Gottfried Kinkels Kämpfe um Beruf und Weltanschauung bis zur Revolution [Reprint 2020 ed.] 9783111558141, 9783111187648


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German Pages 164 [178] Year 1913

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Gottfried Kinkels Kämpfe um Beruf und Weltanschauung bis zur Revolution [Reprint 2020 ed.]
 9783111558141, 9783111187648

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STUDIEN ZUR RHEINISCHEN GESCHICHTE Herausgeber: Dr. jur. ALBERT AHN

Das höhere Schulwesen in der Stadt Köln zur französischen Zeit 1794—1814. Von Dr. phil. Wilhelm Leyhausen. Preis M 2.—.

Heft 6:

In klarer Darstellung gibt der Verfasser einen Überblick über das höhere Schulwesen Kölns in den 20 Jahren der französischen Herrschaft. Kölnische Zeitung. Das höhere Schulwesen in der Stadt Köln zur französischen Zeit (1794—1814) von Dr. phil. W. Leyhausen hat die Entwicklung des Kölner Schulwesens zur Napoleonischen Zeit zum Gegenstande, die Schrift gewährt aber auch Einblicke in die Stimmung der Kölner Bevölkerung. So durchaus franzosenfreundlich, wie oft angenommen, war sie denn doch nicht. Krefelder Zeitung.

Heft

7: Josef Oörres und die Anfänge der preußischen

Volksschule am Rhein. 1814—1816. Alfons Schagen. Preis M 3.—.

Von Dr. phil.

Die vorliegende Untersuchung hat einen doppelten Zweck. Eiitmal soll Josef Oörres als Beamter der preußischen provisorischen Verwaltung der Rheinlande in den Jahren 1814—1816 gewürdigt und somit ein Beitrag geliefert werden zu dem allenthalben neuerwachten Interesse an Oörres' Persönlichkeit. Andererseits erfahren die von ihm ausgeübte Direktion des öffentlichen Unterrichts und vornehmlich die Anfänge des preußischen Volksschulwesens auf dem linken Rheinufer eine eingehende Darstellung. Der ganzen Abhandlung diente vorwiegend ungedrucktes Aktenmaterial der Königlichen Staatsarchive Berlin, Koblenz und Düsseldorf als Grundlage, wobei aber auch die in Betracht kommenden journalistischen Quellen, Gesetzessammlungen und Briefpublikationen in weitem Maße herangezogen wurden. >

Beiträge zur preußischen Finanzpolitik in den Rheinlanden während der Jahre 1815—1840. Von Dr. phil. Emil Käding. Preis M 3.80.

ü e f t 8:

Das Crundthema der Arbeit ist die Beantwortung der zu Beginn des vorigen Jahrhunderts heiß umstrittenen Frage: Ist die Abgabenlast der Rheinlande unter der preußischen Zeit eine höhere als unter der französischen oder nicht? Auf Orund des Aktenmaterials der Staatsarchive in Berlin, Koblenz und Düsseldorf und einer umfangreichen gedruckten Literatur konnte der Verfasser zu einem neuen, überzeugenden Resultat gelangen und damit besonders das Ergebnis der Berechnungen David Hansemanns z. T. widerlegen.

A. Marcus u. E.Webers Verlag (Dr. jur. Albert Ahn) Bonn

STUDIEN ZUR RHEINISCHEN GESCHICHTE HERAUSGEBER: DR. JUR. A L B E R T AHN 10. Heft:

Gottfried Kinkels Kämpfe um Beruf und Weltanschauung bis zur Revolution von

Dr. Martin Bollert Direktor der Stadtbibliothek in Bromberg

BONN A MARCUS UND E. WEBERS VERLAG (Dr. ALBERT AHN) 1913

Inhalt Einleitung 1. Das Thema 2. Die Quellen Erstes Kapitel. Der fromme und rechtgläubige Kinkel. Bis 1841 . 1. Bis zur Habilitation Erziehung. Studium in Bonn, Berlin, Bonn. Promotion und Habilitation. Die Bonner Theologenfakultät 2. Die ersten Dozentenjahre a) Äußere Erlebnisse und Verhältnisse Reisen. Verlobung. Schwester Johanna. 2. theologisches Examen b) Christliches Wesen Stellung zum geistlichen Berufe. Auftreten in der Geselligkeit und im Umgänge. Religiöse Dichtung 3. Kinkel als Lehrer Vorlesungsgebiet. Theologischer Qehalt der Vorlesungen. Lehrtalent. Stellung zur Fakultät und zum Universitätskurator 4. Kinkel als Gelehrter Studien. Untersuchung über die Himmelfahrt Christi 5. Kinkel als Prediger a) Begabung und Lust zum Predigen b) Die Predigtsammlung Rezensionen Die Gottes- und Weltanschauung Zweites Kapitel. Der zweifelnde und negierende Kinkel. Bis 1841 1. Angaben der Autobiographie Das gleichgültige Kind. Der rationalistische Gymnasiast Wert der Autobiographie als Quelle 2. Kämpfe und Zweifel 3. Unchristliche Äußerungen 4. Mangel an Begeisterung für die theologische Wissenschaft .

Sait* 1 1 3 7

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IV Stlte 5. Gefahren für das Verhältnis zur Fakultät 57 Eitelkeit. Verfolgungsvorstellungen. Kleinere Reibungen Drittes Kapitel. Der Konflikt mit Kirche und Fakultät. 1841 . . 62 1. Kinkel und Johanna bis zur Verlobung (Frühjahr 1841) . . 62 Johannas religiöse Verfassung. Kinkels Bekehrungsversuch und sein Erfolg. Kampf gegen die Liebe. Johanna vergöttert Kinkel. Auflösung des Verlöbnisses mit Sophie 2. Innere Entwicklung Kinkels bis zur Verlobung mit Johanna 68 a) Verweltlichung der Poesie 68 b) Religion 70 Religion der Schönheit •Weltschmerz und Rokoko« Zweifel am Väterglauben Scharfe Kritik an Kirche, Orthodoxie und Pietismus Johanneskirche c) Ärger über die Fakultät 74 3. Folgen der Verlobung mit Johanns 76 a) Urteil des Publikums 76 b) Vorgehen des Kölner Presbyteriums 77 c) Vorgehen des Thormannschen Institutes 79 d) Vorgehen der theologischen Fakultät in Bonn . . . . 79 Viertes Kapitel. Wirkungen des Konfliktes 82 1. Das Jahr 1841 82 a) Kampfstimmung 82 Trotziger Protest gegen die feindliche Welt Gesteigerte Lebenskraft b) Schwankende Religiosität 85 Beyschlags Urteil. Merlin Johannas Urteil. Votum der Prüfungskommission. Vorrede zur Predigtsammlung 2. Das Jahr 1842 89 89 a) Amtliche Erlebnisse Remuneration Bewerbung in Marburg b) Erbitterung gegen die Fakultät 92 c) Zurücktreten der theologisch-wissenschaftlichen Interessen 94 d) Religiös-sittliche Unklarheit 97 Predigt in Kraffts Kirche. Abendmahl Feindselige Haltung gegen die Frömmigkeit e) Unsicherheit im Glauben 99 3. Johanna 100 a) Obertritt (Dezember 1842) 100 b) Stimmung und Weltanschauung 103

V Seit*

Fünftes Kapitel. Der Bruch mit Theologie und Kirche. 1843/44 . 1. Das Geständnis an Beyschlag 2. Das Eingreifen des Ministers 3. Wirkung auf Kinkel Haß gegen die Fakultät Rücksichtslose Kirchenfeindschaft Pläne für eine neue Lebensgestaltung 4. Der Konflikt mit Beyschlag Beyschlags Brief Haltung der Freunde Kinkels Unwissenschaft'.ichkeit Stimmung im Winter 5. Der Austritt aus dem Schulamte. 1844 6. Johannas letzte Auseinandersetzung mit Beyschlag. 1844 . Sechstes Kapitel. In der philosophischen Fakultät. 1845/47 . . . 1. Bewerbung und Ernennung Kunstgeschichtliche Studien Bewerbung. Fürsprache des Kurators und der theologischen Fakultät Die .Geschichte der bildenden Künste» Urteile des Kurators. Rheinwalds. Kinkels Arbeitsweise Die Ernennung 2. Äußerungen über das Christentum Das Christentum in der Kunstgeschichte Feindseligkeiten Das „Männerlied" 3. Befestigung im Amte Siebentes Kapitel. Die neue Weltanschauung 1. Verteidigung des neuen religiösen Standpunktes im Gefängnisse 2. Inhalt der neuen Weltanschauung Verhältnis zum Christentum Insbesondere zu Kirche und Priestertum Vorstellung von Gott. Pantheismus Unsterblichkeit. Nirwana Vorstellung von Christus Das Christentum in der »antiken und modernen Kunst* Schluß

107 107 109 III

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Herrn Geheimrat Dr. Wilhelm Erman in Bonn in Verehrung zugeeignet

Einleitung. 1. Das Thema. Gottfried Kinkels Lebenslinie zeigt zwei Höhepunkte von dramatischer Zuspitzung. Es sind die Punkte, wo er mit den herrschenden Gewalten in Kirche und Staat zusammenstößt. Der eine dieser Konflikte drängt den Dreißigjährigen aus seinem ihm von Kindheits Tagen her bestimmten Theologenberuf, der andere schleudert ihn sogar aus Amt und Brot und Vaterland. Da solche Zusammenstöße des Einzelnen mit der bestehenden Ordnung der Dinge verschieden beurteilt zu werden pflegen, je nachdem der Urteilende dem Bestehenden viel oder wenig Recht einzuräumen geneigt ist, und da noch dazu diese Konflikte in die vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts fielen, die mit ihrer tiefen Erregung der Gemüter für eine unparteiische Beurteilung ganz besonders ungünstig waren, so darf es nicht Wunder nehmen, daß die leidenschaftliche Parteilichkeit der Zeitgenossen die widersprechendsten B e u r t e i l u n g e n nicht bloß sondern auch D a r s t e l l u n g e n der Vorgänge geliefert hat. Auch in der Folgezeit hat man sich für Kinkels eigenartiges Geschick lebhaft interessiert, so daß wir heute eine recht umfangreiche Literatur über Kinkel besitzen. Aber kaum die bescheidensten Ansätze zu einer wissenschaftlichen Behandlung liegen vor, und so sind wir an Klarheit über den vielbewunderten und vielgescholtenen Mann nicht viel reicher geworden. Kinkel hat nicht so Unrecht, wenn er sagt: „Es ist über mich bei lebendigem Leibe so viel dummes Zeug, halb als tatsächliche Erzählung, halb als Romanschwindel in die Welt hinausgeschrieben worden, daß ich nicht wünschen kann, als ein so grob geschnitzter B o l l e r t , Gottfried Kinkel! Klmpfe.

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und roh angemalter Ölgötze auf die Nachwelt zu kommen" (Gartenlaube 1873. S. 44). Es soll im Folgenden das redliche Bemühen herrschen, die Farben des Bildes so zu mischen, daß sie dem Menschen, wie er über diese Erde gegangen ist, möglichst ähnlich sehen, wenn ich auch glauben muß, daß Kinkel selber mit solchem nicht geschmeichelten Jugendporträt unzufrieden gewesen sein würde. Ich stelle mir hier die Aufgabe, den Werdegang von Kinkels Wesen und Anschauungen bis zur Revolutionszeit darzustellen, so weit sie an seinen inneren und äußeren theologischen Konflikten erkannt werden können. Zu dieser Aufgabe führte mich die Beobachtung eines auffallenden und schwer erklärbaren Widerspruches in Kinkels religiös-theologischen Anschauungen. Am 15. Januar 1842 unterzeichnet Gottfried Kinkel im Schloß Poppelsdorf die Vorrede zu der Ausgabe seiner Predigten, welche er bei F. C. Eisen in Köln erscheinen ließ. In dieser Predigtsammlung finden sich Aussprüche von folgender Art: Die Reinigung der sündebefleckten Menschen konnte durch nichts anderes bewirkt werden, als durch ein so furchtbares Mittel wie den Tod eines Gottessohnes (S. 92), und an anderer Stelle (S. 79) steht nach einem feurigen Lobpreise von der Hirtentreue Christi der Satz: „O laßt uns niederfallen und ihn anbeten!" Ein Jahr später nur, im Januar 1843 schreibt derselbe Kinkel an Beyschlag (Rheinlande. Bd. 15. 1908. S. 27 und 28): „Wem, der ehrlich und nicht dumm ist, sind nicht die dogmatischen Fundamente gewichen in dieser bangen schweren Zeit . . . Sollte nun endlich die Zeit gekommen sein, den ftávoe wevfiaxotóg wieder als einen zu fassen, das Wort Jesu: ,Niemand ist gut denn Gott allein' in seinem einzig möglichen Sinne zu fassen, daß er sich nämlich Gott gegenüber auch nicht gut . . . nennen mag, u n d so endlich den Punkt zu finden, wo Piaton, Christus, Apollonius von Tyana, am Ende auch Moses und Mohammed, harmonieren ?" Die Frage: wie war es möglich, daß in einem Menschengeiste innerhalb eines Jahres solche Gegensätze wohn-



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ten, wie ging es zu, daß aus diesem Paulus ein Sa°ulus. wurde — ist der Kernpunkt der folgenden Untersuchung. Es wird dabei zunächst Kinkels Entwicklung zum frommen und rechtgläubigen Prediger und Dozenten zu zeichnen sein, sodann werden die Keime der Verneinung in seinen Anschauungen und seinem Charakter nachgewiesen werden, daran schließt sich die Darstellung der äußeren und inneren Vorgänge bei seiner Abkehr vom positiven Christentum; und den Beschluß bildet ein Bericht von seinem Obergange aus der theologischen in die philosophische Fakultät sowie eine Skizze seiner neuen Weltanschauung. Die Arbeit ist umfangreicher, als wünschenswert ist, geworden. Aber ich wollte sie durch eine etwas ausführlichere Wiedergabe der Zitate aus der zerstreuten Kinkel-Literatur bequemer lesbar und nachprüfbar machen und hatte überdies ein ziemlich großes, noch nicht gedrucktes Material aus Akten und Briefen zu veröffentlichen.

2. Die Quellen. Die Hauptquellen für die Untersuchung sind folgende: Die Akten des Kultusministeriums über die Professoren der Universität Bonn, die Akten des Ministeriums des Innern (beide jetzt im Geheimen Staatsarchiv zu Berlin), die Akten des Universitätskuratoriums, des Rektorats, der theologischen und der philosophischen Fakultät in Bonn, des Provinzialschulkollegiums in Koblenz. Das Aktenmaterial gibt über vielfach schief dargestellte Verhältnisse und Vorgänge, wie Kinkels akademische Laufbahn und die Stellung der theologischen Fakultät zu ihm, sowie über das Verhalten des Provinzialschulkollegiums gegen ihn wünschenswerten Aufschluß. Über seine innere Stellung zu den genannten Behörden sowie über seine gesamte religiöse und theologische Entwicklung wird man in erster Linie seine eigenen Schriften zu befragen haben. Hauptsächlich kommen da in Betracht: Meine Kindheit. In: Gartenlaube 1872. — Meine Schuljahre. In: Gartenlaube 1873. — Ferner die Gedichte, und zwar besonders die 1. Ausgabe von 1843; die folgenden Auf1



lagen (die 2. und 3. gab seine Frau Johanna 1850 heraus, die 7. und letzte erschien 1872) sind bedeutend vermehrt, aber auch um manches vermindert, was an frommer Poesie die erste Ausgabe enthielt, und was erst wieder in der 1868 erschienenen „zweiten Sammlung" zum Vorschein kam. Der Freundlichkeit des Herrn Privatdozenten Dr. Carl Enders in Bonn verdanke ich außerdem den Einblick in eine Sammlung von Jugendgedichten, die Kinkel mit eigener Hand in einem Büchlein aufgezeichnet hat: „Ausgewählte Gedichte. Seinem im Glauben und Streben verbundenen Freunde O. Mengelberg, der Verfasser. 18. Okt. 1839." l ) — Als die beiden einzigen theologischen Erzeugnisse Kinkels, wenn man von einer schon 1835 erschienenen Übersetzungsarbeit absieht, sind mir bekannt geworden: Historisch-kritische Untersuchung über Christi Himmelfahrt. In: Theologische Studien und Kritiken. 1841. Heft 3. S. 597—634; u n d : Predigten über ausgewählte Gleichnisse und Bildreden Christi, nebst Anhang einiger Festpredigten. Köln 1842. — Einige Ergebnisse für unser Thema enthalten auch die Abhandlungen: Weltschmerz und Rokoko, ein Zeitbild. In: Deutsche Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben. Hrsg. von Adolph Kolatschek. Juli 1850. S. 182—202. Diese Abhandlung ist schon 1841 niedergeschrieben. — Über Immermanns Merlin. In: Karl Immermann, Blätter der Erinnerung an ihn. Hrsg. von Ferd. Freiligrath. Stuttgart 1842. — Geschichte der bildenden Künste bei den christlichen Völkern. Lieferung 1. Bonn 1845. — Über den verschiedenen Charakter der antiken und der modernen Kunst. In: Gottfried Kinkel, Mosaik zur Kunstgeschichte. Berlin 1876. — Von Briefen Kinkels kommt hauptsächlich die wichtige Veröffentlichung von Max Pahncke aus Willibald Beyschlags Nachlaß in Betracht: Beiträge zur Charakteristik Kinkels und seiner Bonner Freunde. In: Rheinlande. Band 15. 1908. — Einige Ausbeute geben auch die bisher nicht veröffentlichten Briefe Kinkels an seinen Studienfreund C. Krafft, welche der Sohn Kraffts, Herr Pastor H. Krafft in Barmen, Wird von Carl Enders veröffentlicht in: Studien zur rheinischen Geschichte, Heft 9. Bonn 1913.

— 5 — in dankenswerter Güte der Universitätsbibliothek in Bonn überwiesen hat; ebenso die gleichfalls noch unveröffentlichten Briefe Kinkels an Ferd. Freiligrath im Goethe-SchillerArchiv zu Weimar. Wenn die Zahl der Briefe Kinkels, die bisher bekannt geworden sind, noch nicht allzu groß ist,1) so dürfen wir u n s einer ansehnlichen Fülle von Briefen aus Johanna Kinkels Feder erfreuen. Wirklich erfreuen. Denn Johannas Briefe sind so lebensprühend, so voll farbiger Bilder, treffsicherer Urteile, frappierender Vergleiche, witziger Pointen, in einer so angenehmen Mischung von Selbstbewußtsein und Bescheidenheit geschrieben, daß man A. Eloessers Hyperbel verständlich findet: Johanna zeigt in e i n e m Brief tiefereil Verstand und stärkeres Gefühl als ihr Mann in aJlen Werken und Vorträgen (Jahresberichte f ü r neuere deutsche Literaturgeschichte. 1905. S. 422). Will man ihre Briefe jedoch als Geschichtsquelle in einer ihren Mann angehenden Frage benutzen, so muß man sich gegenwärtig halten, daß diese starke, fast männliche Natur ganz Weib, ganz kritiklos war in der Bewunderung des leidenschaftlich geliebten Mannes. Zu nennen a n d : Briefe von J. K-, hrsg. von Marie Goslich. In: Preußische Jahrbücher. Band 97. 1899. — J. K s Glaubensbekenntnis. Mitgeteilt von ihrer Tochter Adelheid von Asten-Kinkel. I n : Deutsche Revue. Jahrg. 27. Band 4. 1902. — Briefe von J. K- an Willibald, Beyschlag, mitgeteilt von Prof. Pahncke, Pforta. I n : Preußische Jahrbücher. Band 122. 1905. — Dazu kommen noch ihre: Erinnerungsblätter aus dem Jahre 1849. I n : Deutsche Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben. Hrsg. von Adolph Kolatschek. April 1851; noch einmal gedruckt, und zwar nach einem etwas abweichenden, teils mehr, teils weniger enthaltenden Manuskripte in: Deutsche Revue. Jahrg. 19. Band 2 und 3. 1894. ') Ich möchte die Gelegenheit nicht unbenutzt lassen, um alle Besitzer von Briefen an und von Oottfried und Johanna Kinkel und von Dokumenten über sie herzlich zu bitten, ihr Material entweder selber bald zu veröffentlichen oder mir leihweise zugänglich zu machen, damit auf diese Weise die vielfach noch lückenhaften Unterlagen für eine KinkelBiographie zur Vollständigkeit gebracht werden.



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Viel quellenmäßiges Material liefern schließlich noch zwei Zeitgenossen, und zwar in Beleuchtung von entgegengesetzten Standpunkten her: Willibald Beyschlag und Adolph Strodtmann. Beyschlag in seiner Biographie des Bruders: Aus dem Leben eines Früh vollendeten. Teil 1. 5. Aufl. Halle 1880; und in der Selbstbiographie: Aus meinem Leben. 2. Aufl. Halle (1896). Beyschlag gehörte als Student zu den begeisterten Verehrern Kinkels; die Entwicklung, die Kinkel nahm, entfernte aber beide weit von einander. Die genannten Werke enthalten neben dem aus gleichzeitigen Aufzeichnungen entnommenen Tatsachenmaterial eine Beurteilung Kinkels, die zu dem Treffendsten gehört, was über ihn gesagt worden ist. Außerdem hat Beyschlag schon 1850 oder 51 eine Charakteristik Kinkels niederzuschreiben begonnen, die — soweit sie vollendet worden war — von mir in den Theologischen Studien und Kritiken 1913. Heft 4. S. 598 —610 herausgegeben worden ist. Sie bringt, geschrieben unter dem frischen Eindruck der Geschehnisse, noch manche neue für unser Thema wichtige Einzelheit, trägt jedoch in ihren Urteilen den Charakter einer Streitschrift gegen Kinkel und seine Anhänger, insonderheit gegen das gerade erschienene Werk von Adolph Strodtmann: Gottfried Kinkel. Wahrheit ohne Dichtung. Band 1. 2. Hamburg 1850. 51. Der Verfasser, der 21 jährige Studiosus Strodtmann, der soeben auf des Ministers Manteuffel eigenste Veranlassung in Bonn von der Universität exkludiert worden war, hat selber die Wertschätzung seines Buches als geschichtlicher Quelle dem nachfolgenden Biographen Kinkels sowohl durch den panegyrischen Ton kritikloser Verherrlichung seines Helden als durch die ein Geschichtswerk leicht verdächtigende Form novellistischer Einkleidung erschwert. Aber der zur Beurteilung des Buches wertvolle Briefwechsel zwischen Strodtmann und Johanna Kinkel, der gerade über dieses Buch im Jahre 1850 gefühirf worden ist,1) läßt erkennen, daß Strodtmann in den tatsächlichen Angaben sich sorgfältig auf Kinkels eigene Tagebuchaufzeichnungen und die von Johanna mitgeteilten Unter' ) Er befindet sich in der Königlichen Universitätsbibliothek Bonn; / d i gedenke, die wichtigsten Teile demnächst zu veröffentlichen.



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lagen stützt und daß auch seine Urteile, so wenig objektiv sie oft sind, doch aufs getreueste Kinkels und Johannas eigene Auffassung der Ereignisse widerspiegeln; „Wahrheit ohne Dichtung, wenn auch hoffentlich nicht ohne Poesie," sagt er selber in einem Briefe an Johanna. Allerdings ist Strodtmanns Material für die theologischen und religiösen K o n f l i k t e recht mager gewesen, 1 ) während wir über Kinkels Jugendzeit viel besser unterrichtet werden. Erstes

Kapitel.

Der fromme und rechtgläubige Kinkel. 1. Bis zur Habilitation. E r z i e h u n g . Kinkel stammte aus dem Pfarrhause des Dorfes Oberkassel bei Bonn und seine Eltern hatten ihn zum geistlichen Stande bestimmt. Der „Vater war ein orthodoxer Reformierter in den steifsten Utrechter Stiefeln, seine Mutter eine erleuchtete tiefgegründete Christin", wie Wichern in seinen Tagebuch blättern sich ausdrückt (12. Juli 1852). Von der Mutter haben auch ganz fremde Personen oftmals zugestanden, daß ihr Wesen etwas Ungewöhnliches und höchst Bedeutendes an sich hatte. Da sie den Gatten an Willensstärke und Weltblick unendlich übertraf, so war sie die Gebieterin des Hauses, und von ihr ging namentlich die Richtung aus, die der Kindererziehung gegeben wurde. „Du warst kein weich und zärtlich Weib, „Das jeder Sturm vom Ziel verschlägt; „Der feste Geist hat auch dem Leib „Die mächt'gen Züge aufgeprägt." (Gedichte. 1843. S. 88)

Sie hatte, wie Kinkel selber erzählt, die Kraft, die Sicherheit und den ganzen Trost ihres Innenlebens in einem lebenl ) Schon Johanna empfand, daß das Buch nicht geeignet war, die zahlreichen während Kinkels Gefangenschaft an sie gerichteten Anfragen, darunter eine der freireligiösen Gemeinde in Königsberg, wegen Kinkels religiösen Konflikten zu beantworten; es sei in diesem Punkte ganz anders geworden, als sie erwartet hätte (an Strodtmann. 3. Juni 1860).



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lagen stützt und daß auch seine Urteile, so wenig objektiv sie oft sind, doch aufs getreueste Kinkels und Johannas eigene Auffassung der Ereignisse widerspiegeln; „Wahrheit ohne Dichtung, wenn auch hoffentlich nicht ohne Poesie," sagt er selber in einem Briefe an Johanna. Allerdings ist Strodtmanns Material für die theologischen und religiösen K o n f l i k t e recht mager gewesen, 1 ) während wir über Kinkels Jugendzeit viel besser unterrichtet werden. Erstes

Kapitel.

Der fromme und rechtgläubige Kinkel. 1. Bis zur Habilitation. E r z i e h u n g . Kinkel stammte aus dem Pfarrhause des Dorfes Oberkassel bei Bonn und seine Eltern hatten ihn zum geistlichen Stande bestimmt. Der „Vater war ein orthodoxer Reformierter in den steifsten Utrechter Stiefeln, seine Mutter eine erleuchtete tiefgegründete Christin", wie Wichern in seinen Tagebuch blättern sich ausdrückt (12. Juli 1852). Von der Mutter haben auch ganz fremde Personen oftmals zugestanden, daß ihr Wesen etwas Ungewöhnliches und höchst Bedeutendes an sich hatte. Da sie den Gatten an Willensstärke und Weltblick unendlich übertraf, so war sie die Gebieterin des Hauses, und von ihr ging namentlich die Richtung aus, die der Kindererziehung gegeben wurde. „Du warst kein weich und zärtlich Weib, „Das jeder Sturm vom Ziel verschlägt; „Der feste Geist hat auch dem Leib „Die mächt'gen Züge aufgeprägt." (Gedichte. 1843. S. 88)

Sie hatte, wie Kinkel selber erzählt, die Kraft, die Sicherheit und den ganzen Trost ihres Innenlebens in einem lebenl ) Schon Johanna empfand, daß das Buch nicht geeignet war, die zahlreichen während Kinkels Gefangenschaft an sie gerichteten Anfragen, darunter eine der freireligiösen Gemeinde in Königsberg, wegen Kinkels religiösen Konflikten zu beantworten; es sei in diesem Punkte ganz anders geworden, als sie erwartet hätte (an Strodtmann. 3. Juni 1860).

digen Glauben an Christi Gottheit, an seine himmlische Sendung und persönlichste Teilnahme für jeden durch ihn Erlösten. Ihre außerordentliche Belesenheit in der Bibel, namentlich aber ihre unerschütterliche Bestimmtheit im Olauben und in allen Grundsätzen konnten auch einem wohlstudierten Theologen imponieren (Gartenlaube 1872 und 1873). Diese Frau, die in brennender Liebe an ihrem Sohne hing, hat ihn mit unwiderstehlicher Gewalt, ja mit fast rigoristischer Strenge in den Bahnen geleitet, die ihr zu seinem Heile zu führen schienen. Und Kinkel l i e ß sich leiten. Als er bei ihrem Tode im November 1835 auf ihr Leben in einigen langatmigen Gedichten zurückblickte, erschien sie ihm wie Monika, die Mutter Augustins: .Doch du hast mit Gott gestritten, .Mutter, einen starken Strauss! .Rissest unablässig betend, .Vor dem Heil'gen mich vertretend, .Mich aus meiner Nacht heraus*.

Und noch aus ihrem Grabe glaubte er die Mahnungzu hören, daß Wissen und Kunst und Lebensgenuß vergäng1lich seien: „richte du zum Ewigen den Lauf!" (Gedichte. 1843. S. 93. 94.) S t u d i e n i n B o n n . Inmitten der Einwirkungen des Elternhauses verliefen Kinkels erste Studienjahre in Bonn, nachdem er im Herbst 1831, als 16 jähriger, ein glänzendes Abiturium bestanden hatte. Von dem Ernste der Theologie zuerst abgeschreckt, lag er, wie er in seiner Vita 1837 erzählt, mit ganzer Seele philologischen Studien ob, daneben immer auch theologische Vorlesungen hörend, bis er endlich durch alles Schwanken hindurch dazu kam, ut hanc humanae eruditionis coronam cunctis animi atque ingenii viribus adniteretur. Die Pforten habe Bleek eröffnet mit exegetischen Vorlesungen, dann seien bei Rheinwald kirchengeschichtliche Vorlesungen gefolgt, bis er schließlich in das innere Heiligtum eintrat unter Führung von Augusti, Nitzsch und Sack. Der junge Student hatte das redlichste Streben, ein frommer Mensch zu werden. So streng war er, daß er so wesent-

liehe Betätigungen des deutschen Studenten wie Trinken und Kartenspielen verwarf, vom Tanzen gar nicht zu reden. Auch die Tagebucheintragungen, die Strodtmann (S. 16 f., S. 21 ff. und 5. 38 f.) überliefert, strahlen eine Inbrunst der Gottesund Heilandsliebe und der Weltverachtung aus, die fast fanatisch wirkt. „So mag denn jedes Band sich lösen, das mich fesselt an die Erde! Scheide die Freundschaft — ich finde einen Bruder in dem Heilande; scheide die Liebe — der Glaube sei meine Braut; scheide die Schwestertreue — ich bin kommen zu der Gemeine von viel tausend Gerechten!'* Aus der ekstatischen Rhetorik spürt man die Kämpfe des Jünglings, dem „Oberströmung des sinnlichen Gefühls" und immer frische und neue Gebilde einer heißen Phantasie zu schaffen machen, so daß er um so heftiger nach Gottes reiner Nähe strebt. Sogar seine Liebe zu Elise Zeller trägt er vor Gottes Angesicht, bereit sie ihm zu opfern: „Gib mir Kraft, deinem Befehle zu folgen, und wenn mein ganzer süßer Liebeswahn dabei zerstieben müßte; denn nicht um Meinetwillen bin ich da, sondern um dir zu dienen, d e r aller Wesen Zweck und Ursprung ist!" Klar stellt er sich sein Lebensziel hin: „Wirken für Gott! — Nicht für Gott — Was bedarf Gott? — aber für meine Brüder, indem ich ¿ie an sein Herz führe!" Bei solchem Eifer darf es nicht Wunder nehmen, wenn er schon mit 19 Jahren im Frühjahr 1834 auf die Kanzel in Seelscheid steigt (Strodtm. S. 30). S t u d i u m in B e r l i n . Vom Herbst 1834 bis zum August 1835 studiert Kinkel in Berlin. Von dieser Zeit wissen wir wenig. Beta, der Kinkel in seiner Londoner Zeit gut kannte, behauptet, daß die preußische Hauptstadt ihn aus den Fesseln seiner theologischen Gebundenheit befreit habe (Gartenlaube. 1862. S. 22). Etwas ähnliches: daß er sich in künstlerische Interessen vertieft und die strenge Lehre des elterlichen Hauses von sich geworfen habe mit der Losung, die Welt nicht zu verachten sondern zu verbrauchen, hat sich Wichern von Kinkels Schwager Bögehold im Juli 1852 erzählen lassen. Er selber hat in seinem Tagebuch den Stundenplan eines Berliner Lebenstages aufgezeichnet (Strodtmann. S. 61), wo

— 10 — der Vormittag mit Bibellesen und Kollegien bei Marheineke, Hengstenberg und Neander ausgefüllt erscheint und das Kollegium bei Hengstenberg mit der Sentenz glossiert wird: „Hier wird der Geist recht brav dressiert, in spanische Stiefel eingeschnürt." Nicht unmöglich, daß dem zum ersten Male der strengen mütterlichen Aufsicht Entronnenen die Großstadtluft für kurze Zeit ins Wanken gebracht hat — tiefer ging solche Wirkung aber nicht. Bei Strodtmann verlautet, obwohl er von Kinkels ästhetischen Interessen viel erzählt, nichts dergleichen, und Beyschlag berichtet sogar, daß er Hengstenbergischen Ansichten gehuldigt habe (Aus meinem Leben. S. 99). Der spätere Professor der Theologie in Greifswald C. Bindemann studierte gleichzeitig mit Kinkel in Berlin und war sein Genosse im kirchenhistorischen Seminar bei Neander. Er rühmt seine seltene Begabung und „eine ausr gezeichnete, besonders auch in gewandter Ausdrucksform sich kundgebende theologische Bildung, eingefaßt von so inniger Gemütsbeziehung auf den Heiland, daß ich die spätere Bahn, die Kinkel in religiöser Hinsicht eingeschlagen hat, nicht ohne die Hoffnung, daß er noch wieder umkehren werde, betrachtet habe" (Rückblicke auf Leben und Amt. Halle 1878. Vgl. Bonner Zeitung v. 23. Juli 1905). Von Neander wurde er mit Vorzug behandelt und er arbeitete in dessen Seminar an einer Abhandlung über die Adoptianer. — Berlins berühmte Kanzelredner machte er sich als Vorbilder zu Nutze. 1 ) Zweiter Studienaufenthalt i n B o n n . Als Kinkel 1835 nach Bonn zurückkehrte, fanden seine Freunde etwas „Fremdes" in seinem Wesen, das sie als Frömmigkeit deuteten, er aber später anders erklärte: „ich war damals in meiner selbst auferlegten Schule, ein Redner zu werden, und da kommt man zur vollen Kunstleistung nicht, ohne in Sprache, Ausdruck und Haltung durch die Affektation hindurch zu gehen." (An Auguste Heinrich. 4. Febr. 1850. Nord und Süd. Band 24. 1883. S. 241.) In dieser Zeit trat ihm zum ersten Male der Gedanke an die akademische

Vita.



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Laufbahn vor die Seele. Nach täglichen heftigen innerlichen Kämpfen befestigte sich dieser Entschluß auf Veranlassung seiner Lehrer. Unter den ungünstigsten Verhältnissen, die der Tod der Mutter (November 1835) und die Kränklichkeit des Vaters (welcher im Februar 1837 starb) veranlagten, bereitete er sich vor 1 ). Über seine Studien liegt ein Bericht von ihm bei den Akten der Fakultät vom 16. Januar 1839. £ r habe den besten Teil seiner Studien auf die historische Theologie verwendet, besonders des Mittelalters, da die ganze Anlage seiner Natur ihn frühe auf Geschichte hinführte. „Meine Tendenz war, die noch weniger beleuchteten Seiten der Kirchengeschichte: die religiösen Volksvorstellungen und die Sitten des Volkes im Mittelalter, zugleich aber die christliche Kunst in ihrer weitesten Ausdehnung, besonders jedoch als Poesie, Baukunst und Malerei zu begreifen. In der späteren Zeit meines akademischen Lebens jedoch wurde ich durch das Bewußtsein, daß ich vor allem eine feste Basis in der früheren Kirchengeschichte gewinnen müsse, auf Exegese hingetrieben." Zunächst habe er sich mit dem Alten Testamente beschäftigt, ohne jene Ausdehnung und Sicherheit zu erstreben, welche dem akademischen Lehrer not ist:') dann mit dem Neuen Testamente. — Daß er auch seine bedeutenden Anlagen als Kanizelredner pflegte, geht aus dem soeben angeführten Briefe und auch daraus hervor, daß er im Sommer-Semester 1836 zum zweiten Male Senior des homiletischen Seminars unter Sack und Nitzsch war und zu jener Zeit auch Predigten in Oberwinter hielt (Briefw. Johanna — Strodtm.). Als eine Frucht seiner kirchengeschichtlichen Studien erschien 1835 in Band 5 von Ilgens Zeitschrift für die hist. Theologie: „Über die Gründung und Entwicklung der neueuropäischen Staaten im Mittelalter, besonders durch das Christentum. Ein Beitrag zur Empfeh») Vita. ' ) Man vergleiche die 1837 gedichteten Verse: „Sey gegrüßt „Des Morgenlandes uralt heil'ge Dichtung! „Wohl hab' ich lang um dich geworben: spröde „Warst du mir stets . . (Gedichte 1843. S. «7.)



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lung der Kirchengeschichte des Mittelalters. Von D. Hermann Johann Royaards, o. Prof. der Theol. zu Utrecht. Aus dem Holland, übers, von Gottfried Kinkel, Mitgliede der historischen Abteilung des evangelisch-theologischen Semi-

nariums zu Bonn."

Promotion und Habilitation. Am 7. April 1837 bestand Kinkel das Lizentiatenexamen vor der theologischen Fakultät. Das Thema seiner (im Druck nicht erschienenen) Dissertation war: ,Vita Joannis Baptistae.' Die Fakultät urteilte: „Herr Kinkel hat zu seinen theologischen Studien eine sehr schöne Kenntnis der klassischen Sprache mitgebracht und sich der Fakultät bei dem mit ihm abgehaltenen Promotionsexamen auf eine ganz vorzügliche Weise in allen Gebieten der Theologie gleich bewandert bewiesen." Der Universitäts-Kurator Rehfues berichtete am gleichen Tage an den Minister Altenstein, er könne aus eigener Überzeugung bestätigen, daß Kinkel ein besonders hoffnungsvoller, wohlgesinnter junger Mann sei, da er seine ganze Bildung hier genossen und in den Seminarien sich immer ausgezeichnet habe. „Auch seine Persönlichkeit ist sehr günstig für seinen Beruf. Er hat eine stattliche schlanke Figur, etwas, zwar noch steifes, aber doch' zur Würde sich neigendes in seiner Haltung, eine sonore Stimme, eine besonders bestimmte scharf akzentuierte Aussprache und in seinem ganzen Wesen einen Ausdruck von Besonnenheit und Gediegenheit, daß man ihm ohne Vermessenheit eine schöne Zukunft augurieren darf." Am 2. Mai fand seine Promotion zum Lizentiaten statt. Am 15. Juli hielt er vor versammelter Fakultät die vorschriftsmäßige Probevorlesung in lateinischer Sprache über das Thema: ,de fide historica et authentica capitis XXI Evangelii Joannei.' „Die Fakultät hatte dabei aufs neue Gelegenheit, dem Lehrtalente des Lizentiaten, seiner gewandten Darstellung und seinem Scharfsinn Anerkennung zu widmen"; und am 26. Juli folgte die öffentliche Antrittsvorlesung in deutscher Sprache: ,de mutato inde ab exilii temporibus theocratiae Veteris Testamenti statu.' Der nicht mehr ferne Semesterschluß schreckte den noch nicht 22 Jahre alten Do-



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zenten nicht ab, sogleich Vorlesungen über die Zeitgeschichte des Neuen Testamentes zu eröffnen. D i e F a k u l t ä t . Von der Fakultät, der Kinkel nun angehörte, entwirft Beyschlag (Aus m. Leben, S. 91) folgend e s Bild: „In der theologischen Fakultät lehrte Karl Immanuel Nitzsch, nach Schleiermachers Tode der erste deutsch-evangelische Gottesgelehrte, und übte durch seine ehrfurchtgebietende Persönlichkeit und seine tiefsinnige Vermittlungstheologie eine bis nach Holstein und in die Schweiz reichende Anziehungskraft . . . Neben ihm vertrat Bleek die biblischen Fächer, der gelehrte, besonnene, gewissenhafte Kritiker der Schleiermacherschen Schule..." Karl Heinrich Sacks „würdevolle geistliche Erscheinung und Lehrweise zog mich an, während er in der Tat das schwächste Glied der Fakultät -war. Schüler Schleiermachers, aber in ängstlich konservativer Verengung, versuchte er sich in allen theologischen Fächern und erstarkte in keinem; sein Lehrerfolg war ein geringer".

2. Die ersten Dozentenjähre. a) Äußere Erlebnisse and Verhältnisse. R e i s e n . Die äußeren Erlebnisse der nächsten Jahre, welche für unser Thema Interesse haben, sind bald erzählt. Im Winter 1837/38 gönnt er seiner angegriffenen Gesundheit eine Reise von fünf Monaten nach Italien. Erwähnensr wert ist, daß er in Rom Philipp Nathusius kennen lernte, den späteren Mitbegründer der Kreuzzeitung, und daß dieser ihm, wie er ihm im Jahre 1850 ins Zuchthaus zu Spandau schreibt, „die erste flüchtige Bekanntschaft und Anregung zu vielem verdankte, was er seitdem weiter verfolgt habe und wovon er damals nichts wußte: von Historie, von deutscher Romantik, von altehrwürdigem Volkstum, mehr als das — vom Christentum, wenn auch nur von seinem geschichtlichen und ästhetischen Dasein" (ungedr. Brief bei den Polizeiakten im Geh. Staatsarchiv). Auch besuchte Kinkel die bedeutendsten Galerien Deutschlands außer München und Wien.1) 1

) Studienbericht an die Fakultät



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V e r l o b u n g . Im Sommer 1838 verlobte er sich mit der Schwester seines Schwagers Bögehold, Sophie. Damit findet sein von mancherlei Stürmen nicht frei gebliebenes Liebesleben für einige Jahre einen ruhigen Ankerplatz. Sophie war ein gütiges, reines, frommes Geschöpf; die beiden Antipoden Strodtmann und Beyschlag sind in ihrem Lobe einig; und Kinkel schildert die Wirkung, die von ihr ausging, in manchem warm empfundenen Verse: »Es spielte auf des Haares Bräune «Der Abendsonne klares Oold; •Es glommen in dem rote Scheine »Die kleinen Lippen wunderhold — «Stillselig, ernst und freundlich milde, „Vollkommne Jungfrau standst du da, »Wie vohl auf einem deutschen Bilde »Ich Hril'ge hochbewundernd sah. »Es ebnete dein stiller Friede »Den Lebenssturm in meiner Brust; »Mir ward so weich und lebensmüde, •Und doch im Innern so voll Lust.' (Oedichte.

Sammlung 2. S. 237.)

Die Verlobung verband ihn durch ein neues Band mit dem orthodox-konservativen Lebenskreise.1) D i e S c h w e s t e r J o h a n n a . Strodtmann wird Recht haben, wenn er erzählt, daß Kinkels Schwester das Verlöbnis zu fördern versucht hat. Ihr, die offenbar seit der Mutter Tode das Amt als Führerin des Bruders übernommen hatte, mußte daran liegen, den mancherlei Einflüssen Zugänglichen in den ihrem Herzen wichtigen Gebieten der Rechtgläubigkeit und Frömmigkeit zu verankern. Über diese Frau kann Strodtmann nicht genug Unsympathisches berichten: in stolzer Verachtung alles Weltlichen habe sie alles nicht schlechthin als religiös sich ankündigende mit einer gesuchten Bitterkeit des Herzens von sich gestoßen und darin auch Bögehold ungünstig beeinflußt (S. 28. 120). Kinkels eigene Äußerungen über sein Verhältnis zur Schwester, der „Genossin einst an Jubel wie an Leide" (Gedichte. 3. Aufl. S. ') Vgl. Adolf Stern, Westcrm. Monatshefte. Band 65. 18M. S. 24.



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213) klingen anders: „an meiner Schwester hing ich mit grenzenloser Innigkeit und ritterlicher Galanterie" (Gartenlaube 1873, S. 181), und noch der Freundin Johanna ¡erzählt er „viel von der Schwester, die im Frieden des Dorfes neben dem wackern Gemahl fand ein bescheidenes Los" (Gedichte. 3. Aufl. S. 163). Aus Strodtmann spricht nichtsanderes als der Haß Johannas, mit dem sie die Abneigung von Kinkels Familie gegen sie selber vergalt. Ein Satz aus Johannas Briefen an Strodtmann wirft ein Licht sowohl auf Kinkels ursprüngliches Verhältnis zu seiner Schwester wie auf Johannas innerliche Stellung zu ihr; sie schlägt eine Streichung in Strodtmanns Manuskript vor: „soll man den Muckern das Vergnügen lassen, daß Kinkel seinen Quälgeist die .Bessernde' nannte?" Z w e i t e s E x a m e n . Nachdem Kinkel im August und September 1838 für einen Freund das Pastorat in Siegburg verwaltet hatte (Strodtm. S. 181), bestand er am 30. September in Koblenz sein zweites theologisches Examen „nicht ohne günstiges Resultat", wie er selber sagt. Seine Prüfungen sind lange Zeit am Rhein als ungewöhnlich ausgezeichnete fast sprichwörtlich gewesen (Beyschlag. Theol. Stud. u. Krit. 1913. S. 598). b) Christliches Wesen. S t e l l u n g zum g e i s t l i c h e n Berufe. Kinkel fühlte sich in jener Zeit auch außerhalb seiner akademischen Tätigkeit durchaus als Geistlicher. „In täglicher Erhebung seiner Seele zu Gott, strenger Haltung und Pflege des Leibes, endlich in geregelter Mäßigung des Arbeitens glaubte er die Quelle der rechten sommerlich warmen Klarheit des Gemütes gefunden zu haben, und war zugleich fest entschlossen, jede sich ihm darbietende Pfarrstelle anzunehmen" (Strodtm. S. 169). Er hatte das Konsistorium gebeten, ihn durchaus als Kandidaten der Synode zu betrachten (Bericht an die Fakultät vom 16. Jan. 1839). Wie sehr er in seinem an der Wirkung auf Menschen ach erfreuenden Sinne das praktische Pfarramt schätzte, zeigt ein Gedicht r das er seinem Schwager Wilhelm Bögehold bei seiner Pfarr-



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weihe am 10. November 1838 widmete. Es gehört zu der oben S. 4 erwähnten Sammlung. Er vergleicht darin seine w i s s e n s c h a f t l i c h e Tätigkeit mit Bögeholds auf das L e b e n gerichtetem Berufe und bemerkt, daß die Wissenschaft oft ein totes Gut sei, welches das Blut schwer und den Menschen krank und trübe mache, und daß die Schäler der Weisheit Wort oft nur halb nehmen, während beim Wirken auf das Leben der rasche Umsatz der erworbenen Gedankenfrucht Freude mache und die Äußerungen des „hohen Zeugenamtes" in Gottes Namen Aufnahme fänden. Es ist das Streben, seiner persönlichen Frömmigkeit einen Ausdruck zu verleihen, wenn er bei der Italienfahrt mit der Schwester vereinbart, für jede Gabe, jede Hilfe, jede kleine Freude sogleich Gott ihren Dank darbringen zu wollen mit dem hebräischen Spruche: „Gesegnet seist du, jehovah" {Strodtmann S. 134) — wobei einem einfallen kann, daß seine spätere Gattin seine damalige Frömmigkeit überspannt nennt (an Strodtmann, 5. Febr. 1850). — An seines Freundes Krafft Erfahrungen im geistlichen Amte nimmt er lebhaften Anteil: Poppelsdorf, 9. Januar 1840. Mein herzlieber Freund! Dein Brief, den ich noch kurz vor meiner Abreise nach Mülheim erhielt, hat mich sehr erfreut wegen der alten Offenheit, mit der Du Erfreuliches und auch Unerfreuliches mir mitteilst. Ich begreife die Schwierigkeiten Deiner Stellung, und besonders was Du über geistliche Mitteilung im Privatleben klagst. Das fühl' ich auch, wie schwer es einem jungen Manne, dem nicht die ältere Persönlichkeit selbst eine gewisse Ehrwürdigkeit verleiht, werden muß, sein geistiges Leben auf eine die Gesellschaft dominierende Art auszusprechen. Schon Bescheidenheit verbietet das Vordrängen. Vergiß aber nicht, daß Du ein Amt hast, und mit ihm die Pflicht hast, geistlich zu sein, geistlich auch im geselligen Umgange. Versuche es: man kann es ohne Heuchelei; ich glaube auch ohne Zudringlichkeit und Vordringlichkeit. Wo es Dir nach dem Versuche unmöglich bleibt, da denk an das Wort zu Paulus gesprochen: laß Dir an meiner Gnade genügen. Im Sturmschritt erobert sich ja das Himmelreich nicht, zumal wo das ihm feindliche Reich schon Wurzel geschlagen hat.



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Und nun noch ein herzlich gemeintes Wort — ich weiß j a , Du legst mirs nicht als ein „Leitenwollen" aus, wenn ich Dir — Gott weiß es — nicht vorschreibe, sondern rate. Sorge doch ja, daß Du Deine Predigten immer ordentlich studierst. Das weiß ich am eigenen Beispiel meiner Nachlässigkeit in Siegburg, wie gerne man sich in diesem Punkte nachgibt, sobald man bei einiger Kanzelfestigkeit das Gefühl hat, zu einer eigenen Gemeine zu sprechen. Und doch hält das auch bei einem Krafft auf die Dauer nicht vor. Nützlich ist, am Sonnabend schlechthin k e i n e n Besuch aus der Gemeine, auch keine Amtshandlung anzunehmen. Ich sehe das bei Boegehold: es gibt Reputazion. TDer Gemeine muß die Predigt wie ein mysteriöses arbeitsames Werk erscheinen, erst dann vergibt sie, wenns dem Prediger auf der Kanzel leicht wird, wie es bei Dir der Fall ist. Auf die Dauer sieht sie gewiß lieber den fleißigen treuen Arbeiter als den stets gewandten Redner in ihrem Geistlichen. Wir leben nicht mehr in der antiken Zeit A u f t r e t e n i n G e s e l l i g k e i t u n d U m g a n g . „Zu den frömmelnden Familien ward er seit seinem öffentlichen Auftreten viel eingeladen, herangezogen, obschon man Anstoß an seiner oft hervorblitzenden freisinnigen Keckheit nahm," schreibt Johanna an Herrn von Henning (Preuß. Jahrb. Band 97. S. 207). Und er selber erzählt am 13. Dezember 1839 Krafft: „Familien besuche ich häufiger — besonders die Thormannsche — mein Ideal. Auch bei Sack war ich vorgestern eingeladen, mit Bauer und zwei Engländern — Friede über Israel! Psalm so und so . . . ." Kinkel wird ein beliebtes und beachtetes Mitglied in Bonns geselligen Kreisen gewesen sein. Wenn er wohl hier und da sich in der Pose der schmerzlichen Zerrissenheit gefallen hat — „der düstre Himmel ich, die Gluten meine Lieder" (Gedichte. 1843. S. 87), so lag doch unter dem ruhigen Ernste seiner Haltung ein freies offenes geselliges Wesen. Der jugendliche Jakob Burckhardt rühmt seine Urgesundheit und ewige Jugendlichkeit (Max Pahncke, Aus Jakob Burckhardts Jugendzeit. I n : Basier Jahrbuch. 1910. S. 130), eine Wanderung an der Ahr mit Kinkel gilt ihm als einer der besten Bissen seines Lebens (Jakob Burckhardt u. G. K. Ungedr. Briefe, hrsg. v. R. MeyerB o t l e r t , Gottfried Kinkels Klmpfe.

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Krämer. I n : Deutsche Revue. Jg. 24. Band 1. 1889), und der alte Burckhardt gesteht, wenn auch widerwillig und knurrend: „daß ich überhaupt Anregungen von ihm empfangen, leugne ich nicht; in seinen freien Stunden war er ein Mensch von vielem und angenehmem Geist« (J- Oeri, Jakob Burckhardt und Gottfried Kinkel. I n : Grenzboten. Jg. 58. 1899. No. 13). Mit seinem Wesen hat er später auch seine Gegner zu persönlichem Wohlwollen gebracht Der Zuchthausdirektor in Naugard erkennt sein „einschmeichelndes Wesen" an (Heinrich von Poschinger, Kinkels Haft in Naugard. 1901. 27. Januar 1850) und Karl Schorn bemerkt: sein Andenken als liebenswürdig wird von allen die ihn kannten in Ehren gehalten werden (Lebenserinnerungen. Band 2. 1898. S. 52). Religiöse Dichtung. Ein gesellig verwertbares Talent war seine Poesie. „Sowohl im Thormannschen wie im Ritsehl - Naumannschen Kreise las man unter Gottfrieds Mitwirkung häufig Schauspiele mit verteilten Rollen, und letzterer trug nicht selten eigne oder fremde Gedichte mit der edelsten Deklamation und dem belohnendsten Beifalle vor" (Strodtmann. S. 191). Es ist hier nicht auf Kinkels Dichtungen näher einzugehen, auf die cr selber ungemessen stolz war. Nur der religiöse Gehalt der Gedichte seiner ersten Periode soll besprochen werden. In Berlin ist der Theologiestudent außer mit einem Trauerspiel ,Prexaspes', dessen Stoff der persischen Geschichte entnommen zu sein scheint, mit einem Epos „Des Kreuzes Triumph" beschäftigt, von dem uns nichts weiter als der Titel durch Strodtmann überliefert ist. Die ältesten datierbaren Gedichte sind die schon erwähnten, beim Tode seiner Mutter im November 1835 entstandenen Verse. Er zeichnet sich da als einen Menschen, der „durch des Irrwahns düstren Graus" geschritten, durch der Mutter Gebet aber auf den rechten W e g gekommen ist und nun als seine Aufgabe es ansieht, streitend den Kranz zu erwerben, den sie schon errungen. — 1837 ist das Gedicht ,Ein Lebenstag' entstanden (Gedichte. S. 67). Wir sehen ihn hier von des Morgenlandes uralt heiliger Dichtung bezaubert und werden an die Worte Theodor Althaus' erinnert, in denen er eine Erklärung für Kinkels ursprüngliche Orthodoxie sucht: „ihm



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konnte der Rationalismus für seinen poetischen Sinn nicht die Fülle großer geschichtlicher Bilder und mystisch glühender Farben gewähren, wie er sie in der Orthodoxie fand" (Aus dem Gefängnis. 1850). — Das in Rom 1837/38 gedichtete ;Gebef (Gedichte. S. 141) bringt eine Vorstellung, in der er sich auch sonst gefällt: er, der kühne Gotteskrieger, ¿m Streite gegen eine Welt von Feinden. Ahnlich ruft er sich in dem Gedichte ,Morgengebet', welches in der Sammlung für O. Mengelberg steht, auf zum Kampfe gegen des Gottesreiches Feinde. Diese Sammlung enthält noch eine größere Anzahl geistlicher Gedichte, denen er in die Ausgabe von 1843 keine Aufnahme gewährt hat. Besonders gern gibt er darin dem Gedanken Ausdruck, in dem er einen Ausgleich zwischen seinen poetischen Neigungen und seinen geistlichen Pflichten findet: daß mit seiner poetischen Gabe die Aufgabe verbunden sei, sie Gotte dienstbar zu machen. So „zum Eingang": Mannigfach ist die Dichtung, einer spiegelt die Welt, einer offenbart sein eigen Herz, einer spricht der Natur Geheimnis aus. „Mir „Das „Mir „Mit

aber steht auf meinem Lebenswege dunkle Kreuz an allen Enden da; ist's das höchste Ziel, die blut'gen Rosen Liederrosen liebend zu umhfillen".

So heißt es in dem Gedichte ,Trost': Oft habe er sich durch Sünden seinen Frieden gestört, er habe sich vom Heile ewig geschieden gefühlt; doch sein Lied habe sich nie der Welt verknechtet. „Die Dichtung aber ist mein tiefstes Leben, „Drum fflhl' ich zu dem Glauben mich berechtet: „Mein wahres Sein, Herr, sei doch dir ergeben".

Und in dem .Gebet des Dichters' fleht er um Stärkung für die irrenden Gedanken, um vollere Ausgießung des Geistes, um hellere Erleuchtung — „so bilde, Herr, mich ganz zu deinem Dichter". Das ist der Kinkel, von dem Beyschlag (Theolog. Stud. u. Krit. 1913. S. 597) schreiben konnte: „Wie lebhaft er sich aufnehmend und sich selbst versuchend als Jüngling die Welt des Schönen zu erobern trachtete, 2*



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sein jugendlich begeistertes Herz wollte doch das alles dienstbar dem einen zu Füßen legen, dem denkend lernend betend immer näher zu kommen sein tägliches Bestreben war." — Ins Jahr 1838 fällt auch noch die Legendejidichtung .Dorothea' (Gedichte. S. 16) und die .Sonntagsstille' (S. 138), in der Kinkel für die Feiertagsstimmung schlichten und innigen Ausdruck findet. „Die Vöglein lds und feiernd schlagen, „So seltsam spielt der Abendwind, „Als wollt' er ein Geheimnis sagen „Von ew'ger Huld dem Ootteskind".

Der Sonntagsfriede zaubert ihm das Bild eines größeren, eines Weltensabbaths vor die Seele, nach dem des Glaubens Sehnsucht ringt „Wenn erst der letzte aller Heiden „Als Bruder an das Heiz uns fällt, „Wenn wir die letzte Garbe schneiden, „Dann ist vollbracht das Werk der Welt!" —

Ein anderes Feierabendlied, das nach Strodtmann am 21. Oktober 1840 gedichtete .geistliche Abendlied' (Gedichte. S. 106) mit dem Kehrreim: „Wirf ab, Herz, was dich kränket. „Und was dir bange macht!*

gehört zu den wenigen Gedichten Kinkels, die sich einen dauernden Platz erobert haben. „Nun stehn im Himmelskreise „Die Stern' in Majestät; „In gleichem festen Gleise „Der goldne Wagen geht. „Und gleich den Sternen lenket „Er deinen Weg durch Nacht — „Wirf ab, Herz, was dich kränket „Und was dir bange macht!"

Demselben Jahre gehört an .Trost der Nachf (Gedichte. S. 119):



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„Die Thränen, die vergessen schliefen, „Nun strömen sie in mächt'gem Lauf: „Es steigt aus wunden Herzenstiefen „Ein rettungahnend Beten auf."

In diesen frommen Gedichten sah Scherr den wahren Kinkel. Er fand darin mehr Stimmung und" Ursprünglichkeit, mehr vom echten Korne der Poesie, als in den, wie ihm schien, mehr nur gemachten und anempfundenen Freidenkereien der zweiten Sammlung (Haidekraut [1883] S. 168). Ähnlich urteilte Beyschlag über Kinkels spätere Gedichte: „Alles was er seit Otto dem Schützen gedichtet hatte, war mittelmäßig; es zeigte den mit dem poetischen Handwerk vertrauten Mann, entbehrte aber des Duftes echter Poesie, der Weihe des Genius" (A. m. Leben. S. 167).

3. Kinkel als Lehrer. Vorlesungsgebiet. Wir geben zunächst eine Übersicht über alle Vorlesungen, die Kinkel als Theologe vom Winterhalbjahr 1837/38 bis Winterhalbjahr 1845/6 gehalten hat. Aus dem Gebiete der alttestamentlichen Wissenschaft hat er nur einmal (Winter 1837/38) Einleitung in die Apokryphen des A. T. angekündigt. Exegese des Neuen Testamentes hat er vielfach vorgetragen: JohannesEvangelium 4 mal, Johannesbriefe 2 mal, Apokalypse 1 mal, Korintherbriefe 5 mal, Katholische Briefe 2 mal, Briefe des Jakobus und Judas einmal. Ferner einmal Bibl. Theologie beider Testamente; einmal eine Praktische Erklärung der Parabeln Christi, und zwar in dem Winter seiner Kölner Predigertätigkeit; einmal das Leben Jesu. Auf dem Felde der Patristik hat er sich je einmal mit einer Vorlesung über Tertullians Apologetikus und über das Gesamtgebiet der Patristik betätigt. Das zweite Hauptgebiet neben Exegese war die Geschichte: je viermal las er über Neutestamentliche Zeitgeschichte und Geschichte des Heidentums von Augustus bis Konstantin und sechsmal Kirchengeschichte in einem zweisemestrigen Kursus. Seit dem Winter 1841/2 kamen dann noch Vorlesungen über kirchliche Archäologie und seit dem Sommer 1843 über christliche Kunstgeschichte dazu.



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Theologisch - wissenschaftlicher Gehalt der Vorlesungen. Über den theologischen Gehalt von Kinkels Vorlesungen vermag ich nichts Genaueres zu sagen, da ich kein Kollegheft in Kinkels Konzept oder in der Nachschrift eines Hörers erlangen konnte. Albrecht Ritsehl, der während seines Bonner Studiums (1839—41) Kinkel hörte, urteilte: „Es ist merkwürdig, wie nur Nitzsch und immer wieder Nitzsch der war, an den man sich in Bonn anschloß, weil seine beiden Kollegen sich1 ihm unbedingt unterordneten. Auch der Lizentiat Kinkel, welcher bei den Studenten einigen Beifall fand, stand dogmatisch in derselben Abhängigkeit von jenem" (Otto Ritsehl, A. Ritschis Leben. Bd. 1. S. 25). Über den wissenschaftlichen Wert der Vorlesungen und über ihre Wirkung auf die Hörer schreibt Beyschlag: „Ich hörte [1841] seine Vorlesung über das Johannesevangelium selbfünft, aber keiner von uns fehlte eine Stunde; — soviel fesselnder war diese lebenvolle theolog. Behandlung, als Bleeks ohne Zweifel viel gründlichere philologische Exegese. Geradezu entzückend aber war uns die von etwa 25 Theologen und Nichttheologen besuchte „Geschichte des Heidentums", in der Kinkel sein Darstellungstalent in aller Weise frei spielen ließ. Es war ein glücklicher Gedanke, das antike Heidentum in seinem Todeskampfe mit dem Christentum zum Gegenstand einer Betrachtung zu machen, die ihren Standpunkt einmal nicht, wie gewöhnlich, innerhalb der siegreichen Macht nahm, sondern in der unterliegenden. Die Vorlesung beruhte — was sich' meiner Erkenntnis damals entzog — durchaus nicht auf selbständigen tieferen Forschungen, aber sie verwertete das Bereitliegende mit solchem künstlerischen Geschick und bot es in einem solchen Glanz der Form und des Vortrags, daß es ein Genuß war, ihr zu folgen" (Aus m. Leben. S. 100). An anderer Stelle hebt Beyschlag stärker die Schwäche des Inhalts als die Anmut der Form hervor (Theol. Stud. u. Krit. S. 600, 601): Kinkels Lieblingsfache, der Kirchengeschichte, hätten die wesentlichsten Mängel angehaftet; von einem tieferen Blick in das Entwicklungsgesetz der Kirchengeschichte war keine Spur; selbständiges Studium fehlte, der



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Vortrag beruhte im großen und ganzen auf dem wahrlich nicht überreichen und übertiefen Lehrbuch von Gieseler; eine große Gefahr lag für die Hörer vor, schönrednerischer Oberflächlichkeit zu verfallen. „War z. B. vom Neoplatonismus die Rede, so meinte man Wunder was man davon habe zu hören: der Neuplatonismus ist der Purpurmantel, in den der sterbende Cäsar, das klassische Heidentum sich' einhüllt, um würdig niederzusinken: danach folgte eine dürftige, unselbständige Skizze, die niemandem die inneren Lebensfäden dieses letzten Triebes antiker Philosophie offen zu legen vermochte." Im Wintersemester 1838 nimmt der Dekan Sack Gelegenheit, Kinkels Vorlesung über den ersten Johannesbrief beizuwohnen, und berichtet darüber (11. Dezember 1838): „Der Vortrag war sehr besonnen, klar, durchdacht und mit Ruhe. Die Gedanken waren zwar nicht neu oder immer unbestreitbar, aber stets von einer Seite haltbar, gründlich und eigentümlich bestimmt. Die Kenntnis der Sprache scheint mir achtungswert." Auf die Vorlesung über Neutestamentliche Zeitgeschichte legte Kinkel besonderen Wert. Er sagte darüber in dem schon mehrfach erwähnten Studienberichte: sie umfasse die politischen, religiösen und sittlichen Zustände der ganzen jüdischen und heidnischen Welt zu der Zeit, als das Christentum wirksam auftrat, sofern dieselben eine freundliche oder feindliche Beziehung zu dem neuen Glauben genommen haben. „Da für diese Disziplin keine frühere Arbeit vorliegt, darf ich hoffen, die Konstruktion derselben nicht umsonst unternommen zu haben, und das Material, wenn auch mühsam, so doch nicht ohne allen Nutzen für die Theologie zusammenzusuchen" (Bericht an die Fakultät v. 16. Jan. 1839). Die Fakultät beurteilte die Vorlesung (29. Jan. 1839) in einer Eingabe an das Ministerium als zweckmäßig und für die Studierenden sehr nützlich. „Der Ausarbeitung hat er mit besonderer Liebe obgelegen und denkt, diese Disziplin in einer Schrift zu behandeln, wenn er noch vollständiger das Material aus der klassischen wie aus der patristischen und späteren jüdischen Literatur wird gesammelt haben." Der Plan ist nicht zur Ausführung gekommen. Die erste Dar-



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Stellung der neutestamentlichen Zeitgeschichte wurde 1862 nach Schneckenburgers zu Bern in den dreißiger Jahren gehaltenen Vorlesungen in Druck gegeben; nachher ist sie durch Hausrath und Schürer ein fruchtbarer Zweig der Theologie geworden. Dem Privatdozenten Kinkel aber gebührt immerhin das Verdienst, zuerst diese junge Disziplin in Bonn eingeführt zu haben. K i n k e l s L e h r t a l e n t . Kinkels Lob als Lehrer und Anreger und Freund der akademischen Jugend wird mannigfach gesungen. Theodor Althaus, der zu Anfang der vierziger Jahre sein Schüler war, besprach, wenn er in den Ferien nach Hause kam, mit der wärmsten Neigung die Erscheinung, das Auftreten, die Redeweise, die Lebensverhältnisse und die Aussichten Kinkels, der aus diesen Schilderungen ebenso sehr als das Ideal eines akademischen Lehrers, wie einer jugendlich-männlich schönen Persönlichkeit hervorleuchtete (Friedr. Althaus, Erinnerungen an G.Kinkel. I n : Nord und Süd. Band 24. 1883. S. 229). Welchen Genuß Beyschlag an dem Glanz und der künstlerischen Form seiner Vorträge hatte, hörten wir schon. In sein Tagebuch schreibt er nach der ersten Vorlesung: „Hinreißend schön! Diese feurige, poetischlebendige bilderreiche Sprache; diese Tiefe und Fülle der Gedanken, die mich ganz bezaubert hat! Noch nie hat mich ein Kolleg so angezogen. Bald hielt ich mit der Feder an, um nur mit meinen Blicken bei dieser Gestalt zu weilen, welche die Grazien und Musen zu umspielen scheinen!" (Pahncke, \V. Beyschlag. 1905. S. 25.) Und Wilhelm Lübke, der in der Mitte der vierziger Jahre Kinkels Vorlesungen über die niederländische Malerei und über Shakespeare hörte, urteilte: „Nichts war fesselnder als die Vorträge Kinkels. Es war weit weniger ein Zergliedern im Einzelnen, o d e r etwa eine philologische Textbehandlung, welche er gab, sondern ein lebendiges Erfassen des Ganzen nach seinem poetischen Gehalt, und auch hier fühlte man in seiner zündenden Rede den starken Pulsschlag des Dichters. Gerade diese Vorlesungen waren es, welche mir das Verständnis der Poesie und der bildenden Kunst zuerst erschlossen, und mochte auch' eine strengere Kritik, die mir jedoch damals glücklicher Weise noch nicht zu Gebote stand, Manches auszu-



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setzen finden, für mich und viele Andere war hier der Schlüssel zu einem tieferen Verständnis, die Anregung zu selbständigem Weitergehen" (Lebenserinnerungen. 1891. S. 102 —104). — Die trockene Bemerkung des Fakultätsberichtes vom 29. Januar 1839: „Von Seiten der Studierenden wird er als Dozent gerne gehört, und sucht sich ihnen auch außer den Vorlesungen nützlich zu machen," wird lebendig erläutert durch Beyschlags anziehende Darstellung eines Studentenabends bei Kinkel. „Es waltete der freieste Ton, ganz anders als in Professorenabenden, da man sich schüchtern ausfragen und belehren ließ, auch zuweilen ein stiller Engel durch das Zimmer schwebte; stundenlang riß das angeregteste, vielseitigste, mitunter auch disputierende Gespräch nicht a b " (Aus m. Leben. S. 101). Als Ritsehl 1839 Kinkel das erste Mal besuchte, wurde er durch die Unterhaltung mit ihm recht gestärkt und aufgerichtet, und er holte sich in der nächsten Zeit noch mehrfach Aufschluß u n d Rat über manche Dinge (Otto Ritsehl, A. Ritschis Leben. Bd. 1. S. 22). Stellung zur Fakultät und zum Universit ä t s k u r a t o r . Es ist Sitte, daß der junge Doktorandus in der Vita, die er seiner Dissertation beifügt, seinen akademischen Lehrern Dank sagt. Es ist eine gute Sitte und sie ist, wie manche andere Sitte auch, zu einer manierlichen Form geworden, in die nicht allzu viel Empfindung hineingelegt zu werden pflegt. Kinkel hat wohl nicht ohne Absicht dem obligaten Danke an seine Bonner Professoren einen ganz besonders herzlichen Ausdruck verliehen: his omnia debeo, quae vel habeo vel valeo; qua de causa hos vera pietate Semper me veneraturum aeque ac dilecturum certo scio. Wir werden sehen, wie sehr sich diese Gesinnung später ändert; aber im Anfange seiner Laufbahn mag dieser Ausspruch der adäquate Ausdruck für seine Gesinnung der Bonner Fakultät gegenüber gewesen sein, wie er ja auch Beyschlag gegenüber Nitzsch' väterlich-freundliche Leitung gerühmt hat. U n d die Fakultät hat offensichtlich das liebenswürdige Wesen des jungen Dozenten, dem sie selber zur akademischen Laufbahn zugeredet hatte (Vita), mit Wohlwollen erwiedert. Nicht minder spricht aus den Berichten des Universitätskurators Reh-



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fues ein lebhaftes Interesse für den hoffnungsvollen jungen Mann. Wir sahen schon, wie die Fakultät ihn mit Anerkennung aufnahm, wie sie seine Vorlesungen beurteilte und seinen Einfluß auf die Hörer schätzte. Am 29. Januar 1839 beantragt sie beim Minister eine Remuneration für ihn und seinen Kollegen Sommer; es heißt in der Eingabe u. a.: Kinkel sei nicht abgeneigt, ein Pfarramt anzunehmen; doch habe die Fakultät im Interesse der Kirche und der Wissenschaft den Wunsch, daß er in der akademischen Laufbahn verbleiben möge. Rehfues befürwortet am 6. Februar das Gesuch der Fakultät wegen der nützlichen Dienste, welche die beiden Privatdozenten der Fakultät bei ihrer dermaligen schwachen Besetzung leisten, „und wegen der vorzüglichen Erwartungen, welche dieselben erregen, und der p. Kinkel in jeder Richtung, als Lehrer, als denkender und forschender Geiehrte, sowie als Kanzelredner". Am 28. Februar wurden denn auch den beiden je 150 Taler bewilligt. — Rehfues scheint sich sogar mit dem Gedanken einer schnellen Beförderung der theologischen Privatdozenten getragen zu haben. Auf eine Äußerung derart bezieht sich ein Schreiben Sacks vom 26. Juni 1839: er könne eine jetzt schon erfolgende Beförderung nicht für ratsam halten. Die beiden Dozenten, schreibt er in seinem manchmal mangelhaften Deutsch, seien in der Entwicklung, „und obwohl in einer glücklichen, so doch eine Unreife in ganzen Hauptrichtungen der theologischen Erkenntnis nicht aufhebend." In ähnlichem Sinne schreibt die Fakultät am 14. Juli an Rehfues: man möge nach dem Abgange des Prof. Redepenning nicht einen ao. Professor nach Bonn berufen. Die Bedürfnisse der Fakultät würden mit Hilfe der beiden Privatdozenten Kinkel und Sommer gedeckt. Diese zur Beförderung zu ao. Professoren empfehlen könne die Fakultät nicht, da nach den Statuten sich die Privatdozenten mindestens 3 Jahre bewährt haben müßten. Aber auch davon abgesehen, sollten sie auch durch schriftliche Arbeiten sich als zur Förderung der theologischen Wissenschaft geeignet bewiesen haben. Dagegen habe die Fakultät den Wunsch, daß ihnen auch fernerhin eine Remuneration von 150—200 Talern jährlich zuteil werden möge.



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Rehfues ging über den Antrag der Fakultät noch hinaus, indem er den Minister am 25. Juli 1839 bat, Kinkel und Sommer zu Repetenten zu ernennen mit einer jährlichen Remuneration. Beide — so führt er aus — erregten schöne Hoffnungen. Jener habe die Kirchengeschichte mit entschiedenem Glück zu vertreten angefangen; in der alt- und neutestamentarischen Exegese hätten beide mit Erfolg gewirkt. Die Haltung und Führung dieser beiden jungen Männer sei nicht nur ohne Tadel, sondern ausgezeichnet. Als daher Kinkel kürzlich von der evangelischen Gemeinde zu Flamersheim zum Pfarrer gewählt werden sollte und ihn um Rat fragte, habe er keinen Augenblick angestanden, ihm die Hoffnung zu eröffnen, daß er in der Fakultät eine Laufbahn machen würde, die ihn für den Verzicht auf die Pfarre ivon F. entschädigen müßte. Sommer sei eine Persönlichkeit von ganz anderer Art, von weniger glänzender Außenseite, aber nicht von geringerem Werte, „bin unverkennbarer Ausdruck von Bescheidenheit und Milde und von frommer Einfachheit mag ihn in den Augen vieler über Kinkel stellen." Auf diesen Bericht des Kurators hatte Johannes Schulze, der Leiter des höheren Unterrichtswesens im Kultusministerium, geschrieben: „ad acta in Erwartung weiterer Veranlassung;" und als nach Verlauf von mehr als einem Jahre noch kein Bescheid ergangen war, brachte die Fakultät am 16. August 1840 ihren Antrag betr. Remuneration für Kinkel und Sommer beim Kurator in Erinnerung. „Ew. Hochw. wird der ausgezeichnete Erfolg nicht unbekannt geblieben sein, mit welchem unterdessen besonders der Liz. Kinkel seine Laufbahn als Privatdozent fortgesetzt hat. Nicht nur fanden seine geschichtlichen und exeget. Vorlesungen von Semester zu Semester größere Teilnahme, eine Teilnahme, die er sich durch fruchtbares Quellenstudium, besonders der Zeitgeschichte des Urchristentums, philolog. Tüchtigkeit und ansprechende Darstellung ebenso wie durch lebendige und freie Anhänglichkeit an schriftmäßiges und kirchliches Bekenntnis erworben, sondern er widmete auch den Studierenden, die er in eigenen Kreisen um sich versammelte, in solcher Weise seine Zeit und sein Talent, daß er sich einen merklich nützlichen und anregenden Einfluß auf ihre Studien verschafft hat." —



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Aus der Antwort, die Schulze am 21. Sept. schließlich erteilt, geht hervor, daß er andere Absichten mit Bonn hatte: Der verewigte Chef (Altenstein) habe Anstand genommen, Kinkel und Sommer zu Repetenten zu ernennen, weil sie ihre wissenschaftliche Tüchtigkeit durch keine namhafte schriftstellerische Arbeit außer Zweifel gestellt hätten. Außerdem habe Altenstein beabsichtigt, den Berliner Privatdoz. Bruno Bauer als ao. Professor nach Bonn zu bringen. — So mußten sich die beiden Privatdozenten mit einer am 9. Dezember 1840 wiederum bewilligten Gratifikation von je 150 Talern begnügen.

4. Kinkel als Gelehrter. S t u d i e n . Kinkel setzte auch als Dozent seine Studien, wie die Fakultät bezeugt, „mit beharrlichstem Fleiße" fort. Auch aus der zunächst unternommenen Reise nach Italien zog er für sein Studium des Mittelalters Gewinn, indem er ach, wie er selbst sagt, „mit ziemlicher Klarheit über die Hauptwerke und Hauptepochen der christlichen Kunst im Süden orientierte." Dem d e u t s c h e n Mittelalter suchte er näher zu kommen durch das Studium des Mittelhochdeutschen und Althochdeutschen; er arbeitete ein Glossar zu Walther von der Vogelweide aus, übersetzte einzelne geistliche Gedichte und studierte Otfrid und Wolfram von der religionsgeschichtlichen Seite. Mit der ihm eigenen Selbsteinschätzung nennt er sich in einem Gedichte dieser Zeit (Sommer 1838) ein „Alexander in dem Perserreich der Wissenschaft," „Prometheus gleich des Wissens Reich beherrschend" (Strodtmann S. 177). Bescheidener klingt, was Strodtmann (S. 169), offenbar auf Grund einer Tagebucheintragung ausführt: ruhig wollte er sich fortentwickeln, emsig suchend Basis, Breite, Erudition zu erlangen und etwaige Lücken leise auszufüllen, um nach höchstens zwei Jahren mit Ehren auf ein Katheder für historische Theologie treten zu können. Untersuchung über die Himmelfahrt C h r i s t i . Aber es sollte nicht zur Ausarbeitung eines für seine Beförderung notwendigen wissenschaftlichen Werkes kommen.



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Gründe gab es zwei dafür; auf den einen, Kinkels wissenschaftliche Veranlagung, werden wir später eingehen, der andere war die Oberhäufung mit Berufs- und Erwerbsarbeiten. Bedenkt man, welche Unterrichtslast an der Universität, als Religionslehrer an der Thormannschen Mädchenschule, seit 1839 auch am Gymnasium auf ihm lag, wie häufig er die Kanzel bestieg und wie lebhaft er überdies in dichterischen Hervorbringungen und in Geselligkeit am Leben seiner Zeit teilnahm, so wird man es verstehen, wenn er dem Freunde C. Krafft gegenüber klagt: „Die Arbeit drückt mich oft und es macht mir großen Schmerz, an einem Buche nichts arbeiten zu können. Gott weiß, wann ich dieses Hindernis meines schnellen Fortkommens werde wegräumen können" (9. Januar 1840). Und zwei Jahre später, als sich sein Verhältnis zur Fakultät getrübt hatte, sagte er voll Unmut in der Vorrede zu seinen Predigten: ein großartiges geschichtliches Bild zu entwerfen und auszuführen, dazu gehöre Muße und vor allem Freudigkeit des schöpferischen Geistes, „und woher sollte die kommen, so lange uns die Sorge zur Seite steht und ins Blatt sieht, so lange das amtliche, von Geschäft und Erwerb überhäufte Leben stündlich seine zerstreuenden Anforderungen stellt"? So ist es denn nur zu einer einzigen rein wissenschaftlichen Veröffentlichung auf dem Felde der Theologie gekommen, .nämlich zu der Arbeit über Christi Himmelfahrt (vgl. oben S. 4). Hier untersucht Kinkel, nachdem er dargelegt hat, daß das Faktum der Himmelfahrt ein Postulat des christlichen Gefühls und der historischen Betrachtung und zur Ausbildung einer vollständigen christlichen Dogmatik unentbehrlich sei, die biblischen Zeugnisse über die Himmelfahrt. Als ersten Punkt stellt er dabei voraus, daß die Berichte des Neuen Test, in Betracht der Zeit, des Ortes und der Umstände völlig unvereinbar seien; er sucht zweitens nachzuweisen aus dem Johannesevangelium, daß eine Himmelfahrt sogleich nach der Auferstehung müsse stattgefunden haben; und schließlich: daß alle Himmelfahrtsberichte ihr Recht behalten, wenn man alle diese Himmelfahrten nicht identifiziert, sondern annimmt, daß Christus mehrere Male, und zwar nach jeder einzelnen Erscheinung



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an die Jünger zum Himmel sich erhoben habe. Er schließt mit der Bitte, man wolle diese Oedanken, falls sie sich als biblisch begründet bestätigen sollten, nicht darum abweisen, weil sie etwa unkirchlich erscheinen möchten. Die Kirche werde nur dann von der exegetischen Kritik berührt, wenn einer ihrer Ideen die historische Grundlage im persönlichen Leben des Erlösers ganz entzogen oder spiritualistisch verflüchtigt, nicht wenn eine solche in eine Mehrheit oder Wiederholung von Tatsachen zergliedert wird. Obwohl Kinkel Textkritik nicht scheut und auf Widersprüche im biblischen Berichte hinweist, führt er die Untersuchung doch ganz in bibelgläubigem Sinne. Für das Faktum der Himmelfahrt sei deutliches evangelisches und apostolisches Zeugnis vorhanden. „Dies immer wieder von neuem zu untersuchen und gläubig sich anzueignen, scheint die einzige Aufgabe der Kirche in diesem Stücke; in solchem Sinne ist unser Versuch zunächst gemeint" (601). Er polemisiert gegen Strauß, dem er vorwirft, daß er zu Zeiten leichtsinnig konjiziere (S. 606); ja er wagt dem kirchlichen Dogma zu Liebe den vor weltlicher Logik recht anfechtbaren Satz: die Wahrheit der Tatsache der Himmelfahrt werde dadurch erwiesen, daß sie ein Postulat des christlichen Gefühls und der historischen Betrachtung und zur Ausbildung einer vollständigen christlichen Dogmatik unentbehrlich sei. Nitzsch hat Kinkels Arbeit eine Vorbemerkung mitgegeben: so gewiß die vorliegende Untersuchung durch das Auffallende ihres Resultates bei den beiden entgegengesetzten Standpunkten unserer Zeit Widerspruch finden wird, so ist sie .doch im theologischen Geiste geführt und enthält viele Beobachtungen des Bestandes der biblischen Erzählungen, die auch dem Dissentierenden Achtung abgewinnen müssen und zum allgemeinen Fördernisse gereichen. „Deshalb und weil der geehrte Verfasser es in jeder Beziehung ansprechen kann, hier zum Worte zu kommen, habe ich nicht angestanden, der Redaktion die Abhandlung zur Aufnahme zu empfehlen." Eine Rezension des Aufsatzes habe ich in Rheinwalds Allg. Repertorium für die theolog. Literatur. Band 36. 1842. S. 71 gefunden. Dort wird er als eine in Invention und



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Ausführung gleich originelle Abhandlung bezeichnet. Der Verfasser sei zu seinen Resultaten unabhängig von Weißes „Evang. Geschichte" gelangt. Er habe die Schwierigkeiten der Berichte durch seine Hypothese sehr glücklich gelöst; „wir hätten nur gewünscht, daß er auch die innere Wahrheit des Faktums der Himmelfahrt einigermaßen hätte feststellen und in der Abhandlung sich mehr seines eigenen; Stils bedienen mögen". — Was mit diesen letzten Worten gemeint sei, ist mir nicht klar geworden. Ch. Hermann Weiße, auf dessen Vorgang hier hingewiesen wird, schreibt (Band 2. 1838. S. 378): „In der frühesten Christenheit ging die Vorstellung dahin: daß die Erhöhung Christi zur Rechten des himmlischen Vaters nicht eine von seiner Auferstehung getrennte, sondern daß beide eine und dieselbe Begebenheit, jede einzelne Erscheinung des Herrn also ein Herabsteigen von der Höhe war, zu der er, verschwindend, jedesmal sich aufs neue erhob." Kinkel erwähnt diese Bemerkung ebenso wenig wie die schon von Karl Hase (Das Leben Jesu. 1829. S. 205) aufgeführte Literatur über die von ihm vorgetragene Hypothese; er wird sie also nicht gekannt haben. Es ist dies Whiston, Sermons and essays. London 1709, und: Jo. Schmid, Whistono multiplicem Christi in coelos adscensionen propugnanti opposita. Lps. 1712. Kinkels Ausführungen haben Widerspruch gefunden durch M. Ferdin. Koerner, Pastor apud Wolkensteinenses: De ascensione Christi iterata contra Kinkelium Bonnensem; in: Biblische Studien von Geistlichen des Königreichs Sachsen, hrsg. von J. E. R. Käuffer. Jahrg. 1. Dresden und Leipzig 1842. S. 161—173. Der Pastor behandelt Kinkel etwas ironisch; er nennt ihn auctor noster amicus oder auch doctor subtilis oder sagt gar, er sei nutnquam quo fugiat anxius. Einleitend macht er den treffenden Vorhalt, Kinkels Hypothese sei nur eine Wiederaufwärmung. Whiston habe dasselbe zu beweisen versucht, und ähnliches Kaiser (monogr. th. ehr., p. 147). K. werde also zugeben müssen, daß er nicht antesignanus sondern pedissequus aliorum gewesen sei. Und was die Hypothese selbst betrifft, so erreiche er nur durch Hineininterpretieren, durch Zerreißen von



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Zusammengehörigem, durch Pressen der Worte sein Ziel: nonne ea est Herculea virtus nil non ausa, nil non experta, et Corsum arbitrium? Körner sucht dies im einzelnen zu «rweisen, wobei er die in ihrem Prinzip verkehrte Hypothese treffend durch den Vergleich angreift: wenn jeder unbedeutende Unterschied in der Erzählung ein Faktum verdoppelte, so würden wir auch eine zwei- oder dreifache Bekehrung des Apostels Paulus haben. Daher, so schließt er, halten wir es für wünschenswert, daß es dem Verfasser nicht weiter gefallen möge, die Rolle einer neuen Sphinx zu spielen, sondern daß er den Scharfsinn seines Geistes, als ein neuer ödipus, mehr zur Lösung als zur Mehrung der Rätsel anwenden möge. Auch die spätere theologische Wissenschaft ist über Kinkels Aufsatz hinweggeschritten. Karl Hase (Das Leben Jesu. 5. Aufl. Leipzig 1865. S. 274) führt Kinkels Hypothese, wonach eine ganze Reihe von Himmelfahrten angenommen werden muß, unter solchen Ansichten auf, „die an das phantastische Gebiet der Gespenstererscheinung anstreifen" und „bei scheinbarer Überschwänglichkeit des Glaubens den Keim des Unglaubens an die Auferstehung in sich tragen; in den sie folgerecht umschlagen". Und Theod. Keim (Geschichte Jesu von Nazara. Band 3. Zürich 1872. S. 619) sagt: „solche Versuche sind der Tod aller Kritik und Exegese". Die neueren Darstellungen des Lebens Jesu von Beyschlag und Weiß erwähnen Kinkel nicht mehr. Somit wird man sagen müssen: Kinkel hat die kritische Methode der vergleichenden Exegese nicht zu einem förderlichen Ergebnis für die Wissenschaft, sondern zu einem mehr oder weniger phantasievollen Harmonisierungsversuche verwendet. Er hat gezeigt, daß er die Literatur des Gebietes, auf dem er sich versucht, nicht hinreichend beherrscht. Und so beweist diese einzige wissenschaftliche Leistung auf dem Felde der Theologie trotz mancher geistreichen Einzelerkenntnis, idaß sein wissenschaftlicher Instinkt nicht groß genug war, um ihn in diejenigen Wege zu leiten, auf denen der Fortschritt seiner Wissenschaft wandelte.



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5. Kinkel als Prediger. a) Begabung and Latft zum Predigen. Kinkels ¡zweite theologische Veröffentlichung, die erste und einzige in selbständiger Buchform, ist auf dem Boden seiner 'Predigttätigkeit entstanden, die er in Bonn, in kleineren Gemeinden der Nachbarschaft und hauptsächlich in Köln, als iHilfsprediger vom August 1840 bis Mai 1841, ausübte. Kinkel war ein Talent, aber kein Genie. Gedanken von Ewigkeitswerte hat er nicht geschaffen, poetische Formen von unvergänglicher Bedeutung nicht gefunden. Aber er besaß eine große Kraft, Fremdes sich zu assimilieren, und er war ein Künstler in der Fähigkeit, was er sich zu Eigen gemacht ¡hatte, an andere weiterzugeben, wobei sowohl die Formulierung des Gedankens wie besonders die persönliche Art der rednerischen Darbietung seine Kunst ausmachte. Er sagt einmal treffend (Gedichte. 3. Aufl. S. 140): .mir ward die H a b e d e s W o r t e s , „Ob es gemessenen Gangs «ecket des Lernenden Sinn, „Ob es im spielenden Vers mir tanzt, ob braust in der Rede: „Immer umwogt es mit Zier seines Gedankens Gehalt.*

Solche nach der Seite des Oratorischen liegende Begabung pflegt von denen, die den Gesamteindruck der Persönlichkeit nicht mehr auf sich wirken lassen können, nicht allzu hoch bewertet zu werden; sie teilt das Schicksal des Schauspielertalentes: dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze. Auch Kinkel ist ja heute, abgerechnet seine Erlebnisse in der Revolution, ein halbvergessener Mann. Um so mehr wird, wenn man von seiner Tätigkeit als Prediger spricht, auf die Wirkung hinzuweisen sein, welche er auf die Zeitgenossen ausübte. Seine spätere Gattin Johanna schreibt an Herrn von Henning (Preuß. Jahrb. 97. S. 216): „Als Prediger hatte er eine große Berühmtheit. Wenn er die Kanzel betrat, strömte das Publikum von allen Seiten, selbst manche Personen von anderen Ortschaften, hierbei . . . Es kamen Männer, die in 20 Jahren keine Kirche mehr betreten und erst Soll e r t, Gottfried Kinkel* Klmpfe.

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bloß durch seinen Ruf als Redner hineingelockt worden, später zu Tränen gerührt zu K. und dankten ihm." Erscheint diese Mitteilung schon wegen der Einzelheiten glaubhaft, so wird sie gestützt durch folgende Stelle in des Kurators Bericht an das Ministerium vom 25. Juli 1839: außer dem Werte, den Kinkel als Lehrer und wissenschaftlich strebender Mann unbestritten habe, sei auch seine Gabe als Kanzelredner von der evangelischen Gemeinde allgemein anerkannt und gereiche der Universität in ihren Augen zur Zierde. Und so wird auch Strodtmann Recht haben, wenn er schreibt (S. 193): „die Gebildeten waren von der rhetorischen Fülle und dem gediegenen Inhalt seiner Predigtein, die stets in der kunstschönsten Form an das Ohr des Hörers gelangten, entzückt". Selbst das Kölner Presbyterium, das ihn, wie wir später sehen werden, aus persönlichen Gründen seines Amtes als Prediger entließ, mußte anerkennen, daß er seine Predigten mit großer Treue und Sorgfalt gehalten habe (Theolog. Arbeiten aus dem rhein. wissensch. Predigerverein. N. F. 9. 1907). Daß Kinkel auf sorgfältige Vorbereitung hielt, zeigt der oben S. 17 mitgeteilte Brief an Krafft. Dazu hatte er die Gabe, wie u n s aus seiner politischien Rednertätigkeit bezeugt wird und wie es Alfred Klaar, der den alten Kinkel bei einem Vortrage in Prag kennen lernte, später (Voss. Zeitung v. 18. Mai 1902 und 14. November 1907) schildert, sich in „die längst zurechtgelegte Gedankenfolge neu einzuleben, so daß man gleichsam in eine redliche Täuschung gerät und die Erregung der ersten Konzeption wiederfindet. Er sprudelte alle diese kunstvollen Sätze hervor und sprach so, als ob die Gedanken im Moment entstünden". Unterstützt wurde seine Wirkung durch seine körperliche Erscheinung. Noch Alfred Klaar ist bezaubert von dem geistvollen energischen männlichen Kopf und den blitzenden Augen; und den jungen Kinkel zeichnet Lübke, der Kunstkenner, folgendermaßen: „Er stand in der vollen Blüte erster Manneskraft: eine schlanke Gestalt, deren geschmeidigen Formen die spätere Korpulenz noch keinen Abbruch tat; ein edles Antlitz mit dunklem Haar und Bart und tiefen leuchtenden Augen; vor allem aber mit einer Stimme begabt, die bald tief wie Glocken-



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ton, bald weich und einschmeichelnd ans Ohr drang, und deren reiche Register der Redner gern in etwas absichtlicher Weise zur Verstärkung einer fast bühnenmäßigen Wirkung zur Geltung zu bringen liebte" (Lebenserinnerungen. S. 101). Voll hohen Lobes ist auch Schurz, selbst einer der ersten Redner seiner Zeit. (Lebenserinnerungen. Band 1. Volksausg. 1911. S. 68.) Es scheint, als ob sich Kinkels Neigung zu theatralischem Pathos in dem Maße gesteigert hat, in dem er sich in seine Rolle des Kämpfers gegen eine feindliche Welt hineinlebte. Im Revolutionsjahre 1848 hörte Paul Heyse seine Vorlesungen und sah in ihm nichts anderes als einen „Schönredner, der mit selbstgefälliger Würde sein Auditorium zu bezaubern suchte" (Jugenderinnerungen u. Bekenntnisse. 1900. S. 94); und Friedrich Spielhagen urteilte: „Gewiß war Kinkel ein bedeutender Redner, aber er hatte, mochte er auf der Volksrednerbühne oder auf dem Katheder stehen, etwas gemacht Pathetisches, das ein feineres Ohr unerquicklich berührte" (Finder und Erfinder. Band 1. 1890. S. 286). Kinkel bestieg zweifellos gerne die Kanzel. Hatte ihn schon bei der Abschiedsrede, die er als Abiturient in der Aula des Gymnasiums hielt, die große festlich gekleidete Versammlung zu feurigem Schwünge erhoben (Gartenlaube. 1873. S. 211), so empfand er auch auf der Kanzel die dem begnadeten Redner notwendige geistige Resonanz der Massen, die „Begeisterung, welche im Augenblicke, wo die Orgel schweigt und der Anblick der harrenden Gemeine des Redners Brust freudig schwellt, ergreifend aus den Tiefen des Gemütes hervorbricht" (Predigten. S. XI). Das Gedicht,Sonntagsstille' (Gedichte. 1843. S. 138) hatte ursprünglich in der Sammlung von 1839 noch zwei später unterdrückte Einleitungsstrophen, von denen die erste seinen Stolz auf die sonntägliche Priestertätigkeit erkennen läßt: „Vollendet ist des Tages Mühe, „Vollbracht das hohe Ehrenamt, „Des heilige Glut mich von der Frühe „Bis zu des Abends Schein durchflammt. „Des Volks Gebete trug zum Throne „Vor dem Altar mein Mund empor; „Das Wort vom eingebornen Sohne „Verkündet wards dem offnen Ohr "





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Die hohe Meinung, die er von seiner Aufgabe im Lehrund Predigtamte hatte, spricht sich auch in zahlreichen Stellen der Predigten selber aus: „wir sollen unsern Glauben als Bekenner und Gottesboten in die Welt tragen; wir sollen jeden in die Gemeinschaft mit Christus hineinzuziehen suchen und tatkräftig in der Welt dastehen als lebendige Beispiele dessen, was Christus an den Menschenseelen vermag" (S. 163. Vgl. auch S. 92.) Ganz naiv überträgt er sein Streben nach Auszeichnung sogar auf seine Jenseitshoffnungen. „Je größer die Treue im Dienste hinieden ist, desto größer wird der Anteil an der Mitherrschaft im Gottesreiche sein. Höchster Preis winkt dem, der auch andre Seelen mit sich führt vor Gottes Thron. Wie die Sterne werden die leuchten in ihres Vaters Reich, welche Viele zur Gerechtigkeit geführt und mit dem einen Pfunde des eigenen Geistes viele andre Geister erworben haben" (S. 53). b) Die Predigtsammlung. Die allgemeine, ehrenvolle Teilnahme, welche Kinkels Predigten beim mündlichen Vortrage gefunden haben, hat — wie der Verleger F. C. Eisen in der Einladung zur Subskription sagt — den Herrn Verfasser zu dem mühsamen Geschäfte bewogen, aus der meist kürzer und schlichter abgefaßten Handschrift dieselben in die Form zu verarbeiten, in welcher er sie gehalten hat. Die Predigtsammlung, weicht 1842 erschien, enthält Predigten aus der Zeit vom Juli 1839 bis vor Pfingsten 1841, welche er in Bonn, Mülheim am Rhein und hauptsächlich in Köln gehalten hat, wo er vom August 1840 bis zum Mai 1841 der evang. Gemeinde als Hilfspredigear diente. Es sind darin 15 Gleichnispredigten und 8 Festpredigten. R e z e n s i o n e n . „Ich stelle zunächst die Urteile zusammen, die ich über dieses Werk gefunden habe. Kinkel hatte am 8. Mai 1842 ein Exemplar an den Minister Eichhorn gesandt mit der Bemerkung, daß er freilich lieber eine streng wissenschaftliche Arbeit eingeschickt hätte, daß aber die Pflichten des akademischen Lehramtes ihn bisher am Abschlüsse eines bereits durch fünfjährige Vorstudien



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und Sammlungen vorbereiteten Werkes über die Geschichte des Heidentums gehindert hätten. Johannes Schulze hatte das Buch dem Wirkl. Ober-Konsistorialrat Theremin zur Begutachtung geschickt, der am 18. Juni auf das Aktenstück die etwas orakelartige Bemerkung schreibt: „Es ist, wie es mir scheint, hier meine Aufgabe, nicht diese Predigten in jeder Beziehung zu beurteilen, sondern nur die lobenswerten Seiten daran hervorzuheben. Ich werde demnach sagen, daß in denselben ein christlicher Inhalt in einer gebildeten Sprache dargestellt ist." Diese vorsichtigen Worte wendete das Ministerium zu einem Lobe, indem es am 27. Juni Kinkel für die Mitteilung seiner „eben so sehr durch christlichen Inhalt wie durch eine gebildete Sprache sich auszeichnenden Predigten" dankt und „gerne diese Veranlassung benutzt, ihn seiner besonderen Wertschätzung zu versichern." Von den kritischen Zeitschriften brachte zunächst das Repertorium der gesamten deutschen Literatur, hrsg. von E. G. Gersdorf, Band 33. 1842. S. 19—21, eine Besprechung. In den weiten homiletischen Sprechsaal Deutschlands führe sich der Verfasser nicht unvorteilhaft ein. Die Predigten suchten durchgängig das spezifisch Christliche hervorzuheben. Sehr glücklich sei die Klippe vermieden, in die Parabeln etwas hineinzulegen, was sie nicht enthielten. Auch' in Bezug auf die Sprache lasse sich nur Gutes sagen. Ohne gerade durch ästhetische Kraft der Redekunst, durch überraschende Ansichten oder ungewöhnliche Wendungen und rührende Schilderungen das Gemüt in Bewegung zu setzen, geselle sich doch zu dem praktisch Anschaulichen der Wahrheit und der Ruhe eine Bestimmtheit des Ausdruckes, welche auch geringere Nachlässigkeiten der Sprache sorgsam vermeide. Inwieweit sie vielfältig durch nüchterne und klare Bibeldeutung das rechte Verständnis der Bibel aufschließen, mögen sie noch besonders darum in einer Zeit empfohlen sein, in welcher die Bündler sich' den Eingebungen einer exaltierten Phantasie zu einem eigenen Verständnis der Bibel überlassen und über dem Hangen am toten Buchstaben den lebendigen Geist verfliegen lassen. Im Jahre 1843 ließ sich auch Rheinwalds Repertorium für die theolog. Literatur, das schon die Untersuchung über



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die Himmelfahrt besprochen hatte, vernehmen (Bd. 43. S. 241 bis 244). In den Predigten über die Gleichnisse sei eine schöne J3ereicherung der hierher gehörenden Literatur zu begrüßen: „Es ist nicht ein vom eigentlichen Boden des Christentums losgetrenntes, und darum flaches und seichtes Räsonnieren, sondern ein lebendiger Geist weht uns aus diesen Predigten entgegen, in welchen zwar immer das hervorgehoben wird, daß das Christentum, wenn es ein wahres sein soll, Früchte treiben müsse, aber ebenso auch dies, daß die Früchte nur dann gute sein können, wenn sie aus einem vom Geiste Christi wahrhaft durchdrungenen Innern hervorkommen." Die Tiefen des menschlichen Herzens werden mit großem Scharfsinn und sichtbar durch Erfahrung erworbener Menschenkenntnis aufgedeckt. „Ein tiefer sittlicher Ernst gibt sich überall in diesen Predigten kund." — Öfters finde sich der Fehler, daß der Text nicht hinreichend benutzt wird, daß er gleichsam nur zum Ausgangspunkte dient. „Sonst aber werden uns diese Predigten in einer schönen, sichtbar mit Liebe und großem Fleiße durchgearbeiteten Form angeboten. Die Diktion ist würdig und edel; die Sätze klar und einfach, und gerade durch ihre Einfachheit so ansprechend und eindringlich. . . Die Begeisterung für die Sache verrät sich oftmals in schönem rhetorischen Schwünge." Ein Beispiel in Pr. 4. „Der Sinn des Gotteskindes ist wie ein stilles Meer mit klarer Flut, von unten aber schimmern die Schätze der Tiefe herauf. Das ist der Friede Gottes und das Lächeln, das von den hellen Stirnen derer leuchtet, die Gottes Reich im Herzen tragen. Keine Not "bricht, keine Finsternis der Trübsal, kein Schatten des Todes erdrückt sie, denn sie tragen in sich die Sonne der Gerechtigkeit. Und so schreiten sie glücklich und befriedigt durch das sturmvolle Dasein, auf dem Dornenwege der Pflicht und durch das dunkle Tal des Todes, und in allem dem überwinden sie weit, weil sie wissen, ¡daß nichts sie zu scheiden vermag von der Liebe Gottes!" Die F e s t p r e d i g t e n sind weit weniger befriedigend. Die eigentliche Idee des christlichen Festes ist nicht ergriffen, sie wird nicht dargelegt, entfaltet, „sondern es ist mehr ein Reden darüber, der Art, daß man, wenn man die Pr. gelesen hat, nicht recht weiß, was denn eigentlich Erbauliches ge-



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boten worden sei, und ziemlich leer davon geht." Am auffallendsten trete das hervor in der Osterpredigt über Joh. 20, 11—18. Hier sei das T h e m a : Wie sollen wir das fromme, aber unbestimmbare Auferstehungsgefühl, welches der Anblick der blühenden Natur in uns weckt, zur Klarheit und bewußter Tätigkeit erheben? Abgesehen davon, daß ein unbestimmtes Auferstehungsgefühl nie das Thema einer christlichen Osterpredigt sein sollte, ist auch die D u r c h f ü h r u n g des Themas nicht gelungen: denn Maria Magdalena am Grabe Jesu, welche u n s als Vorbild hingestellt wird, hatte gar keine solchen Empfindungen, und von unseren derartigen Gefühlen, von ihrer Erhebung zur Klarheit und bewußter Tätigkeit, ist in der ganzen folgenden Predigt gar nicht mehr die Rede, so daß man am Ende derselben notwendig fragen m u ß : was ist denn nun ihr eigentlicher Sinn und Inhalt? Beyschlag urteilt (Theol. Stud. u. Krit. 1913. S. 597), die Predigten seien ein Zeugnis von Kinkels Jugendliebe zum Heilande, von seinem Ernst, ihm nachfolgen zu lernen, so sehr sie zugleich die ganze Unklarheit und Seichtigkeit seiner damaligen Anschauungen verrieten; einige der Predigten wären immerhin das Beste, Tiefste, was er geleistet habe. Nach diesen Proben fachmännischer Beurteilung darf ich mich einer Besprechung vom Standpunkte der Homiletik aus, die ich mir nicht zutraue, enthalten. Doch, da die Predigten die Hauptquelle für unsere Kenntnis von Kinkels derzeitigen religiösen Überzeugungen bilden, soweit er sie öffentlich bekannt hat, so wird eine eingehendere P r ü f u n g unter diesem Gesichtspunkte gerechtfertigt sein. Die G o t t e s - und W e l t a n s c h a u u n g der P r e d i g t s a m m l u n g . Vorab ist dabei bemerkenswert, daß die Predigten, deren zuletzt gehaltene dem eingangs (S. 2) angedeuteten Umschwünge Kinkels zeitlich nahe liegen, nicht, wie man vermuten sollte, eine Entwicklung von strenggläubigen zu liberaleren Anschauungen verraten. Die älteste der Predigten (Pfingsten 1839) enthält die freisinnigsten Gedanken, die letzte (vor Pfingsten 1841) ganz orthodoxe. Gleich in der ersten Predigt faßt Kinkel seine christlichen Überzeugungen in drei Sätzen zusammen: „Wer kann sich von dem Gedanken entwöhnen, daß ein liebevolles Vater-



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auge uns überwacht, uns und die unserm Herzen teuer sind? Wer möchte leben und dem Dasein nach dem Tode festen Blickes entgegengehen ohne den Oedanken, daß im Gerichte Christus der Fürsprecher ist für die Sünden der Welt? Wer hätte Lust, sein Tagewerk zu tun, wenn er nicht hoffte, daß auch durch seine Arbeit die Welt dem Ziele näher gebracht werde, welches 'die christliche Weissagung ihr bestimmt: Wohnsitz nämlich eines geheiligten Menschengeschlechtes zu werden?" (S. 5.) Verfolgen wir diese Oedanken weiter. Ohne die, G o t t e s e r k e n n t n i s , von Christus offenbart, ist alles Erdenwissen Nacht; sie bezeugt, daß über der Erde und ihrem Wirrwarr ein fester lebenvoller Wille steht, der auch das den Menschen Widersinnige zum Gleichmaß formt, vor dessen Auge' das was uns ein Flecken scheint nur zum Schatten wird ¡auf dem großen Gemälde der Welt und der Natur. Mit dieser Gotteserkenntnis überschaue ich freier mein eigenes Schicksal und gewinne die Gewißheit, daß eine ewige Güte meine Sterne lenkt (S. 133). — Neben solchen geistig-sittlichen Vorstellungen stehen sinnenfälligere von Gottes Allmacht und von den überirdischen Wesen, die ihm dienen oder ihm widerstreben. „Die Engel sind seine flüchtigen Boten, sein Saum füllt, wie einst Jesajah ihn schaute, den ganzen Tempel der Natur, und selbst über der Hölle steht sein reines Gottesauge unwandelbar fest, seinen Namen hören die Teufel und zittern. Vom Sandkorn bis zum Cherub, der vor seinem Thron das Antlitz mit den Flügeln deckt, ist Alles Alles Reich Gottes" (S. 166). Der Teufel, der sich auf die Schrift beruft, erscheint hier ebenso körperlich wie in der Versuchungsgeschichte des Herrn (S. 56), und das Beispiel Satans, der unter den höchsten Geistern am Throne Gottes stand, aber, als der Stolz in ihm aufquoll und der Neid, daß er nicht Gott gleich sei, vom Himmel fiel wie ein Blitz, wird als Warnung gegen den Hochmut benutzt (S. 52). — Die Vorstellungen von C h r i s t u s sind nicht ganz einheitlich. Der Glaube an ihn ist einmal der Glaube an den Anfänger eines neuen und edleren Menschengeschlechts, an den Versöhner zwischen Gott und Welt, als das einzige Vorbild der Nachahmung (S. 105), wobei die menschliche



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Bedeutung mehr hervorgehoben erscheint; aber zahlreicher sind die Stellen, in denen seine Gottheit betont wird. „Er ist gewißlich des lebendigen Gottes Sohn" (S. 7). Er wird identifiziert mit dem johanneischen Logos, der in vorweltlichen Zeiten bei Gott existierte: „denn er ist ja das Wort des Lebens, durch welches der Vater die Welt und alle Geister in ihr erschuf" (S. 83); ja Kinkel scheut nicht vor der Folgerung, daß die Sittengesetze der vorchristlichen Menschheit und ihr Gewissen „eigentlich doch von Christo ausgehen, da er als das Schöpferwort den Weltlauf nach dem Gesetze der Vergeltung selbst geordnet hat" (S. 115). Die Auferstehung des Gekreuzigten ist „eine große Tatsache", durch die Gott selbst Christum „zum Herrn aller Kreatur gesetzt hat" (S. 159). „Wir finden ihn im Himmel, wohin auch sein verklärter Leib sich erhub, wo der sterbende Stefanus ihn zur Rechten des Vaters schaute, von dannen wir ihn zurückerwarten zum Gericht über Lebendige und Tote" (S. 158). Die Erscheinung, die Paulus vor Damaskus hatte, wird ohne jede visionäre Verflüchtigung gedacht: Christus „ist vom Throne herabsteigend in menschlicher Gestalt dem Paulus erschienen" (S. 169). Christi descensus ad inferos begegnet bei Kinkel keiner Schwierigkeit: „während sein Leib im Grabe ruht, steigt seine Seele zum Orte der Verbannung hinab, er predigt den Geistern im Gefängnis und wirbt die Glaubenden für sein Reich" (S. 167). In Kinkels Auffassung des Zentraldogmas vom Opfertode Christi machen sich zwei Strömungen geltend. In der einen Auffassung erklärt er den Tod Christi mehr in menschlich psychologisierender Weise. „Um Liebe will mit Liebe geworben sein. Hier liegt der eine Zweck des Todes Christi verborgen: Gott versöhnte durch ihn die Welt mit ihm selber, indem er seine Liebe zur Welt "auf die mächtigste und ergreifendste Art offenbarte . . . darum hat auch die Menschheit solcher Liebe sich nicht entziehen können, sondern ist unters Kreuz getreten und hat den angebetet, den sie einst selber mordete" (S. 90. 91); also der Kreuzestod „das höchste Liebesvorbild" (S. 127). — Die andere Auffassung umgibt den Tod ebenso wie die Menschwerdung des Gottessohnes mit allen Schleiern der Unerforschlichkeit des gött-

— 42 — liehen Ratschlusses: „und fragen wir nach dem Warum, um dessenwillen der hohe Gottessohn sterben mußte, damit wir in ihm leben möchten, so ist wohl kein menschlicher Qeist fähig, für jetzt schon ganz das Geheimnis der Erlösung zu fassen, in das auch die Engel zu schauen gelüstet" (S. 90). In dieser Auffassung erhält dann der Kreuzestod eine metaphysische Erklärung in streng kirchlichem Sinne: eine Opferleistung an Gott als Genugtuung für aller Welt Sünde {S. G9), „da ein so furchtbares Mittel wie der Tod eines Gottessohnes zur Reinigung Not tat" (S. 92). Hierin spricht sich Kinkel Idrchlicher aus als sein Lehrer Nitzsch, der die Versöhnungslehre unter ausdrücklicher Verwerfung der juridischen Vorstellungen rein ethisch faßte (Beyschlag, K. f. Nitzsch. 1872. S. 159). — In ähnlicher Weise wird die Frage nach dem Warum der Menschwerdung Gottes am Weihnachtetage : hätte Gott die Menschheit nicht anders erlösen können ? — abgewiesen: „Das ist gewiß, daß wir mit Nein darauf antworten müssen. Wenn ein Wunder gesehen soll, wie das des heutigen Tages, da man des ewigen Vaters einiges Kind in der Krippe findet, so kann das nichts Zufälliges, so kann die Absicht Gottes dabei keine solche sein, die er auf eine andere leichtere Weise hätte erreichen können" (S. 124). Der doppelten Auffassung von Christi Tod entspricht eine zwiefache Bewertung seines Verhältnisses zu den Menschen. Einmal tritt das menschlich-sittliche Moment 'der Liebe des Christen zu Christus in den Vordergrund, „wenn wir unser ganzes Innenleben durch beständige betende Mitteilung an ihn, durch unablässiges Fragen nach seinem Rat und seiner Zustimmung läutern und weihen und alles das abtun worin er, Wer Heilige, nicht mit uns leben und handeln könnte" (S. 85. 86). Hier kennt Kinkel „selig-entzückte AugenWicke stiller Gebetsgemeinschaft mit Christo" (S. 93). Auf der anderen Seite wird die s ü n d i g e Natur des Menschien betont, welcher sich' die in Christi Blute gegebene Hilfe gegen die Sünde, die Gnade der Sündenvergebung (S. 115) durch Glauben aneignen (S. 31) und durch Erkenntnis der Sünde und durch Buße verdienen muß (S. 73). Im Verfolg dieses Oedankens liegt es, daß Kinkel häufig vom jüngsten Gerichte spricht. Seine Phantasie schwelgt dann



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in apokalyptischen Bildern und er scheut sich nicht vor phantastischen Spekulationen über die Form des Daseins nach dem Tode: „darum ergehet das Gericht am Ende, wann nun der Edie wiederkommen und dastehen wird als Sieger über alle Widersacher, als König Himmels und der Erde, und einherfährt auf den Wolken des Himmels, Lohn und Strafe in seiner Hand" (S. 52). „Eine Läuterung in Feuersglut "kommt jedem Menschen, es sei jenseits im Gerichte Gottes oder hier im Gerichte des Gastes" (S. 73). „Zwar legt sich über das Schicksal des Sterbenden in dem Augenblick, wo Leib und Seele sich trennen, ein Schleier, . . . aber ahnen läßt sich das Schicksal dessen, der, da er lebte, schon am Geiste tot war. Abgeschnitten jede Triebkraft und Fortentwicklung des Geistes, er selbst getrennt von der Gemeinschaft mit dem höchsten Guten und der höchsten Schönheit — das ist das Los, welches ein Leben ohne Tat und Frucht sich selbst gezogen hat" (S. 85). Für den Christen aber ist im Gericht Christus der Fürsprecher (S. 5). Daher hat er „eines ewigen Lebens Aussicht als Versiegelung seiner ganzen Glückesfülle" (S. 136). „Freilich was wir droben schaffen werden, welche Tätigkeiten, welche Geistesentfaltungen und Bereicherungen dort dem Strebenden winken, das ist ungewiß, und nur umhüllt sagt es unser Text, wenn es zu den getreuen Knechten heißt: Ich will dich setzen über zehn Städte und dich über fünf Städte. Das erkennen wir jedoch, daß die Belohnungen nicht gleich sind, daß größere im Dienst hienieden uns dort einen größeren Anteil an der Mitherrschaft im Gottesreiche sichert" (S. 53). Bringt so das Christentum für den einzelnen den Segen persönlicher Glückseligkeit, so bietet es auch den Völkern in ihrer Gesamtheit die größten Segnungen. Kinkel hat eine hohe Meinung von der Kulturbedeutung der christlichen Idee und einen starken Optimismus in der Bewertung des geschichtlichen Fortschrittes zum Guten. „Es ist besser geworden auf Erden und es wird täglich besser" (S. 128). Die Minderwertigkeit der vor- und nichtchristlichen Menschheit gegenüber der christlichen wird öfters stark, wenn auch nicht immer überzeugend betont (S. 128. 156. 170). Von der siegweissagenden Unzerstörbarkeit des Christentums ist Kin-



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kel nicht allein in hoffendem Glauben, sondern auch nach menschlicher Überlegung gewiß (S. 106), und er liebt es, die glänzenden Triumphe des Gottesreiches der Zukunft in rauschenden Klängen, rdenen alttestamentliche Prophetie und neutestamentliche Apokalyptik ihre Schwingen leihen, zu verherrlichen. „Dann wohnen die Völker im Frieden, es rauscht der Markt von vielem Volke, die Erde ist voll von der Erkenntnis des Heim und feiert ein ewiges Pfingstfest, denn auf alles Fleisah ergießt sich täglich und stündlich der Geist. . . Alle verstehen es nun, im Geist und in der Wahrheit anzubeten; die Schale kann brechen, die Hülle fallen. Gott läßt die Erde, die von alter Sünde sahwül ist und vom Blute der Erschlagenen dampft, untergehen und zieht die geheiligte Menschheit als seines Sohnes erkorne Braut an sein großes Vaterherz" (S. 129; vgl. 171). Den heiligen Urkunden des Christentums gegenüber nimmt Kinkel an der zu seiner Zeit, besonders durch Strauß und Bruno Bauer, einschneidend geübten wissenschaftlichen Kritik keinen Anteil, wie schon seine Untersuchung über die Himmelfahrt zeigte.1) Die Legende von dem 12 jährigen Jesus im Tempel sieht er als historisch an (S. 38); der in der Apostelgeschichte erzählten Vision des Petrus — er sah den Himmel aufgetan und zu ihm herniederfahren ein Tuch, darin waren allerlei yierfüßige Tiere und wilde Tiere und Gewürm und Vögel des Himmels; und eine Stimme vom Himmel sprach: Petrus, stehe auf, schlachte und iß — wird eine entscheidende geschichtliche Wirkung für die Ausbreitung des Christentums unter den Heiden beigemessen (S. 175). Das Alte Testament, um dessenwillen er ein paar Jahre später seine Lehrerstelle am Gymnasium räumen mußte, erscheint hier als vollwertige Offenbarungsurkunde. Das Wort, welches der Gott im Paradiesesgarten zur Schlange sprach von dem Weibessamen, der ihr den Kopf zertreten solle und den sie in die Ferse stechen werde, gilt ihm als die erste Weissagung auf den Messias (S. 122), und so wird die ganze Geschichte des jüdischen Volkes betrachtet unter dem Gesichtspunkte der Heilsgeschichte des Gottesreiches im Alten Testamente als ») Vgl. auch unten S. »5.



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Vorbereitung auf die Zeiten des Messias Jesus Christus; darin liegt der Zweck der Gesetzgebung, darum sandte Gott die Propheten (S. 112. 118). — Die Stelle der Schöpfungsgeschichte : Gott blies dem Menschen einen lebendigen Odem in seine Nase, gilt ihm als beweiskräftig für die Lehre christlicher Anthropologie, daß der Geist des Menschen Ausfluß der Gottheit ist (S. 125). Die K i r c h e , für deren Vertreter Kinkel bald nicht genug bittere Worte haben sollte, ist ihfn hier Übermiti}lerin der „Gaben, die Christus ihr anvertraut" hat, an die Gläubigen; „sonntäglich beut sie uns die Predigt des Lebenswortes, mehrere Male des Jahrs das hochheilige Sakrament" (S. 22), in dem man Christi Nähe fühlt (S. 18) und welches Sinnbild und Pfand der Vereinigung mit ihm ist (S. 11). Neben dieser Vorstellung von der Kirche aber taucht auch ein Lieblingsgedanke Kinkels auf: der von der Johanneskirche, „in der man mit Johannes sagen wird: Kindlein, liebet euch einander, denn das ist genug" (S. 180). Vor dieser Forderung sollen die verschiedenen Formen von Lehre und Gottesdienst zurückgestellt werden (S. 105. S. X). Diese höchste Entfaltung der Kirche ist noch nicht erschienen (S. 180). Ich bezweifle, ob sich Kinkel die Tragweite dieses Gedankens ganz klar gemacht hat. Die alleinige Anerkennung des ethischen Prinzips der Menschenliebe ist das Ende des Christentums als positiver Religion, und daher ist dieser Gedanke ein Fremdkörper in dem Vorstellungskomplexe dieser Predigten. In der Tat mutet die Phraseologie, die im Gefolge dieses Gedankens einherzieht, in ihrer Umgebung höchst fremdartig an: „Uneinig sei der Christ nur mit dem Verächter des ewigen in jede Menschenbrust eingeschriebenen Gottesr gesetzes, gleichviel ob dieser dem eigenen oder einem fremden Bekenntnisse angehöre. Einig aber fühlt er sich auch' mit dem scheinbar getrennten Bruder, wenn er in diesem einen Mitkämpfer für die unveräußerlichen Güter der Menschheit, für Recht, Gewissensfreiheit und gegenseitige Abwehr des Weltelends erkennt" (S. 180). Diese Sätze könnten im Statut einer Freimaurerloge stehen. Es ist naturgemäß, daß die Predigten die Lehren des Glaubens in Beziehung zu setzen suchen zum Streben und



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Handeln der Menschen. Kinkel polemisiert gegen solche, welche ihren Verstand allein zum Christen machen, welche sich aus einzelnen Schriftstellen ein Gebäude von Glaubensund Pflichtenlehren zusammenzimmern, es zu einer bloßen Gedächtnisformel werden lassen und sich erzürnen, wenn ein anderer einmal mit anderen Worten die ewige Wahrheit ausspricht (S. 108). Wir besitzen das Christentum nur dann wahrhaft, wenn es alle Gefühle durchdringt, den ganzen Willen lenkt, mit voller Lebenskraft in die T a t hinaustritt (S. 6). Stark betont wird die Fruchtlosigkeit eines Lebens ohne Christus (S. 84). Das höchste Gut für menschliches Streben ist die köstliche Perle, welche man nur im Christentum findet Es ist bemerkenswert, wie Kinkel die anderen schimmernden Perlen des irdischen Lebens, für die er doch selber die größte natürliche Neigung empfand, sich zu verkleinern sucht — „ein gebildetes Leben im Genuß der Kunst und Wissenschaft, der feinen Geselligkeit, frische Lebenslust jugendlichen Mutes, ein fester Herd darnach und ein erkämpftes Besitztum, und später wieder Ehren dieser Welt, Amt und Macht, und als Gipfel irdischen Gefühls Liebe zu einer andern Kreatur; Schwärmen für den Geliebten, Abgötterei der eigenen Kinder — das alles lockt und zerreißt den verirrten Sinn" (S. 32). Kinkel vermeidet auch hier nicht Widersprüche, wenn er an anderer Stelle sagt, das Christentum gebiete uns nur solche Dinge aufzuopfern, die unser Verderben sind, und wenn er Arbeit, Freundschaft, Ehe, Besitz wohlerworbenen Eigentums, Achtung der Guten die wahren und großen Güter des Lebens nennt (S. 8). Solche Ausführungen stehen im Dienste des gerne ausgesprochenen Gedankens, daß das Christentum keine Religion des gesenkten Hauptes sei (S. 8), daß vielmehr „die Freude im Christentum das Höchste" sei, „eine Freude, die nicht bloß Hoffnung des künftigen, sondern tiefe Überzeugung eines schon gegenwärtigen über alles Weltglück hinausragenden Glückes ist" (S. 87). Hier wird als Grund dieses Glücksgefühls das Bewußtsein der Vereinigung mit Christus bezeichnet; an anderer Stelle dringt ein Gedankengang herein, der seinen Ursprung nicht im überweltlichen Christentum, sondern in weltlicher Schaffenslust und der



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seine Formulierung in heidnischer Philosophie hat: „der Christ lebt viel, denn er nimmt an jedem fremden Leben in Leid und Lust Anteil; er lebt viel, weil er überall handelt, betend oder arbeitend für eignes und fremdes Wohl. Empfinden und Handeln aber ist Seligkeit: je mehr einer lebt, je reichern Inhalt von Tat und Erfahrung einer der Spanne, die Gott ihm abgemarkt hatte, zu geben vermochte, desto glücklicher ist er gewesen" (S. 136). Überschauen vir noch einmal die Predigten als Oanzesl An einzelnen Punkten stößt man auf Gedankengänge, die einem orthodoxen Christentum fremd, manchmal sogar mit einer christlichen Weltanschauung überhaupt schwer vereinbar sind; aber das sind Unterströmungen, die, so bedeutungsvoll sie sich in unserer späteren Untersuchung zeigen werden, nur genauer Beobachtung bemerkbar sind. Das Ganze soll nach des Predigers Absicht zweifellos den Geist einer tadelfreien Rechtgläubigkeit atmen; und man versteht es, wenn die Bonner Theologenfakultät im August 1840 sein schriftgemäßes Bekenntnis lobt, und man versteht es nicht, wenn Johanna Kinkel im Hinblick auf seine Predigten sagt: e r hatte Gegner, die seine freisinnige Richtung angriffen (Pr. Jahrb. Band 97. S. 217).

Zweites

Kapitel.

Der zweifelnde und negierende Kinkel. Überblickt man die stattliche Reihe historisch unanfechtbarer Zeugnisse von Kinkels Frömmigkeit und Rech'tgläubigkeit, so könnte man geneigt sein, dem Urteile von Adolph Hausrath (Richard Rothe. Band 2. S. 151) beizustimmen, der Kinkel eine von Haus aus konservativ ange-

l ) Kinkels Tochter Adelheid von Asten schreibt sogar: .Man hatte sich allgemein fiber Kinkels freisinnige Predigten beklagt* (Deutsche Revue. 1902. Band 4. S. 61).



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seine Formulierung in heidnischer Philosophie hat: „der Christ lebt viel, denn er nimmt an jedem fremden Leben in Leid und Lust Anteil; er lebt viel, weil er überall handelt, betend oder arbeitend für eignes und fremdes Wohl. Empfinden und Handeln aber ist Seligkeit: je mehr einer lebt, je reichern Inhalt von Tat und Erfahrung einer der Spanne, die Gott ihm abgemarkt hatte, zu geben vermochte, desto glücklicher ist er gewesen" (S. 136). Überschauen vir noch einmal die Predigten als Oanzesl An einzelnen Punkten stößt man auf Gedankengänge, die einem orthodoxen Christentum fremd, manchmal sogar mit einer christlichen Weltanschauung überhaupt schwer vereinbar sind; aber das sind Unterströmungen, die, so bedeutungsvoll sie sich in unserer späteren Untersuchung zeigen werden, nur genauer Beobachtung bemerkbar sind. Das Ganze soll nach des Predigers Absicht zweifellos den Geist einer tadelfreien Rechtgläubigkeit atmen; und man versteht es, wenn die Bonner Theologenfakultät im August 1840 sein schriftgemäßes Bekenntnis lobt, und man versteht es nicht, wenn Johanna Kinkel im Hinblick auf seine Predigten sagt: e r hatte Gegner, die seine freisinnige Richtung angriffen (Pr. Jahrb. Band 97. S. 217).

Zweites

Kapitel.

Der zweifelnde und negierende Kinkel. Überblickt man die stattliche Reihe historisch unanfechtbarer Zeugnisse von Kinkels Frömmigkeit und Rech'tgläubigkeit, so könnte man geneigt sein, dem Urteile von Adolph Hausrath (Richard Rothe. Band 2. S. 151) beizustimmen, der Kinkel eine von Haus aus konservativ ange-

l ) Kinkels Tochter Adelheid von Asten schreibt sogar: .Man hatte sich allgemein fiber Kinkels freisinnige Predigten beklagt* (Deutsche Revue. 1902. Band 4. S. 61).



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legte Natur nennt, welche nur, ähnlich wie David Friedrich Strauß, durch heuchlerische Mißhandlung aus ihren eigensten natürlichen Bahnen geworfen worden sei. Johannes Scherr urteilte ähnlich : Kinkel sei in seinem eigensten Wesen ein Romantiker gewesen und seine Freidenkereien wären mehr nur gemacht und anempfunden (Haidekraut. 1883. S. 168). Und doch ist, soviel ich1 sehe, gerade das Gegenteil richtig. Es gibt Naturen — ihrer sind freilich nicht viele —, deren ganze innerliche Anlage so religiös ist, daß sie ihren Entwicklungsgang selbst unter äußeren Verhältnissen, welche religiösen Bedürfnissen nicht günstig sind, gleichsam einem unbewußten Zwange folgend zu positiver Religiosität nehmen; Ludwig Richter war solche anima naturaliter christiana. Und es gibt Naturen — ihrer sind es mehr —, die eine ursprüngliche Anlage zur Verneinung zum Durchbruch kommen lassen, trotz einer sie umgebenden von Frömmigkeit gesättigten oder übersättigten Atmosphäre; zu ihnen gehört Kinkel. Seine „Grundrichtung zwang ihn", wie er selber einmal ausspricht (an Wolters. 2. Juli 1843). Im Jahre 1845 etwa hatte Kinkel zu Philipp Nathusius gesagt: ich habe den Christenglauben gehabt und bin darüber hinweggekommen. Und Nathusius antwortet ihm in einem Briefe ins Zuchthaus zu Spandau: „Zu Ihrem Glücke und zu Ihrer Ehre sage ich: es ist nicht wahr, Sie haben ihn nie gehabt!" 1 ) Und Nathusius hatte Recht. Schon a priori wird man urteilen dürfen: wenn ein Mann von 27 Jahren, der sich in fünfjährigem Studium der Theologie mit der positiv-christlichen Lehre vertraut gemacht, der weitere fünf Jahre hindurch als akademischer Lehrer und als Prediger diese Lehre vertreten hat, innerhalb von wenigen Monaten mit der Theologie des biblischen Christentums und mit seiner ganzen Weltanschauung fertig wird, so radikal fertig wird, daß er lächelnd erklären kann: „wir wollen Heiden bleiben, Heiden sein" (Rheinlande. Band 15. S. 76) — so ist ihm der christliche Glaube niemals eine sein tiefstes Inneres beherrschende Überzeugung gewesen. Dieses

*) Aus einem ungedr. Briefe von Nathusius an Kinkel.



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Urteil soll im folgenden aus Kinkels eigenen Äußerungen erwiesen werden. D a s g l e i c h g ü l t i g e K i n d . Die Selbstbiographie, die Kinkel im Zuchthause zu Naugard auf Veranlassung des Gefängnisdirektors Schnuchel abfaßte und die er 1872 und 1873 in der Gartenlaube zu veröffentlichen begann, ist, soweit die veröffentlichten Teile das erkennen lassen, ganz darauf berechnet, seinen späteren Obergang zum religiösen und politischen Radikalismus als ursprünglich in seiner Anlage begründet nachzuweisen. Kinkel erzählt in seinen Kindheitserinnerungen (Gartenlaube 1872. S. 473): „Als meine Mutter an einem wunderklaren Sommerabend mich, den kaum ein paar Jahre alten, auf dem Schöße hielt, zeigte sie mir die Funkelpracht des Sternenhimmels und fragte mich : ,Möchtest du nun nicht alle kennen?' da sagte ich entschlossen: ,Nein, Mutter, ich habe hier unten auf der Erde noch so viel zu lernen, an die Sterne denk' ich nicht/ Meine Freunde werden in diesem kindischen Worte mich vollständig wiederfinden: mich hat immerdar nur das Gegenwärtige, Diesseitige und Praktische gereizt, und in diesem einen Worte lag schon meine künftige Lossagung vom Christentum geweissagt." Ist auch in dieses Kindeswort entsprechend der Gesamttendenz dieser Aufzeichnungen zu viel hineingelegt, so beweisen allerdings die gesamten Erinnerungen aus dem Elternhause und der Schule, soweit sie seine religiöse Entwicklung zeichnen, daß auch hier das Kind der Vater des Mannes ist. Der Unterricht, den zunächst Kinkels Vater allein erteilte, verurteilte den Knaben nach allen Seiten zum geistigen Darben. „Einzig das religiöse Gebiet wurde mir weit aufgetan, und dort hinein nahm folglich mein Geist einen kräftigen Anlauf. Alle meine Erziehung ging auf Religion hinaus, da meine Eltern beide außer ihr keine Geisteserweckung kannten." „Die Bibel war uns zum Lesen unbeschränkt überlassen. Da meine Lesewut überall eingedämmt war, strömte sie unaufhaltsam auf die Geschichtsbüchier der Bibel hin, und ich erwarb mir darin eine Belesenheit und Stellenkenntnis, die mich später in meinen theologischen Studien sehr gefördert hat." „So lebte ich mich" — am Alten B o l l a r t , Gottfried Kinkels Kimpf*.

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Testament — „tüchtig in die geschichtliche Vorbereitung des christlichen Glaubens hinein, aber der Glaube sejbst, wie ich ihn aus dem Heidelberger Katechismus und aus meines Vaters Predigten schöpfte, ergriff mich nicht sonderlich." „Mein Vater war nämlich so vollständig orthodox, als o b Lessing und Semler nie in der Welt gewesen wären." „Von wirklicher Beredsamkeit oder auch nur von formloser, aber tiefer Glut war bei ihm keine Spur; er gab eine ausführliche dogmatische Abhandlung über seinen Text, und mit der fast ohne Ausnahme stehenden Formel: „Was nehmen wir nun aus dieser Betrachtung mit nach Hause?" ging er sodann auf das Feld der moralischen Nutzanwendungen über, durch welches er seine Zuhörer schleunig ins Himmelreich zu führen und mit dem Amen den Riegel hinter ihnen zuzumachen pflegte, weshalb wir Kinder bei jener Formel uns immer freuten, denn nun war in höchstens zehn Minuten die Kirche aus, und wir durften wieder in den Blumengarten. Sonntags nachmittags mußten wir dann den Katechismus aufsagen und erklären, manchmal aber auch die Predigt vom Morgen ihrer Einteilung und ihrem Inhalte nach wiederholen. Da hier kein Entwickeln der Begriffe aus der Kinderseele heraus stattfand, sondern alles nur von außen hineingelernt wurde, vermochte auch diese Übung keine Glaubensflamme in mir zu entzünden." Die Folge einer rigorosen und engherzigen Erziehung war, daß er beim Übergang aufs Gymnasium in Bonn gern die Heimat verließ: „ich wußte ja, daß ich einer größeren Freiheit entgegenging, und hoffte in breiterer Welterkenntnis von der geistigen Dumpfheit erlöst zu werden, die mich wie eine ägyptische Nacht drückte." Und das Fazit der r e l i g i ö s e n Erziehung war, daß er, „streng rechtgläubig, doch aller religiösen Innigkeit entbehrte; einen Wurm hätte ich nicht töten können, daß aber Gott einst das ganze Menschengeschlecht in der Sündflut ersäuft habe und die nicht Auserwählten ewig zum Höllenfeuer verdammt, das glaubte ich". Als er im 14. Jahre konfirmiert wurde, versuchte er umsonst, die bei dieser Gelegenheit herkömmliche Gefühlsrüh'rung des Einsegnungstages in sich zu erwecken. Von

— 51 — den Glaubenssätzen, auf die er sich' dabei zu verschwören hatte, ertrug er nur einen nicht: „die furchtbare Lehre von der Vorhferbestimmung, wonach einzelne Menschen von Ewigkeit her zur Seligkeit erwählt, die übrigen verworfen sind." Er wollte die Freiheit des Willens auch einem göttlichen Ratschlüsse nicht aufopfern, worauf denn die Mutter, die hierin mehr lutherisch dachte, den Vater bewog, das ganze Kapitel bei der Konfirmationsprüfung wegzulassen. Der rationalistische Gymnasiast. Die Tage, an denen der Bonner Gymnasiast zum Besuche im Elternhause weilte, waren mehr mit Frohsinn gewürzt, als die Tage der Kindheit. „So hätte denn das Vaterhaus mir noch einmal ein reines Glück bieten können, wäre nicht unablässig der religiöse Zwang dazu getreten, der schon mein Kindesleben so oft verdüstert hatte. Die erweiterte Weltkenntnis, die mir aus dem Gymnasialunterricht und den großen Dichtern zuwuchs, vielleicht auch der Umgang mit einzelnen Studenten der Theologie, und vor allem mein eigenes Nachdenken machte mich zum Rationalisten. Der Knabenverstand will alles recht faßlich haben, und so trat ich ungefähr auf den Standpunkt, auf welchem Muhamed seinen Islam aufbaute: Ein persönlicher Gott hatte die Welt geschaffen und bestimmte mit unabänderlichem Willen alle ihre und der Menschen Schicksale. Große Männer hatten ihn anerkannt und als seine Boten ihn verkündigt. Unter ihnen war Christus der bedeutendste, allein von Natur und Geburt ihm nicht näher als alle übrigen verwandt. Die Versöhnungs- und Begnadigungslehre widerstritt meinem herben Rechtsgefühl. Die evangelische Geschichte legte ich mir zurecht, wie die Rationalisten des vorigen Jahrhunderts es getan haben: bald war etwas von den Schriftstellern verkehrt aufgefaßt, bald mußte man es anders als nach dem Wortsinne auslegen." Die glaubenseifrige Mutter, die den Sohn ebenso zärtlich liebte, wie er sie, bestürmte ihn mit Ermahnungen und Wehklagen. „Hier entstand für mich die erste wahrhaft anspannende und folternde Prüfung." Die Nerven der Mutter waren leicht gereizt, und starke Gemütserschütterungen versetzten sie in einen furchtbar anzusehenden, schwer zu ertragenden 4*



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Zustand. Bei religiösen Gesprächen, die der Sohn vergeblich zu vermeiden suchte, glühte und fieberte ihr Inneres. Sie drängte ihn auf einen Punkt, wo er sich nicht mehr zurückziehen konnte und ihrer Forderung des Glaubens mit dem schmerzlichen Bekenntnis der Unmöglichkeit entgegentreten mußte. Dann brach das Übel in dem heißgeliebten kranken Körper hervor; „ich durfte sie nicht einmal pflegen, denn mein Anblick entzündete ihren Schmerz stets von neuem, und mehrere Tage hindurch ging sie dann wie gebrochen umher. Dann schlich ich tränenlos, aber innerlich wie von Mühlsteinen zermahlen in den Baumgarten hinab, warf mich auf den Boden und drückte mein Angesicht gegen die Erde" . . . Wert der A u t o b i o g r a p h i e als Quelle. Es ist zu bedauern, daß wir die Fortsetzung von Kinkels autobiographischen Aufzeichnungen, die bis zum März 1848 reichen (Gartenlaube 1872. S. 455), aber im Schöße seiner Familie verwahrt werden, nicht kennen. Seine eigene Erklärung des scheinbar rätselhaften Widerspruches zwischen diesem rationalistisch gesinnten Abiturienten und jenem Studenten, der sein Tagebuch' mit glühenden Gebeten füllte, würde das größte Interesse erregen. In welcher Weise er solche Erklärung versucht haben wird, läßt sich aus der schon oben (S. 10) angeführten Briefstelle erschließen: das Fremde, was nach der Rückkehr von Berlin in seinem Wesen lag, sei nicht Frömmigkeit gewesen, „wovon später der Teil meines Lebenslaufs, der über Berlin handelt, Sie überzeugen wird." Hiernach scheint es, als ob er in der Lebensgeschichte alle Äußerungen der Frömmigkeit möglichst vertuscht und seine Entwicklung als einen sprung- und lückenlosen Fortschritt von den Zweifeln der Kindheit bis zum Pantheismus des Mannesalters dargestellt haben wird, wie er denn auch aus der neuen Auflage seiner Gedichte, die Johanna während seiner Gefangenschaft besorgte, alle Spuren seines christlichorthodoxen Standpunktes herausgetan wissen wollte (siehe unten S. 154). Kinkel hat, wenn er eine derartige Revision seiner Vergangenheit vornehmen wollte, nicht bedacht, daß er selber sich in die Gefahr brachte, für einen groben Lügner angesehen zu werden, da sich alle Äußerungen der Fröm-



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Irrigkeit und Rechtgläubigkeit doch nicht eskamotieren ließen. Kinkel war natürlich als Abiturient nicht der fertige Rationalist, als der er sich selber bei der späteren Rückschau vorkam ; sonst wäre er ja die nächsten 10 Jahre lang der ungeheuenlichste Heuchler gewesen. Er hat vielmehr wie so mancher unter der Einwirkung einer frommen Erziehung stehende und zum Theologen bestimmte Jüngling den Zweifel nach Kräften niedergehalten und geglaubt, mit ihm als einer vorübergehenden Anfechtung fertig zu werden und darum nicht die einmal begonnene Laufbahn aufgeben zu müssen. 1 ) Daß die negativ-kritischen Anschauungen einmal den Sieg über die positiv-christlichen erringen würden, das konnte er damals nicht mit der Klarheit erkennen, mit der er am Ende des Entwicklungsprozesses auf ihn zurückblickte. Es ist also nicht möglich, Kinkeln hier zu folgen. Aber auch wir können das Rätsel von Kinkels religiöser Entwicklung nicht anders lösen, als indem wir die Spuren seiner negativen Grundrichtung in seiner Frühzeit unter der Hülle seines Christentums und seines Amtes aufsuchen. Bei ihrer gehörigen Würdigung werden sowohl die rationalistische Schülerzeit wie der spätere Pantheismus erklärbar, indem sich auch die in der Mitte liegende Periode in ihrer innersten und eigentlichen Gestalt als wesensgleich mit jenen beiden anderen darstellt. K ä m p f e und Zweifel. Die Vita bezeugt, daß er vor der ernsten Theologie, zu der man ihn von Kindheit an bestimmt hätte, zuerst zurückgeschreckt sei und sich ihr erst nach vielem Schwanken zugewandt habe. Die Tagebucheintragung (Strodtmann, S. 21 bis 25), die schon oben erwähnt wurde, läßt aus ihrer schwungvollen Rhetorik mehr den Kampf um den Glauben 1)

Als

Beyschlag

bei

Kinkel

im

Mai 1841

seinen

ersten Besuch

machte,

wünschte K. zu

befasse.

„Ich antwortete: ich hätte mich von Jugend auf dazu bestimmt.

erfahren,

warum

er

mit

der Theologie

sich

Sofort fiel er ein: Etwa auf der Eltern Drängen und Zureden? — Nein, entgegnete ich,

durch

sie

nicht

allein,

sondern

auch

aus mir

selber

heraus. — Und nun wollen Sie nicht inkonsequent sein? Also er darauf. ( K . H. Pahncke, W . Beyschlag.

Tübingen 1 9 0 6 .

S. 2 4 . )



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als den Besitz des Glaubens hervorleuchten: „Löse sich denn Schmerz und Freude in Eine Empfindung, und die Empfindung sei G l a u b e ! Ganz will ich mich versenken in den Gedanken: Gott i s t , und (Gott, dir dank' ich's) er ist m e i n Gott! — " Ein gewisses krampfhaftes Bestreben, siclh in die gewünschte innerliche Richtung zu bringen, zeigen die pathetischen Reflexionen über den Abschied von Elise Zeller (Strodtmann, S. 3 8 ) : „Nur das Eine soll fest stehen und unwandelbar, und soll auch nicht von den tobenden Wogen des Gefühls erschüttert werden, noch von den Zweifeln des Verstandes: — die feste männlichstarke und weiblichweiche Ergebung in Gottes allgütigen Willen! Gott, dir ergeb' ich m i c h ! " Vom Zweifel und seiner Qual sind seine poetischen Äußerungen voll. „Vorzüglich muß hier eine sehr schöne Phantasie: ,des Künstlers Kampf und Sieg' erwähnt werden, in welcher der Zweifel personifiziert auftritt und den Kampf mit dem Glauben beginnt, aber durch ein reines Herz, durch ideales Kunststreben besiegt wird" (Strodtmatin. S. 102).^ »O Herz, du hast genossen „Des Glaubens Seligkeit, „Nun sei auch unverdrossen, „Wenn dir der Zweifel dräut!"

dichtet er ein andermal (ebenda S. 102). In dem Gedichte „An Johanna" (Ged. 1843) blickt er zurück auf die Kämpfe seiner Jugendzeit: „Tief ins Nachtgraun stieg ich hinab, in die Hölle des Zweifels, „Welche des Grams Brandmal zischend mir brannt' auf die Stirn."

In Rom erklingt sein

Gebet:

„Ewig schwankt und fehlt mein Sinn. „Ach ich weiss nicht, ob zur Rechten, „Ob zur Linken Pfade sind — „Rette du aus Zweifelsnächten, „Vater, dein geliebtes Kind!" (Gedichte 1843. ») Abgedruckt in: Die Gegenwart.

Band 74.

1908.

S. 141).



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In den „Ausgewählten Gedichten" steht ein Gebet um Stärkung für die irrenden Gedanken, daß sie nicht zwischen Fluch und Heil noch schwanken. — Und ferner: „Ich rang im dunklen Schacht „Mit Blut und Schweiß, auch in Gefahren oft, „Von gift'gen Schwaden Irrtums krank umhaucht, „Oft der Verzweiflung Abgrund vor mir schauend, „Ums reine Qold der Wissenschaft" (Strodtmann S. 178).

Es ist, als ob er sich mit der frommen Sophie verlobt hätte, um sich mit ihrer Hilfe vor der Friedlosigkeit des eigenen Innern zu retten zu einer festen christlichen Überzeugung. „Du bist's, o Bild der seligen Ruh, „In deren Arm ich kann gesunden" (Gedichte. 2. Sammig. S. 238). „Umleuchte mich mit deines Auges Glanz „Und wende all mein Streben fromm nach Innen" (Strodtmann. S. 178). „Sie ist's, die in des Kampfes Grimme „Den Frieden dir bewahren kann" (Gedichte. 2. Sammig. S. 238).

„Ruhe, Frieden, Stille, das wollen wir — der Christ hat sie," sagt er in der Predigt am 7. Trinit. 1839. U n c h r i s t l i c h e Ä u ß e r u n g e n . Kinkels Christentum war nur ein dünner Firnis. Welche mit christlicher Auffassung höchst auffallend kontrastierende Anschauungen selbst in den Predigten durchblitzten, haben wir schon oben (S. 45) gesehen. Ich' weise noch' auf einige Stellen in seinen Gedichten hin, die um so bezeichnender sind, je unbewußter sie durchgeschlüpft sind. In Rom sieht er, wie das christliche Mittelalter die römischen Bauten und Denkmäler geplündert hat für seine kultischen Zwecke — „Dönn der helle Porphyr, gedeckt mit marmorner Platte, „Bot sich dem plärrenden Schwärm als ein erwünschter Altar." (Gedichte 1843. S. 146).

Und sein Empfinden nimmt, ihm selber wohl nicht bewüßt, Partei für die klassische Schönheit gegen das religiöse Bedürfnis, wofern es kunstfeindlich ist. — In einem 1838 gedichteten Liede aus dem Zyklus „die Weine"



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(Gedichte. 1843. S. 155) erzählt er, wie Gott dem Noah' nach der Sündflut den Anbau der Weinrebe zeigt und ihm und dem neuen Menschengeschlecht damit ein noch ungekanntes Labsal bietet, ,,Das die Lust des Paradieses „In das Erdendunke] bannt. „Lied und Liebe sollen quellen „Aus des Rausches Jugendkraft, „Und im Becher soll versinken „Blut'ger Schmerz und dunkler Gram: „Bis die langersehnte Stunde „Ewiger Erlösung naht, „Bis zuletzt als Liebestränen „Purpurblut im Kelche strahlt, „Und die Welt ihr höchstes Leben „Trinkt im Wein des Abendmahls".

Also der Abendmahlskelch löst den Becher a b ; oder theologisch ausgedrückt: die Kontinuität der Heilsgeschichte im Alten und Neuen Testament ist gegeben durch den Sorgenbrecher und Erlöser Wein; — eine eigenartige Theologie! — Daß Kinkel für die Kränkungen der Wirklichkeit nicht in der R e l i g i o n Trost fand, zeigt ein Spruch aus den „Ausgewählten Gedichten": „Was das Leben mir verwehrte, tausendfältig giebts die K u n s t ! „Wen das Leben bitter kränkte, hat am reichsten ihre Gunst."

M an g e l a n B e g e i s t e r u n g f ü r d i e t h e o l o g i sche W i s s e n s c h a f t . Besitzt also Kinkels religiöses Leben durchaus nicht die der schimmernden Außenseite entsprechende innere Klarheit, so fehlt es auch nicht an Anzeichen, daß der von ihm erwählte Beruf des gelehrten Theologen kein ganz seiner Natur gemäßer war. Die Vita spricht von täglichen heftigen Kämpfen vor der Wahl der akademischen Laufbahn. Seine Lehrer redeten zu; die glänzende Auffassungsgabe des begabten Schülers mag Anlaß dazu gewesen sein. Er selber wird mit dem Stolze, in so jungen Jahren Mitglied des akademischen Lehrkörpers zu werden, 1 ) ehrgeizige Hoffnungen auf eine Vgl. Gedichte.

2. Sammlung.' S. 213.

Strodtmann S. 177.



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rasche Laufbahn genährt haben. Aber er besaß weder jenes nicht anders als leidenschaftlich zu nennende wissenschaftliche Interesse, das den echten Forscher ausmacht, noch die geduldige Entsagung auf rasch reifende Früchte, die zu wertvoller Produktion in schlichter stiller Gedankenarbeit erfordert wird. — Es wurde schon gezeigt, wie er in dem Gedichte bei der Amtseinführung Boegeholds der praktischen Tätigkeit vor der wissenschaftlichen Forschung den Vorzug gibt (oben S. 16); und es wird nicht Zufall sein, daß er im Sommer 1838, nach' einjähriger Dozententätigkeit, doch nicht mehr als nur eine „Hoffnung" hegt, bei seinem Leben und Studium glücklich werden zu können (Strodtmann S. 168 f.). An derselben Stelle erscheint als Ziel seiner wissenschaftlichen Fortentwicklung: „nach höchstens zwei Jahren mit Ehren auf ein Katheder für historische Theologie treten zu können." Die drängende Fülle beruflicher Geschäfte, die ihn an der Ausarbeitung eines wissenschaftlichen Werkes hindern, bedauert er lediglich als ein Hindernis seines schnellen Fortkommens (siehe oben S. 29). — Der Ernst, den keine Mühe bleicht, spricht nicht aus ihm, wenn er ums Jahr 1837 dichtet: „Mein Liebchen, das bist du, o Wahrheit" (2. Samml. S. 205). Nur die in Schönheit gekleidete Wahrheit geht ihm ein (ebenda); nur der Genius der Dichtung ist es, der ihn als „Brautführer zur holden Wahrheit" leitet, „die er zu seiner Liebsten sich1 erkor" (Gedichte. 1843. S. 70). In einem Gedichte aus dem Jahre 1840 oder 41 nennt er sich „müde des ewigen Lehrens und müder noch ewigen Lernens (Gedichte, 3. Aufl. S. 147). So haben denn diese Jahre des Werdens weder den Grund zu einer größeren wissenschaftlichen Leistung gelegt, noch überhaupt ihm in seiner Wissenschaft eine Position zu geben vermocht, die dem kommenden Sturmwind hätte standhalten können. G e f a h r e n für das Verhältnis zur Fakultät. War auch Kinkels Verhältnis zu den älteren Professoren seiner Fakultät von Wohlwollen der einen, Dankbarkeit der anderen Seite getragen, so lagen doch in seinem Wesen Keime, die diesem Verhältnis gefährlich werden konnten. E i t e l k e i t . Fast alle Zeitgenossen werfen Kinkel vor, daß



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er eitel sei. Jakob Burckhardt spricht von einer ins Bedenkliche gesteigerten Eitelkeit (Grenzboten. Jg. 58. 1899. No. 13), Karl Schorn von einer ungezügelten Eitelkeit (Lebenserinn. Bd. 2. S. 52), Wichern von ungeheurer Eitelkeit (Briefe u. Tagebuchbl. Bd. 2. 12. Juli 1852); der Zuchthausdirektor Schnuchel in Naugard, der ihm wohlwollte, beobachtet selbst im Gefängnisse an ihm eine Sucht, sich bemerkbar zu machen (Poschinger, Kinkels Haft. S. 58); Ad. Torstrick schreibt am 26. Aug. 1843 an Beyschlag: „er muß gelobt sein, um lieben zu können" (Rheinlande. Bd. 15). Der Bonner Rechtslehrer Ferdinand Walter sagt Kinkeln im Jahre 1848, das Gute in ihm sei so vom Unkraut der Eitelkeit überwachsen, daß es fast davon erstickt werde (Aus meinem Leben. 1865. S. 158). Und selbst Karl Schurz, der Bewunderer und Freund, bestreitet nicht den Vorwurf, sucht ihn nur liebenswürdig abzuschwächen : „Wer ist nicht eitel — jeder in seiner Weise ? Eitelkeit ist die gewöhnlichste und natürlichste aller Charakterschwächen, und zugleich auch die unschädlichste und verzeihlichste, wenn sie unter dem Einflüsse eines gesunden Ehrgeizes steht. Ins Maßlose getrieben, wird sie lächerlich und straft sich selbst. So hats mich eine lange Lebenserfahrung gelehrt" (Lebenserinnerungen. Bd. 1. Volksausg. S. 69). Prüfen wir Kinkels eigene Äußerungen, ob seine Eitelkeit innerhalb gesunder Grenzen geblieben ist. Seiner soeben erworbenen Braut Elise Herminghaus macht er in dem Liede „Dreifach Geliebter" (2. Samml. S. 212) klar, Mirie stolz sie auf ihn sein könne in seiner dreifachen Eigenschaft als Dichter, Gelehrter und Mann. Dabei malt der 22 jährige Dozent, der gerade sein Examen und kaum das erste Kolleg hinter sich hatte, seine Stellung in der Wissenschaft und bei den Studenten also: „Doch ich schritt aus Liedesvionnen „Vor in der Gedanken Kreis; „Vieles hab' ich da gewonnen „Und errungen manchen Preis [!]. „In der Jugend Kreise lehrend „Steh' ich, der, mich freudig ehrend [!], „Auf mein ernstes Wort vertraut".



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Ein Jahr später kokettiert er vor der anderen Braut, Sophie, mit seinem Wissensdrange und seiner Gelehrsamkeit und nennt sich „einen Alexander in dem Perserreich der Wissenschaft", „Prometheus gleich des Wissens Reich beherrschend". In noch krasserem Mißverhältnis scheint mir seine Einschätzung der eigenen Poesien zu ihrem wirklichen Werte zu stehen. So wie es ursprünglich sein Gebet ist, Eigenschaften und Rang eines Dichters Gottes zu erlangen (Ausgewählte Gedichte), so sieht er schon 1840 die Zeit verwirklicht, wo Deutschland ihn seinen Dichter nennen wird (Gedichte. 3. Aufl. S. 159). Er selbst lobt seine Lieder als bilderreich und farbenhell (Ged. 1843. S. 109), und bewertet sich und sie mit den Versen: „Darum fasset mich nicht und nicht die donnernden Lieder, „Wem an die kleinliche Brust nur das Gewöhnliche schlug" (Ged. 3. Aufl. S. 14«).

Und später urteilt er, daß ihm durch seine schweren Schicksale „eines großen Dichters Los" verloren gegangen sei (Gedichte. 2. Samml. S. 153). Damit stimmt denn zusammen die Verehrung, die er dem eigenen Haupte, „diesem Dichterhaupte" (3. Aufl. S. 265) widmet. Er gefällt sich in der Pose: „Zurück im Nacken das stolze Haupt, „Den Mantel umgeschlagen" (3 Aufl.

S. 296).

Und daß ihm die Haare früh schon grau wurden, verfehlt er nicht, mehrfach anzubringen (z. B. Ged. 1843. S. V. 133. 3. Aufl. S. 302); gewiß stand es ihm gut. Schon in einem der frühesten Gedichte „An Richard Selbach" hat er phantastische Vorstellungen von seinen gigantischen Gaben und Aufgaben, indem er sich mit dem blitzeschmetternden gewaltigen Gotte Thor vergleicht (Gedichte. 1843. S. 54), und noch spät fühlt er sich' als einen, „Den „Zum „Der, „Muß „Und

der ungezähmte Wille gewalt'gen Siege zwingt — ein Atlas, ohne Klagen den Druck der Felsen tragen, zu stolz ist, dass er sinkt!" (2. Samml.

S. 247).



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Und schon im Jahre 1842, als er doch gewiß noch' nicht über den immerhin kleinen Kreis der Bonner Universität hinaus bekannt geworden war, scheut er sich nicht zu sagen: „Über meinem Scheitel brennt „Heiß des Ruhmes goldne Sonne" (3. Aufl. S. 293).

Alles in allem also hatte er eine ungemessene Einbildung von seinen Talenten, Leistungen und der ihnen gebührenden Würdigung. Verfolgungsvorstellungen. Ein Mensch mit solchen Vorstellungen pflegt überaus empfindlich gegen Kritik zu sein und sieht leicht in nüchternerein Seelen, die seine Selbsteinschätzung und seine Begeisterung nicht teilen, Feinde. Es ist auffallend, wie häufig sich bei Kinkel in den Gedichten der Frühzeit schon, wo ihm die Menschen, — abgesehen von seiner ersten Braut, die sich von ihm wandte — kaum etwas anderes als Wohlwollen und Freundschaft gezeigt hatten, die Vorstellung des Kampfes findet, und zwar nicht bloß des rüstigen Kämpfens und Ringens mit Verhältnissen und Aufgaben, sondern des Kampfes mit persönlichen Feinden. So stellt er sich dem Freunde Richard Selbach zur Verfügung: „Aber wenn Feinde „Je dich bedrohen, „Rüstet sich schweigend „Thor zu dem Kampfe, „Schwingt den entsetzlichen „Tilgenden Hammer". (Gedichte. 1843. S. 66).

Sein akademisches Lehramt will er nicht frei von Not und Streit errungen haben: „Wollt ich rüstig vorwärts schreiten, „Drohten mir der Feinde viel" (Gedichte. 2. Samml. S. 213),1)

wobei man eigentlich, wenn man nicht eine inhaltlose Phrase in den „Feinden" sehen will, bloß an die Prüfungskommission denken und dann kaum umhin kann, solche Verfolgungsl

) vgl. auch Gedichte 3. Aufl. S. 211.



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Vorstellungen komisch zu finden. — In dem Gedichte ,Gebet', das in Rom entstanden ist, sieht er eine Schar von Feinden, die stets darauf sinnt, wie sie ihm Schaden brächte (Gedichte. 1843. S. 141). Auch bemerkten wir schon, mit welcher Vorliebe er sich als Streiter wider Gottes Feinde betrachtete, wobei er gerne betont, daß der Haß der Welt die Reaktion auf sein ideales Streben sei: „Aber weh, mich trifft ihr Zorn, „ U n d c!en kühnen Gotteskrieger „Trifft, verschmäht, sie vielgestaltig „Mit des bittern T o d e s D o r n " . (Gedichte.

1843.

S . 142.).

In der zweiten Elegie an Johanna (Gedichte. 3. Aufl. S. 142) sagt der Schöpfer von i h m : „Ihm gab ich zu kämpfen „Mit der vermodernden Welt, mit dem verstumpften

Geschlecht.

„Ihn trifft Hass". . .

Und in der 4. Elegie (S. 146) prahlt e r : „es starrt die Brust mir von Narben." Man wird sich für ein Urteil über Kinkels Konflikt mit der theologischen Fakultät gegenwärtig halten müssen, daß, wenn solchem Manne wirklich Gegner seine Bahnen zu kreuzen suchen würden, diese leicht in seiner Vorstellung mit allen üblen Eigenschaften ausgestattet werdein dürften, die jene imaginären Feinde in seiner Phantasie besitzen mochten. Kleinere Reibungen. Aber auch schon in der uns hier beschäftigenden Periode fehlt es nicht an positiven Anzeichen, daß sein Verhältnis zur Fakultät nicht auf unerschütterlichen Fundamenten ruhte. Schon im Jahre 1836 hatte er sich veranlaßt gefühlt, wie Strodtmann S. 192 berichtet, Kritik zu üben an den älteren Professoren, die ihm dann durch Krafft und Bögehold den Vorwurf der Unbescheidenheit machen ließen, und er hatte sich' in einem Sonett gerechtfertigt (Gedichte. 2. Samml. S. 279). Man wird daran erinnert, daß Rehfues dem Liz. Sommer, nicht Kinkeln einen unverkennbaren Ausdruck von Bescheidenheit und Milde und frommer Einfachheit zusprach



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(oben S. 27). Der allerwärts tobende Kampf der Jungen mit den Alten fehlt auch im akademischen Leben nicht,, ja er scheint dort mit einer stillen, aber besonders erbitterten Entschlossenheit geführt zu werden. Es ist daher nicht verwunderlich, daß sich Kinkel einem Verein von Privatdozenten anschloß, aus dem, wie Kinkel seinem Biographen Strodtmann später von Naugard aus mitteilte, „das energische Zusammenhalten der jüngeren Universitätslehrer gegen die Übergriffe der älteren Professoren erwuchs" (Strodtmann S. 182). Seine Auffassung von den Pflichten des Ordinarius bezeichnet er in dem Spruche: „Du alter Meister, verdammte Pflicht „Ist's, daß du nimmer hemmest den jungen. „Doch wenn dein Einfluss Bahn ihm bricht, „Dann ist dir der edelste Sieg gelungen". (Ausgew. Ged.)

Drittes

Kapitel.

Der Konflikt mit Kirche und Staat. 1. Kinkel und Johanna bis zur Verlobung. Erwägt man alle die vorgeführten Anzeichen von Negation in Kinkels Anschauungen und Charakter: die Zweifel des Schülers und Studenten, die dem Christentum wesensfremden Äußerungen, die mangelnde Begeisterung für die theologische Wissenschaft, seine Eitelkeit und die Verfolgungsvorstellungen — so sieht man Brennstoff genug aufgehäuft, der nur auf den Funken zu warten scheint, um zum Feuer aufzuflammen. Diesen Funken warf — ihr selbst unbewußt — Johanna Mockel, Kinkels spätere Gattin, hinein. Johannes religiöse Verfassung. Im Frühjahr 1839, auf einer Gesellschaft beim Konsistorialrat Augusti, lernte Kinkel Johanna kennen, die seit einigen Wochen bei ihren Eltern lebte, um die Scheidung von ihrem Manne, von dem sie schon 6 Jahre getrennt war, zu betreiben. Am folgenden Tage machte er im Hause



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(oben S. 27). Der allerwärts tobende Kampf der Jungen mit den Alten fehlt auch im akademischen Leben nicht,, ja er scheint dort mit einer stillen, aber besonders erbitterten Entschlossenheit geführt zu werden. Es ist daher nicht verwunderlich, daß sich Kinkel einem Verein von Privatdozenten anschloß, aus dem, wie Kinkel seinem Biographen Strodtmann später von Naugard aus mitteilte, „das energische Zusammenhalten der jüngeren Universitätslehrer gegen die Übergriffe der älteren Professoren erwuchs" (Strodtmann S. 182). Seine Auffassung von den Pflichten des Ordinarius bezeichnet er in dem Spruche: „Du alter Meister, verdammte Pflicht „Ist's, daß du nimmer hemmest den jungen. „Doch wenn dein Einfluss Bahn ihm bricht, „Dann ist dir der edelste Sieg gelungen". (Ausgew. Ged.)

Drittes

Kapitel.

Der Konflikt mit Kirche und Staat. 1. Kinkel und Johanna bis zur Verlobung. Erwägt man alle die vorgeführten Anzeichen von Negation in Kinkels Anschauungen und Charakter: die Zweifel des Schülers und Studenten, die dem Christentum wesensfremden Äußerungen, die mangelnde Begeisterung für die theologische Wissenschaft, seine Eitelkeit und die Verfolgungsvorstellungen — so sieht man Brennstoff genug aufgehäuft, der nur auf den Funken zu warten scheint, um zum Feuer aufzuflammen. Diesen Funken warf — ihr selbst unbewußt — Johanna Mockel, Kinkels spätere Gattin, hinein. Johannes religiöse Verfassung. Im Frühjahr 1839, auf einer Gesellschaft beim Konsistorialrat Augusti, lernte Kinkel Johanna kennen, die seit einigen Wochen bei ihren Eltern lebte, um die Scheidung von ihrem Manne, von dem sie schon 6 Jahre getrennt war, zu betreiben. Am folgenden Tage machte er im Hause



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ihrer Eltern Besuch. Sie trafen sich in der nächsten Zeit öfters in einem Leseverein, der sich alle 14 Tage versammelte. Die Übereinstimmung der Gemüter führte allmählich zu vertrauteren Gesprächen: „Wir teilten einander unsre persönlichsten Verhältnisse und Empfindungen mit, und so kamen wir zunächst auf das Religiöse" (Johanna an Henning. 11. 10. 1841). Die religiöse Verfassung, in der sich die aus katholischem Hause stammende Johanna damals befand, schildert sie selber also: seit vielen Jahren habe sie alles Kirchliche mit Widerwillen von sich gestoßen, und daran sei die Form schuld gewesen, in der ihr die ersten religiösen Eindrücke wurden. In der Kindheit waren ihr sämtliche Heiligenlegenden als unumstößliche Glaubenswahrheiten erzählt worden. Später lernte sie Religion nur als Zeremonie kennen. Ihre Gebetbücher quälten sie mit der schauerlichsten Langeweile; während der Messe habe sie im Laufe ihrer Kinderjahre tausendemal die nämlichen Zeilen überlesen gemußt. „So müßte ich denn die Langeweile als den ersten Hebel bezeichnen, der mich vom Kirchlichen loslöste." „Nach meinem 17. Jahre begann ich aufmerksam unsre großen Dichter zu lesen und fand bald manche Stelle aus, die mir verriet, daß die Klugen nicht eben alles glauben, was die Priester lehren." Die aufsteigenden Zweifel setzten sie einer geistigen Tyrannei ihrer Erzieher aus. Das war mit ein Grund, daß sie, von vielen Seiten überredet, sich zu einer Heirat entschloß, die jedoch einen noch weit größeren Zwang zu religiöser Heuchelei mit sich brachte. Ihr Mann — der Musikalienhändler Mathieux — gestand ihr unverhohlen, daß er nichts glaube, daß es aber sein Geschäft fordere, sich die Geistlichkeit zum Freunde zu halten. „Innerlich empört und erzürnt mußte ich mit ihm vor den Knöchelchen der 11000 Ursulajungfrauen nachmittags auf den Knien liegen und früh oft zwei Messen nacheinander aushalten." In ihren Zweifeln grübelte sie ohne Leitfaden weiter und warf zuletzt vor Verzweiflung alles weg. — In den letzten Jahren sei sie nur selten an Gott gemahnt worden, weil sie dem Schimmernden, Freudeverheißenden eifrig nachjagte und dem ärgsten Egoismus zur Beute wurde. „Von Hochmut, Sucht zur Isolierung, Überdruß am Leben ganz zerrißen, auf dem



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Punkte eines völligen inneren Zerfalls, lernte ich unsenn herrlichen Freund Gottfried kennen; er schenkte meinem Schicksal seine Teilnahme, und damit fing ein helles geordnetes Leben für mich an" (An Pfarrer Evertsbusch. 29. August 1842 und: An Emilie von Henning. 29. August 1841). Kinkels B e k e h r u n g s v e r s u c h und sein Erf o l g . Kinkel, den die geist- und lebensprühende Frau vom ersten Augenblicke an mächtig angezogen hatte, wurde noch fester an sie gefesselt, als sie ihm die schmerzliche Zer-* rissenheit ihres Inneren entdeckte. In ihm stand damals die Autosuggestion frommen Christenglaubens auf ihrer Höhe; Amt, Gesellschaft, Familienbande gaben ihm einen anscheinend festen Stand auf kirchlichem Boden. Und er beschloß, der Retter der verehrten Frau zu werden. „Sie retten muß ich, statt sie zu bedauern" (Gedichte. 3. Aufl. S. 217), sagte er in einem Sonette an Johanna, Februar 1840. Er weist sie auf Christus hin, dem mehr als Himmelsglanz ein Herz voll Wunden ist, das in des Elends bangsten Stunden ein zitterndes Gebet zu ihm wallen läßt. „Er ist gewandelt unter Menschenkindern, „Er hat geweint, drum kann er Schmerzen lindern, „Er ist der Liebe wert — I h n suche du!" (Strodtmann. S. 205).

Am 2. März schreibt Johanna Herrn von Henning: „Sie raten nicht, was ich lese, wenn ich es Ihnen nicht sage. Es ist — die Bibel (zum ersten Male in meinem Leben). Ich komme den ganzen Tag nicht aus dem Erstaunen . . . es ist mir aber ein nie geahntes Glück damit aufgegangen." Noch scheint ein Schwanken in ihr zu sein: halb erscheint ihr in den Büchern des Moses „alles so seltsam mythologisch, und dann kommt wieder so ein blendender Weisheitsspruch, daß ich unbedingt das Wunderlichste als göttliche Wahrheit annehmen möchte". Aber beim Lesen des Neuen Testamentes, das einen „ungeheuren Eindruck" macht, gerät sie in Enthusiasmus, und bald hat Kinkels Bekehrungseifer einen glänzenden Sieg errungen. „Ein menschlicher Geist hat mich zur rechten Stunde aus wenigen Äußerungen durchschaut und den eigentlichen Zauberspruch gefunden, mit dem auf mich

— 65 — zu wirken war," schreibt sie am 17. März an Frau Müller in Berlin.1) Gewaltsam wie alles bei dieser Frau vollzog sich auch dieser Umschwung in ihrer Seele. Eine Schwärmerei ergriff sie, wo sie in Reuetränen, Gebeten, Selbstverdammung sich halb selig, halb elend fühlte. „Ich habe nur einen Wunsch noch : daß mir Kraft und Zeit bleibt, dui;ch Selbstverleugnung die Jahre abzubüßen, die ich in Egoismus und Torheit verschleudert habe. Doch schwer wird es mir werden! Verzweifelte Augenblicke kommen wieder, wo ich nur glühende Gebete zu meinem Trost ausspreche. Doch Gott hört mich, das ist gewiß, ich habe ihn einmal wiedergefunden, und lasse nicht mehr ab!" — Johanna aber war trotz aller Leidenschaftlichkeit ein klarer Mensch. Der Paroxysmus ging bald vorüber, und sie bezeichnet ihn nicht lange darauf als einen ungesunden und extremen Zustand, den, sie nicht wieder zurückwünscht. Sie sucht in der ihr neuen Welt des Protestantismus sich heimisch zu machen und liest außer religiösen Schriften eifrig Geschichte. Schön regt sich die Kritik . . . „Hier lernte ich recht genau Kirche und Religion unterscheiden. Haß und Verachtung gegen Priesteranmaßung, gegen die ungeheure Perfidie des Papsttums erfüllten mich." Aber die Reformation begeistert sie: sie wäre, so erklärt sie, wenn sie damals gelebt hätte, gewiß mit unter den Frühesten der neuen Bewegung gefolgt. — Kampf g e g e n die Liebe. Es liegt außerhalb meiner Aufgabe im einzelnen zu entwickeln, wie zwischen Kinkel und Johanna aus dem Seelenaustausch Liebe wurde. Aber das Notwendige sei angedeutet. Im Mai 1840 war die Scheidung zwischen Johanna und ihrem ersten Manne ausgesprochen worden. „Die • Madammen bei den Kaffeevisiten," die schon im Januar 1840 nach Johannas Aussage sich erzählten, daß Kinkels Braut große Ursache habe, auf sie eifersüchtig zu sein, hatten kein so schlechtes Ahnungsvermögen. Kinkel stellte Vergleiche zwischen Sophie und Johanna an. Jene „plaudert kindisch bang bescheiden", bei dieser vernimmst du „so wunderbare Die Frau des Physiologen Johannes Müller, vordem in Bonn. Vgl. Aus Joh. Kinkels Memoiren. In: Zeitgeist. Beiblatt z. Berliner Tageblatt. 1886. Nr. 39 und ff. B o l l e r t , Gottfried Kinkels KImpfe. 5



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Töne, wie du sie nie empfunden hast" (Gedichte. 3. Aufl. S. 222, gedichtet 1840). Und er kommt zu dem Ergebnis: „ein Liebesbund, er ist nur fügsam, wo gleicher Geist den gleichen wählt" (2. Samml. S. 241). In jenen Tagen mag das (nach Strodtmann 1840 gedichtete) Gedicht „Im Pfarrhause" (Gedichte. 1843. 'S. 131) entstanden sein, wo Kinkel abwägt,, ob für ihn das Leben im Frieden eines weltabgeschiedenen Pfarrhauses oder ein Leben des Kampfes das gemäße sei, und zu dem Ergebnis kommt: „Wem die harte Faust verliehen, „Die nicht matt wird an dem Schwert, „Dürft' er aus dem Streite fliehen „Zu des Friedens frommem Herd?"

Im Juli verrät Kinkel die verborgene Glut durch ein Gedicht. „Das ausgesprochene Wort hat eine furchtbare Gewalt;" jetzt schlägt auch in Johanna der unbewußte Zündstoff zur hellen Flamme empor. Es beginnt, da Kinkel nicht mehr frei ist, beider Kampf gegen ihre Liebe. Die Predigt,, welche Kinkel im August 1840 zu Köln hält, gewährt einen Einblick. „Wenn unsre Leidenschaft in wilder Erregung nach :dem Verderblichen greift, wenn die Macht des Geistes nicht mehr obsiegt im Kampfe gegen das Fleisch, wenn wir im Begriffe sind, unser reines Glück selbst zu zertrümmern, dann tritt Christi unumstößliches Gesetz als eine Schranke vor den Sturm unseres wilden Begehrens und erzieht uns wie Kinder" . . . Und dann „wird jedes Opfer, welches uns der Glaube auferlegt, jedes Brechen des eigenen Herzens und seiner heißesten Wünsche um Christi und der Nächstenliebe willen ein heimlicher Segen, eine stille Freudenquelle" (Pred. S. 8). Kinkel ist tapfer genug, sich um eine Anstellung an einem entfernten Orte zu bewerben (Preuß. Jb. Band 97. S. 21l) 1 ). Aber er hatte keinen Erfolg. Und nun bricht die mühsam eingedämmte Leidenschaft hervor in einem Momente seligen Selbstvergessens, als sie *) Nach Strodtmann handelte es sich um eine Lehrstelle in Wiesbaden. Ob nicht diese Bewerbung identisch ist mit der von Adelheid von Asten-Kinkel {Deutsche Revue. 1902. Band 4. S. 61) erwähnten Bewerbung um eine .kleine Pfarrstelle" ?



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sich am Abend des 4. September wie durch ein Wunder vom gemeinsamen Tode in den Fluten des Rheines gerettet in den Armen Jagen. „Wir waren jetzt den irdischen Gewalten verfallen." Von jenem Abend an wuchs in Johanna Eifersucht und Haß gegen die Braut auf. „Jene fünf Monate, die dem 4. September folgten, waren voll der tödlichsten Qual für uns," schreibt sie. „Ich darf es nicht ausmalen, wie mir zu Mute war, wenn ich ihn dort in Mülheim wußte. Ich schwebte stets in Gefahr, all mein Christentum wieder zu verlieren und vom heimlichen Haß und einer ganz dämonischen Leidenschaftlichkeit aufgezehrt zu werden." Und auch Kinkel, der sein Wort nicht brechen wollte, rieb sich auf. Es war, wie er in der Vorrede zu seinen Predigten sagt, eine „schwere und leidenvolle Zeit". Die Weihnachtspredigt, die er in Köln hielt, scheint wesentlich für Johanna und ihre Stärkung berechnet gewesen zu sein. Er beschreibt die wunderbare Veränderung, die in der Seele vorgeht, wenn Christus in ihr geboren wird. „Anfangs ein sehnsüchtiges schwärmerisches Erfassen, ein tief und heiß empfundenes Glück, ein stetes Sehnen zu ihm hinauf, eine Lust zu ununterbrochenem Gebete. Aber es klärt sich, wo nicht die Lampe des Glaubens dürftig am Öle war, diese träumende Glut zur klaren Flamme; oft brennt sie auch niedriger und möchte im Qualm des kleinlich irdischen Druckes verzagend erlöschen. Aber die Weihnachtssonne geht nicht unter und ein Christ auch nicht. Dann wird es im schmerzvollen Kampfe begriffen, daß, wer Gott hat, auch im Leiden noch Liebe behält, daß nicht zur eigenen Lust Welt und Leben uns geschenkt ist, sondern auch andre sich sonnen sollen an unserm Licht und sich wärmen an unserm Feuer" (Predigten. S. 134/5). Vielleicht hat Johanna selbst unter der Gemeinde gesessen. Jedenfalls schreibt sie an den Pfarrer Evertsbusch, daß sie, um Gottfried predigen zu hören, öfter in Köln ¡n die Kirche gegangen sei. J o h a n n a s V e r e h r u n g f ü r K i n k e l . Johannas Empfindungen für Kinkel strahlen wider aus der Innigkeit, von der auch später noch ihre Briefe voll sind. Sie hat ihren Gottfried geliebt mit einer Wärme, in der alle ihre sonst so klare Kritik dahin schmolz; sie hat ihn verehrt, 9»



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angebetet, vergöttert. Er ist „der Eine, den sie alle Tage höher verehren muß"; sie „sieht gar nicht ein, warum sie ihn nicht vergöttern soll"; „wenn sie's so überdenkt; so schreckt sie fast schaudernd zusammen, daß Gott ihr einen solchen Mann anvertraut;" „mein Mann ist unbeschreiblich gut und lieb, ich kann ihn nie verdienen" — das sind so einige ihrer brieflichen Äußerungen, und noch 1850 vergleicht sie ihn vor dem Kölner Schwurgericht mit Christus vor Pilatus.1) A u f l ö s u n g des V e r l ö b n i s s e s mit Sophie. Zu Anfang des Jahres 1840, wohl im Februar, ist Kinkels Widerstandskraft erschöpft. Er bittet den Vater seiner Braut, das Verlöbnis zu lösen. Welche Qualen ihm dieser Entschluß gekostet hat, läßt die Predigt ahnen, die er in diesen Tagen — am 2. Fastensonntag — über die Bußpein hielt: „ja, es ist Feuer, diese Buße, es ist lodernde Feuersqual . . . Ha so ganz entkleidet von der eigenen Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht und dem eignen Gewissen dazustehn, so ganz ins tiefe Herz eingewühlt den Geist, von dem der Seher verkündet, daß er richten und ein Feuer anzünden wird, so ganz durchbohrt von dem Schwert des göttlichen Wortes im Gesetz, das Mark und Bein scheidet — o dies Schuldgefühl, es ist ein Schmerz, dem kein Erdenweh gleichkommt" (Pred. S. 73). Es mochte ihn eine Ahnung anrühren, daß er hier einen Schritt getan habe, der ihn nicht bloß von einer Braut, sondern von seinem ganzen Lebenswege abführte. „Eins aber ahnt mir: deine Treue war meines Lebens frömmstes Glück" (Ged. 2. Samml. S. 243), sagt er zur aufgegebenen Braut.

2. Kinkels innere Entwicklung bis zur Verlobung mit Johanna, a) Verweltlichung der Poesie. Welche Entwicklung nahm Kinkel, seitdem er mit Johanna in nähere Berührung getreten war? Wir erinnern uns, daß im Jahre 1840 Kinkels äußere religiöse Erscheinung ihre positivste Färbung zeigte, welcher auch die innere Überl

) Fanny Lewald, Zwölf Bilder.

Berlin 1888.



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zeugtheit durch Erreichung ihres Höhepunktes entsprochen haben wird. Die Weltkinder, mit denen Johanna am meisten umging, zählten ihn zu den „Erzpietisten" (Preuß. Jb. 97. S. 207), die theologische Fakultät rühmte seine „lebendige und freie Anhänglichkeit an schriftmäßiges und kirchliches Bekenntnis", in seinen Predigten lieferte er davon die stärksten Beweise. Aber es scheint doch auch damals schon nicht an solchen Beurteilern gefehlt zu haben, welche von der Festigkeit und Tiefgründigkeit seiner Überzeugungen keine hohe Meinung hatten; diese betrachteten seine Annäherung ¡an Johanna mit Besorgnis. Sie bildeten sich ein, schreibt Johanna im Oktober 1841, „ich mache ihn gottlos. Wahrscheinlich sahen sie mich als eine Art Mephisto an, der dem Gott Vater ins Gesicht sagt: ,Gebt acht, d e n sollt Ihr noch verlieren.' Sie schienen wirklich bange zu sein, das Weltkind möchte ihnen zum Possen ihren auserwählten Heiligen verführen" (Preuß. Jb. 97. S. 208). Zunächst bemerken wir, daß Kinkel sich, ermutigt durch Johannas Beifall, der weltlichen Dichtung zu widmen beginnt. Johanna, „diese reiche weibliche Künstlernatur, wurde seine Muse" (Beyschlag, Aus m. Leben. S. 115). „So aus bleiernem Schlaf, in dem mein Genius hinstarb, „Weckest du flutigen Born neuen Gesanges mir auf," (Ged. 3. Aufl. S. 146)

dichtete Kinkel im Sommer. Zu dem Maikäferbunde, jener Gesellschaft junger Poeten, die sich in Bonn um Johanna scharte, trat er im Juni als Mitglied; bald wurde er ihr Haupt. In jener Zeit entstand das Gedicht „Wert der Stunde" (Gedichte. 1843. S. 50); hier spricht nicht mehr der Sänger Gottes, sondern der Gelegenheitsdichter: „So viel von Gunst dir „Acht' es und bann' es „Sey's ein Gedanke, der „Sey's ein Gefühl auch,

schenkt die Stunde, in rasche Lieder! in dem Haupt dir zuckt, welches die Brust dir hebt".

Wohl gelingt ihm in dieser Zeit noch das wärmste seiner religiösen Gedichte, das „geistliche Abendlied" (Ged. 1843. S. 107), wohl steigt noch einmal „aus wunden Herzenstiefen



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ein rettungsahnend Beten auf" (S. 119; vgl. oben S. 20); aber eine Wendung zu weltlichen Stoffen, insbesondere in Liebesmotiven ist unverkennbar, seitdem bei jenem Unfall in den Wellen ihm und Johanna das Geständnis ihrer Liebe entschlüpft ist. Die „geweihte Stelle", unter deren Bäumen sie gestanden haben (Gedichte. 1843. S. 124), erzählt von „verschollnen Sängerpaars verschwiegnen Gluten"; seine „Lippen brennen nach lustigen Küssen" (S. 53); und in der „Götterdämmerung", das ist: der Stunde der Dämmerung, wo die alten Götter, während der Gewaltige, Eine auf dem höchsten Lichtthron im kurzen Schlummer ausruht, ihr altes Herrenrecht üben, spielt Aphroditens zu sinnlichem Rausche verführendes Tun die bedeutendste Rolle (S. 59). Der Geistliche scheut sich hier nicht, seinen Gott als poetisches Motiv in dieses schwüle Gedicht hineinzuziehen. Weniger mißfällig wirkt dieses Motiv in dem ebenfalls 1840 entstandenen „Mythos" (S. 25) wegen des schlichten, treuherzigen Legendentones, um dessen willen überhaupt das Gedicht zu den erfreulichsten Leistungen Kinkels gehört. Daß sich ihm solche Gedanken und Empfindungen über die Lippen drängen, die er früher der Öffentlichkeit preiszugeben sich nicht getraute, darf man gewiß ebenso auf Johannas Einfluß zurückführen, wie ein sich jetzt zeigendes freieres Auftreten, eine ungezwungenere Lebensführung, welche die Professoren „burschikos" nannten (Strodtmann 194). Er selber empfand dies, indem er ihr dankte: „Wie du mit kühnem Trotz mich rissest los von den Formen, „Die mir den ängstlichen Sinn lange beschwerend gedrückt" (Ged.

3. Aufl.

S. 148).

b) Religion. Seine religiöse Überzeugung, soweit er sie öffentlich in Predigt, Lehre und Wissenschaft bekannte, läßt in dieser ersten Zeit des geistigen Austausches mit Johanna Tceine sonderlich starke Beeinflussung erkennen. Das beweist unsere Untersuchung der Predigten dieses Winters, Beyschlags Zeugnis, der sogar in der Vorlesung des Sommers 1841 noch eine ernste

— 71 — Heilandsliebe findet,1) und Kinkels doch wohl in den ersten Monaten des Jahres 1841 niedergeschriebene Arbeit über die Himmelfahrt. Und doch ist den scharfen Augen der Fakultät nicht entgangen, daß sich Veränderungen vorbereiteten. Ihr Urteil vom 24. Juni 1841: „seine theologische Richtung erscheint uns als eine im ganzen gesunde, die Grundtatsachen des Christentums und das wesentliche Bekenntnis der Kirche achtende" *) — lautet anders als das Lob seiner „lebendigen und freien Anhänglichkeit an kirchliches und schriftmäßiges Bekenntnis" im vorigen Jahre. „ R e l i g i o n d e r S c h ö n h e i t . " In der Tat geben ihr einige nicht an die größere Öffentlichkeit gelangte Äußerungen Kinkels Recht. Hier ist zunächst die von StrodtmanTi (S. 214 f.) überlieferte Tagebucheintragung vom 12. September 1840 anzuführen; man überrascht da den gläubigen Prediger auf ganz eigenartigen Spekulationen: der Prophet sei stets heterodox, auch wer unserer Zeit das Horoskop stelle, könne nicht orthodox sein. Das Christentum müsse in Zukunft, nachdem es den Kampf für Güte und Wahrheit erfolgreich beendet, in den Kampf für die Idee des Schönen eintreten; die Schönheit erst macht das Christentum heimisch auf Erden, sie, bringt der Kirche die Eintracht, sie schafft die wahre Sittlichkeit, sie macht die Erde zur Heimat des Menschengeistes; kommt sie zur Herrschaft, so ist der göttliche Weltplan vollendet: „das tausendjährige Reich bricht an." Kinkel predigt also hier eine Religion der Schönheit, und man kann es verstehen, wenn Beyschlag von seinem christlichen Standpunkte aus urteilt, diese Ausführungen müßten in einer ganz besonders schwachen Stunde entstanden sein (Theol. Stud. u. Krit. 1913. S. 602). „ W e l t s c h m e r z u n d R o k o k o . " Ein ganz ähnlicher Gedanke bildet den Beschluß des Essais „Weltschmerz und Rokoko", den Kinkel 1841 niedergeschrieben hat und der sehr "wertvolle Aufschlüsse über Kinkels Anschauungen im Anfange des Jahres 1841 gibt. Ich glaube, daß die Abfassung vor die Auflösung seiner Verlobung zu setzen ist, welche die Kon») Siehe unten S. 85. a ) Siehe unten S. 80.



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flikte mit Köln und der Fakultät herbeiführte, weil sie in den sonst ganz persönlich gehaltenen Ausführungen gar nicht durchschimmert. Der Aufsatz ist erst 1850 gedruckt worden, doch wohl deshalb, weil Kinkel 1841 mit den hier ausgesprochenen Ansichten hervorzutreten nicht für ratsam halten mochte. Z w e i f e l a m V ä t e r g l a u b e n . Von den für unsere Frage besonders interessierenden Oedanken seien folgende Proben gegeben. „Das Zeitalter der ruhigen Festigkeit ist gewichen, die Grundsätze und selbst die charakteristischen Wahrheiten schwanken. . . . Der unerschütterliche Kirchenglaube der Ahnen wankt vor den neuen sittlichen und allgemein menschlichen Ideen, die statt des Dogmas die Tat der Liebe fordern, ja vielfach mit dem Dogma selbst in offener Feindseligkeit auftreten. Wir empfinden in stillen Stunden die gotische Herrlichkeit des Väterglaubens, aber im Leben wie in der Wissenschaft können wir dem Lichte junger Wahrheit nicht sein Recht absprechen." „In diesem Zwiespalt steht, wie inmitten zweier sich sondernder Zeiten, blutenden Herzens der Jüngling da, und jedem kommt, früher oder später, jene Herakleswahl. Er soll entscheiden, und das Urteil ist schwer, wo auf der einen Seite ein durchs Alter geheiligtes Recht des Bestehens, auf der andern die Macht der Verstandeswahrheit in der Wagschale liegt. Und ehe er nun hier mit kraftvoller Tat heraustritt, folgt ¡der bestimmungslosen Jugend eine Zeit der Bangigkeit und Zweifelsucht; oft des Verzagens an aller Wahrheit und Güte, die statt des fröhlichen Genießens nur Tränen und statt des kräftigen Einwirkens auf die Welt nur Unmut über deren Verderbtheit hat." Kritik an Kirche, O r t h o d o x i e und P i e t i s m u s . Sieht man hier alle Zweifel seiner Jugendzeit mit erneuter Kraft auf ihn einstürmen, so zeigt sich seine Kritik an der Kirche und den orthodox-pietistischen Gruppen innerhalb ihrer zu einer bemerkenswerten Schärfe entwickelt; man erinnert sich an Johannas Mitteilung, daß sie in jener Zeit Kirche und Christentum zu unterscheiden lernte (vgl. oben S. 65). „Auf die Kirche als die höchste Lebensform der Menschheit wollten wir zuletzt kommen: wir können es nicht



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ohne Schmerz, denn sie ist teilweise in hohem Grade im Zurückschreiten begriffen. Der politischen Revolution Frankreichs war in Deutschland eine kirchliche Durchschütterung vorhergegangen, deren Verdienst es ist, Schranken gesprengt, Formen gelöst zu haben. Durch Kant war statt der scharfgezackten kirchlichen Bekenntnisse, in welche sich die europäische Menschheit zerstückt hatte, die sittliche Forderung zur Anerkennung gekommen. Diese ist nur Eine für die ganze christliche Kirche. Indem Kant zugleich die philosophische Ungewißheit der bestehenden Systeme nachwies, trachtete man wenigstens jenes eine Feste zu behaupten, daß in dem Stifter des Christentums eine höchste und reichste Menschheit, ein vollkommen ideales Vorbild des sittlichen Handelns auf Erden erschienen sei." Aus der Stimmung, welche die konfessionellen Schranken zurücktreten ließ, sei dann 1817 die Union entstanden, auf der die gesamte kraftvolle Fortentwicklung besonders der rheinischen Kirche gegründet sei. „Aber während der alte Gegensatz schwand, hub sich nun in beiden vereinigten Kirchen eine Partei hervor, welche im Gegensatz jener sittlichen Richtung die Formeln des alten reformatorischen Glaubens, die Dogmatik des 17. Jahrhunderts mit all den Schnörkeln und Zacken, die sie barock zieren, zu neuer Bedeutung heben will. Der Pietismus macht das Christentum wieder engbrüstig, da er Gott nur im Weihrauchdampf der Kirche zu finden meint und sein Rauschen da draußen in Natur, Geschichte und Schöpfungen des Menschengeistes teils überhört, teils dem Geiste der Finsternis zuschreibt. Der Orthodoxismus, ebenso fanatisch, obgleich kälter und weniger tätig, macht von der Annahme bestimmter Lehren ewiges Heil und ewige Verdammnis abhängig. Beide Richtungen führen zum Tode . . ." Hier nimmt also Kinkel klar und deutlich' Partei gegen Orthodoxie und Pietismus für die „sittliche Richtung", welche in dem Stifter der christlichen Religion nur eine höchste Menschheit sieht. Die innere Stellungnahme auf der Seite des Rationalismus ist unzweideutig bezeichnet, während er gleichzeitig — in der Fasten- und Osterzeit 1841 — in Köln predigte von dem furchtbaren Sühnopfer des Gottes-



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sohnes und aufforderte: laßt uns niederfallen und ihn anbeten — ein Widerspruch, der sich nur zum kleinen Teil aus dem Unterschied des Tones in einem Essai und einer Predigt erklärt und den wir ähnlich1 als innerliche Unstimmigkeit in den nächsten Jahren noch öfter wiederfinden werden. J o h a n n i s k i r c h e . Das Heil der Kirche sieht er in der Zukunft verwirklicht durch die Idee, die uns schon durch1 seine Gedanken von der Johanniskirche bekannt ist: „Die Kirche muß äußerlich eine werden, wie sie innerlich1 als eine von Ewigkeit her vorhanden ist. Darin liegt, daß sie so weitherzig werden muß, um jede sittliche Kunstbestrebung, jede auf Wahrheit redlich gerichtete, wissenschaftliche Forschung in sich1 als eine befreundete aufnehmen zu können." c) Ärger über die Fakultät. Ein besonders helles Licht wirft der Aufsatz über den Weltschmerz auf Kinkels innerliche Stellung zu den Mitgliedern seiner Fakultät. Hier sehen wir die Enttäuschung über die seinem Ehrgeize viel zu lange ausbleibende Beförderung schon bis zu empörtem Ingrimm entwickelt. Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie die Fakultät und in einem besonderen Schreiben Sack im Sommer 1839 sich um der einstweilen noch vorhandenen Unreife willen gegen seine Ernennung zum ao. Professor aussprachen, und wenn wir dazunehmen, was Johanna an Strodtmann am 9. März 1850 schrieb: „Sack versicherte Kinkel, er hindre nur deshalb seine Beförderung, weil diese für ihn nicht gut sei; (er beschuldigte besonders; Kinkel der Eitelkeit)" — so sieht man klar in die persönlichen Gründe, auf denen sich die folgenden Sätze aufbauen. Die Jugend, so führt er aus, habe es schwer sich durchzusetzen. „Wo wir uns die eigene Bahn brechen, die nicht auf Besoldung, sondern nur tauf Anerkennung sich richtet, begegnet uns hochmütige Verachtung bloß deshalb, weil wir jung sind . . . Denn die Hochstehenden fürchten den Geist der Jugend und möchten gerne mit heuchlerischer pädagogischer Güte sich den Schein geben, als wehrten sie sich gegen unsere Beförderung nur,



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weil wir noch nicht reif seien: zu Grunde aber liegt die geheime Hoffnung, die Tatlosigkeit und der Verdruß möchten endlich unsere Schärfe abstumpfen, sowie der Magnet die Kraft verliert, wenn er kein Eisen zu ziehen bekommt Aber der Geist der Freiheit läßt sich so nicht auf die Dauer betrügen: er wird trotzig in seinem Rechte, und hält sich an diesem Trotze jung." Wie sehr Kinkel solche Gedanken damals beschäftigten, zeigt sich auch darin, daß bis in seine Predigten hinein der Ausdruck der Enttäuschung dringt, wobei er nur mangelhaft den scharfen Tadel verschleiert, indem er sich selber rhetorisch an die Stelle der Getadelten setzt: „Wir besitzen Ehren und Ämter in Staat und Kirche... Unter uns stehen junge Kräfte, die in edlerm Streben durch uns gehemmt werden und sich ohne amtliche Tätigkeit im Unmut verzehren, während wir die von ihnen ersehnten Güter verprassen" (Predigten S. 118. Am Sonntag nach dem Bußtage 1841). In dieser Zeit mag auch1 der Spruch gedichtet sein (Ged. 3. Aufl. S. 408): „Ihr alten Herren, die Zeit ist strenge, „Früh schenkt sie uns weißes Haar in Menge. „Drum denken wir nicht so lange zu passen, „Bis i h r uns wollt an das Ruder lassen".

Die in allen diesen Äußerungen sich zeigende Zunahme unkirchlicher Strömungen in Kinkels Gedanken und Stimmungen einzig und allein auf Johannas Einwirkung zu schieben, wie es die Frommen und besonders Bögeholds taten, wird ihren Einfluß übertreiben. Aber sicher war es die ungewollte Wirkung ihrer feurigen Persönlichkeit, die allem was die Welt Schönes und Gutes bietet zugewandt war, daß Kinkel in eine künstlerisch-weltliche Lebensauffassung mithineingezogen wurde; sicher hat die bis zur Anbetung gesteigerte Bewunderung, mit der Johanna an ihm hing, sein ohnehin nicht geringes Selbstbewußtsein überstark angespannt; und gewiß hat der ihr eigene Freimut auch bei Kinkel eine freiere Äußerung der in ihm ver r borgenen Negation veranlaßt.1) 1

) Vgl. zu dieser Frage S. 185.



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3. Die Folgen der Verlobung mit Johanna. a) Urteil des Publikums.

Wir wenden uns jetzt den Ereignissen zu, die auf die Auflösung von Kinkels Verlobung mit Sophie Bögehold folgten. Der plötzliche Bruch machte „ungeheure Sensation". „Man machte Kinkel ein Verbrechen daraus, das man nicht streng genug rügen konnte", schreibt Johanna, und Beyschlag stellt die gravierenden Momente zusammen (Aus meinem Leben. S. 107): der „Bruch eines offenkundigen Verlöbnisses ohne alle Schuld der Braut, die Neuverlobung mit einer geschiedenen oder vielmehr noch im Scheidungsprozeß liegenden Frau, dazu der erschwerende Umstand, daß es ein Lehrer der evangelischen Theologie war, der sich auf diese Weise mit einer Katholikin verband". Erschienen vielen diese unbestreitbaren Tatsachen schon belastend genug, so tat der Klatsch noch das Seine hinzu. Beyschlag spricht (Stud. u. Krit. S. 594) davon, daß manche das Verhältnis Kinkels zu Johanna grober Unsittlichkeit bezichtigt hätten. Mochte man dem auch nicht überall Glauben schenken, so war doch die Auffassung weit verbreitet, daß Kinkel Johanna im Hause ihres ersten Mannes kennen gelernt habe und daß das Liebesverhältnis der Scheidung vorausgegangen und die eigentliche Veranlassung dazu gewesen sei. Diese „empörende Verdrehung" hörte Johanna von „dem freundlichen Pfarrer Pütt", als sie 1849 nach Karlsruhe zu ihrem gefangenen Manne geeilt war (Deutsche Revue. 1894. 3. S. 348). Wichern war der gleichen Meinung; er schildert (Briefe und Tagebuchblätter. Band 2. Am 12. Juli 1852) die „Greuel", die auf die Entlobung folgen: „jene Person [Johanna] läßt sich, nachdem sie zuvor Protestantin geworden, von ihrem katholischen Manne scheiden und Kinkel heiratet sie!" Dasselbe behauptet Karl Schorn in seinen Lebenserinnerungen (Band 1. S. 273), und bis in, die neueste Kinkelliteratur hat sich' diese Entstellung gerettet (vgl. Kurt Wüest, Gottfried und Johanna Kinkel; in: Wissen und Leben. Jahrg. 3. 1910. S. 504).



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b) Entlassung aus dem Dienste der Kölner Gemeinde. Die Wellen der Entrüstung gingen hoch. Den kirchlichen Freunden Kinkels war sein Verhältnis zu Johanna ein Ärgernis, den Fremderen, wie Karl Schorn, eine Torheit. Als erste regte sich die Kirche selber zur Beseitigung des Ärgernisses. Das Presbyterium der Kölner Gemeinde 1 ) entließ den Hilfsprediger. Es schickte am 11. Mai den Pfarrer Engels zu Kinkel mit dem Auftrage, von ihm eine Erklärung über sein Verhältnis zu Johanna zu verlangen. Kinkel gab darauf in einem Schreiben vom 13. Mai an Engels einen Bescheid, den er ähnlich schon mündlich sofort erteilt hatte: er halte das Presbyterium nicht für befugt, an ihn eine offizielle Frage über seinen Umgang und seine Lebensabsichten zu richten, er erkläre solche Frage vielmehr für unpassend und unzart. Das Amt werde er unter den durch diese Frage geschaffenen Umstanden aufgeben, jedoch erst, wenn das erste volle Jahr seiner Tätigkeit zu Ende sei, am 1. August, weil er sich nicht den Schein zu geben gedenke, als sei er sich der Rechtmäßigkeit seiner Handlungsweise und seiner Lebensansichten nicht bewußt. Tags darauf trat das Presbyterium zu einer Sitzung zusammen. Hier wurde der großen Treue u n d Sorgfalt, mit der Kinkel die Predigten gehalten habe, Anerkennung gezollt und alsdann der Beschluß "des Einschreitens gegen ihn in folgender Weise begründet: „Vor einigen Monaten erhob sich das Gerede, welches von Tage zu Tage sich vermehrte und die Gemeinde sehr beunruhigte, daß der Kandidat Kinkel in ein Verhältnis zu einer Katholikin in Bonn getreten sei, welche ohne eigentlich gesetzliche Ursache und bloß auf Grund gegenseitiger Einwillig u n g und Abneigung erst im vorigen Jahre durch die weltlichen Behörden von ihrem Manne sich hat scheiden lassen." D a s Presbyterium habe, nach anfänglicher Zurückhaltung, es f ü r seine Pflicht gehalten, darüber zu wachen, daß aus *) Über die Vorgänge bei Kinkels Entlassung aus den Diensten der Kölner Gemeinde sind wir genau unterrichtet durch P. W. Rotscheidt, Gottfried Kinkel als Hilfsprediger in Köln. Mitteilungen aus dem Archiv •der Evang. Gemeinde zu Köln; in: Theolog. Arbeiten a. d. rhein. wiss. Prediger-Verein. N. F. 9. 1907. Vgl. dazu Strodtmann, S. 247 ff.

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dem Leben der Prediger alles was der Gemeinde zum Anstoße gereichen könne, entfernt bleibe, und daher durch eine persönliche Anfrage bei Kinkel Klarheit zu schaffen gegesucht. — Jemanden zu entlassen, dessen Treue und Sorgfalt man anerkennt, um eines Geredes willen — das mochte noch immer dem Presbyterium nicht unbedenklich erscheinen, und so wird denn Kinkels Haltung bei der an ihn gerichteten Frage in den Vordergrund gerückt und schließlich als Grund für die Entlassung bezeichnet: das Presbyterium dürfe nicht mit einem Kandidaten in Verbindung bleiben,, welcher eine Antwort in einer Art verweigert, „die eben nicht von einem sanftmütigen und versöhnlichen Charakter zeugt." — Kinkel war dem Spruche gegenüber machtlos. Nur gegen die ausgesprochenen Vorwürfe wehrte er sich in einem Briefe vom 27. Mai: „Ich wünsche von Herzen, daß dieses nicht auf äußere Lebensführung bezügliche, sondern den tiefsten christlichen Grund meines Wesens befleckende Wort durch die Ruhe mit der ich diese Entgegnung niederschreibe und das Zeugnis aller derer möge widerlegt werden, die mich in persönlichem Umgange kennen gelernt haben." Das Vorgehen des Presbyteriums wird verschieden beurteilt. Johanna, die überhaupt jeden Angriff auf ihren vergötterten Kinkel als Verleumdung zu empfinden neigt, hat zum mindesten in diesem Falle, in dem es sich um sie selber handelte, ein gutes menschliches Recht, parteiisch zu sein; sie urteilt denn auch mit hinreichender Deutlichkeit: „In Köln existiert ein Presbyterium, welches durch die Dummheit eines großen Teiles seiner Mitglieder berüchtigt i s t . " . . . „Hier ist Kinkel ein offenbares großes Unrecht geschehen, das man vergeblich als Gewissenhaftigkeit beschönigt. Die Triebfedern waren allzugewiß Mißgunst und Borniertheit, die an seiner kühnen freisinnigen Richtung in der Theologie Anstoß nahm" (Preuß. Jahrb. 97. S. 219). „Die älteren Prediger sahen es ungern, daß alles zu dem neuen Hilfsprediger hinströmte, während ihre Kirchen leer standen" (Strodtmann. S. 193 — Der Herausgeber der Kölner Akten steht auf *) Wörtlich aus einem Briefe Johannas an Strodtmann.



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einem Standpunkt, von dem aus er das Bibelwort Lukas 16,18 auch für heute verpflichtend ansieht: wer die geschiedene Frau heiratet, bricht die Ehe; er findet also, daß das Presbyterium so handeln m u ß t e . Simons dagegen, der Herausgeber der „Theolog. Arbeiten", mit dem ich übereinstimme, urteilt: „das Verhalten des Presbyteriums hat etwas von jenem Ärgernisnehmen an sich, das in vielen pietistischen Kreisen üblich ist und hier als Zeichen entschiedenen Christentums gilt." Ein anderes aber ist es, ob Kinkel das Recht hatte, dem Presbyterium eine Frage über seinen Wandel, sie mochte im übrigen aus den unberechtigtsten Motiven hervorgegangen sein, zu verbieten. Er gab seinem Gegner eine gute Waffe in die Hand, indem er sich auf diesen rechtlich fragwürdigen Boden stellte. Aber freilich ist sein Verhalten schließlich in seinem innersten Wesen begründet, das sich, wenn er sich gegen die Machthaber auflehnt, weniger in Kraft als in Trotz äußert. Ruhige Energie hätte das Presbyterium sicherer beschämt als tönendes Pathos. c) Entlassung aus dem Thormannschen Institut Das Thormannsche Institut, eine Mädchenschule in Bonn, an der Kinkel Religionsunterricht gab, folgte bald der Kölner Gemeinde, indem es Kinkel verabschiedete. *) Man wird einer Privatmädchenschule kaum einen Vorwurf daraus machen dürfen, wenn sie im Interesse des eigenen Gedeihens auf die öffentliche Meinung Rücksicht nimmt. Allerdings soll es, wie Beyschlag zugibt (Theol. Stud. u. Krit. S. 604), bei der Entlassung undankbar hergegangen sein, und nur die Schülerinnen hätten, was die Vorsteherin versäumt, in einem begeisterten Dankbriefe nachgehölt. d) Vorgehen der theolog. Fakultit ia Bonn. Hinter Kirche und Schule blieb die Universität nicht allzu weit zurück. Auch die Haltung der Bonner Theologenfakultät wurde durch Kinkels und Johannas Beziehungen tief beeinflußt vgl. Strodtmann.

S. 244.



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Am 24. Juni 1841 reicht die Fakultät ein Outachten an den Minister ein über die Besetzung einer ao. Professur in Bonn. Dabei wird auch Kinkels gedacht, und zwar in der Weise, daß seine Begabung gerühmt wird. „Seine theologische Richtung erscheint uns eine im Ganzen gesunde, die Grundtatsachen des Christentums und das wesentliche Bekenntnis der Kirche achtende. In philosophisch-begrifflicher Durchbildung läßt er einiges zu wünschen übrig." Er würde für die ao. Professur empfohlen werden können, „wenn nicht eine in manchen Beziehungen sehr verfehlte Anknüpfung eines persönlichen Verhältnisses ihm seit kurzem merklich in der öffentlichen Achtung des evangelischen Publikums geschadet hätte, . . Wir halten es zwar für sehr möglich, daß der durch zu großes Selbstvertrauen irre geleitete, sonst achtungswerte junge Mann sich von dem, was ihn hemmt und teilweise aufregt, freimachen werde, glauben aber in dieser Zeit . . . ihn nicht in Vorschlag bringen zu dürfen." Und so wird auf Kinkel als auf einen viel Versprechenden aufmerksam gemacht und die Erlaubnis erbeten, nach einiger Zeit auf seine Beförderung zurückkommen zu dürfen. 1 ) Johanna stellt das Vorgehen der Fakultät in ihrem Briefe an Henning (Oktober 1841) im wesentlichen richtig dar, sieht aber die äußere Veranlassung für die derzeitige ablehnende Haltung der Fakultät in einer Indiskretion Nitzschs: „Professor N. ließ im März Kinkel zu sich rufen, sprach wie ein Freund und Vater zu ihm und bat ihn, er möge ihm doch vertrauen, in welchem Verhältnis er zu mir stehe, weil er nicht den Gerüchten, nur dem Wort aus seinem Munde glauben wolle. Hierauf eröffnete ihm K. unter dem Siegel der Verschwiegenheit, . . . daß er mich liebe und die Hoffnung nähre, sich dereinst mit mir zu verheiraten. N. benutzt dies heilige Vertrauen K s . . . auf der Stelle zu dessen Verderben (und) klatscht es der Fakultät . . . diese Verräterei N.s finde ich unerhört, ganz unverzeihlich." — Ohne an der tatsächlichen ») Beyschlag bemerkt (Theol. Stud. und Krit. S. 605), dass die Fakultät Kinkel im Sommer 1841 zu einer ao. Professur in Greifswald vorgeschlagen habe. Das scheint ein Irrtum zu sein. In den Akten taucht dieser Gedanke erst 1843 auf (siehe unten S. 110).



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Richtigkeit des Erzählten zweifeln zu wollen, muß man, nach' allem was sonst von Nitzsch bekannt ist, einen g r o b e n Vertrauensbruch von seiner Seite für unmöglich erklären. Die Bedingung der Verschwiegenheit kann von ihm nicht so angenommen worden sein, wie Kinkel sie vielleicht gemeint hatte. Überdies ist es belanglos, daß die Fakultät ihre Kenntnisse von dem Verhältnisse durch Nitzsch b e k a m ; verborgen wäre es ihr auch sonst nicht geblieben. Dagegen ist mit Deutlichkeit festzustellen, daß eine deutsche theologische Fakultät ausdrücklich nicht in der theologischen Richtung, nicht in wissenschaftlicher Unzulänglichkeit, nicht in sittlichen Mängeln ein Bedenken gegen die Beförderung eines Privatdozenten sieht, sondern in der öffentlichen Meinung des evangelischen Publikums. Dieses Verfahren bezeichnete selbst der konservative Professor von Henning in Berlin als eine Ungerechtigkeit. Ja, es hat sogar den Anschein, als ob der geschmähte Nitzsch vielleicht nicht voll und ganz die Anschauung seiner Kollegen geteilt hätte. Klingt es doch fast wie eine Ehrenerklärung, wenn er kurz darauf Kinkels Untersuchung über die Himmelfahrt für die Aufnahme in die „Theol. Studien und Kritiken" mit der W e n d u n g empfiehlt, daß „der geehrte Verfasser es in jeder Beziehung ansprechen kann, hier zum W o r t e zu k o m m e n . " — In der Tat, für eine deutsche Fakultät hätte es sich geziemt, die öffentliche Meinung zu leiten, nicht: ihr ohne weiteres zu folgen. Mochte die Anknüpfung des j u n g e n evangelischen Theologen mit einer geschiedenen Katholikin immerhin ihr Befremdliches haben, ihre Beurteilung erfährt sie allein nach dem W e r t oder Unwert der Persönlichkeit, um deren willen Kinkel jene Herausforderung der öffentlichen Meinung wagte. Und diese Persönlichkeit war eben eine J o h a n n a ! Beyschlag, der die beiden kennen lernte, wie kaum ein anderer, „begriff trotz allem, was gegen dies Bündnis mit Grund eingewandt werden konnte, daß die beiden einander liebten und ihre Vereinigung der Welt abzutrotzen entschlossen waren" (Aus meinem Leben. S. 115). U n d Hausrath, der es ebenfalls zwar vielleicht tadelnswert, aber begreiflich findet, daß die Bekanntschaft mit J o h a n n a Kinkeln die Verlobung mit einer unbedeutenden pietistischen B r a u t entleidete, hat nicht so Unrecht, wenn er urteilt: „jedenB o l l e r t , Gottfried Kinkels Kampfe.

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falls ging das alles niemanden an als die Beteiligten" (Hausrath, Richard Rothe. Band 2. S. 149).

Viertes

Kapitel.

Wirkungen des Konfliktes. 1. Das Jahr 1841. a ) Kampfstimmung. Trotziger Protest gegen die feindliche W e l t . Der Verlust der Predigertätigkeit in Köln, die Haltung der Fakultät und die daraus erfolgende Einbuße an Gunst in seinen kirchlichen und gesellschaftlichen Kreisen, auch der verminderte Beifall bei der großen Masse der Studenten (Beyschlag. Aus m. Leben. S. 100), übten auf Kinkel die tiefste und — wie wir sehen werden — folgenreichste Wirkung aus. Ihm war Unrecht geschehen; er sah sich nun mit einem Male, anstelle jener Phantasiewelt, aus der bis dahin seine Empfindlichkeit imaginäre Vorstellungen von Feinden geschaffen hatte, einer wirklichen Welt mit Gegnern gegenüber, und er beeilte sich, den Kampf, wenigstens in seinen Liedern, aufzunehmen. Zunächst schuf er in seinem Innern zwischen sich und der Welt die nötige Distanz, wobei er nicht versäumte, seine ethische Erhabenheit auf dem Hintergrunde schwärzester Verworfenheit seiner Feinde leuchten zu lassen. „Was denn fehlt' ich so schwer? Ich habe geliebt, ach, und die Liebe verzeiht mir die Welt nicht" (Gedichte. 1843. S. 80). „Die Welt, die vom Haß sich nährt, hat ihn verstoßen" (Ebd. S. 79), hat „schnöde Lügenpfeile gesandt" (Ebd. S. 63), die Gegner sind „lügenspinnende Verräter" (Ebd. S. 123), ein „ganzer blöder Eulenchor" (Ebd. S. 101); was ihn traf, war „des Pöbels Gemeinheit" (Strodtmann. S. 287). Aber sie täuschen sich, wenn sie wähnen, ihn beugen zu können. „Es ließen Alle von mir, Alle! „Doch bebte nicht mein kräftig Mark: „Am Abhang stand ich, nah dem Falle, „Doch blieb mein Eisenwille stark!"

(Ebd. S. 116).



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falls ging das alles niemanden an als die Beteiligten" (Hausrath, Richard Rothe. Band 2. S. 149).

Viertes

Kapitel.

Wirkungen des Konfliktes. 1. Das Jahr 1841. a ) Kampfstimmung. Trotziger Protest gegen die feindliche W e l t . Der Verlust der Predigertätigkeit in Köln, die Haltung der Fakultät und die daraus erfolgende Einbuße an Gunst in seinen kirchlichen und gesellschaftlichen Kreisen, auch der verminderte Beifall bei der großen Masse der Studenten (Beyschlag. Aus m. Leben. S. 100), übten auf Kinkel die tiefste und — wie wir sehen werden — folgenreichste Wirkung aus. Ihm war Unrecht geschehen; er sah sich nun mit einem Male, anstelle jener Phantasiewelt, aus der bis dahin seine Empfindlichkeit imaginäre Vorstellungen von Feinden geschaffen hatte, einer wirklichen Welt mit Gegnern gegenüber, und er beeilte sich, den Kampf, wenigstens in seinen Liedern, aufzunehmen. Zunächst schuf er in seinem Innern zwischen sich und der Welt die nötige Distanz, wobei er nicht versäumte, seine ethische Erhabenheit auf dem Hintergrunde schwärzester Verworfenheit seiner Feinde leuchten zu lassen. „Was denn fehlt' ich so schwer? Ich habe geliebt, ach, und die Liebe verzeiht mir die Welt nicht" (Gedichte. 1843. S. 80). „Die Welt, die vom Haß sich nährt, hat ihn verstoßen" (Ebd. S. 79), hat „schnöde Lügenpfeile gesandt" (Ebd. S. 63), die Gegner sind „lügenspinnende Verräter" (Ebd. S. 123), ein „ganzer blöder Eulenchor" (Ebd. S. 101); was ihn traf, war „des Pöbels Gemeinheit" (Strodtmann. S. 287). Aber sie täuschen sich, wenn sie wähnen, ihn beugen zu können. „Es ließen Alle von mir, Alle! „Doch bebte nicht mein kräftig Mark: „Am Abhang stand ich, nah dem Falle, „Doch blieb mein Eisenwille stark!"

(Ebd. S. 116).



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„ U n d sei die ganze Welt denn abgefallen, „ N u r kühner schlägt in Einsamkeit die Brust". (Ebd. S. 120).

Besonders der Fakultät, welche das Aufgeben Johannas zur Bedingung seiner Beförderung machte, hält er vor: „Glaubt ihr, trotzige Toren, „Glaubt ihr zu brechen mein stählernes H e r z ? . . . „Ich lache eurer Verblendung, „Welche für seliger Minne Verlust „Welkende Kränze mir beut, „Gleißendes Gold und gelogene Freundschaft". (Ebd. S. 81).

Schon schmeichelt ihm seine dazu allezeit bereite Phantasie mit dem Bilde, wie er aus dem ihm aufgezwungenen Kampfe als ein ruhmgekrönter Held hervorgeht. „ S o steht es fest in ewigen Gesetzen: „Der Dulder herrscht!

Es will den Stahl die W e l t ;

„Sie selbst muß uns zum Kampf die Schneide wetzen, „ U n d unfreiwillig wird der Mann ein Held. „ W e n sie gestrebt am herbsten zu verletzen, „ D e r ist's, dem sie zuletzt zu Füßen fällt".

(Ebd. S. 120.)

Er sieht sich dem Kranze furchtlos zuwandeln, den ihm die Zukunft froh auf die Schläfe drückt (Ebd. S. 64). Das Bild Scipios, der sich vor dem Senat in würdigster Weise verantwortet, ist ihm, wie er selber sagt, „Arznei gegen vielfache Medisance" (Strodtmann. S. 287): „Still wird's, dann jauchzt es in der Runde: „Frei, frei von S c h u l d !

aus jedem M u n d e ;

„Der Kläger bebt in banger Scham. „ D o c h in dem wilden Beifallrufen „Neigt sich der Held und geht die Stufen „Hinab so ruhig wie er kam."

(Ebd. S. 6).

Und wenn ihm auch, wie sich in der Folge noch zeigen wird, nichts ferner lag, als das Verzeihen der ihm angetanen Kränkung, so gehörte doch auch dies zu den großartigen Zügen, die er der anempfundenen Rolle gemäß sich beilegte. „Durch des Kampfes Brandung rettet er das Kleinod der Menschlichkeit" (Ebd. S. 136),





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„Und mit freudig versöhntem Mute „Grüßt dich wieder in junger Tatkraft, „Irrende Welt, das verzeihende Herz!" (Ebd. S. 81).

G e s t e i g e r t e L e b e n s k r a f t . „Der Welt Trotz!" ist die Überschrift eines Gedichtes jener Zeit und könnte fast die Überschrift des ganzen Jahres sein. Genährt aber wurde sein Trotz aus dem freudigen Stolz auf seine Liebe. „Aus meiner Liebe blauem Aether „Reißt der Erinn'rung goldnen Hort „Kein lügenspinnender Verräter „Und keine Teufelsfaust mir fort" (Ebd. S. 123).

Ja die Liebe beflügelt ihn zu kräftiger Tätigkeit. „Zum Höchsten fühlt er sich gedrungen „Vom Glück, das ihm die Adern schwellt; „Die Seligkeit die er errungen, „Verströmt er schaffend in die Welt". (Ebd. S. 115).

Über seine Arbeiten berichtet er in einem Briefe vom 7. August an Krafft: „Ich arbeite viel, und es reifen allmählich die literarischen Vorräte zu Werken heran. Bin ich einmal auf dem Markte der Literatur, und sehe halberweg Erfolg, so fehlt Stoff und Kraft der Tätigkeit hoffentlich auf viele Jahre nicht. Die Geschichte des Heidentums ist begonnen, einstweilen machen mir aber die Predigten zu tun, und Du glaubst nicht, wieviel das abzuschreiben gibt. Behalt mich lieb. Sie mögen mich behandeln wie sie wollen, ein ehrlicher Junge hoff' ich zu bleiben heut und immerdar, und denen treu, die nicht zuerst von mir abfallen." Johanna lernte, wie sie im Oktober an Herrn von Henning schrieb, täglich neu seine Geduld, seine Güte bewundern, vor allem aber die geistige Kraft, mit der er sich oben erhielt. „In all dem Druck schafft und schreibt er fort, ohne andere Aufmunterung als meine Teilnahme und seine eigene Schaffenslust" (Preuß. Jahrb. 97. S. 221).



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b) Schwankende Religiosität. B e y s c h l a g s U r t e i l . Über den Weg, den Kinkels religiöse Entwicklung in diesem Jahre nahm, lauten die Nachrichten nicht ganz einheitlich. Willibald Beyschlag, der im Sommersemester in Kinkels Zauberkreise gezogen, bald Mitglied des Maikäferbundes und der Liebling von Gottfried und Johanna wurde, hörte bei ihm die Vorlesung über das Johannesevangelium mit dem „kleinen, aber erlesenen Studentenhaufen", der an Kinkel festhielt, und gibt seinen Eindruck in folgender Weise wieder: Eine ernste Heilandsliebe zog sich erfrischend und erwärmend durch seine Vorlesung über das johanneische Evangelium hindurch. „Sie sprach durch Wärme der Auffassung, durch eine ernstgesinnte Apologetik gegenüber den Straußschen und Bruno Bauer'schen kritischen Angriffen, durch ein fortwährendes praktisch entwickelndes Eingehen auf den religiösen Gedanken des Textes bei vieler wissenschaftlicher Schwäche, die ich erst später beurteilen lernte, gerade von der gemütlichen Seite uns an" (Theol. Stud. u. Krit. 1913. S. 597). Und als Kinkel bei einer Wanderung während der Herbstferien bei Beyschlag zu Frankfurt vorsprach, kam die Rede auch auf religiös-sittliche Fragen, auch auf Liebe und Ehe, „und da äußerte sich Kinkel so ernst und fromm, daß ich ganz beruhigt war und auch mein Vater das beste Zutrauen zu ihm gewann" (Beyschlag, Aus m. Leben. S. 108). J a noch vom Dezember, wo Beyschlag Maikäfer wurde, schreibt e r : „Es war damals die Zeit, wo Kinkel die der christlichen Frömmigkeit von jeher fremde Braut in seine eigene noch ungeschmälert vorhandene Wärme und Anhänglichkeit für das Christentum herüberzuziehen bemüht war: sie hatte Schleiermachers Predigten über den christlichen Hausstand zur Hand, für die sie eine große Bewunderung äußerte." Ü b e r I m m e r m a n n s M e r l i n . In demselben Winter schrieb Kinkel 1 ) seine Arbeit über Immermanns Merlin, welcher Freiligrath in seinem Iinmermannwerke 1842 einen Platz einräumte (vgl. oben S. 4). Hier stellt er sich ganz auf den Boden des Christentums. Er zeichnet Immermanns religiöse Weltanschauung, und man fühlt, daß er damit laut e. Briefe an Freiligrath vom 14. Mai 1842 (ungedr.)



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auch die eigene zu zeichnen und zu retten sucht: „die religiöse Weltanschauung des Dichters wird der Gegenwart nicht genügen. Immermann hat hier das Unglück jedes religiösen Genius, keiner Partei anzugehören. Den vernichtenden Philosophen der Zeit kann es nicht gefallen, wenn er die gewaltigsten Grundideen des Christentums, Sieg des persönlichen Gottes über das Böse, Erlösung durch Glauben und durch geduldige Demut allein, Verdammung und entsetzliche Bestrafung des Eigenwillens ausspricht. Aber die Frommen des gewöhnlichen Schlags werden den Dichter gleichfalls nicht loben oder doch nicht lesen, wenn sie hören, daß bei ihm Satan als Frühlingsgott oder Weltschöpfer auftritt." Ober das spezifisch Christliche in der Dichtung äußert er sich mit predigthafter W ä r m e : „Das Christentum des Grals ist nicht auf weltlicher Anlage, menschlicher Größe, Verdienst durch Tugend oder Entbehrung gegründet; es gibt Sünder auch auf Montsalvatsch; aber im Gefühle der liebenden vollen Hingabe an das Heil ist jeder Templeise gerechtfertigt und sälig. Dies ist unzweifelhaft der Grundgedanke des Christentums, welchen Christus ausspricht in seiner Todesnacht gegen seine Jünger: Ihr habt mich nicht erwählet, sondern ich habe euch erwählet; den dann sein großer Apostel in der Form faßt, daß Glauben allein ohne die Eigengerechtigkeit guter Werke uns zu Gottes Gnade hebe. Wer diesen Gedanken umstößt, wer ohne Demut und Selbstverurteilung Gott erobern will, der vereitelt den Weltplan der Erlösung, und stellt für das umgestürzte Kreuz die siegprangenden Trophäen heidnischer Sinntugend, Anmut und Kraft auf, welche durch den christlichen Weltverlauf zerbrochen worden sind." Und das zusammenfassende Schlußwort lautet: „Wie Merlin wird jede geistige Kraft zusammenbrechen, die nicht unter dem demütigen Zeichen des Kreuzes, nur durch eigne Titanenstärke den Himmel zu erobern denkt. Wie er wird jeder Geist ewig gerettet werden, der, ohne nach Qual der Hölle oder Lust des Paradieses zu fragen, mit steter Treue Gott liebt um sein selbst willen. Ein im höchsten Sinne christlicheres Dichterwerk läßt sich nicht denken." 1 ) l

) Auch dem Pfarrer Evertsbusch gegenüber, der Johannas Auf-



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Johannas Urteil. Angesichts so positiv-christlicher Erklärungen hatte Beyschlag ein Recht, von Kinkels ungeschmälerter Frömmigkeit zu sprechen; aber es fehlte auch nicht an Beobachtern, die tiefer sahen als der jugendliche Bewunderer, und nicht an Äußerungen Kinkels, die in überraschendem Kontraste zu den soeben mitgeteilten stehen. „Er ist noch jung, noch im Streben begriffen, keineswegs noch eisern-entschieden auf einer bestimmten Richtung," schreibt Johanna im Oktober und bestätigt damit in ihrer apologetischen Weise den schillernden Eindruck, den Kinkels religiöse Erscheinung damals gemacht haben muß. Schon damals begann das Suchen nach einem klaren Ausgleich zwischen der mächtig sich geltend machenden negierenden Grundrichtung und dem Wunsche, innerlich seiner Stellung in Amt und Würden gerecht zu bleiben. Votum der P r ü f u n g s k o m m i s s i o n . Als die wissenschaftliche Prüfungskommission in Bonn ihr Gutachten über die am Gymnasium abgehaltene Abiturientenprüfung des Herbstes 1841 erstattete, war dem Referenten für die evangelische Religionslehre nicht entgangen, daß es mit dem Begriffe des Glaubens bei dem Religionslehrer Kinkel nicht mehr zum besten stand. 1 )

nähme in die evangelische Kirche vollzog, "weiß Kinkel Immermanns »gemäßigte, namentlich das Christentum sehr hochachtende, in ihrem Grundcharakter die Wahrheitsliebe vor allen andern Tugenden empfehlende» Poesie zu rühmen (28. Dezember 1842. Deutsche Revue 1902. Band 4. S. 62). Hiernach ist es nicht verständlich, wenn Beyschlag (Aus m. Leben S. 188) erzählt, er selber habe im Winter 1843 in einem literarischen Essai einen großen christlichen Oedanken in Immermanns Werke nachgewiesen, und dieses Ergebnis sei Kinkeln unsympathisch gewesen. Das Outachten hat folgenden Inhalt: Die Wahl des Themas zu einem schriftlichen Aufsatze über die Verschiedenheit des Christen- und Heidentums ist zweckmässig. Die Aufsätze sind richtig beurteilt. Der Mangel des Begriffs des Glaubens, der glaubenden Hingebung, als zum Wesen der christl. Anbetung gehörig, und auch die Form des christl. Kultus (sofern dieser nie ein bloß äußerlicher ist), bedingend, hätte sollen berührt und gerügt werden.



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D i e V o r r e d e z u d e r P r e d i g t s a m m l u n g . Die erste für die Öffentlichkeit bestimmte religiöse Äußerung Kinkels nach dem Konflikte war, wenn man die Untersuchung über die Himmelfahrt mit Recht in ihrer Abfassung schon vor das Zerwürfnis setzt, die Vorrede zu den Predigten, welche mit dem 15. Januar 1842 datiert ist. Hier ist der bedeutende Unterschied im Vergleich zu den letzten n u r 8 Monate jüngeren Predigten selber schon Beyschlag aufgefallen, und er ist in der Tat so groß, daß man diese Vorrede als das Dokument eines nur dürftig verhüllten Bruches mit der Kirchenlehre bezeichnen muß. Zwar hält Kinkel noch dem Leser und vielleicht auch sich selber gegenüber die Fiktion aufrecht, daß ihm das Zentraldogma von der Gottessohnschaft Christi ein Teil des eigenen Glaubens wäre, aber wo ihm die wirkliche Bedeutung Christi liegt, spricht er doch schon ganz klar aus. „Jeder wird sich . . . bei aller Übereinstimmung mit der Kirche seinen eigenen Christus gestalten müssen. So fest ich nun in ihm den Gottessohn verehre, tritt er mir doch nach meiner praktischen Weise zumeist als der vollendete Mensch entgegen . . . Darum heftet sich meine christliche Betrachtung am liebsten an seine persönliche Erscheinung." Auf das, „was sich um ihn herum von engbegrenzten Glaubenslehren und kirchlichen Formeln angesetzt hat", fällt ein mißbilligender Blick von oben herab. Während Kinkel noch vor 8 Monaten dem Kölner Presbyterium versicherte, daß er, „obwohl nun durch ein kirchliches Kollegium eines Kirchengeschäftes entsetzt, dennoch mit stets gleicher Freudigkeit die Interessen seiner Kirche unter Gottes Beistand zu wahren und in jedem Kreise für dieselben zu wirken fest entschlossen sei", so unterzieht er jetzt alles, was von der Kirche ausgeht, die in ihren Vertretern ihm so großes Unrecht getan hatte, einer scharfen Kritik. Die „kirchliche Verkündigung des Evangeliums" stößt manchmal eher ab als daß sie anzieht; „daß man das Gute und Heilsame nur auf dem Boden der Kirche und der sogenannten Frömmigkeit finden will", bezeichnet er als eine Torheit; und er findet, daß man sich nicht wundern dürfe über das „Zurückziehen der Gebildeten von der kirchlichen Gottesverehrung, weil

— 89 — es der Laie mit Recht müde wird, durch ewige Bußforderungen sich belästigt zu hören f ü r grobe Sünden, die er nie in den Fall kömmt zu begehen." Durch die ganze Vorrede weht ein Hauch nicht sowohl von sachlicher Polemik, sondern von persönlicher Gereiztheit. „Soll ich noch ein entschuldigendes Wort darüber verlieren, daß ich als akademischer Lehrer zuerst mit diesem praktischen Buche statt mit einem wissenschaftlichen Fachwerke hervortrete?" Den Vorwurf, den er darin ausspricht, daß ihm Geschäfts- und Erwerbssorgen Muße und Freudigkeit zu wissenschaftlicher Produktion rauben und daß er von der Gerechtigkeit der Zeit Erleichterung erwarte, werden diejenigen herausgefühlt haben, die er anging. Auch die Schlußworte an den Freund und Kollegen Sommer sind eine Art Kampfansage: „laß uns getrost und jugendstark in Förderung akademischer Lehrfreiheit, entschlossner christlicher Forschung und prophetischer Vorbereitung der Zukunft fortschreiten". Und so bezeugt diese Vorrede, daß ein Hauptmotiv für den Umschwung in Kinkels Anschauungen der durch sein Verhältnis zu Johanna geschaffene persönliche Gegensatz zu den Vertretern seiner früheren Weltanschauung ist. Jene Weltanschauung wurde ihm um ihrer sittlichen Konsequenzen willen verhaßt, da sie ihm seine Liebe, die für sein Empfinden doch das Beste, Heiligste war, für die er seine amtliche Existenz in die Schanze zu schlagen kein Bedenken trug, als „in höherem Sinne unsittlich", 4 ) verunglimpfte. —

2. Das Jahr 1842. a) Amtliche Erlebnisse. Das Jahr 1842 muß eins der unerquicklichsten in Kinkels Leben gewesen sein: äußerlich in seinem Amte keine Erfolge und innerlich alle Verworrenheit einer Übergangszeit. Wenn 1 ) Man vergleiche gerade hiermit die glühende Schilderung und Anpreisung der Bußpein in der Predigt vom 2. Fastensonntag 1841 (vgl. oben S. 68.) l ) Vgl. unten S. 92.

— 90 — € r am 26. Mai sich Freiligrath gegenüber beschwert: 1 ) „ich v e r d e von gar vielen Seiten sehr bitter beurteilt, die den Theologen mit dem Dichter und mit dem gesinnungskräftigen freiheitliebenden Mann nicht zu vereinigen wissen", so hat die Schwierigkeit, j a schließlich Unmöglichkeit einer solchen Vereinigung sowohl seine Laufbahn gehemmt und das Verhalten der Fakultät gegen ihn verursacht, als auch ihn selber in Unklarheiten und Trübungen gestürzt. R e m u n e r a t i o n . Am 7. Februar 1842 bittet Kinkel in einer Eingabe an den Kurator Rehfues und eine Gratifikation. „Es ist Euer Hochwohlgeboren zur Genüge bekannt, wie schwer die Stellung des Privatdozenten bei meiner Fakultät ist." Die Hälfte der Besuchenden ist Ausländer, die sich natürlich an die berühmten Namen anlehnen; und gegenüber dem ungeheuren Obergewicht, welches staatliche Anstellung, ausschließliche Verwaltung von fünf Seminarstellen und Sitz in den Examenkollegien beider Provinzen der Fakultät geben, ist auch auf die Inländer wenig zu rechnen. Dennoch seien seine Vorlesungen immer befriedigend besucht und also der Fakultät nicht überflüssig gewesen. — Die Fakultät, vom Kurator um ihre Äußerung gebeten, schrieb unter dem 14. Februar, daß Kinkel zwar seit einigen Semestern bei den Studierenden a n Vertrauen verloren zu haben scheine und daß seine Vorlesungen weniger besucht worden seien als früher; trotzdem befürwortete sie eine Gratifikation. Rehfues gibt diesem Votum der Fakultät eine noch freundlichere Färbung, indem er am 5. März einen Antrag auf Remuneration in der Form begründet: die Fakultät lasse der Wirksamkeit des Bittstellers die Gerechtigkeit widerfahren, daß derselbe durch seine Vorlesungen auf angemessene und nützliche Weise dazu beigetragen habe, die Lücken auf ihrem Lehrgebiete auszufüllen, und unterstütze seinen Wunsch. Am 2. April bewilligt der Minister Kinkel und Pommer je 150 Taler. Strodtmann berichtet dies (S. 287) mit dem Zusätze: „trotz aller Verleumdungen seiner Kollegen und falschen Freunde". Diese Auffassung der Dinge durch das Kinkelsche Lager

M Ungedr. Brief.



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war falsch. Allerdings hielt die Fakultät an ihrem Entschlüsse, Kinkel nicht in Bonn Professor werden zu lassen, um so fester, als ihr seine zunehmende Entfremdung vom positiven Christentum nicht unbemerkt bleiben konnte. Zum Frühjahr 1842 wurde Friedr. Rud. Hasse, zum Herbst Christ. Friedr. Kling als Theologieprofessor nach Bonn berufen. Kinkel schreibt darüber am 10. April an Krafft ironisch und bitter: „Ganz neu (obwohl mir nicht) ist die Nachricht, daß in Frankfurter Kreisen das Gerücht geht, Prof. Kling aus Marburg, Sacks Schwager, werde als Ordinarius nach Bonn kommen. Sack selbst ist jetzt in Berlin. Er soll — Kirchengeschichte lesen; aiunt, Sack werde letzteres nicht mehr tun. Man muß das Fach jetzt für sehr wichtig halten, da man zu gleicher Zeit zwei Dozenten, nämlich noch Hasse, dafür hierherberuft. Es scheint, daß man endlich Bonns Aufgabe, für Geschichte zu wirken, begreift, und deshalb Leute von so begründetem literarischem Rufe hierher zieht. Lächelnd und unverbittert trete ich in die Thermopylen, in denen Bauer schon gefallen ist, ein Opfer der theologischen Rachsucht, zur Bestätigung der Wahrheit dessen, was er so oft von den Theologen behauptet hat. Ich hoffe, Bleeks Abiturientenzeugnis, welches er Bauern ausstellt, wird dir nicht entgangen sein." B e w e r b u n g i n M a r b u r g . Kinkel bemühte sich, einen Ruf nach außerhalb zu bekommen; denn Bleek hatte, wie Strodtmann S. 294 berichtet, in einer Fakultätssitzung Mitte Juni erklärt, „er werde niemals in eine Anstellung Kinkels einwilligen"; auch hatte die Fakultät, nachdem im Mai 1842 seine Predigten erschienen waren, bemerkt, „daß die Vorrede nur zu deutlich erkennen läßt, wie lose sein Sinnen und Denken mit dem Mittelpunkte und Prinzipe des theologischen Studiums und Berufes zusammenhängt" (vgl. unten S. 110). Im Juli bewarb er sich um die durch Klings Berufung nach Bonn freigewordene Professur für neutestamentliche Exegese in Marburg. Die beiden Briefe, die er in dieser Sache an den Professor Henke in Marburg schickte, sind von Martin Rade in der Frankfurter Zeitung vom 4. September 1904 mitgeteilt worden. Es heißt da: „der Grund, warum hiesige Ungunst mich eine



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Anstellung in der Ferne suchen läßt, ist das Verhältnis, in •welchem ich zu einer hiesigen Frau stehe, welche von ihrem Manne seit zwei Jahren nach schon mehrjähriger Trennung rechtskräftig geschieden ist und vorläufig noch äußerlich der kathol. Kirche angehört. Ich halte für meine Pflicht, Ihnen zu erklären, daß kein Posten und Rang der Welt mich veranlassen wird, dies Verhältnis zu lösen, in welchem ich nicht mit Schwärmerei des Jünglings, sondern mit bewußter Klarheit des Mannes die stärkste Förderung meines Geisteslebens erkenne und erprobt habe". Die Ehe, die er einzugehen beabsichtige, erkenne er nach biblischen und protestantischen Grundsätzen für berechtigt. Ein nachgeschriebenes Heft seiner Vorlesung über Geschichte des Heidentums sendet er ein und erbittet es für die Ausarbeitung des Buches während der Ferien zurück. Fresenius,1) der Überbringer, werde jede Auskunft erteilen. Als die Bewerbung eintraf, war schon Wilh. Scheffer vom Extrarodinarius zum Ordinarius befördert worden. b) Erbitterung gegen die Faknltit Kinkels Erbitterung gegen die Fakultät steigerte sich. „Immer leidenschaftlicher, bis ans Schimpfen streifend, äußerte er sich über sie im Privatverkehr", sagt Beyschlag (Theolog. Stud. u. Krit. 1913. S. 608) vom Sommer 1842. Wie im Kinkelschen Kreise über die Professoren gesprochen wurde, vermag die vom 9. März 1850 stammende Äußerung Johannas gegenüber Strodtmann wiederzuspiegeln i1) „ B l e e k ist ein kleiner dicker Mann wie ein Posaunenengel. Sein Schwager ist derselbe S e t h e , der den Waldeckschen Anklageakt machte. Er drang in Kinkel, sein Verhältnis mit mir zu lösen. Kinkel versicherte ihm die Heiligkeit unseres Liebesverhältnisses. Darauf sagte Bleek: „Dies Verhältnis sei in einem höheren Sinne unsittlich." Sack ist lang und hager, schlägt die Augen gen Himmel, pfuscht in Poesie, und versicherte Kinkel: er hindre nur deshalb seine l

) Ein treu ergebener Maikäfer. •) Von Strodtmann (Band 2, S. 8) fast wörtlich wiedergegeben.

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Beförderung, weil diese für ihn nicht gut sei. (Er beschuldigte besonders Kinkel der Eitelkeit.) Sein Schwager war Minister Eichhorn, seine Frau vertraute Freundin meiner Schwägerin Johanna. — Nitzsch, das non plus ultra geistlichen Hochmuts und der Unfehlbarkeit; unversöhnlicher Feind eines jeden, der sich nicht blindlings seinem Rat unterwarf: dagegen durch Kriecherei ebenso leicht zu gewinnen. Nitzsch hielt [so sehr auf den] Schein der Würde, daß er zu den allermenschlichsten und natürlichsten Verrichtungen stets einen feierlichen und salbungsvollen Anstand affektierte." — In das Jahr 1842 fällt auch jenes von Beyschlag heftig getadelte und allerdings maßlos überhebliche und ungerechte Gedicht „Fakultätssitzung" (Gedichte. 2. Sammlung. S. 280). Hier tritt Sack auf als Sankt Schnack, welcher klagt, daß er vergeblich den Privatdozenten zu den frommen Lämmlein zu locken versucht habe; Bleek beschwert sich über Kinkel: „er will lenken „Frisch auf's Leben alles Denken, „Und ich seh's, mein Ruf verfällt. „Nur um pergamentne Auen „Mit gelehrtem Kohl zu bauen „Bin ich brauchbar auf der Welt".

Und Nitzsch, „der Imperator", tadelt sein ästhetisch Christentum". Alle dreie fürchten für ihre Lehrautorität, denn er „hat uns oft schon angegriffen „und uns in den Steiß gekniffen, „wö er ungepanzert war."

Darum lautet ihr immer wiederkehrender Gesang: „Laßt uns ihn ersticken, sticken, knicken, knicken!" Und die Schlußstrophe heißt: „Da begannen sie zu drücken, „Ihm das Brot vom Mund zu rücken, „Aber ach, ihm blieb der Wein, „Ihm der Jugend Hoffnungsbliue, „Ihm auch der Studenten Treue,



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„ U n d ein Liebchen klug und fein. „Mochten sie ersticken, „Sticken, „Knicken, knicken, „ E r ward stark, sie blieben

klein!"

Auch die Maikäferbriefe, welche im Winter die Verbindung mit den in Berlin weilenden Burckhardt, Beyschlag und Wolters aufrecht erhielten, sind voll von maßloser und burschikoser Polemik gegen die „Pfaffen" und die feindseligen Professoren.1) Sack kommt da ganz besonders schlecht weg: aus seinem Munde „trieft seiner Rede gesalzener Quell", in seinem unbeirrbaren, durch keine Gründe zu erschütternden Bibelglauben ist er „hart und fest wie vor der [Stirn ein Bock"; er ist mit einem Worte ein „Salzbock", ja ein „Salzbockfürst". c) Zurücktreten der theologisch-wissenschaftlichen Interessen. In dem Maße wie Kinkels Haß gegen die Vertreter der theologischen Wissenschaft sich entzündete, erkaltete seine ohnehin niemals heiße Neigung zu dieser Wissenschaft selber. Es ist in hohem Maße befremdlich und letztlich nur mit einer der wissenschaftlichen Fundierung überhaupt abholden Gesamtrichtung erklärbar, daß ein Mann von so fortgeschrittener Negation nicht in den zu jener Zeit lebhaft entbrannten Kämpfen für oder wider Strauß, mit Entschiedenheit auf die Seite der Kritik trat und seiner Position so das Rückgrat einer zwar negativen, aber doch wissenschaftlichernsthaften Theologie gab; nein, „er lehnte die Straußsche Kritik aus allgemein-historischen Gründen, wie er sagte, ab" (Beyschlag, A. m. L. S. 125). 2 ) In den Osterferien 1842 sehen wir ihn zum letzten Male ernsthaft wissenschaftlich beschäftigt. Er schreibt am 10. April an Krafft, er stecke jetzt sehr in der Arbeit. „Meine Geschichte des Heidentums habe ich wieder aufgenommen und in dieser Vakanz die apolegetischen Schriften des Cyprianus, den >) Siehe: M. Pahncke, Aus dem „Maikäfer«; i n : E u p h o r i o n . B d . 1 9 . 1912. 2)

S. 6 6 2 u. ff. vgl. oben S . 4 4 .



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dritten Teil Lukians und viel andres durchgelesen; jetzt bin ich am Arnobius und an den scriptores historiae augustae. Das nimmt mich nun ganz hin, so daß ich überhaupt f ü r die Außenwelt ziemlich unbrauchbar bin; innerlich aber wird es einem immer sehr wohl dabei, wenn man ein Zentrum aller geistigen Interessen hat und lernend wie schaffend dasselbe durchdringt. Schade nur, daß es ein Stoff fast über Menschenkräfte ist. Das Quellenlesen allein könnte die besten Mannesjahre ausfüllen, doch will ich es dahin nicht kommen lassen, da mein eigentliches Feld das Mittelalter ist, und man mit 30 Jahren auf das Hauptfeld treten muß, sonst wird nichts Vernünftiges daraus " An den umfangreichen Quellenforschungen scheint aber Kinkels Kraft bald erlahmt zu sein. Nach dem was Beyschlag (A. m. L. S. 119 ff.) erzählt, wurde der Sommer echt und recht in rheinischer Lust verschwärmt, teils in kleinstem Kreise mit Andreas Simons, Beyschlag und Johanna auf Spaziergängen und Kahnfahrten, teils in dem größeren Kreise des Maikäferbundes, der außer mit seinen sonstigen poetischen Bestrebungen auch noch das ganze Semester über mit der Vorbereitung zu einer A u f f ü h r u n g von Goethes Iphigenie beschäftigt war. Neben der Geselligkeit standen obenan Literatur und Poesie, und für die Kränkungen der Wirklichkeit suchte er sich Heilung in des Dichters Träumen. In diesem Sommer machte er seinen Aufsatz über Immermanns Merlin druckreif, und schrieb an Freiligrath, daß er auch noch eine Arbeit über Immermanns Tristan fertig liegen habe. 1 ) Daneben schuf er eine ganze Reihe von Dichtungen, von denen das Trauerspiel „Lothar von Lotharingien", vorgetragen beim Maikäfer-Stiftungstage, und das Schauspiel „Die Assassinen", niedergeschrieben im Oktober und November, 8 ) die größten waren. Im Winter war er dann mit der Herausgabe seiner im Januar 1843 erscheinenden Gedichte beschäftigt, etwa im Februar las er den Freunden das eben fertig gewordene Spessartmärchen v o r ; 3 ) auch war er Mitarbeiter an der Augs>) 21. Juni 1842, ungedruckter Brief. *) vgl. Strodtmann S. 296. s ) Johanna an Beyschlag. 10. März 1843.

Preuß. Jahrb. Band 122.

— 96 — burger Allg. Zeitung; und am Karnevalstreiben des Frühjahrs 1843 nahm er durch Beisteuerung von ein paar Liedern teil,4) wenn er auch erklärte, eine etwa auf ihn fallende Wahl in das Karnevals-Komitee nicht annehmen zu können (Strodtmann. S. 294). Ober diesen literarischen Arbeiten ging ihm die Fühlung mit seiner Wissenschaft mehr und mehr verloren. Von Nitzschs Bedeutung für die systematische Theologie hat er nie einen Eindruck gewonnen; dessen Lehre ist ihm nichts weiter als „ein mit gotischen Schnörkeln ausgezacktes System" (an Beyschlag. Jan. 1843). Dagegen preist er den Epikur in einem Qhasel von 1842 (Gedichte. 3. Aufl. S. 375) als den hohen Geist, der die Wahrheit aufgefunden habe und dessen Spuren er ewig wandeln wolle. Nicht ohne Beziehung auf die Dogmatik scheint gesagt zu sein: •Mir ward nicht der Sinn verliehen, in verworr'nen Rätsel kram .Mich mit Wollust einzuwühlen . . .*

Die Gelehrsamkeit als Lebensberuf ist ihm so wenig zur Befriedigung gediehen, daß er von dem Jungen, den er einmal kriegen würde, sagt (Gedichte. 3. Aufl. S. 181): „Ich weiß, nicht kann er König sein, «Und adlich soll er nicht werden. „Audi kein Gelehrter, sonst was er will „Auf Oottes weiter Erden."

Er fühlt selber — und nicht ganz ohne Bangen —, wie ihm das Interesse an der Theologie zerrinnt; der Gedanke an eine andere Gestaltung seines Lebensberufes keimt schon jetzt. Er schreibt am 13./14. November 1842 an Beyschlag (Rheinlande. Band 15): „Mir fehlt eigentlich wieder ein Lebenszentrum, und darüber bleiben auch die periferischen Punkte in Unordnung. Gebe Gott, daß das Heidentum für den Winter dieses Zentrum werde, aber ich fürchte schon, ein Drama wird dazwischenkommen — und so reißt mich die Poesie wider meinen Wunsch, immer mehr von meiner bisher gedachten Zukunft ab, um mich auf eine weitere, kühnere ) Oedichte.

3. Aufl. S. 183 u. 184.



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Bahn zu reißen. All mein Bisheriges ist, sofern es mir Frucht bringen sollte, mißlungen; da wird man doch am Ende die Katz an einem andern Ende anfassen müssen. Das sind noch wirre Gedanken, vielleicht schon der nächste Brief meldet einen Entschluß." Auch an Evertsbusch schreibt er, am 28. Dezember; er lese, ganz in historische Interessen verschlagen, wenig streng Theologisches, und klagt über Hemmnisse beim Arbeiten ; er verzehre sich jetzt oft mißmutig mit Platens Wort: „O wehe, wie hast du die Tage verbracht!" (Deutsche Revue, 1902, Band 4, S. 61). Und wiederum im Januar 1843 heißt es in einem Briefe an Beyschlag (Rheinl.): „Oft zerfließen mir ganze Wochen in träger Zerfahrenheit, und wie zum Opium lockt es mich dann, mich wieder aufzulösen in ein größeres Dichterwerk und die Qualen des Durchdenkens und Fertigmachens auf mich zu laden. Leider bleiben sowohl bei jenen Träumen als beim poetischen Arbeiten die historischen und theologischen Forschungen liegen, mein wissenschaftliches Gewissen erwacht und ich gerate oft in eine gänzliche Abspannung alles Willens hinein!" Auch die Freude am Theologie-Dozieren läßt nach. Er fühlt seine Schwingen als Redner wachsen und verlangt ein größeres Publikum, wobei es ihm weniger darauf anzukommen scheint, w a s er diesem vortragen wolle, als wie er die größte Wirkung erzielen könne. „Ich kann mir nicht leugnen, daß die Universität, auch in den besten Verhältnissen, dem geborenen Redetalent immer ein zu kleines, zu wenig begeisterndes Auditorium gewährt . . . man möchte diese Ketten sprengen und ein größeres, g e m i s c h t e s Publikum zu erobern suchen, etwa mit Vorlesungen in einer großen deutschein Stadt, über Literatur, Kunstgeschichte und neuere politische und Kulturgeschichte. In dieser Form kündigt sich eine neue Art von Lehrtätigkeit an, welche freier, mächtiger und beredter ist als Kanzel und Katheder zusammen" (an Beyschlag, 13./14v Nov. 1842. Rheinlande). d) ReiigiQs-tittllelie Unklarheit P r e d i g t f ü r K r a f f t Sah sich Kinkel auf Grundseiner literarischen Interessen in eine schiefe Stellung zur theologischen Wissenschaft gedrängt — nicht minder unklar ¡war B o l l a r t , Qottfriad Dakala Klnpf*.

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— 98 — damals sein religiös-sittliches Verhalten. Mit einigen Fasern noch in der christlichen Welt wurzelnd nährte er wohl hie und da noch die Hoffnung einer inneren Versöhnung. Mit großer Feierlichkeit begrüßte er eine Einladung seines Freundes Krafft in einem Briefe vom 18. März 1842: „Im Namen des Gottes, der über Dir und mir und über allen Gestaltungen der Menschheit ist, ich komme am nächsten Sonntag, um in Deinem Ruf und Bestellung m Großbüllesheim zu predigen. Ich fühle die Bedeutung dieser Stunde. Seit einem Jahre habe ich nicht zum Volke geredet, habe meine loderndste Kraft innerlich verzehren müssen. Heute empfange ich seit einem vollen Jahre den ersten persönlichen Beweis, daß die protestantische Kirche ihren Prinzipien nicht völlig untreu geworden ist. Ich habe geweint bei Deinem Briefe, denn ich ahne eine Versöhnung mit einer Gemeinschaft, die mich so lange ausgestoßen hatte. In Demut habe ich des Rufes gewartet, nun ist er da; wohl fühle ich grade jetzt meine Unwürdigkeit, doch ich denke an den Gral und an Immermanns großes Wort: „Des Menschen Tat, die einzig kenntliche, „ist: f ü h l e n sich im Stande der Erwählten!" Auf welchem Wege ich komme, weiß ich noch nicht: möglich, daß ich Dir morgen Abend ins Haus falle. Hätte mir vor einem halben Jahr ein protestantischer Pfarrer einen Brief geschrieben, wie dieser ist! Ich fasse Hoffnung zu meiner inneren Versöhnung." — In einer ähnlichen Stimmung mag Kinkel gewesen sein, als er Weihnachten 1842 zum Abendmahl ging, während Johanna vom Pfarrer Evertsbusch in die evangelische Kirche aufgenommen wurde. Feindliche H a l t u n g gegen die F r ö m m i g k e i t . Andererseits berichtet Beyschlag, daß im Laufe dieses Sommers eine „Feindseligkeit gegen jede entschiedenere Kundgebung der Frömmigkeit als gegen eitel Orthodoxie oder pietistische Engherzigkeit" hervortrat. „Ein einziges Mal predigte er noch in Flamersheim,1) und das war noch einmal ») Orossbüllesheim (vgl. oben S. 98).

— 99 — ein schönes Bild seiner früheren praktischen Wirksamkeit, den jüngeren voll Anregung und Ermunterung. Sonst besuchte er keine Kirche mehr" (Theol. Stud. u. Krit.. S. 607), Wie weit er in der Feindseligkeit der gedachten Art gehen konnte, davon gibt einer der Maikäferbriefe des Winters 1842/3 Zeugnis. 1 ) Spottend erzählt er da, daß eine Bibelgesellschaft die Gastwirte Kölns aufgefordert habe, Bibeln, die sie schenken wollte, in ihre Gastzimmer zu legen und „auch in die Ställe und Küchen hinein, besonders aber . . . " — der Rest ist unschwer zu erraten —; rasch wären dann die geschenkten Bibeln auf diese oder jene Weise verschwunden. — Dieser Hohn auf eine doch wohlgemeinte Frömmigkeit würde schon im Munde eines Nichttheologen weder von Maß noch von Geschmack zeugen. e) Unsicherheit Im Olauben. Wenn sich demnach schon der praktischen Betätigung des Christentums gegenüber bei Kinkel eine unerquickliche Verworrenheit zeigt, so wird man vollends auf dem Boden der Glaubenslehre nichts anderes als Eiertänze erwarten dürfen. Beyschlag klagt (Aus m. L. S. 124/5), daß er in den theologischen Prinzipienfragen in der letzten Zeit immer unsichrer geworden wäre. „Er verwarf damals die Inspirationslehre nicht nur in der alten mechanischen, sondern in jeder Gestalt, er gab die Autorität der Apostel auf, ebenso die Dreieinigkeitslehre; dagegen an den Wundern der evangelischen Geschichte, selbst an der übernatürlichen Geburt Christi glaubte er ,als Historiker' aus Achtung vor dem geschichtlichen Zeugnis festhalten zu müssen. Aber es ist schwer, die Unklarheit und Prinzipienlosigkeit seiner damaligen Ansichten zu beschreiben" (Theol. Studien u. Krit. 1913. S. 608). Die wissenschaftliche Prüfungskommission hatte an der Frühlingsprüfung auszusetzen, daß Kinkel nicht auf den Lehrinhalt der Schrift und das kirchliche Bekenntnis eingegangen war; und das Gutachten über die Herbstprüfung rügte, daß die mündliche Prüfung des Abiturienten Berg zu sehr den Charakter einer Kandidatenprüfung in der Kirchengeschichte M Euphorion. Band 19.

1912. S. 066 ff. 7*



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gehabt habe, „es wäre sehr zu wünschen, daß die Gelegenheit, die Abiturienten sich in bestimmter Rede über die bibl. u. kirchl. Lehre selbst aussprechen zu lassen, nicht versäumt würde." Die bei der Beurteilung der Arbeiten von Kinkel gemachte Bemerkung — heißt es weiter — daß nicht der wahre, sondern der falsche Eiler für kirchliches Leben jetzt erkaltet sei, könne mißverstanden werden; der Zusatz: „Wir and fromm, aber nicht mehr wie im Mittelalter" enthalte eine ohne Zweifel viel zu unbedingte und insofern unrichtige Verteidigung unseres Zeitalters. — Auch diese Bemerkungen zeigen, auf wie gewundenem Wege Kinkel jene Vereinigung des „Theologen" mit dem „freiheitliebenden Manne" für seine Person, zu retten versuchte.

3. Johanna. •) Obertritt zur evangelischen Kirche. Bevor wir Kinkels theologische Schicksale weiter verfolgen, soll ein Blick auf seiner Braut Johanna religiöses Leben während der beiden letzten Jahre geworfen werden. Für Johanna, deren Entwicklung wir bis zur Auflösung von Kinkels Verlobung (Anfangs 1841) verfolgt haben, erwuchs aus der Verbindung mit ihm, als deren Ziel sie klar und vernünftig die Ehe ansah, die Nötigung, sich mit dem Bekenntnis der evangelischen Kirche in dem Sinne auseinanderzusetzen, daß sie, um die Frau eines evangelischen Geistlichen werden zu können, zu ihr übertreten konnte. Zunächst scheut sie vor dem Gedanken eines Obertrittes noch aus Rücksicht auf das Gerede zurück: „weil sie durchaus keinen Qrund geben mag, daß ein Mensch von ihr denkt, sie träte Ober, um zu heiraten" (an Emilie von Henning. 29. Aug. 1841. Preuß. Jahrb. 97. S. 201). Außerdem aber ist ihr innerliches Verhältnis zur evangelischen Kirche damals noch so, daß sie zwar von den bestehenden Kirchen die evangelische „für die beste hält, aber nicht für unfehlbar". Und da sie nicht einer Lüge ihr Glück verdanken wolle, so warte sie einstweilen noch ab, ob es eine Reformation gäbe, in die sie mit gutem Gewissen hineinschlüpfen könne. „So lange die protestantische Kirche



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nicht von den Pietisten gesäubert ist, mag ein Naturkind keine Gemeinschaft damit." Wie sehr aber ihre Wünsche zu einem Ausgleich in positivem Sinne hinstreben, zeigt der schon oft angezogene Brief an Professor von Henning vom Oktober 1841: „Ich habe jetzt vor allem die Zeit walten zu lassen, ob meine Wünsche und Oberzeugungen in Einklang zu bringen sind. Ich klammere mich an jeden Gedanken an, der mir diesen ersehnten Einklang verspricht, und bin darum oft mißtrauisch in meinen eigenen Meinungen" (PreuB. Jahrb. 97. S. ¡222). Und Beyschlags Nachricht, daß sie im Winter 1841/42 Schleiermachers Predigten liest, ist ein Beweis, daß sie bemüht ist, ihre Überzeugungen in die gewünschte Richtung zu bringen; dabei mag ihr der rege Gedankenaustausch mit Beyschlag gerade während dieses Winters eine wesentliche Hilfe gewesen sein; wenigstens berichtet Beyschlag, wie er vor ihr die Glaubwürdigkeit der evangel. Geschichte gegen Strauß verteidigt habe — „nicht ohne augenblicklichen Erfolg" (A. m. L. S. 124). In den folgenden Monaten, während bei Kinkel der Ausdruck der Entfremdung von kirchlicher Verkündigung immer entschiedener wurde, gewann sie die Oberzeugung, ihren Übertritt zur evangelischen Kirche vollziehen zu dürfen. Sie schrieb am 29. August 1842 an den Pfarrer Evertsbusch einen Brief (Deutsche Revue. 1902. Band 4), in dem sie ihm unter Darlegung ihres religiösen Entwicklungsganges und ihres jetzigen Glaubensstandes die Frage vorlegte, ob er sie in die evangelische Kirche aufnehmen wolle. Ein Widerspruch dieses Schreibens zu den an die Familie von Henning gerichteten Briefen vom Herbst des vergangenen Jahres ist nicht abzuleugnen. Denn hier ist die Bedingung betreffs der Pietisten gefallen, und überdies gibt Johanna an, sie hätte schon damals, als sie Kinkels Kölner Predigten hörte, beschlossen, auch äußerlich zur evangelischen Kirche zu treten, „nur wollte ich Gottfrieds Verheiratung abwarten, um nicht den Schein zu geben, als habe ich unredliche Nebenabsichten". Sie ist aber jetzt ehrlich genug, deutlich zu sagen, welches die Gründe ihres Verlangens nach der Aufnahme in die evangelische Kirche sind. Kinkel, dessen Persönlichkeit ohne eigentlich tiefe Ressourcen im eigenen Innern, auf

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die Wirkung in die Breite als auf sein Lebenselement gewiesen war, konnte auf die Dauer nicht leben, wenn sich die amtlichen und gesellschaftlichen Kreise von ihm abwandten. Die hochgemute Trotzstimmung des Jahres 41 ist gewichen. Gedichte dieser Art aus dem Jahre 42 sind nicht überliefert. Besonders nach dem Scheitern seiner Bewerbung nach außerhalb sah er wohl ein — wenn auch mit Ingrimm —, daß der öffentlichen Meinung in etwa nachzugeben und der Hauptanstoß, der Katholizismus Johannas, zu beseitigen sei. Und so schreibt Johanna: „Solange ich mein Christentum als Geheimnis bewahre und nicht öffentlich bekenne, befürchte ich sowohl die Resultate m e i n e r Bestrebungen für das Gute geschmälert zu sehen, wie das weiter ausgreifende Wirken desjenigen, der seine Zukunft mit der meinen verbinden wird, da Liebe und Vertrauen der Menschen sich von demjenigen wenden, der sich von ihnen abgesondert hat." — Im November 1842 zeichnet Johanna auf Verlangen des Pfarrers ein Glaubensbekenntnis auf, dessen wesentlichste Sätze hier wiedergeben seien. „Ich glaube an einen Gott, der die Welt geschaffen hat und regiert, der . . . den Weltlauf zu dem Ziele lenkt, daß Liebe und Gerechtigkeit über Haß und Sünde den Sieg davontragen . . . Ich glaube . . ., daß er vor allem durch reinen Wandel, heilige Liebe zu ihm und Brudersinn gegen unsere Nächsten geehrt sein will. Ich glaube, daß Jesus Christus das vollkommene Bild der religiösen Menschheit in sich darstellt, und daß in ihm das unsichtbare Wesen Gottes als Liebe, Gnade, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit so vollständig sich ausspricht, als es der menschlichen Fassungskraft möglich ist, dies Wesen zu begreifen . . . Ich glaube, daß Jesus Christus durch sein Leben, seinen Tod und seine Lehre die Macht der Sünde in der Welt gebrochen hat und sie endlich ganz überwinden wird . . . Ich hoffe, im Glauben an Gottes Liebe, auf ein unsterbliches Leben nach dem Tode des Leibes . . . Ich erkenne die evangelische Kirche, ohne die andern bestehenden Kirchen als unchristlich zu verurteilen, für diejenige an, die am treuesten das echte' Wort Jesu . . . bewahrt hat, die auch in der Sittenlehre die Grundgedanken des Evan-



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geliums am entschiedensten festhält und am kräftigsten die christliche Freiheit vom Gesetze des Buchstabens vertritt.. Evertsbusch schrieb ihr am 18. November über das Glaubensbekenntnis: er habe es mit lebendiger Teilnahme gelesen, und es genüge ihm, um Johanna in die evangelische Kirche aufzunehmen. Auf diesen Brief antwortete Kinkel am 1. November in einem Schreiben, das wohl seine äußeren Konflikte erwähnt, die innere Wandlung aber weislich verhüllt: Evertsbuschs Brief entreiße ihn und Johanna der letzten Hauptsorge und mache ihm Mut, nun wieder fröhlich in die Zukunft zu sehen. „Auch tut es mir wohl, mich nach so langer Entfernung von der Kirche, die in allen ihren offiziell mit mir verkehrenden Vertretern mich nicht als Mutter, sondern als Unterdrückerin behandelt hat, wieder gerecht und gemäßigt behandelt zu sehen . . . Nimm noch im besondern meinen Dank für die Liebe, mit der Du Johanna Dein Haus gastfrei öffnest. Sie kommt gewiß nicht ohne Beklemmung; ein Konfessionswechsel ist eine so ernste, verantwortungsvolle, eine im Leben so einzige Sache, daß ich ihn nur mit Schließung der Ehe vergleichen möchte. Im Geiste will ich bei ihr und Euch sein! Lieb wäre mir, wenn ich die Stunde wüßte, in der an jenem Sonntag das Abendmahl in Deiner Kirche ausgeteilt wird." Da auch das Konsistorium in Münster Evertsbuschs Auffassung gut hieß (Rheinlande. Band 15. S. 27), so wurde um Weihnachten 1842 Johanna evangelisch. Die öffentliche Meinung äußerte sich befriedigten Tones. Man hatte von Kinkel schon gefürchtet, er möchte eine bloß bürgerliche Ehe schließen. „Frau von Bethmann-Hollweg nahm die Nachricht mit höchster Teilnahme und herzinnigster Freude auf und hat mir außerordentlich wohl getan durch ihre volle Anerkennung meines aufrichtigen Willens", schreibt Johanna an Evertsbusch. Auch Beyschlag berichtete darüber sehr erfreut an seinen Vater (Rheinlande. Band 15. S. 27). Bald darauf verlobten Gottfried und Johanna sich öffentlich. b) Stimmung und Weltanschauung. Johanna finden wir in dem Winter, in dem sie übertrat, in befriedigter, ja glücklicher Stimmung. Mit dem Glaubens-



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bekenntnis, mit dem die Kirche sich zufrieden erklärte, hatte sie kein sacrificium intellectus zu bringen gebraucht. Es machte ihrem warmen Herzen und klaren Kopfe Ehre; mit dem was sie vom Christentum annahm und bekannte, durfte sie sich in der Tat heimatsberechtigt in einer Kirche fühlen, in der zwar damals die Pietisten das Wort führten, in der es aber auch' niemals an Raum gefehlt hat f ü r Seelen, die immer strebend sich bemühn, und an Kräften zu immer neuen Reformationen und Entwicklungen. Den Schriften des Neuen Testaments gegenüber wahrt sie sich die Freiheit unbefangenen Urteils, erklärt sogar dem Pfarrer Evertsbusch, in der »Offenbarung Johannis' wäre viel Schwüles, Dumpfverworrenes, Unverständliches, aber ihr Gesamteindruck ist der: „mehr und mehr überzeugt man sich doch im Lesen der neutestamentlichen Schriften, daß keine Gefahr da ist, wenn man auch noch so uralt werden sollte, je Mangel an religiösen Erweckungen zu leiden" (an Evertsbusch. Deutsche Revue. 1902. Band 4. S. 63). Über Intoleranz und Sektiererei fehlt es ihr in einem Briefe an Beyschlag vom 10. März 1843 (Preuß. Jahrb. Band 122) nicht an kräftigen Urteilen. „Alles dies Sektenwesen kommt mir so fatal, so eigentlich unchristlich vor, weil gegen die Liebe, die Wahrheit und den Geist gerichtet. Es gibt heutzutage doch nichts boshafteres, perfideres, unversöhnlicheres als die krasse Orthodoxie. Nun in Gottes Namen, trotz aller Wespenstiche bleiben wir dennoch die Fröhlichen, die Beseeligten immerdar, und heften uns mit einem kindlichen Vertrauen, das sich nach' jeder bittern Erfahrung stets frisch in uns wieder erzeugt, an alles Schöne und Liebe in dieser blüthenreichen Welt." Einen Geistlichen, der ihr eine Predigt gegen die Hegelianer schickte, machte sie in ihrer Antwort darauf aufmerksam, „daß der Weltgeist und der liebe Gott doch am Ende Eine Person seien, daß das .Aufgeben des Individuums' und ,das Ersterben des Waizenkorns' so ziemlich die nämliche Lehre enthielten, und wenn Christus sagt: Ich und der Vater sind eins — dies auch von den Pantheisten in ihrer Weise ausgelegt werden dürfe." Und wenn sie schließlich1 sagt: „Um den ganzen Streit wird nichts viel anders werden, so lang die Leute sich über ihre Ausdrucksweise



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zanken und raufen; d a ß s i e s i c h u n t e r e i n a n d e r l i e b e n , d a k ö m m t a l l e s d r a u f a n " — so beweist sie, daß sie dasjenige im Christentum erfaßt hat, was jedem Christen, wenn er ein rechter Mensch ist, und jedem Menschen, wenn er ein rechter Christ ist, das Wichtigste zu sein pflegt. In ihrer Kunst ist sie schöpferisch tätig, dabei „quält es sie nicht mit der kleinsten Sorge, ob ihre Sachen gelobt werden oder nicht": „nicht daß ich über ihren Wert beruhigt wäre, sondern das Schaffen an sich ist eine so ewige Freude; immer neue Lebensinteressen, immer Stehen zwischen Hoffnung und Erfüllung" (an Emilie von Henning, 12. Sept. 1842. Preuß. Jahrb. 97. S. 401). Mit köstlichen Worten entschuldigt sie sich beim Pfarrer Evertsbusch wegen ihrer innerlichen Lebensfreude: „Wenn Sie mich allzusehr von der Lust am geistigen Genießen erfüllt finden, so entschuldigen Sie es damit, daß es mein Element ist, das mich rings umgibt, und dem ich mich' ebenso wenig entziehen kann als der Gärtner dem Treibhaus. Wohl sage ich mir täglich: es kann dir das alles jeden Augenblick genommen werden, klammere dich nicht zu fest. Doch sind diese goldenen Tage ja auch ein Gottesgeschenk, für das ich nicht besser danken kann, als indem ich's wie ein Kind hinnehme und mich darüber freue. Daß der Gottfried mich liebt, daran kann ich mich noch immer nicht gewöhnen, jeden Morgen, wenn ich aufwache, sage ich mir's wieder vor, und wie der Sonnenaufgang oder des Frühlings erste Keime dünkt es mir ein frisches Wunder! Nun tadeln Sie mich gewiß wieder im stillen, daß das irdische Glück mir so gar im Vordergrunde steht! und ich wie eine Taube jeden Augenblick die Schwingen zu dem engen Hain herabsenke, der meine Seelenheimat ist, statt unermüdeten Flugs hinaufzustreben! Aber dieses höchste Oben gibt ja allein allem irdischen Glück die süßen milden Farben; wer könnte friedlich den Augenblick genießen, der nicht die Empfindung des Ewigen hätte, dem wir im Schöße ruhen, auch wenn der Geist schlummert!" In diesem Gleichmaß der Seele können sie selbst die schweren Erschütterungen in Kinkels Leben nicht beirren; sie nimmt dem Leide des Le-



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bens gegenüber eine Stellung ein, die der Bewunderung nicht unwert ist: „Wenn ich bloß von meinem persönlichen Behagen reden sollte", schreibt sie am 9. März an Laura von Henning, „so dürfte ich mich vollkommen glücklich nennen. Die g r o ß e n Schmerzen, die einem oft das Mitgefühl für geliebte Personen oder allgemeine Weltzustände bereiten, stören weniger die Klarheit der Seele als kleinliche, egoistische Leiden. Folglich ist es kein Widerspruch, -wenn ich mich persönlich beglückt nenne und mein Inneres doch nicht unberührt von Weh bekenne. Sieh, es ist der Unterschied zwischen edlem schönen und gemeinem Leid, wie zwischen einem harmonischen reinen Mollakkord tief in as mol oder wüst und sinnlos dissonierenden Tönen, nebeneinander angeschlagen". Solche abgeklärten Stimmungen sind der Nährboden, auf dem die seltene Blume des Humors wächst. Auch Johanna hat ihn, wie die Maikäferbriefe dieses Winters an den Berliner Filialmau 1 ) bezeugen. Es muß betont werden, daß Johanna es ist, welche in jener Zeit ernsthaft und scherzend Kinkel zu begütigen sucht. Sie will ihm die verhaßten Bonner Verhältnisse genießbar machen mit dem hausbacken-gesunden, an Wilhelm Busch erinnernden Worte: „Wo man ist, da sei man froh, „besser ist es nirgendwo."

Und Kinkels Unmut erpreßt ihr den Seufzer: „O Balder2) Beyschlag, frommes Gemüte du! „Ach wärst du hier noch; wahrlich wie süße Milch „In bittern Kaffee sollte fliessen „Deine holdseelige sanfte Rede „In unsres Unnau düster empörtes Herz. . ."

l

) Pahncke in: Euphorion. Band 19. S. 668 ff. ') Balder hieß Beyschlag im Mäikäferkreise.



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Fünftes



Kapitel.

Der Bruch mit Theologie und Kirche. 1. Das Geständnis an Beyschlag. Aus allen Halbheiten und Wimingen der letzten Zeit reißt sich Kinkel in einem Schreiben an Beyschlag vom Januar 1843. 1 ) Seme wahre Auffassung von Christentum und Kirche offenbart er hier zum ersten Male einem Freunde. Der Inhalt des schon eingangs erwähnten Schreibens (S. 2) stellt, aus dem Zusammenhange der Entwicklung losgelöst, einen unerklärlichen Widerspruch zu den erst im Mai des letzten Jahres erschienenen Predigten dar ; aber denjenigen, der weiß, wo Samenkörner gelegt sind, wird das Hervorsprießen der Saat an das Licht des Tages nicht überraschen. Der Inhalt seiner Beichte ist folgender: Wem, der ehrlich und nicht dumm ist, seien nicht die dogmatischen Fundamente gewichen in dieser bangen schweren Zeit. „Ich habe Schellings Philosophie der Offenbarung angesehen und sehe, daß der mir nichts helfen wird" . . . Christus sei „der höchste religiöse Mensch", aber in politischen Dingen nur ein Kind seiner Zeit, und man dürfe Paulo ein démenti geben, wenn er alle Erkenntnis in Christo vereinigt glaubt. „Es wird ein großer Überschuß weltbewegender Ideen . . ., für unsere Gegenwart unentbehrlicher Ideen in unser Christentum aufgenommen werden müssen, von denen der Menschensohn entweder nichts gewußt oder nichts gesagt hat." — Dann wendet sich Kinkels Gedankengang der Entwicklung des christologischen Dogmas zu. Jakobus habe am reinsten das anfängliche Christentum aufbewahrt, darauf gäben die Reden in den Synoptikern das richtige Bild, Johannes aber habe schon den höchsten menschlichen Genius apotheosiert. Auf gleichen Wege ist Paulus. Eben darum haben sie die Welt bekehrt — sie gaben ihr, was sie wollte und bedurfte zum Übergang aus dem Polytheismus — einen sinnlich vorstellbaren Gott. Darum wurde Paulus von den Judenchristen so gehaßt: sie sahen in ihm den Rückschritt vom strengen *) Rheinlande.

Band 15.

S. 27.



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Monotheismus zu einem anders gefärbten Heidentum: zur Anbetung des Menschengeistes! Aber die Kirche ging diesen Weg. Sie stieß die Ebioniten aus, verurteilte die Monarchianer als Ketzer und bildete sich endlich sogar polytheistisch zur Trinitätslehre aus. Die Reformation hat nur die argen Konsequenzen weggeschnitten, das Prinzip blieb. Sollte j e t z t endlich die Zeit gekommen sein, den /iAvos nrevfiaratfc wieder als Einen zu fassen, das Wort Jesu: „Niemand ist gut, denn Gott allein" in seinem allein möglichen Sinne zu fassen, daß er sich, nämlich Gott gegenüber auch nicht gut, d. h. nicht zur Idee der Güte entwickelt, nennen mag, und so endlich den Punkt zu finden, wo Piaton, Christus, Apollonius von Tyana, am Ende auch Moses und Mohammed harmonieren? — „Ich habe diese verwegenen Gedanken, die, wenn sie wahr sind, den Punkt deutlich zeigen, auf welchem die Menschheit . . . einst den Spruch realisieren wird, daß sie Eine Herde unter Einem Hirten bilden soll — ich habe diese Gedanken noch niemals so vollständig ausgesprochen noch hingeschrieben wie in diesem Briefe."1) Kinkel spricht also hier seine Abkehr vom positiven Christentum unumwunden aus und bekennt sich zu einem religiösen Eklektizismus, in welchem dem Christentum nicht mehr zukommt als eine Gleichberechtigung mit anderen Religionen. — Für seinen Zustand findet er dabei anfangs die treffenden Worte: Zerfahrenheit, Unentschiedenheity und es klingt etwas wie eine Klage hervor, am Schlüsse aber, nachdem er seine Anschauungen, die man theologisch nicht *) Ahnliche Oedanken enthalten einige seiner „Sprüche": „Mit der Dogmatil mögt ihr's halten „So orthodox vie eure Alten; „Doch die Oeschichte lißt nicht Wahl, „Ihr Losungswort ist: Liberal!" (Gedichte 3. Aufl. S. 400).

Und sarkastisch gewendet: „Mit dem Meister inen bringt Qewinn? „Ei, ich seh, der alte Spruch hat Sinn: .Jeder, der sich an den Schelling hält, „Wird im Staate eiligst angestellt". (Gedichte. 3. Aufl. S. 408).



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eben bahnbrechend nennen kann, dargelegt hat, steht wieder der alte von sich überwältigte Kinkel da: „O ja, es ist nicht mit gotischen Schnörkeln ausgezackt wie Nitzschs System, es ist eine Wahrheit so schlicht und einfach', wie Luthers Predigten den Quaestiones des Duns Scotus gegenüber."

2. Das Eingreifen des Ministeriums. Die hier dem Freunde offenbarte im stillen schwelende Glut der Unstimmigkeit zwischen Kinkels Anschauungen und seiner amtlichen Stellung sollte jetzt ein Eingriff des Unterrichtsministers zur hellen Flamme anfachen, in der die letzten, ohnehin morschen Stützen seines Christentums verbrannten. Wiederum zu Beginn des neuen Jahres, am 26. Januar 1843, reichte Kinkel bei dem Universitätskurator, der jetzt Moritz August von Bethmann-Hollweg war, ein Qesuch um eine Gratifikation ein. Er habe nun 12 Semester die Ehre gehabt, dem Staate als Privatdozent zu dienen und während dieser Zeit sein elterliches Vermögen mutig für jenen großen Lebenszweck eingesetzt und vollständig aufgeopfert. „Auch im letzten Jahre ist meine Tätigkeit nicht ohne Segen gewesen: im vorigen Sommer hat ungefähr die Hälfte der hiesigen evangelischen Theologen, wie meine Listen ausweisen, in 3 Vorlesungen an meinem Unterrichte sich beteiligt. Im gegenwärtigen Semester ist der Besuch meiner Kollegien allerdings vermindert: doch ist hieran die plötzlich eingetretene Konkurrenz der Herren Professoren Hasse und Kling, welche beide mein Hauptfach, die Kirchengeschichte, dozieren, offenkundig die Ursache." Ein streng wissenschaftliches Werk habe er freilich bei der Notwendigkeit, seinen Erwerb zu gewinnen, noch nicht abschließen können, obwohl er seit vielen Jahren für ein solches sammle. Doch mögen seine Predigten und einzelne kleinere Aufsätze und Beiträge zu Zeitschriften1) den Beweis liefern, a

) Ich habe nur jene Untersuchung Aber die Himmelfahrt ermitteln hönnen. Ausserdem arbeitete Kinkel allerdings nach Strodtmanns Zeugnis fflr die Augsburger AHg. Zeitung. Der Artikel vom 21. Oktob. 1842 ) Hannov. Courier. 1904. Nr. 25 204. ) vgl. oben S. 91. 4) Ungedr. 6 ) Gartenlaube. 1873. S. 210.

3

a

) Vgl. unten S. 144.



122



Freund: „fünfzehn Jahre Theolog habe ich mich ganz langsam und ohne Leidenschaft im festen Fortschritte des Studiums von der Kirchenlehre losgemacht" (Johannes Scherr, Haidekraut S. 172). Und auch Johanna machte sich allmählich diese Darstellung zu eigen. Sie schrieb am 26. September 1849 an Kathinka Zitz: „In Bonn hatte sich eine Muckerclique festgesetzt. Kinkel fuhr ihnen wie ein Adler durch ihre Spinngewebe und riß die akademische Jugend mit sich fort" (Frankfurter Zeitung. 3. August 1900), und am 10. Juni 1850 an Harrys: „Ober sein Los bestimmen dieselben Theologen, die er ehemals mit Erfolg vom Katheder bekämpfte" (Hannov. Courier. 21. September 1904). — Strodtmann vertritt natürlich auch hier die Auffassung des Kinkelschen Kreises, „daß der ehrliche Privatdozent manche irrige und falsche Ansicht seiner berühmten Kollegen wissenschaftlich angriff" (S. 191) und daß diese den ihrem Rufe gefährlichen Privatdozenten stürzen wollten (S. 293). Und auch Johannes Scherr sieht die Differenzen mit der Fakultät so an: „wie hätte Kinkel denn auch unberührt bleiben können von der großen kritischen Bewegung, welche sich in den 30 er und zu Anfang der 40 er Jahre namentlich auf dem Gebiete der Theologie ereignet?" Abweichend hiervon und übereinstimmend mit Beyschlag trotz seines entgegengesetzten Standpunktes beurteilt Theodor Althaus diese Frage (Aus dem Gefängnis. Bremen 1850): „in diesem Konflikte reifte Kinkel zum Mann. Er wurde ein Geächteter in den Kreisen, wo er früher Liebling gewesen war, und mit voller Herzensleidenschaft brach die Empörung gegen die gesamte Lebensanschauung, deren Hülle er bisher sorglos mitgetragen hatte, hervor." — Ich habe schon oben bei der Besprechung der Vorrede zur Sammlung der Predigten (S. 89) angedeutet, daß auch meines Erachtens ein Hauptmotiv für Kinkels Sinnesänderung die persönlichen Gegensätze zu Gesellschaft und Fakultät waren. Daß umgekehrt von einem w i s s e n s c h a f t l i c h e n Gegensatze zur Fakultät nicht die Rede sein konnte, da er gar „keine selbsterarbeitete theologische Richtung" l ) ') Beyschlag. Stud. u. Krit.

1913.

S. 608.

— 123 — hatte, geht aus unserer Darstellung seiner wissenschaftlichen Leistungen und Interessen hinreichend hervor. S t i m m u n g im W i n t e r . Bevor Beyschlag im Herbst 1843 zur Fortsetzung seiner Studien nach Bonn zurückkehrte, war eine einigermaßen erträgliche Verständigung zwischen ihm und Kinkels erzielt worden, aber die alte unbefangene Zutraulichkek wollte sich nicht wieder einstellen. Beyschlag glaubte zu beobachten, daß mit Kinkel eine Veränderung vorgegangen sei. „Es war, als sei der Frühlingsduft von seinem Wesen gewichen; er dichtete nichts Rechtes mehr, er erschien öfters verstimmt, in seiner Lustigkeit manchmal gewaltsam." Burckhardt widersprach dem zwar; er war im Herbste in Bonn und konnte über seinen Eindruck an Beyschlag berichten: „Daß K. a l s M e n s c h verloren habe, ist eine melancholische Grille von Dir; — ich habe mich von neuem von seiner Urgesundheit und ewigen Jugendlichkeit überzeugt." Bei Kinkel wird eben im Verkehr mit dem innerlich verwandten Freunde, von dem er seine Entwicklung gebilligt sah, die alte Frische und Freudigkeit hervorgebrochen sein, welche er denen gegenüber verloren hatte, die mißbilligend seine schiefe Stellung in Amt und Wissenschaft betrachteten. Und das werden nicht wenige gewesen sein. Daher wird Beyschlag Recht haben. Er hat vielleicht am meisten von allen Freunden und Verehrern Kinkeln geliebt und die tiefsten Blicke in sein Wesen getan. Versetzen wir uns in Kinkels Lage im Jahre 1843 — sein Inneres konnte kaum anders als friedlos sein, wenn er an seine amtliche Laufbahn dachte: die ehemaligen stolzen Hoffnungen des jungen Privatdozenten waren geknickt, ein Teil der früheren Freunde zog sich zurück und verlangte gebieterisch eine klare Entscheidung für oder gegen die Theologie, er selbst sah sich, nachdem er erst vor kurzem einen eigenen Hausstand begründet hatte, vor einer erdrückenden Fülle innerer und äußerer Gründe, welche den Übergang in einen anderen Lebensberuf von ihm forderten. So manche Äußerung des folgenden Winters zeigt, wie er von dem Unbefriedigenden seiner Lage die Aufmerksamkeit durch Ausfälle abzulenken und sich selber an dem zu



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rächen suchte, was ihm nicht mehr ein Gegenstand innerer Verehrung, sondern nur noch eine äußerliche Fessel war. An einem Shakespeare-Leseabend in seinem Hause schob er einem zuhörenden alten Herrn einen patristischen Folianten als Schemel hin mit den f ü r Beyschlag gemünzten Worten: das ist das Beste an diesen Kirchenvätern, daß man die Füße darauf setzen kann. Wobei ihm Beyschlag schlagfertig zurückwarf: vielmehr, daß man sie mit Füßen treten kann, und sie bleiben doch unverwüstlich (Beyschlag, A. m. L. S. 178). Beim Spazierengehen mit Beyschlag bringt Kinkel die Unterhaltung auf das Theologisch-Religiöse und beginnt allerlei Angriffe auf die Schleiermachersche und Nitzsche Theologie in halb ernstem, halb witzigem Tone (Beyschlag an Wolters. 19. Jan. 1844). Zu Neujahr 1844 macht er sich in einer Epistel an einen befreundeten Dichterkreis lustig über den dicken Pfarrer, der vom Teufel schwätzt, als hätt' er mit ihm Brüderschaft gemacht 1 ) — und hatte doch selbst erst vor 3 Jahren vom Teufel gepredigt. U n d in diese Zeit werden wohl auch jene spöttischen Sprüche gehören: „Wahrhaftig unter allen Christen „Seid ihr die klügsten, ihr Pietisten. „Euch wird der Teufel nie beleidigen, „ D i e ihn so treu als wirklich verteidigen;"

und: „O fromme Schar, du wirst, wenns also bleibt, „In jeden Platz und jede Würde dringen: „Fürwahr, es ist, just wie Sankt Paulus schreibt: „Gottseligkeit doch nütz zu a l l e n Dingen!" (Gedichte.

3. Aufl.

S. 410).

5. Der Austritt aus dem Schulamte. Im Frühjahr 1844 löste sich wiederum ein Band, das Kinkel an Religion und Theologie gefesselt hatte: er legte sein Amt als Religionslehrer am Gymnasium nieder. Über Kinkels Schullehrertätigkeit geben die Akten des Provinzialschulkollegiums und einige Stellen aus seinen Gedichte.

3. Aufl.

S. 311.



125



Briefen an Krafft Auskunft. Vor Kinkels Amtsantritt hatten den Religionsunterricht am Gymnasium Karl Krafft in den unteren Klassen, Professor Sack in den oberen erteilt. Krafft wurde im September 1839 als Pfarrer nach Flamersheim berufen, und Kinkel übernahm seine Stelle im Oktober für 80 Taler Remuneration. Im Juni 1840 schied Sack aus dieser Tätigkeit aus und auf seine Empfehlung wurde Kinkeln vom 1. August ab der ganze Religionsunterricht für 120 Taler übertragen. Über seine Erfahrungen mit der Disziplin und seine Unterrichtsmethode äußert er sich am 13. Dezember 1839 gegen Krafft: „Am Gymnasium geht es im ganzen immer besser. Geprügelt habe ich noch nicht, aber geohrfeigt mediocriter (NB. ist eine vox media). Sie sehen, daß sie nicht durchkommen. Heute wurde der ältere Bleek ins karzer gesteckt: sie hatten die thüre des schulzimmers aufgetreten: ich forderte bekenntnis, wer es getan, als dieses nicht erfolgte, denunzierte ich die sache dem kollegen Werner (der mir ein wackrer und fideler mann zu sein scheint), der hats nun untersucht, und für die unaufrichtigkeit konnte ich, so leid es mir thut, keine geringere strafe beantragen. Im Unterricht gehe ich rasch, stehe schon bei der geschichte Josefs, und in den mittlem klassen, wo ich Apostelgeschichte lese, an Pauli bekehrung. Das scheint mir zweckmäßig, denn auf speziellere und tiefere belehrung gehen sie in ihrer Unaufmerksamkeit noch nicht ein. Aufsätze habe ich erst einen machen lassen, um doch zur zensur eine kontrolle des häuslichen fleißes zu haben." — Übergroße Befriedigung scheint er aus dem schulmäßigen Unterricht nicht gewonnen zu haben; er schreibt darüber am 9. Januar 1840: „Mit dem gymnasium geht es gut, d. h. so gut es kann, ruhe habe ich so ziemlich: doch vor etwa 2 monaten war ich so weit, daß ich ziemlich entschlossen war, ostern die sache aufzugeben. Strengere strafen habe ich erst einmal verhängt: karzer über W. Bleek. Bei Thormanns geht es besser: es ist aber sehr schwer, mädchen kirchengeschichte vorzutragen." — Trotzdem behielt Kinkel dieses Lehramt, das ihm eine wenn auch bescheidene, so doch sichere Einnahme gewährte, bei und erfreute sich auch des besonderen Lobes seines Direk-



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tors Biedermann 1 ). Daß seine Abwendung vom rechten Glauben bald den Tadel der wissenschaftlichen Prüfungskommission, welche über die Abiturientenprüfungen am G y m nasium halbjährlich Gutachten abgab, auf sich zog, ist schon oben S. 87 erwähnt worden. Trotzdem bekam er noch v o m 1. Oktober 1842 ab eine Zulage von 30 Talern und — wie Strodtmann (Band 2. S. 10) berichtet — zu Neujahr 1843 eine außerordentliche Gratifikation als „Anerkennung seiner Leistungen". 2 ) In einem Schreiben vom 26. Januar 1843 bedankt er sich dafür beim Provinzial-Schulkollegium und versichert, daß er seine Tätigkeit am Gymnasium wie auch bisher niemals als bloße Nebenarbeit neben seinen akademischen Geschäften, vielmehr diesen als ganz gleichgeordnet allezeit anerkennen und sich demnach bestreben werde, seine Schüler mit aller Kraft, die Gott ihm verleihe, zu kräftiger, wahrhafter, in freier Frömmigkeit wurzelnder Gesinnung zu erziehen." Den amtlichen Äußerungen der vorgesetzten Schulbehörde zufolge, soweit sie Kinkel bekannt wurden, durfte er also damals seine Stellung als gesichert ansehen. Aber dem war nicht so. D e r ungnädige W i n k des Ministers blieb auch hier nicht ohne Folgen. Als das Provinzialschulkollegium am 25. April 1843 zusammentrat, beauftragte es den Schulrat Landfermann, sich bei Nitzsch zu erkundigen, „ o b eine gesegnete Wirksamkeit Kinkels ferner zu erwarten stehe". Der vielgeschmähte Nitzsch, von dem wir schon hörten, daß er sich um dieselbe Zeit beim Minister für Kinkel verwandt hatte, antwortete unter dem 12. Juli, daß er „wenigstens für jetzt noch keinen "Grund finden könne, an der erfolgreichen Wirksamkeit Kinkels zu zweifeln". Aber das am 25. Januar 1844 abgegebene Gutachten der wissenschaftlichen Prüfungskommission über die Herbstprüfung 1843 lautete wieder sehr ungünstig. 3 ) Die Abiturienten hätten die F r a g e : 2

Vgl. unten S. 130. ) Es trifft also nicht zu, wenn Adelheid von Asten-Kinkel (Deutsche

Revue.

1902. Band 4, S. 6 3 ) sagt, man hätte K.'s Gehalt

als Religions-

lehrer immer mehr geschmälert. 3

) Schon abgedruckt bei Strodtmann, Band 2, S. 1 0 — 1 2 .

und Strodtmann bezeichnen Sack als den Verfasser.

Johanna



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,wie haben wir als Christen das Alte Testament anzusehen; und zu benutzen?' von einem sehr flachen Standpunkte aus behandelt, ohne alle Einsicht in den großartigen festen geschichtlichen prophetischen und didaktischen Zusammenhang des Alten und Neuen Testamentes. N u r den dem oberflächlichen Blick erscheinenden Unterschied heben sie so hervor, daß das A. T. ihnen ,rein sinnlich', daß es ihnen ,schwierig' scheine, die noch zu haltenden Gebote des A. T. zu unterscheiden, daß es ihnen bloß als ein Geschichtsbuch ,menschlich-großer Persönlichkeiten' und als schöne Aussprechung menschlicher Gefühle und Lehren erscheine, und der eine es ,zwar entbehrlich, aber nicht überflüssig' nenne. Kinkel trete den Abiturienten zwar mehrmals mit den Äußerungen: ,zu stark', ,ungerecht', ,zu absolut' entgegen, aber es sei zu fürchten, daß durch diese bloß moderierende Kritik die Jünglinge nicht zur Erkenntnis ihres G r u n d i r r t u m s kommen würden. Es sei gewiß, daß bei so ungründlichen Ansichten bald die letzte Spur von Verehrung für das A . T . aufgegeben werden würde, während es vom historisch-prophetischen Standpunkte sehr möglich sei, die Jünglinge zu sichern gegen die Irrtümer unserer Zeit. — Aus diesem Gutachten nahm das Provinzialschulkollegium Anlaß, Kinkeln am 29. Februar eine Rüge zu erteilen: es werde in den Bemerkungen der Prüfungskommission vom christlichen Standpunkte aus ein sehr ungünstiges Urteil ausgesprochen; das Provinzialschulkollegium erwarte daher, daß Kinkel künftig zu solchen Bemerkungen keine Veranlassung gebe, „widrigenfalls wir in Erwägung ziehen müssen, ob Ihnen der Religionsunterricht weiter zu belassen sein dürfte". Daraufhin reichte Kinkel am 28. März sein Entlassungsgesuch 1 ) ein. Hierin be-

Abgedruckt bei Strodtmann, Band 2, S. 13—19. Die von Strodtmann mitgeteilte Fassung stimmt nicht ganz mit dem bei den Akten ruhenden wirklichen Schreiben überein; dieses ist vielmehr in einigen Punkten weniger scharf. So heisst es bei Str. S. 16 von Schleiermacher, dass sich hinter seinem grossen Schatten die moderne Orthodoxie s o gern verkriecht, da, w o er zur Gemeinde redend sich dem populären Glauben anschließt und wofür sie ihm dann den Gefallen tut, nicht zu lecken wider den scharfen Stachel seiner Dialektik — während in dem



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schwert er sich zunächst, daß ihm die Zensuren der Prüfungskommission über die Examina des Jahres 1842 erst am 27. Februar 1844 und die Zensur der letzten Herbstprüfung schon acht Tage später, zugleich mit der Androhung eines Strafurteils bekannt gegeben worden wären, ohne ihm Zeit und Möglichkeit zu vergönnen, jene früheren Beschwerden zu entkräften. Die Androhung, ihn abzusetzen, sei um so befremdlicher, als das Schulkollegium ihm erst zu Neujahr 1843 eine Gehaltserhöhung und Gratifikation mit Anerkennung seiner Leistungen erteilt hätte. Sodann geht Kinkel auf das Urteil der Kommission näher ein, wobei er zunächst die formalen Einwendungen macht, daß er nichts anderes als moderierende Kritik, keine positive Belehrung habe üben können, aus dem einfachen Grunde, weil die Schüler seine Zensuren ja nicht mehr zu lesen bekämen, und daß er ferner nicht in vollem Maße für die Ansichtein seiner Schüler, die er selber beschränkt und teilweise widerlegt habe, verantwortlich zu machen sei. Überdies sei die Auffassung über das Verhältnis der beiden Testamente durch keinen Artikel der Symbole festgelegt, sondern nur eine bestrittene und bestreitbare Schulmeinung. Er sei indes keineswegs gewillt, sich hinter die formalen Rechtsgründe zu verschanzen, müsse vielmehr die Berechtigung in Anspruch nehmen, über das A. T. eine andere Ansicht zu haben, als die vom Herrn Zensor vorgeschriebene. Auch vermöge er nicht vorauszusehen, auf wie vielen anderen Stellen sein Denken und Unterricht von der subjektiven Meinung des Herrn Zensors abweichen könnte. Da das Urteil des Zensors die Stimmung der Behörde so rasch zu seinen Ungunsten gewendet habe, so habe er nicht länger Mut und Freudigkeit, seinen Dienst auf so schwankende Bedingungen hin fortzuführen und bitte um seine Entlassung. — Gleichzeitig hatte Kinkel eine Verteidigung „An die Aktenstück nur gesprochen wird von Schleiermacher, .der gleichwohl nie von der protestantischen Kirche verworfen oder auch nur offiziell getadelt worden ist.* Ebenso fehlt hier die bei Str. S. 16—19 stehende schneidige und schwungvolle Verteidigung seiner Auffassung vom Alten Testamente; dafür findet sich der von mir weiter unten mitgeteilte Schluss.



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Eltern und Vorgesetzten seiner Schüler" in Druck geben wollen, die Zensurbehörde aber verbot dies, „weil es unstatthaft sei, das Verfahren seiner Vorgesetzten öffentlich zu tadeln". 1 ) Die Nachforschungen nach dieser Verteidigung im Geh. Staatsarchiv sind erfolglos geblieben. Vielleicht Ist die Vermutung erlaubt, daß die von Strodtmann mitgeteilte, in Kinkels Schreiben an das Prov.-Schulkollegium aber nicht enthaltene Verteidigung seiner Auffassung vom A. T. zum mindesten in den hauptsächlichsten Argumenten und Wendungen aus jenem nicht zum Drucke gelangten Aufsatze herstammt. Kinkel bekennt sich da im wesentlichen zu dem Glauben seiner Schüler: „nie werde ich ein Buch, dessen höchste Gestalt, Moses, seinem Volke Diebstahl an den befreundeten ägyptischen Nachbarn als Gebot des Herrn vorschreibt, ihm Polygamie und Blutrache gestattet, und dagegen einen Mann, der am Sabbath Holz liest, steinigen läßt — nie werde ich ein solches Buch mit dem Herrn Zensor als ein ,die Heiligkeit Gottes in seinem Gesetz offenbarendes' anerkennen; . . . nie von ,dem flachen Standpunkt' und der ,ungründlichen Ansicht' ablassen, daß ein solches Buch zum Bestand der wahren Religiosität entbehrlich', niemals endlich ableugnen, daß es »schwierig sei, die noch zu haltenden und die nicht mehr zu haltenden Gebote des Alten Testamentes zu unterscheiden" . . . Der pädagogischen Ansicht des Zensors, daß es vom historischprophetischen Standpunkte sehr möglich sei, die Jünglinge gegen die Irrtümer unserer Zeit zu sichern, stellt er die seinige gegenüber: „wer in den oberen Gymnasialklassen eine mosaische Kosmogonie als Religionslehre demonstriert bekommen hat, die gleich hernach im ersten Kollegium über Geologie vor der ewigen Handschrift der Natur wie Spreu verwehte, der hat mit dem Alten Testament dann freilich auch das Neue, mit dem Dogma auch die Frömmigkeit, mit der theologischen Schulmeinung auch die Religion eingebüßt und gar oft nie wiedererlangt." Zu Kinkels Entlassungsgesuch nahm der Gymnasialdirektor Biedermann mit Wärme und Entschiedenheit der vorl

) Strodtmann, Band 2, S. 20. Preuß Jahrbücher, Band 97. S. 412.

B o l l e r t , Gottfried Kinkels Kämpfe.

9



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gesetzten Behörde gegenüber Stellung: in die theologischen Streitpunkte sich einzulassen, stehe ihm als Katholiken nicht zu. „Wenn ich jedoch die umfangreiche wissenschaftliche Bildung betrachte, zu welcher sich Kinkel bei seinen ausgezeichneten Talenten erhoben hat, und mit dieser Achtung gebietenden Bildung den in den Zensuren über seine Religionsprüfung herrschenden Ton („Kandidatenprüfung" u. dergl.) und insbesondere die in der Zensur vom 25. Jan. d. J. über die letzte Herbstprüfung nicht zu verkennende Aufgeregtheit vergleiche; wenn ich bedenke, daß Kinkel, wie er selbst in seinem Gesuche bemerkt, erst im vorigen Jahre in Anerkennung seiner Dienstleistungen, selbst mit U m g e h u n g des katholischen Religionslehrers an einer katholischen Anstalt, doppelt, mit Gratifikation und Gehaltserhöhung, beglückt worden ist; wenn ich endlich erwäge, mit welcher Pünktlichkeit und Treue er seinem Amte vorgestanden, wie er nicht nur bei seinem Unterrichte die ihm anvertraute Jugend an Rechtschaffenheit, Zucht und O r d n u n g zu gewöhnen und sich ihre Achtung und Zuneigung zu gewinnen, sondern auch durch sein redliches, freundliches, dienstwilliges und zuvorkommendes Wesen die Wertschätzung der Lehrer der Anstalt zu sichern gewußt hat: so kann ich freilich um so weniger über die rasche W e n d u n g mein Bedauern auszusprechen [unterlassen], da zugleich Kinkel an unserer Anstalt den G r u n d zu seiner wissenschaftlichen Bildung gelegt und sie ihn als einen ihrer talentvollsten Zöglinge mit dem glänzendsten Zeugnisse der Reife aus ihrer mütterlichen Pflege zu der Hochschule entlassen hat." In der Tat, es kann nicht zweifelhaft sein, daß das Vorgehen gegen Kinkel eine Ungerechtigkeit war. Zunächst eine formelle Ungerechtigkeit, die darin liegt, daß man ihn mit einer A n d r o h u n g der strengsten Strafe ohne jede Vorbereitung förmlich überrumpelte; er hatte ein Recht zu sagen: »Trotz der Arbeit Tag und Nacht „Kann ich nicht mein Leben fristen, »Weil man Konduitenlisten »Hinter meinem Rücken macht." (Gedichte.

2. Samml. S. 8.)



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U n d dann auch eine materielle Ungerechtigkeit: zwar verlangen auch heute noch die preußischen Lehrpläne f ü r die höheren Schulen, daß der Religionsunterricht in der Mittelstufe den „Zusammenhang der Geschichte des Reiches Gottes im Alten und Neuen Testamente" erfassen lehre; aber die Auswahl unter den Religionslehrern würde wohl klein werden, wenn die. Behörde alle diejenigen mit Amtsentsetzung ¡bedrohen wollte, welche dem Alten Testamente gegenüber auf dem Standpunkte der Kritik stehen, die Kinkel hier öffentlich zum Ausdrucke bringt. Der Kinkel, welcher der Schulbehörde bekannt war, hatte diese Behandlung nicht verdient, die ihren G r u n d wohl hauptsächlich in dem von oben wehenden Winde haben mochte. — Wir allerdings, die wir in Kinkels Anschauungen eine tiefere Einsicht haben, werden anerkennen müssen, daß ihm in diesem tieferen Sinne ein Unrecht nicht geschehen ist; denn von einem rechten Religionslehrer muß allerdings verlangt werden, daß er eine christliche Persönlichkeit ist, die eigene Glaubensinteressen hat und keinen Zweifel darüber läßt, daß es ihr nicht um das Zerstören, sondern um das Erbauen zu tun ist. Nach dem Zerreißen auch dieses äußeren Bandes gab es zweifellos auch kein inneres mehr, das Kinkel an Christentum und Theologie knüpfte. Als am 11. Juli 1844 sein erster Junge getauft wird, gibt er ihm, ,,eh' des Himmels schwanke Gnade sein wird in der Taufe Bade", als Vater den Segenswunsch mit: „Mag er fest auf Erden stehn, „Nicht mehr nach dem Himmel sehn!" (Gedichte. 3. Aufl.

S. 315).

U n d es ist die Erkenntnis, daß er von der Kirche abgefallen sei und nun auf eigene Faust die Lebensbahn durchmessen müsse, welche ihm einen sonst nicht bei ihm zu hörenden Ton wehmütiger Klage um den Verlust des Kinderglaubens entpreßt. In dem Gedichte: ,In einer alten belgischen Kathedrale' 1 ) gibt er dem Schmerze Ausdruck, dem süßen Locken der Mutter Kirche nicht mehr folgen zu können. !) Gedichte. 3. Aufl. S. 326. Die Stelle dieses Gedichtes in der Reihe der anderen weist es in die Jahre 1844 oder 1846.





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„Und doch, ich kann nicht, Mutter! dieser Oeist, „Der mich erfaßt, es i s t der Oeist der Wahrheit". . .

6, Johannas letzte Auseinandersetzung mit Beyschlag. Im Konflikte Kinkels mit Beyschlag ließ Johanna es nicht an Bemühungen fehlen zu einer Verständigung. Zwar hatte sie auf Beyschlags Anklagebrief an Kinkels Statt eine sehr kühl abweisende Antwort erteilt, aber als Beyschlag darauf den Weg zum Herzen der Bonner Freunde suchte, war sie für ihre Person vollkommen zur Verzeihung bereit. Bei den Disputen zwischen Kinkel und Beyschlag im Winter 1843/44 war sie traurig über die Uneinigkeit, wie denn auch Beyschlag Wolters gegenüber gesteht, er könne von ihr nicht los und er wolle es ja auch nicht (19. Januar 1844. Rheinlande). Im Laufe des Frühjahrs 1844 scheinen dann auch zwischen ihnen beiden die grundstürzenden Meinungsverschiedenheiten noch einmal in ernsthafter und ruhiger Weise erörtert worden zu sein. Beyschlag hatte, wie er in seinen Lebenserinnerungen S. 196 erzählt, von Frankfurt aus während der Osterferien in einem herzlichen Briefe an Johanna seine Stellung freimütig zur Sprache gebracht, nochmals Verständigung gesucht und über alle Trennungspunkte hinaus die vorbehaltlose Freundeshand dargeboten. In diesem Schreiben, dessen Inhalt aus Johannas Antwort nur zu erschließen ist, hatte er bestritten, daß sie noch im Christentum stünde, und der Meinung Ausdruck gegeben, sie verteidige den Atheismus. Darauf ließ ihm Johanna am 24. Juni einen Brief überbringen, in dem sie ihm darlegte, „wie sie das Christentum in der Seele trage" (Preuß. Jahrb. Band 122. S. 102—106). Der Brief enthält ein vollständiges Glaubensbekenntnis. Vergleicht man seine Ausführungen mit Johannas offiziellem Glaubensbekenntnis vom November 1842, so verkennt man schwerlich die durch den immerhin polemischen Zweck der Verteidigung bedingte Verschiedenheit in Standpunkt und Tonart; aber ein erheblicher sachlicher Unterschied besteht nur in der Beurteilung der Kirche, wobei man sich gegenwärtig halten muß, daß inzwischen Kinkeln der Rat erteilt worden war, sich einer anderen Laufbahn



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zuzuwenden, und daß er aus seinem Schulamte verdrängt worden war. Der Brief hat etwa folgenden Inhalt. Von ihrer Gottesvorstellung sagt sie: „ich bete einen unsichtbaren unbekannten hohen Schöpfergeist an, aber verwechsele ihn nicht mit dem mythischen Oott des Alten Testaments, der im Neuen nach Art des Zeus eine Erdenjungfrau freit und einen menschlichen Sohn hat". Kein Mensch könne sich eine Vorstellung von einem Gotte, seiner Art zu sein und zu handeln, machen. 1 ) — Christus sei nur ein natürlich erzeugter und geborener Mensch, aber der trefflichste, der je gelebt hat. „Es braucht nicht des Glaubens an ein nichtsbedeutendes Wunder, um ach dem höchsten religiösen Genius anzuschließen, und sich treu zu bemühen, seiner Lehre nach zu leben. Ich finde auch nicht, daß die Leute, die sich zeitlebens abmühten, das Unwahrscheinlichste von ihm wahr zu finden, darum strenger seine Lehre befolgten; im Gegenteil, das Beweisen und Streiten um seine Göttlichkeit raubt nur die Zeit, die so viel besser auf Nachahmung seiner Menschlichkeit gewendet wurde. Der Kern seiner Lehre ist die Liebe, und was erzeugte in der Welt mehr iHaß, als das Aufdringen der Glaubensartikel?" Wenn sie auch dem Menschenverstände enge Grenzen zuerkennt und ein Unendliches ahnt, das weit über seinen Begriff hinausgeht, so wahrt sie sich doch gegenüber den Berichten der Bibel das oberste Kriterium des Verstandes. „Wo mir also etwas berichtet wird, das gegen den Menschenverstand streitet, so vermute ich zunächst: hier ist eine Lüge oder ein Mißverständnis im Spiel." „Der Dr. Strauß erscheint mir gescheidter als die Synoptiker, er überzeugt mich mit stichhaltigen Gründen, daß die Synoptiker sich häufig geirrt haben, und ich kann nicht eine Sünde begehen, wenn ich hier das annehme, was mir das wahrscheinlichste ist." — Von der Idee 1

> .Ich glaube an keinen Oott als an den heiligen Oeist', schreibt sie am 2. Febr. 1800 (Preuß. Jahrb. Band 97. 18»). Diesen Oott fühlt sie in der eigenen Brust wohnen; in Johannas Roman .Hans Ibeles* heisst es von der Gattin des Helden, die so viele Zöge Johannas trigt: «Dorothea betete nicht, vernehmlich genug sprach zu ihr die Stimme des bekannten Gottes in der eigenen Brust« (Band 2, S. 281).



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der Unsterblichkeit heißt es: „daß Christus die Unsterblichkeit verdient, glaube ich gern. Jedem Lumpen, der an ihn als Gottessohn glaubt, möchte ich drum so hohen Lohn nicht zutrauen. Die Edlen und Outen, die ich verehre, ach auch mir selber, möchte ich (so wenig ich's verdiene) ein ewiges Bewußtsein, ein Fortschreiten durch alle Zeiten ersehnen." In der Frage der Ethik ist sie wie Beyschlag von der Sündhaftigkeit der Menschennatur überzeugt, aber sie sieht keine Heilung darin, sie einem andern aufzubürden, nur eine Faulheit. „Dies demütigende Gefühl steter Reue muß ich tragen, oder mit allen Kräften nach Weiterbildung ringen. Mehr kann der kirchliche Christ auch nicht tun ; der Stolz auf den Glauben und dies Herabsehen auf den Zweifler ist ein arger Egoismus." — Scharf ist das Urteil über die Kirche. Beyschlags Art sie darzustellen, sei die poesiereiche Spiegelung in einer jugendlich reinen, liebenswürdigen Seele. „Doch leider hat u n s die Kirche nicht dieses ideale, mütterlich lächelnde Antlitz gezeigt, sondern all ihre Anmaßung, Heuchelei, die Widerwärtigkeit des Hochmuts, mit der sie in der Geschichte von jeher um ihrer Macht willen das Schönste geopfert hat. Diese- Kirche ist die Karikatur ihres Stifters." „In der Kirche kann ich mich nicht mehr erbauen, weil ich dort stets eine Lüge mit in den Kauf nehmen muß. Stets ist die Sittenlehre Christi (die ich gleich anerkennen will) in eine absonderliche abenteuerliche Historie gehüllt, die der Prediger mit der Prätension erzählt, keine Poesie, sondern ein wirkliches Faktum mitzuteilen. So scheidet sich mir Christentum und Kirche, und ich könnte mich nur mit gutem Gewissen zu dieser bekennen, wenn sie den Mythus keck bei seinem Namen nennte". *) — Johanna schließt mit dem Ausblick auf eine künftige Entwicklung. „Die höchste Wahrheit ist noch nicht erreicht, und drum kann noch eine

*) In Übereinstimmung hiermit nennt sie später in ihren Erinnerungsblättern a. d. J. 1849 (Deutsche Revue. 1894. 3. S. 348) ihren Übertritt einen letzten Versuch, das Christentum mit einer der bestehenden Kirchen zu identifizieren, den sie allerdings als mißlungen betrachten müsse, nachdem ihr die Erfahrung gezeigt, daß gerade die kirchlich Frommen dem Christentum manchmal am fernsten stünden.



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einfachere und reinere Religion kommen, der man den W e g nicht mit den alten Brettern versperren soll." Der hier im Auszuge mitgeteilte Brief ist die letzte bedeutendere religiöse Äußerung Johannas, welche überliefert ist. Bevor wir zu Kinkel zurückkehren, sei hier noch die Frage berührt, ob und wie weit Johanna die Urheberin von Kinkels Abfall vom Christentum gewesen ist. D a ß sie es gewesen ist, wird wohl einstimmig von allen Biographen a u s den beiden entgegengesetzten Lagern behauptet. Die einen preisen sie als Befreierin, die andern tadeln sie als Verführerin. 1 ) Ja Johanna selber hat an dieser Darstellung in Strodtmanns Werke nichts auszusetzen. Trotzdem finde ich sie durch Johannas eigene Äußerungen an keinem Punkte bestätigt; manches aber spricht dagegen. Sie ergreift zuerst mit Enthusiasmus Kinkels Christenlehre; zwar regt sich bald die Kritik, aber nicht eigentlich die Negation; als Kinkel die den Bruch kaum verhüllende Vorrede zu seinen Predigten schreibt, vertieft sie sich in Schleiermachers Predigten; kurz bevor Kinkel sich in jenem Briefe an Beyschlag (Januar 1843) vom positiven Christentum lossagt, tritt sie zur evangelischen Kirche über; sie sucht zur selben Zeit den übelgelaunten Kinkel mit der Welt zu versöhnen; sie wünscht im Sommer 1843, daß Kinkel dem Geschimpfe auf die Fakultät ein Ende mache; sie sucht Verständigung mit Beyschlag und ist betrübt über den Konflikt mit den alten Freunden. Wenn trotz alledem Johanna als die Ursache von Kinkels Abfall hingestellt wurde, so hatte das einen doppelten Orund. Einmal hatte sie allerdings, wie oben dargelegt worden ist (Drittes Kap. 2), den ersten Anstoß dazu gegeben, daß Kinkel sich von der bis dahin bekannten Orthodoxie entfernte; und ferner liegt f ü r jeden Biographen, der Kinkels orthodoxe Periode als in tiefer Überzeugung begründet ernst nimmt !) Strodtmann S. 186. 308. Beyschlag, A. m. Leben. S. 166. Theol. Stud. u. Krit. 1913. S. 608. 609. Karl Barthel, Die deutsche Nationalliteratur der Neuzeit. 7. Aufl. 1866. S- 282. Rud. Gottschall, Die deutsche Natiönalliteratur. 2. Aufl. Band 3. 1860. S. 244. Ernst Ziel, Litterar. Reliefs. Reihe 1. 1885. S. 130/131. Ebenso urteilten Nathusius, Boegeholds usw.

— 136 — — und das mußten Freunde und Feinde tun —, das Bedürfnis nahe, den unter dieser Voraussetzung innerlich unerklärlichen Umschwung einer starken Einwirkung von außen zuzuschreiben. Sechstes Kapitel.

Der Übergang in die philosophische Fakultät 1. Bewerbung und Ernennung. K u n s t g e s c h i c h t l i c h e S t u d i e n . So groß Kinkels Grimm über die vermeintliche und die wirkliche Unbill der Behörden auch war, so hatte ihre Schroffheit doch den Vorteil, daß sie die Tatkraft in ihm wachrief, sich aus dem immer drückender werdenden Mißverhältnis von Glauben und Amt herauszuarbeiten. Nachdem er den eine Zeitlang lockenden Gedanken an die Laufbahn des Poeten und Literaten zu seinem Glücke unterdrückt hatte, wandte er sich mit Energie dem Studium der Kunstgeschichte zu, zu dem ihn seine kirchengeschichtlichen Forschungen, seine künstlerischen Interessen und die italienische Reise schon von je lebhaft angeregt hatten. Die Arbeit auf einem ihm innerlich zusagenden Gebiet wirkte wohltuend auf sein Gemüt. Er hatte sich — im Frühjahr 1844 — aus seinen winterlichen Verstimmungen aufgerafft, er erschien wieder in seiner alten Frische und Freundlichkeit, erzählt Beyschlag. Und im September schreibt Kinkel an Wolters, er sei ganz in die Kunstgeschichte versunken; „es gibt mir ein großes Glück, in Einem und Ganzen angespannt und ungeteilt tätig zu sein" (Rheinlande. Band 15). Sogar die Poesie muß zurücktreten; seit Mitte Sommers 1844 habe er keinen Vers mehr geschrieben, berichtet er am 20. Februar 1845 an Freiligrath.1) Neben diesen auf die Abfassung einer Kunstgeschichte gerichteten Arbeiten, gingen seit dem Sommer 1844 Vorträge *) Ungedruckt.

— 136 — — und das mußten Freunde und Feinde tun —, das Bedürfnis nahe, den unter dieser Voraussetzung innerlich unerklärlichen Umschwung einer starken Einwirkung von außen zuzuschreiben. Sechstes Kapitel.

Der Übergang in die philosophische Fakultät 1. Bewerbung und Ernennung. K u n s t g e s c h i c h t l i c h e S t u d i e n . So groß Kinkels Grimm über die vermeintliche und die wirkliche Unbill der Behörden auch war, so hatte ihre Schroffheit doch den Vorteil, daß sie die Tatkraft in ihm wachrief, sich aus dem immer drückender werdenden Mißverhältnis von Glauben und Amt herauszuarbeiten. Nachdem er den eine Zeitlang lockenden Gedanken an die Laufbahn des Poeten und Literaten zu seinem Glücke unterdrückt hatte, wandte er sich mit Energie dem Studium der Kunstgeschichte zu, zu dem ihn seine kirchengeschichtlichen Forschungen, seine künstlerischen Interessen und die italienische Reise schon von je lebhaft angeregt hatten. Die Arbeit auf einem ihm innerlich zusagenden Gebiet wirkte wohltuend auf sein Gemüt. Er hatte sich — im Frühjahr 1844 — aus seinen winterlichen Verstimmungen aufgerafft, er erschien wieder in seiner alten Frische und Freundlichkeit, erzählt Beyschlag. Und im September schreibt Kinkel an Wolters, er sei ganz in die Kunstgeschichte versunken; „es gibt mir ein großes Glück, in Einem und Ganzen angespannt und ungeteilt tätig zu sein" (Rheinlande. Band 15). Sogar die Poesie muß zurücktreten; seit Mitte Sommers 1844 habe er keinen Vers mehr geschrieben, berichtet er am 20. Februar 1845 an Freiligrath.1) Neben diesen auf die Abfassung einer Kunstgeschichte gerichteten Arbeiten, gingen seit dem Sommer 1844 Vorträge *) Ungedruckt.



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über die christliche Kunst, in denen seine große Lehrgabe in klarer Darstellung und lebendiger Veranschaulichung ungetrübt hervortrat (Beyschlag, A. m. Leben. S. 196). Seine fleißige Vertiefung zeitigte bald Früchte. Schon im Juli 1845 konnte er dem Minister seine „Geschichte der bildenden Künste bei den christlichen Völkern. Lieferung 1 : Die altchristliche Kunst" übersenden. Bewerbung. Befürwortung durch Kurator u n d F a k u l t ä t . Noch vorher hatte er sich um eine Professur in der philosophischen Fakultät für Kunstgeschichte, deutsche Literatur und Kulturgeschichte beworben. Der Kurator Bethmann-Hollweg nahm dazu in einem Berichte vom 9. Juni 1845 über die durch August Wilhelm von Schlegels Tod erledigte Besoldung Stellung und führt dabei folgendes aus. *) Ober die ganz eigentümliche Lage K.s habe er dem Minister schon persönlich Vortrag gehalten. K. sei mit vorzüglichem Talent, geistreicher historischer Verknüpfung, lebendigem Vortrag und gewandter Rede begabt . . . Selbst ordentliche und ao. Professoren, die mit ihm konkurrierten, habe er an Zuhörerzahl übertroffen. Die Fakultät habe ihre Erwartungen insofern nicht erfüllt zu sehen geglaubt, als unter dem Einfluß gewisser Lebensverhältnisse seine dogmatischen Überzeugungen sehr jns Schwanken gerieten und ästhetische Interessen den streng theologischen Eintrag zu tun schienen. Er habe dann seine Studien auf Literatur- und. Kunstgeschichte gerichtet und um eine Professur in da - philosophischen Fakultät sich bemüht, sei auch bereit gewesen, eine solche an einer anderen Universität anzunehmen, etwa in Breslau in der durch Hoffmanns Abgang erledigten Stelle. Die durch Schlegels Tod eingetretene Vakanz habe ihm nun die Hoffnung auf eine Anstellung in Bonn gegeben. Ein dringendes Bedürfnis für Anstellung eines eigenen Lehrers der deutschen Literatur- und der Kunstgeschichte sei nicht zu erkennen. Für die ältere deutsche Literatur ist Prof. Diez tätig, ein selbständiger Sprachforscher von anerkanntem Verdienste, und die neuere bildet den Gegenstand eines be') Akten des Kuratoriums.



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liebten Vortrags von Prof. Löbell. Die neuere Kunstgeschichte aber, wofür selbst, Als ein so ausgezeichneter Kenner derselben wie d'Alton sie vortrug, unter den Studierenden immer nur wenige Interesse zeigten, könnte neben Archäologie und Geschichte Prof. Urlichs übernehmen. Trotzdem hätte, wenn K. nicht an eine andere Universität gebracht werden könne, der Gedanke, einem talentvollen jungen Mann, dem seine theologischen Lehrmeinungen den Fortschritt auf der betretenen Bahn unmöglich machen, in eine andere Sphäre zu versetzen und auf diese Weise dem Staate und der Wissenschaft zu erhalten, für ihn Interesse genug, um seine Anstellung in Bonn zu beantragen, und zwar mit 200 Taler Gehalt. — Nachdem der Kurator noch einmal am 25. Juni Kinkel vor Urlichs empfohlen hatte um des ausgezeichneten Beifalls willen, den er in allen Vorlesungen geerntet hätte — „in diesem Sommer hat er in einem Publikum über christliche Kunstgeschichte dem Vernehmen nach nahe an 200 Zuhörer um sich versammelt", — antwortete der Minister am 16. Juli, daß er nicht abgeneigt sei, Kinkel zum ao. Professor in der philosophischen Fakultät zu ernennen, nachdem er Doktor der Philosophie geworden wäre. Kinkel benachrichtigte seine Fakultät am 18. Juli von seiner Bewerbung und überreichte gleichzeitig seine Kunstgeschichte. Er fügte kühl und stolz hinzu: „Meine Absicht bei dieser Eröffnung ist, es der Hochw. evang.theol. Fakultät anheimzustellen, ob Sie in Anbetracht -einer nun volle 17 Semester unter Ihren Auspizien geübten akademischen Lehrtätigkeit es gerecht findet, durch ein Votum . . . jenen beabsichtigten Schritt in eine andere Lebensbahn zu befördern." Die Fakultät war in ihrem Berichte an den Kurator vom 20. Juli wohlmeinend genug, aus diesem „Anheimstellen" eine „Bitte" zu machen, die sie in folgender Weise erfüllte: seitdem sie unterm 2. Februar 1843 sich über Kinkel ausgesprochen, habe er weiter Vorlesungen gehalten: theologische mit vielem Beifall und nicht unbedeutender Frequenz der Zuhörer, in einem weit höheren Grade bei den kunsthistorischen Vorlesungen. „Seine vorzüglichen Lehrgaben, verbunden mit umfassenden Kenntnissen und großer Leichtigkeit in deren Aneignung verspre-



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chen ihm auch ferner auf der akademischen Laufbahn Erfolg und machen es wünschenswert, daß er auf dieser erhalten und gefördert werde. Dagegen scheint die früher ihn begeisternde Liebe für die Theologie und die Kirche bei ihm in hohem Grade immer mehr zurückgetreten und dem rein ästhetischen Interesse gewichen zu 9ein( wie dies Ew. Hochwohlgeboren selbst hinreichend bekannt ist." Die Fakultät empfiehlt angelegentlich, daß ihm bald in einer ao. philosophischen Professur mit Besoldung eine festere Stellung für seine Wirksamkeit gegeben und er in den Stand gesetzt werde, sich mit freierem Oemüte der Gründlichkeit und Tiefe der Studien immer mehr zu befleißigen, ohne genötigt zu sein, auch in seinen schriftstellerischen Arbeiten vornehmlich auf die Beschaffung der Mittel zu seiner äußeren Subsistenz bedacht zu sein. Wir hegen die Zuversicht, daß dieses auch auf sein Gemüt einen wohltätigen Einfluß üben . . . werde." D i e G e s c h i c h t e d e r b i l d e n d e n K ü n s t e . Bethmann-Hollweg ließ sich nicht die Gelegenheit entgehn, Kinkeln durch eine freundliche Empfehlung seiner Kunstgeschichte die Wege zu ebnen. Er habe, schreibt er ¡am 26. Juli an den Minister, kein Urteil darüber, wie weit das darin Mitgeteilte Resultat eigener Forschungen und neu sei. Die Erwägung, daß der Verfasser diese Studien nur nebenbei betreiben konnte, werde eine mildere Beurteilung zu begründen geeignet sein. „Die geistreiche Auffassung des Gegenstandes und die meisterhafte Darstellung kann auch dem Laien in dieser Disziplin nicht entgehen." Der Minister seinerseits legte Kinkels Buch Kuglern vor. Dessen Gutachten ist nicht bei den Akten, doch scheint Kugler, dem Kinkel durch Jakob Burckhardt kein Fremder war,1) günstig geurteilt zu haben; denn der Minister schrieb unter dem 14. August an Kinkel, er erkenne mit Vergnügen die lebendige und geistreiche Darstellung beifällig an und zweifle nicht, daß, sobald auch das gelehrte Material hinzugefügt sein werde, Kinkel sich der Anerkennung der Freunde und Kenner der Kunst zu erfreuen haben werde. i) Vgl. Pahncke, W. Beyschlag. 1905. S. 48.

— 140 — Noch ein anderes Urteil über die Kunstgeschichte findet sich bei den Akten. Der frühere Bonner und damalige Berliner Professor der Theologie Rheinwald, der schon für Kinkels theologische Arbeiten durch die Aufnahme von Rezensionen in seinem Repertorium Interesse gezeigt hatte (vgl. oben S. 30 und 37), gab in einem Schreiben an den Minister vom 24. Aug. eine Beurteilung vom Standpunkt des Theologen aus, die zugleich um der darin enthaltenen Charakteristik Kinkels willen von Interesse ist. Kinkel hat, so führte Rheinwald aus, seinen Stoff geistig durchdrungen, er gibt ein für Gelehrte und Gebildete gleich wertvolles Werk. Da für die christliche Kunstgeschichte so gut wie nichts vorhanden sei, weil es den Theologen an Kunstkenntnis und den Kunsthistorikern an Einsicht in das Wesen der Religion fehle, so sei Kinkels Verdienst, der beide Disziplinen vereine, ein aller Beachtung wertes. Kinkel, der ein geborener Reformierter sei, habe den seiner Kirche innewohnenden Widerwillen gegen die Kunst überwunden und werde sowohl auf die Kirchengeschichtschreibung in der reformierten Kirche als auf die Betrachtungsweise ihrer einzelnen Mitglieder vorteilhaft einwirken. — Die Darstellung sei einfach', blühend und schön. — Er bemerke über Kinkel, dessen inneren und äußeren Entwicklungsgang er seit 1831 kenne, daß er durch Verhältnisse und Fügungen, die sich vielleicht besser zu mündlicher Detaillierung eigneten, auf einen Standpunkt in der Theologie gekommen sei, von dem für eine Wirksamkeit in der theologischen Fakultät momentan nicht viel Ersprießliches zu erwarten sei. Aber Kinkel sei so strebend, so lebendig den Eindrücken der Wahrheit offen, daß man ihn der akademischen Bahn erhalten zu sehen wünschen müsse. — Vielleicht würde Kinkel, wenn er noch mehr innerliche Erfahrungen gemacht und die Zeit noch tiefer zu ergründen gelernt habe, eine Sehnsucht nach der Theologie bekommen und dereinst mit Segen zu der Fakultät zurückkehren, für die er sich 1836 mit Begeisterung entschieden hätte.1) *) Es liegt außerhalb meiner Aufgabe, auf die Kunstgeschichte Kinkels niher einzugehen. Doch wird von dieser einzigen größeren wissenschaftlichen Leistung Kinkels aus ein Blick auf seine Arbeitsweise auch

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E r n e n n u n g z u m a o . P r o f e s s o r in d e r p h i l o s o p h i s c h e n F a k u l t ä t . Die philosophische Fakultät promovierte Kinkel mit ehrenvoller Anerkennung seiner Befähigung und seiner Kunstgeschichte unter Erlaß der mündlichen Prüfung und der öffentlichen Disputation. Professor Brandis, welcher damals in Bethmanns Abwesenheit der stellvertretende Regierungsbevollmächtige an der Universität war, beantragte am 10. Dezember 1845 Kinkels Ernennung mit einem festen Gehalte von 200 Talern, und zwar „mit sofort beginnender Zahlung, da die durch die Krankheit eines Kindes eingetretene Stockung der Erwerbsarbeiten bei ihm und seiner Cattin ihm große Verlegenheit für den gegenwärtigen Winter bereiten möchten". In der Eingabe Eichhorns an den König vom 21. Januar 1846, in der um die Ernennung Kinkels gebeten wird, wird er dem Könige, dem Kinkel später noch so manches zu schaffen machen sollte, in folgenden Wendungen vorgestellt: Kinkel habe seit 9 Jahren Vorlesungen über Kirchengeschichte gehalten und dabei ein bedeutendes Talent für den Kathedervortrag entwickelt. Im Laufe der Zeit hätten sich seine Interessen immer entschiedener der allgemeinen Literatur- und Kunstgeschichte zugewendet. In unserem Thema von Nutzen sein. Kinkel erweist sich auch hier als der geschmack- und phantasiebegabte Erfasser und Darsteller großer geschichtlicher Zusammenhänge; minutiöse Einzelarbeit ist nicht zu beobachten und wird ja auch bei der nur kurzen Beschäftigung mit dem Gegenstände kaum erwartet werden dürfen. Er wird in der Darstellung leicht zum schwungvollen Rhetor, wobei er manches Mal der Versuchung unterliegt, den Boden exakter Forschung und strenger Beweisführung zu verlassen einer geistreichen Konstruktion, einer blendenden Antithese zu Liebe. Ein Beispiel. „Während die Wissenschaft nur Wenigen gehört und selbst die Religion ebenso oft scheidet als einigt, bildet die Kunst das große Pantheon aller Menschen oder doch aller Oenossen des Einen Volks und Blutes" (S. 1). Wirklich? Oder trennen sich nicht unter den Volksgenossen in ihrem Kunstempfinden gar sehr die Oebildeten von der großen Menge, und bauen unter den Oebildeten nicht wiederum die künstlerischen Richtungen und Oberzeugungen Scheidewinde auf, die in ihrer Art nicht minder dick, wenn auch vielleicht nicht so unübersehbar hoch sind wie die religiösen? Vgl. S. 9 die schiefen Beispiele für die konstruierte Reihenfolge der Künste im Leben der Völker. Ebenda die Einzwängung Ooethes in ein Verhältnis zur Antike.

— 142 — seiner „Kunstgeschichte" habe er für dieses Fach soviel Studium und Geschmack an den Tag gelegt, daß man mit Grund erwarten dürfe, er werde darin Bedeutendes leisten. „Sowohl der Kurator der Universität als die philosophische Fakultät unterstützen dieses Gesuch lebhaft, während von seiten der theologischen Fakultät dem Charakter des p. Kinkel und seinen Gesinnungen nur gute Zeugnisse gegeben werden;" Die Ernennung wurde daraufhin vollzogen und der Minister teilte dies am '6. Februar nach, Bonn mit, allerdings mit der Bemerkung, daß sich eine feste Besoldung; für jetzt nicht ermöglichen lasse; nur außerordentliche Remunerationen bis zu 200 Talern jährlich sollte Kinkel bekommen. Als aber im Laufe des Jahres der Profeor Hüllmann starb, entschloß sich der Minister, von dessen freiwerdendem Gehalte Kinkeln eine feste Besoldung zukommen zu lassen, wie er am 1. September mitteilte.1) Das Konsistorium in Koblenz wußte nichts oder wollte nichts wissen von allen voraufgegangenen Konflikten und erteilte Kinkeln die erbetene Entlassung aus dem Kandidatenstande „unter Anerkennung seiner früheren wissenschaftlichen und praktischen erfreulichen Leistungen auf dem theologischen Oebiete".»)

2. Äusserungen Aber das Christentum. D a s C h r i s t e n t u m in d e r Geschichte der b i l d e n d e n Künste bei den c h r i s t l i c h e n Völk e r n " . Das Thema seiner Arbeit hätte Kinkeln vielleicht eine Auseinandersetzung mit dem Christentum gestattet. Er hat sie nicht gesucht. Nur beiläufig fallen einige sine ira et studio vorgetragene Äußerungen, die einen kritischen Standpunkt verraten. „Christus, soviel Ranken auch die Sage um *) Schon hieraus ergibt sich — und das Folgende wird es bestätigen —, daß Strodtmanns Mitteilung, (Band 2, S. 4ß. Dieselbe Nachricht in: Gottfried Kinkel, Cassel 1802. (Moderne Klassiker. Bd. 2.) S. 26.) Kinkel hätte im Juli durch Franz Kuglers Vermittlung einen Ruf nach Berlin bekommen, verbunden mit dem Versprechen eines erhöhten Oehaltes, in dieser Form nicht zutreffend sein kann. ») Joseph Joesten, Kulturbilder aus dem Rheinland. 1902. S. 97*

— 143 — sein Leben gewunden hat, ist nicht selbst Sage; sein Auftreten, seine Geburt, vor allem sein Tod sind auch von nichtchristlichen Schriftstellern bezeugt. Ebenso wenig sind die Apostel mythisch" (S. 7). Die Weltflucht, heißt es S. 9, sei nicht der Charakter des Christentums. „Wenigstens bei dem Stifter dieses Glaubens finden wir sie nicht: er hat freudig und menschlich genießend gelebt und sich, wie schon die Gleichnisse beweisen, innig liebend und empfindend an die Natur und sogar an kleinliches Menschenleben angeschlossen; auch liegt kein Welthaß in seiner Lehre." Kinkel, erkennt an, daß durch die Vermählung des Volksgeistes der germanischen Stämme mit dem Christentum Segen über die Welt ergossen wurde (S. 141). Feindseligkeiten gegen das Christentum. Solche Weise objektiver Würdigung war aber nicht das Abbild seiner innersten Stimmung dem Christentum gegenüber. Diese wird man zu jener Zeit kaum anders als Feindseligkeit nennen dürfen; seine Erbitterung gegen die offiziellen Träger christlicher Weltanschauung übertrug er auf das Christentum selber. Vor der Persönlichkeit Christi zwar hegt er Respekt, aber mit einer gewissen Genugtuung betont er die Schranken, die auch ihm gesetzt waren; d e a Apostel Paulus würdigt er in nicht gerade pietätvoller Form ; die christliche Gottesanschauung findet er als eine lästige Fessel, an der er widerwillig zerrt. „Ich glaube an keinen, persönlichen Gott. Ganz kann ich es nicht los werden; aber ich w i l l ' s ! " sagte er etwa 1845 zu Philipp Nathusius.1) Und Wolters schildert lebendig in einem Briefe vom 1. Juni 1845 (Rheinlande. Band 15) einen erregten Disput mit Kinkel und Johanna, wo Kinkels Invektiven hageldicht fielen. „Zum Schluß ward's immer hitziger. Dann lehnte sie sich an ihn, und lächelnd und lachend meinte er: „Nicht wahr, wir wollen Heiden bleiben, Heiden sein" . . . Ich schwieg. Sie ging. Nach einer Pause meinte er, wir seien heute heftig gewesen. „Ja." Es begann aufs neu: Christus habe kein Wunder getan, was die schubbigen Juden alles von ihm gesagt oder geglaubt, gehe ihn nichts an: er habe sich Nach dessen ungedr. Briefe an Kinkel ins Oeflbignis zu Spandau.



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wohl gehütet, als man ihn vor Z e u g e n um ein Wunder •anging» eins zu tun, eben weil er's nicht gekonnt. „Dem Paulus habe ich auch hinter die Karten geguckt usw Dessen Freiheit ist, ihr mögt sagen, was ihr wollt, die Freiheit vom Verbot des Schweinefleisches usw., und allerdings mag's einem Juden, der sein ganzes Leben hindurch hat Schabbes halten müssen, schon Freiheit sein, ihn nicht mehr zu halten usw." . . . Ich habe meist geschwiegen und ihm zuletzt nur gesagt: Wenn ich zu ihm wie zu jedem meiner Freunde stände, ich hätte ihm oft an diesem Abend gesagt: „Halt's Maul", und weiter nichts." Man sieht, Kinkel hatte allen Anlaß, sein Ausscheiden aus der theologischen Fakultät zu betreiben. Als ihm der Übergang in die philosophische Fakultät gelungen war, saß er auf hohem Pferde. Er zögert nicht lange, seine theologischen Bücher für einen Spottpreis zu veräußern.1) Die Theologie macht er verächtlich und das Christentum bespöttelt er. Und daß er sich bei diesem Obergange der entschieden wohlwollenden Förderung seitens der in Betracht kommenden Männer zu erfreuen gehabt hatte, das scheint ihm nicht tief gedrungen zu sein. Er schrieb am 2. Mai 1846 an Freiligrath:4) „Mit der Kunstgeschichte in der Hand meldete ich mich zum Austritt aus der Theologie — denn ein Lebenlang bloß negierend, kritisch, auflösend arbeiten hol der Teufel, und anderes k a n n meines Erachtens jetzt kein klarer Kopf in der Theologie wahrnehmen . . . Es ist mir gelungen, noch vor dem stets gefährlichen Wendejahr, vor Ablauf des dreißigsten, fest und klar meine wissenschaftliche Bestimmung zu begreifen und den Lauf zu beginnen. Dieses, und daß ich nun wieder ganz Mensch sein darf (der Theolog darf's nur halb!), dieses ist meine beste Freude bei jener Wendung meines Geschickes." Auch als er im Sommer-Semester seine Vorlesungen über die Literaturgeschichte des deutschen Mittelalters begann, gab er am Schlüsse der Stunde die Erklärung ab: er sei von der Theologie zur Kunstgeschichte übergegangen, weil er überhaupt der Theologie für das nächste ») Gartenlaube. *) Ungedruckt.

1873.

S. i80.



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Menschenalter nur eine negierende Tätigkeit prophezeie (Franz Beyschlag an W. Beyschlag 4. Mai 1846. Rheinlande. Band 15). Für Franz Beyschlag, der damals seine Studien, in Bonn begann, waren ein Hindernis wahrhaft freundschaftlicher Hingebung an Kinkel nicht sowohl der religiöse Zweifel und die theologische Verneinung, als vielmehr die grundsätzliche Unfrömmigkeit und mutwillige Frivolität, welche er zu Zeiten zur Schau trug. l ) D a s „ M ä n n e r l i e d " . Ein Ausfluß solcher Gesinnung war das im Herbste veröffentlichte „Männerlied" (Gedichte. 3. Aufl. S. 330), ein Vorklang seiner Revolutionsperiode, in dem er „Freiheit" und „Vaterland" besang und über sein kaum in ruhige Fahrbahn gelenktes Lebensschiff fast wieder einen Sturm heraufbeschworen hätte. Dort hieß es: „LaBt die alten Weiber sich „Um den Himmel schelten! „Aber freie Männer wir „lassen das nicht gelten. „Gegen dich, o Vaterland, „Sind uns nichts als eitler Tand „Alle Sternenvelten! „Weiss nicht, ob dich oder mich „Dort der Teufel hole; „Doch hier schaffen wir vereint „Am gemeinen Wohle. „Hebt die Gläser frank und frei! „Nur auf Erden Freiheit! sei „Unsre Siegsparole".

Wenn auch diese Verse weniger als eine Verhöhnung des Unsterblichkeitsglaubens, denn als eine Aufforderung zu vereinter Betätigung in vaterländischem und freiheitlichem Sinne gemeint waren und dadurch etwas von ihrer verletzenden Wirkung verlieren, so bedeutet die Form doch eine geschmacklose Entgleisung, und man versteht die Entrüstung des Kinkeln so wohl gesinnten Kurators Bethmann-Hollweg, ») W. Beyschlag, Aus dem Leben eines Frühvollendeten. Teil 1. 5. Aufl. 1880. S. 86. B o l l e r t , Gottfried Kinkels Klmpfe.

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mit der er am 16. November 1846 an den Minister Eichhorn schrieb: „Der Jahrgang 1847 des von Kinkel herausgegebenen Abnanach ,Vora Rhein', den er mir selbst überbrachte, enthält ein Gedicht von ihm, das den Glauben an ein Jenseits und seine Vergeltung in so frecher Weise verhöhnt, daß ich mich in meinem Gewissen gedrungen fühlte, ihn darüber zur Rede zu stellen. Er suchte sich zwar dadurch zu rechtfertigen, daß die Tendenz des Gedichtes nur sei: zur Vereinigung auf politischem Gebiete unbeschadet religiöser Gegensätze aufzufordern; aber ich mußte ihm erklären, daß der rohe Ausdruck dieses Gedankens nur Mißachtung dessen, was der Mehrzahl unsres Volkes heilig sei, kundgebe, die ich mit dem Berufe eines Jugendlehrers nicht zu vereinigen wisse" . . . Es sei zu befürchten, daß der wenig befestigte Charakter und die Eitelkeit des p. Kinkel ihn bei erster Gelegenheit zu ähnlicher Unbesonnenheit hinreißen könnte, und deswegen sei von einem festen Gehalt einstweilen lieber noch abzusehen. — Eichhorn antwortete am 7. Dezember mit geradezu überraschender Nachsicht: „Ich möchte ihn in der Hoffnung, daß sein Charakter nach und nach auf dem Wege der Erfahrung mehr Festigkeit und würdigere Haltung gewinnen werde, nicht ganz aufgeben, wünsche vielmehr angelegentlich, daß Ew. Hochwohlgeboren ihn ferner durch ernste und wohlwollende Vorhaltungen aufrecht zu erhalten und auf gute Wege zu lenken suchen möchten". Daraufhin dankt am 25. Januar 1847 Bethmann-Hollweg dem Minister für die milde Beurteilung von Kinkels Unbesonnenheit. Er fügt hinzu: Seinen Mißgriff einzusehen, sollte Kinkel schon die öffentliche Stimme veranlassen, welche selbst in einem Organ wie die Kölnische Zeitung sich mißbilligend darüber ausgesprochen hat.1) Schließlich beantragt er 100 Taler Remuneration für Kinkel. — Kinkel hatte sich also für diesmal wirklich das feste Gehalt verscherzt. Dies der ') In der Kölnischen Zeitung vom 16. Dezember 1846 heisst es in einer Besprechung des Jahrbuches .Vom Rhein*: 'Minnerlied' von G. Kinkel hätten wir in dieser Sammlung nicht zu finden gewünscht. Es macht, namentlich als Schluss keinen guten Eindruck! Es kann überall nur Ärgernis geben und ist auch ohne alle Poesie.

— 147 — aktenmißige Tatbestand jener Episode, an die wiederum manche Mär geknüpft worden ist. Strodtmanns Nachricht (Band 2, S. 48) mag noch richtig sein, daß Bethmann-Hollweg an Kugler mit Entrüstung geschrieben habe: „Kinkel möge ruhig in Bonn verbleiben; nachdem jener ein s o l c h e s Gedicht veröffentlicht, sähe sich der Staat durchaus nicht veranlaßt, sich für des p. Kinkel schnelle Beförderung zu interessieren". Aber schon die Behauptung, daß sich wegen dieses Liedes Kinkels Berufung nach Berlin zerschlagen habe, ist eine Erfindung, wie sich im folgenden sogleich zeigen wird, und Eichhorns Rolle wird ganz verkannt. Aus des Kurators Bethmann-Hollweg Antrag, einstweilen noch von einem' festen Gehalte abzusehen, ist bei. Karl Barthel1) schon die Tatsache geworden, daß man ihm für 1847 sein Professorengehalt entzogen hätte; ebenso bei Adolf Stern.2) Und Ludwig Geiger») erzählt gar: wegen des Männerliedes habe Kinkeln der Minister [!] von Bethmann-Hollweg kommen lassen und ihm erklärt, wegen der dritten Strophe habe er alle Aussicht auf Beförderung verloren.

3. Befestigung der amtlichen Stellang. Wie sich in Wirklichkeit seine Amtsverhältnisse im Jahre 1847 gestalteten, sei hier noch als Abschluß dieser Episode angedeutet. Nachdem er im Februar die erste Rate der ihm zugebilligten Remuneration bekommen hatte — 100 Taler — beantragte er im April eine Unterstützung zu einer Studienreise nach Dresden in den Pfingstferien zum Besuche der Galerie. Sie wurde bewilligt in Höhe von 100 Talern. Nicht viel später, etwa im Mai, bekam er von Cotta den Antrag, in die Redaktion der Augsburger Allgemeinen Zeitung einzutreten. Bethmann-Hollweg scheint ihm den Rat erteilt zu haben, den Antrag anzunehmen, aber seine Rückkehr an eine preußische Universität im Auge zu behalten. Eichhörn ') Die deutsche Nationalliteratur der Neuzeit. 7. Aufl. Braunschveig 186«. S. 600. ») Qottfried Kinkel. In: Westerraanns Monatshefte. Band 66. 1884. S. 26. •) Frankfurter Zeitung. 3. Aug. 1900.

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billigte in einem Schreiben vom 31. Mai 1847 den an Kinkel gegebenen Rat. „Ich habe zwar die Idee gehabt, ihn bei vorkommender Gelegenheit an die hiesige Universität zu berufen . . . Wenn er als Teilnehmer an der Redaktion der genannten Zeitung seinen Einfluß geltend macht, damit die preußischen Interessen mit mehr Wahrheitsliebe vertreten werden, als bisher in diesem Blatte geschah, würde dies nur noch ein Gewicht mehr für seine Zurückberufung in die Heimat in die Wagschale legen, falls er solche künftig wünschen sollte." Im Monat Juni aber war Kinkel — wohl von der Dresdner Galeriereise aus — in Berlin 1 ) und sprach persönlich mit Eichhorn. Er äußerte den Wunsch, seine Stellung als akademischer Lehrer festzuhalten. Und Eichhorn kam ihm entgegen; „statt ihn zu schelten, war er mehr als freundlich zu ihm", grollte Wiehern. 1 ) „Da sein Lehrtalent, schrieb Eichhorn an den Kurator am 2. Juli, von allen Seiten als vorzüglich gerühmt wird und die Hoffnung vorhanden ist, daß seine Studien nach und nach eine ernstere Richtung gewinnen werden, so glaube ich sein Anerbieten, in Bonn bleiben zu wollen, wenn ihm ein Gehalt zugesichert werden könne, nicht von der Hand weisen zu dürfen. Ich habe ihm daher eine fixe Besoldung von 400 Talern zugedacht." Bald darauf erhielt Kinkel noch dazu die Genehmigung, jährlich um eine Unterstützung zu einer Kunstreise einkommen zu dürfen, und auch auf Kinkels Wunsch, in eine größere Universitätsstadt versetzt zu werden, äußerte sich Eichhorn am 10. August zustimmend „für eine sich darbietende Gelegenheit". So hatte Kinkel in der philosophischen Fakultät rasch das erreicht, was ihm die theologische zu seinem Schmerze nicht hatte bieten wollen: die Aussicht auf eine Karriere. Es ist wohl nicht zu gewagt, wenn man prophezeit: ohne die Stürme des Jahres 1848 wäre Kinkel in Berlin zwar nicht einer der gründlichsten, aber einer der glänzendsten und gefeiertesten akademischen Lehrer geworden. ) vgl. auch Johannas Brief an Emilie v. Henning vom 24. Juni Preuss. Jahrb. Band 97. S. 416. ' ) Briefe u. Tageb. Band 2. 12. Juli 1882. 1

1847.



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S i e b e n t e s Kapitel.

Die neue Weltanschauung. 1. Verteidigung des neuen religiösen Standpunktes im Oeffftngnisse. Kinkel hatte, als er 1849 und 1850 gefangen in der Gewalt derer saB, denen das Bekenntnis zu einer unchristlichen Anschauung etwas Abscheuliches war, Gelegenheit, seine Oberzeugungen zu vertreten. Und man darf ihm die Anerkennung nicht versagen, daß er dies nachdrücklich und unerschrocken getan hat. In keinem seiner Gefängnisse ließen es die Orthodoxen an Bemühungen fehlen, Kinkel zu bekehren. Als er in Rastatt seiner Aburteilung entgegenharrte, machten sich die alten Studienfreunde Krafft und Bögehold auf, um auf ihn einzuwirken. Bögehold behauptete Johanna gegenüber, Kinkel hätte sich mit großer Zerknirschung Bibelsprüche von ihm vorsagen lassen, aber Kinkels Brief an Johanna drückte ein peinliches Gefühl über den Besuch' zwar fein und schonend, aber hinreichend verständlich aus (Deutsche Revue. 1894. 2. S. 207), und Wichern hatte es doch aus Bögeholds eigenem Munde, wenn er in seinem Tagebuche schrieb: „es ist empörend, wie Kinkel Bögehold in Rastatt behandelt hat". Noch übler erging es Krafft. Hatte Bögehold schon in einem Gnadengesuch an den Prinzen von P r e u ß e n d i e Verbindung Kinkels mit Johanna als eine Hauptursache seiner Verirrungen bezeichnet,») so ging Krafft noch weiter. Er verlangte von Kinkel, daß er seine Ehe als unrechtmäßig anerkennen sollte; worauf dieser erwidert haben soll: nur die Kerkerwände und seine hilflose Lage hielten ihn ab, den Herrn Pastor vor die Tür zu werfen (Deutsche Revue. 1894. 3. S. 347). Noch in späten Jahren hat Kinkel zu dem Elberfelder Poeten Friedrich Roeber gesagt: wenn ihm der Pastor Krafft begegne, würde er ihn sofort auf der >) Vgl. Bollert, Kinkels kriegsgerichtliche Aburteilung; in: Preuß. Jahrb. 1914. ») Vgl. oben S. 136.



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Straße niederschlagen.1) Dagegen machten Kinkeln die Besuche des Karlsruher Pfarrers PKtt Freude. Er habe, erzählt Johanna in der Deutschen Monatsschrift, gern mit ihm Kirchenväter und Kirchengeschichte rekapituliert und noch lieber im wannen Gespräche das Christentum da angefaßt, •wo es sozial wird. Auch im Zuchthause zu Naugard versuchte der Anstaltsgeistliche, in dessen Gottesdienst zu gehen Kinkel beharrlich von sich wies, mit Bekehrungsversuchen auf ihn einzudringen;*) Johanna sprach von „Pfaffenattentaten, die ihm seine Schwester übern Hals schickt".*) Kinkel suchte auszuweichen; einmal aber gerieten sie scharf aneinander und Kinkel erklärte ihm, „daß das Bestreben der Pfaffen einzig und allein dahin gerichtet sei, sich . . . die Herrschaft über das Volk anzueignen, und daß er es sich zur Lebensaufgabe gestellt habe, mit allen ihm zu Gebote stehenden Kräften dahin zu wirken, daß dieses Vorhaben nicht erreicht werde." Der Zuchthausdirektor in Naugard, Schnuchel, war fromm und human; er unterhielt sich oft mit Kinkel, auch über religiöse Dinge, aber versuchte nicht, ihm seine Überzeugungen aufzudrängen. In Spandau, wohin man Kinkel Anfangs Mai überführte, wurde er einem ganz besonders eifrigen Bekehrer in der Person des Strafanstaltsdirektors Jeserich ausgeliefert Der führte mit ihm religiöse Gespräche, ließ ihn aus seinen eigenen Predigten vorlesen und versorgte ihn mit erbaulicher Literatur.1) An Johanna, die auch ihm als die Seelenverderberin galt, stellte er die boshafte Zumutung, „daß sie mittels Korrespondenzen noch jetzt auf den kläglichen Seelenzust&nd des Mannes bessernd einwirken möge, und ich tat dies, da sie sich ihres christlichen Glaubens und ihrer besonderen Sittlichkeit rühmte". Johanna hatte ihn aufgesucht, um von M Jos. Joesten, Kulturbilder a. d. Rheinland. 1908. S. 821. ' ) Heinrich von Poschinger, Q. Kinkels Haft in Naugard. 1001. S. 69 ff. *) an Strodtmann. 18. Febr. 1800.