Weltanschauung, Methodologie, Sprache [Reprint 2022 ed.] 9783112647264


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German Pages 108 [112] Year 2022

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Inhalt
Vorwort
Einleitung
I. Kapitel. Weltanschauung und Methodologie
II. Kapitel. Dialektik als Methodologie
III. Kapitel. Weltanschauliche und methodologische Aspekte in der Beziehung von Sprache und Denken
IV. Kapitel. Zur Problematik der sprachlichen Universalien
V. Kapitel. Sprachkultur, Grammatik und Logik
VI. Kapitel. Sprache und Klassenkampf in der Gegenwart
Personenregister
Sachregister
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Weltanschauung, Methodologie, Sprache [Reprint 2022 ed.]
 9783112647264

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Erhard Albrecht

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Erhard Albrecht

Weltanschauung — Methodologie Sprache

ERHARD ALBRECHT

Weltanschauung Methodologie Sprache

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1979

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1979 Lizenznummer: 202 • 100/22/79 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen • 5294 Einbandgestaltung: Rolf Kunze Bestellnummer: 7534114 (6462) • LSV 0145 Printed in GDR DDR 8,50 M

Inhalt

Vorwort

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Einleitung

9

I. Kapitel Weltanschauung und Methodologie

23

II. Kapitel Dialektik als Methodologie

41

III. Kapitel Weltanschauliche und methodologische Aspekte in der Beziehung von Sprache und Denken

52

IV. Kapitel Zur Problematik der sprachlichen Universalien

65

V. Kapitel Sprachkultur, Grammatik und Logik

78

VI. Kapitel Sprache und Klassenkampf in der Gegenwart

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Personenregister

103

Sachregister

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Vorwort

Der IX. Parteitag der SED und die Konferenz der Gesellschaftswissenschaftler der D D R im November 1976 haben sehr deutlich ausgesprochen, daß die marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften - insbesondere die Philosophie in Theorie und Methode als das einigende Band von Natur- und Gesellschaftswissenschaften wirken müssen. Materialismus und marxistische Dialektik bilden das weltanschauliche und methodologische Fundament der Einzelwissenschaften und sind in keiner Weise von der Hypothesen- und Theoriebildung in den einzelnen Disziplinen zu trennen. Der bekannte sowjetische Physiker Fok zum Beispiel, der Einsteins allgemeine Relativitätstheorie in physikalischer und philosophischer Hinsicht vertieft hat, bekennt in seinem Werk „Theorie des Raumes, der Zeit und der Schwerkraft", daß er zu seinen Ergebnissen durch die systematische Anwendung des dialektischen Materialismus, insbesondere des Werkes Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus", gelangt ist. In der sowjetischen Forschung wird seit längerem in enger Zusammenarbeit von Philosophen, Gesellschafts- und Naturwissenschaftlern eine umfangreiche Diskussion über die weitere weltanschauliche und methodologische Fundierung der Einzelwissenschaften geführt, die erkennen läßt, daß weltanschauliche, erkenntnistheoretische und logisch-methodologische Fragen untrennbar miteinander zusammenhängen. In der hier vorliegenden Abhandlung wird der Versuch unternommen, einige dieser Fragen insbesondere für die weltanschauliche und erkenntnistheoretisch-methodologische Fundierung der marxistisch-leninistischen Auffassung von der Sprache fruchtbar zu machen. Während es mir in meinen Arbeiten „Sprache und Erkenntnis. Logisch-linguistische Untersuchungen" (Berlin 1967), „Bestimmt die Sprache unser Weltbild?" (2. Aufl., Berlin 1974) und „Sprache und Philosophie" (Berlin 1975) vor allem um eine historische Erschließung der progressiven Traditionen der Sprachphilosophie und um eine Kritik an den früheren bürgerlichen sprachphilosophischen Konzeptionen der Gegenwart ging, versteht sich dieser Band als ein Beitrag zur marxistisch-leninistischen Theorie der Dialektik und ihrer Anwendung auf aktuelle sprachtheoretische Fragen. Auch sind wir weiterhin darum bemüht, nachzuweisen, daß die bürgerliche Linguistik einer wissenschaftlichen Analyse des Zusammenhangs von Weltanschauung, Methodologie und Sprache nicht gerecht werden kann.

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Der Redaktion der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie" und der „Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung", den Herausgebern der Wissenschaftlichen Zeitschriften der Universitäten Greifswald, Rostock und Jena sowie der „Studia Leibnitiana" sei an dieser Stelle dafür gedankt, daß es mir durch die Veröffentlichung einer Reihe von Beiträgen ermöglicht wurde, die Diskussion zu Teilfragen der hier vorgelegten Arbeit führen zu können. Für fruchtbare Diskussionen bin ich den Mitarbeitern der Arbeitsgruppe Logik/Semiotik/Methodologie des Instituts für Marxistisch-leninistische Philosophie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, insbesondere Herrn Professor Werner Kirchgässner und Herrn Dr. phil. Klaus Krüger, zu Dank verpflichtet. Auch möchte ich den Herren Professoren Manfred Buhr, Günter Kröber und Georg F. Meier sowie den Mitarbeitern des Akademie-Verlages, Berlin, sowohl für Hinweise und Anregungen als auch für die sorgfältige verlegerische Betreuung danken. Greifswald im November 1977

Erhard Albrecht

Einleitung

Über den Z u s a m m e n h a n g v o n Weltanschauung und Erkenntnistheorie

1. Weltanschauung und

Wissenschaft

In einem Interview mit der „New York Times" im Herbst 1952 hat Albert Einstein kurz und prägnant formuliert, warum ein Mensch ohne Weltanschauung und Gescbichtsbewußtsein niemals wirklich schöpferisch in der Wissenschaft tätig sein könne. Es sei nicht genug, betonte Einstein, die Menschen ein Spezialfach zu lehren. Dadurch werde er zwar zu einer Art benutzbarer Maschine, aber nicht zu einer vollwertigen Persönlichkeit. Es komme darauf an, daß er ein lebendiges Gefühl dafür erhalte, was zu erstreben wert sei. Er müsse einen lebendigen Sinn für moralische und ästhetische Werte bekommen. Sonst gleiche er mit seiner spezialisierten Fachkenntnis mehr einem wohlabgerichteten Hund als einer harmonisch entwickelten Persönlichkeit. Der Wissenschaftler müsse die Motive der Menschen, deren Illusionen und deren Leiden verstehen lernen, um eine richtige Einstellung zu seinen Mitmenschen und zur Gemeinschaft zu erwerben. Diese wertvollen Eigenschaften würden der jungen Generation durch den persönlichen Kontakt mit den Lehrenden, nicht - oder wenigstens nicht in der Hauptsache - durch Textbücher vermittelt. Dies sei es, was Kultur in erster Linie ausmache und erhalte. Die Überbetonung eines starren Unterrichtssystems und frühzeitiges Spezialisieren unter dem Gesichtspunkt der unmittelbaren Nützlichkeit töteten die Schöpferkraft, von der alles kulturelle Leben und damit schließlich auch die Blüte der Spezialwissenschaften abhängig sei. Zum Wesen einer wertvollen Erziehung gehöre es ferner, daß das selbständige kritische Denken im jungen Menschen entwickelt werde, was durch Überbürdung mit Stoff gefährdet würde und notwendig zu Oberflächlichkeit und Kulturlosigkeit führt. Daß die Forderungen Einsteins, der sich stets zu einem streitbaren Humanismus bekannte, heute dringender denn je der Verwirklichung bedürfen, haben zielgerichtete Untersuchungen von Soziologen, Wissenschaftshistorikern, Philosophen und Pädagogen bewiesen.1 Um diese Forderungen, die auch von sowjetischen Wissenschaftlern erhoben werden, erfüllen zu können, ist es notwendig, die Grundlagenforschung, die Wis1

Vgl. Wissenschaft und Sittlichkeit, Moskau-Betlin 1977; Ethische Probleme der Wissenschaft, Berlin 1977.

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senschaftsgeschichte und die Untersuchung des Zusammenhangs von Weltanschauung und Methodologie in der Entwicklung der Wissenschaften wesentlich zu verstärken. 2 Hierbei geht es um eine Untersuchung unter anderem folgender Fragen: 1. Führt die zunehmende Spezialisierung in der Wissenschaft zu einer Entfremdung der Einzelwissenschaftler von der Philosophie? 2. Welchen Beitrag leisten die Einzelwissenschaftler zur Herausarbeitung, Entwicklung und Begründung des wissenschaftlichen Weltbildes der Gegenwart? 3. Läßt sich ein spürbarer Einfluß philosophischer Theorien auf die einzelwissenschaftliche Begriffsbildung nachweisen? Besteht eine Wechselbeziehung zwischen philosophischer Methode und den Methoden der Einzelwissenschaften? 4. Inwiefern tauchen in den Einzelwissenschaften zahlreiche Fragen auf, die nicht mehr sachliche Fragen des betreffenden Sachgebiets sind, sondern weit allgemeineren Charakter tragen? 5. Warum ist die philosophische Integration des Wissens und der Praxis zu einer wissenschaftlichen Weltanschauung kein Selbstzweck? 6. Inwiefern wird ein menschliches Dasein ohne Weltanschauung, ohne die Erkenntnisse und Werte, welche nur die Philosophie und ihre Geschichte zu vermitteln vermag, entleert, und inwiefern entleert es sich ohne Philosophie des humanistischen Gehalts? 7. In welcher Weise erleichtert die wissenschaftliche Weltanschauung es dem Einzelwissenschaftler, seine eigene Arbeit in das Gesamtgefüge der Wissenschaften einzuordnen? (Probleme der Differenzierung, Spezialisierung und Integration des Wissens). 8. Welches Ausgangsmaterial benutzt die Philosophie zur Gewinnung von Erkenntnissen? 9. Welche Methoden benutzt die Philosophie, wenn sie auf der Grundlage dieses Materials theoretische Systeme aufstellt? 10. Weshalb gibt es auf dem Gebiet der philosophischen Erkenntnis unvereinbare theoretische Konzeptionen? 11. Kann die Wahrheit dieser Theorien überprüft werden? 12. Welches sind die Kriterien für die Überprüfung des Wahrheitsgehalts philosophischer Aussagen? Hierbei gehen wir davon aus, daß philosophische Aussagen immer weltanschauliche Aussagen sind, das heißt Sätze über allgemeine Prinzipien, die es uns ermöglichen, unsere Kenntnisse zu einem Ganzen über die Welt abzurunden. Weltanschauliche Aussagen bestimmen den Standpunkt, von dem aus alle menschlichen Erfahrungen oder alle unsere wissenschaftlichen Erwartungen vereinigt werden. Wir stimmen mit M. Jarosewski darin überein, daß philosophische Kategorien die gesamte Wirklichkeit erfassen und das menschliche Denken in allen seinen Erscheinungsformen organisieren. „Zugleich gibt es in jeder Wissenschaft eigene 2

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Vgl. hierzu auch G. Kröber/M. Lorf, Wissenschaftliches Schöpfertum, Berlin 1976; Autorenkollektiv, Sozialismus und wissenschaftliches Schöpfertum, Berlin 1976.

allgemeine Begriffe, die das Stabilste (das Invariante) in der von ihr erforschten Wirklichkeit widerspiegeln. Da sie innerlich zusammenhängen und in dynamischer Wechselwirkung stehen, bilden die Kategorien keine einfache Gesamtheit, sondern ein System, ein ,Netz', eine Kategorialordnung. Die Veränderung dieser Ordnung erfolgt gesetzmäßig, nach der objektiven Logik, also unabhängig von den Beweggründen, den Zielen und der individuellen Denkweise der Urheber von Programmen." 3 Wie dieser Zusammenhang von Weltanschauung, Denken und Erkennen wirklich zu verstehen ist, kann uns auch das historische Werden dieses Zusammenhanges verständlich machen. „Das theoretische Denken ist aber nur der Anlage nach eine angeborne Eigenschaft", betont Engels mit Recht. „Diese Anlage muß entwickelt, ausgebildet werden, und für diese Ausbildung gibt es bis jetzt kein andres Mittel als das Studium der bisherigen Philosophie. Das theoretische Denken einer jeden Epoche, also auch das der unsrigen, ist ein historisches Produkt, das zu verschiednen Zeiten sehr verschiedne Form und damit sehr verschiednen Inhalt annimmt. Die Wissenschaft vom Denken ist also, wie jede andre, eine historische Wissenschaft, die Wissenschaft von der geschichtlichen Entwicklung des menschlichen Denkens." 4 Bedeutsame Elemente des Zusammenhangs von Weltanschauung und Erkenntnistheorie wurden bereits in der Antike herausgearbeitet. 5 In der Renaissance, mit dem Aufkommen der modernen naturwissenschaftlichen Forschung, kam es erstmals zu einer eindeutig engen Verflechtung von Weltanschauung und Erkenntnistheorie mit entsprechend praktischen Konsequenzen. Doch mit der Entwicklung des Kapitalismus und der Herausbildung und dem Werden des Proletariats von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich war der Boden für die wissenschaftliche Erkenntnis und Lösung dieses Problems gegeben, wie sie Marx erstmals in den Thesen über Feuerbach formulierte. 2. Die Einheit von Weltanschauung und Erkenntnistheorie in Marx' Feuerbachthesen als Fundament der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen bürgerlichen Erkenntnistheorien In den Marxschen „Thesen über Feuerbach" ist der geniale Keim der neuen Weltanschauung niedergelegt, wie Engels in seiner Schrift „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie" betont hat. Diese neue Weltanschauung, die eine durchgängig wissenschaftliche Weltanschauung ist, konnte Marx entwickeln, weil er imstande war, eine wissenschaftliche Lösung des philosophischen Problems der Praxis zu geben. Eine derartige Lösung war nur vom 3

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5

M. JaroSewski, Die Struktur der wissenschaftlichen Tätigkeit, in: Gesellschaftswissenschaften, Zeitschrift der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, 3/1976, S. 193 f. F. Engels, Dialektik der Natur, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (im folgenden: MEW), Bd. 20, Berlin 1972, S. 330. Vgl. hierzu E. Albrecht, Sprache und Philosophie, Berlin 1975.

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Klassenstandpunkt des Proletariats aus möglich, da den Erkenntnismöglichkeiten der bürgerlichen Philosophie infolge ihrer sozialen Stellung und den gesellschaftlichen Verhältnissen objektive und subjektive Schranken gesetzt sind. Der bürgerlichen Wissenschaft konnte es daher auch in ihrer klassischen Periode nicht gelingen, die Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung aufzudecken. Dafür sind zwei Gründe maßgebend: 1. Die Bourgeoisie war auch in ihrer klassischen Periode eine Ausbeuterklasse. Daran ändert ihre zeitweilige revolutionäre Stellung in der Geschichte nichts. 2. Zur Zeit der Klassiker der bürgerlichen Wissenschaft waren die objektiven Voraussetzungen noch nicht vorhanden, die es ermöglicht hätten, die materiellen Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung vollkommen aufzudecken. Das schließt keineswegs aus, daß in der bürgerlichen Wissenschaft Teilwahrheiten enthalten sind. Marx und Engels haben die Ergebnisse der klassischen politischen Ökonomie, des französischen utopischen Sozialismus und der klassischen deutschen Philosophie kritisch verarbeitet. Wenn man die Marxschen Feuerbachthesen auf die Häufigkeit des Vorkommens von Kategorien untersucht, so läßt sich feststellen, daß die Kategorie der Praxis hier die zentrale Stellung einnimmt. Die in den elf Feuerbachthesen enthaltenen Ideen von Marx lassen sich, wie H. Duncker bereits versucht hatte, auf folgende Wesenseinheiten reduzieren: 1. Anschauung und Tätigkeit (Praxis) 2. Wahrheit und Praxis 3. Umändern und Sichverändern 4. Zerstörung der religiösen und Revolutionierung der irdischen Welt 5. Sinnliche Anschauung und sinnliche Tätigkeit 6. und 7. Der abstrakte, geschichtslose Gattungsmensch - Der Mensch als gesellschaftliches Produkt 8. Die gesellschaftliche Praxis als Auflösung der Mysterien 9. Anschauender Materialismus und bürgerliche Gesellschaft 10. Moderner Materialismus und Sozialismus 11. Notwendigkeit der Revolution: Bewährung der Philosophie in der Praxis. Wenn Marx davon spricht, daß der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus darin besteht, daß er die Wirklichkeit nur unter der Form des Objekts, der Anschauung faßt, also kontemplativ, so spricht er dem Idealismus das Verdienst zu, die tätige Seite entwickelt zu haben. Diese Marxsche Einschätzung beruht auf der Verarbeitung von sehr umfangreichem Quellenmaterial aus der gesamten Geschichte der Philosophie. Insbesondere hat die Behandlung des Praxisproblems in der klassischen deutschen Philosophie eine tiefgründige theoretische Verarbeitung erfahren. Kant hatte durch die von ihm behandelten Probleme in der „Kritik der reinen Vernunft" und der „Kritik der praktischen Vernunft" und Fichte durch die Betonung der Aktivität des Ich die Tätigkeit als schöpferische Funktion des Menschen erkannt und eine Einheit von Theorie und Praxis erstrebt, wenn auch 12

die Einheit als eine reine geistige aufgefaßt wurde. Darin unterscheidet sich Hegel von K a n t und Fichte in keiner Weise. Von der Praxis-Auffassung der klassischen deutschen Philosophie unterscheidet sich der Marxismus durch seine Hinwendung zur konkreten Tätigkeit. Im Marxismus wird die Praxis als revolutionär-kritische Tätigkeit aufgefaßt, durch die die objektiv-reale Umwelt tatsächlich verändert wird. D i e Praxis als Fundament der Erkenntnistheorie, die Praxis als materiell-sinnliche Tätigkeit des Menschen, der die objektive Welt durch seine Tätigkeit verändert, war erst auf der Grundlage der Position der Arbeiterklasse zu begreifen. E s ist sicherlich kein Zufall, daß im gegenwärtigen Zeitpunkt gerade die Thesen von M a r x über Feuerbach, in denen in axiomatischer Weise dargelegt wird, daß d a s gesellschaftliche Leben seinem Wesen nach ein praktisches Leben ist, daß die Praxis die Grundlage der Geschichte, der menschlichen Erkenntnis sowie das Wahrheitskriterium ist, besonders heftigen Angriffen von Seiten der bürgerlichen Philosophen ausgesetzt sind. Hierbei steht selbstredend die 11. These wieder im Mittelpunkt. So behauptet Günther Hillmann in seinen Erläuterungen in den von ihm herausgegebenen „Texten zur Methode und Praxis von K a r l M a r x " , daß die Interpretation der 11. These „in den letzten Jahrzehnten . . . nun vor allem eine pragmatische Tendenz erhalten habe, indem das bloße Verändern von Umständen als Praxis und die Arbeit als ihr eigentlicher Inhalt ausgegeben wird"®. Diese I d e e Hillmanns ist aber durchaus nicht originell, sondern findet sich bereits in der Arbeit des Sozialdemokraten Walter Theimer, der in seiner Arbeit „ D e r Marxismus. Lehre - Wirkung - K r i t i k " die Verfälschung des Marxismus im Sinne des Pragmatismus vorzunehmen versuchte: „ D i e marxistische Lehre ist auf Praxis, auf Verwirklichung gerichtet . . . Erkenntnis hat nur Zweck, wenn sie einen Hebel zur Veränderung der Umwelt liefert. Abstrakten philosophischen Problemen nachzugehen, wie etwa dem Sinn der Existenz der Welt als Ganzes, ist Zeitvergeudung . . . N u r Gedanken, die in praktische Handlungen umsetzbar sind, können ernst genommen werden. Der Marxismus steht also auf dem Boden des Pragmatismus . . . D i e Ziele des Marxismus sind identisch mit denen des Humanismus. E r will dessen pragmatische Seite sein, die materiellen und politischen Voraussetzungen für seine Verwirklichung schaffen. Diese Teleologie wird hinter der Hülle des Materialismus und Utilitarismus immer wieder sichtbar." 7 Auch Bochenski unterstellt dem Marxismus den Pragmatismus: „Aus der Auffassung, daß der gesamte Inhalt unseres Bewußtseins durch unsere wirtschaftlichen Bedürfnisse bestimmt sei, folgt nämlich, daß jede Gesellschaftsklasse eine eigene Wissenschaft und eine eigene Philosophie habe. Eine unabhängige, unparteiische Wissenschaft ist nicht möglich. Wahr ist, was zum E r f o l g führt; die Praxis allein bildet das Kriterium." 8 6

7 8

G. Hillmann, Texte zur Methode und Praxis von Karl Marx, II Pariser Manuskripte 1844, Stuttgart 1966, S. 232. W. Theimer, Der Marxismus. Lehre - Wirkung - Kritik, Bern 1950, S. 24-25. I. M. Bochenski, Europäische Philosophie der Gegenwart, Bern 1947, S. 81. 13

In dem berüchtigten „Handbuch des Weltkommunismus" vertritt Bochenski eine ganz analoge Auffassung, wenn er schreibt : „Der dialektische Materialismus lehrt eine absolutistische, realistische Wahrheitsdefinition: wahr ist, was mit der Wirklichkeit übereinstimmt und deren Kopie, Photographie, Widerspiegelung ist; gleichzeitig aber lehrt der historische Materialismus eine extrem sozialpragmatische Definition der Wahrheit: Wahr ist danach nicht, was der Wirklichkeit, sondern was den Bedürfnissen einer Klasse entspricht. Somit gibt es nach der ersten Lehre nur eine Wahrheit, nach der zweiten jedoch mehrere, nämlich so viele, wie es Klassen gibt. Das ist ein vollständiger Widerspruch." 9 Die Auffassung, daß der Marxismus eine pragmatische Wahrheitsauffassung vertrete, findet sich auch bei dem Renegaten Karl Korsch. 10 Diesen „Marxinterpretationen" ist jedoch entgegenzusetzen, daß bei Marx von einer Bewertung der Wahrheit unter dem Gesichtspunkt ihrer Nützlichkeit keine Rede sein kann. Während der Marxismus bei der Definition des Wahrheitsbegriffes von einer objektiven, unabhängig und außerhalb vom denkenden und erkennenden Subjekt existierenden Realität ausgeht, geht der Pragmatiker von subjektiven Nützlichkeitserwägungen aus und setzt ein Gleichheitszeichen zwischen Nützlichkeit und Wahrheit. Die marxistische Philosophie lehnt eine Identität von Wahrheit und Nützlichkeit ganz entschieden ab und geht auch in ihrer Praxisauffassung nicht, wie die genannten Gegner des Marxismus meinen, vom „Nutzen" aus. Für den Marxismus ist die Arbeit die Grundform der Praxis. Aber die Praxis ist natürlich weiter, denn sie umfaßt die umweltverändernde Tätigkeit des Menschen auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens, insbesondere in der Produktion, in den ökonomischen Beziehungen, sowie in der Politik, Kultur und Wissenschaft. Die marxistische Philosophie ist die einzige Philosophie, die eine untrennbare Einheit von Theorie und Praxis, von Philosophie und Politik herzustellen imstande ist. Daher ist es auch keineswegs zufällig, daß diese untrennbare Einheit von Theorie und Praxis, von Philosophie und Politik seit jeher Gegenstand heftigster Kritik der Revisionisten am Marxismus war, wie insbesondere die Kritik an den Marxschen Feuerbachthesen beweist. Der „Mangel" der Feuerbachthesen liegt nach Hillmanns Ansicht darin, „daß die Beziehungen zwischen Wissenschaft und theoretischer Konzeption aber gar nicht erörtert werden. Relativ unvermittelt, notwendigerweise, stellt sich die wirkliche Theorie der bloßen Theorie als Extrem gegenüber. Dies ist ein Grund dafür, daß die Thesen für so ganz verschiedene Zwecke immer wieder scheinbar sachgerecht interpretiert werden konnten" 11 . 9

10 11

I. M. Bochenski/O. Niemeyer, Handbuch des Weltkommunismus, Freiburg-München 1958, S. 49-50. Vgl. K. Korsch, Marxismus und Philosophie, Frankfurt-Wien 1966, S. 54-58. G. Hillmann, Texte zur Methode und Praxis von Karl Marx, II Pariser Manuskripte 1844, a. a. O., S. 234.

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Hillmann beruft sich dabei auf Giulio Pretis Arbeit „Praxis ed empirismo", der die Feuerbachthesen als eine Ablehnung jeder Interpretation hinstellt. „Selber im bloß theoretischen, philosophischen Verhalten befangen, verschwimmt ihm Praxis zum einfachen Verändern: Sowohl soll das Interpretieren schon als Verändern konzipiert werden, wie auch das Verändern das einzig gültige und verbürgte Interpretieren bedeutet. D a ß hierbei die Wahrheit sich auf den vorweggenommenen Gang der Operationen beschränkt, leuchtet ein. Nicht daß Erkenntnis ganz ausgeschaltet würde - soweit geht Preti nicht, indem aber die Wahrheit zum operativen Modell degradiert, wird Praxis, wenn auch nicht auf Technik, so doch auf Methode eingeengt." 12 So weit glaubt dann Hillmann doch nicht gehen zu können, denn bei Preti sei von Bestimmung der Praxis durch Theorie, und umgekehrt, nicht mehr die Rede. Andererseits werde damit die Frage des Subjekts der Praxis und seines Bedürfnisses offengelassen und damit gerade das Subjekt akzeptiert, das sich bereits als erst pragmatisch, dann aber methodisch handelndes Zentrum stabilisiert habe. Pretis eigene Wahrheit bleibe jenseits des gesellschaftlichen Handelns. Bei Marx, so glaubt Hillmann nachweisen zu können, werde die Wahrheit völlig subjektiviert, denn nachdem Marx in den „Pariser Manuskripten" die Wahrheit des Bedürfnisses, das wesentliche und existentielle Bedürfnis des Individuums - also die subjektive Wahrheit - dargestellt habe, verweise er in den Thesen auf ein weiteres Moment des wahren Verhältnisses, darauf, daß das Denken insoweit objektiv wahr sei, als es verwirklicht werde. Damit sei die sich in aussichtslosem Dilemma verfilzende Frage der westeuropäischen Philosophie nach einer theoretisch beweisbaren Wahrheit wenigstens prinzipiell ad acta gelegt. Diese Wahrheit bzw. Unwahrheit der Theorie habe eine ganz andere Quelle. Theorie sei subjektiv wahr, sofern sie der leidenschaftliche, phantasievolle Ausdruck des Bedürfnisses und des Willens ist. „Diese subjektive Wahrheit ist ohne Selbstbewußtsein, das sich aus der eigenen Analyse des Ich wie der der Umwelt bildet, nicht mehr zu erzeugen. Ihre volle objektive Wahrheit erreicht die Theorie in dem Moment, wo sie ihre subjektive Wahrheit verliert, wo sie ebenso gegenständlich wie gegenstandslos, eben verwirklicht, aufgehoben wird. Die Wahrheit ist also keine Frage der Erkenntnistheorie oder der Logik bzw. Dialektik; sie ist weder eine Frage der Anschauungsweise noch der Methode. Sie ist kein Gegenstand, den man besitzen könnte; Wahrheit oder Unwahrheit wird gelebt, genossen und erlitten. Nur einzelne Sätze, Hypothesen und Interpretationen der Theorie können falsifiziert werden, niemals die Theorie als Ganzes. (Man kann natürlich ihre Quellen bloßlegen und ihre gesellschaftliche Funktion bestimmen.) Die vermittelnde, organisierende Kraft einer Theorie äußert sich in ihrer Methode, in dem operativen Modell, das sie beinhaltet. Diese Methode als der vorweggenommene Gang der Handlung, muß als Widerspruch gefaßt werden, der nur praktisch aufzulösen ist. Wo Theorie, wie Sartre, sich noch in sich selbst zu begrün12

Ebenda.

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den sucht, anstatt im praktischen Bedürfnis, hat sie den Weg zu wirklicher Praxis noch nicht gefunden." 13 Sicherlich ist es richtig, daß der pragmatische Nützlichkeitsstandpunkt von der Wahrheit unterschieden werden muß, aber Begrift'sbildungen wie „subjektive Wahrheit", „wahre Praxis" und „praktische Wahrheit" bleiben Pseudobildungen, Begriffe, die in ihrem Durchschnitt leer sind. Wahrheit ist bekanntlich eine zweistellige Relation (Relation zwischen Sachverhalt und Aussage), Praxis hingegen eine dreistellige Relation (Wirklichkeit-Abbild-Handlung). Die Praxis, die praktische Tätigkeit des Menschen, bildet somit sowohl die Voraussetzung als auch die Bestätigung unserer Erkenntnisse, das heißt wahrer Aussagen, also Aussagen, die mit Sachverhalten der Wirklichkeit übereinstimmen. Wenn Hillmann behauptet, daß Wahrheit keine Frage der Erkenntnistheorie oder der Logik bzw. der Dialektik sei, sondern Wahrheit oder Unwahrheit werde gelebt, genossen, erlitten, so werden objektive und subjektive Elemente in der Wahrheitsauffassung metaphysisch auseinandergerissen. Marx hat in den Feuerbachthesen klar und unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage sei, das heißt die Ebene der Wahrheit kann nur wieder von einer höheren Ebene, nämlich der Praxis, erfaßt und bewertet werden. Der Satz Hillmanns: „Wahre Praxis gründet sich in sich selbst", erweist sich somit ebenfalls als ein sinnleeres Gebilde. Eine Reduktion der Wahrheit auf Erlebnisse, also eine Trennung von Wahrheit, Wirklichkeit und Praxis, ist typisch für eine subjektiv-idealistische Denkhaltung, wie sie im Existentialismus zum Ausdruck kommt. Behauptete doch Jaspers, daß es heute kein gültiges Weltbild mehr geben könne, wenn es auch gefährlich sei für unsere Existenz, in solcher Bodenlosigkeit leben zu wollen. Damit entfällt für Jaspers auch das Wahrheitsproblem innerhalb der Philosophie. Da wir nicht wissen können, was Wirklichkeit ist, können wir auch nicht wissen, was Wahrheit ist. „Es ist unbegreiflich, wie diese reiche Erscheinung der Welt etwa aus jenem der Physik übrigbleibenden Wirklichen erwachsen sollte. Das Wirkliche ist etwas anderes und viel mehr. Gerade diese unmittelbare Erscheinung soll uns wieder das eigentlich ganz Wirkliche werden. Aber alsbald zerinnt sie dem Zugriff. Will ich sie wissen, so ist sie sogleich zerspalten in eine Fülle von Wirklichke : ten, von denen jene unanschauliche Realität der physikalischen Erkenntnis eine unter anderen ist. Nirgends ist die Wirklichkeit, die eine Wirklichkeit, die Wirklichkeit selbst. So entschwindet uns die Wirklichkeit, wenn wir sie wissen wollen. In der Durchschnittlichkeit unseres Auffassens und Verhaltens steht eine Menge von Wirklichkeiten für die Wirklichkeit: es pflegen jeweils irgendwelche Wirklichkeitsformen verabsolutiert zu werden." 14 D a ß mit dieser subjektiv-idealistischen Position auch eine Absage an die Logik 13 14

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Ebenda. S. 235. K. Jaspers, Von der Wahrheit, München 1958, S. 31.

verbunden ist, läßt sich an den Thesen Hillmanns deutlich erkennen. Diese Auffassung ist aber nicht originell. Sie wurde bereits von Heidegger in dessen Arbeit „ W a s ist Metaphysik?" im Jahre 1930 formuliert: „Wenn so die Macht des Verstandes im Felde der Fragen nach dem Nichts und dem Sein gebrochen wird, dann entscheidet sich damit auch das Schicksal der Herrschaft der ,Logik' innerhalb der Philosophie. D i e Idee der .Logik' selbst löst sich auf im Wirbel eines ursprünglichen Fragens." 1 5 D i e Absage an die Logik aber bedeutet die. Preisgabe eines wichtigen wissenschaftlichen Instrumentes. D a v o n zeugt auch die Verschwommenheit von Hillmanns Begriffsbildung. D i e von ihm praktizierte Pseudobegriffsbildung dient offenkundig reaktionären Klasseninteressen, wenn er schreibt: „ A l s diese Praxis sieht Marx vor allem die revolutionäre Aktion, die K a m p f und Organisation zugleich enthält. Ferner hat er in den ,Pariser Manuskripten' vom wahrhaften Produzieren - im Unterschied zur bloßen Reproduktion - gesprochen, das die Freiheit vom physischen Bedürfnis voraussetzte. E s kann also keine R e d e davon sein, daß Marx die Arbeit (als Erwerbsarbeit) als menschliche Verwirklichung, in der Tätigkeit und Genuß zusammenfallen, eben als Praxis verstanden haben wollte. Wenn er die Industrie als die vollendete Arbeit bezeichnet, so deutet er schon deren Aufhebung in einer neuen Weise menschlichen Lebens an. Bereits G e o r g Lukacs hat mit Recht darauf hingewiesen, daß Industrie und Experiment Voraussetzungen für die Praxis, aber nicht diese selbst sind. Den Entwurf der revolutionären Praxis hat Marx gewonnen im Erleben der Situation der totalen Entfremdung und im Anschauen der gewaltsamen Aktionen des Proletariats. Revolutionäre Praxis ist gebunden an ihr gemeinsames Subjekt (und Träger), die Arbeiterklasse. Schon im Übergehen der Rolle des Subjekts an die Führergruppen aber haben revolutionäre Aktionen weitgehend ihren Praxiischarakter verloren. D i e Ausbildung von Weltanschauung und Ideologie ging mit diesem Prozeß der Trennung von Zweck und Mittel H a n d in Hand. In der Mitte des 20. Jahrhunderts aber verfällt auch die Rolle des Trägers; die Arbeiterklasse befindet sich in den Industrieländern im Prozeß ihrer Auflösung und Dezimierung. E s soll damit gesagt sein, daß diese Marxschen Kategorien immer weniger geeignet sind, moderne Verhältnisse auszudrücken." 1 6 Der apologetische Charakter von Hillmanns Interpretation der Marxschen Feuerbachthesen spricht deutlich aus dieser hier zuletzt angeführten Stelle. D i e Überprüfung der Aussagen Hillmanns zeigen, daß sie einer ernsthaften Kritik nicht standhalten. Hillmann geht es aber auch gar nicht um Wahrheit, die er als erkenntnistheoretische Kategorie ohnehin ablehnt, sondern um die Verfälschung des Marxismus, um die Verleumdung der marxistischen und Arbeiterparteien und die Negierung der historischen Mission der Arbeiterklasse selbst. So schreibt Hillmann auch in seinem Beitrag „Zur Geschichte der marxistischen Dialektik", der der deutschen Ausgabe von Jean-Paul Sartres

16

M. Heidegger, Was ist Metaphysik?, Bonn 1930, S. 22. G. Hillmann, Texte zur Methode und Praxis von Karl Marx, II Pariser Manuskripte 1844, a. a. O., S. 236.

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Albrecht

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Schrift „Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Methodik" beigefügt ist: „ D i e Dialektik als die moderne Methode des Denkens und Handelns wird sich nur in dem Maße entfalten, in welchem das gesellschaftliche Leben eine neue Theorie des Handelns erzwingt: eine Theorie, welche die prinzipielle Opposition als notwendige Bedingungen der Entwicklung erkennt, eine Theorie, in der das Entweder-Oder nicht mehr regiert, sondern im Sowohl-Als-Auch aufgehoben wird. D a s erst wird den endgültigen Sieg der Dialektik über den Dogmatismus und Skeptizismus bedeuten. Zugleich wird die allgemeine Praxis in dem Maße vom Untergang des auf Identität mit sich selbst gerichteten weltanschaulichen Denkens begleitet sein, in dem sie die Welt in der Tat des menschlichen Subjekts, in den Weg seiner Selbstverwirklichung und Selbstveränderung verwandelt." 1 7 Was Hillmann unter „prinzipieller Opposition" versteht, wird zwar nicht direkt ausgesprochen, aber dennoch klar verstanden. Die Stoßrichtung erfolgt gegen die marxistisch-leninistischen Parteien. Ebenso ist es sicher auch kein Zufall, daß Hillmann sich zur Absicherung seiner erkenntnistheoretischen Position auf Jean Paul Sartre beruft, der ebenfalls darum bemüht ist, die marxistische Erkenntnistheorie durch einen subjektivistisch gedeuteten Praxisbegriff zu widerlegen. Ein Zitat aus Sartres Schrift „Critique de la raison dialectique" vermag dies zu verdeutlichen: „ D a s methodologische Prinzip, demgemäß die Gewißheit mit der Reflexion einsetzt, widerspricht in keiner Weise dem anthropologischen Prinzip, welches besagt, daß die konkrete Person durch ihre Materialität zu bestimmen ist. D i e Reflexion beschränkt sich für uns nicht auf die schlichte Immanenz des idealistischen Subjektivismus: Sie ist erst für uns Ausgangspunkt, wenn wir davon sogleich auf die Dinge und Menschen in der Welt zurückgeworfen werden. Die einzige Erkenntnistheorie, die heutzutage Gültigkeit beanspruchen kann, ist die auf die Einsicht der Mikrophysik begründete: daß der Experimentator selbst in die Versuchsanordnung einbezogen ist. Diese ist die einzige Theorie, auf Grund derer man allen idealistischen Illusionen entgehen kann, die einzige, die den wirklichen Menschen in der wirklichen Welt zeigt. Aber dieser Realismus impliziert notwendig einen reflexiven Ausgangspunkt, d. h. die Enthüllung einer Situaton erfolgt in und durch die Praxis, die sie verändert. Wir setzen die Bewußtheit nicht als Ursprung der Handlung an, sondern sehen darin ein notwendiges Bestandstück der Handlung selbst: die Handlung erhellt sich im Laufe ihres Vollzuges selbst, nichtsdestoweniger treten diese Erhellungen erst im Bewußtsein und durch die Bewußtheit der Handlungen auf, was mit Notwendigkeit den Ansatz einer Erkenntnistheorie impliziert." 18 Die Behauptung Sartres, daß die einzige Erkenntnistheorie, die heutzutage Gültigkeit beanspruchen könne, die auf Einsicht der Mikrophysik gegründete ist, beruht auf dem Argument, daß der Experimentator in die Versuchsanordnung einbezogen ist. D a s ist aber durchaus keine neue Erkenntnis. Wer mit der Dia17

G. Hillmann, Zur Geschichte der marxistischen Dialektik, in: J . P. Sartre, Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Methodik, Hamburg 1964, S. 148

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J. P. Sartre, Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Methodik, a. a. O., S. 2 9 - 3 1 .

18

lektik von Subjekt und Objekt vertraut ist, weiß, d a ß diese Problematik hier bereits gestellt worden ist. So kann es auch überhaupt keinen Gegensatz zwischen objektiver Erkenntnis und erkennendem Subjekt geben, wie es oftmals behauptet wird und bei Sartre deutlich anklingt. Marx kritisiert doch gerade in der I. Feuerbachthese als den Hauptmangel aller materialistischen Richtungen, die es vor ihm gegeben hat, daß „der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt w i r d ; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv" 19 . Aus dieser Marxschen Kritik am kontemplativen Materialismus folgt auch, daß man die Aktivität des Subjekts nicht nur in der praktischen Tätigkeit, sondern auch in der Erkenntnistätigkeit sehen muß. „Die Erkenntnis ist nicht die Folge einer bloßen Einwirkung des Objekts auf das ihm passiv gegenüberstehende Subjekt", schreibt W . Lektorski in seiner Arbeit „Lenins Auffassungen der SubjektObjekt-Dialektik". „Die Aktivität des erkennenden Subjekts kommt nicht nur darin zum Ausdruck, d a ß das Objekt nur im Rahmen der sozialhistorischen Praxis auf das Subjekt einzuwirken vermag, sondern auch darin, d a ß die Widerspiegelung, die ideelle Reproduktion des Objekts eine schöpferische Erkenntnistätigkeit darstellt . . . Eine adäquate gedankliche Reproduktion des Objekts setzt daher eine Umwandlung der Ausgangsdaten des Erkennens voraus. D i e ideelle Reproduktion des Objekts ist das Ergebnis der Anwendung bestimmter Erkenntnisverfahren, logischer Operationen, durch das Subjekt." 20 Alle Konzeptionen, die davon ausgehen, d a ß man in der Wissenschaft nicht von einer unabhängig von den Operationen des Experimentators existierenden objektiven Realität sprechen könne, beruhen auf dem Fehlschluß, d a ß die SubjektObjekt-Beziehung mit der Grundfrage der Philosophie identisch ist. Sie leitet sich vielmehr erst aus dieser ab. Das Objekt ist nur ein Teil der objektiven Realität, der mit dem Subjekt in Wechselwirkung steht." Diese Heraussonderung des E r kenntnisobjekts erfolgt in bestimmten Formen der praktischen und erkennenden Tätigkeit (mit Hilfe der logischen Kategorie der Sprache, wissenschaftlicher Systeme usw.), die von der Gesellschaft ausgearbeitet worden sind und Eigenschaften der objektiven Realität widerspiegeln." 2 1 Dieses Wissen des Subjekts vom Objekt ist natürlich unvollständig. Durch die Veränderung seiner praktischen Tätigkeit gelangt das Subjekt zu einer ständigen Vertiefung seines Wissens vom Objekt, wobei die materielle praktische Tätigkeit (in der Wissenschaft z. B. das Experiment) das vom Subjekt erarbeitete Wissen einer ständigen Prüfung unterzieht. Man muß sich natürlich dabei im klaren sein, w i e K e d r o v und andere marxistische Philosophen schon betont haben, d a ß kein Laborexperiment geschichtliche Vorgänge wiederholen kann. D a s Experiment ist nicht w

K. Marx, Thesen über Feuerbach, in: M E W , Bd. 3, Berlin 1969, S. 5.

20

W. Lektorski, Lenins Auffassung der Subjekt-Objekt-Dialektik,

in:

Sowjetwissenschaft.

Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, 10/1957, S. 1061. 21

2*

Ebenda, S. 1060.

19

d a s einzige Mittel exakter B e w e i s f ü h r u n g . A u f verschiedenen W e g e n (z. B . G e genüberstellung der T h e o r i e mit den paläontologischen Tatsachen^ indirekte B e weisführung durch E m b r y o l o g i e , vergleichende A n a t o m i e etc.) kann ein exakter B e w e i s für E n t w i c k l u n g s g e s e t z e gegeben werden. Wenn S a r t r e nun gegen d i e materialistische W e l t a u f f a s s u n g von M a r x polemisiert und diesem v o r w i r f t , er w ü r d e die Subjektivität ausschalten - ein V o r w u r f , den Sartre auch in seiner P o l e m i k gegen Lenins Widerspiegelungstheorie vorbringt - so verwechselt er eben die G r u n d f r a g e der Philosophie mit dem Subjekt-Objekt-Verhältnis. D i e W e l t a n s c h a u u n g des M a r x i s m u s sowie d i e marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie richteten sich in erster L i n i e gegen den Subjektivismus und Psychologismus im Erkenntnisprozeß. D a s hat mit einer Ausschaltung des Subjekts aus d e m E r k e n n t n i s p r o z e ß ü b e r h a u p t nichts zu tun. M a r x und Lenin haben große A u f m e r k s a m k e i t g e r a d e der Untersuchung der Beziehung zwischen der gegenständlich-praktischen und der erkennenden T ä t i g k e i t , d e m dialektischen Z u s a m m e n h a n g zwischen der W i d e r s p i e g e lung der objektiven W e l t und der schöpferischen A k t i v i t ä t des Subjekts,

dem

E r k e n n e n als einem komplizierten Prozeß, der zur Ü b e r e i n s t i m m u n g des D e n k e n s mit d e m O b j e k t führt, gewidmet. 2 E i n e j e d e A u f f a s s u n g , d a ß die Erkenntnistheorie des dialektischen M a t e r a l i s mus k o n t e m p l a t i v sei und das S u b j e k t ausschalte, beruht letztlich d a r a u f , d a ß der gesellschaftliche Charakter des Erkenntnisprozesses und d a m i t auch die R o l l e der S p r a c h e in diesem Prozeß nicht erkannt w i r d . E r s t d i e S p r a c h e ermöglicht menschliches H a n d e l n . Menschliches H a n d e l n ist nicht zu trennen v o n der T r a n s f o r m a tion v o n Bewußtseinsvorgängen in K o m m u n i k a t i o n s v o r g ä n g e . D i e S p r a c h e bietet die V o r a u s s e t z u n g d a f ü r , d a ß d a s individuelle D e n k e n in d e r wechselseitigen K o m m u n i k a t i o n objektiviert w i r d . Andererseits w i r d d a s in der K o m m u n i k a t i o n z u t a g e tretende gesellschaftliche D e n k e n w i e d e r u m mit den unzähligen einzelnen H a n d l u n g e n im gesellschaftlichen Prozeß d e r praktischen T ä t i g k e i t (Produktion, Politik u. a.) konfrontiert, die den Inhalt des D e n k e n s der I n d i v i d u e n und der ganzen G e s e l l s c h a f t hervorruft und bestimmt. Zu einem V e r s t ä n d n i s dieser mit der S p r a c h e untrennbar zusammenhängenden S u b j e k t - O b j e k t - D i a l e k t i k ist S a r t r e nicht v o r g e d r u n g e n . D a h e r mußte er in einen Subjektivismus geraten, der zwar bei S a r t r e nicht dahin führt, d a ß die menschliche T ä t i g k e i t in ihren Potenzen überbetont w i r d ; im Gegenteil, bei Sartre wird d i e Aktionsmöglichkeit des I n d i v i d u u m s unterschätzt und der Mensch in seinem H a n d e l n zur O h n m a c h t verurteilt, w i e d i e meisten v o n Sartres D r a m e n erkennen lassen. E i n e solche Position, d i e die objektiven G e s e t z e des Seins in d a s D e n k e n und H a n d e l n des Menschen nicht einbezieht, ist voluntaristisch. D i e s e subjektivistische Position f i n d e t bei

Sartre

auch darin ihren A u s d r u c k , d a ß er eine D i a l e k t i k der N a t u r ablehnt und nur eine D i a l e k t i k der Geschichte anerkennt. „ I m G r u n d e geht es d a r u m , d a s P r o b l e m kritisch und erkenntnistheoretisch zu beleuchten: D ü r f e n wir heute, unter den gege-

22

20

Vgl. ebenda, S. 1059.

benen Umständen, ebenso von einer Dialektik der Natur sprechen, wie wir von einer Dialektik der Geschichte sprechen können?" 23 Nach Sartre ist die Geschichte das Werk des Menschen und umgekehrt, der Mensch ist gleichsam in ihr und kann sie deshalb erkennen.24 Die Natur jedoch ist ihm ein Äußerliches, zu dem ihm der Zugang verwehrt ist. 25 Folglich gibt es zwar Dialektik der Geschichte, Erkenntnis der Geschichte, nicht aber der Natur. Die Dialektik der Natur ist danach nur eine dogmatische Folgerung aus dem Postulat der Einheit des Wissens. Sie ist eine Ausdehnung der Geschichtsdialektik nach den Regeln der Analogie. 26 Sartre befürchtet von hier aus eine „Historisierung der Natur" und eine „Naturalisierung der Geschichte" 27 , wodurch die historische Entwicklung unter das Diktat eherner Naturgesetze gerate, der Mensch, seine Praxis und Freiheit geleugnet werde. Dialektik kann nach Sartre nur dort stattfinden, wo ein Bewußtsein ist, das, um es selbst sein zu können, auf materielles Sein bezogen und durch es bedingt ist, das heißt, Dialektik kann es nur im Dasein des Menschen und in seiner Geschichte geben. Bewußtsein, das, um es selbst sein zu können, notwendig auf den Stoff bezogen ist, ist ein auf diese Weise des Verinnerlichens geschehendes Verganzheitlichen. Das ursprüngliche Bezogensein des Bewußtseins auf das nicht zurückführbare Sein bedingt es, daß dies Bewußtsein das des Bedürfnisses, der Arbeit und des Genusses ist, welche- Momente alle in sich selbst schon das Wesen der handelnden Verganzheitlichung tragen. Die Dialektik ist der Vollzug dieses Sichverwirklichens des Bewußtseins als eines auf das ihm gegenüber Andere, auf den Stoff, bezogenes Bewußtsein, wie es in umfassender Weise in der menschlichen Gesellschaft und der Geschichte geschieht. Man kann nach Sartre die Dialektik eine Logik des Handelns nennen. Diese Dialektik der Geschichte wird dann selbst wieder in einem dialektisch sich entwickelnden Reflexionsprozeß begriffen. In der Diskussion und Auseinandersetzung mit diesen Auffassungen hat insbesondere W. R. Beyer Gegenargumente und kritische Einwände geltend gemacht. Das Verhältnis des Menschen zur Natur wird bei Sartre nicht erfaßt. Man kann nicht den Idealismus ablehnen und gleichzeitig das Erkennbare mit dem vom Menschen Geschaffenen identifizieren. Der Mensch entwirft Denkmodelle und Hypothesen zur Erkenntnis der Natur. Diese mögen scheitern, bringen uns aber in wachsendem Maße Kenntnisse, Macht über die Natur. Wenn man also nicht in radikalen Agnostizismus verfallen will, muß man die progressive Erkennbarkeit der Natur durch den Menschen bejahen. Und da die Denkmodelle zur Erfassung 23

24 25 26 w

Existentialismus und Marxismus - Eine Kontroverse zwischen Sartre, Garaudy, Hypolite, Vigier und Orcel. Protokoll einer öffentlichen Diskussion zwischen französischen Marxisten und Existentialisten, Paris 1961, deutsche Übersetzung Frankfurt a. M. 1965, S. 17. Vgl. ebenda, S. 20 und S. 90-91. Vgl. ebenda, S. 30 und S. 37. Vgl. ebenda, S. 25. Ebenda, S. 24, S. 58 und S. 89.

21

der Natur in zunehmendem Maße dialektisch sind und sich gerade dadurch bewähren, muß die Natur dialektische Strukturen besitzen. Es besteht nun, wie wir in Weiterführung von Beyers Kritik an Sartre glauben nachweisen zu können, ein enger Zusammenhang 2wischen Sartres Ablehnung der Marxschen Weltauffassung, der Ablehnung der Leninschen Widerspiegelungstheorie und der Leugnung der Dialektik in der Natur. Die Dialektik, die bei Sartre auf Methode, auf eine Logik des Handelns reduziert wird, wird von ihrer weltanschaulichen Grundlage, nämlich der Dialektik der Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang, als der tiefsten und inhaltsreichsten Entwicklungslehre (Lenin), getrennt. Aber eine solche Trennung, die wiederum erkennen läßt, daß Sartre die Zusammenhänge von Materie und Bewußtsein einerseits und Subjekt und Objekt andererseits nicht zu erkennen vermochte, hat die Trennung von Methode und Theorie, von Methodologie und Weltanschauung zur Folge. Jeglicher Versuch, die Dialektik auf Methode zu reduzieren und somit die Grundlagen des Materialismus und damit der objektiven Seinsgesetze zu leugnen, muß in letzter Konsequenz zum Anthropologismus führen, das heißt, zu einer „Vermenschlichung" der vom Menschen erschlossenen Natur, in der allein die Dialektik existieren könne. Eine solche Auffassung aber, die die Materialität der Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten - also auch der Gesetze der Dialektik als der Grundgesetze dieser materiellen Welt - in Zweifel stellt, vermag keine Orientierung bei der Lösung der politischen, ökonomischen, wissenschaftlichen und kulturellen Fragen unserer Epoche, der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, im Weltmaßstab zu geben. Wie dieser Zusammenhang von Weltanschauung und Methodologie konkret aufzufassen ist, soll uns im nachfolgenden Kapitel beschäftigen.

I . KAPITEL

Weltanschauung und Methodologie

Fragen der Methodologie spielen in der Entwicklung der Wissenschaften heute eine immer bedeutsamere Rolle. D a ß diese Tatsache unmittelbar mit einer notwendigen Steigerung der Effektivität der wissenschaftlichen Forschung in den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen zusammenhängt, beweist die internationale Diskussion. In diesen Diskussionen kommt den Forschungsergebnissen sowjetischer Wissenschaftler eine erstrangige Bedeutung zu, wie wir den zahlreichen sowjetischen Publikationen zu dieser Thematik entnehmen können. 1 Im Zusammenhang mit der in den letzten Jahrzehnten sich vollziehenden stürmischen Entwicklung der Wissenschaft und Technik ist die Bedeutung der Wissenschaft für die Gesellschaft stark gewachsen. D i e außerordentliche Entwicklung •der Wissenschaften, vor allem der Naturwissenschaften, hat eine schnelle Vergrößerung der Zahl der Wissenschaftler zur Folge, und ihre Bedeutung für die Gesellschaft nimmt ständig zu. Hieraus folgt, daß die Wissenschaftler in zunehmendem Maße gesamtgesellschaftliche Probleme zu erfassen imstande sein müssen und sie von diesen ausgehend ihre Tätigkeit planen und realisieren müssen, was seinen Ausdruck auch in der zunehmenden Verflechtung der Wissenschaften findet. Methodologie ist somit eine conditio sine qua non für interdisziplinäre Arbeit. Das fand in der Sowjetunion in der Enführung einer neuen Form von Veranstaltungen, von Seminaren zur Methodologie im Rahmen der Weiterbildung seinen Ausdruck. 2 1

Vgl. M. A. Suslow, Unsere Epoche -

die Epoche des Triumphes des Marxismus-Leninis-

mus, in: Neues Deutschland vom 22. März 1976, S. 3. 2

Methodologie-Seminare werden in der Sowjetunion auf höchster wissenschaftlicher Ebene mit den qualifiziertesten Wissenschaftlern der Forschungsinstitute sowie mit den Professoren und Dozenten der Universitäten und Hochschulen

durchgeführt. E s geht in den

Seminaren um eine systematische Vertiefung der Kenntnisse auf dem Gebiet der marxistisch-leninistischen Weltanschauung und Methodologie. Diese Methodologie-Seminare helfen den Wissenschaftlern, die jeweils neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und Entdeckungen von der marxistisch-leninistischen Position aus zu durchdenken und zu verallgemeinern. D i e Diskussionen in diesen Seminaren dienen weiter dazu, auf die auch gesellschaftlich bedeutungsvollsten Probleme der jeweiligen Wissenschaft zu orientieren, sozusagen auf ihre „Brennpunkte". Sie sollen also nicht nur dazu beitragen, dem Wissenschaftler bei der Aneignung der marxistischen Methode der Analyse der Ge-

23

Wir begegnen heute noch häufig, und darauf verweisen gerade auch sowjetische Wissenschaftler in ihren Arbeiten, einer gewissen Vulgarisierung in der Frage,, wie die philosophischen Prinzipien in der Forschung anzuwenden sind, so daß der Zusammenhang zwischen den philosophischen Prinzipien und den konkreten Methodiken zu direkt aufgefaßt wird. Die spezielle Methodologie einer Einzelwissenschaft basiert auf dem philosophischen Inhalt der allgemeinen Methodologie, denn kein Grundprinzip einer wissenschaftlichen Fragestellung kann unabhängig von den allgemeinen philosophischen Prämissen formuliert werden, wie die Untersuchung der Antizipationen in der Geschichte der Wissenschaft beweist. Sie führt zu dem Ergebnis, daß wissenschaftliche Grundprinzipien und Grundgesetze von prinzipieller weltanschaulicher und methodologischer Bedeutung zunächst als Hypothesen formuliert worden sind, bevor sie ihre konkrete natur- oder gesellschaftswissenschaftliche Begründung erfahren haben. 3 Die Antizipation ist ein wesentliches Element im Prozeß wissenschaftlich-schöpferischen Schaffens. Sie sind Stufen zur Bildung von wissenschaftlichen Hypothesen, die wesentlich vonweltanschaulichen und philosophisch-methodologischen Aspekten geprägt sind, wie die naturphilosophischen Hypothesen beispielsweise der Antike deutlich beweisen, deren wissenschaftliche und weltanschauliche Relevanz erst nach Jahrhunderten zutage trat. Denken wir nur an Empedokles (Lichtgeschwindigkeit als das Maximum aller Geschwindigkeiten, Problem der chemischen Verbindungen, Aufdeckung physiologischer Analogien zwischen Tier- und Pflanzenreich), Demokrit (Atomkonzeption, Elemente der Darwinschen Selektionstheorie), Anaximenes (Begriff des Aggregatzustandes) und an Aristarch von Samos (heliozentrisches Weltsystem). Die spezielle Methodologie einer jeden Wissenschaft basiert auf speziellen Theorien. Außerdem wird heute auch zwischen universellen, partikulären und singulären Methoden unterschieden, in denen sich Ergebnisse der allgemeinen und speziellen Methodologien realisieren. So gehören formale und dialektische Logik zu den universellen Methoden. Kybernetik und Semiotik zu den partikulären und die spezifischen Methoden einer Einzelwissenschaft zu den singulären Methoden. Ein Verwischen dieser Ebenen muß uns daran hindern, die komplizierten geistigen Operationen bei der Gewinnung von Erkenntnissen in ihrer Allseitigkeit aufzudecken. In vollendeter Weise beherrschten Marx, Engels und Lenin die Methodologie,, die Methoden und die Technik der Arbeit mit historischen Dokumenten und ökosetzmäßigkeiten der Entwicklung in Natur und Gesellschaft zu helfen, sondern auch bei der Erarbeitung der effektivsten Methoden der Erkenntnis und der praktischen Lösung der aktuellen Aufgaben der modernen Wissenschaft und Technik den Farschungsprozeft unterstützen. Vgl. G. L. Belkina/V. G. Knjazeva, O rabote metodologiieskich seminarov, in: Voprosy filosofii (Moskva), 10/1974. 3

Vgl. W .

Lektorskij/S.

Meljuchin,

O

nekotorich

dialektiki, in: Kommunist (Moskva), 1/1976.

24

tendenciach

razvitija

materialistiieskoi

nomischen sowie sozialhistorischen Forschungen. Sie begriffen sehr gut die Bedeutung gerade auch der Sprachgeschichte und der linguistischen Methoden der Analyse für die Fixierung historischer Fakten aus der Vergangenheit und für die Erforschung der Geschichte der Menschheit/1 Hervorragende Dokumente hierfür sind die klassischen Werke von Friedrich Engels: „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" und „Der deutsche Bauernkrieg"; von Karl Marx: „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850" und „Der 18. Brumaire des Louis Napoleon"; von W. I. Lenin: „Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland", „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" und „Staat und Revolution". Aus einem gründlichen Studium dieser und anderer Werke der Klassiker des Marxismus-Leninismus folgt, daß wir es bei den Methoden der Einzelwissenschaften mit Methoden der Erkenntnisgewinnung einzelner Seiten, Aspekte, Funktionen, Formen, Bedingungen der Wirklichkeit zu tun haben. In analoger Weise gehören die Methoden der Physiologie der höheren Nerventätigkeit, Psychologie, Linguistik, Kybernetik, Bionik, Semiotik und anderer Disziplinen nicht zur allgemeinen Methodologie. In der allgemeinen Methodologie geht es um die philosophische Sicht der Erscheinungen, um die Prinzipien, die Art und Weise der Erkenntnis im weitesten Sinne des Wortes, während Gegenstand der speziellen Methodologie die theoretische Beurteilung des Stellenwertes von Methoden in den Einzelwissenschaften ist. Daß hier natürlich auch philosophische und logische Aspekte einbegriffen sind, läßt sich zum Beispiel an Klassifikationsfragen und an der Aufstellung von Modellen deutlich ablesen. Wir halten die Auffassung, daß sich in den speziellen Methodologien die allgemeinen philosophischen Prinzipien bei der Untersuchung spezifischer Erscheinungen und Prozesse realisieren, für folgerichtig. Jegliches Ignorieren methodologischer Fragen führt zum Praktizismus. Die Auswirkungen einer derartigen Position auf die Untersuchungen theoretischer Probleme führt in eine Sackgasse, führt dazu, daß Methoden, die man anwendet, ohne theoretische Fundierung bleiben. Die Wissenschaftsgeschichte kennt nicht wenige Beispiele dafür, wie ein atheoretisches Verhalten die Forschung gehemmt hat und hemmen mußte. Auch jegliche Trennung von Weltanschauung und Methodologie, insbesondere von Materialismus und Dialektik, muß sich hemmend auf die Entwicklung der Wissenschaften auswirken. Theorie und Methoden bedingen einander, sind voneinander nicht zu trennen. Engels charakterisiert die Marxsche Methode, die auf der materialistischen Weltanschauung basiert, in einem Brief an Werner Sombart wie folgt: „Aber die ganze Auffassungsweise von Marx ist nicht eine Doktrin, sondern eine Methode. Sie gibt keine fertigen Dogmen, sondern Anhaltspunkte zu weiterer Untersuchung und die Methode für diese Untersuchung."5 In analoger Weise hat sich Lenin bereits 1894 in seiner Schrift „Was 4

Vgl. D . I. Tschesnokow, Der historische Materialismus als Soziologie des Marxismus-Leninismus, Berlin 1975, S. 30.

5

Friedrich Engels, Brief an Werner Sombart vom 11. März 1895, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (im folgenden M E W ) , Bd. 39, Berlin 1968, S. 428.

25

sind die .Volksfreunde' und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?" 6 und 1899 in seiner Auseinandersetzung mit der Verfälschung der dialektischen Methode durch Bernstein auch mit der Frage der Methode unter dem Aspekt der Methodologie beschäftigt: „Weiter richten sich die Beschuldigungen Bernsteins gegen die Dialektik, die angeblich zu willkürlichen Konstruktionen usw. usf. führt. Bernstein wiederholt diese Phrasen . . ., ohne sich im geringsten um den Nachweis zu bemühen, worin die Unrichtigkeit der Dialektik bestehen soll ob sich Hegel oder Marx und Engels methodologischer Fehler (und welcher) schuldig gemacht haben."7 Wenn wir Lenins Forderung nachkommen wollen, die Hauptwerke Hegels materialistisch auszulegen, die Hegeische Dialektik materialistisch zu interpretieren, dann werden wir in der Hegeischen Logik außerordentlich tiefe Gedanken für die Dialektik als Methode finden. Für Hegel ist diese Methode stets das Bewußtsein über die Formen der inneren Selbstbewegung des Inhalts. Hegel setzt sich gründlich mit dem Irrationalismus und subjektiven Idealismus in der Erkenntnistheorie und Methodenlehre auseinander, für ihn ist die Methode mit dem Inhalt, die Form mit dem Prinzip vereint.8 „Das Prinzip einer Philosophie drückt wohl auch einen Anfang aus, aber nicht sowohl einen subjektiven als objektiven, den Anfang aller Dinge. Das Prinzip ist irgendwie bestimmter Inhalt - das Wasser, das Eine, Nus, Idee - Substanz, Monade usf.; oder wenn es sich auf die Natur des Erkennens bezieht und damit mehr nur ein Kriterium als eine objektive Bestimmung sein soll - Denken, Anschauen, Empfinden, Ich, die Subjektivität selbst - so ist es hier gleichfalls die Inhaltsbestimmung, auf welche das Interesse geht."9 Hegel untersucht, wie er sich ausdrückt, „die moderne Verlegenheit um den Anfang", die wesentlich aus dem Bedürfnis hervorgehe, „welches diejenigen noch nicht kennen, denen es dogmatisch um das Erweisen des Prinzips zu tun ist oder skeptisch um das Finden eines subjektiven Kriteriums gegen dogmatisches Philosophieren, und welches diejenigen ganz verleugnen, die wie aus der Pistole, aus ihrer innern Offenbarung, aus Glauben, intellektueller Anschauung usw. anfangen und der Methode und Logik überhoben sein wollten. Wenn das früher abstrakte Denken zunächst nur für das Prinzip als Inhalt sich interessiert, aber im Fortgänge der Bildung auf die andere Seite, auf das Benehmen des Erkennens zu achten getrieben ist, so wird auch das subjektive Tun als wesentliches Moment der objektiven Wahrheit erfaßt, und das Bedürfnis führt sich herbei, daß die Methode mit dem Inhalt, die Form mit dem Prinzip vereint sei. So soll das Prinzip auch An6

7

8

9

26

Vgl. W. I. Lenin, Was sind die „Volksfreunde" und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?, in: Werke, Bd. 1, Berlin 1971, S. 267. W. I. Lenin, Rezension über das Buch von Karl Kautsky, Bernstein und das sozialdemokratische Programm, in: Werke, Bd. 4, Berlin 1970, S. 1 8 8 - 1 8 9 . Vgl. G. W . F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Erster Teil, Die objektive Logik, in: Sämtliche Werke, hrsg. von H. Glöckner, Bd. 4, Stuttgart 1928, S. 5 0 - 5 1 . Ebenda, S. 69.

fang und das, was das Prius für das Denken ist, auch das Erste im Gange des Denkens sein."10 Mit welcher Intensität Lenin die Umsetzung und Übersetzung der Grundgedanken von Hegels Logik in die materialistische Dialektik vorgenommen hat, weiß jeder, der sich mit den genialen Skizzen in Lenins berühmten Philosophischen Heften beschäftigt hat. Wir sollten die Werke der Klassiker, und hier gerade auch die Philosophischen Hefte Lenins, unserer gesamten weiteren Forschung und Lehre auf dem Gebiet von allgemeiner Methodologie, speziellen Methodologien und Weltanschauung zugrundelegen. Hiervon ausgehend und unter Berücksichtigung sowjetischer Diskussionen und Publikationen sowie der in der D D R dazu vorliegenden Arbeiten verstehen wir unter der Methodologie des Marxismus-Leninismus die mit der Weltanschauung des Marxismus-Leninismus untrennbar verbundenen Prinzipien und Regeln des wissenschaftlichen Forschens, der Erkenntnis, Veränderung und Umgestaltung der Wirklichkeit, Methoden, die aus den Prinzipien der Weltanschauung abgeleitet werden. 11 Die allgemeine Methodologie als Lehre von den Prinzipien und Regeln des wissenschaftlichen Forschens wird von der Voraussetzung bestimmt, daß der Erkenntnisprozeß allgemeine wesentliche Momente besitzt, die in allen Erkenntnisakten auftreten. In den weiteren Diskussionen gilt es den dialektischen Zusammenhang von allgemeiner Methodologie und speziellen Methodologien, von Methoden und Methodiken zu klären. Jegliche Trennung von Methodologie und Weltanschauung muß zum Neopositivismus und Strukturalismus führen. In der marxistisch-leninistischen Literatur ist es unumstritten, daß Weltanschauung, Methodologie und Methoden in einem engen Wechselverhältnis stehen, wobei die Weltanschauung entscheidend zur Herausbildung und dem Charakter der Methodologie und von Methoden beiträgt (Primat der Weltanschauung). Die marxistischleninistische Weltanschauung, die Weltanschauung der Arbeiterklasse, kann dabei nicht auf einen Bestandteil des Marxismus-Leninismus reduziert werden. Wir würden dann zum Beispiel nicht die weltanschauliche Bedeutung einer solchen zentralen Kategorie wie die der „sozial-ökonomischen Gesellschaftsformation" verstehen, geschweige denn entsprechende methodologische Konsequenzen daraus ableiten können. Hier zeigt sich deutlich, daß die Beherrschung der Einheit der drei Bestandteile des Marxismus-Leninismus erforderlich ist, um zu verstehen, was marxistisch-leninistische Weltanschauung ist. Diese Weltanschauung in der Einheit ihrer drei Bestandteile ist durch folgende Prinzipien charakterisiert: 1. Materialität der Welt (materialistischer Monismus) 2. Dialektische Entwicklungskonzeption (dialektischer Determinismus) 3. Die Widerspiegelungsfähigkeit als allgemeine Eigenschaft der Materie. Aus diesen weltanschaulichen Prinzipien lassen sich folgende wesentlichen methodologischen Prinzipien ableiten: 10 11

Ebenda, S. 69-70. Vgl. Filosofskaja encikiopedija, Bd. 3, Moskva 1964, S. 420 ff.

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1. Die Widerspiegelung der objektiven Realität durch den Menschen und die Abhängigkeit des menschlichen Bewußtseins vom gesellschaftlichen Sein. 2. Der grundlegende Charakter der praktisch-gesellschaftlichen Tätigkeit gegenüber der geistigen. 3. Die marxistisch-leninistische Parteilichkeit als Grundlage für die wissenschaftliche Verallgemeinerung in den Gesellschaftswissenschaften und in weltanschaulich-philosophischen Schlußfolgerungen in den Naturwissenschaften. 4. Der Historismus, die Einheit von Historischem und Logischem (das heißt den Entwicklungsgedanken). 5. Die Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten.12 Das marxistisch-leninistische Prinzip der Parteilichkeit bildet das methodologische Prinzip für die gesamte theoretische Orientierung sowie für die praktische Entscheidung der Arbeiterklasse und der mit ihr verbündeten progressiven Kräfte. 13 Über den Zusammenhang von Ideologie und Parteilichkeit sowie von Ideologie und Methodologie finden wir grundsätzliche Ausführungen in W. I. Lenins Werken „Was sind die .Volksfreunde' und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?" und „Materialismus und Empiriokritizismus".14 Wiederholt haben die Klassiker des Marxismus-Leninismus in ihren Arbeiten an konkreten Beispielen nachgewiesen, daß jede Erscheinung auf ideologischem Gebiet sowohl weltanschauliche, theoretische als auch sozial-ökonomische Wurzeln besitzt. Lenin hat in seinem Aufsatz „Zur Frage der Dialektik" die theoretischen und sozial-ökonomischen Wurzeln des Idealismus aufgedeckt. „Geradlinigkeit und Einseitigkeit, Erstarrung und Verknöcherung, Subjektivismus und subjektive Blindheit, voilà die erkenntnistheoretischen Wurzeln des Idealismus"15, heißt es bei Lenin. „Und das Pfaffentum ( = philosophischer Idealismus) besitzt natürlich erkenntnistheoretische Wurzeln, ist nicht ohne Boden, es ist zwar unstreitig eine taube Blüte, aber eine taube Blüte, die wächst am lebendigen Baum der lebendigen, fruchtbaren, wahren, machtvollen, allgewaltigen, objektiven absoluten menschlichen Erkenntnis."16 Diese Verabsolutierung einer einzelnen Seite n

Vgl. F. Engels, Dialektik der Natur, in: M E W , Bd. 20, Berlin 1971, S. 4 6 8 ff. und S. 631 ff.

13

B. A. Cagin zählt zu den Komponenten der Struktur des Begriffs der marxistisch-leninistischen Parteilichkeit. die proletarisch-revolutionäre Grundhaltung, die Objektivität der Erkenntnis, die schöpferische Aktivität und die dialektisch-logische Begründetheit, die marxistisch-logische Begründetheit. Die marxistisch-leninistische Widerspiegelungstheorie bildet die erkenntnistheoretische Grundlage der Parteilichkeit. Sie ist untrennbar mit der Forderung nach Objektivität der Erkenntnis verbunden. (Vgl. B. A. Cagin, Marksistsko-leninskij princip partijnosti v filosofii, Leningrad 1974. Vgl. W . I. Lenin, Was sind die „Volkfreunde" und wie kämpfen sie gegen die Sozial-

14

demokraten?, in: Werke, Bd. 1, a. a. O., S. 1 2 8 - 1 3 3 und S. 4 2 4 - 4 2 6 ; W . I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke, Bd. 14, Berlin 1962, S. 339 ff. 15

W . I. Lenin, Zur Frage der Dialektik, in: Werke, Bd. 38, Berlin 1970, S. 344.

16

Ebenda.

28

des realen Geschehens führt dann „in den Sumpf zum Pfaffentum", wird „durch das Klasseninteresse der herrschenden Klassen verankert" 17 . Die theoretischen Wurzeln einer jeden ideellen Erscheinung sind natürlich in einer Klassengesellschaft klassenmäßig bedingt, und man muß sich bemühen, den organischen Zusammenhang dieser oder jener ideologischen Erscheinung mit der konkreten historischen Lage zu finden. Trotz dieser sozial-ökonomischen Bedingtheit behält doch jede ideologische Erscheinung dem materiellen ökonomischen Prozeß gegenüber eine gewisse relative Selbständigkeit. Unter dieser relativen Selbständigkeit einer ideologischen Erscheinung haben wir zu verstehen, daß ein ideologisches Moment, sobald es einmal durch andere, schließlich ökonomische Tatsachen in die Welt gesetzt ist, nun auch reagiert, auf seine Umgebung und selbst auf seine eigenen Ursachen zurückwirken kann. In der Kritik an den Vorstellungen der „reinen Ideologen" betont Engels in seinem Briefwechsel mit Conrad Schmidt, daß vom historischen Materialismus den verschiedenen ideologischen Sphären, die in der Geschichte eine Rolle spielen, eine selbständige historische Entwicklung abgesprochen werde. Daraus wird von den „reinen Ideologen" der Schluß gezogen, daß diesen Sphären auch jede historische Wirksamkeit abgesprochen würde. Nach Engels liegt aber hier eine ordinäre undialektische Vorstellung von Ursache und Wirkung als starr einander entgegengesetzter Pole zugrunde, ein absolutes Übersehen der Wechselwirkung. 18 Ein treffendes Beispiel für die relative Selbständigkeit der Ideen gibt Engels mit seinem Nachweis, daß die philosophische Hegemonie nacheinander von England an Frankreich, von Frankreich an Deutschland abgegeben wurde und daß auch auf dem Gebiete der Philosophie keineswegs immer das wirtschaftlich und gesellschaftlich entwickelte Land die führende Rolle gespielt hat, daß in den einzelnen Ländern keineswegs der Höhepunkt der wirtschaftlichen Entwicklung mit dem der Philosophie zusammenfällt, daß also auch auf diesem Gebiet das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung herrscht. Eine absolute Selbständigkeit der Ideen und Gedanken existiert für den Marxismus natürlich nicht. Marx und Engels haben schon in der „Deutschen Ideologie" darauf hingewiesen, daß die Menschen die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen usw. seien, aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. „Das Bewußtsein kann nicht etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß." 19 Wir müssen daher, wie Engels in einem Brief an Conrad Schmidt schreibt, die Daseinsbedingungen der verschiedenen Gesellschaftsformationen analysieren, ehe wir versuchen, die poli17 18

19

Ebenda. Vgl. Friedrich Engels, Brief an Contad Schmidt vom 27. Oktober 1890, in: MEW, Bd. 37, Berlin 1967, S. 492 ff. K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1958, S. 26.

29

tischen, privatrechtlichen, ästhetischen, philosophischen Anschauungsweisen, die ihnen entsprechen, aus ihnen abzuleiten. 20 Hieraus wird deutlich, daß die wissenschaftliche Methodologie sowohl das Fundament für die dialektischen Wechselbeziehungen von Philosophie und Einzelwissenschaften, als auch für eine konsequente Auseinandersetzung mit allen Spielarten der bürgerlichen und revisionistischen Ideologie ist. Das Wesen bürgerlicher Methodologien ist durch folgende allgemeine Merkmale charakterisiert: 1. Subjektivismus (also Idealismus) 2. Einseitigkeit 3. Eklektik und Sophistik 4. Objektivismus. D i e Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Objektivismus und die konsequente Anwendung des marxistisch-leninistischen Prinzips der Parteilichkeit sind unmittelbarer Ausdruck erkenntnistheoretischer und methodologischer Operationen auf der Grundlage der Weltanschauung des Marxismus-Leninismus. D e r O b jektivismus, der die Erkenntnisgewinnung hemmt, verneint, werturteilsfrei in der Wissenschaft zu verfahren. 2 1 Es müssen die weltanschaulichen und erkenntnistheoretischen Wurzeln des Objektivismus voll erkannt worden sein, die darin zu suchen sind, daß eine absolute Selbständigkeit und unhistorische Auffassung der ideologischen Erscheinungen postuliert wird. Diese Einseitigkeit der gesamten idealistischen Philosophie, die sich in der Verabsolutierung einer bzw. einzelner Seiten des realen Geschehens offenbart, ist in dem notwendig falschen Bewußtsein der bürgerlichen Ideologen begründet. Diesem falschen Bewußtsein liegt die allgemeine Erkenntnisschranke des Bürgertums zugrunde, die zu einer Entstellung, zu einer Verzerrung der objektiven Wirklichkeit führen muß. Natürlich dürfen wir die aus der bürgerlichen Erkenntnisschranke resultierende unvollständige bzw. vollkommen falsche Widerspiegelung der Wirklichkeit nicht mechanisch sehen, sondern wir müssen vielmehr streng unterscheiden zwischen den beiden grundlegenden Phasen in der Entwicklung des bürgerlichen Bewußtseins, zwischen der Phase der Klassik und der Phase der Apologetik. D i e erste Phase läßt sich charakterisieren als ein subjektiv-ehrlicher Versuch des Bürgertums, die objektive Realität zu erkennnen. Diese Phase ist der ideologische Ausdruck des revolutionären und damit progressiven Bürgertums, das die durch die feudale Gesellschaftsformation zu eng gewordenen Produktionsverhältnisse sprengen muß, um die Entwicklung der eigenen, der bürgerlichen Produktivkräfte, zu gewährleisten. In den Ländern, in welchen die bürgerlichen Produktivkräfte in genügendem Maße entwickelt waren, also besonders in England und Frankreich, war das Bürgertum die machtvollste Komponente der revolutionären Bewegung gegen den Feudalismus und waren die bürgerlichen Ideologen die 20

Vgl. Friedrich Engels, Brief an Conrad Schmidt vom 27. Oktober 1890, in: M E W , Bd. 37, a. a. O., S. 436 ff.

21

Vgl. M. Weber, Wissenschaft als Beruf, Heidelberg 1 9 1 7 ; M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Heidelberg 1922.

30

Verkünder einer neuen Gesellschaftsordnung. Man war auf bürgerlicher Seite durchaus vom Fortschritt überzeugt, sah keine Grenzen der Erkenntnis und vertrat den Standpunkt der Erkennbarkeit der Welt. Dafür können mannigfache Beweise erbracht werden, und wir können sagen, daß die gesamte klassische Periode der bürgerlichen politischen Ökonomie, derPhilosophieund der Literatur von einem vitalen Fortschrittsoptimismus zeugt. Dafür zunächst ein Beispiel aus der Ökonomie. Die politische Ökonomie wurde bekanntlich zu einer Wissenschaft mit dem Übergang zum Kapitalismus, mit den klassischen bürgerlichen Ökonomen in England, Smith und Ricardo, und den Physiokraten in Frankreich, Quesnay, Mercier de la Rivière, Mirabeau und Turgot. Die Wissenschaftlichkeit der Vertreter der klassischen politischen Ökonomie äußert sich in dem Versuch, eine Gesetzmäßigkeit in der Wirtschaft nachzuweisen. Im Wirtschaftsleben, in dem die Willkür zu herrschen schien, sollten allgemeine Bestimmungen, Notwendigkeiten nachgewiesen werden. Die unendliche, beängstigende Mannigfaltigkeit der ökonomischen Erscheinungen sollte auf Gesetze zurückgeführt werden. Marx hat im III. Band seines Werkes „Das Kapital" auf das große Verdienst der klassischen Ökonomie hingewiesen, die den falschen Schein und Trug, die Verselbständigung und Verknöcherung der verschiedenen gesellschaftlichen Elemente des Reichtums gegeneinander, die Personifizierung der Sachen und Versachlichung der Produktionsverhältnisse, die „Religion des Alltagslebens" aufgelöst hat, wenn auch selbst die besten ihrer Wortführer (Smith, Ricardo), wie es vom bürgerlichen Standpunkt nicht anders möglich ist, mehr oder weniger in der von ihnen kritisch aufgelösten Welt des Scheins befangen blieben und daher alle mehr oder weniger in Inkonsequenzen, Halbheiten und ungelöste Widersprüche fielen. 22 Trotz ihrer Inkonsequenzen und Halbheiten betonten die Klassiker der politischen Ökonomie die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Fortschritts, den sie in der Erweiterung der kapitalistischen Produktion erblickten. Auch Marx schrieb, daß die Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit die historische Aufgabe und Berechtigung des Kapitals sei. Aber er zieht daraus konsequent die Schlußfolgerung, daß das Kapital damit unbewußt die materiellen Bedingungen einer höheren Produktionsform schafft: „Die Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit ist die historische Aufgabe und Berechtigung des Kapitals. Eben damit schafft es unbewußt die materiellen Bedingungen einer höhern Produktionsform." 23 Wie bei Smith, so offenbart sich auch bei Ricardo deutlich die Schranke des bürgerlichen Bewußtseins. Ricardo war stark beunruhigt durch die Tatsache, daß die Profitrate, der Stachel der kapitalistischen Produktion und Bedingung wie Treiber der Akkumulation, durch die Entwicklung der Produktion selbst gefährdet wird. „Es liegt in der Tat", schreibt Marx, „etwas Tieferes zugrunde, das er 22 23

K. Marx, Das Kapital, Dritter Band, in: MEW, Bd. 25, Berlin 1968, S. 838. Ebenda, S. 269; vgl. F. Engels, Rezension des Ersten Bandes „Das Kapital" für das „Demokratische Wochenblatt", in: MEW, Bd. 16, Berlin 1968, S. 236.

31

nur ahnt. Es zeigt sich hier in rein ökonomischer Weise, d. h. vom Bourgeoisstandpunkt, innerhalb der Grenzen des kapitalistischen Verstandes, vom Standpunkt der kapitalistischen Produktion selbst, ihre Schranke, ihre Relativität, daß sie keine absolute, sondern nur eine historische, einer gewissen beschränkten Entwicklungsepoche der materiellen Produktionsbedingungen entsprechende Produktionsweise ist."24 Aber erst mit dem Erstarken der Arbeiterklasse als dem Totengräber der kapitalistischen Gesellschaftsordnung werden sich die bürgerlichen Ökonomen dieser Klassenschranke vollständig bewußt. Ein weiteres Beispiel für die Fortschrittsbejahung des aufsteigenden Bürgertums liefert uns Kant in seiner Schrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht", die im Jahre 1784 veröffentlicht worden ist. In dieser Schrift wird von Kant der Grundgedanke ausgesprochen, daß alles Geschehen unter Gesetzen zu begreifen sei, daß die Geschichte ein rein menschlicher Prozeß sei, mit einer kausalen, wenn auch spezifischen Gesetzmäßigkeit. Kant entwirft in dieser seiner berühmten Abhandlung die Idee einer wissenschaftlichen Geschichtsbetrachtung, den Gedanken von der Entwicklung der Gesellschaft, in der alles nur durch ihre eigenen gesetzmäßigen inneren Triebkräfte geschehen solle. Im Antagonismus sieht Kant die treibende Kraft der Entwicklung. „Der Mensch ist das Wesen", schreibt Kant, „das seine Mitwesen zwar nicht wohl leiden, aber doch von ihnen nicht lassen kann Diese gesellige Ungeselligkeit wirkt nun in aller Geschichte als der treibende Antagonismus, er ist, könnten wir sagen, der Unruhe in der Uhr vergleichbar, welche die Bewegung erzeugt und erhält . . . Indem nämlich die Ungeselligkeit fortwährend durch Gewalt, Raub, Unterdrückung und Ausbeutung die menschliche Gesellschaft bedroht, zwingt sie die dadurch Geschädigten zur Abwehr und treibt so stets höhere Formen der Geselligkeit hervor: so entstehen Rechtszustände als Abwehr der Gewalttätigkeiten einzelner, so eine starke Staatsgewalt, um die Macht der vielen kleinen Herren zu brechen, so der Konstitutionalismus, um die Macht des absoluten Herrschers einzuschränken. Und so erwächst auch aus dem Kriege schließlich der Bund der Völker, der ihn beseitigt." 25 Auch das Suchen der französischen Historiker Guizot Mignet, Thierry und Thiers nach den Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft gehört in die Reihe der hier angeführten Beispiele. Wenn diese bürgerlichen Historiker auch nach 1848 zu Apologeten des Klassenkompromisses zwischen der Bourgeoisie und dem Feudaladel wurden, so kommt ihnen doch das Verdienst zu, den Klassenkampf als die treibende Kraft der gesellschaftlichen Entwicklung entdeckt zu haben. Es ist also gänzlich falsch, wenn behauptet wird, Marx und Engels seien die Entdekker der Lehre vom Klassenkampf. Marx hat in einem Brief an Joseph Weydemeyer im Jahre 1852 darauf hingewiesen, daß das Bestehen der Klassen und des Klas24 25

32

K . Marx, Das Kapital, Dritter Band, in: MEW, Bd. 25, a. a. O., S. 270. I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: I. Kant, Vermischte Schriften, Bd. I, Leipzig 1928, S. 2 2 5 - 2 2 6 .

senkampfes bereits lange vor ihm erkannt worden sei. D a s Neue, das M a r x zuzuschreiben ist, besteht in dem Nachweis, daß die Existenz der Klassen lediglich mit den historischen Phasen der Entwicklung der Produktion verknüpft ist, daß der Klassenkampf notwendigerweise zur Diktatur des Proletariats führt und daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Beseitigung jeglicher Klassen und zur klassenlosen Gesellschaft bildet. M a r x und Engels gaben - im Unterschied zu den hier erwähnten Historikern der Restaurationszeit -

eine wissenschaftliche

Definition der Klassen als Einteilung der Gesellschaft nach Gruppen und nach ihrem Verhältnis zu den Produktionsmitteln. 2 6 Charakterisieren wir nun kurz die zweite Phase in der Entwicklung des bürgerlichen Bewußtseins, die Phase der Apologetik oder der offenen bzw. versteckten Verteidigung des Kapitalismus gegenüber den Ansprüchen des aufstrebenden Proletariats. Diese Phase ist eng verknüpft mit dem Objektivismus. D e r Objektivismus ist, wie wir oben sagten, vermeintlicher Wertneutralismus und steht damit dem Prinzip der Parteilichkeit diametral entgegen. Unter dieser Parteilichkeit haben wir ein Parteiergreifen im Sinne eines vorbehaltlosen Bekenntnisses zu objektiver Wahrheitsforschung zu verstehen. D e n objektiv-realen gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß sowie das richtige Verhältnis in der Auffassung von Natur und Gesellschaft können wir nur vom Standpunkt der Theorie des dialektischhistorischen Materialismus und nicht vom Standpunkt der verschiedenen bürgerlichen Theorien darstellen. M i t anderen Worten, die bürgerliche Wissenschaft kann nicht objektiv sein, weil sie die objektive Realität nicht vollständig widerspiegelt. Indem die bürgerlichen Wissenschaftler zum Beispiel den objektiven Untergangsprozeß der kapitalistischen W e l t verneinen, verneinen sie auch die innere Notwendigkeit der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Sie sind damit nicht mehr objektiv, sondern verschleiern die Widersprüche in der Entwicklung. D i e Formen der Verschleierung können natürlich mannigfach sein. Beliebt ist unter bürgerlichen Intellektuellen die Methode des Psychologisierens, eine M e thode, durch welche die Psychologie zur Geschichte und die Geschichte zur Psychologie wird. Welche Behauptungen zur Verdeckung der objektiven Tatbestände uns auch immer entgegentreten mögen, das Wesen derselben und ihre sozialen Wurzeln bleiben die gleichen: die gesellschaftlichen und historischen Schranken des saturierten Bürgertums: „ . . . von dem gleichen Tage, an dem das Bürgertum die volle politische Macht erlangt", schreibt Engels in seiner im „Northern S t a r " im J a h r e 1 8 4 5 veröffentlichten Artikelserie, „von dem Tage, an dem alle feudalen und aristokratischen Interessen zunichte gemacht werden von der Macht des Geldes, dem T a g e , an dem das Bürgertum aufhört,

von

progressiv und revolutionär zu sein

und selber stationär wird, von dem gleichen T a g e an übernimmt die Bewegung der Arbeiterklasse die Führung und wird zur nationalen 26 27

Bewegung."2,1

Vgl. K. Marx, Das Kapital, Dritter Band, in: MEW: Bd. 25, a. a. O., S. 892-893. F. Engels, Deutsche Zustände, Brief III, in: MEW, Bd. 2, Berlin 1976, S. 580.

3 Albrecht

33

Ähnlich heißt es bei M a r x im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals: „ D i e Bourgeoisie hatte in Frankreich und England politische Macht erobert. V o n da an gewann der Klassenkampf, praktisch und theoretisch, mehr und mehr ausgesprochne und drohende Formen. E r läutete die Totenglocke der wissenschaftlichen bürgerlichen Ökonomie. E s handelte sich jetzt nicht mehr darum, ob dies oder jenes Theorem wahr sei, sondern ob es dem Kapital nützlich oder schädlich, bequem oder unbequem, ob polizeiwidrig oder nicht. An die Stelle uneigennütziger Forschung trat bezahlte Klopffechterei, an die Stelle unbefangener wissenschaftlicher Untersuchung das böse Gewissen und die schlechte Absicht der Apologetik." 2 8 D e r Parteistandpunkt der Bourgeoisie mußte, da er von einer herrschenden Klasse, die an der Aufrechterhaltung ihrer Klassenprivilegien interessiert ist, vertreten wird, notwendigerweise mit der objektiven historischen Entwicklung in Widerspruch geraten. D o r t , wo sich dieser Widerspruch zwischen dem bürgerlichen Parteistandpunkt und der objektiven Entwicklung offenbarte, sank die bürgerliche Wissenschaft zur Apologetik herab. M i t dieser Apologetik ist die bürgerliche Klassenmoral untrennbar verbunden, wie M a r x und Engels in der „Deutschen Ideologie" bereits nachgewiesen haben: „ J e mehr die normale V e r kehrsform der Gesellschaft und damit die Bedingungen der herrschenden Klasse ihren Gegensatz gegen die fortgeschrittenen Produktivkräfte entwickeln, je größer daher der Zwiespalt in der herrschenden Klasse selbst und mit der beherrschten Klasse wird, desto unwahrer wird natürlich das dieser Verkehrsform ursprünglich entsprechende Bewußtsein, d. h., es hört auf, das ihr entsprechende Bewußtsein zu sein, desto mehr sinken die früheren überlieferten Vorstellungen dieser V e r kehrsverhältnisse, worin die wirklichen persönlichen Interessen ppp. als allgemeine ausgesprochen werden, zu bloß idealisierenden Phrasen, zur bewußten Illusion, zur absichtlichen Heuchelei herab. J e mehr sie aber durch das Leben Lügen gestraft werden und je weniger sie dem Bewußtsein selbst gelten, desto entschiedener werden sie geltend gemacht, desto heuchlerischer, moralischer und heiliger wird die Sprache dieser normalen Gesellschaft." 2 9 Während die bürgerlichen Theorien im Zeitalter der Klassik einen rationalen Gehalt besitzen, offenbaren sie im Zeitalter der Apologetik die ganze Ohnmacht der bürgerlichen Ideologie. Ihre Apologeten sind keine ernst zu nehmenden D e n ker und Philosophen mehr, die man neben den Klassikern K a n t , Fichte, Schelling, Hegel und Feuerbach, Herzen, Belinski, Tschernyschewski und Dobroljubow erwähnen könnte. D a ß sich jedoch auch bereits bei den bürgerlichen Klassikern die klassenmäßige Erkenntnisschranke des Bürgertums zeigt und nicht erst bei den Apologeten, soll an folgenden Beispielen belegt werden. Auf dem Gebiete der politischen ö k o n o 28 29

34

K. Marx, Das Kapital, Erster Band, in: MEW, Bd. 23, Berlin 1972, S. 21. K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, a. a. O., S. 274; vgl. ebenda, S. 394 und S. 405.

mie mußten die Geheimnisse der kapitalistischen Produktionsweise auch vom klassischen bürgerlichen Standpunkt undurchschaubar bleiben. Indem man von der Annahme ausging, daß der Arbeiter dem Kapitalisten seine Arbeit verkauft und nicht die Arbeitskraft, blieb die Entstehung des Mehrwerts ein Geheimnis. Ricardo hat zwar versucht, den Mehrwert in seiner Entstehung darzustellen, wie Marx in seinen „Theorien über den Mehrwert" im zweiten Teil des II. Bandes nachweist, doch es gelang Ricardo, der in einer Periode des unentwickelten Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat lebte, nicht, die Entstehung des Mehrwertes sozialökonomisch, klassenmäßig aufzudecken. Darin zeigt sich die klassenbedingte Beschränktheit der klassischen politischen Ökonomie wie die jeder anderen bürgerlichen Schule. Die Mehrwertlehre ist zu einer wissenschaftlichen Theorie erst durch Marx geworden. Sie ist das eigentliche Kernproblem der Marxschen Kritik an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Marx hat nachgewiesen, daß die Mehrwertproduktion zwei Seiten hat: einmal offenbart sie die Ausbeutung der Arbeiter, weckt in der Arbeiterklasse die Kräfte der Empörung und den Willen zur radikalen Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, und dann führt die Produktion des Mehrwertes zu einer solchen Entfaltung der Produktivkräfte, daß der Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise zu eng, daß der Sturz der Bourgeoisie, die Aufrichtung der Herrschaft der Arbeiterklasse, der Aufbau des Sozialismus möglich und notwendig werden. Auch die übrigen Probleme der theoretischen Ökonomie, wie Krisentheorie, Theorie der Grundrente usw., beweisen, daß die bürgerliche Ökonomie die objektive Wahrheit nicht umfassend widerspiegelt und widerspiegeln kann. Als letztes Beispiel wollen wir die bürgerliche Soziologie und Geschichtsschreibung anführen. Auch die nichtmarxistische Soziologie und Geschichtsschreibung sind nicht imstande, den inneren gesetzmäßigen Zusammenhang der Ereignisse zu entschleiern und die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft aufzudecken. Sie betrachten nur die ideellen Motive der historischen Tätigkeit der Menschen, ohne die materiellen Wurzeln dieser Motive zu kennen und sie zu erfassen, und sie erfassen die Handlungen der Massen der Bevölkerung nicht und beschränken sich auf eine psychologische Erklärung der Vorgänge in der Gesellschaft: „Die .Soziologie' und die Geschichtsschreibung vor Marx", schreibt Lenin in „Karl Marx", „hatten im besten Falle eine Anhäufung von fragmentarisch gesammelten unverarbeiteten Tatsachen und die Schilderung einzelner Seiten des historischen Prozesses geliefert." 30 Wie schon gesagt, sind die Vertreter der nichtmarxistischen Soziologie und Geschichtsschreibung nicht imstande, ihre theoretischen Fehler zu überwinden, denn dieselben haben - in dem gleichen Maße wie es bei den bürgerlichen Ökonomen der Fall ist - objektive Wurzeln: die aus der klassenmäßigen Lage der Bourgeoisie resultierende Erkenntnisschranke, das falsche Bewußtsein. 30

W. I. Lenin, Karl Marx. (Kurzer biographischer Abriß mit einer Darlegung des Marxismus), in: Werke, Bd. 21, Berlin 1960, S. 45.

3*

35

Die sich im Kapitalismus verschärfenden Klassengegensätze führten im bürgerlichen Denken zu einem Ignorieren der objektiven Tatbestände, zu einer Furcht vor der Wahrheit und ihren Folgen. Erst der Marxismus hat die objektiven Tatbestände rücksichtslos, revolutionär und radikal aufgedeckt und nachgewiesen, daß die Klassengegensätze objektive Ursachen haben, nämlich die Widersprüche in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Der Grundwiderspruch, der antagonistische Widerspruch in der Klassengesellschaft ist der antagonistische Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, die Wurzel des Klassenkampfes und der sozialen Revolution, das Entwicklungsgesetz in der Klassengesellschaft. Die von den Vertretern der Bourgeoisie proklamierte These von der „Objektivität" ist durchaus parteilich, auch wenn man vorgibt, „neutral" zu sein. Eine Neutralität gibt es in Wahrheit nicht, also auch nicht in der Wissenschaft. Wer objektiv sein will, muß Partei ergreifen für die Wahrheit, das heißt für den Fortschritt. Die marxistische Theorie vereint nach Lenin strenge und höchste Wissenschaftlichkeit mit revolutionärem Geist, „und zwar nicht zufällig, nicht nur deshalb, weil der Begründer der Doktrin persönlich die Eigenschaften eines Gelehrten und eines Revolutionärs in sich vereinte, sondern, weil sie diese in der Theorie selbst innerlich und untrennbar vereint" 31 . Mit bürgerlichem Objektivismus, der, wie wir betont haben, den objektiven Untergangsprozeß der kapitalistischen Welt verneint und der versucht, den Gegensatz zwischen bürgerlicher und proletarischer Ideologie zu verschleiern, mit diesem Objektivismus werden die Widersprüche und Gegensätze, wird der Kampf des Alten mit dem Neuen verdeckt und der Standpunkt eines Apologeten des Gegebenen eingenommen. „Der Objektivist spricht von der Notwendigkeit des gegebenen historischen Prozesses; der Materialist trifft genaue Feststellungen über die gegebene sozialökonomische Formation und die von ihr erzeugten antagonistischen Verhältnisse. Wenn der Objektivist die Notwendigkeit einer gegebenen Reihe von Tatsachen nachweist, so läuft er stets Gefahr, auf den Standpunkt eines Apologeten dieser Tatsachen zu geraten; der Materialist enthüllt die Klassengegensätze und legt damit seinen Standpunkt fest. Der Objektivist spricht von .unüberwindlichen geschichtlichen Tendenzen'; der Materialist spricht von der Klasse, die die gegebene Wirtschaftsordnung ,dirigiert' und dabei in diesen oder jenen Formen Gegenwirkungen der anderen Klassen hervorruft. Auf diese Weise ist der Materialist einerseits folgerichtiger als der Objektivist und führt seinen Objektivismus gründlicher, vollständiger durch. Er begnügt sich nicht mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit des Prozesses, sondern klärt, welche sozialökonomische Formation diesem Prozeß seinen Inhalt gibt, welche Klasse diese Notwendigkeit festlegt . . . der Materialismus (schließt) sozusagen Parteilichkeit in sich ein, da er dazu verpflichtet ist, bei jeder Bewertung eines Ereignisses direkt und offen den Standpunkt einer bestimmten Gesellschaftsgruppe einzunehmen." 32 31

32

36

W. I. Lenin, Was sind die „Volksfreunde" und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?, in: Werke, Bd. 1, a. a. O., S. 334. Ebenda, S. 414.

Man kann diesen Standpunkt wirklicher Objektivität und Parteilichkeit nur einnehmen, wenn man sich von der heuristischen Funktion der methodologischen Prinzipien der marxistisch-leninistischen Philosophie leiten läßt, wie sie Lenin mit seinen 16 Elementen der Dialektik zu untrennbarer Einheit mit der Marxschen Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten als von grundlegender Bedeutung für eine auf der Weltanschauung des Marxismus-Leninismus sich vollziehenden Erkenntnistätigkeit und Erkenntnisgewinnung formulierte. Wir halten daher den Standpunkt, daß Erkenntnistheorie und Methodologie identisch sind, für falsch. Aber wir betonen ausdrücklich, daß Erkenntnistheorie wie auch formale Logik mit der Methodologie untrennbar zusammenhängen und daß eine erkenntnistheoretische Position methodologische Auswirkungen haben muß, wie in der Arbeit von A. Korsunov: Leninskaja teorija otrazenija i aktivnost' poznanija" 33 nachgewiesen wird. A. Korsunov geht richtig davon aus - und wir geben in den folgenden Darlegungen seine Position, die wir völlig teilen, wieder daß Wissenschaft und Praxis heute zahlreiche Probleme stellen, deren Lösung eng mit der marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie verbunden sind. Es sind dies Fragen der weiteren Verallgemeinerung der Errungenschaften der Einzelwissenschaften und der Erfahrung des revolutionären Kampfes in unserer Epoche. Die Probleme der Einzelwissenschaften, vor allem der Mathematik, Logik, Physik, Chemie, Biologie, Ökonomie und Sprachwissenschaft, sind mit einer wachsenden Rolle der Zeichen der Formalisierung der wissenschaftlichen Erkenntnis und der Idealisierung verbunden. Außerdem gewinnt die marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie an Bedeutung durch die wachsende ideologische Auseinandersetzung zwischen kommunistischer und bürgerlicher Ideologie. Bürgerliche und revisionistische Philosophen unternehmen große Anstrengungen, um das Wesen der marxistisch-leninistischen Widerspiegelungstheorie zu verfälschen. Die Widerspiegelung wird hier als ein mechanischer und kontemplativer Prozeß bezeichnet. Der Begriff der Widerspiegelung ist aber ein zentraler und dialektischer Begriff der marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie. In ihm drückt sich das aktive Verhältnis des erkennenden Subjekts zur Wirklichkeit aus. Wissen entsteht in der Praxis. Die geistigen Operationen wie Analyse, Synthese, Verallgemeinerung und Abstraktion überhaupt bilden eine praktische Tätigkeit des Subjekts. Die Widerspiegelungstätigkeit im Erkenntnisprozeß ist aktive Tätigkeit, schöpferische Tätigkeit. Das Erkenntnisobjekt erfaßt das Objekt in seiner Bewegung und Entwicklung. Darüber hinaus verändert der Mensch durch seine Tätigkeit die ihn umgebenden Verhältnisse. Das Problem der Aktivität der Erkenntnis schließt nicht nur das Verhältnis von Erkenntnis und Tätigkeit ein, sondern auch die Frage der verschiedenen Stufen der Abbildung des Objekts im System des menschlichen Wissens. Es besteht 33

A. Kotgunov, Leninskaja otrazenija i aktivnost' poznanija, in: Kommunist 11/1975.

(Moskva),

37

eine dialektische Beziehung zwischen sinnlicher und abstrakter Ebene, den theoretischen Begriffen. Wir wenden uns entschieden gegen jegliche Tendenz der Unterschätzung der sinnlichen Erfahrung. Statt von sinnlicher und rationaler Ebene sprechen viele Autoren deshalb von empirischer und theoretischer Erkenntnis. Die sinnliche Abbildung liefert uns das Material für das Denken, für die „Materialisierung" der Abstraktion. Es muß besonders hervorgehoben werden, daß die sinnliche Widerspiegelung in enger Verbindung mit dem Denken funktioniert. Es muß zwischen primären und sekundären Formen der sinnlichen Widerspiegelung unterschieden werden. (Diese Unterscheidung hat jedoch nichts mit Lockes Auffassung von den Primary und Secondary Qualities zu tun.) In der marxistischleninistischen Erkenntnistheorie versteht man unter den primären sinnlichen Widerspiegelungen die Empfindungen, Vorstellungen, paralinguistische Effekte u. ä., unter den sekundären die sinnlichen Abbilder, Modellvorstellungen u. ä. Mit dieser Problematik hängen unmittelbar Abbild und Zeichen zusammen. Ohne Zeichen sind Abstraktionen nicht zu realisieren. Darauf haben wir in verschiedenen Veröffentlichungen hingewiesen.34 Wir haben in diesen Arbeiten u. a. auch nachgewiesen, daß bei der Zeichentheorie die Symbolproblematik erkenntnistheoretisch nicht unkompliziert ist. Es gilt vor allem, Lenins Kritik an der „Symboltheorie" zu beachten,nach welcher Zeichen oder Symbole Produkte der „reinen Subjektivität" sind, wobei von der objektiven Realität völlig abstrahiert wird und die Zeichenkonzeption des Neopositivismus antizipiert wird. Im Neopositivismus wird die gesamte Erkenntnistätigkeit auf Zeichenoperationen reduziert. Die schöpferische Funktion des Denkens und damit auch der Zeichen wird vom Neopositivismus nicht erfaßt, da er die Zeichen von der objektiven Realität völlig trennt. Für uns sind Zeichen Mittel der Erkenntnis und der Kommunikation. Die Zeichen verkörpern bestimmte gesellschaftliche Beziehungen der Menschen. Die materielle Seite des Zeichens ist arbiträr, konventionell, aber das Zeichen als Mittel der Beziehung ist objektiv gesellschaftlich determiniert, wie aus den Zusammensetzungen von Zeichen und Bedeutung zu erkennen ist.36 Die Bedeutung ist die im Verlaufe der Tätigkeit des Subjekts sich entwickelnde Beziehung des Zeichens zum Gegenstand der Beziehuhg und zu dem durch sie widergespiegelten gedanklichen Inhalt. Von allen Zeichen sind für die Erkenntnistheorie die sprachlichen Zeichen von größter Bedeutung. Die Sprache verkörpert die Einheit des Zeichenmaterials und der Begriffe. Daß erkenntnistheoretische und methodologische Fragen gerade der Linguistik 34

Vgl. E . Albrecht, Bestimmt die Sprache unser Weltbild?, Berlin 1 9 7 4 , S. 8 3 ff.; E . Albrecht, Sprache und Philosophie, Berlin 1 9 7 4 , S. 1 5 f., 4 0 f., 6 0 f. u. a.

35

Vgl. W . I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke, Bd. S. 2 3 4 .

36

38

Vgl. E . Albrecht, Sprache und Philosophie, a. a. O., S. 1 5 5 ff.

14, a. a.

O.,

heute außerordentlich an Bedeutung gewinnen, hängt mit der aktuellen Aufgabenstellung zusammen, die die Linguistik für die Bewältigung komplizierter Fragen der wissenschaftlich-technischen Revolution besitzt. D i e marxistisch-leninistische Weltanschauung und Methodologie bilden auch das Fundament für eine konstruktive und objektive Erforschung der von der Wissenschaftsgeschichte gestellten Probleme. Die Geschichte einer jeden Wissenschaftsdisziplin - so auch die der Linguistik - stellt ein selbständiges Wissenschaftsgebiet im Erkenntnissystem dar und birgt zahlreiche theoretische Probleme in sich. Einige davon kann man verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen zuordnen, andere sind jedoch für einzelne Wissenschaftsgebiete geradezu spezifisch. Es ist ein Verdienst der sowjetischen Linguisten T. A. Amirova, B. A. Ol'chovikov und Ju. V . Rozdestvenskij, auf die fundamentalen theoretischen Probleme der G e schichte der Sprachwissenschaft aufmerksam gemacht zu haben. In ihrem Werk „Abriß der Geschichte der Linguistik" (Moskau 1975) werden folgende theoretische Grundfragen der Geschichte der Sprachwissenschaft genannt: 1. D i e Festlegung der methodologischen Grundlagen der Geschichte der Sprachwissenschaft. D i e Bestimmung des Platzes der Geschichte der Sprachwissenschaft als Wissenschaft im Wissenssystem. 2. Die Bestimmung des Gegenstandes und der Aufgaben der Geschichte der Sprachwissenschaft. 3. D i e Bestimmung der Grundbegriffe, denen man beim Studium der Entwicklung der Sprachwissenschaft begegnet. 4. D i e Feststellung der wechselseitigen Verbindung der Sprachwissenschaft mit anderen Wissenschaften, darunter vor allem mit der Philosophie. 5. D i e Ausbreitung der Grundprinzipien der Periodisierung der Geschichte der Sprachwissenschaft. 6. Die Feststellung der inneren Logik der Entwicklung der Sprachwissenschaft. 3 7 Bei der Untersuchung der Fragen der Entwicklung der Sprachwissenschaft geht nach Ansicht der hier genannten sowjetischen Linguisten die Geschichte der Sprachwissenschaft von der Lösung der wichtigsten Fragen der Sprachtheorie aus, wie zum Beispiel 1. vom Problem der Sprache als Objekt und Gegenstand der Sprachwissenschaft; der Natur der Sprache; der Definition der Sprache, 2. vom Problem der Wechselbeziehung von Sprache und Denken, 3. vom Problem der Methoden und Verfahrensweisen der linguistischen Analyse, 4. vom Charakter der Erforschung konkreter sprachlicher Fakten; der Behandlung linguistischer Einheiten und 5. vom Problem des Aufbaus der Sprachwissenschaft. 37

T . A. Amirova/B. A. Ol'chovikov/Ju. V. Rozdestvenskij, Abriß der Geschichte der Linguistik, Leipzig 1978, Kapitel I.

39

Alle diese Probleme betrachtet die Geschichte der Sprachwissenschaft nach Amirova, Ol'chovikov und Rozdestvenskij nicht nur auf der Ebene allgemeiner Fragestellungen, sie betrachtet sie konkret im Prozeß ihrer historischen Entwicklung, indem sie die gewonnenen wissenschaftlichen Kenntnisse analysiert. Wir stimmen den sowjetischen Forschern auch darin zu, daß das geschichtliche Studium der Entwicklung linguistischer Ideen für allgemein-linguistische Forschungen unerläßlich ist, weil es die Wissenschaftler auf die Methoden der Analyse sprachlicher Fakten und sprachlicher Prozesse, auf die Prinzipien der Erforschung der Funktionsmechanismen der Sprache hinlenkt und die Kontinuität der Ausarbeitung sprachwissenschaftlicher Grundprobleme betont. Die Geschichte der Sprachwissenschaft erläutert die Quellen der Unterschiede beim Herangehen an die Erklärung der Erscheinungen der Sprache. Bei der Analyse der Ebenen der wissenschaftlichen Erkenntnis lassen sich folgende Hauptfragen in allen Wissenschaften nachweisen: 1. Das Wesen der wissenschaftlichen Erkenntnis; 2. Die Quellen der wissenschaftlichen Erkenntnis; 3. Allgemeine Wege der wissenschaftlichen Erkenntnis; 4. Entwicklungsgesetze der wissenschaftlichen Erkenntnis; 5. Mittel der wissenschaftlichen Erkenntnis; 6. Typen wissenschaftlicher Theorien und 7. der Einfluß verschiedener philosophischer Konzeptionen auf die Entwicklung der Empirie wissenschaftlicher Forschungen. Daraus folgt dann, daß die Probleme, die der Geschichte der Sprachwissenschaft als Teil der allgemeinen Linguistik zufallen, eng mit der Wissenschaftstheorie und der Philosophie der wissenschaftlichen Erkenntnis, dem Studium der Dialektik des Denkens, verbunden sind. In diesem Sinne betonte Lenin die Wichtigkeit der Verallgemeinerung und des Verstehens unter dem bestimmten Gesichtspunkt aller von der Menschheit gesammelten Erfahrungen auf dem Gebiet des Denkens und der geistigen Produktion. 38 In den nachfolgenden Kapiteln wollen wir versuchen, einige der hier aufgeworfenen Probleme und Fragestellungen der Methodologie in Verbindung mit Fragen des Denkens/Bewußtseins und der Sprache zu diskutieren. 38

Vgl. W. I. Lenin, Gesamtrussischer Außerordentlicher Kongreß der Sowjets der Arbeiter-, Bauern-, Kosaken- und Rotarmistendeputierten, in: Werke, Bd. 28, Berlin 1970, S. 137.

I I . KAPITEL

Dialektik als Methodologie

Als ein Wesensmerkmal des Bewußtseins ist das Denken aufzufassen. Beiden gemeinsam ist die Widerspiegelungsfunktion. Bewußtsein ist umfassender als Denken. Das Bewußtsein äußert sich in der Rede, Mimik, Gestik und in den Handlungen des Menschen. „Der ,Geist' hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie ,behaftet' zu sein, die hier in der Form von bewegten Luftschichten, Tönen, kurz der Sprache auftritt. Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein - die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewußtsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit andern Menschen. Wo ein Verhältnis existiert, da existiert es für mich, das Tier .verhält' sich zu Nichts und überhaupt nicht. Für das Tier existiert sein Verhältnis zu andern nicht als Verhältnis. Das Bewußtsein ist also von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt und bleibt es, solange überhaupt Menschen existieren. Das Bewußtsein ist natürlich zuerst bloß Bewußtsein über die nächste sinnliche Umgebung und Bewußtsein des bornierten Zusammenhanges mit andern Personen und Dingen außer dem sich bewußt werdenden Individuum; es ist zu gleicher Zeit Bewußtsein der Natur, die den Menschen anfangs als eine durchaus fremde, allmächtige und unangreifbare Macht gegenübertritt, zu der sich die Menschen rein tierisch verhalten, von der sie sich imponieren lassen wie das Vieh; und also ein rein tierisches Bewußtsein der Natur (Naturreligion)." 1 Wir unterscheiden somit zwischen gesellschaftlichem und individuellem Bewußtsein. Das gesellschaftliche Bewußtsein ist ein Produkt der geistigen Tätigkeit der gesamten Gesellschaft, zahlreicher Menschengenerationen, der Klassen und Individuen. Das Denken ermöglicht diese geistige Tätigkeit. Wir wollen das menschliche Denken als den begrifflich-operationalen Vollzug charakterisieren, der die individuellen und gesellschaftlichen Widerspiegelungsfunktionen der Bewußtseinsebene ermöglicht. Nach Hegel scheidet das Denken dais Unwesentliche vom Wesentlichen und abstrahiert von demselben. Es bezieht die Gegenstände aufeinander oder vergleicht sie. Es erkennt den allgemeinen und notwendigen Zusammenhang, die Kausalität. Das Denken ist überhaupt das Auffassen und Zusam1

K. Marx/F. Engels, D i e deutsche Ideologie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (im folgenden MEW), Bd. 3, Berlin 1969, S. 3 0 - 3 1 .

41

menfassen des Mannigfaltigen in der Einheit. Trotz all seiner Verdienste bei der Analyse der Formen der logischen Operationen, die uns da« Denken ermöglichen, ist es Hegel nicht gelungen, den Zusammenhang von formal-logischen und dialektisch-logischen Denkoperationen zu erfassen. Hegel hat seine Auffassung zur Bedeutung der Logik mehrfach geändert. Seine Haltung zur formalen Logik korrigierte bereits F. Engels. 2 Wir stimmen mit dem sowjetischen Logiker M. A . Kissel darin überein, daß die Identifizierung von formaler Logik und Metaphysik und die Auffassung, daß die formale Logik etwas mit der Dialektik, wenn auch nicht vollständig, so doch teilweise Unvereinbares bilde, den Antimarxisten nur die Arbeit erleichtert, denn diese behaupten, daß der dialektische Materialismus der Wissenschaft widerspräche. 3 Als Beispiel sei auf die Entstellung des Verhältnisses von formaler Logik und Dialektik hingewiesen, wie wir sie in einem katholischen philosophischen Wörterbuch finden, das in mehreren Auflagen unter Leitung des bekannten Jesuiten Walter Brugger, Professor an der Theologischen Hochschule in Pullach bei München, erschienen ist. Es heißt hierin: „Weil das angeblich widerspruchsvolle Sein durch die formale Logik und ihren Satz vom Widerspruch nicht faßbar ist, andererseits aber keine sinnvolle Aussage auf die formale Logik verzichten kann, versucht der Dialektische Materialismus eine neue .dialektische' Logik zu schaffen, um so das widerspruchsvolle Sein widerspruchslos herzustellen.'" 1 Und an einer anderen Stelle wird gegen Lenins Materiedefinition polemisiert und diese als formal-logisch unhaltbar charakterisiert, da sie widerspruchsvoll im formallogischen Sinne sei. „Auch Lenins Materiedefinition ist logisch mit einem Monismus unvereinbar, weil sie Materie und Bewußtsein unabhängig und außerhalb voneinander bestehen läßt, also eine Zweiheit zugibt. Eine in sich widerspruchsvolle Wirklichkeit ist aber ein Unding." 5 Eine logisch-widersprüchliche Einheit in formal-logischer Hinsicht existiert tatsächlich nicht. Den Beweis hierfür hat bereits Aristoteles in der Metaphysik geliefert. 6 D a ß die Klassiker des Marxismus-Leninismus formal-logische Widerspruchsfreiheit als conditio sine qua non für folgerichtige Gedankenoperationen kategorisch forderten und niemals die dialektische Methode der formalen Logik im Sinne eben der Kontradiktion gegenüberstellten, ist den Autoren des katholischen philosophischen Wörterbuches entgangen, beziehungsweise sie haben diese nicht zu übersehende Tatsache verschwiegen. Auch der „Nachweis", daß Lenins Materiedefinition im Gegensatz zur formal-logischen Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit stehe, weil sie Materie und Bewußtsein unabhängig und außerhalb 2

Vgl. F . Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), in:

3

Vgl. M. A . Kissel, Ufienie o dialektike v burzuaznoj filososfii X X - o g o veka,

M E W , Bd. 2 0 , Berlin 1 9 6 8 , S. 125. 1 9 7 0 , S. 3 0 . 4

W . Brugger, Philosophisches Wörterbuch, 5. Aufl., Freiburg 1 9 5 3 , S. 55.

5

Ebenda.

6

Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Leipzig 1 9 2 1 , 4. Buch, 3. Kapitel, 1 0 0 5 b.

42

Leningrad

voneinander bestehen läßt, hält einer Kritik nicht stand. D i e Sinnlosigkeit dieser Polemik wird sofort deutlich, wenn wir Lenins Werk direkt anführen. Hierin heißt es zu der Frage von Materie und Bewußtsein: „Daß man in den Begriff der Materie auch die Gedanken einzubeziehen habe, wie es Dietzgen in den .Streifzügen' . . . wiederholt, ist eine Konfusion, denn dadurch verliert die erkenntni-stheoretische Gegenüberstellung von Materie und Geist, von Materialismus und Idealismus ihren Sinn, eine Gegenüberstellung, auf der Dietzgen selbst besteht. D a ß diese Gegenüberstellung nicht .überschwenglich', übertrieben, metaphysisch sein darf, ist unbestreitbar (und das große Verdienst des dialektischen Materialisten Dietzgen besteht darin, daß er dies betont). D i e Grenzen der absoluten Notwendigkeit und absoluten Wahrhaftigkeit dieser relativen Gegenüberstellung sind eben jene Grenzen, die die Richtung der erkenntnistheoretischen Forschungen bestimmen. Außerhalb dieser Grenzen mit der Gegensätzlichkeit von Materie und Geist, von Physischem und Psychischem als mit einer absoluten Gegensätzlichkeit zu operieren, wäre ein gewaltiger Fehler."7 Eine logische Analyse der oben angeführten Aussagen des Jesuiten-Paters führt zu dem Ergebnis, daß dieser sich in einen formal-logischen Widerspruch von der Qualität eines „absurden Widerspruch(s)" 8 verwickelt. Wie sehr Marx, Engels und Lenin diese absurden Widersprüche in der Wissenschaft und in der politischen Praxis bekämpften, zeigt uns ein aufmerksames Studium ihrer Werke. 9 7 8

9

W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke, Bd. 14, Berlin 1971, S. 244. E. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), in: MEW, Bd. 20, a. a. O., S. 47. Vgl. K. Marx, Bemerkungen über die neueste preußische Zensurinstruktion, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1970, S. 23; K. Marx, Die Verhandlungen des 6. rheinischen Landtags, in: MEW, Bd. 1, a. a. O., S. 54; F. Engels, Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, in: MEW, Bd. 1, a. a. O., S. 5 0 0 - 5 0 2 ; F. Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: M E W , Bd. 2, Berlin 1976, S. 253 und S. 471; K. Marx, Enthüllungen über den Kommunisten-Prozeß zu Köln, in: MEW, Bd. 8, Berlin 1960, S. 438; F. Engels, Zur Wohnungsfrage, in: MEW, Bd. 18, Berlin 1969, S. 272; K. Marx, Das Kapitel, Zweitee Band, in: MEW, Bd. 24, Berlin 1969, S. 195; K. Marx, Theorien über den Mehrwert, Dritter Teil, in: M E W , Bd. 26.3, Berlin 1974, S. 80; Friedrich Engels Brief an B. Lindheimer, in: MEW, Bd. 34, Berlin 1966, S. 275; Friedrich Engels, Brief an Karl Kautsky, in: MEW, Bd. 35, Berlin 1967, S. 447; Friedrich Engels, Brief an Paul Lafargue, in: M E W , Bd. 37, Berlin 1967, S. 122. Lenin setzt sich in seinen Arbeiten mit den logischen Ungereimtheiten der Vertreter des Bundes auseinander. Vgl. W. I. Lenin, Ein Maximum von Schamlosigkeit und ein Minimum von Logik, in: Werke, Bd. 7, Berlin 1956, S. 4 7 - 5 3 ; W. I. Lenin, Die Stellung des „Bund" in der Partei, in: Werke, Bd. 7, Berlin 1956, S. 8 2 - 9 3 ; vgl. weiter W. I. Lenin, Was sind die „Volksfreunde" und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?, in: Werke, Bd. 1, Berlin 1971, S. 266; W. I. Lenin, Revolutionstage, in: Werke, Bd. 8, Berlin 1959, S. 101; W . I. Lenin, Eine neue Senatserläuterung, in: Werke, Bd. 11, Berlin 1961, S. 3 2 8 - 3 3 3 ; W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke, Bd. 14, a. a. O., S. 85; W . I. Lenin, Über die politische Linie, in: Werke, Bd. 18, Berlin 1969, S. 321; W. I. Le-

43

So w e r d e n in d e r A u s e i n a n d e r s e t z u n g v o n den K l a s s i k e r n beim G e g n e r z u n ä c h s t i m m e r erst „ d i e Schnitzer gegen d i e formelle

Logtk"i0

aufgedeckt. E s braucht als

Beispiel hierfür nur auf die A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t den J u n g h e g e l i a n e r n hingewiesen zu w e r d e n . M a r x und E n g e l s zählen in dieser A u s e i n a n d e r s e t z u n g d i e w i c h tigsten Z ü g e des unlogischen D e n k e n s a u f : D i e L i e d e r l i c h k e i t im D e n k e n , K o n fusion, Z u s a m m e n h a n g l o s i g k e i t ,

e i n g e s t a n d e n e U n b e h o l f e n h e i t , unendliche

derholungen, b e s t ä n d i g e r W i d e r s p r u c h m i t sich selbt u n d Gleichnisse

Wie-

ohneglei-

chen. 1 1 K o n f u s i o n zeigt sich dann v o r a l l e m i m m e r bei d e r B e g r i f f s - und T e r m i n o l o g i e bildung. So b e m ä n g e l t E n g e l s in einem B r i e f v o m 6 . N o v e m b e r 1 8 6 8 a n

Marx

ü b e r ein M a n u s k r i p t v o n D i e t z g e n , d a ß dessen T e r m i n o l o g i e noch sehr konfus sei, d a h e r d e r M a n g e l an S c h ä r f e und häufige W i e d e r h o l u n g e n in neuen t e r m s . „ D i e W i e d e r h o l u n g e n sind, w i e gesagt, teils F o l g e d e r m a n g e l h a f t e n T e r m i n o l o gie, teils d e r U n g e w o h n t h e i t logischer S c h u l e . " 1 2 nin, Antwort an P. Kijewski (J. Pjatakow), in: Werke, Bd. 23, Berlin 1970, S. 1 5 ; W . I. Lenin, Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus", in: Werke, Bd. 23, a. a. O., S. 3 2 ; W . I. Lenin, Zur Revision des Parteiprogramms, in: Werke, Bd. 26, Berlin 1970, S. 138 ff. Es muß aber bei dem Studium der Werke der Klassiker des Marxismus-Leninismus darauf geachtet werden, daß diese exakt formal-logische und dialektische Widersprüche unterscheiden. Vgl. K . Marx, Das Kapital, Dritter Band, in: M E W , Bd. 25, Berlin

1968,

S. 9 6 - 9 7 , 1 3 0 - 1 3 1 u. a . ; F . Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), in: M E W , Bd. 20, a. a. O., S. 4 8 ; W . I. Lenin, Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion, in: Werke, Bd. 15, Berlin 1968, S. 4 0 9 ; W . I. Lenin, Noch einmal über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler Trotzkis und Bucharins, in: Werke, Bd. 32, Berlin 1970, S. 8 4 - 8 6 ; W . I. Lenin, Konspekt zu Hegels „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie", in: Werke, Bd. 38, Berlin 1970, S. 243 bis 246. Bemerkenswert ist auch, worauf I. S. Narskij in seiner Arbeit „Dialektischer Widerspruch und Erkenntnislogik" (Berlin 1973) hinweist, daß Lenin bei der Analyse der Aporien des fliegendes Pfeiles auf die besonderen Schwierigkeiten des Erkenntnisprozesses hinweist. Formal-logische Widersprüche sind hier nicht einfach die zufällige Folge eines bestimmten Entwicklungsstadiums des Wissens (vgl. W . I. Lenin, Konspekt zu Hegels „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie", in: Werke, Bd. 38, a. a. O., S. 243 ff.). 10

K . Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: M E W , Bd. 3, a. a. O., S. 471.

11

Vgl. ebenda, S. 253.

12

Friedrich Engels, Brief an K . Marx vom 6. November 1868, in: M E W , Bd. 32, Berlin 1965, S. 1 9 5 ; vgl. auch W . I. Lenin, Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution, in: Werke, Bd. 9, Berlin 1973, S. 7 0 - 7 4 ; W . I. Lenin, Parlamentsspielerei, in: Werke, Bd. 9, a. a. O., S. 2 6 3 ; W. I. Lenin, Entwurf einer Rede zur Agrarfrage in der zweiten Reichsduma, in: Werke, Bd. 12, Berlin 1969, S. 2 8 1 - 2 8 3 und S. 2 7 8 ; W . I. Lenin, Noch eine Vernichtung des Sozialismus, in: Werke, Bd. 20, Berlin 1968, S. 1 9 3 ; W . I. Lenin, Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, in: Werke, Bd. 20, Berlin 1968, S. 3 9 9 ; W . I. Lenin, Über eine Karikatur auf den Marxismus und über den „imperialistischen Ökonomismus", in: Werke, Bd. 23, a. a. O., S. 3 4 ; W . I. Lenin, I. Gesamtrussischer Kongreß für außerschulische Bildung, in: Werke, Bd. 29, Berlin

44

1970,

Der aus einer unrichtigen Überlegung resultierende Widerspruch führt zu einem fehlerhaften Kreis (circulus vitiosus), zu logischen Antinomien oder zu Fehlschlüssen von der Art des post hoc, ergo propter hoc (nach diesem, als infolgedessen). „Gegen die Ostwaldsche Energetik polemisierte L. Boltzmann mehrfach vom Standpunkt des Physikers aus, wobei er nachwies, daß Ostwald die Formel der kinetischen Energie (das halbe Produkt aus der Masse und dem Quadrat der Geschwindigkeit) weder widerlegen noch beseitigen kann und daß er sich in einem fehlerhaften Kreis bewegt, wenn er erst die Energie aus der Masse ableitet (die Formel der kinetischen Energie akzeptiert), dann aber die Masse als Energie definiert." 13 Wie hier, so zeigt es sich auch in anderen Arbeiten der Klassiker, daß den logischen Schlüssen und der exakten Definition größte Aufmerksamkeit gewidmet wird. Lenin gibt bei der Weiterentwicklung des Marxismus das hervorragende Beispiel, wie man durch die Verallgemeinerung der neuesten Erkentnisse in den Naturwissenschaften und in der Praxis des politischen Kampfes die von Marx und Engels begründete dialektisch-materialistische Gesellschaftstheorie schöpferisch entwickeln kann. Diese Weiterentwicklung widerspiegelt sich gerade auch in den Definitionen. Es sei hier nur auf Lenins Definition der Materie, der Epoche des Imperialismus, der Nation, der Klasse, der Sprache und des Kommunismus verwiesen. 14 Abstrakte Begriffsbestimmungen werden von Lenin entschieden zurückgewiesen.15 In der Auseinandersetzung mit den weltanschaulichen und klassenmäßigen Wurzeln des Revisionismus weist Lenin nach, daß Revisionisten in wissenschaft-

13 11

S. 346; W. I. Lenin, Konspekt zu Hegels „Wissenschaft der Logik", in: Werke, Bd. 38, Berlin 1970, S. 167, 172, 185-187, 212-213; W. I. Lenin, Konspekt zu Hegels „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie", in: Werke, Bd. 38, a. a. O., S. 239; W. I. Lenin, Zur Frage der Dialektik, in: Werke, Bd. 38, a. a. O., S. 338-344; W. I. Lenin, Konzept zur „Metaphysik" des Aristoteles, in: Werke, Bd. 38, a. a. O., S. 352-353. W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke, Bd. 14, a. a. O., S. 289. Die Definition Struves bezeichnet Lenin als einen Hohn auf die Logik und die Geschichte. Vgl. W. I. Lenin, Noch eine Vernichtung des Sozialismus, in: Werke, Bd. 20, a, a. O., S. 194-195; W. I. Lenin, Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, in: Werke, Bd. 20, a. a. O., S. 398; vgl. Lenins Definition der Epoche, in: Unter fremder Flagge, in: Werke, Bd. 21, Berlin 1970, S. 132 ff. Definitionsfehler weisen die Klassiker entschieden zurück. Vgl. F. Engels, Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, in: MEW, Bd. 1, a. a. O., S. 509-510; vgl. auch W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke, Bd. 14, a. a. O., S. 289. Mit der Definition hängen Fragen der Klassifikation eng

16

zusammen: Vgl. W. I. Lenin, Noch eine Vernichtung des Sozialismus, in: Werke, Bd. 20, a. a. O., S. 193. Lenins Definition der Klasse, in: Die große Initiative, in Werke, Bd. 29, a. a. O., S. 410; vgl. Lenins Definition der Sprache, in: Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, in: Werke, Bd. 20, a. a. O., S. 398 und vgl. Lenins Definition der Materie, in: Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke, Bd. 14, a. a. O., S. 124 und 85. Vgl. W. I. Lenin, Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, in: Werke, Bd. 20, a. a. O., S. 399.

45

licher Beziehung durch oberflächliche Verallgemeinerung einseitig herausgegriffener Tatsachen, die sie aus ihrem Zusammenhang mit der ganzen kapitalistischen Ordnung herauslösten, sündigten.16 Folgen die Begriffsbestimmungen nicht aus der Entwicklung der Sache, so gelangen wir zu fehlerhaften Definitionen. Unter dem Begriff „Definition" selbst versteht Lenin die geistige Operation der Zurückführung vor allem eines gegebenen Begriffes auf einen anderen, umfassenderen.17 Dabei wird in völliger Übereinstimmung mit der Auffassung von Engels über die Definition hervorgehoben, daß es nicht die Definition eines Objektes gebe, vielmehr könne es viele Definitionen geben, da die Gegenstände viele Seiten haben. 18 Hieraus läßt sich aber nicht ableiten, daß Definitionen und formal-logische Operationen von nur geringem Wert seien. Die auch heute noch vertretene Auffassung, daß die formale Logik zu keiner neuen Erkenntnis führe und nur beweise, was man ohnehin schon wisse, führt zu einer nihilistischen Einstellung gegenüber der formalen Logik. Die wohl entschiedenste Abfuhr dieser Auffassung findet sich bei Engels in der „Dialektik der Natur", wo es heißt: „Es ist schon ein totaler Mangel an Einsicht in die Natur der Dialektik, wenn Herr Dühring sie für ein Instrument des bloßen Beweisens hält, wie man etwa die formelle Logik oder die elementare Mathematik beschränkterweise so auffassen kann. Selbst die formelle Logik ist vor allem Methode zur Auffindung neuer Resultate, zum Fortschreiten vom Bekannten zum Unbekannten, und dasselbe, nur in weit eminenterem Sinne, ist die Dialektik, die zudem, weil sie den engen Horizont der formellen Logik durchbricht, den Keim einer umfassenderen Weltanschauung enthält." 19 Vor allem in der sowjetischen Forschung wird hervorgehoben, insbesondere von Kedrov, Narskij, Kondakov, Tugarinov, Stoff, Iljenkov, Lektorskij und Gorskij, daß die Geschichte der Erkenntnis, die Geschichte der Wissenschaft nicht unabhängig von der Logik der Erkenntnis, von der Logik der Wissenschaft erarbeitet werden kann. Daher kann man auch die Logik nicht unabhängig von der Geschichte des menschlichen Denkens erfassen. Die Probleme der logischen Analyse und dialektisch-materialistischen Methodologie im „Kapital" von Marx, die Rosenthal, Narskij und Zeleny gründlich erforscht haben, bestätigen diesen Ausgangspunkt und damit die Leninsche These: „Der Mensch steht vor einem Netz von Naturerscheinungen. Der instinktive Mensch, der Wilde, hebt sich nicht aus der Natur heraus. Der bewußte Mensch hebt sich heraus, die Kategorien sind 16 17

Vgl. W . I. Lenin, Marxismus und Revisionismus, in: Werke, Bd. 15, a. a. O., S. 23. Vgl. W . I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke, Bd. 14, a. a. Q., S. 1 4 1 ; W . I. Lenin, D i e Agrarfrage und die „Marxkritiker", in: Werke, Bd. 5, Berlin 1966, S. 1 4 1 - 1 4 2 .

18

Vgl. W. I. Lenin, Konspekt zu Hegels „Wissenschaft der Logik", in: Werke, Bd. 38, a. a. O., S. 227.

19

F . Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), in: M E W , Bd. 20, a. a. O., S. 125.

46

Stufen des Heraushebens, d. h. der Erkenntnis der Welt, Knotenpunkte in dem Netz, die helfen, es zu erkennen und es sich zu eigen zu machen." 20 Durch die Entstehung der mathematischen Logik und durch die Entwicklung der logischen Semantik wurde diese von Engels vertretene Grundposition durch neue und beeindruckende Ergebnisse bestätigt. Es kann auf die hierzu vorliegende umfassende marxistisch-leninistische Grundeinschätzung verwiesen werden, die in dem „Logischen Wörterbuch" von N. I. Kondakov 2 1 und in der Philosophischen Enzyklopädie 22 enthalten ist. So wie es schwierig ist, zwischen moderner formaler Logik und Methodologie eine scharfe Grenze zu ziehen, so ist es auch schwierig und wahrscheinlich auch gar nicht möglich, eine scharfe Grenze zwischen moderner formaler Logik und Dialektik als Methodologie zu ziehen, wie die Arbeiten zur logischen Semantik, zur deontischen Logik und zur Kreativität deutlich machen. 23 Was logischer N a tur ist, hat immer formale Allgemeinheit an sich; von einer Logik eines Fachgebietes kann man also nur bildlich sprechen, nicht im Sinne einer dem Fach eigentümlichen Logik, sondern nur in dem Sinne, daß eine Auswahl jener Gebiete der Logik vorgetragen wird, welche in diesem Fachgebiet zur Anwendung kommt, und daß sie durch die Problemsituation in diesem Spezialgebiet erklärt wird. 24 Wir sehen die Anwendung der modernen formalen Logik nicht nur im Entwickeln von Kalkülen und logischen Systemen, sondern auch in der rationalen Rekonstruktion der Gedankengänge in einem speziellen Gebiet, sei es in der Geschichtswissenschaft, Soziologie, Rechtswissenschaft, Linguistik, Mathematik, Physik, Biologie oder Medizin. Darunter ist die Klärung und Explikation der logischen Verhältnisse zu verstehen, die der jeweils fachspezifischen Denkpraxis zugrunde liegen. Der erste Schritt zu diesem Ziel ist in allen nichtmathematischen Disziplinen die logische Analyse, denn alle Natur- und Gesellschaftswissenschaften vollzie20

W . I. Lenin, Konspekt zu Hegels „Wissenschaft der Logik", in: Werke, Bd. 38, a. a. O., S. 85.

51

Vgl. N . I. Kondakov, Logiôeskij slovai', Moskva 1971.

22

Vgl. Filosofskaja énciklopedija, Bd. 3, Moskva 1965, S. 203 ff. I n : Bd. 4, Moskva 1967, S. 576 ff.

23

Vgl. G . Klaus, Semiotik und Erkenntnistheorie, Berlin 2 1 9 6 8 ; K . Berka/L. Kreiser (Hrsg.), Logik-Texte, Berlin 1971, S. 340 ff.; W . Segeth, Aufforderung als Denkform, Berlin 1 9 7 4 ; A. A. Iwin, Grundlagen der Logik von Wertungen, Berlin 1 9 7 5 ; K . Albrecht, Logische Schlüsse mit Wahrscheinlichkeitscharakter, in: Streitbarer Materialismus, Sonderband der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität

Greifswald,

Greifswald

1975, S. 9 5 - 1 0 6 ; F. Loeser/D. Schulze, Erkenntnistheoretische Fragen einer Kreativitätslogik, Berlin 1 9 7 6 ; H. Horstmann, Studien zur metaphysischen und dialektisch-materialistischen Denkweise, Berlin 1 9 7 7 ; W . Segeth, Materialistische Dialektik als Methode, Berlin 1977. 24

Vgl. O. Weinberger, Rechtslogik. Versuch einer Anwendung moderner Logik auf das juristische Denken, Wien-New York 1970, S. 20.

47

hen ihre logischen Operationen fast ausschließlich im Medium der natürlichen Sprachen. Für den Logiker, der sich mit einem speziellen Fach beiaßt, ergibt sich die Aufgabe, die Bedeutungsvetschiedenheiten der Ausdrücke aufzudecken und zu zeigen, wie die Sätze je nach ihrer wahren Bedeutung logisch zu handhaben sind. D i e logische Analyse ist nicht nur im Hinblick auf Formalisierungsversuche unerläßlich, sondern sie kann auch in der gegenwärtigen Praxis in der Medizin, Linguistik, Rechtswissenschaft usw. nützlich sein. D i e Logik kann zwar keinesfalls die Probleme lösen, auf die der Einzelwissenschaftler und Philosoph in der Praxis stößt, sie gibt ihm aber einerseits Instrumente in die Hand, exakter zu argumentieren und vorgelegte Beweise und Gründe kritisch zu prüfen, andererseits zieht die logische Analyse ihre eigenen Grenzen und zeigt, wo die rein logische Argumentation aufhört, wo das vernunftgemäße Plausibelmachen in seine Rechte tritt und schließlich, wo wir Entscheidungen treffen müssen, die selbst das vernunftgemäße Plausibelmachen überschreiten. Wenn wir auch von einem weiten Begriff der Logik ausgehen, so bildet jedoch ihren K e r n die „Problematik der Gedankenstruktur und die Folgerungstheorie" (Weinberger). 2 5 D i e logischen Strukturen und Beziehungen sind nicht psychologische oder soziologische Sachverhalte, sondern Beziehungen der Gedanken, der Denkinhalte, welche in der Sprache ihren allerdings nicht immer adäquaten Ausdruck finden. D a s Verhältnis zwischen Logik und einer einzelwissenschaftlichen

Disziplin

darf nicht in dem Sinne verstanden werden, als sei die Logik allein der gebende und die jeweilige Einzelwissenschaft der empfangende Teil. Geschichtswissenschaft, Linguistik, Mathematik, Physik, Biologie, Chemie, M e dizin usw. liefern interessante Beispiel für logische Analysen. J e mehr wir die L o gik mit einzelwissenschaftlichen Disziplinen verbinden, um so umfassender werSen unsere Einblicke in zentrale Bereiche des menschlichen Denkens, Erkennens und damit auch des Wollens und Handelns. Zu den ersten und elementarsten Aufgaben der logischen Analyse gehört die Präzisierung der Termini, wie wir bereits dargelegt haben. D a ß bei der Präzisierung der Termini weltanschauliche Aspekte eine wesentliche Rolle in ideologierelevanten Bereichen spielen, zeigt uns der enge Zusammenhang von Weltanschauung, Logik und Methodologie. Hieraus folgt weiter, daß die Lehre vom Begriff und die Definition als wesentliche Bereiche der Logik, wie wir sie auffassen, über den Rahmen traditioneller logischer Verfahren hinausgehen. Von hier öffnet sich auch direkt der Übergang zur Marxschen Methode des Aufsteigens vom A b strakten zum Konkreten bei der Begriffsbildung. Welche R o l l e in diesem Prozeß des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten der Zusammenhang von formallogischer und dialektischer Methode spielt, zeigt sich in der Begriffsbildung und Beweisführung in aller Deutlichkeit. 2 6 25 26

48

Ebenda, S. 26. Vgl. K. Marx, Die Vehandlungen des 6. rheinischen Landtags, in: MEW, Bd. 1, a. a. O., S. 54; K. Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, in: MEW, Bd. 1, a. a. O.,

Wer sich wissenschaftlichen Fragen zuwendet, hat es mit methodischer Erkenntnistätigkeit und Erkenntnisgewinnung zu tun. Wissenschaftliche Erkenntnistätigkeit ist charakterisiert durch strenges Befolgen der Gesetze und Prinzipien der formalen Logik und der Dialektik. Der Marxismus-Leninismus faßt die Gesetze des Denkens (die dialektischen und formal-logischen Gesetze) als Widerspiegelung der gesetzmäßigen Zusammenhänge und Beziehungen der objektiven Realität im Kopfe der Menschen auf. „Die Logik ist die Lehre nicht von den äußeren Formen des Denkens, sondern von den Entwicklungsgesetzen ,aller materiellen, natürlichen und geistigen Dinge', d. h. der Entwicklung des gesamten konkreten Inhalts der Welt und ihrer Erkenntnis, d. h. Fazit, Summe, Schlußfolgerung aus der Geschichte der Erkenntnis der Welt." 27 „Die Tatsachen, daß unser subjektives Denken und die objektive Welt denselben Gesetzen unterworfen sind und daher auch beide in ihren Resultaten sich schließlich nicht widersprechen können, sondern übereinstimmen müssen, beherrscht absolut unser gesamtes theoretisches Denken. Sie ist seine unbewußte und unbedingte Voraussetzung." 28 Die Wissenschaft ist das Produkt der Erkenntnis und gleichzeitig Erkenntnisprozeß, der sich auf der Grundlage der gesellschaftlichen Praxis der Menschheit entwickelt. In die Wissenschaft sind sowohl verschiedene allgemeine Theorien, Schlußfolgerungen und Einstellungen eingegangen, die sich auf Grund erkannter und geprüfter Fakten und Gesetze herausbilden, als auch ihre philosophische Auslegung und theoretischen Grundideen, welche die weitere Erkenntnis lenken und der Methode der Erkenntnis zugrundeliegen. Aus der materialistischen Klassifikation der Wissenschaften ergibt sich das Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaften, das Verhältnis von allgemeiner Methodologie und speziellen Methodologien. Dadurch, daß Marx und Engels die materialistische Dialektik als die Lehre von den allgemeinen Entwicklungsgesetzen der Natur, der Gesellschaft und des Denkens erarbeiteten, war das Fundament für eine allgemeine theoretische Synthese der Wissenschaft gelegt, die vor allem die drei Wissensgebiete - Wissenschaft von der Natur, von der Gesellschaft und vom Denken - umfaßt Diese Lösung erreichten Marx und Engels durch die Entdeckung der Einheit der Welt und der wechselseitigen Verbindungen zwischen den natürlichen und den gesellschaftlichen Erscheinungen. In der Wissenschaft geht es um die Analyse von Klassen von Erscheinungen und Zusammenhängen. Erst dadurch ist es möglich, Voraussagen zu machen und ent-

37

28

4

S. 385; Karl Marx, Brief an die Redaktion der „Otetschestwennyje Sapiski", in: MEW, Bd. 19, Berlin 1974, S. 112; vgl. W. I. Lenin, Brief an S. G. Schaumian, in: Werke, Bd. 19, Berlin 1968, S. 4 9 4 - 4 9 6 ; W. I. Lenin, Noch eine Vernichtung des Sozialismus, in: Werke, Bd. 20, a. a. O., S. 187 und S. 189; W. I. Lenin, Notizen eines Publizisten, in: Werke, Bd. 33, Berlin 1971, S. 190. W. I. Lenin, Konspekt zu Hegels „Wissenschaft der Logik", in: Werke, Bd. 38, a. a. O., S. 84-85. F. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), in: MEW, Bd. 20, a. a. O., S. 529. Albrecht

49

sprechend zu handeln. Wissenschaftliche Analyse besteht darin, das Wesen der jeweils zu untersuchenden Erscheinungen aufzudecken. Zur Beobachtung muß das theoretische Denken kommen, da „ . . . die Analyse der wirklichen innern Zusammenhänge des kapitalistischen Produktionsprozesses ein sehr verwickeltes Ding und eine sehr ausführliche Arbeit ist; wenn es ein Werk der Wissenschaft ist, die sichtbare, bloß erscheinende Bewegung auf die innere wirkliche Bewegung zu reduzieren . . ."29 „ . . . alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen . . Z'30 Zur Klassifizierung wissenschaftlicher Analysen, das heißt zur Ermittlung ihrer Typologie und Strukturen ist es notwendig, zumindest die folgenden drei Verallgemeinerungsstufen voneinander abzuheben: 1. Stufe: Heraussonderung von gemeinsamen Merkmalen und Eigenschaften zwischen Objekten: Klasse von Objekten (Individuen). Gedankliche Widerspiegelung einer Klasse von Individuen oder einer Klasse von Klassen auf der Grundlage invarianter Merkmale = Begriff. 2. Stufe: Fundamentale Begriffe wie Grundbegriffe und Kategorien wie zum Beispiel in der Physik: Masse, Kraft, Impuls, Energie, Geschwindigkeit, Beschleunigung, Raum und Zeit. 3. Stufe: Aufdeckung gesetzmäßiger Zusammenhänge. Zwischen diesen Verallgemeinerungsstufen und den Erkenntnisstrukturen besteht ein enger Zusammenhang, denn in den Erkenntnisebenen kommen die Verallgemeinerungsstufen zum Ausdruck, wie die Typologie und die Strukturen der Erkenntnisebenen erkennen lassen. Wir stimmen in der inhaltlichen Bestimmung der Erkenntnisebenen mit Boris Chendov überein, würden aber vorschlagen, von fünf statt von drei Ebenen zu sprechen. Dabei geht es um folgende Ebenen: 1. Ebene: Maximale Konkretheit (die reale Welt in ihrer Ganzheit und Mannigfaltigkeit). 2. Ebene: Die Welt als System von Dingen (Objekten, Gegenständen) und Erscheinungen (Prozessen). Die Objekte sind auf dieser Ebene konkreter Natur wie auch die Eigenschaften und Beziehungen dieser Objekte. (Logische Struktur: Dinge/Objekte, Eigenschaften, Beziehungen/Relationen.) 3. Ebene: Die Natur der Gegenstände und Erscheinungen zeichnet sich durch ein bestimmtes System innerer und äußerer Eigenschaften und Beziehungen aus (universell-konkrete Prädikate als Ausdrucksform dieser Ebene). 4. Ebene: Universelle Strukturen. Diese besitzen einen relativ selbständigen Charakter. Daher haben wir es hier mit der Ebene der formalen Abstraktheit zu tun, mit abstrakt-universellen Prädikaten und Eigenschaften, die in der Wissenschaft als Objekte und Eigenschaften der Mathematik und formalen Logik untersucht werden. 5. Ebene: System der universellen wesentlichen inhaltlich-abstrakten Momente 29 30

50

K. Marx, Das Kapital, Dritter Band, in: MEW, Bd. 25, a. a. O., S. 324. Ebenda, S. 825.

der objektiven Realität und der Erkenntnis. Hier haben wir es dann mit dem Kategoriensystem der dialektischen Logik zu tun. Als Schlußfolgerung aus der Analyse des Zusammenhanges von Bewußtsein, Denken, Logik und Methodologie ergibt sich, daß die Grenzen zwischen moderner formaler Logik und Methodologie fließend sind. Formale Logik und Dialektik als Methodologie ermöglichen uns das Erfassen der Zusammenhänge in Natur und Gesellschaft. Ohne theoretisches Denken kann man nicht zwei Naturtatsachen in Zusammenhang bringen oder ihren bestehenden Zusammenhang einsehen, wie Engels in seinem Werk „Dialektik der Natur" hervorhebt. 31 Ohne die bewußte Anwendung der Gesetze und Regeln der formalen Logik sind die dialektisch-logischen Operationen nicht zu bewältigen. Gerade dies demonstriert uns deutlich die Marxsche Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten. Das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten als dialektische Erkenntnismethode findet in allen wissenschaftlichen Disziplinen Anwendung. So werden gegenwärtig sowohl diejenigen Naturwissenschaften dargestellt, die unmittelbar vom Experiment und dessen theoretischer Verallgemeinerung ausgehen, als auch die deduktiv-mathematischen Wissenschaften, die in idealisierter Form den Prozeß der Erkenntnis der einen oder der anderen abstrakt gefaßten Seite der gegenständlichen Welt wiedergeben. „Dieser Art muß auch die Methode der Darstellung (resp. Erforschung) der Dialektik überhaupt sein (denn die Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft bei Marx ist nur ein spezieller Fall der Dialektik)." 32 31 32



Vgl. F. Engels, Dialektik der Natur, in: MEW, Bd. 20, a. a. O., S. 346. W. I. Lenin, Zur Frage der Dialektik, in: Werke, Bd. 38, a. a. O., S. 340.

I I I . KAPITEL

Weltanschauliche und methodologische Aspekte in der Beziehung von Sprache und Denken

Wie die Entwicklung der Einzelwissenschaften in der Gegenwart beweist, spielen Fragen der Beziehungen von Sprache und Denken in jeder Wissenschaftsdisziplin heute eine zunehmende Rolle. Es braucht nur darauf verwiesen zu werden, daß grundlegende Fragen der Erkenntnistheorie, der modernen Logik, Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Sprachwissenschaft, mathematischen Linguistik, der Semiotik und selbst der Literatur- und Kunstwissenschaften mit der wachsenden Rolle der Zeichenproblematik unlösbar verbunden sind. In den von uns veröffentlichten Arbeiten zur Thematik „Sprache und Erkenntnis" 1 sowie „Sprache und Philosophie" 2 haben wir den Versuch unternommen, nachzuweisen, daß Fragen der Sprache auf allen Ebenen und Stufen der wissenschaftlichen Erkenntnis Anteil an der Begriffsbildung haben. In Fortführung dieser Arbeiten sollen hier unter dem Gesichtspunkt des in den vorigen Kapiteln Ausgeführten einige weitere Aspekte beleuchtet bzw. durch neue Ergebnisse erörtert werden. F. Engels hat in einer Reihe von Arbeiten, so vor allem auch im „Anti-Dühring", die weltanschaulichen, erkenntnistheoretischen und methodologischen Fragen in der Dialektik von Sprache und Denken herausgearbeitet. 3 Viele Gedanken Engels' zu unserer Thematik bedürfen jedoch noch einer gründlichen Auswertung und Anwendung auf aktuelle Fragen der Sprache-Denken-Beziehung in unserer Zeit. So setzt sich Engels mit der folgenden These von Dühring auseinander: „Wer nur an der Hand der Sprache zu denken vermag, hat nie erfahren, was abgesondertes und eigentliches Denken zu bedeuten habe." 4 Kritisch stellt Engels hierzu fest, daß danach die Tiere die abgesondertsten und eigentlichsten Denker wären, „ . . . weil ihr Denken nie durch die zudringliche Einmischung der Sprache getrübt wird. Allerdings sieht man es den Dühringschen Gedanken und der sie ausdrückenden

1 3

3

4

52

Vgl. E. Albrecht, Sprache und Erkenntnis. Logisch-linguistische Analysen, Berlin 1967. Vgl. E. Albrecht, Bestimmt die Sprache unser Weltbild? 2. Aufl., Berlin 1972; E. Albrecht, Sprache und Philosophie, Berlin 1975. Vgl. E. Albrecht, Die historischen Wurzeln und die aktuelle Bedeutung der philosophischen Ansichten von Friedrich Engels über die Sprache, in: Friedrich Engels und moderne Probleme der Philosophie des Marxismus, Berlin 1977. F. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (im folgenden MEW), Bd. 20, Berlin 1968, S. 78.

Sprache an, wie wenig diese Gedanken für irgendeine Sprache gemacht sind und w i e wenig die deutsche Sprache für diese Gedanken" 5 . Zur Formulierung der Gedanken, das heißt der Verknüpfung von Begriffen in Worten oder anderen Zeichen, dient die Sprache. W i r übersehen dabei nicht die Doppelrolle des Wortes, nämlich die Repräsentations-Regulationsfunktion bzw. die von Karl Bühler nachgewiesenen drei Funktionen der Sprache: Äußerung (Kundgabe), Einwirkung (durch Anruf, Mitteilung usw.) und Sachbezogenheit (Benennung, Orientierung, Darstellung). Der Doppelfunktion des Wortes w i r d in der semiotischen Literatur in letzter Zeit immer größere Aufmerksamkeit gewidmet. Die Arbeiten sowjetischer Forscher spielen hierbei international eine hervorragende Rolle. Es sei hier nur auf die Arbeiten von A. G. V o l k o v : „Jazyk k a k systema znakov" (Moskau 2 1966), N. G. Komlev: „Components of the Content Structure of the W o r d " (Den Haag/Paris 1976), und J. W . Rozdestvenskij: „Tipologija slova" (Moskau 1964), verwiesen. Wichtige Gedanken äußern auch P. F. Protassenja und M . M . Kolzova, die mit Recht hervorheben, d a ß das Wort ein wichtiger Regulator psychischer Prozesse und des Verhaltens ist. Auch durch grammatische und logische Operationen übt das Wort eine wichtige Regulationsfunktion aus, wie den Arbeiten der hier genannten sowjetischen Forscher zu entnehmen ist. In eigenen Untersuchungen sind auch wir zu dem Ergebnis gelangt, d a ß diese Operationen die höchste sozial determinierte Ebene der Selbstregelung darstellen. Auch die in der Sprache anzutreffende Einteilung der Wörter in kategorematische und synkategorematische ist für die Klärung des Verhältnisses von Wort, Begriff, Bedeutung, Sinn und Aussage und damit für die Klärung der dialektischen Beziehungen von Sprache und Denken grundlegend, wie die Geschichte der Sprachwissenschaft beweist. Ebenso zeigt uns diese, d a ß die Differenzierung der Sprache in Wort und Aussage das Ergebnis eines hohen Entwicklungsstandes der Menschen ist. In seinem Fragment „Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen" hat F. Engels, gestützt auf Hegel sowie Humboldt, Rousseau und Herder und vor allem auf die von ihm zusammen mit M a r x entdeckte materialistische Geschichtsauffassung, die entscheidenden Impulse für eine wissenschaftliche Analyse des Verhältnisses von Arbeit, Sprache und Denken geliefert. Neuere Forschungen zur Sprachevolution haben ein reiches Material für die Richtigkeit der Annahmen von F. Engels erbracht. Revesz hält den Imperativ für die älteste Sprachform und spricht vom Einwortstadium als einem sprachlichen Urzustand, in dem in der Sprache die Kommunikation ohne Hilfe von Wort- und grammatischen Kategorien vorgenommen werden mußte. D a s sprachliche Urelement, das heißt der imperative Einwortsatz wird als präverbal und präsubstantivisch, als prägrammatisch bezeichnet. Allerdings ist Revesz nicht in der Lage, w i e Hegel und Engels dies vermochten, den Ursprung der Sprache mit der Arbeit in Zusammenhang zu bringen. Daher bleibt er auch bei der sogenannten „Kontakttheorie" stehen (bei der Kontaktlösung aku5

Ebenda, S. 78. 53

stischer Art), das heißt auf einer Stufe der biologischen Erklärung sozialer Phänomene. Den Übergang vom Einwortsatzstadium zur grammatischen Kategorialisierung kann er so überhaupt nicht erfassen. Den Ausweg sieht Revesz darin, daß der Mensch das Verfahren, verbale, substantivische u. a. Begriffe zu bilden und ihnen entsprechende Worte zuzuordnen, frei erfunden hätte. Eine derartige Interpretation genügt jedoch nicht zur Klärung des Verhältnisses von Sprache und Abstraktionsfähigkeit. Wir stellen dem gegenüber, daß die Intensivierung der Abstraktionsfähigkeit ihren Niederschlag in der Entwicklung der Sprache fand sowohl in ihrem Wort- und Begriffsschatz als auch in der Wandlungsfähigkeit der Wortbedeutungen, in der Entwicklung des Systems grammatischer Kategorien und in den damit verbundenen Verflechtungen von grammatischen und logischen Bezügen, ohne daß jedoch eine Identität von Sprache, Grammatik und Logik besteht. Es ist im Wesen der Sprache begründet, daß sie zu Abstraktionen führt, da ein einzelnes Wort (Haus, Mensch) im allgemeinen viele Einzelgegenstände umfaßt (vgl. Hegel und Lenin). Die Sprache gestattet aber auch, Worte zu Scheinbegriffen und Sätzen zusammenzustellen, die widerspruchsvoll oder sinnlos sind. Wir halten Freges Unterscheidung in Sinn und Bedeutung in diesem Zusammenhang für äußerst fruchtbar, nämlich daß die Bedeutung eines Namens derjenige Gegenstand ist, der nach diesem Namen benannt ist, während der Sinn die darin enthaltene Information ist. Mit Hilfe des betreffenden Zeichens wird ein Sinn ausgedrückt und seine Bedeutung bezeichnet. Der Sinn eines Namens (Wortes) ist der Begriff, die Bedeutung eines Namens das Objekt. Daß bei aller Bedeutung dieser von Frege getroffenen Unterscheidung, die sich im Kern bereits bei Aristoteles findet, nichts über die Entstehung und Entwicklung der Begriffe ausgesagt wird, möchten wir ausdrücklich hervorheben. Die Begriffsbildung und damit der auf sprachlichen Elementen beruhende Abstraktionsprozeß kann nur auf Grund der von Hegel, Marx und Lenin entwickelten Methode des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten erklärt werden, wie wir bereits im vorigen Kapitel deutlich gemacht haben. Es gibt kein abstraktes Denken als reinen Bewußtseinsakt, es ist immer bereits sprachlich verfaßt und gefaßt. Wir zeigten bereits, daß Engels diese Grundposition konsequent vertreten hat. Die Sprache ist somit eine wesentliche Bedingung unserer Erkenntnis. Da Erkenntnis nur in Aussagen mittels der Begriffe (Wörter, Prädikatoren) möglich ist, sich in ihnen artikuliert, gilt es, die Sprache und die der Sprachentwicklung zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Daß es hier noch zahlreiche ungeklärte Probleme gibt, zeigt uns deutlich der Zusammenhang von Laut und Bedeutung. Diese Problematik des Zusammenhanges der Laut-Bedeutungszuordnung besteht in der Klärung des Wesens, der Funktion des sprachlichen Zeichens. Hierzu hat bereits A. G. Volkov in seiner oben genannten Arbeit: „Jazyk kak systema znakov" einen wesentlichen Beitrag geleistet. Die führenden idealistischen Richtungen der Gegenwart, die sich mit dem Problem von Sprache und Denken befassen, beschränken sich auf die Auffassung vom konventionalistischen Charakter der sprachlichen Zeichen. Damit aber ignorieren 54

sie die gesellschaftlich-historische Wirklichkeit der Sprache und des Denkens, ihre dialektische Wechselwirkung in der historischen Entwicklung, die Existenz der sprachlichen Bedeutung in ihrer Beziehung zur inhaltlichen Seite des Denkens. Jegliche Gleichsetzung des sprachlichen Zeichensystems mit den anderen Zeichensystemen der Gesellschaft führt zu einer Leugnung der Entwicklung der Sprache, drückt die Sprache auf den Wert eines beliebigen Codes herab. D i e Sprache ist mehr als eine Kombination von Zeichen. Sie entsteht im Prozeß des Ausdrückens und Hörens entsprechend den Kontrasten und Rhythmen des Timbre, entsprechend den Akzenten der Intensität und Länge der Laute. Gleichzeitig möchten wir jedoch hervorheben, d a ß im engeren Sinne des Wortes unter dem Zeichen ein materielles Mittel verstanden werden muß, das dazu dient, Abstraktionen zu realisieren, zu materialisieren. D i e sprachlichen Zeichen sind daher untrennbar mit einem Inhalt, einer Bedeutung verbunden. Sie sind demnach ihrem Inhalt nach historisch bedingt, das heißt, sie tragen einen sozialen, gesellschaftlichen Charakter. Sie widerspiegeln die Entwicklung und Vervollkommnung des menschlichen Denkens, welches sich ständig unter dem Einfluß der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, in erster Linie der Produktionstätigkeit, vollzieht. D e r Inhalt der sprachlichen Zeichen existiert dabei unabhängig von dem Bau der Sprache. Zwischen den einzelnen Aspekten der Zeichenbedeutung, dem logischbegrifflichen, emotionalen, voluntativ-operationalen, semantischen und syntaktischen, bestehen enge Beziehungen, deren dialektischer Zusammenhang im einzelnen noch zu erforschen ist. So existiert beispielsweise die syntaktische Bedeutung nicht unabhängig von der semantischen. Das sprachliche Zeichen entwickelt sich unter den Bedingungen der komplizierten phonologischen, grammatischen und lexikalischen Beziehungen innerhalb des betreffenden sprachlichen Systems. Es unterliegt somit einer inneren Gesetzmäßigkeit, trägt objektiven Charakter und erlaubt keine Willkür in der Verwendung dieses oder jenes Zeichensystems. Diese innere Gesetzmäßigkeit stellt aber nicht die primäre Seite in der Entwicklung des sprachlichen Zeichens dar. Dies behaupten zu wollen, hieße den sprachlichen Zeichen eine Autonomie einzuräumen, das heißt eine Unabhängigkeit von den gesellschaftlichen Erscheinungen, vom gesellschaftlichen Bewußtsein. Auch das nichtsprachliche Zeichen als Mittel des Gedankenaustausches und der Fixierung von Gedanken trägt sozialen Charakter. Das nichtsprachliche Zeichen bezieht sich natürlich auf eine sehr begrenzte Sphäre der Anwendungsmöglichkeit. Das nichtsprachliche Zeichen wird willkürlich konstruiert, aber bedarf zum Funktionieren einer inneren logischen Systematik. Es kann dann ein beliebiges nichtsprachliches Zeichensystem prinzipiell internationalen Charakter tragen. Es sei hier nur auf die Zeichen der künstlichen Sprachen der Wissenschaft, auf die Formelsprache der Chemie, Mathematik und Logik verwiesen. Doch durch die Anwendung dieser Zeichensysteme im gesellschaftlichen Leben nähern sie sich der N a t u r der Sprache, indem sie Neubildungen stets berücksichtigen müssen. So kommt es zu ständigen „Reformen" im System dieser Zeichen. Für die Klärung des Verhältnisses von kommunikativen Mitteln und kommunikativem Effekt ist es von fundamentaler 55

B e d e u t u n g , sich d a r ü b e r k l a r zu w e r d e n , in w e l c h e m V e r h ä l t n i s W o r t u n d B e g r i f f , d a s heißt - g e n a u e r g e s a g t - , d a s s p r a c h l i c h e Zeichen u n d seine B e d e u t u n g z u m w i d e r g e s p i e g e l t e n O b j e k t stehen. U n t r e n n b a r v e r b u n d e n d a m i t ist d i e F r a g e nach d e r gnoseologischen F u n k t i o n d e s sprachlichen Zeichens u n d schließlich a u c h d i e nach d e r gesellschaftlichen F u n k t i o n der S p r a c h e . E r s t d i e marxistisch-leninistische E r k e n n t n i s t h e o r i e e r m ö g l i c h t ein v o l l e s V e r s t ä n d n i s des sprachlichen Z e i chens u n d seiner B e z i e h u n g e n zur o b j e k t i v e n R e a l i t ä t , eine U n t e r s c h e i d u n g zwischen d e n O b j e k t e n der g e d a n k l i c h e n W i d e r s p i e g e l u n g (0),

den sprachlichen Z e i -

chen ( Z ) , den g e d a n k l i c h e n A b b i l d e r n ( A ) u n d den M e n s c h e n , d i e d i e s e Z e i c h e n h e r v o r b r i n g e n , benützen und verstehen. D i e marxistisch-leninistische

Erkenntnis-

t h e o r i e selbst ist untrennbarer B e s t a n d t e i l der D i a l e k t i k , w i e wir bereits in d e n v o r i g e n K a p i t e l n g e z e i g t haben. O h n e B e r ü c k s i c h t i g u n g der T a t s a c h e , d a ß d a s g e s e l l s c h a f t l i c h e B e w u ß t s e i n eine F u n k t i o n d e s historisch k o n k r e t e n g e s e l l s c h a f t lichen Seins ist, kann es k e i n e wirklich u m f a s s e n d e w i s s e n s c h a f t l i c h e T h e o r i e v o m konkreten C h a r a k t e r des D e n k e n s u n d der E r k e n n t n i s g e b e n . A u f d e m B o d e n d e s historischen M a t e r i a l i s m u s w u r d e n sowohl d i e k o n k r e t historische

Begründung

b e s t i m m t e r E r k e n n t n i s s e als auch d i e b e w u ß t e A n w e n d u n g d e r T h e o r i e a u f d i e Unter-suchung s p r a c h l i c h e P h ä n o m e n e möglich, d i e stets auch mit b e s t i m m t e n sozialen, politischen, ö k o n o m i s c h e n , historischen und a n d e r e n gesellschaftlichen A s pekten v e r b u n d e n sind. N a c h marxistischer A u f f a s s u n g sind d i e D e n k g e s e t z e u n d D e n k f o r m e n i m E r g e b n i s d e r historischen E n t w i c k l u n g entstanden. D i e g e s e t z e sind f ü r den M a r x i s m u s - L e n i n i s m u s

Denk-

d i e G e s a m t h e i t d e r G e s e t z e , durch

w e l c h e d i e T ä t i g k e i t des D e n k e n s realisiert w i r d , es ihm möglich w i r d , d i e W i r k lichkeit zu erkennen. D a s L o g i s c h e erscheint bei M a r x , E n g e l s u n d L e n i n als philosophische K a t e g o r i e f ü r d i e B e z e i c h n u n g d e r S u m m e der G e s e t z e des a b s t r a k t e n D e n k e n s , nach denen sich d i e a d ä q u a t e W i d e r s p i e g e l u n g der W e l t vollzieht. D i e s e W i d e r s p i e g e l u n g w i r d durch d i e S p r a c h e objektiviert. D i e theoretische

Problematik

besteht

darin,

zu

erklären,

warum

wir

erkenntnismittels

der

S p r a c h e A u s s a g e n über d i e W i r k l i c h k e i t machen können. D i e E r k e n n t n i s f u n k t i o n des

Denkens

wird

Mitteilungsfunktion marxistische Analyse

nicht der

ohne

Sprache

Sprache nicht

des Verhältnisses

realisiert.

ohne von

Denken

Andererseits

wird

die

Für

eine

ist es

ganz

verwirklicht.

Sprache und Denken

wesentlich, der D i a l e k t i k v o n H i s t o r i s c h e m u n d L o g i s c h e m s o w o h l b e i der D a r stellung a l s auch bei der U n t e r s u c h u n g der einzelnen A s p e k t e in den B e z i e h u n g e n v o n S p r a c h e u n d D e n k e n größte B e a c h t u n g zu schenken. H i e r m i t h ä n g t a u c h d e r g r u n d l e g e n d e U n t e r s c h i e d zwischen d e r M e t h o d o l o g i e des M a r x i s m u s - L e n i n i s m u s u n d der des S t r u k t u r a l i s m u s z u s a m m e n . I m S t r u k t u r a l i s m u s w i r d keine e x a k t e Unterscheidung von Theorie und Methode vorgenommen. D e r dialektische Charakter v o n diachronischer u n d synchronischer B e t r a c h t u n g s w e i s e in der S p r a c h w i s s e n s c h a f t w i r d v o m S t r u k t u r a l i s m u s nicht b e w ä l t i g t . D i e m a r x i s t i s c h e und d i e strukturalistische A u f f a s s u n g v o n S y s t e m u n d Struktur sind g r u n d l e g e n d v e r s c h i e d e n . D e r M a r x i s m u s läßt k e i n e a b s o l u t e T r e n n u n g v o n M e t h o d e n u n d M e t h o d o l o g i e in der S p r a c h t e o r i e zu. D i e marxistisch-leninistische M e t h o d o l o g i e b e r u h t auf d e r

56

Widerspiegelungsfunktion der Sprache, auf der Fähigkeit des Menschen, die objektive Realität widerspiegeln zu können. Im Strukturalismus wird diese Widerspiegelungsfunktion der Sprache nicht erfaßt, da Geschichte, Struktur und Funktion keine Einheit bilden. Der Strukturalismus geht von einer abstrakten Auffassung vom Menschen aus und sieht daher überhaupt nicht die Problematik von gesellschaftlichem und individuellem Erkenntnisprozeß. Er verabsolutiert die Sprachformen und trennt diese damit von den Denkgesetzen. Zu welcher -Verengung eine derartige Konzeption führt, kann zum Beispiel daran ermessen werden, daß auf dieser Grundlage die Ergebnisse im Bereich der Semantik, also im zentralen Bereich sprachwissenschaftlicher Forschungen, nicht befriedigen können. Beim Wortschatz einer Sprache haben wir es mit den Bedeutungen und damit zugleich mit dem Erkenntnisgehalt zu tun, mit der verallgemeinerten Widerspiegelung der Wirklichkeit in der menschlichen Erkenntnis mittels der Sprache. Unsere Kritik am Strukturalismus bedeutet in keiner Weise eine Ignorierung oder Unterschätzung von Strukturforschungen in der Linguistik und anderen Disziplinen. Die Klassiker des Marxismus-Leninismus haben einen exakten Begriffsinhalt dessen geliefert, was wir im sozial-wissenschaftlichen Bereich unter Struktur verstehen. 6 Es sei hier nur darauf verwiesen, daß ökonomische und politische Strukturen materielle Komponenten sind. Für den Marxismus-Leninismus ist die Struktur nach Tugarinov und Stoff eine Komponente des Inhalts und nicht der Form. Auch bedeutende bürgerliche Gelehrte, wie zum Beispiel Jean Piaget in seinem W e r k : „Der Strukturalismus" (Ölten und Freiburg im Breisgau, 1973) nähern sich einer Grundposition, die dazu beitragen kann, noch vorhandene Vorbehalte gegenüber Strukturuntersuchungen überwinden zu helfen. Strukturalismus ist für Piaget keine Philosophie, sondern eine Methode. „Als Methode kann er (der Strukturalismus - E. A.) in seinen Anwendungsmöglichkeiten nur beschränkt sein, das heißt, wenn er durch eben seine Fruchtbarkeit dazu geführt wird, mit allen anderen Methoden in Beziehung zu treten, setzt er umgekehrt andere voraus und widerspricht in keiner Weise den genetischen oder funktionellen Forschungen, die er im Gegenteil mit seinen in allen Grenzzonen, wo ein Kontakt sich aufdrängt, wirksamen Werkzeugen bestärkt. Als Methode ist er andererseits offen, das heißt, er erhält durch Austausch vielleicht nicht so viel, wie er gibt, da er die zuletzt gekommene Methode und daher noch rein an Unvorhergesehenem ist, doch er gewinnt eine wichtige Gesamtheit von Tatsachen, die zu integrieren, und neue Probleme, die zu lösen sind." 7 Das Studium der Strukturen, das somit nichts Exklusives darstellt, wird von Piaget in wichtigen Bereichen der Wissenschaft analysiert. Dabei wird zunächst der Versuch unternommen zu definieren, was unter einer Struktur verstanden werden soll. In erster Annäherung wird Struktur als ein System von Transformationen 6

7

Vgl. W . I. Lenin, Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung und die Kritik an ihr in dem Buch des Herrn Struve, in: Werke, Bd. 1, Berlin 1971, S. 4 2 5 ; vgl. auch K . Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 13, Berlin 1961, S. 9. J. Piaget, Der Strukturalismus, Olten-Freiburg im Breisgau 1973, S. 137.

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aufgefaßt, das als System (im Gegensatz zu den Eigenschaften der Elemente) eigene Gesetze hat und das eben durch seine Transformationen erhalten bleibt oder reicher wird, ohne daß diese über seine Grenzen hinaus wirksam werden oder äußere Elemente hinzuziehen. Die Struktur umfaßt drei Eigenschaften: Ganzheit, Transformationen und Selbstregelung. Eine Struktur besteht nach Piaget zwar auch aus Elementen, aber diese sind Gesetzen unterworfen, die das System als solches charakterisieren. Bei den sozialen Ganzheiten werden ausdrücklich die Gesellschaftsklassen genannt. Ebenfalls wird die von Marx formulierte klassische Definition des historischen Materialismus anerkannt, nämlich daß die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse die ökonomische Struktur der Gesellschaft bildet, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Untrennbar mit der Seitbsregelung oder Selbsterhaltung der Strukturen sind nach Piaget die Rhythmen, Regulierungen und Operationen als die drei wesentlichen Verfahrensweisen der Selbstregelung verbunden. In zweiter Annäherung - aber hier wird man Piaget nicht zustimmen können - muß sich die Struktur zu einer Formalisierung eignen. Diese Auffassung wird jedoch dahingehend eingeschränkt, daß es verschiedene mögliche Formalisierungsstufen gäbe, die von den Entscheidungen des Theoretikers abhängig sind, während die Existenzweise der Struktur, die er entdeckt, in jedem besonderen Forschungsbereich zu präzisieren ist. „Die Grenzen der Formalisierung sind folglich veränderlich oder vikariierend und nicht ein für allemal aufgerichtet wie eine Mauer, die die Grenze eines Reiches anzeigt." 8 Bei der Analyse der mathematischen Strukturen wird auf die älteste bekannte und als solche untersuchte Struktur der „Gruppe" (Galois), auf das „Erlänger Programm" von Felix Klein und vor allem auf die Strukturforschungen der Bourbaki eingegangen. Polemisch setzt sich Piaget mit irrationalistischen Auffassungen in der Mathematik auseinander, indem er besonders betont, daß die Struktur der Gruppe allein schon genüge, um zu zeigen, wie künstlich die Antithese ist, auf der E. Meyerson seine Erkenntnistheorie begründete, wonach jede Veränderung irrational wäre und nur die Identität die Vernunft kennzeichnete. Auch für die Logik weist er nach, daß es in ihr Strukturen im vollen Sinne des Wortes gibt. Diese sind für die Theorie des Strukturalismus um so interessanter, als man ihre Psychogenese in der Entwicklung des natürlichen Denkens verfolgen kann. Präzis wird auch der Unterschied zwischen Struktur und Form herausgearbeitet: „ . . . die Struktur als sich selbst regulierendes Transformationssystem ist nicht dasselbe wie irgendeine Form: ein Haufen Kieselsteine stellt für uns eine Form dar . . . doch er kann nur eine .Struktur' werden, wenn man eine ausgeklügelte Theorie ausarbeitet, die das Gesamtsystem seiner ,virtuellen* Bewegungen einbezieht" 9 . Als das Hauptproblem der Strukturuntersuchungen in der Physik 8 9

58

Ebenda, S. 35. Ebenda, S. 36.

wird die Kausalität angesehen, genauer: die Beziehungen zwischen den logischmathematischen Strukturen, die bei der kausalen Erklärung der Gesetze verwendet werden, und den angenommenen wirklichen Strukturen. Aprioristische und irrationalistische Auffassungen der Kausalität ( E . Meyerson und L. Brunschvicg) werden zurückgewiesen. In Auseinandersetzung mit der positivistischen Auffassung von der Reduzierung der Wirklichkeit auf Sprache wird klar hervorgehoben, daß von uns unabhängige „physikalische" Strukturen existieren, denen unsere operativen Strukturen entsprechen. Bei den organischen Strukturen werden simplifizierender Reduktionismus sowie Vitalismus zurückgewiesen. In Auswertung der Arbeiten von L. von Bertalanffy, Claude Bernard, W. B. Cannon, Dobzhansky und Waddington wird der Grundprozeß der Variation nicht mehr in der Mutation gesehen, sondern in der genetischen „Neukombination", dem wichtigsten Werkzeug für die Bildung neuer Erbstrukturen. Damit gibt man nach Piaget der Evolution ihre dialektische Bedeutung zurück, anstatt in ihr den Ablauf einer ewigen Prädestination zu sehen, deren Lücken und Mängel dann unerklärbar werden. Prädetermination sowie Angeborenheit werden auch bei der Behandlung der Strukturen der Intelligenz und deren Entwicklung zurückgewiesen: „Die menschlichen Strukturen entstehen nicht aus nichts, und wenn jede Struktur das Ergebnis einer Entstehungsgeschichte ist, muß man entschieden einräumen, daß, von den Fakten her gesehen, eine Genese immer den Übergang von einer einfacheren Struktur zu einer komplexen Struktur darstellt." 10 Von dieser Position aus wird auch die Transformationsgrammatik Chomskys einer Kritik unterzogen und die Idee, daß die Grammatik in der Vernunft, und zwar in einer „angeborenen" Vernunft einwurzelte, ad absurdum geführt. D a s synchronische System der Sprache ist nach Piaget nicht unveränderlich. Es verwirft oder akzeptiert Neuerungen je nach den Bedürfnissen, die durch die Gegensätze oder Verbindungen des Systems bedingt sind. Wir können somit feststellen, daß J . Piaget zu Ergebnissen gelangt, die den von Engels antizipierten Auffassungen zur Struktur und zur Sprachtheorie entsprechen. Wir finden im „Anti-Dühring" von Engels für unsere Auseinandersetzungen mit dieser von N. Chomsky und seinen Anhängern vertretenen Prinzipien der aprioristisch-spekulativen Grammatik konkrete Hilfe, selbst in Detailfragen einer Grammatiktheorie. Wie bereits angedeutet, kommt in der Analyse des Verhältnisses von Sprache und Denken den methodologischen Prinzipien stets eine fundamentale Bedeutung zu. Ohne diese wäre es völlig unmöglich, wissenschaftliche Forschung zu betreiben. In den Prinzipien ist in abstrakter Form das Wissen über die grundlegenden Seiten eines zu erforschenden Gegenstandes enthalten. Dieses Wissen entfaltet sich im Prozeß der konkreten Erforschung des Objektes. D i e methodologischen Prinzipien, die den Ausgangspunkt für diese oder jene wissenschaftliche Aufgabenstellung darstellen, erweisen sich als verallgemeinerte Ergebnisse einer vorhergehenden Entwicklung der Erkenntnis. Daher können sie 1° Ebenda, S. 61.

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zum Instrument einer kategorialen Synthese wissenschaftlicher Erkenntnisse werden, worauf vor allem T. Oisermann, M. Jarosevski, W. Lektorski und S. Meljuchin hingewiesen haben. 11 F. Engels setzte sich im „Anti-Dühring" konsequent mit Dührings idealistischer Auffassung vom Wesen der Prinzipien auseinander. „Also um Prinzipien handelt es sich bei ihm (E. Dühring - E. A.J, um aus dem Denken, nicht aus der äußeren Welt, abgeleitete formale Grundsätze, die auf die Natur und das Reich des Menschen anzuwenden sind, nach denen also Natur und Mensch sich zu richten haben. Aber woher nimmt das Denken diese Grundsätze? Aus sich selbst? Nein, denn Herr Dühring sagt selbst: das rein ideelle Gebiet beschränkt sich auf logische Schemata und das mathematische Gebilde . . . Die logischen Schemata können sich nur auf Denkformen beziehn; hier aber handelt es sich nur um die Formen des Seins, der Außenwelt, und diese Formen kann das Denken niemals aus sich selbst, sondern eben nur aus der Außenwelt schöpfen und ableiten. Damit aber kehrt sich das ganze Verhältnis um: die Prinzipien sind nicht der Ausgangspunkt der Untersuchung, sondern ihr Endergebnis; sie werden nicht auf Natur und Menschengeschichte angewandt, sondern aus ihnen abstrahiert; nicht die Natur und das Reich des Menschen richten sich nach den Prinzipien, sondern die Prinzipien sind nur insoweit richtig, als sie mit Natur und Geschichte stimmen. Das ist die einzige materialistische Auffassung der Sache, und die entgegenstehende des Herrn Dühring ist idealistisch, stellt die Sache vollständig auf den Kopf und konstruiert die wirkliche Welt aus dem Gedanken, aus irgendwo vor der Welt von Ewigkeit bestehenden Schematen . . ,"12 In Anwendung auf Fragen der Sprache, und hier vor allem auf die Grammatiktheorie, kritisiert Engels den eng nationalistisch-bornierten Standpunkt Dührings. „Er (E. Dühring - E. A.J will auch noch die beiden Hebel abschaffen, die in der heutigen Welt wenigstens die Gelegenheit zur Erhebung über den beschränkten nationalen Standpunkt bieten: die Kenntnis der alten Sprachen, die wenigstens den klassisch gebildeten Leuten aller Völker einen gemeinsamen erweiterten Horizont eröffnet, und die Kenntnis der neuern Sprachen, vermittelst deren die Leute der verschiednen Nationen allein untereinander sich verständigen und sich mit dem bekannt machen können, was außerhalb ihrer eignen Grenzen vorgeht. Dagegen soll die Grammatik der Landessprache gründlich eingepaukt werden." 13 11

Vgl. T. Oisermann, Gnoseologische Analyse der Kategorien in den Werken W . I. Lenins, in: Gesellschaftswissenschaften, Akademie der Wissenschaften der UdSSR (Moskau), 2/ 1 9 7 5 (deutsche Ausgabe); M. Jaroschewski, Die Struktur der wissenschaftlichen Tätigkeit, in: Gesellschaftswissenschaften, Akademie der Wissenschaften der UdSSR

(Moskau), 3/

1 9 7 6 (deutsche Ausgabe); W . Lektorski/S. Meljuchin, Einige Entwicklungstendenzen der materialistischen Dialektik, in: Sowjetwissenschaft, Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge (Berlin), 6 / 1 9 7 6 ; W . Lektorski/H. Safari, Über die Logik der Entwicklung des theoretischen Wissens, in: Probleme des Friedens und des Sozialismus, 12/1976. 12

F. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), in: M E W , Bd. 20, a. a. O., S. 3 2 - 3 3 .

13

60

Ebenda, S. 2 9 8 .

In dieser Auseinandersetzung mit Dühring gelangt Engels dann zu der genialen Erkenntnis, das Stoff und Form der eigenen Sprache aber nur dann verständlich sind, wenn man ihre Entstehung und allmähliche Entwicklung verfolgt. „ . . . und dies ist nicht möglich ohne Berücksichtigung erstens ihrer eignen abgestorbnen Formen und zweitens der verwandten lebenden und toten Sprachen"14. Engels verspottet Dühring, der die „ganze moderne historische Grammatik aus seinem Schulplan ausstreicht" und eine „ganz im Stil der alten klassischen Philologie zugestutzte, technische Grammatik mit allen ihren, auf dem Mangel an geschichtlicher Grundlage beruhenden Kasuistereien und Willkürlichkeiten"15 vertritt. Dühring, der die erfolgreich entwickelte historische Sprachforschung ignorierte, sucht „daher ,die eminent modernen Bildungselemente' der Sprachschulung nicht . . . bei Bopp, Grimm und Diez, sondern bei Heyse und Becker seligen Andenkens"16. Auch die heute von den Vertretern der Transformationsgrammatik so heftig vertretene These von der Ersetzung der verschiedenen Formen der Grammatik in den nationalen Sprachen durch eine logische Grammatik findet bei E. Dühring ihr Analogon im 19. Jahrhundert, wenn E. Dühring schreibt: „ . . . die vielerlei Grammatik, die man sonst beliebte, wird durch eine allgemeine Einführung in die logische Verfassung der Sprache überhaupt und insbesondere des eigenen Sprachgebildes mehr als ersetzt"17. Einen Einblick in das Wesen der Transformationsgrammatik gibt uns N. Chomsky mit seiner Schrift: „Cartesianische Linguistik. Ein Kapitel in der Geschichte des Rationalismus"18. Von linguistischer Seite wurde das Kernstück der „Sprachtheorie" Chomskys, die Konzeption von der Tiefen- und Oberflächenstruktur durch die Arbeiten vor allem von N. Danielsen und G. F. Meier ad absurdum geführt. In diesen Arbeiten wurde durch eine profunde Kenntnis nichteuropäischer Sprachen nachgewiesen, daß die erkenntnistheoretischen Auffassungen Chomskys unhaltbar sind. Mit dem Begriff „Cartesianische Linguistik" will Chomsky „ein Zusammentreffen von Ideen und Interessen charakterisieren, die in der Tradition der .universalen' oder .philosophischen Grammatik' stehen, die sich aus der Grammaire générale et raisonnée von Port Royal (1660) entwickelt hat; in der Allgemeinen Sprachwissenschaft, die zur Zeit der Romantik und unmittelbar danach entstand; und in der rationalistischen Philosophie des Geistes, die zu einem Teil den gemeinsamen Hintergrund beider bildet . . . Eine Verbindung zwischen der 14 15 16 17

18

Ebenda. Ebenda, S. 299. Ebenda. E. Dühring, Cursus der Philosophie als streng wissenschaftliche Weltanschauung und Lebensgestaltung, Leipzig 1975, S. 427. Die Übersetzung der amerikanischen Ausgabe der Schrift von Noam Chomsky, Cartesian Linguistics. A Chapter in the History of Rationalist Thought (New York-London 1966) erschien 1971 unter dem Titel „Cartesianische Linguistik, l i m Kapitel in der Geschichte des Rationalismus" im Max Niemeyer Verlag Tübingen.

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Allgemeinen Sprachwissenschaft der Romantik und diesem Komplex ist nicht so unmittelbar deutlich, doch werde ich zu zeigen versuchen, daß einige ihrer zentralen Charakteristika (und darüber hinaus die, die mir als ihr wertvollster Beitrag erschienen) sich auf cartesianische Vorläufer zurückführen lassen"19. Von diesem historischen Standort aus werden in den einzelnen Kapiteln der Arbeit Fragen des kreativen Aspektes des Sprachgebrauchs, der Tiefen- und Oberflächenstruktur sowie Spracherwerb und Sprachgebrauch betrachtet. Ein Studium dieser historischen Skizze führt uns jedoch zu dem Ergebnis, daß Chomsky die von ihm in historischer Hinsicht aufgeworfenen Probleme nicht löst. Obwohl von Chomsky ein umfangreiches Quellenmaterial verarbeitet wird, ist sein Vorgehen - so paradox dies erscheinen mag - unhistorisch. Descartes war natürlich Rationalist. Geht man jedoch konkret-historisch vor, so wird man den Rationalismus sozial-ökonomisch, das heißt klassenmäßig, im 17. Jahrhundert als Ausdruck der Weltanschauung eines relativ schwachen Bürgertums in Frankreich werten müssen. Trotz seiner Mängel war dieser Rationalismus progressiv in der Auseinandersetzung mit feudal-klerikaler Ideologie. Chomsky wird diesem Sachverhalt ebensowenig gerecht wie der Tatsache, daß sich der Cartesianismus zur bürgerlichen Oppositionsphilosophie entwickelte. Bezeichnend ist, daß Chomsky gerade die schwächsten Seiten des Cartesianismus übernimmt, nämlich die bei Descartes, Arnauld und Cordemoy anzutreffende Lehre von den angeborenen Ideen, den Apriorismus. Mit den für die konkrete linguistische Forschung damit verbundenen hemmenden Faktoren werden wir uns im nachfolgenden Kapitel bei der Untersuchung, der sprachlichen Universalien näher befassen. Die hier kritisierte Schrift Chomskys demonstriert eindeutig, daß Chomsky nicht imstande ist, die von ihm aufgeworfenen Fragen einer Klärung entgegenzuführen. Jeder Versuch, die Sprache in ihrer naturhistorischen und sozialen Entwicklung zu erklären, wird von ihm als „empiristisch" oder „mechanistisch" abgestempelt. Die fundamentalen Arbeiten von Marx und Engels zu Fragen des Ursprungs der Arbeit werden ignoriert. Aber gerade in diesen Arbeiten - vor allem in der „Deutschen Ideologie" und in dem Fragment von F. Engels „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen" - wird die Sprache als Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung in ihrer Genesis unmittelbar als aus der materiellen Tätigkeit und den ursprünglichen geschichtlichen Verhältnissen der Menschen hervorgehend erklärt. In diesen Arbeiten setzten sich Marx und Engels auch entschieden mit den vulgärmaterialistischen Ansichten der naturalistischen Sprachforschung auseinander, die in der Sprache nur das Produkt der biologischen Entwicklung des Menschengeschlechts sieht („Sankt Max"). Ebenso werden die idealistischen Auffassungen widerlegt, die die Sprache als Tätigkeit des „reinen" Geistes sahen. Zu den letzteren gehört heute auch Chomsky. Seine Auffassungen zur Sprache sind somit keineswegs neu und orginell. Der Idealismus wird nur ver19

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N. Chomsky, Cartesianische Linguistik. Ein Kapitel in der Geschichte des Rationalismus, Tübingen 1971, S. 2-3.

brämt, verdeckt durch Scheinargumente. Hierzu zählt nicht nur die Fiktion von der Oberflächen- und Tiefenstruktur, sondern auch die Mystifizierung der Kreativität, die von Cordemoy entlehnt wurde, einem Votläufer des reaktionären Okkasionalismus, der scholastischen Gegenbewegung gegen die bürgerliche Oppositionsphilosophie. Es wird von Chomsky versucht, dieses Prinzip nicht nur bei Descartes und Cordemoy, sondern auch bei Herder, Goethe und Humboldt nachzuweisen. Bezeichnend ist der Umstand, daß dabei nur die schwachen und spekulativen Momente im Schaffen dieser Denker Berücksichtigung finden, beispielsweise bei Humboldt die innere „Sprachform". Damit wird man aber diesen Denkern in keiner Weise gerecht. In Verletzung des methodischen Prinzips der konkret-historischen Analyse benutzt Chomsky dann auch noch Äußerungen von Humboldt, um weltanschaulich und politisch mit Hilfe der Kreativität ein „unbegrenztes" freies Handeln, also Individualismus und Voluntarismus zu propagieren. Die oft gehörte These, daß zwischen Chomskys Auffassungen über die Sprache und seiner weltanschaulich-philosophischen und politischen Position kein Zusammenhang bestünde, dürfte sich damit ebenfalls als haltlos erweisen. Wie im 19. Jahrhundert E. Dühring, so versperrt uns heute N. Chomsky mit seiner spekulativ-aprioristischen Auffassung vom Sprachsystem den Weg für ein wirkliches Verständnis der Beziehungen von Sprache und Denken. Diese finden ihren Ausdruck darin, daß die Sprache als System (langage), Nationalsprache (langue) und Rede (parole) in vielfältiger Weise funktioniert. Die Sprache ist also ein sehr kompliziertes Gebilde funktional miteinander dialektisch verbundener Einheiten, nämlich von Syntax, Lexik, Phonetik und Phonologie. Durch seine schöpferische Tätigkeit gewinnt der Mensch neue Erkenntnisse, die er sprachlich fixiert. Dieser im Prozeß der Tätigkeit sich vollziehende Abstraktionsprozeß drückt aus, daß Erkenntnis ein aktiver Vollzug ist. Die Widerspiegelung der Wirklichkeit durch den Menschen ist somit ein aktiver Vorgang. Durch die Materialisierung der Wörter als sprachlicher Zeichen wird die Sprache zu dem, was Marx mit seiner berühmten, leider manchmal mißverstandenen Formulierung zum Ausdruck brachte: „Die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein." 20 Die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens ist damit die Sprache. 21 Die Sprache ermöglicht durch ihre Einheit von sprachlichem Zeichen und Begriff die Kommunikation und damit die sprachliche Realisierung gesellschaftlicher Beziehungen. In den komplizierten Beziehungen von sprachlichem Zeichen und Bedeutung, das heißt gedanklichem Inhalt und Abbild - wobei das Abbild in ständiger Relation zum Abgebildeten steht - manifestiert sich die Dialektik von Sprache und Denken. In der Objektivierung und Materialisierung des Ideellen durch die Sprache und in der damit gegebenen Möglichkeit, Handlungen auszulösen, besteht die aktive Rolle der Sprache. Wie Engels im „Anti-Dühring" und in anderen Arbei20 21

K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1969, S. 30. Vgl. ebenda, S. 432.

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ten nachgewiesen hat, stellt die Lautsprache, die im Prozeß der Arbeitstätigkeit des Menschen entstanden ist, einen der grundlegenden Faktoren in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und des menschlichen Denken dar. 22 22

Es soll hier vermerkt sein, daß — wie wir aus gegenwärtigen Forschungen der Psycholinguistik wissen - auch die „innere Sprache" beim Erkenntnisgewinn eine aktive Funktion ausübt. Es sei hier vor allem auf die Arbeiten von A. A. Leonjew und W. Kirchgässner verwiesen. (Vgl. dazu A. A. Leonjew, Psycholinguistische Einheiten und die Erzeugung sprachlicher Äußerungen, Berlin 1975; W. Kirchgässner, Probleme der Einheit von Rationalem und Emotionalem im Erkenntnisprozeß, Berlin 1971.)

I V . KAPITEL

Zur Problematik der sprachlichen Universalien

Die Frage, die im vorigen Kapitel bereits kurz berührt wurde, nämlich weshalb sich der Universalienstreit heute in der Linguistik, Logik und Erkenntnistheorie so zugespitzt hat, warum so subtile und abstrakte Erörterungen von unmittelbarer praktischer Bedeutung sind, hängt mit aktuellen weltanschaulichen und methodologischen Fragen in der sich zuspitzenden Auseinandersetzung zwischen Materialismus und Idealismus zusammen. Nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Linguistik gehört das Universalienproblem seit der Antike und dem Mittelalter zu den umstrittensten theoretischen Problemen. Der Universalienstreit, in dem die Auseinandersetzung zwischen Materialismus und Idealismus im Mittelalter ausgetragen wurde, ist der Streit zwischen Realismus und Nominalismus um die Bedeutung der Allgemeinbegriffe, um die genauere Fassung der Seinsweise des Allgemeinen und seines Verhältnisses zur Substantialität und Realität des Einzeldinges. Die Realisten nannten sich im Mittelalter so, weil sie die Vertreter der aus Plato übernommenen Lehre von der Realität der Begriffe waren. Die Nominalisten waren die Denker, die die Realität der Universalien ablehnten. Sie lehnten sich stark an Aristoteles an, ohne diesen jedoch wirklich voll zu adaptieren. Die Substanz, das Allgemeine (Universale) wird von den Realisten als über die Wirklichkeit stehend gesehen, insofern nämlich das Allgemeine als der reine Gedanke Gottes betrachtet wird (Plato), während die Nominalisten das Universale als sich selber darstellend, als konkrete, sinnlich wahrnehmbare Einzeldinge charakterisieren. Wie sich dieser Universalienstreit im Mittelalter auf die Formulierung sprachlicher und damit semantischer Probleme ausgewirkt hat, haben wir in unserer Arbeit „Sprache und Philosophie" versucht zu skizzieren.1 Die dann später in Auseinandersetzung mit nominalistischen Positionen von der Allgemeinen Grammatik des 17. und 18. Jahrhunderts aufgeworfene und mit philosophischen Konsequenzen verbundene Fragestellung nach dem Wesen der linguistischen Universalien bildet die Ausgangsposition für die einflußreichen Ideen von Chomsky und Katz. Diese bekannten Linguisten greifen in den Streit zwischen Rationalismus und Empirismus ein. Mit Recht wenden sie sich gegen die von Bloomfield u. a. vertretene behävioristische Spekulation über menschliches Lernen, gegen die Reduzierung des Lernens auf identifizierbare externe Reize 1

5

Vgl. E. Albrecht, Sprache und Philosophie, Berlin 1975, S. 46 ff. Albrecht

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oder interne physiologische Zustände. Damit hängt auch die Auffassung des Behaviorismus zusammen, daß sich die menschliche Sprache von tierischen Kommunikationssystemen nicht in fundamentaler Weise, sondern nur in ihrer „größeren Differenzierung" unterscheide, daß Sprache eine Angelegenheit von Training und Gewohnheit sei. Für Chomsky hingegen spiegeln sich die unbegrenzten Möglichkeiten des Denkens und der Vorstellung im kreativen Aspekt des Sprachgebrauchs. „Die Sprache bietet finite Mittel, jedoch infinite Möglichkeiten des Ausdrucks, die nur durch Regeln der Begriffsbildung und Satzbildung beschränkt sind, wobei diese teils speziell und idiosynkratisch, teils jedoch universal sind als allgemeine menschliche Veranlagung." 2 Mit Berufung auf die von N. Beauzée in der berühmten Grammatik-Darstellung in der Encyclopédie vertretene Auffassung, daß die Struktur der Sprache das Wesen des Gedankens so dicht spiegele, daß „la science de la parole ne diffère guère de celle de la pensée" 3 , wird völlig richtig betont, daß „die Sprache das primäre Mittel zum freien Ausdruck des Denkens und Fühlens wie auch für die Funktion der schöpferischen Phantasie darstellt" 4 . Analoge Formulierungen finden wir auch in der „Deutschen Ideologie", wo Marx und Engels den Nachweis führen, daß die Sprache so alt wie das Bewußtsein ist: „Die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existierende . . . wirkliche Bewußtsein . . . Die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens ist die Sprache.'* Die von Chomsky, Katz und Fodor vertretene rationalistische Konzeption enthält zweifellos rationale Elemente über den Erwerb der Sprache, ihre Verwendung und das Vorhandensein sprachlicher Universalien. „Die Kerndoktrin der cartesianischen Linguistik besteht darin, daß die generellen Merkmale grammatischer Struktur allen Sprachen gemeinsam sind und gewisse fundamentale Eigenschaften des Geistes widerspiegeln." 6 Es wird jedoch weiter behauptet, daß solche universalen Bedingungen nicht gelernt werden, sondern vielmehr die organisierenden Prinzipien liefern, „die die Spracherlernung möglich machen, die vorhanden sein müssen, wenn Daten zu Wissen führen sollen. Schreibt man diese Prinzipien dem Verstand zu als eingeborene Eigenschaft, so wird die Erklärung der ganz offensichtlichen Tatsache möglich, daß der Sprecher einer Sprache einen großen Teil weiß, den er nicht gelernt hat" 7 . Damit wird ein extrem rationalistischer Standpunkt bezogen, der völlig ignoriert, daß das Bewußtsein und damit auch die Sprache ein gesellschaftliches Produkt ist. 2

3

N . Chomsky, Cartesianische Linguistik. Ein Kapitel in der Geschichte des Rationalismus, Tübingen 1971, S. 41. Ebenda, S. 42.

4

Ebenda, S. 45.

5

K. Marx/F. Engels, D i e deutsche Ideologie, in: Karl Marx/Friedrich Engels Werke (im folgenden MEW), Bd. 3, Berlin 1969, S. 30 und 432. N . Chomsky, Cartesianische Linguistik. Ein Kapitel in der Geschichte des Rationalismus, a. a. O,, S. 79. Ebenda, S. 80.

6

7

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Wir stimmen Katz zu, daß uns das Studium natürlicher Einzelsprachen - des Englischen, Chinesischen, Französischen usw. - Beschreibungen liefert, von denen wir abstrahieren können, um zu Generalisierungen über Sprache zu gelangen. Wir erhalten durch das Studium von Sprache in allgemeiner Hinsicht Generalisierung, die die unveräußerlichen Merkmale der Sprache zum Ausdruck bringen" 8 . Man kann jedoch nicht von unveränderlichen Merkmalen, sondern nur von historisch gewordenen universellen Merkmalen der Sprache sprechen. Die Konzeption von der „Unveränderlichkeit" ist der typische Ausdruck einer Trennung von Theorie und Empirie, wie sie der generativen Grammatik zugrundeliegt. Dies zeigt sich deutlich auch in der nihilistischen Einschätzung vorhandener Forschungsergebnisse zur Theorie, insbesondere zu den marxistisch-leninistischen Bemühungen, auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft akzeptable Lösungsvorschläge für die theoretischen Fragen der verschiedenen sprachlichen Ebenen, der phonologischen, syntaktischen und semantischen, für die weitere Diskussion zu unterbreiten. Diese Ergebnisse werden überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, denn sonst könnten wir uns die Stellung von Katz zur Theorie nicht erklären. „Beispielsweise vermögen wir immer noch nicht mit Genauigkeit zu sagen", schreibt Katz, „was eine wissenschaftliche Theorie ist, was für Erklärungen von empirisch erfolgreich arbeitenden Theorien zu erhalten sind, worin sich Theorien von Gesetzen unterscheiden, was Gesetze sind oder wie Gesetze und Theorien durch Evidenz bestätigt werden. Somit sind wir recht weit von einem vollen Verständnis dieser Begriffssysteme als Gegenstand theoretischer Untersuchungen entfernt." 9 Nimmt man die Evidenz als das vollkommenste Kennzeichen eines Wahrheitskriteriums, wie dies bereits Husserl mit seiner Methode der „Wesensschau" versuchte - Evidenz hält Husserl für das unmittelbarste Innewerden der Wahrheit 'selbst dann wird alles Sein seinem Wesen nach Bewußt-Sein oder Inhalt eines ,reinen' Bewußtseins, dessen wir uns unabhängig von seinem erfahrungsmäßigen Gegebensein unmittelbar bewußt sein könnten. Im letzten Grunde beruht also jede echte und speziell jede wissenschaftliche Erkenntnis auf Evidenz, und so weit die Evidenz reicht, so weit reicht auch der Begriff des Wissens." 10 Alle Versuche, die Wahrheit in der Evidenz zu begründen, müssen letzten Endes zur Leugnung der Erkennbarkeit der Welt und damit in den Irrationalismus führen. Kein Evidenztheoretiker kann uns sagen, ob es auch eine falsche Evidenz geben könne und wie diese sich von der richtigen unterscheide. Auch die allgemeine Übereinstimmung als Kriterium für die Wahrheit sowie die Evidenz kann uns aus dem Subjektivismus nicht herausführen, sondern einzig und allein durch die Hinwendung zur objektiven Realität sowie durch die Überprüfung unserer Erkenntnisse in der gesellschaftlichen Praxis ist es möglich, auch in der zweifelsohne komplizierten Problemat'k der Universalien zu brauchbaren Ergebnissen zu 8 9 10

J. D. Katz, Die Philosophie der Sprache, Frankfurt a. M. 1969, S. 17. Ebenda. E. Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I, Prolegomena zur reinen Logik, Halle 1900, S. 13-14.



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gelangen. Die fundamentale These von Chomsky und Katz, „daß die Sprachtheorie überzeugende Gründe für die Akzeptierung der Behauptung des Rationalismus liefert, daß es angeborene Ideen gibt" 11 ist unhaltbar. Diese sogenannten angeborenen Ideen werden mit den sprachlichen Kategorien in Zusammenhang gebracht. Es gibt aber keine Vererbung von Ideenformen, sondern nur eine Weitergabe von gesellschaftlichen Erfahrungen durch die gesellschaftliche Tätigkeit des Menschen, ohne die gesellschaftliche Arbeit unmöglich ist. Diese Ebene der gesellschaftlichen Bezogenheit von Sprache und Gesellschaft fehlt bei Chomsky und Katz völlig, so daß die Sprache und ihre allgemeinen und damit universellen Eigenschaften zu einem mystischen Schöpfungsprodukt werden, das jede gesellschaftliche Determiniertheit bezüglich des Zusammenhanges von Sprache und Gesellschaft weit von sich weist. „Besonders im Fall der Sprache ist es natürlich, eine enge Beziehung zwischen angeborenen Eigenschaften des Geistes und Merkmalen sprachlicher Struktur zu erwarten, denn die Sprache hat schließlich keine eigene Existenz unabhängig von ihrer mentalen Repräsentation." 12 Diese irrationalistische Position mußte sich auf die konkrete sprachwissenschaftliche Forschung als außerordentlich hemmend erweisen. Die Hypothese von der sogenannten Angeborenheit von Ideen wird auf die sprachliche Ebene übertragen, das heißt von angeborenen philosophischen oder logischen Universalien wird auf linguistische Universalien übergegangen und eine angeborene Struktur postuliert, die reich genug sei, die Divergenz zwischen Erfahrung und Wissen zu erklären, „eine Struktur, die die Konstruktion empirisch gerechtfertigter generativer Grammatiken innerhalb der gegebenen Beschränkung in bezug auf die Zeit und den Zugang zu Daten erklären kann" 13 . Diese generative Grammatik stützt sich auf die mit den angeborenen allgemeinen, universalen Elementen verbundenen Prinzipien, „welche Tiefen- und Oberflächenstruktur unterscheiden und die Klasse der transformationellen Operationen festlegen, die sie verbinden" 14 . Die Tiefenstruktur eines Satzes, die die Bedeutung zum Ausdruck bringe, sei allen Sprachen gemeinsam, da sie einfach eine Reflexion der Form des Gedankens darstelle. Die Oberflächenstruktur sei die oberflächenmäßige Organisation von Einheiten, die die phonetische Interpretation bestimme und sich auf die physische Form der aktuellen Äußerung beziehe, auf ihre wahrgenommene oder beabsichtigte Form. Hier zeigt es sich dann deutlich, daß grammatische und logisch-erkenntnistheoretische Ebene verwechselt werden. Wir sehen keine Möglichkeit, zwischen grammatischen und logischen Strukturen eine direkte Vermittlung herzustellen. Angeführte Beispiele, zum Beispiel der Satz: „Le Dieu 11 12

13 14

J. D . Katz, Die Philosophie der Sprache, a. a. O., S. 171. N. Chomsky, Sprache und Geist. Mit einem Anhang Linguistik und Politik, Frankfurt a. M. 1970, S. 155. Ebenda, S. 131. Ebenda, S. 119; vgl. N. Chomsky, Cartesianische Linguistik. Ein Kapitel in der Geschichte des Rationalismus, a. a. O., S. 45 ff.

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invisible a créé le monde visible" 15 , beweisen, daß Chomsky zur Erklärung der Tiefenstruktur mit logischen (der hier angeführte Satz enthält drei Aussägen, von denen jede ein bestimmtes einfaches Urteil ausdrückt) und zur Interpretation der Oberflächenstruktur mit linguistischen Kategorien (Subjekt-Attribut-Struktur) operiert. Der Tiefenstruktur liegen also Aussagen, Urteile zugrunde. Chomsky stützt sich auf die spekulative Grammatik von Port-Royal, um von da zu begründen, daß die Tiefenstruktur allen Sprachen gemeinsam sei, nämlich als Reflexion des Gedankens. Aber die Tatsachen zeigen uns, daß es die Gesetze des logischen Denkens sind, die universellen Charakter besitzen. Die Mittel zur Realisierung dieser logischen Operationen weichen jedoch in sprachlicher Hinsicht erheblich voneinander ab. Man stellt sich unwillkürlich die Frage, warum Chomsky und Katz zwischen den hier skizzierten linguistischen Fragen und ihren politisch-ideologischen Intentionen einen direkten Bezug herstellen. Ein genaues Studium ihrer Arbeiten zeigt uns, daß Grundfragen der Sprachtheorie immer mit einer weltanschaulichphilosophischen und einer politischen Position zusammenhängen. So ist es, wie wir bereits gesagt haben, zum Beispiel nicht zufällig, daß Chomsky zur Begründung seiner Position die schwächsten Seiten des Cartesianismus übernimmt, nämlich die bei Descartes und Arnauld anzutreffende Lehre von den angeborenen Ideen, den Apriorismus. Von Cordemoy wird die Kreativität als mystische Größe entlehnt: „Nun habe ich das Gefühl, daß die wichtigste menschliche Fähigkeit die Fähigkeit zu und der Wunsch nach kreativer Selbstäußerung, nach freier Kontrolle aller Aspekte unseres Lebens und Denkens, ist. Eine besonders entscheidende Verwirklichung dieser Fähigkeit ist der kreative Sprachgebrauch als freies Werkzeug des Denkens und des Ausdruckes . . . Ich glaube, wahre Kreativität bedeutet ein freies Handeln innerhalb des Rahmens eines Regelsystems . . . Nur in einer Kombination von Freiheit und Zwang stellt sich die Frage der Kreativität. Die Tatsachen lassen mich vermuten und mein Vertrauen in die Menschlichkeit läßt mich hoffen, daß es angeborene geistige Strukturen gibt. Gibt es sie nicht, sind die Menschen nur knetbare und zufällige Organismen, dann sind sie geeignete Objekte einer Verhaltenskontrolle von außen." 16 Mit dieser Irrationalisierung der Kreativität, der Freiheit und des freien Handelns wird die Theorie des Individualismus, des Voluntarismus, vertreten, welche in diametralem Gegensatz zur marxistisch-leninistischen Auffassung vom historischen Determinismus, der historischen Mission der Arbeiterklasse und der führenden Rolle der marxistisch-leninistischen Partei in diesem sich objektiv vollziehenden Prozeß, steht. Kein Marxist bestreitet, daß die Sprache eine komplizierte Struktur besitzt (Phonetik, Morphologie, Syntax und Semantik) und daß eine Vielfalt von Merkmalen und ihre Verschiedenheit für die Sprache als Erscheinung der Realität typisch 15

16

N . Chomsky, Cartesianische Linguistik. Ein Kapitel in der Geschichte des Rationalismus, a. a. O., S. 48. N . Chomsky, Sprache und Geist. Mit einem Anhang Linguistik und Politik, a. a. O., S. 183-184.

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sind.17 Es gibt auch nicht wenige ungelöste Probleme, zum Beispiel die Frage der Sprachklassifikation. Von großer methodologischer Bedeutung zur Lösung dieser zweifellos schwierigen Problematik dürften die folgenden Überlegungen von Marx sein: „Allein alle Epochen der Produktion haben gewisse Merkmale gemein, gemeinsame Bestimmungen. Die Produktion im allgemeinen ist eine Abstraktion, aber eine verständige Abstraktion, sofern sie wirklich das Gemeinsame hervorhebt, fixiert und uns daher die Wiederholung erspart. Indes dies Allgemeine, oder das durch Vergleichung herausgesonderte Gemeinsame, ist selbst ein vielfach Gegliedertes, in verschiedne Bestimmungen Auseinanderfahrendes. Einiges davon gehört allen Epochen; andres einigen gemeinsam. [Einige] Bestimmungen werden der modernsten Epoche mit der ältesten gemeinsam sein. Es wird sich keine Produktion ohne sie denken lassen; allein, wenn die entwickelten Sprachen Gesetze und Bestimmungen mit den unentwickelten gemein haben, so ist grade das, was ihre Entwicklung ausmacht, der Unterschied von diesem Allgemeinen und Gemeinsamen."18 Wenn wir als Grundlage die Wesenszüge einer Sprache nehmen, so versuchen wir zu erkennen, was ihr Spezifikum als Erscheinung ausmacht.19 Sprachliche Universalien wie Lautcharakter, Bilaterialität des sprachlichen Zeichens sowie kategoriale Merkmale - wie Wortklassen, Tempus, Modalität und Numerus bilden dann wesentliche Bausteine auf dem Wege zur Erkenntnis des gesetzmäßigen Zusammenhanges von Sprache und Gesellschaft. In seiner Arbeit „Über sprachliche Universalien" versucht B. A. Serebrennikov folgende Definition für sprachliche Universalien zu geben: „Sprachuniversalien sind einheitliche, isomorphe Verfahren zum Ausdruck systemimmanenter Korrelationen von Sprachelementen, oder sie sind ihrem Charakter nach monotype Prozesse mit gleichartigen Resultaten, welche mit genügend hohem Häufigkeitsgrad in den verschiedenen Sprachen der Welt auftreten."20 Nach Serebrennikov fallen somit alle Erscheinungen mit dem Merkmal der Allgemeingültigkeit und Absolutheit der Verbreitung - darunter auch die universalen „Begriffskategorien" - nicht unter den Begriff der Universalien. Linguistische Universalien sind als Erscheinungen besonderer Art zu untersuchen. Serebrennikov gibt eine kurze historische Skizze zur Frage der Suche nach den 17

18

19

20

Vgl. V. Jarzewa, Universalien als Grundlage der Sprachklassifikation, in: Gesellschaftswissenschaften, hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Moskau 2/1975, S. 119 (deutsche Ausgabe). K. Marx, Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 13, Berlin 1971, S. 617. Vgl. V. Jarzewa, Universalien als Grundlage der Sprachklassifikation, in: Gesellschaftswissenschaften, hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Moskau 2/1975, S. 123 (deutsche Ausgabe). B. A. Serebrennikov, O lingvistiieskich universalijach, in: Voprosy jazykoznanija (Moskva), 2/1972, S. 3.

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Universalien in der modernen Sprachwissenschaft. Diese gehe historisch auf . die von A. Schleichet begonnene Linie zurück, die von Curtius und Kors fortgesetzt (gleiche Geistesbedürfnisse rufen gleichartige Erscheinungen hervor) und von Passy, Grassery u. a. mit zahlreichen Beispielen illustriert wurde. Auch die Marrsche Stadientheorie entstand faktisch auf der Suche nach den Üniversalien. Hinsichtlich der Natur der Universalien vertritt Serebrennikov die Ansicht, daß die Existenz gleichartiger oder ähnlicher Erscheinungen in den Sprachen der Welt davon zeugt, daß in den Sprachen selbst Faktoren existieren, die die Entstehung ähnlicher Erscheinungen fördern. Jedes Universalium hat eine sprachliche Ur-. sache, die seine Existenz erklärt. Er stützt sich dabei auf W . D. Whitney's diesbezügliche Definition und weist mit T. S. Saradzenidse die sich auf R. Bacon berufenden Anhänger der Modelltheorie mit der Begründung zurück, daß verschiedene Kriterien eine sehr große Anzahl sich überschneidender typologischer Klassifikationen möglich machen. Im Gegensatz zu den Linguisten der Vergangenheit, die die diachronischen Universalien und die Implikationsuniversalien empirisch definierten, indem sie ihren hohen Häufigkeitsgrad und den offensichtlichen implikativen Zusammenhang zwischen den sprachlichen Erscheinungen fixierten, legten moderne Theoretiker der Universalien apriorisch fest, worin die Methode zur Aufdeckung der Universalien bestehen muß. Sie empfahlen die Aufstellung einer Sprachnorm als Grundlage der Beschreibung der verschiedenen Sprachen. Grundlage dieser Empfehlung ist das Bestreben, jedes linguistische Urteil durch Verwendung der sogenannten logischen Metasprache zu verifizieren. Hierin spiegelt sich das für den modernen Strukturalismus typische Prinzip wider, die lebenden Sprachen durch das Prisma der maximal formalisierten künstlichen Sprache, des Kodes, zu betrachten. Der Satz: Wenn ein Verb die Kategorien Person, Numerus und Genus hat, dann muß es auch die Kategorien Tempus und Modus haben, beruht auf der trivialen. Wahrheit: Wenn es in der Sprache ein Verb gibt, dann muß es zumindest zwei Modi haben - ein Indikativ und den Imperativ. Meist hat das Verb außerdem auch die Kategorien Person und Numerus. Jedoch zwischen solchen Kategorien wie Person, Numerus, Genus, Tempus und Modus gibt es keinen notwendigen implikativen Zusammenhang. Erst und allein die Erklärung der Ursache der Universalien führt zur eindeutigen Unterscheidung zwischen Universalien und Zufälligkeiten und eine zusätzliche Aufgabe der Bedingungen, unter denen die formulierte Implikation zutrifft, verhindert eine mechanische Anwendung der Universalien. Der Nutzen der Implikationsuniversalien für die linguistische Forschung besteht in der Möglichkeit der Rekonstruktion des gesamten Systems anhand bestimmter Gesetzmäßigkeiten. Die Frage der Universalien in der modernen Sprachwissenschaft erinnert an die Methode des bekannten Naturwissenschaftlers G. Cuvier, der den Organismus als geschlossenes System betrachtete, das auf dem Gesetz der Korrelation der Organe beruht. Demgemäß entspricht jeder Teil des Organismus seinen anderen Teilen hinsichtlich Bau und Funktion, und aus dem Vorhan-

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densein des einen Merkmals kann man sofort auf das Vorhandensein des anderen schließen. Die Grundthesen von Cuvier haben eine gemeinsame logische Struktur die Implikation. Jedoch die für die Tierwelt aufgestellten Implikationen sind bedeutend stärker gegenseitig bedingt und in höherem Maße zeitlich stabil als die Implikationen für den sprachlichen Bereich. So führt zum Beispiel der Kontakt zwischen den Sprachen oft zu einer Vermischung verschiedener typologischer Merkmale und damit zu einer Neutralisierung der implikativen Bindungen, so daß es trotz Berücksichtigung aller charakteristischen typologischen Merkmale bei logischen Schlüssen zu falschen Ergebnissen kommen kann. Besonders schwierig ist die Bestimmung der Universalien auf dem Gebiet der Lexik. Trotz dieser Einschränkungen ist der Nutzen der Universalien für historischvergleichende Untersuchungen bedeutend, wie zum Beispiel bei der Bestimmung der Richtigkeit von aufgestellten Hypothesen zum Ausdruck kommt. Es ist jedoch erforderlich, absolut universelle Erscheinungen in der Sprache aus der Bestimmung der linguistischen Universalien anzuschließen. „Absolute universelle Eigenschaften schaffen an und für sich noch keine Typologie, da der Begriff der allgemeinen Universalität selbst den Begriff der Typenvariabilität ausschließt. So erlaubt es die These: ,In jeder Sprache gibt es Vokale und Konsonanten' nicht, irgendwelche Typen auszusondern. Sogar die gesetzmäßigen Verfahren für den Ausdruck von Begriffskategorien in den verschiedenen Sprachen der Welt können nur durch die Untersuchung der typologischen Implikationsuniversalien aufgedeckt werden. Die linguistischen Universalien, die die verschiedensten Typen sprachlicher Einheitlichkeit zum Ausdruck bringen, sind typologische Begriffe. Deshalb ist ihre Erforschung von großer theoretischer Bedeutung." 21 Es ist zweifellos ein wichtiges wissenschaftliches Anliegen, die Bestandteile der Sprache zu klassifizieren. Doch eine Übertragung sprachlogischer Kategorien auf logische ist nicht unmittelbar möglich, wie der gegenwärtige Stand der Diskussion beweist. Y. Bar-Hillel hat auf dem 3. Internationalen Kongreß für „Logic, Methodology und Philosophy of Science" (Amsterdam 1967) keine andere Lösung in seinem Grundreferat „The role of formal logic in the evaluation of argumentation in natural languages" anbieten können, wenn er zu dem Ergebnis gelangt, daß, wenn bestimmte linguistische Entitäten gewisse Eigenschaften haben, dann andere linguistische Entitäten, die zu den ersten in bestimmten Beziehungen stehen, auch gewisse Eigenschaften haben. Da die entsprechenden Wahrheitsaussagen der Struktur- und Objektwissenschaften sich im allgemeinen nicht auf linguistische Entitäten der natürlichen Sprache, zum Beispiel auf Sätze, übertragen lassen, ist die formale Logik nicht direkt anwendbar auf die Argumentation in natürlichen Sprachen. Es wird die interessante Frage aufgeworfen, ob es eine natürliche Arbeitsteilung zwischen Logikern und Linguisten gibt, beispielsweise eine Teilung, derzufolge sich die Logiker mit der Universalsemantik und die Linguisten mit der idiosynkratischen Semantik (unter anderem) befassen sollten. « Ebenda, S. 16.

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Von dieser von Bar-Hillel vertretenen Auffassung über die Universalien hebt sich die von H. A. Weissmann in seinem Beitrag „On the concept of universals" vertretene Auffassung deutlich ab, der behauptet, daß sich der philosophische Begriff der Universalien, wenn überhaupt, dann nur auf negative Weise definieren lasse. Universalien seien solche Begriffe der Entitäten, die bezüglich ihrer Stellung in Zeit und Raum nicht definiert sind. Sie seien Erfindungen des menschlichen Gehirns, und als solche existieren sie nur vorübergehend. 22 Dies ist die neopositivistische Auffassung von den Universalien, die jegliche Beziehung zwischen Einzelnem, Besonderem und Allgemeinem in der objektiven Realität leugnet. Natürlich ist es richtig, wenn er Frege zitiert, daß Zahlen nicht in Raum und Zeit existieren. Aber die Interpretation ist entscheidend, das heißt die Frage, ob Zahlen Abstraktionsklassen aus der objektiven Realität sind. 23 Daß auf der weltanschaulichen und methodologischen Grundlage des subjektiven oder objektiven Idealismus das Universalienproblem als philosophisches Problem nicht gelöst werden kann, beweisen auch die Arbeiten von F. F. Ramsey: „The Foundations of Mathematic and other Logical Essays" (London 1931); N. Goodmann: „The Structure of Appearance" (Cambridge/Mass. 1951); N. Goodmann/W. V. Quine: „Steps Towards of a Constructive Nominalism" (Journal of Symbolic Logic, 1947, Bd. 12, Nr. 4) und I. M. Bochenski/A. Church,/ N. Goodmann: „The Problem of Universale" (Notre Dame 1956). Auch Bernard Harrison, der sich in jüngster Zeit in seinem Buch „Meaning and Structure: An Essay in the Philosophy of Language" mit großer Sachkenntnis mit der empiristischen Sprachtheorie auseinandersetzt, den Fragen von Bedeutung und Erkenntnis, Zeichen und Definition, Abstraktion und Grammatik, Namen und Gebrauch, Vagheit und Synonymie sowie den Problemen der sprachlichen Universalien und der Lerntheorie nachgeht, gelangt trotz seiner kritischen Haltung zu Chomsky zu keinem in weltanschaulicher und methodologischer Hinsicht befriedigenden Ergebnis. Er gibt die Einteilung von Chomskys Universalien in substantielle und formale wieder, kommt dann aber zu dem Ergebnis, daß damit doch nichts erklärt werden könne, da wir wenig über die Mechanismen des menschlichen Lernens wüßten. 24 Nach Harrison lernt das Kind mehr und mehr die Sprache der Erwachsenen, lernt zu klassifizieren. Es besteht keinerlei Grund, beim Kind angeborenes Wissen und die Fähigkeit vorauszusetzen, Klassifikationen vornehmen zu können, bevor die durch die Sprache ermöglichte Beachtungsfähigkeit einsetzt. Diese von

22

Vgl. H. A . Weissmann, On the concept of universals, in: Philosophy and Phenomenological Research, Den Haag 1 9 3 7 , Bd. XXVII, Nr. 2.

23

Vgl.

E.

Albrecht/G.

Czichowski/J.

Eichhorn,

Die

marxistisch-leninistische

Erkenntnis-

theorie und der Abstraktionsprozeß in der Mathematik, in: Lenin und die Wissenschaft, Bd. II, Lenin und die Naturwissenschaften, Berlin 1 9 7 0 , S. 1 8 3 - 1 9 8 . 24

Vgl. B. Harrison, Meaning and Structure. A n Essay on the Philosophy of Language, New Y o r k 1 9 7 2 , S. 2 9 4 .

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Harrison in seinen Arbeiten angeführten Tatsachen zu Fragen der Lerntheorie lassen erkennen, daß sich auch von der Sprachpsychologie her die Thesen Chomskys von den sprachlichen Universalien nicht halten lassen.25 Ähnliche Bedenken hatte schon Gerhard Heibig in seiner Arbeit „Geschichte der neueren Sprachwissenschaft unter dem besonderen Aspekt der GrammatikTheorie" in der Feststellung geäußert: „Ob die generative Grammatik tatsächlich eine weitgehende Entsprechung im Spracherlernungsprozeß beim Kinde und beim Menschen überhaupt hat und wieweit von angeborenen Eigenschaften zum Sprachenlernen gesprochen werden kann, bedarf sicher noch zahlreicher experimenteller Untersuchungen und Überprüfungen, für die nicht allein der Linguist, sondern vor allem der Sprachpsychologe kompetent sein dürfte." 26 Zwischen spekulativen Annahmen, wie wir sie bei Chomsky vorfinden, und wissenschaftlichen Fragestellungen, die eine Sprach- und Lerntheorie stellt, kann es meines Erachtens - und dies dürfte deutlich geworden sein - keine Beziehungen geben. Daß durch die Auffassung von Chomsky, Katz und Fodor die Einheit von Sprache, Denken und Wirklichkeit zerstört wird, konnten wir bereits in unserer Arbeit „Bestimmt die Sprache unser Weltbild? Zur Kritik der gegenwärtigen bürgerlichen Sprachphilosophie" (2. Aufl., Berlin 1974) nachweisen. Eine äußerst weite Fassung des Universalienproblems finden wir bei V. F. Lobas, der davon spricht, daß die natürliche Sprache neben der Vieldeutigkeit (die bereits als universelles Merkmal aufgefaßt wird) auch andere universelle (allgemein menschliche) Besonderheiten besitze. Zu diesen Besonderheiten gehöre der geringe Umfang an Phonemen (10 bis 80), was für alle Sprachen der Welt zutrifft. Außerdem werde von der ganzen Menge der Möglichkeiten, die dem Sprachapparat des Menschen zur Verfügung stehen, in den Lautsystemen der verschiedenen Sprachen nur eine begrenzte Anzahl genutzt: etwa 12 grundlegende Lautunterscheidungen (wie die Unterscheidung zwischen stimmlosen und stimmhaften, weichen und harten Konsonanten, nasalen und nichtnasalen Vokalen und dergleichen mehr). Ebenso werde von der ganzen Menge der möglichen grammatischen Kategorien in der Mehrzahl der Sprachen nur eine geringe Anzahl sehr ähnlicher Formen verwendet - wie Substantiv und Verb, Numerus, Kasus usw.:,, Sichtlich kann man bei allen menschlichen Sprachen das Vorhandensein gemeinsamer Eigenschaften voraussetzen, die es einem polyglotten Menschen erlauben, alte und tote Sprachen mit zunehmender Geschwindigkeit zu erlernen, und dem modernen Wissenschaftler die Grammatik jeder toten Sprache, von der Texte in ausreichendem Umfang erhalten geblieben sind, zu dechiffrieren. Natürlich ist vorauszusetzen, daß allgemeine Eigenschaften des zentralen Nervensystems des Menschen zusammenhän25 26

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Ebenda, S. 296. G. Heibig, Geschichte der neueren Sprachwissenschaft. Unter dem besonderen Aspekt der Grammatik-Theorie, Leipzig 1970, S. 309. Vgl. G. Heibig, Zur Applikation moderner linguistischer Theorien im Fremdsprachenunterricht, in: Deutsch als Fremdsprache, Leipzig 1969, Heft 1.

gen, welche genetisch übertragen werden. Gerade deshalb kann ein Kind jede Sprache mit gleicher Leichtigkeit lernen." 27 Mit der letzten These kann man völlig einverstanden sein. Zur Zeit wird stark; diskutiert, ob man die Phoneme zu den sprachlichen Universalien zählen kann. Sind diese nicht vielmehr Voraussetzungen für eine sprachliche Kommunikation? Sicherlich könnte man das Universelle an der Sprache auf die von V. F. Lobas zuletzt genannten allgemeinen Eigenschaften beschränken, nämlich auf die durch das zentrale Nervensystem bedingte Sprachfähigkeit, wie Pawlow durch seine Lehre von der Sprache als dem zweiten Signalsystem bereits nachgewiesen hat. Sowjetische Forscher, insbesondere Poliakov und seine Mitarbeiter im neurophysiologischen Laboratorium der Akademie der Wissenschaften der UdSSR haben sich eingehend mit der Erforschung der Ontogenese beschäftigt und nachgewiesen, daß diejenigen Regionen des Cortex, die offenbar einen wesentlichen Teil der Grundlagen des zweiten Signalsystems des Menschen konstituieren (die Gehirnmechanismen des Sprechens, des Denkens und der Arbeit), ihren Entwicklungszyklus später als alle übrigen Regionen beenden, und zwar auf der Basis bereits ausgebildeter Systeme von kortiko-subkortikalen und kortiko-kortikalen Verbindungen, die die Fähgkeit des Kindes gewährleisten, auf die ersten Signale der Außenwelt zu reagieren. 28 Bedeutende Ergebnisse hat auch Eric H. Lenneberg in seiner Arbeit „Biologische Grundlagen der Sprache" (Frankfurt a. M. 1972) vorgelegt. E r bemüht sich um den Nachweis, daß das verbale Verhalten mit einer großen Anzahl von morphologischen und funktionalen Spezialisierungen in Beziehung steht. Auch vertritt er eindeutig den Standpunkt, daß eine nichtmenschliche Art nicht die Fähigkeit besitzt, auch nur die primitivsten Stufen der Sprachentwicklung zu erreichen. Seiner These, daß sich jede Sprache auf die gleichen universellen Prinzipien der Semantik, Syntax und Phonologie gründe, kann nicht zugestimmt werden. Kann man wirklich ernsthaft davon sprechen, wie Lenneberg es tut, daß alle Sprachen in ihrer Syntax einige grundlegend formale Eigenschaften aufweisen? Beweise, die überzeugend wären, liegen bisher nicht vor. Richtig ist natürlich die These Lennebergs, daß die Sprache und ihre Komplexität von rassischen Verschiedenheiten unabhängig ist. Wertvoll sind auch Lennebergs Untersuchungen hinsichtlich der Frage, ob Evolution und Genetik für die allgemeine Erforschung des verbalen Verhaltens relevant sind. E r stellt die Frage, ob der Nachweis einer Sprachstörung auf genetischer Basis auch ein Beweis für die genetische Sprachfähigkeit sei und antwortet: „Vielleicht ist dies der Fall, aber es wird noch mehr Arbeit zu leisten 27

28

V. F. Lobas, Effektivnost' jazyka v processe kommunikacii, in: Filosofskie nauki (Moskva), 4/1973, S. 49. Vgl. G . I. Poliakov, Some results of research inte the development of the neuronal structure of the cortical ends of the analyzers in man, in: J . com. Neurol., Jahrg. 9, New York 1961, S. 117, 197-212, zitiert nach: Neue Perspektiven in der Erforschung der Sprache, hrsg. von Eric H. Lenneberg, Frankfurt a. M. 1972, S. 27; vgl. weiter M. Kolzova, Ree', in: Malen'kaja medicinskaja enciklopedija, Bd. 9, Moskva 1968, S. 102 ff.

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sein, bevor wir relativ sicher sein können. In jedem Fall scheinen Evolution und Genetik für eine allgemeine Erforschung des verbalen Verhaltens relevant zu sein."29 Die Frühphase der Entwicklung der Sprachmechanismen beim Individuum wurde auch von Leonhard Carmichael untersucht. Er führt den Nachweis, daß in dem Maße, wie die Evolution weiter voranschreitet, immer spezialisiertere und kompliziertere Informationseinheiten, die im Leben der Individuen von biologischer Signifikanz sind, von einem Organismus zum anderen übertragen werden. Carmichael spricht von „Informationskommunikation", die bereits im Lebensfeld von Tieren, die unter den Wirbeltieren stehen, benutzt werden. Sie zeigen die biologische Nützlichkeit verschiedenartiger Formen von Signalen. An konkreten tierischen Lautäußerungen wird der Unterschied zwischen wirklichem menschlichen Sprechen und dem bloßen Hervorbringen von Lauten illustriert. Tierischen Lautsignalen wird „Bedeutung" in einem gewissen Sinne zugeschrieben. Derartige Lautäußerungen werden als Vorstufen angesehen, die dem echten, voll entwickelten bedeutungstragenden Sprechen des Menschen vorausgehen, um jedoch Verwechslungen zu vermeiden, nicht als echtes Sprechen betrachtet. Trotz der Kritik am biogenetischen Grundgesetz oder der Rekapitulationstheorie als Erklärungsprinzip des menschlichen Wachstums wird ein Parallelismus zwischen dem Wachstum der Fähigkeit zu verschiedenen Formen der Kommunikation in der Entwicklungsreihe der Tiere und der ontogenetischen Entwicklung jedes menschlichen Individuums konstatiert. 30 Diese außerordentlich bedeutsamen und oft vernachlässigten neurophysiologischen Grundlagen der Sprache und damit auch des Sprechens dürfen aber nicht, wie zum Beispiel bei Arnold Gehlen, zu einem Biologismus in der Betrachtung der Sprache führen. 31 D a ß selbst führende Biologen, die nicht auf dem Boden des dialektischen und historischen Materialismus stehen, die biologisch-anthropologische Denkweise ablehnen, auch gerade in der Frage des Ursprungs der Sprache, zeigt uns die Arbeit von Theodosius Dobzhansky „Dynamik der menschlichen Evolution. Gene und Umwelt", in der es heißt: „Obgleich die Fähigkeit, eine jede Sprache zu erlernen, genetisch bedingt ist (Idiotie, von der bestimmte Formen genetisch bedingt sind, ist eigentlich definiert als die Unfähigkeit, eine Sprache zu sprechen oder zu verstehen), wird die besondere Sprache, die wir lernen, uns durch die Kultur, in der wir aufwachsen, mitgegeben. Der Leser dieses Buches könnte ebensogut chinesisch sprechen oder Kisuaheli, wenn er in Peking oder Sansibar aufgewachsen 29

E. H. Lenneberg, Die Sprache in biologischer Sicht, in: Neue Perspektiven in der Erforschung der Sprache, hrsg. von E. H. Lenneberg, Frankfurt a. M. 1972, S. 85.

30

Vgl. L. Carmichael, Das frühe Wachstum der Sprachfähigkeit beim Individuum, in: Neue Perspektiven in der Forschung der Sprache, hrsg. von E. H. Lenneberg, Frankfurt a. M. 1972. Vgl. A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 9. Aufl., Frankfurt a. M. 1971.

31

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wäre. Sprachliche Unterschiedlichkeit ist ein gutes Beispiel einer Verschiedenheit, die auf der Umwelt beruht . . . Beim Vergleich einiger SAE-Sprachen (Standard Average European - E. A.) untereinander hat man zum Beispiel nachgewiesen, daß, da die englische und die russische Sprache die Tempora ihrer Verben verschieden gebrauchen, die Sprecher von Englisch und Russisch verschiedene Begriffe von Zeit, Dauer und Werden haben müssen. Dies scheint, um das Mindeste zu sagen, zweifelhaft: Es gibt keinen Begriff oder Gedanken, der, in einer SAESprache formulierbar, es nicht auch in einer anderen wäre, obgleich dies möglicherweise eine Umschreibung erfordert. Das heißt nicht, die jedem Übersetzer wohlbekannte Tatsache leugnen, daß auf den ersten Blick einander entsprechende Wörter in verschiedenen Sprachen häufig unterschiedliche Bedeutungsfelder abdecken und daß eine Sprache im Hinblick auf bestimmte Begriffe merkwürdige Lücken aufweisen kann. So hat das Russische kein Wort für das englische ,efficiency', während das Englische kein genau entsprechendes Wort für das russische ,ooiut' oder das deutsche ,Gemüt' hat (.Coziness' und ,snugness' kommen am nächsten, aber geben es nicht ganz wieder). Aber es würde naiv sein, den Schluß zu ziehen, daß die Sprecher des Russischen .efficiency' nicht verstehen könnten, oder daß die Sprecher des Englischen nicht ,ooiut' oder ,Gemüt' zu erfassen vermöchten."32 Das Spezifische, Unwiederholbare, Nichzusammenfallen einiger konkreter Nuancierungen der Erkenntnis der Welt durch jedes Volk unter spezifischen Bedingungen des Klimas, der Flora und Fauna und die entsprechende sprachliche Wiedergabe durch Wörter dürfte nicht gegen die von Dobzhansky vertretene These sprechen, sondern direkt dafür. Die allerdings auch von Th. Dobzhansky aufgestellte Hypothese, daß sich in den jeweiligen Sprachen genetisch bedingte Unterschiede zwischen den Denkweisen verschiedener Menschengruppen widerspiegeln, hält einer Kritik nicht stand, wie bereits aus unserer Darstellung der weltanschaulichen und methodologischen Aspekte in der Beziehung von Sprache und Denken hervorgegangen sein dürfte. So wie eine rein biologische Begründung linguistischer Universalien sich als unhaltbar erwiesen hat, so können auch die Unterschiede in den Denkweisen der Menschen nicht biologisch begründet werden. Die allgemeinen Gesetze des menschlichen Denkens, sowie die allgemeinen Eigenschaften natürlicher Sprachen sind durch ihre kommunikativ-kognitive Funktion und durch die Struktur und Funktion des menschlichen Organismus im Hinblick auf die Sprachproduktion und -rezeption gesellschaftlich determiniert. 32

Th. Dobshansky, Dynamik der menschlichen Evolution. Gene und Umwelt, Hamburg 1965, S. 94-96.

V . KAPITEL

Sprachkultur, Grammatik und Logik

Weltanschauliche, erkenntnistheoretische und methodologische Fragen sind nicht nur für den von uns behandelten Zusammenhang von Sprache und Denken sowie für das Universalienproblem von zentraler theoretischer Bedeutung, sondern auch für die Klärung aktueller praktischer Fragen, die mit der kommunikativen Tätigkeit des Menschen zusammenhängen. Hierzu gehört die Untersuchung des Zusammenhangs von Sprachkultur, Grammatik und Logik sowie von Sprache und Klassenkampf. Ein außerordentlich reiches Material für diese Thematik liefern uns Marx, Engels und Lenin. Es ist beim Studium der Werke und des Briefwechsels der Klassiker des Marxismus-Leninismus immer wieder beeindruckend, mit welcher Schärfe sie gegen logische und sprachliche Schnitzer und damit auch gegen jegliche „Verhunzung"1 der Muttersprache auftraten. Es sei hier nur auf den Aufsatz W. I. Lenins aus dem Jahre 1919 „Über die Säuberung der russischen Sprache (Gedanken in der Mußezeit, d. h. beim Anhören von Reden in Versammlungen)" verwiesen, in dem es heißt: „Wir verderben die russische Sprache. Fremdwörter gebrauchen wir ohne Grund und gebrauchen sie falsch. Wozu muß man .Defekte' sagen, wenn man Unzulänglichkeiten oder Mängel oder Fehler sagen kann? Natürlich, wenn jemand, der erst vor kurzem überhaupt lesen und insbesondere Zeitungen lesen gelernt hat, darangeht, sie eifrig zu lesen, so eignet er sich unwillkürlich Redewendungen aus den Zeitungen an. Gerade die Zeitungssprache aber beginnt bei uns ebenfalls zu verderben . . . Ist es nicht an der Zeit, der Verhunzung der russischen Sprache den Krieg anzusagen?" 2 Der Reichtum der Rede muß erzogen, entwickelt, gebildet werden, wie wir in völliger Übereinstimmung mit dem bekannten sowjetischen Philosophen W. P. Tugarinov besonders hervorheben möchten. „Das geschieht durch die Lektüre wissenschaftlicher und künstlerischer Literatur und der Poesie, durch das Studium der Volkssprache, die Perlen der verbalen Ausdrucksfähigkeit in sich birgt, durch die Erziehung zum Gefühl für die Sprache, für die feinen Bedeutungsnuancen und für die Bedeutungsunterschiede verschiedener Begriffe. Die falsche Vorstellung, daß die gute Kenntnis eines Gegenstandes für seine gute Darlegung aus1

2

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Vgl. W . I. Lenin, Über die Säuberung der russischen Sprache, in: Werke, Bd. 30, Berlin 1974, S. 288. Ebenda, S. 288.

reicht, ist die Ursache dafür, daß einige unserer Wissenschaftler die Kultur der Sprache vernachlässigen, und bedingt die Trockenheit und die mangelnde Ausdruckskraft vieler Vorlesungen und Bücher. Einer solchen Meinung liegt die Isolierung des Begriffes von seinem verbalen Ausdruck, der Form vom Inhalt, und die Vernachlässigung der Einheit von Denken und Sprache zugrunde. Diese Einheit wird in einigen Fällen von dem Zurückbleiben des sprachlichen Ausdrucks des Gedankens hinter dem Gedanken selbst und in anderen Fällen umgekehrt von dem Zurückbleiben des Gedankens hinter der Sprache abgeleitet. Die Sprache, die ein Ausdruck der jahrhundertelangen Erfahrung des Volkes ist, ist oft ,klüger' als der Gedanke. Wenn es in der Sprache verschiedene Termini gibt, die ein und dieselbe Bedeutung zu haben scheinen, dann kann man davon überzeugt sein, daß es in ihnen feine Bedeutungsunterschiede gibt." 3 Wenn wir dann den Zusammenhang von Bewußtsein, Gedanken und Sprache näher zu erfassen versuchen, haben wir auch den unmittelbaren Zugang zur Problematik von Sprache/Grammatik und Logik bereits erfaßt. Mit dem begrifflichen Denken und der mit ihm verbundenen artikulierten Rede entstehen auch das wertende Denken sowie der zielgerichtete Charakter des Denkens und Verhaltens, also theoretische und praktische Fragen der Sprachkultur. Wenn das Bewußtsein begrifflich-geistige Tätigkeit als Wesenselemente involviert und die bewußte Tätigkeit als Tätigkeit auf der Grundlage klarer, das heißt definierter Begriffe über den Gegenstand (Tugarinov) aufgefaßt wird, dann kann es kaum noch Zweifel über Zusammenhänge von Sprache/Grammatik und Logik geben. Zweifel in dieser Hinsicht gibt es vorwiegend in Kreisen, die aus philosophischweltanschaulichen Gründen jeglichen Zusammenhang von Sprache und Denken bestreiten, wie zum Beispiel R. W. Langacker: Analyzing the relation between language and thought is a bit like trying to embrace a cloud. 4 Doch schon bei den Verfassern der berühmten Grammatik von Port-Royal, bei Arnauld und Lancelot, lesen wir: „ D i e Grammatik ist eine Kunst zu sprechen. Sprechen heißt, seinen Gedanken mittels Zeichen auszudrücken." 5 D a ß die Logik in ihrer klassischen Form, also die moderne formale Logik und die verschiedenen neuen Gebiete der formalen Logik (deontische Logik, Kreativität, Modallogik usw.) heute immer stärker auch in das Blickfeld der praktisch tätigen Linguisten, der Lektoren, Journalisten und Sprachlehrer tritt, zeigt uns eine Äußerung von Horst Beyer, „Sprachkultur umfaßt, auf den einfachsten Nenner gebracht, die Normen und das Niveau sprachlichen Umgangs, wie sie unserer sozialistischen Gesellschaft gemäß sind und mehr und mehr zum 3 4

5

W. P. Tugarinow, Philosophie des Bewußtseins. Gegenwartsfragen, Berlin 1974, S. 61. R. W. Langacker, Semantic représentations and the linguistic relativity hypothesis, in; Foundations of Language, Bd. 14, Nr. 3, Dordrecht-Boston (USA) 1976, S. 355. A. Arnauld/C. Lancelot, Grammaire Générale et Raisonnée contenant les fondements de l'art de parler, expliqués d'une manière claire et naturelle; les raisons de ce qui est commun à toutes les langues & des principes différences qui s'y rencontrent; et plusieurs remarques nouvelles sur la langue francoise, Paris 1660, S. 6.

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Besitz des ganzen Volkes werden. Dazu gehört grammatische und orthographische Korrektheit ebenso wie die stilistische Angemessenheit der Äußerung, dazu gehört Klarheit des Denkens wie die präzise, verständliche Formulierung, gehören Gepflegtheit und Ausdrucksfülle des Sprachgebrauchs, Überzeugungskraft und vieles andere mehr - kurz all das, was die gesellschaftliche Wirksamkeit der Sprache ausmacht. Es handelt sich um ein Stück sozialistischer Lebensweise."6 Präzise und verständliche Formulierungen bilden die Voraussetzung für die Klarheit des Denkens, wobei wir unter klar und deutlich (lat.: clarus et distinctus) nach Descartes eine Erkenntnis verstehen, „die dem aufmerksamen Verstände gegenwärtig und offen ist und von allen anderen Erkenntnissen eindeutig unterschieden und abgegrenzt wird. Klar bedeutet im allgemeinen einsichtig, vollbewußt, eindeutig erkannt, und das wird im allgemeinen als Ausmaß der Klarheit einer Erkenntnis aufgefaßt." 7 Eindeutig erkannt kann natürlich nicht absolut erkannt bedeuten, was schon daraus folgt, daß die formale Logik in der dialektischen Methode als Forschungsinstrument inbegriffen ist. (Vgl. Albrecht, Kondakov, Loeser, Narski, Synowiecki u. a.) Es gibt noch viele offene Fragen in dem Verhältnis von formaler Logik und dialektischer Methode, so wie es auch noch zahlreiche ungeklärte Fragen in den Beziehungen von Grammatik und Logik gibt. Nichtsdestoweniger wird man so extreme Standpunkte, wie zum Beispiel die Logisierung der Grammatik und damit der Sprache sowie die Psychologisierung der Sprache, nicht teilen können.8 Während in der Schule von Port-Royal die Grammatik in völliger Abhängigkeit von der Logik betrachtet und in den Arbeiten von Steinthal und Lazarus die Grammatik in eine enge Beziehung zur Psychologie gebracht und die Warnung ausgesprochen wurde: „Grammatica cave logicam!", sind wir durch die Arbeiten von J. St. Mill (1806-1873), G. Frege (1848-1925) und B. Russell (1872-1970) heute in der Lage, die Beziehungen von Grammatik und Logik plausibel darzustellen. J. St. Mill formulierte - und er knüpfte hier an Traditionen an, die bis zu Aristoteles, Leibniz und Condillac reichen - , daß mit der Grammatik die Analyse des Denkprozesses beginn*: „Die Prinzipien und Regeln der Grammatik sind die Mittel, durch die die Formen der Sprache in Korrespondenz zu den universalen Formen des Denkens treten. Die Unterschiede zwischen den Redeteilen, zwischen den Kasus der Nomina, den Modi und Tempora der Verben, den Funktionen der Partikel, sind Distinktionen im Denken, nicht nur in Wörtern . . . Die Struktur jedes Satzes ist eine Lektion in Logik."9 Auf Aristoteles, Leibniz, Locke und Condillac geht die Auffassung zurück, daß 6

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H. Beyer, Sprachkultur als verlegerische Aufgabe, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel (Leipzig), 29/1976, S. 583 f. Philosophisches Wörterbuch, 17. Aufl., hrsg. von G. Schischkoff, Stuttgart 1965, S. 315. Vgl. E. Albrecht, Sprache und Philosophie, Berlin 1975, S. 222 ff. J. St. Mill, Rektoratsrede in St. Andrews, 1867, zitiert nach O. Jespersen, The Philosoph? of Grammar, London 1963, S. 47.

die Wörter Zeichen unserer Ideen sind. Daher müsse das System der Sprachen auf dem System unseres Wissens beruhen: „Demzufolge kann man die Einteilung der Wörter in verschiedene Klassen damit erklären, daß die Gedanken ebenfalls zu verschiedenen Klassen gehören. D i e Wörter sind untereinander nach denselben Prinzipien verknüpft, wie die Ideen im Prozeß des Denkens miteinander verknüpft sind . . . Ich betrachte die Grammatik als den ersten Teil der Kunst zu denken. U m die Gesetze der Sprache zu finden, muß man Beobachtungen darüber anstellen, wie wir denken, und muß diese Gesetze bei der Analyse des Denkens aufdecken." 1 0 Ausgehend von einer grundsätzlich ontologisch orientierten Position gelangt B . Russell zu der Auffassung, daß der substantiell-attributive Charakter der objektiven Realität in der Ontologisierung der Subjekt-Prädikat-Struktur von grammatischen Sätzen ihren Ausdruck finden. Präziser wäre wohl die Formulierung, daß solche Seiten der objektiven Realität - wie Dinge, Eigenschaften und Relationen - auch in der sprachlichen Struktur ihren Ausdruck finden, wenn man eben von dem hier charakterisierten Zusammenhang von Sprache und Denken ausgeht. D e n Subjektivismus Russells, daß den Empfindungen etwas objektiv Reales nicht entspreche, können wir nicht teilen. Wir halten auch eine Verabsolutierung der Sprache - insbesondere der Syntax - für falsch, wie sie heute noch in bürgerlichen Darstellungen zur Linguistik, Logik und Philosophie zu finden sind, so beispielsweise in der 19. A u f l a g e des „Philosophischen Wörterbuches" (Stuttgart 1974), wo es heißt: „ D e r Wortschatz einer Sprache zeigt an, was ein Volk denkt, die Syntax zeigt an, wie es denkt. D a die Sprache objektiver Geist ist, charakterisiert sie ein Volk am genauesten . . . Wenn in der slawischen Sprache das Hilfszeitwort ,sein' eine geringere Rolle spielt, als etwa in den romanischen und germanischen, so zeigt das, daß das Seinsproblem, vor allem das Problem der Realität, sich den slawischen Völkern doch nicht in der Schärfe stellt, wie den romanischen und germanischen." 1 1 D a ß die Syntax, trotz historisch bedingter Unterschiede in der Wahl der sprachlichen Mittel bei den einzelnen Völkern und Nationen, hinsichtlich der logischen Bezüge keine Unterschiede zwischen den Völkern aufweist, beweist die Tatsache, daß die Denkgesetze der formalen Logik allgemein menschlich sind. 1 2 Auch die Auffassung von der Rolle des Hilfszeitwortes „sein", das in den slawischen Sprachen eine angeblich geringere Rolle als in den romanischen und germanischen Sprachen spiele, hält einer ernsthaften Kritik nicht stand, da das Hilfszeitwort „sein" in den slawischen Sprachen implizit stets in entsprechenden Sätzen

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E. B. Condillac, La Grammaire, Paris 1775, zitiert nach der Ausgabe von 1798, S. 31 und 118. Philosophisches Wörterbuch, 19. Ausg., hrsg. von G. Schischkoff, Stuttgart 1974, S. 623. VgL E. Albrecht, Bestimmt die Sprache unser Weltbild? Zur Kritik der bürgerlichen Sprachphilosophie der Gegenwart. 2. Aufl., Berlin-Frankfurt a. M. 1974, S. 102 ff. Albtccht

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enthalten ist und auch expliziert werden kann. Es sei hier auf die Akademie-Grammatik der russischen Sprache verwiesen.13 Mit einer derartigen Kopula-Konzeption sind extrem chauvinistische Ziele und damit eine unwissenschaftliche Orientierung verbunden. Diese Konzeption hat ihren Ursprung bereits in der Schrift von L. Weisgerber „Muttersprache und Geistesbildung" (1929). In dieser Schrift heißt es: „So wenig all diese Umstände für zwei Völker gleichartig sind, so wenig kann in zwei Sprachen das Weltbild, das sich daraus ergab und in der Sprache niedergelegt ist, das gleiche sein. Nichts ist inniger mit dem Schicksal eines Volkes verbunden als seine Sprache, und nirgends findet sich eine engere Wechselwirkung als zwischen einem Volk und seiner Sprache. Man muß sogar noch weiter gehen und fragen, wieweit die Eigenart eines Volkes durch seine Sprache geschaffen ist... ein jeder muß das natürliche Recht der Sprachgemeinschaft auch auf volklichen Zusammenschluß anerkennen . . . Die Sprachgemeinschaft ist die Voraussetzung für alle andere Gemeinschaft, nicht nur, weil sie erst die Verständigung ermöglicht, sondern vor allem weil sie die Grundlage der Verständigung, die gemeinsame Weltauffassung vermittelt . . . und so ist der Geltungsbereich einer Sprache der naturgemäße Raum eines Volkes . . . An der Besinnung auf die gemeinsame Muttersprache wächst der Wunsch, auch als Einheit zusammenzustehen und zu wirken."14 Wir haben uns mit dieser chauvinistischen Variante des spätbürgerlichen Denkens eingehend in unserer Schrift „Bestimmt die Sprache unser Weltbild? Zur Kritik der bürgerlichen Sprachphilosophie der Gegenwart" auseinandergesetzt und die klassenmäßigen und erkenntnistheoretischen Wurzeln eines derartigen Standpunktes nachgewiesen. -Die von L. Weisgerber versuchte Entgegnung dürfte sich durch die oben angeführten Zitate aus dessen Schrift aus dem Jahre 1929 als völlig unhaltbar erweisen.15 An dem Kopula-Problem läßt sich besonders einleuchtend nachweisen, daß syntaktische und semantische Bezüge der Sprache auch logische Bezüge zum Ausdruck bringen. Die Syntax ist reich an logischen Strukturen, wie uns Aussagen-, Prädikaten- und Modallogik demonstrieren. Aber auch Fragen der deontischen Logik als Theorie der Begriffe „obligatorisch", „verboten", „erlaubt", „sollen" usw. werden immer aktueller, wie die anwachsende Literatur dieses auf G. H. von Wright zurückgehenden Zweiges der Logik erkennen läßt. Wir verweisen hier auch auf die Arbeiten von F. Loeser. Besondere Aufmerksamkeit wird in letzter Zeit in der internationalen Literatur auch wieder der Modalität, den Modalsätzen und ihrer logischen Struktur gewidmet. Wie wir aus der Geschichte der Logik wissen, findet die Lehre von den Modalitäten bereits eine gründliche Behandlung 13

14 15

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Vgl. Grammatika russkogo jazyka, 3. Bde., hrsg. von V. V. Vinogradov, Moskva 1960; vgl. auch Th. Lewandowski, Linguistisches Wörterbuch, Bd. 1, 1. Aufl., Heidelberg 1976, S. 358 ff. L. Weisgerber, Muttersprache und Geistesbildung, Güttingen 1929, S. 100 ff. Vgl. L. Weisgerber, Aus der Schublade der Popanze, in: Sprache der Gegenwart, Schriften des Instituts für deutsche Sprache, Bd. XXX, Studien zur Texttheorie und zur deutschen Grammatik, Festgabe für Hans Glinz, Düsseldorf 1974.

in der Hermeneia des Aristoteles. Darauf verweist I. M. Bochenski in seiner Problemgeschichte „Formale Logik". Bochenski behandelt in seiner Arbeit auch die Entwicklung der Modallogik im Mittelalter und in der Neuzeit, in der mathematischen Logik. 16 A. Pfänder macht mit Recht darauf aufmerksam, daß die sprachlichen Sätze, in denen die bestimmte Modalität eines Urteils mit zum Ausdruck kommt, im allgemeinen mehrdeutig sind. „Nahe beieinander liegen die logischen Modalitäten des Urteils, die ontologischen Modalitäten des Sachverhalts, sowie die psychologischen Modalitäten des Behauptens. Daher kommt es wohl, daß sowohl in der Logik als auch in der Sprachlehre noch immer so große Unklarheit über die Modalitäten der Urteile besteht. Wir gewinnen von vornherein eine klare Übersicht, wenn wir von der alten Bestimmung, die Modalität des Urteils betreffe die Behauptungsweise, sie sei der Ausdruck des Grades der Gewißheit der Behauptung, ausgehen." 17 Während man in der Scholastik der enuntiatio modalis (Wilhelm von Shyreswood) noch sechs modale Bestimmungen zulegte, nämlich verum, falsum, possibile, impossibile, contingens und necessarium, werden in der Logik von Port-Royal die modalen zu den „komplexen" Urteilen gerechnet. Crusius spricht von der Modalität als dem Grad der Bejahung und Verneinung. Mit Kants Auffassung von den Modalbegriffen (Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit) als apriorischen Kategorien setzt die bis heute andauernde erkenntnistheoretische Auseinandersetzung zwischen Materialismus und Idealismus in der theoretischen Begründung der Logik ein. Hegel hat ganz entschieden die Modalität zu den Kategorien des Seins gerechnet und wesentliche Elemente der Dialektik in der Modalität aufgedeckt. Ohne Kenntnis der Logik Hegels ist ein tiefes Verständnis sowie eine theoretische Begründung der Kategorie der Modalität nicht möglich. Darauf hat insbesondere Lenin in seinen für die materialistische Interpretation der Hegeischen Logik grundlegenden „Philosophischen Heften" hingewiesen. 18 Wenn die Beziehung von Satz und Urteil/Aussage in der Frage der Modalität die enge Verflechtung von Grammatik und Logik widerspiegelt, so folgt daraus jedoch nicht, daß allen logischen Bezügen syntaktische oder semantische Bezüge im Sinne der Grammatik entsprechen. Wir stimmen mit G. V. Kolsanskij darin überein, daß mit dem Satz als der universellen Einheit der Sprache unmittelbar der Zusammenhang von Sprache und Logik berührt wird. In jeder Sprache trägt die Aussage eine Subjekt-PrädikatStruktur, und damit hängt es zusammen, daß der Satz als die universelle Kommunikationseinheit fungiert. Die Subjekt-Objekt-Relation wird mit den jeweils 16

17 18

6*

Vgl. I. M. Bochenski, Formale Logik, Freiburg-München 1956, §§ 15, 17, 19, 29, 33, und 49; vgl. V. Z. Panfilov, Kategorija modal'nosti i ee rol' v konstituirovanii struktury predlozenija i suzdenija, in: Voprosy jazykoznanija (Moskva), 4/1977. A. Pfänder, Logik, Halle 1929, S. 233-234. W. I. Lenin, Konspekt zu Hegels „Wissenschaft der Logik", in: Werke, Bd. 38, Berlin 1970, S. 112. 83

zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln realisiert. 19 Damit wird aber auch zum Ausdruck gebracht, daß die sprachliche Tätigkeit keine subjektiv-willkürliche Zeichentätigkeit ist, sondern eine Tätigkeit, die nach A. G. Volkov durch die Grenzen des Zuverlässigen in der Sprache beschränkt wird, was den Kommunikationsakt erst ermögliche. Die sich herausbildenden Normen der Sprache, die Gesetzmäßigkeiten der syntaktischen Entwicklung der Sprache, entstehen historisch-spontan und hängen im Grunde mit den logischen Denkformen zusammen, was jedoch nicht bedeutet, daß die syntaktischen Gesetzmäßigkeiten und Formen auf die logischen Gesetzmäßigkeiten reduzierbar sind.20 Auch stellen Syntax und Semantik das notwendige Instrumentarium für die Logik nur partiell zur Verfügung. D a ß die logischen Bezüge nicht auf die grammatisch-logische Ebene zu reduzieren sind, folgt auch daraus, daß die Syntax nichts mit der Problematik der logisch beweisbaren Sätze (Theoreme) zu tun hat. Diese Sätze sind logisch begründet, das heißt auf logische Gesetze gegründete Behauptungen, Ableitungen und logische Schlußschritte. Hieraus kann man aber nicht den Schluß ziehen, daß es in der formalen Logik um „formalistische Spielweisen" (Kambartel) gehe. Bereits Frege hält konsequent an materialen Theorien als Ausgangspunkt und Anwendungsgebiet aller Überlegungen zur axiomatischen Methode fest, das heißt an Theorien, in denen von wahren Behauptungen zu wahren Behauptungen fortgeschritten wird. 21 „Den Vorwurf, ein leeres Zeichenspiel zu sein, kann man mit Recht gewissen formalen Theorien machen", schreibt Frege, „die aber ganz verschieden sind von allgemeinen Lehrsätzen der hier betrachteten Art (also im Sinne Hilberts, F. Kambartel). Denn in einem solchen haben wir immer einen Sinn. Jene andern formalen Theorien jedoch verfahren nach der Methode des Dr. Eisenbart. Da der Sinn zuweilen Schwierigkeiten macht, treibt man ihn kurz entschlossen ganz aus und behält dann natürlich die entseelten Zeichen zurück. Der Urheber einer solchen Theorie will mit seinen Zeichen keine Gedanken ausdrücken, sondern nur nach gewissen Regeln spielen. Also kann es sich dabei gar nicht um Wahrheit handeln. Das Wort .Theorie' ist dabei eigentlich unpassend; man sollte ,Spiel' sagen . . . Was wir bisher formale Theorie genannt haben, ist etwas ganz anderes. Zwar benutzen wir auch Zeichen, die keine Bedeutung haben; aber diese tragen zum Gedänkenausdruck in bekannter Weise bei. Mit lauter Buchstaben ohne bedeutungsvolle Zeichen einen Gedanken auszudrücken, ist unmöglich." 22 Wir stimmen mit A. Schaff darin überein, daß das Sprachzeichen durch seine 19

20

21

22

84

Vgl. G. V. Koläanskij, Grammatika, in: Sbornik nauönych tru'dov, Moskva, Ped. instituía jazykoznanija, Moskva 1971, Bd. 91. Vgl. E. B. Markarjan, Jazyk kak sposoby suäöestvovanija soznanija, in: Metodoiogiíeskie problemy analyza jazyka, Erevan 1976, S. 7. Vgl. F. Kambartel, Frege und die axiomatiscbe Methode. Zur Kritik mathematikhistorischer Legitimationsversuche der formalistischen Theorie, in: Studien zu Frege, Bd. I, Logik und Philosophie der Mathematik, hrsg. von M. Schirm, Stuttgart 1976, S. 224. Ebenda, S. 226.

B e d e u t u n g das B i l d der W i r k l i c h k e i t festlegt, auch dann, w e n n es v o n B e w e g u n g und V e r ä n d e r u n g spricht. D a s Sprachzeichen in seiner B e d e u t u n g b i l d e t die W i r k l i c h k e i t a b . E s ist d e r A u s d r u c k d e r K l a s s i f i k a t i o n v o n D i n g e n ,

Eigenschaften,

T ä t i g k e i t e n und R e l a t i o n e n . J e e x a k t e r ein T e r m i n u s ist, j e strenger er unter logischem G e s i c h t s p u n k t ist, um so schärfer und deutlicher treten d i e v o n zeichen e r f a ß t e n wesentlichen M e r k m a l e d e r a b g e b i l d e t e n D i n g e ,

Sprach-

Eigenschaften

o d e r R e l a t i o n e n z u t a g e . 2 3 B e i der B e d e u t u n g eines sprachlichen Zeichens h a b e n w i r es somit i m m e r m i t d e m E r g e b n i s einer A b s t r a k t i o n zu tun, d i e bei d e m P r o z e ß d e r K l a s s i f i z i e r u n g in E r s c h e i n u n g tritt. In diesem P r o z e ß , also im A b s t r a k t i o n s p r o z e ß , w i r d ein bestimmtes M e r k m a l zur G r u n d l a g e g e n o m m e n und a l l e a n d e r e n M e r k m a l e w e r d e n v o m gegebenen G e s i c h t s p u n k t aus als

unwesentlich

eliminiert.24 W i r sehen a l s o , d a ß das V o r h a n d e n s e i n der S p r a c h e f ü r unsere geistige E n t w i c k l u n g v o n z e n t r a l e r B e d e u t u n g ist. D u r c h das E r l e r n e n v o n S p r a c h e n gewinnen w i r B e g r i f f s e r k e n n t n i s und D e n k f e r t i g k e i t . O h n e s p r a c h v e r m i t t e l t e A n r e g u n g durch sprachlich f i x i e r t e B e g r i f f e w ü r d e eine b e g r i f f l i c h e P r a x i s w i e d i e des B e stimmens und M i t t e i l e n s gar nicht o d e r nie in d e m M a ß e auszuüben sein, w i e es j e d e r M e n s c h nach der S p r a c h e r l e r n u n g k a n n . Z u m B e s t i m m e n , z u m a l z u m mitteilb a r e n B e s t i m m e n , b r a u c h t m a n K l a s s e n , die w i e d e r h o l b a r , u n t e r s c h e i d b a r , w i e d e r e r k e n n b a r sind und auf die hin (bzw. in denen) m a n etwas b e s t i m m e n k a n n . D i e s e K l a s s e n w e r d e n über Typisierungen g e f u n d e n . D i e s e Typisierungen drücken sich auf der grammatisch-logischen E b e n e aus, a l s o i m B e r e i c h der S y n t a x u n d der S e m a n t i k . F ü r d i e entsprechende logisch-semantische E b e n e l i e f e r t H . R e i c h e n b a c h in seinem W e r k „ E l e m e n t s of S y m b o l i c L o g i c " ( 1 9 4 8 ) f o l g e n d e K l a s s i f i k a t i o n e n von Sätzen (Urteilen): 1. U r t e i l e ( S ä t z e ) , d i e O b j e k t e n entsprechen, w e r d e n als Situationen bezeichnet. 2 . W e n n w i r eine Situation in e i n e m aus F u n k t i o n u n d A r g u m e n t bestehenden U r t e i l ( S a t z ) b e s c h r e i b e n , so gliedern w i r diese Situation in das „ A r g u m e n t o b j e k t " u n d das „ A u s g a n g s o b j e k t " . 3 . E s gibt zwei M ö g l i c h k e i t e n für d i e A u f g l i e d e r u n g einer S i t u a t i o n : d i e A u f gliederung nach D i n g e n und d i e A u f g l i e d e r u n g nach E r e i g n i s s e n . 4 . Zwischen diesen entsprechenden A u f g l i e d e r u n g e n der U r t e i l e (Sätze) besteht folgende Gleichung: /(*) w o b e i f(xi)

.[/(*,)]*

M .

e i n e Ä u ß e r u n g über eine einzelne S a c h e xi b e d e u t e t , w i e beispiels-

w e i s e „ A m u n d s e n ist über d e n N o r d p o l g e f l o g e n " , w ä h r e n d vy d i e B e z e i c h n u n g f ü r ein gewisses E r e i g n i s ist, das d i e E i g e n s c h a f t f(x)*

h a t , z u m B e i s p i e l für ein

E r e i g n i s , dessen E i g e n s c h a f t der F l u g A m u n d s e n s über den N o r d p o l w a r . F u n k t i o n f(x)* 23

24

Die

ist eine „ S a c h f u n k t i o n " , w ä h r e n d d i e F u n k t i o n [ / ( x i ) ] * e i n e „ T a t *

Vgl. A. Schaff, Erkenntnistheorie - Logik - Semantik, in: A. Schaff, Humanismus, Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie des Marxismus, Philosophische Abhandlungen, Wien 1975, 5. 54 ff. Vgl. ebenda, S. 72 f.

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Sachenfunktion" ist, bei der das Sternchen den Übergang von der Aufspaltung nach Dingen zur Aufspaltung nach Ereignissen bedeutet.25 Man muß natürlich Tatsachen von Pseudotatsachen deutlich unterscheiden. Wie A. Synowiecki von der Position der Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus aus richtig bemerkt, drückt der Satz „Luzifer hat den Tod von Claudius Pulcher vorhergesehen" eine solche Pseudotatsache aus. Im Bereich der menschlichen Praxis gibt es nach A. Synowiecki keinen Gegenstand, der die Bedingungen erfüllen würde, die ihm durch die Bezeichnung „Luzifer" auferlegt werden. Das Fehlen dieses Gegenstandes führte dazu, daß die „Tatsachenfunktion" vom Typ [/(*i)]*> das heißt der hier in Frage kommende Ausdruck a*, vom obigen Standpunkt aus gesehen, leer ist. Das führe endgültig zu der Schlußfolgerung, daß es kein Ereignis mit der in diesem Ausdruck geschilderten Eigenschaft gibt, das heißt, die Tatsache der erwähnten Vorhersage Luzifers existiert nicht. Durch die Wörter der Sprache werden Gegenstände denotiert, und Gedanken enthalten einen Sinn, wie Frege bereits formuliert hat. So unterscheiden wir auch zwischen einer bedeutungsgebenden und einer sinngebenden Definition. Hier ist bereits die Grenze von Grammatik und Logik überschritten. Auch Fragen, die es mit Aporien, Antinomien und Paradoxien zu tun haben, gehören nicht mehr in den Bereich der grammatisch-logischen Ebene. Diese Fragen sind aber auch nicht identisch mit mathematischen Fragestellungen, wie I. M. Bochenski mit Recht feststellt, wenn er schreibt: „Wir wissen jetzt, daß die Grenzen zwischen Logik und Mathematik, gelinde gesagt, schwierig nachzuweisen sind. Für Professor Quine zum Beispiel ist sogar die Identitätstheorie und vielleicht sogar die Klassentheorie Mathematik. Jedoch keiner sagt, daß Mathematik das menschliche Denken zum Gegenstand hat. Warum sollten wir also dies von der Logik sagen? Gut, vielleicht weil Logik lehrt, wie wir folgern sollten, wenn wir wahre Schlüsse aus wahren Prämissen erhalten wollen. Aber das macht jede Wissenschaft, ohne deswegen eine Wissenschaft des menschlichen Denkens zu sein. Der einzige Unterschied zwischen Logik und diesen anderen Wissenschaften besteht darin, daß sie Theorie eines Objekts ist, welcherart es auch immer sein mag, und wir deshalb, wenn wir wahre Schlüsse von wahren Prämissen gewinnen wollen, ihre Gesetze und/oder Regeln überall anwenden müssen, nicht nur in einem begrenzten Gebiet wie die der anderen Wissenschaften."26 Die formale Logik hat es also damit zu tun, die reinen Schlußformen zu untersuchen und die in ihnen vorkommenden formalen Strukturen herauszufinden und sprachlich darzustellen. Damit wird aber deutlich, daß es ohne Sprache nicht geht. Wir haben in verschiedenen Veröffentlichungen sowie auch in diesen Ausführungen versucht, der komplizierten Frage nachzugehen, wie der Aufbau der sprachlichen Form zu den logischen Strukturen vermittelt ist. Der Sprachunterricht, 25

Vgl. H. Reichenbach, Elements of Symbolic Logic, New York 1948, zitiert nach A. Synowiecki, Tatsachen und empirische Gesetze im Lichte der These von der Existenz objektiver Ereignisse, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 12/1976, S. 1464.

26

I. M. Bochenski, Studies in Soviet Thought, Dordrecht 1974, Bd. 14, S. 134.

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insbesondere der muttersprachliche Unterricht und der Sprachvergleich können entscheidend dazu beitragen, daß die in der sozialistischen Gesellschaft gestellten erhöhten Anforderungen an die Fähigkeit zum Abstrahieren, Generalisieren und Formalisieren erfüllt werden. Ein so orientierter Grammatikunterricht wird es nicht versäumen, mit der Bewußtmachung der sprachlichen Strukturen zugleich die Analyse der entsprechenden logischen Strukturen zu verbinden und ihre Bedeutung für das wissenschaftliche Denken aufzuzeigen. Dabei sollten wir auch die durch die Formalisierung logischer Strukturen sprachlicher Einheiten auftretenden Schwierigkeiten mit den Möglichkeiten vergleichen, die uns die Formalisierung überhaupt zu erschließen vermag, wie Mathematik, Kybernetik und Naturwissenschaften demonstrieren. Jede Formalisierung, die zu einem tieferen Verständnis der Strukturen realer Systeme, ihrer Prinzipien und Funktionsmechanismen beiträgt, muß als Erkenntnisfortschritt angesehen werden. Wir sind allerdings mit I. Grekova und N. T. Abramova der Meinung, daß nicht jede beliebige Formalisierung und Mathematisierung als Fortschritt bezeichnet werden kann, auch wenn diese mit der Automatisierung verbunden ist. Es gibt eben Bereiche, wo der verbale Stil der Forschung, wie paradox dies auch klingen mag, exakter ist als die formal-logische Methode. 27 Ohne sinnvolle Formalisierungen sind wir jedoch in der Abbildung und Nachbildung von wesentlichen Zusammenhängen und Erscheinungen der Natur, Gesellschaft und des Psychischen hilflos. Ohne Formalisierung kann es auch kein abstraktes Modell geben. Wenn uns auch die Modellierung des Denkens in all seinen Funktionen, die dem Menschen eigen sind, vorläufig noch nicht gelingt und eine modellierbare Funktion in den meisten Fällen vereinfacht imitiert, 28 so sollten wir uns doch von einer spekulativen und aprioristischen Einstellung zur Modellierung und Formalisierung freimachen, weil eine solche Einstellung einen fruchtbaren und ernsthaften Meinungsstreit nur belasten muß. 27

28

Vgl. I. Grekova, Methodologische Probleme der angewandten Mathematik, in: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge (Berlin), 4/1977, S. 404 und S. 413. Vgl. W. P. Tugarinow, Philosophie des Bewußtseins. Gegenwartsfragen, Berlin 1974, S. 183:

V I . KAPITEL

Sprache und Klassenkampf in der Gegenwart

W i e wir in dem Kapitel über den Zusammenhang von Sprache und Denken nachweisen konnten, bildet die Sprache das wichtigste und grundlegende Kommunikationsmittel der menschlichen Gesellschaft. Die Sprache ist Träger der bewußten Verallgemeinerung der Wirklichkeit und damit ein wichtiges Instrument bei der Aneignung der Wirklichkeit durch den Menschen. Die fortschreitende Differenzierung gesellschaftlicher Tätigkeiten und Strukturen widerspiegelt sich auch in der Sprache. In den sprachlichen Formen ist ein bestimmtes Wissen enthalten, das sich in Erfahrungsprozessen kristallisiert. Auf dieser Kristallisation, das heißt, auf der Differenzierung der Wirklichkeit in immer neue Elemente und auf dem Verbinden dieser Elemente in Komplexe von Relationen, beruht die gesellschaftliche Erkenntnisfunktion der Sprache. Die Bewußtseinsentwicklung der Menschen findet ihren Niederschlag im Sprachwandel, in der Sprachentwicklung. Die neuen gesellschaftlichen Erscheinungen finden ihren Ausdruck im Wortschatz unserer Sprache. Die Sprache als Form der Tätigkeit, als praktisches Bewußtsein hängt mit der objektiven Realität zusammen. D i e sozialen Verhältnisse in einer eine Sprachform benutzenden Sprachgemeinschaft und die Stellung der einzelnen Mitglieder dieser Gemeinschaft im Rahmen der sozialen Verhältnisse bedingen unterschiedliche Inhalte der Widerspiegelung der objektiven Realität. Diese Tatsache beweist, d a ß die Besonderheiten des gesellschaftlichen Funktionierens der Sprache auch darin bestehen, daß sie seit frühen Zeiten ihrer Existenz in der Klassengemeinschaft sowohl Werkzeug als auch Instrument des ideologischen Kampfes sind. 1 Unter Berufung auf M a r x äußerte sich G. V . Plechanov einmal treffend über das Verhältnis von Sprache und Klasse, indem er schrieb: „ J e mehr sich der W i derspruch zwischen den wachsenden Produktivkräften und der existierenden Gesellschaftsordnung entwickelt, desto mehr nehme die Ideologie der herrschenden Klasse den Charakter der Heuchelei an. Und jemehr dieHeuchelei durch dasLeben Lügen gestraft wurde, desto moralischer und heiliger w u r d e die Sprache dieser Klasse." 2 Bei M a r x und Engels finden w i r in der „Deutschen Ideologie", in der „Heiligen 1 2

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Vgl. Theoretische Probleme der Sprachwissenschaft, Berlin 1976, 2. Bde. G. W. Plechanow, Grundprobleme des Marxismus, Berlin 1958, S. 94.

Familie" und in den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie" eine glänzende Darstellung dieses Bezuges von Sprache und Klassenkampf. „In dem Akt der Reproduktion selbst ändern sich nicht nur die objektiven Bedingungen . . . , sondern die Produzenten ändern sich, indem sie neue Qualitäten aus sich heraus setzen, sich selbst durch die Produktion entwickeln, umgestalten, neue Kräfte und neue Vorstellungen bilden, neue Verkehrsweisen, neue Bedürfnisse und neue Sprache". 3 D i e dem Bewußtsein inhärente Eigenschaft, rationale Operation ausführen zu können, manifestiert die Widerspiegelungsfunktion der Sprache und damit auch den Erkenntnischarakter des menschlichen Bewußtseins. D e r aktive Charakter der sprachlichen Widerspiegelung zeigt sich unter anderem auch darin, daß Worte den Menschen zu Handlungen veranlassen, im Menschen Gefühle auslösen. So ist zum Beispiel experimentell bestätigt worden, daß ein grobes Wort als negativer Reizerreger nur wenige Sekunden wirkt, daß die Reaktion darauf aber viele Stunden und Tage dauern kann, die normale Funktion der Herzgefäße stört, Stenokardie, Infarkte und anderes hervorrufen kann. Diese experimentell bestätigte Tatsache wird von der imperialistischen psychologischen Kriegsführung dazu mißbraucht, durch die Umfunktionierung von Wörtern und Begriffen wie „Kommunismus", „Friedliche Koexistenz", „Revolution", „Russische Panzer", „Ostblock", „Entspannung", „Informationsfreiheit", „Diktatur", „Klassenkampf", „Freiheit", „Frieden" usw. im Sinne der antikommunistischen und antisowjetischen Verfälschung und Entstellung dieser Wörter/Begriffe entsprechende Paralysierungseffekte zu erzielen. Wie Rodrigo Rojas mit Recht betont, ist die Politik der Einschüchterung weder allmächtig noch unfehlbar: „Dennoch ist es dem Imperialismus und seinen Komplicen gelungen, diese Politik erfolgreich anzuwenden und unter bestimmten Bevölkerungsschichten Angst und H a ß gegen die Volksbewegung sowie gegen die von dieser gebildeten Regierung zu säen." 4 D i e Einschüchterungspolitik soll dazu führen, daß Angst in H a ß umschlägt, um dann zur direkten antikommunistischen Aggression überzugehen. D i e psychologische Kriegsführung wird von den imperialistischen Kreisen stabsmäßig betrieben, wobei der psychologische Krieg mit Hilfe der Massenmedien (Film, Fernsehen, Rundfunk, Presse) der Vorbereitung des bewaffneten Kampfes gegen die Arbeiterklasse und das gesamte werktätige Volk dient. Wir dürfen uns die Mechanismen der Manipulierung der Menschen im imperialistischen Herrschaftssystem nicht vereinfacht vorstellen, weil dann nämlich die Wirkung dieser Manipulierung, die bewußte Steuerung der Kommunikationsprozesse in den imperialistischen Massenmedien zur Erzielung antikommunistischer und antisowjetischer Effekte, unterschätzt würde. D i e damit verbundene Paralysierung des Bewußtseins der werktätigen Menschen in den kapitalistischen Ländern erfolgt durch einen 3

K . Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1 8 5 7 - 1 8 5 8 , Berlin 1974, S. 394.

* R. Rojas, Psychologischer Krieg - politische Waffe des Imperialismus, in: Probleme des Friedens und des Sozialismus, 3/1977, S. 338.

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psycholinguistisch und soziolinguistisch raffinierten Einsatz sprachlicher Mittel sowie durch den Mißbrauch der Logik, wie die Wahl des ideologierelevanten Wortschatzes, die Auswahl der Fakten, die Verwendung besonderer Stilmittel, das Ignorieren des Umstandes, daß im Einzelnen Allgemeines enthalten ist, die Verletzung des objektiven Zusammenhangs von Zufall und Notwendigkeit und von Wesen und Erscheinung beweisen. Die Beschränkung auf eine 'Darstellung von Erscheinungen und Zufällen dient den bürgerlichen Massenmedien dazu, die Menschen daran zu hindern, zum Wesen der Ereignisse vorzudringen. Der Einsatz materieller und geistiger Mittel zur differenzierten Manipulierung der verschiedenen Klassen und Schichten im imperialistischen Herrschaftssystem wurde nach der Unterzeichnung der Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Helsinki beträchtlich erhöht. Diese Tatsache kann man auch an der Unterstützung der Kommunikationswissenschaft in den einzelnen imperialistischen Ländern genau verfolgen. Wir wissen, daß Fragen der Kommunikationswissenschaft im Zusammenhang mit der wissenschaftlich-technischen Revolution eine immer größere Bedeutung gewinnen. Damit ist aber auch die Möglichkeit des Mißbrauchs dieser Ergebnisse durch imperialistische Kräfte gegeben. Begriffe wie „Kommunikation" und „kommunikatives Handeln" werden in zahlreichen westdeutschen, amerikanischen, englischen, französischen und italienischen Arbeiten diskutiert. Philosophen, Psychologen, Soziologen und Kommunikationstechniker haben in den letzten Jahren in der BRD Beiträge zu dieser Thematik veröffentlicht. 5 Mit der semantischen Wirkungsstruktur der politischen Rede hat sich vor allem Otto Haseloff befaßt. In den Untersuchungen der EMNID-Institute in Berlin (West) und Bielefeld wird diesen Fragen eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Beträchtliche Mittel zur Erzielung von Dispositionen eines Sozialverhaltens, das den Klasseninteressen der herrschenden imperialistischen Bourgeoisie entspricht, werden für Untersuchungen auf dem Gebiet der sogenannten „Sprach5

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Es sei hier vor allem auf folgende Arbeiten verwiesen: H. Meyn, Massenmedien in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin (West) 1969; J. Habermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a. M. 1971; H. Eggers, Deutsche Sprache im 20. Jahrhundert, München 1973; Haseloff/Hassenstein/Steinbuch/Pribam/Lasswell/Hörmann/Topitsch, Bense/Irle/Bernstein/König/Janie, Kommunikation, Berlin (West) 1969; B, Badura, Sprachbarrieren. Zur Soziologie und Kommunikation, 2. Aufl., Stuttgart-Bad Cannstadt 1973; M. Bense, Semiotik, Baden-Baden 1967; C. Cherry, Kommunikationsforschung - eine neue Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1967; H. Hörmann, Psychologie der Sprache, Berlin (West) 1967; H. Ischreyt, Studien zum Verhältnis von Sprache und Technik, Düsseldorf 1965; H. Moser, Sprache - Freiheit oder Lenkung, Mannheim 1967; U. Oevermann, Sprache und soziale Herkunft, Berlin (West) 1969; U. Oevermann, Schichtspezifische Formen des Sprachverhaltens und ihr Einfluß auf die kognitiven Prozesse, in: Deutscher Bildungsrat. Gutachten und Studien der Bildungskommission, Stuttgart 1969; H. Platte, Werbung oder Information? Zur Sprache moderner Propaganda, in: Sprache im technischen Zeitalter (Stuttgart), 7/1963; H. Reimann, Kommunikationssysteme, Tübingen 1968 u. a.

barrieren" eingesetzt. So veröffentlichte das Institut für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft als Band 18 der Studien und Berichte eine umfangreiche Arbeit von U. Oevermann „Sprache und soziale Herkunft. Ein Beitrag zur Analyse schichtenspezifischer Sozialisationsprozesse und ihrer Bedeutung für den Schulerfolg" [Berlin (West) 1970]. Wir finden in dieser Studie sowie in anderen bürgerlichen Arbeiten zur Theorie der „Sprachbarrieren" die Propagierung einer Herrschaftstechnik der imperialistischen Bourgeoisie zur Überwindung der Klassengegensätze zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse. Bürgerliche Sprachsoziologen sprechen vom Klassencharakter der Sprache, von der Sprache, die „Barrieren" in der Kommunikation zwischen den beiden entgegengesetzen Grundklassen im Kapitalismus, zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie, sowie zwischen den beiden entgegengesetzten sozialökonomischen Systemen, zwischen Sozialismus und Kapitalismus, errichtet. Die wissenschaftliche Analyse von Textmaterial aus bürgerlichen Zeitungen, Zeitschriften sowie von Lehrbüchern des gesellschaftswissenschaftlichen Bereiches führt uns aber zu dem Ergebnis, daß sich „Sprachbarrieren" aufgrund von gesellschaftlichen Privilegien und Bildungsschranken ergeben, die vom Kräfteverhältnis im Klassenkampf abhängig sind. Die gesellschaftliche Funktion der Theorie der „Sprachbarrieren" besteht darin, vom Klassencharakter der Bildungspolitik im kapitalistischen Staat abzulenken, indem die Illusion erzeugt wird, daß durch sprachfördernde Maßnahmen und durch eine Umbewertung sprachlich-kommunikativer Leistungen der Schüler eine echte Chancengleichheit geschaffen werden könnte. Hier liefert diese Theorie der „Sprachbarrieren" die pseudowissenschaftliche Argumentation für eine soziale Demagogie. 6 Diese von uns vorzunehmende Textkritik hat nichts mit der bürgerlichen Textlinguistik zu tun, die in den kapitalistischen Ländern außerordentlich verbreitet ist und weltanschaulich sowie methodologisch durch eine Anwendung der Hermeneutik, wie sie unter anderem durch Heidegger und andere praktiziert wird, in eine Sackgasse führen muß. Bürgerliche Textkritik, die sich von der Hermeneutik freihält, hat durchaus beachtliche Ergebnisse aufzuweisen, die es auch von uns zu nutzen gilt. Es sei hier vor allem auf die Forschungen von Ekkehart Mittelberg zur Problematik von „Wortschatz und Syntax der Bildungszeitung" (Marburg 1967) verwiesen. Die von uns zur Entlarvung der imperialistischen Manipulationstechniken betriebene Textkritik beruht auf der marxistisch-leninistischen Weltanschauung und Methodologie. Sie schließt linguistische, psychologische, soziologische, erkenntnistheoretische, methodologische und vor allem weltanschauliche Kompontenten ein. Welche Rolle die oben nur skizzierten Methoden der Manipulierung in den kapitalistischen Staaten spielen, zeigt sich auch daran, daß zur Ausarbeitung geeigneter Manipulierungsprogramme für die verschiedenen Bevölkerungsschichten und Berufsgruppen sowie für Jugendliche den pädagogischen und psychologischen Instituten von Universitäten und Hochschulen in der B R D bedeutende materielle 6

Vgl. E. Albrecht, Sprache und Philosophie, Berlin 1975, Kap. VIII.

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Mittel zur Verfügung gestellt werden, zum Beispiel zur Finanzierung von Forschungsprogrammen des an der Pädagogischen Hochschule in Hildesheim existierenden Audiovisuellen Zentrums zur Dramaturgie, Sprache, Sendeform, Informationstechnik, zur Erforschung des Identifikationseffektes und des Sozialverhaltens. Aus Forschungsergebnissen dieses Institutes geht hervor, daß 65 Prozent des Bewußtseinsinhaltes der Kinder in der B R D sich unter dem Einfluß der Massenmedien gestalten.7 Da bei der Programmgestaltung den Fragen der Aggression und Brutalität ein breiter Raum eingeräumt wird und auch die Bildungsprogramme in der B R D völlig die strategische Zielstellung der Bourgeoisie zum Ausdruck bringen, kann es für uns über den menschenfeindlichen Charakter dieser Informationsquellen und Kommunikationspraktiken keinerlei Illusionen geben. Wie bereits betont, sollen hier mittels einer sprachpsychologisch und technologisch außerordentlich raffinierten Programmgestaltung politische, moralische und ästhetische Bewußtseinsdeformationen erzielt werden. „Heute, da die Problematik Krieg und Frieden, der Kampf gegen das Wettrüsten Millionen Menschen bewegt, da immer breitere Massen in den Ländern des Kapitals die historische Notwendigkeit erkennen, die kapitalistische Gesellschaft durch eine sozialistische zu ersetzen"8, werden aber auch die Grenzen der imperialistischen Meinungsmanipulierung immer deutlicher. Die Frage, warum wir bei der Auseinandersetzung mit den Methoden der Manipulierung dabei vor allem auf die Hermeneutik verweisen, erklärt sich daraus, daß die hermeneutische Methode mit ihren Ansprüchen zu den einflußreichsten Richtungen der Methodologie in der B R D gehört. Das spürbare Anwachsen dieser Methode hängt mit der Verschärfung der allgemeinen Krise des Kapitalismus und der damit verbundenen allgemeinen politisch-ideologischen Situation in der B R D zusammen. Bereits die „klassischen" Vertreter der Hermeneutik im Bereich der Theologie (Schleiermacher), Philologie (A. Boeckh), der Rechtswissenschaft (E. Betti, Ch. Perelman) und Philosophie (Dilthey, Heidegger, Gadamer) haben dem Problem der Sprache eine besonders große Aufmerksamkeit entgegengebracht, dem kommunikativen Aspekt sowie der emotionalen Funktion der Sprache. „Verstehen ist reproduktive Wiederholung der ursprünglichen gedanklichen Produktion aufgrund der Kongenialität der Geister", schreibt H.-G. Gadamer. „So lehrte Schleiermacher auf dem Hintergrund einer metaphysischen Konzeption von der Individualisierung des All-Lebens. Die Rolle der Sprache tritt damit hervor, und das in einer Form, die die philologische Eingeschränktheit auf das Schriftliche grundsätzlich überwand. Schleiermachers Hermeneutik bedeutete wegen ihrer Begründung des Verstehens auf das Gespräch und die zwischenmenschliche Verständigung überhaupt eine Tieferlegung ihrer Fundamente, die zugleich die Errichtung eines auf hermeneutischer Basis errichteten Wissenschafts7

Vgl. H. Heinrichs, Universitas, Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Literatur (Stuttgart), 7/1972.

8

92

J . Sedow, Fälschung statt Objektivität, in: Neue Zeit, 5/1977, S. 12.

systems gestattete. Die Hermeneutik wurde zur Grundlage für alle historischen Geisteswissenschaften, nicht nur für die Theologie . . . Insbesondere die psychologische Interpretation wurde in der Nachfolge Schleiermachers, gestützt durch die romantische Lehre vom unbewußten Schaffen des Genies, die immer entschiedenere theoretische Basis der Geisteswissenschaften insgesamt. Das zeigt sich höchst lehrreich bei H. Steinthal und führt bei Dilthey zu einer systematischen Neubegründung der Idee der Geisteswissenschaften auf eine verstehende und beschreibende Psychologie. Vorher schon hatte sich das neue erkenntnistheoretische Interesse bei A. Boeckh in seinen berühmten Vorlesungen über ,Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften' (1877) Bahn gebrochen. Boeckh bestimmt dort die Aufgabe der Philologie geradezu als das .Erkennen des Erkannten'. Damit war der normative Sinn der klassischen Literatur, der im Humanismus neu entdeckt worden war und primär imitatio motivierte, zu historischer Indifferenz verblaßt." 9 Die Sprache nimmt somit im hermeneutischen Bereich eine Zentralstellung ein. H.-G. Gadamer erklärt dieses Phänomen damit, daß die Sprache nicht nur ein Medium unter anderen ist - innerhalb der Welt der „symbolischen Formen" (Cassirer) - , sondern sie stehe in besonderer Beziehung zur potentiellen Gemeinschaft der Vernunft, die sich kommunikativ aktualisiert (R. Hönigswald). Darauf beruhe die Universalität der hermeneutischen Dimension. „Denn was gehört nicht zu unserer sprachlich verfaßten Weltorientierung? Alle Welterkenntnis des Menschen ist sprachlich vermittelt. Eine erste Weltorientierung vollendet sich im Sprechenlernen. Aber nicht nur das. Die Sprachlichkeit unseres In-der-Welt-Seins artikuliert am Ende den ganzen Bereich der Erfahrung . . . Alle Erfahrung vollzieht sich in beständiger kommunikativer Fortbildung unserer Welterkenntnis . . . die kommunikativ erfahrene Welt selbst wird als eine offene Totalität uns beständig übergeben, ,traditur', und hermeneutische Anstrengung gelingt überall da, wo Welt erfahren, Unvertrautheit aufgehoben wird, wo Einleuchten, Einsehen, Aneignung erfolgt, und am Ende auch dort, wo die Integration aller Erkenntnis der Wissenschaft in das persönliche Wissen des Einzelnen gelingt. So betrifft die hermeneutische Dimension im besonderen die Arbeit des philosophischen Begriffs, die durch die Jahrtausende geht. Denn die Begriffsworte, die in ihr geprägt und in ihr überliefert werden, sind nicht feste Marken und Signale, durch die etwas Eindeutiges bezeichnet wird, sondern entspringen der kommunikativen Bewegung menschlicher Weltauslegung, die in der Sprache geschieht, werden von ihr fortbewegt und gewandelt und reichern sich an, rücken in neue Zusammenhänge, welche die alten verdecken, sinken ab zur halben Gedankenlosigkeit und werden in neuem fragenden Denken wieder lebendig. So liegt aller philosophischen Arbeit des Begriffs eine hermeneutische Dimension zugrunde." 10 9

,0

Zit. nach H.-G. Gadamer, Hermeneutik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von J. Ritter, Bd. 3, Basel-Stuttgart 1977, S. 1064-1065. Ebenda, S. 1071.

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Völlig berechtigt ist der Versuch der Hermeneutik, eine mechanistische Denkweise zu überwinden, die zwischen kausalen Prozessen in Natur, Gesellschaft und Denken keinen Unterschied macht. Doch indem die Hermeneutik zwischen Kausalität und Motivation eine unüberbrückbare Kluft postuliert, wird die Kompliziertheit der Zusammenhänge von „Verstehen" und „Erklären" nicht erfaßt. So notwendig die Analyse des Erfassens der individuellen Besonderheiten eines historischen Ereignisses ist, das Miterleben und damit auch schließlich das „Verstehen", so muß doch stets davon ausgegangen werden, daß Verstehen und Erklären zusammenhängen, sich natürlich andererseits auch gegenüberstehen. Auch die kritischen Bemerkungen der Hermeneutik gegen die Erkenntnistheorie des Neopositivismus enthalten einen rationalen Kern. Gadamer spricht von dem Eindeutigkeitswahn einer einseitigen, semantischen Erkenntnistheorie, die ebenso, wie der Laie, der nach willkürlichen und eindeutigen Definitionen verlange, verkenne, „was Sprache ist und daß auch die Sprache des Begriffs nicht erfunden, nicht willkürlich verändert, gebraucht und weggelegt werden kann, sondern dem Element entstammt, in dem wir uns denkend bewegen. Nur die erstarrten Krusten dieses lebendigen Sttoms von Denken und Sprechen begegnen in der Kunstform der Terminologie. Aber auch sie ist noch eingeführt und getragen von dem kommunikativen Geschehen, das wir sprechend vollziehen und in dem sich Verständnis und Einverständnis aufbauen."11 Doch so notwendig eine Kritik einer auf dem Neopositivismus beruhenden semantischen Erkenntnistheorie ist, so erfordert eine derartige Kritik aber auch, die in ihr enthaltenen rationalen Elemente dialektisch „aufzuheben", das heißt die Elemente der logischen Sprachanalyse zu übernehmen, die wesentlich zur Präzisierung syntaktischer und semantischer Operationen beigetragen haben. Indem sich die Hermeneutik von einer historischen Analyse der gesellschaftlichen Zusammenhänge abwendet und sich auf ein „Verstehen" der sozialen Erscheinungen beschränkt, muß sie methodologisch desorientieren und weltanschaulich eine reaktionäre Position begründen, die eng mit dem von den Neukantianern Windelband und Rickert vertretenen Methodendualismus zusammenhängt. Die Erkenntnisse selbst der klassischen Periode des Bürgertums werden verworfen, wenn es zum Beispiel bei Paul Ricœur heißt: „Über den naiven Historizismus des Fundamentalismus und über den blutleeren Moralismus des Rationalismus hinaus öffnet sich der Weg über die Hermeneutik der Symbole." 12 Damit nähert sich die Hermeneutik der neopositivistischen analytischen Philosophie. „Seit diese nicht mehr daran festhält", wie H.-G. Gadamer betont, „durch Analyse der Redeweisen und Eindeutigmachen aller Aussagen mit Hilfe künstlerischer Symbolsprachen die „Verhexung durch die Sprache" (Ausdruck von L. Wittgenstein - E. A.) ein für allemal aufzulösen, kann auch sie über das Funk-

11

Ebenda, S. 1072.

12

P. Ricœur. Le conflit des interprétations, Paris 1969, S. 280.

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tionieren der Sprache im Sprachspiel am Ende zurück, wie gerade L. Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen" gezeigt haben." 13 Die Versuche, die Hermeneutik mit der Sprachphilosophie Wittgensteins zu verbinden, machen die Tendenz deutlich, daß Fragen der Sprache in der gegenwärtig sich verschärfenden ideologischen Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus eine zunehmende Rolle spielen, was mit praktischen Fragen des Kommunikationsprozesses zusammenhängt, wie die verstärkte Entwicklung differenzierter Formen der sprachlichen Manipulierung durch die imperialistischen Massenmedien beweist. Auch methodologisch relevante Fragen wie die nach dem Verhältnis von Sprache und Denken, Sprache und Wirklichkeit, Sprache und Emotion, Sprache und Kunst sowie Probleme des sprachlichen Kommunikationsprozesses werden heute in immer stärkerem Maße durch die hermeneutische Interpretation Wittgensteins bestimmt. Wir verweisen hier auf Werke, die in letzter Zeit in der BRD erschienen sind und eine große Diskussion ausgelöst haben. 14 Das Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit wird von Wittgenstein radikal destruiert, wobei sich Wittgenstein nach J. Zimmermann als ein Sprachdenker zeige, „der anders als dies in der eher oberflächlichen Metaphysikkritik der analytischen oder positivistischen Philosophie geschieht, den jeweiligen Fundierungszusammenhang der Beziehung der Sprache (Wort, Name, Satz) zum Denken (Begriff, Vorstellung) und zur Wirklichkeit (Gegenstand, Ding, Sachverhalt) im Sinne der Metaphysik angreift und zerstört." 15 Die zentrale Frage nach der Bedeutung und ihre Beantwortung bei Wittgenstein durch das Sprachspiel bzw. den Gebrauch, steht für Zimmermann nicht auf der gleichen Stufe wie die verschiedenen rein semantischen Ansätze. Zimmermann versteht sie vielmehr als Ausdruck einer spezifischen hermeneutischen Pointe, die keinen Definitions- sondern Anweisungscharakter trägt. Wittgenstein 13

H.-G. Gadamer, Hermeneutik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von J. Ritter, Bd. 3, a. a. O., S. 1070.

14

Vgl. H. Fahrenbach, D i e logisch-hermeneutische Problemstellung in Wittgensteins Tractatus, in: Hermeneutik und Dialektik, Bd. II, Tübingen 1970; J. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: J. Habermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a. M. 1971,

101-141;

K. O. Apel, Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt a. M. 1 9 7 1 ; K. O. Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 1: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik, Bd. 2 : D a s Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt a. M. 1973; K. O. Apel, Wittgenstein und das Problem des hermeneutischen Verstehens, in: Transformation der Philosophie, Bd. I, Frankfurt a. M. 1973; G. Brand, D i e grundlegenden Texte von Ludwig Wittgenstein, Frankfurt a. M. 1 9 7 5 ; J. Zimmermann, Wittgensteins sprachphilosophische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1 9 7 5 ; E. Holenstein, Linguistik. Semiotik. Hermeneutik. Plädoyers für eine strukturale Phänomenologie, Frankfurt a. M. 1976. 15

P. Kampits, Destruktionen, Hermeneutik und System. Neue

Wittgensteininterpretationen

des deutschen Sprachraumes, in: Philosophischer Literaturanzeiger, Bd. 31, H e f t 1, Meisenheim-Glan 1978, S. 8 6 - 8 7 .

95

ersetzt also nicht bloß eine Instanz für „Bedeutung" durch eine andere, sondern beabsichtigt eine totale Abkehr von einer solchen Instanz. 16 Die Vorherrschaft der Logik und ihrer analytischen Schlüsselbegriffe wie Erklärung, Definition oder Analyse werde durch hermeneutische Themen wie Beschreibung, Klärung oder Erläuterung gebrochen. Die von Wittgenstein im Tractatus angestrebte Ideaiität und Einheit der Sprache, die in den „Untersuchungen" der Mannigfaltigkeit, Vielfalt und Tatsächlichkeit der gesprochenen Sprache weiche, geht nach Zimmermann mit jener nahezu phänomenologisch zu verstehenden Äußerung Wittgensteins zusammen, die Sprache müsse für sich selbst sorgen. Hier liege für Zimmermann ein eindeutiger Verweis auf die in der Sprache liegende, unhintergehbare Zirkularität allen Verstehens. Die Konzeption der Philosophie als „Verwalterin der Grammatik" werde von Zimmermann sogar als Voraussetzung einer Hermeneutik angesehen, die im Sinne Heideggers durchaus als Hermeneutik des Daseins betrachtet werden könne, zumal auch die Aufkündigung der Verbindung von Sinn und Wahrheit (als Entsprechung zur Wirklichkeit) den Wahrheitsbegriff selbst hermeneutisch unterlaufe. Die daraus folgende „grammatische" Relativierung der Ontologie, die Wittgenstein etwa im Satz „Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik" äußert, markiere nicht nur die zentrale Stellung der Hermeneutik im Gefüge des Wittgensteinschen Denkens, sondern auch das Verlassen des Begriff-Wort-Gegenstand-Paradigmas, das heißt des angeblich logisch-metaphysischen Sprachmodells. 17 Ebenso wie Zimmermann orientieren auch W. Hogrebe und E. Holenstein auf Zusammenhänge zwischen Heidegger, Gadamer, Phänomenologie, Analytische Philosophie und Strukturalismus. Damit werden hier Elemente der semantischen Erkenntnistheorie übernommen, aber nur soweit sie in die Gesamtkonzeption einer letztlich irrationalistischen Grundposition passen. In der Studie von W. Hogrebe „Archäologische Bedeutungspostulate" (Freiburg-München 1977) werden bemerkenswerte Detailfragen der modernen Logik diskutiert wie Ontologie und Qualifikation, Bedeutungspostulate in logischer, linguistischer und sprachkritischer Absicht u. a. Die von Quine und Hintikka vertretenen Auffassungen spielen hierbei eine positive Rolle. Auch die Auswertung klassischer Quellen (Aristoteles, Kant und Humboldt) ist beachtlich. Doch trotz dieser bedeutsamen Detailergebnisse wird Hogrebe dem Wesen der Sprache nicht gerecht, da er methodologisch an der bereits vom Neukantianismus vertretenen Kluft von Erfahrung (Naturwissenschaften) und Verstehen, Deutung (Kulturwissenschaften) festhält, eine Kluft, die in der Lebensphilosophie, im Existentialismus sowie in der Hermeneutik ihre Fortsetzung erfahren hat. Hogrebe entwickelt eine Sprechakttheorie, die sich von der herkömmlichen bürgerlichen unterscheidet, indem er zwischen einer naiven, diskursiven und spekulativen Sprechhaltung oder Rede unterscheidet. Diese drei Sprechhaltungen müssen nach ihm 16 17

Vgl. ebenda, S. 87. Ebenda, S. 88.

96

unterschieden werden, denn sie bieten die Voraussetzung dafür, die philosophische Argumentation wieder in den vollen Reichtum ihrer Aufgaben einzuführen. D a ß hier eine enge Berührung zu J. Habermas besteht, wird von Hogrebe selbst betont. E r geht jedoch über Habermas hinaus, vor allem schon durch die Einbeziehung der modernen Logik. Unter naiver Rede versteht er, etwas (zum Beispiel Teufel) als existent annehmen und zwar im Sinne einer konkomitanten Selbstverständlichkeit, die für diese Redehaltung charakteristisch sei. Hier könne von der Existenz oder Nicht-Existenz gar nicht die Rede sein. Der Satz, daß es keine Teufel gibt, sei kein Satz der naiven, sondern der diskursiven Redehaltung, für den die Ontologie Hintikkas gelte. Der Gegensatz zwischen naiver und diskursiver Sprechhaltung sei kein absoluter, „da das Selbstverständliche auch als ein ehemals Entschiedenes betrachtet werden kann. Damit bleiben beide Arten der Rede, die naive und die diskursive, letztlich auf entscheidbare Existenz bezogen (intentio recta) und treten so zusammen einer Art Rede gegenüber, die sich auf ebendiese Entscheidbarkeit zurückbesinnt (intentio obliqua). Diese Art Rede möchte ich in einem unprätensiösen Sinne die spekulative nennen. Sie hebt sich von der naiven und diskursiven vor allem durch den Umstand ab, daß sie Existenz weder als selbstverständlich voraussetzen, noch Existenz behaupten oder verneinen kann. M. a. W.: Die spekulative Rede kann nur hypothetische Existenzbehauptungen liefern. Ihre positive Bestimmung erfährt die spekulative Redehaltung . . . darin, daß es gerade das Selbstverständliche in Existenzbehauptungen oder- Entscheidungen über Existenz ist, was als ihr Gegenstand in Betracht kommt, d. h. das Problem der Entscheidbarkeit von Existenz." 18 Hier unterscheidet Hogrebe dann zwischen dem Problem der Entscheidbarkeit von Existenz und dem Problem des Verständnisses von Existenz. Entschieden werde Existenz ja gewöhnlich im Hinblick auf gewisse Verfahren, und so werde zum Beispiel als beweisbar, berechenbar, spürbar, eßbar etc. entschieden. „Verfahren, die im Hinblick auf die Existenz entschieden werden, umfassen das, was der Mensch kann. Verstanden hingegen wird Existenz gerade als das, worauf sein Können immer noch angewiesen bleibt. Und gerade aus der Einsicht in diesen Umstand entspringt auch die Idee der Sprache als Haus des Seins (M. Heidegger) und ebenso der Satz H.-G. Gadamers: Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache." 19 „Das, was aller Referenz entzogen ist, ist aber eben das, wovon man nichts sagen kann." 20 D a ß Hogrebe in diesem Zusammenhang auf Thomas von Aquin verweist, ist nicht weiter verwunderlich. Er könnte auch den berühmten Satz Wittgensteins zitieren: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen/Wir haben uns mit diesem Satz sowie mit der irrationalistischen und 18

19 20

7

W. Hogrebe, Archäologische Bedeutungspostulate, Frankfurt a. M. - München 1977, S. 55-56. Ebenda, S. 56. Ebenda, S. 57. Albrecht

97

agnostizistischen Auffassung Heideggers und Gadamers vom Wesen der Sprache eingehend in der Schrift: „Bestimmt die Sprache unser Weltbild?" (2. Auflage Berlin 1974) auseinandergesetzt und nachgewiesen, daß Heidegger und Gadamer; aber auch der späte Wittgenstein, der Sprache ihre Abbildfunktion nehmen. Auch eine Kluft von Verfahren und Verstehen, wie sie bei Hogrebe zu finden ist, ist nicht haltbar. Sie widerspricht der gesamten menschlichen Erfahrung und praktischen Tätigkeit, der Dialektik von relativer, objektiver und absoluter Wahrheit. Wie ist nun der Versuch E. Holensteins, Strukturalismus, Phänomenologie und Hermeneutik zu vereinigen, einzuschätzen? Holenstein will mit seinem Buch „Linguistik, Semiotik, Hermeneutik. Von einer phänomenologischen zu einer strukturalen und funktionalen Konzeption" „die fast gänzlich verschüttete Abhängigkeit der Linguistik, in der Person eines ihrer führenden Vertreter, Roman Jakobson, und seiner Kollegen im Cercle linguistique de Prague, von der Phänomenologie Husserls freilegen."21 Strukturalismus und Hermeneutik hätten nach seiner Auffassung das Auslegungsprinzip gemeinsam, nach dem Teile vom Ganzen und das Ganze von den Teilen her zu verstehen sei. Er spricht von einer hermeneutischen Bewegung der Neuzeit, die er in vier Phasen unterteilt, wobei der Strukturalismus als die abschließende vierte Phase aufgefaßt wird. In einer ersten vorkritischen Phase, die weit in die Neuzeit hineinreiche, nehme die Interpretation ihren Ausgang von einem einheitlichen, dogmatischen Kanon, „von dem geglaubt wird, daß er in unmittelbarer verständlicher Weise alles Wesentliche des Ganzen enthält und daher, wie das Wort es sagt, als Richtschnur dienen kann."22 Als Beispiel hierfür wird die biblische Exegese in der christlichen Theologie genannt. Eine wissenschaftlich fruchtbare Phase der Hermeneutik beginne mit der Loslösung von dogmatisch vorgegebenen Kanones. „Als das Ganze, von dem her ein Dokument zu verstehen ist, wird jetzt der jeweilige Kontext angesetzt, primär der verbale Kontext und sekundär der gesamte Lebenszusammenhang, dem die aufzuklärende Textstelle entstammt. Das Ganze ist nicht mehr etwas Vorgegebenes und von vornherein Durchsichtiges. Es muß selber erst im Fortgang der Interpretationsarbeit freigelegt werden."23 Die theoretische Grundlegung und Entfaltung dieser zweiten Phase sei wesentlich mit dem Namen Schleiermacher verbunden. Die dritte Phase setzte mit Dilthey ein, der einen neuen Faktor der Erkenntnis einführt, nämlich die Gegenwartsbezogenheit des historischen Verstehens. „Den historischen Relativismus, den Dilthey in die Hermeneutik hineinbringt, versucht die Existenzphilosophie Heideggers von einem naiven, positivistischen Historizismus abzuheben, indem sie die 21

E. Holenstein, Linguistik, Hermeneutik. Plädoyers für eine strukturale Phänomenologie, Frankfurt a. M. 1976, S. 9.

22

Ebenda, S. 179.

23

Ebenda, S. 180.

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Geschichtlichkeit des Verstehens ontologisch unterbaut." 24 Der jeweilige Welthorizont des Interpreten ist also das Charakteristikum dieser Phase. In der vierten Phase, die dem Strukturalismus (Jakobson, Lévi-Strauss) zugeschrieben wird, wird davon ausgegangen, daß der jeweilige Horizont des Interpreten gar nicht die geschlossene, monolithische und (mono-) perspektivische Struktur hat, von der die neuere Hermeneutik ausgehe. Für die Theorie des Verstehens, die vom Strukturalismus vertreten werde, sei die Struktur des sprachlichen Kodes beispielhaft. „Eine sprachliche Mitteilung versteht, wer den Kode der betreffenden Sprache beherrscht, d. h. die sprachlichen Elemente und die Regeln, nach denen sich die Elemente aufbauen und zu komplexeren Einheiten verbinden lassen." 25 Der Strukturalismus gehe dabei davon aus, daß alle menschlichen Phänomene, auch die intimsten, „kodiert" sind, das heißt Regeln und Strukturen folgen. „Das Verstehen reduziert sich bei dieser Einstellung nicht auf eine glückhafte Einfühlung, deren Lebenswert im übrigen nicht bestritten wird . . . Wo einem Phänomen Regeln zugrunde liegen, da ist das Verstehen als ein, analytisches* Begreifen möglich." 26 „Die formale Verwandtschaft aller humanwissenschaftlichen Phänomene ist der Grund, weshalb eine Wissenschaft wie die Phonologie, deren Regeln und Strukturen dank der diskreten Natur ihrer Phänomene besonders augenfällig 6Índ, zur Modellwissenschaft aller Humanwissenschaften gezählt werden konnte." 27 Intersubjektive Mißverständnisse ließen sich struktural und funktional aus einer unterschiedlich vorangetriebenen oder divergierenden Entwicklung des universalen Kodes erklären. „Die Regeln des sprachlichen Kodes sind in einem gewissen Ausmaße universaler Natur. Sie gelten für alle Sprachen." 28 Holenstein lehnt „die modische Theorie, nach der die sog. Muttersprache das jeweilige Weltbild durch die Art seiner Wort- und Satzbildung determiniert" 29 als eine aufschlußreiche historische Fehlinterpretation in der neueren Sprachphilosophie ab. Kritische Bemerkungen finden sich auch zur existenzphilosophischen Hermeneutik. Die von der existenzphilosophischen Hermeneutik thematisierte Unumgänglichkeit der Anpassung des Fremdartigen an die eigene Perspektive entspricht einer unterentwickelten Phase der kommunikativen Kompetenz." 30 Die von der traditionellen Hermeneutik mit ihrer Neigung zur Mystifikation der menschlichen Kreativität mit dem unanalysierten Begriff „Wirkungsgeschichte" vorgenommenen Interpretationen werden als „Uminterpretationen" charakterisiert. Ebenso unbefriedigend wie die Zuwendung der neueren Hermeneutik zur intersubjektiven Problematik sei auch ihre Zuwendung zur Sprache. Man be24 25 26 27 28 29 30



Ebenda. Ebenda, Ebenda, Ebenda. Ebenda. Ebenda, Ebenda,

S. 183. S. 184.

S. 185. S. 192.

99

schränkt sich fast ausschließlich auf ad hoc ausgewählte semantische Aspekte der Sprache. „Dabei mißachtet man den eigenen hermeneutischen Grundsatz der wechselseitigen Abhängigkeit der Teile eines Ganzen. Die Sprache ist ein Ganzes von mehreren ineinandergreifenden Schichten, von phonologischen, morphologischen, syntaktischen und semantischen Schichten. Man kann den Sinn vor allem eines poetischen Textes nicht ohne Rückgriff auf seine phonologische und grammatische Struktur freilegen. Dies gilt speziell für seine mögliche Mehrdeutigkeit, die der Hermeneutik so teuer ist. Die Mehrdeutigkeit ist keine letzte, .nichthintergehbare' Eigentümlichkeit der dichterischen Sprache. Sie ist das Resultat der poetischen Textgestaltung. Man vermißt auch eine Auswirkung der Hinwendung zur Sprache auf den Situationsbegriff. Wenn eine Situation sprachlich strukturiert ist, ist sie auch reflektierbar. Zu jeder sprachlichen Leistung gehört die Möglichkeit einer metasprachlichen Reflexion."31 Eine systematische und strukturanalytische Aufarbeitung der auseinanderstrebenden Ansätze würde die Hermeneutik nach Holenstein zu einer Position führen, die heute vom Strukturalismus besetzt werde, „zu einer Position, die man als die vierte Phase der hermeneutischen Bewegung ausgeben kann. Das Ganze, im Hinblick auf das ein Einzelnes verstanden wird, ist jetzt ein System oder ein Kode mit einer universalen Basis und mit einem konvertiblen Aufbau, der nach formalisierbaren Gesetzen entwickelt wird. Etwas ist dann verstanden und aufgeklärt, wenn der ihm gemäße Platz in diesem polymorphen und polyvalenten Universalkode ausgemacht ist, wenn feststeht, welches Teilsystem dieses Gesamtkodes zu seiner Konstitution aktualisiert werden muß."32 Über die angebliche Schlüsselposition, die der Linguistik im Konzert der Wissenschaften zukomme, versucht er „der weitgehend erstarrten phänomenologischen Philosophie einen Anschluß an die Forschungsfronten in den Humanwissenschaften zu verschaffen. Gleichzeitig plädieren sie (die Untersuchungen - E. A.) dafür, die Phänomenologie erneut, wie in ihren Anfängen und in der strukturalen Linguistik des Prager Kreises mit so viel Erfolg gehandhabt, wissenschaftlich zu betreiben".33 Es geht ihm dabei um eine Reintegration von formalen und strukturalen Analysen in die Phänomenologie. Dazu gehöre eine Reinterpretation der phänomenologischen „Sinn-Aufklärungen" im Gefolge der neu erstandenen funktionalen und teleonomischen Erklärungsmethoden. Die Untersuchung der Formen sprachlicher Transformationen durch Husserl sind jedoch kaum als nennenswert zu bezeichnen. Wenn Holenstein darauf hinweist, daß ein von der Phänomenologie erarbeiteter Erkenntnisprozeß, die Ideation oder Wesensschau, stets von einer sprachlichen Transformation begleitet sei, nämlich von einer Nominalisierung (,rot' - die Röte'), „wenn nicht - wie viele anzunehmen geneigt sind geleitet" sei34, so muß doch festgestellt werden, daß die Methode der Wesensschau ebenso wie die Grundannahmen Wittgensteins erkenntnistheoretisch und 31 32 33 34

Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,

100

S. S. S. S.

195-196. 197. 9. 201.

methodologisch den Weg zur Erkenntnis der Zusammenhänge von Sprache und Wirklichkeit, von Sprache und Erkenntnis sowie von Sprache und Gesellschaft völlig versperren. Das gilt in gleicher Weise auch für J. Habermas, der aber im Unterschied zu den hier genannten bürgerlichen Methodologen seine Sprachkonzeption unmittelbar mit aktuellen politischen und sozialen Fragen verbindet, wie sie von der Frankfurter Schule vertreten werden. So behauptet Habermas, daß Produktionsverhältnisse nur im „liberalen Kapitalismus" existiert haben und dem „Spätkapitalismus" überhaupt nicht eigen seien, daß sich die Produktivkräfte des letzteren ohne diese spezifische soziale Form entwickeln: Sie wird einfach als nichtexistent, als bereits überwunden hingestellt. Bei einem solchen methodologischen Prinzip erübrigt sich faktisch die Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise. Das ganze Sozialprogramm der Frankfurter Schule reduziert sich darauf, einer Liberalisierung der sozialen Institutionen, einer Erweiterung des Bereichs der „menschlichen Beziehungen", einer Entwicklung des „kommunikativen Handels" das Wort zu reden. 33 Aus sprach- und wissenschaftstheoretischen Überlegungen zieht Habermas subjektiv-idealistische Konsequenzen. Er zerstört auf der Grundlage seiner sprach- und wissenschaftstheoretischen Konzeption das Fundament einer jeden Wissenschaft, nämlich zu Erkenntnissen zu gelangen. „Die Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen wahrem und falschem Konsensus"36 und die Frage nach Verhaltensweisen, in denen „die in kommunikativem Handeln naiv geltenden Sinnzusammenhänge"37 begründet werden, stehen im Mittelpunkt der sprachphilosophischen Überlegungen von Habermas. J. Simon hat bereits überzeugend nachgewiesen, daß die Konsensustheorie keine Möglichkeit hat, zwischen wahrem und falschem Konsensus zu unterscheiden, denn die Kriterien einer solchen Unterscheidung ergäben sich wiederum auf Grund eines in diesem Zusammenhang unbefragten Konsensus. Damit wiederhole sich hier aber das Dilemma des älteren Rationalismus. Dieses Dilemma hängt auch nach Simon mit einem Mißverständnis des Wesens der Sprache zusammen. Es werde davon ausgegangen, daß Sprache ihre wesentliche bzw. „ideale" Funktion darin habe, Unterschiede zwischen dem Bewußtsein von Individuen auszugleichen, also in einer Differenz von Bewußtsein zu Bewußtsein aufhebenden Verständigung. Sprechen hätte demnach in einen immer allgemeineren Konsensus einzumünden, es hätte sich so letztlich aufzuheben. Gegen eine derartige ideale, transzendente Sprechsituation führt Simon mit Recht W. v. Humboldt und Hegel ins Feld. 38 35

G. Kwiatowski/T. Oisermann u. a., Die sich schöpferisch entwickelnde revolutionäre Lehre,

36

J. Habermas, Vorbereitende Bemerkung zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz,

in: Pobleme des Friedens und Sozialismus, 6/1978, S. 7 4 4 - 7 4 5 . in: J. Habermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, a. a. O., S. 1 1 7 . 37

Ebenda, S. 1 1 6 .

38

J. Simon, Rationalität und Kommunikation, in: Probleme der Sprache. Eine interdisziplinäre Ringvorlesung, Mainz 1 9 7 3 , S. 9 8 ff.

101

So schreibt W. v. Humboldt in seiner Arbeit „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts" über die Sprache: „Jeder braucht dieselbe zum Ausdruck seiner besonderen Eigentümlichkeiten; denn sie geht immer von dem einzelnen aus, und jeder bedient sich ihrer zunächst nur für sich selbst. Dennoch genügt sie jedem dazu, insofern überhaupt immer dürftig bleibende Worte dem Drange des Ausdrucks der innersten Gefühle zu sagen. Es läßt sich auch nicht behaupten, daß die Sprache, als allgemeines Organ, diese Unterschiede miteinander ausgleicht. Sie baut wohl Brücken von einer Individualität zur anderen und vermittelt das gegenseitige Verständnis; den Unterschied selbst aber vergrößert sie eher, da sie durch die Verdeutlichung und Verfeinerung der Begriffe klarer ins Bewußtsein bringt." 39 Diese Position stellt eine klare Distanzierung vom Subjektivismus und Apriorismus dar, von der Auffassung des anfänglichen Scheins partikularer Übereinstimmung, der die Idee evoziert, es sei ein universaler Konsensus erzielbar und die menschliche Kondition sei a priori als defizienter Modus eines solchen Konsensus zu bestimmen. Auch die Auffassungen Hegels über die Sprache lassen eine derartige Position erkennen. Die klassische bürgerliche Philosophie steht damit im diametralen Gegensatz zu den verschiedenen Varianten der bürgerlichen Methodologie der Gegenwart, deren Charakteristika der Subjektivismus und Irrationalismus sind. Auch der „Kritische Rationalismus" mündet in den Irrationalismus, wie die ausgesprochene Gegnerschaft dieser Richtung zur klassischen bürgerlichen Philosophie und zum Marxismus-Leninismus beweist. Der sich verstärkende Einfluß der auf irrationalistischen Prinzipien beruhenden methodologischen Richtungen in der BRD ist klassenmäßig bedingt und hängt mit der apologetischen Funktion der bürgerlichen Gesellschaftskonzeption zusammen. Nur auf der Grundlage der Methodologie des Marxismus-Leninismus kann die objektive Welt wissenschaftlich, das heißt rational erkannt und können ihre Gesetzmäßigkeiten beschrieben werden. Mit Hilfe von Gesetzen erklären wir die durch Beobachtung und Experiment gewonnenen Fakten. Die Gesetze selbst erhalten ihre Erklärung erst im Rahmen von Theorien. 39

W . v. Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf S. 1 6 9 .

die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: Akademieausgabe

VII,

Personenregister

Abramova, N . T. 87 Albrecht, E. 8, 11, 38, 47, 52, 65, 73, 80, 81, 91 Albrecht, K . 47 Amirova, T. A. 39 f. Anaximenes 24 Apel, K . O. 95 Aquin, Th. v. 97 Aristarch von Samos 24 Aristoteles 42, 54, 65, 80, 83, 96 Arnauld, A. 62, 69, 79 Bacon, R. 71 Badura, B. 90 Bar-Hillel, Y. 72 f. Beauzée, N. 66 Becker, K. F. 61 Belinski, W. G. 34 Belkina, G. L. 24 Bense, M. 90 Berka, K . 47 Bernard, C. 59 Bernstein, B. 26, 90 Bertalanffy, L. v. 59 Betti, E. 92 Beyer, H. 79 f. Beyer, W. R. 21 f. Bloortfield, L. 65 Bochenski, I. M. 13 f., 73, 83, 86 Boeckh, A. 92, 93 Boltzmann, L. 45 Bopp, F. 61 Bourbaki 58 Brand, G. 95 Brugger, W. 42 Brunschvicg, L. 59

Bühler, K . 53 Buhr, M. 8 Cagin, B. A. 28 Cannon, W. B. 59 Carmichael, L. 76 Cassirer, E. 93 Chendov, B. 50 Cherry, C. 90 Chomsky, N . 59, 61 ff., 65 f., 68 f., 73, 74 Church, A. 73 Condillac, E. 80 f. Cordemoy, G. 62, 63, 69 Crusius, Ch. A. 83 Curtius, G. 71 Cu vier, G. 71 f. Czichowski, G. 73 Danielsen, N. 61 Darwin, Ch. 24 Demokrit 24 Descartes, R. 62, 63, 69, 80 Dietzgen, E. 43, 44 Diez, Ch. F. 61 Dilthey, W. 92, 93, 98 Dobroljubow, N. A. 34 Dobzhansky, Th. 59, 76 f. Diihring, E. 46,52,60,61,63 Duncker, H. 12 Eggers, H. 90 Eichhorn, J. 73 Einstein, A. 7, 9 Empedokles 24 Engels, F. 11, 12, 24, 25, 26, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47,

103

49, 51, 52, 53, 54, 56, 59, 60, 61, 62, 63, 66, 78, 88 Fahrenbach, H. 95 Feuerbach, L. 13, 19, 34 Fichte, J. G. 12 f., 34 Fodor, J. 66, 74 Fok, W. A. 7 Frege, G. 54, 73, 80, 84, 86 Gadamer, H.-G. 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98 Galois, E. 58 Garaudy, R. 21 Gehlen, A. 76 Glöckner, H. 26 Goethe, J. W. v. 63 Goodmann, N. 73 Gorskij, D. P. 46 Grassery, N. 71 Grekova, I. 87 Grimm, J. 61 Guizot, F. P. G. 32 Habermas, J. 90, 95, 97, 101 Harrison, B. 73 f. Haseloff, O. 90 Hassenstein, B. 90 Hegel, G. W. F. 13, 26, 27, 34, 41, 53, 54, 83, 102 Heidegger, M. 17, 91, 92, 96, 97, 98 Heinrichs, H. 92 Helbid, G. 74 Herder, J. G. 53, 63 Herzen, A. I. 34 Heyse, J. Ch. A. 61 Hilbert, D. 84 Hillmann, G. 13 ff. Hintikka 96, 97 Hogrebe, W. 96, 97, 98 Holenstein, E. 95, 96, 98, 99, 100 Hönigswald, R. 93 Hörmann, H. 90 Horstmann, H. 47 Humboldt, W. v. 53, 63, 96, 101, 102 Husserl, E. 67, 98, 100 Hypolite, J. 21

104

Iljenkov, E. V. 46 Ischreyt, H. 90 Iwin, A. A. 47 Jakobson, R. 98, 99 Jarosevskij, M. 10, 11, 60 Jarzewa, V. 70 Jaspers, K. 16 Jespersen, O. 80 Kambartel, F. 84 Kampits, P. 95 Kant, I. 12 f., 32, 34, 83, 96 Katz, J. J. 65 ff., 74 Kautsky, K. 26 Kedrov, B. M. 19, 46 Kirchgässner, W. 8, 64 Kissel, M. A. 41 Klaus, G. 47 Klein, F. 58 Knjazeva, V. G. 24 Kolsanskij, G. V. 83 f. Kolzova, M. M. 53, 75 Komlev, N. G. 53 Kondakov, N. I. 46, 47, 80 Kors, K. 14, 71 Korsunov, A. 37 Kreiser, L. 47 Kröber, G. 8, 10 Kwiatowski, G. 101

Lancelot, C. 79 Langacker, R. W. 79 Lazarus, M. 80 Leibniz, G. W. 80 Lektorski, W. 19, 24, 46, 60 Lenin, W. I. 7, 19, 20, 22, 24, 25, 26, 27, 28, 35, 36, 37, 38, 40, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 49, 51, 54, 56, 57, 78, 83 Lenneberg, E. H. 75 f. Leontjew, A. A. 64 Lévi-Strauss, C. 99 Lewandowski, Th. 82 Lobas, V. F. 74 f. Locke, J. 38, 80 Loeser, F. 47, 80, 82

Lorf, M. 10 Luhmann, N. 90, 95, 101 Lukacs, G. 17 Markarjan, E. B. 84 Marr, N. J. 71 Marx, K. 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 22, 24, 25, 26, 29, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 41, 43, 44, 46, 48, 49, 50, 51, 53, 54, 56, 58, 62, 63, 66, 70, 78, 88, 89 Meier, G. F. 8, 61 Meljuchin, S. 24, 60 Mercier de la Rivière, L. 31 Meyerson, E. 58, 59 Meyn, H. 90 Mignet, G. 32 Mill, J. St. 80 Mirabeau, V. 31 Mittelberg, E. 91 Moser, H. 90

Narskij, I. S. 44, 46, 80 Niemeyer, O. 14

Oevermann, U. 90, 91 Oisermann, T. 60, 101 Ol'chovikov, B. A. 39 f. Ostwald, W. 45

Panfilov, V. Z. 83 Passy, S. 71 Pawlow, I. P. 75 Perelman, Ch. 92 Pfänder, A. 83 Piaget, J. 57 ff. Plato 65 Platte, H. 90 Plechanov, G. V. 88 Poliakov, G. I. 75 Preti, G. 14, 15 Protassenja, P. F. 53

Quesnay, F. 31 Quine, W. 73, 86, 96

Ramsey, F. F. 73 Reichenbach, H. 85 f. Reimann, H. 90 Révész, G. 53 f. Ricardo, D. 31, 35 Rickert, H. 94 Ricoeur, P. 94 Ritter, J. 93, 95 Rojas, R. 89 Rosenthal, M. M. 46 Rousseau, J.-J. 53 Rozdestvenskij, J. V. 39 f. Russell, B. 80, 81 Safari, H. 60 Saradzenidse, T. S. Sartre, J. P. 15, 17 ff. Schaff, A. 84 f. Schelling, F. W. 34 Schirm, M. 84 Schischkoff, G. 80, 81 Schleicher, A. 71 Schleiermacher, F. E. D. 92, 93, 98 Schmidt, C. 29, 30 Schulze, D. 47 Scdow, J. 92 Segeth, W. 47 Serebrennikov, B. A. 70 f. Shyreswood, W. v. 83 Simon, J. 101 Smith, A. 31 Sombart, W. 25 Steinbuch, K. 90 Steinthal, H. 80, 93 Stoff, V. A. 46, 57 Struve, P. B. 45 Suslov, M. A. 23 Synowiecki, A. 80, 86 Theimer, W. 13 Thierry, A. 32 Thiers, A. 32 Topitsch, E. 90 Tschernyschewski, N. G. 34 Tschesnokow, D. I. 25 Tugarinov, V. P. 46, 57, 78 f., 87 Turgot, A. R. 31

105

Vigier, N. 21 Vinogradov, V. V. 82 Volkov, A. G. 53, 54, 84 Waddington, B. 59 Weber, M. 30 Weinberger, O. 47, 48 Weisgerber, L. 82 Weissraann, H. A. 73

Weydemeyer, J. 32 Whitney, W. D . 71 Windelband, W. 94 Wittgenstein, L. 94, 95, 96, 97, 98, 100 Wright, G. H. v. 82 Zeleny, J. 46 Zimmermann, J.

94, 95, 96

Sachregister

Abbild, Abbildung Abstraktion Aussage

s. Widerspiegelung

37 ff., 63, 70, 73, 85, 87

Bedeutung Begriif

5 3 ff., 68, 76, 78 f., 84 f. 77, 79

11, 17, 38 ff., 41, 44, 48 ff., 52 ff.,

63 ff., 77 f., 79, 85, 89, 102 Bewußtsein

11, 17, 38 ff., 41, 44, 4 8 ff.,

52 ff., 63 ff., 77 ff., 85, 89, 102 45 ff., 58, 86, 95

Definition Denken

s. Begriff

Dialektik

17, 28 ff., 34 ff., 90 26, 58 f., 67 ff.

Irrationalismus

81 ff.

Bedeutungsfeld

Ideologie Interaktion

7, 15 f., 18 f., 22, 25, 37 ff., 42,

Kategorie

26, 58 f., 67 ff., 96 ff., 102

10 ff., 17, 27, 46, 50 f., 54 ff.,.

60, 68 ff., 71 f., 74 Kausalität

59, 94

Klassifikation Kode

25, 45, 49, 70 ff., 85

99 f.

Kommunikation Konsensus Kopula

90 ff.

101 f. s. Hilfszeitwort

Kreativität

99

46, 98 Linguistik Empirismus Evidenz

Existentialismus

Formalisierung

97

67, 87 f.

20, 24, 31 ff., 49 ff., 54 ff., 67 ff.,

77, 81, 84, 100, 102 Gesetzmäßigkeit

s. Gesetz

G r a m m a t i k , historische G r a m m a t i k , logische Grammatik/Logik

Hilfszeitwort Historismus Historizismus Hypothese

21 f.,

24 ff., 37,

42 ff., 5 8 ,

96

48, 58, 87, 100

Generalisierung

Hermeneutik

7, 25, 39 f., 4 7 f., 52, 57, 66, 81

16 f.,

79 ff., 82 ff., 86, 97

67

Existenzbehauptung

Gesetz

Logik

65, 67

61 61, 65, 69, 80

54, 72, 79 ff., 83 ff., 96

91 ff.

Manipulation

89, 95

Materialismus

7, 12, 19 f., 22, 25

Mehrdeutigkeit Metasprache

100 71, 100

7, 10, 15, 18, 22 ff., 33, 37 ff.,

Methode

48 ff., 57, 63, 84, 87, 92, 100 Methodendualismus Methodologie

94

7, 10, 22 ff., 37 ff., 4 6 ff., 5 6 ,

59, 65, 73, 91 ff., 102 Modalität

82 f.

Modalsatz Modell

s. Modalität

15, 21, 25, 38, 71, 87, 99

81 f. 28 94, 98 21, 24, 68, 77

Neopositivismus

27, 38 f., 59, 73 f., 94

Neukantianismus Nominalismus

94, 96 65

107

Objektivismus 30 ff. Ontologie 96 f., 99 Operation, logische 19, 37, 42, 46 ff., 53, 69

Subjektivismus 18 ff., 28, 30, 67, 81, 102 Symbol s. Zeichen Symbolsprache 93 f.

Parteilichkeit 28, 33 ff. Phänomenologie 96 ff. Philosophie 25 f., 49, 59 f., 63, 66, 87 Pragmatismus 13, 14 f. Praxis 12 ff., 37, 67 Prinzip 25 f., 49, 59 f., 63, 66, 87 Pseudobegriffsbildung 16 ff., 54

Textlinguistik 91, 100 Terminologiebildung s. Begriff Theologie 93, 98 Theorie 7, 10, 14 f., 18 ff., 20, 25, 33 ff., 49, 56, 66 ff., 84 ff., 102 Transformation, sprachliche 100 Transformationsgrammatik 61 f., 67 ff.

Rationalismus 61 f., 65 ff., 94, 101 Realismus 65 Reduktionismus 59 Referenz 97 Relativismus 98

Universalien

Satz 83 ff. Sinn s. Begriff Sprachanalyse 94 Sprachbarriere 90 ff. Sprache 7, 19 f., 41 ff., 45, 52 ff., 62 ff., 66 ff., 88 ff., 92 ff. Sprache, formalisierte 71 Sprechakttheorie 96 Struktur 57 ff., 66, 69, 81, 86 f., 99 Strukturalismus 27, 56 ff., 96 ff.

62, 65 ff.

Wahrheit 10, 12, 14 ff., 36, 67, 84, 96, 98, 101 Wahrheitskriterium 13, 67 Weltanschauung 7 ff., 17, 22 ff., 39, 46, 48, 62 f., 69, 73, 88, 91 Weltbild der Sprache 82, 93, 99 Wert 9 f., 30, 33 Wesensschau 100 Widerspiegelung 14, 19 f., 22, 27 f., 35 ff., 41, 49 ff., 56 ff., 63, 87 ff., 98 Wissenschaft 9 ff., 30, 37, 42 f., 49 f., 86 Wort 53 ff., 63, 77, 81, 86, 89 Zeichen

38, 52 ff., 63, 81, 84 f.