jungen beschwerte, stattete Hélène der Schule einen Besuch ab, da sie fürchtete, ihr Sohn würde fälschlicherweise in einen Förderunterricht gesteckt werden. „Es macht einen großen Unterschied“, erzählte sie mir, „wenn man sich als hochgebildetes Elternteil vorstellt, das fließend Deutsch spricht. Die Lehrer sind überrascht.“ Als ich fragte, was mit den Kindern von Eltern geschieht, die eine schlechtere Bildung haben oder nicht den Mut aufbringen, ihre Meinung zu äußern, meinte Hélène: „Oh Pamela, ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass man den Mut haben muss.“ Kamerunische Migranten-Eltern von Kindern im Schulalter tauschen bereitwillig mit mir und untereinander Geschichten über die Schwierigkeiten des Lebens aus, die sie durchgestanden haben und sie wissen, dass auch ihre Kinder sie durchstehen werden. Sie berichten, wie das Selbstbewusstsein und das Zugehörigkeitsgefühl ihrer noch jungen Kinder im deutschen Schulumfeld von Schulkameraden und Lehrern gleichermaßen untergraben werden. Sie beschreiben, wie sie alltägliche Handlungen der Aggression und Rücksichtslosigkeit auf Basis verbreiteter Stereotypen erlebt haben, die afrikanische Migranten als arm, illegal, aufsässig und ignorant brandmarken. Durch ihre Geschichten zeichnen Mütter ein Bild des Lebens als fortwährenden Kampf. Sie bauen auch ein Repertoire an Strategien auf, um ihren Kindern in diesem Kampf zur Seite zu stehen. Die Vorbereitung ihrer Kinder auf gute schulische Leistungen – in der Schule besser zu sein, als die Mitschüler – ist eine solche Strategie. Die Förderung der emotionalen Identifizierung ihrer Kinder mit ihrer kamerunischen Herkunft ist eine weitere. Tessy, Iris und andere betrachten die Aufrechterhaltung kamerunischer Zugehörigkeit als eine Basis, auf der Widerstandsfähigkeit gegen die traurige Situation ihrer Kinder, niemals vollkommen als Deutsche akzeptiert zu werden, aufgebaut werden kann.
20 Hauptschulen wurden in den 1950ern gegründet, um Fünft- bis Neuntklässler auf die Berufsausbildung vorzubereiten. Während sie früher der am häufigsten besuchte Bildungszweig waren, ist ihr Ruf zunehmend schlechter geworden. In Berlin wurden sie offiziell abgeschafft und mit anderen Schulformen zusammengelegt, um ab dem Schuljahr 2010-11 die Sekundarschulen zu schaffen.
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Die Erziehung Jugendlicher: Disziplin und Emotionsarbeit mit Akzent Kamerunische Migranten-Mütter legen zu Hause großen Wert auf Disziplin. Neben der Vermittlung eines selbstbewussten Verständnisses der kulturellen Wurzeln und Verbundenheit sowie der Förderung guter schulischer Leistungen ist die Durchsetzung von Disziplin die dritte Strategie von Müttern, um ihre Kinder auf die Härten des Lebens vorzubereiten. Nach Ansicht der Mütter steht Disziplin in engem Zusammenhang mit Zugehörigkeit und schulischer Leistung. Disziplin verschafft Respekt, den Mütter als kulturelles Merkmal bezeichnen. Und viele kamerunische Mütter merkten an, dass Disziplin wertvoll ist, da sie ihren Kindern Erfolg in der Schule verschafft. Die ausgeprägte Kultivierung der akademischen Fähigkeiten, Kenntnisse und Erfahrungen ihrer Kinder zieht sich durch die gesamte Schullaufbahn. Da Migration das Sozialkapital oder die in Netzwerkverbindungen eingebetteten Ressourcen schwächt (Lin 1999), betrachten kamerunische Mütter Humankapital (Becker 1993; Bourdieu 1983) als notwendige, schützende Kraft. Die kamerunischen Mütter, die ich in Berlin kennengelernt habe, fassen Disziplin im Sinne von Respekt für die Autorität von Älteren auf.21 Durch diesen Respekt rechnen Mütter damit, dass ihre heranwachsenden Kinder allmählich Selbstdisziplin und den Wert harter Arbeit lernen; die Verinnerlichung dieser Werte hilft Kindern, zu selbstständigen, wohlerzogenen jungen Erwachsenen zu werden.22 Wir haben früher in diesem Kapitel schon gesehen, dass die Anerziehung von Respekt und Disziplin bei Vorschulkindern und jungen Schulkindern beginnt. Barbaras Kinder sagen bitte und danke und begrüßen erwachsene Gäste mit aller Höflichkeit, bevor sie zum Spielen davonstürmen. Auch lange nachdem ihre Freunde das Abendessen beendet haben, bleibt Bihs Tochter ohne Murren am Tisch sitzen, bis ihr Teller leer ist und hält sich so an die Anweisung ihrer
21 Beispielsweise im Gegensatz zur Disziplin eines streng geregelten Tagesablaufs oder früher Schlafenszeiten; diese zeitlich orientierte Disziplin schwankte unter meinen Interviewpartnern stark und folgte keinem wahrnehmbaren Muster. 22 Kamga identifiziert Respekt vor Älteren, die Anerkennung von Autorität, die Einschränkung der persönlichen Freiheit, unermüdlichen Fleiß und die Abwägung der Gruppensolidarität gegen den Konkurrenzkampf um persönlichen Erfolg als Grundwerte der Bamiléké, die zum akademischen Erfolg der Bamiléké-Jugendlichen beitragen, die von Verwandten in Frankreich großgezogen werden (2013: 133, 141; siehe auch Dongmo 1981, Malaquais 2002 und Warnier 1993 für ähnliche Darstellungen der Bamiléké-Werte, die durch Erziehungsmethoden in Kamerun vermittelt werden).
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Mutter „beim Kauen nicht zu rennen“. Mütter erwarten den Gehorsam ihrer Kinder und bekommen ihn gewöhnlich. Die mütterliche Erwartung von Gehorsam und das zunehmende Selbstbewusstsein stellen besondere Herausforderungen für die Eltern Jugendlicher dar. Da das demografische Profil von Kamerunern in Deutschland jung ist, kümmern sich die meisten kamerunischen Mütter um Kleinkinder, Vorschul- und Grundschulkinder. Bei den wenigen, die in Berlin geborene oder aufgewachsene Jugendliche haben, stimmen die Schilderungen der Wichtigkeit von Disziplin oft nicht mit der Realität im Leben ihrer Teenager überein. Die Ingenieurin Agathe förderte die Ausbildung ihres dreizehnjährigen Sohnes in einer Begabtenschule. Sie beschrieb, wie sie ihm beibrachte, seine Hausaufgaben selbstständig zu erledigen und tatsächlich bekam er in der Schule sehr gute Noten. Wie viele kamerunische Mütter förderte Agathe auch die Zweisprachigkeit, indem sie zu Hause nur Französisch sprach. Trotzdem beobachtete ich, dass ihr Sohn Thierry seine Hausaufgaben vor dem Fernseher erledigte und es eindeutig vorzog, Deutsch statt Französisch zu sprechen. Wenn es um die Durchsetzung von Disziplin geht, fühlen sich Mütter durch die vorherrschenden deutschen Auffassungen zu den Rechten der Kinder, die von Autoritäten wie Lehrern und Jugendämtern durchgesetzt werden, behindert. Beim Gespräch über körperliche Bestrafung meinte Jucal: „You canʼt do anything to the child because they know they have their rights.“ Iris erzählte, dass Kameruner Informationen und persönliche Berichte über Kinder in Umlauf brachten, die sich auf ihr Recht beriefen, nicht bestraft zu werden. „We always say, you know, in the African community that these children here are born with rights. They are born and they just know their rights.“ Auf diese Weise verbinden sich persönliche Erfahrungen zu einem gemeinsamen kamerunischen Diskurs drastisch eingeschränkter Elternrechte bei der Disziplinierung ihrer Kinder. Laut Iris Erklärung haben Eltern das Gefühl, dass ihnen bezüglich der von ihnen in ihrem Haus angewendeten Erziehungsstrategien keine Privatsphäre bleibt. Sie empfinden das Interesse von Klassenkameraden und Lehrern an ihrem Leben als verdächtige Einmischungen. „Even with their friends when they are playing, ‚What did you do yesterday?‘… The children [are] talking, talking, talking. Before you know the teachers know… what is happening in your house, how your parents are treating you in the house.“ Eltern befürchten daher gemeldet und mit möglichen Sanktionen konfrontiert zu werden, weil sie ihre Kinder auf die beste Art erzogen haben, die sie kennen. Eltern machen sich auch Sorgen über die langfristigen Konsequenzen ihrer Unfähigkeit, Disziplin durchzusetzen. Brenda dachte an ihre Begegnungen mit Müttern älterer Kinder und meinte: „My problem is here that the way I was brought up, if I were not brought up like that
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I would not be what I am today. So I want to make sure my child grows up in that way, to be something tomorrow.“ Gisèle ist sowohl über die sinkenden Chancen ihres Sohnes „morgen etwas zu werden“ als auch über ihre Unfähigkeit besorgt, eine emotionale Verbindung zu ihm herzustellen, um ihn auf einen sicheren Weg zu geleiten. Jean-Claude wurde vor Gisèles Migration nach Deutschland in Kamerun geboren. Sie war mit einem deutschen Mann verheiratet, ließ sich scheiden und holte dann JeanClaude zu sich nach Berlin, als er zehn Jahre alt war. Vorher hatte sich ihre Mutter um ihn gekümmert und er besuchte eine französischsprachige Grundschule in Yaoundé. Sie erzählt, wie sie hart mit ihrem Sohn gearbeitet hat, um ihm dabei zu helfen, sich zu integrieren und perfekt Deutsch zu sprechen. Als ich den Großteil meiner Forschung in Berlin durchführte, war Jean-Claude fünfzehn. Er nannte sich selbst Hannes, hing mit Freunden ab und hielt sich in der Schule gerade so über Wasser. Gisèle hatte große Angst, dass Hannes es vielleicht nicht schaffen würde auf dem Gymnasium zu bleiben. Das wäre schon für ein Kind akademisch und wirtschaftlich ehrgeiziger Eltern schlimm genug; für das schwarzafrikanische Kind einer alleinerziehenden Immigranten-Mutter wäre ein Schulwechsel ein Tor zu stark eingeschränkten Möglichkeiten. Gisèle wünscht sich verzweifelt eine warme und liebevolle Beziehung mit ihrem jugendlichen Sohn. Sie erklärte: „Es gibt nur uns beide, wir haben nur einander“. Gisèle weiß, dass Hannes freundschaftlichere Beziehungen zwischen seinen Freunden und deren Eltern beobachtet, die sie ihm jedoch nicht ohne Unbehagen bieten kann. Obwohl sie warmherzig und fürsorglich sind, haben kamerunische Mütter mehr Erfahrung mit der Aufrechterhaltung emotionaler Grenzen zwischen den Generationen. Und wenn Hannes spät nach Hause kommt oder Hausgäste nicht angemessen begrüßt, kann Gisèle nicht anders, als mit ihm zu schimpfen. Bei einem Besuch drei Jahre später war Gisèle erleichtert, dass Hannes noch immer die Schule besuchte und sich dem Abschluss auf dem Gymnasium näherte. Doch sie hatte bereits eine neue Sorge – wie viele andere Mütter hatte Gisèle beobachtet, dass ihr jugendlicher Sohn der Verlockung deutscher Jugendkultur erlag und nicht an seine Andersartigkeit erinnert werden wollte (Belinga Belinga 2010). Während das Leid aus ihren Augen sprach, erzählte mir Gisèle, dass Hannes nicht schwarz sein will. Sie hatte in seinem Zimmer hautaufhellende Cremes gefunden. Als Aktivistin in der afrodeutschen Szene war Gisèle geschockt, dass ihr Sohn seine schwarze Identität nicht bereitwillig annahm. „Ich bin eine Aktivistin! Wie kann er sowas tun?“ Gisèle berichtete weiter, dass Hannes sich gegenüber ihren kamerunischen Freunden unverschämt verhielt, aber
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außerordentlich höflich zu ihren weißen, deutschen Bekannten und Kollegen war. Das Wissen, dass diese Ablehnung der Immigrantenidentität unter Kindern der Generation 1.5 oder 2.0 nicht ungewöhnlich ist (Portes und Rumbaut 2001; Rumbaut 2004; Levitt und Waters 2002), linderte Gisèles emotionalen Schmerz nicht. Sie fühlte sich persönlich zurückgewiesen. Hannes unverschämtes Verhalten gegenüber ihren kamerunischen Verwandten vor Ort beschämte sie zudem. Was ihre Schwierigkeiten noch verschlimmert, beschrieb Gisèle, ist ihr Problem, ihre Gefühle auf Deutsch auszudrücken und eine Verbindung zu Hannes aufzubauen, wenn sie keine bevorzugte Erstsprache gemeinsam haben. Gisèle hat noch mehr als Agathe Emotionsarbeit bei dem Umgang mit ihrem Akzent zu leisten. Eine emotionale Verbindung zu seinen jugendlichen Kindern über linguistische und kulturelle Kluften hinweg aufzubauen, ist in kleinen Familien wie der von Gisèle noch schwerer, da eine große geografische Distanz zu möglicherweise unterstützender Verwandtschaft herrscht. Im vorherigen Kapitel haben wir erfahren, dass Mütter von Säuglingen eine Schwächung der emotionalen Schaltkreise – eine abnehmende Intensität und beschränkte Formen des emotionsgeladenen Austauschs von Fürsorge innerhalb der Verwandtschaft – als Alleinsein erleben. Mütter von Jugendlichen fühlen sich ohne die Tanten, Onkel und Großeltern des Kinds, die bei der Durchsetzung von Disziplin helfen, ebenfalls alleingelassen. Wären sie vor Ort, so vermuten die Mütter, wären ihre Teenager voll und ganz in ein kamerunisches Kulturmilieu eingebettet. Der Respekt gegenüber Älteren würde wieder normale Züge annehmen und eine weniger mehrdeutige Zugehörigkeit würde es ihren Kindern ermöglichen, Schwierigkeiten mit Zuversicht anzugehen. Unterstützung von der weiteren Verwandtschaft bei der Emotionsarbeit, die an der Anleitung junger Erwachsener beteiligt ist, gestaltet sich noch komplizierter, wenn die emotionalen Schaltkreise der Familien gestört wurden. Sowohl Gisèle als auch Agathe sprachen von Spannungen zwischen sich und ihren in Kamerun lebenden Verwandten. Agathes Ehemann hatte Geld für ihren Bruder geschickt, damit er sich ein Auto kaufen und ein Taxiunternehmen in Douala gründen kann, nur um festzustellen, dass das Geld falsch investiert worden war. Nach ähnlichen Enttäuschungen hatte auch Gisèle beschlossen, nur noch ihrer Mutter Geldsendungen zu schicken und die Forderungen ihrer Geschwister zu ignorieren. Statt gegenseitiger moralischer Unterstützung herrschte Zwist zwischen der kamerunischen Verwandtschaft und dieser kleinen Migrantenfamilie in Berlin, was Gisèles akzentuierte Emotionsarbeit mit ihrem rebellierenden Teenager-Sohn nur noch anstrengender machte.
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Seltene Zirkulation von Pflegekindern Aus vergleichender Sicht ist es überraschend, dass schwierige Jugendliche wie Hannes nicht einfach „zurück nach Afrika“ geschickt werden (Bledsoe und Sow 2011b) und transnationale Pflegeabkommen unter Kamerunern in Berlin so selten sind. Für Gisèle und die meisten anderen kamerunischen Immigranten-Eltern scheint eine Unterbrechung der Verfolgung ihrer Migrationsziele für eine Rückkehr nach Kamerun unmöglich zu sein. Dies ist in Anbetracht der geringen wirtschaftlichen Aussichten für Menschen mit akademischer Ausbildung verständlich, denn in Kamerun steigen die Arbeitslosenzahlen bei den Fachkräften – insbesondere in den Geisteswissenschaften – steil an. In Gisèles besonderem Fall hatten Unstimmigkeiten über Geldsendungen Gisèles Beziehung zu ihren Geschwistern belastet. Das wirkte sich nicht nur negativ auf Gisèles Motivation nach Hause zurückzukehren aus, sondern auch auf ihre Möglichkeit, die Hilfe ihrer Geschwister für die Betreuung von Hannes in Anspruch zu nehmen, wenn er alleine zurückkehre sollte. Solche Probleme mit schwankender Intensität kommen unter Kamerunern in Berlin häufig vor und werden in zahlreichen Studien west- und zentralafrikanischer, transnationaler Pflegeabkommen erwähnt (Åkesson, Carling und Drotbohm 2012; Coe 2013; Drotbohm 2009; Mazzucato und Schans 2011; Whitehouse 2012). Trotzdem scheint es Migranten aus Ghana, Kap Verde, Senegal und Mali weit weniger zu widerstreben, ihre Kinder an Familien und Schulen in ihren Herkunftsländern abzugeben. Kamerunische Eltern in Berlin erzählen sich untereinander didaktische Geschichten in Deutschland aufgewachsener Kinder, die mit ihren biologischen Familien nach Kamerun zurückkehrten und sich dort nicht an das Leben anpassen konnten. Geschichten über Versagen in der Schule, Depressionen und Jugendkriminalität dienen als Warnung vor der Vernachlässigung kultureller Überlieferung. Diese erzählten und nacherzählten Narrativen liefern auch emotionale Unterstützung für die zunehmende Orientierung von Kamerunern hin zur Niederlassung statt zur befristeten Migration (Beloe o.D.). In Berlin ist die Bildungssprache kamerunischer Kinder Deutsch, was die Anpassung von Rückkehrern umso anstrengender macht; rückkehrende Migranten aus französisch- oder englischsprachigen Ländern sehen sich diesen Problemen nicht gegenüber und sind häufig in den Genuss einer ähnlichen Schulform wie in Kamerun gekommen (Kamga 2013). Wenden wir uns wieder dem speziellen Fall von Gisèle und Hannes zu. Fast alle kamerunischen Eltern würden sagen, dass Hannes den Punkt überschritten hat, von dem es kein Zurück mehr gibt und es in seinem Fall unwahrscheinlich ist, dass er wieder zu Jean-Claude wird und sich an das autoritäre kamerunische Schulsystem anpasst. Die Eltern tragen einen emotionalen
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Kampf aus, um die Gefahren des Aufwachsens als Schwarzer und Ausländer in Deutschland gegen den Schmerz elterlicher Trennung und das Risiko einer schwierigen Eingewöhnung bei einer Rückkehr nach Kamerun abzuwägen. Gisèle gestand mir, dass sie es niemals in Betracht ziehen würde, Hannes für den Besuch eines Internats zurück nach Kamerun zu schicken – um seinet- und um ihretwillen. Transnationale Pflegeabkommen zwischen Berlin und Kamerun sind auch bei jüngeren Kindern eher selten, überraschenderweise auch im Vergleich mit den Erfahrungen anderer Einwanderer (Coe et al. 2011). Das Modell der Kindesabgabe, insbesondere der Betreuung durch die Großeltern, offenbart eine soziale Gliederung unter der kamerunischen Immigrantenbevölkerung in Berlin. Alle Mütter (und ein Vater), die ich kennengelernt hatte und die ein kleines Kind hatten, das in Kamerun zurückgeblieben war, hatten ihre Kinder außerehelich und vor ihrer Migration nach Deutschland geboren. Immigranten aus anderen afrikanischen Ländern senden ihre Kinder oft in die Ursprungsländer zurück, um sie dort von Verwandten großziehen zu lassen. Im Gegensatz dazu, blieben diese kamerunischen Kinder nach der Migration der Mutter in ihrem Geburtsland, üblicherweise in der Obhut der Großmutter mütterlicherseits. In den meisten Fällen der Betreuung von Kleinkindern, die vor der Migration geboren wurden, war die großmütterliche Fürsorge Teil eines größeren Musters, das den Eintritt junger Frauen in die gesellschaftliche (im Gegensatz zur biologischen) Mutterschaft verzögerte (Johnson-Hanks 2006). Die Migrationspläne der Mütter unterstützten lediglich ein Übereinkommen, das auch Bestand gehabt hätte, wenn die Mutter in Kamerun geblieben wäre.23 Der emotionsgeladene Austausch von Ratschlägen und Waren zwischen Migranten-Müttern und den kamerunischen Großmüttern, die ihre Kinder versorgten, war besonders stark. Die meisten dieser Mütter scheinen mit der Betreuung ihres Kindes zufrieden zu sein und konzentrieren sich nun auf die neuen
23 Verhoef (2005) weist darauf hin, dass diese Abkommen in der kamerunischen Grasland-Region zwar üblich sind, die Beziehungen zwischen Betreuern und Müttern im Vergleich zu Konflikten über materielle Zuwendung und emotionale Zugehörigkeit aber mit verschiedenen Graden der Zusammenarbeit funktionieren, die sie als Gemeinschaftsunternehmen, die zwiespältige Übernahme und das Tauziehen charakterisiert. Auf Grundlage von Forschungsarbeit in einer Provinzstadt in der östlichen Region Kameruns offenbart Notermans (2004, 2013) starke Schwankungen in den Beziehungen zwischen Müttern und den Großmüttern, die sich um ihre Kinder kümmern, welche sich aus mehreren, sich kreuzenden Bahnen im Lebensverlauf der Frauen ergeben.
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Familien, die sie in Deutschland gegründet haben. Doch wenn emotionale Schaltkreise plötzlich unterbrochen werden, weil die Mutter vor einer politischen Verfolgung fliehen musste, ist die Trennung emotional schmerzhaft. Eveline träumt zum Beispiel davon, diese Trennung zu überwinden. „Naja, mon rêve cʼest que un jour je sois peut-être réuni avec ma famille, parce que jʼai une famille, mais nous sommes séparés, on nʼest pas vraiment lié. Mon rêve cʼest quʼon soit... quʼon soit un jour réuni ensemble et quʼon vive vraiment comme une famille. Parce que là maintenant cʼest pas le cas. Mon fils il est à des milliers de kilomètres de moi et puis je suis ici.“
Eveline empfindet ihre Situation als ungewöhnlich, da sie eine herzzerreißende Trennung durchmachen musste, während die meisten anderen kamerunischen Mütter in Berlin das Privileg haben, ihre eigenen Kinder großziehen zu können. Im gleichen Satz deckt Eveline die Widersprüche ihrer Lage auf, als sie betont, dass sie in der Tat eine Familie hat und gleichzeitig nicht wirklich an ihren Sohn gebunden ist. Früher in diesem Kapitel deutete ich an, dass der gute Zugang zu öffentlich finanzierten Kindertagesstätten die Notwendigkeit der Mütter vermindert, ihre in Deutschland geborenen Kinder zur Erziehung nach Kamerun zu schicken. Die Einrichtung deutscher Sozialdienste, einschließlich frühkindlicher Ausbildungsmöglichkeiten, erlaubt es Migranten-Müttern, ungeachtet der Bedenken bezüglich sozialer Kontrolle, ihre in Deutschland geborenen Kinder bei sich zu behalten, während sie arbeiten und studieren. Öffentliche, deutsche Institutionen sind sogar Schauplätze, an denen Mütter andere kamerunische Migranten kennenlernen, Netzwerke gegenseitiger Unterstützung knüpfen und Informationen bezüglich der Vorgehensweise bei den nächsten Schritten der Schulbildung ihres Kindes austauschen. Mir ist nur ein Fall bekannt, in dem ein Kind, Olivia, nach Kamerun zurückgeschickt wurde, um dort die Schule unter der Fürsorge ihrer Tante und ihres Onkels zu beginnen. Olivia wurde in Kamerun geboren, aber seit ihrem ersten Geburtstag in Deutschland aufgezogen. Olivias Mutter war zu einem Zeitpunkt zu ihrem Mann nach Deutschland gekommen, an dem nur wenige kamerunische Migranten Kinder hatten; aus diesem Grund standen ihr keine erfahreneren Vorgängerinnen zur Seite, die sie um Rat fragen konnte. Olivias Mutter fehlte die Zuversicht, dass sie sich im deutschen Schulsystem zurechtfinden würde und befürchtete, dass Olivia gegenüber anderen Schulkindern deutscher Abstammung dadurch benachteiligt sein würde. Sie bemühte sich um ein Pflegeabkommen, bei dem Olivia zusammen mit ihren Cousinen väterlicherseits eine Privatschule
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in einer größeren kamerunischen Stadt besuchen würde. Der Bruder ihres Ehemanns lebte in wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen und konnte daher für Olivia sorgen. Bei mehreren Gelegenheiten äußerte Olivias Mutter, dass es ein gewaltiges emotionales Opfer war, das sie im besten Interesse ihres Kindes erbracht hatte. „Sometimes, Pamela“, sagte sie zu mir, „you just have to hold your emotions aside, and do whatʼs best for the child.“ Durch die Kommunikation mit Lehrern, Telefongespräche und Heimatbesuche überwachte Olivias Mutter fortwährend die Situation ihres Kindes und nahm Anpassungen entsprechend den unterschiedlichen Entwicklungsphasen vor. Als Olivia bereit für den Eintritt in die Mittelschule war, beschloss ihre Mutter, dass das kurz vor der Pubertät stehende Mädchen am besten unter dem Einfluss naher weiblicher Verwandter aufgehoben wäre. Die Mutter reiste von Berlin an, um Olivia in ein Internat in der englischsprachigen Region von Kamerun zu stecken, in der gleichen Stadt, in der auch ihre eigenen Eltern und Schwestern lebten. Olivias Großmutter mütterlicherseits wird nun als für die Betreuung verantwortlicher Elternteil angesehen. Nun überwacht die Oma die schulischen Fortschritte von Olivia, nimmt sie während der Schulferien auf und hält ihre ausgewanderte Tochter über das Wohlbefinden von Olivia auf dem Laufenden. Seltene Fälle wie der von Olivia bei der transnationalen Kindesabgabe unterstreichen die Sinnhaftigkeit des Zwecks, der sich ungeachtet ihrer Entscheidungen bezüglich der Fürsorge durch die Erziehungsstrategien kamerunischer Migranten zieht.
S CHLUSSFOLGERUNG Ich habe dieses Kapitel mit einem Zitat von Ariane eröffnet, in dem familiäres Zugehörigkeitsgefühl der emotionalen Belastung alltäglicher Mikroaggressionen gegenübergestellt wird, unter denen Migranten zu leiden haben, deren Andersartigkeit sowohl sichtbar als auch kulturell bedingt ist. Ariane macht sich Sorgen darüber, was das Heranwachsen in einem Umfeld seltsamer Blicke für die Entwicklung ihres kleinen Sohnes bedeuten wird. Sie hat vor, ihren Sohn durch eine starke Identifizierung mit seinen familiären und kulturellen Wurzeln zu verankern, die ihm die Durchsetzungsfähigkeit verleihen werden, die er als schwarzer Junge benötigt, um durch das deutsche Tagesstätten- und Schulsystem zu kommen. Die hier vorgestellten Erziehungsstrategien sind die besten Versuche kamerunischer Mütter, ihren in Deutschland geborenen Kindern eine emotionale Identifizierung mit Kamerun und ein Netzwerk sozialer Verbindungen mit anderen Kamerunern zu vermitteln. Die Mütter bemühen sich, Zugehörigkeit (in Abhän-
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gigkeit von der Situation als Schwarzafrikaner, Kameruner oder Bamiléké) für ihre Kinder zu schaffen, während sie ihnen gleichzeitig die besten Chancen bieten, sich anzupassen, erfolgreich zu sein und im deutschen Umfeld aufzusteigen. In ihren Schilderungen der Erziehungsmethoden von Migranten zerstreuen kamerunische Mütter die Spannung zwischen sozialer Reproduktion einer Herkunftskultur und sozialer Mobilität in einer Zielgesellschaft, indem sie Eigenschaften, die zu Anpassung und Erfolg beitragen, als ausdrücklich kamerunische Charakterzüge definieren. Die allgemeine Geschichte eines kniffligen Balanceakts zwischen kultureller Kontinuität und Anpassung ähnelt anderen Darstellungen der Erziehung und Kindheit bei Einwanderern. Aus dem relativ kleinen Maßstab der kamerunischen Immigrantenbevölkerung in Deutschland, ihrer Jugend, ihrer sichtbar rassischen Andersartigkeit und Deutschlands kurzer und abgebrochener Kolonialzeit ergeben sich Abgrenzungen von einem breiteren Muster. Die unruhige Beziehung zwischen diasporischen Identitäten und Angleichung stellt sich anders dar, wenn größere Konzentrationen an Kamerunern in ehemaligen Kolonialmetropolen leben und die gleiche Sprache und die gleichen bürokratischen Organisationsformen gemeinsam haben (Bouly de Lesdain 1999; Kamdem 2007). Das Gefühl der Spannung zwischen der Förderung einer kamerunischen diasporischen Identität und der Ermutigung zur Eingliederung in eine neue Gesellschaft wird in zwei häufig wiederholten Sätzen zum Ausdruck gebracht, die die Themen dieses Kapitels zusammenfassen. „Ich habe ein deutsches Kind“, drückt die zwiespältigen Gefühle der Mütter bezüglich der Sozialisierung ihrer Kinder aus. „Woher kommst du?“ ist indirekte Rede, in der Mütter schmerzlich die Herausforderungen erkennen, denen ihre Kinder Tag für Tag gegenüber stehen. Kamerunische Mütter nehmen bereitwillig die Mehrdeutigkeiten der Zugehörigkeit zur Kenntnis, mit denen ihre (vorwiegend) in Deutschland geborenen Kinder konfrontiert werden. Das Umfeld um ihre Familie herum ist fast ausschließlich deutsch; Tagesstätten und Schulen, Fernsehen und Werbung tragen alle zu einer deutsch-zentrierten Reihe von Ausrichtungen und Gewohnheiten bei. Die Mütter sind stolz auf die Anpassungsfähigkeit ihrer Kinder und ich vermute, auch ein bisschen neidisch auf ihre leichte Beherrschung der deutschen Sprache. Auf vielerlei Weise möchten sie, dass ihre Kinder Zugehörigkeit empfinden, dass sie sich in Deutschland wohl und wie zu Hause fühlen. Trotzdem haben es Mütter nicht darauf abgesehen, kulturell deutsche Kinder aufzuziehen. Sie ziehen es vor, flexible, anpassungsfähige, erfolgreiche kamerunische Kinder in Deutschland zu erziehen. Aus Sicht der Mütter sind ihre Kinder, unabhängig von ihrer rechtlichen Staatsbürgerschaft in Kamerun oder Deutschland, kamerunisch durch Geburt.
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Dafür zu sorgen, dass ihre Kinder kamerunisch bleiben, beinhaltet zwei Auffassungen von kamerunischer Zugehörigkeit: einen performativen Aspekt und einen inneren, sozialpsychologischen Aspekt. Kinder leben kamerunische Zugehörigkeit aus, zum Beispiel, wenn sie sich gemäß kamerunischer Richtlinien zum Respekt gegenüber Älteren verhalten. Kinder fühlen ihre kamerunische Zugehörigkeit, wenn sie sich selbst – als Individuen und in Beziehung zu anderen Personen – als kamerunisch betrachten. Mütter weisen darauf hin, dass kamerunisches Verhalten und die Identifizierung als kamerunisch sich gegenseitig stärken. Für die meisten Mütter ist die Befolgung kamerunischer Standards zu gutem Verhalten nicht nur Zeugnis des Charakters ihrer Kinder, sondern auch ihrer Identität. Die Erziehungsstrategien, mit denen Mütter dafür sorgen, dass ihre Kinder kamerunisch werden und bleiben, spiegeln die doppelte Besorgnis der Mütter über gefühlte und ausgelebte Identität wider. Dadurch bieten sie einen Einblick in die Vorstellungen kamerunischer Migranten bezüglich Kultur und kultureller Überlieferung. Durch Telefongespräche mit Oma, Besuche zu Hause in Kamerun und die Verabredung zum Spielen mit den Kindern ihrer kamerunischen Babysitter-Freunde schaffen Mütter Bedingungen, unter denen die Identifizierung mit Kamerun gefördert wird. Ein Großteil dieser Identifizierung geschieht durch die Interaktion mit anderen Kamerunern, insbesondere mit Verwandten und Freunden, die einem so nahe wie Angehörige stehen. Der Austausch von Kinderbetreuung, Nahrungsmitteln, kleinen Geschenken und Kommunikation bringt positive Empfindungen mit sich, die Kinder gleichzeitig an andere Kameruner und an die Identifizierung mit ihren kamerunischen Wurzeln binden. Die Zugehörigkeitsstrategien kamerunischer Mütter sind auch Strategien, die ihre Kinder auf die Härten des Lebens vorbereiten sollen. Die Vermittlung einer selbstbewussten Wahrnehmung ihrer kulturellen Wurzeln und Verbundenheit verleiht ihren Kindern idealerweise Durchsetzungsvermögen. Disziplin und Respekt vor Älteren liefern ihnen Werkzeuge für den schulischen (und später finanziellen) Erfolg. Die Einbettung von Kindern in bedeutungsvolle soziale Netzwerke stärkt die kamerunische Identität und bietet außerdem Sozialkapital für zukünftigen Erfolg. Wenn sie sich dieser Erziehungsstrategien bedienen, definieren Mütter die Eigenschaften, die zu einem gesunden Gleichgewicht zwischen persönlichem Erfolg und Gruppensolidarität führen werden, als spezielle kulturelle Merkmale der Bamiléké, der anglophonen Grassfielder oder Kameruner. In der Praxis stellen diese Strategien Ideale dar, die sich nur schwer vollständig umsetzen lassen. Mütter passen ihre Erziehungsstrategien an das neue kulturelle und institutionelle Umfeld, das sie in Berlin vorfinden, sowie an die sich wandelnden Entwicklungsphasen ihrer Kinder an.
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Eine Verbindung zwischen diesen Themen und denen des vorherigen Kapitels besteht darin, dass Erziehungsstrategien ein wichtiges Element bei der Bewältigung des Lebens als Migranten-Mutter sind. Wenn Mütter Verbindungen für ihre Kinder knüpfen, schaffen und stärken sie durch ihre Kinder gleichzeitig ihre eigenen Verbindungen zu anderen Erwachsenen. Verwandtschaftlich basierte emotionale Schaltkreise bauen auf Grundwerten und alltäglichen Praktiken im Hinblick auf die Bedeutung des Daseins als Bamiléké oder anglophoner Grassfielder auf. Der Austausch über diese Verbindungen umfasst den Ausdruck von Fürsorge und Gefühlen, nostalgische Artikel, die Erinnerungen an die Heimat wecken sowie High-Tech-Geschenke, die an europäische Gelegenheiten und Geld erinnern, das der Verwandtschaft bei der Bewältigung der Herausforderungen des Alltags hilft. Dieser Austausch untermauert die Reproduktion der Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gruppe durch die Zugehörigkeit zu einer Familie, unabhängig davon, wie weit sie sich geografisch zerstreut hat. Im nächsten Kapitel werden wir einen weiteren Typ emotionaler Verbindungen untersuchen, der ebenfalls bei der Bewältigung reproduktiver Unsicherheit und der Förderung einer formalisierteren ethnischen Zugehörigkeit hilft und auf Gemeinschaftsorganisationen von Migranten basiert. Wir werden feststellen, dass diese Gemeinschaftsorganisationen Schauplätze sind, an denen eine ethnische, diasporische Zugehörigkeit gefördert, ausgelebt und unter die Lupe genommen wird. Durch diese Organisationen bietet das Kinderkriegen Müttern die Gelegenheit, außerverwandtschaftliche Verbindungen zu schmieden oder zu vertiefen und die Unterstützung der Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen. Gemeinschaftsorganisationen von Migranten bieten eine Bühne für die Kindererziehung und verankern Kinder nicht nur in einer emotionalen Zugehörigkeit, sondern auch in einer organisatorischen Struktur.
Kapitel Fünf: Zugehörigkeit und gesellschaftliches Engagement „The child is the responsibility of the whole village or a whole society, so we as an association, we feel the responsibility when a child is there. And there are some social benefits; we try to support them, the parents… [But] confiding [about reproductive or family problems], no. We can exchange matters about school, daily activities, just sit and think about some things in Africa.“ (LOLA 2011)
Ein Kind zur Welt zu bringen und es zu einer erfolgreichen, moralischen und kulturell verankerten Person zu erziehen, ist nicht nur eine Aufgabe für Mütter und ihre transnational verstreuten Familien, sondern auch für die Gemeinschaftsverbände von Migranten. Kamerunische Mütter interagieren im Kontext von Geburt und Erziehung auf verschiedene und manchmal widersprüchliche Arten mit Hometown Associations. Lola (Krankenschwester, Mutter von fünf Kindern und seit 16 Jahren in Deutschland) erklärt, dass Hometown Associations den Eltern eines Neugeborenen formale Vorteile bieten und gleichzeitig in wichtigen Lebensphasen den Sinn für Verantwortung und Unterstützung fördern. Bei ihrer Beurteilung des Gemeinschaftslebens deutet KemKarine darauf hin, dass „because we are in a strange land we need people, we need to be together. We Africans, we have a lot of stress, the stress here, the stress back home. So we need people to be beside to“ (Betonung im Original). Basierend auf einer reichen Tradition des Vereinslebens, sind KamerunerInnen in Berlin durch die schwierigen Umstände des Migrantenlebens zu einer Selbstorganisation in Gruppen auf
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Basis von Vertrautheit und Zusammengehörigkeit motiviert. In diesen Gruppen suchen die Mitglieder moralische, soziale, und emotionale Unterstützung. Diese nicht greifbare Form der Solidarität ergänzt die formalen Vorteile, die Vereine im Kontext entscheidender Ereignisse wie einer Geburt oder einer Krankenhauseinweisung bieten und reicht noch darüber hinaus. Doch erinnert uns Lola daran, dass die Geselligkeit der Treffen mit anderen aus einem gemeinsamen Heimatort auch mit einer unterschwelligen Zurückhaltung und dem Widerwillen einhergeht, mit anderen über reproduktive Probleme zu sprechen. Wenn das Kind, wie Lola behauptet, die Verantwortung des gesamten Dorfes oder der ganzen Gesellschaft ist, wo und wie kommen ihre Mitglieder zusammen und schaffen Inseln der Heimat in einem fremden Land? In diesem Kapitel konzentriere ich mich auf die Einbindung von Müttern und Kindern in Hometown Associations.1 Wir haben früher bereits festgestellt, dass Hometown Associations den Migranten unter den städtischen und ländlichen Bamiléké und anglophonen Grassfieldern aus Kamerun die organisatorische Grundlage der Zugehörigkeit bieten (Feldman-Savelsberg und Ndonko 2010). Sie bleiben ein wichtiger Bezugspunkt für kamerunische Mütter in Berlin und helfen ihnen, die Herausforderungen der Reproduktion und Niederlassung in einem neuen Land zu bewältigen. Hometown Associations sind formal organisierte, öffentlich eingetragene2 Vereine, deren Mitglieder eine Verbundenheit zu einem bestimmten Heimatort3
1
In Westafrika und unter transnationalen afrikanischen Migranten sind Hometown Assoiations für Menschen ein allgegenwärtiges Mittel, um in einer äußerst mobilen Welt am lokalen Gesellschaftsleben teilzuhaben. Zu afrikanischen Hometown Associations siehe Barkan et al. 1991; Englund 2001; Little 1965; Mitchell 1969, 1987; Schildkrout 1978; Shack und Skinner 1979; Tostensen, Tvedten und Vaa 2000; Trager 1998, 2001; Woods 1994. Hometown Associations sind auch in anderen Teilen der Welt gut dokumentiert, zum Beispiel unter Mexikanern in den USA (Orozco and Rouse 2013) und Türken in Deutschland (Çayğlar 2006).
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In Deutschland sind kamerunische Hometown Associations an einem Verwaltungsgericht eingetragene Vereine (e.V.). Viele von ihnen sind auch bei der kamerunischen Botschaft registriert.
3
Heimatorte sind in der Regel multiethnische Orte, auch wenn eine ethnische Gruppe oder ein Fondom dominiert. Einige Hometown Associations sind ethnische oder – wie es einige meiner Interviewpartner ausgedrückt haben – „stammesverbundene“ Vereine. In diesen Fällen steht der Heimatort für eine gemeinsame Abstammung und Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe. Andere Hometown Associations sind Stadtvereine und bringen Menschen mit gemeinsamer Herkunft als auch Menschen mit Ver-
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UND GESELLSCHAFTLICHES
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gemeinsam haben. Ein Heimatort kann ein Dorf, eine Stadt oder ein Verwaltungsbezirk sein. Es handelt sich also um einen Ort unterschiedlicher Größe, der als Ort der Abstammung und ethnischen Herkunft von Bedeutung ist, an dem vielleicht immer noch Verwandte leben und an den man zurückkehrt, um beigesetzt zu werden (Cohen und Atieno Odhiambo 1992; Geschiere 2009; Jua 2005; Smith 2004). Da so viele transnationale Kameruner in provinziellen Hauptstädten oder Großstädten aufgewachsen sind, haben einige ihren Heimatort nur gelegentlich besucht, wenn sie überhaupt schon einmal dort waren. Trotzdem wird ihr Zugehörigkeitsgefühl durch zahlreiche Bräuche gefördert. Familien erzählen Geschichten über ihr Land, ihren Hof und vergangene Ereignisse, die im Heimatort vorgefallen sind. Familien durchleben außerdem eine lange Geschichte, in der gesellschaftliches Leben und gegenseitige Unterstützung um die gemeinsame Zugehörigkeit zum Heimatort organisiert sind. Letztendlich verstärkt auch die Zuordnung anderer die Identifizierung mit einem Heimatort.4 In Berlin kommen Mitglieder von Hometown Associations regelmäßig an festgelegten Terminen und Orten zusammen – zum Beispiel jeden dritten Sonntag in einem Gemeindezentrum des Stadtteils. Die Treffen sind gesellschaftliche Anlässe, die Vergnügen mit Pflicht verbinden (Mercer, Page und Evans 2008: 6). Die vergnügliche Geselligkeit und die formalen Pflichten bei den Treffen von Hometown Associations stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit den Themen dieses Buches – der Schaffung von Zugehörigkeit, dem Umgang mit Geburt
bindungen zu einer Ortschaft zusammen, zum Beispiel wenn sie als Kinder dort gelebt haben. Jede Person kann theoretisch mehreren Hometown Associations beitreten, zu der sie Verbindungen durch ihren Vater, ihre Mutter, den Ehepartner oder einen Aufenthaltszeitraum (beispielsweise für den Schulbesuch) hat. Aufgrund dieser Variabilität ziehen Mercer, Page und Evans (2008) den Begriff Home Association vor. Ich verwende weiterhin die Bezeichnung Hometown Association, weil diese in der Literatur und unter meinen Gesprächspartnern am verbreitetsten ist. 4
Die Zuordnungen anderer können die Zugehörigkeit zu einem Heimatort sowohl durch rechtliche als auch durch sozial-emotionale Mittel unterstützen. Die neue kamerunische Verfassung von 1997 forderte, dass kamerunische Personalausweise die ethnische Zugehörigkeit einer Person dokumentieren sollten (Jua 2005; Mercer, Page und Evans 2008: 98). Stereotypen über Bamiléké und Anglophone, die in alltäglichen kamerunischen Diskursen die Runde machen und zur persönlichen Beunruhigung beitragen, können Menschen dazu veranlassen, Sicherheit an ihrem Heimatort zu suchen, wie es Trager (2001) und Smith (2005) für ähnliche Situationen in Nigeria aufgezeigt haben.
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und Krankheit und den Herausforderungen der kulturellen Reproduktion innerhalb einer mobilen, diasporischen Bevölkerung. Hometown Associations sind einer von vielen Wegen, über die Kameruner auf organisierte Art und Weise zusammenfinden. Dennoch stechen sie aus der Landschaft des mehr oder weniger formalen Gemeinschaftslebens heraus; jeder Migrant könnte sich vorstellen, einer Hometown Association (oder zwei) beizutreten, unabhängig davon, ob er es letztendlich auch tut. Andere Mitgliedschaften bilden sich auf Grundlage weniger verbreiteter Merkmale, wie zum Beispiel Religion, Beruf oder politischer Parteizugehörigkeit.5 Bei vielen Migranten liegt ein Vereinseintritt nahe, da Hometown Associations eine vertraute und allgegenwärtige Präsenz in den kamerunischen Ortschaften sind, aus denen sie auswandern. Iris erzählt, dass sie es in Kamerun „saw it like a must. Everybody that I used to know belongs to an association. The moment you get to an age of independence, you belong to an association.“ Mrs. Black führt weiter aus, dass ihre Familientradition des Vereinsvorsitzes in Kamerun die Beteiligung am Vereinsleben in Berlin reizvoller gemacht hat. „Because in Cameroon we do that. Like my mother, she is like a president of [B___ Association] in Cameroon. And I have been from childhood, I have seen all these organizations and you know it is really okay. It is really nice.“ Mütter schmieden außerfamiliäre Verbindungen, wenn sie formale Mitgliedschaften in Vereinen unterhalten, an monatlichen Treffen teilnehmen, in Zeiten der Not die Vereinsressourcen in Anspruch nehmen und im Gegenzug – als Vertreter des Vereins – anderen Geschenke und Hilfe zukommen lassen. Sie erfüllen die Verpflichtungen der Zugehörigkeit durch Kinder, wenn sie fresh people
5
Viele Wissenschaftler, die sich mit afrikanischer Migration nach Deutschland beschäftigen, richten ein besonderes Augenmerk auf Pfingstkirchen als Gemeinschaften, die Migranten um sich scharen (Glick et al. 2006; Krause 2014; Nieswand 2010). Obwohl charismatische Kirchennamen ihren internationalen Charakter bekunden (wie es auch Anthropologen tun, die gerne über methodological nationalism hinaus möchten, Wimmer und Glick Schiller 2002), neigen diese Kirchen in Süd-Nord und Süd-Süd afrikanischen Diaspora dazu, sich auf lokale Gemeinschaften auf nationaler (insbesondere ghanaische, siehe Meyer 1999; van Dijk 2003) und subnationaler Ebene zu stützen. Im Rahmen meiner Feldarbeit nahm ich am Gottesdienst einer Pfingstkirche teil, der von einem kamerunischen Pfarrer in Berlin abgehalten wurde und traf ein paar seiner Gemeindemitglieder bei späteren Gemeinschaftsveranstaltungen. Trotz alledem stellte ich unter kamerunischen Migranten-Müttern zu starke religiöse Schwankungen fest, um Kirchen zum Schwerpunkt meiner Forschung zu machen. Die Beteiligung meiner Interviewpartner an Hometown Associations war weit verbreiteter.
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(Neugeborene)6 in die Welt setzen und eine aufwendige Feier zu Ehren des neuen Babys als Gemeinschaftsmitglied feiern (Born House auf Pidgin und Jeunes Mères auf kamerunischem Französisch). Indem sie ihre aufwachsenden Kinder zu den Treffen sowie zu Born Houses, Totenwachen und organisierten Kulturveranstaltungen mitnehmen, bemühen sich Mütter um die Reproduktion von Zugehörigkeit für ihre Kinder. Durch die Teilnahme an diesen Ereignissen schaffen Mütter außerfamiliäre Bindungen für ihre Kinder, verschaffen ihnen einen Eindruck von der kamerunischen Geselligkeit und bieten ihnen Gelegenheiten zur Auslebung ihrer kamerunischen Umgangsformen. Anhand einer Reihe von Szenen aus dem Gemeinschaftsleben untersucht dieses Kapitel die Erzeugung und Reproduktion von Zugehörigkeit zu einer diasporischen Gemeinschaft bei kamerunischen Müttern und ihren Kindern. Ein monatliches Treffen zeigt einen formalen Hintergrund, vor dem sich Mitglieder nach der Migration am Aufbau einer Gemeinschaft versuchen und auf kreative Weise die Auffassungen von Heimat (home) und Zugehörigkeit (belonging) neu gestalten7. Die Jahresendfeier eines Vereins verdeutlicht parallele Strömungen von Geselligkeit und Zurückhaltung, während Mütter sich untereinander austauschen, aber die Erwähnung familiärer oder gesundheitlicher Probleme vermeiden. Eine Born-House-Feier veranschaulicht, wie Migranten-Mütter mit ihrer Heimat verbundene und das Leben prägende Bräuche aufrechterhalten (Nyamnjoh und Rowlands 2013), während sie gleichzeitig auf die Vereinsressourcen zugreifen. Die Beobachtung eines parallel zum monatlichen Vereinstreffen abgehaltenen Kindertisches und der kurze Bericht der Totenwache eines Großvaters zeigen Momente, in denen Kinder an den kulturellen Aktivitäten der Hometown Associations ihrer Eltern beteiligt sind. Zusammengenommen offenbaren diese Szenen die Verflechtung von formaler Mitgliedschaft und emotionaler Zugehörigkeit. Durch ihre Mitwirkung im Verein und den damit einhergehenden Austausch bauen Mütter außerfamiliäre Verbindungen auf, die familiäre Verpflichtungen im Laufe des Lebens unterstützen und Zugehörigkeit in eine organisatorische Struktur einbetten.
6
Mɛn fì bedeutet wörtlich übersetzt frischer Mensch und ist der Bangangté-Ausdruck für ein Neugeborenes.
7
Siehe Boehm 2012 zu Strategien der Gemeinschaftsbildung in mexikanischen Migranten-Familien in New Mexico.
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N GÓ N DÉ , N GÓ N DÉ – N GÓ K ONI :
EIN
V EREINSTREFFEN
An einem kalten und grauen Nachmittag im Januar schlüpfte ich in den Versammlungsraum eines Gemeindezentrums in Lichtenberg, einem Ortsteil im ehemaligen Ostberlin. Dort hatte gerade das Treffen der Hometown Association begonnen, die ich seit vier Monaten besuchte. Aus Gründen der Anonymität nennen wir sie einfach Association D___. Jeden Monat trafen sich ungefähr dreißig Leute mit Wurzeln im Verwaltungsbezirk (préfecture) D___ im Hochland der Bamiléké in Kamerun, um Vereinsangelegenheiten zu besprechen, zusammen zu essen, zu lachen und zu diskutieren. Im letzten Oktober hatte mich Marthes Ehemann Alain der Gruppe vorgestellt, zu der ich eine besondere Verbundenheit verspürte, da ich meine letzten Recherchen in genau diesem kamerunischen Heimatort durchgeführt hatte. Mein Ehemann, meine Kinder und ich hatten die gleichen ndap (Lobesnamen wie Tangʉn, Soʼnju und Ntecheun) wie einige Mitglieder des Treffens der Hometown Association in Berlin. Die Besprechung der Vereinsangelegenheiten und der Großteil der informellen Gespräche erfolgt auf kamerunischem Französisch und die Lokalsprache wird nur für eine antiphonische Begrüßung verwendet, durch die Personen ihre Ankunft bekannt geben oder eine wichtige Rede einleiten. „Ngó Ndé, Ngó Ndé“, sagte ich leise zur Begrüßung, da ich die bereits laufende Versammlung nicht stören wollte. „Ngó Koni“ antworteten die Leute, an denen ich auf meinem Weg zu einem freien Stuhl neben Marthes Freundin vorbei kam.8 Sie erkannte mich von der Jahresendfeier des Vereins im letzten Monat, nickte mir zu und lächelte, bevor sie sich wieder einem weißen Flipchart zuwandte, auf dem die Ordre du Jour notiert war: Anwesenheit, Zusammenfassung des letzten Treffens, Selbstkritik der Jahresendfeier, Bericht des Schatzmeisters. Die Amtsträger des Vereinsvorstands saßen zusammen an einem Resopal-Tisch neben dem Flipchart – vier Männer und eine Frau, manche mit Papier
8
Antiphonische Begrüßungen dieser Art werden bei Vereinstreffen in der Westregion von Kamerun, unter der Bamiléké-Diaspora innerhalb des Landes und unter der transnationalen Bamiléké-Diaspora verwendet. In diesem Fall bedeutet ngó Land oder Gebiet, so dass sich Ngó Ndé am besten als Département du Ndé (Bezirk Ndé) übersetzen lässt. Diese Begrüßung kann verwendet werden, um sein Eintreten zu signalisieren, die Anwesenden zu begrüßen oder ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, um Ruhe zu fordern oder die Gruppe zur Ordnung zu rufen. Der Sprecher wiederholt die Begrüßung mehrere Male, bis die Versammelten aufmerksam zuhören. Jedes Mal antworten die anderen mit Ngó Koni, wörtlich übersetzt Département de l'amour (Bezirk der Liebe), was die Solidarität der Anwesenden bekundet (Ndonko o.D.).
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und Stift in der Hand, einer mit einem Laptop. An allen Seiten des Raums waren Klappstühle aufgestellt worden, um die Plätze in einem größtmöglichen Rechteck zu arrangieren. Als ich ankam, waren neben dem Vorstand erst neun Männer und zwei Frauen anwesend, während innerhalb der nächsten Stunde nach und nach achtzehn Männer, fünf Frauen und mehrere Babys die Stühle füllten. Einige Ehemänner saßen bei ihren Frauen, andere nicht. Eine Seite des Kreises wurde von einer Gruppe von Männern eingenommen, die – mit ihren aufgeknöpften Kragen, auffälligen Turnschuhen und ständigem Gedrängel – etwas jünger und weniger kultiviert als die verheirateten Paare und Studenten erschienen, die näher an den Fenstern saßen. In Kamerun hätte man sie als chauds gars9 bezeichnet, auf Deutsch coole Typen, die noch immer um den Erfolg im Leben als Erwachsene kämpften. In Berlin mussten sie sich noch mehr anstrengen, um eine legale Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, die Grundlage für finanzielle und persönliche – einschließlich reproduktiver – Sicherheit. Direkt hinter dem Sitzkreis drängte sich ein halbes Dutzend Kinder im Alter zwischen fünf und acht Jahren auf einer breiten Bank in der Nähe der Tür um einen Gameboy, teilte sich Malbücher, flüsterte untereinander auf Deutsch und brach in regelmäßigen Abständen in Gekicher aus. Ich erinnerte mich an ein früheres Treffen, bei dem ein Gespräch über die Anwesenheit sich in eine lebhafte Diskussion über die Vereinsmitgliedschaft entwickelt hatte und dann zu einem Metagespräch darüber wurde, dass den Leuten eine Gelegenheit zu sprechen eingeräumt wird. Dann hatte die Frau neben mir geflüstert „toujours en désordre“ (immer in Unordnung). Die stellvertretende Vereinssekretärin, die einzige weibliche Amtsinhaberin, hatte leidenschaftlich dazu aufgerufen, vernünftig miteinander zu reden und sich an die Etikette zu halten, um ein Beispiel für die anwesenden Kinder und Jugendlichen zu setzen. Bei diesem Treffen im Januar war ich daher gespannt, wie sich die Geschlechterdynamik entwickeln würde und welche informellen Kommentare die formalen Abläufe der Versammlung begleiten würden. Tatsächlich wurde die geschlechterspezifische Arbeitsteilung das Hauptthema der Selbstkritik zur Jahresendfeier. Während dieses Abschnitts der Versammlung sammelten der Vereinsvorsitzende und der Sekretär Anmerkungen zu Erfrischungen, zur Organisation von Geschenken für die Kinder und zur Bereitschaft freiwillig mitzuhelfen. Frauen machen gerade einmal ein Drittel der Vereinsmitglieder aus und äußerten daher, dass sie sich mit dem Kochen für die Feier sowie mit der Vorbereitung des Essens für das Buffet am Ende jeder Monats-
9
Von garçons chauds.
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versammlung überfordert fühlten. Einige Männer schlugen Änderungen beim Wechsel des Empfangskomitees vor, während zwei Frauen um echte Hilfe statt symbolischer Hilfe baten. Ihre Direktheit bei diesem Treffen hinsichtlich der ungleich verteilten geschlechterspezifischen Aufgaben für die Verpflegung und sozialen Aspekte von Treffen und Zusammenkünften stand im Gegensatz zu den Beschreibungen, die meine Interviewpartner zu der Rolle von Frauen bei Vereinstreffen abgegeben haben. Fanny sagte über die Frauen in ihrer Hometown Association: „Most of them are shy, most of them are reserved not because they want to. Maybe their husbands or their boyfriends donʼt want them to speak out or they make them to believe that their place is not to talk in the middle of the people. Because sometimes some of them have ideas but they just say it from the background.“ Diese „Äußerungen aus dem Hintergrund“ beobachtete ich während der Wahl von Amtsträgern bei einem späteren Vereinstreffen. Die Wahl wurde mit viel Mühe um Transparenz abgehalten; ein Wahlausschuss aus zwei Frauen und einem Mann erläuterte den Ablauf – wer das Recht zu wählen hat, wer für welchen Posten kandidiert und wie viel Zeit die Kandidaten haben, um sich vorzustellen. Eine der Frauen des Wahlausschusses schwenkte eine Stoppuhr und wiederholte „deux minutes, deux minutes!“ Ihre Geste veranlasste die neben mir sitzende Frau zu dem Kommentar: „Les femmes sont dangereuses!“ Als eine weibliche Kandidatin für den Posten des Chargé Culturel (Beauftragter für kulturelle Angelegenheiten) ihre Rede begann, indem sie sich an ihren männlichen Gegner wandte, brach das Publikum in Gelächter aus und eine andere Frau rief: „Elle attaque!“. Mit viel Fröhlichkeit präsentierten sich die wenigen Frauen, die regelmäßig die Vereinstreffen besuchen, als strenge Verfechter von regelkonformem Verhalten und verliehen ihren Beschwerden über die ungerechte Arbeitsaufteilung bei Vereinsveranstaltungen Nachdruck. Obwohl die Frauen der Association D___ über diese Bürde murren, bringt ihnen die Arbeit bei der Organisation von Jahresendfeiern, die Besorgung von Erfrischungen bei Treffen und sogar der Aufruf zur Ordnung Anerkennung ein und verstärkt die emotionale Tiefe ihrer Zugehörigkeit. Ungeachtet dessen, wie sich Frauen bezüglich ihrer Verbundenheit zur diasporischen Gemeinschaft fühlen, sind Rechte, Anerkennung und Pflichten der Zugehörigkeit als Vereinsmitgliedschaft formalisiert. Hometown Associations sind formale Organisationen mit Satzungen, gewählten Amtsträgern und Mitgliedsgebühren. Mitglieder haben das Recht auf Zuwendungen im Fall von Geburten, schweren Krankheiten oder Todesfällen in der Familie. Die Mitglieder sind an der Entscheidungsfindung bezüglich der Tätigkeiten des Vereins in Berlin sowie seiner Beiträge zu Entwicklungsprojekten am Heimatort beteiligt. Sei-
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ne persönlichen, alltäglichen Probleme hinter sich zu lassen und zu einem gemeinsamen Ziel beizutragen, hilft gegen das Gefühl des Alleinseins und verstärkt das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Doch da es sich bei Hometown Associations um formale Organisationen handelt, bestimmt statt gemeinsamer Abstammung oder persönlicher Sympathie eher die formale Mitgliedschaft – gemäß Kriterien wie der Zahlung der Mitgliedsgebühren und dem pünktlichen Erscheinen bei Treffen – wer zum Verein gehört. Das wurde offensichtlich, als sich die Versammlung der Association D___ im Januar dem Bericht des Schatzmeisters zuwandte. Der Schatzmeister erklärte, dass die Vereinskasse nicht mehr ausreichte, um die laut Satzung garantierten Zuwendungen bei Krankheiten, Geburten und Todesfällen abzudecken. Im letzten Jahr waren diese Härtefälle häufiger eingetreten als erwartet. Ein Mitglied des Vorstands begann mit der Nennung einzelner Personen, die ihren Versicherungsbeitrag nicht gezahlt hatten und rief sie auf, ihre Zahlungen öffentlich zu leisten. Ein weiteres Vorstandsmitglied begann eine Unterhaltung bezüglich der offiziellen Startzeit von Versammlungen und der Notwendigkeit zur Einführung von Geldstrafen für ein verspätetes Eintreffen, weil es „Hochzeiten, Geburten und Krankheiten in der Gemeinschaft gab, um die man sich kümmern müsse.“ „Ngó Ndé – Ngó Koni!“ Ein Mann aus der Gruppe der chauds gars stand auf und verwendete die antiphonische Begrüßung zur Einleitung seiner Erklärung, dass er gerne dem Verein beitreten würde, aber nicht genügend Geld zur Zahlung des Versicherungsbeitrages hätte. Ein zweiter Mann ergriff das Wort und protestierte gegen ein offenkundiges Missverständnis bezüglich seiner Zahlungen, wedelte mit einem Stapel Belegen und bat zwei andere für ihn zu bürgen. Die Diskussion dauerte an und es wurde über die Angemessenheit einer zusätzlichen Jahresgebühr zur Aufstockung der Vereinskasse für Härtefälle beraten und wie man am besten für die Geschenke der Kinder zur nächsten Jahresendfeier sparen könnte. Abweichend von der finanziellen Debatte, aber in Einklang mit den Themen Vereinsmitgliedschaft und Zugehörigkeit diskutierte eine Person, ob ein anderer Anwesender noch immer ein Mitglied war und das Recht zur Verbreitung von Nachrichten über die E-Mail-Liste des Vereins hatte. Die stellvertretende Vereinssekretärin – die Frau, die eine Diskussion bei einer früheren Versammlung beschwichtigt hatte – kostete es einige Mühe die Gruppe zum nächsten Punkt auf der Tagesordnung zu leiten, dem Sammeln von Ideen für Hilfsprojekte im Heimatort. Um den Ball ins Rollen zu bringen, schlug sie vor, dass der Verein Bälle und Trikots für die örtliche Fußballmannschaft kaufen könnte. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Anwesenden bereits müde und hungrig. Frauen flüsterten ihren Freundinnen und Ehemännern hörbar zu, dass es
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Zeit war, die Kinder nach Hause und ins Bett zu bringen, da der nächste Tag ein Schultag war. Einer nach dem anderen standen die Leute auf, zogen ihre Mäntel an oder gingen in die Kochnische, um sich einen Pappteller mit gekochten, reifen Kochbananen, Gemüse und Hähnchen zu holen. Kinder gesellten sich zu ihren Eltern und Gruppen von Freunden zogen ihre Stühle zu kleinen Kreisen zusammen. In leisen Gesprächen schwelgten sie in Erinnerungen an die Schulzeit in Kamerun und tauschten Geschichten über das tägliche Leben in Berlin aus. Im Laufe der nächsten halben Stunde machten sich kleine Gruppen auf den Weg zur Straßenbahn. In dieser Szene aus dem Treffen einer Hometown Association fördern – und hinterfragen – die Beteiligten formale (institutionelle), performative und emotionale Aspekte der Zugehörigkeit. Meine Analyse in diesem Abschnitt konzentriert sich darauf, wie der Verein Zugehörigkeit über die Festlegung formaler Kriterien für die Mitgliedschaft lenkt. Ein Mitglied sollte in einem der Dörfer, einer der Städte oder Fondoms des Bezirks D___ aufgewachsen sein oder einer Abstammungslinie entstammen, die auf diesen Ort zurückgeht und mit ihm verbunden ist. Ein Mitglied muss außerdem Beiträge zahlen, verschiedene Anforderungen innerhalb des Vereins erfüllen und regelmäßig den Versammlungen beiwohnen. Die Grenzen der Zugehörigkeit – in Form der Vereinsmitgliedschaft – werden durch formale Kontenführung10 gewahrt, doch nicht jeder kann die Kriterien erfüllen. Bei dem hier beschriebenen Treffen konnten wir bereits einen Mann beobachten, der aufgrund seiner Zahlungsunfähigkeit um eine Ausnahme gebeten hat. Geld stellt nur ein Hindernis für den Erhalt der Vereinsmitgliedschaft dar. Mehrere meiner Interviewpartnerinnen berichteten über ihre Probleme, die sie als Mütter mit tragender Verantwortung für kleine Kinder haben, wenn es um die regelmäßige Anwesenheit bei Vereinstreffen geht. Sophie, eine dreißigjährige Master-Studentin, hat bereits ein kleines Kind und hofft, bald ein weiteres zu bekommen. Sie erklärt: „Ja, I belong to two [associations], but at times they have a monthly meeting I cannot make it to all the sessions… If – there are times – I have time I will do that, but if there are months that I canʼt, I wonʼt.“ Frauen, die an Wochenenden als Krankenschwestern, Altenpflegerinnen oder Zimmermädchen arbeiten, haben noch größere Schwierigkeiten mit der regelmäßigen Anwesenheit und geben ihre Mitgliedschaften in manchen Fällen sogar auf. Lola stellte fest, dass der zeitliche Aspekt und damit die Mitwirkung in Hometown Associations mit dem Lebensverlauf einer Mutter verknüpft sind, als sie anmerk-
10 Siehe Mugler (o.D.) zu Rechenschaftskulturen und Gephart (2006) zur Bedeutung von Geltungskulturen im Recht.
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te: „How do I put it? Some of them they now have grown up children and have enough time or a little bit of time that they can offer to do something for Grassland.“ Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft in Form einer Mitgliedschaft umfasst nicht alle kamerunischen Immigranten.11 Die Zitate von Sophie und Lola belegen, dass diese Form der Zugehörigkeit die Angreifbarsten außen vor lässt – diejenigen ohne Mittel zur Zahlung der Beiträge und diejenigen, deren Arbeit und familiäre Verpflichtungen ihnen wenig Zeit zur regelmäßigen Teilnahme lassen. Bei Letzteren handelt es sich aufgrund der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung vorwiegend um Frauen. Durch die geschlechterspezifische Trennung bei der Lohnarbeit finden sich Frauen häufig in Stellen im Dienstleistungssektor mit unregelmäßigen Arbeitszeiten und/oder Wochenendschichten wieder. Die geschlechterspezifische Teilung der Hausarbeit legt kamerunischen Frauen die Hauptverantwortung für die Kinderbetreuung und das Kochen auf. Die Auswirkung der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung auf die für das gesellschaftliche Engagement verfügbare Zeit spiegelt sich im geringen Anteil der Frauen (weniger als ein Drittel) unter den Mitgliedern der Association D___ wider. Meine Interviewpartnerinnen schilderten, dass Frauen in den gemischtgeschlechtlichen Hometown Associations der Bamiléké und anglophonen Grass-
11 Kamerunische Migranten, die den Schwerpunkt der hier beschriebenen Forschung darstellen, stammen aus den Regionen, in denen das Vereinsleben besonders stark ausgeprägt ist. Auch wenn die Mitgliedschaft in Hometown Associations in dieser heimischen Diaspora (Migranten innerhalb des kamerunischen Nationalstaats) eine moralische Verpflichtung darstellt, ist sie in Berlin häufig, aber nicht flächendeckend. In einer Umfrage unter kamerunischen Migranten in der Umgebung von Paris (Île-deFrance) stellt Kamdem fest, dass 55% der Kameruner eine Mitgliedschaft im Vereinsleben angeben; verhältnismäßig am stärksten vertreten sind unverheiratete Männer, gefolgt von verheirateten Männern und verheirateten Frauen (Kamdem 2007: 199). Die höheren Zahlen und größere Dichte an Kamerunern in Frankreich ermöglichen bei der Vereinsgründung eine bessere Differenzierung auf der Ebene von Stammesfürstentümern anstatt von Regionen. Dadurch ergeben sich Aktivitäten wie Versuche der Sprachenwiederbelebung (2007: 207), der Besuch von Fons und Adeligen, die das Lokalradio zur Bewerbung von Beiträgen zur Entwicklung der Heimatorte nutzen (2007: 218) und groß angelegte Gedenkfeiern und Treffen des Adels (2007: 242-247). Im Vergleich zu Berlin kann sich Paris aufgrund seines anderen Stadtmaßstabs (Glick Schiller und Çağlar 2011), seiner postkolonialen Beziehung zu Kamerun und der Größe seiner Immigrantenbevölkerung (Schlee 2011) eine breitere Differenzierung bei den Vereinsgrenzen und -aktivitäten erlauben.
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fielder in Berlin fast immer eine zahlenmäßige Minderheit darstellen (siehe auch Beloe o.D.). Schließlich können auch weitere Arten der Verletzlichkeit dazu beitragen, dass sich eine Frau in einer Menge nicht mehr wohlfühlt. Soʼnju, die wir in Kapitel Vier kennengelernt haben, besuchte zum ersten Mal ein Treffen der Association D___ als sie ohne legale Papiere in Deutschland lebte; ihr Freund, der zu diesem Zeitpunkt noch mit einer deutschen Staatsbürgerin verheiratet war, hatte sie angewiesen, zu Hause zu bleiben und den Ratschlägen anderer Migranten zu misstrauen. In diesem angespannten Zustand fühlte sich Soʼnju beim Vereinstreffen unwohl und unwillkommen und kam daher kein weiteres Mal. Gleichermaßen gab Rose, die wir bereits in Kapitel Eins kennengelernt haben, an, dass sie die meisten anderen Kameruner und insbesondere Hometown Associations mied, nachdem sie durch ihre gescheiterte Ehe vorübergehend in die Illegalität gerutscht war. Interessanterweise kann diese Form der Zugehörigkeit durch Mitgliedschaft auch die gefestigtsten kamerunischen Immigranten ausgrenzen. Hier liefern mir meine Gesprächspartner ein durchwachsenes Bild für Frauen und Männer. Auf dem Weg zu meinem ersten Treffen der Association D___ erklärte mir Marthes Ehemann Alain, dass der Verein 1998 von Studenten gegründet wurde und sowohl Studenten als auch Asylbewerber auf der Suche nach Anschluss noch immer die Mehrheit der Mitglieder ausmachen. Er erläuterte, dass zwar einige Berufstätige weiter im Verein bleiben, aber andere viel zu tun haben und andere Prioritäten setzen. Alain erwähnte, dass er sich zunehmend an einer Gruppe beteiligt, die Geld für die Université des Montagnes sammelt, eine private Hochschule für Gesundheitswissenschaft, die im Jahr 2000 in Bangangté eröffnet wurde. Dr. T., ein politischer Berater mit Wurzeln in Bangangté, den ich beim Besuch einer Forumsdiskussion zur sozialen Integration afrikanischer Migranten in Deutschland kennengelernt habe, wurde zum Beispiel Leiter einer großen, panafrikanischen, religiösen und sozialen Serviceorganisation. Die Ärztin Ntecheun, die seit zwei Jahrzehnten in Berlin lebt und vor kurzem ihre eigene Privatpraxis eröffnet hat, meinte zu Hometown Associations: „Es ist nie mein Ding gewesen.“ Sie bevorzugt die direkte Beteiligung an Projekten, wie zum Beispiel der Einrichtung eines Palastmuseums in dem Fondom, aus dem sie stammt. Agathe, eine Ingenieurin, erklärte, dass nicht berufstätige Frauen sowohl die Gesellschaft als auch die materiellen Vorteile des Vereins suchen, während sie mit einem gesicherten Arbeitsplatz keinen Bedarf für diese materiellen Leistungen hat. Stattdessen empfand Agathe die Vereinsmitgliedschaft als Verschwendung ihrer kostbarsten Ressource – Zeit. Iris, die Drehbuchautorin aus dem vorherigen Kapitel, führt wortgewandt die Unterschiede zwischen nicht länger Vereinen angehörigen, hochqualifizierten
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Berufstätigen und anderen kamerunischen Migranten auf, die weiterhin nach Verbindungen im Vereinsleben suchen: „But now when they come to Germany, why is [it that] some of the people donʼt belong to the association? Because they are self-sufficient. They think they are self-sufficient… They come to Europe, they are economically satisfied, they have health insurance, if they are sick, they go the hospital, they pay the hospital bills. They donʼt need this association. They donʼt need to feel so [much] belong[ing]. They are self-sufficient. So the association doesnʼt mean anything to them… When you come to Europe, your mentality changes. You start accepting that death is death. If I die, if nobody was there for me, I can be burned and my ashes can be thrown somewhere and I am gone and gone. So why should I go and hook myself in an association? Okay, if I am working I want to celebrate my childʼs birthday and I am capable of doing that alone without collecting some little-little contributions from the association.“
Bei der Erläuterung der Gründe, warum hochqualifizierte Selbstständige, die sich in Deutschland niedergelassen haben, das kamerunische Vereinsleben meiden könnten, betont Iris die Wichtigkeit der Vorteile einer Mitgliedschaft für andere – das Gefühl der Zugehörigkeit, die Rückführung einer Leiche oder die finanzielle Unterstützung für den Besuch einer Beerdigung in Kamerun und Beiträge zu lebenswichtigen Ereignissen. Iris fährt fort: „First the mentality in Africa or in Cameroon is that when you belong to an association when you have problems, financial problems, you can go to this association, borrow money from the coffer. When you have money, people will come and dance, will come and be with you and in the midst of this, there are people from this association. If you die… your corpse can not be left on the street, they will bury you. So that is why most people in Cameroon see these associations as something that is very, very important… if you die, they will bury you, if you donʼt have the money, they will even give some rest of the money to your family and your children to send them to school.“
Die Vorteile und Rechte einer formalen Mitgliedschaft ermutigen zur Mitgliedschaft, während sie rekursiv Gefühle der Zugehörigkeit fördern. Die Berücksichtigung der eigenen Stimme bei öffentlichen Beratungen auf den Versammlungen, im Online-Forum des Vereins und bei der Wahl von Vereinsbeauftragten ist eine Art der Ausübung von Zugehörigkeit. Gleichermaßen bestätigt die Inanspruchnahme von Geschenken, dass man sich unter Leuten befindet, die sich um einen kümmern und zu denen man gehört. Die Ausübung von Zugehörigkeit
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durch den Austausch von Meinungen, Ansprüchen und Gütern erzeugt Halt und Loyalität. Genau wie die Vereinsmitgliedschaft durch ein Rechenschaftssystem geregelt wird, ist auch die Zugehörigkeit durch die Inanspruchnahme von Leistungen durch Regeln begrenzt, die festlegen, was ein legitimer Anspruch ist. Vereinsmitglieder überprüfen häufig Krankenhauseinweisungen, indem sie die Kranken besuchen, bevor sie den Geldbeitrag des Vereins auszahlen. Sie bestätigen Geburten und Eheschließungen vor der Ablieferung von Geschenken. Und sie schränken den Kreis der Verwandten ein, für die Mitglieder Sterbegeld fordern können. Die am meisten geschätzte Form der Hilfe, die von Hometown Associations ausgeht, bezieht sich auf den Tod, wie es Iris im oben stehenden Zitat bereits angedeutet hat und von vielen meiner Interviewpartner bestätigt wurde. Sowohl die Bamiléké als auch ihre englischsprachigen Vettern aus dem Grasland halten an einer starken, moralischen Verpflichtung fest, die Verstorbenen körperlich und spirituell in das Land ihrer Ahnen zurückzubringen. Wenn ein kamerunischer Migrant in Deutschland verstirbt, hilft der Verein bei der Organisation und Finanzierung der Rückführung der Leiche nach Kamerun. Auf ähnliche Weise unterstützen die Vereine auch ihre Mitglieder, die den Verlust eines Elternteils erlitten haben. Sie halten von ihnen finanziell unterstützte Totenwachen in Berlin ab und helfen bei der Finanzierung der Reise des Hinterbliebenen nach Kamerun zur Beiwohnung der Beerdigung. Die Aussicht auf diese Vorteile motiviert Migranten zum Beitritt in diese Vereine. Sandra Star erzählt uns: „When I just came to Germany, something happened. I remember, one Cameroonian died. I decided that… this guy died, I said ‚no, it is not good to be alone.‘ When you are somewhere, look for where your people are. Because if something should happen tomorrow, you are sick somewhere and nobody knows where you are, or youʼre dying somewhere, this is not really good. Go to your people! Sometimes there is a problem, they will help you out.“
In der Tradition der Bamiléké sind die Kinder verpflichtet, bei der Beerdigung eines biologischen Elternteils anwesend zu sein. Um Migranten entgegenzukommen, konservieren Verwandte die Körper manchmal über Wochen und Monate in Leichenhallen. Seit dem letzten Jahrzehnt werden Begräbnis- und Totenfeiern – große Zeremonien, bei denen der Erbe der Öffentlichkeit vorgestellt wird und die in der Regel ein Jahr nach dem Tod abgehalten werden – zunehmend zu einem einzigen Ereignis verbunden, um die Teilnahme weltweit verstreuter Familienangehöriger zu erleichtern (Ndonko o.D.). In der Graslandregi-
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on sind verspätete Beerdigungen in Verbindung mit aufwendigen Totenfeiern sogar zu Demonstrationen des Erfolgs von Migranten geworden (Jindra 2011; Nyamnjoh und Rowlands 2013). Sie mobilisieren nicht nur materielle und emotionale Ressourcen der Hometown Association (Page 2007), sondern werden außerdem Teil eines größeren Dramas bezüglich der Demonstration von Privilegierung und der Politik der Zugehörigkeit (Geschiere 2005; Jua 2005). Unter kamerunischen Migranten in Berlin regeln Hometown Associations, welche Art von Verhältnis als gültige Eltern-Kind-Beziehung zur Inanspruchnahme von Beerdigungszuschüssen gilt. In ihren Bemühungen zur Einschränkung der Ausgaben und zur Verhinderung von Missbrauch definieren Hometown Associations Verwandtschaftsgrenzen neu. Zuschüsse werden nur gezahlt, um den Besuch des Begräbnisses eines biologischen Elternteils zu ermöglichen. Aufgrund der gemeinschaftlichen Kindererziehung in Kamerun kann ein Migrant auch von einem anderen Verwandten oder Pflegeeltern großgezogen worden sein und eine stärkere emotionale Verbundenheit zu seinen Pflegeeltern als zu seinen biologischen Eltern empfinden. Der Verein in Berlin kann diese Beziehungen nur schwer nachvollziehen. Da eine Person im Laufe ihres Lebens mehrere Pflegeeltern haben kann, besteht bei Zuwendungen für den Besuch von Beerdigungen der Pflegeeltern die Gefahr, dass die Kosten in ungeahnte Höhen schießen. Alain berichtete, dass er nicht an der Beerdigung des Bruders seiner Mutter teilnehmen konnte, der ihn großgezogen hatte und dessen Tod ihn sehr schmerzte, sein Verein ihn aber finanziell unterstützte, damit er die Totenfeier seines biologischen Vaters besuchen konnte. Die Buchführungsmethoden des Vereins tragen somit zu einer Neudefinition von Familie gemäß biologischer Abstammung und hin zum Modell der Kernfamilie bei. Durch die Verwendung eines routinemäßigen Vereinstreffens als Sprungbrett habe ich in diesem Abschnitt hervorgehoben, wie die organisatorischen Regelungen von Hometown Associations festlegen, wer ein Mitglied wird oder bleibt und was diese Mitgliedschaft im Hinblick auf die Pflichten und Vorteile der Zugehörigkeit mit sich bringt. Das monatliche Treffen der Association D___ zeigt jedoch, dass sich bei Vereinsversammlungen viel mehr ereignet als die formale Regelung von Zugehörigkeit. Wir erkennen performative Aspekte der Zugehörigkeit an der Art und Weise, wie die Mitglieder miteinander interagieren. Die Mitglieder üben Zugehörigkeit durch ihre Verwendung antiphonischer Begrüßungen in der Lokalsprache Medʉmbα, durch Gespräche auf kamerunischem Französisch und die Teilnahme an Reden während der Versammlung aus. Der Beitrag zu gegenseitigen Hilfsfonds und zu vom Verein gesponserten Entwicklungsprojekten ist ebenfalls eine Methode, über die Mitglieder sich selbst und anderen zeigen, dass sie Teil der moralischen Ökonomie dieser Gruppe sind.
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Auch informelle Strömungen der Interaktion, wie die Kommentierung von Vorgehensweisen, das Servieren von Speisen und das Hochnehmen von Kleinkindern anderer, tragen zur Geselligkeit des Gemeinschaftslebens bei. Aufbauend auf formalen Rechten und Pflichten und der öffentlichen Ausübung von Zugehörigkeit fördert diese Freude an der gemeinsam verbrachten Zeit die emotionale Bindung zum Heimatort und zu anderen Migranten. Diese Geselligkeit sowie ihre Beschränkungen beim Aufbau von Vertrauen waren bei der Jahresendfeier des Vereins besonders offensichtlich.
N ACH G ROSSMUTTERS R EZEPT : G ESELLIGKEIT UND FLÜCHTIGES V ERTRAUEN AUF EINER J AHRESENDFEIER In gespannter Erwartung wartete ich auf Alain und Marthe, die mich zur Jahresendfeier der Association D___ begleiten wollten. Anstatt uns durch die verschneiten Straßen zu kämpfen und die übliche Straßenbahn zum Treffpunkt des Vereins zu nehmen, fuhren wir zusammen mit dem Auto. Am vorherigen Tag hatte mir meine Forschungsassistentin Magni berichtet, was ich zu erwarten hatte: „People usually go to the end of year party to relax, eat and dance. I know about four such parties this weekend.“ Mitglieder bereiten sich auf das Ereignis vor, indem sie sowohl Unkosten in Kauf nehmen als auch die Zeit und Mühen aufwenden, die zum Nähren von Körper und Seele durch den Austausch selbst gekochter Speisen und die persönliche Danksagung durch kleine Geschenke erforderlich sind. Am Telefon hatten Marthe und Alain mir erzählt, dass einige Leute Speisen oder Getränke zur Jahresendfeier mitbringen. Auf einem früheren Treffen hatte ich Gespräche bezüglich Beiträgen zum Kauf von Weihnachtsgeschenken für die Kinder von Mitgliedern gehört. Alain behauptete, dass Eltern auch Geschenke für ihre eigenen Kinder kaufen, diese jedoch Vereinsbeauftragten übergeben, die sie dann austeilen, als kämen sie direkt vom Verein. Das hilft Kindern beim Aufbau einer positiven Beziehung zu einer kulturellen Gruppe, die über unmittelbare Verwandtschaftsverhältnisse hinausgeht. Vorbereitet mit einem eingepackten Geschenk, das Teil der Sammlung von Geschenken für die Kinder werden sollte, stieg ich ins Auto von Marthe und Alain. Marthe war erst vor einem Jahr nach Berlin gekommen und kurz vor der Geburt ihrer Tochter Yvonne zu Alain gezogen. Auf der Fahrt zu der Veranstaltung zupfte Marthe Yvonnes hübsches Mützchen zurecht, wischte ihr sanft den Speichel vom Mund und erzählte mir, dass sie sich auf ein Wiedersehen mit ihrer Freundin Solange auf der Feier freute, die Mitglied in der Association D___ war. Obwohl Marthe den Verein vorher noch nie besucht hatte, hatte sie sich durch
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Treffen in ihrer Nachbarschaft bereits mit Solange angefreundet. Sie hatten sich getroffen, während sie im lokalen Afro-Shop Taro und reife Kochbananen einkauften und ihre Babys an sonnigen Tagen im Kinderwagen spazieren fuhren. Solanges Sohn Elias war nur einen Monat jünger als die kleine Yvonne.
Abbildung 5.1: Ein Afro Shop oder Africa-Geschäft verkauft alle möglichen Produkte wie Lebensmittel, Kosmetik, Haarprodukte und medizinische Dinge, die mit der afrikanischen Heimat in Verbindung stehen. Afro Shops dienen als informelle Treffpunkte, wo Migrantenmütter Beobachtungen und Ratschläge darüber austauschen, wie es ist, als Afrikanerin in Berlin zu leben. Foto: Pamela Feldman-Savelsberg
Als wir auf der Veranstaltung ankamen, wurde diese Art der Schließung näherer Bekanntschaften durch die Knüpfung von Kontakten außerhalb des Rahmens von Vereinstreffen anhand der Sitzordnung auf der Jahresendfeier ersichtlich. Einen Moment lang blieb Marthe an der Tür stehen, hielt den Atem an und suchte den Raum ab; dann atmete sie aus, zog an meiner Hand und suchte sich durch einen Hindernisparcours aus Stühlen, Taschen und abgelegten Wintermänteln ihren Weg zu Solange. Ich saß mit den beiden Frauen und ihren Babys, die noch nicht ganz das Kleinkindalter erreicht hatten, in einer kleinen Traube aus Stühlen. Der Raum sah aus, als wäre er zuerst für eine Versammlung hergerichtet und die Stühle an den Seiten des Raums aufgestellt worden. Doch anstatt ordentlicher Reihen entlang der Wände befanden sich im gesamten Raum kleine Gruppen aus zusammengestellten Stühlen, hinter denen Mäntel, Hüte und Geschenke
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verstaut worden waren. Als ich diese Grüppchen passierte, hörte ich das Summen der an- und abschwellenden Unterhaltungen. Ich bekam mit, dass ein neuer Afro-Shop in der Nachbarschaft geöffnet hatte. Jemand berichtete von einer unangenehmen Begegnung mit einem Laborausbilder an der technischen Universität, während sich das Gespräch in einer anderen Gruppe um eine anstehende Reise nach Kamerun drehte. Die Leute grüßten und unterhielten sich auf Französisch und sprachen kurz an, wie sich ihre Leben außerhalb der monatlichen Vereinstreffen gelegentlich überschneiden. Wenn es weniger gemeinsame Erlebnisse gab, konnten die Leute immer noch über Fußballvereine diskutieren oder sich über die Auslage der Speisen äußern, die auf Tischen in der Mitte des Raums angerichtet worden waren. Ich hielt Baby Yvonne auf meinem Schoß und beugte mich vor, um mich am Gespräch von Marthe und Solange zu beteiligen. Mit gedämpfter Stimme informierte Marthe Solange über die neusten Entwicklungen einer inzwischen monatelang andauernden Geschichte über die Probleme beim Füttern von Yvonne. Seit Anfang November verweigerte Yvonne feste Nahrung. Marthe erzählte uns von ihrem Besuch in der Sprechstunde des Kinderarztes, der ihr versichert hatte, dass Yvonne gesund war und sich gut entwickelte. Laut seiner Aussage würde dies bei Babys manchmal vorkommen und sich von selbst wieder legen; nach kurzer Zeit essen die Babys wieder normal. Trotz Yvonnes Pausbacken und munterem Verhalten machte sich Marthe weiterhin Sorgen. Sie erzählte, dass sie sich Rat bei einigen Verwandten in Kamerun geholt hatte, deren Kind auch für einige Wochen feste Nahrung verweigert und anschließend wieder normal gegessen hatte. Doch Yvonne verweigerte feste Nahrung schon länger als ihr kamerunischer Cousin. Durch ein Schnalzen der Zunge äußerte Solange ihr Verständnis für Marthes Besorgnis. Zwei andere Mütter gesellten sich zu unserer kleinen Gruppe. Ihre warmen Lächeln zur Begrüßung wurden von Händeschütteln begleitet, das formell genug war, um darauf hinzudeuten, dass es sich um flüchtige Bekannte handelte – Frauen, die nur durch ihre gemeinsame Zugehörigkeit zur Hometown Association bekannt sind. Beinahe mitten im Satz wechselte Marthe das Thema. Sie und Solange richteten sich auf, zogen an Yvonnes Strickpullover und erzählten den Neuankömmlingen von den Tipps, die sie gerade über die Suche nach qualitativ guter aber günstiger Kinderbekleidung ausgetauscht hatten. Solange berichtete uns von ihrem Wunsch, dass ihr strampelnder Sohn Elias gut angezogen ist, wenn sie und ihr Ehemann nächste Woche zu ihrer Familie in der großen Hafenstadt Douala reisen würden, um das Baby zu präsentieren. Würde sie das Baby auch au village bringen, nach Bangangté, um die rote Erde und die blaugrünen Hügel seiner Vorfahren zu sehen? Nein, antwortete Solange, sie reist nur noch
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selten au village. Beide Großeltern sind schon vor langer Zeit verstorben und die Schwester ihrer Großmutter, die für sie wie eine Großmutter gewesen war, ist ebenfalls tot. Anstatt zu Hause zu leben, wohnen Solanges Eltern schon seit Jahrzehnten zufrieden in Douala. Daher gibt es niemanden, den sie auf dem Land besuchen könnte. Doch den koki, einen leuchtend gelben, gedämpften Pudding, den sie für das Mitbringbuffet der Jahresendfeier aus Augenbohnen und Palmöl gekocht hat, hat sie nach dem Rezept ihrer Großmutter zubereitet. „Ahh!“ ertönte ein Chor der Anerkennung von den nickenden, lächelnden Gesichtern. Marthe nickte fröhlich mit, es war keine Spur mehr ihres vorhin noch besorgten Ausdrucks zu erkennen. Innerhalb weniger Minuten hatte die Definition dieser Situation von vertrauensvoller Offenheit hinter vorgehaltener Hand zu offener Gesprächigkeit und weiter zur Bezugnahme auf Ahnenverbindungen gewechselt. Durch die Anpassung ihrer Selbstdarstellung an ein neues Publikum (Goffman 1959) zeigten Marthe und Solange, dass es sich bei der Jahresendfeier – und dem diasporischen Gemeinschaftsleben im Allgemeinen – um einen Schauplatz handelt, der gleichzeitig durch Geselligkeit und Zurückhaltung gekennzeichnet ist. Das erinnert an Lolas Äußerung zu Beginn dieses Kapitels, in der sie die Kommunikationsmuster auf Treffen von Hometown Associations beschreibt: „No, confiding [about reproductive or family problems], no. We can exchange matters about school, daily activities, just sit and think about some things in Africa.“ Die formelle Interaktion auf monatlichen Treffen, bei der Gespräche über Mitgliedsbeiträge und -pflichten manchmal zu Auseinandersetzungen führen, verlangt keine Offenlegung persönlicher Probleme, außer der allgemein bekannten Mittelknappheit. Informelle Einwürfe bezüglich der geschlechterspezifischen Verhältnisse bei formellen Verfahren lassen sich eher als Imponiergehabe und Wortgeplänkel beschreiben und weniger als Bekenntnisse. Im Gegensatz dazu schuf die weniger formale Umgebung der Jahresendfeier eine trügerische Mischung aus Intimität und Distanz. Die Mitglieder auf dieser Feier hatten eindeutig ihren Spaß. Weder offene Konflikte noch Effekthascherei unterbrachen das Summen mehrerer paralleler Gespräche. Kleinkinder und etwas ältere Kinder huschten von Gruppe zu Gruppe und unterbrachen ihre Fangspiele nur, um sich eine Umarmung abzuholen oder einen Moment auf dem Schoß eines Elternteils zu verbringen. Eine kurze Unterbrechung durch Reden verpasste der allgemein guten Laune keinen Dämpfer. Der Vorsitzende stand auf und rief wiederholt „Ngó Ndé, Ngó Ndé“, bis er die Aufmerksamkeit der Gruppe hatte. Zuerst hielten er und dann ein anderer männlicher Gast kurze Reden auf Französisch über gegenseitige Unterstützung und Verantwortung, während ihre Botschaft durch Rufe „Cʼest ça!“ und Applaus aus
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dem Publikum bekräftigt wurde. Ein dritter Mann hielt eine Rede auf Medᵾmbα, der Sprache von Bangangté, und erhielt währenddessen höfliche Aufmerksamkeit. Ich war mir nicht sicher, ob alle Erwachsenen ihn verstanden und fragte Solange nach den Kindern. „Non, les enfants ne comprennent pas Medᵾmbα. Ils sont nés ici, alors!“ Sobald die Reden vorbei waren, nahmen die Leute ihre Gespräche wieder auf oder füllten sich erneut ihre Teller am Buffet. Das gemeinsame Essen und Trinken förderte das Gefühl des Beisammenseins. Die Teilnehmer hatten sich redlich bemüht, Gerichte zu finden und zuzubereiten, die Erinnerungen an den Heimatort wachriefen: Solanges koki, ein von jemand anderem mitgebrachter egusi pudding (aus gemahlenen Kürbiskernen), ein Teller voller reifer, gekochter Kochbananen, ein großer Eintopf aus Bitterspinat und Rindfleisch. Im Rahmen ihrer Interpretation der Rolle der Ernährung im Gemeinschaftsleben kamerunischer Migranten in Kapstadt, Südafrika, deuten Nyamnjoh und Rowlands (2013) darauf hin, dass die Bereitstellung und der gemeinsame Verzehr von Essen und Getränken ein sittlicher Akt des „good eating“ (gutes Speisen) ist, der nährt und vereint (njʉ in Banganté, dzie in Mankon).12 Rituelle Anlässe mit gemeinsamen Mahlzeiten, die von Migrantenvereinen organisiert werden, „reiterate migrantsʼ sense of belonging and self-consciousness, [… and] also depict them as people firmly attached to their culture“ (2013: 145). Durch die Zubereitung des Rezepts ihrer Großmutter rief Solange Erinnerungen an Kindheitsbesuche zu Hause im Dorf wach und hielt eine generationsübergreifende Verbindung aufrecht, die diese junge Migranten-Mutter heute mit einem Vorfahren verknüpft. Das Teilen des koki mit den anderen Mitgliedern ihres Vereins nährte sie in dieser Verbindung durch die Abstammung von gemeinsamen kulturellen Wurzeln. Der koki schmeckte und fühlte sich authentisch an. Zusammen Großmutters Rezept zu essen wurde zu einer gemeinsamen Demonstration von Zugehörigkeit. Da die Erlebnisse kamerunischer Migranten in Berlin ihre Selbstwahrnehmung nur selten bestätigen, ist diese gemeinsame Ausübung von Zugehörigkeit umso wertvoller. Nyamnjoh und Rowlands beschreiben dies
12 Das good eating (gutes Speisen) gekochter Nahrungsmittel, die problemlos die Kehle hinunter gleiten steht im Gegensatz zum Essen, das das Beißen und Kauen mit scharfen Zähnen erfordert und mit fɛd in Bangangté und kefala in Mankon (Bamenda) bezeichnet wird. Fɛd kann für den schnellen Verzehr von geröstetem Mais oder Fleisch zwischendurch verwendet werden, wenn die Leute sich auf entfernt gelegenen Bauernhöfen befinden, bezieht sich aber häufiger auf den kannibalistischen Verzehr von Hexen. Statt Eintracht zu schaffen, ist Essen in der Bedeutung von fɛd – ob alleine oder in famlα’ genannten Hexenzirkeln – der Inbegriff antisozialer Gier (FeldmanSavelsberg 1999: 124).
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als „‚escape‘ by withdrawing the conditions of life to within the ‚home‘“, eine Domestizierung und Privatisierung der „cultivation of life as everyday practice […] within settings [such as associational meetings] that are treated in some sense as ‚home‘“ (2013: 141). Doch die Hometown Associations in Berlin sind nicht wirklich die Heimat und schaffen auch trotz der alltäglichen Bezeichnung als „die kamerunische Community“ keine nachhaltigen, persönlichen Gemeinschaften. Auch wenn die gemeinsame Mitgliedschaft in der Hometown Association zu neuen Verbindungen führen oder bestehende Beziehungen zwischen kamerunischen MigrantenMüttern vertiefen kann, treffen sich die meisten Mitglieder außerhalb der monatlichen Versammlungen wenn überhaupt nur gelegentlich.13 Marthes Ehemann Alain erklärte: „Le fait de se réunir dans une association, du même village, ne veut pas dire que les membres ont vraiment entre eux des liens individuels.“ Angespannt durch die ständige Erinnerung an ihre Fremdheit sehnten sich meine Gesprächspartner nach der Vertrautheit von gemeinsamen Mahlzeiten und Gesprächen auf Veranstaltungen von Hometown Associations und nahmen diese bereitwillig an. Da der Kontakt jedoch relativ unregelmäßig stattfindet, rufen diese Situationen kein Vertrauen und keine Intimität für vertrauliche Gespräche über das Privatleben hervor, einschließlich reproduktiver und gesundheitlicher Angelegenheiten. Henri, Journalist und Vorsitzender einer anderen Hometown Association der Bamiléké, setzt Vertrauen nicht dem Erlebnis von Heimat, sondern einer Insel der Heimat entgegen: „People go to their meetings to have an island of home, to be comfortable and laugh with others. But trust is a different matter. We rarely talk about our private lives at meetings.“ Auf der hier beschriebenen Jahresendfeier vertraute Marthe uns mit gedämpfter Stimme in einer kleinen Gruppe aus drei Personen mit zusammengesteckten Köpfen einen Aspekt ihres Privatlebens an – die Probleme bei der Fütterung ihres Kleinkinds. Als sich zwei weniger vertraute Bekannte zu unserem kleinen Kreis gesellten, wechselten Marthe und Solange zusammen schnell zu einem neutralen Gesprächsthema. Die zurückhaltende Gemeinschaft des Vereinslebens begrenzt die Möglichkeiten von Müttern, andere Migranten im Fall eines reproduktiven, gesundheitlichen Problems um Rat, moralische Unterstützung und sogar materielle oder praktische Hilfe zu bitten. Diese fürsorglichen Tätigkeiten ziehen Menschen zu spontanen, fallspezifischen „therapy management groups“ zusammen, die eine zentrale Rolle für die soziale Dynamik von Gesundheit und Krankheit spielen,
13 Kohlhagen (2006b) stellt das Gleiche bei Mitgliedschaften in Bassa Hometown Associations und Kamerunern in Berlin fest.
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insbesondere in afrikanischen Gesellschaften (Janzen 1978, 1987). Für Maria Mar, deren Liebesgeschichte wir in Kapitel Vier erfahren haben, sind die Treffen von Hometown Associations Schauplätze, an denen Vorsicht geboten ist, die aber auch Gelegenheiten zur Beobachtung von Leuten bieten, die im Laufe der Zeit freundliche Unterstützung leisten können, wenn man mit einem entscheidenden Ereignis oder einer gesundheitlichen Krise konfrontiert wird. Da sie aufgrund ihrer abgebrochenen Schwangerschaft durch eine medizinisch induzierte Abtreibung unter Zweifeln litt, wählte sie Freundinnen aus ihrer Hometown Association und ihrer kleinen njangi (Tontine [französisch] oder Spar- und Kreditgruppe) aus, die sie nach Empfehlungen für eine neue Geburtshelferin fragte. Der Ratschlag dieser Freundinnen und insbesondere ihre neue Ärztin und die Hebamme im Krankenhaus vermittelten Maria das Wissen und das Vertrauen, um drei weitere Schwangerschaften und einen Anfall von Wochenbettdepression zu überstehen. Doch warum vermeiden es die meisten Frauen Privatangelegenheiten unter Vereinsmitgliedern und anderen Kontakten über ortsbezogene Organisationen zu besprechen? Einerseits beeinflusst die Größe der kamerunischen Bevölkerung in Berlin sowohl die Zusammensetzung als auch die Interaktionen unter Vereinsmitgliedern. Hometown Associations in Berlin bringen Menschen zusammen, die aus einer ganzen Region (entspricht einem Bundesland) in Kamerun stammen und stehen im Gegensatz zu den Hometown Associations in kamerunischen Städten wie Yaoundé, in denen sich Mitglieder aus einem Dorf oder einem Stadtteil zusammenfinden. Da die meisten transnationalen Migranten aus städtischen Zentren kommen, haben sie gegebenenfalls nie in ihrer Herkunftsregion gelebt oder sich vor ihrer Migration nach Deutschland gekannt. Dazu kommt die geografische Verbreitung der Kameruner in Berlin, die eine Aufrechterhaltung des regelmäßigen, täglichen Kontakts mit anderen Vereinsmitgliedern erschwert. Im Gegensatz zu Hometown Associations in kamerunischen Städten mit großen Bamiléké-Diaspora, wie zum Beispiel Yaoundé und Douala, kann Berlin keine geschlechtlich getrennten Vereine fördern; das verleiht der öffentlichen Interaktion von Männern und Frauen eine Ebene der Wachsamkeit und beide Geschlechter fühlen sich vom jeweils anderen beobachtet. Demografische Merkmale der diasporischen Bevölkerung bedeuten daher, dass Vereine den Mitgliedern eher den Anschluss durch Bekanntschaften als intime Vertrauensgemeinschaften bieten. Aufbauend auf Evans-Pritchards Untersuchung der strukturellen Distanz bei den Hexereianklagen der Zande (1976) lässt sich dieser Umstand so interpretieren, dass sich Vereinsmitglieder nahe genug stehen, um im Leben von anderen eine Rolle zu spielen, aber nicht nahe genug, um sich einander anzuvertrauen.
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Aktuelle und im Gedächtnis gebliebene Verletzlichkeiten laufen zusammen, um sich zu einem selbst wahrgenommenen Bamiléké-Charakterzug der Vorsicht bei der Offenlegung von Privatangelegenheiten zu entwickeln. In Kamerun wird Kindern beigebracht, sich nicht an Gerüchten zu beteiligen und anderen nur die allernötigsten Informationen über das Familienleben mitzuteilen. Die Angst vor Hexerei und die historischen Erlebnisse der Unterdrückung durch die französische Kolonialverwaltung und die kamerunische Geheimpolizei ermuntern diese kollektive, erlernte Umsicht (Feldman-Savelsberg, Ndonko und Yang 2005). Ntecheun schilderte mir, wie ihre Mutter und eine ältere Freundin bei einem Besuch in Berlin diese Erinnerungen verkörperten, als sie in ihren Stühlen kauerten und miteinander flüsterten, wenn sie sich der beängstigenden Vorfälle aus ihrer Kindheit während des Guerillakriegs entsannen, der zwischen der UPC (Union des Populations Camerounaises) und den französischen Streitkräften in den späten 1950ern ausgefochten worden war. Auf ähnliche Weise erklärte ein männliches Mitglied der Association D___ sein méfiance (Misstrauen) gegenüber meiner Rolle als außenstehende Forscherin und meinte „enfin, nous sommes des juifs noirs“, womit er gleichzeitig auf kamerunische Stereotypen14 und die symbolische Bedeutung der jüdischen Opferrolle im geschichtsträchtigen Berlin anspielte. Ariane bezog seinen Kommentar später auf die Verletzlichkeit, die Mitglieder bezüglich ihres Immigrantenstatus empfanden. „Parce que vous savez, ici déjà il y a souvent eu des cas quʼon a pas su expliquer. Parfois un Camerounais qui... est peut-être à une fête ou chez un ami ou même parfois chez lui, et puis subitement la police vient, cʼest un contrôle banal, et puis on apprend, on prend la personne, on la rapatrie. Cʼest une façon de dire, il y a des… événements qui sont souvent arrivés sans quʼon ne puisse expliquer la provenance. Donc cʼest une méfiance.“
Immigranten wissen, dass die Lebensumstände es nicht einfach machen, über die unsichtbare Grenze zwischen legalem und illegalem Aufenthalt hin und her zu reisen. Eine Änderung des Familienstands, das Sorgerecht für ein Kind, die Anoder Abmeldung an einer Schule oder Universität oder die verspätete Verlängerung eines Visums können tiefgreifende Auswirkungen auf die Möglichkeit haben, sich ein Leben aufzubauen oder eine Familie zu unterhalten. Darüber hinaus
14 Kamerunische Stereotypen von Bamiléké als die Juden oder Igbo von Kamerun greifen auf vermeintliche Charakterzüge wie hohe Leistungsorientierung, aggressives Unternehmertum, geografische Mobilität, starke familiäre und ethnische Solidarität und eine Geschichte der Massenopfer und Ausgrenzung zurück.
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verhindert eine unausgesprochene Regel, dass Migranten anderen Verwandten zu Hause in Kamerun von dieser Verletzlichkeit berichten (Alpes 2011). Ist man sich nicht sicher, wie Informationen über das eigene Privatleben verwendet und weitergegeben werden – vor allem von Personen, die einem nahe genug stehen, um Klatsch unter den Freunden von Freunden zu verbreiten und daher von Bedeutung sind –, reicht eine ortsbezogene Identifizierung nicht aus, um das Vertrauen aufzubauen, sich anderen Mitgliedern gegenüber zu öffnen oder sie in eine therapy management group aufzunehmen15. Ironischerweise bildet die gemeinsame ortsbezogene Identifizierung aufgrund der Angst von Migranten vor transnationalen Klatschnetzwerken und ihren simultanen Auswirkungen auf die Verbindungen zur Verwandtschaft zu Hause sowie auf die Beziehungen zu anderen Migranten in Berlin manchmal die Grundlage für Misstrauen. Wie bei lateinamerikanischen Migranten in Berlin (Huschke 2013) und madagassischen Migranten in Südfrankreich (Cole 2014: 281, 283) kann sich eine hochgeschätzte Freundschaft leicht zu Sabotage wandeln. Auch wenn diese Fälle selten sind, fördert das Wissen um ihr mögliches Eintreten Vorsicht oder prudence, wie Kameruner es mir gegenüber häufig erwähnten. Das Zögern kamerunischer Migranten persönliche Informationen preiszugeben, findet sich sowohl in ortsbezogenen, religiösen Gemeinschaften als auch in Hometown Associations. Die Mitglieder einer kamerunischen Pfingstkirche, die ich besucht hatte, bemühten sich um Verbundenheit untereinander, aber Gespräche über Gott verdrängten vertrauliche Mitteilungen und Bitten um Hilfe angesichts reproduktiver Probleme, ja wandten diese sogar ab. Lily, die Mutter von drei Kindern, die wir erstmals in Kapitel Eins kennengelernt haben, gründete zusammen mit ihrem Ehemann eine kirchlich basierte Spar- und Kreditgruppe mit anderen Bamiléké, die ebenfalls Anhänger der Pfingstkirche sind. Das gemeinsame Gebet und die „Verbreitung der Worte Gottes“ bereiten Lily ein Gefühl der Verbundenheit mit den anderen Vereinsmitgliedern. Trotzdem handelt es sich um eine zurückhaltende Verbundenheit, über die sich Lily keine therapy manager holt. Wie Lily mir erzählte, verbreiten sich Nachrichten über Privatangelegenheiten in der kamerunischen Gemeinschaft schnell und unkontrollierbar: „Surtout quand en Europe cʼest difficile de se cacher. Je prends un exemple: Quand je vois un Camerounais quelque part, forcement quelquʼun connait ton histoire, ce que tu
15 Auf Grundlage ähnlicher Beobachtungen des Strebens nach Gesundheit unter papierlosen, lateinamerikanischen Migranten in Berlin stellt Huschke (2013) Granovetters „strength of weak ties“ (1973) auf den Kopf, um den Mangel an Solidarität unter Angehörigen der gleichen Ethnie als „weakness of strong ties“ zu bezeichnen.
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fais. Soit tu fais du bien ou tu fais pas du bien. Tu te comportes bien ou mal. Les gens sont au courant… surtout quand tu fréquentes certains groups. Forcement. Et puis il y a des gens qui sont là, on dirait quʼils sont là seulement pour ça, à chercher les informations.“
Die Mobilisierung eines sozialen Netzwerks zur Inanspruchnahme von Unterstützung bei einer Schwangerschaft, einer anstehenden Geburt oder einem anderen Familienproblem erfordert, dass eine Frau sich selbst offenbart und damit Verletzlichkeit riskiert. Bei Migranten geht die emotionale Dimension, wenn sie jemandem persönliche Informationen über sich selbst anvertrauen, mit möglichen rechtlichen Konsequenzen und Auswirkungen auf den Ruf einher (und wird dadurch häufig noch verstärkt). Rose, die ebenfalls in Kapitel Eins vorgestellt wurde, war durch die Zeit ihres Aufenthalts ohne Papiere im Anschluss an ihre zerbrochene Ehe sowie durch ihren ruinierten Ruf bei ihren Eltern und ehemals angeheirateten Verwandten in Kamerun traumatisiert. Als ich sie nach Vereinsmitgliedschaften und beiläufigen Kontakten zu anderen Kamerunern fragte, behauptete Rose, dass sie in der kamerunischen oder Bamiléké-Gemeinschaft „niemanden kennt“ und „das auch nicht möchte“. Stattdessen verließ sie sich auf Ratschläge einer deutschen Gemeinschaft und kirchlich basierter Initiativen, die soziale und medizinische Unterstützung für papierlose Migranten und Frauen in Not anbieten. Rose erklärte, dass sie diese Initiativen aufgrund ihrer Professionalität aufsuchte und auch weil ihre Unabhängigkeit von ortsbezogener Identifizierung ihr mehr Privatsphäre bot. Ortsbezogene Hometown Associations und religiöse Vereine bieten geregelte Unterstützung für bestimmte, vorgeschriebene Lebensereignisse (Geburt, Heirat) und Krisen (Krankenhauseinweisung, Tod). Bei anderen Sorgen, zum Beispiel Fruchtbarkeitsproblemen, einer Abtreibung oder chronischen Krankheiten wenden sich einige Frauen neuen Formen der Sozialität zu. In Selbsthilfegruppen (wie der Organisation für von HIV/AIDS betroffene Menschen, für die ich ehrenamtlich arbeitete) lernen Frauen beispielweise die Notwendigkeit, ihre Probleme in Worte zu fassen und sie einer Gruppe von Leidensgenossen mitzuteilen. Léonie, eine in Afrika geborene Sozialarbeiterin, erzählte mir, dass die meisten afrikanischen Migrantinnen Selbsthilfegruppen aufsuchen, die von Migranten gegründet wurden, die nicht aus dem gleichen Herkunftsland stammen (siehe auch Nzimegne-Gölz 2002: 21-22). Eine andere Sozialarbeiterin, Frau Ehrlich, die an einem Familienplanungszentrum in einem stark von Migranten geprägten Stadtviertel arbeitet, mutmaßte, warum dies so ist. Sie erläuterte, dass ihre kamerunischen Kunden
200 | M IGRANTEN, R ECHT UND I DENTITÄT „viel kontrollierter sind und deshalb [gibt es] auch dieses Misstrauen, denk ich, auch untereinander. Vielleicht haben sie Angst, dass die Familie in Kamerun das mitkriegt, dass sie hier gar nicht richtig studieren. Was machen sie überhaupt hier? Ne, da gibt es ja so große… [lacht] ein großes [Klatsch] Netzwerk, nehme ich an… Wenn sie zu einem bestimmten Zweck hier sind und ihre Eltern warten natürlich auf sie… ‚oh Gott, erfülle ich die Erwartungen?! Ich bin extra nach Europa gekommen und aus mir soll was werden.‘ Und die Angst vor dem Scheitern… Kameruner sind eben hier die Akademiker.“
Trotz der vielen Gründe zur Vorsicht innerhalb eines Netzwerks aus Personen, die einem nahe genug stehen, um Gerüchte verbreiten zu können, aber nicht nahe genug, um sich ihnen anzuvertrauen, lassen Migranten ihr Misstrauen hinter sich und streben weiterhin nach Geselligkeit in ihrer diasporischen Gemeinschaft. Zusätzlich zu Jahresendfeiern tragen Hometown Associations auf verschiedenste Art zu Anlässen bei, die die Community zusammen bringen. Diese besonderen Momente der Geselligkeit betreffen häufig die Regeneration von Leben und Lebensarten, von der Geburt über die Sozialisation von Kindern bis zum Umgang mit Tod und Trauer.
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WITH US “:
Born House, die Feier der Geburt eines Kindes, bietet einen Anlass, um Wege des Zusammenlebens zu üben und gegenseitiges Wohlergehen zu fördern. Hometown Associations bilden ein Publikum für Born-House-Feiern, steuern Reden, Segnungen und Tänze bei und überreichen Eltern und Kind ein beträchtliches Geschenk. Sie ermöglichen Müttern den Zugang zu Gemeinschaftsressourcen und bieten Kindern die Gelegenheit, sich vor dem Hintergrund der diasporischen Gemeinschaft ihrer Eltern zu vergnügen. Da sie um mein Interesse am gesellschaftlichen Umgang mit reproduktiven Ereignissen wusste, bot Magni mir an, mich zu einer Born-House-Feier mitzunehmen, die von einem Paar aus ihrer Hometown Association zu Ehren der Geburt ihrer Tochter abgehalten wurde. Der Verein beteiligte sich offiziell an der Veranstaltung – er schickte eine Delegation ehemaliger und derzeitiger Vereinsbeauftragter, hielt Reden und sprach Segen aus, überreichte ein großes, verpacktes Geschenk sowie eine Bargeldspende und führte einen traditionellen Tanz zum Getrommel zweier Mitglieder auf. Magni sollte selbst tanzen und ich wollte unbedingt zuschauen. Auf unserem Weg zu der Veranstaltung konnte ich den
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gemusterten kamerunischen Stoff des Umschlagtuchs sehen, das aus ihrer Handtasche herausragte und als ihr Kostüm dienen würde. Um 21:00 Uhr wehte uns eine Böe des Novemberwinds durch die Tür der gemieteten Halle. Der Eingangsbereich pulsierte vor Geräuschen, Gerüchen und Anblicken. Eingespielte Musik mischte sich mit aufgeregten Begrüßungsrufen „How?“ „Long time!“ Neuankömmlinge zogen ihre Winterbekleidung aus und enthüllten farbenfrohe Anzüge und Kleider, vorwiegend im europäischen Stil. Einige Frauen wechselten ihr Schuhwerk und stiegen von Stiefeln oder flachen Schuhen auf High Heels um. Eine lange Reihe von mit Essen beladenen Tischen auf der linken und eine gut ausgestattete Bar auf der rechten Seite bildeten einen Gang, durch den sich die ankommenden Gäste drängten, um den großen, offenen Bereich der Halle zu betreten. Eine silberne Diskokugel warf reflektierte Lichtblitze über die Tanzfläche. Ungefähr 20 Kinder im Alter von ungefähr 14 Monaten bis 10 Jahren tanzten zur Musik kamerunischer Bands mit Namen wie Petit Pays et les Sans-Visas und X-Maleya, nigerianischer Musiker, wie dem R&B Duo P-Square oder der Gruppe Flavour-Shake oder auch zur immer populären kongolesischen Musik. Die Kleinen waren von Kopf bis Fuß wie kleine Erwachsene gekleidet und trugen Anzug und Krawatte oder übergroße, gerüschte Partykleidchen. Die Kinder waren bereits seit 17:00 Uhr in der Halle und feierten eine auf die Kinder ausgerichtete Geburtstagsparty im Vorfeld der Born-HouseFeierlichkeiten der Erwachsenen. Princess, zu deren Ehren die Feierlichkeiten abgehalten wurde, schien ihren ersten Geburtstag zu genießen und hüpfte auf der Stelle auf und ab, um zu tanzen, bevor sie sich in die Arme eines der älteren Mädchen warf. Auch ein paar Eltern liefen auf der Tanzfläche herum und nahmen gelegentlich ein übermüdetes Kleinkind hoch, das eine Pause vom Tanzen brauchte. Die meisten der Erwachsenen waren noch relative jung und befanden sich in den Zwanzigern oder frühen Dreißigern. Sie saßen an einer Reihe kleinerer Tische, die rechts von der Bar und mit Blickrichtung zur Tanzfläche aufgestellt worden waren und liefen ab und zu herum, um sich mit Leuten an anderen Tischen zu unterhalten. Während wir uns umsahen, andere begrüßten und gegrüßt wurden, bemerkten Magni und ich überlappende Verbindungen unter den Anwesenden auf der Born-House-Feier. Da Magnis Hometown Association die Veranstaltung mit sponserte, waren wir nicht überrascht, die ehemaligen und gegenwärtigen Vereinsvorsitzenden und ihre Frauen zu sehen. Etwas später kam auch Magnis Cousin – der Vizevorsitzende des Vereins und Trommler seiner Tanzgruppe – nach seiner Arbeit in einem großen, lokalen Krankenhaus auf der Feier an. Doch nicht alle Anwesenden waren Mitglieder in Magnis Verein oder stammten aus ihrem Heimatdorf. Wir sprachen kurz mit Barbara, einer der Inter-
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viewten, die wir als enge Freundin von Bih und aufmerksame Beobachterin von subtil rassistischen Botschaften in der Kita kennengelernt haben. Ich erkannte drei Mitglieder der ethnisch gemischten kamerunischen Pfingstkirche, die ich mit Lily besucht hatte. Und Magni kannte die angeworbene kongolesische Band, die früher schon auf ähnlichen Veranstaltungen gespielt hatte. Magni, Barbara, Shelly (die Frau des letzten Vereinsvorsitzenden) und ich bemühten uns, trotz der lauten Musik ein Gespräch zu führen. Wir knabberten an den Krabbenchips und kichererbsengroßen Plätzchen aus gebratenem Teig, die auf jedem Tisch standen und verglichen in Berlin stattfindende Born-HouseFeiern mit denen, die in den englischsprachigen Regionen von Kamerun sowie unter den französischsprechenden Bamiléké abgehalten werden. Shelly erklärte, dass eine Born-House-Feier in Kamerun grundsätzlich im Haus der Mutter stattfindet. Die Mutter lädt Verwandte, Freunde und andere Gratulanten ein, damit sie das neue Baby sehen und halten können. Das Ereignis findet häufig statt, nachdem das Baby seinen zweiten Lebensmonat vollendet hat. An diesem Punkt wird davon ausgegangen, dass Mutter und Kind nicht länger empfänglich für die Gefahren von Menschenmengen sind.16 Ich erinnerte mich, dass nach der Tradition der Bamiléké die Nabelschnur des Kindes kurz nach der Geburt unter einem Kochbananenbaum begraben wird. Wenn das Kind der Öffentlichkeit vorgestellt wird, isst die Jeunes Mères genannte Versammlung von Frauen ein Gericht aus Kochbananen, die von diesem Baum geerntet wurden. „Oh yes“, warf Barbara ein, auch die anglophonen Kameruner haben diesen Brauch und das Gericht nennt sich „born house plantains“ (Nyamnjoh und Rowlands 2013: 142; Angu o.D.). Es wird mit Bitterspinat und viel leuchtend rotem Palmöl zubereitet und ist voller Symbole, die das Kind an das Land seiner Ahnen binden (durch die Kochbananen, die in mit der eigenen Nabelschnur des Babys gedüngter Erde herangewachsen sind) und an das Geburtserlebnis der Mutter (durch die Assoziation von rotem Palmöl mit dem Blut der Geburt und durch die Verwendung von Palmöl von traditionellen Hebammen zum Einreiben des Geburtskanals). „The old grandmothers know these things“, sagte man mir, „but we just strain to remember bits and pieces. We eat these
16 In den 1980ern in Bangangté und sogar in den 1990er und frühen 2000er Jahren in Yaoundé gehörten zu diesen eingebildeten Gefahren okkulte Übergriffe neidischer Hexen sowie die Anfälligkeit für Krankheiten. Keiner meiner Interviewpartner in Berlin sprach über Hexerei, stattdessen wurden nur Tradition und das biomedizinische Risiko von Infektionen unter Neugeborenen mit noch unterentwickelten Immunsystemen genannt.
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things, and know they mean ‚Born House‘, but we donʼt know all the details or background.“ Tatsächlich schlagen einige meiner Interviewpartner, einschließlich der an diesem Abend am Tisch Anwesenden, häufig genauere Informationen zu kamerunischen Ritualen in Blogs nach. Eine Bloggerin beschrieb eine Born-HouseFeier, die sie gerade in ihrer Stadt im anglophonen Kamerun besucht hatte: „The baby is first passed around for everyone to place a hand as a sign of blessing, and to have a close look at the baby. Then salt and oil is passed around for everyone to have a taste while wishing, love, peace and prosperity to the babyʼs family. Thereafter, there will be singing and dancing in jubilation of the childʼs life, in thanksgiving for the childʼs parents and in hope for an outstanding future. The well prepared pot of plantain is then shared to everyone present, every single person present must [have a] taste of the food as a sign of a prosperous life for the baby. Most of the talking is done by elderly women of the family with experience in child birth.“ (Ndzelen o.D.)
Salz und Öl sind wesentliche Bestandteile beim Kochen und stellen Zutaten dar, die der Ehemann für seine Frau besorgen muss, damit der Haushalt wachsen kann. Wir haben auch bereits (in Kapitel Vier) festgestellt, dass das Herumreichen des Babys, damit es von den Gratulanten gehalten und sogar gebadet wird, eine frühe Methode ist, um das Neugeborene in die Gemeinschaft einzuführen. Zu den älteren Frauen, die bei einer Born-House-Feier in Kamerun anwesend sind, gehört häufig die Großmutter des Babys. Die zu Besuch gekommene Großmutter spielte eine zentrale Rolle bei der Pflege (nurturing) von Kindern bei einer Born-House-Feier, die unter kamerunischen Migranten in Kapstadt, Südafrika, stattfand. Nyamnjoh und Rowlands bekamen mit, dass eine Born-House-Feier absichtlich so gelegt wurde, dass sie mit dem Besuch der Großmutter zusammenfiel, um ihren neuen Enkel kennenzulernen. Die Großmutter hielt das Kind auf dem Arm und hielt eine Rede, in der sie das Baby (und alle Anwesenden) daran erinnerte, dass sie seine Nabelschnur nach Hause bringen würde, um sie bei seinen Vorfahren zu begraben und aufzubewahren. Sie rief „on the ancestors to watch over him“ und führte als Teil eines Trankopfers „‚fogho djwi-zo‘ on the child“ durch, indem sie dem Baby ihren Atem und damit den der Familie und Vorfahren spendete (2013: 143). Die Rede der Großmutter „welcomes the child into the world of the living and calls on him to stay and not go back to the world of the ancestors […] As confirmation, the child is given a drop of liquid from the food prepared […] to reassure him that he is among kin and kith who care about his well-being“ (Nyamnjoh und Rowlands 2013: 143).
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In Berlin machen es die Schwierigkeiten bei der Beantragung eines Visums und die Kosten interkontinentaler Reisen für Großmütter fast unmöglich, für die Teilnahme an Born-House-Feiern aus Kamerun anzureisen. Da die Migrantenpopulation außerdem sehr jung ist, gibt es in Berlin keine älteren Frauen, die dem Kind ihren Atem spenden oder die Symbolik geteilter Speisen und Rituale erklären. Die Anwesenden auf der Born-House-Feier an diesem Novemberabend in Berlin sprachen mit einem Hauch von Nostalgie über die Speisen und Rituale bei einem Born House, wie Leute, die versuchen, sich an mehr als die erste Zeile eines Liedtexts oder die Melodie eines vor langer Zeit gehörten Gebets zu erinnern. Einige Elemente wurden ohne eindeutiges Verständnis ihrer Bedeutung übernommen, während andere ausgelassen und neue hinzugefügt wurden, wie wir weiter unten sehen werden. Die Wohnungen von Migranten sind zu klein und ihre Nachbarn zu empfindlich was den Lärm angeht, um eine überschwängliche Feier in einem vertrauten, familiären Umfeld abzuhalten. Stattdessen sind Born-House-Zeremonien daher aufwendige, gesellschaftliche Ereignisse, die unterschiedliche Gemeinschaftsmitglieder an einem mehr oder weniger öffentlichen Ort versammeln. Die Eltern organisieren die Veranstaltung, wenden erhebliche zeitliche und finanzielle Ressourcen auf, um eine Halle zu mieten, Essen zu kaufen und Hilfe für dessen Zubereitung zu arrangieren, Einladungen zu drucken und zu verteilen, die Bar zu besetzen, Tontechnik zu mieten oder zu leihen und eine Band zu engagieren. So wie sich Mütter mit den Belastungen der Schwangerschaft und der Pflege eines Neugeborenen alleine gelassen fühlten, haben Eltern bei der Vorbereitung einer Born-House-Feier kein vor Ort verfügbares oder umfangreiches Netzwerk unterstützender Verwandter, auf das sie zurückgreifen könnten. Daher schaffen es nicht alle Eltern, eine Born-House-Feier auf die Beine zu stellen oder eine für jedes ihrer Kinder abzuhalten. Für diejenigen, die es können, bedeutet die Komplexität dieser Aufgabe, dass das Born House häufig bis zum ersten Geburtstag des Kindes verschoben wird, damit die Eltern Zeit zum Planen und Sparen haben. Genau das hatten die Eltern von Princess getan und ihre Born-House-Feier mit ihrem ersten Geburtstag zusammengelegt. Princessʼ Eltern erhielten Unterstützung von ihrer Hometown Association. Ich erfuhr von mehreren meiner Gesprächspartner mehr über die Rolle von Hometown Associations bei der Veranstaltung einer Born-House-Feier, auch von Lola. „Like in my association in times of sorrow, in times of happiness for example birth of a child. The child is the responsibility of the whole village or a whole society, so we as an association, we feel the responsibility when a child is there and there are some social ben-
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efits we try to support them, the parents. Born house is like the presentation of the child to the society or the association.“
Princessʼ Eltern warben unter den Vereinsmitgliedern Helfer auf freiwilliger Basis an – befreundete Köche, Dekorateure und Barkeeper. Ehemalige und gegenwärtige Amtsträger der Hometown Association hielten Reden zu Ehren des neugeborenen Kindes, in denen sie Vater und Mutter zu guter Erziehung ermutigten und die Vorzüge der Gemeinschaftszugehörigkeit lobten. Die kleine Tanztruppe des Vereins gab eine Aufführung, die die Feier aufheiterte und der Veranstaltung ein authentisches Flair verlieh. Die Vereinssatzung legte schließlich die Höhe des formalen Beitrags zur Feier in Bargeld und Sachspenden fest. Wie hat sich diese Interaktion zwischen Familie und Verein im Verlauf des Abends entwickelt? Als wir um 21:00 Uhr ankamen, waren einige Frauen des Vereins und Freundinnen der Mutter noch dabei, die langen Tische bei der Bar mit Essen zu bestücken. Neben den Gerichten aus Born House plantains, achu (zubereitet aus Taro) und eru (ein Waldgemüse), brachten sie Teller mit Hähnchenschenkeln, gebratenes Fleisch auf Spießen und aufwendig arrangierte Salate mit gehackten Salatblättern, Karotten, Tomatenspalten und in Scheiben geschnittenen, gekochten Eiern. Auf einer anderen Platte fand sich gebratener Reis. Einige Schalen enthielten gewürzte Kartoffelchips und orientalische Krabbenchips. Ein weiteres Gericht bestand aus selbstgemachten Krapfen, die in Kamerun als beignets oder gâteaux bekannt sind. Die Mischung aus afrikanischen Gerichten und europäischem Partyessen zeugte von der Hybridität der Veranstaltung. Sogar auf diesen langen und schmalen Tischen waren Anpassungen an die Verfügbarkeit von Zutaten, der größere und öffentlichere Maßstab des Ereignisses und eine diasporische Partykultur offensichtlich. Ein großer, mit Zuckerguss überzogener und dekorierter Blechkuchen verlieh dem Ganzen noch den Charakter einer Geburtstagsfeier. Nach und nach standen die Paare und Gruppen von Frauen an den kleinen Tischen auf, um ihre Teller aus dem reichhaltigen Angebot an Speisen zu befüllen. Gegen 23:00 Uhr kam Magnis Cousin ausgehungert von der Arbeit auf der Feier an. Er erntete eine Mischung aus mitfühlenden Blicken und neckenden Sticheleien angesichts der Mengen an Essen, das er auf seinen Teller lud und blitzschnell verputzte. Eine halbe Stunde später kamen zwei Frauen an, die zwischen sich eine große, verpackte Kiste trugen. Die fast einen Quadratmeter große Kiste enthielt das Geschenk des Vereins an die Eltern und das Kind. Barbara flüsterte mir ins Ohr, dass Waschseife oder auch Autositze beliebte Geschenke waren. Magni fügte hinzu, dass die Eltern sich ihr Geschenk auch aussuchen können, da
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sie den Geldbetrag des Geschenks kennen, der in der Vereinssatzung festgelegt ist. Der Verein besorgt dann den Gegenstand und überreicht den Eltern einen Umschlag mit dem restlichen Bargeld. An diesem Abend dauerte es noch etwas, bis ein drittes ernanntes Vereinsmitglied mit dem Bargeldgeschenk ankam, atemlos von der Eile durch die frühe Winterluft. Erst dann konnten der Tanz und die offizielle Geschenkübergabe stattfinden. Der Vereinsvorsitzende gab einer jungen Frau ein Zeichen, die kokett ein kurzes, türkisfarbenes Kleid und Stöckelschuhe trug und die Zeremonienmeisterin für diesen Abend war. Sie griff nach einem großen Mikrofon und kämpfte mit gelegentlichen Rückkopplungen der Tontechnik, bevor sie alle Anwesenden begrüßte, die sich zu diesem freudigen Anlass zur Feier der wunderbaren Geburt und des ersten Geburtstags der kleinen Princess eingefunden hatten. Sie nickte Mutter und Vater zu, die neben ihr standen, zusammen mit Baby Princess, die sich schon sichtlich müde in die Arme ihres Vaters kuschelte. Völlig unerwartet bat sie Magni um ein Gebet zur Segnung der Versammlung. Die Erwachsenen neigten alle ihre Köpfe und murmelten „Amen!“ am Ende der kurzen Segnung. Die Zeremonienmeisterin kündigte die Musikerband aus dem Kongo an, hielt mit ihnen ein kurzes bilinguales Geplänkel auf Französisch und Englisch und bedankte sich schließlich bei ihnen für die „Belebung“ der Feier. Sie gab einige Redner bekannt – den Vereinsvorsitzenden, eine „kamerunische Schwester“ der Mutter des Babys –, die sich gleichzeitig an die frischgebackenen Eltern und das versammelte Publikum wandten. Ein Kind ist ein Segen und bringt Freude in das Leben der Eltern. Die Eltern sollten das Kind so erziehen, dass es zu einem starken und klugen Erwachsenen heranwächst. Sie sollten an die Zukunft ihres Kindes denken und ihr helfen, neue Gelegenheiten zu ergreifen. Manchmal ist die Kindererziehung eine schwere Aufgabe, aber Vater und Mutter sollten beharrlich bleiben und ihrem Kind Liebe schenken, um letztendlich erfolgreich zu sein. Vor allen Dingen sollte das Kind wissen, woher es kommt, und dass es zu einer Gemeinschaft gehört (has people). Es ist in der Tat Teil einer größeren Gemeinschaft und lebt mit dem Zusammenhalt, der durch reziproken Austausch gesichert wird. Die Reden schlossen mit Rufen „yes, yes“ und Applaus vom Publikum ab. Kurz vor Mitternacht zogen sich Mitglieder der Tanztruppe des Vereins, darunter auch Magni, in den kleinen Eingangsbereich zurück, um ihre Kostüme aus zusammenpassenden, blau und ockerfarben bedruckten kamerunischen Stoffen anzulegen, die sie über ihre Straßenkleidung wickelten. Die ersten Trommelschläge ertönten. Bei diesem Einsatz gab die Zeremonienmeisterin der Menge ein Zeichen und es kehrte umgehend Ruhe ein. Eine Reihe von sieben Frauen und zwei Männern betrat die Tanzfläche, während die Frauen tanzten und die
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beiden Männer ihre Trommeln schlugen. Die Zeremonienmeisterin stellte schnell zwei Stühle in der Mitte der Tanzfläche auf, damit die beiden Trommler sich setzen konnten. Die Tänzerinnen bildeten einen Kreis und tanzten um die Trommler herum. Die ehemaligen und derzeitigen Vorsitzenden betraten den Kreis zusammen mit Vater, Mutter und kleiner Tochter. Die Tänzerinnen sangen Call-and-Response-Lieder, die die Liebe und Solidarität des Vereins und den Segen lobten, den Kinder mit sich bringen. Bald darauf sagte die Zeremonienmeisterin an, dass jeder in den Kreis treten konnte, wenn er wollte. „Shake your shoulders with us!“ forderte sie auf. Als Ehefrau des ehemaligen Vorsitzenden erhob sich Shelly und schlüpfte in den Kreis, wo sie ihre Schritte denen der anderen Tänzer anpasste.
Abbildung 5.2: „Shake your shoulders with us“ – Tanz bei einer Born House-Feier, Berlin 2010. Foto: Pamela Feldman-Savelsberg
Nach der Aufführung der Tanztruppe überreichten der Vereinsvorsitzende und die Zeremonienmeisterin der jungen Familie das große, eingepackte Geschenk und den Umschlag mit dem Bargeld. „Use this well, raise Princess well. Let her know that she has people.“ Einzelne Personen hatten dann die Gelegenheit nach vorne zu kommen und Princessʼ Mutter persönliche Geschenke zu überreichen. Bei den meisten dieser Geschenke handelte es sich, wie auch bei meinem, um
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Kleidung oder Spielzeug für Princess und nicht um die praktischen Windeln oder die OMO-Waschseife, die ich bei ähnlichen Anlässen in Kamerun gesehen hatte. Die Feierlichkeiten dauerten noch bis 2:00 Uhr an. Ein Acapella-Gospelchor, in dem auch ein Vereinsmitglied die Bassstimme sang, gab eine bewegende Vorstellung. Die Gäste aßen vom Buffet, unterhielten sich, kümmerten sich um die inzwischen übermüdeten Kinder und tanzten zum Takt der kongolesischen Band. Princessʼ Eltern, ihre Freunde und ihre Hometown Association hatten zusammengearbeitet, um einen von Lachen erfüllten, unterhaltsamen Abend des Zusammenseins zu veranstalten. Als Gegenleistung dafür, dass sie die Gemeinschaft mit einem neuen Mitglied gesegnet, mit besonderen Speisen verwöhnt und eine gute Feier veranstaltet hatten, erhielten die Eltern sowohl materielle als auch moralische Unterstützung. Auf diese Weise erhalten Eltern und Kinder durch eine Geburt und die Organisation einer Born-House-Feier Zugang zu den Gemeinschaftsressourcen. Auch wenn die Veranstaltung selbst genauso viel oder mehr kostet wie das offizielle Geschenk des Vereins, stößt die Born-House-Feier ein Netzwerk des Austauschs zwischen dem Verein und der jungen Familie an. Unter Gemeinschaften der Bamiléké ist allein die Bekanntgabe einer Geburt Anlass für einen offiziellen Besuch und ein Geschenk für das Kind, schildert Ariane. „Quand on accouche, quand moi peut-être jʼai accouché, on lʼannonce à la réunion et puis la réunion se déplace… on délègue des gens qui vont venir saluer lʼenfant à la maison. Alors,… On apporte un petit cadeau pour le bébé. On ne peut que se réjouir quand cʼest une naissance et tout. Cʼest lʼassociation qui donne le cadeau… On vient, on te rend visite. Tu peux aussi avoir besoin dʼaide et signaler.“
Unter anglophonen Kamerunern gehen die Mittel der Hometown Association vorwiegend an die Mütter, die eine Born-House-Feier ausrichten. Indem sie auf außerfamiliäre Netzwerke zurückgreifen, bringen Born-HouseFeiern Mitglieder mit sich überschneidenden Verbindungen zusammen, von denen jedes auf irgendeine Art und Weise zum Ereignis beiträgt. Wenn verwandtschaftlich oder nachbarschaftlich basierte Verbindungen fehlen, die in Kamerun verfügbar gewesen wären, hilft sogar dieses kurze Zusammentreffen Gemeinschaftsmitgliedern beim Aufbau anhaltender, multiplexer Beziehungen (Gluckman 1967: 96). Segnungen und Aufrufe zum Gemeinschaftszusammenhalt reichen vom Kind über seine Eltern bis hin zu allen Anwesenden. Die Hometown Association bietet sowohl formalisierte Ansprüche (z.B. in Satzungen vorgeschriebene Geschenke) als auch weniger formale organisatorische Unterstützung bei der Vorbereitung der Party. Der Verein hilft außerdem, die Born-House-
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Feier mit Essen, Gesang, Tanz und guter Laune auszustatten. Born House ist ein fröhliches und geselliges Ereignis, das die Geburt eines Kindes und die gesellschaftlich reproduktiven Praktiken des Elternseins mit den positiven Emotionen der Zugehörigkeit verknüpft. Bei Born-House-Feiern stehen Kinder noch stärker im Mittelpunkt als bei Vereinstreffen oder Jahresendfeiern. Sie erleben die Hometown Association ihrer Eltern in Aktion und in einer fröhlichen Umgebung. Mütter erinnern ihre Kinder später an die Herkunft der Born-House-Geschenke, um die Identifizierung mit dem Heimatort und den Vereinsvertretern in der Diaspora zu fördern. Im nächsten Abschnitt werde ich eine Reihe von Szenarien untersuchen, in denen Mütter versuchen, die Zugehörigkeit ihrer Kinder durch die Teilnahme am Gemeinschaftsleben zu formen.
D ER K INDERTISCH UND V ERSE FÜR G ROSSVATERS T OTENWACHE : DIE E INFÜHRUNG VON K INDERN IN DAS G EMEINSCHAFTSLEBEN Als wir uns eines Nachmittags in der Universitätsbibliothek auf einen Tee trafen, bevor sie die Kinder von der Kita abholten, unterhielten sich Barbara und Bih mit mir über Kindererziehung und das Vereinsleben. Ich hatte Barbara auf der Born-House-Feier getroffen, daher wusste sie von meinem Interesse. Ich hatte auf den Versammlungen, der Jahresendfeier der Association D___ und der von Association B___ mit gesponserten Born-House-Feier beobachtet, wie Kinder miteinander und mit ihren Eltern interagierten. Barbara und Bih schlugen daher vor, dass ich einen Verein mit einem organisierten Kinderprogramm besuchen sollte. Bihs Verein war zu klein, um über ein Kinderprogramm zu verfügen; sie ließ ihr dreijähriges Kind in der Regel bei Barbara, wenn sie an den monatlichen Treffen teilnahm. Die Ehemänner der beiden Frauen gehörten jedoch zu der großen Highlands Region Cultural Association17 und bis vor kurzem hatte dieser Verein ein aktives Kinderprogramm gefördert. Barbaras Ehemann nahm häufig ihre beiden älteren Kinder mit zu den Treffen. Barbara bot an, mich zu begleiten, damit ich alles aus erster Hand beobachten konnte. Wir trafen uns am folgenden Sonntagabend an der U-Bahn-Station und fuhren zusammen in das afrikanische Viertel in Wedding, einen historischen und
17 Ein Pseudonym, das andeutet, dass der als Grundlage dieses Vereins dienende Heimatort riesig ist und Teile von zwei kamerunischen Provinzen umfasst (Regionen gemäß einer kürzlichen verwaltungstechnischen Bezeichnungsänderung).
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der Arbeiterklasse geprägten Stadtteil von Berlin. Dieser Teil von Wedding erhielt seinen Spitznamen von den nach Kolonien benannten Straßen, die Deutschland vor fast einem Jahrhundert verloren hat18. Ironischerweise wartet die Kamerunerstraße mit zwei kamerunischen Restaurants auf. Die Highlands Region Cultural Association, die gegenwärtig noch vor einem Wechsel in eine dauerhaftere Versammlungshalle steht, traf sich vorübergehend in einem der Restaurants. Barbara meinte, dass es für uns als Besucher besser wäre, wenn wir erst nach Beginn des Treffens eintreffen würden. Im Raum des Restaurants drängten sich die Anwesenden dicht an dicht. Im Vorraum waren mehrere Tische zusammengeschoben worden und auf ihnen häuften sich Stifte, Malbücher und Snacks. Das war der Kindertisch. Drei Mütter hielten sich um den Tisch auf und legten ruhig kleine Streitereien über Stifte in den Lieblingsfarben bei. Sie verteilten Trinkpäckchen an die Dutzend Kinder um den Tisch und sprachen mit lautem Flüstern. Es war schwierig mehr zu tun, da spät eintreffende Erwachsene, die an der Vereinsversammlung teilnehmen wollten, den Raum als Ausweichmöglichkeit nutzten und sich dort aufhielten, während sie angestrengt versuchten zu hören, was im Nebenraum vor sich ging. Ich erkannte Lola und Sandra Star, die ich beide interviewt hatte. Zwei von Barbaras Kindern saßen in ihre Malbücher vertieft am Tisch; sie waren schon früher zusammen mit ihrem Vater angekommen. Happi, deren Einschulungsparty ich im letzten Sommer besucht hatte, schenkte mir ein breites Grinsen als Zeichen, dass sie mich erkannt hatte. Bevor wir gingen, schenkten mir Happi und ihre Schwester Bilder, die sie gemalt hatten – eine idyllische Szene mit Bäumen, einer Wiese, einem Haus und Kätzchen; Blumen und Schmetterlingen und ein Portrait von Prinzessin Lilifee. An diesem Abend diente der Kindertisch dazu, einen Haufen Kinder zu beschäftigen, die ihre Eltern zu dem Treffen begleitet hatten. Sie hatten Spaß beim gemeinsamen Ausmalen mit Freunden, die sie nur bei Gemeinschaftsveranstaltungen oder bei besonderen Anlässen wie Born-House-Feiern oder Geburtstagspartys sahen. Einige ausgewählte Vereinsmitglieder – alle Frauen, alle Mütter – beaufsichtigten sie. Inmitten des Tumults der Versammlung und in dem überfüllten Raum gab es keinen Platz für ein spezielles Programm zur Vermitt-
18 Ich traf einen meiner Gesprächspartner bei einem Programm, das von einer Initiative zur Umbenennung dieser Straßen gesponsert wurde; Aktivisten waren besonders beunruhigt über Straßen, die Namen ehemaliger Kolonialoffiziere trugen, die für ihre Brutalität (Peters in Tansania, damals Deutsch-Ostafrika) oder ihre Unterstützung von Völkermord (von Trotha während des Herero-Kriegs in Namibia, damals Südwestafrika) bekannt gewesen sind.
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lung von „Cameroonian cultural traditions“, wie Barbara es formulierte. Laut mehreren Gesprächspartnern handelte es sich dabei aufgrund der Übergangsphase, in der sich der Verein gerade befand, jedoch um einen Ausnahmezustand. Sandra Star, eine lebhafte, dreißigjährige Single-Mutter und ehemalige Studentin, berichtete mir von einer längeren Tradition eines zielgerichteteren, monatlichen Kinderprogramms, das getrennt vom Vereinstreffen der Erwachsenen stattfand. „I have been in this association for more than three years... oh this [Highlands] House organized a childrenʼs program. We try to teach them how to play drums, sing African songs or teach them English, how to introduce themselves. Because most of the children, we have there,… they mostly spoke German, the German language. So we try to teach them a little bit of English, so that they could at least know these two languages. So that was always the first Saturday of the month, it was Childrenʼs Day.“
Auch Lola erinnerte sich an eine Zeit mit einem formaleren Programm für Kinder, einschließlich der Vorbereitung von Tänzen und Liedern für besondere Ereignisse, wie die jährliche Parade des Karnevals der Kulturen19. Lola bestand darauf, dass es auch ohne ein besonderes Kinderprogramm viele Vorteile für die Kinder hatte, wenn sie ihre Eltern zu den Treffen begleiteten.
Abbildung 5.3: Mitglieder der „Highland Region Cultural Association“ tanzen bei dem Karneval der Kulturen, Berlin 2011. Foto: Pamela Feldman-Savelsberg
19 Für eine kritische Beurteilung der Sexualisierung des schwarzen Körpers beim Karneval der Kulturen siehe Partridge (2012: 82, 163f, Anmerkung 4).
212 | M IGRANTEN, R ECHT UND I DENTITÄT „The joy of meeting other people. Exchanging our experiences here in Germany or giving advice. The children getting to know other Cameroonian children, playing with them and where they can practice English or French or whatsoever. For them to realize O.K., maybe I am the only one in my school, but there are other children from Cameroon too.“
Wie viele andere Eltern betonte Lola sowohl kognitive (das Lernen und Üben von Sprachen aus der Heimat) und emotionale (Überwindung der Isolation) Vorteile für die Knüpfung von Beziehungen mit anderen kamerunischen Kindern im Rahmen des Gemeinschaftslebens. Eltern aus unterschiedlichen Hometown Associations nannten ähnliche Gründe dafür, ihre Kinder auf von ortsbezogenen Gemeinschaftsorganisationen veranstaltete Ereignisse mitzubringen. Iris erklärt, dass ihre Tochter lernt, sich einfacher – und kritischer – zwischen verschiedenen Kulturen zu bewegen, wenn sie sich mit ihren Wurzeln vertraut macht. „I take my child there because I want my child to know her roots. And I want my child to know her roots and languages – we speak pidgin there. And taking her there also… shows her a different mentality. And she already knows that very well, because she used to tell me everything she sees, she compares it to the German society and the German ways of doing things.“
Auch Hannah nimmt ihre Kinder zu den Treffen mit, damit sie „meet people from T____ and hear the dialect“. Alain betonte, dass es für Kinder wichtig ist zu sehen, wie ihre Eltern zusammenkommen, um bedeutende Projekte mithilfe des Vereins zu organisieren und auch etwas anderes tun, als nur zusammen zu essen. KemKarine macht den Besuch von Vereinstreffen zu vergnüglichen Familienausflügen. „I go with them, so that they should feel free. Because being only in the house they need a change at times. From the meetings we come by and eat at McDonalds before we come back. And then they say thank you for taking us out. And there they meet other children, so they play together.“ KemKarine erklärte, dass ihre Kinder sich frei fühlen können, weil sie unter anderen kamerunischen Kindern sind, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben; auf Vereinsveranstaltungen stechen sie nicht wie in ihrer Klasse oder Tagesgruppe als einziges dunkelhäutiges Kind heraus. Sophie gehört einer großen anglophonen Hometown Association mit einem Netzwerk von Niederlassungen in anderen deutschen Städten, in Großbritannien und den USA an (s. Mercer, Page und Evans 2008: 83). Jedes Jahr veranstaltet die Niederlassung in Berlin ein Kulturwochenende, zu dem sie die Mitglieder anderer Niederlassungen in Deutschland einlädt. Sophie beschreibt, wie eine
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Frau aus ihrem Verein die Kinder auf die Aufführung eines Tanzes und einen Vortrag am Kulturwochenende vorbereitet. „The children will be dancing and telling a story in our dialect then sharing of the culture… We have a lady that tries to teach the children some things and she tries to tell them the story in English, in German and in the dialect so they can try to understand… Most of them speak German and English… [and then learn the local language from this lady] just a bit.“
Sophie ermutigt ihre Tochter zur Teilnahme an solchen Ereignissen, weil sie eine Möglichkeit bieten, um Verbindungen zu knüpfen und Kindheitserinnerungen zu schaffen, die später zum anhaltenden Zugehörigkeitsgefühl ihrer Tochter beitragen werden. Sie meint: „It is the culture. To know her parents belong to these associations. Like she likes dancing which, I am sure being in Germany, like she really knows that she is from M____ and she grows up with this identity in her… I know that each time she goes to the M____ association there is eru to eat and she likes that a lot. And she knows that she will meet friends there and after eating they will play. I am sure she remembers.“
Maria Mar, ein Mitglied der Highlands, teilt Sophies Anliegen bezüglich der Schaffung von Erinnerungen. Maria bindet ausdrückliche Erinnerungen an die Gemeinschaftszugehörigkeit in ihre täglichen Erziehungsmethoden ein und besteht darauf, dass es wichtig ist „to tell the child that this thing comes from [Highlands].“ Lily, deren ortsbezogenes Gemeinschaftsleben sich um ihre Kirche dreht, freut sich über die Teilnahme der Kinder an dem neu eingeführten Ritual der baby shower (Babyparty). Eine Frau aus ihrer Kirchengemeinde war von einem Besuch ihrer kamerunischen Verwandten in Takoma Park, Maryland, zurückgekehrt – einer Region mit einer relativ hohen Dichte kamerunischer Migranten. Dort hatte sie mehrere gemischtgeschlechtliche Babypartys beobachtet. Lilys Bekannte amüsierte sich besonders über ein Spiel, bei dem Männer Ballons unter ihre Hemden steckten und sich dann bücken mussten, um Gegenstände vom Boden aufzuheben, ohne dass die Ballons platzten. Bei ihrer Rückkehr nach Berlin führte sie die Babyparty als Alternative zu Born-House-Feiern ein. Als Lily ihr letztes Kind erwartete, veranstaltete ihr kirchlich basierter Verein eine Babyparty für sie und beteiligte ihre älteren Kinder an einer Überraschung.
214 | M IGRANTEN, R ECHT UND I DENTITÄT „Quand ils mʼavaient fait mon babyshower, les enfants sont venus, parce que comme les enfants étaient suivit déjà á lʼéglise, ils mʼont – appart moi, ils ont préparé quelque chose. Parce que quand ils sont venus, jʼallais pas déjà à lʼéglise peut-être pour deux trois semaines, donc ils ont eu le temps de faire quelque chose pour me surprendre. Les enfants chantaient, ils mʼont présentés leurs chansons et tout. Donc les enfants ils font quelque chose, ils participent en fait, ils participent. Voilà, cʼétait mignon et tout. Ils sont venu ensemble, ils ont chantés et tout. Et avec mon [inaudible], oui, ça fait chaud au cœur.“
Kamerunische Migranten-Eltern hatten es nicht immer so leicht, Gelegenheiten zur Einführung ihrer Kinder in das Gemeinschaftsleben zu finden. Justine, eine enge Freundin von Barbara, die seit über einem Jahrzehnt in Berlin lebt, erläuterte, dass die Kameruner in Berlin erst in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren mit der Gründung von Vereinen begonnen hatten. In dieser Anfangszeit gab es zudem nicht so viele Leute, die lange in Berlin blieben oder alt genug waren, um Kinder großzuziehen. „I think that much has already been done and there are opportunities there to raise our kids, with this feeling of belonging or not to lose their culture… Things are changing because people are growing up because at first I knew just students and now things have changed, they have families, kids, they are coming up and thatʼs a different image and a different responsibility… I think [the younger people who have just arrived] are coming to a better environment because they have people to turn on to ask for information and they have associations that they can go to and get information.“
Es ist eine neue Generation, meinte Justine, mit mehr Kamerunern in der Stadt und Leuten, die Kinder großziehen. In Berlin gibt es daher nun Leute, die man um Rat fragen kann, Leute, die zusammen am Aufbau einer diasporischen Gemeinschaft arbeiten, in die auch Kinder gehören. Neben den Treffen von Hometown Associations, Born-House-Feiern und den Jahresendfeiern und Kulturwochenenden, die von den Vereinen gesponsert werden, bieten auch Totenwachen – nach dem Tod eines Vereinsmitglieds (oder häufiger dem Tod des Elternteils eines Mitglieds) – für Eltern mitunter eine Gelegenheit, um ihre Kinder mit der unterstützenden Funktion zu konfrontieren, die Vereine bei wichtigen Ereignissen übernehmen. Früher in diesem Kapitel haben wir bereits erfahren, dass Sterbegeld und die Unterstützung bei der Totenwache für Migranten wichtige Gründe zum Eintritt in Hometown Associations sind. Totenwachen sind im Allgemeinen Erwachsenenangelegenheiten. Sie dauern bis in die frühen Morgenstunden an und begleiten die hinterbliebene Familie durch eine traurige und schwierige Nacht. Es werden Reden gehalten, Bibelverse gele-
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sen, Lieder gesungen, Essen und Getränke geteilt, Tränen geweint und Spenden für das Begräbnis und den Transport gemacht. Die Hinterbliebenen halten die Wache in ihrem Haus oder ihrer Wohnung und nicht in Anwesenheit der Leiche ab. Für diejenigen, die nicht zu einer Beerdigung in Kamerun reisen können, wird die Totenwache in Berlin oft am gleichen Tag abgehalten, an dem auch die Beisetzung in Kamerun stattfindet. Diejenigen, die nach Kamerun reisen können, halten die Wache vor der Beerdigung; sie dient nicht nur der Bewältigung der Trauer, sondern auch als Verabschiedung und Spendenaktion zur Deckung der Reise- und Begräbniskosten. Nachdem die Born-House- und Jahresendfeiern mir die fröhlicheren Seiten des Beisammenseins gezeigt hatten, verstarb Barbaras Schwiegervater an einem Tag Ende Januar in Kamerun. Mit Tränen in den Augen teilte uns Bih als erste die traurige Nachricht mit. Da die Geschwister und Stiefgeschwister überall in Kamerun, Deutschland und den USA verstreut waren, gab es für den Ehemann ihrer Freundin eine Menge zu organisieren. Die Beerdigung war für Mitte März angesetzt worden, um der verstreuten Familie Zeit zu geben, sich zusammenzufinden und ein angemessenes Begräbnis für ihren geliebten Vater (und ihre Mittel als Migranten oder bushfallers) zu organisieren20. In der Zwischenzeit hielten Barbara und ihre Familie eine Totenwache an einem Samstag im Februar ab. Freunde kamen in die Wohnung, um dem Verstorbenen ihren Respekt zu zollen. Die Familie veranstaltete einen kleinen Gottesdienst und erlaubte ihren Kindern teilzunehmen. Die beiden älteren Kinder, die beide schon die Grundschule besuchten, lasen Bibelverse vor. Barbara erzählte mir später, dass das Baby der Familie, das noch die Kita besuchte, sich der Geschehnisse nicht bewusst war, aber anfing zu weinen, wenn andere weinten. Barbara äußerte, dass es ihr neben dem Trost, der ihr in dieser Zeit der Trauer gespendet wurde, wichtig war, dass ihre Kinder miterlebten, wie die Gemeinschaft zusammenkam, um ihre Familie zu unterstützen. Die Teilnahme an Totenwachen ist für Kinder eine Möglichkeit zu lernen, wie durch eine angepasste Tradition in „ihrer Community“ mit wichtigen Lebensereignissen umgegangen wird. Kinder beobachten die Freude ihrer Eltern bei Anlässen zur Feier der Zugehörigkeit – bei Jahresendfeiern, Babypartys und Born-House-Feiern, die von ortsbezogenen Gemeinschaftsorganisationen gesponsert werden. Sie sehen, wie
20 Siehe Nyamnjoh und Rowlands Beschreibung von „long periods spent on the phone with relatives to arrange how the funeral will take place“, in denen Migranten nicht nur „want to provide the best for their deceased parents“, sondern „are equally concerned with their image as ‚bush fallers‘“ (2013: 144).
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Eltern mit anderen zusammenarbeiten, um öffentliche, diasporische Ereignisse vorzubereiten (wie zum Beispiel Festwagen des Vereins für die Parade des Karnevals der Kulturen) und Entwicklungsprojekte im Heimatort zu koordinieren. Innerhalb der Grenzen ihres kindlichen Verständnisses teilen Kinder die Trauer ihrer Eltern beim Tod geliebter Menschen. Kinder spüren, dass die Trauer ihrer Eltern durch geografische Distanz vertieft wird; sie hören die traurigen Gespräche ihrer Eltern über verlorene Verbindungen zu einer innig geliebten, früheren Heimat. Gleichzeitig merken Kinder, dass die Gemeinschaft zusammenkommt, um ihrer Familie in dieser schweren Zeit Beistand zu leisten. Sie erkennen vertraute Gesichter von den glücklicheren Anlässen des gesellschaftlichen Engagements ihrer Eltern im Gemeinschaftsleben von Migranten wieder. Vor kurzem tauschte ich mich mit Magni über meinen Fortschritt bei diesem aktuellen Kapitel aus. Aus ihrer dualen Perspektive mit den Augen einer aufmerksamen Sozialwissenschaftlerin und ihrer sozialen Stellung als MigrantenMutter sann Magni über die Bedeutung nach, die eine Förderung der Verbundenheit von Kindern zu Gemeinschaftsorganisationen hat. Sie schrieb: „From my experience and those close to me, it helps when children are immersed in cultural activities of associations as early on as possible. This helps them gain familiarity with it and gives them anchor in their identity. Living in a dominant (German) culture, children show less interest in their parentsʼ culture if they are introduced to it at a much later stage, for example in their teens. The main idea behind this is to enable the children to fit in either of these cultures depending on where they find themselves. It is important as migrants to be able to integrate in the society of residence without losing a sense of self and identity.“
Magnis Worte deuten auf eine gezielte Strategie seitens der Eltern hin. Zugehörigkeit muss gefördert werden. Eltern wissen, dass die Interaktion mit anderen Kamerunern im Alltag nicht häufig genug vorkommt, um die organische Entstehung einer Identifizierung mit einer größeren Gemeinschaft zu ermöglichen. Sie möchten außerdem, dass ihre Kinder die vielen Möglichkeiten kennenlernen, auf die kamerunische Migranten sich aktiv in außerfamiliären, zielgerichteten Vereinen organisieren. Eltern, insbesondere Mütter, vergesellschaften ihre Kinder, damit sie selbstbestimmte Erwachsene werden, die sich gesellschaftlich engagieren, um Verbindungen zu einem entfernten Heimatort zu fördern. Die Erzeugung einer solchen Identifizierung ist keine einfache Angelegenheit, da die täglichen Aktivitäten der Kinder vor einer vorherrschend deutschen Kulturkulisse stattfinden. Wie Justine es mir früher erklärt hatte, muss verhindert werden, dass Kinder ihre Kultur verlieren: „itʼs now the challenge for the parents. The parents have
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to act now, the other part cannot be done by regulations. Itʼs the parents, itʼs their duty to be able or to have the time to do it.“ Vereine – mit ihren Regeln zur Mitgliedschaft, Inanspruchnahme von Leistungen und Beteiligung an gegenseitiger Unterstützung – helfen bei der Schaffung von Zugehörigkeit, können dies aber nicht ohne erhebliche elterliche, insbesondere mütterliche, Anstrengungen.
S CHLUSSFOLGERUNG In diesem Kapitel haben wir festgestellt, dass Vereine unterschiedliche Arten der Zugehörigkeit fördern. Vereine regeln die Grenzen der Zugehörigkeit in Form einer Mitgliedschaft, sie entscheiden, wer unter der Bevölkerung kamerunischer Migranten und ihren Familien Mitglied werden oder bleiben kann. Vereine ermöglichen Mitgliedern die Bestätigung ihrer Zugehörigkeit durch die Beteiligung an Entscheidungsfindungen, durch das Anbieten von Gesten der Solidarität für Landsmänner in Not und durch die Inanspruchnahme der Ressourcen des Vereins. Vereine setzen der Zugehörigkeit durch die Inanspruchnahme von Leistungen Grenzen, indem sie die Art der Verwandtschaftsbeziehungen abstecken, für die man Zuwendungen erhalten kann und indem sie die Höhe dieser Leistungen festlegen. Das Gemeinschaftsleben bietet Mitgliedern schließlich auch eine Bühne, auf der sie Zugehörigkeit ausleben können, indem sie sich an erwarteten Formen der gesellschaftlichen Interaktion und gegenseitigem Austausch beteiligen. Bei formellen monatlichen Treffen, speziell organisierten Lebens- und Kulturereignissen sowie der informellen Interaktion, die diese umgibt, erzeugen Migrantenvereine sich überschneidende Strömungen der Interaktion für kamerunische Migranten-Mütter. Diese Strömungen der Interaktion sind sowohl formell als auch informell. Sie umfassen formelle Rechenschaftssysteme für Mitgliedsgebühren, Leistungen und Verpflichtungen sowie die informellen Kommentare, Blicke und Gesten, die Sympathie und Abneigung bedingen. Interaktionsströme unter Frauen entwickeln sich auf den monatlichen Treffen genauso wie auf besonderen, von Vereinen gesponserten Veranstaltungen und bei deren Verlassen, während man gemeinsam an der Straßenbahnhaltestelle wartet. Diese Interaktionen können unterstützen oder belasten. Manchmal verlaufen diese Interaktionsströme parallel zueinander zur gleichen Zeit und am gleichen Ort, zum Beispiel wenn die geregelte und transparente Jahreswahl der Vereinsbeauftragten durch das Summen informeller Gespräche unter zusammensitzenden Gruppen begleitet wird. Unter anderen Umständen kommt es in vereinzelten Momenten und an einzelnen Schauplätzen zu getrennten Interaktionsströmen. Durch
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diese mannigfaltigen Interaktionen verbinden sich Frauen über ihre gemeinsame Beziehung zu einer Hometown Association mit anderen kamerunischen Müttern. Das gesellschaftliche Engagement durch ortsbezogene Migrantenvereine ermöglicht Müttern die Knüpfung außerfamiliärer Verbindungen. Dabei handelt es sich um Netzwerke, die von den Emotionen der Verbundenheit sowie der praktischen Hilfe durchdrungen sind, die darüber übermittelt werden. Auf vom Verein gesponserten Versammlungen, Jahresendfeiern und Kulturfesten zustandegekommene Bekanntschaften dienen als Grundlage für die Entwicklung tiefer gehender und regelmäßigerer Verbindungen. Vereine ermöglichen es Migranten, anderen gelegentlichen Treffen in der Nachbarschaft, auf dem Markt oder in der Kita weitere Verbindungsebenen hinzuzufügen und Beziehungen vielseitiger und damit dauerhafter zu gestalten. Als sie ihr Verhältnis zu anderen Frauen in ihrem Verein beschreibt, vermittelt Sandra Star anschaulich die Mischung aus Geselligkeit und Ernsthaftigkeit bei der Highlands Regional Cultural Association: „[My relationship with other women in Highlands] is a very cordial one, very flexible, very sweet. Because when we come together, we crack a lot of jokes, we speak slang, we laugh. And it is also a serious one, because we plan seriously on how to change… our old habits which were really draining the house down… like late coming and staying too long in the meeting, where children are getting hungry and they need to sleep and prepare for school the next day.“
Sandra Star deutet darauf hin, dass die Beteiligung von Frauen am Gemeinschaftsleben durch die Mutterschaft geprägt wird. Frauen bemühen sich um die Förderung eines regelkonformen Verhaltens auf Vereinstreffen, um den Kindern ein gutes Beispiel zu bieten21 und ihre Zeit so zu planen, dass sie sich mit den Schlafenszeiten und Schulplänen der Kinder vereinen lässt. Mütter hegen auch ein reges Interesse an der Einrichtung von Kinderprogrammen zur Vermittlung volkstümlicher und sprachlicher Kulturelemente. Lola spricht diese Interessen an, als sie die Frauen in ihrem Verein durch die Aussage „first they are mothers“ charakterisiert. Die Teilnahme von Frauen an Versammlungen und Veranstaltungen wird durch familiäre Anforderungen und unregelmäßige Arbeitszeiten bei Jobs im Dienstleistungssektor beschränkt. Sophie erzählt uns: „I think they are more
21 Mütter wissen, dass Kinder in einem ruhigen, geordneten Schulumfeld sozialisiert werden und machen sich Sorgen, dass lebhafte und chaotische Unterhaltungen bei Vereinstreffen abschreckend sein könnten.
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concerned with their families or with their kids than being engaged in the associationʼs issues. That is because the kids, they need more time and they would be there running around. They would not have the issues to take care of“. Das bedeutet in anderen Worten, dass die Kinder ihre Mütter von der Mitwirkung an Vereinsangelegenheiten ablenken würden. Trotzdem überwinden Frauen die Beschränkungen familiärer Anforderungen, um Hometown Associations beizutreten. Dies zu tun, meint Iris, hilft Müttern auch bei der Bewältigung der Isolation und dem Umgang mit finanziellen Problemen. „Most women join associations first for the… social networking, meeting friends, itʼs a room for them to chat. And because sometimes in their homes they are stressed up, people donʼt visit them, and so when they go to the association it creates for them a forum to meet, at least to laugh and this kind of thing. And then they enter the association also for the reason… to be financially secured a bit, because they donʼt know what can happen. The man today or tomorrow can leave, they might have some troubles, they can only go to this njangi, to this association, for help, to save something, you know.“
Freunde bieten moralische Unterstützung, auch wenn diese nur darin besteht, einander zur Teilnahme an Versammlungen zu ermuntern. Sandra Star berichtet: „I have very good friends in the association that at least before we even come to the meeting, once a month, we already call each other, ‚are you coming for the meeting? Bring this or bring that. I am waiting to see you.‘ We even encourage others... like you may call your friends, if she is not really in the mood, maybe she is sick or feeling down, she will be encouraged, okay, you are coming, my friend is coming, okay, then... sometimes we even come for the meeting, because you are happy to come and see your friends.“
Monatliche Treffen, Jahresendfeiern, kulturelle Vorzeigeveranstaltungen, BornHouse-Feiern und sogar Totenwachen sind alle Gelegenheiten, bei denen Mütter im Geiste der Geselligkeit sich überschneidende Verbindungen aufbauen können. Sie arbeiten hart, um ihre Kinder an diesen positiven Erlebnissen des Zusammenlebens mit und innerhalb einer Gemeinschaft teilhaben zu lassen; Mütter versuchen dadurch, ihre Kinder in einer positiven Identität zu verankern und ihnen beim Aufbau sozialer Verbindungen und Beziehungen zu helfen, die sie in zukünftigen Notlagen unterstützen werden. Die Beobachtung dieser Ereignisse hat uns jedoch gelehrt, dass die fröhliche Geselligkeit in gemeinschaftlichen Migrantenvereinen ihre Grenzen hat. Von der Wahrung des persönlichen Rufs bis hin zu Sorgen bezüglich möglicher Unre-
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gelmäßigkeiten beim Einwanderungsstatus haben Kameruner mehrere Gründe zur Vorsicht, wenn sie die vergnügliche Geselligkeit auf Veranstaltungen von Hometown Associations suchen. Die Jahresendfeier war zum Beispiel ein Anlass, um sich zusammen auf einer vorübergehenden Insel der Heimat zu entspannen. Anhand von Marthes Darstellung der Fütterungsprobleme mit ihrem Baby haben wir jedoch festgestellt, dass es gleichzeitig auch ein Ort war, an dem man bei der Offenlegung persönlicher Informationen wachsam bleiben muss. Andere Vereinsmitglieder pflegen wahrscheinlich Verbindungen zu Angehörigen des eigenen persönlichen und familiären Netzwerks in Kamerun und in der Diaspora und könnten daher Gerüchte unter Personen verbreiten, die einem wichtig sind. In diesem Fall fließen nicht nur Güter, Ratschläge und moralische Unterstützung über die emotionalen Schaltkreise, sondern auch möglicherweise schädliche oder böswillige Informationen. Auch vor dieser relativ lockeren Kulisse kann eine einzelne Person keine Vorhersagen bezüglich der Vertrauenswürdigkeit anhand der ziemlich unregelmäßigen, öffentlichen und weitestgehend formalisierten Interaktionen treffen, die bei Versammlungen von Hometown Associations stattfinden. Als sie sich zu Vertrauen und Misstrauen unter Vereinsmitgliedern äußerte, erzählte uns Ariane von den Erfahrungen, die kamerunische Migranten mit Verrat gemacht haben. Weil einige Migranten anonym wegen Verletzungen des Einwanderungsrechts angezeigt worden waren, wurden sie abgeschoben. Geschichten über ihr Schicksal kursierten über die Netzwerke der Migranten, vom Verein nach außen zu Freunden und Familienmitgliedern und sogar zufälligen Begegnungen beim Einkauf von Kochbananen beim örtlichen afro-asiatischen Lebensmittelhändler. Auch auf diejenigen mit relativ sicherem Einwanderungsstatus hatten diese Geschichten eine ernüchternde Wirkung. Im nächsten Kapitel werden wir Begegnungen kamerunischer Migranten-Mütter mit deutschen Behörden untersuchen. Wir werden sehen, dass die Auffassungen von Familie und Fürsorge als Reaktion auf diese Begegnungen und als Teil eines neu entstehenden Rechtsbewusstseins neu definiert werden. Im Rahmen dieses Prozesses entwickeln Mütter Strategien, um ihre Familie innerhalb eines Felds multipler Zugehörigkeit aufzubauen.
Kapitel Sechs: Im Schatten des Staates „Sorry to interrupt, I have to go to my lawyer. Thatʼs how it is with us here.“ (LILY, BERLIN 2010)
Lily entschuldigte sich, dass sie unseren Termin kurz halten müsse. Sie versicherte mir, dass sie sich auf dieses zweite einer Reihe von Interviews gefreut hatte. Doch ihr Anwalt hatte angerufen und um ein Treffen gebeten, das gerade mal eine Stunde nach meiner Ankunft in Lilys Wohnung beginnen würde. „Sorry to interrupt“, meinte Lily, „I have to go to my lawyer. Thatʼs how it is with us here.“ In Lilys Stimme konnte ich sowohl Dringlichkeit als auch Bedauern ausmachen. Da unsere Beziehung noch recht frisch war – wir hatten sie in ihrer Kirche getroffen und dann erneut für ein Interview über Geburtserfahrungen – wagte ich es noch nicht, mich in Lilys Leben einzumischen und nach dem Grund für ihren plötzlichen Anwaltstermin zu fragen. Erst mehrere Jahre später erfuhr ich, dass Lily es in Angriff genommen hatte, den langen Weg zur deutschen Staatsbürgerschaft für sich und ihre Kinder zu beschreiten. Doch das Gefühl, das an diesem Tag in der Luft lag, war unverkennbar. Es gab im Leben so viele Dinge, die geordnet werden müssen, so viele Rechtsvorschriften, die befolgt werden wollen, dass man sogar noch ein halbes Jahrzehnt nach der Einwanderung nach Deutschland die Hilfe eines Anwalts brauchte. Völlig überraschend sah man sich neuen juristischen Schwierigkeiten gegenüber. Es war Allgemeinwissen, dass dies das Los der Migranten war. „Thatʼs how it is with us here.“ Die Auseinandersetzung mit dem Gesetz und das Leben im Schatten der komplexen Regeln und Organisationen des deutschen Staats ist ein großer Teil dessen „wie es hier bei uns läuft“. Der Schatten des Staats beeinträchtigt die Beziehungen, die kamerunische Migranten-Mütter zu ihren Verwandten in Kame-
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run, zu ihren neugegründeten Familien in Berlin und zu den anderen Migranten unterhalten, die sie in Hometown Associations, in Kirchen und auf Märkten in der Nachbarschaft treffen. Wie in vielen anderen Ländern im sogenannten Globalen Norden ist auch das deutsche Einwanderungs-, Arbeits- und Familienrecht Teil einer Kontrollkultur, die auf einem fundamentalen Misstrauen gegenüber Einwanderern aus dem sogenannten Globalen Süden basiert (Coe 2013: 104). Afrikanische Mütter merken, dass ihnen die Last der Dokumentierung aufgebürdet wird; Einwanderer müssen nachweisen, dass sie es verdienen, in Deutschland zu leben, zu arbeiten, zu heiraten und Kinder zu bekommen und dass sie den echten Deutschen keine Arbeitsplätze oder sozialen Ressourcen stehlen.1 Dieses unterschwellige Misstrauen gegenüber Einwanderern greift in einem sich wechselseitig verstärkenden Kreislauf über den Staat hinaus auf Politik, Meinungsführer und die öffentliche Meinung über. Obwohl der Argwohn gegenüber Immigranten von zivilgesellschaftlichen Organisationen bekämpft wird, die sich für Einwanderer einsetzen – wie zum Beispiel ProAsyl – und auch prominente Stimmen Toleranz und Integration fordern – wie die letzten zwei Bundespräsidenten (Wulff und Gauck) – sind diese Gegenstimmen im Alltagsleben afrikanischer Einwanderer kaum zu hören. Das Misstrauen gegenüber Einwanderern zeigt sich deutlich bei täglichen Interaktionen afrikanischer Mütter an öffentlichen Orten – die Blicke und Kommentare Fremder, die dunkle Haut oder
1
Was genau man unter echten Deutschen zu verstehen hat, ist Gegenstand öffentlicher und wissenschaftlicher Debatten. Migranten aus Polen und der ehemaligen Sowjetunion, die ihre deutsche Ethnizität belegen können, werden als Spätaussiedler bezeichnet und erhalten automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft (Castañeda 2012: 831). Das spiegelt Deutschlands monoethnisches Regime der Ethnizität wider, in dem „the state seeks to restrict membership in the nation to one ethnic category through discriminatory immigration and naturalization policies“ (Aktürk 2011: 118; siehe auch Aktürk 2012). Seit einer Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes im Jahr 2000 ist es für Menschen, die keine ethnischen Deutschen sind, einfacher die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten. Trotzdem werden sie entweder als Menschen mit Migrationshintergrund oder als Ausländer bezeichnet. Tatsächlich ist der Begriff Ausländer zu einer verbreiteten Entsprechung für ethnisch oder anders geworden (Mandel 2008). Deutschlands „cosmopolitan anxieties“ (Mandel 2008) spiegelt die deutsche Rechtsbewegung (PEGIDA, Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) wider, die am 22. Dezember 2014 in Dresden eine Rekordmasse von 17.500 Menschen zu einem Protest anstiftete, der seine Antwort in über 65.000 Unterschriften gegen die Bewegung fand, die bei einer Online-Petition zwei Tage vor den Weihnachtsfeiertagen gesammelt worden waren (Deutsche Welle 2014).
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fremde Akzente ungewohnt und verstörend finden. Diese Mikroaggressionen fordern ihren Tribut in den emotionalen sowie praktischen Leben afrikanischer Migranten-Mütter. In ihrer Kurzgeschichtensammlung schreibt die bekannte nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie: „At night something would wrap itself around your neck, something that very nearly choked you before you fell asleep“ (Adichie 2009: 119). Das unsichtbare „Ding um deinen Hals“, wie eine Schlange oder ein Dämon, der sein Opfer nachts würgt und sich nicht abschütteln lässt, ist die Bürde der Andersartigkeit und Fremdheit, die das Leben von Afrikanern in der Diaspora zermürbt. Meine kamerunischen Gesprächspartner spielten auf die gleiche verbreitete Last der Nichtzugehörigkeit an. Als sie ihre Fremdheit als Kamerunerin in Deutschland ihrer Vorstellung eines Zugehörigkeitsgefühls gegenüberstellt, beruft sich Ariane auf die Entfremdung, die sie trotz der Unterstützung ihres liebevollen Verlobten, des Lachens ihres süßen kleinen Sohns und der Zufriedenheit als Mitglied des Vorsitzes ihrer Hometown Association in Berlin fühlt. „[Je me sens] pas étrangère, pas de regard bizarre peut-être des autres, pas un système vraiment nouveau pour moi.“ Anstatt sich zu Hause zu fühlen (chez moi) spürt Ariane die stechenden Blicke und das bürokratische Durcheinander, die ihre Fremdheit in Berlin unterstreichen. In diesem Kapitel behandle ich einen besonderen Aspekt des Dings um den Hals der kamerunischen Mütter in Berlin, nämlich den Schatten des Staats. Bei der Wahl meiner Metapher habe ich mich vom Artikel Streitregelung im Schatten des Leviathans des Ethnologen Gerd Spittler inspirieren lassen, der inzwischen ein Klassiker ist und in dem der Autor behauptet, dass die Afrikaner durch den Wunsch, den einschränkenden Mechanismus von Recht und Ordnung im Kolonialstaat zu vermeiden, zur Beilegung ihrer Streitigkeiten durch traditionelle Maßnahmen motiviert wurden. In den Augen von Spittler wirft der Leviathan, oder der Rechtsstaat, einen bedrohlichen Schatten. Für afrikanische Einwanderer in Deutschland ist der Staat allerdings mehr als der Leviathan; er ist Teil eines Regulierungsregimes, das Menschen kategorisiert, Verpflichtungen fordert und Rechte und Leistungen gewährt oder verweigert. Ich versuche, den vom deutschen Staat geworfenen Schatten aus der Sicht kamerunischer Migranten-Mütter zu betrachten. Wann ist dieser Schatten dunkel und bedrohlich? Wann ähnelt er eher dichtem Nebel, der das Gebilde aus Sozialeinrichtungen, Schulen und Kliniken durchdringt, denen Mütter im Alltag begegnen? Wann spendet der Schatten des Staats Schutz? Durch seine komplexe Gesetzesstruktur, die Unmengen an Vorschriften und die Organisation der Sozialdienstleistungen wirft der deutsche Staat einen Schatten auf die Art und Weise, wie die kamerunische Mütter Kinder gebären, ihre
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Kinder aufziehen und im Laufe ihres Lebens Beziehungen zu anderen in der Diaspora knüpfen. Manchmal ist dieser Schatten bedrohlich, insbesondere wenn es um Einwanderungsrecht, Aufenthaltsrecht und die drohende Abschiebung geht. Im alltäglichen Leben beeinträchtigt der Schatten die Lebensweise kamerunischer Mütter. Dieser diffuse Schatten wird durch die Art spürbar, auf die deutsche Gesetze und Vorschriften die Familiengründung, die Kindererziehung und die Beziehungspflege zu anderen Kamerunern für kamerunische Mütter einschränken. Der diffuse Schatten deutscher Vorschriften beeinflusst die Art der Interaktionen, die Kameruner mit Behörden, Lehrern, Ärzten und Dienstleistern führen. Auch wenn dieser diffuse Schatten weniger bedrohlich ist als der des Leviathan, beeinträchtigt er die emotionale Haltung mit der Migrantinnen sich ihre neuen Leben in Berlin aufbauen. Schöpfen wir die Metapher noch weiter aus, ergibt sich eine dritte Art von Schatten, wenn der deutsche Staat Migrantinnen Schutz spendet und sie das Gesetz und die Staatsorgane zur Verfolgung ihrer Interessen nutzen können. Dieses Kapitel untersucht alle drei Arten dieses Schattens, den der deutsche Staat auf kamerunische Migranten-Mütter wirft, während sie versuchen, Familien aufzubauen und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu schaffen. Besuche beim Ausländer- und Sozialamt bieten Gelegenheit, das Netz der Kontrolle zu verstehen, das unter dem dunklen Schatten des Leviathan gesponnen wird. Gespräche mit Müttern offenbaren, dass Vorschriften ein überwältigendes Labyrinth schaffen, durch das sich die Frauen nach der Geburt eines Kindes einen Weg suchen müssen. Sie zeigen außerdem, wie der Staat und seine wohltätigen, nichtstaatlichen Ausläufer gleichzeitig Schutz bieten und Gefahren für Mütter schaffen, die Dokumente benötigen. Außerdem erschweren sie es Dienstleistern und kamerunischen Müttern, mehr als nur eine formelle, kurzlebige Beziehung aufzubauen. Eine erneute Betrachtung der Liebesgeschichten der Mütter und ihrer Schwierigkeiten bei der Kindererziehung ermöglicht es uns zu sehen, dass der von der staatlichen Regulierung geworfene Schatten emotionale Schaltkreise zwischen Verwandten verändert und die Autonomie der Mütter bei der Betreuung ihrer Kinder einschränkt. Anhand von Fällen ernsthafter Ehekonflikte beobachten wir schließlich, wie sich kamerunische Mütter schutzsuchend an den Schatten des deutschen Staats wenden.
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I M S CHATTEN DES L EVIATHAN Wenn kamerunische Mütter auswandern, werden die rechtlichen und kulturellen Normen, die sie bezüglich der Knüpfung von Beziehungen, der Geburt von Kindern und ihrer Erziehung verinnerlicht haben, mit einer neuen Realität konfrontiert. Zu diesen neuen Realitäten zählen die rechtlichen Normen, Rituale und Organisationen des deutschen Staats. Diese rechtlichen Normen und ihr regulatorischer Rahmen beinhalten deutsche kulturelle Vorstellungen zu Partnerschaft und Ehe, Geburt und Kindererziehung. Gesetze hinsichtlich Staatsbürgerschaft, Familie und Erziehung werden von der Kultur nicht nur beeinflusst, sondern sind ein Teil der Kultur. Bei der Gründung von Migranten-Familien spielen mehrere (rechtliche) Kulturen eine Rolle, die manchmal nebeneinander existieren, manchmal in Konflikt miteinander stehen und manchmal Kompromisse bei der Anpassung fordern. Wenn kamerunische Migranten und ihre deutschen Gesprächspartner aufeinandertreffen, wählen sie aus ihren kulturellen und rechtlichen Werkzeugsätzen (Swidler 1986) und nehmen eine Neustrukturierung der Schemata und Repertoires bezüglich Familienleben und der Bewegung sowie Trennung von Personen vor (Coe 2013; Sewell 1992). Im Verlauf dieses Prozesses enthüllen sie die ganze Kreativität und Unbestimmtheit von Kultur (Moore 1978; Moore und Myerhoff 1977). Im Zentrum dieser rechtlichen und kulturellen Anpassungen stehen die Migranten-Mütter, -Väter und -Kinder, die Familien an einem neuen Ort gründen. Vor gut drei Jahrzehnten untersuchte Spittlers „Streitregelung im Schatten des Leviathan“ die wechselseitige Beeinflussung zweier Rechtskulturen in einer Situation des Rechtspluralismus (1980). Diese beiden Rechtskulturen – das afrikanische Gewohnheitsrecht und das europäische Kolonialrecht – trafen durch eine besondere Form der globalen Mobilität aufeinander, nämlich den europäischen Kolonialismus. Lassen wir für den Moment eine ausführliche Debatte über die koloniale Erfindung des customary law (Gewohnheitsrecht) außen vor (Moore 1986) und konzentrieren uns auf Spittlers eigentliche Absicht: Er wollte die Wirksamkeit und Gültigkeit einheimischer Formen der Streitbeilegung erklären, obwohl die Fähigkeit lokaler Führer und Gemeinden zur Verhängung von Sanktionen durch den Kolonialstaat erheblich eingeschränkt worden war. Spittler behauptete, dass frühere anthropologische Erklärungen zum anhaltenden Einfluss des Gewohnheitsrechts unzulänglich waren, da sie den Kontext des Kolonialstaats und seine Alternative zu lokalen Vorgehensweisen der Streitbeilegung weitgehend außer Acht ließen. Spittler äußert sich gegen die Auffassung, dass einheimische Formen der Streitbeilegung wirkungsvoll sind, weil Dorfgemeinschaften von einer Durkheimischen organischen Solidarität zusam-
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mengehalten werden (Durkheim 1984). Außerdem hält er sozialstrukturelle Merkmale afrikanischer Gesellschaften – wie zum Beispiel das komplexe Netzwerk aus dauerhaften, multiplexen Beziehungen, das Parteien unter Druck setzt, um den Zerfall eines größeren sozialen Gefüges zu verhindern (Gluckman 1967: 96) – nicht für eine hinreichende Erklärung für die Wirksamkeit einheimischer Methoden der Streitbeilegung in afrikanischen Kolonial- und Postkolonialstaaten. Stattdessen haben die Parteien eines Konflikts, ihre sozialen Netzwerke und die traditionellen Autoritäten, die den Fall verhandeln, ein gemeinsames Interesse daran, das koloniale und postkoloniale Gerichtssystem zu vermeiden. Sie agieren im Schatten des Leviathan – eines Staats, der unnahbar, undurchsichtig und häufig feindselig erscheint. Es ist die Gefahr, zur nächsthöheren Instanz zu gehen, sich den Normen, Verfahren und Strafen einer anderen Rechtskultur zu unterwerfen, die Parteien dazu bewegt, zusammenzuarbeiten und Streitigkeiten innerhalb ihrer lokalen Gruppe zu schlichten. Was passiert mit Spittlers Vermutungen, wenn globale Mobilität in eine andere Richtung fließt, von Afrika nach Europa? Kamerunische Einwanderer in Berlin leben in der Tat ein Leben im Schatten eines europäischen, rechtlichen Leviathans. Trotzdem führt das nicht dazu, dass sie die rechtlichen Normen und Vorgehensweisen ihrer ursprünglichen Ethnizität erhalten oder konsequent auf sie zurückgreifen. Wie wandern rechtliche Normen, Rituale, Symbole und Vorgehensweisen kamerunischer Migranten wirklich? Vermeiden Migranten andere Rechtsformen (wie zum Beispiel das deutsche Einwanderungs- und Familienrecht), widersetzen sie sich ihnen oder nutzen sie diese für ihre eigenen Zwecke? Eine Herangehensweise an diese Fragen ist der theoretische Rahmen des rechtlichen Bewusstseins. Rechtliches Bewusstsein bezieht sich auf die Auffassungen und Bedeutungen von Recht, die sich in sozialen Beziehungen verbreiten und zwar genau in den sozialen Beziehungen, die emotionale Schaltkreise bilden. Wir könnten das rechtliche Bewusstsein auch Recht von unten nennen. Rechtliches Bewusstsein entfaltet sich auf der Mikroebene des sozialen Handelns. Die Alltagsroutine schafft Berührungspunkte zwischen Menschen und Gesetz und anschließend werden Geschichten über ihre Interaktionen mit rechtlichen Vorschriften und Institutionen ausgetauscht. Diese Geschichten werden im Rahmen säkularer Rituale erzählt (Moore und Myerhoff 1977), bei denen Schlüsselgesten die Qualität verbindlicher Symbole annehmen. Die so verbreiteten Bedeutungen bilden ein Muster kollektiv geteilter, habituierter rechtlicher Auffassungen (Mauss 1979 [1938], Bourdieu 1977). Durch diese Situationen wird das Verständnis des Rechts kollektiver und verbindlicher. Auf diese Weise ist das rechtliche Bewusstsein für die Rechtskultur als Phänomen der Makroebene von grundlegender Bedeutung.
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Aufbauend auf Ewicks und Silbeys Analyse des amerikanischen rechtlichen Bewusstseins (Ewick und Silbey 1998) können wir vorläufige Muster unter kamerunischen Migranten in Deutschland ausmachen. Migrantinnen stehen einem undurchschaubaren Landesrecht eingeschüchtert gegenüber, lernen mit dem Gesetz zu arbeiten und das Gesetz zu meiden. Jede dieser Verhaltensweisen repräsentiert ein anderes normatives Ideal (Recht als Zielvorgabe, als Spiel oder als willkürlich) und eine andere Handlungsart (Konformität, taktisches Vorgehen oder Widerstand). Das rechtliche Bewusstsein kamerunischer Migranten verkompliziert sich durch die vielen Rechtskulturen, die als Orientierungspunkte für die kamerunische Familiengründung dienen. Jede Volksgruppe in Kamerun bildet ihre eigene Rechtsgemeinschaft, die aus Ritualen und Symbolen besteht, welche Verfahren zur Streitbeilegung und Normdurchsetzung organisieren und formen. Unter den Bamiléké war die Rechtsprechung während des gesamten 20. Jahrhunderts in politische und religiöse Praktiken eingebettet (Kwayeb 1960; Malaquais 2002). Als ich 1986 meine Feldforschung im Bamiléké-Königreich Bangangté durchführte, wurde ich zum Beispiel Zeugin einer Streitbeilegung, bei der die Parteien eines Familienkonflikts vor dem Fon (König) erschienen und jeweils ihre Beschwerden und Interpretationen der Situation vorbrachten. Der Fon verwies die Streitparteien anschließend an für den Hof tätige Ritualspezialisten, die „Menschen aus dem Gotteshaus“ (Ba Nda Nsi). Diese Akteure des Königshofes verwendeten königliche Symbole und Rituale – einschließlich eines Fußbads in reinigendem, gekochtem Palmwein – um eine Schlichtung dieses Familienkonflikts zu erzwingen. Die deutsche, französische und britische Kolonialherrschaft führte neue Symbole, Rituale und Normen (s. Gephart 2006) in das kamerunische Landesrecht ein, das sowohl gesetzliche als auch gewohnheitsrechtliche Elemente umfasst. Bei der Anwendung pluraler Rechtsvorschriften können Kameruner ziemlich kreativ sein. Staatsanwälte wenden das Landesrecht zu schwerwiegender Entweihung beispielsweise nur an, wenn diese traditionelle Regelungen zur Erbschaft und der Behandlung von Ahnen verletzt. Eine Einwanderung nach Deutschland führt zum Kontakt mit einer weiteren Rechtskultur, mit neuen rechtlichen Normen, Symbolen und Organisationen. Kamerunische Migranten interagieren im Verlauf der Familiengründung mit deutschen Rechtsinstitutionen – zur Einholung von Visa, zur Beantragung einer Heiratserlaubnis und zur Eintragung einer Geburt. Der Austausch von Geschichten über alltägliche Begegnungen mit deutschen Beamten ist ein wichtiges Element der Sozialität kamerunischer Migranten. Migranten tauschen Geschichten bei Familientreffen und Gemeindeversammlungen aus, d.h. in den gleichen
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Netzwerken, über die Migranten auch Fürsorge anbieten und Zugehörigkeit schaffen. Neu eingereiste Migranten lernen von denjenigen, die sich bereits eingelebt und Erfahrungen mit dem deutschen System gesammelt haben (Kohlhagen 2006b). Die Geschichten der Migranten, die mit ritueller Souveränität und Autorität vermittelt werden, kristallisieren sich zu kollektiv gehegten Auffassungen darüber, wie man mit dem Gesetz an einem neuen Ort zurechtkommt oder es umgeht. Das ist das Wesentliche des rechtlichen Bewusstseins als Prozess der Bedeutungsbildung, bei dem Rechtskulturen geformt, angefochten und miteinander verflochten werden. Als Nächstes werden wir erleben, wie sich dieser Prozess durch Begegnungen kamerunischer Mütter mit deutschen Beamten in einem labyrinthähnlichen, rechtlich-bürokratischen System gestaltet.
B EGEGNUNGEN MIT DEM RECHTLICH - BÜROKRATISCHEN L ABYRINTH Wenn eine kamerunische Mutter in Deutschland ankommt, eine Wohnung findet oder einen Fernseher anschließt, muss sie mit deutschen Behörden interagieren. Wenn sie ein Kind gebärt, es zur Kontrolluntersuchung zum Kinderarzt bringt und für die Tagesstätte oder Schule anmeldet, muss sie von Amt zu Amt ziehen, um Bescheinigungen und Stempel zu sammeln. Ihre Reise ist so ein bedeutendes Merkmal des deutschen Lebens, dass sie eine eigene Bezeichnung hat – den Behördengang. Er erinnert an einen Hürdenlauf und verleiht den Begegnungen der Mütter mit Regierungsbehörden einen ganz eigenen Tenor. Unsere kamerunische Mutter kennt schwerfällige Bürokratien aus ihrem Heimatland, aber was sie in Berlin vorfindet, ist ein neues und unvertrautes Labyrinth. Der Druck, den sie auf ihrem Weg durch das verwirrende Terrain des endlos scheinenden Behördengangs spürt, wirft einen Schatten der Unsicherheit auf das Alltagsleben und die Familiengründung der Mutter. Die einzigartige Organisation der Sozialdienste in Deutschland trägt zur labyrinthähnlichen Beschaffenheit des Behördengangs bei. Deutschland ist ein relativ freigiebiger Sozialstaat, der 26,7% seines Bruttoinlandprodukts (Giehle 2014)2 in ein umfangreiches System aus Kranken-, Renten-, Unfall-, Pflege- und Arbeitslosenversicherungen sowie eine Kombination aus Kindergeld und Steuererleichterungen investiert, die als Ausgleich für die Mühen beim Großziehen einer Familie dienen sollen. Deutschlands Sozialwesen basiert auf dem Subsidiari-
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Verglichen mit 15,9% an Sozialausgaben in den USA und einer durchschnittlichen Investition von 20,7% unter den OECD-Ländern (Giehle 2014).
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tätsprinzip, das heißt, dass die Verantwortung für die Lösung sozialer Probleme von der kleinsten lokalen Ebene übernommen werden sollte; die Bundesregierung als zentrale Autorität spielt eine untergeordnete Rolle und übernimmt die Aufgaben, die auf einer unmittelbareren Ebene nicht effektiv ausgeführt werden können. „Germany does not provide its citizens with […] social welfare benefits through a centralized state-run system. Rather, it provides these benefits via a complex network of national agencies and […] independent regional and local entities – some public, some quasi-public, and many private and voluntary“ (Solsten 1995). Da das soziale Sicherheitsnetz in Berlin sich aus solch einer unterschiedlichen Mischung aus öffentlichen Behörden und privaten Einrichtungen zusammensetzt, verteilen sich die Leistungen auf mehrere Anlaufstellen, die wiederum geografisch in der Stadt verteilt liegen. Es obliegt also jedem Einzelnen, seinen Weg von einem Amt zum nächsten zu finden. Meine kamerunischen Interviewpartner sprachen häufig die Pflicht an, sich durch den Behördengang quälen und oft von einem Ende der Stadt zum anderen fahren zu müssen, was sie als ärgerliche Behinderung in ihrem Alltag betrachteten. Sie berichteten von der Notwendigkeit ihre Papiere in Ordnung zu bringen und beklagten sich über die große Menge dieser Papiere. Lily beschrieb die von ihr beobachteten Erlebnisse anderer kamerunischer Migranten, die als illegale Einwanderer lebten. „Quand on se retrouve dans un pays sans papiers, par exemple, on nʼest pas bien dans sa peau, forcement…. la personne ce met au fond encore, elle reste là dans son coin, et les idées deviennent sombres.“ Der Erhalt dieser Dokumente ist der zentrale Zweck dieses langen, gewundenen Pfads, den kamerunische Mütter auf ihrem Weg durch die deutsche Bürokratie beschreiten. Dokumente sind der Schlüssel zu Dienstleistungen, zu Sozialhilfe, zu vorübergehendem Schutz vor der Abschiebung und zur Regelung des Aufenthaltsstatus. Migranten-Mütter setzen sich dem aus, was Lavie in einem anderen Kontext (dem Kampf alleinstehender Mizrachim-Mütter in Israel) als „bureaucratic torture“ bezeichnet hat (Lavie 2014), weil die Zuwendungen und der Schutz, den sie hoffen zu erhalten, ihnen den Aufenthalt und das Großziehen ihrer Familien in Deutschland ermöglichen. Im Hinblick auf das Leben in Deutschland hatten viele Mütter das Gefühl, dass sie eher durch die in Dokumenten festgehaltenen Spuren ihrer selbst real wurden, als durch Sozialität.3 Die Art des Visums oder Passes bestimmte die Leichtigkeit oder Möglichkeit eine Arbeitsstelle zu bekommen, eine Wohnung
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Maurizio Ferraris legt nahe, dass sogar die Austausche und Gespräche, die alltägliche soziale Beziehungen ausmachen, durch Belege, Telefonrechnungen und Textnachrichten dokumentiert werden (2013).
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zu finden und seine Adresse anzumelden (eine staatsbürgerliche Anforderung in Deutschland, wie auch in vielen anderen europäischen Ländern). Ohne einen gemeldeten Wohnsitz kann man kein Bankkonto eröffnen, keinen Büchereiausweis beantragen und seine Kinder nicht zur Schule anmelden. Darüber hinaus werden bei der Bewerbung um einen Arbeitsplatz Papiere in Form eines Abschlusszeugnisses – eines Qualifikationsnachweises – höher bewertet als Erfahrung. Wie Brecht in den frühen 1940ern in seinen Flüchtlingsgesprächen schrieb, ist ein Pass „anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“ (Brecht 2000: 7).4 Bei den Gelegenheiten, bei denen Magni mich begleitete, baten die Mütter Magni unmittelbar nach dem Ende des Interviews um Ratschläge bezüglich der besten Vorgehensweise für den Behördengang. Jucal bat Magni zum Beispiel, sich die Unterlagen anzusehen, die sie zur Anmeldung für einen Studiengang als Sozialarbeiterin vorbereitet hatte. „I gave all my documents to [Magni] because I just thought it might be [close to] sociology.“ Jucal hoffte, dass Magni ihr helfen könnte, Zugang zu den verschiedenen Sozialleistungen zu bekommen, die es ihr ermöglichen würden, ihr Studium nach einem Abbruch aufgrund einer Fruchtbarkeitsbehandlung und einer schwierigen Schwangerschaft wieder aufzunehmen. Tatsächlich war Magni in der Lage Jucal zu erklären, welche Papiere sie zuerst bei welchem Amt abstempeln lassen musste, bevor sie die nächste Hürde im rechtlich-bürokratischen Labyrinth in Angriff nehmen konnte. Ich habe durch ihre Unterhaltungen und die Geschichten, die sie mir erzählt haben, sowie durch die Art und Weise, wie die Interaktionen der Frauen mit den Behörden unsere Treffen beeinträchtigten, von ihren Erlebnissen erfahren. Lily musste unser Interview aufgrund eines Termins bei ihrem Anwalt kurz halten. Kurz vor unserem ersten Treffen rief mich Jucal verzweifelt von ihrem Handy aus an und bat mich, sie im Standesamt zu treffen; sie wollte ihren Platz in der Schlange nicht verlieren. Da ich meine kamerunischen Interviewpartner nur selten in Ämtern oder bei Dienstleistern traf, muss ich andere Quellen verwenden, um die persönlichen Begegnungen mit dem deutschen bürokratischen Labyrinth zu beschreiben. Ich kombiniere die Berichte der Mütter über ihre Wanderungen von Amt zu Amt mit meinen Erfahrungen als ausländische Wissenschaftlerin,
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Brecht schrieb den Text, dem dieses Zitat entnommen ist, im Jahr 1940 in Schweden, wo er im Exil lebte. Das längere Zitat lautet so: „Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“
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die sich um einen Aufenthaltstitel bemüht, sowie mit Beobachtungen während meiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Dolmetscherin für einen jungen weiblichen Flüchtling aus Afrika. Ein Besuch beim Ausländeramt An einem kalten Dezembermorgen erklomm ich auf meinem Weg zum Ausländeramt die Stufen des düsteren U-Bahnhofs an der Amruner Straße. Nachdem ich zwei Monate zuvor in der Zentrale angerufen hatte, war mir ein Termin bei der Sachbearbeiterin zugewiesen worden, die meinen Antrag auf einen Aufenthaltstitel bearbeitete. Ich erinnere mich noch gedacht zu haben „Gott sei Dank spreche ich Deutsch“, während ich am Telefon in der Warteschleife steckte. Ohne diese Kenntnisse wäre sogar die Vereinbarung eines Termins eine Herausforderung gewesen. Am Ende der Stufen aus dem U-Bahnhof angekommen, blinzelte ich im hellen Tageslicht und fragte mich, in welche Richtung ich wohl musste. Schließlich fand ich das Straßenschild mit der Aufschrift Torfstraße und machte mich auf den Weg. Als ich an Häusern der Arbeiterklasse, kleinen afroasiatischen Lebensmittelgeschäften und den einladenden Fenstern des Afrika Medien Zentrums vorbei kam, fragte ich mich, wie sich eine frisch eingetroffene kamerunische Migrantin auf diesem Gang zum Ausländeramt fühlen würde. Könnte sie sich eine Wegbeschreibung von der Website der Nahverkehrsgesellschaft besorgen oder einen Passanten nach dem Weg fragen, wenn ihre Deutschkenntnisse noch schwach sind? Würde sie die verschiedenen, auf der offiziellen Website aufgeführten Aufenthaltstitel und die damit verbundenen Bedingungen verstehen? Hätte sie genügend Geld für die Gebühren, in der Regel über 100 Euro? Sogar ich war etwas nervös, da der Termin, den ich hatte bekommen können, lange nach der dreimonatigen Nachfrist für Staatsbürger aus Australien, Israel, Japan, Kanada, der Republik Korea, Neuseeland und den Vereinigten Staaten von Amerika lag, die ohne ein Visum nach Deutschland einreisen dürfen. Wie wäre es für eine junge afrikanische Frau ohne das Privileg der Staatsbürgerschaft eines begünstigten Landes, die Einladung durch zwei angesehene Forschungseinrichtungen und ohne einen deutschen Ehemann als Ausgangssituation? Die kamerunische Schriftstellerin Priscillia Manjoh schließt ihren Roman Snare mit einer Szene ab, in der die Protagonistin auf ihrem Weg zum Ausländeramt nicht in der Lage ist, die Brücke am Ende der Torfstraße zu überqueren. Sie sitzt auf einer Bank, kritzelt ihr Leid – die Notwendigkeit, in den Besitz von doki (Papieren) zu kommen, die sie verzweifeln lässt – in Form eines PidginGedichts nieder, zerknüllt das Papier und wirft es in den Kanal (Manjoh 2013:
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216-218). Ich überquerte die gleiche Brücke, ließ die lebhafte Welt der Immigrantenläden hinter mir und betrat einen Industrieabschnitt entlang eines Kanals, der zwischen den Berliner Ortsteilen Wedding und Moabit verläuft. Unter den Gebäuden entlang des Kanals stand eine imposante Gruppe aus vier Backsteinhäusern: der Komplex der Ausländerbehörde. Als ich diesen Komplex betrat, stellte ich fest, dass jedes der Gebäude Antragstellern aus verschiedenen Herkunftsregionen zugeordnet war und es einen separaten Eingang für diejenigen gab, die aus humanitären Gründen Asyl oder Visa beantragen wollten. Indem ich den vergilbenden Karten und Pfeilen folgte, fand ich den Bereich, der für Nord-, Mittel- und Südamerika sowie SubsaharaAfrika zuständig war und fragte mich, warum diese beiden Weltregionen in einer Abteilung zusammengefasst worden waren. Während ich draußen vor der mir zugewiesenen Tür wartete, sah ich einen Mann, der alleine an einer Tür ein Stück den Gang runter wartete und ein Paar mit von Sorge gezeichneten Gesichtern, das vor einer weiteren Tür wartete. Alle beschäftigten sich mit ihren Papieren, sahen auf ihre Uhren – und niemand sprach ein Wort. Sobald ich in dem Büro war, wurde ich mir meines Privilegs als amerikanischer Wissenschaftlerin bewusst, die von einer amerikanischen Stiftung bezahlt wird und während ihres Aufenthalts in Deutschland keine Arbeitsstelle suchen muss. Ein weiterer Sonderstatus war meine Ehe mit einem deutschen Staatsbürger. Frau Eiche,5 meine Sachbearbeiterin, tat meine Bedenken wegen meines verspäteten Termins ab und erledigte schnell alle notwendigen Schritte, um mir eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auszustellen. Wir hatten sogar noch Zeit, um uns über ihre Erfahrungen mit der Arbeit im Ausländeramt zu unterhalten. Frau Eiche erklärte, dass sie und ihre Kollegen sich auf eine Region spezialisieren müssen, da für Ausländer aus unterschiedlichen Teilen der Welt andere Bestimmungen gelten. Ferner müssen sich die Sachbearbeiter Kenntnisse über die Landesbedingungen am Herkunftsort aneignen, um den Fall jedes Einzelnen beurteilen zu können. Laut Frau Eiche ähnelte ihre Ausbildung an einer Fachhochschule für Verwaltungswissenschaften einem verkürzten Jurastudium, da sie sich mit dem Einwanderungsrecht auskennen musste, um die Fälle bearbeiten zu können, die auf ihrem Schreibtisch landeten. Frau Eiche erzählte mir, dass sie bei ihren Entscheidungen im gesetzlich zulässigen Rahmen etwas Freiheit walten lässt und sie sich diesen Spielraum wann immer möglich zunutze macht. Durch ihr Verhalten und ihren Gesichtsausdruck schien sie anzudeuten, dass sie die ihr zur Verfügung stehende Ermessensfreiheit einsetzte, um Menschen dabei zu helfen, in Deutschland bleiben zu können. Forschungen zur Migration nach
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Deutschland und anderen Ländern der Europäischen Union haben mir Aufschluss darüber gegeben, dass diese Ermessensfreiheit von Bürokraten Vor- und Nachteile haben kann – sie kann hilfreich oder strafend sein, den Zugang zu legalem Aufenthalt erleichtern oder beschränken (Alpes 2013; Alt 2003; Ellermann 2006; Mau und Brabandt 2011). Finotelli und Sciortino (2013) haben in Mitgliedstaaten der Europäischen Union ausgestellte und verweigerte Visa verglichen und sind auf eine ungleichmäßige Visaregelung gestoßen, bei der sich Ermessensfreiheit zum Nachteil der Migranten auswirkt, die über das Mittelmeer kommen (d.h. vom afrikanischen Kontinent). Bei öffentlichen und privaten Anlässen tauschen kamerunische Migranten untereinander Geschichten aus, die sehr unterschiedliche Darstellungen bezüglich der Ermessensfreiheit von Sachbearbeitern in Ausländerämtern liefern. Bei einer öffentlichen Veranstaltung zum Schicksal afrikanischer Migranten, deren Mitsponsoren der Bürgermeister des Berliner Stadtteils Lichtenberg und eine katholische Wohltätigkeitsorganisation waren, fesselte ein Mann die Zuhörer mit einer Schreckensgeschichte über bürokratische Gleichgültigkeit und absolute Kaltherzigkeit – scheinbar eine Fallstudie von Herzfelds Definition bürokratischer Gleichgültigkeit: „the rejection of common humanity… [und] the denial of identity, of selfhood… Everyone, it seems, has a bureaucratic horror story to tell, and few will challenge the conventions such stories demand“ (Herzfeld 1992: 1, 4). Der Mann war vor Jahren von Westafrika als Student einer von Berlins angesehenen Universitäten in Deutschland angekommen. Als er an Krebs erkrankte, musste er sein Studium abbrechen. Noch während seines Krankenhausaufenthalts verlor er sein Visum und wurde aus seiner Wohnung geworfen, verlor seine gesamten Papiere, Notizbücher und sogar Kindheitsfotos. Sein Sachbearbeiter, so behauptete er, rührte keinen Finger, um ihm zu helfen. Nur durch die Unterstützung einer Flüchtlingshilfsorganisation konnte er eine neue Aufenthaltserlaubnis einholen und seine medizinische Behandlung abschließen. Im Gegensatz dazu berichtete Maria Mar, dass sie ursprünglich für ein sechsmonatiges Praktikum nach Berlin kam und die Absicht hatte, danach wieder nach Kamerun zurückzukehren, um ihr Geschichtsstudium fortzusetzen. Zu ihrer Überraschung stellte Maria fest, dass sie die ihr mit ihrem ersten Visum bewilligte Zeit mit Sprachkursen verbrachte hatte, um Deutsch zu lernen. Maria ging erneut zum Ausländeramt, um ihr Visum verlängern zu lassen, damit sie endlich ihr Praktikum beginnen konnte. Ihr Sachbearbeiter ermutigte sie jedoch, einen längeren Aufenthalt zu beantragen und an einer Universität hier zu studieren, anstatt nur ein Praktikum anzustreben.
234 | M IGRANTEN, R ECHT UND I DENTITÄT „So [when] I came, my purpose was not even like staying here for long… Even though I had a student visa I really even didnʼt want to study at that moment. I wanted to do like [a] Praktikum, internship somewhere. I just wanted to be here for six months or a year. So when I came I had to study [German] language for a short time before I get place for my internship. But then I went to the Foreigners Office sometime after extending that six month [visum]. Because first I got three months, after renewing that I went a second time, by then I was just about finishing with my language, I didnʼt have an internship place [yet] then. So went to them I only need a visa now for my internship. And the man I met was so nice to me ‚but why just internship?‘ he said, ‚you already, you have studied to an extent already, why donʼt you [go to] a university and then try to get but a student place and then you can stay and study, for as long as you want.‘ That is the advice he gave me. So he gave me another six months... You know, it wasnʼt in my head but he gave me the advice and I took it. So I tried, I applied in one or two universities. I got a place at the University of Potsdam.“
In Marias Fall war es anstatt ihrer ursprünglichen Lebensplanung also der Rat eines deutschen Bürokraten, der sie ermutigt hatte, ihren Aufenthalt in Deutschland zu verlängern. Marias Sachbearbeiter löste damit eine Kette von Ereignissen aus, die zu Ausbildung, Beschäftigung, Familiengründung und dauerhafter Niederlassung in Deutschland führte. Im Ausländeramt kann sich die Ermessensfreiheit der Sachbearbeiter zum Vor- oder Nachteil der Migranten auswirken. Die Entscheidungen niederrangiger Beamter haben Konsequenzen, ob sie aus Freundlichkeit oder Gemeinheit, gründlicher Sorgfalt oder Überarbeitung, sozialem Engagement oder Dienst nach Vorschrift getroffen werden. Sie bestimmen, ob ein Einwanderer sich legal in Deutschland aufhalten darf oder sich entweder im Untergrund verstecken oder in sein Herkunftsland zurückkehren muss. Durch die Art des von ihnen ausgestellten Aufenthaltstitels legen Angestellte des Ausländeramts außerdem fest, ob eine Migranten-Mutter arbeiten oder Sozialleistungen empfangen darf. Als Begleiterin von Maimouna In Deutschland einen sicheren Hafen mit Zugang zu Sozialleistungen und Gesundheitsversorgung zu bekommen war für Maimouna von lebenswichtiger Bedeutung. Ich traf Maimouna, eine westafrikanische Flüchtlingsfrau, durch meine ehrenamtliche Tätigkeit bei African Embrace6, einer afrikanischen Selbsthilfeorganisation, die Migranten soziale Dienste und HIV-Vorbeugung anbietet. Unsere
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Ein Pseudonym.
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erste Begegnung fand am Frühlingsanfang statt, etwa nach der Hälfte meiner vierzehn Monate in Berlin. Maimouna war im letzten Herbst aus einem westafrikanischen Land in Deutschland angekommen, das zum Schutz ihrer Anonymität ungenannt bleibt. Im Alter von gerade einmal 17 Jahren und nachdem sie vor einer Zwangsehe geflohen war, in der die anderen älteren Ehefrauen des Mannes sie misshandelt hatten, landete Maimouna in Berlins einzigem öffentlichen Heim für unbegleitete Minderjährige. Maimounas Heim wird von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft geleitet. Seit August 2014 verfügt Berlin über fünf staatliche Aufnahmeeinrichtungen und 33 weitere unter Vertrag stehende Wohnstätten, in denen fast 10.000 erwachsene Asylbewerber und Flüchtlinge untergebracht sind (Glaeser o.D.). Noch mehr erwachsene Asylbewerber sind in eingezäunten Baracken in kleinen Ortschaften im benachbarten Bundesland Brandenburg untergebracht; dort müssen sie für einen Arztbesuch oder einen Ausflug nach Berlin eine Genehmigung beantragen. Unbegleitete Minderjährige aus dem Ausland werden anders als erwachsene Flüchtlinge und Asylbewerber behandelt; der deutsche Gesetzgeber und Dienstleister erkennen an, dass Kinder und Jugendliche wie Maimouna angreifbar sind und lassen ihnen daher mehr Betreuung zukommen als Erwachsenen. Nachdem eine medizinische Untersuchung ergab, dass Maimouna HIVpositiv ist, kontaktierte das staatliche Heim für unbegleitete minderjährige Einwanderer African Embrace in Berlin, um für diese junge Frau Fürsorgeleistungen und eine Beratung zu beantragen. Maimounas Situation unterschied sich sehr von der anderer kamerunischer Frauen, die ich getroffen hatte – die meisten von ihnen waren gebildet, sprachen Englisch oder Französisch als erste Fremdsprache und waren im städtischen Umfeld aufgewachsen7. Maimouna war jünger, stammte aus einem Dorf, in dem nur die Lokalsprache gesprochen wurde, hatte nur vier Jahre lang die Schule besucht und verfügte über eher dürftige Französischkenntnisse. Sie war mit 16 verheiratet worden, hatte dieser Ehe mit der Hilfe einer Freundin ihrer verstorbenen Mutter entkommen können und hatte keine Kinder. Ich erzähle Maimounas Geschichte, weil sie etwas über den Schatten verrät, den das bürokratische Labyrinth wirft, mit dem kamerunische Migranten-Mütter konfrontiert werden, sowie über das Netzwerk aus Sachbearbeitern, Lehrern und Freiwilligen, die Einwanderer auf ihrem Weg unterstützen.
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Gemäß den Regeln, die ich durch meine ehrenamtlichen Tätigkeiten in Berlin gelernt hatte, fragte ich meine Gesprächspartner nicht nach ihrem HIV-Status und niemand äußerte sich freiwillig darüber. Sofern ich weiß, war keine der in Berlin lebenden kamerunischen Frauen, die ich getroffen hatte, HIV-positiv.
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Als ich Maimouna kennenlernte, war sie gerade 18 geworden und ihr war erst vor kurzem Asyl aus humanitären Gründen gewährt worden. Beide Ereignisse änderten die Kombination aus Geldleistungen und Wertgutscheinen, die sie für ihre Lebenshaltungskosten sowie ihre Pflicht zur Teilnahme an einem Integrationskurs (für Sprache und Bürgerkunde) bekommen würde. Maimouna lebte immer noch in dem Heim für unbegleitete Minderjährige, aber aufgrund ihres neuen Status als erwachsene Asylbewerberin würde sie bald ausziehen müssen. Ihr Sozialarbeiter bei African Embrace bat mich, sie zum Ausländeramt zu begleiten, um für sie als Dolmetscherin aufzutreten und ihr moralische Unterstützung zu bieten. Maimouna und ich trafen uns im Büro der afrikanischen Selbsthilfeorganisation, um uns kennenzulernen und einen Treffpunkt auszumachen. An einem wunderschönen Nachmittag im Frühling traf ich mich mit Maimouna an der U-Bahn-Station Turmstraße. In den sieben Monaten, die Maimouna bereits in Berlin lebte, hatte sie sich mit dem U-Bahn-System und Handys vertraut gemacht. Atemlos rief sie mich an, um Bescheid zu sagen, dass sie gleich da sei, während sie den Bahnsteig entlang lief, um mich zu begrüßen. Sie war von dem Kurs Deutsch als Zweitsprache hergeeilt, an dem sie jeden Nachmittag zwei Stunden teilnahm. Da Maimouna in ihrem Heimatland nur eine minimale formale Ausbildung genossen hatte – lediglich vier Jahre in einer Dorfschule und das mit häufigen Unterbrechungen – lernte sie in ihrem Deutschunterricht nicht nur eine neue Sprache, sondern auch die Grundlagen des Lesen und Schreibens. Am Kiosk der U-Bahn-Station dankte Maimouna mir für die Ausgabe der französischen Zeitung, die ich für sie gekauft hatte und erzählte mir bedauernd, dass sie diese nicht selbst lesen konnte. Dann fiel uns auf, dass wir fast zu spät zu unserem Termin kommen würden. Glücklicherweise hatte Maimouna ein gutes räumliches Gedächtnis; nach nur einem Besuch beim Sozialamt wusste sie genau, wo es lang ging. Sie ergriff meine Hand und zog mich hinter sich her. Wie zwei Jugendfreundinnen rannten wir durch das Sonnenlicht über die Straße. Ironischerweise bedeutete unsere Hast nur, dass wir uns beeilt hatten, um zu warten... und zu warten und zu warten... zwei Stunden lang. Wir nutzten die Zeit, um das Lesen der Nummern zu üben, die wir für den Warteraum gezogen hatten, und um uns besser kennenzulernen. Maimouna erzählte mir, dass ihr Dorf in einer trockenen Gegend liegt und mit den Schatten von Baobab- und Mangobäumen gesprenkelt ist. Maimouna sprach voller Nostalgie über die wenigen Avocado- und Papayabäume, die in ihrem Dorf wuchsen, doch dann schüttelte sie den Kopf. „Mon village est un village. Ce nʼest pas belle [sic, beau].“ Maimounas Eltern waren beide verstorben, als sie noch sehr jung war und deshalb war sie von der Schwester ihrer Mutter großgezogen worden. Als Maimouna 16 war, arrangierte ihre Tante für sie eine Ehe als vierte Ehefrau eines alten Mannes. „Ce
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nʼétait pas bon“, wiederholte Maimouna, denn auch wenn der alte Mann sie nicht schlug, taten es seine anderen Ehefrauen. Da sie sich in so einer schrecklichen Lage befand, erzählte mir Maimouna, organisierte eine Freundin ihrer verstorbenen Mutter ihre Flucht und reiste mit ihr gemeinsam nach Deutschland. Als sie in Berlin ankamen, ließ die Freundin Maimouna an einem Bahnhof zurück. Verängstigt und weinend hörte Maimouna, wie eine Frau ihre Sprache sprach. Diese Fremde brachte sie in ein Asylbewerberheim. Seitdem war sie ein Mündel des Systems, das sich um unbegleitete Minderjährige kümmert. Schließlich erschien Maimounas Nummer zusammen mit einer Angabe des Raums auf der Anzeige, in dem wir ihre Sachbearbeitern Frau Amt8 antreffen würden. Frau Amt bat uns, auf zwei Plastikstühlen in ihrem beengten Büro Platz zu nehmen und entschuldigte sich für das hohe Fallaufkommen, das zu dieser Verspätung geführt hatte. Inzwischen war es nach 19 Uhr und normalerweise hätte Frau Amt schon längst Feierabend gehabt. Sie beglückwünschte Maimouna zum positiven und schnellen Abschluss ihres Asylantrags. Sie lobte Maimouna als ruhige, kluge und „nette“ junge Frau und brachte ihre Zuversicht zum Ausdruck, dass Maimouna „gut zurechtkommen würde“. Frau Amt ermunterte Maimouna, fleißig weiter Deutsch zu lernen, weil Sprache der Schlüssel zur „Integration“ sei. Frau Amt erklärte, dass dies Maimounas letzter Besuch bei ihr im Sozialamt sein würde, da aufgrund ihres neuen Statuts nun das Jobcenter für sie zuständig sei (das Maimouna als anerkanntem Flüchtling höhere Sozialleistungen als einem Asylbewerber zahlen würde). Frau Amt erläuterte die neuen Leistungen (monatliches Unterhaltsgeld, Wohngeld, Krankenversicherung) und die Adresse des Jobcenters in Marzahn – dem östlichsten Stadtteil von Berlin – dem Maimouna zugewiesen worden war. Für Maimouna war die Aussicht, sich an ein neues Amt wenden und eine Wohnung finden zu müssen, etwas beängstigend. Wir vereinbarten, dass ich sie im nächsten Monat zum Jobcenter begleiten würde, sobald sie über den Sozialarbeiter in der afrikanischen Selbsthilfeorganisation, in der wir uns kennengelernt hatten, einen Termin ausgemacht hatte. Einen Monat später rief mich Maimouna dann schließlich an und wir trafen uns an der S-Bahn-Station Springpfuhl. Trotz unserer noch relativ kurzen Bekanntschaft erhielt ich von Maimouna eine herzliche Umarmung, als wäre ich ein lange vermisstes Familienmitglied, und dann deutete sie auf eine kleine, dunkelhaarige Frau bei einem Handytelefonat, Maimounas maîtresse (ihre Deutschlehrerin). Nach ihrem Telefongespräch wandte Maimounas Lehrerin sich mir zu und stellte sich als Anoush vor. Nachdem Anoush früh in Rente gegangen war, hatte sie eine Teilzeitstelle als Sprachlehrerin für neu angekommene Im-
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Ein Pseudonym.
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migranten angenommen. Laut Anoush hatten die Schwierigkeiten, die ihre armenischen Vorfahren bei ihrer Verbannung aus der Türkei nach dem Völkermord 1915 erlebt hatten, sie zu dieser Laufbahn veranlasst. Anoush war eine äußerst engagierte Lehrerin. Sie begleitet einige ihrer Sprachschüler auf deren Weg durch das bürokratische Labyrinth und beschwerte sich, dass ihre Schüler ihre Rechte nicht kennen und schlecht informierte Beamte häufig Hindernisse aufstellen. Der Termin beim Jobcenter war kurz und nüchtern und dauerte trotz der für das Dolmetschen zwischen Deutsch und Französisch benötigten Zeit nur 15 Minuten. Das dringlichste Anliegen des Sachbearbeiters war, dass Maimouna ein Bankkonto eröffnen musste, auf das ihre Sozialhilfe überwiesen werden konnte. Der kurze Termin war dem Aufbau einer persönlichen Beziehung zwischen Maimouna und ihrem Sachbearbeiter kaum förderlich. Unser anhaltender Austausch mit Anoush erwies sich als weit interessanter. Nachdem wir das Jobcenter verlassen hatten, beklagte sich Anoush, dass die Dauer des Deutschunterrichts, die der Staat den Immigranten vorschrieb, damit sie weiterhin Sozialhilfe bekamen, für Neuankömmlinge einfach nicht genug sei, um sich ausreichende Deutschkenntnisse für ein Leben in der deutschen Gesellschaft anzueignen. Drei Monate, meinte sie, seien einfach nicht genug, insbesondere für Menschen wie Maimouna mit eher schlechten Schreib- und Lesefertigkeiten. Anoush machte einen Gedankensprung und listete für mich Schulungskurse auf, die sich für Maimouna eignen könnten, sobald ihre Deutschkenntnisse einen gewissen Standard erreicht hatten. Anoush wollte Maimouna offensichtlich auf einen ihrer Ansicht nach erfolgreichen Weg bringen, der ihr eine Grundlage für finanzielle Unabhängigkeit und persönliche Zufriedenheit bieten würde. Wenn ich an diese Begegnungen zurückdenke, fällt auf, dass sowohl Anoush als auch Frau Amt die Wichtigkeit des Erlernens der deutschen Sprache betont hatten, um sich zu integrieren und in der deutschen Gesellschaft zurechtzukommen. Georg, der Sekretär der afrikanischen Selbsthilfeorganisation, die den Kontakt zwischen Maimouna und mir hergestellt hatte, brachte ein ähnliches Argument im Hinblick auf die Sprache vor. „Even with the educated, itʼs a problem. So many come thinking that English will get them everywhere. But really, you canʼt get along here if you donʼt speak German. Speaking German well is the key to independence, to getting a job, to understanding your rights.“ Tatsächlich steht der Sprachunterricht in enger Beziehung zu den vielfachen, stark umstrittenen Bedeutungen des Begriffs Integration in der deutschen Gesellschaft. Die Wichtigkeit der Deutschkenntnisse von Einwanderern scheint der einzige Punkt zu sein, in dem sich Deutsche aus allen politischen Lagern einig sind.
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Im Gegensatz zur üblichen US-amerikanischen Verwendung des Begriffs Integration als Antonym zur Rassentrennung (z.B. in Schulen oder Stadtteilen), liegt der Schwerpunkt im Deutschen auf der kulturellen Anpassung der Immigranten und ihrer Teilnahme am deutschen Sozial- und Wirtschaftsleben. Als ich zum ersten Mal als Wissenschaftlerin nach Berlin kam, war die Integration ein heiß diskutiertes Thema. Der Berliner Politiker Thilo Sarrazin hatte gerade erst ein demagogisches Buch mit dem Titel Deutschland schafft sich ab veröffentlicht (2010). Die darauffolgende Kontroverse sorgte für eine Neuentfachung des Medienrummels, der 2006 mit Berichten über Schulhofgewalt an der RütliSchule im Stadtteil Neukölln begonnen hatte. Zeitungen, Talkshows und öffentliche Rathausveranstaltungen wurden zu Bühnen, auf denen die Menschen entweder ihren Unmut oder Gegenargumente bezüglich der „gescheiterten Integration“ von Ausländern zum Ausdruck bringen konnten. Zu dieser Zeit machte Sarrazin seine bekannte Äußerung „Integration ist eine Leistung dessen, der sich integriert.“9 Nicht nur hitzige Mediendebatten, sondern auch Protokolle von Abschiebungsanhörungen verwenden eine Sprache, die zwischen den Integrationswilligen und den Integrationsverweigerern unterscheidet (Schwarz 2011: 56). Progressive Aktivisten wandten ein, dass das Aufnahmeland – also Deutschland – dafür verantwortlich sei, nicht nur für die rechtlichen und wirtschaftlichen Mittel zur Integration der Einwanderer, sondern auch für eine einladende Haltung zu sorgen. Die Pflicht von Einwanderern zur Integration ist als Teil des Aufenthaltsgesetzes rechtlich vorgeschrieben. In seiner Studie des Integrationsdiskurses und Asylrechts in Deutschland beschreibt der Ethnologe Tobias Schwarz (2011), dass sich Kapitel 3 des Aufenthaltsgesetzes auf die „Förderung der Integration“ konzentriert. Zur Jahrhundertwende wurde die Ausländerintegration zu einer Cause célèbre unter bedeutenden konservativen Politikern; Edmund Stoiber, Parteivorsitzender der CSU, sagte 2006, dass „Einwanderer die deutsche Alltagskultur akzeptieren sollten“ (zitiert in Schwarz 2011: 61). Kapitel 5, Paragraf 55 des
9
„Integration ist eine Leistung dessen, der sich integriert. Jemanden, der nichts tut, muss ich auch nicht anerkennen. Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert. Das gilt für 70 Prozent der türkischen und 90 Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin.“ (Lettre International. 2009. „Thilo Sarrazin im Gespräch. Klasse Statt Masse: Von Der Hauptstadt der Transferleistungen zur Metropole der Eliten.“ Lettre International 86:197-201. http://www.pi-news.net/wp/uploads/2009/10/sarrazin_interview1.pdf (abgerufen am 24. Januar 2015).
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Aufenthaltsgesetzes wurde 2007 abgeändert, um mangelnde Integration als Abschiebungsgrund aufzunehmen (§ 55, Abs. 2, Nr. 9-11 AufenthG, zitiert in Schwarz 2011: 53).10 Obwohl das Gesetz selbst den in einigen deutschen Medien populär gewordenen Begriff integrationsfeindlich nicht verwendet, so erklärt Schwarz, rechtfertigt der offizielle Kommentar zum Gesetz, dass die im Gesetz aufgeführten Abschiebungsgründe „schwerwiegende Verstöße gegen die Integrationsverpflichtung“ darstellten (BT-Drs. 16/5065, 180, 183) (Schwarz 2011: 54). Aus Sicht des Gesetzes bedeutet Integration das Erlernen der deutschen Sprache und Bürgerkunde. Bürokraten beim örtlichen Ausländeramt bestimmen – auf Grundlage ihres Eindrucks bezüglich der Deutschkenntnisse – ob eine Person mit Anspruch auf eine Aufenthaltsgenehmigung zur Teilnahme an einem Integrationskurs verpflichtet ist. Auch Sachbearbeiter beim Jobcenter können entscheiden, ob ein Empfänger von Arbeitslosengeld einen Integrationskurs besuchen muss. Integrationskurse sind in erster Linie Sprachkurse, die sich in mehrere Module mit insgesamt 660 Unterrichtsstunden gliedern und zusätzlich einen Orientierungskurs umfassen, in dem deutsche Geschichte und Bürgerkunde gelehrt werden. Die Teilnehmer zahlen nach Stunden berechnete Gebühren (792 Euro für den kompletten Kurs aus 660 Unterrichtsstunden), wobei die Gebühren jedoch für Personen erlassen werden, die nachweislich in wirtschaftlich schlechten Verhältnissen leben. Integrationskurse werden Teil des rechtlich-bürokratischen Labyrinths, da Einwanderer zuerst einen Berechtigungsschein von der Ausländerbehörde einholen und dann aus einer Liste von Kursanbietern auf der Website des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wählen müssen. Der Weg durch das Labyrinth ist sogar noch länger, wenn man einen Gebührenerlass beantragen will. Unter Regierungsbürokraten mit Bürgerkontakt (und einem Großteil der allgemeinen Öffentlichkeit) wird der Sprachunterricht, der Schwerpunkt der Integrationskurse, zu einer Abkürzung zu einem vielseitigeren soziologischen Verständnis von Integration. Abweichende Auffassungen von Integration – einschließlich unter anderem des Erwerbs von Deutschkenntnissen – sind in den Forschungsabteilungen von Bundesbehörden und akademischen Schriften vergraben.
10 Siehe auch http://www.gesetze-im-internet.de/aufenthg_2004/__55.html (abgerufen am 24. Januar 2015).
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Abbildung 6.1: Ein Poster, das in dem Emfangsbüro des „African Embrace“ hängt, zeigt den bürokratischen Hürdenlauf durch das rechtlich-bürokratische Labyrinth, der Immigraten bei der sozialen Integration in Deutschland erwartet.
Eine Befragung des BAMFs ermittelte zum Beispiel drei Bereiche mit Integrationsvorteilen, in deren Genuss Teilnehmer von Integrationskursen kommen: die Betreuung der Schulausbildung ihrer Kinder, die Nutzung deutschsprachiger Medien und die Häufigkeit des Kontakts mit Deutschen (Lochner, Büttner und Schuller 2013). Die Autoren der Befragung nennen außerdem bessere Beschäftigungschancen, die tägliche Kommunikation zwischen Eltern und Kindern sowie Äußerungen einer wachsenden Bindung an Deutschland. In seiner quantitativen Studie, die sich speziell mit der sozialen Integration afrikanischstämmiger Ein-
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wohner in Deutschland beschäftigt, konzentriert sich Benndorf auf Indikatoren der Makroebene: Teilnahme am und Status auf dem Arbeitsmarkt, akademische und berufliche Ausbildung, politische Beteiligung (durch Wahlen, wie gesetzlich geregelt) und Engagement in der Zivilgesellschaft (z.B. politische Parteien, Gewerkschaften, Bürgervereinigungen) (2008). Benndorf beschreibt Integrationshindernisse sowohl auf Makro- als auch auf Mikroebene seitens des Migranten (geringe Sprachkompetenz in Deutsch) und seitens der Aufnahmegesellschaft (einschränkende Vorschriften, fehlende Akzeptanz durch die Zivilgesellschaft). Die meisten deutschen Diskussionen über Integration drehen sich um die Angleichung oder zumindest die Anpassung des Migranten an deutsche Kulturund Sozialstrukturen, einschließlich der Sprache. Ich habe mit mehreren deutschen Sozialarbeitern, Sprachlehrern, Familienplanungsberatern und Ärzten gesprochen, die kamerunischen Migranten-Müttern Beratungen und Dienstleistungen angeboten haben. Für sie bedeutet Integration, dass Einwanderer gut Deutsch sprechen, arbeiten und Steuern zahlen und sich an deutsche Gepflogenheiten bezüglich Kindererziehung, Religionsausübung und sogar Lärmpegel in Wohngebäuden halten. Da sie sich hauptsächlich auf die direkte Interaktion mit gebürtigen Deutschen konzentrieren, neigen diese deutschen Dienstleister dazu, die soziale Integration und das gesellschaftliche Engagement der afrikanischen Einwanderer in Gemeindeorganisationen für Migranten, wie den im vorherigen Kapitel untersuchten Hometown Associations, in Sparvereinen und Pfingstkirchen zu übergehen (Karagianni und Glick Schiller 2006). Zumindest scheint die soziale Integration der Migranten in das diasporische Leben entweder irrelevant oder lediglich ein Trittstein für die Integration in die deutsche Gesellschaft zu sein. In gewisser Weise könnten wir den Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft als endgültige Integration in die deutsche Gesellschaft betrachten. Die Einbürgerung als deutscher Staatsangehöriger ist für Familien kostspielig (255€ pro Erwachsenem und 51€ für jeden minderjährigen Angehörigen, der zusammen mit einem Elternteil eingebürgert wird) und schwierig (Bundesinnenministerium 2014). Kamerunische Eltern, die die Staatsbürgerschaft für sich und ihre (häufig in Deutschland geborenen) Kinder anstreben, müssen nicht nur einen Einbürgerungstest (der 2006 eingeführt wurde) bestehen, sondern auch Nachweise darüber erbringen, dass sie ihre Kinder in deutsche Kindertagesstätten und Schulen geschickt haben und ihre Kinder Deutsch sprechen. Kameruner, die deutsche Staatsbürger werden – 2005 waren es fast 10% der in Deutschland lebenden Menschen mit kamerunischer Herkunft (Benndorf 2008: 338) – erlangen damit die gleichen Rechte, Sicherheiten und Arbeitschancen wie ethnisch Deutsche, die Staatsbürger sind. Kamerunische Interviewte, die, wie sie sagten „um der
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Kinder willen“ deutsche Staatsangehörige geworden waren, erinnerten mich daran, dass die Staatsbürgerschaft nicht vor alltäglichen Beleidigungen oder sogar vor Gewalt schützt. Auch Benndorf behandelt den physischen Preis der Ausgrenzung; zwischen 2004 und 2005 wurden weit mehr Menschen afrikanischer Abstammung Opfer von ausländerfeindlicher und rassistisch motivierter Gewalt als ihr Anteil an der Bevölkerung voraussagen würde (2008: 350). Anoush war sich genau dieser Gefahr der Gewalt, mit der so viele afrikanische Einwanderer konfrontiert werden, durchaus bewusst. Sie sprach langsamer und drückte sich in einfacheren Worten aus, damit Maimouna sie verstehen konnte, als sie sie ermahnte, sich keine Wohnung in Marzahn zu suchen. Maimounas Vertrautheit mit der unmittelbaren Wohngegend in der Nähe ihres Heims für unbegleitete Minderjährige – wie das ebenfalls in Marzahn gelegene Jobcenter – brachte Anoush nicht davon ab, die strengstmögliche Warnung zu äußern. Wie viele politisch fortschrittliche Deutsche war Anoush entsetzt von Berichten, dass bestimmte Stadtteile von Berlin einen Ruf für rassistisch motivierte Gewalt hatten. Und wie vielen Deutschen, die vor der Wiedervereinigung in Westdeutschland gelebt hatten, fiel es Anoush leicht, Berichte bezüglich Rechtsextremismus im ehemaligen Ostdeutschland, einschließlich der Stadtteile des früheren Ost-Berlins, zu glauben. Auch wenn der Fall der Berliner Mauer „marked the collapse of a symbolic system“ (Borneman 1991: 10), wurde die symbolische Trennung zwischen Ost und West beständig – wenn auch nur teilweise – durch ausländerfeindliche Gewalt und deren Darstellung als ostdeutschem Phänomen wieder aufgebaut. Es stimmt, dass rechtsradikale Gruppen, darunter diejenigen, die mit der Extremistenpartei NPD (Nationaldemokratische Partei Deutschlands) in Verbindung gebracht werden, kurz nach der deutschen Wiedervereinigung in den 1990ern mit der Forderung sogenannter „national befreiter Zonen“ oder „No-Go-Areas“ begannen (Novotný 2009: 596). Rechtsradikale setzten in ihrem Versuch, diese No-Go-Areas von unerwünschten Elementen (Ausländern, Juden, Menschen mit nicht weißer Hautfarbe) zu befreien, auf Einschüchterung und Gewalt. Als Deutschland 2006 Gastgeber der Fußballweltmeisterschaft war, veröffentlichten der Afrika-Rat von Berlin-Brandenburg und die Internationale Liga für Menschenrechte eine Liste gefährlicher No-Go-Areas, um dunkelhäutige Besucher und Fans zu warnen (Gerhäusser 2006). Diese Bekanntmachung löste einen Medienrummel aus und beinhaltete die Bezirke Lichtenberg (in dem gegenwärtig viele kamerunische Studenten leben), Köpenick und Marzahn-Hellersdorf (Novotný 2009: 592) – genau der Stadtteil, vor dem Anoush Maimouna gewarnt hatte.
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Statistiken zu Hassverbrechen bekräftigen Anoushs Ängste (und Vorurteile über die verarmten Stadtteile Ost-Berlins) jedoch nur teilweise. Ein Regierungsbericht aus dem Jahr 2007 über rechtsradikale Gewalt in Berlin gibt an, dass Gewalt gegen Ausländer sich in den Bezirken Lichtenberg, Pankow, Friedrichshain-Kreuzberg und Treptow-Köpenick konzentriert und nicht in Marzahn (Senatsverwaltung für Inneres 2007: 64). Marzahn ist jedoch Heimat einer größeren Menge an rechtsradikalen Straftätern als seine Bevölkerungsgröße vermuten lassen würde (2007: 15). Anoush nahm es auf sich, Maimouna durch ein schwieriges System zu führen und sie vor einer möglicherweise gefährlichen Nachbarschaft zu schützen11. Wie eine liebende Mutter oder Tante streichelte Anoush Maimounas Wange und gab ihr einen Abschiedskuss, während sie die ganze Zeit wiederholte, dass alles in Ordnung kommen und Maimouna sich gut alleine zurecht finden würde. Geburt und Bürokratie Die Suche nach dem Weg durch das rechtlich-bürokratische Labyrinth geht für Migrantinnen auch nach der ersten Etappe bestehend aus der Meldung beim Ausländeramt und der Legalisierung des Aufenthaltsstatus weiter. Mütter von Kleinkindern werden mit einer wahren Flut an Anträgen und Terminen bei deutschen Behörden und Ärzten überwältigt. Diese Erledigungen werden nur zu weiteren Punkten auf der To-Do-Liste, über die sich Ariane in Kapitel Drei beschwerte, eine Liste von „du musst, du musst“, die Frauen dazu veranlassen kann, ihre Fruchtbarkeitsziele zu überdenken und sich mit einer kleineren Familie zufrieden zu geben. Der deutsche Sozialstaat ist – aus amerikanischer Sicht – freigiebig, bietet Mutterschaftsurlaub, übernimmt die Kosten für Kindertagesstätten und Unterkunft und zahlt Unterhalt für Eltern und Kinder. Deutsche Gesetze garantieren legalen Einwohnern eine Krankenversicherung, die Hausbesuche einer Hebamme und sogar eine Haushaltshilfe abdeckt. Doch um Zugang zu diesen Leistungen des deutschen Sozialstaats zu bekommen, müssen sich Mütter vor der Geburt mit mindestens fünf verschiedenen Ämtern herumschlagen und noch vielen weiteren nach der Geburt. Durch die Beantragung einer Geburtsurkunde und die
11 Einige meiner kritischeren, aktivistischen kamerunischen Interviewpartner würden die Motive von Menschen wie Anoush infrage stellen. Sie hinterfragen, ob Menschen wie Anoush aus Nächstenliebe handeln oder einfach nur ein gutes Gefühl haben wollen und ob ihre Hilfe ein Hindernis für die Unabhängigkeit, die Selbstorganisation und das Selbstvertrauen von Migranten darstellt.
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Einholung einer Vaterschaftsanerkennung vom Vater des Babys muss die Mutter die Persönlichkeitsrechte sowie die gesetzlich anerkannten Verwandtschaftsbeziehungen des Neugeborenen begründen. Zusätzlich zu ihrem langen Behördengang muss eine frischgebackene Mutter ihren Säugling zu einer stark regulierten Reihe kinderärztlicher Untersuchungen bringen. Das deutsche Gesetz legt diese kinderärztlichen Untersuchungen als Recht des Kindes auf Gesundheitsversorgung fest. Gleichzeitig sind sie eine Verpflichtung für die Eltern. Jeder Arztbesuch wird durch einen Barcode im Untersuchungsheft des Kindes zentral erfasst. Versäumte Termine werden daher automatisch dem Jugendamt gemeldet und veranlassen Ermittlungen, die in den dramatischsten Szenarien dazu führen können, dass eine Mutter ihr Sorgerecht verliert.
Abbildung 6.2: Das pädiatrische Untersuchuchungsheft, Spitzname „gelbes Heft“ von einem Kind einer meiner Gesprächspartnerinnen. Das Heft verzeichnet die Untersuchungen beim Kinderarzt ebenso wie Gesundeits- und Entwicklungsindikatoren. Es verkörpert eine Kombination aus bürokratischer Kontrolle und hochgelobter Gründlichkeit der Fürsorge. Foto: Pamela Feldman-Savelsberg
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Die Wanderung durch das rechtlich-bürokratische Labyrinth ist für Mütter ohne legalisierten Aufenthaltsstatus sogar noch folgenschwerer und riskanter. Keine Papiere zu haben bedeutet, nicht die richtige Art von Dokumenten zu besitzen. Keine Papiere zu haben bedeutet ironischerweise, dass man für den Zugang zu Dienstleistungen und das Hinwirken auf die Legalisierung seines Aufenthaltsstatus „einen Haufen Dokumente“ mit sich herumtragen muss (Ticktin 2011: 196), einschließlich eines Passes oder einer Geburtsurkunde, eines Zeugnisses, eines Rezepts für Medikamente, einer Bescheinigung von einer Flüchtlingshilfsorganisation, eines Mietvertrags oder einer Nebenkostenabrechnung mit Angabe einer Anschrift. Keine Papiere zu haben bedeutet zudem, dass man ständig auf der Suche nach Möglichkeiten ist, um diesen Zustand zu ändern, um neuere, andere, bessere, sicherere Dokumente zu bekommen – mit anderen Worten, zu ändern, wie man durch den dokumentarischen Charakter der Verwaltung kategorisiert wird, den Weber als „Aktenmäßigkeit der Verwaltung“ bezeichnete (Weber 1972: 126). Die Geburt eines Kindes kann gleichzeitig ein Risiko und eine Gelegenheit für eine Mutter ohne Papiere darstellen. Einerseits kann die Suche nach Schwangerschafts- und Geburtsbetreuung eine Frau enttarnen, die bisher im Verborgenen gelebt hat. Das Aufenthaltsgesetz „mandates that persons residing illegally in Germany be reported to the authorities if they seek services at public facilities“ (Castañeda 2008: 344). Ärzte halten sich selten (wenn überhaupt) an diese Denunzierungsvorschrift. Doch schwangere Frauen ohne ordnungsgemäßes Visum können auf zweierlei Weise ins Visier der Ausländerbehörden geraten. „Although technically they are entitled to emergency medical services based on provisions in the Asylum Seekers Benefits Act (§ 4 and 6), even these reduced services are often unavailable, since the Social Services Office that handles reimbursements is required by § 87.2 of the Foreigners Act to relay information to the authorities, which may lead to arrest and deportation.“ (Castañeda 2013: 228)
Daher widerstrebt es unerlaubten Einwanderern, die in Antragsformularen geforderten ausführlichen Informationen und Belegdokumente weiterzugeben; Anträge werden daher „due to insufficient ‚evidence‘“ (Huschke 2014a: 9) abgewiesen und Krankenhäuser bleiben auf den Behandlungskosten von Migranten ohne Papiere sitzen. In diesen Fällen und wenn schwangere Frauen sich entschließen, nicht auf staatlich finanzierte Sozialleistungen zurückzugreifen und dann feststellen, dass sie ihre Geburtshilfe nicht bezahlen können, ziehen schwangere Migrantinnen ohne Papiere die Aufmerksamkeit der Rechnungsabteilungen von Krankenhäusern auf sich, die sie dann ggf. melden.
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Andererseits führen Schwangerschaft und Geburt dazu, dass Migrantinnen in den Augen medizinischer Hilfsorganisationen, Immigrationsaktivisten und des Gesetzes Hilfe verdienen. Schwangere Frauen machen rund 20% der Patienten in Berlins größter medizinischer Wohltätigkeitsklinik für Nichtversicherte aus, die von einer Ärztin mit dem Pseudonym Dr. Fritz geleitet wird (Castañeda 2008). Durch diese Wohltätigkeit kommen Migranten-Mütter auch in Kontakt mit Sozialarbeitern, Kleiderspenden und anderen Sozialleistungen. Kirchliche Dienstleister für Frauen in Not und diese medizinische Klinik verweisen Kunden in einer wechselseitigen Beziehung aneinander, die auf religiösen Soziallehren von Wohltätigkeit gegenüber Bedürftigen basiert. Schwangerschaft, der Bedarf an Geburtshilfe und Impfungen für ihr Baby ermöglichen Migranten-Müttern auch den Zugang zur Hilfe von Bürgeraktivisten, die sich zusammenschließen, um unerlaubten Einwanderern medizinische Unterstützung zukommen zu lassen. Für diese deutschen Bürgeraktivisten ist medizinische Hilfe eher ein Akt des Protests als der Wohltätigkeit; angetrieben von der gegenwärtigen „heightened selfconsciousness of German efforts to be seen as a ‚normal nation among nations‘“ nach dem Holocaust (Mandel 2008: 13), nehmen diese Aktivisten eine kritische Haltung gegenüber der Behandlung von Ausländern durch den deutschen Staat ein (Castañeda 2013: 228, 232; Ellerman 2006). Schwangerschaft wird zu einer Möglichkeit, über die Migrantinnen gegenüber humanitären Gesundheitsdienstleistern hilfsberechtigt werden können (Huschke 2014b). In rechtlicher Hinsicht bieten Schwangerschaft und Geburt Müttern ohne Papiere drei Monate vor und drei Monate nach der Geburt Schutz vor einer Abschiebung – laut einem Beschluss der Berliner Stadtregierung im August 2008 (TAZ, 20. August 2008). Während meiner ehrenamtlichen Tätigkeit stellte ich jedoch fest, dass dieser gesetzliche Schutz mit Risiken einhergeht. In der von afrikanischen Migranten geleiteten Gemeindeorganisation, in der ich ehrenamtlich arbeitete, beinhaltete ein großer Hefter mit der Aufschrift Schwangerschaft handschriftliche Notizen zu Illegalen und Schwangerschaft. Dadurch habe ich erfahren, dass eine Frau ab dem siebten Schwangerschaftsmonat eines der vielen Zentren für sexuelle Gesundheit und Familienplanung in der Stadt aufsuchen kann, um eine Reiseunfähigkeitsbescheinigung einzuholen. Sie muss die Papiere vorbereiten, um eine Geburtsurkunde für ihr Baby zu beantragen – einschließlich eines gültigen Passes von jedem Elternteil und einer Vaterschaftsurkunde. Seit 2008 der Gesetzesabschnitt zum Schutz schwangerer Frauen eingeführt wurde, kann sie auch eine Duldung beantragen. Eine Duldung gewährt der Mutter Zugang zu Sozialleistungen (einschließlich einer Unterhaltszahlung und Umstandsbekleidung), Gesundheitsversorgung, Babyausstattung und -bekleidung und öffentlich subventionierter Kinderbetreuung. Zur Beantra-
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gung einer Duldung muss die Mutter jedoch ihren Mutterpass, ihre Reiseunfähigkeitsbescheinigung und zwei Passbilder zum Ausländeramt bringen. Durch die Beantragung einer vorübergehenden Aussetzung der Abschiebung sichert sich die schwangere Frau bis zu sechs Monate legalen Aufenthalt, gibt sich jedoch gleichzeitig den Behörden Preis und erhöht somit ihr Risiko einer späteren Ausweisung. Kamerunische Mütter warnen einander vor diesen Risiken, was dazu führt, dass viele auf medizinische und gesetzliche Leistungen verzichten, auf die sie Anspruch haben. Dr. Wohlgemuth12, eine Ärztin an einem Familienplanungszentrum, das einen beträchtlichen Anteil der Immigrantenpopulation betreut, erklärt diese Vorgehensweise unter ihren Patienten: „[…] dass Frauen auch ohne Aufenthaltsstatus oder ohne Krankenversicherung, dass die sechs Wochen vor und nach dem Entbindungstermin auf jeden Fall ein Anrecht auf ärztliche Versorgung haben. Und da haben wir das auch schon erlebt, dass Frauen sich dann trotzdem nicht unbedingt melden, um das in Anspruch zu nehmen, weil sie dann denken, dass sie dort dokumentiert sind oder gemeldet sind. Und was passiert dann die sechs Wochen danach?“
Ich kann mir gut vorstellen, wie sich eine schwangere Frau ohne Papiere fühlen muss, wenn sie die Gänge der eindrucksvollen Ausländerbehörde betritt, um die Dokumente zu bekommen, die ihr nur vorübergehenden Schutz sichern werden. Die Bescheinigung einer Krankheit bietet Müttern eine weitere Möglichkeit für eine zumindest vorläufige Legalisierung ihres Aufenthaltsstatus; dieser Nachweis bedeutet allerdings eine weitere Reise von Amt zu Amt durch das rechtlich-bürokratische Labyrinth. In Interviews mit Beamten bei der Deutschen AIDS-Hilfe, Familienplanungs- und Schwangerschaftsberatungszentren, Sozialarbeitern und der Rechtshilfe im Afrika Center habe ich erfahren, dass schwere Erkrankungen (wie AIDS oder Krebs) die Basis sein können, auf der ein ansonsten ausreisepflichtiger Migrant eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung aus humanitären Gründen erwirken kann. Frau Gmeinder, die Leiterin der Migrationsdienste der nationalen AIDS-Stiftung, beschrieb, wie einige Einwanderer diese Aussetzung der Abschiebung einsetzen, um Zeit zu gewinnen, in der Hoffnung sowohl ihren Aufenthaltsstatus als auch ihren Zugang zu Unterstützung zu festigen: „Und mittlerweile bei einer HIV-Infektion – auch bei illegalen Migranten – ist es so, dass sie als ersten Schritt eine Duldung bekommen können. Und dadurch gewinnen sie auch natürlich Zeit. In dieser Zeit kann auch al-
12 Ein Pseudonym.
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les passieren, können sie einen deutschen Mann kennenlernen oder wie auch immer.“ Frau Gmeinder berichtete mir weiterhin, dass HIV-positive Frauen durch die Ausnutzung dieser humanitären Geste im deutschen Einwanderungsgesetz ähnlichen rechtlichen Gefahren begegnen wie schwangere Frauen und noch zusätzliche soziale und medizinische Risiken auf sich nehmen. Wenn das Außenministerium beschließt, dass die AIDS-Behandlung im Herkunftsland des Patienten gut genug geworden ist, wird die betroffene Person zurückgeschickt. Die Beharrlichkeit und das Netzwerk sozialer Beziehungen einer Frau spielen eine entscheidende Rolle, um überhaupt erst Zugang zu diesem vorübergehenden gesetzlichen Schutz zu bekommen. Die Mutter muss einen Arzt aufsuchen, der ihre Krankheit bescheinigt. Dann muss sie Stigmata überwinden, um Verbindungen zu Selbsthilfe- und/oder humanitären Organisationen herzustellen. Durch die Mobilisierung ihres neuentdeckten humanitären Netzwerks kann eine Frau anschließend die Hilfe von Experten in Anspruch nehmen, die offiziell die fehlenden Behandlungsmöglichkeiten für diese Krankheit in ihrem Herkunftsland bescheinigen können. Diese verschiedenen Formen der durch den Behördengang erlangten Dokumentation können dann zu neuen Dokumenten führen, die vorläufig den Aufenthalt des bisher ohne Papiere lebenden Migranten sichern. In ihrem Buch Casualties of Care: Immigration and the Politics of Humanitarianism in France veranschaulicht Miriam Ticktin die zentrale Rolle, die Dokumente im medizinischen Leben von Einwanderern ohne Papiere spielen. Wie auch in Deutschland verändern Dokumente in Frankreich die Qualität der Kommunikation und symbolisieren mehr als gesprochene Worte über persönliches Schicksal und verdiente öffentliche und private Hilfe sowie einfaches menschliches Mitgefühl. „Amina handed over a slew of documents, both medical and legal – the unruly pile of papers that all those who are ‚paperless‘ must carry wherever they go […] After the nurses thumbed through the majority of her documents [and discovering that Amina and her baby were HIV+], their attitude suddenly changed from mild annoyance to care and concern […] They promised her papers and told her to take care of herself and the baby, to be sure to take the medication.“ (Ticktin 2011: 196)
Die Dokumente veranlassten die anfangs verärgerten und ungeduldigen Krankenschwestern dazu, plötzlich Aminas Menschlichkeit anzuerkennen. Lily, deren Zitat dieses Kapitel einleitet, kann Situationen wie die von Amina, in der sie einen Haufen Dokumente mit sich herumtragen muss, voll und
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ganz verstehen. Lily war in Europa zuerst als illegale Einwanderin in Frankreich angekommen und war, wie die Franzosen es nennen, sans papiers. Obwohl sie zum Zeitpunkt unseres ersten Treffens bereits seit sieben Jahre als legale Einwohnerin in Deutschland lebte, sitzt die durchlebte Erfahrung der Geburt ihres ersten Kindes als Migrantin ohne Papiere tief. „Quand on se retrouve dans un pays sans papiers, par exemple, on nʼest pas bien dans sa peau, forcement... Mais parce que un coup ça va,… je vais peut-être avoir mes papiers dʼun moment à lʼautre. Mais quand ça traîne... Il nʼy a pas que les problèmes dʼimmigration.“ Lily stellt den Erhalt oder Verlust von Papieren als Zufall oder „Glück“ dar. Von Lily erfahren wir, dass nicht nur der Besitz oder Nichtbesitz von Papieren, sondern auch der ungewisse Prozess der Beschaffung dieser Papiere die psychische Verfassung sowie die Beziehungen zu anderen, die „Stimmung, die man ausstrahlt“, beeinträchtigt. Noch genauer beschreibt Lily, wie es ist, ohne Papiere schwanger zu sein und ein Kind zur Welt zu bringen: „Quand tu arrives enceinte lʼétat européen peut te prendre en charge… En France ce qui ce passe, cʼest quʼil y a une assurance qui sʼappelle lʼAide Maladie… qui te permet dʼaccoucher et dʼavoir tous les soins, même que tu as les papiers ou pas, peu importe… Mais après lʼaccouchement, si tu as toujours pas de papiers, lʼétat... sʼoccupe peut-être de lʼenfant, mais il ne te donne pas… grand-chose pour vivre. Il faut que tu te battes pour avoir tes papiers… Il faut connaître les bonnes personnes. Il faut se renseigner… Tu dois avoir un passeport avec toi, tu dois avoir.... enfin déjà un endroit où tu vis… Même les gens qui sont dans la rue… il vont te donner forcement une adresse. Ça cʼest pour les femmes enceintes, ça cʼest la loi en Europe.“
Eine Schwangerschaft kann dazu führen, dass sogar illegale Einwanderinnen Anspruch auf staatliche Hilfe und medizinische Versorgung erhalten. Doch insbesondere laut Lilys Auffassung des europäischen Rechts endet dieser Anspruch, sobald das Kind geboren wurde. Das erinnert an die vielen kamerunischen Mütter in Berlin, die sich wiederholt beklagen, mit ihren Neugeborenen „ganz allein“ zu sein. Darüber hinaus gewährt uns Lily einen kurzen Einblick in ihr rechtliches Bewusstsein. Als Lily von ihren Erfahrungen im Umgang mit rechtlichen Bestimmungen berichtete – die Erfüllung von Pflichten und die Einforderung von Rechten als schwangere Frau und junge Mutter – kristallisierten sich ihre unzähligen Begegnungen mit französischen und deutschen Bürokratien zu erzählerischen Einstellungen gegenüber dem Gesetz. Lily schildert die Dokumentalität der Gesellschaftsstruktur
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(Ewick und Silbey 2003; Ferraris 2013), als sie von den Leistungen erzählt, die man ohne Papiere bekommen und nicht bekommen kann und wie sogar undokumentierte Migranten durch eine Adresse dokumentiert werden. In diesem Abschnitt habe ich meine eigenen Begegnungen – als Ausländerin und als Begleiterin und Dolmetscherin einer jungen afrikanischen Flüchtlingsfrau – als Einstiegspunkt genutzt, um den rechtlich-bürokratischen Kontext zu verstehen, der Lily seufzen ließ „so läuft es bei uns hier“. Ich habe außerdem das rechtliche Labyrinth erörtert, das Schwangerschaft und Geburt umgibt. Der Schatten des Staats erschwert das Leben schwangerer afrikanischer Migrantinnen und junger afrikanischer Mütter. Wir haben jedoch gesehen, dass sich einige Frauen die humanitären Bestimmungen in einer ansonsten ausschließenden Reihe von Einwanderungsgesetzen zunutze machen. Mit seinen Risiken und Vorteilen ist der Schatten des Staats sowohl nebulös als auch zweideutig; er sickert in unzählige Aspekte des Lebens und verbreitet gleichzeitig bedrohliche Dunkelheit und schützenden Schatten in den einzigartigen Leben und Umständen individueller Frauen. Auf welche Weise kommt es durch diesen zweiseitigen Schatten zu einer Neugestaltung zentraler Familienkategorien?
N EUE G RENZEN ZIEHEN : F AMILIE , E HE UND DIE „ GUTE “ K INDERERZIEHUNG Das Leben im Schatten des deutschen Staats animiert kamerunische MigrantenMütter, die Grenzen der Familie neu zu ziehen, ihre Erwartungen im Hinblick auf die Ehe zu ändern und die richtigen Erziehungsmethoden für ein Kind zu überdenken. Durch seine Einwanderungsgesetze und diversen Regulierungsformen trennt der Staat Familien durch seine Definitionen von Familie an sich und begrenzt und regelt damit Verwandtschaftsbeziehungen auf eine Weise, die vom häufig weiter gefassten Verständnis familiärer Verpflichtungen der Einwanderer abweicht (Boehm 2012: 60). Kamerunische Migranten lernen, ihre Vorstellungen vom Familienleben den Gegebenheiten eines Lebens als Ausländer in einem neuen Umfeld anzupassen. Manchmal finden diese Änderungen schrittweise und für die betroffenen Akteure fast nicht wahrnehmbar statt. In anderen Fällen – in Momenten voller Schwierigkeiten und Konflikte – treten diese Neudefinitionen der Konturen des Familienlebens deutlich ins Bewusstsein (Coe 2013: 127ff; Sewell 1992; Swidler 1986). Mütter vermitteln ihre Neudefinitionen der Bedeutung von Familiengründung und Erziehung, wenn sie Probleme und Konflikte durch das Geschichtenerzählen verarbeiten. Ich habe diese Neudefinitionen anhand der Erzählungen beobachtet, die kamerunische Mütter während unserer In-
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terviews und Treffen in Berlin mit mir teilten. Ich werde nun auf einige der Personen und Fälle zurückkommen, die bereits in früheren Kapiteln aufgetaucht sind, um die Bedeutung der Bildung neuer intimer Beziehungen, die Aufrechterhaltung emotionaler Schaltkreise in der Familie und die ihrer Ansicht nach angemessene Kindererziehung zu untersuchen. Diese Fälle veranschaulichen die Art und Weise, wie die Rechtskulturen wandern und mit anderen Rechtskulturen in Kontakt kommen, wenn kamerunische Migrantinnen im Verlauf der Familiengründung mit dem Gesetz zusammenarbeiten, sich dagegen stellen und ihm zum Trotz handeln (Ewick und Silbey 1998). Ich stelle drei Fragen: „Was zählt als Familie?“, „Was zählt als Ehe?“ und „Was ist die richtige Art ein Kind zu erziehen?“ Was zählt als Familie? Wie wir in vorherigen Kapiteln festgestellt haben, haben die Bamiléké und die meisten anderen Grassfielder in Kamerun eine weitgefasste Definition von Familie. Die Zugehörigkeit zu einer Abstammungslinie wird sowohl mütterlicherseits als auch väterlicherseits zurückverfolgt. Das Gewohnheitsrecht, im BamilékéKönigreich Bangangté kan genannt, legt die Verpflichtungen fest, die lebende Nachkommen gegenüber ihren verstorbenen Vorfahren haben. Das spiegelt die lokalen Vorstellungen über Beziehungen zwischen lebenden und toten Familienmitgliedern und die Macht wider, die Tote über das Wohlergehen der Lebenden haben. Das Gewohnheitsrecht betrachtet bestimmte Mitglieder der gleichen Abstammungslinie als gleichwertige juristische Personen; diese speziellen Verwandten dürfen für einander als Stellvertreter bei üblichen rechtlichen Verfahren auftreten, darunter auch bei der Eheschließung. Nicht nur die Zugehörigkeit zu einer Abstammungslinie, sondern auch Vorstellungen gegenseitiger Verpflichtungen, Empfindungen und Kindererziehung spiegeln eine weitreichende Konzeptualisierung der Familie in Kamerun wider. Die Betreuung von Kindern wird häufig unter vielen Akteuren in verschiedenen Haushalten geteilt, was dem Kind zahlreiche Möglichkeiten und Erfahrungen ermöglicht. Im deutschen Einwanderungsrecht arbeiten Vorschriften zur Familienzusammenführung mit einer engeren Definition von Familie. Nur bestimmte Angehörige eines legalen Migranten – Ehepartner und minderjährige Kinder – dürfen den Einwanderer in das Land begleiten (Breyer 2011; Fleischer 2012). Mitgliedstaaten der Europäischen Union legen zeitliche und biologische Grenzen für die Definition minderjähriger Kinder fest. Pflegekinder zählen nicht als angehörige Kinder und die biologischen Kinder eines Immigranten können aus dem Status eines minderjährigen Kindes herauswachsen. Einige europäische Länder, wie
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zum Beispiel Spanien und Frankreich, nutzen Knochendichte und DNA zur Bestimmung von Alter und biologischer Verwandtschaft (Bledsoe und Sow 2011a). Erwachsene Kinder, Geschwister, Tanten oder Onkel zählen bei der Einwanderung nicht als Familienangehörige, wodurch ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird. Doch das sind genau die Verwandten, die einer frischgebackenen Mutter praktische und moralische Unterstützung sowie Hilfe bei der Pflege eines Neugeborenen zukommen lassen wollen. Die gesetzliche Definition von Familie im Einwanderungsrecht macht die Erfüllung der starken kulturellen Erwartung, dass weibliche Verwandte nach der Geburt mithelfen, so gut wie unmöglich. Für Verwandte in Kamerun erweist sich die Einholung von Visa als schwierig, vor allem für längere Besuche. Entfernung und Kosten schaffen weitere Hindernisse für die Pflege direkter Familienbande in Momenten bedeutender Zusammenkünfte (Geburten, Hochzeiten, Todesfälle). In Kapitel Drei hörten wir zahlreiche Klagen darüber, dass Schwangerschaft und Kinderbetreuung in Deutschland „ganz allein“ schwer sind. Hier möchte ich daran erinnern, dass die Einsamkeit der Mütter teilweise eine Konsequenz des Gesetzes ist. Bei unseren Unterhaltungen über Geburten stellte Lily die Geburtserfahrungen ihrer Mutter in Kamerun ihren eigenen in Deutschland gegenüber: „In Cameroon, there is always a lot of help… in the house, to cook, clean, wash the baby… As for advice, in Cameroon, the mothers are there, they have their experiences, and that helps a lot. But even us here in Europe, we need the experience of our mamas, who can tell us if we need to do this, do that… Here, your church members might come for a formal visit, but itʼs just [only] that. One is closer to the family, itʼs your mother, your sister, your girl-cousin… but they are far, far. The telephone, even skype, itʼs not the same. Who will hold your baby for you, buy the groceries? You have to do it all yourself. Itʼs hard being a mother here.“
Lily muss die Geburt ihres dritten Kindes mit den Anforderungen ihrer eigenen Ausbildung, der Beaufsichtigung der Hausaufgaben ihrer anderen Kinder, der Fürsorge für ihren Ehemann und ihrer Mitgliedschaft im Chor ihrer Pfingstkirche unter einen Hut bringen. In Anbetracht ihrer vielen Verpflichtungen ist die Last „alles selbst machen zu müssen“ gut nachvollziehbar. Wir erinnern uns, dass Christine die in Kamerun vorherrschende familiäre Unterstützung anlässlich einer Geburt mit deren Fehlen in Deutschland verglichen hat, vor allem als sie noch in einer Unterkunft für Asylbewerber lebte.
254 | M IGRANTEN, R ECHT UND I DENTITÄT „Au Cameroun par exemple on est encadré, on a la famille et ici tu es seule, seule, seule. Et bon au Cameroun par exemple, quand jʼai fait mon premier fils… Donc à la maison on préparait – cʼétait la fête. Chaque soir on buvait, on mangeait, il y avait de la visite… Après je me couche, on sʼoccupe de lʼenfant. Mais ici… seule.“
Durch den Austausch solcher Geschichten schaffen Migrantinnen ein gemeinsames Weltbild und Vokabular, das ihre Erfahrungen in die beiden idealtypischen Bereiche eines sehr sozialen und unterstützenden Kameruns und eines überwältigend komplexen und einsamen Deutschlands gliedert. Bezogen auf das rechtliche Bewusstsein verwenden Frauen wie Lily und Christine solche gegensätzlichen Darstellungen, um die gesetzlichen Konsequenzen zu antizipieren. Das rechtliche Umfeld transnationaler Migration erschwert es Migranten, Beziehungen zu entfernter Verwandtschaft zu unterhalten, was wiederum die Vorstellungen von Familie unter kamerunischen Migranten beeinflusst. Kamerunische Migranten-Mütter streben mehr und mehr nach einer kameradschaftlichen Ehe und konzentrieren sich verstärkt auf die Kernfamilie (s. Hirsch und Wardlow 2006). Die gemeinsame Betrachtung von Lilys Fotoalbum mit Hochzeitsbildern und Baby-Schnappschüssen brachte unsere Unterhaltung auf die Mehrdeutigkeit von Familienbanden. „Des fois on confond un peu les choses, on met souvent la famille avant sa propre famille… Le mari qui va regarder trop à sa mère par rapport à sa femme et ses enfants. Cʼest ça un peu le problème quʼon a un peu entre Africains. On arrive pas à faire cette différence… Mais bon, je suis dʼavis que la famille est très important, de toute façon… Jʼai de très bonnes relations avec ma mère, mes sœurs, mes frères.“
Hier bringt Lily die erlebte Spannung zwischen den Bedürfnissen der Kernfamilie und den emotionalen sowie materiellen Verpflichtungen der Migranten gegenüber ihren Herkunftsfamilien und entfernten Verwandten zum Ausdruck. Das Gewohnheitsrecht der Bamiléké und anderer Grassfielder spiegelt die weitreichenden Nebenverbindungen unter Angehörigen wider, die mit einem gemeinsamen Vorfahren verwandt sind. Entfernte Cousins haben gemeinsame soziale und rituelle Verpflichtungen zur Ehrung ihres gemeinsamen Vorfahren. Diese gemeinsame vertikale Verbindung erzeugt Erwartungen der Gegenseitigkeit unter entfernten Verwandten im horizontalen Geflecht familiärer Beziehungen. Doch in Deutschland wird Familie anders definiert; für diejenigen in der Diaspora wirken zwei Rechtskulturen aufeinander ein. Aufgrund der Reisebeschränkungen, die gesetzliche Definitionen von Familie im Einwanderungsrecht
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auferlegen, ist für über Kontinente verstreute Angehörige nicht leicht, den verwandtschaftlichen Pflichten nachzukommen. Gesetzliche Einschränkungen tragen dazu bei, dass Migranten die eigentliche Familie als die mit ihnen lebende Kernfamilie neudefinieren. Trotzdem ist Familie im Sinne der eigenen Herkunftsfamilie – bestehend aus Eltern, Geschwistern, Tanten, Onkeln und Cousins – „sehr wichtig“. Anhand von Lilys Worten können wir ausmachen, dass diese Wandlung kamerunischer Normen bezüglich der Grenzen, die Familie definieren, noch nicht abgeschlossen (und weiterhin beunruhigend) ist. Was zählt als Ehe? In Kapitel Drei haben wir erfahren, dass Kameruner drei verschiedene Eheschließungen kennen – traditionelle Riten, die Zivilehe und die kirchliche Trauung. Persönliche Entscheidungen, Familienerwartungen und verfügbare Ressourcen bestimmen, wie viele Zeremonien ein Paar durchführt. Das kamerunische Familienrecht erkennt alle drei Arten der Eheschließung an, einschließlich monogamer und polygamer Versionen der Zivilehe. In Deutschland können Paare nur eine monogame Zivilehe schließen (Dethloff 2012). Wenn kamerunische Formen der Eheschließung in Deutschland nicht als rechtmäßig anerkannt werden, stellen in Deutschland lebende Kameruner fest, dass die Einwanderung und Sozialleistungsansprüche ihrer Ehepartner eingeschränkt sind. Erinnern wir uns an die Liebesgeschichte von Maria Mar und Paul. Unter den drei möglichen Hochzeitszeremonien waren die traditionellen Hochzeitsriten Maria und Paul gesellschaftlich sowie emotional am wichtigsten. Maria bezeichnete diese Riten im Gegensatz zur zivilen und kirchlichen Eheschließung als „the necessities“. Traditionelle Hochzeitsriten veranlassen einen materiellen und emotionalen Austausch unter einer großen Gruppe von Akteuren und sind damit ein zentrales Element bei der Begründung und Stärkung emotionaler Schaltkreise durch die Eheschließung. Maria hatte den starken Wunsch, dass die beiden Familien die traditionellen Hochzeitsriten durchführen sollten, bevor sie und Paul die zivilen und religiösen Zeremonien durchlaufen. Doch Maria war noch Studentin und konnte neben einem kleinen Stipendium nur eine Teilzeitstelle vorweisen. Zudem waren sie und Paul in Deutschland noch nicht rechtmäßig verheiratet. Daher war eine Reise nach Kamerun zur Durchführung der traditionellen Hochzeitszeremonie zu teuer und bereitete zu dem Zeitpunkt außerdem zu viele Kopfschmerzen über bürokratische Angelegenheiten. Daher richteten Maria und Paul die Rituale und den Zeitpunkt ihrer Hochzeitszeremonien nach den finanziellen und gesetzlichen Einschränkungen des transnationalen Migrantenlebens.
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Maria und Paul waren innovativ und führten eine Eheschließung durch Stellvertreter durch. Die öffentliche Übergabe des Brautpreises, die Gelübde der Solidarität zwischen Familienangehörigen und die Segnungen für die Frischverheirateten wurden in Kamerun trotz Marias und Pauls Abwesenheit durchgeführt. Durch unzählige Telefongespräche und Geldüberweisungen konnte Paul die Anwesenheit der wichtigsten Familienmitglieder arrangieren. Vollwertige Geschwister – Kinder mit gleichem Vater und gleicher Mutter, die Teil der gleichen pam ntoʼ oder Uterusgruppe sind – können als Stellvertreter agieren und die Zeremonie so rechtskräftig machen. Marias Schwester legte an Marias Stelle das Gelübde ab und vergoss ein Trankopfer aus Palmwein, um ihr Treueversprechen zu besiegeln. Marias Schwester – die als Braut einsprang – wurde mit Palmöl und Rotholzpulver eingerieben, um die Segenswünsche für Fruchtbarkeit und Schutz zu symbolisieren, die von nun an die Frischverheirateten begleiten würden. Maria erklärte: „[…] with us before the legal marriage we must do the traditional rite, the necessities. So my husband did that and that could be arranged without us…. I had to choose one of my sisters to stand on my behalf to represent me [as the bride] and give my word that I agree.“ Bei der traditionellen Hochzeit besiegelt der Austausch von Gelübden, Brautpreis und ritualisierten Handlungen durch gesetzlich anerkannte Akteure – in diesem Fall Stellvertreter – die Verbindung ungeachtet der Anwesenheit von Braut und Bräutigam. Unter sehr mobilen Bevölkerungsgruppen dient ein Video der Eheschließung durch Stellvertreter als Nachweis für die Gültigkeit der rechtmäßigen Beziehung. Auf die gleiche Weise, auf die sich das rechtliche Bewusstsein durch die Verbreitung von Erzählungen bildet, spielen Paare die Hochzeitsvideos in ihrem Wohnzimmer immer und immer wieder ab. Dadurch erleben sie in Anwesenheit von Freunden erneut die Einzelheiten des Hochzeitsprotokolls. Durch die Betrachtung der Ernsthaftigkeit der zeremoniellen Akte im Rahmen der heiteren Interaktionen zwischen den Beteiligten teilen Braut und Bräutigam die Emotionen ihrer Heirat mit anderen Zuschauern in der Diaspora. Das Video dokumentiert die rituelle Durchführung eines Rechtsakts, während es gleichzeitig seine emotionale Bedeutung für die Familienmitglieder festhält und wieder aufleben lässt, die über eine gewaltige geografische Entfernung voneinander getrennt sind. Nach deutschem Recht wäre eine in Abwesenheit von Braut und Bräutigam geschlossene Ehe nicht gültig. Da sie das einsahen und vielleicht auch, weil sie „auf moderne Art“ heiraten wollten, indem sie alle drei Eheschließungen durchführen, schlossen Maria Mar und Paul die Zivilehe in Deutschland. Maria erzählte mir: „We got married legally here in Germany, and then we went back to Cameroon and then we did the wedding there.“ Maria berichtete, dass sie mehrere Jahre später, als Paul und sie eine Beschäftigung in Deutschland hatten, nach
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Kamerun gereist waren. Während dieses Heimatbesuchs führte das Paar die traditionellen Riten persönlich durch, ließ sich mit Palmöl und Rotholzpulver einreiben und erhielt die Segenswünsche direkt von ihren Eltern und älteren Verwandten. Maria und Paul nutzten ihren Besuch in Kamerun auch zur Veranstaltung einer Hochzeit in Weiß, einer kirchlichen Trauung in formeller Garderobe gefolgt von einer großen Feier. Maria zeigte mir Fotos von sich und Paul, auf denen sie jeweils im weißen Hochzeitskleid und dunklem Anzug zu sehen waren. Endlich war ihre Ehe für die drei Zielgruppen zeremoniell und normativ gültig, die für das Sicherheitsempfinden und das Gefühl sozialer Einbettung des Paares von größter Bedeutung waren – ihre Familie in Kamerun, ihre Religionsgemeinde als Christen und der deutsche Staat. Deutsche Rechtsakteure stellen mehr als nur die Gültigkeit einer kamerunischen Eheschließung durch Stellvertreter infrage. Ein neues Gesetz zu Scheinehen (§1314 II Nr. 5 des Ehesch1RG) bezweifelt die Gültigkeit von Ehen, die zur Erlangung eines vorteilhafteren Aufenthaltsstatus geschlossen wurden. In erster Linie sind Standesbeamte die Akteure, die entscheiden, ob eine Ehe legitim erscheint. Standesbeamte üben demnach eine große Ermessensfreiheit als Kontrollbeauftragter aus. In ihrer ausführlichen demografischen Ethnografie stellte Annett Fleischer (2012) fest, dass kürzlich angekommene kamerunische Immigranten auf die Einschränkungen der Festung Europa reagieren, indem sie „their marital and reproductive lives in Germany more toward Germans than toward their compatriots“ ausrichten, da sie keinen anderen Weg zur Legalisierung ihres Aufenthaltsstatus sehen (Bledsoe und Sow 2011a: 184). Meine Forschung deutet darauf hin, dass ohne Visum einreisende oder ein Touristenvisum überziehende Kameruner anfangs tatsächlich versuchen mögen ihren Aufenthaltsstatus zu legalisieren, indem sie einen deutschen Staatsbürger oder legalen Einwohner heiraten oder ein deutsches Kind bekommen. Mrs. Black erklärt zum Beispiel, dass die Umstände ihrer Heirat sowohl durch ihre Notwendigkeit Papiere zu bekommen als auch durch Vorschriften bezüglich der Eheschließung an sich beeinflusst wurden: „I came like a tourist first. Then I met my husband, then we have to go back to Cameroon, get married, because it was so difficult to marry here… Because when I came I took a tourist visa and you know tourist visa, those donʼt last long. So later the visa got expired and it was not… you know… [people were] telling me to seek asylum but I did not want to do that… lucky enough I met my husband before the visa get expired. So the only way I was supposed to stay in Germany is to get married and with the tourist visa I canʼt get married. So the lawyer told us that the only way was to go back to Cameroon, get married and then I can come back, I can be really legal with my husband... I stayed there [in Cam-
258 | M IGRANTEN, R ECHT UND I DENTITÄT eroon] again three months, did all my documents, then I came back again like a married woman.“
Die Mühen, die Mrs. Black und ihr Ehemann für die Eheschließung auf sich genommen haben, unterstreichen, dass „marrying is a matter of the accumulation of documents before during and after a certain ceremony, and these documents are inscriptions of acts without which the marriage has no legal value“ (Ferraris 2013: 286). Der Pfad, den Mrs. Black beschreiten musste, um ihre Beziehung durch das gesetzliche Ritual und bürokratische Eintragungen zu belegen, war in der Tat umständlich. Ihre Erzählung wurde eine der vielen biografischen Geschichten, die kamerunische Migranten untereinander austauschen, um zu verstehen, wie die Verbindungen zwischen Ehe, Bürokratie und rechtlicher Dokumentation in verschiedenen Ländern der Europäischen Union funktionieren. Das Erzählen und Nacherzählen dieser Geschichte trägt zur fortlaufenden Bildung eines transnationalen Rechtsbewusstseins unter afrikanischen Einwanderern in Europa bei (Schwenken 2013). Obwohl die Geschichte von Migranten, die deutsche Staatsbürger heiraten, „um Papiere zu bekommen“ in der öffentlichen Wahrnehmung eine große Rolle spielt, sind oder waren nur vier der von mir interviewten kamerunischen Frauen mit ethnisch Deutschen verheiratet. Ich stellte fest, dass langfristig in Deutschland ansässige Kameruner dazu neigen, Beziehungen mit anderen Kamerunern einzugehen. Das gilt insbesondere für diejenigen, die legal ankommen und legal bleiben, also vor allem für Studenten und hochqualifizierte Fachkräfte. Wie wir anhand der vier in Kapitel Drei beschriebenen Liebesgeschichten festgestellt haben, kommt diese Gruppe kamerunischer Mütter entweder schon mit einem kamerunischen Ehemann in Deutschland an oder sie treffen ihren kamerunischen Partner, nachdem sie bereits einige Zeit in Deutschland gelebt haben. Unter den Migranten-Müttern, die ich kennengelernt habe, war eine erhebliche Minderheit verheiratet oder wohnte mit männlichen kamerunischen Partnern zusammen, die vorher eine Beziehung mit ethnisch Deutschen gehabt hatten. Die Beziehungen dieser Männer ermöglichten es ihnen, einen sichereren und dauerhafteren Aufenthaltsstatus zu bekommen. Soʼnju zum Beispiel schloss sich Nya – ihrem Freund und Vater ihres Kindes – in Deutschland an, nachdem Nya seinen Aufenthaltsstatus durch die Ehe mit einer deutsche Frau legalisiert hatte. Sie reiste mit einem Touristenvisum ein. Da Nya mit seiner deutschen Frau verheiratet bleiben wollte, bis er einen dauerhafteren Aufenthaltsstatus erlangt hatte, wollte er nicht, dass seine deutsche Ehefrau von Soʼnjus Existenz erfuhr. Seine deutsche Frau würde nicht nur wütend werden, der deutsche Staat würde außerdem nicht anerkennen, dass Nya gleichzeitig mit Soʼnju und seiner deutschen
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Frau verheiratet sein konnte. Anders als in Kamerun ist die polygame Ehe in Deutschland illegal. Diese unsichere soziale und rechtliche Situation zwang Soʼnju zu einem Leben im Untergrund, damit sie so anonym wie möglich blieb. Nya bestärkte Soʼnju den Kontakt mit anderen Menschen zu vermeiden und den Ratschlägen anderer Kameruner zu misstrauen. Jahre später erzählte sie mir, dass dies sie in ein unglückliches Dilemma gebracht hatte. „My husband told me not to ask, because when you go and ask, people will tell you one idea… because he suffered the same thing when he came… At that time he was with a German woman, so I was just indoors, it was not easy.“ Während Soʼnjus erster Jahre in Deutschland isolierten ihr angreifbarer Status und die Abhängigkeit von Nya sie von ihren deutschen Nachbarn, verhinderten, dass sie Deutsch lernte und damit erwerbsfähig und in der Öffentlichkeit weniger auffällig wurde. Soʼnjus Status sonderte sie auch von anderen kamerunischen Migranten ab und versperrte ihr den Weg zu Ratschlägen, wie man sich an einem neuen Ort zurechtfindet. Während Soʼnju gesellschaftlich ziemlich abgeschottet war, betätigte Mrs. Black sich aktiv innerhalb der kamerunischen diasporischen Gemeinde in Berlin. Sie war auch eine offene Kritikerin der Schwierigkeiten, mit denen sie in ihrer binationalen Ehe konfrontiert war. Einerseits berichteten die Geschichten, die Mrs. Black ihren kamerunischen Freunden erzählte, von den täglichen Kompromissen, die eine Ehe zwischen einem Deutschen und einer Kamerunerin aushalten musste. Schließlich ist sie schon seit sieben Jahren verheiratet und wird es auch noch länger sein. Andererseits dienten Mrs. Blacks Alltagsgeschichten ihren kamerunischen Freunden als Warnung vor den Problemen einer binationalen Ehe. Mrs. Black und ihr Ehemann hatten manchmal Meinungsverschiedenheiten bezüglich ihres Empfindens, ihren kamerunischen Verwandten gegenüber eine finanzielle Verpflichtung zu haben; anstatt für größere Anschaffungen wie ein Auto zu sparen, schickte Mrs. Black regelmäßig Geld an ihre Eltern und Geschwister. Rufen wir uns auch in Erinnerung, dass Mrs. Black und ihr Ehemann sich nicht einig waren, was die Bedeutung des Kinderkriegens für ihre zukünftige Beziehung anbelangt, als sie eine Fruchtbarkeitsbehandlung anstrebte. Mrs. Black erzählte mir: „He did not really want it, he was not really into it. It brought us a lot of problems, you know, most of our problems were about this child thing.“ Und schließlich nagte an Mrs. Black das Gefühl, dass sie von ihren angeheirateten deutschen Verwandten niemals vollkommen akzeptiert werden würde. Als sie ihr Pseudonym für unsere Interviews und dieses Buch auswählte, meinte sie: „Call me Mrs. Black, because this is how they see me. First I am Black, and only later am I a person.“
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Da ihre Familienbande sich über Kontinente erstrecken, sind Paare wie Mrs. Black und ihr Ehemann nicht in Netzwerk dauerhafter, persönlicher, multiplexer Beziehungen eingebettet, das sie – wie von Max Gluckman angedeutet – zur Lösung ehelicher Konflikte ermutigen würde (1967: 96). Die Geschichten kamerunischer Migranten-Mütter über unterschiedliche Normen bezüglich Familiengrenzen, Verpflichtungen und Unabhängigkeit in binationalen Ehen schlagen sich in gemeinsamen, zukunftsgerichtete Vorstellungen über die Kooperation mit dem Gesetz und – wie Soʼnjus Aussage klarmacht – auch die Umgehung des Gesetzes. Bei den unterschiedlichen Anpassungen der Ehe an die Beschränkungen des Migrantenlebens können wir die Entstehung von Modellen rechtlichen Bewusstseins beobachten. Was ist die richtige Art, ein Kind zu erziehen? Methoden im Hinblick auf die Betreuung und Sozialisierung von Kleinkindern – sowie die Abgrenzungen von Familie und die Anpassung der Ehe – verdeutlichen, wie der Schatten des Staats Änderungen bedingt und die Entstehung eines neuen diasporischen Rechtsbewusstseins fördert. Anhand einiger Fallstudien können wir beobachten, wie afrikanische Eltern auf die bürokratische Regulierung der Kindererziehung und die Überwachung von Verhalten und Gesundheit kleiner Kinder reagieren. Wir werden auch sehen, wie der Schatten von Jugendschutzmaßnahmen die Fürsorge von Migranten-Müttern für ihre Kinder durch die Durchsetzung von Disziplin beeinträchtigt. Für in Berlin lebende kamerunische Eltern beinhaltet die richtige Erziehung eines Kindes, es durch ein Gefühl der Zugehörigkeit in einer kamerunischen Gemeinschaft zu verankern. Ihrer Meinung ist Zugehörigkeit die Grundlage für Belastbarkeit, wenn man mit den Entbehrungen des Migrantenlebens konfrontiert wird. Mütter führen einen schwierigen Drahtseilakt zwischen der Schaffung kamerunischer Zugehörigkeit – durch körperliche Praktiken und die Durchsetzung von Respekt gegenüber Älteren – und der Förderung einer Anpassung an das deutsche Umfeld auf. Sie sehen sich Normen des Aufnahmelands bezüglich der männlichen Beschneidung, der Definition der Ausgelassenheit von Vorschulkindern als Krankheit (ADHS) und angemessenen Beziehungen zwischen Kindern und Eltern gegenüber, die seltsam und verstörend erscheinen. Regierungsbürokraten sowie die Ärzte, Lehrer und Sozialarbeiter, die für staatlich vorgeschriebene Überwachung und Betreuung von Immigrantenfamilien sorgen, scheinen die Beziehung kamerunischer Mütter zu ihren Kindern falsch zu verstehen oder zu verzerren. Mütter begegnen diesen Situationen mit einer Mischung aus Pragmatismus und Verwirrung. Sie verwenden Geschichten ihrer ei-
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genen Erfahrungen und der anderer, um sich gegenseitig vor den Methoden zu warnen, mit denen staatliche Akteure sie dazu zwingen, die Konturen angemessener Kindererziehung neu zu ziehen. Körperliche Praktiken, wie die Beschneidung kleiner Jungen, kennzeichnet Zugehörigkeit. In Gesellschaften, in denen die Beschneidung männlicher Säugling üblich ist – wie in Kamerun oder den Vereinigten Staaten – bedeutet beschnitten zu sein normal zu sein, während man unbeschnitten als anders gilt. Im Judentum und Islam hat die männliche Beschneidung als Zeichen der Zugehörigkeit noch größere Bedeutung, denn sie kennzeichnet den Bund mit Gott. Doch in der breiten Masse der deutschen Gesellschaft ist Beschneidung alles andere als selbstverständlich. In Kapitel Vier erklärte Jucal, was sie als deutsche kulturelle Eigenart betrachtete und meinte, dass Beschneidung „is not a tradition, itʼs not a culture here in Germany. They donʼt do circumcision.“ Dr. Fritz unterstrich Jucals Äußerung als sie sagte: „Christen würden sowas nicht machen... Ich bin persönlich kein Fan von Beschneidung – ich finde es ist dem Kind gegenüber Körperverletzung. Es hat keine medizinische Notwendigkeit. Es gibt eine Menge Komplikationen dabei, je nachdem wo es gemacht wird.“ Wie vielen anderen kamerunischen Müttern mit denen ich gesprochen habe, fiel es Jucal schwer in Worte zu fassen, was die Beschneidung zu einem wichtigen Bestandteil der Identität als Kameruner oder Bamiléké macht. Die meisten Bamiléké kombinieren entweder römisch-katholisches oder calvinistisch-protestantisches Christentum mit Überlieferungen traditioneller religiöser Glaubensrichtungen. In den Traditionen der Bamiléké und anderer Grassfielder wird die männliche Beschneidung als Voraussetzung für das Heranwachsen zum Mann betrachtet, wird jedoch weder rituell markiert noch in einem bestimmten Alter durchgeführt. Obwohl die meisten der mündlich überlieferten Geschichten, die ich in den 1980ern gesammelt habe, darauf hindeuten, dass die Beschneidung in der fernen Vergangenheit an Pubertätsrituale geknüpft gewesen sein könnte, lassen die meisten Kameruner ihre Söhne heutzutage zwischen Geburt und dem Alter von drei Jahren in einem Krankenhaus beschneiden. Jucal beschrieb die männliche Beschneidung daher nicht in religiösen Begriffen, sondern eher als selbstverständliche Tradition. „I donʼt just know. Itʼs just like it is something in the brain. Every male in Cameroon is circumcised. So I donʼt know whether... I just know itʼs something. Although here they say it might [be] there is dirt inside, people donʼt know how to clean it so well so itʼs good you cut it in order to be clean. But I just know that every man should be circumcised. Not should but where I come from they do that… even if you are undressing in like in beach or what so ever, people will be looking.“
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Jucal erwähnte die biomedizinischen Gründe (Sauberkeit, Vorhautverengung), die als einzige Rechtfertigung galten, um die Beschneidung zu einem medizinisch notwendigen Eingriff zu machen, dessen Kosten übernommen werden. Viel wichtiger für Jucal war allerdings die mögliche gesellschaftliche Ausgrenzung, die ihr Sohn im kamerunischen Kontext erfahren könnte, wenn er unbeschnitten bliebe. Sie bestand darauf, dass die Beschneidung ein wesentlicher, früher Schritt in der Erziehung ihres Sohnes als Kameruner sei. Als wir uns 2011 begegneten, war Jucals Sohn noch ein Kleinkind und infolgedessen machte sie sich viele Gedanken über seine Beschneidung. Jucal ging pragmatisch mit dem Gegensatz zwischen kamerunischen Vorstellungen und deutschen Bestimmungen bezüglich der Beschneidung männlicher Säuglinge um – Bestimmungen, die sich ändern sollten. 2011 übernahmen Versicherungen keine Kosten für Beschneidungen, die aus kulturellen Gründen durchgeführt wurden und für die keine medizinische Indikation vorlag. Jucal erhielt von ihrem Kinderarzt Adressen von Kinderchirurgen, „so many addresses, so I just called, itʼs business, you pay them [200€] for their services.“ Zu dieser Zeit agierten anstatt Ärzten und Gerichten die Versicherungsgesellschaften als Kontrollstellen für widersprüchliche Normen. Die Versicherungsgesellschaften entschieden, für welche Fälle die Kosten übernommen wurden; für die als „kulturell“ bezeichneten Beschneidungen erschwerte die Weigerung der Versicherungen zur Kostenübernahme den gesamten Vorgang für denjenigen, die die Kosten nicht aus eigener Tasche zahlen konnten. Im Jahre 2012 wurde der rechtliche Status der Beschneidung kleiner Jungen zu einem heiß diskutierten Thema. Im Juni dieses Jahres hatte das Landgericht in Köln die Beschneidung als Körperverletzung verurteilt. Anfängliche Kritik dieses Urteils (z.B. in Die Welt am 27. Juni und 29. Juni 2012) basierte auf religiösen Begründungen (z.B. Express 2012; Süddeutsche Zeitung 5. Juli 2012) und stellte Ansichten zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit eines Kindes der Religionsfreiheit gegenüber. Türkische und jüdische Organisationen in Deutschland sowie die großen deutschen Kirchen sprachen sich gegen das Urteil aus. Einige Zeitungskommentare nahmen sogar Bezug auf den Holocaust (Süddeutsche Zeitung 16. Juli 2012) und übten sich in einer Darstellungspraxis, die als „analogic bridging“ bekannt ist (Alexander 2002: 44; Savelsberg und King 2011: 125128). Innerhalb eines Monats erschienen in großen Zeitungen ausführlichere journalistische Kommentare über rechtlich-kulturelle Dilemmata, medizinische Meinungen und die Beschaffenheit religiöser Identitäten (z.B. Rabinovici 2012, Sachsenröder 2012, Polke-Majewski 2012). Diesen folgten Leitartikel, in denen die männliche Beschneidung als archaische Form der Körperverletzung be-
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schrieben (z.B. Ehrmann 2012, Kelek 2012, Schmidbauer 2012) und sogar als „Amputation der männlichen Vorhaut“ bezeichnet wurde (s. Fraczek 2013). Ende Dezember 2012 wurde ein neues Gesetz, §1631d Beschneidung des männlichen Kindes, zur Klärung des rechtlichen Status der männlichen Beschneidung erlassen13. Dieses neue Gesetz räumt Eltern das Recht ein, die Beschneidung ihres männlichen Säuglings zu erlauben und durchführen zu lassen. Bevor das Baby sechs Monate alt wird, darf die Beschneidung von einem ausgebildeten Fachmann durchgeführt werden, bei dem es sich um einen religiösen Vertreter (wie einen jüdischen Mohel) oder einen Chirurgen handeln kann. Nachdem das Baby älter als sechs Monate ist, darf der Eingriff nur noch von einem Arzt vorgenommen werden (Scholz 2012). Die Bedenken von Müttern wie Jucal wurden bei dieser Debatte außen vor gelassen. Kamerunische Beschneidungspraktiken basieren eher auf Tradition als auf der Doktrin einer Weltreligion. Und während die Diskussion trotz der salomonischen Lösung des Gesetzes vom Dezember 2012 weiter andauert, basiert das einzige anerkannte Recht auf Beschneidung auf den religiösen Gesetzen und Überzeugungen sowie der Zugehörigkeit der Eltern des Kindes (Fraczek 2013). Die Beschneidungsdebatte lässt keinen Raum für nur auf Tradition basierende Beschneidungen, ungeachtet der Überzeugung von Migranteneltern, dass diese Praxis Bestandteil der bestmöglichen Fürsorge für ihre kleinen Söhne ist. Die Überschneidung von Medizin, Gesetz und der elterlichen Erziehung von Migranten wird bei den Verhaltens- und Gesundheitsuntersuchungen deutlich, die stattfinden, wenn Mütter ihre Kinder für die erste Schulklasse anmelden. Da sich Immigranten-Mütter Gedanken darüber machen, wie die Einschulung ihrer Kinder sich auf deren zukünftigen Erfolg auswirken wird, handelt es sich dabei um bedeutende Begegnungen. Die Kinderärzte, Lehrer und Sozialarbeiter, die mit diesen Untersuchungen staatliche Vorschriften erfüllen, sehen die angehenden Schüler und die Eltern in ihrer Begleitung (für gewöhnlich die Mutter) bei
13 „(1) Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird. (2) In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen gemäß Absatz 1 durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind.“ (http://www.gesetze-im-internet.de/bgb/__1631d.html [abgerufen am 22. Dezember 2014]).
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einer einzigen Gelegenheit. Leider führen diese Begegnungen zwischen afrikanischen Müttern, ihren Kindern und fremden deutschen Beamten häufig zu Missverständnissen. Wenn Immigranten-Mütter hochgebildet und redegewandt sind, erweisen sich solche Missverständnisse zwischen deutschen Beamten und afrikanischen Eltern gegebenenfalls nur als kränkend. Barbara machte sich Sorgen über die Vorbereitung ihres zweiten Kindes auf die allgegenwärtige Schulreifeuntersuchung. Während eines Eltern-Lehrer-Treffens in ihrer Kindertagesstätte sprach Barbara mit der Lehrerin über das schlechte Benehmen, das die kleine Kemayou von ihren Klassenkameraden übernahm. Schließlich machte sich die ältere Schwester Happi so gut in der Schule und stach sowohl durch ihre Intelligenz als auch ihre höflichen Manieren hervor. Anstatt Barbaras Bedenken über Kemayou ernst zu nehmen, erwiderte die Lehrerin, dass Kemayou zu Hause vielleicht nicht genügend Aufmerksamkeit bekommen würde, „weil ihr Afrikaner so große Familien habt“. Wenn Immigranten-Mütter weniger gebildet sind, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie sich in einem Netz sprachlicher und kultureller Missverständnisse verfangen, manchmal mit erschütternden rechtlichen Konsequenzen. Ich hörte von einem solcher Fälle von Evangeline, der leitenden Sozialarbeiterin bei African Embrace, der kleinen Gemeindeorganisation, bei der ich ehrenamtlich tätig war. Evangeline half einer afrikanischen Migranten-Mutter der Arbeiterklasse mit vier Kindern, die nach der Schulreifeuntersuchung das Sorgerecht für ihre sechsjährigen Zwillinge verloren hatte. Ihre Klientin Constance war bestürzt, als der Kinderarzt bei der Schulreifeuntersuchung die Diagnose stellte, dass ihre ungestümen Zwillinge an einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS) leiden und empfahl, sie vor ihrer Einschulung medikamentös zu behandeln. Als Constance diese Behandlung verweigerte und behauptete, dass ihre Kinder „nicht krank“ seien, schaltete sich das Jugendamt ein. Constance wurde für unfähig erklärt, weil sie die Hyperaktivität ihrer Söhne nicht als Krankheit anerkannte. Constance, die im Deutschen nur über rudimentäre Lesekompetenz verfügt, musste Papiere unterschreiben – Dokumente, von denen Constance glaubte, dass sie ihren Zwillingen den Besuch eines Internats ermöglichen würden. Constance war sich nicht bewusst, dass sie Unterlagen unterzeichnete, die ihr stattdessen das Sorgerecht für die beiden Jungen entziehen und sie in ein Jugendheim schicken würden. Die sechsjährigen Zwillinge leben nun in dem Wohnheim, besuchen unter der Woche dort die Schule und dürfen an den Wochenenden ihre Familie besuchen. Evangeline beaufsichtigt die Wochenendbesuche der Jungen zu Hause und dokumentiert Constances Umgang mit ihren Söhnen, um ihr bei der Wiederer-
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langung des Sorgerechts zu helfen. Evangeline schilderte, dass die Jungen während der Wochenendbesuche ziemlich aggressiv sind. Sie sind in dem Jugendheim unglücklich und wütend, dass sie dort leben müssen, während ihre Geschwister weiterhin zu Hause wohnen. Außerdem fragen die Zwillinge, warum ihr Vater sie nicht aus dem Jugendheim abholt. Laut Evangeline hatte Constance geantwortet, dass der Vater seine Söhne nicht für Wochenendbesuche abholen darf, weil einer der Jungen einmal einem Sozialarbeiter des Jugendamts erzählt hatte, dass der Vater ihn aufgrund von schlechtem Benehmen in seinem Zimmer eingeschlossen hatte. Während eines anderen Wochenendbesuchs kabbelten sich die Jungen mit ihrem älteren Bruder und einer zog sich ein blaues Auge zu; Evangeline berichtete, dass das Jugendamt wegen des blauen Auges natürlich nachgefragt und Andeutungen bezüglich häuslicher Gewalt gemacht habe. Evangeline ist frustriert von ihren Treffen mit Vertretern des Jugendamts. Sie hat das Gefühl, dass sie weder die Situation einer Mutter verstehen, der die Kinder weggenommen wurden, noch die schädlichen Auswirkungen, die das Jugendheim und die Trennung von ihren Eltern und Geschwistern auf die zwei kleinen Jungen haben. Evangeline räumt ein, dass die Mitarbeiter des Jugendamts nach einigen berüchtigten Fällen, bei denen Kinder durch Misshandlung in der Familie gestorben waren, besonders nervös sind. Doch Evangeline hat auch den Eindruck, dass diese Mitarbeiter hart an der Konstruktion eines Falls arbeiten, in dem die Constance als Mutter immer als unfähig dargestellt wird. Sie sind verärgert, wenn Constance zu spät zu Terminen erscheint und achten peinlich genau auf alle Einzelheiten, die ihnen über Unterhaltungen zwischen Constance und ihren Söhnen berichtet werden. Während eines Wochenendbesuchs beschwerte sich einer der Jungen, dass das Jugendheim nicht gut sei und fragte nach, warum er und sein Bruder dorthin müssen. In Evangelines Darstellung der Situation antwortete die Mutter, dass „they have to go to school, and yes, she understands that the Heim isnʼt good, but still he must go there.“ Evangeline erzählte mir, dass die Mitarbeiter des Jugendamts diesen Vorfall als Beweis dafür auslegten, dass Constance ihre Kinder zu einem negativen und aggressiven Verhalten im Jugendheim beeinflussen würde. Evangeline sorgt sich ihrerseits, dass Kategorisierungseffekte das ADHS und die Aggression der Jungen verschlimmern könnten. Fast ein Jahr lang hat Evangeline das Verhältnis zwischen Mutter und Kindern aufgebaut und positive Interaktionen vorgegeben, indem sie mit Constance und ihren Söhnen gebastelt oder gebacken hat. Nach langen Monaten, in denen sie die Besuche der Kinder zu Hause aufgezeichnet hat, sah Evangeline schließlich Bewegung in den Fall kommen; Constance schien auf dem Weg zu sein, das Sorgerecht für ihre Zwillinge zurückzugewinnen. Das Jugendamt hatte veran-
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lasst, dass einer der Jungen eine Therapieschule für Kinder mit Verhaltensstörungen besucht. Der andere Zwilling war laut ihrer Diagnose etwas geistig zurückgeblieben und sollte auf eine Sonderschule gehen. Evangeline berichtete, dass Constance das Gefühl hatte, die Trennung der Jungen von ihrer Familie hätte ihre Verhaltensstörungen verursacht. Noch schwerer fiel es Constance die Diagnose zu akzeptieren, dass eines ihrer Kinder „behindert“ war und sie regte sich auf, dass er auf eine Schule mit Kindern geschickt werden würde, die erkennbare Behinderungen haben. Nichtsdestotrotz hatte Constance gelernt, dass sich den Einstufungen des Jugendamts zu fügen die einzige Möglichkeit war, das Sorgerecht für ihre Kinder zurückzubekommen. Constances herzzerreißender Zusammenstoß mit dem Jugendamt ist vielleicht eine Ausnahme, aber Fälle wie der ihre dienen als Beispiele, die andere kamerunische Mütter ermahnen sollen, sich vor einer aufdringlichen Regierungsbehörde in Acht zu nehmen. Die Gefahr einer Einmischung durch das Jugendamt – und die Angst, dass diese Einmischung entweder zum Verlust des Sorgerechts oder eines sicheren Aufenthaltsstatus führen könnte – schwebt über der Entscheidung kamerunischer Eltern bezüglich der Disziplinierung ihrer Kinder wie Spittlers Schatten des Leviathan (1980). Wenn sie sich zum Tee trinken, zum Haare flechten oder gegenseitigem Babysitten treffen, tauschen Mütter gleichzeitig auch Geschichten über Menschen wie Constance aus und kommentieren diese. Sie gewinnen den Eindruck, dass Deutschland ein Umfeld ist, in dem Kinder – zum Nachteil ihrer afrikanischen Eltern, die versuchen sie im Zaum zu halten – „ihre Rechte kennen“. Wir erinnern uns, dass kamerunische Eltern wie Barbara, Bih und Jucal verzweifelten, dass ihre Kinder respektlose Manieren von ihren deutschen Altersgenossen in Tagesstätten und Schulen übernehmen würden. Bih erzählte uns zum Beispiel von ihrer Sorge, dass ihr Kind eher wie andere deutsche Kinder werden könnte, seinen Eltern Widerworte gibt und sich daneben benimmt. „Thatʼs what I think makes me be a bit harder on her, because of those worries… I try to be a bit harder, because I know that she has only me to learn from. But in Cameroon she would have me and the society.“ Wie Bih machte sich auch Brianna Gedanken über die langfristigen Auswirkungen, die die vorherrschenden antiautoritären Erziehungsmethoden in Deutschland auf die Chancen im Leben ihres Kindes haben könnten. „My problem is here that the way I was brought up, if I were not brought up like that I would not be what I am today. So I want to make sure my child grows up in that way, to be something tomorrow.“ Aus Fällen wie dem von Constance und ihren Söhnen und Diskussionen auf Eltern-Lehrer-Treffen lernen kamerunische Mütter, dass körperliche Züchtigung – die in Kamerun legal und üblich ist – vom deutschen Gesetz scharf begrenzt
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und kontrolliert wird. Mütter befürchten, dass Lehrer oder sogar die deutschen Eltern der Klassenkameraden ihrer Kinder sie den Behörden melden könnten. Wie Iris erklärte: „Even with their friends when they are playing [and ask each other], ‚What did you do yesterday?‘… The children [are] talking, talking, talking. Before you know the teachers know… what is happening in your house, how your parents are treating you in the house.“ Iris machte sich Sorgen, dass die Beschwerden eines Kindes über strenge Regeln oder das, was sie als leichte Prügel betrachtete, von übermäßig wachsamen Lehrern übertrieben werden könnte und sie gleich das Jugendamt einschalten würden. Iris und andere Mütter wie sie zweifelten das Interesse der Lehrer an ihren Leben nicht nur als verdächtigen Eingriff an, sie kommentierten auch, dass ihre Kinder von Klassenkameraden lernten, dass körperliche Bestrafungen verboten waren. Jucal vertraute mir an: „You canʼt do anything to the child because they know they have their rights.“ Tatsächlich zeigt Jucals Äußerung „man kann nichts machen“, wie Eltern auch von ihren Kindern vom Gesetz erfahren und eine übertriebene Ansichten entwickeln, in denen alle Formen der Disziplinierung, von Hausarrest bis hin zu Schlägen, verboten sind. Iris berichtete, dass unter Kamerunern Informationen und persönliche Erzählungen über Kinder kursieren, die sich auf ihr Recht berufen nicht bestraft zu werden. „We always say, you know, in the African community that these children here are born with rights. They are born and they just know their rights.“ Bemerkenswerte ist, wie Iris ihren Kommentar mit den Worten „Wir in der afrikanischen Gemeinde sagen immer...“ einleitet. Eltern sorgen sich gemeinsam um die langfristigen Konsequenzen ihrer Unfähigkeit Disziplin durchzusetzen. Durch das Nacherzählen belehrender Geschichten fügen sich die individuellen Erfahrungen dieser Mütter zu einem gemeinsamen kamerunischen Diskurs drastisch eingeschränkter Rechte der Eltern zur Disziplinierung ihrer Kinder zusammen. Aus dem Ansatz des rechtlichen Bewusstseins lernen wir, dass Menschen durch den Austausch beispielhafter persönlicher Geschichten kollektive Auffassungen des Gesetzes schaffen. Im Fall der Disziplinierung von Kindern, vor allem dem Setzen von Grenzen durch disziplinierende Maßnahmen, umgehen kamerunische Mütter das Gesetz nicht und arbeiten auch nicht dagegen an. Allerdings frustriert sie sehr wohl die ihrer Meinung nach kolonisierende und einengende Macht des Rechts.
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H ILFESUCHE BEIM S TAAT : HÄUSLICHE G EWALT UND ANDERE K ATASTROPHEN In Anlehnung an Spittlers Behauptung, dass der Schatten des Leviathan der Erfolg alternativer Formen der Streitbeilegung fördert (1980), könnten wir davon ausgehen, dass kamerunische Migrantinnen mit Eheproblemen auf traditionelle Maßnahmen der Streitbeilegung in Gemeinschaftsorganisationen von Migranten zurückgreifen. Immerhin haben wir gerade festgestellt, dass der Staat einen Schatten wirft, der neue Grenzen der Definitionen von Ehe, Familie und angemessener Kindererziehung zieht. Stattdessen fand ich heraus, dass kamerunische Mütter angesichts eines gewalttätigen Ehepartners und anderer ernsthafter Eheprobleme gelegentlich doch auf die Organisationen und Gesetze des deutschen Leviathan zurückgreifen, was die Erlebnisse von Fanny und Rose veranschaulichen. Wir sind Fanny erstmals in Kapitel Vier begegnet und haben dort erfahren, wie ihre Liebesgeschichte eine Variante der Möglichkeiten darstellt, auf die kamerunische Migrantinnen ihre Partner kennenlernen und heiraten. Erinnern wir uns an die schwierigen Umstände, in denen Fanny sich befand, bevor sie letztendlich ihren kamerunischen Verlobten Cedric traf. Fanny hatte in Yaoundé als bilinguale Sekretärin für Englisch und Französisch für eine deutsche Firma gearbeitet. Fanny war mit ihrer Arbeit und ihrem Leben zufrieden und hatte keine Absicht nach Deutschland oder einen anderen Ort in Europa auszuwandern. Doch über ihre Arbeit lernte sie einen ihrer deutschen Kollegen kennen, verliebte sich in ihn und heiratete ihn schließlich. Von ihrem deutschen Ehemann unter Druck gesetzt, verließ Fanny die Stiefmutter, die sie mit Liebe großgezogen hatte, sowie alle anderen Familienmitglieder, um nach Deutschland auszuwandern. „I never wanted to come here but he insisted because we couldnʼt live distantly.“ Nach ihrer Ankunft in Deutschland stellte Fanny fest, dass ihr deutsche Ehemann auf totale Kontrolle bestand. „He became another person. We had to Streit, fight everyday… And it led to so many problems, police getting involved, me running away from time to time and coming back home. That kind of life was difficult.“ Der einzige Ort, den Fanny mit Erlaubnis ihres deutschen Ehemanns besuchen durfte, war ihr deutscher Sprach- und Integrationskurs. Der Integrationskurs erwies sich als Rettungsring, nachdem Fannys Ehemann anfing, sie emotional und körperlich zu misshandeln. Durch Gespräche mit den anderen Kursteilnehmern – Einwanderern aus allen Ecken der Welt – erfuhr Fanny von der Existenz der Frauenhäuser in Deutschland. Ihre Sprachlehrerin gab ihr Broschüren und erklärte, an wen sich Fanny wenden musste, um Schutz vor ihrem gewalttätigen Ehemann zu bekommen. Fanny schilderte: „I got to ask
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information from there… I was made to understand that… I could call the police or… go for help somewhere called Frauenhaus.“ Fanny zog in ein Frauenhaus und ließ sich dann irgendwann in Berlin nieder. Fanny zog in Erwägung wieder nach Kamerun zurückzukehren, aber mehrere wirtschaftliche, emotionale und rechtliche Überlegungen hielten sie in Deutschland. In Kamerun hatte Fanny keinen Arbeitsplatz, an den sie zurückkehren konnte, da sie ihre Stelle in der internationalen Firma vor ihrem Umzug nach Deutschland aufgegeben hatte. Fanny befürchtete, dass ihr misshandelnder Ehemann sich mit den Leuten in der Firma unterhalten und „Lügen und Gerüchte“ verbreiten würde, die verhinderten, dass sie in Yaoundé einen neuen Job fand. Eine Rückkehr nach Kamerun beunruhigte Fanny auch, weil sie dort die Schande einer gescheiterten Ehe hätte ertragen müssen. Darüber hinaus steckte sie mitten in einem Gerichtsverfahren bezüglich der gewalttätigen Misshandlung ihres Ehemanns. „Actually I wanted to go back to Cameroon, but when the issue was at a level that the state had to go into it, they, like, decided to keep me here to see if things will go on well.“ Letztendlich konnte Fanny durch ein Gesetz zum Schutz von Misshandlungsopfern in Deutschland bleiben.14 Ein Paragraf im Einwanderungsgesetz hebt die Anforderung auf, dass unter „besonderen Härten“ leidende ausländische Bürger drei Jahre lang mit ihrem deutschen Ehepartner verheiratet bleiben müssen, bevor sie einen dauerhaften Aufenthaltstitel bekommen. Das Gesetz erwähnt ausdrücklich Gewalt unter Partnern und gibt an, dass es das Festhalten an einer Ehe, in der es zu häuslicher Gewalt kommt, vermeiden soll. Fanny erfuhr von diesem Gesetz, als sie den Gerichtsbeschluss erhielt. „… I was surprised when they came to me to give me another report, changing my status to give me another status to stay… I was relieved that they could understand me.“ Nachdem sie von anderen Immigranten gehört hatte, dass das Gesetz Einwanderer nicht immer freundlich behandelte, war Fanny überrascht und erleichtert, dass die Behörden ihre schwierige Lage verstanden und mit ihr sympathisiert hatten. Rose, die zuerst als Ehefrau eines Kameruners mit einem Studentenvisum nach Deutschland kam, wandte sich auch an eine deutsche Organisation und die deutsche Justiz, als ihre Ehe zerbrach. Wie Fanny ist Rose eine junge BamilékéFrau, die als bilinguale Sekretärin in Yaoundé arbeitete. Ihr Ehemann erhielt ein Stipendium für den Besuch einer Universität in Deutschland. Sobald er sich dort eingerichtet hatte, gab Rose ihre Stelle auf, um ihm nachzureisen und kam mit
14 §31 II AufenthG: „Zur Vermeidung ‚besonderer Härten‘, wie sie z.B. das Festhalten an der Ehe in Fällen häuslicher Gewalt darstellt, ist aber von der Einhaltung der [dreijährigen] Frist abzusehen (§31 II AufenthG).“ (Dethloff 2012: 89)
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einem Familienzusammenführungsvisum an. Da Rose kein Deutsch sprach, waren ihre Arbeitsaussichten auf die niedersten Tätigkeiten begrenzt – in ihrem Fall die Arbeit als Zimmermädchen in einem Hotel. Rose und ihr Ehemann versuchten ein Kind zu bekommen, was aber aufgrund einer später festgestellten Zeugungsunfähigkeit ihres Mannes nicht möglich war. Das war besonders nervenaufreibend, da Roses Schwiegermutter bei jedem Telefonat fragte „Wo ist das Kind?“ Obwohl ihr Ehemann unfruchtbar war, wurde Rose die Schuld an der kinderlosen Ehe zugeschoben. Als Rose etwas länger als ein Jahr in Deutschland lebte, überredete Roses Schwiegermutter ihren Ehemann, sie davonzujagen. Er tat es, um seine eigene Unfruchtbarkeit zu vertuschen, da er das Stigma fürchtete, das er davontragen würde, sollte seine Familie davon erfahren. Das Ende ihrer Ehe bedeutete für Rose allerdings das Ende ihres Anspruchs auf einen rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland. Rose Visum hing von ihrer Ehe mit ihrem rechtmäßig ansässigen Ehemann ab. Für Rose begann eine Zeit der Illegalität, in der sie Angst hatte, dass jedweder Kontakt ihren illegalen Status auffliegen lassen und zu ihrer Abschiebung nach Kamerun führen würde. Eine Rückkehr nach Kamerun ohne Arbeit und geschieden aufgrund von Kinderlosigkeit wäre für sie eine Schande gewesen, die sie nicht hätte ertragen können. Während dieses traumatischen Zeitraums traf Rose einen anderen afrikanischen Migranten, der seit längerer Zeit legal in Deutschland lebte, und wurde von ihm schwanger. Das Staatsangehörigkeitsgesetz vom Januar 2000 erlaubt, dass ein in Deutschland geborenes Kind von Eltern, die keine Staatsbürger sind, die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen kann, wenn eines der Elternteile mindestens acht Jahre lang als legaler Einwohner in Deutschland gelebt hat. Als Roses Baby Serge geboren wurde, sorgte sie dafür, dass der Vater die Vaterschaftspapiere unterschrieb. Auf diese Weise konnte Rose einen deutschen Pass für ihren kleinen Sohn bekommen. Das wiederum ermöglichte Rose die Einholung einer Aufenthaltsgenehmigung als sorgeberechtigter Elternteil. Baby Serge beeinflusste somit die Beziehung seiner Mutter zu deutschen Einwanderungsbehörden und rettete sie vor der Abschiebung (de Genova 2002; Huschke 2013: 120). Baby Serge wirkte sich außerdem Roses Verhältnis zu gemeinnützigen deutschen Organisationen aus. Viele Migrantinnen wie Rose, deren Qualifikationen in Deutschland entweder nicht anerkannt oder als unbrauchbar betrachtet werden, arbeiten als Zimmermädchen, Haushaltshilfen oder Altenpflegerinnen. Schwangerschaft und Geburt gefährden ihre Jobs im Dienstleistungssektor. Als Rose im achten Monat schwanger war, verlor sie ihre Stelle und ihre Krankenversicherung. Erst dann suchte sie Hilfe bei der katholischen Kirche, die sie besuchte. Ein Geistlicher erkannte Roses Hilfsberechtigung (deservingness) an
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(Huschke 2014b) und verwies sie an eine katholische Wohltätigkeitsorganisation, die Dienste für Frauen in Not anbot. Die Organisation nahm Rose anschließend unter ihre Fittiche, arrangierte eine Notunterkunft, rechtlichen Beistand und perinatale Betreuung durch eine medizinische Wohltätigkeitseinrichtung für Nichtversicherte (von denen fast alle illegale Einwanderer sind).
Abbildung 6.3: Der Warteraum von Dr. Fritzʼ Wohltätigkeits-Klinik. Zusätzlich zu der medizinischen humanitären Fürsorge bietet Dr. Fritzʼ Klinik verschiedene Sozialdienste. Gespendete Kleidung liegt sorgfältig gefaltet auf dem Tisch für Patienten, die sie bei Bedarf mitnehmen können. Foto: Pamela Feldman-Savelsberg
Rose kehrte für die Untersuchungen immer wieder zur Klinik zurück und war erleichtert, dass sich jemand in ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft und auch nach der Geburt um sie kümmerte. Dr. Fritz, die Leitern der Wohltätigkeitsklinik, stellte Rose einen Mutterpass aus und vermerkte darin sorgfältig eine umfassende Reihe staatlich vorgeschriebener vorgeburtlicher Tests und Untersuchungen. Dr. Fritz ist eine zähe, nüchterne Frau, eine fähige Ärztin und Verwalterin, die bereits Auszeichnungen für ihre gemeinnützige Arbeit erhalten hat. Sie distanzierte sich von der Gefühlsduselei von Weltverbesserern und erklärte: „Ich habe weder eine politische Motivation noch eine weltverbessernde... Ich bin
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auch kein Freund von so großtrabenden Sprüchen wie ‚Ich habe mich schon als Kind für…‘ Ne, das ist nicht mein Ding.“ Trotzdem äußerte sie Kritik an medikalisierten Geburten in der von Durand (2004) beschriebenen zeitgenössischen deutschen Bioprodukt-Mittelschicht15. Bei einem Interview einige Monate nach der Geburt von Roses Baby Serge erzählte mir Dr. Fritz, dass sie mit den vorgeschriebenen Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen nicht glücklich sei. „Sie müssen diese apparative Medizin über sich ergehen lassen, was ja in anderen Ländern längst nicht so ausgeprägt ist. Gerade in Afrika… ist es ja nicht so, dass Schwangerschaft wie Krankheit behandelt wird.“ Dr. Fritz hatte Bedenken, dass ihre afrikanischen Patientinnen die Medikalisierung der Geburt befremdlich finden würden, nachdem sie viele „natürliche“ Geburten „auf dem Dorf“ miterlebt hatten. Im Gegensatz dazu kommen kamerunische Migranten-Mütter wie Rose aus einem städtischen Umfeld; als Frauen, die bisher kein Kind zur Welt gebracht hatten, wäre es ihnen nicht erlaubt gewesen einer Geburt au village (zu Hause, im Dorf) beizuwohnen. Rose und andere Migranten-Mütter genossen die umfassend geregelte Schwangerschaftsvorsorge, die ihnen angeboten, ja sogar vom deutschen Gesundheitswesen und Jugendschutz vorgeschrieben wurde. Obwohl sie sich Sorgen machten, beim Jugendamt gemeldet zu werden, wenn sie einen Termin versäumten, lobten Rose und andere Mütter die „gründlichen“ kinderärztlichen Untersuchungen, die durch Barcodes in ihren Mutterpässen dokumentiert wurden. Diese beiden Fälle ernsthafter Ehekonflikte zeigen, dass das Scheitern einer Ehe Fanny und Rose auf mehreren Ebenen Gefahren ausgesetzt hat. Diese Gefahren waren gleichzeitig emotionaler, sozialer, medizinischer und rechtlicher Natur. Sie beeinträchtigten den Zugang der Frauen zur Gesundheitsversorgung sowie ihren Aufenthaltsstatus und drohten, sie in die Kategorie eines illegalen Migranten zu drängen. Wir haben außerdem gesehen, wie diese beiden Frauen sich dezentrale Sozialeinrichtungen – eine private Sprachschule, die staatlich vorgeschriebene Integrationskurse anbietet und eine katholische Wohltätigkeitsorganisation – zunutze machen, um die gesetzlichen Ressourcen einer neuen Rechtsgemeinschaft für ihre Zwecke einzuspannen.
15 Beginnend mit den Ethnografien von Brigitte Jordan (1978) und Robbie Davis-Floyd (1986) hat seit über drei Jahrzehnten eine ähnliche kulturelle, soziale und medizinische Kritik anthropologische Studien zur Geburt beherrscht.
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S CHLUSSFOLGERUNGEN Verhielte sich das deutsche Staatsrecht wie Spittlers Leviathan, müssten wir davon ausgehen, dass sein Schatten kamerunische Migranten-Mütter dazu veranlasst, sich der Rechtskultur und den Streitbeilegungsverfahren zuzuwenden, die sie in ihren Koffern dabei hatten. Doch etwas ist unterwegs und bei der Interaktion einer Rechtskultur von zu Hause mit einem neuen rechtlichen und bürokratischen Umfeld passiert. Kamerunische Migranten-Mütter setzen in Kamerun erlernte Praktiken fort, wenn sie kreativ mit dem Gesetz umgehen (z.B. bei der Stellvertreterehe) und den Vertretern des Staatsrechts mit Misstrauen gegenüberstehen. Doch es gibt auch Ausnahmen, in denen sich Frauen für Hilfe an genau diesen Leviathan wenden. Das Gesetz legt Vorgaben für die alltäglichen Erfahrungen von MigrantenMüttern bei der Familiengründung fest – den begrenzten Pool, aus dem sie sich Partner wählen, die gelegentliche Instrumentalisierung romantischer Beziehungen, die Anerkennung von nur bestimmten Arten der Eheschließung und nur bestimmter Angehöriger als Familie und die daraus folgende Abwesenheit unterstützender Verwandtschaft bei entscheidenden Lebensereignissen. Das Gesetz schürt die Ängste der Mütter, dass ihre Kinder ohne Disziplin vom Weg abkommen und ein sich einmischender Staatsapparat die Versuche der Eltern vereiteln wird, kamerunische Normen hinsichtlich Respekt durchzusetzen. Doch das Gesetz beeinträchtigt das Familienleben afrikanischer Migrantinnen durch mehr als nur seine Reihe rechtlicher Normen, was mich dazu drängt, vom Schatten des Staats statt des Schatten des Leviathan zu sprechen. Der Schatten des Staats macht sich im Leben kamerunischer Migranten-Mütter durch Regeln, administrative Organisation und zwischenmenschliche Interaktionen bemerkbar. Der deutsche Staat legt Vorschriften (rechtliche Normen) bezüglich Einreise, Aufenthalt und sogar des Grads der Anstrengungen fest, die Migranten zur Integration unternehmen. Die komplexe Organisation aus sozialer Kontrolle und Dienstleistungen für Einwanderer erfordert scheinbar endlose Wanderungen durch ein labyrinthähnliches System. Die Kombination aus Rechtsvorschriften und der bürokratischen deutschen Organisationsform beeinflusst die direkten Begegnungen afrikanischer Migranten mit Staatsakteuren. Die Vorschriften gewähren Regierungsbürokraten ein gewisses Maß an Ermessensfreiheit, die entweder zum Nutzen oder zum Schaden der Ziele von Migrantinnen ausgeübt werden kann. Ermessensfreiheit bei der Anwendung rechtlicher Normen zeigt, dass es bei der Interaktion der Frauen mit dem Staat nicht nur eine menschliche Seite, sondern auch erhebliche Unterschiede gibt. Diese Unterschiede treten durch die
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Organisation der Arbeit innerhalb und zwischen Regierungsbehörden noch stärker hervor. Fälle von Klienten werden von einer zuständigen Stelle zur nächsten weitergereicht. In Verbindung mit hohen Fallaufkommen begrenzt dies die Fähigkeit von Sachbearbeitern wie Frau Amt und von Klienten wie Maimouna, anhaltende Beziehungen zueinander aufzubauen. In Situationen wie Constances Auseinandersetzung mit dem Jugendamt können die Konsequenzen flüchtiger, formalisierter Begegnungen verheerend sein. Die sozialen Beziehungen von Migrantinnen sind ein wichtiger Bestandteil Lebensgestaltung im Schatten des Staats. Einige dieser Beziehungen sind von kurzer Dauer und größtenteils zweckdienlich, wie zum Beispiel das Verhältnis zwischen Sachbearbeitern und Klienten. Andere Beziehungen bilden sich durch anhaltende Grundlagen der Identifikation, wie die in Hometown Associations geknüpften Netzwerke, die wir im vorherigen Kapitel untersucht haben. Um „für seine Papiere zu kämpfen“ und Zugang zu öffentlichen und privaten Leistungen zu bekommen zu können, sind alle Migranten auf die Informationen angewiesen, die – häufig in Form von Geschichten – in Umlauf sind. Die Abhängigkeit der Undokumentierten von der Hilfe und den in ihrem Netzwerk kursierenden Informationen ist sogar noch größer. Durch Mundpropaganda können Frauen wie Lily, Rose und Maimouna Zugang zu Wohltätigkeitskliniken, Aktivistennetzwerken aus medizinischen Angestellten (Castañeda 2013) und anderen Leistungen für Undokumentierte bekommen. Die Betreuung durch diese Einrichtungen reflektiert die Vertrauenswürdigkeit der Person, die sie empfohlen hat. Durch Verwendung der gleichen emotionalen Schaltkreise, über die Frauen Zugehörigkeit schaffen, tauschen Migranten-Mütter Erfahrungen darüber aus, wie das Gesetz die Familiengründung beeinflusst. Die ermahnenden Geschichten, die sie im Rahmen der alltäglichen Kontaktpflege austauschen, entwickeln sich zu gemeinsamen Auffassung über das Leben mit dem Gesetz an einem neuen Ort. Durch das Gründen von Familien und Großziehen von Kindern begegnen und entwickeln Frauen Auffassungen des Gesetzes. Migranten-Mütter legen sich neue Strategien zurecht, die ihre ehelichen und reproduktiven Leben, ihre Verpflichtungen gegenüber Verwandten und ihre Erziehungsmethoden formen. Dieses rechtliche Bewusstsein von Migranten ist frisch, aufstrebend, im Wandel begriffen – und ein wichtiges Element der Bemühungen von Frauen, Zugehörigkeit zu reproduzieren.
Fazit
Dieses Buch hat gezeigt, wie kamerunische Mütter nach ihrem Zuzug nach Berlin reproduktive Ziele erreichen und ein Gefühl der Zugehörigkeit erlangen. Wenn Ortswechsel auch häufig eine Folge von Eheschließung und der Geburt und dem Großziehen von Kindern ist, bedingt transnationale Migration doch besondere Herausforderungen. So berichten kamerunische Frauen in Berlin denn auch: „It is hard being a mother here.“ Migration nach Europa erschwert die Erhaltung von Status (wie Nationalität) und von Gefühlen (wie Zugehörigkeit). Kamerunische Migrantinnen reagieren auf diese Herausforderungen mit einem zielgerichteten Aufbau verschiedener Typen affektiver Schaltkreise. Bei der Partnersuche, der Geburt, der Kinderbetreuung und Sozialisation ihrer Kinder während der ersten Schuljahre schaffen sie soziale Verbindungen mit Verwandten, mit anderen Migranten, mit dem deutschen Staat und mit Mitarbeitern von Nicht-Regierungs-Organisationen. Solche Verbindungen helfen Müttern bei der Bewältigung von Problemen der Reproduktion und bei der Schaffung von Zugehörigkeit. Immigrantinnen handhaben diese Verbindungen mit großer Sorgfalt, um sich als junge Mütter an die neuen Bedingungen innerhalb der kamerunischen Diaspora anzupassen. Sie suchen den Fluss von Information, materiellen Dingen und Emotionen zwischen sich und drei Arten von Akteuren sorgfältig zu kontrollieren: Verwandte, die in Kamerun zurückblieben oder an andere Orte ausgewandert sind; Mitmigranten, die wie sie Mitglieder derselben Hometown Associations sind, und Akteure des deutschen Staates und humanitärer Organisationen. Wenngleich diese Sphären der Interaktion sich gegenseitig beeinflussen, ist doch jede in verschiedener Hinsicht von jeder anderen unterschieden. Unterschiede betreffen die Struktur der Emotionen, die Logik der Reziprozität und die Art der zirkulierenden Güter. Affektive Schaltkreise innerhalb von Verwandtschaftsbeziehungen operieren nach dem Prinzip der nicht-spezifischen, zeitlich verzögerten Reziprozität. Wenn
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Migrantenmütter jung sind und gerade Kinder geboren haben, senden sie glückliche Nachrichten, optimistische Worte und Fotos zurück nach Hause. Im Gegenzug erhalten sie informationelle, emotionale und materielle Unterstützung. Ältere weibliche Verwandte senden Ratschläge zu elterlichen und medizinischen Herausforderungen, ermunternde Worte, Bargeld, und kleine Geschenke an ihre Enkel. Teilnehmer an solchem intergenerationellem Güterfluss (Caldwell 2005), bei dem Moralität über ökonomischem Kalkül Priorität hat, erwarten, dass sich die Richtung des Flusses irgendwann umkehren wird und Geld, Güter und Sorge in Richtung Kamerun fließen werden. Affektive Schaltkreise innerhalb von Migrantenvereinen basieren auf formalen Prinzipien. Zugehörigkeit zur Gemeinschaft ist durch Mitgliedschaft im Verein definiert. Mitgliedschaft ist durch Satzungen reguliert, die Abstammung, Gebühren und Anwesenheit an monatlichen Zusammenkünften regeln. Die materiellen Güter, die durch Gemeinschaft-basierte Schaltkreise fließen, sind ebenfalls formal definiert. Nutzungsrechte, Geschenke und sogar formale Besuche bei der Mutter eines Neugeborenen sind in der Verfassung des Vereins festgelegt. Die zeitliche Organisation des Austauschs ist klarer definiert als innerhalb von Verwandtschaftsbeziehungen. Mitgliedschaftsgebühren sind zu spezifischen Daten fällig. Treffen finden zu regelmäßigen Zeitpunkten statt und Born House Feiern innerhalb eines klar definierten Zeitraums. Die emotionale Aufladung dieser Austauschaktionen reicht von der warmen Herzlichkeit eines geteilten Gerichts von Born House-Kochbananen bis zu der Ernsthaftigkeit, mit der Geschichten erzählt werden, die Neuankömmlinge über Bedingungen in ihrem neuen Zuhause informieren und schließlich bis zu extremer Vorsicht im Umgang mit Gerüchten. Diese Vorsicht wird durch Furcht vor Verrat an deutsche Autoritäten nur gesteigert. Affektive Schaltkreise mit Akteuren des deutschen Staats und der NichtRegierungsorganisationen werden ebenfalls durch eine formale Logik gesteuert. Deutsche Bürokraten wenden Normen an, die kamerunische Mütter in Kategorien von Bürger/Ausländer, legal/illegal versorgt/bedürftig einordnen. Die humanitären Impulse von Anbietern medizinischer oder sozialer Dienste aus dem staatlichen und nicht-staatlichen Bereich tragen ebenfalls zu Kategorisierung und Kontrolle bei (s. Fassin 2011; Ticktin 2011). Mitunter lernen Frauen, sich selbst Kategorien von Verdientheit zuzuordnen – indem sie Steuern zahlen, Kinder mit der „richtigen“ Art von Staatsbürger zeugen, deutschen Standards von guter Elternschaft entsprechen, und Funktionen ausfüllen, für die hoher Bedarf besteht. Wenn man diese Rollen gut spielt, kann man die Wahrscheinlichkeit erhöhen, permanente Bleibeerlaubnis, soziale Dienstleistungen und gute medizinische Versorgung zu erhalten. Aber es ist eine prekäre Aufgabe, die immer mit Risiken
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belastet ist (Verlust der Vormundschaft, Deportation), wenn die Erfüllung staatliche und nicht-staatliche Akteure nicht überzeugt. Weil die Risiken so hoch sind, sind Interaktionen zwischen kamerunischen Müttern und deutschen Staatsbediensteten typischerweise höflich aber auch angespannt. Ernste Gesichter zeigen die Selbstkontrolle, die Migrantinnen in solchen Situationen aufbringen müssen. Die Frauen sind sich allzu bewusst, dass das Machtungleichgewicht in dieser Interaktion erheblich ist. Es ist ein bemerkenswertes Merkmal des deutschen Kontexts, dass ein dichtes Netzwerk sozialer Dienstleistungen es den meisten kamerunischen Müttern erlaubt, ihre Kinder bei sich zu behalten, statt sie von Verwandten im afrikanischen Ursprungsland großziehen zu lassen (Coe 2014). Weil Kinder in fast allen Fällen durch die Schuljahre hindurch bei ihren Müttern bleiben, spielen sie eine wichtige Rolle bei der Integration ihrer Mütter an dem neuen Ort. Babys und Kinder tun dies, indem sie die Fürsorge verschiedener Arten von Akteuren mobilisieren, und somit Austauschbeziehungen motivieren, die durch die affektiven Schaltkreise fließen. Die Bedürfnisse von Babys und Kindern und der Status, den sie ihren Müttern sichern, überwinden häufig die Sicherungsschalter der Distanz, des Misstrauens und des Gesetzes, die den Fluss zu unterbrechen drohen. Kamerunische Mütter in Deutschland nutzen ihre Kinder, um diese komplexen, emotional geladenen Austauschkreisläufe zu handhaben, während sie gleichzeitig die dualen Herausforderungen der Reproduktion und der Zugehörigkeit in der Diaspora angehen. Die sorgfältige Handhabung affektiver Schaltkreise ist freilich nicht nur ein Merkmal transnationaler Migration. Kamerunische Bedingungen haben diese Frauen bereits mit einem Repertoire an Strategien ausgestattet, das bei der Bewältigung der neuen Herausforderungen in der Diaspora hilft. Kapitel Zwei, „Kamerunische Herausforderungen“, half uns zu verstehen, wie die doppelte Schwierigkeit, Familien zu gründen und ein sicheres Gefühl der Zugehörigkeit in Kamerun zu schaffen, zur Migration motiviert. Wir begannen unsere Reise in einer ländlichen Heimatstadt, dem Fondom Bangangté der Bamiléké, wo wir Paulette und Hortense trafen. Wir erfuhren, dass kulturelle Normen hinsichtlich Verwandtschaft und Ehe Mobilität für Bamiléké- und GrassfieldFrauen mit ländlicher Abstammung längst zur Voraussetzung für die Gründung einer Familie gemacht haben. Wir untersuchten Möglichkeiten zur Erzielung von Zugehörigkeit (und Ausschließung) durch Fortpflanzung, durch die eigene Einbettung in von Gewohnheitsrecht (kan) geregelten Netzwerken und durch Auffassungen des Verhältnisses der Lokalpolitik zum Staat. Ein Blick auf das letzte Jahrhundert kamerunischer Geschichte offenbarte, dass die Migration von den dicht besiedelten Regionen des Graslands in die Stadtzentren Kameruns und
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weiter an internationale Orte auch historische und politische Wurzeln in Zusammenhang mit Zugehörigkeitsproblemen hat. Arbeitsmigration, die Begründung diasporischer Gemeinschaften der Bamiléké und anglophonen Grassfielder, eine antikoloniale Rebellion, eine Separatistenbewegung und ein Ruf für politische Opposition gegenüber dem Zentralstaat haben Bamiléké und Anglophonen zu einer benachteiligten Stellung in Kamerun verholfen. Frauen interpretieren diese schwierigen Umständen, indem sie Erinnerungen an Traumata in ihren sozialen Netzwerken verbreiten und so eine kollektive Identität des internen Exils fördern. Da ehrgeizige Kameruner zunehmend zu europäischen und amerikanischen Zielorten auswandern, bieten ebendiese Netzwerke auch gegenseitige Unterstützung bei der Familiengründung, der Knüpfung von Verbindungen zur Heimatstadt und der Ermöglichung transnationaler Migration. Aufbauend auf Vorstellungen eines Horizonts, Widersprüchen und Erwartungen (Johnson-Hanks 2006; Graw und Schielke 2012) endete das Kapitel mit einer Untersuchung, wie Frauen sich (und ihre Kinder) auswanderungsfähig machen und stellte die Frage, warum sie auswandern und warum sie jetzt auswandern. In Kapitel Drei und Vier erfuhren wir, wie verwandtschaftlich basierte emotionale Schaltkreise der Zugehörigkeit von Migrantinnen an verschiedenen Punkten in ihrem reproduktiven Lebensverlauf, den ich als ihre Mutterschaftskarriere bezeichne, aufgenommen und beendet werden. Kapitel Drei, „Gründung kamerunischer Familien in Berlin“ konzentrierte sich darauf, wie Mütter durch Heirat und die Geburt von Kindern Verbindungen (und somit Zugehörigkeit) für sich selbst schaffen. Anhand der Vorstellung von vier Liebesgeschichten erfuhren wir mehr über die Ehe. Später berichteten uns Frauen wie Lily, Soʼnju und Christine, wie es ist, „ganz allein“ und ohne die übliche Unterstützung weiblicher Verwandtschaft Kinder zu gebären. Kapitel Vier, „Kinder in kamerunischen Familien in Berlin“, beschäftigte sich mit den Bemühungen der Mütter, Verbindungen für ihre Kinder zu schmieden und sie gleichzeitig in einem Netzwerk sozialer Beziehungen und einem Feld von Einstellungen zu Kultur und Identität zu verankern. Bih und Brianna erzählten, wie schwierig es ist, Kindern Respekt vor Älteren beizubringen und sie den Nutzen der Bewältigung von Widrigkeiten im toleranten Umfeld des modernen Deutschlands zu lehren. Jucal und Iris berichteten uns von Kindern, die „ihre Rechte kennen“ und von der fast unmöglichen Aufgabe Vorschul- und Schulkinder gleichzeitig im Sinne kamerunischer Kultur zu erziehen und erfolgreich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Die ergreifenden Geschichten von Agathe und Marianne führten uns die Frustration und Ängste von Müttern im Hinblick auf die Erziehung von Jugendlichen mit einem emotionalen Akzent vor Augen, mit anderen Worten, die Erziehung mit einem Satz von Annahmen
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und Erwartungen, die kaum in die Realität eines deutschen Heranwachsenden passen. Konfrontiert mit Hürden, die durch Gesetze, stratifizierte Reproduktion und den Druck der mütterlichen Pflichten entstehen, werden Kinder häufig zu Idiomen der Beschwerde und Verzweiflung über die Nicht-Zugehörigkeit von Migranten-Müttern. Kapitel Fünf, „Gesellschaftliches Engagement“, untersuchte, wie durch Gemeinschaftsorganisationen gebildete emotionale Schaltkreise unterschiedlicher Arten Zugehörigkeit fördern; Hometown Associations unterstützen Verbindungen über eine ortsbasierte Identifikation mit der Heimat, der ethnischen Herkunft, während themenspezifische gemeinschaftlich basierte Organisationen die Identität als Schwarzafrikaner mit Interesse an Entwicklung oder gesellschaftlichem Engagement fördern. Durch Lola und KemKarine erfuhren wir, dass kamerunische Mütter „Menschen brauchen“, die ihnen bei den Anstrengungen eines Lebens in einem fremden Land helfen und dass Gemeinschaftsverbände für Kinder sorgen, indem sie ihren Eltern Leistungen zukommen lassen. Gleichzeitig gehen Mütter wie Lola und Paare wie Marthe und Alain bei der Weitergabe von Informationen über die Gesundheit ihres Kindes mit Vorsicht vor, da sie sich Sorgen um möglichen Klatsch machen. In diesem Kapitel wurde klar, wie Kinder als Brücken zu Ressourcen seitens der kamerunischen diasporischen Gemeinschaft dienen. Kapitel Fünf untersuchte auch die Möglichkeiten und Grenzen des gesellschaftlichen Engagements von Migranten anhand einer Reihe von Ereignissen: einem monatlichen Treffen einer Hometown Association, dem Auftischen von Großmutters Rezept auf einer Jahresendfeier, einer Feier (mit dem Namen Born House) zur Einführung eines neuen Babys in die Gemeinschaft, einem Programm, um Kinder über ihre Kultur zu unterrichten, und der Teilnahme von Kindern an einer Totenwache für einen Großvater, der kürzlich in Kamerun verstorben war. Kapitel Sechs, „Im Schatten des Staats“, kehrte zum Thema rechtliches Bewusstsein in Bezug auf reproduktive Praktiken und die Spannung zwischen Mobilität und Zugehörigkeit zurück. Durch den Austausch von Geschichten untereinander (und mit mir) entwickeln kamerunische Mütter kollektive Einstellungen zum Umgang mit den Gesetzen und Vorschriften ihrer neuen Heimat. Lily stellte uns den Schatten vor, den der Staat auf alltägliche Interaktionen wirft, wenn sie einen Besuch unterbrechen muss, um zu ihrem Anwalt zu hasten, weil sie ihren Aufenthaltstitel behalten und damit ihr derzeitiges Leben in Ordnung halten muss. Durch einen Besuch beim Ausländeramt und die Begleitung von Maimouna bei ihren Bemühungen, Asyl gewährt zu bekommen und sich für einen vorgeschriebenen Integrationskurs (in Deutsch und Sozialkunde) anzumelden, haben wir begonnen, den lebendigen Kontext zu verstehen, in dem kamerunische Müt-
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ter dem deutschen rechtlich-bürokratischen Labyrinth begegnen. Das wurde besonders offensichtlich, als wir Ariane, Rose und Lily begleiteten, während sie die vielen Papiere besorgen, die zur Dokumentation der Geburt ihrer Kinder, ihrer Mutterschaft und ihrer Berechtigungen dienen. Wir lernten Evangeline, Anoush und andere Frauen kennen, die als Führer und Orientierungshilfen dienen, um Migranten-Mütter sicher durch dieses Labyrinth zu leiten. Wir erfuhren, dass die dezentrale Organisation der Sozialleistungen in Deutschland die Art der Beziehungen beeinträchtigt, die Mütter mit sozialen und medizinischen Dienstleistern eingehen können. Schließlich wird deutlich, wie der Schatten des Staats neue Grenzen dafür festlegt, wer als Familienmitglied und was als Ehe zählt und was als akzeptable Kinderbetreuung zu verstehen ist. Indem wir die verschiedenen Praxisfelder der Mütter, Babys und Kinder erkunden, entdecken wir, dass Zugehörigkeit nicht durch einen sondern durch mehrere affektive Schaltkreise gelingt. Diese Schaltkreise, jeder mit einer ihm eigenen Logik, erzeugen tumulthafte, ambivalente und vielschichtige Zugehörigkeiten, mir denen Mütter und Kinder umgehen müssen. Der Umgang mit einem solchen komplexen Satz von Beziehungen ist es, was das Muttersein in Berlin zu einer Herausforderung macht. Er ist aber auch Zeichen der beeindruckenden Genialität der Mütter, die große Opfer geleistet haben, um ihren Kindern soziale Mobilität zu ermöglichen. Dafür sind sie, in ihren eigenen Worten, „always on the move“.
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