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German Pages [438] Year 2016
© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540497 — ISBN E-Book: 9783647540498
Critical Studies in Religion/ Religionswissenschaft (CSRRW) Herausgegeben von Gregor Ahn, Oliver Freiberger, Jürgen Mohn und Michael Stausberg
Band 2
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Anja Kirsch
Weltanschauung als Erzählkultur Zur Konstruktion von Religion und Sozialismus in Staatsbürgerkundeschulbüchern der DDR
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Mit 29 Abbildungen, 11 Tabellen und 1 Graphik Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-2230 ISBN 978-3-647-54049-8 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen
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Aberglaube Vierblättriges Kleeblatt Lieschen fand’s am Rain. Vor Freude es zu haben Sprang Lieschen übern Graben Und brach ihr bestes Bein. Spinnelein am Morgen Lieschen wurd es heiß. Der Tag bracht keinen Kummer Und abends vor den Schlummer Bracht Vater Himbeereis. Der Storch bringt nicht die Kinder. Die Sieben bringt kein Glück. Und einen Teufel gibt es nicht In unsrer Republik. Bertolt Brecht (1950) im Deutschunterricht der 4. Klasse behandelt
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Inhalt Vorwort und Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 a) Fragestellung, Hypothesen und Aussagehorizont . . . . . . . . . 17 b) Materialkorpus und methodischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . 21 c) Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1 Hinführung: zur religionswissenschaftlichen Kontextualisierung . . . . 30 1.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 a) Standortbestimmung: die DDR-Forschung aus religionswissenschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . 30 b) Von Karl Marx zur realsozialistischen Weltanschauung: Begriffe, Deutungen, Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1.2 Sozialismus als Religion? Debattentheoretische Skizze und Ursachenforschung . . . . . . . . 36 a) Wie entsteht ‚das Religiöse‘ des Sozialismus? . . . . . . . . . . . 41 b) Ideologie oder Religion? Differenzbegriffe, Realdefinitionen und die Frage nach der ‚guten‘ Religion . . . . . . . . . . . . . . 43 c) Weltanschauung in Form und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2 Zur Institutionalisierung der sozialistischen Erinnerungskultur: Entstehung und Entwicklung der Staatsbürgerkunde . . . . . . . . . . . 56 2.1 Historische Entwicklung der Staatsbürgerkunde zum Unterrichtsfach 56 a) Kriegsende und Epochenwende: die Ausgangssituation . . . . . 58 b) Zur Entstehung und Entwicklung der Staatsbürgerkunde in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.2 Produktionsumfeld der Lehrbücher: Bildungssystem, curriculare Verortung der Staatsbürgerkunde und Lehrplanentwicklung . . . . 73 a) Zum DDR-Schulsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 b) Das Staatsbürgerkundelehrbuch als wichtigstes Vermittlungsinstrument der sozialistischen Weltanschauung: curriculare Einbindung, Konzeption und Entwicklung . . . . . 75 c) Die Regulierung des Unterrichts: Lehrpläne und Lehrplanentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Zusammenfassung: Menschenbild und Fachdidaktik und die Rolle der Schulbücher bei der Konstruktion der sozialistischen Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540497 — ISBN E-Book: 9783647540498
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Inhalt
3 Narrative der „Überzeugungsbildung“ – zum narrationsbezogenen Zugang zu den Staatsbürgerkundetexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.1 Die Analyse von Form und Inhalt der sozialistischen Weltanschauung – methodologische und methodische Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 a) Staatsbürgerkunde als narrative Texte . . . . . . . . . . . . . . . 86 b) Zwischen Erzählforschung, Erzähltheorie und Narratologie: zur methodischen Positionierung der Arbeit . . . . . . . . . . . 89 c) Zur Definition von Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 d) Fiktional versus faktual: die Genrefrage . . . . . . . . . . . . . . . 96 e) Der Ort der Untersuchung: die Textoberfläche . . . . . . . . . . 101 3.2 Zur Untersuchung der Form der Weltanschauungen . . . . . . . . . 102 3.2.1 Wer verfasst, wer erzählt, wer liest? . . . . . . . . . . . . . . . 103 a) Der Autor ist nicht der Erzähler! – Grundlegende Differenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 b) Zur Charakterisierung der Erzählinstanz . . . . . . . . . . . . . 106 c) Die Empfänger eines Textes: Leser- und Rezipientenkonzepte . . 107 3.2.2 Wie wird erzählt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 a) Wie vermittelt der Erzähler das, was er erzählen will? – Figurenrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 b) Erzählfrequenz: das Element der Wiederholung . . . . . . . . . . 116 3.3 Mechanismen der Textrezeption: Wie Bedeutung erzeugt wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a) Die Steuerung von Leseraffekten durch Wissensvermittlung und Informationsvergabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 b) Die Bedeutung des Verschwiegenen: Wolfgang Isers Konzept der Leerstelle . . . . . . . . . . . . . . . 128 c) Verstehen und Empfinden: Skripts und Affektlenkung . . . . . 130 3.4 Der Text und sein Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 3.4.1 Textbezüge: Intertextualität, Para- und Epitexte . . . . . . . . . 132 3.4.2 Die sozialistische Erinnerungskultur als Erzählkultur . . . . . 134 a) Die Rolle der Staatsbürgerkunde für die Konstruktion der weltanschaulichen Erinnerungs- und Traditionskultur der DDR . . . . . . . . . . . 134 b) Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses . . . . . . . 136 4 Die Didaktik der Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 a) Sozialistische Überzeugungsbildung im Staatsbürgerkundeunterricht: zur Programmatik des Konzepts . . 140 b) Wirksamkeit durch Parteilichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 c) Wirksamkeit durch Emotion: Literatur im Staatsbürgerkundeunterricht . . . . . . . . . . . . . 146 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540497 — ISBN E-Book: 9783647540498
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5 Von der Philosophie über die Anthropologie zur Biologie: Wie Weltanschauung konzeptualisiert wird . . . . . . . . . . . . . . . . 154 5.1 Die falsche Weltanschauung: Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 a) Das Verschwiegene: Religion als Lücke . . . . . . . . . . . . . . . 155 b) Das Gezeigte: Religion als Aberglaube und der Religionsdiskurs der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Zusammenfassende Analyse: Wissenschaft und Aberglaube als Gattungsbegriffe . . . . . . . . . . . . 169 5.2 Die richtige Weltanschauung: Marxismus-Leninismus . . . . . . . . 172 a) Der narrative Rahmen der sozialistischen Weltanschauung . . . 172 b) Philosophie- als Konfliktgeschichte: von der Theorie zur Religionskritik der Gesellschaft . . . . . . . 177 c) Erziehungsanspruch und Anthropologie: der neue Mensch . . . 189 d) Sozialismus als Bio-Utopie: Arbeitsethik und Unsterblichkeit . . 195 Zusammenfassende Analyse: Zwischen sozialistischer Zeugenschaft und Unsterblichkeitsutopie – die fiktionale Struktur der Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 6 Wie Weltanschauung präsentiert wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 6.1 Weltanschauung als historische Größe und persönliches Erleben – Motive der sozialistischen Weltanschauung in Staatsbürgerkunde 7 205 a) Erinnerungsorte der Geschichtserzählung . . . . . . . . . . . . . 207 b) Sinn und Bedeutung als historische Größen: die Gründungserzählungen von Partei und Staat . . . . . . . . . 211 c) Weltanschauung als Erlebensgröße: die Transformation des Arbeiterhelden . . . . . . . . . . . . . . 223 Zusammenfassende Analyse: Form und Inhalt der sozialistischen Weltanschauung und die Struktur der sozialistischen Erfahrung . . . . 238 6.2 Der Staat und seine Bürger: Das emergente Kollektiv und die Unrückführbarkeit des Einzelnen – Motive der sozialistischen Weltanschauung in Staatsbürgerkunde 8 . . . . . . . . . . . . . . . . 243 a) Zwischen Anthropologie, Recht und Literatur: zu den Verwebungen des Veränderungstopos . . . . . . . . . . . 244 b) Die Rolle des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 c) Kult der Person? – Die Inszenierung Walter Ulbrichts als sozialistischer Heroe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Zusammenfassende Analyse: Die Genres der sozialistischen Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . 267 6.3 Der narrative Zugang zu den marxismustheoretischen Grundlagen: die Freundschaft von Karl Marx und Friedrich Engels – Motive der sozialistischen Weltanschauung in Staatsbürgerkunde 9 . . . . . 270 Zusammenfassende Analyse: Theorie durch Erzählung . . . . . . . . . 281 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540497 — ISBN E-Book: 9783647540498
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6.4 Weltanschauung programmatisch – Staatsbürgerkunde 10 . . . . . . 283 6.4.1 Weltanschauung als Kompass und Orientierungshilfe . . . . . 283 a) Zur Definition von Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . 284 b) Die Bedeutung der Weltanschauung für das kollektive und persönliche Leben . . . . . . . . . . . . . . 288 c) Jeder kann ein Held sein – Wie Weltanschauung vermittelt wird 290 d) Wahrheitsanspruch durch Schriftbezogenheit . . . . . . . . . . . 295 6.4.2 Die Inhalte der sozialistischen Moral . . . . . . . . . . . . . . . 298 6.4.3 Die marxistisch-leninistische Antwort auf die Sinnfrage: vom Romanheld zur Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 6.4.4 Ausblick: Veränderungen im Vermittlungsstil . . . . . . . . . . 321 a) Ungewollte Deutungsräume? – Das subversive Potenzial der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . 323 b) Kommunikationsversuche mit dem Leser . . . . . . . . . . . . . 326 c) Wiederholung als Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 d) Polemischer Geist, die Normierung des Lebenssinns und die Rolle der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 e) Aberglaube versus Weltanschauung – zur Umsetzung der Polemik im Lehrbuch . . . . . . . . . . . . . 337 Zusammenfassende Analyse: Die Übernahme literarischer Strukturen in der Moralvermittlung . . . 343 6.5 Die Rhetorik der Unversöhnlichkeit von Marxismus-Leninismus und Religion – Staatsbürgerkunde 11/12 . . . . . . . . . . . . . . . . 347 a) Metaphorik: Die Überwindung von Religion als Genesung des Kollektivs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 b) Relationale Bestimmung: Marxismus und Religion – Grundzüge der marxistisch-leninistischen Religionskritik . . . 354 c) Stilistik: Radikalisierung des Sprachduktus, satirische Religionskritik und die Natürlichkeit des Atheismus . . . . . . . 369 Zusammenfassende Analyse: Sozialismus und Religion als Gegennarrative . . . . . . . . . . . . . . . 376 7 Wie die Form dem Inhalt Bedeutung verleiht – Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 a) Sozialismus als Erzählung: Form und Inhalt einer Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . 383 b) Weltanschauung und Wiederholung: Zur Einübung des kulturellen Gedächtnisses . . . . . . . . . . . 388 c) Religion und Atheismus in der sozialistischen Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 d) Fazit: Sozialismus und Religionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . 394 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540497 — ISBN E-Book: 9783647540498
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Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 I Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 II Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436
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Vorwort und Danksagung
Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner im Jahr 2013 an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel angenommenen Dissertationsschrift Form und Inhalt der sozialistischen Weltanschauung: Die narrative Konstruktion von Religion und Sozialismus und die sozialistische Erinnerungskultur in Staatsbürgerkundeschulbüchern der DDR. Sooft ich mit ehemaligen DDR-Bürgern, die das Schulsystem aktiv erlebt haben, auf die Vermittlung der Weltanschauung in der Schule zu sprechen kam, stellte sich beim Gegenüber Distanz ein. Vor allem der Staatsbürgerkundeunterricht, offiziell das wichtigste Fach für die weltanschauliche Erziehung, wurde zumeist als langweilig, schematisch, ideologisch überformt erinnert, so dass zunächst wenig dafür zu sprechen scheint, die Staatsbürgerkundetexte zur Quellengrundlage einer religionswissenschaftlichen Untersuchung des Verhältnisses von Religion und Sozialismus zu machen. Für die vorliegende Arbeit waren diese Gespräche als Gegengewicht zur Textkultur Realsozialismus zweifellos wichtig. Persönliche Erinnerung und Textanalyse sind jedoch zwei verschiedene Dinge, welche die vorliegende Arbeit nicht zu vereinen versucht. Im Zentrum steht die sozialistische Weltanschauung in ihrer Literarizität. Die Arbeit konzentriert sich auf den idealtypischen Entwurf dieser Weltanschauung und ihr Verhältnis zu Religion sowie Mechanismen der Bedeutungserzeugung und Plausibilisierung auf der Textebene. Dass die Weltanschauung aus einer persönlichen Erfahrungsdimension von Miterlebenden als nicht wirksam erinnert wird, spielt dafür keine Rolle. Es geht nicht um Wirkung, sondern um Wirksamkeit im Sinn einer textinternen narrativen Größe. Für die Religionswissenschaft, die sich von Berufs wegen mit Erzählkulturen Plausibilisierungsstrukturen sowie speziellen Imaginationsformen beschäftigt, liegt darin ein besonderer Reiz – unabhängig vom Beispielbestand. Dass der vorliegenden Arbeit indes genug Raum gegeben wurde, um diesen Reiz zu entfalten, ist in erster Linie meinem Betreuer, Jürgen Mohn, zu verdanken, der zu jeder Zeit größte Offenheit für alle Entwicklungsrichtungen des Projekts gezeigt hat. Sein theorieorientierter Zugang eröffnete mir zahlreiche Perspektiven, die in der Arbeit zur Anwendung gebracht wurden. Mein Dank gilt ebenso Frank Neubert, der das Zweitgutachten übernommen und die Arbeit mit konstruktiven Hinweisen begleitet und geprägt hat. Mit dem vom Schweizerischen Nationalfonds von 2008 bis 2011 geförderten SNF Pro*Doc Graduiertenprogramm Interferenzen von Religion mit Politik und Wirtschaft im Spiegel ihrer Konstruktionsgeschichten fand die Konsolidierungsphase dieser Arbeit in einem überaus inspirierenden und freundschaftlichen © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540497 — ISBN E-Book: 9783647540498
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Vorwort und Danksagung
Rahmen statt. In den beteiligten Institutionen, den Universitäten Basel, Luzern und Zürich sowie dem Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP), bin ich zahlreichen Kolleginnen und Kollegen, Kommilitoninnen und Kommilitonen für angeregte Diskussionen, religionswissenschaftliche Einsichten und wichtige Hinweise und Hilfestellungen verpflichtet. Mein erster Dank gilt Dirk Johannsen für Kompetenz. Für wertvolle Diskussionen und gute Zeiten danke ich R afaela Eulberg, Stephanie Gripentrog, Adrian Hermann, Lucius Kratzert, Bernhard Lange, Harald Matern, Lucia Stöckli, Lucas Zapf sowie den Modulleitern und Organisatoren von Pro*Doc und ZRWP, Martin Baumann, Jürgen Mohn, Daria Pezzoli-Olgiati, Georg Pfleiderer, und Andreas Tunger-Zanetti. Die im Rahmen des Pro*Doc organisierten Meisterkurse haben mir die Gelegenheit gegeben, Spezialfragen im Kontext meiner Arbeit zu vertiefen. Ich danke besonders Michael Bergunder, Michael von Brück, Edith Franke und Michael Stausberg. Für den Zugang zu den Quellen dieser Arbeit war ich maßgeblich auf die Sammlung des Georg-Eckert-Instituts für Internationale Schulbuchforschung in Braunschweig angewiesen. In insgesamt drei Forschungsaufenthalten in den Jahren 2009, 2010 und 2011 konnte ich meinen aus verschiedenen Quellengattungen bestehenden Materialkorpus sichten, systematisieren und schließlich komplettieren. Dass die Staatsbürgerkundelehrbücher der Jahre 1963 bis 1989 der Klassenstufen 7 bis 12 sowie das didaktische Begleitmaterial (Lehrpläne und Unterrichtshilfen) dort so benutzerfreundlich zur Verfügung gestellt werden, ist der Finanzierung von Bund und Ländern zu verdanken, vor allem aber den Mitarbeitenden des Instituts. Für die kompetente, stets geduldige und freundliche Hilfe bei sämtlichen Fragen rund um Bibliotheks- und Rechercheangelegenheiten danke ich Kirsten Gerdes, Ulrike Hinz und Anette Uphoff, Margrit Canosa zudem für ermunternde Gespräche, Sebastian Klaes für technischen Support. Ich durfte bei allen Aufenthalten im institutseigenen Stipendiatenhaus übernachten. Dafür und für die reibungslose Abwicklung in allen Verwaltungsbelangen möchte ich mich bei Sabine Müller und Horst Werner Müller bedanken. Für die Gewährung des Zugangs zur Datenbank des Medienarchivs Schulunterricht in der DDR, der unter anderem Videodokumentationen von Unterrichtsstunden für Staatsbürgerkunde enthält, welche seit den 1970er Jahren zum Zweck der Lehrerausbildung und Unterrichtsforschung aufgezeichnet wurden, danke ich Henning Schluss. Auch wenn diese Materialien mit Vorsicht zu genießen sind, was die Authentizität einer Unterrichtsstunde betrifft, liefern sie als ergänzende Quellengattung doch einen Einblick in die als idealtypisch präsentierte Unterrichtsführung sowie die Weltanschauungsdidaktik der Staatsbürgerkunde. Mein weiterer Dank gilt allen Beteiligten und Gästen des Basler Forschungskolloquiums Religion, die sich die Zeit genommen haben, die Arbeit in unterschiedlichen Stadien zu kommentieren und ihre Finger in die ein oder andere methodische oder theoretische ‚Wunde‘ zu legen, besonders Stefan-Peter Bum bacher, Sabine Maasen und Hubert Mohr, außerdem Stefan Ragaz, der so freund© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540497 — ISBN E-Book: 9783647540498
Vorwort und Danksagung
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lich war, mir seine ungedruckte Masterarbeit Wissenschaft im Zeichen des Atheis mus. Eine Einführung in die sowjetische Religionsforschung zur Verfügung zu stellen. Ulf Plessentin und Thomas Zenk danke ich für den angeregten Austausch um das Thema Atheismus. Sachdienliche, informierte und instruktive Hinweise zur DDR, ihre marxismustheoretischen und philosophiegeschichtlichen Grundlagen habe ich vor allem von Gustav-Adolf Schoener erhalten. Für die kritische Lektüre einzelner Kapitel bin ich David Atwood, Petra Bleisch Bouzar, Stephanie Gripentrog und vor allem Dirk Johannsen zu Dank verpflichtet. Wanda A lberts hat mir in ihrem Gutachten wertvolle Hinweise gegeben, die ich gern umgesetzt habe. Den Herausgebern danke ich für die Aufnahme des vorliegenden Buches in die Reihe Critical Studies in Religion/Religionswissenschaft. In institutionellen und administrativen Belangen waren mir die Sekretärinnen der Basler Religions wissenschaft, Nicole Saraceno und Franziska Müller-Boss, stets eine große Hilfe. Auch meinem Lektor des Vandenhoeck & Ruprecht Verlags, Moritz Reissing, sei an dieser Stelle für seine Hilfe gedankt. Die freundliche Abdruckgenehmigung des Cornelsen-Verlags hat es möglich gemacht, die Analyse an etlichen Stellen mit Bildmaterial aus den Quellen zu ergänzen. Der Nachwuchsfonds der Universität Basel hat zu dieser Arbeit durch großzügige Beträge in Form diverser Reisekostenzuschüsse beigetragen. Ich bin überzeugt, jemanden vergessen zu haben. Es tut mir leid. Mein abschließender Dank gilt Dirk Johannsen für Teilhabe. Basel, im Oktober 2015
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Anja Kirsch
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Einleitung a) Fragestellung, Hypothesen und Aussagehorizont Folgt man der Aussage des Religionswissenschaftlers Vasilios Makrides, bildet die Annahme, dass Sozialismus und Religion etwas gemeinsam haben, einen disziplinenübergreifenden Konsens innerhalb der Forschung.1 Die aus verschiedenen disziplinären Perspektiven an unterschiedliche Belegbeispiele herangetragenen Begriffe und Deutungen weisen allerdings ein breites Spektrum auf: Sie reichen von Positionen, in der von einer „religiösen Überhöhung“ bestimmter Inhalte2 oder der Übernahme von „familiar patterns of religious thinking“ etwa im sowjetischen Kommunismus3 die Rede ist, über den Vorschlag, politische Religionen „mit einem normativen Verständnis von ‚Ideologie‘ [zu] begreifen“.4 Soziologische Zugänge wie die von „funktionale[n] Religionsäquivalente[n]“5 stehen neben zitathaften Übertragungen, mit denen der Marxismus als „Opium für Intellektuelle“6 1 Makrides bezieht sich in seinem Beitrag nicht nur auf Sozialismus und Kommunismus, sondern auf verschiedene „säkulare Phänomene“ und gelangt zu dem Schluss: „Trotz abweichender Perspektiven bestreitet ohnehin niemand, dass diese Phänomene einen wie auch immer gearteten Bezug zu den traditionellen Religionen aufweisen.“ Vgl. ders. (2012): Jenseits herkömmlicher Religionsformen. Kulte um Personen, säkulare Systeme, politische Religionen. In: Stausberg, Michael (Hg.): Religionswissenschaft. Berlin: de Gruyter, S. 269–281 hier: 270. 2 So beim Zeithistoriker Lutz Niethammer im Hinblick auf die Bedeutung des ‚Kollektivs‘ in der DDR, vgl. ders. (2006): Das Kollektiv. In: Sabrow, Martin (Hg.): Erinnerungsorte der DDR. München: Beck, S. 269–280, hier: 277. 3 Der Historiker Marcin Kula gelangt, nachdem er die „Ähnlichkeiten von Religion und kommunistischer Anti-Religion“ (S. 373) auf struktureller (,Kirche‘, ‚Gemeinschaft‘) und inhaltlicher Ebene (,neuer Mensch‘, ‚heilige Orte‘, oder ‚liturgischer Kalender‘) dekliniert, zu folgender Konklusion: „The communists wanted to abandon religion, and fell right into the same patterns of thinking as a result.“ Vgl. ders. (2005): Communism as Religion. In: Totalitarian Movements and Political Religions (TMPR) Nr. 6, Heft 3, S. 371–381, hier: 380. 4 Behrens, Mathias (1997): ‚Politische Religion‘ – eine Religion? Bemerkungen zum Religionsbegriff. In: Maier, Hans (Hg.): Totalitarismus und Politische Religion. Konzepte des Diktaturenvergleichs Band 2. Paderborn u. a.: Schöningh, S. 249–269, hier: 269. Behrens’ Ausführungen zum Religionsbegriff sind philosophisch orientiert und religionswissenschaftlich problematisch. Mit einem metaphysisch-phänomenologischen Ansatz versteht er Religion als Erlebensund Erfahrungsgröße in der Begegnung mit ‚Gott‘ (vgl. S. 262 f.). Auf der Grundlage einer solchen Begriffsbestimmung kann das Urteil nur lauten, dass politische Religionen dem „Wesen von Religion“ nicht entsprächen, weil „die Hinordnung auf Gott fehlt“, was sie zu „Ersatzreligion, Pseudoreligion, Antireligion“ mache, vgl. ebd., S. 265. 5 Makrides (2012): Jenseits herkömmlicher Religionsformen, S. 279. 6 So die deutsche Übersetzung des von Raymond Aron 1955 publizierten Buches L’opium des intellectuels (dt.: Opium für Intellektuelle oder Die Sucht nach Weltanschauung. Köln u. a.: Kiepenheuer & Witsch 1957.) Aron bezog sich seinerzeit auf die Marxismus-Rezeption französischer Intellektueller.
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Einleitung
gedeutet wird, rezeptionsorientierte Ansätze fragen, ob „im Prozeß der Indoktrination Teile dieser Weltanschauung [des Marxismus-Leninismus] erfolgreich in das Bewußtsein der Menschen diffundiert“ seien.7 Was Hans Maier einst als rhetorische Frage formulierte: „Darf man das überhaupt? […] Wird hier nicht die Religion in eine zweifelhafte Sphäre, in einen Bereich der Zweideutigkeiten und Ambivalenzen hineingezogen?“8, mündete an anderer Stelle in Bewertungen des DDR-Sozialismus als „pervertierte[s] protestantische[s] Säkularisat“9 oder Assoziationen von „totalitären Ideologien und Kultpraktiken“ mit „Kaffeersatz“10. Zwar fallen nicht alle Urteile so eindeutig aus, dass sie die grundsätzliche Frage aufwerfen, weshalb der Religionsbegriff in diesem Zusammenhang überhaupt verwendet wird. Das evaluative Interesse der überwiegenden Zahl der Analysen macht jedoch sichtbar, dass es sich weniger um eine rein terminologisch motivierte Diskussion zwecks sachgemäßer Beschreibung des Sozialismus und mehr um eine normative Auseinandersetzung darüber handelt, was Religion ist bzw. nicht ist. Die Verwendung bestimmter Termini – vor allem „Ideologie“, „politische Religion“, aber auch „Weltanschauung“ – weist in diese Richtung. Für die vorliegende Arbeit wird der Weltanschauungsbegriff dieser Debatte zum systematischen Kristallisationspunkt, um im Sinn der Ursachenforschung der Frage nachzugehen: Wie kommt es, dass Sozialismus in der akademischen Sekundärliteratur scheinbar selbstverständlich, ohne dass dies einer weiteren Begründung bedarf in den Kontext des Religiösen gerückt wird? Begriffsverwendungen und Konzepte von Weltanschauung sowie die Struktur ihrer Vermittlung werden im Rahmen des Unterrichtsfaches Staatsbürgerkunde der DDR untersucht. Hier wurde nicht nur institutionalisiertes Wissen über Weltanschauung vermittelt, sondern der Sozialismus grundlegend als Weltanschauung entworfen. 7 So der Politikwissenschaftler und DDR-Forscher Johannes Kuppe (1995): Zur Funktion des Marxismus-Leninismus. In: Materialien der Enquête-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages) Band III/1–3: Rolle und Bedeutung der Ideologie, integrativer Faktoren und disziplinierender Praktiken in Staat und Gesellschaft der DDR Band 2, hg. vom Deutschen Bundestag. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, S. 1370–1400, hier: 1371. 8 Maier, Hans (1997): ‚Politische Religion‘ – Möglichkeiten und Grenzen eines Begriffs. In: des. (Hg.): Totalitarismus und Politische Religion Band 2, S. 299–310, hier: 306. 9 So die aus theologischer Sicht vorgenommene Beurteilung Erhard Neuberts (1995): „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Protestantische Wurzeln widerständigen Verhaltens. In: Poppe, Ulrike u. a. (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR. Berlin: Chr. Links, 1. Auflage, S. 224–241, hier 230 f. 10 Der Politikwissenschaftler Hans Buchheim schlägt den Begriff Religionsersatz mit der Begründung vor: „Auch eine Ersatzreligion ist eine Religion, so wie ein Ersatzheer ein Heer ist. Dagegen ist Religionsersatz so wenig eine Religion wie Zichorie, also Kaffeeersatz, Kaffee ist.“ Buchheim versteht diese Assoziation als Vergleich, den er im Rückgriff auf Hegel als „philo sophisch geadelt“ sieht. Ders. (1996): Despotie, Ersatzreligion, Religionsersatz. In: Maier, Hans (Hg.): Totalitarismus und Politische Religion. Konzepte des Diktaturenvergleichs. Paderborn u. a.: Schöningh, S. 260–263, hier: 262.
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Fragestellung, Hypothesen und Aussagehorizont
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Im offiziellen politischen Verständnis galt die Staatsbürgerkunde deshalb als der Ort einer systematischen Unterweisung in der „wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus“, weshalb sie offiziell auch als „Kernfach“ der „ideologischen Erziehung“ firmierte.11 Als Vermittlungsinstrumente der „sozialistischen Weltanschauung und Moral“ nahmen die Lehrbücher eine zentrale Rolle ein. Die Lehrtexte liefern nicht nur einen Einblick darein, was die sozialistische Weltanschauung ausmachen sollte, wie sie also spezifisch inhaltlich gefüllt wurde, und welche Rolle Religion dabei einnahm, sondern auch darüber, wie die Verantwortlichen glaubten, dass die „sozialistische Überzeugungsbildung“ – so der Terminus technicus – funktioniert. Religion und Marxismus-Leninismus wurden nicht nur theoretisch und philosophiegeschichtlich unterschiedlich begründet, sondern auch sehr verschieden plausibilisiert. Dieser Beobachtung geht ein bestimmter Befund voraus: Beim Blick in den gesamten Schulbuchkorpus der DDR fällt auf, dass es ausschließlich die der systematischen politischen und weltanschaulichen Erziehung dienenden Lehrbücher für Staatsbürgerkunde waren, die sich durch die Kombination von Sachtext und erzählenden Textanteilen als besonderer Vermittlungstechnik auszeichneten.12 Der argumentative Einsatz von Literatur, Beispielgeschichten aus Figurenperspektive, literarische Zitate sowie eine bestimmte Rhetorik, kurz: die fiktionale Struktur der sozialistischen Weltanschauung, sollte als wesentliches Plausibilisierungsinstrument in der Erziehung des Staatsbürgers dienen. Im Zentrum der Arbeit stehen die beiden Weltanschauungen im Schulbuch. Mit Hilfe der Inhaltsanalyse wird zunächst der Frage nachgegangen, was die Lehrbücher unter Religion und Marxismus-Leninismus präsentieren, und wie die beiden Begriffe inhaltlich gefüllt werden. Ergänzung findet die inhalts bezogene Darstellung auf der syntaktischen Ebene, wo mittels eines narrationsbezogenen und wirkungstheoretischen Instrumentariums die Art und Weise der erzählenden Vermittlung sowie ihre Funktion für die Gesamtargumentation der Schulbücher in den Blick genommen wird. Die Frage lautet hier: Welche Geschichten wurden erzählt, um Weltanschauung zu plausibilisieren? Die Gesamtzielsetzung des Unterrichts: sozialistisch zu denken, zu handeln und vor allem zu fühlen, wurde über den Einsatz von fiktionalen Textanteilen – im engeren Sinn Literatur – umzusetzen versucht. Es ist diese hybride Textstruktur der Lehrbücher, die die Staatsbürgerkunde als im engeren Sinn narrative Texte ausweist, die einer eigenen Analysemethode bedürfen. Über den eigentlichen Textkorpus 11 Behrmann, Günter C. (1999): Die Einübung ideologischer und moralischer Sprechakte durch „Stabü“. Zur Pragmatik politischer Erziehung im Schulunterricht der DDR. In: Leschinsky, Achim/Gruner, Petra/Kluchert, Gerhard (Hg.): Die Schule als moralische Anstalt. Erziehung in der Schule. Allgemeines und der „Fall DDR“. Weinheim: Deutscher Studienverlag, S. 149–182, hier: 150. Zu den Begriffen und Wendungen „Weltanschauung“, „Kernfach“ und „ideologische Erziehung“ vgl. auch Kapitel 1.2 b) sowie Kapitel 4. 12 Für den empirischen Befund vgl. ausführlich den Beginn von Kapitel 5.2.
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Einleitung
hinausgehend bildet die Staatsbürgerkunde auf der Ebene der Rezeption das Prisma, durch das der wissenschaftliche Umgang mit dem Religionsbegriff im Kontext von Sozialismus und Kommunismus kritisch evaluiert wird. Mit der Anbindung an die wissenschaftliche Rezeption von Kommunismus und Sozialismus werden die Ergebnisse somit debattentheoretisch kontextualisiert, die Rezeptionsanalyse erweitert den Aussagehorizont um den der Debatte zugrunde liegenden Religionsdiskurs. Analog der drei Untersuchungsebenen verfolgt die vorliegende Arbeit drei Ziele: Die historische Klärung des Umgangs mit Religion und Marxismus-Leninismus, die erstens einen religionsgeschichtlichen Beitrag zum Verhältnis von Realsozialismus und Religion leistet. Auf der methodischen Ebene trägt die Analyse zweitens dazu bei, das Potenzial narrationsbezogener Ansätze für die religionswissenschaftliche Forschung zu evaluieren. Der ursprünglich für die Analyse moderner fiktionaler Texte entwickelte Methodenapparat wurde in der letzten Zeit verstärkt in den Theorie- und Methodenhaushalt der Kulturwissenschaften eingespeist. Die Narratologie als Metawissenschaft verspricht ein kulturund epochenunabhängiges, an Strukturen orientiertes Instrumentarium, das zur Entwicklung eines formalen Begriffsrasters beiträgt. Als eine potenziell vergleichende Wissenschaft von (Erzähl-)Strukturen kann die Narratologie gegenstandsunabhängig und disziplinübergreifend für komparative Analysen fruchtbar gemacht werden. Die Untersuchung von Narrativen in Tradierungsprozessen und textinternen Tradierungsfunktionen von Weltanschauung ist an die Erforschung religiöser Sozialisationsprozesse problemlos anschlussfähig. Die Tatsache, dass die klassische Narratologie Strukturen und nicht Inhalte in den Blick nimmt, ist für die Entwicklung allgemeiner Analysekriterien vielversprechend, womit sie für den Methodenapparat einer potenziell vergleichend arbeitenden Disziplin wie die Religionswissenschaft besonders interessant wird. Auf der theoretischen Ebene knüpft die Fallstudie drittens an Debatten um den Religionsbegriff an. Die bislang überwiegend außerhalb der Religionswissen schaft geführte wissenschaftliche Rezeption von Kommunismus und Sozialismus lässt Reflexionen des Religionsbegriffs für gewöhnlich unberücksichtigt. Aus religionswissenschaftlicher Perspektive sind die meisten der bislang entstandenen Studien aber terminologisch und konzeptuell problematisch, weil die an die Fallbeispiele herangetragenen Begriffe zur Klassifizierung die systematische Begriffsreflexion vermissen lassen. Stattdessen sind sie mit Religionsverständnissen verbunden, die häufig auf persönlichen Vorstellungen von und Einstellungen zu Religion aufbauen, was ihren analytischen Wert allerdings infrage stellt. Die der Fallstudie vorausgehende Rezeptionsanalyse liefert das Material, um einige der Zugänge, Fragestellungen und Konzepte zu hinterfragen und so einen Impuls für weiterführende Forschungen auch in kulturübergreifend vergleichender Perspektive zu liefern. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540497 — ISBN E-Book: 9783647540498
Materialkorpus und methodischer Ansatz
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b) Materialkorpus und methodischer Ansatz Der Untersuchung liegt die Analyse von drei Quellengattungen zugrunde, die im Wesentlichen auf Archivarbeit basiert und religionswissenschaftlich bislang unerschlossenes Material zugänglich macht. Im Zentrum stehen die Lehrbücher für Staatsbürgerkunde der Klassen 7 bis 12 im Zeitraum von 1963 bis 1989, in dem die Staatsbürgerkunde als reguläres Unterrichtsfach einen festen Bestandteil des Curriculums mit eigenem Lehrbuchkorpus bildete. Die Schulbücher bilden die für die „Überzeugungsbildung“ zentralen Instrumente, denen besondere „Wirkungspotenzen“ in der „weltanschaulichen Erziehung“ zugeschrieben wurden.13 Ergänzung findet die Lehrbuchanalyse in der Untersuchung des Begleitmaterials. Für die Frage nach der Konzeptualisierung und didaktischen Präsentation werden die für jede Klassenstufe existierenden Lehrpläne und Unterrichtshilfen einbezogen. Da die vorliegende Arbeit jedoch keiner erziehungswissenschaftlichen Fragestellung nachgeht, interessieren diese Quellen nur, insofern sie etwas über die Vermittlungsstrategien in Bezug auf Religion und Marxismus-Leninismus aussagen. Zusätzlich zur Archivarbeit wird als drittes die intertextuelle Verweisstruktur der Lehrbücher in den Blick genommen, womit die Analyse Text-Kontext-Rela tionen Rechnung trägt. Sowohl die auf die Entstehungsbedingungen einwirken den, allgemeinen historischen Umstände als auch die Beziehungen zwischen Texten bilden das Bezugsgeflecht, in dem sich die Lehrbuchtexte bewegen. Abgesehen von paratextlichen Elementen wie Format, Reihe, Umschlag oder Zubehör14, die den Text als Schulbuch ausweisen und damit bestimmte Faktualitätssignale senden, zeichnet sich die Intertextualität der Staatsbürgerkundelehrbücher im Gegensatz zu anderen Unterrichtsfächern – dies ergab ein Abgleich mit den benachbarten Fächern Deutsch, Geschichte und Geografie – durch verschiedene Redeformen aus. Regelmäßig werden in den Lehrtext andere Textsorten und -gattungen, zum Beispiel in Form von (Zeit-)Zeugenberichten aus Figurenperspektive, Aussprüchen von Karl Marx, Literaturzitaten oder Zeitungsartikeln integriert. Literatur spielte für diesen Bezugsrahmen eine herausgehobene Rolle. In der methodischen und didaktischen Konzeption wurde ihr denn auch eine besondere Qualität als Medium der weltanschaulichen Erziehung zugeschrieben: Erst in der Literatur ließ sich die sozialistische Weltanschauung narrativ konkretisieren und damit emotional ‚wirksam‘ inszenieren. Indem Weltanschauung und Weltanschauungsdidaktik in einen ästhetischen Kontext gerückt wurden, bildeten sie ein unbedingt intertextuelles Unterfangen. Dies allein 13 Vgl. Baumann, Manfred (1964): Schulbuchgestaltung in der DDR. Berlin: Volk und Wissen, S. 10 f. sowie 17. 14 Vgl. dazu Genette, Gérard (2001): Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt: Suhrkamp, S. 22–40.
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Einleitung
erklärt die Rolle der Literatur im politischen Unterricht jedoch noch nicht hinreichend. Vielmehr stand die Staatsbürgerkunde in einem historischen Zusammenhang, in dem eine sozialistische Traditions- und Erinnerungskultur, in die der Einzelne hineinsozialisiert werden konnte, erst erfunden werden musste. Der Literatur als „Erinnerungsgattung“ (Astrid Erll) und eigenständiger symbolischer Form wurde in diesem Prozess eine zentrale Rolle als spezifischer Erziehungsfaktor zugeschrieben. Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, inwiefern die auch als erzählendes Medium konzipierte Staatsbürgerkunde eine wichtige Funktion für die Konstruktion dieser Erinnerungskultur einnahm. Die Quellengattungen eröffnen drei Untersuchungsebenen: Die Lehrbuch analyse konzentriert sich auf die Inhalte von Weltanschauung sowie deren narrative Struktur. Mit dem didaktischen Begleitmaterial wird die Analyse um die Ebene der methodischen Konzeption und Implementierung ergänzt. Die Untersuchung der intertextuellen Verweisstruktur dient dazu, die narrative Form der Weltanschauung sichtbar zu machen und die in der fiktionalen Struktur liegenden Wirkungspotenzen herauszuarbeiten. Dies geschieht über eine narratologische Tiefenanalyse.15 Die narrationsbezogene Analyse der Lehrbuchtexte verspricht Aussagen über die narrative Struktur der „Überzeugungsbildung“; im Zentrum stehen Erzähltechniken und ihre Bedeutung für die Konzeptualisierung der „wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus“ auf der Textebene. Zusätzlich werden die Textmaterialien dort, wo es zum Verständnis notwendig ist, um eine historische Kontextanalyse ergänzt. Dieser methodische Ansatz bildet einen Kompromiss für eine Untersuchung, die sich zwischen der thematisch-überblicksmäßigen Inhaltsanalyse (dem Was einer Darstellung) sowie dem Blick auf Gestaltungsformen (dem Wie) bewegt. Für die Einschätzung des Quellenwertes dieses Materialkorpus sind verschiedene Faktoren relevant, wenngleich das Genre einen besonderen Einflussfaktor darstellt. Lehrbücher bilden stets normative Vorstellungen und politisch legitimierte Erziehungsansprüche ab. Jede Umsetzung bestimmter Inhalte in entsprechenden Vermittlungsmedien wie Schulbüchern repräsentiert insofern einen Herrschaftsdiskurs. Im Fall der Staatsbürgerkunde stand die Erziehung zum Sozialisten im Vordergrund, einem Menschen, der nicht nur äußerlich nach den gewünschten Maßstäben handelt, sondern auch sozialistisch denkt und vor allem fühlt.16 Mit ihrem Entwurf des sozialistischen Staatsbürgers und dessen Weltanschauung repräsentieren und konzeptualisieren die Lehrbücher den offiziellen staatlichen Erziehungsanspruch. Die Analyse wird zeigen, wie diese Ideal 15 Vgl. dazu ausführlich Kapitel 3. 16 Vgl. den Lehrplan Staatsbürgerkunde. Klassen 7 bis 10, hg. vom Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Abteilung Ministerium für Volksbildung. Volk und Wissen: Berlin 1983, S. 5, in dem zur Erziehung zum Sozialisten gleichermaßen Aspekte des „Denken[s], Fühlen[s] und Handeln[s]“ einbezogen werden.
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vorstellungen als politisches Programm in den Schulbüchern umgesetzt wurden. Die Bücher selbst liefern jedoch weder Informationen darüber, wie mit ihnen im Unterricht umgegangen worden ist17, noch geht aus ihnen hervor, ob und inwiefern die staatsbürgerkundlichen Inhalte rezipiert bzw. ‚verinnerlicht‘ wurden. Vom Schulbuchtext wird daher an keiner Stelle der vorliegenden Studie auf die Verankerung des Wissens in der Bevölkerung geschlossen. Wie Unterricht individuell erinnert und sprachlich dargestellt oder erzählt wird, wie er gewirkt haben mag, fällt in den Bereich der empirischen Leserforschung bzw. das Gebiet der Oral History.18 Diese kann die im Einzelnen komplexen Motivlagen ehemaliger Schüler herausarbeiten und sie in Zusammenhang mit der Problematik des „Reden[s] und Handeln[s] im öffentlichen Raum (etwa der Schule) unter den Bedingungen der Diktatur“19 zu deuten bemüht sein. Aber auch dort bleibt ein Interpretationsraum übrig, der nicht abschließend beleuchtet werden kann.20 Anstelle einer empirischen Überprüfung der intendierten „Überzeugungs bildung“ knüpft die Arbeit an wirkungstheoretische Fragen an, die ausschließlich auf der Ebene des Textes verbleiben und dort nach Textfunktionen zur Spannungserzeugung oder der emotionalen Beteiligung des intendierten Adressaten fragen. Diese bilden Wirkungspotenziale, gleichsam fachmethodische Intentionen, die auf der Textoberfläche sichtbar sind. Aus ihnen lassen sich Seinsund Sollensprinzipien des sozialistischen Menschen herausarbeiten und das den Lehrmitteln unterlegte erzieherisch-weltanschauliche Ideal ableiten, nicht mehr und nicht weniger. Mit der methodischen Entscheidung weitgehend beim Text zu verbleiben, bildet die Arbeit eine „Produktanalyse“21 des idealtypischen Entwurfs der sozialistischen Weltanschauung, wie er im Lehrtext Formulierung fand. Wieviel die Schüler tatsächlich in den Lehrbüchern gelesen haben, ist nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung, wenngleich empirische Befunde darauf hindeuten, dass die Lektüre sich auf das Nötigste beschränkte, zumal es sich bei der Staatsbürgerkunde um ein unbeliebtes Unterrichtsfach handelte. Dies ändert allerdings nichts daran, dass sie als das Schlüsselfach der weltanschaulichen Vermittlung konzipiert wurde. Mit der Auswahl des Materialkorpus und der an dieses herangetragenen Fragestellung nach dem Verhältnis der Weltanschauungen Marxismus-Leninismus und 17 Zur Bedeutung des Lehrbuchs im Unterricht vgl. ausführlich Kapitel 4. 18 Beispielhaft: Bauer, Babett (2006): Kontrolle und Repression. Individuelle Erfahrungen in der DDR 1971–1989. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht. Zur Staatsbürgerkunde besonders S. 116–119. 19 Demke, Elena (2007): Indoktrination als Code der SED-Diktatur. In: Schluss, Henning (Hg.): Indoktrination und Erziehung. Aspekte der Rückseite der Pädagogik. Wiesbaden: VS, S. 35–47, hier: 38. 20 Vgl. Demke (2007): Indoktrination als Code, S. 39. 21 Nadine Dablé verwendet den Begriff im Zusammenhang mit ihrer Medienanalyse, vgl. dies. (2012): Leerstellen transmedial. Auslassungsphänomene als narrative Strategie in Film und Fernsehen. Bielefeld: transcript, S. 26.
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Religion sowie ihrer narrationsbezogenen Analyse wird in verschiedener Hinsicht religionswissenschaftliches Neuland betreten. Allerdings profitiert die Arbeit von bereits in anderen Disziplinen geleisteter Forschung, etwa was das Unterrichtsfach Staatsbürgerkunde betrifft, das bislang hauptsächlich Thema von Politik- und Erziehungswissenschaft war.22 Schwerpunkte bilden dort die historische Entwicklung des Unterrichtsfaches23, der „ideologische“ Gehalt der Erziehung24 oder die didaktische und methodische Konzeption der Staatsbürgerkunde25. Aus totalitarismustheoretischer Perspektive sind vergleichende Untersuchungen hinzugekommen26, die seit 1991 von der Frage nach politischen „Transformationsprozessen“27 ergänzt, konzeptuell aber auch scharf kritisiert werden28. 22 Eine der wenigen Arbeiten aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive zu Sozialismus bzw. Marxismus-Leninismus und Schule bildet die Studie des französischen Historikers Emmanuel Droit zur Erziehungspraxis an Ostberliner Schulen: Ders. (2009): Vers un homme nouveau? L’éducation socialiste en RDA (1949–1989). Rennes: Presses universitaires du Rennes. 23 Als eine der besten Überblicksdarstellungen bis Anfang der 1970er Jahre gilt immer noch die Arbeit des Politikwissenschaftlers Karl Schmitt (1980): Politische Erziehung in der DDR. Ziele, Methoden und Ergebnisse des politischen Unterrichts an den allgemeinbildenden Schulen der DDR. Paderborn u. a.: Schöningh (zugl. Univ.-Diss. Freiburg/Br. 1977). 24 Beispielhaft: Bunke, Florian (2005): „Wir lernen und lehren im Geiste Lenins…“ Ziele, Methoden und Wirksamkeit der politisch-ideologischen Erziehung in den Schulen der DDR. Oldenburg: BIS; Knopke, Lars (2011): Schulbücher als Herrschaftsinstrumente der SED. Wiesbaden: VS Verlag; ders. (2007): Kinder im Visier der SED. Eine Untersuchung zur marxistischleninistischen Ideologisierung von Kindern und Jugendlichen im DDR-Schulwesen und darüber hinaus. Hamburg: Verlag Dr. Kovac. Einen Schwerpunkt bildet die Untersuchung der politischen Sprache. 25 Vgl. Haase, Annemarie (1977): Staatsbürgerkunde in der DDR. Etappen der Entwicklung des Faches und Ansätze der Theoriebildung für Unterrichtsplanung und -gestaltung im Zeitraum von 1945–1970. Inauguraldissertation Aachen. 26 Einen Schwerpunkt bildet der Vergleich von Nationalsozialismus und Sozialismus, vgl. Dengel, Sabine (2005): Untertan, Volksgenossen, sozialistische Persönlichkeit. Politische Erziehung im Deutschen Kaiserreich, dem NS-Staat und der DDR. Frankfurt/Main: Campus; Jarmuła, Cecylia (2009): Die Indoktrination durch Sprache am Beispiel der Lehrwerke der Nazi- und der DDR-Zeit. Dresden/Wrocław: Neiße. 27 Vgl. Biskupek, Sigrid (2002): Transformationsprozesse in der politischen Bildung. Von der Staatsbürgerkunde in der DDR zum Politikunterricht in den neuen Ländern. Schwalbach: Wochenschau-Verlag; erziehungswissenschaftlich: Scholtijs, Sigrid (1995): Der Umbruch im Geschichtsunterricht und in der Staatsbürgerkunde der ehemaligen DDR. Von der marxistischleninistischen Ideologie zur historischen und politischen Bildung. [Diss. Aachen]; Wenzlaff, Jana (1998): Die Stabilität der politischen Sprache im Transformationsprozess beider deutscher Staaten – dargestellt an Schulbüchern zur politischen Bildung. Ein Beitrag zur Bildungsreform in den alten und neuen Bundesländern. Frankfurt/Main: Haag + Herchen. 28 Paul Walter kritisiert den normativen Gehalt des Begriffes der Transformationsforschung, dem eine Gleichsetzung von Indoktrination und unterrichtlichem Handeln in der DDR zugrunde liege, was die differenzierende Untersuchung der DDR-Pädagogik verunmögliche. Vgl. ders. (2013): Gibt es eine Sprache der Indoktrination? In: Schluss, Henning/Jehle, Merle (2013): Videodokumentation von Unterricht. Zugänge zu einer neuen Quellengattung der Unterrichtsforschung. Wiesbaden: VS, S. 107–121.
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Entsprechende Abschnitte in Handbüchern zur politischen Bildung29 sowie wertvolle Material- und Dokumentenbände ergänzen den Forschungsstand zur Staatsbürgerkunde der DDR.30 Auffällig ist, dass keine dieser Studien den Marxismus-Leninismus ins Zentrum stellt. Zwar behandeln etliche Untersuchungen Aspekte der Weltanschauung, eine systematische Analyse aber, die der Frage nachgehen würde, wie genau die Weltanschauung des Marxismus-Leninismus im Rahmen der Staatsbürgerkunde inhaltlich gefüllt, präsentiert und ‚vermittelt‘ wird, bildet bislang ein Desiderat der Forschung. Ähnlich verhält es sich mit der Untersuchung von Religion: In den bereits geleisteten Arbeiten findet diese als empirisch gegebener Gegenstand der Schulbücher keine Beachtung, womit auch eine Verhältnisbestimmung beider Weltanschauungen – dem Marxismus-Leninismus als materialistischer, der Religion als idealistischer – unterbleibt. Den bislang einzigen Beitrag zum Feld Religion und Staatsbürgerkunde liefert der Artikel des Politikwissenschaftlers Bernhard Sutor, der mit der Fragestellung nach einem etwaigen „Religionsbezug“ der Staatsbürgerkunde allerdings die empirische Ebene verlässt und stattdessen in die Debatte um die Rezeption des Sozialismus eintritt.31 Dass bislang noch keine religionswissenschaftliche Studie zur weltanschaulichen Erziehung oder Weltanschauungsdidaktik existiert, liegt zum einen daran, dass Weltanschauung als Thema der Religionswissenschaft erst in letzter Zeit
29 Diese sind mitunter deutlich asymmetrisch angelegt, wie das Handbuch von Joachim Detjen verdeutlicht. Vgl. ders. (2007): Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart in Deutschland. München: Oldenbourg. Während der Entwicklung der politischen Bildung in der Schule der Bundesrepublik 100 Seiten gewidmet werden, fasst der Autor die Entwicklung der DDR auf knapp zehn Seiten zusammen. 30 Schneider, Ilona Katharina (1995): Weltanschauliche Erziehung in der DDR. Normen – Praxis – Opposition. Eine kommentierte Dokumentation. Opladen: Leske und Budrich. Der Materialband enthält jedoch wenig zur Staatsbürgerkunde. Sehr wertvoll hingegen: Grammes, Tilman/Schluss, Henning/Vogler, Hans-Joachim (2006): Staatsbürgerkunde in der DDR. Ein Dokumentenband. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; dort auch weiterführende Literatur zum Forschungsstand, S. 223 f. Noch umfassender und in das gesamte Bildungssystem eingebettet ist die mehrbändige, vom Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg herausgegebene Reihe zur Geschichte, Struktur und Funktionsweise der DDR-Volksbildung: Band I: Schule: Streng vertraulich! Die Volksbildung der DDR in Dokumenten. Band II: In Linie angetreten. Die Volksbildung der DDR in ausgewählten Kapiteln. Band III: Freundschaft! Die Volksbildung der DDR in ausgewählten Kapiteln. Band IV: Ein weisung nach Torgau. Texte und Dokumente zur autoritären Jugendfürsorge in der DDR. Alle Berlin: Basis-Druck 1996 (Bd. 1–3); 1997 (Band 4). 31 Dessen negative Beurteilung der Staatsbürgerkunde ist zwar für die Debatte um Sozia lismus und Religionsbegriff typisch und insofern als Belegbeispiel einer normativ geführten „als Religion“-Debatte zu verstehen, vgl. Sutor, Bernhard (1996): „Politische Katechese“. Zur Per version politischer Bildung in der Staatsbürgerkunde der DDR. In: Stammen, Theo u. a. (Hg.): Politik – Bildung – Religion. Hans Maier zum 65. Geburtstag. Paderborn/Zürich: Ferdinand Schöningh, S. 533–544.
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mehr Beachtung findet32, wenngleich auch hier erhebliche terminologische Unklarheit besteht.33 Versuche, den Begriff als analytische Oberkategorie zu etablie ren, wie dies seinerzeit Ninian Smart vorgeschlagen hatte, waren bislang nicht erfolgreich. Zum anderen hat sich eine breite Schulbuchforschung als eigener Zweig der Religionswissenschaft, zumindest was den deutschsprachigen Raum betrifft, erst im letzten Jahrzehnt entwickelt. Obwohl Udo Tworuschka bereits in den 1980ern in einem Großprojekt den Islam in deutschen Schulbüchern untersucht hatte34 und damit ein grundsätzlich neues Feld religionswissenschaftlicher Forschung beschritt, dauerte es fast zwanzig Jahre, bis mit der von Wanda Alberts verfassten Studie Integrative Religious Education in Europe (2007)35 auch eine über die klassische Schulbuchforschung hinausgehende, fachdidaktische Untersuchung des teaching about-Ansatzes vorlag.36 Inzwischen sind etliche weitere Arbeiten erschienen, die das Spektrum der religionswissenschaftlichen Schul- und Unterrichtsforschung aufzeigen.37 Neben Fragen nach der Gestaltung 32 Auf der Tagung der European Association for the Study of Religions im Jahr 2012 in Stockholm wurde „Weltanschauung“ im Rahmen empirischer Fragestellungen (Exploring subjective worldviews with the Faith Q-Sort; Chair: Mika Lassander) sowie in Bezug auf die „Weltanschauung“ des norwegischen Attentäters Anders B. Breivig thematisiert. Auf der DVRWTagung 2013 in Göttingen war das von Johannes Quack geleitete Tripel-Panel Die Vielfalt der Nichtreligion: Säkulare Lebensentwürfe und Weltanschauungen prominent vertreten. 33 Rein historisch erlangte der Begriff durch seine juristische Verankerung im ausgehenden 19. und vor allem Anfang des 20. Jahrhunderts seine Bedeutung als Äquivalenzbegriff für sich dezidiert von Religion abgrenzende Gemeinschaften und wurde damit real- und religionspolitisch relevant. Vgl. Neef, Katharina (2012): Das deutsche Religions- und Vereinsrecht um 1900 und einige daraus resultierende Konflikte im Umgang mit neuen Religionen. In: Religion – Staat – Gesellschaft. Zeitschrift für Glaubensformen und Weltanschauungen. Jg. 13, Heft 1. Berlin: Duncker & Humblot, S. 107–132. 34 Der Islam in den Schulbüchern der Bundesrepublik Deutschland, hg. von Abdoljjavad Falaturi, 7 Bände 1986–1990. 35 Alberts, Wanda (2007): Integrative Religious Education in Europe. A Study-of-Religionsapproach. Berlin: de Gruyter; zusammenfassend: Dies. (2008):
Religionswissenschaftliche Fachdidaktik in europäischer Perspektive. In: ZfR. Heft 08/1, Seite 1–14. 36 Zwischenzeitlich erschienene kleinere Studien wie die Magisterarbeit von Sebastian Murken beschränken sich häufig eher auf die Darstellungsebene, vgl. ders. (1988): Gandhi und die Kuh. Die Darstellung des Hinduismus in deutschen Schulbüchern. Eine kritische Analyse. Marburg: diagonal Verlag; Jödicke, Ansgar (1997): Das Islambild in den Schulbüchern der Schweiz. Zürich: Pano. 37 Zur Unterrichtsforschung: Frank, Katharina (2010): Schulischer Religionsunterricht. Eine religionswissenschaftlich-soziologische Perspektive. Stuttgart: Kohlhammer; zur Schulbuchanalyse im buddhistischen Kontext vgl. Fischer, Silke (2011): Erzähltradierung als Interpretationsprozess. Eine diachrone Analyse zweier staatlicher Buddhismus-Religionsbücher aus Sri Lanka. Wiesbaden: Harrassowitz. Die Arbeit ist nicht narratologisch, sondern inhaltsanalytisch-textvergleichend ausgerichtet, vgl. ebd. S. 6 f. Der Sammelband Textbook Gods hat einen Schwerpunkt in der Schulbuchanalyse und liefert einen Überblick über Religion in Schulbüchern verschiedener europäischer Länder sowie Japan und dem Québec: Andreassen, Bengt-ove/ Lewis, James R. (2014): Textbook Gods. Genre, Text and Teaching Religious Studies. London: Equinox.
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Materialkorpus und methodischer Ansatz
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des konfessionellen bzw. religiösen Religionsunterrichts ist mit der jüngst in der Schweiz gegründeten, elektronischen, bilingualen Zeitschrift für Religionskunde/ Revue de didactique des sciences des religions (ZFRK/RDSR) ein erstes eigenes Organ erschienen, das sich dem religionskundlichen Ansatz sowohl auf der Ebene von Forschung als auch Didaktik und Unterrichtspraxis widmet. Gerade durch das Einbeziehen des letzten Aspektes, der Produktion von Anwendungswissen für den Unterricht, wird die Religionswissenschaft nachhaltig als Bezugsdisziplin des Religionskunde-Unterrichts gestärkt.38 Obwohl in diesem Bereich in den letzten Jahren viel geleistet wurde, steht die religionswissenschaftliche Forschung zum einen methodisch noch am Anfang; der grundsätzlichen Frage, nach welchen Kriterien aus religionswissenschaftlicher Perspektive Schulbücher untersucht werden, ist noch nicht systematisch nachgegangen worden.39 Auch der dezidiert als Alternative zum Unterrichtsfach Religion konzipierten Fächer und ihrer Inhalte, die abgesehen von religionskundlichen Informationen philosophische und ethische Themen sowie das Behandeln von ‚weltanschaulichen‘ Fragen umfassen, ist bislang kaum bearbeitet.40 Dabei sind solche Analysen besonders vor dem diskursiven Hintergrund ihrer Konzeption als ‚weltanschauliche Entsprechung‘ zum Religionsunterricht interessant, stellt sich doch die Frage, was da eigentlich unterrichtet wird, wenn von Ethik, der Vermittlung von Wertvorstellungen und Normen oder Lebensgestaltung die Rede ist.41 Wo konzep 38 Vgl. http://www.religionskunde.ch/. In der Schweiz ist in den letzen Jahren in Bezug auf den Teaching about-Ansatz des als Religionskunde konzipierten Unterrichts viel in Bewegung geraten, zum Teil weil Religionswissenschaftlerinnen und Religionswissenschaftler in der fachdidaktischen Lehrerbildung tätig oder an der Ausgestaltung von Lehrplänen beteiligt sind, so etwa Petra Bleisch Bouzar. Die große Lehrplanrevision (Lehrplan 21), deren Ziel es ist, die kantonal unterschiedlichen Inhalte zu harmonisieren, hat zudem eine tiefgehende Umgestaltung der religionsbezogenen Inhalte des Unterrichts vorgenommen, vgl. dazu auch die entsprechenden Artikel in Ausgabe 1 der ZFRK. Auf Grund ihrer kantonalen Struktur bietet die Schweiz ein besonders reichhaltiges Forschungsfeld für Differenzierungen innerhalb eines Landes, vgl. dazu weitere Arbeiten von Ansgar Jödicke sowie, für die Romandie und das Tessin, Rota, Andrea (2015): Etat des lieux des politiques de l’enseignement religieux en Suisse latine. Réformes institutionnelles et schémas interprétatifs. Lausanne: Infolio (erster Teil der Dissertation). Eine zukünftige Aufgabe wird es sein, über Gliedstaaten- und Ländergrenzen hinweg Kriterien für religionswissenschaftliche Fachdidaktik zu entwickeln und länderübergreifende religions wissenschaftliche Lernziele zu formulieren. 39 Dies beklagen auch: Rota, Andrea/Fawer Caputo, Christine/Desponds, Séverine (2014): Entre théologie, pédagogie et science des religions. L’évolution des manuels pour l’enseignement religieux en Suisse. In: Willaime, Jean-Paul (Hg.): Le défi de l’enseignement des faits religieux à l’école, réponses européennes et québécoises. Paris: Riveneuve, S. 83–99. 40 Momentan entsteht eine religionswissenschaftliche Dissertation zum Themenfeld in Hannover. Christina Wöstemeyer beschäftigt sich mit den Fächern Werte und Normen in Niedersachen, Lebensgestaltung-Ethik-Religion (LER) in Brandenburg sowie mit der in Bremen unabhängig von den christlichen Kirchen unterrichteten Biblischen Geschichte. 41 Byrne, Cathy (2014): Religion in Secular Education. What, in Heaven’s Name, are we Teaching our Children? Leiden/Boston: Brill.
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Einleitung
tuell von Ähnlichkeiten zum Religionsunterricht ausgegangen oder von einem Äquivalenzunterricht gesprochen wird, stellt der narrationsbezogene Zugang zu Schulbuchtexten ein Instrumentarium bereit, mit dem sich zunächst die narrativen Formen unabhängig von Inhalten vergleichen lassen, auch wenn die narrationsbezogene und wirkungstheoretisch informierte Schulbuchanalyse methodisch noch ein Novum bildet.
c) Gliederung Die Hinführung kontextualisiert den Gegenstand im religionswissenschaftlichen Feld. In einer ausführlichen debattentheoretischen Skizze werden zunächst die Parameter der akademischen Rezeption von Kommunismus und Sozialismus ‚als Religion‘ dargestellt, um in einem zweiten Schritt eine alternative Perspektive auf den Gegenstand vorzuschlagen. Neben der Aufarbeitung der begrenzten religionswissenschaftlichen Auseinandersetzung zu theoretischen und praktischen Formen des Marxismus werden verschiedene Argumente und die damit verbundenen Konzepte wie „Ideologie“, „Weltanschauung“ und „politische Religion“ auf ihren deskriptiven Wert hin evaluiert. Im Vordergrund steht die rezeptionsgeschichtliche Aufarbeitung der inhaltlichen Qualifizierung des Sozialismus in seiner diskursiven Verschlingung mit dem Religionsbegriff. Dabei geht es nicht um eine religionswissenschaftliche Dekonstruktion bereits geleisteter, zumeist fachfremder Arbeiten. Ziel ist es, Ursachenforschung zu betreiben und nach Gründen dafür zu suchen, was die inhaltliche Qualifizierung des Untersuchungsfelds Sozialismus ‚als religiös‘ plausibel zu machen scheint. Auf der Basis dieser Rezeptionsgeschichte wird eine alternative Perspektive vorgeschlagen, die anstelle der inhaltlichen Qualifizierung die Untersuchung der narrativen Formen des Sozialismus in den Blick nimmt. Mit den Konzepten Erinnerungskultur und kollektives Gedächtnis wird zudem die kulturwissenschaftliche Rahmung der Untersuchung festgelegt. Die innerhalb der DDR immer wieder betonte Relevanz der Staatsbürgerkunde lässt sich nur verstehen, wenn diese als Mittel der Konstruktion einer alternativen sozialistischen Erinnerungs- und Traditionskultur gesehen wird, für die literarischen Narrationen eine zentrale Bedeutung zukam. Das zweite Kapitel liefert einen historischen Überblick über die Entwicklung der Staatsbürgerkunde zum regulären Unterrichtsfach in der DDR. Neben gesellschaftspolitischen Voraussetzungen werden vor allem die Produktionsbedingungen der Lehrbücher thematisiert. Das dritte Kapitel stellt den der Untersuchung zugrunde liegenden Methodenapparat und dessen Analyseparameter vor. Nach einführenden methodologischen Überlegungen liegt der Schwerpunkt auf einer ausführlichen Darstellung und Instrumentalisierung des narrationsbezogenen und wirkungstheoretischen Zugangs. Am Ende des Kapitels erfolgt ein über das narrationsbezogene Instrumentarium hinausgehender Zugang zu den Staatsbürgerkundetexten. Mit Über© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540497 — ISBN E-Book: 9783647540498
Gliederung
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legungen zur Bedeutung der Lehrbücher und ihrer Erzählstrukturen für die Konstruktion einer sozialistischen Erinnerungs- und Traditionskultur wird die narratologische Herangehensweise so in eine breitere kulturwissenschaftliche Perspektive überführt. Das vierte Kapitel liefert Informationen zu den fachmethodischen und didaktischen Hintergründen zur Konzeptualisierung der für die Staatsbürgerkunde relevanten „sozialistischen Überzeugungsbildung“, bevor in Kapitel 5 und 6 die Analyse des Materialbestands erfolgt. Den Ausgangspunkt dieser Analyse bildet der empirische Befunde zu Religion und Weltanschauung in den Lehrbüchern, dem folgende Grobsystematik unterlegt ist: Was lernt der Schüler über Religion bzw. Weltanschauung? Wie wird das Dargestellte narrativ zu vermitteln versucht? Ein wesentliches Stilmerkmal bildet die sozialistische Zeugenschaft: als Texteinschübe gestaltete Figurenreden, die die Erlebnisse oder Erfahrungen einer namentlich genannten Person wiederzugeben fingieren. Der durch die Testimonialstruktur erhobene Anspruch auf Faktizität der Aussagen bildet ein Spezifikum der Implementierungsstrategie der sozialistischen „Überzeugungsbildung“ zumindest für die Schulbuchausgaben der unteren Klassenstufen sieben bis zehn. Auf Grund des breit angelegten Quellenbestands werden in beiden Analysekapiteln Diskussionen, historisches und marxismustheoretisches Hintergrundwissen sowie Querverweise auf die verschiedenen Staatsbürgerkundeausgaben und -auflagen auch in Bezug auf das Nachbarfach Geschichte im Rahmen des Fußnotenapparats behandelt. Auch der Ausgaben- und Auflagenvergleich erfolgt im Wesentlichen in den Fußnoten. Den Abschluss der Arbeit bildet eine Rückführung auf die eingangs erfolgten Überlegungen, die identifizierten Topoi werden hier nach ihren narrativen Merkmalen systematisiert. Eine Zusammenfassung präsentiert die wichtigsten Ergebnisse der narrationsbezogenen Analyse und deutet diese als Konstruktions geschichte einer sozialistischen Erinnerungskultur. Die Analyseebenen Form und Inhalt werden abschließend zudem für die systematische Einordnung des Gegenstands fruchtbar gemacht, indem auf die Ausgangsfrage, weshalb Sozialismus und Religion in der akademischen Debatte scheinbar problemlos und plausibel miteinander assoziiert werden, eine narrationsbezogene Antwort formuliert wird.
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1 Hinführung: zur religionswissenschaftlichen Kontextualisierung
In diesem Kapitel erfolgt die religionswissenschaftliche Kontextualisierung des Untersuchungsgegenstands. Im Mittelpunkt steht eine Rezeptionsanalyse, die die bislang in der Debatte um Theorie und gesellschaftliche Praxis des Marxismus – im Folgenden der Einfachheit halber als Untersuchungsfeld Sozialismus bezeichnet – sowie die dabei erfolgten Zugänge und Konzepte im Hinblick auf ihre terminologischen Vorannahmen kritisch evaluiert. Zentral dafür ist die Frage nach dem Religionsbegriff: Welche Begriffe werden zur Beschreibung des jeweiligen Belegbeispiels verwendet? Wo werden religiöse Elemente ausgemacht? Auf welchen Religionsbegriff und auf welches Religionsverständnis lässt dies schließen? Zu Beginn werden die DDR-Forschung unter dem Gesichtspunkt marxistischleninistische Weltanschauung dargestellt und einige Begriffsklärungen vorgenommen, bevor im zweiten Teil die Debatte ‚Sozialismus als Religion‘ skizziert wird.
1.1 Grundlagen a) Standortbestimmung: die DDR-Forschung aus religionswissenschaftlicher Perspektive Die Forschung zur Deutschen Demokratischen Republik hat sich seit 1989 ausdifferenziert. Neben der Entstehung diverser Untersuchungsfelder beschäftigen sich unterschiedliche akademische Disziplinen mit der DDR. Vor allem in der deutschen Geschichtswissenschaft ist diese zu einem dominierenden Thema geworden, so dass mitunter die Rede vom „besterforschten Phänomen deutscher Zeitgeschichte“1 ist. In der insgesamt vielfältigen Forschungslandschaft2 bildete sich mit der Frage nach den Mechanismen des Funktionierens der DDRGesellschaft ein Forschungsbereich heraus, der die DDR maßgeblich unter der Perspektive von Macht und Herrschaft betrachtete und sie damit vor allem als parteidiktatorischen „SED-Staat“ verstand. Dem Marxismus-Leninismus als 1 Jessen, Ralph/John, Jürgen (2005): Wissenschaft und Universitäten im geteilten Deutschland der 1960er Jahre. Editorial. In: vom Bruch, Rüdiger/Bott, Marie-Louise (Hg.): Jahrbuch für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte (JbUG), Bd. 8, Wissenschaft und Universitäten im geteilten Deutschland der 1960er Jahre. Stuttgart, S. 7–24, hier: 7. 2 Eine vorläufige Bilanz der bisherigen Themenfelder und Forschungsstand bis 2003 liefert der Band von Eppelmann, Rainer/Faulenbach, Bernd/Mählert, Ulrich (Hg.) (2003): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh.
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Grundlagen
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offizieller Staatsgrundlage wurde dabei die Funktion einer „Herrschaftsideologie“ zugeschrieben. Prominentes Beispiel war seinerzeit die Dokumentation der ersten Enquête-Kommission des deutschen Bundestages zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland, deren dritter Band den Titel „Ideologie“ trug.3 Die dort geführte Auseinandersetzung um die Bewertung des Marxismus-Leninismus kreiste um die Felder Herrschaftsinstrument bzw. politische Heilslehre und spiegelte damit die beiden Pole, innerhalb derer sich auch die geschichtswissenschaftliche Forschung lange bewegt hat. Der Debatte war zudem die Frage nach der vermeintlich zutreffenden Marx-Rezeption unterlegt: Ausgehend von der Überlegung „War der SED-Staat marxistisch?“ – so der Titel des ersten Vortrags von Konrad Löw4 – diskutierte man in der EnquêteKommission unter anderem darüber, wie der Marxismus-Leninismus zu bewerten ist5 und vor allem, in welchem Verhältnis er zu den Schriften von Karl Marx steht. Die Kontinuitätsfrage hatte sich bereits im Rahmen des einige Jahre zurückliegenden Historiker-Streits gestellt6 und schien nun in der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Marx, Marxismus und Marxismus-Leninismus erneut
3 Vgl. Materialien der Enquête-Kommission Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages) Band III/1–3: Rolle und Bedeutung der Ideologie, integrativer Faktoren und disziplinierender Praktiken in Staat und Gesellschaft der DDR, hg. vom Deutschen Bundestag. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1995. 4 Ders. (1995), in: Materialien der Enquête-Kommission Bd. III/1, S. 21–33. 5 Hermann Weber und Wolfgang Leonhardt vertraten die These, dass der Marxismus-Leni nismus als parteipolitisches Legitimationsmittel diente (vgl. Hermann Weber, in: Materialien der Enquête-Kommission Bd. III/1, S. 18 sowie Bd. III/3, S. 2035 und 2060 f.). Konrad Löw formulierte die Frage, ob der Marxismus-Leninismus als Versuch der Realisierung marxistischer Theorie in Staatsform gewertet werden könne: „War der Marxismus-Leninismus nur ein Mittel zum Zweck, oder stellten sich die kommunistischen Parteien in den Dienst eines für wahr gehaltenen dogmatischen Systems?“ Ders., in: Materialien der Enquête-Kommission Band III/3, S. 1427. Löw kam zu dem Urteil, dass Marx und Engels „zu Recht“ vom „SED-Staat“ vereinnahmt worden seien und jeder freiheitliche Rechtsstaat sich „ostentativ von den geistigen Vätern des SED-Regimes“ zu distanzieren habe, vgl. ders. S. 1441. 6 Der um die Singularität des „Holocaust“ geführte Historiker-Streit begann mit einem Artikel von Ernst Nolte, der im Juni 1986 in der FAZ veröffentlicht wurde, und in dem dieser die These vertrat, dass eine Kausalität zwischen dem bolschewistischen „Klassenmord“ und dem nationalsozialistische „Rassenmord“ bestünde: „War nicht der ‚Klassenmord‘ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ‚Rassenmords‘ der Nationalsozialisten?“ In: Ernst Nolte: Die Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte. FAZ, 6. Juni 1986; zitiert nach: Pieper, Ernst Reinhard (Hg.): Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. Piper, München/Zürich 1987, S. 39–46, hier: 45. Die Entrüstung war groß und verursachte eine Welle von Wortmeldungen namhafter deutscher Historiker. Neben der Kritik, durch den Vergleich eine Verharmlosung nationalsozialistischer Verbrechen vorzunehmen, wurde auch die suggerierte Kontinuitätslinie vom theoretischen Marxismus zum nationalsozialistischen Genozid scharf angegriffen.
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Hinführung: zur religionswissenschaftlichen Kontextualisierung
auf.7 Da diese Auseinandersetzung eng mit dem Anliegen der politischen „Aufarbeitung“ und gesellschaftlichen Integration verflochten war, erhielt die Debatte um die ‚richtige‘ bzw. ‚falsche‘ Marx-Rezeption einen gewichtigen Status in der Gesamtbewertung der DDR. Die Diskussion um den Marxismus-Leninismus war damit zweierlei: theoretische Reflexion und Politikum.8 Religionswissenschaftlich interessant wird die Diskussion der Enquête-Kommission dadurch, dass der Marxismus-Leninismus – im offiziellen Sprachge brauch der DDR auch die „wissenschaftliche Weltanschauung der Partei der Arbeiterklasse“9 – nicht nur als „Ideologie“, sondern auch als eine Art Religion bezeichnet wurde. Beispielsweise sprach der damalige Abgeordnete Rainer Eppelmann in seiner kurzen Eröffnungsansprache zur 28. Sitzung der EnquêteKommission sowohl von der marxistischen Theorie als auch vom MarxismusLeninismus selbst mehrfach als einer „Pseudo-Religion“10 und rückte damit beides in den Bereich des Religiösen. Er griff mit diesem Vokabular eine lang bestehende Forschungsperspektive auf, die hier im Folgenden als „als ReligionDebatte“ bezeichnet und skizziert werden soll. Da ihre Gegenstände heterogen sind, wird zuvor eine knappe Begriffsorientierung vorgenommen.
7 Hermann Weber kommentierte später dazu: „Inzwischen war die Uralt-Meinung wieder salonfähig, der Marxismus habe die Politik der SED bestimmt, die Umwälzungen in der SBZ/DDR und damit zugleich die Parteidiktatur seien Folgen der Anwendung des Marxismus gewesen. Weil in der Berichterstattergruppe ‚Ideologie‘ genauso argumentiert wurde, bin ich in meiner Einführung ebenso wie Wolfgang Leonhard in seinem Referat dieser Sicht entgegengetreten. Wir definierten übereinstimmend weiterhin die Ideologie als Rechtfertigungsund Verschleierungsinstrument der Machthaber und der – von der UdSSR vorgegebenen – SED-Politik.“ Weber, Gerda und Hermann (2006): Leben nach dem „Prinzip links“. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten. Berlin: Ch. Links, 1. Auflage, S. 436 f. 8 Zu einem ähnlichen Urteil kommt auch der Historiker Michael Ploenus, der in einem problemorientierten Forschungsüberblick auf den normativen Umgang der Geschichtswissenschaft mit dem Marxismus-Leninismus einerseits, auf die Problematik der biografischen Betroffenheit einiger Diskutanten andererseits hinweist. Ders. (2007): „… so wichtig wie das tägliche Brot“. Das Jenaer Institut für Marxismus-Leninismus 1945–1990. Köln u. a.: Böhlau, S. 41–43. 9 Kleines Wörterbuch der Marxistisch-Leninistischen Philosophie, hg. von Manfred Buhr und Alfred Kosing. Berlin: Dietz 1974, S. 173. Der vermeintliche Widerspruch zwischen Wissenschaft und Weltanschauung ergab sich für den Marxismus-Leninismus nicht. Dessen Konzeption des dialektischen und historischen Materialismus betonte die Einheitlichkeit von Weltanschauung als „Widerspiegelung des materiellen gesellschaftlichen Seins“ und Wissenschaft, vgl. Philosophisches Wörterbuch Band 2, hg. von Manfred Buhr und Georg Klaus. Leipzig: VEB, 8. berichtigte Auflage, S. 1148. 10 Vgl. Eppelmann, Rainer (1995): Protokoll der 28. Sitzung. Öffentliche Anhörung: Marxismus-Leninismus und die soziale Umgestaltung in der SBZ/DDR. In: Materialien der Enquete-Kommission, Band III/1, S. 12.
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Grundlagen
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b) Von Karl Marx zur realsozialistischen Weltanschauung: Begriffe, Deutungen, Institutionen „Das Werk von Karl Marx hat“, so Michael Ploenus, „zahlreiche Deutungen provoziert“, die in der Rezeption diverse Anknüpfungspunkte für philosophische, historiographische, soziologische und politisch-praktische Überlegungen lieferte.11 Da manche Begriffe zugleich Selbstbilder repräsentieren – die DDR etwa reklamierte den (Real-)Sozialismus für sich als Staatsform –, überlappen sich in den terminologischen Differenzierungen mitunter Phänomen- und Beschreibungsebene. Die Begriffsarbeit ist hier Teil der marxistischen Debatte. Marxismus hat sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zur Bezeichnung von theoretischen und realpolitischen Ausdrucksformen der sozialistischen Bewegung durchgesetzt, in denen sich vor allem auf Arbeiten von K. Marx und F. Engels bezogen wurde.12 In der Sekundärliteratur ist des Öfteren darauf hingewiesen worden, dass Marx selbst nicht als Marxist bezeichnet werden wollte und sich dezidiert von begrifflichen Vereinnahmungsversuchen abgrenzte.13 Das in den Schriften von Marx und Engels entworfene, umfangreiche und keineswegs geschlossene Gedankengebäude wurde erst in der Rezeption als politisches Gesamtsystem interpretiert und konstruiert. Wesentlich dafür waren die Arbeiten Wladimir Ilijtsch Uljanows, alias Lenin. Der Begriff Kommunismus bezieht sich ursprünglich auf das Konzept einer zukünftigen Gesellschaftsform, die in der Rezeption auch synonym mit dem ökonomischen Modell der Planwirtschaft gesetzt sowie auf politischer Ebene mit Parteien und Bewegungen in Verbindung gebracht wird.14 Das alltagssprachliche Verständnis setzt Kommunismus mit Einparteienherrschaft gleich15, wie sie in entsprechenden Ländern der gesellschaftlichen Realität entsprach und zum Teil auch gegenwärtig noch entspricht. Vor dem Hintergrund der realpolitischen Erfahrung mag dies verständlich sein, es verdeckt aber die utopische Dimension des Kommunismus als egalitärer klassenloser und anarchistischer Gesellschafts 11 Vgl. Ploenus (2007): „… so wichtig wie das tägliche Brot“, S. 33. 12 Vgl. Kehrer, Günter (2000): Art. Sozialismus, in MLR Band 2, S. 385 f. Zur historischen Entwicklung des Marxismus vgl. auch RGG4 Band 5, Spalten 880–883. 13 Vgl. Ploenus (2007): „… so wichtig wie das tägliche Brot“, der auf Iring Fetscher verweist, S. 33. 14 Vgl. Jähnichen, Traugott (2001): Art. Kommunismus, in RGG4 Band 5, Spalten 1522–1530. 15 Bochenski unterscheidet den Kommunismus als Lehre von einem Kommunismus als Parteiorganisation, vgl. Joseph M. Bochenski (1975): Marxismus-Leninismus. Wissenschaft oder Glaube? München: Günter Olzog Studienbuch-Verlag, 4. Auflage, S. 17. Trotz seiner kritischen Rhetorik kann Bochenskis Beitrag auch gegenwärtig als verständliche, systematische und didaktisch gut aufbereitete Einführung in den Marxismus-Leninismus angesehen werden. Die Publikation bildet die verschriftlichte Form einer 13-teiligen Vorlesung, die das Bayrische Fernsehen zum Thema Theorie des Marxismus-Leninismus zuvor ausgestrahlt hatte und richtete sich an ein interessiertes Laienpublikum.
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Hinführung: zur religionswissenschaftlichen Kontextualisierung
form, in der der Staatsapparat aufgelöst und sämtliches Privateigentum in Volkseigentum überführt ist. Seine parteilegitimatorische Funktion gewann der Kommunismus vor allem in der Deutung Lenins, der mit der Bezeichnung der Partei als „Avantgarde“ der Arbeiterklasse die politische Macht konzentrierte.16 In ein theoretisches Fundament gegossen wurde dies aber erst in dem von Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili alias Stalin formulierten Marxismus- Leninismus, der terminologisch eine Kontinuitätslinie von Marx zu Lenin behauptete17 und bereits 1938 offiziell als verbindliche Lehre eingeführt wurde.18 Im Rückgriff auf Lenin19 sollte diese aus drei Elementen bestehen: –– dem dialektischen und historischen Materialismus als (geschichts-)philoso phischer und erkenntnistheoretischer Grundlage, –– der politischen Ökonomie (bei Marx auch Kritik der Politischen Ökonomie) als der vor allem im Kapital formulierten Lehre von der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse und der menschlichen Arbeit sowie –– dem wissenschaftlichen Kommunismus, einer „marxistisch-leninistischen Politologie“20, die die Lehre von Klassenkampf, Revolution der Arbeiterklasse und Aufbau des Sozialismus bzw. Kommunismus beinhaltet.21 In der sozialistischen Rezeption galt der Marxismus-Leninismus offiziell als „wissenschaftliche Weltanschauung“. Der Weltanschauungsbegriff wurde dabei in Abgrenzung zu der als „bürgerlich“ kritisierten Begriffsgeschichte konstruiert und bildete eine Oberkategorie für „Gesamtauffassung[en] (Theorie) vom Weltganzen, vom Ursprung, von der Natur und der Entwicklung des Weltalls, von der Entstehung und Entwicklung der Menschheit und ihrer Zukunft, vom Wesen und Sinn des menschlichen Lebens, vom gesellschaftlichen Verhalten des Menschen, von den Fähigkeiten des menschlichen Denkens und den Werten der menschlichen Kultur“.22 16 Vgl. Ploenus (2007): „… so wichtig wie das tägliche Brot“, S. 34 f. Das Konzept einer streng hierarchisch organisierten, aus Berufsrevolutionären bestehenden Kaderpartei, die eine Erziehungs- und Führungsrolle gegenüber der Arbeiterschaft beanspruchte, wurde unter anderem von Rosa Luxemburg scharf angegriffen, vgl. Jähnichen, Traugott (2001): Art. Leninismus, in RGG4 Band 5, Spalten 261–263. 17 Für eine verdichtete Gegenüberstellung der Unterschiede von Marx’schem und Lenin’schem Denken sowie der verschiedenen gesellschaftspolitischen Hintergründe vgl. Bochenski (1975): Marxismus-Leninismus, S. 33–39. 18 Vgl. Ploenus (2007): „… so wichtig wie das tägliche Brot“, S. 36. 19 Ders.: Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus, erstveröffentlicht in der bolschewistischen Zeitschrift Prosweschtschenije (Die Aufklärung) im März 1913. 20 Glaeßner, Gert-Joachim (1982): Sozialistische Systeme. Einführung in die Kommunismus- und DDR-Forschung. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 232. 21 Gut zusammengefasst auch bei Ploenus (2007): „… so wichtig wie das tägliche Brot“, S. 38–40. 22 Vgl. den Artikel Weltanschauung, in: Philosophisches Wörterbuch Band 2, hg. von Manfred Buhr und Georg Klaus. Leipzig: VEB, 8. berichtigte Auflage, S. 1147–1149, hier: 1147.
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Grundlagen
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Im Unterschied zur philosophischen Tradition des 19. Jahrhunderts und deren Trennung zwischen (Natur-)Wissenschaft und Weltanschauung betonte das marxistisch-leninistische Verständnis gerade die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Einheitlichkeit der beiden Bereiche. Die philosophiegeschichtliche Grundlage dieser Argumentation bildete die Herleitung des Marxismus-Leninismus aus dem als wissenschaftlich angesehenen philosophischen Materialismus, demzufolge Weltanschauung die ‚Widerspiegelung‘ des materiellen ‚gesellschaftlichen Seins‘, und damit weder zufällig noch willkürlich war. Gemäß dieser Herleitung wurden zwei Grundformen von Weltanschauungen unterschieden: die materialistischen sowie die idealistisch-religiösen. Die Qualität einer Weltanschauung hing freilich entscheidend von deren ‚wissenschaftlichem‘ Charakter ab. In dieser ganz eigenen Begriffsgenese spielte eine sich aus der jüngsten Vergangenheit ergebende terminologische Problematik von Weltanschauung als nationalsozialistischem Kampf- oder Gegenbegriff keine Rolle. Der sozialistische Diskurs erzählte eine andere Begriffsgeschichte, die sich, dem sozialistischen Selbstverständnis entsprechend, selbstbewusst präsentieren und dafür auf eine andere Traditionserzählung zurückgreifen konnte: Weltanschauung bildete eine populäre Eigenbezeichnung für den Marxismus-Leninismus als der wissenschaftlichen Grundlage des Systems. In der philosophiegeschichtlichen Konzeption als Allgemeinbegriff begründet, fielen unter Weltanschauung sowohl der MarxismusLeninismus als auch der Kollektivbegriff Religion.23 Der Geltungsanspruch des Marxismus-Leninismus betraf sämtliche Lebensbereiche; er sollte gleichermaßen universelle erkenntnistheoretische und philosophische Grundlage24, Basis einer „sozialistischen Moral“ sowie Anleitung für revolutionäres Handeln sein. Nach Stalins Tod im Jahr 1953 und der ab 1956 einsetzenden Entstalinisierung blieb der Marxismus-Leninismus – freilich ohne Bezug auf den sowjetischen Diktator, welcher von da an rasch aus der Öffentlichkeit und dem kollektiven Bildgedächtnis verschwand – als Lehre erhalten. Auch wenn diese in der sozialistischen Staatengemeinschaft in weiten Teilen federführend war, entstanden nationale Sonderentwicklungen wie der Maoismus in China bis hin zum nordkoreanischen Jucheismus. Dass die Staaten im offiziellen Sprachgebrauch indes als sozialistische und nicht als kommunistische Länder galten, hat nicht nur mit der durch Marx formulierten Geschichtsteleologie zu tun. Mit dem Selbstbild, ein sozialistischer Staat zu sein, ließen sich auch bestimmte Machtverhältnisse wie die beanspruchte Führungsrolle der Partei aufrecht erhalten oder gesellschaftliche Widersprüche rechtfertigen, etwa die Existenz sozialer Klassen, die im Kommunismus end 23 Zur philosophiegeschichtlichen Konstruktion von Weltanschauung vgl. Abschnitt 5.2 b) Philosophie- als Konfliktgeschichte: von der Theorie zur Religionskritik der Gesellschaft. 24 Als „Universalwissenschaft“ wird der Marxismus-Leninismus bei Ploenus bezeichnet, vgl. ders. (2007): „… so wichtig wie das tägliche Brot“, S. 37.
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Hinführung: zur religionswissenschaftlichen Kontextualisierung
gültig aufgehoben sein sollten. Dass der Sozialismus in der Marx’schen Konzeption lediglich ein Zwischenstadium auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus sein sollte, erwies sich als Legitimationsproblem, dem man in der DDR mit der Wortschöpfung Realsozialismus begegnete. Damit war die endgültige Trennung zwischen Sozialismus als Ideal und seiner realen gesellschaftlichen Erscheinungsform vollzogen.25 Zuletzt bedarf der Ideologiebegriff einer Klärung. Im marxistisch-leninistischen Begriffsverständnis war der Terminus nicht grundsätzlich negativ konnotiert, wie es sich für die allgemeine Begriffsverwendung nach 1945 überwiegend feststellen lässt.26 Als Oberbegriff für ein „System der gesellschaftlichen Anschauungen“ spiegelte die „Ideologie“ die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse wider und trug demzufolge „Klassencharakter“. Grundsätzlich wurde zwischen „bürgerlicher“ und „sozialistischer Ideologie“ – dem Marxismus-Leninismus – unterschieden, die einander unversöhnlich gegenüberstanden. Die „sozialistische Ideologie“ galt als wissenschaftlich und fortschrittlich und war im marxistisch-leninistischen Diskurs eine grundsätzlich positive Eigenbezeichnung.27
1.2 Sozialismus als Religion? Debattentheoretische Skizze und Ursachenforschung Die Religionswissenschaft hat sich bislang an der Debatte um das Untersuchungsfeld Sozialismus erstaunlich wenig beteiligt.28 Aus religionswissenschaftlicher Perspektive fällt allerdings auf, dass Marxismus-Leninismus und Kommunismus
25 Martin Sabrow deutet den Begriff als Absage an die visionäre Dimension des Sozialismus – „die Pathosformel des Sozialismus hatte ihre erlösende Hoffnungsmacht unter ihrer erdrückenden Geltungsmacht begraben.“ Vgl. Sabrow, Martin (2009): Sozialismus. In: ders. (Hg.): Erinnerungsorte der DDR. München: Beck, S. 188–204, bes. 190 f. 26 Vgl. dazu Abschnitt b) Ideologie oder Religion? Differenzbegriffe, Realdefinitionen, und die Frage nach der ‚guten‘ Religion in Kapitel 1.2. 27 Vgl. auch den Artikel Ideologie im Philosophischen Wörterbuch Band 1, hg. von Manfred Buhr und Georg Klaus. Leipzig: VEB, 8. berichtigte Auflage, S. 504–506. 28 Die Ausnahme bilden James Thrower und Ninian Smart. Thrower arbeitete zum sowjetischen Kommunismus bzw. der sowjetischen Religionsforschung, vgl. ders. (1983): Marxist-Leninist „scientific atheism“ and the study of religion and atheism in the USSR. Berlin: de Gruyter. Zehn Jahre später legte er eine Arbeit zum Marxismus-Leninismus vor, vgl. ders. (1992): Marxism-Leninism as the Civil Religion of Soviet Society. God’s Commissar. Lewiston/ New York: E. Mellen Press. Auch dreißig Jahre später stellt Stefan Ragaz in seiner unpublizierten Masterarbeit fest: „Eine reichhaltige Sekundärliteratur zur Religionsforschung in der Sowjetunion ist bis jetzt nicht vorhanden.“ Vgl. ders.: Wissenschaft im Zeichen des Atheismus. Eine Einführung in die sowjetische Religionsforschung. (Masterarbeit Basel 2011), S. 8. Viele der bislang erschienenen Beiträge qualifizierten das Material zudem nicht als Religionsforschung, sondern als antireligiöse Propaganda (ebd. S. 13), weshalb es auch nach dem Zusammenbruch des
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Sozialismus als Religion?
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bzw. Sozialismus in der akademischen Rezeption nicht nur immer wieder in den Bereich des Religiösen gerückt werden. Vor allem Geschichts- und Politikwissenschaft arbeiten mit Schlagworten und Konzepten, die unmittelbar in das Gebiet der religionswissenschaftlichen Theoriebildung fallen, etwa die Qualifizierung als „religiös“ und weitere, damit verbundene Klassifizierungen. Terminologisch oszilliert die Debatte im Wesentlichen um die Begriffe Religion und Ideologie. Die Konzepte zur Beschreibung sind hingegen vielfältig: Sie reichen von der von Eric Voegelin entwickelten Politischen Religion29 über Zivil religion30 bis hin zu säkularer Religion31 oder säkularer Religionsgeschichte32, und produzieren mitunter Adjektivbildungen wie „pseudo-“, „quasi-“ bzw. „implizit religiös“. Manche Konzepte sind problematischer als andere: Politische Religion etwa konstruiert eine Vergleichsebene mit dem Nationalsozialismus, Kommunismus kaum wahrgenommen worden sei. Ein moderner Ansatz sollte sich laut R agaz aber von der Beurteilung der Forschung lösen und zur Beschreibung derselben übergehen, vgl. ebd. S. 16. Für die freundliche Genehmigung, die Arbeit lesen und verwenden zu dürfen, möchte ich dem Autor danken. Weniger systematisch als Thrower hat sich Smart in dem Forschungsbereich bewegt: 1968 veröffentlichte er das Skript einer zuvor an der Universität York gehaltenen Vorlesung zur Secular Education and the logic of Religion. Heslington Lectures, University of York. London: Faber & Faber. Im Rahmen seiner ein Jahr später erschienenen Studie The Religious Experience of Mankind behandelt er auch den Marxismus, um festzustellen, dass dieser gemäß seines Sechs-Dimensionen-Modells nicht als Religion einzustufen sei. Stattdessen gilt er ihm als „ideology“ und „quasi-religion“, vgl. ebd., S. 548 und 669. Anders lautet sein Urteil über den Maoismus. In dem schmalen Band Mao wendet Smart das Modell erneut an und gelangt zu der Konklusion: „Maoism does function analogically as a religion for China.“ Er begründet dies weitgehend gesellschaftspolitisch, vgl. ders. (1974): Mao. London: Fontana Press, S. 93. 29 Riegel, Klaus-Georg (2005): Der Marxismus-Leninismus als „politische Religion“. In: Besier, G./Lübbe, H. (Hg.): Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 15–48. 30 Thrower (1992): Marxism-Leninism as the Civil Religion; Schmidt, Thomas (2003): Vom Bürger zum Werktätigen. Arbeiterliche Zivilreligion in der DDR. In: Gärtner, Christel/ Pollack, Detlef/Wohlrab-Sahr, Monika (Hg.): Atheismus und religiöse Indifferenz. Opladen: Leske + Budrich, S. 315–336. Die Theoretisierung des Untersuchungsfelds Sozialismus über das Konzept der Zivilreligion bildet jedoch eher die Ausnahme. Das hängt auch damit zusammen, dass das Konzept keineswegs neutral ist, sondern ein positives Selbstverständnis transportiert, in dem Zivilreligion die liberale rechtsstaatliche Demokratie zur Bedingung hat, vgl. Schmidt (2003): Vom Bürger zum Werktätigen, 319. Zwar verweist Laustsen auf die Debatte über die auch negativen Konsequenzen von Zivilreligion; politische Religion bildet aber auch für ihn das eindeutig negativ konnotierte Konzept, vgl. Laustsen, Carsten Bagge (2013): Studying Politics and Religion: How to Distinguish Religious Politics, Civil Religion, Political Religion, and Political Theology. In: Journal of Religion in Europe 6 (2013), S. 428–463, hier: 445. 31 Erstmals bei Raymond Aron als „religion séculière“, vgl. Art. Politische Religion, in: RGG4 Band 6, Spalten 1470 f. 32 In Bezug auf die ideengeschichtliche Konzeption des „neuen Menschen“: Küenzlen, Gottfried (1994): Der neue Mensch. Zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne. München: Wilhelm Fink-Verlag.
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der Voegelin seinerzeit ja auch als Beispielbestand gedient hatte33, und erfolgt damit auch heute unter dem Zugang von Totalitarismusforschung und Diktaturen vergleich.34 Das bei Voegelin deutlich normative Interesse an der Beschreibung des Verhältnisses von Politik und Religion stellt die metasprachliche Qualität des Terminus grundsätzlich infrage. „Politische Religion“ ist denn auch eher Ausdruck religiöser Zuschreibungen und Selbstdeutungen und knüpft an die Erzählung von Säkularisierung als ‚Verlustgeschichte‘ an.35 Dennoch ist die Mehrzahl der Arbeiten zum Untersuchungsfeld Sozialismus von derlei Einordnungsversuchen geleitet. Die damit zusammenhängende Klassifizierungsfrage hält – sofern offen formuliert – grundsätzlich ein Spektrum an Antwortmöglichkeiten bereit: von der Qualifizierung des jeweiligen Gegenstands als anti-religiös, religiös indifferent oder nicht religiös bzw. säkular, über ein (diffuses) eigentlich religiös.36 Eine ebenfalls mögliche uneingeschränkte Qualifizierung, etwa: Der Marxismus-Leninismus ist eine Religion, ist in der Sekundärliteratur interessanterweise nicht zu finden. Vielfältig sind hingegen die Gegenstände zur Analyse ‚des Religiösen‘ im Sozialismus. Sie reichen von der Frage nach Unterweisung37 über sozialistische 33 Voegelin selbst wurde später gegenüber seiner Begriffsschöpfung zwar skeptisch und hat diese durch die Gnosis der Moderne ersetzt, vgl. Mohn, Jürgen (2013): Mythische Narration und „Politische Religion“. In: Brahier, Gabriela/Johannsen, Dirk (Hg.): Konstruktionsgeschichten. Narrationsbezogene Ansätze in der Religionsforschung. Würzburg: Ergon, S. 55–80, hier: 56. 34 Die Zeitschrift Politics, Religion and Ideology, vormals Totalitarian Movements and Political Religions (TMPR), machte sich dies zum Programm. Heute versteht sich die Zeitschrift als Forum für die Erforschung von „illiberal ideologies, both religious and secular“, allerdings noch immer unter totalitarismustheoretischen Aspekten sowie dem Konzept der politischen Religion. Eine systematische religionswissenschaftliche Forschung zum Bereich polische Religion hat sich bislang vor allem am Paradebeispiel Nationalsozialismus entwickelt, vgl. beispielhaft Karow (1997), Cancik (1980/1998) sowie Lease (1995). Die in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum erschienenen wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten zur Verstrickung der Religionswissenschaft in den Nationalsozialismus enthalten in der Regel keine Überlegungen zum Konzept der politischen Religion, vgl. Heinrich (2002), Junginger (1999) [ausführliche Angaben im Literaturverzeichnis]. Für das Themenfeld Totalitarismus und Politische Religionen immer noch einschlägig sind die drei von Hans Maier herausgegebenen gleichnamigen Sammelbände, die Konzepte des Diktaturenvergleichs (Band 1 und 2) sowie Deutungsgeschichte und Theorie (Band 3) thematisieren. 35 Vgl. Mohn (2013): Mythische Narration und „Politische Religion“, bes. 66, 67–71. 36 Obwohl all diese Qualifizierungen gleichermaßen diskursiv sind, weil es kein nicht- oder außer-diskursives Religionsverständnis geben kann, scheint das diskursive Element besonders bei der diffusen Kategorie ‚eigentlich religiös‘ auf. Für dieses ‚Eigentlich‘ sind verschiedene Vorschläge gemacht worden, etwa das Begriffspaar implizit/explizit, das nicht weniger problematisch ist, insofern auch die „expliziten“ Religionen immer Produkt einer historischen Auseinandersetzung und damit diskursiv erzeugt sind. Dies wird jedoch durch die Begrifflichkeit verdeckt. 37 So etwa: Sutor, Bernhard (1996): „Politische Katechese“. Zur Perversion politischer Bildung in der Staatsbürgerkunde der DDR. In: Stammen, Theo/Oberreuter, Heinrich/Mikat, Paul (Hg.): Politik – Bildung – Religion. Hans Maier zum 65. Geburtstag. Paderborn u. a.: Schöningh, S. 533–544.
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Rituale38 bis hin zur Untersuchung der gesellschaftlichen Rolle bestimmter Figuren („Personenkult“)39 oder Schlüsselkonzepte40 – die Aufzählung ließe sich beliebig weiter fortführen. Die dabei modellierten Vergleichsebenen basieren häufig auf Analogiebildungen.41 Wenn bereits darauf hingewiesen wurde, dass das Forschungsfeld bislang weitgehend ohne religionswissenschaftliche Beteiligung bearbeitet wurde, trifft dies auch für den Gegenstandsbereich DDR zu. Eine systematische oder wissenschaftsgeschichtliche Rezeption ist hier bis heute nicht existent.42 Der aus einer IAHR-Spezialkonferenz von 1999 in Brno hervorgegangene Sammelband 38 Vgl. zum Beispiel: Unfried, Berthold/Pibersky, Andreas (1999): Symbole und Rituale des Politischen. Ost- und Westeuropa im Vergleich. Frankfurt/M.: Peter Lang. 39 Stellvertretend: Ursprung, Daniel (2011): Inszeniertes Charisma: Personenkult im Sozialismus. In: Bliesemann de Guevara, Berit u. a. (Hg.): Charisma und Herrschaft. Führung und Verführung in der Politik. Frankfurt: Campus, S. 151–176. 40 Für die Bedeutung von Arbeit vgl. Schmidt, Thomas (2003): Vom Bürger zum Werk tätigen. Arbeiterliche Zivilreligion in der DDR. In: Gärtner, Christel/Pollack, Detlef/Wohlrab-Sahr, Monika (Hg.): Atheismus und religiöse Indifferenz. Opladen: Leske + Budrich, S. 315–336; zum sozialistischen ‚Helden‘: Satjukow, Silke/Gries, Rainer (Hg.): Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR. Berlin: Chr. Links Verlag. 41 So etwa wo von „Konfessions-Ritualen“ die Rede ist oder soziale Praktiken wie das parteispezifische Disziplinierungsmoment der „Selbstkritik“ und katholische Beichte miteinander in Beziehung gesetzt werden, vgl. Riegel, Klaus-Georg (1985): Konfessions-Rituale im Marxismus-Leninismus. Graz u. a.: Verlag Styria; Unfried, Bertold (2006): „Ich bekenne“. Katholische Beichte und sowjetische Selbstkritik. Frankfurt/Main: Campus. 42 Wissenschaftsgeschichtlich relevante Beiträge stammen zumeist von Zeitzeugen und sind dementsprechend historisch eingeschränkt, vgl. Rudolph, Kurt (1962): Die Religionsgeschichte an der Leipziger Universität und die Entwicklung der Religionswissenschaft. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte und zum Problem der Religionswissenschaft. Berlin: Akademie-Verlag, 1. Auflage sowie (1961): Leipzig und die Religionswissenschaft. In: Numen Nr. 9 (1962), S. 53–68; Lohmann, Theodor (1979a): 30 Jahre Religionswissenschaft in unserem Land. In: Theodor Lohmann: Religion – Religionen – Religionswissenschaft. Festschrift zum 70. Geburtstag, hg. v. Udo Tworuschka. Köln u. a.: Böhlau 1998, 1. Auflage, S. 201–210 sowie: Religionswissenschaft an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ebd., S. 211–215. Ansätze finden sich in dem Artikel von Jörg Albrecht (2007): Religions wissenschaft und Ideologiekritik: Ein Problem der Vergangenheit oder eine aktuelle Aufgabe? In: ZjR Vol. 2 (2007), S. 10–32, bes. 19–21. In der DDR gab es insgesamt sechs Standorte, die für eine wissenschaftsgeschichtliche Aufarbeitung relevant wären: Greifswald, Rostock, Berlin, Halle, Leipzig, Jena. Abgesehen vom Standort Leipzig, wo die Religionswissenschaft ab 1946 Teil der Philosophischen Fakultät war, wurde zumeist Religionsgeschichte im Rahmen der exegetischen Fächer an Theologischen Fakultäten betrieben. Allerdings bildete die Religionsgeschichte immerhin ein eigenes Forschungs- und Lehrgebiet. Mehr dazu bei Lohmann (1998): 30 Jahre Religionswissenschaft, S. 201–210. Außerdem relevant wären die beiden Forschungsgruppen zum „Wissenschaftlichen Atheismus“ in Güstrow sowie Warnemünde Wustrow unter Leitung von Hans Lutter bzw. Olof Klohr mit den Schwerpunkten Protestantismus sowie Katholizismus in der DDR/Religionssoziologie. Weitere bei Thiede, Simone (1999): Der Dialog zwischen Religionen und säkularen Weltanschauungen. Dargestellt am Beispiel des christlichmarxistischen Dialogs in der DDR. Frankfurt/Main u. a.: Peter Lang: S. 288 f.
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cademic Study of Religion during the Cold War enthält zwar einen Beitrag zur A Verhältnisbestimmung von Kommunismus und Religion43, die DDR ist aber auch in diesem Sammelband nicht als eigener Untersuchungsgegenstand vertreten. Der Kultursoziologe Thomas Schmidt-Lux ist bislang einer der wenigen, der sich auch aus religionswissenschaftlich interessanter Perspektive mit der DDR beschäftigt hat. Sein Modell einer „Zivilreligion der DDR“ ist umfassend und gleichzeitig differenziert. Anhand der Bereiche Arbeit, Gleichheit und Frieden zeichnet er wesentliche Narrative einer „zivilreligiösen Verankerung konkreter politischer Inhalte“ nach, ohne die „Staatsideologie“ des Marxismus-Leninismus insgesamt als „Zivilreligion der DDR“ einzuordnen.44 Mit den bis hier angeführten Zugängen und Argumenten ist das grobe Feld der ‚als Religion-Debatte‘ skizziert. Keine Berücksichtigung hat die innertheologische Auseinandersetzung um die Religions- bzw. Kirchenpolitik oder die Bedeutung des Atheismus in sozialistischen Ländern gefunden. Nicht einbezogen wurden ferner Untersuchungen zu Atheismus und Säkularisierung, die einen gesonderten Forschungszweig bilden. In der Rezeption von Sozialismus und Atheismus als eigene Forschungsfelder ergeben sich allerdings strukturelle Ähnlichkeiten, was die Einordnungsfrage betrifft. Für Atheismus stellte Ulrich Berner seinerzeit ebenfalls eine Randexistenz innerhalb der religionswissenschaftlichen Forschung fest, die von ihm auf die Vermischung von objekt- und metasprachlicher Verwendung des Religionsbegriffs zurückgeführt wurde: Die in der europäischen Religionsgeschichte erfolgte Konzeptualisierung von Atheismus als Gegenbegriff zu Religion sowie die Übernahme dieses christlich-abendländischen Konzeptes in die Religionswissenschaft habe dazu geführt, die wissenschaftliche Atheismusdebatte überwiegend anderen Disziplinen, vor allem den Sozial wissenschaften sowie der Theologie, zu überlassen.45 Dabei fällt zumindest die historische Dimension des Atheismus unbedingt in den Bereich der Religions geschichte, sofern diese sich nicht in den Dienst einer religiös konnotierten Hegemonialgeschichtsschreibung stellen will.46 43 Buchowski, Michał (1999): Communism and Religion: A war of two worldview systems. In: Dolezalova, Iva/Martin, Luther/Papousek, Dalibor (Hg.): The Academic Study of Religion during the Cold War. East and West. New York u. a.: Peter Lang, S. 39–54. 44 Vgl. Ders. (2003): Vom Bürger zum Werktätigen, S. 315–336, bes. S. 322 und 331. 45 Vgl. Berner, Ulrich (1994): Religion und Atheismus. In: Bianchi, Ugo (Hg.): The notion of ‚religion‘ in comparative research. Selected proceedings of the XVI. IAHR Congress. Rom: L’Erma di Bretschneider S. 769–776, hier: 769. Eine ähnliche Ansicht vertrat Ninian Smart in seinem 1975 auf der IAHR gehaltenen Vortrag From the Tao to Mao, den er als „a protest against the rigid division between traditional and modern secular worldviews“ ansah und konstatierte: „It is after all ultimately an empirical matter to discover if theories worked out in regard to traditional religions also work in the case of their secular counterparts.“ Vgl. ders. (1983): The Scientific Study of Religion in its Pluratity. In: Whaling (Hg.): Contemporary Approaches, S. 377. 46 Vgl. Berner (1994): Religion und Atheismus, S. 776.
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a) Wie entsteht ‚das Religiöse‘ des Sozialismus? Die Verhältnisbestimmung von Sozialismus und Religion hat in der Forschung Tradition. Der einflussreiche Sozialpsychologe Hendrik de Man deutet in seinem 1927 erschienenen Werk Zur Psychologie des Sozialismus die sozialistische Zukunftshoffnung als „eschatologischen Glauben“. Als Beispiel dient ihm die auf bekannten christlichen Motiven beruhende Symbolik der sozialistischen Arbeiterbewegung, mit der gezielt eine affektive Wirkung unter der Anhängerschaft herzustellen versucht würde. Seine Beweisführung basiert im Wesentlichen auf Analogisierung von sozialistischen und christlichen Traditionen und Symbolen. Da de Man „Glaube“ zudem als etwas genuin Religiöses auffasst, wird Sozialismus notwendigerweise zur Religion – allerdings in einem eingeschränkten Sinn.47 Gut achtzig Jahre später argumentiert der Historiker Dieter Langewiesche strukturell ähnlich: In seinem Beitrag zum Sozialismus im Rahmen eines Sammelbandes, der Religionsstifter der Moderne von Karl Marx bis Johannes Paul II. zum Thema hat48, bezieht sich der Autor auf Selbstzeugnisse von Mitgliedern der Arbeiterbewegung, die ihre Hinwendung zum Sozialismus schildern. Er stellt fest, dass deren Lebenserzählungen Elemente umfassen, „die im säkularreligiösen Bekenntnis von Sozialisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts immer wieder auftauchen: Die Ungerechtigkeit der Klassengesellschaft wird als ein empirischer Beweis für die Nichtexistenz Gottes erfahren, die Kirche als ‚Konkubine‘ des Kapitalismus, ihre Prediger als ‚Hausknechte der besitzenden Klassen‘, wie andere Erinnerungen es formulieren. Der Bruch mit ihr wird in religiöser Sprache gedeutet.“49
Von dort aus gelangt Langewiesche zur Qualifizierung des Sozialismus: „Aufgewachsen in einer Umwelt gelebter Religion, bedarf es eines neuen Glaubens, um mit dem alten brechen zu können.“50 Dies ist insofern verblüffend, als dass die von ihm gemachte Feststellung, dass sich die Deutung der eigenen Lebensgeschichte in bekannten Sprachmustern bewegt, nicht zu einer genaueren Analyse der diesen Mustern zugrundeliegenden Tropen führt. Diese drängt sich angesichts des Materialbestandes aber nahezu auf; der Autor liefert mit einem 47 Die sachlich richtige Beobachtung der Autorität von Klassikerschriften als Legitima tionsmoment der kommunistischen Parteien dient ihm letztlich zur Diskreditierung des Vergleichsobjekts, womit der Studie zwei unterschiedliche Religionsbegriffe zugrunde gelegt werden, vgl. de Man, Hendrik (1927): Zur Psychologie des Sozialismus. Jena: Diederichs, S. 94 f. 48 Vgl. Christophersen, Alf/Voigt, Friedemann (Hg.): Religionsstifter der Moderne. Von Karl Marx bis Johannes Paul II. München: Beck. 49 Langewiesche, Dieter (2009): Die neue Religion des Sozialismus. Tat-Religion ohne Religionsstifter. In: Christophersen, Alf/Voigt, Friedemann (Hg.): Religionsstifter der Moderne. Von Karl Marx bis Johannes Paul II. München: Beck, S. 83–93. 50 Langewiesche (2009): Die neue Religion des Sozialismus, S. 86.
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weiteren Selbstzeugnis, in dem ein Arbeiter seine Teilnahme am Stiftungsfest eines sozialdemokratischen Ortsvereins schildert, ein einschlägiges Beispiel: „Es war die Liturgie des Festes, die ihn bannte. ‚Ringsum im Saale, an den Galerien und unten waren Wappenschilder und Sprüche angebracht. „Durch Nacht zum Licht“, „Nicht zählen wir den Feind“, „Licht in die Köpfe und Feuer in die Herzen“ und Ähnliches mehr. Das erhöhte meine Spannung beinahe ins Unerträgliche. […] hinten tauchten zwei Gipsköpfe auf. Wie ich später erfuhr, waren es die Büsten von Marx und Lasalle.‘ Der Redner ‚geißelt die Gesellschaftszustände‘. Krille [der Protagonist] kannte sie aus eigener Erfahrung, dennoch verstand er zunächst nichts. ‚Dann aber kam doch etwas in die Stimme, die mich aufhorchen ließ. Es flackerte etwas darin, wuchs und kam immer näher und wurde zuletzt zu einer riesengroßen Flamme, die mich ganz in Helligkeit setzte. Und nun fing ich an zu verstehen.‘ Die Gemeinschaft des sozialistischen Festes hat ihn erweckt. ‚Beinahe religiöse Gefühle trug ich […] heim.‘“51
Es ist unübersehbar, dass das berichtende Subjekt die in den politischen Transparenten präsente Lichtmetapher in die eigene Darstellung integriert, wo sie zum prägenden Motiv der Erzählung von der inneren Wandlung zum Sozialisten wird. Rein formal erinnert die Darstellung damit an Konversionserzählungen, deren Motivik später analog im historisch vollkommen anderen Zusammenhang der Staatsbürgerkunde wieder auftaucht. In der Analyse wird aber zwischen einer formalen und einer inhaltlichen Ebene nicht unterschieden. Ebenso wie bei de Man bleibt die Adaption bestimmter Rhetoriken und Redemuster sowie ihre Metaphorik – der Arbeiter spricht von „beinahe“ religiösen Gefühlen – unreflektiert. Stattdessen qualifiziert Langewiesche den Sozialismus abschließend als einen zeitgebundenen „Tat-Glauben“, der sich aus individuellen und kollektiven Lebenserfahrungen speiste, ohne seine Trägerschaft aber schließlich verschwand. Was blieb, sei der Versuch gewesen, die „Religion des Sozialismus“ durch institutionelle Zwänge aufrecht zu erhalten.52 Die Tatsache, dass sich im Sprachduktus des Zitats die kommentatorische Ebene des Autors und das Selbstzeugnis des Arbeiters vermischen, mag zu dieser Deutung beitragen. Die beiden Beispiele repräsentieren ein typisches Argumentationsmuster im wissenschaftlichen Umgang mit dem Untersuchungsfeld Sozialismus: Ein aus dem Christlichen entlehntes Vokabular, das die Analyseperspektive auf bestimmte Weise vorstrukturiert, wird der Untersuchung unterlegt, der Gegenstand damit in den Bereich des Religiösen gerückt. Während Langewiesche hier allerdings einen Materialbestand aufgreift, dessen Sprache eine entsprechende Deutung auf den ersten Blick plausibel erscheinen lässt, basieren andere Studien weit mehr auf Analogiebildungen und werden dadurch assoziativ. Der Ver-
51 Langewiesche (2009): Die neue Religion des Sozialismus, S. 86 f. 52 Vgl. Langewiesche (2009): Die neue Religion des Sozialismus, S. 92 f.
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wendung des Religionsbegriffs – in welcher Form auch immer – kommt dann lediglich eine Abgrenzungsfunktion zu, die terminologisch häufig über den Ideologiebegriff konstruiert wird.
b) Ideologie oder Religion? Differenzbegriffe, Realdefinitionen und die Frage nach der ‚guten‘ Religion Nach dem zweiten Weltkrieg erlebte der politische Ideologiebegriff eine Renaissance, wobei der ursprünglich philosophische Begriffsgehalt durch einen politischen überlagert wurde. Mit der Anknüpfung an eine traditionsreiche Negativkonnotation wurde der Term selbst „in hohem Maße ideologisiert“53, und, eingespeist in den alltagspolitischen Konflikt, zum Synonym für intolerante, geschlossen-doktrinäre, simplifizierende, theoretische Lehren. Der Ideologiebegriff wurde zum Ideologievorwurf. In ihrer Abgrenzungsfunktion verweist die Zuschreibung als „ideologisch“ zugleich auf einen positiv besetzten Gegenbegriff. Dies wirkt bis heute nach. Es ist kein Zufall, dass der Autor des Artikels Ideologie im Lexikon Geschichtlicher Grundbegriffe zu der Konklusion gelangt, dass jede „Weltanschauung“, verstanden als „System von Ideen, Einstellungen, Zielund Wertsetzungen“, als „‚Ideologie‘ bezeichnet werden“ könne, ohne dass in diesem Zusammenhang – anders als bei Kurt Rudolph54 – der Begriff Religion
53 Vgl. Ulrich Dierse, der die Geschichte des Ideologiebegriffs von der politischen Publizistik unter Napoleon III., wo dieser bereits vom ursprünglich philosophischen Terminus zum „polemisch verwendeten Schlagwort“ und politischen „Kampfbegriff “ wurde, über die Begriffsverwendung bei Karl Marx und Friedrich Engels hin zur westdeutschen soziologischen Debatte skizziert. Während der Term in der marxistischen Deutung die Konnotation einer Illusion oder Selbsttäuschung im Sinn eines „verkehrten Selbstbewusstseins“ erhielt (vgl. S. 148), unterstellt der als Politikum verwendete Ideologievorwurf „ein Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis“ (vgl. S. 131 f.) Nach dem zweiten Weltkrieg wurde der Ideologiebegriff in die Auseinandersetzung der Blöcke eingespeist; seine Konnotation als „intolerant und dogmatisch, missionarisch, doktrinär, geschlossen, simplifizierend“ diskreditierte den Begriff nachhaltig. Vgl. ders. (1995): Art. Ideologie. In: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischen Sprache in Deutschland Band 3. Stuttgart: Klett Cotta, unveränderter Nachruck der 1. Auflage, S. 131–169, hier: 167. 54 Vgl. Rudolf, Kurt (1978): Die ideologiekritische Funktion der Religionswissenschaft. In: Numen Nr. 25, S. 17–39. Mit seinem Versuch, einen neutralen Ideologiebegriff zu etablieren, kann Rudolph zumindest einen gewissen Zusammenhang von ‚Ideologie‘ und ‚Religion‘ konstatieren, ohne dass das eine im anderen aufgeht. Sein begriffsheuristisches Konzept sieht vor, ‚Ideologie‘ zunächst als „historisch entstandenen und weltanschaulich geprägten Vorstellungen“ zu verstehen, die menschliches „Denken, Empfinden und Verhalten in ausschlaggebender Weise bestimmen.“ (S. 21) Religion sei nur teilweise unter Ideologie einzuordnen, insofern sie neben „Ideen“ und „Vorstellungen“ eine soziale, politische und ethisch-moralische Praxis umfasse. (Vgl. S. 22) Nach marxistisch-leninistischem Selbstverständnis träfe dieses freilich auch auf die „sozialistische Weltanschauung“ zu. Rudolphs Begriffsbildung wird hier, wohl nicht zuletzt aus politischen Gründen, unscharf.
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fällt.55 Religion und Ideologie werden hier zum Gegenbegriffspaar, womit Ideologie ins Wortfeld Religion rückt. Aus diskursiver Perspektive ist Ideologie damit nicht nur Teil eines sozialen und politischen Konflikts, in dessen Medium er aufgeschlüsselt werden kann56, sondern ebenso Teil des religiösen Feldes. Der Ideologievorwurf bleibt der Forschung bis heute unterlegt. Die Argumentation lässt sich beispielhaft an der zuvor angeführten Debatte der EnquêteKommission des deutschen Bundestages nachzeichnen. Dass damals zur Bewertung der DDR vor allem auf die Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels zurückgegriffen wurde, ist religionswissenschaftlich interessant, insofern die Argumentationsstruktur Parallelen zum Religionsdiskurs aufweist: Die Prämisse, dass die Authentizität eines religiösen Phänomens vom Grad seiner Bezogenheit auf eine „Originalquelle“ sowie deren korrekter Rezeption abhängt, spiegelt dort ein textbasiertes Religionsverständnis wider. Dieses war für die Herausbildung einer religionswissenschaftlichen Hermeneutik konstitutiv57 und wurde erst im Kontext neuerer Auseinandersetzungen um die grundsätzliche Frage nach der Autorität von Schriftquellen als essentialistisch kritisiert.58 Bezogen auf die Auseinandersetzung mit der DDR ist es interessant zu überlegen, inwiefern sich die Diskussion um die Bedeutung des Marxismus-Leninismus strukturell an diese Debatte anlehnt. Als wesentliches Unterscheidungskriterium zwischen Religion und Ideologie wird gewöhnlich der Bereich des Politischen angeführt. Auffällig bleibt, dass, 55 Obwohl Dierse unter Verweis auf Talcott Parsons ‚Ideologie‘ als „system of beliefs“ umschreibt, bleibt der Religionsbegriff Außen vor, vgl. (1995): Ideologie, S. 168. 56 In Anlehnung an Reinhart Koselleck (1989): Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt: Suhrkamp, 1. Auflage (Original 1979), S. 107–129, hier: 114. 57 Dazu Tanaseanu-Döbler, Ilinca/Döbler, Marvin (2011): Interpretation religiöser Quellentexte. Die Natur zwischen Gott und Mensch in der Schrift De planctu naturae des Alanus ab Insulis. In: Kurth, Stefan/Lehmann, Karsten (Hg.): Religionen erforschen. Kulturwissenschaftliche Methoden in der Religionswissenschaft. Wiesbaden. VS Verlag, S. 21–41, bes. 22–26. Einen Fokus der Debatte bildet die Auseinandersetzung um die Gewichtung von philologischen versus sozialwissenschaftlichen Methoden in der Religionswissenschaft, die auch als Auseinandersetzung von universal- bzw. lokalgeschichtlichen Ansätzen beschrieben worden ist, vgl. dazu Franke, Edith (2005): Die Erforschung lokaler Religionen als Aufgabe der Religionswissenschaft. In: dies. (Hg.): Fremd und doch vertraut. Eindrücke religiöser Vielfalt in und um Hannover. Marburg: diagonal, S. 11–22, bes. 11 f. 58 So Edith Franke und Verena Maske (2011): Teilnehmende Beobachtung als Verfahren der Religionsforschung. Der Verein Muslimische Jugend in Deutschland e. V. In: Religionen erforschen, S. 105–134, bes. 129: „Werden hauptsächlich autorisierte Texte religiöser Traditionen oder Aussagen prominenter Gläubiger zur religionswissenschaftlichen Theoriebildung herangezogen, so hat dies implizit zur Konsequenz, dass Religionen überwiegend als verfestigte Glaubenssysteme analysiert werden. […] Die Ebene von Religionen als materialisierte und damit verobjektivierte soziale Systeme, die durch das Handeln von Menschen entstehen und auf Handlungs- und Einstellungsmuster in sehr heterogener Weise zurückwirken, bleibt jedoch vernachlässigt.“
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auch wo abgrenzend von Ideologie die Rede ist, argumentativ häufig auf ‚religiöses‘ Vokabular zurückgegriffen wird. Die ‚Religionsaffinität‘ des Gegenstandes wird dabei allerdings mit der Perspektive auf Macht und Herrschaft verbunden; die „marxistische Ideologie“ oszilliert so zwischen „Herrschaftsinstrument und politische[r] Heilslehre“.59 Die Verwendung des Ideologie-Begriffs scheint dabei so selbstverständlich zu sein, dass sie nicht infrage steht, womit versäumt wird, der der Begriffsverwendung unterlegten Trennung von Ideologie und Religion auf die Spur zu kommen. Aus religionswissenschaftlicher Sicht ist es gerade diese implizite Unterscheidung, die solche Materialien wie die Berichte der Enquête-Kommission als Quelle für den Religionsdiskurs im Deutschland der 1990er Jahre interessant macht. Ideologie ist dabei höchstens die ‚falsche‘ Religion. Damit wird die zuvor über den Religionsbegriff vermeintlich eingeführte Vergleichsebene infrage gestellt; Religion kommt hier allenfalls die Funktion eines Pseudo-tertium comparationis zu. Der sich hinter der Qualifizierung von Ideologie als ‚falscher Religion‘ verbergende Definitionsanspruch verweist in diesem Fall eher auf eine religiös motivierte Innenperspektive. Dass das evaluative Moment offenbar nur schwer zu durchbrechen ist, zeigen Beiträge, die die mit der totalitarismustheoretischen Perspektive verbundene Problematik durchschauen und gezielt vermeiden wollen, mitunter aber nicht nur in dieser verbleiben, sondern sie durch die theoretisch unklar bleibende Differenzierung in Religion und Ideologie stützen.60 Auch wo die analogisierende Perspektive dazu dient, die Beurteilung des Marxismus-Leninismus zu vermeiden, scheint eine solche im Klassifizierungsvokabular wieder auf:
59 Vgl. Ihme-Tuchel, Beate (2003): Marxistische Ideologie – Herrschaftsinstrument und politische Heilslehre. In: Eppelmann, Rainer/Faulenbach, Bernd/Mählert, Ulrich (Hg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Paderborn u. a.: Schöningh, S. 107–112. Ihme-Tuchel liefert eine sehr sorgfältige und differenzierte forschungsgeschichtliche Übersicht über den Ideologie-Diskurs, der bis heute andauert. Auch wenn wesentliche Forschungsdebatten vor 1989 geführt wurden, kommen auch neuere Überblicksdarstellungen zur DDR-Geschichte immer wieder auf die Bedeutung der ‚Ideologie‘ für die Herrschaftssicherung der Partei zurück. 60 So zum Beispiel Martin Sabrows Beitrag zur Rezeption des sowjetischen Sputniks in der DDR und dessen Bedeutung für das sozialistische Fortschrittsdenken. Seine Argumentation bleibt vor allem in einem Punkt wenig einsichtig: Zuerst beschreibt er seinen Gegenstand ausführlich mit einem aus dem religiösen Bereich entlehnten Vokabular – von „Apotheose des Fortschritts“, „transzendente[r] Kraft [eines] neuen Gottes“, „hymnische[r] Anbetung“, „religiöse[m] Pathos“ oder „Allmachtsglaube“ ist die Rede –, um dann direkte Parallelen zum christlichen Messiaskonzept zu ziehen (der Sputnik-Start als „Messianismus des Neuen Menschen“). Den letzten Argumentationsschritt, das Phänomen aus den dargelegten Gründen auch als ‚religiös‘ einzuordnen, bleibt er jedoch schuldig. Seiner Analyse ist damit eine qualitative Bewertung unterlegt, der ein doppelter Religionsbegriff zugrunde liegt. Vgl. ders. (2009): Chronos als Fortschrittsheld: Zeitvorstellungen und Zeitverständnis im kommunistischen Zukunftsdiskurs. In: Polianski, Igor/Schwartz, Matthias (Hg.): Die Spur des Sputnik. Kulturhistorische Expeditionen ins kosmische Zeitalter. Frankfurt/New York: Campus, S. 119–134, bes. 121–123.
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„Doch wird die Fokussierung allein auf Macht erhaltende Legitimation der Multifunktionalität von Ideologie nicht gerecht – wie auch die Bedeutung der Religion allein als ‚Opium für das Volk‘ (Lenin) kaum zu begreifen sein dürfte. Eine solche Position ist wenigstens in zweifacher Hinsicht problematisch: Sie unterstellt einer Führungsclique reinen Machiavellismus und bezweifelt ihre quasireligiöse Bindung an die Offenbarungen der eigenen Weltanschauung. Der Marxismus-Leninismus reduziert sich in dieser Argumentation auf ein bloßes Feigenblatt repressiver Parteipolitik, seine Bedeutung als theoretischer Bezugsrahmen realpolitischer Entscheidungen wird dagegen unterschätzt.“61
Das Ringen um ein adäquates Beschreibungsinstrumentarium bleibt dort dem realdefinitorischen Anspruch verpflichtet, wo davon ausgegangen wird, dass es einen vordiskursiven Bereich Religion gibt, der schlüssig abgrenzbar ist von Ideologie oder Weltanschauung als ihrer ‚Imitate‘. Burkhard Gladigow bezeichnete diese Suche im Rahmen religionswissenschaftlicher Forschung als Konsequenz eines aktiv-konstruktiven Verhältnisses „zur Relation von Religion und Religionen“, mehr noch: „von falscher und wahrer Religion“. Die Diskussion über eine Definition von Religion wird „durch ihre eigenen Prämissen eingeholt“. Gladigow gelangt zu seinem vielzitierten Resümee: „Auf der Ebene von Realdefinitionen“, wobei es unerheblich ist, ob diese Definitionen substantiell oder funktional formuliert sein mögen, bleibt „die Entscheidung darüber, was Religion ist [oder eben leistet] und was nicht, ein religiöses Urteil, keine wissenschaftliche Aussage.“62 Dies würde erklären, weshalb im weiter oben skizzierten Antwort 61 Ploenus (2007): „… so wichtig wie das tägliche Brot“, S. 42 f. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung in Bezug auf den frühen Sozialismus gelangt auch Dieter Langewiesche, wenn er diesen als „Tat-Glauben“ bezeichnet, ohne den „die sozialistische Arbeiterbewegung nicht so viele Menschen für sich gewonnen [hätte]“, vgl. ders. (2009): Die neue Religion des Sozialismus, S. 93. Abgesehen von der aus religionswissenschaftlicher Sicht simplifizierten Vorstellung davon, wie Rezeptionsprozesse und „Glaube“ ineinandergreifen, gelingt es in den ausgewählten Beispielen nur bedingt, die normative Perspektive zu verlassen. Die Begriffsbildungen, mit denen der Gegenstand umschrieben und konzeptualisiert wird, enthalten eine so deutliche Wertung in Bezug auf „Religion“, dass sie für eine unvoreingenommene Analyse unbrauchbar werden. 62 Er bezieht sich dabei auf Bertil Wahlström und ergänzt im Hinblick auf Jacques Waarden burgs Vorschlag: „Diese Grundantinomie läßt sich auch nicht durch eine Unterscheidung von ‚„wirklich“ religiösen Tatbeständen‘ und ‚„wirksam“ religiösen Tatbeständen‘ überspielen, vgl. ders. (1988): Gegenstände und wissenschaftlicher Kontext von Religionswissenschaft. In: HrwG Band 1, S. 26–40, hier: 29. Jacques Waardenburg hatte zuvor ähnlich argumentiert: „Es gibt eine Unzahl von Orientierungen und Bewegungen in Vergangenheit und Gegenwart, die einen religiösen Sinngehalt oder eine religiöse Funktion gehabt haben bzw. haben. Sie wurden und werden aber hauptsächlich deshalb nicht als ‚Religion‘ erkannt, weil sie sich außerhalb dessen befanden oder befinden, was im gewöhnlichen Sprachgebrauch als ‚Religion‘, d. h. normative Religion, bezeichnet und vom Gläubigen positiv und vom Ungläubigen negativ bewertet wird. Der herkömmliche ‚normative‘ Religionsbegriff bewirkt also, daß wir ‚Religion‘, die außerhalb dieser Religionsnorm liegt, nicht als solche begreifen können. [Hervorh. i. Orig.]“ Vgl. ders. (1986): Religion und Religionen. Systematische Einführung in die Religionswissenschaft. Berlin: de Gruyter, S. 246. Waardenburg weist hier auf die Diskursivität des Religionsbegriffs
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spektrum auf die Klassifizierungsfrage die Aussage Marxismus-Leninismus ist (eine) Religion nicht vorkommt. Gewiss bliebe auch die umgekehrte Feststellung einem Vorverständnis verhaftet, das nicht minder erläuterungsbedürftig ist.63 Die Zuschreibungsprozesse bringen vor allem Abgrenzungsbegriffe hervor. Unabhängig davon, ob es sich um pejorative Bezeichnungen wie „Ersatz-“ und „Pseudo-Religion“ oder Adjektivbildungen wie „religionsähnlich“64 handelt, bleibt all diesen Begriffsbildungen ein realdefinitorischer Anspruch unterlegt, der mit der Art des klassifikatorischen Anliegens verbunden ist. Etwas „als Religion“ zu beschreiben bedeutet in diesem Fall, von einer substantiellen Unterschiedlichkeit auszugehen, die an ein normatives Verständnis dessen appelliert, was ‚eigentlich‘ als Religion angesehen werden sollte. Insofern arbeiten die Studien mit einem doppelten, qualitativ unterschiedlich konnotierten Religionsverständnis.65 Die Abgrenzungsrhetorik funktioniert freilich auch in die andere Richtung, wenn religionskritische Beweggründe die Ursache dafür bilden, eine ver gleichend-analogisierende Perspektive von vornherein abzulehnen.66 In beiden hin, wenngleich sich mit der Formulierung vom „religiösen Sinngehalt“ bzw. der „religiösen Funktion“ ein realdefinitorisches Verständnis einschleichen mag. 63 Darauf weist Michael Bergunder explizit in Bezug auf die religionswissenschaftliche Definitionspraxis hin, wo dem von ihm als „Religion 2“ bezeichneten Vorverständnis legitimatorische Funktion zukommt: Religion 2 werde herangezogen, „um die Plausibilität von Religion 1 aufzuzeigen, insbesondere in den polythetischen Religionsdefinitionen, in denen Religion 2 als Prototyp fungiert. Religion 2 bleibt dennoch weitgehend unerklärt und unerforscht, gilt aber zugleich, im völligen Gegensatz zu Religion 1, bezüglich ihrer inhaltlichen Merkmale als weitgehend konsensfähig und unumstritten.“ Vgl. ders. (2011): Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft. In: ZfR 19, Heft 1/2, S. 3–55, hier: 12. Bei Bergunder ist die Analyse der unterschiedlichen Religionsbegriffe eingebunden in die Grundlagendebatte um den Religionsbegriff und somit den Gegenstandsbereich der Religionswissenschaft, die er die „große Kontradiktion“ (bzw. das „große Paradoxon“) nennt. 64 Ein Beispiel aus der Politikwissenschaft liefert der Beitrag von Manuel Becker (2009): Ideologiegeleitete Diktaturen in Deutschland. Zu den weltanschaulichen Grundlagen im „Dritten Reich“ und in der DDR. Bonn: Bouvier, zusammengefasst in dem Aufsatz (2010): Religionsähnliche Züge im Marxismus-Leninismus der DDR. Anmerkungen zu einem Forschungsdesiderat. In: Deutschland Archiv 43, H 1, S. 127–133. Besonders problematisch ist, dass Becker sich für die Klassifizierung an die normative These des „Religionsersatzes“ von Hans Buchheim anlehnt. 65 Dies macht sie religionswissenschaftlich wenn nicht unbrauchbar, so doch fragwürdig. Auch Vasilios Makrides fordert, „säkulare Phänomene“ unabhängig „von der Frage nach ihrer endgültigen Klassifikation“ zu behandeln, vgl. ders. (2012): Jenseits herkömmlicher Religionsformen, S. 270. Unverständlich bleibt dabei jedoch sein Fazit: „[S]olche säkularen Ersatzsysteme [sind] generell nicht in der Lage, mit traditionellen Religionen auf gleicher Augenhöhe zu konkurrieren.“ Ebd., S. 274. 66 Auf diese Wechselseitigkeit hat auch Oliver Freiberger in Bezug auf den herkömmlichen Religionsvergleich hingewiesen, vgl. ders. (2011): Der Vergleich als Methode und konstitutiver Ansatz der Religionswissenschaft. In: Kurth, Stefan/Lehmann, Karsten (Hg.): Religionen erforschen. Kulturwissenschaftliche Methoden der Religionswissenschaft. Wiesbaden: VS, S. 199–218, hier: 202 f.
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Fällen aber bleibt der Religionsbegriff prinzipiell in eine komparatistische Sichtweise eingebunden, die selbst religiös motiviert sein kann.67 Den sich daraus ergebenden Befund in Bezug auf den Kommunismus formuliert Michail Ryklin wie folgt: „Auch wenn sie dem Kommunismus den Status einer Religion nicht absprechen, kommen viele Forscher zu dem Schluß, daß er im Vergleich zu seinen Vorgängerinnen eine schwache Religion gewesen sei, die diese Bezeichnung nur schwerlich verdiente, mehr noch: Der Kommunismus sei nur eine Karikatur der Religion. […] Folgt man dieser Logik, so war der Kommunismus nicht mehr als eine Ersatzreligion, eine kraftlose Nachahmung des vollwertigen Prototyps, vor allem des Christentums.“68
Der Religionsbegriff als vermeintliches tertium comparationis dient auch in diesem Fall einer evaluativen Unterscheidung zwischen der ‚guten‘ oder ‚richtigen‘ bzw. der ‚falschen‘ Religion. Dass die Analogie keineswegs erklärend für sich steht, sondern sich aus ihr weitere, auch terminologische Fragen ergeben, hat der Politikwissenschaftler Peter Berghoff in Bezug auf die Konstruktion des politischen Kollektivs formuliert: „Wenn Nationalismus […] als Religionsersatz bezeichnet wird, ist dies nur ein kleiner Teil der Wirklichkeit, denn viele Nationalisten verstanden es durchaus, Nationalismus und religiöse Tradition zu verbinden. Zudem muß man fragen: Wenn der Nationalismus die Religion ersetzt hat, wie ist dann dieser Ersatz zu bezeichnen? Als schlichte säkulare Weltanschauung? Dazu würden aber die […] ‚transzendentalen Qualitäten‘ nicht passen. Wird der Nationalismus aber als eine Religion verstanden, ist er kein Ersatz, sondern allenfalls eine andere Form von Religion.“69
Eine „‚[r]eligionistische‘ Terminologie in soziologischen Erklärungsansätzen“ zur Analyse der „profanen ‚Heiligenverehrung‘“ kritisiert auch der Kulturwissenschaftler Gottfried Korff mit dem Hinweis auf das sich daraus ergebende „Analogieproblem“. Dieses strukturiere die Forschungsliteratur, obwohl es „keineswegs
67 Vgl. Mohn, Jürgen (2009): Komparatistik als Position und Gegenstand der Religionswissenschaft. Anmerkungen zum religionswissenschaftlichen Vergleich anhand der Problematik einer Komparatistik des Zeitverständnisses im Christentum (Augustinus) und im Buddhismus (Dôgen). In: Bernhardt, Reinholt/Stosch, Klaus von (Hg.): Komparative Theologie. Interreligiöse Vergleiche als Weg der Religionstheologie. Zürich: TVZ, S. 225–276, hier: 225 f. 68 Ryklin (2008): Kommunismus als Religion, S. 41 f. 69 Berghoff, Peter (1997): Der Tod des politischen Kollektivs. Politische Religion und das Sterben und Töten für Volk, Nation und Rasse. Berlin: Akademie-Verlag, S. 77. Im Rahmen der Rezeptionsanalyse zum Thema Nationalismus kritisiert weiter Berghoff ein auf das Christentum eingeschränktes Religionsverständnis sowie die terminologische Unklarheit in Bezug auf die Frage, was als ‚säkuare‘ bzw. ‚weltliche‘ Religion verstanden werden kann, vgl. ebd. v. a. S. 78.
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sicher ist, ob es sich beim Starkult, bei der Personenverehrung und bei der Heiligendevotion überhaupt um analoge Phänomene handelt“.70 Eine maßgebliche Problematik der Rezeption bildet somit der den Untersuchungen unterlegte doppelte Religionsbegriff. Er verweist auf eine sinnbildliche Begriffsverwendung – die Rede von Sozialismus oder Kommunismus ‚als Religion‘ bildet eine Metapher. Als versprachlichtes Denkmodell, mit dem „auf den Primärgegenstand (das zu definierende Etwas) Eigenschaften [übertragen werden], die ursprünglich als Prädikate des Sekundärgegenstandes (des Mittels, mit dem definiert werden soll) galten“, ist sie zunächst, so betont die Literaturwissenschaftlerin Astrid Erll, von heuristischem Wert.71 Es ist die Metapher, die die Ähnlichkeiten herstellt, die sie aufzudecken vorgibt. „Ähnlichkeit als Beziehungskategorie“ ist, wie die Soziologin Susanne Lüdemann es formuliert, „eine Kategorie der Wahrnehmung, nicht der Eigenschaft des Realen“, wobei das, was „dergestalt verglichen wird, […] oft gar nicht Wahrnehmungen [sind], sondern Vorstellungen oder Schemate, die entweder von Wahrnehmungen abstrahiert sind oder gar nicht auf Wahrnehmungen rekurrieren.“72 Metaphorische Rede hat ihren Ursprung in der zur Verfügung stehenden Sprache und dem mit ihr zusammenhängenden Denken in bestimmten Kategorien. Metaphorische Umschreibungen kommen nicht umhin, auf Analogiebildungen zu basieren. Ihre Verwendung ist zudem kaum vermeidbar, insofern jede Kommunikation wesentlich über Metaphorik funktioniert; die für die Wissenschaft bekannteste und erkenntnistheoretisch folgenreichste Metapher ist die der Quelle.73 Ein metaphorischer Religionsbegriff kann durchaus einen Gewinn für die Forschung bilden, insofern er Phänomene in den religionswissenschaftlichen 70 Vgl. Korff, Gottfried (1997): Personenkult und Kultpersonen. Bemerkungen zu profanen ‚Heiligenverehrung‘ im 20. Jahrhundert. In: Kerbel, Walter (Hg.): Personenkult und Heiligenverehrung. München, S. 157–183, hier: 180 f. Korff nennt vier verschiedene Ansätze zur Theoretisierung einer „modernen Heiligenverehrung“: die These von der Kontinuität, der Regression, dem funktionalen Äquivalent sowie der anthropologischen Konstante. Problematisch bleibt die Einordnungsfrage aber in allen Fällen. 71 Vgl. Erll, Astrid (2011): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Metzler, S. 110. 72 Vgl. Lüdemann, Susanne (2004): Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziolo gischen und politischen Imaginären. München: Fink, S. 40 f. 73 Vgl. Zimmermann, Michael (1997): Quelle als Metapher. Überlegungen zur Historisierung einer historiographischen Selbstverständlichkeit. In: Historische Anthropologie. Kultur, Gesellschaft, Alltag, 5. Jg., Heft 2, S. 268–287. Den Ausgangspunkt für Zimmermanns Analyse bildet der in der Geschichtswissenschaft verwendete Begriff der Quelle, den er auf zweifache Weise metaphorisch konnotiert sieht: Im Sinn der Wasser-Metaphorik, in der die historische Quelle als aus der Geschichte herausfließend gedacht wird, sowie als Licht-Metaphorik, wobei die Quelle ein Licht auf ein historisches Geschehen wirft; ihr Potenzial an Leuchtkraft bleibt dabei zunächst offen. Erkenntnistheoretisch problematisch wird es erst, wenn die Metaphorik als solche unterkannt bleibt und als methodisches Missverständnis in die Redewendung ‚die Quellen sprechen lassen‘ diffundiert.
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Gegenstandsbereich rückt, die ansonsten unbemerkt geblieben wären.74 Problematisch wird die Metapher erst auf der Deutungsebene, wenn das Metaphorische dort unreflektiert bleibt. Dass auch innerhalb eines Gegenstandsbereichs metaphorische Sprache verwendet werden kann, hat der zu Beginn angeführte Quellenbestand von arbeiterlichen Selbstzeugnissen in Bezug auf die Hinwendung zum Sozialismus gezeigt. Wo diese Reden nicht in ihrer Metaphorik erkannt werden, bleibt das Potenzial, Quellen auf ihre narrativen Formen zu untersuchen, ungenutzt. Der aus der Gleichsetzung von Sprachstrukturen und Inhalten resultierenden Klassifikation arbeiterlicher Selbstzeugnisse als religiös entgeht zudem, dass Form und Inhalt zwei unterschiedliche Ebenen der Betrachtung bilden. Die Rezeptionsanalyse hat gezeigt, dass mit dem Versuch, Sozialismus als religiös zu beschreiben, theoretische und terminologische Probleme verbunden sind, die in der Debatte allerdings kaum eine Rolle spielen. Vielmehr kommt diese ohne weitere kritische Auseinandersetzung mit den Leitbegriffen ihrer Analyse, „Religion“ und „religiös“, aus.75 Dies mag den unterschiedlichen Fachkulturen geschuldet und insofern nachvollziehbar sein, bleibt aber ein theoretisches Manko. Ebenso unterreflektiert bleibt, auf welcher Ebene die Phänomene als religiös anzusehen sind, was den analytischen Wert der Studien insgesamt eher schmälert, ihre diskursive Bedeutung hingegen erhöht.76 Ihr politischer Gehalt –
74 Auf die Metaphorik des Religionsbegriffs im Zusammenhang mit der Untersuchung des Kommunismus hat bislang ausschließlich Michał Buchowski hingewiesen. Er sieht grundsätzlich einen Gewinn im metaphorischen Sprachgebrauch: „It makes us aware of phenomena that would otherwise have passed unnoticed.“ Ders. (1999): Communism and religion, S. 53. 75 Eine Ausnahme bildet die Studie des russischen Philosophen Michail Ryklin, der in Bezug auf den Kommunismus konstatiert: „Jedem, der es unternimmt, über Kommunismus als Religion zu schreiben, stellt sich die Frage, was als Religion gelten kann.“ Er differenziert dann allerdings ein substantielles Verständnis (im Kern Theismus) von einem funktionalen, mit dem Religion als „System höchster Motivationen, die das menschliche Leben mit Sinn erfüllen, als etwas, um dessentwillen Menschen bereit sind, Opfer zu bringen“ verstanden werden könne. Für seine Argumentation praktikabel, sind mit dieser Begriffsbestimmung weitere Probleme verbunden. Vgl. ders. (2008): Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution. Frankfurt/Main/Leipzig: Verlag der Weltreligionen, S. 46. 76 Diese Verflechtung zeigt sich auch darin, dass die wenigen systematischen Beiträge zum Thema Religion und Atheismus im Sozialismus zumeist aus der Feder ehemaliger DDR-Wissenschaftler stammen, wie zum Beispiel Olof Klohr oder Hans Lutter, beide seinerzeit führende Religionstheoretiker und auf dem Gebiet des Wissenschaftlichen Atheismus bzw. der marxistischen Religionssoziologie tätig. Olof Klohr (1927–1994) hatte den ersten und einzigen Lehrstuhl für Wissenschaftlichen Atheismus inne, der von 1964 bis 1968 an der Philosophischen Fakultät der Universität Jena bestand. Danach leitete er eine 1972/73 gegründete gleichnamige Forschungsgruppe am Institut für Marxismus-Leninismus der Hochschule für Seefahrt in Warnemünde-Wustrow (Ostsee), die sich hauptsächlich mit Katholizismus in der DDR und Religionssoziologie beschäftigte. Hans Lutter (1928–2009) war Leiter der seit 1974 an der Pädagogischen Hochschule Liselotte Herrmann in Güstrow (Ostsee) bestehenden Forschungsgruppe Wissenschaftlicher Atheismus später Marxistisch-leninistische Religionswissenschaft, die
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die Verhältnisbestimmung von Ideologie und Religion bildet keine Beschreibungsmodalität, sondern eine politische Stellungnahme – macht derartige Klassifizierungen religionswissenschaftlich allerdings unbrauchbar. Zwar ermöglicht die kritische Evaluation der Konzepte eine gewisse Umsicht im Umgang mit Klassifizierungsfragen. Die vorgebrachten Einwände und die in der Rezeptionsanalyse aufgezeigten terminologischen und theoretischen Schwierigkeiten werfen allerdings die Frage auf, wie ein alternativer Forschungszugang zu Sozialismus und sozialistischer Weltanschauung aussehen könnte. Die narrative Struktur der Weltanschauung, wie sie in den Lehrbüchern der Weltanschauungserziehung auffindbar ist, bietet dafür den geeigneten Ansatzpunkt.
c) Weltanschauung in Form und Inhalt In der Religionswissenschaft ist „Weltanschauung“ bislang sowohl als metasprach licher Begriff als auch als Gegenstand angedacht worden.77 Die metasprachliche Verwendung generiert jedoch ähnliche Probleme, wie die mit dem Religionsbegriff verbundenen. Was zunächst schlicht ‚Anschauungen von der Welt‘ zu bezeichnen scheint und damit eine gewisse Neutralität suggerieren mag, müsste genauso erläutert, problematisiert und theoretisiert werden, wie das Konzept Religion auch. Dass dabei die Gefahr groß ist, schon allein auf Grund des Weltbegriffes in christliche Fahrwasser zu gelangen78, zeigt etwa Smarts Operatioschwerpunktmäßig zum Protestantismus in der DDR forschte. Zu den Angaben vgl. Thiede (2009): Christlich-marxistischer Dialog in der DDR, S. 288. Für die entsprechenden Artikel: Klohr, Olof (1993): Atheismus und Religion in der DDR. In: Heydemann, Günther/Kettenacker, Lothar (Hg.): Kirchen in der Diktatur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 282–293; Lutter, Hans (2006): Gegensätze zwischen Weltanschauungen sind keine Gegensätze zwischen Menschen. Zur Geschichte des Atheismus in der DDR. In: Isemeyer, Manfred (Hg.): Humanismus ist die Zukunft. Festschrift. Hundert Jahre Humanistischer Verband Berlin. Gräfenhai nichen: Winkler Druck, S. 167–182. Auch Horst Groschopp, promovierter Kulturwissenschaftler der Humboldt-Universität, heute Direktor der Humanistischen Akademie in Berlin, beteiligt sich an der Debatte zum Verhältnis von Religion und Atheismus in der DDR, vgl. ders. (2007): Atheismus und Realsozialismus in der DDR. In: Säkulare Geschichtspolitik. Heft 20 der Reihe Humanismus aktuell. Berlin, S. 67–83. 77 Klassisch bei Ninian Smart (1983): Worldviews. Crosscultural explorations of human beliefs. New York: Charles Scribner; programmatisch auch bei: Droogers, André/van Harskamp, Anton (Hg.) (2014): Methods for the Study of Religious Change. From Religious Studies to Worldview Studies. Sheffield: Equinox. 78 Die verschiedenen Abschnitte des RGG-Artikels „Welt“ spiegeln dies wider: Auch wenn die religionswissenschaftliche Begriffsgeschichte beim antiken Kosmos ansetzt und damit historisch weit hinter die christliche Begriffstradition zurückgeht, erhält der Terminus dann in der ausschließlich christlichen Anwendung eine entsprechende Konnotation. Dies trifft auch für den Eintrag in der TRE zu, wo der Terminus einleitend als „Inbegriff “ des „Weltverhältnis[ses] des Menschen“ entworfen, letztlich aber auf ein christliches Verständnis zurückgeführt wird, wenn es heißt: „Er [der Weltbegriff] korrespondiert der Deutung des menschlichen Weltver-
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nalisierung in sechs Dimensionen von Weltanschauung, die deutlich am Christentum orientiert sind und auch so exemplifiziert werden.79 Allerdings soll die konzeptuelle Kritik nicht den wissenschaftsgeschichtlichen und vor allem den seinerzeit politischen Wert des Modells schmälern.80 Der von Smart vertretene, analytische und theoretische Anspruch – der Aussagewert von Theorien könne sich durchaus daran erweisen „how far theorizing goes beyond the traditional faiths“81 – hat bislang nicht zu einer Begriffsschärfung geführt. Der Term ist, auch wenn er weiterhin in der religionswissenschaftlichen Diskussion präsent ist82, insgesamt eher schwammig geblieben und nach wie vor theoretisch unterreflektiert, was auch damit zusammenhängen mag, dass unklar bleibt, inwieweit ein heuristisches Konzept Weltanschauung der Begriffsheuristik Religion etwas hinzuzufügen vermag. Ein von der Hoffnung auf angemessenere Beschreibung geleitetes realdefinitorisches Anliegen würde den Term indes nur in die Gesamtheit von Differenzbegriffen einreihen und – ähnlich wie „Matrix-Kult“ oder „Fußballreligion“ – etwas zu bezeichnen suchen, das ‚eigentlich‘ nicht in den Bereich gehört oder zumindest irgendwie davon abhältnisses in der Sicht des christlichen Glaubens“, vgl. ebd., S. 537. Es ist denn auch kein Zufall, dass der besonders im US-amerikanischen Raum verbreitete Begriff der Worldview Studies als Bezeichnung für baptistisch-theologische Studiengänge dient. Worldview ist dabei mitnichten ein Vergleichsbegriff. 79 Erstmals vorgeschlagen in The Religious Experience of Mankind (1969, dort S. 6–12) greift Smart die Dimensionen in seinem Buch Worldviews (1983) erneut auf. Ausgehend von der Prämisse, dass jeder Mensch eine Weltanschauung habe, die die individuelle Lebensführung bestimmt – als Schlüsselbegriff dient ihm „belief “ (4), anhand dessen er die Welt in „six main blocs of belief “ einteilt, einschließlich der „marxisms“ (38 f.) – schlägt er als ‚Analyseinventar‘ zunächst folgende sechs Bereiche vor: Erfahrung, Mythologie, Doktrin, Ethik, Ritual sowie das Soziale (ebd. S. 3–8), die später um eine siebte erweitert werden. 80 Bereits in den Religious Experience of Mankind hatte Smart Humanismus und Kommunismus, die zuvor eher als „Irreligion“ firmierten und damit außerhalb des religionswissenschaftlichen Gegenstandsbereichs lagen, in seine Analyse einbezogen. Angesichts der neu entfachten Ost-West-Konfrontation Anfang der 1980er Jahre – Worldviews erschien im Jahr des Pershing Konflikts – war der Vorstoß, Weltanschauung zum Oberbegriff zu machen und damit explizit ‚säkulare Ideologien‘ als gleichwertiges Untersuchungsfeld einzubeziehen, beachtlich: „In this book, I shall use worldviews in a general sense to refer to both religion and ideologies, and also to refer specifically to secular ideologies [gemeint sind vor allem Marxismus und Humanismus]“, vgl. Smart (1983): Worldviews, S. 2. Die programmatische Forderung nach einer „worldview analysis“ als „main part of the modern study of religion“, die neben „more politically oriented systems of Islam and Marxism“ auch Philosophien wie Platonismus und Konfuzianismus sowie „modern new religions in Africa and America“ einbeziehen soll (S. 5), weist zudem auf offenbar als Desiderate empfundene Bereiche der zeitgenössischen Forschungslandschaft. 81 Vgl. ders. (1983): The Scientific Study of Religion in its Pluratity. In: Whaling, Frank (Hg.): Contemporary Approaches to the Study of Religion, S. 365–378, hier: 377 82 So in der Einführung Droogers/van Harskamp (2014): Methods for the Study of Religious Change. Der Weltanschauungsbegriff wird dabei allerdings lediglich ideengeschichtlich, als „ideas which are active in shaping the world“ umschrieben und methodisch vage auf „people’s worldview-making capacities“ bezogen.
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gegrenzt werden soll.83 Ein spezifisch heuristisches Potenzial des Weltanschauungsbegriffs konnte dagegen bislang nicht herausgestellt werden, auch, weil sich entsprechende Begriffsgeschichten auf die philosophischen Konnotationen konzentrierten.84 Eine über eine Ideengeschichte hinausgehende (religions-)historische Begriffsanalyse steht noch aus.85 Die vorliegende Untersuchung verzichtet auf eine Klassifizierung des Sozia lismus und seiner „wissenschaftlichen Weltanschauung“. Stattdessen wird mit Hilfe eines narrationsbezogenen Instrumentariums ein Ansatz generiert, der auf narrative Strukturen fokussiert. Qualifiziert werden, wenn überhaupt, narrative Formen, nicht religiöse Inhalte. Wie Form und Inhalt in der Darstellung zusammenwirken, ferner, dass ein solcher Zusammenhang wirkungstheoretisch durchaus intendiert ist, wird die Analyse der Staatsbürgerkundelehrbücher zeigen. Die Gesamtzielsetzung des Staatsbürgerkundeunterrichts, sozialistisch zu denken, zu handeln und zu fühlen, wurde über den Einsatz von fiktionalen Text 83 Insofern geht auch Peter Bergers Aussage, dass „wenig damit gewonnen [ist], wenn man die moderne Naturwissenschaft eine Form von Religion nennt“, an dem Anliegen der Begriffsheuristik vorbei. Zwar verweist er indirekt zu Recht darauf, dass ein analytischer Gewinn niemals evident ist: „Tut man das nämlich, so muß man auch definieren, in welcher Weise Naturwissenschaft verschieden von dem ist, was alle anderen Leute Religion nennen.“ Ders. (1973): Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie. Frankfurt/ Main: Fischer, S. 167 f. Allerdings ist die Frage nach der ‚tatsächlichen‘ Trennschärfe beider Bereiche nur im realdefinitorischen Verständnis notwendig. Fragt man stattdessen danach, was mit einem solcherart vorangestellten Religionsverständnis sichtbar gemacht werden kann, stellt sich die Frage so nicht. Das heuristische Vokabular dient der Erstellung eines Begriffsregisters, nicht der wesenhaften Qualifizierung des Gegenstands, vgl. auch Mohn, Jürgen (2009): Komparatistik als Position und Gegenstand der Religionswissenschaft. Anmerkungen zum religionswissenschaftlichen Vergleich anhand der Problematik einer Komparatistik des Zeitverständnisses im Christentum (Augustinus) und im Buddhismus (Dôgen). In: Bernhardt, Reinhold/Stosch, Klaus von (Hg.): Komparative Theologie. Interreligiöse Vergleiche als Weg der Religionstheologie. Zürich: TVZ, 225–276, hier: 237. 84 So etwa in dem knappen Weltbild und Weltanschauung zusammenfassenden Eintrag im Metzler Lexikon Religion, in dem auf Weltanschauung nur wenige Zeilen entfallen. 85 Wichtige Eckpunkte dazu liefert der Artikel von Eilert Herms in der RGG, auch wenn dieser insgesamt theologiegeschichtlich-philosophisch orientiert bleibt. Dies ist angesichts der Perspektive des Autors sowie der Genese des Begriffs zwar verständlich, vernachlässigt aber historische Eckpunkte im 19. und 20. Jahrhundert wie Marxismus und Nationalsozialismus. Ähnliches gilt für den Eintrag im HrwG. Dass hier ein religionswissenschaftliches Desiderat besteht, zeigt auch der Blick in weitere Fachlexika. In der Encyclopedia of Religion existiert weder ein Eintrag zu world noch zu worldviews. Die TRE liefert eine ausführlichere Begriffsgeschichte und nimmt immerhin eine Verhältnisbestimmung von Weltanschauung und Religion vor. Als Vergleichspunkt dient allerdings ein unklar bleibender Sinnbegriff: „Besteht Äquivalenz hinsichtlich ihrer sinnsetzenden Funktionen, so kann sowohl jede Weltanschauung ‚religiös‘ genannt werden, wie auch Weltanschauung als quasisäkulare Alternative zu den historischen Religionsgestalten erscheinen.“ TRE (2003) Band 35, S. 549. Alle begriffsgeschichtlichen Versuche bleiben notwendigerweise eine Evaluierung von Weltanschauung als metasprachlichem Terminus der Religionswissenschaft schuldig.
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Hinführung: zur religionswissenschaftlichen Kontextualisierung
anteilen – im engeren Sinn Literatur – umzusetzen versucht. Diese hybride Textstruktur der Lehrbücher weist sie als im engeren Sinn narrative Texte aus. Daraus ergibt sich zumindest ein Teil des methodischen Zugangs der historisch-rezep tionsgeschichtlichen Analyse, die zum einen klären soll, wie Weltanschauung im konkreten Fall inhaltlich entworfen wurde. Für den damit intendierten Beitrag zum Verhältnis Marxismus-Leninismus (der sozialistischen Weltanschauung) und Religion erübrigt sich eine metasprachliche Konzeption von Weltanschauung. Die Analyse verbleibt auf einer rein historisch-deskriptiven Ebene, auf der Weltanschauung nur das ist, was im Materialkorpus als solche entworfen und präsentiert wurde. Weder wird sie auf ihre metasprachliche Qualität hin evaluiert, noch als Begriff religionswissenschaftlicher Theoriesprache vorgeschlagen. Dieser Teil der Arbeit liefert einen begriffsgeschichtlichen Beitrag, insofern mit dem sozialistischen Weltanschauungsdiskurs ein Debattenstrang vorliegt, der Religion und Weltanschauung nicht als Gegenbegriffe konstruierte, wie dies beispielsweise im zweiten deutschen Kaiserreich der Fall war.86 Vielmehr wurden in der philosophiegeschichtlichen Konzeption Religion und Marxismus-Leninis mus gleichermaßen als Weltanschauungen begründet – mit dem Unterschied freilich, dass die eine als die falsche, die andere hingegen als die richtige Weltanschauung galt. Die außerdem im Rahmen der Lehrbuchanalyse vorzunehmende Untersu chung der narrativen Präsentation der Weltanschauung, ihrer Form, schlägt die Brücke zur rezeptionsgeschichtlichen Rahmung der Untersuchung, für die die Analyse der Sekundärliteratur zunächst den Ausgangspunkt dafür bildet, den Untersuchungsgegenstand stärker als bisher in seinem Rezeptionskontext zu verstehen, um auf der Basis einer Ursachenforschung – weshalb wird Sozialismus in den Kontext des Religiösen gerückt? – einen Ansatz zu generieren, der sich in erster Linie auf interne und externe Rede konzentriert. Im Zentrum der Analyse steht sowohl die Art, wie über das Phänomen als auch wie innerhalb des Untersuchungsbereichs ‚gesprochen‘ wird. Der Ansatz knüpft in gewisser Hinsicht an eine rezeptionsorientierte Religionswissenschaft an, wie Jacques Waardenburg sie 1986 umrissen hatte.87 Eine solcherart konzeptualisierte Religions- als Rezeptionsgeschichte war für die zeit 86 „Nicht Religion, Weltanschauung wollte man sein,“ stellt Katharina Neef für verschiedene Gruppierungen der Zeit um 1910 fest, vgl. dies. (2012): Das deutsche Religions- und Vereinsrecht um 1900 und einige daraus resultierende Konflikte im Umgang mit neuen Religionen. In: Religion – Staat – Gesellschaft. Zeitschrift für Glaubensformen und Weltanschauungen. Jg. 13, Heft 1. Berlin: Duncker & Humblot, S. 107–132, bes. 122 f. 87 In seiner Einführung schlug er vor, Gegenstände prinzipiell vom Standpunkt der ihnen verliehenen Deutungen zu untersuchen. Er ging damals allerdings noch einen Schritt weiter: „Es sind die religiösen Deutungen, die den Gegenstand unserer hermeneutischen Forschung bilden.“ Waardenburg (1986): Religion und Religionen, S. 233. Ungeklärt bleibt jedoch, was eine religiöse Deutung im Einzelnen ausmacht oder evoziert.
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Sozialismus als Religion?
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genössische Forschung neu, ist inzwischen aber mit der diskursiven Wende in weiten Teilen der Religionswissenschaft angekommen. Längst steht nicht mehr (ausschließlich) die Analyse einer reinen Lehre oder Botschaft, sondern die Art und Weise, wie mit Texten und anderen Quellen umgegangen wird, im Zentrum. Religion wurde vom Diskurs Religion abgelöst, die Prämisse der „Selbstwirksamkeit und prädisponierten Bedeutung“ von Quellen zu Gunsten der Analyse von Deutungsmustern und -strukturen aufgegeben. Im Vordergrund steht der Rezipient als interpretierendes Subjekt.88 Übertragen auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand bedeutet dies, dass das Untersuchungsfeld Sozialismus zunächst dadurch religionswissenschaftlich relevant ist, da es in der Rezeption in den Bereich des Religiösen gerückt oder auch scharf davon abgegrenzt wird, nicht primär, weil es sich als religiös beschreiben ließe. Was den rezeptionsorientierten Ansatz darüber hinaus ergänzt, ist seine wirkungstheoretische Ausrichtung. Der Weltanschauungsunterricht Staatsbürgerkunde bildet nicht nur das Prisma, durch das der wissenschaftliche Umgang mit dem Religionsbegriff im Rezeptionskontext von Sozialismus und Kommunismus kritisch evaluiert wird, sondern auch den Ausgangspunkt für die Frage: Was ‚tut‘ der Text selbst dafür, dass er auf bestimmte Art rezipiert wird? Wodurch wird eine religiöse Deutung des Gegenstands ‚evoziert‘? Die Hypothese lautet, dass es – abgesehen von einer Erweiterung des Gegenstandsbereich Religion im Zuge der Ausdifferenzierung des Religionsbegriffs spätestens im 19. Jahrhundert – die narrativen Strukturen der Weltanschauung sind, die dieser Deutung Vorschub leisten. Ihre narrativen Formen lenken die inhaltliche Rezeption. Mit dem Vorschlag, die Bedeutung der Form für Rezeptionsvorgänge stärker als bislang in den Blick zu nehmen und Form und Inhalt auch als zwei analytisch zu trennende Größen zu behandeln, soll das historische Beispiel zugleich für grundlegende Fragen nach Wahrnehmung, Beschreibung und Klassifizierung aufgeschlossen werden.
88 Vgl. Stausberg, Michael (1998): Faszination Zarathushtra. Zoroaster und die Europäische Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit. Berlin/New York: de Gruyter, S. 2 f.
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2 Zur Institutionalisierung der sozialistischen Erinnerungskultur: Entstehung und Entwicklung der Staatsbürgerkunde
Die Lehrbücher für Staatsbürgerkunde bildeten die wichtigsten Instrumente der systematischen, didaktisch professionalisierten, schulischen Vermittlung der sozialistischen Weltanschauung. Als Medien einer Traditionserzählung des Sozialismus kam ihnen außerdem eine wichtige Funktion für die Konstruktion der sozialistischen Erinnerungskultur zu. Nach dem zweiten Weltkrieg standen beide deutsche Staaten prinzipiell vor ähnlichen Problemen, vor allem der Frage, wie der Aufbau einer neuen Gesellschaft mit Menschen zu leisten sei, die kurz zuvor noch Nationalsozialisten gewesen waren. Weder gab es eine politische Tradition, in die die Menschen hineinsozialisiert werden konnten, noch bestanden feste gesellschaftliche Strukturen für eine Integration der Massen. Staat, Gesellschaft und eine entsprechende politische Tradition mussten erst ‚erfunden‘ werden. Im folgenden Kapitel werden die historischen Voraussetzungen für die Entstehung der DDR-Staatsbürgerkunde und ihre Entwicklung zum obligatorischen Unterrichtsfach in der DDR dargestellt. Auf die historischen Grundlegungen folgen Informationen zur curricularen Verortung der Staatsbürgerkunde im DDR-Schulsystem, Bemerkungen zur Lehrerausbildung sowie zum idealtypischen Konzeptionsprozess von Schulbüchern und Lehrplänen, die ein ebenso wichtiges Instrument zur Regulierung des Unterrichts bildeten. Die Produktionsbedingungen der Lehrbücher zeigen zudem auf, wie politische Debatten in Lehrplänen operationalisiert und in den Schulbüchern implementiert wurden und veranschaulichen so die Rolle, die die Schulbücher bei der Installierung der sozialistischen Traditions- und Erinnerungskultur insgesamt einnahmen.
2.1 Historische Entwicklung der Staatsbürgerkunde zum Unterrichtsfach Die grundlegenden Voraussetzungen für die Entwicklung der Staatsbürgerkunde zum ordentlichen Schulfach wurden in Deutschland bereits vor dem zweiten deutschen Kaiserreich (1871–1918) gelegt, als mit der Entstehung des deutschen Nationalstaats eine politische Situation entstand, die das Nachdenken über Staatsbürgerschaft und Erziehung des Staatsbürgers erforderlich mach© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540497 — ISBN E-Book: 9783647540498
Historische Entwicklung der Staatsbürgerkunde zum Unterrichtsfach
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ten.1 Mit dem Aufstieg der Sozialdemokratie Ende der 1880er Jahre geriet die Monarchie in Bedrängnis, die plurale religiöse und weltanschauliche Vereinslandschaft bedrohte die monarchistischen Normierungsbestrebungen zusätzlich, so dass die Schule der Erziehung zur Kaisertreue dienstbar gemacht werden sollte.2 Der Begriff Staatsbürgerkunde wurde aber erst ab 1901 populär, als der Pädagoge Georg Kerschensteiner (1854–1932) mit seinem Beitrag Die staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend einen offiziellen Wettbewerb zu der Frage „Wie ist unsere männliche Jugend von der Entlassung aus der Volksschule bis zum Eintritt in den Heeresdienst am zweckmäßigsten für die bürgerliche Gesellschaft zu erziehen?“ gewann. Seine reformpädagogischen Vorschläge fanden allerdings keine Umsetzung, auch wenn sie bis in die Weimarer Republik hinein die Diskussionen um Identität und Selbstverständnis der Staatsbürgerkunde prägten.3 Die Weimarer Republik bot eine vollkommen andere Situation: Die Verfassung von 1919 regelte religiöse und schulische Angelegenheiten dahingehend, dass Glaubens- und Gewissensfreiheit zwar garantiert waren, eine Staatskirche aber abgeschafft wurde. Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht und der staatlichen Beaufsichtigung des Schulwesens wurde die Staatsbürgerkunde zum Bestandteil des offiziellen Lehrplans und – als verfassungsmäßig festgeschriebenes Unterrichtsfach – dem Religionsunterricht curricular gleichgestellt. In Artikel 148 der Verfassung vom 11. August 1919 hieß es: „In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben. […] Staatsbürgerkunde und Arbeitsunterricht sind Lehrfächer der Schulen. Jeder Schüler erhält bei Beendigung der Schulpflicht einen Abdruck der Verfassung.“4
Die Staatsbürgerkunde genoss zwar Verfassungsrang; eine genuin republikanische Konzeption zur staatsbürgerlichen Erziehung wurde aber während der 1 Die Entstehung der Staatsbürgerkunde wird historisch unterschiedlich verortet. Der Politikwissenschaftler Joachim Detjen konstruiert in seiner Darstellung zur politischen Bildung in Deutschland eine Traditionslinie, die bereits mit der antiken Philosophie beginnt, vgl. ders. (2007): Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart in Deutschland. München: O ldenbourg. 2 Einen detaillierten Überblick über die komplexe Situation von Religionen und Weltanschauungen im Kaiserreich sowie ihrer juristischen Ausgestaltung liefert Katharina Neef (2012): Das deutsche Religions- und Vereinsrecht um 1900 und einige daraus resultierende Konflikte im Umgang mit neuen Religionen. In: Religion – Staat – Gesellschaft. Zeitschrift für Glaubensformen und Weltanschauungen. Jg. 13, Heft 1. Berlin: Duncker & Humblot, S. 107–132. 3 Vgl. Detjen (2007): Politische Bildung, S. 59 sowie Geiger, Wolfgang (1981): Staats bürgerkunde in der Weimarer Republik. In: Dithmar, Reinhardt/Willer, Jörg (Hg.): Schule zwischen Kaiserreich und Faschismus. Zur Entwicklung des Schulwesens in der Weimarer Republik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 52–76, hier: 61. 4 Vgl. die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, unter: www.dhm.de/ lemo/html/dokumente/verfassung/index.html.
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Zur Institutionalisierung der sozialistischen Erinnerungskultur
gesamten Periode der Weimarer Republik nicht entwickelt. Während der Zeit des Nationalsozialismus verschwand das Unterrichtsfach aus der Diskussion und wurde teilweise durch die „Reichskunde“ ersetzt, deren totalitärer Erziehungsanspruch sich in Begriffen wie „Rasse“, „Blut“ und „Boden“, „Volksgemeinschaft“ oder „Ehre“ spiegelte. Die totale Erziehung wurde in unterschiedlichen Vorschlägen konzeptualisiert: Neben Ideen für eine „völkische Weltanschauungsschule“ oder die „volksbürgerliche“ Ausbildung war es vor allem der Entwurf des führenden NS-Pädagogen Ernst Krieck, der im Nationalsozialismus federführend wurde.5 Dessen „nationalpolitische Erziehung“ im Sinn der „Volksgemeinschaft“ sah eine systematische Verengung des Menschenbildes auf den „deutschen Menschen“ vor.6 In seinem gleichnamigen Buch entwickelte Krieck auch ein Schulkonzept, das für die Gründung nationalsozialistischer Eliteschulen, die nationalpolitischen Erziehungsanstalten (kurz: Napola), prägend wurde. Nach dem Ende des Nationalsozialismus und der Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen entstanden in den Ost- und Westzonen neue Diskussionen. Politische Bildung sollte fortan sowohl allgemeines Prinzip als auch Haupt aufgabe eines eigens dafür entwickelten Faches sein. In der Verwirklichung des staatlichen Erziehungsanspruchs gingen Ost und West freilich unterschiedliche Wege. In den Westzonen verschwand der Begriff Staatsbürgerkunde bis 1950 gänzlich; dort wurde eine politische Bildung entworfen, die teils eigenständiges Schulfach, teils Unterrichtsprinzip war, und im Lauf der Zeit unter verschiedenen Bezeichnungen (politische Bildung, Politik, Gemeinschaftskunde usw.) zum festen Bestandteil westdeutscher Schulausbildung zählte.7 In der DDR hingegen wurde ein eigenes, später als Staatsbürgerkunde bezeichnetes Unterrichtsfach konzipiert, das zum Kernfach der weltanschaulichen Erziehung avancierte.
a) Kriegsende und Epochenwende: die Ausgangssituation Mit dem Ende des zweiten Weltkriegs in Deutschland am 8. Mai 1945 war eine gesellschaftliche Radikalveränderung verbunden, die den Erfahrungshorizont der Zeitgenossen entscheidend prägte.8 Deren Reaktionen auf das Erlebte reichten von verdrängter Scham und Schande, der ‚Unfähigkeit zu trauern‘9 und einem 5 Vgl. Detjen (2007): Politische Bildung, S. 93–98. 6 Vgl. Dithmar, Reinhard (1989): Richtlinien und Realität. Deutschunterricht im Gym nasium nach der „Machtergreifung“. In: ders. (Hg.): Schule und Unterricht im Dritten Reich. Neuwied: Luchterhand, S. 21–37, hier. S. 22. 7 Vgl. Detjen (2007): Politische Bildung, S. 111–198. 8 Überblicke zur kulturgeschichtlichen Entwicklung Deutschlands liefern beispielsweise: Benz, Wolfgang (1999) (Hg.): Deutschland unter alliierter Besatzung 1945–1949/55. Ein Handbuch. Berlin: Akademie Verlag; Glaser, Hermann (2000): Deutsche Kultur. Ein historischer Überblick von 1945 bis zur Gegenwart. München: Ullstein, 2. Auflage. 9 Mitscherlich, Alexander und Margarete (1967): Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München: Piper.
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geschäftigen (Wieder-) Aufbau mit „Wirtschaftswunder“, bis hin zu Bemühungen um die Aufarbeitung des Geschehenen. Allen Kontinuitäten zum Trotz stand die deutsche Gesellschaft in der „Stunde Null“ vor der Aufgabe, sich in verschiedener Hinsicht neu konstituieren zu müssen und die Erfahrung der „totalen Niederlage nach einem totalen Krieg“ in das Überleben in einer „politischen, wirtschaftlichen, geistigen und materiellen Trümmerlandschaft“ zu integrieren.10 Die Grundlage dafür bildeten Maßnahmen zur Umerziehung, die im Rahmen der geplanten Entnazifizierungsverfahren zum Tragen kommen sollten und unter Aufsicht des Alliierten Kontrollrates als oberstem Organ der Befehlsgewalt und zentralem Regierungsinstitut, an dessen Spitze die jeweiligen militärischen Oberbefehlshaber der vier Zonen standen, gestellt wurden. Das politische Programm des Rates, der sich am 30. Juli 1945 zu seiner ersten offiziellen Sitzung traf, ist unter den vier großen Ds – Denazifizierung11, Demilitarisierung, Demokratisierung, Dezentralisierung – bekannt geworden, wobei die Grundsätze in den verschiedenen Zonen, mitunter sogar innerhalb der Zonengrenzen, unterschiedlich gehandhabt wurden.12 Konsens war, Deutschland politisch als Entwicklungsland zu betrachten, das unter Vormundschaft gestellt werden müsse. Ein Hilfsprogramm sah nicht nur militärische und medizinische Maßnahmen vor, sondern vor allem ein umfassendes Erziehungsprogramm zur Demokratisierung. Die unterschiedlichen Demokratieverständnisse der Verbündeten machten eine einheitliche Politik aber unmöglich, zonenspezifische Regionalisierungstendenzen waren die Folge, die schließlich in Sonderentwicklungen aller vier Zonen mündeten.13 Zuvor waren auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens zwei konkrete Maßnahmen der gesellschaftlichen Umgestaltung beschlossen worden: die Verurteilung von Hauptkriegsverbrechern sowie die Beseitigung sämtlicher nationalsozialistischer Einrichtungen, die Entfernung ehemaliger Parteimitglieder aus öffentlichen Ämtern und Positionen der Wirtschaft sowie ihre Bestrafung. Obwohl der Kontrollrat für eine einheitliche Durchführung der Entnazifizierungsverfahren sorgen sollte, ging auch hier jede Zone ihren eigenen Weg. Gemeinsam war ihnen, dass die Maßnahmen zu 10 Vom Bruch, Rüdiger (2002): Zwischen Traditionsbezug und Erneuerung. Wissenschaftspolitische Denkmodelle und Weichenstellungen unter alliierter Besatzung 1945–1949. In: Kocka, Jürgen u. a. (Hg.): Die Berliner Akademien der Wissenschaften im geteilten Deutschland 1945–1990. Berlin: Akademie Verlag, S. 3–23, hier: 5. 11 Die Wortschöpfung stammt von einem Politologen aus dem Stab General Eisenhowers, der im April 1945 eine Bezeichnung für die Aufgabengebiete der alliierten Besatzer suchte. Vgl. Niethammer, Lutz (1982): Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns. Säuberung und Rehabilitierung unter amerikanischer Besatzung Frankfurt/Main: Fischer, S. 11. 12 Eine ausführliche Chronologie von August 1941 bis 1. Januar 1957, die die Entwicklungen der Zonen ereignisgeschichtlich nebeneinander stellt, findet sich bei Benz (1999): Handbuch, S. 433–464; dort auch weitere Überblicke zur alliierten Besatzungspolitik wie Graml, Hermann (1999): Grundzüge der Besatzungspolitik in Deutschland bis 1955, S. 21–32. 13 Vgl. Graml (1999): Grundzüge, S. 28.
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Gunsten eines zügigen wirtschaftlichen Aufbaus bald in den Hintergrund traten. Beispielsweise erklärten die sowjetischen Besatzer die Umerziehung bereits am 26. Februar 1948 offiziell für beendet. Dabei waren es neben den personellen vor allem die mentalen Kontinuitäten, der Weiterbestand der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“, der für die Entwicklung Nachkriegsdeutschlands prägend wurde und einen Neuanfang erschwerte.14 In der Sowjetisch besetzten Zone (SBZ) kam der seit Juni 1945 bestehenden Sowjetischen Militäradministration (SMAD) eine Schlüsselposition bei der Neuordnung der Gesellschaft zu. Ihre Sondereinheiten waren für unterschiedliche Bereiche zuständig, die gemeinsam an einer gesellschaftlichen Veränderung arbeiteten, die später als „antifaschistisch-demokratische Umwälzung“ bezeichnet wurde.15 Für den Wiederaufbau des Schulwesens war seit Juli 1945 die Zentralverwaltung für Volksbildung (ZfV) zuständig. Neben gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Reformen, der Aufklärung über nationalsozialistische Verbrechen sowie der Reorganisation von Presse und Rundfunk beinhalteten die Erziehungsmaßnahmen der Besatzer vor allem Programme zur Ausbildung der Jugend.16 Dabei waren es hauptsächlich die Schulen, weniger die Universitäten, die als Instrument der Neuerziehung Objekt sowjetischer Bildungspolitik wurden.17 Ziel der Maßnahmen war eine Erziehung zum Sozialismus, die gleichsam 14 Insgesamt verlief die Entnazifizierung freilich differenzierter; ihre verschiedenen Phasen orientierten sich am tagespolitischen Geschehen. In der Bilanz ist sie vor allem in Bezug auf die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen in der geschichtswissenschaftlichen Debatte unterschiedlich beurteilt worden. Allerdings weist der Zeithistoriker Norbert Frei darauf hin, dass die Annahme einer simplen Kontinuität verkehrt sei: Die Entnazifizierung hätte durch die rigorose Forderung einer – zumindest moralischen – kollektiven Trennung vom Nationalsozialismus eine Zäsur gesetzt, die durchaus Wirkung entfalten konnte. Vgl. ders. (2004): Hitlers Eliten nach 1945 – eine Bilanz. In: ders. (Hg.): Karrieren im Zwielicht. Frankfurt/Main: Campus, 2. Auflage, S. 269–299, bes. 270 sowie 274. 15 Der Terminus „antifaschistisch-demokratische Umwälzung“ wurde im Rahmen einer intellektuellen Debatte unter DDR-Historikern in den 1960er Jahren geprägt und später zu Gunsten anderer Bezeichnungen, die sich am tagespolitischen Geschehen und dem parteipolitischen Interesse orientierten, fallen gelassen. Vgl. Weber, Hermann (2006): Die DDR. 1945–1990. München: Oldenbourg, S. 138. 16 Zum Umerziehungsprogramm der Jugend und den Schulen vgl. auch Füssl, Karl-Heinz (1994): Die Umerziehung der Deutschen. Jugend und Schule unter den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs 1945–1955. Paderborn/Zürich u. a.: Ferdinand Schöningh. 17 Zur alliierten Schulpolitik sowie der bildungspolitischen Umgestaltung vgl. überblicksartig die entsprechenden Kapitel in Führ, Christoph/Furck, Karl-Ludwig (1998): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte Bd. 6. 1945 bis zur Gegenwart. Zweiter Teilband: Deutsche Demokratische Republik und neue Bundesländer. München: Beck, S. 159–167 und 202–211. In der Geschichtswissenschaft besteht inzwischen Konsens darüber, dass das Hochschulwesen im Gegensatz zur Schule kein zentraler Bestandteil alliierter Besatzungspolitik gewesen ist, vgl. Ash, Mitchell G. (1995): Verordneten Umbrüche – Konstruierte Kontinuitäten: Zur Entnazifizierung von Wissenschaftlern und Wissenschaft nach 1945. In: ZfG, 43. Jg. Heft 10, S. 903–923, hier: 908. Die Entnazifizierung im Hochschulbereich wurde laut Ash als Sicherheitsfrage, unter
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Elemente moralischer und politischer Erneuerung enthalten sollte. Dies konnte nur durch einen umfassenden Austausch der bisherigen Lehrerschaft – von den 39.000 Lehrern, die 1945 noch in der SBZ lebten, gehörten 28.000 der NSDAP an18 – sowie neue Lehr- und Lernmaterialien gewährleistet werden. Der Personalmangel wurde in der ersten Zeit durch Exil-Kommunisten oder politisch rasch umgeschultes Personal zu kompensieren versucht. Außerdem erfolgte eine Ausbildung zu sogenannten Neu- bzw. Laienlehrern. Dies waren Personen, die in der Regel über eine Berufsausbildung verfügten und zumeist direkt aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrten oder aus den nationalsozialistischen Arbeitsdiensten kamen, in denen seit Kriegsbeginn vor allem Mädchen und Frauen aus den Parteiorganisationen Bund deutscher Mädel (BDM) sowie dem Frauenbund organisiert waren. Sie alle wurden in nur wenige Monate andauernden Kursen umgeschult und zu – wie es die Politikwissenschaftlerin Raina Zimmering formuliert – „Antifaschisten quasi ohne Vergangenheit und schließlich zu wichtigen Trägern antifaschistischen Gedankenguts gemacht.“19 Vor diesen gesellschaftspolitischen Hintergründen vollzog sich die Entwicklung der Staatsbürgerkunde als neuem Schulfach zur politischen und weltanschaulichen Bildung.
b) Zur Entstehung und Entwicklung der Staatsbürgerkunde in der DDR Ab 1. Oktober 1945 begann der Unterricht in der SBZ und Ostberlin.20 Damit verbunden waren umfassende Überlegungen zur antifaschistischen Erziehung der Jugend. Anders als in den Westzonen, in denen sich die Kirche mit Hilfe britischer und US-amerikanischer Unterstützung rasch zum führenden außerschulischen Erziehungsinstrument entwickelte, entstand in der SBZ ein zentralistisch organisiertes Bildungssystem ohne kirchliche Bezugnahme. dem Aspekt der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, behandelt. Vgl. auch John, Jürgen (1998): Die Jenaer Universität im Jahre 1945. In: John/Wahl/Arnold (Hg.): Die Wiedereröffnung der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dokumente und Festschrift. Rudolstadt/ Jena, S. 15. Für die SBZ konstatiert etwa Tobias Kaiser: „Es gab kein stringentes Entnazifizierungskonzept der Sowjetischen Besatzungsmacht im allgemeinen und erst recht nicht für die ‚Reinigung‘ der Hochschulen.“ Vgl. ders. (2004): „Sowjetisierung“, „Reform“ und Konflikt. Zur Geschichte der Universität Jena von der Wiedereröffnung 1945 bis zur sogenannten „Dritten Hochschulreform“ 1968. In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte, Band 58. Jena, S. 161–186. 18 Vgl. Zimmering, Raina (2000): Mythen in der Politik der DDR. Ein Beitrag zur Erforschung politischer Mythen. Opladen: Leske + Budrich, S. 41. Diese Zahl findet sich auch im Lehrbuch Staatsbürgerkunde 7 (1983): S. 36. 19 Zimmering (2000): Mythen, S. 42. 20 Mit dem SMAD-Befehl Nr. 40 vom 25. August 1945 waren die öffentlichen Schulen für einen raschen Wiederbeginn des Unterrichts vorbereitet worden; parallel dazu sollte eine ähnlich lautende Anweisung die zeitgleiche Eröffnung der Universitäten ermöglichen.
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Die Besetzung des öffentlichen Raumes; Werbekampagne des Volk und Wissen-Verlags, 195121
Die sozialistische Erziehung war ein gesamtgesellschaftliches Projekt, das auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Medien beworben wurde. Der Volk und Wissen Verlag, bis zum Ende der DDR maßgeblich mit der Schulbuchproduktion betraut, bewarb Anfang der 1950er Jahre seine Schulbücher gleichermaßen mit einem politischen Erziehungsanspruch sowie einem Glücksversprechen: „Besser lehren – mehr lernen – glücklich leben. Unser Schulbuch dient dem Kampf für Frieden, Demokratie und Einheit“, war auf dem Banner der verlagseigenen Werbekampagne zu lesen, bei der Mitarbeitende mit dem Auto durch die Städte fuhren. Über derlei ‚Sichtagitation‘ erlangte der staatliche Erziehungsanspruch Anschaulichkeit und Verbreitung im öffentlichen Raum. Auf juristischer Ebene lieferte bereits das im Frühjahr 1946 in Kraft getretene Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule die Grundlage, auf der alle Privatund Konfessionsschulen zu Gunsten einer Einheitsschule abgeschafft wurden, die Teilnahme am Religionsunterricht war nunmehr freiwillig. Damit knüpfte die SED zumindest anfangs an Schulreformpläne aus der Weimarer Republik an.22 Inhaltliche Umsetzung fand das Prinzip der politischen Umerziehung bereits im November 1945, als vor dem Hintergrund der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse mit der Einführung des Schulfaches Gegenwartskunde ein gesellschaftspolitischer Unterricht angeordnet wurde, der für alle Schüler ab dem 12. Lebensjahr obligatorisch sein sollte. Die wöchentlich einstündige Gegen21
21 Entnommen aus: Vorsteher, Dieter (Hg.) (1996): Parteiauftrag: ein neues Deutschland. Bilder, Rituale und Symbole der frühen DDR. München/Berlin: Koehler & Amelan, S. 389. 22 Vgl. Wehler, Hans-Ulrich (2008): Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949–1990. Band 5: Bundesrepublik und DDR. München: Beck, S. 410.
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wartskunde durfte als Zeitungslesestunde erteilt werden; sie übernahm in der Anfangszeit den Platz des Geschichtsunterrichts.23 Damit knüpfte die SED zumindest anfangs an Schulreformpläne aus der Weimarer Republik an.24 Inhaltliche Umsetzung fand das Prinzip der politischen Umerziehung bereits im November 1945, als vor dem Hintergrund der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse mit der Einführung des Schulfaches Gegenwartskunde ein gesellschaftspolitischer Unterricht angeordnet wurde, der für alle Schüler ab dem 12. Lebensjahr obligatorisch sein sollte. Die wöchentlich einstündige Gegenwartskunde durfte als Zeitungslesestunde erteilt werden; sie übernahm in der Anfangszeit den Platz des Geschichtsunterrichts.25 Im Sprachduktus der zeitgenössischen Debatte um die Gegenwartskunde wurde mitunter ein Vokabular verwendet, das dem Fach eine Art therapeutischen Wert attestierte. Karl Ellrich, Referent für Volks- und Mittelschulen in der Deutschen Verwaltung für Volksbildung (DVV)26, schrieb beispielsweise: „Was gesprochen wird, ist zu werten wie die Aussage eines Kranken, der sich dem Arzt anvertraut, dadurch wesentlich zu einer richtigen Diagnose und zu seiner eigenen Heilung beiträgt. In dieser Hinsicht ist die Gegenwartskunde als eine Psychotherapie anzusehen, die auch geistige Giftstoffe und die durch sie entstehenden Symptome erkennen und behandeln hilft.“27
Das auf die existentielle Notwendigkeit der Umerziehung verweisende Zitat – im Hintergrund steht die Metapher des erkrankten Volkskörpers und dessen Genesung – ist deshalb interessant, weil es auch in späteren Staatsbürgerkundebüchern Verwendung findet, wo der Sozialismus zum Therapeutikum einer durch den Kapitalismus ‚erkrankten‘ Gesellschaft erklärt wird. Trotz aller Bemühungen war die Gegenwartskunde anfangs nur ein mäßiger Erfolg: Die Unterrichtsthemen orientierten sich zwar an alltagspolitischen Problemen und knüpften damit eng an die Erfahrungswelt der Schüler an, blieben aber provisorisch und von der engagierten Materialsuche des Lehrers in Tageszei-
23 Vgl. Grammes, Tilman/Schluss, Henning/Vogler, Hans-Joachim (2006): Staatsbürgerkunde in der DDR. Ein Dokumentenband. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften: S. 53. 24 Vgl. Wehler, Hans-Ulrich (2008): Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949–1990. Band 5: Bundesrepublik und DDR. München: Beck, S. 410. 25 Vgl. Grammes, Tilman/Schluss, Henning/Vogler, Hans-Joachim (2006): Staatsbürgerkunde in der DDR. Ein Dokumentenband. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften: S. 53. 26 Die Deutsche Verwaltung für Volksbildung (DVV) war das äquivalente Gremium zur Abteilung Volksbildung innerhalb der SMAD. Sie war zuständig für die Wiederaufnahme des Schul- und Universitätsbetriebs und die Entwicklung entsprechender Lehrmaterialien. Nach der Gründung der DDR ging die DVV im Ministerium für Volksbildung auf. Vgl. Hartmann, Anne/Eggeling, Wolfram (1999) (Hg.): Sowjetische Präsenz im kulturellen Leben der SBZ und frühen DDR 1945–1953. Berlin: Akademie-Verlag, 1. Auflage, S. 185 f. 27 Ellrich zit. n. Grammes (2006): Dokumentenband, S. 53.
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tungen abhängig.28 Das strenge politische Auswahlverfahren hatte außerdem zur Folge, dass zumeist unerfahrene Neulehrer zum Einsatz kamen. Zudem blieb die erzieherische Aufgabe unklar, zumal keine Lehrpläne zur Orientierung vorhanden waren.29 Dies änderte sich ab 1949. Mit der Gründung der DDR am 7. Oktober rückte deren offizielles politisches Selbstverständnis ins Zentrum von Bildung und Ausbildung. Ihr „Gründungsmythos Antifaschismus“30 wurde zur Grundlage eines staatlichen Alleinvertretungsanspruchs, der auf der Konstruktion einer breiten kommunistischen Widerstandstradition in der Bevölkerung basierte. Mit dem antifaschistischen Selbstverständnis verband sich gleichzeitig der Vorwurf an die Bundesrepublik, in Kontinuität mit dem Nationalsozialismus zu stehen und somit einen ‚faschistischen Nachfolgestaat‘ zu verkörpern. Theoretisch begründet wurde die Abgrenzungsstrategie mit der Dimitroff ’schen Faschismusanalyse, die einen ursächlichen und phänomenologischen Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus annahm.31 Die Entstehung der DDR galt als revolutionärer Prozess mit historischem Auftrag: Sie verkörperte den ersten deutschen Staat der „Werktätigen“ und wurde damit zur rechtmäßigen und einzigen Repräsentantin der antifaschistisch-kommunistischen Arbeiterklasse. Folgerichtig kristallisierten sich in der historischen Forschung und der schulischen Erziehung die Geschichte von Arbeiterbewegung und Kommunistischer Partei sowie das antifaschistische Selbstverständnis des Staates als Hauptthemen heraus.32 28 Unterrichtsthemen des Jahres 1946 bildeten beispielsweise die politischen Großereignissen wie der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, aber auch Flüchtlingsproblematik, wirtschaftlicher und kultureller Neuaufbau sowie politische Organisationseinheiten (Parteien, Gewerkschaften) bzw. Demokratiegeschichte. 29 Vgl. Scholtijs, Sigrid (1995): Der Umbruch im Geschichtsunterricht und in der Staatsbürgerkunde der ehemaligen DDR. Von der marxistisch-leninistischen Ideologie zur historischen und politischen Bildung. Univ.-Diss. Düsseldorf, S. 9; Grammes (2006): Dokumentenband, S. 55. 30 Münkler, Herfried (2009): Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR. Abgrenzungsinstrument nach Westen und Herrschaftsmittel nach Innen. In: Der Antifaschismus als Staatsdoktrin in der DDR. St. Augustin/Berlin: Konrad Adenauer Stiftung, S. 31–49. 31 Der bulgarische Politiker Georgi Dimitroff (1882–1949), von 1935 bis 1943 General sekretär der Kommunistischen Internationale (Komintern), begründete auf dem 7. Weltkongress der Komintern in Moskau am 2. August 1935 eine Faschismustheorie, die später auch in der DDR zur führenden Interpretation wurde. In seiner langen Rede Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale erklärte er den Faschismus zur „terroristische[n] Diktatur […] des Finanzkapitals“. Bürgerliche Demokratie und Faschismus wurden von ihm in ursächlichen Zusammenhang mit dem Kapitalismus gestellt, weil sie auf gleicher ökonomischer Basis agieren würden und beide den Erhalt des Finanzkapitals zum Ziel hätten. Demnach folgten bürgerliche Demokratie und Faschismus notwendig aus dem Kapitalismus. Vgl. ders. (1958): Ausgewählte Schriften Band 2 (1921–1935), Berlin: Dietz Verlag, S. 523–625. Die Bundesrepublik reagierte ihrerseits auf den Faschismus-Vorwurf mit der Konstruktion Antitotalitarismus, um sich gleichermaßen von Nationalsozialismus und Kommunismus abzugrenzen. 32 Vgl. auch: Scholtijs, (1995): Umbruch, S. 7.
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Zum ordentlichen Schulfach wurde die Gegenwartskunde aber erst 1950 als sie auch curricular mit zwei Wochenstunden in den Jahrgängen fünf bis zwölf vertreten war. Inhaltlich wurden die DDR und deren Entwicklung behandelt, wesentliches Unterrichtsziel war die Herausbildung eines „sozialistischen Staatsbewusstseins“.33 Eigene Lehrpläne existierten jedoch noch nicht.34 Erst im Jahr 1953/54 wurde ein erster vorläufiger verbindlicher Lehrplan entwickelt, in dem der Marxismus-Leninismus zum zentralen Unterrichtsgegenstand erklärt wurde. Den Lehrplänen war eine deutliche Abgrenzung gegen Westeuropa und die USA unterlegt. Die Pläne von Februar und März 1951 sahen beispielsweise die Themen „Die Weltfriedensbewegung unter Führung der Sowjetunion“ oder „Wie schützen wir den Aufbau im Fünfjahresplan gegen die organisierten Sabotage akte des anglo-amerikanischen Imperialismus und seine Helfershelfer?“ vor.35 Auffällig ist, dass aus diesen Formulierungen kein klar erkennbarer Unterschied zwischen Unterrichtsinhalten und Zielsetzungen hervorgeht, weil, so der Sozialwissenschaftler Günter Behrmann, davon ausgegangen wurde, dass „der Wissensstoff bei richtiger Vermittlung ‚Bewußtsein‘ bilden und das Bewußtsein das Handeln leiten werde“.36 Aus diesem Grund waren Inhalts- und Zielvorgaben identisch, was auch in späteren Lehrplänen der Fall war. Als größte Problematik für die weitere Entwicklung der Gegenwartskunde erwies sich die Frage nach der Fachidentität, die besonders in Abgrenzung zum bestehenden Geschichtsunterricht aufkam.37 In der Folgezeit wurden im Unterricht vor allem politische 33 Diecke, Gerhard/Bauer, Rudolf (1973): Betrachtungen zur Entwicklung der Gegenwartskunde und Staatsbürgerkunde 1945 bis 1975 (I). In: Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde (GuS) 1976, S. 247–252, hier: 249. 34 Die zentral vorgegebenen Inhalte wurden anhand des aktuellen politischen Geschehens jeweils für vier Monate ausgewählt und ausschließlich in der Zeitschrift die neue schule in Form von Themenplänen veröffentlicht. Die Zeitschrift Die neue Schule. Blätter für demokratische Erneuerung in Unterricht und Erziehung war das bedeutendste schulpädagogische Organ der SBZ und späteren DDR. Es wurde herausgegeben von Karl Sothmann, der auch an der Entwicklung neuer pädagogischer Programme innerhalb der Deutschen Verwaltung für Volksbildung (DVV) beteiligt war und erschien ab 1946 beim Berliner Verlag Volk und Wissen. 35 Vgl. Grammes (2006): Dokumentenband, S. 54. 36 Behrmann, Günter C. (1999): Die Einübung ideologischer und moralischer Sprechakte durch „Stabü“. Zur Pragmatik politischer Erziehung im Schulunterricht der DDR. In: Leschinsky, Achim/Gruner, Petra/Kluchert, Gerhard (Hg.): Die Schule als moralische Anstalt. Erziehung in der Schule. Allgemeines und der „Fall DDR“. Weinheim: Deutscher Studienverlag, S. 149–182, hier: 150. Ausführlich zur erziehungswissenschaftlichen Diskussion der 1950er Jahre: Geißler, Gert: Die erziehungswissenschaftliche Diskussion 1955–1958. In: Geißler, Gert/ Wiegmann, Ulrich (Hg.): Schule und Erziehung in der DDR. Studien und Dokumente. Neuwied u. a.: Luchterhand, S. 69–104. 37 In den zeitgenössischen Auseinandersetzungen über die Abgrenzung der Schulfächer Geschichte und Gegenwartskunde wird dieses Spannungsverhältnis deutlich, vgl. Schmitt, Karl (1980): Politische Erziehung in der DDR. Ziele, Methoden und Ergebnisse des politischen Unterrichts an den allgemeinbildenden Schulen der DDR. Paderborn u. a.: Schöningh, S. 23.
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Institutionenkunde sowie die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung der DDR behandelt.38 In dieser Selbstthematisierung spielte das Narrativ Anti faschismus eine hervorstechende Rolle. Die Verwirklichung der konstruierten antifaschistischen Tradition, die das führende und einzig autorisierte Geschichtsbild der DDR prägte, fand mit der Interpretation der Berliner Mauer als „anti faschistischen Schutzwall“ auch eine realpolitisch relevante Ausdrucksform. Die Etablierung des mit solch hohen Erwartungen belegten Faches verlief bis weit in die 1950er Jahre hinein verhältnismäßig unprofessionell. Es existierten keine sozialistischen Vorbildmodelle, auf die hätte zurückgegriffen werden können39, und es mangelte an speziell ausgebildeten Lehrkräften mit eigener Fachmethodik.40 Zudem fehlte in dem 1949 gegründeten Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut, in dem normalerweise jedes Unterrichtsfach repräsentiert war, dauerhaft ein Fachreferent für Gegenwartskunde.41 Die Gegenwartskunde kann deshalb eher als Versuchsphase zur Vorbereitung einer geplanten, staatlich verankerten, systematischen weltanschaulichen Erziehung angesehen werden. Am 1. September 1957 wurde die Gegenwartskunde eingestellt und durch das Fach Staatsbürgerkunde ersetzt. Mit der neuen alten Terminologie sollte an die Tradition der Weimarer Republik angeknüpft werden42, auch wenn die Inhalte der Staatsbürgerkunde weiterhin unklar waren und vieles in zum Teil rasch aufeinander folgenden Reformen immer wieder revidiert wurde.43 Neben einem 38 Für die Lehrpläne vgl. exemplarisch das Jahr 1955/56 in Grammes (2006): Dokumentenband, S. 57 f. 39 Auch in der Sowjetunion wurde eine Staatsbürger- oder Gesellschaftskunde erst 1963 eingeführt. Vgl. dazu auch Kapitel 5.2. 40 Auch die Historikerin Heike Christina Mätzing stellt fest: „Bemerkenswert ist zudem, daß gerade für diese beiden Fächer [Geschichte und Staatsbürgerkunde] ideologisch und fachlich besonders gut geschulte Lehrkräfte zu fehlen schienen.“ Dies. (1999): Geschichte im Zeichen des historischen Materialismus. Untersuchungen zu Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht in der DDR. Hannover: Hahnsche Buchhandlung, S. 266. 41 Vgl. Schmitt (1980): Politische Erziehung, S. 22 f. 42 Vgl. Detjen (2007): Politische Bildung, S. 201, der sich auf Haase, Annemarie (1977): Staatsbürgerkunde in der DDR. Etappen der Entwicklung des Faches und Ansätze der Theoriebildung für Unterrichtsplanung und -gestaltung im Zeitraum 1945–1970. Köln, PH Rheinland, (Diss.), bezieht. 43 Vgl. Grammes (2006): Dokumentenband, S. 59. Zu den Diskussionen um die Staats bürgerkunde Ende der 1950er Jahre vgl. auch Detjen (2007): Politische Bildung, S. 201. Die Veränderungen vollzogen sich vor dem Hintergrund der Revisionismusdebatte, in deren Folge reformpädagogische Ansätze zu Gunsten einer „sozialistische[n] Perspektive des Schulwesens“ letztlich fallen gelassen wurden, vgl. Baske (1998): Schulen und Hochschulen, S. 174. Nach Stalins Tod im März 1953 hatte in der Sowjetunion eine stille Entstalinisierung eingesetzt, die ihren vorläufigen Höhepunkt auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 fand, wo der damalige erste Parteisekretär Nikita Chruschtschow seine berühmt gewordene, achtstündige Geheimrede über die stalinistischen Verbrechen hielt. Die daraufhin als „Tauwetter“ bezeichnete Periode spaltete die politischen Gemüter in der DDR. Stalinkritische Stimmen wurden in der Parteisprache als „revisionistische Tendenzen“ bezeichnet, die strikt abzulehnen seien.
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deutlichen Aktualitätsbezug sollte der Unterricht weiterhin politische Institutionenkunde umfassen. Problematisch blieb auch jetzt die Grenzziehung zwischen staatsbürgerlicher Erziehung als allgemeinem Unterrichtsprinzip und eigenständigem Unterrichtsfach mit definierter Identität.44 In der zeitgenössischen Begriffsbestimmung des vorläufigen Lehrplans vom Oktober 1958 wurde erstmals die „wissenschaftliche Weltanschauung“ als Identitätskriterium der Staatsbürgerkunde angeführt: „In ihm [dem Staatsbürgerkundeunterricht] sollen die Schüler mit den wichtigsten Fragen der wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse, dem dialektischen und historischen Materialismus und der politischen Ökonomie sowie dem wissenschaftlichen Sozialismus vertraut gemacht werden. Dieses Fach soll besonders dazu beitragen, daß die Schüler wichtige Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung in Natur und Gesellschaft erkennen, tiefer in die Zusammenhänge des sozialistischen Aufbaus eindringen, um bewußt an der Lösung der gesellschaftlichen Aufgaben beim Aufbau des Sozialismus teilnehmen zu können.“45
Mit der Umbenennung des Faches gingen Überlegungen zu einer tiefgreifenden Schulreform einher. Auf ihrer dritten Parteikonferenz 1956 hatte die SED die Polytechnisierung beschlossen, eine fundamentale Veränderung des ursprünglich auf zwei Typen basierenden Schulsystems zu Gunsten einer sozialistischen Gesamtentwicklung des Schulwesens. Das Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der Deutschen Demokratischen Republik vom 2. Dezember 1959 sah den Ersatz der achtjährigen allgemeinbildenden Pflichtschule durch die zehnklassige polytechnische Oberschule (POS) vor. Der höhere Bildungsweg, der Schüler der Klassen 9 bis 12 auf die Hochschulreife vorbereitete, war nun mit den Klassen 11 und 12 als erweiterte allgemeinbildende polytechnische Oberschule (EOS) in das System der POS integriert.46 Das Besondere an der POS war ihr berufspraktischer Anteil.47 Der Lehrplan sah „polytechnische“ Fächer wie Werkunterricht oder Technisches Zeichen vor und beinhaltete praktische Erfahrungen, die die Schüler im Rahmen von Unterrichtstagen in Unternehmen oder
44 Vgl. Grammes (2006): Dokumentenband, S. 63. 45 Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Volksbildung Nr. 66/58, zit. n. Grammes (2006): Dokumentenband, S. 64. 46 Vgl. Baske, Siegried (1998): Schulen und Hochschulen. In: Führ, Christoph/Furck, KarlLudwig (1998): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte Bd. 6. 1945 bis zur Gegenwart. Zweiter Teilband: Deutsche Demokratische Republik und neue Bundesländer. München: Beck, S. 159–202, hier: 159. 47 In der Vorrede zum neuen Schulgesetz hieß es: „[Die sozialistische Erziehung der jungen Generation] kann nur durch eine Schule geschehen, die aufs engste mit dem gesellschaftlichen Leben, vor allem mit der sozialistischen Produktion verbunden ist: Besonders dadurch wird die Kluft zwischen der geistigen und körperlichen Arbeit und zwischen der Theorie und der Praxis überwunden.“ Vgl. http://www.verfassungen.de/de/ddr/schulgesetz59.htm.
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Fabriken, zweiwöchigen Betriebspraktika oder gesellschaftlich nutzbringenden Tätigkeiten wie der Erntehilfe zu sammeln hatten.48 Der Umstrukturierung lagen wirtschaftliche und staatspolitische Notwendigkeiten zugrunde. Um im „Wettlauf der Systeme“ dauerhaft konkurrenzfähig zu bleiben, benötigte die DDR permanent gut ausgebildete Fachkräfte in den Bereichen Naturwissenschaften und Technik. Eine funktionierende Wirtschaft war das zentrale Legitimationsmoment der politischen Führung, die die Überlegenheit des sozialistischen Systems immer wieder betont hatte. Ökonomische und staatspolitische Interessen waren im Gesetzestext denn auch eng verbunden.49 Aufschlussreich ist, wie die Schulreform dort sprachlich plausibilisiert wurde: In der Vorrede ist nicht nur von realpolitischen Zielsetzungen wie der Erhöhung des Bildungsniveaus die Rede, sondern auch von einer „nationalen Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender und demokratischer Staat.“50 Zur Konstruktion einer demokratischen Vergangenheit, mit der nur die Weimarer Republik gemeint sein konnte, wurde auf die National-Rhetorik aus der Zeit der europäischen Nationalstaatsbildungen im 18. und 19. Jahrhundert zurückgegriffen.51 Die Rede von der nationalen Wiedergeburt, häufig auch als „Erwachen“ oder „Wiederauferstehen der Nation“ bezeichnet – ein eindrückliches Beispiel für den deutschen Raum liefert der Barbarossa-Mythos52 – bildete eine universale Metapher zur Konstruktion von Nationalmythen, denen ein zyklisches, für den marxistisch-leninistischen Diskurs allerdings nur bedingt geeignetes Zeitverständnis
48 Für Anzahl und Art der Unterrichtstage sowie der polytechnischen Gestaltung vgl. Baske (1998): Schulen und Hochschulen, S. 178–182. 49 „Die allgemeinbildende polytechnische Oberschule erzieht die heranwachsende Generation zur Liebe zur Arbeit und zu den arbeitenden Menschen und trägt zur allseitigen Entwicklung ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten bei. Sie vermittelt der jungen Generation die Lehren aus der deutschen Geschichte und erzieht sie im Geiste des Friedens und der Völkerfreundschaft, insbesondere zur Freundschaft mit der Sowjetunion: Der Unterricht erfolgt auf der Grundlage der fortgeschrittenen Wissenschaft und der Produktionspraxis und ist eng mit der produktiven Arbeit verbunden. Während der gesamten Schulzeit nehmen die Schüler, entsprechend ihrem Alter, an gesellschaftlich-nützlicher Arbeit teil.“ Vgl. http://www.verfassungen.de/de/ddr/schulgesetz59.htm. 50 http://www.verfassungen.de/de/ddr/schulgesetz59.htm. 51 Deren Nationalbewegungen waren vor allem in Tschechien, aber auch in der Slowakei, Bulgarien und Kroatien sehr verbreitet. Heute dient der Begriff der nationalen Wiedergeburt der nationalistischen Rechten in Polen als Schlagwort. 52 Im 19. Jahrhundert erlebte die Sage von Kaiser Friedrich I. (1122–1190), wegen seines angeblich roten Bartes auch Barbarossa genannt, mit dem Bau des wilhelminischen Denkmals im thüringischen Kyffhäusergebirge einen Höhepunkt. Laut der Sage sollte der im Berg schlafende Kaiser einst wiederkehren, um die Fürstentümer zu einen und das deutsche Reich zum Großmachtsstatus zu verhelfen. Die Barbarossarezeption in Kunst und Literatur war gewaltig und ist besonders für die Geschichtsauffassung und Mittelalterrezeption des 19. Jahrhunderts aufschlussreich.
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zugrunde lag.53 Es blieb schwierig, unter Rückgriff auf bestimmte Rhetoriken der Vergangenheit eine ‚Traditionskultur des Neuen‘ zu konstruieren. Im weiteren Verlauf professionalisierte sich die Staatsbürgerkunde. Mit der gesetzlichen Verankerung als Schulfach wurde eine Informationsplattform für Lehrer geschaffen, die Zeitschrift Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde. Auffällig ist, dass dem Fach trotz seiner immer wieder betonten politischen Bedeutung kein eigenes Fachorgan zugestanden wurde. Im Hochschulwesen der DDR wurde es jedoch in Form der neu gegründeten Abteilungen für Staatsbürgerkunde fest verankert, die in den bereits seit 1951 in der gesamten Hochschullandschaft obligatorisch gewordenen Instituten für Marxismus-Leninismus angesiedelt und mit der Entwicklung einer eigenen Fachmethodik sowie der Ausbildung der Fachlehrer betraut wurden. Es dauerte allerdings noch einige Jahre, bevor die erste Generation ausgebildeter Staatsbürgerkundelehrer zum Einsatz kam.54 Neben der Frage nach der Identität der Staatsbürgerkunde wurde über pädagogische Leitvorstellungen gestritten.55 Ein Teil der Debatten kreiste um die Frage, wie bei den Schülern echte Begeisterung für das Unterrichtsfach zu wecken sei. In diesem Rahmen wurde auch die Forderung nach der schulischen Vermittlung einer sozialistischen Moral als wichtigem Bestandteil des Marxismus-Leninismus laut. Die offizielle Verkündung der Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik im Jahr 1963 stand am Beginn einer neuen Phase der Staatsbürgerkunde: dem systematischen Aufbau ihres marxistisch-leninistischen Charakters, der durch die 1963 eingesetzte Arbeitsgruppe Ideologische Erziehung
53 Laut des tschechischen Semiotikers Vladimir Macura wurde der Nationalmythos vor allem in zeitlichen Kategorien gedacht: „Die Vorstellung der Zeit als einer zyklischen Abfolge von Ereignissen, der Versuch, die Geschichte als natürlichen Kreislauf anzusehen, sind auch in der Kultur der tschechischen nationalen Wiedergeburt sichtbar. Die ‚Wiederbelebung‘ der tschechischen Nation stellte man sich als die Erweckung eines mythischen Helden vor, die mit dem Beginn eines natürlichen Kreislaufs zu tun hatte […] die Zukunft wird in der Wiedergeburtskultur als Rückkehr der Vergangenheit verstanden, der Zeiten einstigen tschechischen Ruhms.“ Marcura, zit. n. Górny, Maciej (2011): „Die Wahrheit ist auf unserer Seite“. Nation, Marxismus und Geschichte im Ostblock. Köln u. a.: Böhlau, S. 14. 54 Abteilungen für Staatsbürgerkunde wurden etwa an den Universitäten Berlin und Jena, der Pädagogischen Hochschule Potsdam sowie der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig gegründet. Im Jahr 1961 wurde das erste Methodikhandbuch für Staatsbürgerkunde lehrer herausgegeben, womit die Diskussionen über die Ausrichtung des Faches keineswegs abrissen. Dies war nicht zuletzt dem alltagspolitischen Geschehen geschuldet. Insbesondere der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 verlangte nach einer parteikonformen Rechtfertigung, auf die im Staatsbürgerkundeunterricht besonderen Wert gelegt wurde, vgl. Scholtijs (1995): Umbruch, S. 13. Dies lässt sich an den Lehrbuchdarstellungen deutlich nachvollziehen. 55 Zu der Auseinandersetzung vgl. auch Behrmann (1999): Einübung Sprechakte, S. 166–168, der den Hauptkonflikt um die pädagogische Grundlegung in den Entwürfen der führenden DDR-Pädagogen Ekkehard Sauermann und Gerhard Neuner personalisiert sieht.
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der Schuljugend der SED vorbereitet wurde.56 Die juristische Grundlage bildete das neue Schulgesetz von 1965 zur Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit, in dem die Staatsbürgerkunde zum zentralen Unterrichtsfach erklärt wurde (vgl. § 16, Abschnitt 2).57 Von einer „nationalen Wiedergeburt“ war dort allerdings keine Rede mehr. Dafür rückte die Rolle des Marxismus-Leninismus weiter ins Zentrum. Dieser galt nicht nur als zentraler Wissensbereich, sondern als Lebensinhalt; sein gründliches Studium sollte dazu dienen, „den Sinn des Lebens“ zu begreifen und „sozialistisch zu denken, zu fühlen und zu handeln“.58 Weltanschauung und Lebenssinn fielen zusammen. Die Ausrichtung des Staatsbürgerkundeunterrichts auf den Marxismus-Leninis mus verlangte nach neuen Unterrichtsmaterialien. Ab 1. September 1964 wurden erstmals eigene systematische Lehrbücher für die Klassen 7 bis 10 eingeführt; der entsprechende Lehrplan war jedoch noch stark an der sowjetischen „Gesellschaftskunde“ orientiert, deren Lehrbuch in übersetzter Form denn auch vorübergehend in der DDR in Gebrauch war. Die Lehrbücher fanden in ab 1967 erscheinenden Unterrichtshilfen Ergänzung. Parallel dazu wurde die erste Generation von Fachlehrern ausgebildet. In dieser Zeit arbeitete die politische Führung auch an einer erzieherischen Programmatik des „sozialistischen Bewusstseins“. Ein im April 1969 veröffentlichtes Papier sollte die Maßgabe für Handeln und Verhalten der sozialistischen Persönlichkeit bilden. Die darin genannten Grundsätze umfassten unter anderem den Sonderstatus der Arbeiterklasse sowie den mit dem Marx’schen Gesetzmäßigkeitstopos begründeten Wissenschaftlichkeitsanspruch des Systems.59 Ende der 1960er Jahre war die grundlegende Konzeptionsphase der Staats bürgerkunde abgeschlossen60, was nicht bedeutet, dass es während der 1970er und 1980er Jahre nicht noch grundlegende inhaltliche Veränderungen in Aufbau
56 Vgl. Detjen (2007): Politische Bildung, S. 202. 57 Zum Gesetzestext: http://www.verfassungen.de/de/ddr/schulgesetz65.htm. 58 Vgl. auch § 5, Abschnitt 4 des Gesetzestextes: „So werden sie [die Schüler] befähigt, den Sinn des Lebens in unserer Zeit zu begreifen, sozialistisch zu denken, zu fühlen und zu handeln und für die Überwindung von Widersprüchen und Schwierigkeiten bei der Lösung von Aufgaben zu kämpfen.“ Unter: http://www.verfassungen.de/de/ddr/schulgesetz65.htm. 59 Vgl. Matthes, Eva (2011): Aufgaben zum Thema Bundesrepublik Deutschland in Staatsbürgerkundebüchern der DDR in den siebziger und achtziger Jahren. In: dies./Schütze, Sylvia (Hg.): Aufgaben im Schulbuch. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, S. 135–148, hier: 137. In dem Papier Aufgabenstellung des Ministeriums für Volksbildung und des Zentralrats der FDJ zur weiteren Entwicklung der staatsbürgerlichen Erziehung der Schuljugend der DDR wurden insgesamt sieben idealtypische „Grundüberzeugungen“ des Sozialisten formuliert, vgl. dafür auch Detjen (2006): Politische Bildung, S. 203 sowie Biskupek, Sigrid (2002): Transformationsprozesse in der politischen Bildung. Von der Staatsbürgerkunde in der DDR zum Politikunterricht in den neuen Ländern. Schwalbach: Wochenschau Verlag, S. 16. 60 Vgl. Grammes (2006): Dokumentenband, S. 68.
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und Struktur der Bücher gegeben hätte.61 Vor allem in der ersten Hälfe der 1970er Jahre ergaben sich an einigen Stellen wichtige inhaltliche Veränderungen. Ab 1968/69 wurde überdies das zunächst für die Klassen 9 bis 12 erteilte Fach auch auf die Jahrgänge 7 und 8 ausgedehnt. Anfang der 1980er Jahre wurden die Lehrbücher im Rahmen der technischen Möglichkeiten außerdem im Hinblick auf ihre didaktische Präsentation stark überarbeitet und deutlich attraktiver gestaltet. Die Identitätsdebatten um das Fach rissen aber auch in dieser Zeit nicht ab. Noch immer suchte man nach einer befriedigenden Antwort auf die Abgrenzungsfrage zum Geschichtsunterricht. Als ein spezifisches Merkmal der Staatsbürgerkunde wurde dessen Lebensbezogenheit geltend gemacht, die vor allem durch Aktualitätsbezüge in Politik und Gesellschaft hergestellt werden sollte. Der Sozialismus sollte zudem erfahrbar sein, was in den Lehrbüchern der unteren Klassen hauptsächlich durch den Einsatz fiktionaler Textanteile in Form von Erlebnisberichten aus Figurenperspektive oder literarischen Texten umgesetzt wurde.62 In den 1970er Jahren wurde die Ausbildung der Fachlehrer weiterhin ver bessert; 1975 verfügten die meisten von ihnen über eine abgeschlossene fachlich bezogene Hochschulbildung. Insgesamt stieg mit der Professionalisierung des Unterrichtsfaches auch die Lehrerkontrolle: Anfang der 1980er Jahre beschloss das ZK der SED neue Richtlinien zur Verbesserung des Unterrichts, die unter anderem vorsahen, dass nur parteipolitisch integre Personen Staatsbürgerkunde unterrichten sollten. In der Regel hatten die Lehrer SED-Mitglieder zu sein, und waren verpflichtet, regelmäßig an fachbezogenen Schulungen teilzunehmen.63 Die staatsbürgerliche Erziehung wurde von verschiedenen schulischen Maßnahmen zur Erziehung zur „sozialistischen Persönlichkeit“ ergänzt.64 Dazu zählten 61 In der fachgeschichtlichen Sekundärliteratur wird vor allem die Zeit der 1980er Jahre auffällig stiefmütterlich behandelt. Unter Verweis auf den konzeptuellen Abschluss der Lehrbücher wird der Frage nach inhaltlichen Veränderungen kaum mehr nachgegangen, beispielhaft: Bunke (2005): „Wir lernen und lehren im Geiste Lenins…“: S. 20: „In den folgenden Jahren waren die Veränderungen im Fach Staatsbürgerkunde, sowie im gesamten Bildungssystem, nur gering.“ Die Analyse der Lehrbücher zeigt hingegen, dass sich vor allem während der 1970er Jahre sowie mit der letzten großen Lehrplanrevision der 1980er Jahre noch einmal deutliche Veränderungen ergeben. So stellt auch Schmitt in Bezug auf die Lehrpläne fest: „Wenngleich im fraglichen Zeitraum die große Lehrplanreform bereits abgeschlossen war, und somit die Revisionen (mit Ausnahme der Klasse 10) nur noch auf die inhaltliche Linie gerichtet waren, so ist das Ausmaß der jeweiligen Veränderungen doch sehr verschieden. Sie reichen von bloßen terminologischen Verbesserungen bis zur völligen Umstrukturierung. […] Diese Unterschiede im Ausmaß der Lehrplanrevision schränken die Vergleichbarkeit erheblich ein.“ Ders. (1980): Politische Erziehung, S. 79. 62 Vgl. dazu v. a. die Analyse der Staatsbürgerkunde 7–9. 63 Vgl. Behrmann (1999): Einübung Sprechakte, S. 151–154. 64 Die Erziehung zur „sozialistischen Persönlichkeit“ wurde gleich im ersten Abschnitt des 1974 verabschiedeten DDR-Jugendgesetzes ausführlich beschrieben. Dieses sah vor, alle jungen Menschen zu Staatsbürgern zu erziehen, die „den Ideen des Sozialismus treu ergeben sind, als Patrioten und Internationalisten denken und handeln, den Sozialismus stärken und gegen
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wöchentliche Fahnenappelle, eine Reihe von Feiertagen, für die das Abhalten von Feierstunden oder öffentliche Veranstaltungen Pflicht waren, sowie Arbeits gemeinschaften.65 Im Juni 1989 wurde der letzte Pädagogische Kongress in der DDR abgehalten. Zuvor hatte die „Deutsche Lehrerzeitung“ einen Aufruf an die Bürger veröffentlicht, sich an der Vorbereitung zu beteiligen. Tatsächlich gingen 403 Vorschläge ein. Alle kritischen Briefe mit Reformanregungen blieben jedoch unberücksichtigt. Die Schreiben tauchten erst nach 1989 im Archiv des Ministeriums für Volksbildung auf; 50 davon waren mit dem Vermerk „MfS“ (Ministerium für Staatssicherheit) versehen.66 Der Kongress selbst brachte keine Neuerungen. Mit ihrem Grundsatzreferat orientierte sich die damalige Ministerin für Volksbildung Margot Honecker an den bisherigen Strukturen. Für Reformpläne blieb auch wenige Monate vor dem Ende der DDR kein Platz, obwohl sich das System in einer tiefen Krise befand. Die Sommerferien 1989 hatten manche Mitschüler und auch Lehrer dazu genutzt, über Ungarn in den Westen zu flüchten. Die Verbliebenen reagierten einerseits verunsichert auf die Situation, andererseits wurden die Forderungen nach Veränderungen lauter.67 Die rasanten politischen Entwicklungen in den folgenden Wochen betrafen auch die Staatsbürgerkunde. Nachdem der 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 noch wie üblich begangen wurde, trat die Führungsriege der Partei am 18. Oktober geschlossen zurück. Zwei Tage später trat auch Margot Honecker ihren über 25 Jahre ausgefüllten Ministerposten ab. Ihr Nachfolger setzte wenige Wochen später die Lehrpläne für Staatsbürgerkunde aus, womit das Fach seinen offiziellen Erziehungsauftrag verloren hatte. Zum Winter 1989/1990 wurde der Staatsbürgerkundeunterricht endgültig eingestellt.68 Damit verschwand auch die „wissenschaftliche Weltanschauung des Marxismus-Leninismus.“ alle Feinde zuverlässig schützen“ (§ 1, Abschnitt 1). Ein umfassender Katalog von Handlungsmaximen definierte das Idealverhalten eines jungen Sozialisten (vgl. Abschnitt 2), er wurde für die Schulbücher übernommen. Die Erziehung oblag allen Bereichen und Institutionen des gesellschaftlichen Lebens; die Arbeiterklasse an sich, Eltern, Kollektive, Partei sowie Jugendverbände (FDJ) wurden gleichermaßen in die erzieherische Pflicht genommen (§ 2 und 3). Selbst die Verlage wurden gesetzlich verpflichtet, die weltanschauliche Erziehung durch regelmäßig erscheinende Publikationen zu fördern. (§ 4, Abschnitt 3). Vgl. http://www.verfassungen.de/ de/ddr/jugendgesetz74.htm. In den 1980er Jahren verschwand der Terminus der „allseitig so zialistischen“ bzw. „kommunistischen Persönlichkeit“ endgültig aus der Erziehungsdebatte und wurde durch den Begriff der „Individualität“ ersetzt, vgl. Baske (1998): Schulen und Hochschulen, S. 192–195. Der umfassende Erziehungsanspruch blieb indes bestehen. 65 Vgl. Detjen (2007): Politische Bildung, S. 205; Schmitt (1980): Politische Erziehung, S. 94 f. 66 Vgl. Biskupek (2002): Transformationsprozesse, S. 21. 67 Vgl. Biskupek (2002): Transformationsprozesse, S. 23. 68 Zu dem ab November 1989 einsetzenden Transformationsprozessen der Staatsbürgerkunde in politische Bildung und Erziehung vgl. ausführlich Biskupek (2002): Transformationsprozesse sowie Scholtijs, (1995): Umbruch.
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2.2 Produktionsumfeld der Lehrbücher: Bildungssystem, curriculare Verortung der Staatsbürgerkunde und Lehrplanentwicklung a) Zum DDR-Schulsystem In der DDR war der Bereich der Erziehung zentralistisch organisiert. Pro Jahrgangsstufe existierte ein für die gesamte Republik verbindliches Schulbuch, das von einem Verlag gedruckt wurde, der ebenso für die Produktion des gültigen Lehrplans zuständig war. Die Veröffentlichung sämtlicher schulrelevanter Materialien unterlag der Kontrolle durch das Ministerium für Volksbildung, dessen Einfluss mit dem Bildungsgesetz von 1965 auf eine juristische Grundlage gestellt worden war.69 Veränderungen konnten nur auf Grund von Revisionsverfahren des Gesamtlehrplans vorgenommen werden, was die oftmals geringen Unterschiede zwischen Auflagen, mitunter auch Ausgaben, eines Lehrbuchs erklärt. Der wichtigste Ort der Vermittlung des sozialistischen Wissens bildete die zehnklassige Polytechnische Oberschule (POS), zu deren Fächerkanon die Staatsbürgerkunde zählte. Staatsbürgerkunde wurde dort grundsätzlich in den Klassen sieben bis zwölf (13. bis 18. Lebensjahr) unterrichtet.70 In der DDR bezeichneten die Klassen 11 und 12, anders als in Westdeutschland, nicht nur die gymnasiale Oberstufe, sondern sämtliche nach der zehnten Klasse folgenden Schuljahre, so auch die Zeit der Berufsausbildung mit oder ohne Abitur. Auch wer die POS nach der zehnten Klasse verließ, um eine Berufsausbildung zu beginnen, besuchte demzufolge formal die Klassen 11 und 12 des einheitlichen Bildungssystems, das grundsätzlich so durchlässig sein sollte, dass das universitäre Studium von allen Bildungswegen aus erreicht werden konnte. Die erweiterte Oberschule (EOS) bildete den Zweig des DDR-Schulsystems, der nach der 12. Schulklasse zum Abitur führte. Bis 1983 bestand die gymnasiale Stufe aus vier Schuljahren (Klassen 9 bis 12), ab 1983 nur noch aus den Klassen 11 und 12, womit die potenziellen Abiturienten so lange wie möglich in die POS integriert waren. Da auf Grund einer Quotenregelung nur eine geringe Anzahl der Schüler eines Jahrgangs die EOS besuchen durfte (ca. 7–10 %), konnte das Abitur in der DDR auch über die Berufsschullaufbahn erlangt werden. Die Zulassung zur Hochschulreife war aber nicht nur an Leistung oder späteren Berufswunsch, sondern maßgeblich an die Zustimmung zum Sozialismus gebunden, das die Schüler durch Mitgliedschaft in der FDJ und anderen Jugendorganisa 69 Der gesamte sechste Abschnitt des Bildungsgesetzes (§§ 23 und 24) ist der Produktion von Lehrplänen, Lehrbüchern und Unterrichtsmitteln sowie der Kontrolle der Unterrichtsmethoden gewidmet, vgl. http://www.verfassungen.de/de/ddr/schulgesetz65.htm. 70 In den unteren Klassen eins bis sechs wurden staatsbürgerkundliche Inhalte im Rahmen der Heimatkunde vermittelt.
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Schulsystem der DDR auf einen Blick, nach Staatsbürgerkunde 8 (1984): S. 60
tionen oder Teilnahme an der Jugendweihe zu dokumentieren hatten. Zu den Hauptausschlusskriterien zählten neben der sozialen Herkunft der Eltern aus dem bürgerlichen Milieu Kirchenmitgliedschaft, „Republikflucht“ von Familienangehörigen oder aber offene Auseinandersetzungen mit Funktionsträgern der schulischen Erziehung, wie dem Staatsbürgerkundelehrer. Da der schulische Weg von Berufsausbildung und Gymnasialzweig der polytechnischen Oberschule zusammenfielen, wurde für die höheren Klassen dasselbe Staatsbürgerkundelehrbuch verwendet, ein historisch und theoretisch äußerst anspruchsvoller Philosophielehrgang. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540497 — ISBN E-Book: 9783647540498
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b) Das Staatsbürgerkundelehrbuch als wichtigstes Vermittlungsinstrument der sozialistischen Weltanschauung: curriculare Einbindung, Konzeption und Entwicklung Entwicklung der Staatsbürgerkundelehrbücher sowie curriculare Verortung der Staatsbürgerkunde als Unterrichtsfach waren durch die bildungspolitischen Reformen der 1950er Jahre geprägt. Sowohl die Ablösung der Gegenwartskunde als auch die ab 1959 umgesetzte Polytechnisierung des Schulsystems schufen die Voraussetzungen für die Ausarbeitung eines fachbezogenen Lehrbuchkorpus, den es bis dahin noch nicht gegeben hatte.71 Die Lehrbücher bildeten das zentrale Instrument zur staatsbürgerlichen Erziehung sowie der systematischen Vermittlung der sozialistischen Weltanschauung.72 Als zentralem Instrument der sozialistischen Weltanschauungserziehung wurde der Staatsbürgerkunde im gesamten Ausbildungsgefüge eine besondere Bedeutung zugeschrieben, wenngleich ihre Rolle als „ideologisches Kernfach“ nicht aus der curricularen Verortung erkennbar war. Mit lediglich ein bis zwei Unterrichtsstunden in der Woche machte sie nur einen kleinen Teil des Stundenplans der Siebt- bis Zwölftklässler aus.73 Die geringe Stundenzahl mag angesichts der an das Fach herangetragenen Erwartungen erstaunen. Aber auch dem Geschichtsunterricht, dem neben der Staatsbürgerkunde eine zentrale Funktion für die Konstruktion einer sozialistischen Traditions- und Erinnerungskultur zukam, wurde kein außergewöhnlich hohes Stundendeputat zugestanden.74 Zudem erstreckte sich die sozialistische Erziehung weit über den schulischen Bereich hinaus. Den pädagogischen Rahmen bildete das Prinzip der Einheitlichkeit von Bildung und Erziehung: Bildung, verstanden als Wissens- und Fähigkeitsvermittlung, sollte mit spezifischen, im Erziehungsprozess zu entwickelnden Überzeugungen und Charaktereigenschaften einhergehen.75 Dem Lernstoff wurde damit 71 In der Sekundärliteratur ist die Rede davon, dass zum 1. September 1964 erstmals Lehrbücher im Fach Staatsbürgerkunde zum Einsatz kamen, vgl. Grammes (2006): Dokumentenband, S. 67. Allerdings gab es bereits vor der Lehrplanrevision von 1959 vereinzelte Lehrbücher für Staatsbürgerkunde für die damaligen Mittel- und Oberschulen sowie Lesehefte für den Staatsbürgerkundeunterricht, vgl. Volkspolizei, Staatssicherheit, Kampfgruppen. Leseheft für den Unterricht in Staatsbürgerkunde, zusammengestellt und bearbeitet von Heinz Siegel. Berlin: Volk und Wissen, 1958. 72 Vgl. Mätzing, Heike Christina (1999): Geschichte im Zeichen des historischen Materialismus, S. 280; aus Sicht der DDR-Schulbuchmethodik vgl. programmatisch: Baumann, Manfred (1984): Schulbuchgestaltung in der DDR. Autorenkollektiv unter der Leitung von Manfred Baumann, Wolfgang Eisenhuth, Eberhard Klinger u. a. Berlin: Volk und Wissen, S. 9–14. 73 Vgl. Grammes (2006): Dokumentenband, S. 13. 74 Vgl. Mätzing (1999): Geschichte im Zeichen des historischen Materialismus, S. 266. 75 Vgl. Schmitt, Karl (1980): Politische Erziehung in der DDR. Ziele, Methoden und Ergebnisse des politischen Unterrichts an den allgemeinbildenden Schulen der DDR. Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh, S. 51.
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eine wesensformende Funktion zugeschrieben. Die Produktion und Veröffentlichung von Schulbüchern unterlag einer strengen staatlichen Kontrolle. Nicht nur als Quelle idealtypischen Wissens der sozialistischen Allgemeinbildung, sondern als „wirksame Hilfe für die Erhöhung der Qualität der weltanschaulichen Erziehung [Hervorh. i. Orig.]“ galt das Lehrbuch den Methodikern als zentrales Sozialisationsinstrument auf dem Weg zur „Herausbildung politischer, philosophischer, moralischer, ästhetischer und juristischer Auffassungen, Einstellungen, Überzeugungen und Haltungen entsprechend der wissenschaftlichen Ideologie der Arbeiterklasse“. Es sollte die Schüler – jedenfalls in der Theorie – über den Unterricht hinaus begleiten: „Die große Bedeutung des Schulbuches innerhalb der zentralen Unterrichtsmaterialien ergibt sich auch daraus, daß sie jeder Schüler in der Unterrichtsstunde sowie in der häuslichen Arbeit bei Bedarf jederzeit nutzen kann.“76 Die Grundlagen der Weltanschauung, etwa ein bestimmtes (moralisches) Verhalten, sollten im Unterricht und nicht etwa in der Familie gelegt werden. Das Schulbuch trug idealerweise zur Entwicklung des „sozialistischen Bewusstseins“ bei, indem es „in Wort und Bild Inhalte der marxistisch-leninistischen Weltanschauung“ darstellte, „aus dem dargestellten Wissen weltanschauliche und moralische Schlußfolgerungen überzeugend ableitet[e]“ und damit Handlungsmaximen präsentierte.77 Die Forderung lautete: „Das Schulbuch soll Verstand und Gefühl der Schüler ansprechen.“78 Die emotionale Darstellung der Inhalte war nicht nur ausdrücklich gewollt, sie bildete ein wesentliches Moment der Methodik, und wurde unter dem Begriff der „Parteilichkeit“ auch in den Wissenschaftsdiskurs eingespeist. Sprachliche Umsetzung fand die emotionale Darstellung in entsprechendem Vokabular, das in den Staatsbürgerkundebüchern häufig mit polemischen Formulierungen einherging. Folgende methodische Reflexion war für eine Lehrbuchdarstellung typisch: „Bei der Schilderung der Verfolgung der Genossen der KPD in der faschistischen Ära wird diese Situation oft emotionaler [Hervorh. i. Orig.] erlebt, wenn man von ‚verleumdet‘, ‚gehetzt‘ und ‚gejagt‘ schreibt statt nur von ‚verfolgt‘. Das Streben der Monopolbourgeoisie wird deutlicher, wenn man nicht von ‚Bemühen‘, sondern besser vom ‚Kampf ‘ oder ‚Ringen‘ um die Macht schreibt.“79
76 Baumann (1984): Schulbuchgestaltung in der DDR, S. 10 f. 77 Baumann (1984): Schulbuchgestaltung in der DDR, S. 36 f. 78 Baumann (1984): Schulbuchgestaltung in der DDR, S. 39. Diese Maxime galt allerdings für alle Schulfächer, wie ähnliche Ausführungen zum naturwissenschaftlichen Unterricht be legen. Für die Biologie vgl. zum Beispiel Schwier, Hans-Joachim (1980): Methodische Überlegungen zur emotionalen Wirksamkeit von Lehrbuchabschnitten im Biologieunterricht. In: Informationen zu Schulbuchfragen, Heft 40/1980, S. 96–104. 79 Baumann (1984): Schulbuchgestaltung in der DDR, S. 43.
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Gerade in den stärker historisch ausgerichteten Staatsbürgerkundelehrbüchern der unteren Klassen bildeten die Adjektive ein feststehendes Vokabular im Zusammenhang mit der Darstellung des kommunistischen Widerstands während des Nationalsozialismus.80 Auch mit bestimmten Formulierungen einhergehende Wertungen waren ausdrücklich gewollt und wurden genauestens reflektiert81: „Durch immanente Wertungen werden für unsere Schüler bestimmte Aussagen hervorgehoben und in das System unserer Werte und Normen eingeordnet. Die Schüler werden außerdem angeregt, Wertungen zu übernehmen und zur Position des eigenen Denkens und Handelns zu machen.“82
In der Vermittlungsstrategie verbanden sich Argumentation und emotionale Präsentation miteinander. Neben Textelementen galten als Medien der emotionalen Darstellung gleichermaßen Abbildungen, Illustrationen oder Quellentexte, die besonders in den Geschichts- und Staatsbürgerkundelehrbüchern zum Einsatz kamen und Lehrtextaussagen belegen, vertiefen, illustrieren oder ersetzen sollten.83 Quellen wurde eine immanente Bedeutsamkeit zugeschrieben, so dass ihr Einsatz frei von quellenkritischen oder historisierenden Überlegungen erfolgte.84 Auch dies war methodisches Programm: „Charakteristisch für Quellen ist ihre Authentizität, aus der sich die Lebendigkeit und überzeugende Beweiskraft des Quellenmaterials ergibt. Schriftliche und bildhafte Quellen begünstigen und unterstützen vornehmlich im gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht die politisch-ideologische sowie die moralische Bildung und Erziehung.“85
Die Produktion eines Lehrbuchs verlief folgendermaßen: Üblicherweise war für Konzeption und inhaltliche Gestaltung ein Autorenkollektiv zuständig, das unter Leitung eines seiner Mitglieder arbeitete. Die Verfasser einzelner Texte oder Text 80 Vgl. dazu die Analysen Staatsbürgerkunde 7 sowie Staatsbürgerkunde 8. 81 Eine beispielhafte Reflexion bei Baumann (1984): Schulbuchgestaltung in der DDR, S. 64–66. Zur besonders ‚wirksamen‘ Gestaltung des Schulbuchtextes werden eine effektive Argumentationsstrategie, eine anschauliche und emotional ansprechende Darstellung eines Sachverhalts, die „sinnlich Wahrgenommenes [aktualisiert] und gefühlsmäßige Regungen [hervorruft] sowie eine insgesamt „emotional wirksame“ Gestaltung der Lehrtexte gezählt, vgl. ebd., S. 66. 82 Baumann (1984): Schulbuchgestaltung in der DDR, S. 46. 83 Vgl. Baumann (1984): Schulbuchgestaltung in der DDR, S. 64–80. 84 So auch Mätzing im Hinblick auf die Geschichtsbücher: „Die Geschichtsbücher verwendeten sowohl schriftliche wie bildhafte Quellen. Dabei verwies bereits die Schulbuchtheorie auf den unterschiedlichen Umgang mit Quellen der Arbeiterbewegung und solchen, die nichtmarxistischer Provenienz waren. Während bei der ersten Gattung eine kritische Auseinandersetzung und also eine Historisierung als nicht notwendig postuliert wurde, sollte der zweiten Gattung skeptisch begegnet werden.“ Dies. (1999): Geschichte im Zeichen des historischen Materialismus, S. 282. 85 Baumann (1984): Schulbuchgestaltung in der DDR, S. 80.
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fragmente sind deshalb heute nur schwer identifizierbar, wohl aber die Namen der beteiligten Autoren. Jedes Manuskript hatte zur eingehenden Prüfung dem Ministerium für Volksbildung vorgelegt zu werden, das außerdem für die Erarbeitung der Lehrpläne, der Definition von Unterrichtsinhalten und Lernzielen sowie der Lehrerausbildung zuständig war. Die einzelnen Schulbuchausgaben erlebten unterschiedlich hohe Auflagen. Mitunter war eine neue Ausgabe mit dem Wechsel von Zusammensetzung und Leitung des Kollektivs verbunden. Ein einziger Schulbuchverlag führte den Druckprozess aus: Die Lehrbücher der Klassen 7 bis 10 wurden beim Berliner Verlag Volk und Wissen gedruckt, der 1945 in Berlin und Leipzig gegründet worden war und bis zum Ende der DDR nahezu sämtliche Schulbücher, Lehrpläne und Zeitschriften verlegte. Er war dem Ministerium für Volksbildung direkt unterstellt. Für die Produktion der Lehrbücher der Klassen 11/12 war der seit 1946 bestehende Dietz-Verlag (ebenfalls Berlin) zuständig. Für die Strukturierung der Schulbücher nahm der Hauptlehrtext eine besondere Rolle ein. Als „grundlegendes stoffdarstellendes Strukturelement“ hatte er den größten Umfang und bildete das zentrale Medium zur Vermittlung des Sach-, Norm- und Wertwissens.86 Es ist diese Einheitlichkeit von Schulbüchern in Verbindung mit dem vereinheitlichten Schulwesen, das den Lehrbüchern „in ihrer politisch-gesellschaftlichen Funktion ein noch größeres Gewicht [verlieh], als es Schulbüchern ohnehin schon zukommt.“87
c) Die Regulierung des Unterrichts: Lehrpläne und Lehrplanentwicklung In der DDR war der Lehrplan das wesentliche staatliche Planungsinstrument des Unterrichts.88 Ebenso wie die Lehrbücher besaßen auch die Lehrpläne überregionale Gültigkeit, wobei pro Jahrgang ein Plan existierte, der verschiedene Stufen der Verabschiedung durchlief, bevor er durch die Ministerin für Volksbildung, Margot Honecker, endgültig genehmigt wurde. Ausgehend von den im Lehrplan enthaltenen Vorgaben, der die zu erreichenden Zielsetzungen jedes Unterrichtsfaches festlegte, dessen Inhalte vorgab und Unterrichtszeit und Metho 86 Baumann (1984): Schulbuchgestaltung, S. 61 f. 87 Knopke, Lars (2011): Schulbücher als Herrschaftsinstrumente der SED. Wiesbaden: VS Verlag, S. 41. 88 „Der Lehrplan ist in der DDR das verbindliche zentrale staatliche Planungsdokument für die Bildung und Erziehung im Unterricht. Ihm kommt vor allem die Funktion der Zielplanung, der Stoffplanung, aber auch der Vermittlung entscheidender Vorgaben zur Planung und Gestaltung des Unterrichtsprozesses zu.“ Vgl. Baumann (1984): Schulbuchgestaltung in der DDR, S. 10. Diese Einschätzung wird in der Sekundärliteratur geteilt, vgl. z. B. Schmitt (1980): Politische Erziehung in der DDR, S. 52. Die Analyse ergab zudem, dass Überschriften und Formulierungen aus Lehrplänen für die Schulbücher häufig ungebrochen übernommen wurden.
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dik darlegte, präsentierte das Schulbuch die ausgearbeiteten Vorgaben in einem didaktisch aufbereiteten Text, der Übungsmaterial und Aufgabenstellungen beinhaltete.89 Mit der lehrplangerechten Schulbuchgestaltung war ein weiteres Kontrollinstrument in den Entwicklungs- und Produktionsprozess der Staatsbürgerkundeschulbücher installiert, die als zentraler Ort der politischen und weltanschaulichen Erziehung unter besonderer Beobachtung stand: In regelmäßigen Abständen von zwei bis drei Jahren kontrollierten Kreisschulräte oder Direktoren im Auftrag der staatlichen Schulaufsicht die Unterrichtsführung – dies war zuvor im Bildungsgesetz von 1965 festgelegt worden –, wobei Lehrplantreue als Qualitätsmerkmal des Unterrichts galt. Auch die Lehrerfortbildung blieb eng an die Lehrpläne gebunden.90 Für die Lehrplanentwicklung offiziell zuständig war die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften, bis 1970 auch Deutsches Pädagogisches Institut der DDR, die qua Politbürobeschluss zum Leitungsgremium für pädagogische Forschung und Lehre erklärt worden war, dem Ministerium für Volksbildung aber direkt unterstand. Dieses formulierte nicht nur verbindliche (Forschungs-)Vorgaben für Universitäten und Hochschulen91, sondern entschied auch über Personalfragen. Ein neuer Lehrplan bzw. eine Lehrplanrevision wurde zuerst offiziell von der SED-Führung beschlossen, bevor das Ministerium für Volksbildung der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften einen entsprechenden Arbeitsauftrag erteilte, woraufhin ein Gremium aus wissenschaftlichen Fachexperten, Schulpolitikern und Lehrern zusammentrat und einen ersten Entwurf erarbeitete.92 Auf Grundlage der bestehenden Lehrpläne entwarf der Schulbuchverlag regelmäßig einen neuen Themenplan, auf dessen Basis die Redaktionen des Verlages in Zusammenarbeit mit Autoren, Fachinstituten der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften sowie Fachabteilungen des Ministeriums den neuen Lehrplantext erarbeiteten. Als Autoren wurden bevorzugt Fachmethodiker gewonnen und vertraglich an den Verlag gebunden.93 Sehr häufig waren die Autoren an 89 Vgl. Baumann (1984): Schulbuchgestaltung, S. 24. 90 Vgl. Borneleit, Peter (2003): Lehrplan und Lehrplanerarbeitung, Schulbuchentwicklung und -verwendung in der DDR. In: Zentralblatt für Didaktik der Mathematik (ZDM) Nr. 35, Heft 4, S. 134–145, hier: 136. 91 Auf Geheiß des Ministeriums erarbeitete die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften Pläne zur wissenschaftlich-pädagogischen Forschung, die für die Universitäten und Hochschulen verbindlich waren, vgl. Hausten, Hans-Joachim (2008): Der Lehrer und sein Image. Fakten und Reminiszenzen zum Persönlichkeitsbild des Lehrers und zu seinen Herausforderungen in der DDR. Frankfurt/Main: Peter Lang S. 158. 92 Zu den Abläufen vgl. Borneleit (2003): Lehrplan und Lehrplanerarbeitung, S. 142. 93 Vgl. Borneleit (2003): Lehrplan und Lehrplanerarbeitung, S. 143. Borneleit weist außerdem auf die Beteiligung des Verlags an der Lehrbuchproduktion hin: Der Volk und WissenVerlag unterhielt eine eigene Forschungsstelle für Schulbuchuntersuchungen, 1970 wurde eine institutionell übergreifende Forschungsgemeinschaft „Schulbuch“ gegründet, in der der Verlag mit Universitäten und Hochschulen zusammenarbeitete.
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der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED tätig, dort zumeist als ranghohe DDR-Wissenschaftler, für die Staatsbürgerkunde vielfach in der Philosophie. Letzte Veränderungen behielt sich, wie bei der Schulbuchproduktion auch, mit dem Ministerium für Volksbildung Margot Honecker persönlich vor. Nach der Verabschiedung eines Lehrplans wurden die Lehrkräfte in Seminaren geschult. Zusätzlich existierte ab 1969 ein eng an die Lehrpläne gebundenes Weiterbildungssystem, das jede Lehrkraft dazu verpflichtete, alle paar Jahre in den Sommerferien an einem umfassenden Programm teilzunehmen.94 Wie oft ein Lehrplan überarbeitet wurde, hing von verschiedenen Faktoren ab. In den ersten Jahren nach der Einführung der systematischen Lehrbücher wurden mehrfache Lehrplanrevisionen vorgenommen95, die „von bloßen terminologischen Verbesserungen bis zur völligen Umstrukturierung [reichen konnten]“, was ihre Vergleichbarkeit erheblich einschränkte.96 Neben Lehrbüchern und Lehrplänen bildeten die Unterrichtshilfen das dritte Planungsinstrument für den Staatsbürgerkundeunterricht. Im Rahmen der Polytechnisierung zwischen 1966 und 1970 eingeführt, lieferten sie Gestaltungsvorschläge und dokumentierten die idealtypischen Vorstellungen eines guten Unterrichts, ohne in dem Maß verbindlich zu sein wie Lehrbücher und Lehrpläne. In der Praxis wurden sie wohl häufig übernommen, weil die Unterrichtshilfen bis ins Detail ausgearbeitete Vorschläge für die Gestaltung einzelner Stunden boten, in denen Arbeitsschritte, Lern- bzw. Erkenntnisziele und didaktische Mittel wie zu verwendende Tafelbilder vorformuliert waren.97 94 Das Programm umfasst 100 Stunden, von denen 28 Stunden auf fachspezifische Kurse entfielen, vgl. Borneleit (2003): S. 143. Zuvor erfolgte die Weiterbildung zumeist im Selbst studium, wobei anfangs vor allem sowjetpädagogische Werke rezipiert wurden. Erst ab Anfang der 1960er Jahre war mehr und mehr DDR-eigene Literatur verfügbar, Vgl. Hausten (2008): Der Lehrer und sein Image, S. 22. Ein Standardwerk für die aus marxistischer Sicht verfasste Geschichte der Pädagogik bildete die von einem Redaktionskollektiv unter Karl-Heinz Günther entstandene Geschichte der Erziehung. Berlin: Volk und Wissen 1958. Für die Schulpädagogik: Tomaschewsky, Karlheinz (1963): Didaktik. Schulpädagogik Teil I. Berlin: Volk und Wissen. 95 Für die Staatsbürgerkunde 7 wurden dreimal in kurzen Abständen Revisionen erarbeitet (1972, 1974 sowie 1976), für die Staatsbürgerkunde 8 in den Jahren 1968 sowie 1972, für Staatsbürgerkunde 9 1969 und 1973 sowie für Staatsbürgerkunde 10 ebenfalls 1969 sowie 1972. Für die Lehrplanänderungen im Zeitraum zwischen 1967 und 1974 vgl. auch Schmitt (1980): Politische Erziehung in der DDR, S. 78. 96 Schmitt (1980): Politische Erziehung in der DDR, S. 79. Die Veränderungen betrafen nach Schmitt vor allem vier inhaltliche Bereiche: Internationalismus/Rolle der DDR, die nationale Frage, die Gesellschaftsformation der DDR sowie die Rolle von Arbeiterklasse und SED, ebd. Nach Joachim Hausten, ehemaliger Neulehrer und später außerordentlicher Dozent für Didaktik an der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften in Berlin, existierten fünf Generationen von Lehrplänen: 1945/46, 1951, 1959, 1965 bis 1971/72 sowie 1981, wobei die ersten Lehrpläne fast reine Stoffpläne gewesen seien und Reflexionen über Lernziele oder Methodik erst später hinzukamen. Vgl. Hausten (2008): Der Lehrer und sein Image, S. 158. 97 Zu den Unterrichtshilfen vgl. auch Grammes (2006): Dokumentenband, S. 159–161.
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Ausschnitt aus einem Vorschlag zur Gestaltung einer Unterrichtsstunde zur sozialistischen Moral98
Mit den Lehrplänen, Lehrbüchern und Unterrichtshilfen war ein breites Instrumentarium zur zentralen Steuerung des Staatsbürgerkundeunterrichts geschaffen, wenngleich von diesen Werkzeugen weder auf den tatsächlichen Zugriff auf die Schülerschaft noch auf die vermeintliche Wirkung des Stoffes zu schließen ist. Die Schulbücher repräsentierten ein Idealbild des „sozialistischen Menschen“ und seiner Weltanschauung und damit vor allem den politischen Hegemonialdiskurs sowie dessen Implementierungsstrategien.
98 6./7. Unterrichtsstunde: Die sozialistische Moral als Klassenmoral der machtausübenden Arbeiterklasse. In: Staatsbürgerkunde 11./12. Klasse. Unterrichtshilfen. Zum Lehrplan 1971. Autorenkollektiv der Sektion Philosophie/Geschichte/Staatsbürgerkunde der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg unter der Leitung von Gisela Diecke. Berlin: Volk und Wissen, S. 96.
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Zur Institutionalisierung der sozialistischen Erinnerungskultur
Zusammenfassung: Menschenbild und Fachdidaktik und die Rolle der Schulbücher bei der Konstruktion der sozialistischen Erinnerungskultur Die für das Geschichtsbuch geltende Feststellung, dass „moderne Gesellschaften kein umfangreicheres Medium zur Überlieferung von Geschichte geschaffen haben als das Schulgeschichtsbuch“99 lässt sich grundsätzlich auf die Staatsbürgerkunde übertragen, deren Lehrbuch das zentrale Medium zur systematischen Vermittlung der „wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus“ bildete. Mit der Einführung als eigenständiges Unterrichtsfach mit entsprechendem Lehrbuchkorpus professionalisierte sich der Rezeptionsprozess der Weltanschauung als unterrichtliche weltanschauliche Unterweisung. Dass die Staatsbürgerkunde trotz der hohen Erwartungen stets eine ambivalente Stellung einnahm, zeigt ihre wechselvolle Geschichte in der DDR: Die Forderung nach einer politischen Bildung der Jugend kam nach Kriegsende im Rahmen der Reaktionen auf die nationalsozialistischen Verbrechen und die alliierte Umerziehungspolitik auf und wurde rasch als Forderung nach einer umfassenden Moralerziehung formuliert. Die Einführung der Gegenwartskunde war dementsprechend von Metaphoriken begleitet, die den politischen Unterricht als therapeutisches Mittel erscheinen ließen und nationalsozialistisches Gedankengut euphemistisch als krankhaft, damit aber auch als grundsätzlich therapierbar diagnostizierten. Dem hohen moralischen Anspruch an den Unterricht standen die alltagspraktischen Probleme der Nachkriegsgesellschaft gegenüber, unter anderem gab es nur sporadisch Unterrichtsmaterialien, zumeist vom Lehrer selbst gesammelte Zeitungsausschnitte oder -artikel. In der frühen DDR sorgten die im Rahmen des IV. Pädagogischen Kongresses von 1949 geforderten Revisionen sämtlicher Fächer für rasch aufeinander folgende Lehrpläne und damit für wenig Stabilität. Mit Abschluss dieser Reformphase zum Schuljahr 1950/51 war auch eine Hinwendung zum Marxismus-Leninismus verbunden: Das materialistische Geschichtsbild hatte sich auch in den Schulen durchgesetzt, die Pädagogik-Debatte orientierte sich im Wesentlichen an der Sowjetunion.100 Trotz der Unklarheiten in Zielsetzung und Gestaltung des Unterrichts konsolidierte sich das Fach Staatsbürgerkunde in der Zeit zwischen 1957 und 1962.101 Parallel zur 99 Jacobmeyer, Wolfgang (1992): Konditionierung von Geschichtsbewußtsein. Schulge schichtsbücher als nationale Autobiographien. In: Gruppendynamik 23, Heft 4, S. 375–388, hier: 375 f. 100 So stellt Mätzing für das Fach Geschichte fest, dies. (1999): Geschichte im Zeichen des historischen Materialismus, S. 269. Vergleichbares gilt auch für die Staatsbürgerkunde, wenngleich es dort noch keine eigenen systematischen Lehrbücher gab. 101 Vgl. Schmitt (1980): Politische Erziehung, S. 25. Seine Entstehung und Stabilisierung als eigenständiges Unterrichtsfach stand ebenso im Zusammenhang mit wirtschaftlichen und
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Zusammenfassung: Menschenbild und Fachdidaktik
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Vereinheitlichung des Bildungssystems im Rahmen der polytechnischen Schulreform wurde in der DDR ab 1963 mit der Produktion eigener Lehr- und Unterrichtsmittel begonnen. Diese Professionalisierungsphase ging mit der Vorstellung von einer methodisch leitbaren Erziehung zum Sozialisten, einer geregelten „Überzeugungsbildung“, einher. Im Rahmen des Programms zu einer sozialistischen Allgemeinbildung kam es zwischen 1965 und 1971 erneut zu diversen Lehrplanrevisionen. Die ursprünglich als provisorisch angesehenen Überarbeitungen behielten grundsätzliche Gültigkeit bis zur letzten großen Lehrplanreform, die 1988, ein Jahr vor dem Ende der Staatsbürgerkunde, vorgenommen wurde. Die während der gesamten Zeit der DDR um Identität und Inhalte der Staatsbürgerkunde kreisenden Debatten zeigen die hohen Erwartungen, die an das Fach gestellt wurden. Trotz des geringen Zeitbudgets von einer Unterrichtsstunde pro Woche verfügte die Staatsbürgerkunde über eigene Lehrpläne und Lehrbücher, Unterrichtsmaterialien, Aus- und Weiterbildungsgänge für die Fachlehrer, fachmethodische Literatur und methodische Einrichtungen an den Hochschulen sowie eine Publikationsbasis, die sie sich mit der Geschichte teilte. Die sorgfältige institutionelle Verankerung unterstreicht die zentrale Funktion, die der Staatsbürgerkunde in der weltanschaulichen Erziehung zugewiesen wurde. Im pädagogischen Kontext verbanden sich Weltanschauung und Anthropologie des Sozialismus miteinander, das Menschenbild wurde zum Ausgangspunkt der Fachdidaktik. Auf diese Weise war die staatsbürgerlich-weltanschauliche Unterweisung als Selbstbezug des Systems konstruiert, das sich im didaktischen Prozess immer wieder aufs Neue zu konsolidieren suchte. Für die Installierung einer sozialistischen Traditions- und Erinnerungskultur sind die Schulbücher nicht zu unterschätzen. Als Deutungsrahmen für Vergangenheit und Gegenwart ließ sich Sozialismus in den Schulbuchdarstellungen als das wesentliche Sinnstiftungspotenzial inszenieren.102
staatspolitischen Notwendigkeiten, die ihrerseits als Reaktionen auf die politischen Krisen der 1950er Jahre – die Arbeiteraufstände in der DDR vom 17. Juni 1953, der Ungarn-Aufstand von 1956 sowie die zweite Berlin-Krise 1958 – gelesen werden können. 102 Vgl. dazu Jacobmeyer in Bezug auf Schulgeschichtsbücher im Allgemeinen: „In den Schulbüchern wird die Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart dadurch überbrückt, daß eine einheitliche Perspektive, ein konsistentes Deutungsmuster verwendet wird. Darin liegt ein wirkungsvolles Potential für Sinnstiftung: Vergangenheit nicht nur als Handlungsregel für die Gegenwart, sondern auch als Selbstinterpretation.“ Ders. (1992): Konditionierung von Geschichtsbewusstsein, S. 387.
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3 Narrative der „Überzeugungsbildung“ – zum narrationsbezogenen Zugang zu den Staatsbürgerkundetexten
Dieser Arbeit liegt die methodische Entscheidung zugrunde, die Staatsbürgerkundelehrbücher als narrative Texte anzuschauen. Damit sind bestimme Konse quenzen für die Analyse verbunden. Das Ziel der Untersuchung ist es, die sozialistische Weltanschauung mit einem narrationsbezogenen Instrumentarium zu beschreiben, das die analytische Trennung zwischen zwei systematischen Aspekten erlaubt: Form und Inhalt. Doch was zeichnet diese narrationsbezogene Perspektive im Einzelnen aus? Im Rahmen des „narrativistischen Paradigmas“1 hat sich innerhalb der Kulturwissenschaften ein dehnbarer Erzählbegriff etabliert, dessen analytische Qualität des Öfteren angezweifelt worden ist.2 Die Tatsache an sich, dass etwas narrativ sei, bildet noch keine Erkenntnis, eher eine triviale Einsicht über grundlegende Formen menschlicher Kommunikation. Laut des neuseeländischen Literaturwissenschaftlers Brian Boyd ist Erzählen gar eine evolutive Selbstverständlichkeit.3 Damit wäre die Bedeutsamkeit nicht im Erzählten zu suchen, sondern im Vorgang des Erzählens, der nicht nur soziale oder gesellschaftliche, sondern eminent politische Auswirkungen zeitigt: Erzählungen können gleichermaßen Inklusions- und Exklusionsmechanismen freisetzen, täuschend oder manipulierend wirken. Sie können aber auch als „funktionslose Matrix für diverse Projektionen im Raum stehen […], [die] […] von zahlreichen Erzählfragmenten [begleitet werden], die keinen Zweck haben,
1 Vgl. Meuter, Norbert (2004): Geschichte erzählen, Geschichten analysieren. Das narrativistische Paradigma in den Kulturwissenschaften. In: Jaeger, Friedrich/Straub, Jürgen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften Band 2: Paradigmen und Disziplinen. Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 140–155. 2 Vgl. Lamarque, Peter (2004): On not expecting too much from narrative. In: Mind and Language Nr. 19, S. 393–408; Tammi, Pekka (2006): Against Narrative. („A Boring Story“). In: Partial Answers. Journal of Literature and the History of Ideas. Nr. 4, H. 2 (Juni 2006), S. 19–40. Auch in der Narratologie existieren verschiedene Begriffsverständnisse von ‚narrativ‘, s. auch weiter unten. 3 „I will suggest that despite its many forms, art, too, is a specifically human adaptation, biologically part of our species.“ Ein paar Zeilen später heißt es: „We also tell stories just because we cannot stop.“ Boyd, Brian (2009): On the origin of stories. Evolution, Cognition, and Fiction. Cambridge/London: Harvard University Press, S. 1.
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sondern nur ein natürliches Nebenprodukt unseres Erzählungen produzierenden Geistes sind.“4
Von Erzählungen an sich sollte man also, um es mit den Worten Peter Lamarques zu sagen, nicht allzu viel erwarten.5 Entscheidend sind die Wirkungspotenziale von Erzählungen, die im Wesentlichen im Rezeptionsprozess hergestellt werden. Dass sich für die Entfaltung dieser Potenziale erzählende Texte besser eignen als Sachtexte, liegt an ihrem fiktionalen Charakter: „[D]ie allen Narrationen eigenen Unbestimmtheitsbeträge [fordern] den Rezipienten stets heraus, Zusammenhänge selbst herzustellen, fehlende Elemente zu ergänzen und so das narrative Szenario nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern [es] aktiv zu entwerfen. Narrative wirken somit nicht nur vermittelnd, normierend oder illustrierend, sie eröffnen Perspektiven und Lebensbereiche.“6
Wenn der dieser Untersuchung zugrunde gelegte Materialkorpus der Staats bürgerkundelehrbücher mit narrationsbezogenen Methoden analysiert wird, geschieht dies deshalb, weil die Lehrbücher eine hybride Textstruktur aufweisen, in der der faktuale Hauptlehrtext regelmäßig durch diverse Einfügungen fiktionalen Charakters ergänzt wird. Die verschiedenen Genres machen ein spezifisches Untersuchungsinstrumentarium notwendig. Mit diesem kann einerseits den Besonderheiten der Texttypen methodisch Rechnung getragen und andererseits die Verwendung von erzählenden Einschüben in Schulbüchern zur weltanschaulichen Erziehung auch in ihrer literaturtheoretischen Dimension reflektiert werden. Dass die Staatsbürgerkundebücher mit fiktionalen Textanteilen arbeiten, bedeutet allerdings nicht, dass sich in allen Anteilen gleichviel Narratives findet. Auch ist mit der Klassifizierung eines Textes als narrativ weder eine inhaltliche Qualitätsaussage – ein narrativer Text ist nicht automatisch eine stilistisch oder sprachlich besonders gelungene Geschichte –, noch eine Wirklichkeitsaussage verbunden: Die Inhalte narrativer Texte sind nicht fiktiv. Das folgende Kapitel führt ausführlich in das Analysewerkzeug ein. Im ersten Teil steht die methodologische Verortung der Arbeit im Vordergrund, die auf der Basis ihrer methodischen Voraussetzungen entfaltet und anhand ihrer er 4 Johannsen, Dirk (2013): Einleitung: Konstruktionsgeschichten. In: ders./Brahier, Gabriela (Hg.): Konstruktionsgeschichten. Narrationsbezogene Ansätze in der Religionswissenschaft. Würzburg: Ergon, S. 9–16, hier: 12. 5 So Lamarques programmatischer Titel On not expecting too much from narrative. Der pragmatische Philosoph übt Kritik am wissenschaftlichen Umgang mit dem „Narrativ“ als etwas von sich aus Bedeutsamem: „No narrative has value simply in virtue of being a narrative. Narratives are not of intrinsic value or interest.“ Laut Lamarque werden sie erst in ihrem Kontext interessant: „The value of narrtives rests entirely on criteria internal to narrative practices.“ Vgl. ders. (s. Fußnote 2), S. 401. 6 Johannsen (2013): Einleitung, S. 13.
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zähltheoretischen Grundlagen konkretisiert wird. Der zweite Teil stellt das für die Analyse relevante erzähltheoretische Instrumentarium anhand der Leitfragen Wer erzählt? und Wie wird erzählt? vor. Ergänzt wird dieses von Überlegungen zu den Mechanismen der Textrezeption: Wie werden Leseraffekte textintern gesteuert und dadurch „Bedeutung“ erzeugt? Den Abschluss bilden Überlegungen zum Verhältnis von Text und Kontext. Angefangen mit Konzepten zur Analyse des intertextuellen Bezugsgeflechts geht der Abschnitt über das erzähltheoretische Instrumentarium hinaus. Mit Hilfe von kulturwissenschaftlichen Gedächtniskonzepten wird die Rolle der Staatsbürgerkunde für die Konstruktion einer weltanschaulichen Erinnerungs- und Traditionskultur in der DDR reflektiert.
3.1 Die Analyse von Form und Inhalt der sozialistischen Weltanschauung – methodologische und methodische Voraussetzungen a) Staatsbürgerkunde als narrative Texte Die Erzählforschung hat unterschiedliche Begriffe von Erzählung und Erzählen hervorgebracht; ihr Begriffsspektrum reicht von engen zu eher weiten Definitionen und repräsentiert damit die beiden Pole, zwischen denen sich Erzählen insgesamt konzeptualisieren lässt. Da den jeweiligen Konzepten nicht nur unterschiedliche Erzählbegriffe, sondern auch verschiedene Methodiken zugrunde liegen, ist es für die Analyse erforderlich, sie kurz genauer zu unterscheiden. Als Vertreter eines weiten Erzählbegriffs können der französische Philosoph und Linguist Jean-François Lyotard oder der US-amerikanische Historiker Hayden White mit ihren – allerdings auch methodisch recht unterschiedlichen – Konzepten der „grands récits“ bzw. „Metahistory“ angesehen werden.7 Lyotard, Geistes Kind des französischen Postmarxismus, legt 1979 in seiner Schrift Das postmoderne Wissen („La condition postmoderne“) eine Wissens- und Wissenschaftskritik vor, in der er den Terminus Metanarration verwendet. Ausgangspunkt bildet die Untersuchung von Wissensstrukturen: Für Lyotard ist jegliches Wissen narratives Wissen, das auf verschiedene Weise hergestellt wird. Seine These ist es, dass die der Selbstlegitimation der Moderne unterlegten „großen Erzählungen“, „grands récits“ wie die Emanzipation durch Aufklärung oder die Fortschrittsidee in der Hegel’schen Philosophie, an Integrationskraft verloren 7 Obwohl White, ganz anders als Lyotard, die poetologischen Muster von Geschichtsschreibung untersucht, basiert sein Ansatz auf einem weit gefassten Erzählbegriff, in dem die Trennung zwischen faktual und fiktional verschwimmt. Ein eng gefasster Erzählbegriff setzt hingegen an der literarischen Erzählung an, die mit literaturwissenschaftlich-narratologischem Instrumentarium analysiert wird.
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hätten, und die Moderne damit endgültig gescheitert sei.8 Der Historiker und Literaturwissenschaftler Hayden White entwickelte seine Geschichtstheorie im Rahmen des für die Kulturwissenschaften relevanten „narrative turn“. Sie basiert maßgeblich auf der These, dass die großen Geschichtsschreibungen des 19. Jahrhunderts in ihrem Emplotment analog der literarischen Genres Romanze, Tragödie, Komödie und Satire gestaltet sind. Nach White entsteht Bedeutung erst in der Feder des Historikers: Mit seiner Darstellung von Vergangenheit verleiht er Ereignissen eine narrative Struktur und rückt sie damit in einen bestimmten Bedeutungshorizont, der sich im Emplotment zeigt.9 Die innerfachliche Kritik, die dieses Modell hervorgerufen hat, sowie die Tatsache, dass Whites Theorie in der Historikerschaft insgesamt sehr gemischt aufgenommen und unterschiedlich rezipiert wurde, soll hier nicht weiter interessieren.10 In der deutschsprachigen Religionswissenschaft hat es eine erstaunlich knappe Auseinandersetzung mit dem White’schen Ansatz gegeben.11 8 Vgl. Welsch, Wolfgang (2002): Unsere postmoderne Moderne. Berlin: Akademie. 6. Auflage, S. 32. 9 Vgl. ders. (1973): Metahistory. The historical imagination in 19th century Europe. Baltimore/London: Johns Hopkins University Press. In Metahistory geht es White darum, die der Geschichtsschreibung zugrunde liegenden ‚Interpretationsprinzipien‘ aufzudecken, die ‚poetologische Tiefenstruktur‘ („a deep structural content which is generally poetic“), auch als metahistorisches (‚metahistorical‘) Paradigma bezeichnet. (ix) Er identifiziert vier Typen des Emplotments – Romanze, Komödie, Tragödie, Satire –, die als ‚archetypischer story form‘ jeder Geschichtsschreibung zugrunde liegen. (8) Für White ist unzweifelhaft, dass Geschichtsschreibung narrativ ist (auch wo sie vorgibt, es nicht zu sein), die Frage ist vielmehr, „inwieweit der Diskurs des Historikers und der des Autors fiktionaler Literatur sich überschneiden, Ähnlichkeiten aufweisen oder einander entsprechen.“ Vgl. ders. (1986): Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart: Klett Cotta, bes. S. 145–160, hier: 145. 10 Zu den Gründen vgl. u. a. Rüsen, Jörn (1987): Narrativität und Modernität in der Geschichtswissenschaft. In: Rossi, Pietro (Hg.): Theorie der modernen Geschichtsschreibung. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 230–237. Hatte sich im deutschsprachigen Raum bis vor einigen Jahren vor allem Rüsen mit der White’schen Geschichtstheorie beschäftigt, ist deren Rezeption inzwischen breiter. 11 In den wissenschaftsgeschichtlichen Anmerkungen des Metzler Lexikons Religion kommt White nur am Rande vor, vgl. MLR Band 4, S. 21. Anders im Wörterbuch der Religionen, dort unter dem Stichwort „Geschichtsschreibung“, vgl. WdR, S. 178 f. Dementsprechend – der Artikel stammt von Hans G. Kippenberg – auch in dessen und Kocku von Stuckrads Einführung, vgl. dies. (2003): Einführung in die Religionswissenschaft. München: Beck, S. 39, anwendungsbezogen: 156. Die These der den Geschichtsschreibungen zugrunde liegenden poetologischen Strukturen nimmt Burkhard Gladigow in seinem wissenschaftsgeschichtlich und methodologischen motivierten Beitrag zum Anlass, um über erzählende Präsentationsformen ‚fremder‘ Religionen in der Religionswissenschaft nachzudenken und Normativitäten in der Wiedergabe zu reflektieren. Seine Überlegungen zur Konzeptualisierung von Religionsgeschichte sind für die religionswissenschaftliche Lehre unmittelbar relevant, wo Religionsgeschichte und Religionskunde häufig verschwimmen. Vgl. ders. (2004): Lectores ad priscum cultum revocare. Popularisierte Religion oder narrative Religionswissenschaft. In: Piegeler, Hildegard (Hg.): Gelebte
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Sowohl bei Lyotard als auch bei White geht es darum, Geschichtsschreibung zu theoretisieren. Für die vorliegende Arbeit ist Whites Ansatz insofern relevant, als dass sich seine These des Emplotments von Geschichtsschreibung problemlos auf das Genre der Schulbücher übertragen lässt.12 Die Staatsbürgerkundebücher bilden an vielen Stellen ein anschauliches Beispiel für die narrative Konstitution von historischen Erzählungen und ihrer didaktischen Verankerung. Die storybasierte Konstruktion einer sozialistischen Erinnerungskultur, wie sie in Traditions- und Gründungserzählungen vermittelt wird, ist für die Weltanschauung unmittelbar relevant, weil die Erzählformen die Inhalte dieser Weltanschauung wesentlich prägen. An den Lehrbüchern für Staatsbürgerkunde lässt sich deshalb gut zeigen, was Narrativität in Schulbuchtexten meint. Zudem ist auch innerhalb der Narratologie eine Erweiterung des bislang auf bestimmte literarische Werke begrenzten Instrumentariums auf die Erforschung von Formen und Funktionen der „kulturellen Erinnerung“ als Desiderat identifiziert und der mentalitätsgeschichtliche Wert der Analyse narrativer Formen als „Einsichten in Denkmuster und Kollektivvorstellungen ihrer Entstehungszeit“ betont worden.13 Wo lässt sich nun das Narrative in den Staatsbürgerkundelehrbüchern identifizieren? Unabhängig von Ansätzen, die Lehrbücher insgesamt als narrative Texte ansehen oder auf die Geschichtserzählung als Unterrichtsmethode verweisen und damit einen eher unspezifischen Erzählbegriff verwenden, lassen sich in den Schulbüchern konkrete Erzähltextanteile finden. Stellt man die detailbezogene Frage, wo genau in der Staatsbürgerkunde erzählt wird, fallen vor allem die in den Haupttext integrierten Einfügungen – kleine, zumeist aus figuraler Perspektive präsentierte Heldengeschichten oder die argumentative Einbindung von Literatur durch entsprechende Verweise und Zitate – auf. Diese Einfügungen sind deutlich fiktional14, ihr literarischer Charakter ist unverkennbar. Sie können infolgedessen als im engen Sinn narrativ bezeichnet werden und zeigen auf, dass die Lehrtexte zur Illustration der Weltanschauung mit unterschiedlichen Genres arbeiten. Die methodischen Ausführungen des vorliegenden Kapitels beziehen sich hauptsächlich auf den engen Erzählbegriff und das mit ihm verbundenen InstruReligionen. Untersuchungen zur sozialen Gestaltungskraft religiöser Vorstellungen und Praktiken in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Hartmut Zinser zum 60. Geburtstag. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 17–26, hier: 17 f. Eine systematische Analyse poetologischer Strukturen in religionsgeschichtlichen Quellen sowie der Religionsgeschichtsschreibung bildet bis dato noch ein Desiderat. 12 Jörn Rüsen hat die Relevanz des Erzählens am Beispiel von Geschichtsschulbüchern gezeigt, vgl. ders. (1996): Historische Sinnbildung durch Erzählen. Eine Argumentationsskizze zum narrativistischen Paradigma der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsdidaktik im Blick auf nicht-narrative Faktoren. In: Internationale Schulbuchforschung 18, S. 501–544. 13 Vgl. Nünning/Nünning (2002): Überblick, S. 28–30, bes. 30. 14 Zur genauen Differenzierung sowie zu Fiktionalitäts- und Faktualitätsmerkmalen vgl. ausführlich Abschnitt d) des vorliegenden Kapitelabschnitts.
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mentarium, wenngleich sich die Analyse – der Spezifik des Materialkorpus Rechnung tragend – auf verschiedene Methoden stützt: Mit Hilfe der klassischen Inhalts- und Stilanalyse wird das Was der sozialistischen Weltanschauung in den Blick genommen. Wo nötig, werden die Ausführungen zudem um eine historische Kontextanalyse ergänzt. Auf der Ebene der Präsentation geht es vor allem um die literarischen Techniken, das Wie der erzählenden Vermittlung, und damit um formale Strukturen, die mit der Darstellung des narratologischen Analyseinstrumentariums ausführlich erläutert und illustriert werden. Die Frage nach den Mechanismen von Spannungserzeugung und Bedeutungsgenerierung ergänzt den narratologischen Methodenapparat um rezeptionsbezogene Perspektiven, die durch rezeptionsästhetische und wirkungstheoretische Ansätze konkretisiert werden. Dieses Vorgehen ermöglicht eine analytische Differenzierung zwischen Form und Inhalt der sozialistischen Weltanschauung, die von Vergleichskriterien wie äquivalenten Klassenstufen unabhängig ist.
b) Zwischen Erzählforschung, Erzähltheorie und Narratologie: zur methodischen Positionierung der Arbeit Die Ansätze zur wissenschaftlichen Beschreibung des Narrativen sind ebenso heterogen wie das Feld der Erzählforschung insgesamt, in dem die Erzähltheorie oder Narratologie einen bestimmten Zugang bezeichnet. Während die Erzählforschung, die zuerst in der Volkskunde verbreitet war und sich vor allem auf mündliche Überlieferungen bezog, als Sammelbegriff für trans- und interdisziplinäre Zugänge zur Erforschung des Erzählens zu verstehen ist, beziehen sich Erzähltheorie und Narratologie auf die Untersuchung der narrativen Dimension in Erzähltexten, nicht auf die Erzählung als Ganze. Sie bringen das Wie des Erzählens in den Blick und entwickeln allgemeine, medien- und gattungsunabhängige Modelle zur Analyse der Erzählstrukturen von Geschichten. Bereits die Bezeichnungen dieses Ansatzes sind jedoch heterogen: Zwar hat sich im deutschsprachigen Raum weitgehend die Bezeichnung Narratologie durchgesetzt, fachliche Einführungen sind aber auch gegenwärtig gleichermaßen mit den Begriffen „Erzähltheorie“, „Narratologie“ oder „Erzähltextanalyse“ betitelt.15 Zur Verwirrung mag zusätzlich beitragen, dass es die im Deutschen existierenden, inhaltliche Unterschiede suggerierenden Begrifflichkeiten Erzähltheorie und Narratologie im Englischen nicht gibt. Zudem sind seit den 1990er Jahren so viele neue Ansätze entwickelt worden, dass der US-amerikanische Narratologe David Herman gar von „narratologies“ spricht, einer umstrittenen Formulierung, der sich im
15 Damit sind unterschiedliche Akzentsetzungen verbunden, wenngleich es sich zum Teil auch um nationale Besonderheiten in der Begriffsfindung handelt, vgl. Nünning/Nünning (2002): Überblick, S. 4.
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deutschsprachigen Raum etwa Ansgar Nünning anschließt.16 Auch aus den genannten Gründen steht eine wissenschaftsgeschichtliche Gesamtaufarbeitung der Erzähltheorie derzeit noch aus.17 Erzählforschung und Narratologie sind nicht gleichzusetzen, die Narratologie bezeichnet vielmehr eine spezifische Form der Erzählforschung. Auch muss zwischen Erzähltheorie und Erzähltextanalyse bzw. Erzählinterpretation unterschieden werden, weil nicht alle Formen der Erzähltextanalyse narratologisch ausgerichtet sind. Die klassische strukturalistische Narratologie unterscheidet sich von anderen erzähltheoretisch beeinflussten Ansätzen in Historiografie, Philosophie oder Linguistik sowie von der Romantheorie18, dies hauptsächlich in ihrem Gegenstandsbereich und der damit verbundenen Verfahrensweise: Im Vordergrund steht die Beschreibung und Analyse struktureller Merkmale literarischer Texte, die, dem strukturalistischen Paradigma entsprechend, mit einem stark formalisierten Instrumentarium vorgenommen wird. Dies macht die strukturalistische Narratologie zu einer eher a-historischen Disziplin, deren Ergebnisse als generalisierend kritisiert werden können19, deren Verdienst allerdings darin liegt, einen eindeutigen metasprachlichen Bezugsrahmen zur Analyse von Textstrukturen hervorgebracht zu haben. So ist ihr etwa die Entwicklung der Begriffe Story und Plot zur Differenzierung der Erzählebenen zu verdanken. Das seit Gérard Genette außerdem verlagerte Interesse vom Inhalt zur Form von Erzähltexten – im Vordergrund der Genette’schen Terminologie stehen Fragen nach der Zeitstruktur (Anordnung des Geschehens, Dauer, Häufigkeit) und Fokalisierung 16 Herman, David (1999) (Hg.): Narratologies. New Perspectives on Narrative Analysis. Columbus: Ohio State University Press. Mitunter handelt es sich dabei um das Resultat allgemein geisteswissenschaftlicher Paradigmenwechsel, wie zum Beispiel der kognitiven Narratologie. Ansgar und Vera Nünning machen vereinfacht bereits acht Richtungen der Narratologie aus, vgl. dies. (2002): Von der strukturalistischen Narratologie zur ‚postklassischen‘ Erzähltheorie: Ein Überblick über neue Ansätze und Entwicklungstendenzen. In: dies (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: WVT, S. 9–13. 17 Einen guten einführenden Überblick gibt aber der Artikel von Nünning/Nünning (2002): Überblick, S. 1–30. Sie unterscheiden in drei Entwicklungsphasen: die ‚prä-strukturalistischen‘ Ansätze (bis Mitte der 1960er Jahre), die ‚strukturalistische Hauptphase‘ (bis Ende der 1980er Jahre) sowie eine Revisionsphase bzw. die Phase interdisziplinärer Weiterentwicklung, ebd. S. 5. Dort findet sich auch ein sehr übersichtliches Schema zur Differenzierung der Erzählforschung auf einen Blick, vgl. ebd. S. 19. 18 Vgl. auch Nünning/Nünning (2002): Überblick, S. 17. 19 Neuere Erzähltheorien arbeiten stärker interpretativ, indem sie Prozesse der Rezeption, Analyse und Bedeutung einbeziehen und die Dynamik des Rezeptionsprozesses, die Wechselwirkung zwischen textuellen Signalen und interpretatorischen Entscheidungen von Rezipien ten, in den Blick nehmen. Die Analyse von Text und Kontext zielt darauf ab, ganzheitliche kulturelle Interpretationen im Sinne einer „dichten Beschreibung“ nach Clifford Geertz zu erarbeiten und dabei historische und kulturelle Spezifika narrativer Texte und Genres in den Vordergrund zu stellen. Vgl. auch das Modell zur Unterscheidung von strukturalistischer (klassischer) Erzähltheorie und neueren (postklassischen) Erzähltheorien bei Nünning/Nünning (2002): Überblick, S. 24.
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eines Erzählgeschehens – ist der Formanalyse der sozialistischen Weltanschauung zuträglich. Für die vorliegende Arbeit, die keine narratologische Untersuchung mit entsprechender Positionierung zu sein beansprucht, sondern narrationsbezogen arbeitet, bieten sich Auswahl und Kombination verschiedener Ansätze an. Die strukturalistische Narratologie liefert einen wichtigen Teil des analytischen Handwerkszeugs, das durch wirkungstheoretische Fragen, wie sie im Rahmen der Rezeptionsästhetik Konstanzer Prägung durch Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser entwickelt wurden, ergänzt wird. Das der Methodik dementsprechend zugrunde liegende integrative Verständnis von Erzähltheorie bevorzugt keine bestimmte Schule wie Stanzel, Genette oder Schmid. Die Narratologie wird hier pragmatisch als Werkzeugkasten genutzt.20 Sie stellt Instrumente bereit, die auf spezifische Strukturen angewendet werden können bzw. diese Strukturen überhaupt erst in den Blick bringen. Im Vordergrund steht der Materialkorpus, der über weite Teile für eine narratologische Analyse tatsächlich wenig geeignet ist, wenn diese nicht in ein intuitives Begriffsverständnis von ‚narrativ‘ und dementsprechend in eine vage Verwendung des narratologischen Instrumentariums abgleiten will. Dort greift die historische Kontextanalyse. Die Vorteile einer um kontext- und themenbezogene Fragestellungen erweiterten Perspektive sind freilich auch für die Erzähltheorie nicht zu übersehen: Sie schaffen ein Bewusstsein für die Semantisierungsstrukturen und das Wirkungspotenzial narrativer Texte unter Berücksichtigung der Wechselwirkung zwischen Text und Kontext und schärfen somit den Blick für die historische und kulturelle Variabilität narrativer Texte. Eine so ergänzte Narratologie geht – freilich um den Preis terminologischer und methodologischer Präzision – über ihr ursprüngliches Anliegen hinaus, entwickelt dafür aber ein größeres Anwendungspotenzial und steigert die interpretatorische und kulturelle Relevanz der Erzähltheorie.21 Wenn im folgenden Kapitel das narratologische Instrumentarium, das nur einen methodischen Zugang unter anderen bildet, ausführlich erläutert wird, geschieht dies vor allem deshalb, weil dessen Anwendung in der Religions
20 Auf eine experimentell-summarische Untersuchung, wie sie Sönke Finnern zur Evaluation der Erzähltheorie für die biblische Exegese vorgelegt hat, wird deshalb verzichtet, vgl. ders. (2010): Narratologie und biblische Exegese. Eine integrative Methode der Erzählanalyse und ihr Ertrag am Beispiel von Matthäus 28. Tübingen: Mohr Siebeck. Finnerns Arbeit bildet die derzeit ausführlichste narratologische Methodenübersicht aus der deutschsprachigen Theologie. 21 Vgl. auch Nünning/Nünning (2002): S. 26. In diesem Sinn will auch Albrecht Koschorke seine allgemeine Erzähltheorie verstanden wissen, vgl. ders. (2012): Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt/Main: Fischer; zu einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Narratologie jüngst: Nünning, Ansgar (2013): Wie Erzählungen Kulturen erzeugen: Prämissen, Konzepte und Perspektiven für eine kulturwissenschaftliche Narratologie. In: Strohmaier, Alexandra (Hg.): Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften. Bielefeld: transcript, S. 15–53.
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wissenschaft bislang ein Novum darstellt.22 Der Umgang mit historischen Quellen, Theorien zur Geschichtsschreibung und methodische Anleitungen zur Inhaltsanalyse sind hingegen hinlänglich bekannt.23 Ob und wenn ja wie sich mit Hilfe der Narratologie eine narrative Religionstheorie formulieren lässt, verdient gesonderte Aufmerksamkeit. Diese Frage ist nicht Gegenstand der Arbeit, wohl aber steht die Arbeit mit der Anwendung narrationsbezogener Instrumentaria für die religionswissenschaftliche Forschung im Horizont dieser Fragestellung.
c) Zur Definition von Erzählen24 Erzählen ist eine mündliche oder schriftliche Sprachhandlung, die unterschiedlichen Funktionen dienen kann – der Information, Belehrung, Unterweisung, Indoktrination zur Bildung von individuellen oder kollektiven Identitäten in Erzähl- oder Erinnerungsgemeinschaften –, und in der bestimmte Inhalte in einer spezifischen Form mitgeteilt werden.25 Entsprechend dieser eher großzügigen definitorischen Annäherung kennt die Erzähltheorie unterschiedliche Definitio
22 Eine Ausnahme bildet die jüngst erschienene Dissertation von Caroline Widmer, die klassische narratologische Instrumentaria zur Analyse des Pali-Kanons verwendet, vgl. dies. (2015): Der Buddha und der ‚Andere‘. Zur religiösen Differenzreflexion und narrativen Darstellung des ‚Anderen‘ im Majjhima-Nikaya. Göttingen: V&R unipress. In der Theologie ist die Verwendung narratologischer Methoden verbreiteter. Dort hat besonders die neutestamentliche Forschung des angelsächsischen Raums derlei Ansätze rezipiert. Inzwischen erscheinen aber auch in der deutschsprachigen exegetischen Forschung immer mehr Arbeiten, die narratologisches Instrumentarium fruchtbar machen, vgl. Finnern, Sönke (2013): Kognitive Erzählforschung und religiöse Texte – narratologische Methoden im Überblick. In: Brahier, Gabriela/Johannsen, Dirk (Hg.): Konstruktionsgeschichten. Narrationsbezogene Ansätze in der Religionswissenschaft. Würzburg: Ergon, S. 19–35, hier: 20. 23 Für die Religionswissenschaft liefert unter anderem das jüngst erschienene Routledge Handbook of Research Methods in the Study of Religion einen aktuellen Überblick über gängige Methoden der religionswissenschaftlichen Forschung. Besonders hervorzuheben sind die Artikel Content analysis, Document analysis sowie History. Ein Artikel zur Anwendung der Narratologie entbehrt das Handbuch bislang, allerdings gibt es dort einen Beitrag zur Semiotik. Zur historischen Methode in der Religionsforschung vgl. auch Rudolph, Kurt (1988): Texte als historische ‚Quellen‘. In: Zinser, Hartmut (Hg.): Religionswissenschaft. Eine Einführung. Berlin: Dietrich Reimer, S. 38–54 sowie Rüpke, Jörg (2007): Historische Religionswissenschaft. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer. 24 Der folgende Abschnitt bezieht sich auf den in der Literaturwissenschaft diskutierten Erzählbegriff, der sich von dem in der Linguistik verwendeten unterscheidet. Dort wird Erzählen grundsätzlich weiter gefasst. Vgl. auch Lehmann, Volker (2012): Narrativität aus linguistischer Sicht. In: Aumüller, Matthias (Hg.): Narrativität als Begriff. Analysen und Anwendungsbeispiele zwischen philologischer und anthropologischer Orientierung. Berlin/Boston: de G ruyter, S. 169–183. 25 Vgl. Martínez, Matías (2011): Theorie der erzählenden Literatur. Grundbestimmungen: Erzählen. In: ders. (Hg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart: Metzler, S. 1.
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nen dessen, was als Erzählung oder Narration zu bezeichnen ist. Das Begriffsspektrum ist so groß, dass sich auch innerhalb der Narratologie zwischen weiten und engen Erzählbegriffen differenzieren lässt. Matías Martínez unterscheidet: „Im weiten Sinn wird immer dann ‚erzählt‘, wenn eine Geschichte dargestellt wird – unabhängig von den materialen und semiotischen Modi der Darstellung. Im engen Sinn wird ‚erzählt‘, wenn diese Geschichte durch die vermittelnde Rede eines Erzählers präsentiert wird.“26
Erzählen im engen Sinn bezieht sich auf eine literarische Technik, die eines Erzählers als vermittelnder Instanz bedarf. Lyrische, dramatische und filmische Texte sind von vornherein aus dieser Definition ausgeschlossen. Demgegenüber rückt ein weiter gefasster Erzählbegriff den Erzählvorgang in den Mittelpunkt, dessen Narrativität am Aufbau des Materials gemessen wird. Im Mittelpunkt steht hier nicht die Erzählinstanz, sondern die Ereignishaftigkeit eines Textes und damit dessen temporale Struktur.27 Einen noch großzügigeren Erzählbegriff formuliert Monika Fludernik in ihrem Konzept der natural narratology, wenn sie Erzählen als anthropologische Konstante des Menschen ansieht.28 Für den vorliegenden Zusammenhang ist ein Erzählbegriff notwendig, der weit genug formuliert ist, um die Staatsbürgerkundetexte einzubeziehen, dabei aber eng genug bleibt, um seinen spezifischen definitorischen Gehalt nicht zu verlieren. Dies ist mit der Begriffsbestimmung von Martínez und Scheffel ge geben, der zufolge Narrativität eine Sequenz von kausal29 verknüpften Ereignis 26 Martínez (2011): Erzählen, S. 2. Einen noch großzügigeren Erzählbegriff formuliert die Erzähltheoretikerin Monika Fludernik in ihrem Konzept einer natural narratology, wenn sie Erzählen als anthropologische Konstante des Menschen ansieht, Vgl. Fludernik, Monika (2008): Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt: WBG, 2. durchges. Aufl., S. 9. Die Autorin definiert Erzählen als „gängige und oft unbewusste Aktivität in der mündlichen Sprache“. Sie argumentiert, dass auch das Gehirn des Menschen mit Erzählstrukturen bzw. Metaphernoder Analogiebildungen arbeite, um Lernvorgänge zu steuern. Damit hängt die Klassifizierung eines Textes als Erzählung entscheidend von der Erfahrung des Lesenden ab, der die Ereignisse in einen Zusammenhang bringt, sie also „verplottet“. 27 Vgl. Schmid, Wolf (2008): Elemente der Narratologie. Berlin/New York: de Gruyter, 2. verbesserte Auflage, S. 1–3. 28 Vgl. Fludernik, Monika (2008): Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt: WBG, 2. durchges. Aufl., S. 9. Die Autorin definiert Erzählen als „gängige und oft unbewusste Aktivität in der mündlichen Sprache“. Sie argumentiert, dass auch das Gehirn des Menschen mit Erzählstrukturen bzw. Metaphern- oder Analogiebildungen arbeite, um Lernvorgänge zu steuern. Damit hängt die Klassifizierung eines Textes als Erzählung entscheidend von der Erfahrung des Lesenden ab, der die Ereignisse in einen Zusammenhang bringt, sie also „verplottet“. 29 Diese Verbundenheit ist laut des Historikers Hayden White bereits durch das Partikel und impliziert, das eine Beziehungsstruktur zwischen zwei Elementen, gewissermaßen einen Plot, herstellt, und insofern einen narrativen Charakter aufweist. Vgl. ders. (1990): Die Bedeutung von Narrativität in der Darstellung der Wirklichkeit. In: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt/Main: Fischer, S. 20.
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sen ist, die, zusammengebunden in eine bestimmte Form (Emplotment), in ein abgeschlossenes Handlungsschema (Anfang – Mitte – Schluss) überführt wird und damit die von Wolf Schmid betonte, temporale Struktur, die Veränderungen darstellt („Zustandsveränderung“), aufweist.30 Diese Formaldefinition ließe sich weiter ergänzen, zum Beispiel durch das von Monika Fludernik formulierte Konzept der Erfahrungshaftigkeit (experientiality)31, das unmittelbar anschlussfähig an kognitive Theorien ist.32 30 Vgl. Martínez, Matías/Scheffel, Michael (1999): Einführung in die Erzähltheorie. München: Beck, S. 25; Schmid (2008): Elemente, S. 2 f. sowie bes. S. 4. 31 In ihrer Studie Towards a natural narratology (1996) vertritt Fludernik die These, dass Narrativität vollkommen unabhängig von einer die Ereignisse ordnenden Plotstruktur besteht, weil sich der Rezipient einer Geschichte automatisch mit den dort berichteten Handlungen, Gefühlen und Intentionen identifiziert und den Text im Lesevorgang narrativisiert. Fludernik selbst schreibt zu ihrem Konzept: „Die Hauptthese des Buches Towards a ‚Natural Narratology ist […], dass Narrativität von ihrer Abhängigkeit vom Plot abgekoppelt und als Vermittlung von Erfahrungshaftigkeit (experientiality) definiert wird. Handlung, Intentionen und Gefühle sind alle Teil der menschlichen Erfahrung, die in Erzählungen berichtet und gleichzeitig evaluiert wird. […] Erfahrungshaftigkeit wird über das Bewusstsein erfahren und gefiltert – sie impliziert daher eine subjektive, bewusstseinsgesteuerte Vermittlung […]. Eine natürlichkeitstheoretische Erzählforschung geht davon aus, dass Leser im Leseprozess Texte narrativisieren, also auch Texte, die postmoderne Anti-Romane sind, [die sie] so lesen, dass sie sich als Erzählungen deuten lassen. Narrativität ist also nicht in Texten vorhanden bzw. absent, sondern wird vom Leser wiedererkannt oder hineingedeutet.“ Fludernik (2008): Erzähltheorie, S. 122. Das Moment der Erfahrungshaftigkeit erlaubt es, für mündliches und schriftliches Erzählen denselben Erzählbegriff zu verwenden, vgl. dies. (2011) Mündliches und schriftliches Erzählen. In: Martínez, Matías (Hg.): Handbuch Erzählliteratur. Stuttgart: Metzler, S. 29–36, hier: 34. 32 Diese verstehen mit der Social Intelligence-Hypothese alle höheren kognitiven Funktionen als soziale Funktionen, weil der Mensch auf soziales Handeln (Akteurserkennung, Theory of mind, Interaktion, koordiniertes Handeln etc.) spezialisiert sei und deshalb auch Texte in soziale Situationen „übersetzt“. Die Informatikerin Kerstin Dautenhahn begründet dies evolutionsbiologisch. Eine narrative Fähigkeit sei nicht auf den Menschen beschränkt, sondern finde sich ebenfalls bei Primaten: „We explain the Narrative Intelligence Hypothesis which suggests that the evolutionary origin of communicating in a narrative format co-evolved with increasingly complex social dynamics among our human ancestors.“ Dies. (2002): The Origins of Narrative. In: International Journal of Cognition and Technology (IJCT) Nr. 1, S. 97–123, hier: 97. Ihre These von der narrativen Intelligenz des Primaten spricht für eine evolutive Funktion des „Übersetzungsvorgangs“ von Texten in soziale Situationen: „The evolutionary origin of communicating in stories co-evolved with increasing social dynamics among our human ancestors, in particular the necessity to communicate about third-party relationships. […] Human narrative intelligence might have evolved because the format of narrative is particularly suited to communicate about the social world.“ Ebd. S. 103 f. Diese „Übersetzungsleistung“ nicht als Emplotment zu deuten – also nicht davon auszugehen, dass ein Thema seine narrative Wirkung erst im Rahmen einer bestimmten Einbettung entfaltet, deren Ergebnis ein Plot ist –, sondern das Ereignis als vermittelte Erfahrung in den Vordergrund zu stellen, würde Fluderniks Hypothese stützen. Erzählen ist demnach eine „social bonding“-Strategie des Menschen. Forscher konnten zudem experimentell nachweisen, dass im Leseprozess bestimmte Elemente einer Geschichte bestimmte Gehirnregionen stimulieren, und der Leser für das Verstehen der Geschichte seine eigenen Erfahrungen in den Rezeptionsprozess ein-
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Für die beiden Grundkategorien einer Erzählung, Story und Plot, existiert eine vergleichbare Begriffs- und Definitionsvielfalt wie für den Erzählbegriff. Der aus der angloamerikanischen Erzähltheorie stammende Begriff Plot bezeichnet die Art und Weise, wie eine Geschichte (Story) präsentiert wird. Der Plot kennzeichnet demnach den Aufbau, mit dem die Ereignisfolge vermittelt wird und ist an die spezifische Kombination (Auswahl), Sequenz (Reihung) und das Arrangement (Stellenwert) der Ereignisse gebunden. Beide Begriffe hängen eng zusammen: Mit Story ist das Gesamtbild der Erzählung gemeint, die chronologische Abfolge der Ereignisse, wie sie auf Grund des Plots rekonstruiert werden kann. Story und Plot sind besonders in der deutschsprachigen Erzählforschung in die Kritik geraten, weil sie häufig entgegengesetzt gebraucht werden und deshalb eine gewisse Unschärfe aufweisen.33 Die Kritik an den Termini Story und Plot bildet eine literaturwissenschaftliche Debatte ab, die sich vor allem auf den postmodernen Roman bezieht und die Begriffe für unpassend zur Beschreibung des Erzähl- bzw. Nicht-Erzählvorgangs hält.34 Für die kulturwissenschaftliche Forschung, die zumeist keine klassischen literarischen Texte analysiert und damit notwendig mit einem breit angelegten Erzählbegriff arbeitet, ist diese literatur speist. Dies ist nicht zuletzt deshalb der Fall, weil das Textverstehen über motorischen und sensorischen Nachvollzug erfolgt. Die Ergebnisse belegen die These, dass „readers understand a story by simulating the events in the story world and updating their simulation when features of that world change.“ Vgl. Speer, Nicole u. a. (2009): Reading Stories Activates Neural Representations of Visual and Motor Experiences. In: Psychological Sciene 20, Nr. 8, S. 989–999, hier: 989. Zu den evolutionären Ursprüngen des Erzählens verknappt und gut verständlich: Johannsen, Dirk (2011): Kognition und Narration: Zur Tradierung von Mythen. In: Klöcker, Michael/ Tworuschka, Udo (Hg.): Handbuch der Religionen (HdR), 29. Ergänzungslieferung (September 2011), I–21, S. 1–12, hier: 2. 33 Das hat wissenschaftsgeschichtliche Ursachen: Die deutschsprachige Erzählforschung ist maßgeblich durch den russischen Formalismus und den französischen Strukturalismus beeinflusst worden. Beide Strömungen entwickelten sich zeitlich um etwa 50 Jahre versetzt und entwickelten unterschiedliche Begriffsinstrumentarien zur Analyse fiktionaler Texte. Im etwa 1915 entstandenen russischen Formalismus hat Boris Tomasevskij für das Was der erzählten Welt sowie für das Wie des Erzählens das Begriffspaar „fabula“ und „sujet“ geprägt, die später durch den französischen strukturalistischen Erzähltheoretiker Tzvetan Todorov in „histoire“ bzw. „discours“ übersetzt wurden, vgl. Nünning, Ansgar & Vera (2002): Überblick, S. 6 sowie Martínez/Scheffel (1999): Einführung Erzähltheorie, S. 22 f. Für die strukturalistische Narratologie wurde besonders der Literaturwissenschaftler Gérard Genette einflussreich, mit dessen 1972 veröffentlichten Studie Discours du récit sich das Interesse der Narratologie vom Inhalt zur Form von Texten verlagerte. Daneben etablierten sich weitere Begrifflichkeiten, zum Beispiel die im Englischen gebräuchlichen Termini „story“ und „discourse“. Für eine tabellarische Übersicht der wichtigsten Begriffe und ihrer verschiedenen Gebräuchlichkeiten vgl. Martínez/Scheffel (1999): Einführung Erzähltheorie, S. 26 sowie Lahn/Meister (2008): Erzähltextanalyse, S. 17. Sie alle werden zwar ähnlich verwendet und überschneiden sich zum Teil, ohne allerdings vollständig bedeutungsgleich zu sein, was insgesamt zu einer sowohl für den Laien als auch für den Narratologen nahezu unübersichtlichen Vielfalt geführt hat, die durch immer neue Wortschöpfungen oder dem Verwerfen bereits vorhandener Begriffe ergänzt wird. 34 Vgl. Meuter (2004): Geschichte erzählen, Geschichten analysieren, S. 140.
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theoretische Auseinandersetzung nicht unmittelbar relevant. Die Unterscheidung, was im jeweiligen Fall als Story und was als Plot bezeichnet wird, ist in hohem Maß kontingent und Resultat einer analytischen Setzung, die auch von der jeweiligen Fragestellung abhängt. Für die vorliegende Arbeit werden diejenigen Textanteile als narrativ ange sehen und mit entsprechendem Instrumentarium untersucht, für die die von Martínez/Scheffel, Schmid und Fludernik ausgearbeiteten Kriterien zutreffen: Die aus einer Sequenz von Ereignissen bestehenden Anteile, die durch Kausalität sowie ein (abgeschlossenes) Handlungsschema zusammengebunden werden, eine Zustandsveränderung beschreiben und mit ihrer Ereignishaftigkeit an den Erfahrungshaushalt des intendierten Adressaten zu appellieren suchen, folglich Intentionalität erkennen lassen. Dabei handelt es sich nicht um definitorische Kriterien, sondern um Merkmale des Erzählens, mit denen keine qualitative Aussage über Texte getroffen wird. Die bis hier angeführten Kennzeichen von Narrativität gelten für sämtliche Erzähltexte. Es stellt sich die Frage, ob sich überdies besondere Strukturmerkmale des literarischen Erzählens ausmachen lassen, über die dieses weiter bestimmbar wird.
d) Fiktional versus faktual: die Genrefrage Erzähltexte lassen sich unterschiedlich qualifizieren. Auch wenn die Begriffe Narrativität und Fiktionalität häufig synonym verwendet werden, ist nicht jede erzählende Rede automatisch fiktional.35 Literaturwissenschaft und klassische Erzähltheorie beschäftigen sich mit Erzähltexten im engeren Sinn und damit vor allem mit literarischen Texten. Dies hat zum Teil historische, zum Teil methodische Gründe36, die allerdings dazu geführt haben, dass die Forschung in der Vergangenheit auf „Weltliteratur“ bezogen blieb, womit die Klassifizierung „literarisch“ eine normative Komponente aufwies. Inzwischen werden auch andere Genres und Medien wie Comics oder Film und Fernsehen in die literaturwissenschaftliche und erzähltheoretische Untersuchung einbezogen37 und der Nar 35 Vgl. Gorman, David (2007): Theories of fiction. In: Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, hg. von David Herman, Manfred Jahn, Marie-Laure Ryan. London/New York: Taylor & Francis, S. 163–167, hier: 163. 36 Monika Fludernik nennt vor allem „the simple fact that scholars of narrative drew (and keep drawing) their ranks from literary critics, that is to say, from scholars whose profession consists in the analysis of literary texts“, vgl. dies. (2013): Factual Narrative. A Missing Narratological Paradigm. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift (GRM) 63 (2013), Heft 1, S. 117–134, hier: 118. 37 Eine systematische „Filmnarratologie“ hat Markus Kuhn vorgelegt, ders. (2011): Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin/New York: de Gruyter. Das Zentrum für Erzählforschung in Wuppertal legt einen Schwerpunkt auf Erzählen im Comic.
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rativitätsbegriff damit genreunabhängig verwendet.38 Daneben existiert jedoch eine Reihe von Texten, die nicht in den genannten Bereich fallen. Zur Differenzierung in verschiedene Texttypen hat sich in der Erzählforschung, maßgeblich durch Gérard Genette39, das Begriffspaar fiktional/faktual als gängiges Unterscheidungskriterium mit Orientierungsfunktion etabliert.40 Dabei handelt es sich allerdings um eine problematische und weit weniger eindeutige Terminologie, als die Begriffe es suggerieren mögen. Fiktionales und Faktuales können sich grundsätzlich überlappen, es gibt faktuale Texte mit fiktionalen Elementen und umgekehrt. In der Erzähltheorie hat sich für Texte, die auf der Grenze zwischen Faktualität und Fiktionalität changieren, der Begriff Faction herausgebildet.41 Überdies ist nicht eindeutig, was Faktualität genau ausmacht; in den fachlichen Einführungen wird deshalb zumeist weniger ausführlich auf den Begriff eingegangen.42 In der narratologischen Debatte zur Unterscheidung von Faktualität und Fiktionalität existieren diverse Definitionsansätze, etwa die Klassifizierung von Er 38 „Narrativität“ ist hier freilich noch genauer zu differenzieren. Wolf Schmid unterscheidet beispielsweise zwischen erzählenden Texten im engeren Sinn, in denen ein Geschehen durch eine Erzählinstanz berichtet wird, und in mimetische Texte, in denen das Erzählgeschehen ohne klar identifizierbaren Erzähler vermittelt wird, was je nach Genre unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Vgl. Schmid (2008): Elemente, S. 10. 39 Vgl. ders. (1992): Fiktion und Diktion. München: Wilhelm Fink. 40 In der gegenwärtigen Einführungsliteratur wird die Differenzierung in fiktional/faktual stets referiert, mitunter auch mit dieser Unterscheidung begonnen, vgl. Martínez, Matías/Scheffel, Michael (1999): Einführung in die Erzähltheorie. München: Beck, S. 9–19; Lahn, Silke/ Meister, Jan Christoph (2008): Einführung in die Erzähltextanalyse. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, S. 9–12; Schmid, Wolf (2008): Elemente der Narratologie. 2. verbesserte Auflage. Berlin: de Gruyter, S. 26–42; Fludernik, Monika (2008): Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt: WBG, 2. Auflage, S. 11 f.; auch: Vogt, Jochen (1998): Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 8. durchges. u. aktual. Auflage, S. 13–40, ebenso Martínez, Matías (2011): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart: Metzler 2011, S. 8–10. In den älteren Einführungen ist dies anders, so benennt Franz Karl Stanzel das Kriterium der „Mittelbarkeit“ (den Akt der Vermittlung eines Geschehens durch eine Erzählinstanz) als Gattungsmerkmal der Erzählung, vgl. ders. (2008): Theorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 8. Auflage, S. 15– 38. Allerdings spricht auch er selbstverständlich von der „fiktionalen Welt des Romans“, vgl. ebd. S. 15. Eberhard Lämmert nähert sich dem Problem der Einordnung über die Frage nach der literarischen Gattung, für die er den „Generalnenner“ auszumachen sucht, vgl. ders. (1955/2004): Bauformen des Erzählens. Stuttgart: Metzler, 9. unveränderte Auflage, bes. S. 10 f., sowie S. 16 f.: „Die Formen, die wir aufzusuchen haben, müssen gerade dies als Kennzeichen aufweisen, daß sie in allen existierenden und denkbaren Werken der Erzählkunst auftreten können.“ 41 Vgl. Martínez (2011): Handbuch Erzählliteratur, S. 10 sowie den von Jørgen Dines Johansen und Leif Søndergaard 2010 herausgegebenen Sammelband: Fact, Fiction and Faction. Odense: University Press of Southern Denmark. Der Band vereint interdisziplinäre Zugänge zu verschiedenen Genres wie Literatur, Film, Computerspiele und vor allem Geschichtsschreibung. 42 Als Beispiel: Lahn/Meister (2008): Erzähltextanalyse, S. 9; mithin wird Faktualität schlicht als Gegenbegriff von Fiktionalität verwendet, vgl. Schmid (2008): Elemente, S. 26.
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eignissen: „Der Unterschied zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen besteht darin, dass das Geschehen im ersteren real ist und im zweiten nur als Implikat der fiktiven Geschichte existiert.“43 Fiktional charakterisiert den Text, während fiktiv sich auf den vermeintlichen Wahrheitsgehalt der Inhalte bezieht. Diese Ebenendifferenzierung ist zwar für das Verständnis des Begriffspaares zentral, bildet aber kein eindeutiges Fiktionalitätskriterium, insofern literarische Texte niemals eine genaue Entsprechung in der Lebenswelt finden. Wolfgang Iser schlug deshalb vor, die Steuerung der Leservorstellungen als Strukturmerkmal fiktionaler Texte anzusehen.44 Andere Begriffsbestimmungen fokussieren stärker auf das Erzählgeschehen und nennen das Vorkommen von Erzählinstanz oder Figuren als charakteristische Elemente einer fiktionalen Welt. Besonders die Darstellung des Innenlebens einer Figur gilt in der Erzähltheorie gemeinhin als typisches Fiktionalitätsmerkmal. Angesichts der Definitionsvielfalt ist es sinnvoll, an dieser Stelle die von Matías Martínez pointiert formulierten, grundlegendsten definitorischen Prinzipien fiktionaler Texte in Erinnerung zu rufen.45 Grundsätzlich ist die Klassifizierung in fiktional bzw. faktual nicht über die vermeintliche Fiktivität von Inhalten entscheidbar: Fiktiv und real klassifizieren Sachverhalte, während sich fiktional und faktual ausschließlich auf die Modi der erzählenden Rede beziehen. Faktuale Texte sind Teil einer realen Kommunikation, die vom Leser als wahre Aussagen eines Autors verstanden werden, was in erster Linie über den Geltungsanspruch eines Textes, weniger über dessen Beleg- oder Referenzstruktur funktioniert. Auch fiktionale Texte erheben Geltungsansprüche und stimulieren Kommunikationsebenen, die allerdings ungleich vielschichtiger als diejenigen faktualer Texte sind: Neben der realen Kommunikation zwischen Autor und Leser kommt hier die Dimension einer imaginären Kommunikation zwischen Erzählinstanz und Adressat hinzu. Auch der Geltungsanspruch unterscheidet sich: „Fiktionale Rede stellt Sachverhalte als wirkliche dar, ohne jedoch eine Referenz dieser Darstellung auf unsere Wirklichkeit zu beanspruchen.“46 Demnach ist „der Erzählakt faktual bzw. fiktional; die dargestellten Welten können real oder fiktiv sein.“47 Die logische Struktur beider Texttypen
43 Vgl. Schmid (20008): Elemente, S. 129. 44 Iser, Wolfgang (1975): Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. In: Warning, Rainer (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München: Fink, S. 228–252, hier: 231 sowie Iser nach Köppe, Tilmann/Winko, Simone (2007): Leserorientierte Theorien und Methoden. Rezeptionsästhetik, empirische Literaturwissenschaft, Cognitive Poetics. In: Anz, Thomas (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft Band II: Methoden und Theorien. Stuttgart: Metzler, S. 324–336, hier: 325. 45 Vgl. Martínez (2011): Erzählen. In: Handbuch Erzählliteratur, S. 8–11. 46 Martínez (2011): Erzählen. In: Handbuch Erzählliteratur, S. 9. 47 Fludernik, Monika (2015): Narratologische Probleme des faktualen Erzählens. In: dies./ Falkenhayner, Nicole/Steiner, Julia (Hg.): Faktuales und fiktionales Erzählen. Interdisziplinäre Perspektiven. Würzburg: Ergon, 115–137, hier: 116.
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unterscheidet sich stark voneinander, was unterschiedliche Sprecherpositionen mit verschiedenen Kompetenzen ermöglicht. Handelt es sich in der faktualen Rede um ein reales Redesubjekt (den Autor), ist der Sprecher der fiktionalen Rede ein fiktives Aussagesubjekt, die Erzählinstanz. Daraus ergeben sich unterschiedliche Einschränkungen der Informationsvermittlung. Der reale Sprecher unterliegt menschlichen Beschränkungen und ist für die im Text getätigten Aussagen verantwortlich; der Wahrheitsanspruch liegt bei ihm, denn Autor und Erzähler fallen zusammen. Bei fiktionalen Texten ist dies grundsätzlich anders: Die dort sprechende Instanz unterliegt keinerlei Beschränkungen, sie hat mithin grenzenlosen Einblick in das Denken und Erleben anderer Figuren. Der Wahrheitsanspruch bezieht sich hier auf die Erzählinstanz, denn Autor und Erzählinstanz fallen auseinander. Damit unterscheiden sich die beiden Texttypen wesentlich in den Geltungsansprüchen ihrer jeweiligen Rede. Die folgende Tabelle fasst dies in einer Übersicht noch einmal zusammen: fiktional ≠ fiktiv
faktual ≠ real
Geltungsanspruch der Rede
a) reale Kommunikation zwischen Autor und Leser
Teil einer realen Kommunikation, die vom Leser als wahre Aussage eines Autors verstanden wird
Sprecher position
fiktives Aussagesubjekt (Erzählinstanz)
realer Sprecher (Autor)
→ keine Beschränkungen, z. B. „allwissender“ Erzähler → Wahrheitsanspruch: Erzählinstanz, NICHT Autor; Autor ≠ Erzähler
→ menschliche Beschränkungen → Wahrheitsanspruch: Autor, da Autor = ‚Erzähler‘
b) imaginäre Kommunikation zwischen Erzählinstanz und Adressat
Tabelle zur Gegenüberstellung von fiktional und faktual
Unabhängig von der paratextlichen Einbindung und anderen Faktoren, etwa einer Gattungsangabe, die den Text von vornherein qualifiziert, oder das Auseinanderfallen von Autor und Erzählinstanz eines Werkes, finden sich in jedem Text Signale, die auf den entsprechenden Redemodus verweisen oder zumindest mit gehegten Erwartungen brechen. Die Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger hatte seinerzeit acht textinterne Fiktionalitätskriterien ausgemacht: das epische Präteritum, Verben innerer Vorgänge, die erlebte Rede, die Zeitlosigkeit der Fiktion, das historische Präsens, das Zeitproblem im historischen Roman, © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540497 — ISBN E-Book: 9783647540498
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stilistische Aspekte sowie Raumdeiktika.48 Stilmerkmale wie die Verwendung kontraintuitiver Konzepte (zum Beispiel sprechende Tiere, Untote, Geister, Super mann etc.) geben außerdem Auskunft über das Genre. Reflexionen über den Erzählprozess in Form des Metanarrativen oder Metafiktiven sowie bestimmte Erzählverfahren bilden weitere textinterne Fiktionalitätsanzeiger. Für sich genommen bildet aber keines der genannten Merkmale ein hinreichendes Kriterium für Fiktionalität, zumal auch faktuale Texte wie Reportagen mitunter auf die allwissende Redeform zurückgreifen.49 Jedoch können für Fiktionalität immerhin Merkmale formuliert werden. Für den Bereich des Faktualen ergibt sich indes ein grundsätzlicheres Problem: Jeder Text kann durch ein paar einfache Handgriffe „fiktionalisiert“ werden, was einen feststehenden Merkmalskatalog des faktualen Erzählens schwierig macht.50 Dies mag ein Grund dafür sein, dass Faktualität bis jetzt eine Forschungslücke innerhalb der Narratologie bildet, wenngleich in der letzten Zeit ein wachsendes Interesse am Thema festzustellen ist.51 Für die vorliegende Untersuchung ist eine ausführliche Begriffsklärung deshalb wichtig, weil die Genrefrage für die Analyse der Lehrbuchtexte unmittelbar relevant ist. Diese werden arbeitsdefinitorisch als Mischform beider Text 48 Dies. (1968): Die Logik der Dichtung. Stuttgart: Ernst Klett, 2. stark veränderte Auflage. Der entsprechende Abschnitt ist übertitelt mit Das fiktionale Erzählen und seine Symptome, vgl. ebd. S. 56–111. 49 Vgl. Martínez (2011): Erzählen. In: Handbuch Erzählliteratur, S. 10. 50 Vgl. Gorman (20007): Theories of fiction, S. 167: „There can be no indicators for factual discourse, since if one was proposed, it would immediately become a challenge to fiction- writers to co-opt.“ Die Begriffs- und Abgrenzungsproblematik hat in der narratologischen Debatte zudem die Frage nach der Existenz von und dem Umgang mit Mischformen, einer Panfiktionalität (‚panfictionality‘), aufgeworfen, wie sie in Hayden Whites Geschichtstheorie impliziert ist. Die terminologische Konsequenz wären ein weiter Narrationsbegriff sowie die Definition von Narrativität als Akt der Interpretation. Vgl. Ryan, Anne-Laure (2007): Panfictionality. In: RE, S. 417 f. Mit diesem weiten Begriffsverständnis würden sich freilich etliche Richtungen innerhalb der Narratologie nicht einverstanden erklären. 51 Wichtige Beiträge bilden der von Christian Klein und Matías Martínez 2009 herausgegebene Band Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart: Metzler sowie der Artikel von Michael Scheffel (2007): Wer spricht? Überlegungen zur ‚Stimme‘ in fiktionalen und faktualen Erzählungen. In: Blödorn, Andreas/Langer, Daniela/Scheffel, Michael (Hg.): Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen. Berlin/New York: de Gruyter, S. 83–99. Die bei Jan Christoph Meister (Universität Hamburg) entstehende Doktorarbeit von Frederike Lagoni, beschäftigt sich mit der Genrefrage faktual/ fiktional, die anhand eines historisch-narratologischen Vergleichs literarischer Erzählformen entfaltet wird. In ihrer grundlegenden Fragestellung ist diese Arbeit für die Religionswissenschaft unmittelbar interessant. Zudem besteht seit 2012 das von der DFG geförderte Graduiertenkolleg GRK 1767 Faktuales und fiktionales Erzählen mit Sitz in Freiburg/Breisgau, das unter anderem von Monika Fludernik betreut wird. Der erste Band der Schriftenreihe des GRK ist jüngst erschienen. Dies alles sind erfreuliche Entwicklungen, die ein bislang vernachlässigtes Forschungsfeld – Monika Fludernik spricht gar vom „Missing Narratological Paradigm“ – aufzuarbeiten beginnen. Vgl. dies. (2013): Factual Narrative. A Missing Narratological Paradigm. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift (GRM) 63 (2013), Heft 1, S. 117–134.
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typen aufgefasst. Wo in der Analyse auf die Unterscheidung von faktualem und fiktionalem Erzählen als Schilderung eines realen bzw. fiktiven, als Implikat einer Geschichte existierenden Geschehens zurückgegriffen wird, geschieht dies ausschließlich zur näheren Bestimmung des Erzählten. Eine Wertung der Inhalte ist damit zu keiner Zeit intendiert, denn „die literarische Fiktion ist […] eine Simulation ohne negativen Charakter“.52
e) Der Ort der Untersuchung: die Textoberfläche Wenn mit der Rede von der Oberfläche des Textes zur Beschreibung von Frage stellung und Methodik eine örtliche Metapher verwendet wird, suggeriert dies, dass Texte aus einem Innen und Außen bestünden. Die mit den Begriffen Tiefenbzw. Oberflächenstruktur evozierte Raumsemantik hatte erstmals Noam Chomsky zur Beschreibung der Regelhaftigkeit von Erzählgrammatiken53 bemüht und die Termini damit in einem linguistischen Zusammenhang verwendet. Im Lauf der Zeit wurden „Tiefe“ und „Oberfläche“ aber auch in der Literaturwissenschaft zur Beschreibung von Handlung oder Verstehensprozessen angewendet.54 Die beiden unterschiedlichen terminologischen Verwendungen sind inhaltlich kaum vereinbar. So auch hier, wo die Begriffe Oberflächen- und Tiefenstruktur nicht linguistisch konnotiert sind, sondern ausschließlich zur Differenzierung der beiden, für die vorliegende Untersuchung relevanten Textdimensionen Form und Inhalt verwendet werden. Sie verweisen auf die Relevanz eines eigenen methodischen Zugangs, wie er mit der Narratologie gegeben ist, deren Modelle sich 52 Schmid (2008): Elemente, S. 27. 53 So Martínez/Scheffel (1999): Einführung Erzähltheorie, S. 147 f. Chomsky unterschied – grob gesagt – die für die Lautgestalt eines Satzes relevante Oberflächen- von der für die Interpretation wichtige Tiefenstruktur, kurz: Tiefen- und Oberflächenstruktur determinieren Lautgestalt und Bedeutung eines Satzes. Zur Erklärung des Modells, vgl. Grewendorf, Günther (2006): Noam Chomsky. München: Beck, S. 124–133. Ebenso bezogen auf die Form ist Thomas Lawsons und Robert McCauleys kognitiven Ritualtheorie, die, ausgehend von Chomsky, eine rituelle ‚Syntax‘ oder rituelle ‚Grammatik‘: das action-representation model, als konstitutiv für das Erlernen ritueller Handlungen ansehen. 54 Vgl. etwa Wenzel, Peter (Hg.) (2004): Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: WVT. Dort werden Tiefe und Oberfläche zur Charakterisierung der Handlung verwendet, S. 17 sowie 24 f. Die kognitive Narratologie rückt den Verstehensaspekt in den Vordergrund, wenn sie unter Oberfläche, vereinfacht ausgedrückt, die Zusammensetzung verschiedener visueller Daten zu einer „kohärenten Folge von Buchstaben und Wörtern“ versteht: „Erst auf der Basis dieser als ‚Oberflächenstruktur‘ (surface structure) bezeichneten Repräsentation von Zeichen wird eine semantische Analyse des Gelesenen vollzogen und in der sogenannten ‚Textbasis‘ (textbase) in der Form von Propositionen semantisch festgehalten. Während die Oberflächenstruktur damit ‚im wesentlichen aus einer Abbildung des physischen Textes im kognitiven System‘ besteht, verkörpert die Textbasis ‚das Produkt einer semantisch syntaktischen Analyse‘ der abgebildeten Zeichen.“ Vgl. Hartner, Marcus (2012): Perspektivische Interaktion im Roman. Kognition, Rezeption, Interpretation. Berlin/Boston: de Gruyter, S. 82.
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vor allem auf die Form, weniger auf den Inhalt eines Textes beziehen. Im Vordergrund steht dort nicht so sehr die Frage, „was Romane darstellen, sondern […] wie die erzählerische Vermittlung, die Handlungsstruktur oder die Zeit- und Raumstruktur in narrrativen Texten beschaffen sein kann.“55 Der methodische Fokus liegt demzufolge auf der Struktur der erzählten Geschichte (Story) und der erzählerischen Vermittlung (Discourse, deren Teil ein Plot oder schlicht die Handlung bildet). Werkinhalte oder die historischen bzw. kontextuellen Bezüge narrativer Texte bleiben zumeist ausgeblendet. Um diesen Zugang methodisch zu konkretisieren, werden im Folgenden die wesentlichen Analysedimensionen des Erzähltextes vorgestellt und damit die Perspektive erläutert, die mit dem narratologischen Instrumentarium auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand gerichtet ist. Neben der Einführung in allgemeine Begrifflichkeiten und den mit ihnen verbundenen Forschungsdebatten werden überblicksartig diejenigen narratologischen Analysekonzepte expliziert, die für die Untersuchung der fiktionalen Anteile der Staatsbürgerkundelehrbücher und der Frage nach den in diesen Anteilen angelegten Wirkmechanismen eine Rolle spielen. Der selektive Umgang mit dem Methodenapparat ist gewollt; bei der narratologischen Untersuchung geht es selten darum, alle verfügbaren Konzepte auf einen Text anzuwenden.56 Analog der methodologischen Ausrichtung der Narratologie ergibt sich für die Analyse als grundlegende Systematik: Wer erzählt? Wie wird erzählt? Was wird erzählt? Da das Was – die Elemente einer Geschichte, ihre Thematiken sowie die Handlung – im Rahmen der Analyse von Religion und Marxismus-Leninismus jedoch ausführlich behandelt und dabei auf die Frage, welche ‚Allianzen‘ Inhalt und Textoberfläche eingehen, rückbezogen wird, konzentriert sich das vorliegende Kapitel auf die beiden ersten Zugänge. Das mit den Zugängen verbundene Analysewerkzeug wird mit der Frage nach der textintern evozierten Bedeutung bestimmter Inhalte zusätzlich um eine wirkungstheoretische Dimension ergänzt.
3.2 Zur Untersuchung der Form der Weltanschauungen Für die Formanalyse sind verschiedene Aspekte relevant: Grundlegend ist die Frage nach den Präsentationsformen von Sozialismus und marxistisch-leninistischer Weltanschauung durch verschiedene „Sprecherpositionen“ innerhalb der Lehrbücher: Wer verfasst, wer erzählt, wer liest? Im folgenden Abschnitt werden Autoren-, Erzähler- und Rezipientenkonzepte differenziert und die unterschied 55 Nünning/Nünning (2002): Überblick, S. 22. 56 So auch Roy Sommer (2010): Methoden strukturalistischer und narratologischer Ansätze. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Stuttgart: Metzler, S. 91–108, hier: 98.
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Zur Untersuchung der Form der Weltanschauungen
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lichen Textvermittlungsebenen über Fragen nach der Perspektivenstruktur herausgearbeitet. Mit der Hilfe der hier vorgestellten erzähltheoretischen Kategorien werden später die Genres der Weltanschauung analytisch differenziert. Textpragmatische Überlegungen zum Verhältnis von Text- und Kontextbeziehungen ergänzen den Methodenapparat ebenso wie wirkungstheoretische Zugänge.
3.2.1 Wer verfasst, wer erzählt, wer liest? Grundsätzlich kann die Frage nach dem Wer innerhalb der Staatsbürgerkundebücher dreifach formuliert werden: Wer schreibt über den Sozialismus? Wer spricht über bzw. wer erlebt den Sozialismus? Wer liest über den Sozialismus? Diese Fragen beziehen sich sowohl auf die faktische Autorschaft der Lehrbücher sowie die Empfängerseite, die es im Einzelnen zu differenzieren gilt, als auch auf unterschiedliche Ebenen des Textes. In den erzählenden Lehrbuchabschnitten bezieht sich die Frage nach dem Wer ausschließlich auf die Vermittlungsinstanz innerhalb des Erzählgeschehens. Sie umfasst gleichermaßen Aspekte der Darstellung des Erzählers und dessen Verhältnis zur erzählten Welt sowie die textinterne Darstellung des Adressaten. Beide Konzepte bedürfen der Erläuterung. Die Frage nach der Autorschaft hingegen liegt außerhalb des Erzähltextes und zählt in der Narratologie deshalb nicht zu den textinternen Analyseparametern. Im Folgenden wird dennoch auf Autor und Autorenkonzepte eingegangen, um das Modell der Erzählinstanz vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Kommunikations ebenen eines Textes zu erläutern.
a) Der Autor ist nicht der Erzähler! – Grundlegende Differenzierungen Das Konzept des Autors hat in der erzähltheoretischen Diskussion eine wechselvolle Geschichte erlebt. Als tatsächlicher Urheber eines Textes spielt der Verfasser in der Literaturwissenschaft von jeher eine Rolle; unterschiedlich beurteilt wurde und wird indes seine Bedeutung für die Textanalyse.57 Mit der Etablierung der bereits 1910 von Käte Friedemann getroffenen Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler als gängiger erzähltheoretischer Differenzierung war in der Vergangenheit eine Debatte um die Bedeutung des Autors für das Verständnis des Textes angestoßen. Die Literaturtheorie des New Criticism verwarf schließlich die Frage nach der Aussageabsicht als „intentionalen Fehlschluss“ und negierte jegliche
57 Vgl. überblicksartig: Hoffmann, Torsten/Langer, Daniela (2007): Autor. In: Anz, Thomas (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart, S. 131–170.
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Gleichsetzung von Textbedeutung und Autorenabsicht.58 Damit trat die literaturtheoretische Debatte in eine neue Phase ein: 1961 entwickelte Wayne C. Booth das Modell des impliziten Autors, um die den Erzähltexten unterlegten Bedeutungen und Normen ohne Bezugnahme auf einen realen Verfasser analysierbar zu machen.59 Weitere literaturtheoretische Überlegungen folgten; 1968 proklamierte Roland Barthes gar den „Tod des Autors“60, womit er sich gegen den seit dem 19. Jahrhundert gängigen Interpretationsansatz richtete, Texte maßgeblich über die Biografie des Autors zu deuten. Ein Jahr später entwickelte Michel Foucault den Begriff der Autorfunktion zur Beschreibung der Art und Weise, „in der der Text auf jene Figur verweist, die ihm, wenigstens dem Anschein nach, äußerlich ist und vorangeht“. Der Autor sei ein vom Leser in einem komplizierten Prozess konstruiertes „Vernunftwesen […], das man Autor nennt“.61 Insgesamt hat sich die Vorstellung von einer autorunabhängigen Lektüre jedoch nicht durchgesetzt, sondern in der Literaturtheorie zu neuen Forschungsansätzen geführt.62 58 In ihrem 1946 veröffentlichten Aufsatz The Intentional Fallacy kritisierten der Literaturwissenschaftler William K. Wimsatt und der Kunsthistoriker Monroe C. Beardsley die autorenbezogene Interpretation von Texten. Sie bezeichneten die Frage nach der vermeintlichen Intention eines Autors zur Analyse von Texten aus texttheoretischen Gründen als Fehlschluss und leiteten damit die literaturwissenschaftliche Debatte um den Autor ein. 59 Der implizite Autor meint zweierlei: zum einen das Selbstbild, das der reale Autor von sich produziert, zum anderen das durch den Rezipienten konstruierte Fremdbild. Der implizite Autor stimmt nicht mit dem realen Autor oder dem Erzähler überein; es handelt sich um eine heuristische Konzeption zur Beschreibung und Analyse von Texten. In der wissenschaftlichen Debatte ist dieses Konzept in die Kritik geraten und wurde durch zahlreiche Begriffsneubildungen ersetzt, die zum Teil eher wissenschaftsgeschichtlich von Bedeutung sind. Beispielsweise hat der Slawist Wolf Schmid anstelle des impliziten den Begriff des abstrakten Autors vorgeschlagen. Dieser ist „ein Konstrukt des Lesers auf der Grundlage seiner Lektüre des Werks“; abstrakt meint somit nicht fiktiv. Der abstrakte Autor ist durchaus real, allerdings nicht konkret. Er bewegt sich auf einer anderen Textebene als der Erzähler. Im Gegensatz zu diesem ist er keine vom realen Autor dargestellte Instanz; er verfügt weder über eine eigene Stimme, noch über einen eigenen Text, sondern ist die „personifizierte Werkintention“, die sich anhand bestimmter Spuren, „aller auf den [realen] Autor verweisenden indizialen Zeichen des Textes“ rekonstruieren lasse und erst durch den Leser im Lesevorgang konkretisiert wird. Der abstrakte Autor existiert als im Text objektiv gegebenes virtuelles Schema bestimmter Textsymptome sowie als subjektive Lesens-, Verstehens- und Deutungsakte des Lesers. Diese bleiben variabel, da unterschiedliche Leser verschiedene abstrakte Autoren konstruieren, und jeder Lesevorgang einen neuen abstrakten Autor entwirft, vgl. Schmid (2008): Elemente, S. 60 f. 60 Vgl. Hoffmann/Langer (2007): Autor, S. 146. 61 Vgl. Foucault, Michel (2000): Was ist ein Autor? In: Jannidis, Fotis u. a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam, S. 198–229, bes. 202–214. 62 Im Rahmen einer Anthropologie des Erzählens wird in kognitiven Ansätze mit der Theory of Mind argumentiert: Das Konzept des Autors sei nicht verschwunden, weil der Mensch gar nicht anders kann, als eine Erzählung als intentionalen Akt eines vernünftigen Wesens anzusehen. Die für den Leser drängende Frage nach einem „hinter“ dem Text stehenden Akteur und seinen Intentionen und Aussageabsichten wird dabei nicht mehr als Fehlschluss, sondern als kognitive Notwendigkeit verstanden: „Unsere genetischen Dispositionen lassen uns zu jeder
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Wenn auch die Autorkonzepte weiterhin strittig sind, so hat die Debatte einen grundlegenden Konsens hervorgebracht: die Differenzierung von realem Autor und fiktivem Erzähler, die für jede erzähltheoretische Arbeit grundlegend ist.63 Was ist nun der Erzähler? Um der Gleichsetzung von Erzähler und Autor vorzubeugen, hat die Erzähltheorie den Begriff der Erzählinstanz oder Erzählfigur entwickelt. Terminologisch ergaben sich dabei ähnliche Probleme wie in der Auseinandersetzung mit dem Begriff Autor. Ebenso wie dieser ist auch der Erzähler eine in der Forschung diskutierte und umstrittene Kategorie, unter die konkurrierende theoretische Ansätze, unterschiedliche Begrifflichkeiten und verschiedene Erzählertypologien gefasst werden.64 Da die Einzelheiten dieser Forschungsdebatte für die vorliegende Untersuchung nicht von Belang sind, mögen an dieser Stelle grundlegende erzähltheoretische Überlegungen zur Qualifikation der Erzählinstanz genügen. Prinzipiell weist jeder Erzähltext eine Erzählinstanz auf, die lediglich verschieden stark präsent ist. Ihre implizite Darstellung ist für jeden Erzähltext obligatorisch und schließt sämtliche, für das Erzählverfahren konstitutive Elemente wie Komposition des Textes, sprachlich-stilistische Gestaltung sowie Auswahl von Personen, Situationen und Redehandlungen ein. Zentral ist dabei nicht nur die Frage, was erzählt wird, sondern vor allem, was nicht erzählt wird. Die explizite Darstellung bezieht sich hingegen auf Äußerungen, mit denen die Erzählinstanz in Erscheinung tritt, etwa Eigenangaben zu ihrer Person oder Anmerkungen zu ihrer politischen Position oder Weltsicht. Diese Formen der Selbstdarstellung sind für einen expliziten Erzähler möglich und sogar typisch, für den Erzähltext an sich aber nicht zwingend erforderlich. Aus der unterschiedlichen Gestaltung der Erzählinstanz ergeben sich verschiedene Formen des Erzählverhaltens bzw. Äußerung einen suchen, der sie getan und mit ihr etwas gemeint/beabsichtigt hat. […] Der ‚Autor‘ gehört zu den genetisch verankerten Dispositionen, die beim ästhetischen Spiel in Bewegung versetzt werden, und kann dabei als Bindungsfaktor für die gefährdete Kohärenz des literarischen Textes herangezogen werden.“ Vgl. Eibl, Karl (1999): Der Autor als biologische Disposition. In: Jannidis, Fotis u. a. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, S. 47–60, hier: 59. Die Literaturwissenschaftlerin Simone Winko belegt die Bedeutsamkeit des Autors empirisch, vgl. Hoffmann/Langer (2007): Autor, S. 137. 63 Vgl. Hoffmann/Langer (2007): Autor, S. 133 sowie Lahn, Silke/Meister, Jan Christoph (2008): Einführung in die Erzähltextanalyse. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, S. 63. 64 Vgl. Vogt, Jochen (1998): Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie. Opladen u. a.: Westdeutscher Verlag, 8. durchges. u. aktual. Auflage, S. 43; einen Überblick auch bei: Wolf, Werner (2008): Erzähler. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar, S. 173 f. sowie Bareis, Alexander (2006): Mimesis der Stimme. Fiktionstheoretische Aspekte einer narratologischen Kategorie. In: Blödern, Andreas/Langer, Daniela/Scheffel, Michael (Hg.): Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen. Berlin/New York: de Gruyter, S. 101–122. Zu den Erzählertypologien vgl. den knappen Überblick bei Wolf (2008): Erzähler, S. 174; ausführlicher bei Schmid (2008): Elemente, S. 83–100.
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verschiedene Erzählsituationen: Die als Figur mit Persönlichkeitsprofil gestaltete Erzählinstanz nimmt eine zentrale Vermittlungsfunktion im Erzählgeschehen ein und tritt zumeist als „Ich-Erzähler“ in Erscheinung.65 Ein versteckter Erzähler ist indes kaum als Vermittlungsinstanz auszumachen, er tritt scheinbar hinter die Erzählung zurück. Dennoch ist auch ein scheinbar erzählerloser Text durch die Bewusstseinshandlungen der Erzählinstanz (was und wie wird erzählt bzw. nicht erzählt?) geleitet.66
b) Zur Charakterisierung der Erzählinstanz Was eine Erzählinstanz berichtet, kann in unterschiedliche Erzählebenen diffe renziert werden. Die Narratologie unterscheidet grundlegend zwischen der Ebene des Erzählens (Exegesis) und der des Erzählten (Diegesis) und ersetzt damit die traditionellen, jedoch unscharfen Bezeichnungen des „Ich-“ bzw. „Er-Erzählers“. Die Exegesis repräsentiert die Welt der Erzählinstanz, in der die Erzählung als deren Redeäußerung, etwa in Form von Kommentaren oder Wertungen, produziert wird. Als Diegesis gilt der Ort des Geschehens, die Ebene der erzählten Welt, wobei hier nach Genette vor allem zwei Erzählertypen zu unterscheiden sind: der in der erzählten Welt als Figur auftretende homodiegetische sowie der außerhalb der erzählten Welt stehende heterodiegetische Erzähler.67 Die Anwesenheit eines in der erzählten Welt auftretenden Erzählers ist graduell unterschiedlich – sie kann vom unbeteiligten Beobachter eines Geschehens über verschiedene Stufen der Beteiligung bis hin zur Inszenierung als Hauptfigur verlaufen –, während die 65 Das Konzept des Ich-Erzählers hat die Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger in ihrer Schrift Logik der Dichtung spezifiziert. Ihr zufolge ist die Ich-Erzählung immer als „fingierte Wirklichkeitsaussage“ zu verstehen, weil das „Ich“ der Ich-Erzählung kein reales Aussagesubjekt ist, in der Erzählung aber vorgibt, als solches ein Geschehen zu berichten: „[E]s gehört zum Wesen jeder Ich-Erzählung, daß sie sich selbst als Nicht-Fiktion, nämlich als historisches Dokument setzt. Dies aber tut sie auf Grund ihrer Eigenschaft als Ich-Erzählung.“ Insofern die Historizität eines Geschehens im Erzählvorgang nachgeahmt wird, ist die Wirklichkeitsaussage „fingiert“, es handelt sich um eine fiktionale Struktur. Genau wie Fiktionalität nicht als Gegenteil von Wirklichkeit oder Realität zu verstehen ist, ist Fingiertheit nicht mit Fiktivität gleichzusetzen: „Die Setzung der Fiktion ist eine völlig andere Bewußtseinshaltung als die des Fingiertseins.“ Fingiertheit ist graduell, nicht absolut. Ihr Grad kann schwanken und so gering sein, „daß nicht mit Sicherheit zu unterscheiden ist, ob wir es mit einer echten Autobiographie oder einem schon romanhaften Gebilde zu tun haben.“ Grundsätzlich ist der Begriff Erzähler laut Hamburger nur für die Ich-Erzählung terminologisch richtig: „Der Ich-Erzähler ‚erzeugt‘ nicht, was er erzählt, sondern erzählt von ihm in der Weise jeder Wirklichkeitsaussage: als von etwas, das das Objekt seiner Aussage ist und das er nur als Objekt […] darstellen kann.“ Vgl. Hamburger, Käte (1968): Logik der Dichtung. Stuttgart: Ernst Klett, 2. stark veränderte Auflage, S. 246–250. 66 In der Erzähltheorie wurde deshalb das zwischenzeitlich entwickelte Konzept des „Nonnarrators“ wieder als irreführend verworfen, vgl. Lahn/Meister (2008): Erzähltextanalyse, S. 63 f. 67 Vgl. Lahn/Meister (2008): Erzähltextanalyse, S. 67.
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Abwesenheit der außerhalb stehenden, heterodiegetischen Erzählinstanz stets absolut ist.68 Oft imitiert der homodiegetische Erzähler einen vermeintlich realen autobiografischen Bericht, dessen Wahrheitsanspruch durch die häufig verwendete, sich selbst als Nicht-Fiktion inszenierende Ich-Form erzeugt wird.69 Damit ist ihm jedoch der Einblick in andere Figuren verwehrt. Der heterodiegetische Erzähler hingegen kann, da er nicht Teil der erzählten Welt ist und somit nicht als Figur im Geschehen auftritt, aus einer übergeordneten („allwissenden“) Perspektive berichten. Der Einblick in die Gefühlslage, Gedankenwelt oder Befindlichkeit anderer Figuren ist für ihn ebenso problemlos möglich, wie der beliebige Rückgriff auf Ereignisse aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zur Offenlegung kausaler Zusammenhänge innerhalb des Erzählgeschehens. Er steht somit in keinem zeitlichen Verhältnis zu den von ihm beschriebenen Figuren. Die Unterscheidung dieser beiden, einander prinzipiell ausschließenden Erzählerpositionen ist gängig in der Erzähltextanalyse, keineswegs aber eindeutig zu bestimmen.70 Zudem ließe sich die Erzählerstimme noch weiter differenzieren, worauf hier jedoch verzichtet wird.71 Die Präsenz einer Erzählinstanz wirkt sich wesentlich auf die Textperzeption aus. Je mehr der Erzähler in den Hintergrund tritt, desto stärker wird ein Text als dramatischer Text rezipiert. Eine deutlich präsente Erzählinstanz ist umgekehrt dem Eindruck der Unmittelbarkeit eines Erzählgeschehens abträglich. Die Rede von der Textwahrnehmung evoziert wirkungsbezogene Fragen, die hier in Leser- und Rezipientenkonzepten exemplifiziert werden und die grundsätzlichen Kommunikationsebenen des Erzähltextes komplettieren.
c) Die Empfänger eines Textes: Leser- und Rezipientenkonzepte Formal richtet sich jede Erzählinstanz an ein Gegenüber, mag dieses auch noch so wenig im Text präsent sein. Erst mit der Hinwendung zur rezeptionsbezogenen Literaturgeschichte und -theorie in den 1970er Jahren, mit der die Frage nach Adressat und Leser unter textanalytischen Gesichtspunkten relevant wurde, 68 Vgl. Lahn/Meister (2008): Erzähltextanalyse, S. 69. 69 Vgl. Lahn/Meister (2008): Erzähltextanalyse, S. 68. 70 Grundsätzlich kann die Erzählperspektive nur unter Berücksichtigung eines gesamten Erzähltextes vorgenommen werden. Die grammatische Form ist kein hinreichendes Kriterium für die Klassifizierung des Erzählers, zumal Erzähltexte auch in der zweiten Person Singular bzw. der dritten Person Plural gehalten sein können. Ein besonders schwieriger Fall liegt überdies dann vor, wenn der Text mit wechselnden Erzählerpositionen arbeitet. Vgl. Lahn/Meister (2008): Erzähltextanalyse, S. 73–76. 71 Einen tabellarischen Überblick der verschiedenen Indikatoren zur Charakterisierung einer Erzählinstanz liefert Schmid (2008): S. 84. Die populären Begriffe „auktorialer“ bzw. „IchErzähler“ gehören nicht dazu. Sie charakterisieren nicht die Erzählinstanz, sondern die Perspektive und werden in Narratologie und Erzähltextanalyse dementsprechend ausschließlich zur Bestimmung der Erzählperspektive verwendet, vgl. dazu den Abschnitt Wie wird erzählt.
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wurden jedoch erstmals differenzierte Modelle zur Analyse der Empfängerseite entwickelt: Adressat, Leser und Rezipient.72 Die Empfängerseite eines Textes zerfällt in zwei funktional zu unterscheidende Instanzen: den Adressaten und den Rezipienten. Während der Adressat den vom Sender unterstellten oder intendierten Empfänger repräsentiert, ist der Rezipient der faktische Empfänger, von dem der Sender zumeist nur eine vage Vorstellung hat. Der Adressat, vergleichbar mit einem Hörer, ist eine fiktive textinterne Instanz, an den sich der Erzähler mehr oder weniger explizit wendet. Er bildet ein Konstrukt des Erzählers, der diesen mit Zügen ausstattet, die er in ihm vermutet und an den er seine Erzählung richtet.73 Anhand der Orientierung des Erzählers am Adressaten lassen sich Rückschlüsse auf das Bild ziehen, das er sich von einem fiktiven Leser macht.74 Dieser fiktive Leser scheint in direkten Leseransprachen oder in Formulierungen wie „der geneigte Leser“ oder die Verwendung der Wir-Form, des pluralis auctoris, auf.75 Vom fiktiven Leser werden in der Narratologie noch zwei weitere Leserkonzepte unterschieden: der historisch konkrete, der reale sowie der abstrakte Leser. Diese Unterscheidungen kommen nicht nur für die literaturwissenschaftliche Forschung, sondern für die Analyse historischer Quellen insgesamt zum Tragen. Die Untersuchung des realen Lesers ist beispielsweise an mentalitäts- und sozialgeschichtliche Fragestellungen und Vorgehensweisen gebunden, mit denen der gesellschaftliche und private Kontext einer Lektüre eruiert werden soll.76 Der abstrakte Leser ist hingegen ein Attribut 72 Vgl. dazu Schmid, Wolf (2007): Textadressat. In: Anz, Thomas (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart, S. 171. Es war vor allem der Konstanzer Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser, der mit seinem Entwurf des impliziten Lesers nicht nur die Forschung zu den Leserrollen entscheidend voranbrachte, sondern den Blick maßgeblich auf textinterne Wirkungsstrukturen lenkte, vgl. ders. (1972): Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. München: Wilhelm Fink sowie ders. (1994): Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: W. Fink, 4. Auflage. 73 Vgl. Schmid (2008): Elemente, S. 43 sowie 101. 74 Fiktiver Leser und Adressat fallen allerdings nicht zusammen, weil mit dem fiktiven Leser laut Wolf Schmid nur ein unterstellter, nicht aber ein realer Adressat gemeint ist. Der fiktive Leser wird durch bestimmte textinterne Merkmale erkennbar, die – ähnlich wie bei der Erzählinstanz – in eine implizite und explizite Form zu unterscheiden sind. Zumeist bleibt der fiktive Leser unmarkiert und damit implizit. Seine Gegenwart wird nach Schmid jedoch durch „antizipierte Fragen aktiviert“ und damit explizit, vgl. Schmid (2008): Elemente, S. 106. 75 Schmid resümiert: „Im Prinzip entwirft jede Erzählung einen fiktiven Leser (wie jeder Text einen abstrakten Leser als unterstellten Adressaten oder idealen Rezipienten entwirft), da die indizialen Zeichen, die auf seine Existenz verweisen, wie schwach sie auch sein mögen, niemals ganz verschwinden können.“ Schmid (2008): Elemente, S. 106. 76 Etwa anhand von Tagebuchnotizen, Briefwechseln, Werbeanzeigen für Literatur oder (literatur-) wissenschaftliche sowie Populär-Veröffentlichungen. Weiterführend: Schön, Erich (2007): Realer Leser. In: Anz, Thomas (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart, S. 183.
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Erzählinstanz
Autor
des abstrakten Autors und damit keine reale Kommunikationsinstanz. Er dient der literaturwissenschaftlichen Differenzierung und bezeichnet den „Inhalt jener Vorstellung des Autors vom Empfänger, die im Text durch bestimmte indiziale Zeichen fixiert ist“.77 Das folgende Schaubild fasst die bislang erläuterten Begrifflichkeiten zusammen:78
Ebene der literarischen Erzählkommunikation
Differenzierung
Situierung
Autor kommunikation: reale Kommunikation zwischen Autor und Textadressat
1. historisch konkreter Autor: reale historische Person; Werkurheber
existiert außerhalb und unabhängig vom Werk
2. abstrakter Autor: heuristisch; produziertes Selbstbild und konstruiertes Fremdbild; kaum angewendetes Konzept
impliziter Autor: (kognitives) Modell des Lesers vom Autor78
Erzähler – Adressat
1. implizit: obligatorisch; sichtbar in konstitutiven Elementen des Erzählverfahrens (Textkomposition, Gestaltung, Auswahl: Personen, Situationen, Redehandlungen: Was wird erzählt, was wird nicht erzählt?) 2. explizit: fakultativ; Erzähler tritt in Erscheinung (Personenangaben, Kommentare etc.)
keine Erzählung ohne Erzähler! entweder overt narrator oder covert narrator
77 Vgl. Schmid (2008): Elemente, S. 68. Forschungsgeschichtlich hat sich der Begriff des abstrakten Lesers – ähnlich wie der des abstrakten Autors – aus dem Konzept des impliziten Lesers entwickelt. Beide, sowohl impliziter Autor als auch impliziter Leser, wurden durch das Konzept des abstrakten Autors bzw. Lesers ersetzt. Abstrakter Leser und abstrakter Autor stehen auf derselben Kommunikationsstufe; sie sind rein „semantische Rekonstrukte“. 78 Vgl. Finnern (2010): Narratologie und biblische Exegese, S. 49.
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Differenzierung
Situierung
Leser – Autor
1. historisch konkreter Leser: Gegenstand der empirischen Rezeptionsforschung 2. abstrakter Leser (Attribut des abstrakten Autors): a) der vom Autor unterstellte Adressat b) der vom Autor gewünschte Adressat
existiert außerhalb und unabhängig vom Werk
Adressat – Erzähler
– zumeist unmarkiert; kann jedoch in der Erzählerrolle angesprochen werden – Unterschied zum konkreten Leser (s. o.)
An der Ausrichtung des Erzählers am Adressaten ist das Bild rekonstruierbar, das er sich vom fiktiven Leser macht.79
– fiktiver Leser ≠ abstrakter Leser – Metapher der „Leserrolle“: Rekonstruktion des Bildes, das der Erzähler von seinem Gegenüber hat; – Darstellung des fiktiven Lesers: implizit versus explizit a) Verwendung der zweiten Person b) „der geneigte Leser“
fiktiver Adressat
Leser
Ebene der literarischen Erzählkommunikation
Rezipient
Autor versus Rezipient – der fiktive Leser als Adressat einer sekundären Erzählung (= Binnenerzählung) – fiktiver Adressat und Personen aus der Binnenerzählung fallen nicht zusammen im Gegensatz zum Adressaten der faktische Empfänger einer Botschaft80
existiert außerhalb und unabhängig vom Werk
79Übersicht Wer erzählt wem? – Autor, Erzählinstanz und Adressat80 79 Vgl. Lahn/Meister (2007): Erzähltextanalyse, S. 97. 80 Historisch konkreter Leser und Rezipient mögen in ihrer Situierung zusammenfallen, nicht jedoch auf der Ebene der literarischen Erzählkommunikation. Die Bezeichnung ‚konkreter
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Für die vorliegende Analyse sind die drei Ebenen Autor und Erzähler, historischer Autor und Autorkonzepte sowie Adressat und Rezipient unbedingt auseinander zu halten, auch wenn der faktische Empfänger keine Rolle spielt, weil nicht nach einer „tatsächlichen“ Wirkung der Texte auf den Leser gefragt wird. Diese ist mit narratologischen Methoden ohnehin nicht eruierbar. Die Konzepte abstrakter Autor, fiktiver Leser sowie die Kommunikationsformen Appell und Orientierung spielen für die Untersuchung hingegen eine zentrale Rolle, weil die Lehrbücher an ein Gegenüber gerichtet sind, das immer wieder sowohl implizit als auch explizit angesprochen wird.
3.2.2 Wie wird erzählt? Geschichten lassen sich auf unterschiedliche Weise erzählen. Je nachdem, aus welcher Perspektive ein Geschehen berichtet wird, erhält der Leser bestimmte Informationen, werden Inhalte hervorgehoben oder auf spezifische Weise dargestellt. Ein simples Beispiel mag dies veranschaulichen: Für die vier neutestamentlichen Textabschnitte zur Kreuzigung und Auferstehung der Jesusfigur lässt sich – unabhängig von interpretatorischen oder hermeneutischen Fragen nach Entstehungsbedingungen, Kanonisierungsprozessen oder Authentizität der Texte – grundlegend erzähltheoretisch feststellen: Es handelt sich um vier Versionen einer religiösen Erzählung81, die dem Leser ein Hauptgeschehen berichten. Leser‘ ist überdies missverständlich: „Genau genommen ist das nicht ein Leser, sondern die unendliche Menge aller Menschen, die an irgendeinem Ort zu irgendeiner Zeit Rezipienten des jweiligen Werks gewesen sind oder noch werden.“ Schmid (2008): Elemente, S. 45. 81 Religiöse Erzählung meint hier erst einmal eine Deutungskategorie, die in der Rezeption des Textes zur inhaltlichen Qualifikation an diesen herangetragen wird, wie die Annahme einer kontraintuitiven Autorschaft, etwa der Offenbarung eines Textes durch ‚Gott‘ oder einen außerdiegetischen, d. h. einen nicht „empirisch-kausal[en]“, sondern „übernatürlich“ oder „final“ motivierten „Erklärungsrahmen“, auf den in einer Erzählung verwiesen wird, vgl. dazu Martínez, Matías (1996): Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen: Vandenhoek, S. 185. Martínez’ Überlegungen zur Konstruktion von Übernatürlichkeit beziehen sich auf das literarische Beispiel des Marques de Bolibar von Leo Perutz. Neben den klassischen „Offenbarungserzählungen“ wären auch Formen des „inspirierten Sprechens“ dazu zu zählen, vgl. dazu ebenfalls Martínez, Matías (2004): Episches Schreiben als inspiriertes Sprechen. Zu einem Typus mythischer Rede am Beispiel von John Miltons Paradise Lost. In: Friedrich, Udo/Quast, Bruno (Hg.): Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/New York: de Gruyter, S. 329–339. Die Redeformen von Texten, denen kontraintuitive Autorschaft oder Offenbarung zugeschrieben wird, ist deckungsgleich: In beiden Fällen handelt es sich um Formen des allwissenden Erzählens, das „häufig mit religiöser, göttlich inspirierter Rede verglichen“ wird, weil sich formale Ähnlichkeiten ergeben, die es laut Martínez erlauben, „das allwissende Erzählen in der fiktionalen Literatur als ein mythisches Analogon [Hervorh. i. Orig.] sakraler Rede“ zu verstehen. Martínez nennt dafür historische Gründe: Spätestens seit dem 18. Jahrhundert wurde das Postulat der Glaubwürdigkeit von Geschichten an anderen Formen der Erzählperspektive ersetzt, womit das allwissende
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Dabei lassen sich unterschiedliche Akzentsetzungen erkennen. Es werden verschiedene Figuren instanziiert, die miteinander kommunizieren oder dem Geschehen still beiwohnen, bestimmte Aspekte der Erzählung – anwesende Frauen oder weitere Gekreuzigte – werden hervorgehoben. In allen Fällen handelt es sich um eine nach Franz K. Stanzel als auktorial zu bezeichnende Erzählsituation, in der der Erzähler nicht als Figur auftritt. Auch die Zeitrelationen (erzählte Zeit und Erzählzeit) sowie der Tempusgebrauch sind ähnlich. Allerdings wird auf unterschiedliche Details fokussiert, was den Eindruck erweckt, vier verschiedene „Personen“ würden das Geschehen wiedergeben. Dies wird durch den paratextlichen Apparat unterstrichen: Das Inhaltsverzeichnis führt die vier Bücher des „Neuen Testaments“ unter der Kategorie „Geschichtsbücher“ auf; jedes Buch ist ferner mit „Das Evangelium nach“ und einem entsprechenden Namen übertitelt, was den Eindruck einer personalen Erzählinstanz verstärkt, die das Geschehen Erzählen mehr und mehr zum Charakteristikum religiöser Texte wurde. Vgl. ders. (2004): Allwissendes Erzählen. In: Engel, Manfred/Zymner, Rüdiger (Hg.): Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Paderborn: Mentis, S. 139–154. hier: 150–154. Von der Begriffsproblematik eines zu konkretisierenden Mythosbegriffs abgesehen, ist die Beobachtung, dass sich religiöse Erzählungen durch eine „allwissende“ Erzählperspektive auszeichnen, für die formale Klassifizierung dieser Texte unbedingt relevant. Freilich wird deren Deutung als religiös wesentlich durch den paratextlichen Apparat mitbestimmt. Insgesamt existiert zu der Frage nach Form und Inhalt ‚religiöser‘ Texte in der Religionswissenschaft bislang keine eigene Debatte; der von Armin Geertz und Jeppe S. Jensen herausgegebene Band enthält entgegen des vielversprechenden Titels keine systematisch-theoretischen Reflexionen des Begriffs „religious narrative“, vgl. dies (2011): Religious Narrative, Cognition and Culture. Image and Word in the Mind of Narrative. London: Equinox. Allerdings gibt es vereinzelte Studien, die in eine entsprechende Richtung weisen, vgl. den Artikel des US-amerikanischen Religionswissenschaftlers Wade C. Roof, der grundlegende narrationstheoretische Begrifflichkeiten verwendet, vgl. ders. (1993): Religion and Narrative. In: Review of Religious Research 34, Nr. 4, S. 297–310. Roof kündigt allerdings gleich zu Anfang einschränkend an: „By religious narrative I have in mind simply people’s own religious and spiritual stories. Don’t expect to hear much about semiotics or hermeneutics“, ebd. S. 297. Methodologische Fragen bleiben bei Roof, wie er selbst deutlich sagt, offen, vgl. ebd. S. 308. Aktuell arbeitet vor allem die schwedische Religionswissenschaftlerin und Alttestamentlerin Laura Feldt in diesem Bereich, vgl. ihre Arbeit zum Fantastischen in Texten des Alten Testaments, in Kurzform: dies. (2011): Religious narrative and the literary fantastic. Ambiguity and uncertainty in Ex 1–18. In: Religion. Vol. 41, Nr. 2, S. 251–283. Weniger systematisch-theoretische Überlegungen, dafür mehr auf das Genre Fantastik bezogen: Frenschkowski, Marco (2006): Vision als Imagination. Beobachtungen zum differenzierten Wirklichkeitsanspruch frühchristlicher Visionsliteratur. In: Hömke, Nicola/Baumbach, Manuel (Hg.): Fremde Wirklichkeiten. Literarische Phantastik und antike Literatur. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, S. 339–366. Überlegungen zu „textinterne[n] Merkmale[n] religiöser Narrativität“ finden sich auch bei Johannsen (2011): Kognition und Narration, S. 5 f. Die Religionswissenschaft kann für zukünftige Forschungen wesentlich von der literaturwissenschaftlich-narratologischen Debatte profitieren, wo mit der Frage nach der Perspektive und anderen Textstrukturen bereits einige Grundlagen für eine systematische religionswissenschaftliche Formalanalyse geschaffen wurden, die es erlauben, die Klassifikation eines Textes als Genrefrage zu behandeln.
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aus ihrem jeweiligen Blickwinkel wiedergibt.82 Paratextliche Strukturen haben Signalwirkung, sie wecken bestimmte Lesererwartungen und üben Einfluss auf die für die Interpretation eines Textes relevante Leserlenkung aus. Die Erzähltheorie hat zur Kennzeichnung des Standpunktes, von dem aus die erzählte Welt dargestellt wird, den Begriff der Erzählperspektive entwickelt. Die unterschiedlichen Ansätze zur Theoretisierung der Perspektive beruhen auf dem groben Konsens, dass Erzählen grundsätzlich perspektivisch erfolgt. Eines der bekanntesten und über die Grenzen der Narratologie hinaus einflussreichen Modelle ist das des Grazer Anglisten Franz Karl Stanzel, der drei typische Erzählsituationen, auktorial – figural – Ich-Erzählung, voneinander unterscheidet, die auch gegenwärtig für die Textanalyse an Schulen Verwendung finden. In der Erzähltheorie geriet die Typologie allerdings in die Kritik.83 Etliche der Ansätze transportieren visuelle Metaphern, etwa das prominente, von Gérard Genette in den 1970er Jahren entwickelte Konzept der „Fokalisation“, in dem er, ausgehend von der Frage „Was weiß der Erzähler?“, ein dreistufiges Modell entwickelt.84 Andere Modelle beziehen überdies Malerei und Film mit ein.85 Grundsätzlich charakterisiert die Erzählperspektive die Erzählinstanz: Nicht eine Geschichte als Ganze wird perspektiviert, sondern die mit der Geschichte präsentierte Auswahl. Es ist die Selektion, die von der Perspektive geleitet ist. Dies gilt sowohl für fiktionales als auch für faktuales Erzählen. Die Wiedergabe 82 Vgl. die Bibelübersetzung nach Martin Luther: Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1985. 83 Stanzel wurde vorgeworfen, in seiner Einteilung Merkmale der Erzählinstanz (Ich-Erzähler) mit Merkmalen der Perspektive (auktorial, personal) zu vermischen. In der Erzähltextanalyse werden die Begriffe auktorial und personal dementsprechend ausschließlich als Attribute der Erzählperspektive verstanden. Vgl. Schmid (2008): Elemente, S. 118. 84 Als „Nullfokalisierung“ bezeichnet Genette die Perspektive eines allwissenden Erzählers, mit der „internen Fokalisierung“ wird das Geschehen aus der Innensicht einer Figur geschildert, die „externe Fokalisierung“ bezeichnet die Perspektive eines Erzählers ohne das Vermögen, in diese hineinblicken zu können. In diesem Fall weiß der Erzähler weniger als jede der beschriebenen Figuren. Vgl. Genette, Gérard (2010): Die Erzählung. 3. durchges. und korrigierte Auflage. Paderborn/Stuttgart: Wilhelm Fink/UTB, S. 121 f. Kritisiert und weiterentwickelt wurde das Genette’sche Modell vor allem durch die niederländische Literaturwissenschaftlerin Mieke Bal, in deren Modell zwischen einem Sender-Subjekt (Focalizer), einem Objekt (Focalized) sowie einem Adressaten unterschieden wird. Das Modell wurde von ihr später allerdings selbst wieder aufgegeben. Zu den einzelnen Kritikpunkten an Genette vgl. weiter Schmid (2008): Elemente, S. 120 sowie Strasen, Sven (2004): Zur Analyse der Erzählsituation und der Fokalisierung. In: Wenzel, Peter (Hg.): Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: WVT. Besonders problematisch wurde die Frage nach dem von Genette nicht näher spezifizierten Wissen sowie – ähnlich wie beim Nonnarrator – die Annahme einer „Nullfokalisierung“ eingeschätzt, die die grundsätzliche Perspektivität jedes geschilderten Erzählgeschehens unberücksichtigt lässt. 85 So die etwa zeitgleich zu Genette veröffentlichte und breit rezipierte Theorie des russischen Philologen und Semiotikers Boris Uspenskij (dt. Poetik der Komposition, 1975). Für eine detaillierte Darstellung Uspenskijs vgl. Schmid (2008): Elemente, S. 123–128.
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von Ereignissen wird durch bestimmte Faktoren gelenkt. Die beiden wichtigsten Parameter zum Erfassen und Darstellen eines Geschehens86 bilden die epistemologische Position oder das Prisma, durch das ein Geschehen wahrgenommen wird (perzeptive Perspektive), sowie das Verhältnis, das der Beobachter auf Grund bestimmter Voreinstellungen, Denkweisen oder allgemeiner Werteinstellungen zum Beobachteten einnimmt (ideologische Parameter). Für faktuales Erzählen ist die perzeptive Perspektive weniger relevant, weil dort zumeist keine Berichterstattungen aus Figurensicht erfolgen. Im fiktionalen Erzählen hingegen ist die Darstellung aus den Augen einer Figur die Regel, die das Vermögen der Erzählinstanz voraussetzt, sich in diese hineinzuversetzen.87 Mit der Figurenperspektive ist ein eindeutiges Fiktionalitätsmerkmal angezeigt, das auf Grund seiner Bedeutung für den Materialbestand hier erzähltheoretisch genauer beleuchtet wird.
a) Wie vermittelt der Erzähler das, was er erzählen will? – Figurenrede Ein Erzähltext präsentiert seine Informationen in Form einer Rede, die dem Erzähler zugeschrieben wird. Die Narratologie unterscheidet zwei Arten der erzählenden Rede: Der einfachste Fall liegt vor, wenn die Erzählinstanz ihre eigenen ‚Erfahrungen‘ wiederzugeben scheint (diegetischer Modus). Auf Dialogpassagen wird dabei weitgehend verzichtet. Häufig lässt die Erzählinstanz jedoch Figuren sprechen, durch deren Wahrnehmung die Ereignisse geschildert werden (mimetischer Modus). Mit der Wiedergabe von Figurenreden tritt das narrative Moment 86 Schmid differenziert zwischen Erfassen und Darstellen des Geschehens als zwei voneinander zu unterscheidende, an unterschiedliche Instanzen gebundene Akte – der Narrator gibt das Geschehen stets durch die Perspektive eines Reflektors wieder –, die durch bestimmte Faktoren oder Parameter gelenkt werden. Er unterscheidet zwischen perzeptiven, ideologischen, räumlichen, zeitlichen und sprachlichen Parametern, wobei die beiden erst genannten die wichtigsten bilden. Das räumliche Parameter bezieht sich auf den Ort, von dem aus ein Geschehen wahrgenommen wird. Es bezieht die Einschränkungen, die sich aus der Position eines Gesichtsfeldes ergeben, ein. Die zeitliche Perspektive berücksichtigt Zeit als entscheidenden Faktor von Veränderungen im Wissen und Bewerten von Geschehnissen. Die sprachliche Perspektive fragt danach, welche Sprache der Erzähler spricht (vgl. Lahn/Meister (2008): Erzähltextanalyse, S. 111), ob er das Geschehen in den eigenen oder in den Worten einer Figur wiedergibt. Die Analyse des Sprachduktus bezieht sich unter anderem auf die Verwendung bestimmter Ausdrücke und Intonationen, womit sprachliche und ideologische Perspektive häufig einhergehen. Die Differenzierung zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen spielt für die sprachliche Perspektive keine Rolle, vgl. Schmid (2008): Elemente, S. 130–137. Ein Erzähltext muss nicht immer alle der fünf genannten Konstanten der Erzählperspektive enthalten. Aus diesem Grund empfiehlt es sich vor allem für kürzere Abschnitte, die Analyse nach bestimmten Leit fragen vorzunehmen, die die Auswahl der Geschehensmomente, deren Bewertung sowie die Sprache des Erzählens betreffen, vgl. ebd., S. 153. 87 Das Umgekehrte folgt daraus jedoch nicht: Ein Erzähler kann das Bewusstsein einer Figur beschreiben, ohne deren perzeptive Perspektive zu übernehmen.
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in den Hintergrund, der Text erhält den Charakter einer szenischen Darstellung und nähert sich damit der Dramenform an. Da die Figurenrede ein hohes Maß an Authentizität erzeugt, kommt ihr als textgestaltendes Moment eine besondere Bedeutung zu: „Show, don’t tell“ lautet dementsprechend auch gegenwärtig der meist gegebene Hinweis für anschauliches Schreiben, der in der angloamerikanischen Erzähltheorie seinerzeit in das Begriffspaar „showing“ und „telling“ gegossen wurde.88 Gezeigt wird in einem Text dadurch, dass der Erzähler seine Figuren durch unterschiedliche Formen der Redewiedergabe ‚sprechen‘ lässt und dadurch hinter sie zurücktritt. Diese Formen sind durch eine „graduelle Abnahme der Wörtlichkeit“ gekennzeichnet89 und können idealtypisch als drei Redeformen identifiziert werden: Die direkte, grafisch mittels Anführungszeichen gekennzeichnete Rede erweckt den Eindruck der wortgetreuen Wiedergabe einer mündlichen Äußerung. Bei der indirekten oder transponierten Rede wird eine wörtliche Äußerung in die indirekte Form übertragen, wobei das Gesagte zumeist durch eine InquitFormel, die den Sprecher benennt und dessen Sprechart kennzeichnet, eingeleitet wird. In der erzählten Figurenrede gibt die Erzählinstanz eine Figurenäußerung in eigenen Worten wieder; dabei kann die Wiedergabe auf die notwendigsten Informationen verknappt werden. Die Figurenrede bezieht auch mentale Prozesse wie Gedanken, Gefühle oder Wahrnehmungen einer Figur ein, die als innerer Monolog, erlebte Rede oder Bewusstseinsbericht präsentiert werden können. Die Darstellung des Innenlebens einer Figur gilt in der Erzähltheorie gemeinhin als typisches Fiktionalitätsmerkmal. Somit existieren zwei grundsätzlich voneinander zu unterscheidende Möglichkeiten, ein Geschehen darzustellen: die narratoriale Perspektive oder Sicht der Erzählinstanz sowie die figurale Perspektive, die Figurensicht, wenngleich die Perspektive nicht unzweifelhaft figural oder narratorial gestaltet sein muss.90 88 Der britische Schriftsteller Percy Lubbock forderte in seiner 1921 veröffentlichten Schrift The craft of fiction, der ersten systematischen Darlegung von Spannungserzeugung als literarischer Technik, dass moderne Romanautoren nicht erklären, sondern zeigen sollen, um eine optimale Illusionsbildung beim Leser zu erwirken. Vgl. Martínez/Scheffel (1999): Einführung Erzähltheorie, S. 48. Später wurde das Modell des showing mit dem Hinweis kritisiert, dass die Annahme einer durch die Erzählinstanz fingierten Redewiedergabe die Tatsache verdecke, dass alles Erzählen letztlich auf dem diegetischen Modus, dem telling, beruhe. Das Modell ist deshalb in der Erzähltheorie in die Kritik geraten, vgl. Lahn/Meister (2008): Erzähltextanalyse, S. 119. 89 Lahn/Meister (2008): Erzähltextanalyse, S. 121. 90 In der modernen Literatur ist der Wechsel auf den unterschiedlichen Parameterebenen verbreitet, vgl. Schmid (2008): Elemente, S. 152. Die von Schmid als „distributiv“ bezeichnete Perspektivenstruktur wird in der Narratologie auch unter dem Begriff der Multiperspektivität diskutiert, vgl. den von Ansgar und Vera Nünning herausgegebenen Sammelband: Multi perspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. und 19. Jahrhunderts. Trier: WVT 2000. Zur Vielfalt der Konzeptualisierungsmöglichkeiten von Erzählperspektive vgl. die Beiträge von Nünning/Nünning in diesem Band. Als Faustregel gilt: Wo keine eindeutig auszumachende figurale Perspektive vorliegt, geht die
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Beide Perspektivenformen sind gleichermaßen ein Fiktionalitätsausweis, insofern sie das von Wolf Schmid identifizierte Kriterium für die Brechung von Wirklichkeit erfüllen: eine perspektivisch geleitete Auswahl der Geschehensmomente durch die Erzählinstanz.91
b) Erzählfrequenz: das Element der Wiederholung Erzähltheoretisch gehören Wiederholungen in den Bereich der Zeitstruktur von Texten. Die narratologische Analyse von Wiederholungsstrukturen bezieht sich auf die Frage, wie oft ein Ereignis innerhalb eines Erzähltextes berichtet wird. Narrative Zeitlichkeit wurde erstmalig von Gérard Genette systematisch behandelt. Dessen Begriff der Erzählfrequenz bezieht sich auf das Verhältnis von Handlungs- und Darstellungsebene, und geht der Frage nach, wie oft ein Geschehen sich ereignet und wie häufig es im Text abgebildet wird.92 Genette differenziert vier verschiedene Formen von Frequenzbeziehungen: Beim singulativen Erzählen, dem Regelfall in Erzähltexten, wird ein einmaliges Ereignis auch nur einmal erzählt. Das anaphorische Erzählen schildert ein sich wiederholendes Ereignis immer wieder aufs Neue, etwa das allmorgendliche Aufstehen zu einer bestimmten Uhrzeit.93 Im repetitiven Erzählen wird ein Geschehen mehrfach berichtet, zum Beispiel aus unterschiedlichen Figurenperspektiven oder zu verschiedenen Zeiten und Entwicklungsstufen ein und derselben Figur. Das iterative Erzählen berichtet ein mehrmalig stattgefundenes Ereignis nur einmal. Die beiden letztNarratologie von einer narratorialen aus. Die narratoriale, an eine Erzählinstanz geknüpfte Perspektive liegt mithin auch dann vor, wenn die Erzählung scheinbar objektiv, ohne dass ein individueller Erzähler markiert ist, verläuft. Mit dieser Prämisse wird letztlich das Genette’sche Konzept einer Nullfokalisierung verneint. 91 Die Nähe dieser Prämisse zur weiter oben erwähnten Geschichtstheorie Hayden Whites ist unverkennbar. Allerdings geht White über die bloße Tatsache, dass der Historiograf das Material selektiert und damit seine eigene Geschichtsdarstellung entwirft, hinaus. Mit der Hypothese des Emplotments von Geschichtsschreibung nach grundlegenden poetologischen Mustern parallelisiert White historische und fiktionale Erzählung und hebt damit die strenge Trennung zwischen den Genres auf. Freilich war die Kritik an der Idee einer vermeintlich zeitlosen Substanz von Geschichte und Betrachter bereits zuvor formuliert worden, etwa durch den britischen Historiker Robin George Collingwood (1898–1943). Dieser schrieb in seinem posthum erschienenen Spätwerk The Idea of History (1946): “[H]istory is nothing but the reenactment of past thought in the historian’s mind“, zit. n. Jauß, Hans Robert (1970): Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt: Suhrkamp, S. 171. 92 Vgl. Genette, Gérard (2010): Die Erzählung, S. 73–102. Er entwickelte insgesamt vier Typen von Frequenzbeziehungen: singulatives (aphorisches bzw. multisingulatives), anapho risches, repetitives sowie iteratives Erzählen. 93 Diese Form der Wiederholung findet sich häufig im postmodernen Roman und gilt als parodistisches Moment, zum Beispiel zur Verdeutlichung der Monotonie des Alltäglichen, Vgl. Marsden, Peter H. (2004): Zur Analyse der Zeit. In: Wenzel, Peter (Hg.): Einführung in die Erzähltheorie. Kategorien, Modell, Probleme. Trier: Wissenschaftlicher Verlag, S. 103.
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genannten Wiederholungsformen unterscheiden sich auf der Erzählebene: Während repetitives sich auf die Ebene des Wie des Erzählens (Diskurs) bezieht, wird beim iterativen das Was des Erzählens (Story) in den Blick genommen. Zusätzlich zur Erzählfrequenz, die die Häufigkeitsbeziehung von realem und erzähltem Ereignis innerhalb des Textes beschreibt, existiert eine Reihe weiterer Elemente der Zeitgestaltung, die für die Analyse von Erzähltexten von Belang sind, beispielsweise der grammatische Tempusgebrauch oder Zeitangaben innerhalb des Textes. Neben der eher technischen idealtypischen Differenzierung verschiedener Frequenzbeziehungen sind Genettes grundsätzliche Überlegungen zur Wiederholung auch für die religionswissenschaftliche Forschung relevant. Wiederholung versteht er vor allem als vereinheitlichendes Wahrnehmungsprinzip, das bestimmte Ähnlichkeiten erst herstellt: „In Wirklichkeit ist die ‚Wiederholung‘ ein Konstrukt des Geistes, der aus jedem Einzelfall alles Individuelle eliminiert und nur das zurückbehält, was allen Fällen einer Klasse gemeinsam ist, ein Abstraktum also: ‚die Sonne‘, ‚der Morgen‘, ‚aufgehen‘. Das ist wohlbekannt, und ich erinnere nur daran, um ein für allemal klarzustellen, dass es sich bei dem, was ich hier ‚identische Ereignisse‘ oder ‚Wiederkehr desselben Ereignisses‘ nenne, um eine Reihe ähnlicher Ereignisse handelt, die allein unter dem Blickwinkel ihrer Ähnlichkeit betrachtet werden [Hervorh. i. Orig.].“94
Die Genette’schen Überlegungen sind wahrnehmungsorientiert. Anstatt nach der Frequenz einzelner Ereignisse in einem Erzählgeschehen zu fragen, wird Wiederholung hier als Gesamtstruktur konstruiert, was diese für die (religionswissenschaftliche) Ritualforschung und die Frage nach der Bedeutung von Wiederholung relevant macht95 und zudem der Untersuchung des Materialkorpus entgegenkommt. Eine narrationsbezogene Ritualanalyse könnte beispielsweise aphorische bzw. multi-singulative Wiederholungsstrukturen in den Blick nehmen. 94 Genette (2010): Erzählung, S. 73. 95 Zur Wiederholung als Thema der Religionswissenschaft vgl. Baudy, Dorothea (2001): Wiederholung. In: HrwG Band 5, S. 366–374, bes. 367 f.; ausführlicher in: dies. (1998): Römische Umgangsriten. Eine ethologische Untersuchung der Funktion von Wiederholung für religiöses Verhalten. Berlin/New York: de Gruyter, bes. S. 21, 30 f., 35–37. In der Religionswissenschaft ist mehrfach darauf verwiesen worden, dass das Moment der Wiederholung ein zentrales Prinzip der religiösen Unterweisung bildet, das über das rein repetitive „sinnentleerte“ Wiederholen weit hinausgeht, vgl. Auffarth, Christoph (2005): Art. Ritual. In: ders./Bernard, Jutta/Mohr, Hubert (Hg.): Metzler Lexikon Religion Band 3. Stuttgart: Metzler, S. 219 sowie Stausberg, Michael (2004): Art. Ritus/Ritual. In: RGG Band 7. Tübingen: Mohr Siebeck, 4., völlig neu bearbeitete Auflage, S. 548. Michael Stausberg schlägt mit dem Verweis darauf, dass kein motorischer Akt identisch reproduziert wird, anstelle des Terminus der Wiederholung den Begriff des „Mimesis-Konzeptes“ vor, das auf die performative Dimension des Ritualverhaltens fokussiert, vgl. ders. (2001): Kohärenz und Kontinuität. Überlegungen zur Repräsentation und Reproduktion von Religionen. In: ders. (Hg.): Kontinuitäten und Brüche in der Religionsgeschichte. Berlin/New York: de Gruyter, S. 596–619, hier: 605. Als zentraler Bestandteil bildet die Wiederholung zudem eine zentrale Struktur religiöser Texte.
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In Romanen ausschließlich parodistisches Moment, sind diese für das Ritual von unmittelbarer Bedeutung, was zeigt, dass Wahrnehmung und Beurteilung bestimmter Wiederholungsstrukturen vom Genre eines Textes abhängen. Mit den Konzepten Autor, Leser und Erzählinstanz, der Erzähler- und Figurenrede als Konkretion der Erzählperspektive sowie mit den unterschiedlichen Frequenzbeziehungen eines Textes wurden Merkmale des Wie des Erzählens erläutert. Über die Differenzierung der Sender- und Empfängerinstanzen wurde zudem deutlich, dass die Analyse der Textstruktur rezeptionstheoretische Überlegungen berührt, die im folgenden Teil ausführlich in den Blick genommen werden.
3.3 Mechanismen der Textrezeption: Wie Bedeutung erzeugt wird Die Wirkung literarischer Texte wird im Rahmen leserorientierter Fragestellungen untersucht, die unter dem Sammelbegriff Rezeptionstheorie bzw. Textverstehensforschung subsumiert werden. Die Rezeptionstheorie lässt sich grob in drei Ansätze differenzieren: die klassische Rezeptionsästhetik, die empirische Literaturwissenschaft sowie die Cognitive Poetics.96 Alle drei Ansätze beschäftigen sich mit der Rolle des Lesers und dessen Aktivität während der Lektüre, verwenden dafür aber unterschiedliche Methoden und Ansätze.97 Die Entwicklung rezeptionsorientierter Arbeiten ist eine Reaktion auf die seit dem 19. Jahrhundert bestehende Interpretationstradition literarischer Werke, die bis weit in die 1960er Jahre hinein vorherrschend war und den historischen Autor und dessen Biografie für die Interpretation eines Werkes in den Vordergrund stellte.98 Mit dem Reader Response oder New Criticism war schließlich ein Paradigmenwechsel vollzogen, der „Vom Autor über den Text zum Leser“ führte und die literaturtheoretische Differenzierung zwischen Autor und Erzählinstanz 96 Vgl. Köppe, Tilmann/Winko, Simone (2007): Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft/Abschnitt Leserorientierte Theorien und Methoden. In: Anz, Thomas (Hg): Handbuch Literaturwissenschaft Band 2: Methoden und Theorien. Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 324–336. 97 Vgl. Schneider, Ralf (2010): Methoden rezeptionstheoretischer und kognitionswissenschaftlicher Ansätze. In: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hg.): Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Stuttgart/Weimar: Metzler, 71–90, hier: 72. 98 Wissenschaftsgeschichtlich löste die Rezeptionsästhetik die seit den 1940er Jahren vorherrschende Darstellungsästhetik ab, die die Autonomie des Kunstwerks propagierte und dessen literarische Strukturen in den Blick nahm. Ihr vorangegangen war die Produktionsästhetik, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts Künstler und Schaffensprozess in den Mittelpunkt stellte. Vgl. Haefner, Gerhard (2004): Rezeptionsästhetik. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden. Eine Einführung. Trier: WVT, S. 107–118, hier: S. 107
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etablierte (vgl. auch Abschnitt 3.2.1a). Wenn die Erzeugung von Bedeutung der Schlüssel zum Funktionieren von Texten ist, stellt sich die Frage: Wie arbeiten Verstehens- und Lenkungsprozesse im Einzelnen? Parallel zum anglo-amerikanischen New Criticism leisteten die Konstanzer Literaturtheoretiker Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser im deutschsprachigen Raum Pionierarbeit für die Erforschung des Verhältnisses von Autor, Leser und Text. Ihr Konzept einer Rezeptionsästhetik suchte das Interpretationsprimat zu überwinden und stattdessen die auf der Textebene stattfindende Beziehung zwischen Text und Leser zu theoretisieren.99 Die Rezeptionsästhetik gliedert sich grob in zwei Unterbereiche: Rezeptionsgeschichte und Wirkungstheorie.100 Nach dem Romanisten Hans Robert Jauß entfaltet sich das Bedeutungspotential eines Werkes erst in dessen Rezeptionsgeschichte. Mit seinem literaturgeschichtlichen Ansatz hermeneutischer Tradition legt Jauß eine Theorie und Methodologie der Interpretation vor, die er selbst als „methodische Reflexion“101 verstanden wissen will, und die er grundlegend in seiner 1967 gehaltenen und berühmt gewordenen102 Konstanzer Antrittsvorlesung Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft entwickelte.103 Sie wurde später als Beginn der rezeptionsästhetischen Wende oder „Konstanzer Schule“ interpretiert. Ausgehend von der Frage, wie ein Text im Lauf der Zeit beim Publikum aufgenommen wird, liefert Jauß einen programmatischen Entwurf einer rezeptions- und wirkungsästhetisch orientierten Literaturgeschichte, 99 Freilich sind im Rahmen der rezeptionsästhetischen Wende weitere Konzepte zur Theoretisierung des Lesers entstanden. Sie reichen von Ecos „Modellleser“ über Isers impliziten und Wolffs intendierten bis hin zum „abstrakten Leser“. Als enzyklopädischen Überblick vgl. den Artikel von Ralf Schneider (2005): Reader Constructs. In: Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, hg. von David Hermann u. a. London, S. 482 f. Einen knappen, sehr guten Überblick über die wichtigsten Rezeptionstheorien bei: Strasen, Sven (2008): Rezeptionstheorien. Literatur-, sprach- und kulturwissenschaftliche Ansätze und kulturelle Modelle. Trier: WVT, S. 43–127. 100 Vgl. dazu: Köppe, Tilmann/Winko, Simone (2007): Leserorientierte Theorien und Methoden. In: Anz, Thomas (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft Band II: Methoden und Theorien. Stuttgart: Metzler, 324–336, hier: S. 324. 101 So Hans Robert Jauß in: Racines und Goethes Iphigenie – Mit einem Nachwort über die Partialität der rezeptionsästhetischen Methode. In: Warning, Rainer (Hg.) (1975): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München: Fink, S. 380–400, hier: S. 381. 102 In den 1970er und 1980er Jahren wurde kein anderer literaturwissenschaftlicher Artikel in Westdeutschland so breit rezipiert wie Jauß’ Antrittsvorlesung. Dass dessen Terminologie sogar in der Tagespresse, zum Beispiel in einem Fußballbericht, Verwendung fand, führte Jauß seinerzeit selbst an. Vgl. Holub, Robert C. (1984): Reception theory. A critical introduction. London/New York: Methuen, S. 69. Darüber hinaus wurden Jauß’ theoretische Überlegungen auch in den USA einflussreich, vgl. ebd. 103 Jauß, Hans Robert (1970): Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt: Suhrkamp, S. 144–207. Dieser Text bildet eine Ausarbeitung der ursprünglichen Version, die in der Reihe Konstanzer Universitätsreden 1967 erstveröffentlicht wurde.
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die den Leser als Adressaten ins Zentrum rückt.104 Nach Jauß ist die Aufnahme eines Werkes keineswegs willkürliche Folge subjektiver Eindrücke, sondern „der Vollzug bestimmter Anweisungen in einem Prozeß gelenkter Wahrnehmung“ und demnach unmittelbar aus dem Werk selbst rekonstruierbar.105 Die Rezeption wird zudem über den literarischen „Erwartungshorizont“ gesteuert: dem Gattungsvorverständnis, der Form und Thematik bekannter Werke sowie dem Gegensatz von poetischer und praktischer Sprache. Mit seinem Plädoyer für die Historisierung von Textverständnissen – anhand der Rekonstruktion des Erwartungshorizonts sei rückführbar, „wie der einstige Leser das Werk gesehen und verstanden haben kann“106 – übt Jauß grundlegende Kritik an der Vorstellung von einem „,zeitlos wahre[n]‘ Sinn“, der sich dem Interpreten durch „bloße Versenkung in den Text“ erschließt und negiert einen überzeitlich konstant bleibenden Leser. Diese Annahmen verdeckten „die wirkungsgeschichtliche Verflechtung, in der das historische Bewußtsein selber steht“.107 Mit dem Entwurf einer leserbezogenen Literaturgeschichte war ein wichtiger Schritt für die systematische Untersuchung des Rezeptionsprozesses getan, der, über die Grenzen der Literaturwissenschaft hinaus, auch der Religionswissenschaft wichtige Impulse liefern kann.108 Jauß entwickelte seine programmatischen Ideen im intellektuellen Klima der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik, deren erklärtes Ziel es war, epistemologische und methodische Ansätze transdisziplinär zu diskutieren.109 104 Vgl. Jauß (1970): Literaturgeschichte als Provokation, S. 169. In seiner ersten These liefert er dazu eine entsprechende Programmatik der Literaturgeschichte: „Die Geschichtlichkeit der Literatur beruht […] auf der vorgängigen Erfahrung des literarischen Werkes durch seine Leser.“ Ebd., S. 171. Literaturgeschichte ist demnach als wechselseitiger Rezeptionsprozess zwischen Leser, Kritiker und Schriftsteller zu verstehen, vgl. ebd. S. 172. 105 Jauß (1970): Literaturgeschichte als Provokation, S. 173. 106 Jauß (1970): Literaturgeschichte als Provokation, S. 183. 107 Jauß (1970): Literaturgeschichte als Provokation, S. 185; Jauß verweist an dieser Stelle ausdrücklich auf Gadamers epistemologische Grundlegungen in dessen Werk Wahrheit und Methode. 108 Michael Stausberg hat das Jauß’sche Konzept auf die Religionsgeschichtsschreibung angewendet. In der Einleitung zu seiner Dissertation formuliert er Religionsgeschichte programmatisch als Rezeptionsgeschichte: „Eine strikte rezeptionsgeschichtliche Perspektive steht im Gegensatz zu der Annahme einer Selbstwirksamkeit und prädisponierten Bedeutung von (‚heiligen‘) Texten und Konzeptionen. Die Rezeptionsgeschichte hat dem gegenüber etwa auf kreative Deutungsprozesse, Interpretationsleistungen Interpretengruppen und Institutiona lisierungen von Texten, Themen und Konzeptionen zu achten.“ Vgl. ders. (1998): Faszination Zarathustra. Zoroaster und die Europäische Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit. Berlin: de Gruyter. Teil 1, S. 3. 109 Ursprünglich auf eine universitätspolitisch motivierte Initiative von Hans-Georg Gadamer zurückgehend, der 1955 als Arbeitsrahmen für interdisziplinäre Zusammenarbeit der Geisteswissenschaften eine Kommission für begriffsgeschichtliche Forschungen an der Universität Gießen anregte, entwickelte sich auf Initiative von Hans Blumenberg und Hans Robert Jauß ab 1963 eine eigene Forschungsgruppe, die ihren Schwerpunkt mit der Berufung einiger
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Das Jauß’sche Konzept lieferte wichtige Grundlagen für die wirkungstheoretischen Analyseansätze des Anglisten Wolfgang Iser. Während die von Jauß entwickelte Rezeptionsgeschichte die historisch-literaturgeschichtliche Dimension des Textverstehens behandelt, fokussiert der texttheoretisch-phänomenologische Ansatz Isers die Konstitution und Wirkungsbedingungen des Textes.110 Ausgehend von Jauß’ Hypothese der gelenkten Textrezeption entwickelt Iser einen wirkungsästhetischen Ansatz, den er in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Konstanz im Jahr 1969 unter dem Titel Die Appellstruktur der Texte erstmals formuliert.111 Im Gegensatz zur stärker soziologisch orientierten Rezeptionsanalyse will Iser seine Frage nach der Wirkung von Texten ausschließlich als texttheoretischen Ansatz verstanden wissen, dessen Mechanismen er als eine dem Text inhärente Struktur beschreibt, die das narrative Verstehen eines Werkes, dessen „Sinnkonstitution“, beeinflussen. Seine Ausgangsfrage lautet: Wie bringt der Text den Leser dazu, sich bestimmte Vorstellungen über die erzählte Welt zu bilden? Die Hypothese, dass die Vorstellungsbildung eine textinterne Funktion bildet, später als impliziter Leser theoretisiert, konkretisiert er mit dem in eine kognitiv orientierte Wirkungstheorie eingebetteten Konzept der Leerstelle, auf die gesondert eingegangen wird. Insgesamt ist die Rezeptionsästhetik weder Leseanleitung noch Theorie der Interpretation. Sie ist nicht empirisch ausgerichtet, sondern beansprucht, über die Theoretisierung von Aufbau und Struktur literarischer Texte, mithin über die Theoretisierung des Leseaktes, einen Beitrag zur Textverstehensforschung zu leisten.112 Obwohl die Annahme von der Interaktion zwischen Text und Leihrer Mitglieder seit 1966 an die Universität Konstanz verlagerte. Aus den regelmäßigen Treffen zwischen 1963 und 1994 gingen insgesamt siebzehn Tagungsbände hervor, die bis heute Anerkennung für ihre grundlegenden theoretischen Überlegungen verdienen. Für die Religionswissenschaft interessant wären zum Beispiel Band 4 (1971): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, hg. von Manfred Fuhrmann; von grundlegendem Interesse auch für die religionsgeschichtliche Forschung: Band 5 (1973): Geschichte – Ereignis und Erzählung, hg. von Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel sowie Band 10 (1983): Funktionen des Fiktiven, hg. von Dieter Henrich und Wolfgang Iser u. a. Im Jahr 1994 wurde die Gruppe schließlich aufgelöst. Ein „Epilog“ auf die Forschungsgruppe von Hans Robert Jauß erschien 1998 posthum – Jauß war inzwischen verstorben – im letzten Band Kontingenz, hg. von Gerhart von Graevenitz und Odo von Marquard. München: Fink. Obwohl die Forschungsgruppe wegweisend für die Entwicklung der Geisteswissenschaften in Deutschland war, existiert bislang noch keine umfassende wissenschafts- und theoriegeschichtliche Aufarbeitung. Ein derzeitiges Konstanzer Forschungsprojekt im Rahmen des Exzellenzclusters Kulturelle Grundlagen von Integration ist daran, diese Lücke zu füllen, vgl. drei Artikel in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) Band 35 (Dezember 2010), Heft 2, Seiten 136–157. 110 Vgl. Köppe/Winko (2007): Leserorientierte Theorien, S. 324. 111 Vgl. Iser, Wolfgang (1975): Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. In: Warning, Rainer (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München: Fink, S. 228–252. Der Text wurde erstmals 1970 im Konstanzer Universitätsverlag veröffentlicht. 112 Köppe/Winko (2007): Leserorientierte Theorien, S. 327.
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ser in der Literaturwissenschaft insgesamt unstrittig ist, und die Terminologien von Jauß und Iser auch heute noch in Verwendung sind113, ist die klassische Rezeptionsästhetik in der Literaturwissenschaft stark in die Kritik geraten.114 Das Konzept des impliziten Lesers schien zu stark an normative Voraussetzun gen gebunden und zu wenig an tatsächliche Verstehensprozesse der Lektüre orientiert115, der Aspekt der Interaktion insgesamt zu schwammig116, so dass die Rezeptionsästhetik seit den 1980er Jahren durch die an die Rezeptionsgeschichte anknüpfende empirische Rezeptionsforschung ergänzt bzw. durch sie ersetzt worden ist.117 In einem Punkt sind sich die im Lauf der Zeit entstandenen diversen Rezeptionstheorien allerdings einig geblieben: Sie gehen von einer Interaktion zwischen Text und Leser aus: „Es kann keine Textbedeutung ohne Leseraktivität geben, aber auch keine Leseraktivität unabhängig vom Rezeptionsangebot des Textes.“ Unterschiede bestünden lediglich in der Gewichtung der zu untersuchenden Seite (Empfänger oder Sender) sowie der Konzeption des Interaktionsprozesses.118 Außerhalb der literaturwissenschaftlichen Debatte fing die
113 Vgl. Strasen, Sven (2008): Rezeptionstheorien, S. 81. 114 Beispielsweise wurde die Unklarheit über die normativen Maßstäbe für Interpretation und Wertung bemängelt (vgl. dazu Köppe/Winko 2007: Leserorientierte Theorien, S. 327 f.) oder gefragt, inwieweit die Analyse von Leserpsychologie und -soziologie noch als literaturwissenschaftliches Thema verantwortet werden könne, vgl. Warning, Rainer (1975): Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik. In: ders. (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München: Fink, S. 9–41, hier: S. 25. Auch der Begriffsapparat war vielen zu unscharf, vgl. Köppe/Winko (2007): Leserorientierte Theorien, S. 327. Der Hauptvorwurf bezog sich auf die Ausklammerung des tatsächlichen Lesers, womit „nicht der Leser, sondern eine im Text enthaltene Vorstellung vom Publikum“ ins Zentrum rücke, der Interpret also seine eigene Rezeption unreflektiert einbeziehe. Vgl. Dablé, Nadine (2012): Leerstellen transmedial. Auslassungsphänomene als narrative Strategie in Film und Fernsehen. Bielefeld: transcript, S. 22. 115 Vgl. Köppe, Tilmann/Winko, Simone (2008): Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 85. 116 Schneider, Ralf (2013): Making Sense. Ziele, Möglichkeiten und Grenzen einer kognitiven Rezeptionstheorie. In: Brahier, Gabriela/Johannsen, Dirk (Hg.): Konstruktionsgeschichten. Narrationsbezogene Ansätze in der Religionsforschung. Würzburg: Ergon, S. 37–53, hier: 37 f. 117 Die empirische Rezeptionsforschung zählt eher zum Bereich der Literatursoziologie und (Leser-)Psychologie. Sie ist als eigenständige Richtung der Literaturwissenschaft aus dem Methodenstreit der 1970er Jahre hervorgegangen und stellt die tatsächlichen Rezeptionsprozesse der Leserschaft ins Zentrum. Diese werden mit dem Methodenapparat der empirischen Sozialforschung untersucht. Im Laufe der Zeit haben sich zwei Hauptrichtungen herausgebildet: die „Siegener Schule“ um den Philosophen und Kommunikationswissenschaftler Siegfried J. Schmidt sowie die „Heidelberger Schule“ um den Psychologen und Germanisten Norbert Groeben. Eine erfahrungswissenschaftlich fundierte Literaturwissenschaft gab es zuvor bereits im englischsprachigen Raum im Umfeld der kognitionspsychologischen Forschung. Vgl. Köppe/Winko (2007): Leserorientierte Theorien, S. 328 f. 118 Vgl. Schneider, Ralf (2004): Rezeptionstheorien. In: ders. (Hg.): Literaturwissenschaft in Theorie und Praxis. Tübingen: Narr, S. 189–211, hier: 208.
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breite Auseinandersetzung mit Rezeptionsgeschichte und Wirkungstheorie allerdings erst in den 1990er Jahren an.119 Insgesamt hat die Konstanzer Schule – bei aller Kritik – einen bahnbrechenden Beitrag zur internationalen literaturwissenschaftlichen Methodendiskussion geleistet120, ihre theoretischen Grundlegungen sind auch für andere akademische Disziplinen immer noch von Wert. Wissenschaftsgeschichtlich war es gerade die kritische Auseinandersetzung mit dem idealisierten Leserkonstrukt, aber auch mit der These von der normativen Regulierung der Interpretation, die die Forschung zum Rezeptionsprozess in Richtung kognitive Fragestellungen vorantrieb. Der Rezeptionsästhetik kommt somit in gewisser Hinsicht eine VordenkerFunktion für die gegenwärtige kognitive Narratologie zu.121 Diese liefert weitere wichtige Impulse zur Theoretisierung der Bedeutungsebene.
a) Die Steuerung von Leseraffekten durch Wissensvermittlung und Informationsvergabe Begreift man Erzählen als Mittel der Wissensbildung122, ist die Untersuchung der Wirkmechanismen eines Textes eng an die Frage nach der narrativen Vermittlung von Informationen gebunden. Das Zusammenspiel von Wissensvermittlung und Informationsvergabe lässt sich grob vereinfacht als „Kommunikationsstruktur“ zwischen Text- und Leserebene beschreiben, die durch die Verwendung nar 119 Sönke Finnern verweist auf die Exegese, wo die Ansätze von Jauß und Iser auch heute einen wichtigen Ansatz bilden, vgl. ders. (2010): Narratologie und Exegese, S. 187 f. Auch in der Religionswissenschaft hat der Theorieimport erst viel später begonnen; die 1960er und 1970er Jahre waren von Debatten um die Religionsphänomenologie bzw. die Neubestimmung einer „systematischen Religionswissenschaft“ geprägt. 120 So Nadine Dablé, die die Rezeptionsästhetik gar als den „wohl […] einzigen bemerkenswerten innovativen Beitrag der deutschsprachigen Literaturwissenschaft nach 1945 zur internationalen Methodendiskussion“ bezeichnet, vgl. dies. (2012): Leerstellen transmedial, S. 23 f. 121 Vgl. Schneider, Ralf (2010): Methoden rezeptionstheoretischer und kognitionswissenschaftlicher Ansätze, S. 71. Sven Strasen dazu: „Bei aller Kritik an Isers Position muß festgehalten werden, daß die Literaturwissenschaft ihm wichtige Einsichten in den Rezeptionsprozeß verdankt. So ist es zweifellos ein großes Verdienst Isers, im Anschluß an Ingarden den Begriff der Unbestimmtheit in der literaturwissenschaftlichen Diskussion etabliert zu haben. Iser erkennt damit auch, daß sprachliche Äußerungen stets verschiedene Aktualisierungen durch Rezipienten ermöglichen. Damit eröffnet er eine Perspektive auf den literarischen Kommunikationsprozeß, die viele der Einsichten über den Zusammenhang von Weltwissen und Bedeutungszuweisen, wie sie etwa von der Schematheorie und anderen kognitionstheoretischen Ansätzen vorgestellt werden, vorwegnimmt oder vorbereitet.“ Ders. (2008): Rezeptionstheorien, S. 81 f. 122 Vgl. Lahn/Meister (2008): Erzähltextanalyse, S. 158 f. Die Autoren nennen drei Funktionen des Erzählens für die Wissensbildung: Wissensaneignung, Wissensspeicherung und Wissensvermittlung. Die Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Erzählen schließt auch an die Betrachtung der Beziehung zwischen Erzählinstanz und Gegenüber an, die im Abschnitt Leserkonzepte thematisiert wurde.
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rativer Elemente wie Erzählperspektive und Zeitlichkeit angeregt wird. Dies machen sich auch nicht-fiktionale Texte wie Sach- und Lehrbücher zur Vermittlung historischer Ereignisse oder abstrakter Modelle zunutze. Dadurch gewinnt das Erzählen seine Bedeutung als Mittel zur Wissenserzeugung: „Die Rezeptionswirkung eines Textes [ist] ein Ereignis des menschlichen Geistes“123, wobei der Wissensprozess durch „rezeptionsästhetisches Kalkül“124 gesteuert wird. Durch gezielte Informationsvergabe oder -enthaltung erzeugt ein Text in der Wahrnehmung des Lesers Neugier und Spannung und wirkt somit auf die Leseraffekte ein. Die Steuerung eines Wissensprozesses ist an weitere Faktoren gebunden, die sich für fiktionale und faktuale Texte deutlich unterscheiden. Für fiktionale Texte gilt: Voraussetzung für die gelungene Kommunikation zwischen Text und Rezipient, in der der Text als „glaubhaft“125 eingestuft wird, ist nicht dessen Wahr heitsgehalt in einem übergeordneten Verständnis, sondern die narrative Kohärenz, also die Widerspruchsfreiheit der geschilderten Ereignisse nach den Maßstäben der erzählten Welt.126 Die Frage nach der textinternen Logik oder Kohärenz wird innerhalb der Narratologie auch unter dem durchaus missverständlichen Terminus der narrativen Sinnbildung diskutiert, wenngleich dieser keinen Leitbegriff in der Debatte bildet.127 ‚Sinn‘ transportiert weder substantiellen Gehalt in Form einer unbestimmten ‚transzendenten‘ Komponente, noch ist damit eine umgangssprachlich formulierte Interpretationshypothese gemeint.128 Im klassisch rezeptionsästhetischen Verständnis meint ‚Sinn‘ die textintern verankerte Vorstellungsbildung129, die, als Steuerungselement verstanden, ein wesentliches Strukturmerkmal fiktionaler Texte bildet.130 Nur wenn diese Prämisse 123 Schneider (2013): Making sense, S. 49. 124 Lahn/Meister (2008): Erzähltextanalyse, S. 161. 125 „Glaubwürdigkeit“ ist keine narratologische Kategorie; dort spricht man – auf Text strukturen bezogen – von der Überprüfung der textinternen Kohärenz als narrativer Sinnbildung. Innerhalb des theoretischen Rahmens der Cognitive Science ließe sich Glaubwürdigkeit als ein an den Text herangetragener Deutungsversuch beschreiben, der in Abhängigkeit zum kognitiven Aufwand des Verstehens, also der Reduktion möglicher Inkohärenzen, hergestellt wird. Vgl. Johannnsen, Dirk (2011): No time to philosophize? Norwegian Oral Tradition and the cognitive economics of belief. In: Martin, Luther/Sørensen, Jesper (Hg.): Past minds. Studies in Cognitive Historiography. London: Equinox, S. 83. 126 Vgl. Lahn/Meister (2008): S. 157. In Abhängigkeit zu den verschiedenen Dimensionen des Erzähltextes differenziert Martínez verschiedene Formen der Kohärenz: pragmatische Kohärenz, die Kohärenz der Erzählung sowie die der Geschichte, vgl. ders. (2011): Erzählen, S. 2–4. 127 Darauf weisen jedenfalls diverse Einführungen in die Erzähltheorie hin, in denen man den Sinnbegriff vergebens sucht. 128 Vgl. Köppe/Winko (2007): Leserorientierte Theorien, S. 326. Dass die narrative Sinnbildung häufig weniger eindeutig verläuft als es der Begriff evoziert, wird bei Abel, Julia/Blödern, Andreas/Scheffel, Michael deutlich, vgl. dies. (Hg.) (2009): Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung. Trier: WVT. 129 Vgl. Iser, Wolfgang (1994): Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: Wilhelm Fink, 4. Auflage. 130 Vgl. Köppe/Winko (2007): Leserorientierte Theorien und Methoden, S. 325.
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erfüllt ist, erzeugt der Text eine vom Leser als relevant eingeordnete Geschichte, in der das Vorenthalten einer Information auf der Rezipientenseite Wirkung entfaltet. Texte, die sich etwa auf Grund ihres paratextlichen Apparates als faktual präsentieren, werden zusätzlich an kontextuellen Kriterien gemessen. Neben der Kausalverkettung von Ereignissen und ihrer widerspruchsfreien Darstellung hängt die Glaubwürdigkeit faktualer Texte wesentlich davon ab, ob sie als gesichert geltende Informationen auf die übliche Weise darstellen, was sowohl den Inhalt als auch Genrefragen betrifft.131 Dies gilt für alle Texte, die eine gewisse Faktizität beanspruchen, sei es der historische Roman, der qua Eigenbezeichnung auf die Verwendung bestimmter Bausteine der faktualen Welt wie Ereignissequenzen oder Figuren angewiesen zu sein vorgibt132, sei es ein Schulbuch. Sofern in den Büchern etwas behauptet würde, das vom allgemein verbindlichen Wissen fundamental abweicht, wird der Leser dies zuerst irritiert zur Kenntnis nehmen und dann – wenn die Abweichung ohne weitere Plausibilisierung bleibt – nachhaltig an der Zuverlässigkeit der Darstellung zweifeln.133 Die Sinnkonstitution eines Textes kann auch aus stilistischen Gründen gestört werden. Wenn die Zuverlässigkeit des Erzählens durch Widersprüchlichkeiten oder absichtliche Fehlinformationen seitens der Erzählinstanz zweifelhaft wird, spricht die Narratologie vom unzuverlässigen Erzählen.134 Freilich ist jede Plausibilisierung an einen normierten Wissensbestand geknüpft, der als allgemein verbind 131 Genau dies hatte Jauß mit dem Begriff des „Erwartungshorizonts“ gemeint. Dieser wird besonders dann deutlich, wenn Gattungskonventionen aufgerufen, aber nicht vollständig eingelöst werden. 132 Vgl. Johannsen, Dirk (2011): Kognition und Narration, S. 8. Johannsen verweist an dieser Stelle auf die ausführliche Untersuchung der Literaturwissenschaftlerin Lisa Zunshine (2006): Why we read Fiction. Theory of Mind and the Novel. Columbus: Ohio State University Press, S. 65 ff. 133 Voraussetzung für einen Abgleich der Darstellung der Ereignisse ist freilich nicht nur der technisch mögliche, sondern vor allem der politisch gewollte Informationspluralismus, der für die DDR nicht zutraf. In der DDR herrschte de facto Medienzensur, die strafrechtlich durch eine Reihe von Paragraphen gestützt wurde. Zur Zensur von Literatur und Verlagswesen vgl. Barck, Simone/Langemann, Martina/Lokatis, Siegfried (Hg.) (1998): „Jedes Buch ein Abenteuer“. Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre. Berlin: Akademie Verlag. Das Zensursystem betraf auch die Wissenschaft; für den Bereich Geschichte vgl. das Sonderheft der Historischen Zeitschrift: Die DDR-Geschichtswissenschaft als Forschungsproblem und den darin enthaltenden Überblick über das Zensursystem für geschichtswissenschaftliche Literatur von Siegfried Lokatis (1998): Die Zensur historischer Literatur in der DDR unter Ulbricht. In: Historische Zeitschrift. Beihefte. Neue Folge, Bd. 27. München: Oldenbourg, S. 281–294. 134 Der Begriff „unreliable narration“ wurde von Wayne Clayton Booth geprägt. Zur Einführung in das Konzept vgl. auch Lahn/Meister (2008): Erzähltextanalyse, S. 182–187 sowie Strasen (2004): Erzählsituation, S. 133–135; Martínez/Scheffel (1999) differenzieren in verschiedene Formen des unzuverlässigen Erzählens, vgl. Einführung Erzähltheorie, S. 95–107, bes. S. 101–103. Zur Vertiefung vgl. den von Ansgar Nünning 1998 herausgegebenen Sammelband: Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens. Trier: WVT.
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lich und somit als ‚richtig‘ gilt. Anders ausgedrückt: Jede Rezeption von Narrativen verläuft nach einem grundlegenden „kognitive[n] Mechanismus“, dem „monitoring der Kohärenz von Intention und Text“.135 Dass die im Erzählprozess kombinierten Informationen ein Wissen erzeugen, das zum narrativen Verstehen führt, hängt allerdings ebenso von kulturellen Faktoren ab. Eine Geschichte kann nur dann verstanden werden, wenn ihre narrative Struktur auf für den Leser bekannten kulturspezifischen Codes basiert, die er selbst zur kohärenten Geschichte zusammensetzt und damit als bedeutsam einstuft. Narratives Wissen ist stets von verschiedenen kulturspezifischen Wissensstrukturen abhängig.136 Eine Abweichung von der narrativen Kohärenz kann unterschiedlich bewertet werden: Je nachdem, ob der Text in einem religiösen oder säkularen Zusammenhang steht, wirkt die erzählerische Unzuverlässigkeit verschieden auf die Textrezeption ein. Bestimmte Texte entwickeln für ihre jeweilige Überlieferungsgemeinschaft eine besondere Bedeutung, weil sie lebensbezogene oder universale Relevanz zu transportieren behaupten und werden infolgedessen terminologisch unterschieden: Sie gelten beispielsweise als heilige Texte, was in bestimmten Rezeptionsgemeinschaften über die den Texten zugeschriebene kontraintuitive Autorschaft begründet wird.137 Mit dieser verläuft die automatische Überprüfung der im Text gelieferten Informationen durch den Leser, das Monitoring von Kohärenz, nach anderen Kriterien: „Die Intentionalität einer kontraintuitiven Instanz ist […] prinzipiell nicht rückführbar, weil der ihr zugeschriebene Zugriff auf sozialstrategische Informationen und die sich ihm ergebenden Handlungsmöglichkeiten nicht überschaubar ist. Wird in religiösen Narrativen mit im Alltag oder in der Wissenschaft unstrittigen Fakten gebrochen, wird dies daher nicht in gleicher Weise textintern als problematisch empfunden. Es entwertet den Text nicht ‚reflexartig‘ wie im Falle säkularer Erzählungen, die innere Kohärenz bleibt gewahrt.“138 135 Johannsen (2011): Kognition und Narration, S. 7 f. 136 Vgl. Martínez/Scheffel (1999): Einführung Erzähltheorie, S. 145. 137 So Johannsen (2011): S. 7. Das Modell der Kontraintuitivität wurde von Pascal Boyer für die Religionswissenschaft fruchtbar gemacht: ders. (2001): Religion Explained. The Evolutionary Origins of Religious Thought. New York: Basic Books. Minimal „kontraintuitiv“ sind Konzepte oder Wesenheiten, die mit evolutiv verankerten Vorannahmen brechen, wie beispielsweise der Objektpermanenz (ein Mensch verschwindet plötzlich). Diese Konzepte finden sich laut Boyer vielfach in den Religionen, weil sie leicht vermittel- und memorierbar sind und ein umfassendes Schlussfolgerungspotenzial für den Rezipienten versprechen, vgl. auch Johannsen (2011): 5 f. Johannsen verweist auf zwei neuere Studien, die die These unterstreichen, dass der Einsatz kontraintuitiver Konzepte die Tradierung von Erzählungen begünstigen können: eine Arbeit zur Märchenüberlieferung sowie einen Beitrag zur Rezeption der Bibel, vgl. Norenzayan, Ara u. a. (2006): Memory and Mystery: The Cultural Selection of Minimally Counterintuitive Narratives. In: Cognitive Science 30, S. 531–553; Czachesz, István (2007): The transmission of early Christian thought. Toward a cognitive psychological model. In: Studies in Religion/ Sciences Religieuses 36, S. 165–183. 138 Vgl. Johannsen (2011): Kognition und Narration, S. 8.
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Erst eine distanzierte Form der Lektüre, wie beispielsweise die historisch-kritische Bibelexegese, erlaubt, die Angaben der Erzählinstanz in Frage zu stellen bzw. die Geschichte logisch erklärbar und quellenkritisch rückführbar zu analysieren. Dies geht jedoch auf Kosten ihrer Wirkung, wie Fritz Stolz in seinem grundlegenden Beitrag zu den Besonderheiten ‚religiöser Texte‘ als eigener Gattung nachdenkt. Laut Stolz stehen sich Wirkung und Interpretation eines religiösen Textes diametral gegenüber: „Die vollständige Umsetzung des Textes in (historische) Information macht diesen religiös unbrauchbar“, weil die Verlagerung religiöser Texte in Richtung Information stets mit Reflexion, und damit mit Distanzierung, verbunden sei. Die Verlagerung religiöser Texte in Richtung Wirkung geht mit sprachlichen und nichtsprachlichen Kodierungsformen (z. B. der Silbe Om) einher. Die reziproke Formel lautet demgemäß: Je weniger Information, desto mehr Wirkung. (Das Wesentliche bleibt „ungesagt“; der Text verweist damit „über sich selbst hinaus“.) Und: Je mehr Information, desto weniger Wirkung. In der wissenschaftlichen Exegese z. B. wird ein Text tendenziell zur Information. In dieser Konzeption stehen sich gegenüber: unverstanden und deshalb besonders wirksam vs. völlig verstanden und deshalb besonders wirkungslos.139 Grundsätzlich geht die historisierende Lesart eines Textes nicht von einer kontraintuitiven Autorschaft aus, womit die Bezeichnung ‚heilige Texte‘ eher im übertragenen, nicht jedoch im wortwörtlichen oder ontologischen Sinn zu verstehen ist. Damit stellt sich freilich die Frage nach der metasprachlichen Eignung des Begriffs.
139 Ders. (2004): Verstehens- und Wirkungsverweigerung als Merkmal religiöser Texte. In: Pezzoli-Olgiati, Daria (Hg.) (2004): Fritz Stolz. Religion und Rekonstruktion. Ausgewählte Aufsätze. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Die Verschiebungen sind stets graduell. Auf der von Stolz gedachten Skala thematisiert das Mittelfeld, die Uneindeutigkeit, Transzendenz. Diese wird erst dann ‚religiös‘, wo sie explizit zum Thema gemacht wird: „Texte, die das Transzendenzphänomen nicht nur implizit enthalten sondern explizit bearbeiten, werden in besonderer Weise Verstehen erfordern und versagen, Wirkung zeitigen und verweigern.“ Vgl. ders., bes. S. 50–53 sowie 58 f. Stolz’ Transzendenzbegriff bleibt unscharf, die generelle Schlussfolgerung für eine vergleichende Wirkungsforschung ‚religiöser Texte‘ aber beachtenswert: „Ganz generell könnte man wohl sagen, dass eine Verlagerung religiöser Texte in Richtung Information stets mit Tendenzen der Reflexion, damit der Distanzierung verbunden ist. Eine Verlagerung in Richtung Wirkung wird häufig mit der Kombination sprachlicher und nichtsprachlicher Kodierungsformen einhergehen.“ Ebd., S. 54. Stolz’ Ausführungen erinnern an einigen Stellen an Isers wirkungstheoretische Überlegungen.
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b) Die Bedeutung des Verschwiegenen: Wolfgang Isers Konzept der Leerstelle Kein Text wird einfach „geglaubt“. Vielmehr werden „Glaubens“vorstellungen, ähnlich wie Verstehensprozesse, an Texte herangetragen140, wobei multiple Interpretationsmöglichkeiten umfassende Schlussfolgerungspotenziale erlauben und damit den Eindruck von hoher Relevanz verstärken.141 Diese entsteht vor allem dort, wo der Rezipient zu eigenen Schlussfolgerungen gelangt (oder dies zumindest vermeint), weil eigene Rückschlüsse stets eine höhere Plausibilität suggerieren als die Übernahme fremder Deutungen. Die Installierung von Leerstellen innerhalb eines Textes schafft Raum für solche Schlussfolgerungspotenziale. Multiple Interpretationsmöglichkeiten lassen sich durch bestimmte literarische Techniken evozieren, die einer Vereindeutigung entgegenwirken und damit ein Potenzial an möglichen Bedeutungszuschreibungen erzeugen, das aus literaturtheoretischer Sicht eine wesentliche Bedingung für die Wirksamkeit narrativer Texte ist. Der fiktionale Text ist ein Versuch, Wirklichkeit im Leser zu erzeugen, indem dieser während der Lektüre seine Vorstellungskraft aktiviert und damit ein Interaktionsverhältnis mit dem Text eingeht, das ihm Zugang zur erzählten Welt verschafft.142 Erzähltechnisch ausgestaltet wird diese Wirklichkeit durch textinterne Strukturen, die die Interpretationsvielfalt jedes Werkes normativ zu regulieren vermögen143, indem sie zugleich sprachlicher und affektiver Natur sind.144 Für diese textinterne Struktur bildete Wolfgang Iser in Anknüpfung an den Begriff Unbestimmtheitsstelle des Philosophen und Husserl-Schülers Roman Ingarden den Terminus der Leerstelle.145 Leerstellen bilden die „Kommunikations 140 So Brian Malley in Bezug auf die US-amerikanische evangelikale Bibelrezeption. Er differenziert die „belief tradition“ als spezifische Form einer „interpretative tradition“, die zur Herstellung von Kohärenz („transitivity“) zwischen Text und eigenem Glauben auf ganz bestimmte Texte referenziert. Vgl. Malley, Brian (2004): How the Bible works. An Anthropological Study of Evangelical Biblicism. Walnut Creek, CA: Alta Mira Press, S. 73. Freilich bedingen sich „belief system“ und Textinterpretation, vgl. ebd. S. 146. 141 Vgl. Johannsen (2011): Kognition und Narration, S. 6. 142 Vgl. Iser (1975): Appellstruktur, S. 229. Dort heißt es in Abgrenzung zum Interpretations primat von Texten: „Bedeutungen literarischer Texte werden überhaupt erst im Lesevorgang generiert; sie sind das Produkt einer Interaktion von Text und Leser und keine im Text versteckten Größen, die aufzuspüren allein der Interpretation vorbehalten bleibt.“ Ausführlich setzt sich Iser mit der Interpretationsnorm literarischer Texte auch im Akt des Lesens auseinander (vgl. S. 12–37, bes. S. 32) und kommt zu dem Schluss, dass die Interpretation nicht den ‚Sinn‘ eines Textes, sondern dessen Sinnpotenziale aufzudecken habe, vgl. ebd. S. 42. 143 Vgl. Iser (1975): Appellstruktur, S. 228–234. 144 Vgl. Iser (1994): Akt des Lesens, S. 40. 145 Vgl. Iser (1975): Appellstruktur, S. 235. Iser verwirft Ingardens Konzept der Unbestimmt heit, das von ihm als eigentümlich funktionslos bleibender, mechanischer „Suggestionsreiz“ und „statische[r] Komplettierungsvorgang“ kritisiert wird, und damit das für den Verstehensprozess so wichtige Interaktionsspiel zwischen Text und Leser vermissen lasse, vgl. Akt des
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bedingung“146 von Texten: Als formale Voraussetzung für Auslegungsspielräume sind sie ein an den Leser gerichtetes „Beteiligungsangebot“, durch das sich die Textwirkung erst entfaltet.147 Im Gegensatz zu Ingardens Theorie der Unbestimmtheitsstellen ist für Iser die Leerstelle keinesfalls nebensächlich. Vielmehr bildet sie das Moment, dem sich die ästhetische Erfahrung verdankt. Es sind die Leerstellen, „die es dem Leser erlauben, die Fremderfahrung der Texte an die eigene Erfahrungsgeschichte anzuschließen“.148 In Abgrenzung zu Ingarden definiert Iser im Akt des Lesens: „Leerstellen […] bezeichnen […] die Besetzbarkeit einer bestimmten Systemstelle im Text durch die Vorstellung des Lesers.“149 Leerstellen regen die Vorstellungsaktivität des Lesers an, etwa durch Schnitttechniken oder Perspektivenwechsel im Erzählgeschehen.150 Der Text generiert ein Lenkungspotenzial151, insofern der entstandene „Spielraum des Verstehens“ eine „massive Bedeutungsprojektion“152 ermöglicht. Iser spricht von Sinnpotenzialen des Textes, die im Verlauf der Lektüre verändert („aktualisiert“) werden.153 Dieser Aktualisierungsvorgang wird maßgeblich durch das ambivalente Spiel von Zeigen und Verschweigen gesteuert: „Das Verschwiegene […] und die Leerstellen […] stimulieren den Leser zu einer projektiven Besetzung des Ausgesparten. Sie ziehen den Leser in das Geschehen hinein und veranlassen ihn, sich das Nicht-Gesagte als das Gemeinte vorzustellen. Daraus entspringt ein dynamischer Vorgang, denn das Gesagte scheint erst dann wirklich zu sprechen, wenn es auf das verweist, was es verschweigt. Da aber das Verschwiegene die Implikation des Gesagten ist, gewinnt es dadurch seine Kontur. Gelingt es, das Verschwiegene in der Vorstellung zu verlebendigen, dann bringt es das Gesagte vor einen Hintergrund, der es nun […] ungleich bedeutsamer erscheinen läßt, als es das im Gesagten Bezeichnete vermuten ließe. […] Der Kommunikationsprozeß wird also nicht durch einen Code, sondern durch die Dialektik von Zeigen und Verschweigen in Gang gesetzt und reguliert.“154 Lesens, bes. S. 276–279. Zur Auseinandersetzung mit Ingarden und dessen Konzept der Unbestimmtheit vgl. auch ders. (1975): Im Lichte der Kritik. In: Warning, Rainer (Hg.): Rezep tionsästhetik. Theorie und Praxis. München: Fink, S. 325–342: hier: 328 sowie ausführlicher in: ders. (1994): Akt des Lesens, S. 267–280. 146 Vgl. Iser, Wolfgang (1975): Im Lichte der Kritik, S. 326. 147 Vgl. Iser (1975): Appellstruktur, S. 235 f. sowie ders. (1994) Akt des Lesens: S. 46. 148 Vgl. Warning (1975): Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik. In: ders. (Hg.): Rezeptionsästhetik, S. 31. 149 Vgl. Iser (1994): Akt des Lesens, S. 129. 150 Die Romanistin Danielle Reif identifiziert drei Textebenen, auf denen Leerstellen installiert werden können: die syntaktische, die semantische sowie die narrative, vgl. dies. (2005): Die Ästhetik der Leerstelle. Raymond Federmans Roman „La Fourrure de ma tante Rachel“. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 10; zur weiteren Differenzierung ebd., S. 88–92. 151 Vgl. Iser (1975): Im Lichte der Kritik, S. 328. 152 Vgl. Iser (1975): Appellstruktur, S. 245–247. 153 Iser (1994): Akt des Lesens, S. 42. 154 Iser (1994): Akt des Lesens, S. 264 f.
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Attraktiv wird das Konzept der Leerstelle vor allem durch seine Anwendbarkeit auf diverse Genres155 sowie die bedingte Übertragbarkeit auf nicht litera rische Texte. Zwar entwickelte Wolfgang Iser seine Theorie ästhetischer Wirkung an englischsprachiger Literatur gehobener Provenienz, also „Weltliteratur“. Insofern jedoch jeder Text auf die Aktivierung der Vorstellungsbildung des Lesers, den Mitvollzug des Gelesenen, angewiesen bleibt und damit notwendig eine Appellstruktur aufweist, verspricht auch die wirkungstheoretische Analyse wissenschaftlicher Texte auf ihre Leerstellen gewinnbringend zu sein.156
c) Verstehen und Empfinden: Skripts und Affektlenkung Wie Geschichten gelesen und verstanden werden, ist gleichermaßen von Text und Leser abhängig. Dessen auch kulturell bestimmtes Vorwissen wirkt auf die Lektüre und Rezeption ein. Dafür spielen bestimmte kognitive Verstehensprozesse eine Rolle: Der Leser ist kein ‚unbeschriebenes Blatt‘.157 An dieser Stelle 155 Programmatisch dazu: Dablé (2012): Leerstellen transmedial. Ein Anwendungsbeispiel für das Potenzial der Leerstelle als narratives Moment liefert die US-Fernsehserie Lost, vgl. Johannsen, Dirk/Kirsch, Anja (2015): ‚Religion‘ als Stilmittel der Fantastik – Eine wirkungstheoretische Betrachtung der Fernsehserie Lost: In: Mohn, Jürgen/Mohr, Hubert (Hg.): Die Religion der Medien. Zürich: TVZ, S. 197–224. 156 Die Anregung der Vorstellungsbildung bildet die Grundvoraussetzung für die Installierung von Leerstellen. Gerade Einführungsliteratur beginnt häufig mit einer bildhaften, notwendig Leerstellen aufweisenden Schilderung. Als beliebiges Beispiel vgl. Kim Knotts Einführung in den Hinduismus (1998): Hinduism. A very short introduction. Oxford: Oxford University Press. Aber auch religionstheoretische Werke arbeiten an entscheidenden Punkten mit Leerstellen. Bei Rudolf Otto handelt es sich um eine syntaktisch markierte Leerstelle, bei Emile Durkheim um eine semantische Leerstelle: „‚Unser X. ist dieses nicht, ist aber diesem verwandt, jenem entgegengesetzt.‘ […] Das heißt: unser X. ist nicht im strengen Sinne lehrbar sondern nur anregbar, erweckbar.“ Ders. (1963): Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München: Beck, S. 7; Durkheim umschreibt die Basis von Religion als emergentes soziales Phänomen, hergeleitet aus der Gesellschaft als einem „Wesen sui generis“, ein Ganzes, das „etwas anderes ist, als die Summe seiner Teile“, vgl. ders. (1984): Erziehung, Moral und Gesellschaft, S. 112 f. Seine spätere Religionstheorie beruht auf einer Sozialutopie, der Idee ‚echter‘ Gemeinschaft. Aus dieser Unschärfe – es bleibt unklar, was dieses Gefühl von Gemeinschaft genau ausmacht – erwächst die Gruppenidentität, die ebenfalls semantisch unterbestimmt bleibt. An dieser Stelle eröffnet die Argumentation einen Deutungsoder Projektionsraum, in der die Aborigines zum Vorbild für ‚echte‘ Gemeinschaft werden. Gesellschaft als Entität wird zum Ort massiver Bedeutungsprojektion, vgl. (1998): Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt: Suhrkamp; für den Argumentationsgang vgl. bes. S. 10 des Inhaltsverzeichnisses (Kapitel 7, zweites Buch). 157 Finnern (2013): Kognitive Erzählforschung und religiöse Texte, S. 23. Dazu auch Martínez/Scheffel: „Das Verstehen fiktiver Welten und Handlungen wird nicht allein vom Text gesteuert, sondern auch vom Kontext und von Erfahrungen, Kenntnissen, Dispositionen und kognitiven Strukturen des Lesers. Ohne die konstruktive Aktivität des Lesers, lediglich auf der Basis seiner Sprachkenntnis, würden narrative Texte vermutlich sinnlos erscheinen.“ Dies. (1999): Einführung Erzähltheorie, S. 145.
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Mechanismen der Textrezeption: Wie Bedeutung erzeugt wird
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knüpft die Narratologie an Konzepte aus der Kognitionspsychologie an, die zwischen der aus expliziten Signalen bestehenden Bedeutung (meaning) eines Textes sowie den gezogenen Schlussfolgerungen (inferences) unterscheidet. Das Verstehen narrativer Texte ist aus kognitionspsychologischer Sicht ein Zusammenspiel verschiedener Informationsverarbeitungsprozesse, die dazu führen, dass der Leser während einer Lektüre das Gelesene durch neue Informationen stetig revidiert (datengesteuerte Aufnahme, auch bottom-up processing), im Abgleich mit seinem eigenen Vorwissen synthetisiert, dadurch aktualisiert (wissensgesteuerte Informationsverarbeitung, auch top-down processing), und so nach und nach ein kohärentes Textverständnis aufbaut.158 Von dieser wissensgesteuerten Informationsverarbeitung sind nicht nur die Inhalte eines Textes, sondern auch das Verstehen von Syntax-, Wort- und Satzstrukturen sowie eine gattungstypologische Einordnung auf Grund von Paratext, Themen, sprachlichen Mustern, handelnden Figuren usw., die einen bestimmten Erfahrungshaushalt ansprechen, betroffen. Dieser Erfahrungshaushalt verfügt über in Sinneinheiten oder Kategorien systematisiertes Wissen, das – kognitiv optimal – bei Bedarf als Ganzes abgerufen werden kann: die Kognitionspsychologie spricht von Schemaaktivierung.159 Das wichtigste kognitive Schema zum Erfassen eines narrativen Textes ist das Skript, die „mentale Repräsentation des typischen Verlaufs einer Ereignisreihe“, die Variablen (Slots) enthält, die aus Handlungssequenzen bestehen. ‚Verstehen‘ kann demnach als Subsumierung einer Geschichte unter ein (übergeordnetes) Skript aufgefasst werden.160 Ein Skript ist stets mit einem einzigen Begriff abrufbar, weil mit diesem ein bestimmter Ablauf kodiert ist. So wird ‚Restaurantbesuch‘ automatisch verbunden mit Eintreten, Platz nehmen usw. Erwähnenswert werden nur Brüche im Skript, zum Beispiel: „Ich war im Restaurant und wurde nicht bedient.“ Oder: ‚Ich war im Restaurant, aber ich habe dort nichts gegessen.‘ Auch Störfaktoren sind relevant: ‚Ich war im Restaurant, und der Kellner hat mir den Schampus auf das Hemd geschüttet.‘161 Die Schemaaktivierung verläuft nicht zufällig, sie wird gelenkt: Bewusste oder unbewusste Verstehensziele und -strategien des Rezipienten sind aktiv und kontrollieren die Auswahl des für die Interpretation geeigneten Schemas, sie ergänzen den von Interesse, Erfahrungen und nicht zuletzt von Gefühlen
158 Vgl. Martínez/Scheffel (1999): Einführung Erzähltheorie, S. 149 f. 159 Vgl. dazu Schneider (2013): Making sense, S. 41. 160 Vgl. Martínez/Scheffel (1999): Einführung Erzähltheorie, S. 150 f. 161 Ein ähnliches und anschauliches Beispiel zur Erklärung des kognitionspsychologischen Schemabegriffs auch bei Brigitte Rath, die am Beispiel des Satzes: „Molly setzte sich an die Bar. ‚Das übliche‘, sagte sie“ die kognitiven Prozesse des Verstehens expliziert. Verstehen ist die Aktivierung von Vorwissen ohne explizite Erwähnung bestimmter Inhalte. So bildet der Satz ein Schema für „etwas trinken gehen“. Vgl. dies. (2011): Narratives Verstehen. Entwurf eines narrativen Schemas. Weilerswist: Velbrück, S. 18–27, bes. 22.
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Narrative der „Überzeugungsbildung“
geleiteten Rezeptionsprozess.162 Das idealtypische Textverstehensmodell der Kognitionspsychologie ist zwar mehrfach kritisiert worden163, als Erweiterung der rezeptionsästhetischen Ansätze erweist es sich aber als sehr hilfreich, zumal Gefühle als Faktor des Rezeptionsprozesses in Isers Modell des impliziten Lesers keinen Platz gefunden hatten.
3.4 Der Text und sein Kontext 3.4.1 Textbezüge: Intertextualität, Para- und Epitexte Jeder Text steht in einem Kontext, oder – mit Gérard Genette formuliert –: Ein Text zeigt sich „selten nackt, ohne Begleitschutz einiger gleichfalls verbaler oder auch nicht-verbaler Produktionen“.164 Nicht nur allgemeine historische Umstände wirken auf die Entstehungsbedingungen eines Textes ein, auch Beziehungen zwischen Texten, wie sie durch Bezüge und Verflechtungen, z. B. (Quer-) Verweise oder Zitate gegeben sind, beeinflussen die Lektüre wesentlich und wirken damit rezeptionssteuernd. In der Erzähltheorie werden diese Verflechtungen unter den Begriff der Intertextualität gefasst.165
162 Vgl. Schneider (2013): Making sense, S. 41–43. Ein eingängiges kognitionspsycho logisches Modell des Textverstehens in tabellarischer Form hat Ralf Schneider vorgelegt, ders. (2004): Rezeptionstheorien. In: Ralf Schneider (Hg.): Literaturwissenschaft in Theorie und Praxis. Tübingen: Narr, S. 189–211, hier: 203. 163 Koschorke weist auf den empirischen Befund hin, dass Schemata weit weniger deckungsgleich wiedergegeben würden, als bislang vermutet. Die empirische Leserforschung habe gezeigt, dass wichtige Details oftmals nicht erinnert werden, funktionslose Informationen hingegen schon. Demnach bedeutet Wiedergabe immer Veränderung – auch für Schemata, vgl. ders. (2012): Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt/M.: Fischer, S. 51–53. Für die Diskussion um den Schemabegriff s. auch den Bericht von Filippo Smerilli: Schemata, Wissen und Literatur. (Conference Proceedings of: Der Schemabegriff in der Erzählforschung. Narratologisches Kolloquium des Zentrums für Erzählforschung (ZEF) der Bergischen Universität Wuppertal. In: JLT online (05.03.2012) (URL:http://www. jltonline.de/index.php/conferences/article/view/465/1235). 164 Vgl. Genette, Gérard (2001): Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt: Suhrkamp, S. 9. 165 Die Debatte ist auch hier vielschichtig; einig ist man sich zwar darüber, dass Beziehungen zwischen Texten existieren, verschiedene Meinungen herrschen allerdings über die Art dieser Beziehungen. Einen älteren Überblick über die grundlegenden Positionen liefert Manfred Pfister (1985): Konzepte der Intertextualität. In: Broich, Ulrich/Pfister, Manfred (Hg.): Intertex tualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen: Niemeyer, S. 1–30, bes. 11–24. Auch die Terminologie ist nicht (immer) einheitlich, so spricht Genette nicht von Inter-, sondern von Transtextualität, die von ihm in verschiedene Typen systematisiert wird, von denen Intertextualität lediglich eine Form bildet. Vgl. ders. (2001): Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
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Der Text und sein Kontext
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Zu den intertextuellen Beziehungen zählen auch die Rahmenelemente eines Werkes, von Gérard Genette als Paratext bezeichnet.166 Erst der Paratext macht ein Buch als solches erkennbar, er formt jeden Text entscheidend, bestimmt die Leserperspektive wesentlich und ist unmittelbar an der narrativen Sinnkonstitution während der Lektüre beteiligt. Er ist alles andere als unbedeutendes Beiwerk.167 Dem Genette’schen Apparat zur Analyse der Vielfalt paratextlicher Erscheinungen168 liegt eine Unterscheidung in Peritexte und Epitexte zugrunde, vom Autor auf folgende Formel gebracht: „Paratext = Peritext + Epitext [Hervorh. i. Orig.]“.169 Peritexte beziehen sich auf die Elemente innerhalb eines (gedruckten) Werkes, sie schließen Buchkörperelemente wie Deckel und Umschlag sowie Titel- und Verfasserinformationen, Impressum, Vorworte und Klappentexte oder Satzspiegel gleichermaßen ein. Epitexte beziehen sich auf kontextuelle Elemente, zu denen öffentliche Äußerungen des Autors, Briefwechsel, Tagebücher, aber auch Verlagswerbung, Kommentare oder Autorenporträts sowie das biografische Wissen über den Autor gehören. Hier ließen sich noch weitere Differenzierungen treffen.170 Eine der grundlegendsten Entscheidungen, die Zuordnung zum fiktionalen oder faktualen Genre, wird wesentlich über die Rahmung eines Textes mitbestimmt. Dessen paratextliche Kennzeichnung liefert entsprechende Hinweise, die für die 166 Genette entwickelte den Begriff, um die hermeneutische Relevanz des „Beiwerks“ hervorzuheben. Erstmals in Introduction à l’architexte (1979) verwendet, legte er später mit seiner Studie Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe den bislang umfangreichsten Versuch zur Systematisierung der „Kommunikation“ von Texten mit anderen Texten vor. Vgl. Jürgensen, Christoph (2007): „Der Rahmen arbeitet“. Paratextuelle Strategien der Lektürelenkung im Werk Arno Schmidts. Göttingen: Vandenhoek, S. 15. Das Genette’sche Konzept provozierte Kritik. So wurde bemängelt, dass mit dem Terminus Paratext der literaturwissenschaftliche Textbegriff infrage gestellt würde, auch müsse der Paratextbegriff analog der technischen Entwicklung reformuliert werden, vgl. Stanitzek, Georg (2007): Paratextanalyse. In: Anz, Thomas (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Band 2 Methoden & Theorien, S. 198–203, hier: 200 f. Zur literaturtheoretischen Debatte um den Begriff vgl. auch Jürgensen (2007): Rahmen, S. 12–16. Des Weiteren wurde die grundsätzliche Frage formuliert, wo die äußere Grenze zwischen Paratext und Kontext zu situieren sei; aus erkenntnistheoretischer Perspektive kam ferner die Frage hinzu, ob und wenn ja weshalb es von Vorteil oder Relevanz sei, ein Element als paratextliches zu klassifizieren. Die Anwendung beschränke sich zumeist auf textinterne peritextliche Faktoren, vgl. Jürgensen (2007): Rahmen, S. 23 f. 167 Vgl. Genette (2001): Paratexte, S. 10 sowie Stanitzek (2007): Paratextanalyse, S. 198. 168 In seinem Buch untersucht Genette gleichermaßen verlegerische Peritexte (Formate, Reihen, Buchumschläge etc.), die namentliche Autor(selbst-)präsentation, Vorworte, Widmungen, Danksagungen oder öffentliche bzw. private Mitteilungen u. v. m. 169 Vgl. Genette (2001): Paratexte, S. 13. 170 Beispielsweise kann in Bezug auf die zeitliche Situierung (zu Lebzeiten des Autors oder posthum), die illokutive Wirkung des Paratextes durch bestimmte Absichten oder Interpretationsangebote (z. B. Gattungsangabe „Roman“) oder die Art der paratextlichen Elemente (verbal, bildlich, schriftlich etc.) unterschieden werden. Demnach kann grundsätzlich jeder Kontext als Paratext wirksam werden, vgl. Jürgensen (2007): Rahmen, S. 19 f.
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Klassifizierung und damit für das (narrative) Verstehen und die Leserlenkung, kurz: für die Rezeption eines Textes, von Bedeutung ist. Paratexte als wesentliche Strukturprinzipien zur Verstehenslenkung wirken unmittelbar an der Sinnbildung mit, ihre wirkungsästhetische Reichweite ist nicht zu unterschätzen. Mit den Worten des Literaturwissenschaftlers Christoph Jürgensen: „Der Rahmen arbeitet immer, er steuert grundsätzlich die Rezeption ‚seines‘ Textes, und folglich lässt sich das Beziehungsgeflecht zwischen Autor, Text und Leser ohne den Blick auf den Paratext nicht verstehen.“171 Für die Analyse der Lehrbücher spielt Intertextualität sowohl auf der Ebene des Beiwerks als auch auf der Ebene des Hauptlehrtextes eine Rolle. Der verlegerische Peritext (Formate, Reihen, Umschlag und Zubehör)172 weist den Materialkorpus als Schulbuch aus und sendet damit bestimmte Faktualitätssignale an den Empfänger. Die außerdem in den Lehrtext integrierten Textteile befördern zudem die Pluralität der Textgattungen und verwendeten Stile. Die Hybridität der Lehrbuchtexte bildet den wesentlichen Baustein einer der Schulbuchdarstellung unterlegten „Rhetorik der Erinnerung“173, über die die weltanschauliche Erinnerungskultur konstruiert wird.
3.4.2 Die sozialistische Erinnerungskultur als Erzählkultur Am Beispiel der Staatsbürgerkunde lässt sich aufzeigen, wie Narration und Erinnerungskultur zusammenhängen. Die Motive der sozialistischen Erinnerungskultur sind Teil einer spezifischen Traditionsbildung, die im folgenden Kapitelabschnitt mit kulturwissenschaftlichen Gedächtnismodellen konzeptualisiert wird, um die über den Unterricht hinausgehende gesellschaftliche Funktion der Staatsbürgerkunde und ihrer narrativen Parameter zu skizzieren.
a) Die Rolle der Staatsbürgerkunde für die Konstruktion der weltanschaulichen Erinnerungs- und Traditionskultur der DDR „Um den Jugendlichen zu helfen, ihren Platz in der sozialistischen Gesellschaft richtig zu bestimmen, steht […] im Zentrum der sozialistischen Erziehung die systematische Vermittlung der sozialistischen Ideologie […]. Die Herausbildung des Klassenstandpunktes des jungen Staatsbürgers der DDR ist eng mit der Entwicklung
171 Jürgensen (2007): Rahmen, S. 257. 172 Vgl. dazu Genette (2001): Paratexte, S. 22–40. 173 Vgl. Neumann, Birgit (2005): Erinnerung – Identität – Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer Fictions of Memory. Berlin/New York: de Gruyter, S. 171 sowie 188.
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Der Text und sein Kontext
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solcher moralischer Eigenschaften, wie Verantwortungsbereitschaft für das Ganze, hohe Arbeitsmoral, bewusste Disziplin, Kameradschaftlichkeit, Opferbereitschaft und Beharrlichkeit im Kampf um das Neue zu verbinden.“174
Mit diesem Zitat des damals kürzlich zum ersten Mann im Staat gewordenen Erich Honecker begann die für alle Lehrkräfte in der DDR verbindliche methodische Handreichung zur Gestaltung des Staatsbürgerkundeunterrichts der Klassen 7 und 8. Die in der Anleitung zur „sozialistischen Überzeugungsbildung“ entworfene Programmatik formulierte Ansprüche, die im Rekurs auf die sozialistische Gemeinschaft als substantielles Ganzes auch moralische Qualität gewannen. Das Anliegen der „Überzeugungsbildung“ war grundlegend: Der Sozialismus als das „schöpferische Werk bewußt handelnde[r] Menschen“ sollte gleichermaßen deren „Denken, Fühlen und Handeln“ bestimmen. Der Schule kam in diesem Erziehungsprozess die Aufgabe zu, die Jugendlichen als „den Ideen des Sozialismus treu ergebene Staatsbürger [zu] erziehen.“175 Aber wie ließ sich im Einzelnen erreichen, dass der Mensch nicht nur äußerlich nach den gewünschten Maßstäben handelt, sondern auch innerlich sozialistisch denkt und vor allem fühlt? Ein Erziehungsanspruch mit derartiger Einstellungsnormierung war auf verschiedene Zugriffsoptionen angewiesen. Zentral war die ‚Erfindung‘ einer sozialistischen Tradition, mit der sich die Weltanschauung begründen und der Staat historisch legitimieren ließ. Das Bestreben, einen Staat zu ‚erfinden‘, der auf vollkommen anderem „Erbe“ basierte als die Bundesrepublik, war der Versuch, dauerhaft eine alternative sozialistische Erinnerungsund Traditionskultur zu etablieren. Diese verdichtete sich in Schlagworten wie „Antifaschismus“ oder „Arbeiterschaft“. Der Literatur kam in der Konstruktion dieser Erinnerungskultur eine besondere Bedeutung zu. Dem lag die Erwartung zugrunde, dass ästhetische Formen ins kollektive Gedächtnis eingehen und dort Erinnerung und Identität modellieren, also eine hegemoniale Erinnerungskultur zu etablieren helfen, die über ästhetische Formen abrufbar wird.
174 Honecker, Erich (1971): Bericht des Zentralkomitees an den VIII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Berlin: Dietz, S. 70 f., zit. n. Autorenkollektiv unter der Leitung von Horst Kühn (1971): Überzeugungsbildung im Staatsbürgerkundeunterricht. Pädagogisch-psychologische Probleme der Überzeugungsbildung im Staatsbürgerkundeunterricht der Klassen 7 und 8. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage, S. 9. 175 Autorenkollektiv (1971): Überzeugungsbildung, S. 9 f.
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b) Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses Erinnerungen sind nach Aleida Assmann „von Haus aus [sozial]“.176 Der Begriff des Erinnerns suggeriert das Besinnen auf ein Vergangenes, das sowohl ein persönliches Erlebnis sein kann, etwa eine konkrete Kriegserfahrung, als auch ein übergreifendes historisches Geschehen wie das Kriegsende am 8. Mai 1945, das als Ereignis ins „kollektive Gedächtnis“ (M. Halbwachs) eingegangen ist. Durch den gemeinsamen Erfahrungshaushalt werden soziale Gruppen zu „Gedächtnisgemeinschaften“, wobei sich das Gedächtnis ähnlich wie die Sprache „in kommunikativen Prozessen aus[bildet], d. h. im Erzählen, Aufnehmen und Aneignen von Erinnerungen in Näheverhältnissen.“177 Die Gedächtnismetapher verweist darauf, dass die Erinnerung selbst sich einer direkten Beschreibung entzieht. Jede Rede von und über Erinnerung bleibt auf Bildlichkeit angewiesen, Assmann spricht von der „Metaphorik der Erinnerung“.178 Der mit der Gedächtnis-Metapher verknüpfte Akt des Erinnerns geht indes weit über ein bloßes Rekapitulieren von Ereignissen hinaus: Sich erinnern bedeutet gleichzeitig, sich seiner Vergangenheit rückzuversichern und damit der Gegenwart eine bestimmte Bedeutung zuzuschreiben. Erinnerung und Interpretation wirken zusammen. Die Begriffsdebatte um das kollektive Gedächtnis – für die Religionswissenschaft stellvertretend bei Cancik/Mohr179 – soll hier nicht weiter interessieren, weil es im vorliegenden Untersuchungszusammenhang nicht darum geht, identitätsproduktive Faktoren einer Gesellschaft zu theoretisieren. Bestimmte Problematiken bleiben sowohl beim Begriff der Tradition, dem in seinem Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit ein universalistisch-normatives Moment unterlegt ist, als auch beim kollektiven Gedächtnis bestehen. Ähnlich wie beim Nora’schen 176 Assmann, Aleida (2008): Gedächtnis-Formen. In: Dossier: Geschichte und Erinnerung. Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) vom 26.08.2008; unter: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/geschichte-und-erinnerung/39786/gedaechtnisformen. 177 Assmann (2008): Gedächtnis-Formen, ebd. 178 Assmann geht von der Hypothese aus, dass die Metapher für den Prozess des Erinnerns von zentraler Bedeutung ist. Wer über Erinnerung spricht, kommt nicht ohne Metaphern aus. Auch in der Wissenschaft geht jede neue Gedächtnis-Theorie mit einer bestimmten Bildlichkeit einher. Die Erinnerung verschließt sich direkter Beschreibung, weil ihr Gegenstand an sich metaphorisch ist. Vgl. Assmann, Aleida (1993): Zur Metaphorik der Erinnerung. In: dies./Harth, Dietrich: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt/Main, S. 13–35, hier: 13. 179 Der Terminus wurde vielfach als ungenaue Sammelbezeichnung kritisiert, der Begriffe wie Tradition, historisches Bewusstsein oder Denkmal- und Ritualkulturen lediglich umschreibe: „Ausdrücke wie ‚das Gedächtnis der Landschaft‘, ‚das Archiv als Gedächtnis des Vereins (der Kultur), ‚die Religion als Langzeitgedächtnis der Kultur‘ sind bestenfalls schmückendes Beiwerk in einer Untersuchung der sozialen Bedingungen von Gedächtnis; dies kann nicht auf einer biologischen bzw. individualpsychologischen Metapher gegründet werden.“ Cancik, Hubert/Mohr, Hubert (1990): Art. Erinnerung/Gedächtnis in HrwG Band 2, S. 299–323, hier: 309, weiterhin: 311.
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Konzept des Erinnerungsortes180, das selbst traditionsproduktiv wird, insofern die Geschichte, die erinnert werden soll, erst durch den Autoren geschrieben wird, unterstellen auch Tradition und kollektives Gedächtnis eine gewisse Einheitlichkeit von Kultur oder Gesellschaft181, die so nicht behauptet werden soll. „Kollektives Gedächtnis“ und „kulturelle Erinnerung“ sind „sprachliche Denkmodelle“, deren Wert darin besteht, verschiedene Phänomene in ihrem „Funktionszusammenhang“ zu analysieren.182 Der Literatur kommt als spezifischer „Erinnerungstechnik“ und „Erinnerungsgattung“ (Astrid Erll) dabei eine besondere Bedeutung zu. Sie ist ein zentrales Medium des kollektiven Gedächtnisses, mehr noch: „Literatur wirkt in der Erinnerungskultur [Hervorh. i. Orig.]“.183 Als eine bestimmte Weise der „Welterzeugung“ (in der Literaturwissenschaft auch mit der possible world theory oder ways of worldmaking bezeichnet184), stellt Literatur eine eigenständige symbolische Form der Erinnerungskultur dar, die den Prozessen der Gedächtnisbildung ähnelt. Sowohl in Erinnerungskulturen als auch in der Literatur werden Erll zufolge Ereignisse verdichtet: Vorstellungen von der Vergangenheit kleiden sich stets in topologische, motivische oder narrative Formen. Dass die Verdichtung eine grundlegende Technik in der Konstruktion von Erinnerungskulturen bildet, wird mit Konzepten wie Erinnerungsort (Pierre Nora), verdichtete Vorstellungen (Maurice Halbwachs) oder Erinnerungsfiguren (Jan Assmann) reflektiert. Die literarische Verdichtung – offensichtlich im Terminus Gedicht – erfolgt durch Metaphern, Intertextualität oder Allegorien, die verschiedene Themenbereiche zusammenführen. Deutung und Verstehen dieser Zusammenführungen sind freilich kontextabhängig: „Man muss die Prak tiken und Deutungsweisen einer Erinnerungsgemeinschaft kennen, um den Sinn 180 Der Begriff des Erinnerungsortes („lieux de mémoire“) geht auf das Projekt des fran zösischen Historikers Pierre Nora zurück, die Geschichte Frankreichs über deren zentrale ‚Erinnerungsorte‘ zu erzählen. Noras auf einem metaphorischen Ortsbegriff basierende Gedächtnistopographie bezieht in insgesamt sieben von ihm herausgegebenen Bänden Symbole der Republik wie die Marseillaise oder den Eiffelturm, die Nation, wie sie sich im Code civil, aber auch Verdun sowie historischen Figuren wie Jeanne d’Arc, Descartes oder Marcel Proust spiegele, ein. Vgl. ders. (Hg.): Lex lieux de mémoire. Paris: Gallimard (1984–1992). Die einbändige deutsche Ausgabe Erinnerungsorte Frankreichs erschien 2005 im C. H. Beck-Verlag. 181 Ein Ansatz wie der von Michel Foucault, der in der Archäologie des Wissens (1973) eher auf Brüche fokussiert, ist für den vorliegenden Untersuchungszusammenhang ungeeignet. 182 Erll, Astrid (2011): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Metzler, S. 110 sowie 112. 183 Vgl. Erll (2011): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 88 sowie 173. 184 „Erzählungen und Erzählformen [sind] nicht nur kulturbedingt, sondern auch eigenstän dige Bedeutungsträger, kognitive Werkzeuge der Sinn- und Identitätsstiftung sowie kulturelle Modi der Weltkonstruktion bzw. ways of worldmaking.“ Vgl. Nünning, Ansgar (2013): Wie Erzählungen Kulturen erzeugen: Prämissen, Konzepte und Perspektiven für eine kulturwissenschaftliche Narratologie. In: Strohmaier, Alexandra (Hg.): Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften. Bielefeld: transcript, S. 15–53, hier: 18.
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eines symbolisch verdichteten ‚Erinnerungsorts‘ […] oder eines sprachlichen Bildes […] entschlüsseln zu können.“185 Narrative Strukturen finden sich gleichermaßen in Literatur und Erinnerungskulturen: „[J]ede bewusste Vergegenwärtigung vergangener, für die Gemeinschaft relevanter Erfahrung geht mit Strategien einher, die auch für die Konstitution literarischer Texte wie Roman, Novelle, Ballade und vielfach auch Drama, von zentraler Bedeutung sind.“186
Erll hat vor allem zwei Merkmale des Fiktionalen im Auge: Selektionsprozesse durch die Auswahl von Ereignissen sowie die spezifische Kombination dieser Ereignisse, das Emplotment.187 Mit ihnen sind Gattungsmuster verbunden, die im Rahmen des „narrative turn“ vor allem durch Hayden White in die Kulturwissenschaften getragen wurden. Sie zeigen den engen Zusammenhang auf, der zwischen literarischen Gattungen und Geschichtsverständnissen besteht.188 Erfahrungen werden überdies durch bekannte Darstellungsmuster zugänglich und kommunizierbar; der Abenteuerroman etwa verleiht dem Erfahrungswandel einer Figur eine spezifische poetologische Struktur.189 Ein prägnantes Beispiel für die DDR bildet der zweibändige Roman des DDR-Schriftstellers Dieter Noll Die Abenteuer des Werner Holt, der zur Pflichtlektüre der Schüler gehörte. Außerdem können Erinnerungskulturen selbst gattungsproduktiv wirken, wie das Beispiel des sozialistischen Realismus als spezifischer sozialistischer Kunstform zeigt.190 Abgesehen von der Literatur existieren weitere „Gedächtnismedien“, neben Geschichtsschreibungen können dies bestimmte Quellengattungen, Mythen, religiöse Schriften, aber auch Schulbücher sein. Sie alle unterscheiden sich von literarischen Texten in erster Linie durch die Zuschreibung von Fiktionalität als Gattungselement. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die genannten Medien nicht auch fiktionale Strukturen aufweisen könnten. Die Lehrbücher für Staatsbürgerkunde bilden ein einschlägiges Beispiel für den Bereich Schulbuch. Dennoch besteht ein Unterschied zwischen Ereignissen, die innerhalb einer erzählten Welt entworfen und damit nach Wolfgang Iser fingierte Ereignisse sind191, und denen, 185 Erll (2011): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 174 f. 186 Erll (2011): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 175. 187 Bereits Wolfgang Iser hatte auf diese beiden Merkmale verwiesen, vgl. ders. (1993): Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1. Auflage, bes. S. 24–28. 188 Erll nennt das Epos als „Verständigungsmuster“ von Gemeinschaften, den historischen Roman als ‚Gedächtnisgattung‘ sowie französische Staatsmemoiren, vgl. dies. (2011): Kollek tives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 176. 189 Vgl. dazu auch Kapitel 4 c) sowie 6.4. 190 Vgl. auch die Analyse zur Staatsbürgerkunde 8 in Kapitelabschnitt 6.2. 191 Literatur ist ein „Als-Ob“: Die erzählte Welt besteht in der Vorstellung des Rezipienten, sie verweist auf etwas, „das sie selbst nicht ist“ und fingiert damit Wirklichkeit, vgl. Iser (1993): Das Fiktive und das Imaginäre, S. 20 sowie 40.
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die potenziell Realitätswert besitzen. Die historiografische Deutung eines Ereignisses ist etwas anderes als die Erfindung eines Geschehens im Rahmen einer fiktionalen Welt, auch wenn dieses in der Rezeption nicht minder wirksam zu werden vermag, sofern der Leser die Ereignishaftigkeit in eine Erfahrung übersetzt.192 In der Fiktion werden kulturelle Wahrnehmungsweisen neu strukturiert. Literatur gerät dann zum ‚gedächtnisproduktiven‘ Medium193, das in eine Erinnerungskultur hineinwirkt, wenn ihr Wirkrahmen über das Literarische hinaus konzipiert ist, und ihr eine hohe normative Verbindlichkeit zugewiesen wird. Dies trifft auf die Literaturrezeption im Rahmen der Staatsbürgerkunde ganz besonders zu. Die dort verhandelten Werke bildeten die wichtigsten des offiziellen sozialistischen Literaturkanons, die zusätzlich im Deutschunterricht ausführlich behandelt wurden. Die Diffusion dieser Texte in den politischen Unterricht zeigt das Wirkungspotenzial, das ihnen als Instrument der sozialistischen „Überzeugungsbildung“ zugeschrieben wurde. Literatur, zugleich „erinnerndes Medium und erinnerter Gegenstand des kulturellen Gedächtnisses“194, bildete ein zentrales Moment der sozialistischen Erinnerungskultur. Die zur Erzeugung dieser Erinnerungskultur entwickelte Weltanschauungsdidaktik wird im folgenden Kapitel erläutert.
192 Vgl. Iser (1993): Das Fiktive und das Imaginäre, S. 45. Mit Erfahrung ist die spezifische Lesererfahrung gemeint, die hohe kognitive Leistung, die der Leser vollbringt, um das Geschilderte zu bewältigen: „Wenn das Fiktive im fiktionalen Text Grenzen markiert, um sie zu überschreiten, damit dem Imaginären die zureichende Konkretheit gesichert werden kann, die es zu seiner Wirksamkeit braucht, dann entsteht im Rezipienten die Notwendigkeit, das ereignishafte Erfahren des Imaginären zu bewältigen.“ 193 Vgl. Erll (2011): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 177 f. 194 Vgl. Erll (2011): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 188.
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Die methodischen, fachdidaktischen und pädagogischen Debatten, die die Staatsbürgerkunde Zeit ihrer Existenz begleiteten, folgten maßgeblich der einen Frage: Wie lässt sich bei den Schülern „echte Begeisterung“ für die staatsbürgerkundlichen Inhalte wecken? Aus den Auseinandersetzungen resultierte in den 1970er Jahren die „sozialistische Überzeugungsbildung“, ein Gesamtkonzept zur Einstellungssteuerung der Schüler, mit denen die Frage nach größtmöglicher Wirksamkeit des Staatsbürgerkundeunterrichts auf eine systematische methodische Basis gestellt wurde. Mit dem 1971 publizierten Buch Überzeugungsbildung wird im Folgenden das Resultat der Debatte vorgestellt sowie dessen theoretische und fachdidaktische Grundlagen erläutert und methodisch konkretisiert. Ein Fokus liegt dabei auf dem geplanten Einsatz von literarischen Texten, der für einen erlebnishaften und damit emotional wirksamen Staatsbürgerkundeunterricht sorgen sollte.
a) Sozialistische Überzeugungsbildung im Staatsbürgerkundeunterricht: zur Programmatik des Konzepts Als im Verlauf der fachdidaktischen und methodischen Debatte1 ein Gesamtkonzept der Staatsbürgerkunde auf den Weg gebracht wurde, das die zuvor unberücksichtigt gebliebenen unteren Klassen 7 und 8 einschloss, veränderte sich auch die Funktion des Unterrichts. Neben kognitiven Inhalten stand nun vor allem eine Handlungs- und Verhaltensnormierung der Schüler im Vordergrund. Erstmals gerieten affektive Lernprozesse als Steuerungselemente systematisch in den Blick der Methodiker.2 Der bis Mitte der 1960er Jahre verwendete Begriff der Einstellungsbildung wurde nun durch den Terminus Überzeugungsbildung ersetzt und in einer entsprechenden Veröffentlichung als verbindlich legitimiert.3 Fortan spielten die in den Lehrplänen genau definierten Stoffeinheiten 1 Bis 1970 gut aufgearbeitet bei Annemarie Haase (1977): Staatsbürgerkunde in der DDR. Etappen der Entwicklung des Faches und Ansätze der Theoriebildung für Unterrichtsplanung und -gestaltung im Zeitraum von 1945–1970. Inauguraldissertation Aachen. 2 Diese sollten helfen, die Entwicklung normativer Orientierungen fortan zielgerichtet zu planen und zu organisieren, vgl. Haase, Annemarie (1977): Staatsbürgerkunde in der DDR, S. 114. 3 Das Gemeinschaftswerk von Fachleuten verschiedener Institute der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften aus dem Jahr 1971 richtete sich eigens an Staatsbürgerkundelehrer der Klassen 7 und 8, ordnete die klassenspezifischen Ziele in ein methodisch-didaktisches Gesamtgerüst ein und formulierte eine Auswahl von besonders wirksamen Bedingungen für den Erfolg der „Überzeugungsbildung“, vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Horst Kühn (1971):
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als Bausteine der staatsbürgerlich-ideologischen Erziehung eine maßgebliche Rolle. Die Ansicht, dass der Prozess einer geglückten Überzeugungsbildung bis ins Detail planbar sei, bildete die Grundlage für die „Linienführung“ des Fachunterrichts der Klassen 7 bis 12. Das Allgemeinziel, die Erziehung der „allseitig und harmonisch entwickelte[n] sozialistische[n] Persönlichkeit“, von der Sieghaftigkeit des Sozialismus überzeugt und für diesen in „Wort und Tat“ einstehend, sollte durch die systematische Vermittlung der „sozialistischen Ideologie“ erreicht werden.4 Die Inhalte der Überzeugungsbildung waren in einem allgemeinen Anforderungskatalog von Verhaltensregeln und Tugenden formuliert, die, obwohl wenig individuell gestaltet, eine emotionale Bindung an den Sozialismus gewährleisten sollten.5 In den Lehrbüchern wurden diese Anforderungen dementsprechend immer wieder an den Schüler gestellt. Das Gesamtkonzept für Staatsbürgerkunde sah vor, dass jede Klassenstufe einen Beitrag zur Zielstellung des Unterrichtsfaches zu leisten habe, der in den Lehrplänen jahrgangsspezifisch formuliert wurde. Damit war die mitunter auffällige Wiederholung bestimmter Inhalte in den unterrichtsrelevanten Materialien konzeptuell verankert. Obwohl die Wiederholungsstruktur didaktisch durchaus kritisch reflektiert wurde6, blieb der Staatsbürgerkundeunterricht mit seiner Einteilung in die drei Zyklen 7 und 8, 9 und 10 sowie 11/12 als „Weiterentwicklung der gleichen Überzeugungen auf einem jeweils höheren Niveau“ konzipiert.7 Waren die Inhalte der Klassen 7 und 8 stärker historisch ausgerichtet, sollten die Jahrgänge 9 und 10 in die marxistische Theorie einführen. An diese Stelle wurde auch die Behandlung der „sozialistischen Weltanschauung und Überzeugungsbildung im Staatsbürgerkundeunterricht. Pädagogisch-psychologische Probleme der Überzeugungsbildung im Staatsbürgerkundeunterricht der Klassen 7 und 8. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage. 4 Vgl. Überzeugungsbildung (1971): S. 9. 5 Beispielswiese wurden marxismustheoretische Grundlagen wie die historische Mission der Arbeiterklasse emotional kodiert, indem die Jugendlichen dazu aufgefordert wurden, deren Vorkämpfer zu „lieben“ und zu „verehren“. Die Überzeugung von der Zukunftsfähigkeit, Sieghaftigkeit und Wahrhaftigkeit des Systems sollte sich in „Stolz“ auf den Sozialismus und in „Haß“ auf den Imperialismus ausdrücken. Mit dem gefühlsmäßigen Lernziel war ein radikaler Traditionsabbruch mit dem westdeutschen System verbunden: „Alles verbindet uns mit der DDR, unserem sozialistischen Vaterland, nichts verbindet uns mit dem verhaßten imperialis tischen System in Westdeutschland.“ Überzeugungsbildung (1971): S. 13. 6 „Auch die ständige Wiederholung von Kenntnissen und Erkenntnissen, ihre Verallgemeinerung zu Lehrsätzen, Normen und Prinzipien führt nicht mechanisch zu den gewünschten Effekten. Im Gegenteil, eine übertriebene Anwendung der Wiederholungsmethode kann zwar zu einer gedächtnismäßigen Bekräftigung und verbesserten Reproduktionsleistung führen, der Vorgang der Identifizierung und Einstellungsbildung wird aber beim Schüler gehemmt, weil die innere Abneigung gegen die mechanische Methode sich auf den dargebotenen Inhalt überträgt.“ Vgl. Überzeugungsbildung (1971): S. 68. 7 Überzeugungsbildung (1971): S. 16. Vgl. dazu auch Haase, Annemarie (1977): Staats bürgerkunde in der DDR, bes. S. 238–251.
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Moral“ verortet und ihre wegweisende Funktion betont.8 In den Klassen 11 und 12 erfolgte die Vertiefung der theoretischen Grundlagen des dialektischen und historischen Materialismus sowie der marxistisch-leninistischen Ethik. An dieser Stelle erfolgte auch die marxismustheoretische und philosophische Auseinandersetzung mit Religion. Die spezifische Bedeutung des Staatsbürgerkundeunterrichts für die Über zeugungsbildung in den Klassen 7 und 8 wurde in seinem emotionalen Potenzial gesehen: Durch bestimmte Vermittlungstechniken sollten gesellschaftspolitisch relevante Ziele durch die gefühlsmäßige Betroffenheit des Schülers personalisiert und dadurch ein fester Klassenstandpunkt gebildet werden.9 Dem didaktischen Konzept lag eine bestimmte Vorstellung von Emotion zugrunde: Überzeugung sollte von der Einheit von Einstellung und Handeln zeugen: Echte Überzeugung erwies sich in der aus den richtigen Motiven ausgeführten richtigen Tat10, zum Beispiel der Übererfüllung der Arbeitsnorm aus Idealismus. Überzeugung beinhaltete demnach sowohl rationale als auch emotionale Komponenten, wenngleich der Begriff Emotionalität weiter spezifiziert wurde. Damit waren bestimmte Gefühle von vornherein ausgeschlossen. Die sozialistische Überzeugung sollte sich ausschließlich auf ein auf rationaler Grundlage basierendes Erleben beziehen. Sowohl das bloße Gefühl als auch „Mystizismus“ und „Irrationalismus“, die „mit Hilfe des Glaubens auch zu intensivem Evidenzerleben führen“ könnten, fanden als Beleg für die sozialistische Überzeugung keine Anerkennung.11 Ziel der Überzeugungsbildung war ein intensives Erleben der Bedeutsamkeit gesellschaftlich relevanter Entwicklungen, was durch die Anknüpfung an Interessen, Ideale und vor allem Vorbilder der Schüler erreicht und methodisch durch Aktualitätsbezüge, Literaturbeispiele, Filme oder die persönliche Begegnung mit sozialistischen Vorbildcharakteren umgesetzt werden sollte.12 Das in der didaktischen Konzeption verankerte Verständnis von Emotionalität wurde
8 „Der zweite Zyklus schließt in der 10. Klasse mit einer zusammenfassenden Behandlung der Grundzüge der sozialistischen Weltanschauung und Moral ab, durch die die Schüler eine tiefgehende Begründung für ihr Verhalten als bewußte junge Sozialisten und für die sinnvolle Gestaltung des eigenen Lebens erhalten. Sie sollen begreifen, daß der Marxismus-Leninismus der Kompaß für das Leben junger Revolutionäre ist.“ Überzeugungsbildung (1971): S. 17. 9 Vgl. Überzeugungsbildung (1971): S. 18. Die Orte dieser Emotionalisierung lassen sich im Lehrbuchtext deutlich lokalisieren: Für die siebte Klasse betrifft dies vor allem die Erzählungen vom Arbeiterhelden Adolf Hennecke, den emotional aufbereiteten Zusammenschluss von KPD und SPD zur SED sowie die Gründungserzählung der DDR. Für die achte Klasse stehen die sozialistische Verfassung, die Rolle des Einzelnen sowie die Inszenierung des Staatschefs Walter Ulbricht im Mittelpunkt des Erzählerischen. An diesen Stellen arbeitet der Text mit auffällig vielen fiktionalen Einschüben. 10 Vgl. Überzeugungsbildung (1971): S. 23 f. 11 Überzeugungsbildung (1971): S. 26. 12 Vgl. Überzeugungsbildung (1971): S. 29 f.
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damit auf Affektkontrolle eingeschränkt und der Normierung von Handlungsoptionen dienstbar gemacht.13 Als Überzeugungen galten „Anschauungen der Persönlichkeit über Erscheinungen und Zusammenhänge der objektiven Realität, über Inhalte des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bewußtseins, die persönlich bedeutsam sind, auf Evidenzerlebnissen beruhen und in starkem Maße handlungswirksam werden.“14
Initialisiert wurde der Prozess der Überzeugungsbildung durch kontrolliert angeregte Wissenslücken, die den Schüler zum Lernen und vor allem zur Ableitung moralischer Konsequenzen aus den gewonnenen Erkenntnissen bewegen sollten. Als Planungsinstrumente der Überzeugungsbildung sahen die Stoffeinheiten detailgenau formulierte Inhalte und Zielstellungen vor, die an bereits erfolgte Bildungs- und Erziehungsarbeit unterer Klassenstufen anknüpfte.15 Die Hauptziele der Klasse 7 beispielsweise, die Schüler mit den Leistungen und Errungenschaften der Werktätigen vertraut zu machen, sie zur „Liebe“ zum sozialistischen Vaterland zu erziehen und die Überzeugung der Sieghaftigkeit des Sozialismus grundlegend zu verankern, wurde in vier aufeinander aufbauende Stoffeinheiten zerlegt.16 Die Verbindung von rationalen und emotionalen Momenten in allen vier Stoffeinheiten konzipierte die Überzeugungsbildung als einen mehrstufigen Prozess des „Erkennen[s], Erleben[s], Werten[s] und Mitgestalten[s]“.17 Auch für die Zielformulierung der Klasse 8 griffen Wissen und Einstellungsnormierung 13 „Die Jugendlichen […] sind so zu erziehen, daß sie nur auf einer solchen ausreichenden rationalen Grundlage Evidenzerlebnisse entwickeln.“ Überzeugungsbildung (1971): S. 30. Mit Evidenzerlebnissen war das Erleben der Gewissheit, dass etwas sich „so und nicht anders verhält“ gemeint, vgl. ebd. S. 26. 14 Überzeugungsbildung (1971): S. 33. 15 Zu den Vorleistungen zählten Kenntnisse über die sozialistische Heimat, den „Arbeiterund-Bauern-Staat“, zu Arbeiterklasse und Partei, den „Errungenschaften“ der Werktätigen sowie eine ausgeprägte Freund- und Feindbildkonstruktion, die sich in Heimatliebe bzw. Hass auf die ‚Feinde‘ ausdrücken sollte, vgl. dazu Überzeugungsbildung (1971): S. 78. 16 Die erste Einheit 7.1 Du und deine Zeit führte in das neue Unterrichtsfach Staatsbürgerkunde ein und sollte bei den Schülern das Bewusstsein wecken, „auf der Seite der Sieger und des Fortschritts der Geschichte“ zu stehen, vgl. „Überzeugungsbildung“ (1971): S. 74. Die Stoffeinheit 7.2 Vom schweren Anfang begann mit einer Rückblende auf das Jahr 1945, von wo aus die Erfolgsgeschichte DDR entfaltet wurde. Die Emotionalisierung des Lernstoffs hatte hier einen besonderen Ort: Das „Nacherleben“ der Taten von ‚Aktivisten der ersten Stunde‘ sollte „Liebe und Verbundenheit“ zu Arbeiterklasse und Partei festigen und das Streben, selbst als „Kämpfer für den Sozialismus“ einzustehen, wecken. Der Höhepunkt der Darstellung sollte die Gründung der SED sein. Mit insgesamt vierzehn Unterrichtsstunden bildete der dritte Abschnitt Die DDR – unser sozialistisches Vaterland die größte Stoffeinheit. Auch dort waren Gefühle wie Stolz oder Freundschaft zentral, vgl. ebd., S. 71. Die vierte Stoffeinheit thematisierte die Frage Warum bestehen heute zwei deutsche Staaten und sollte einer „parteilichen“ Auseinandersetzung mit dem Klassengegner dienen. 17 Überzeugungsbildung (1971): S. 73.
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ineinander, insofern die Kenntnis der Verfassung Einfluss auf die politisch-moralischen Einstellungen des Schülers nehmen sollte.18 Ergänzung fanden die Zielsetzungen des Staatsbürgerkundeunterrichts in anderen Unterrichtsfächern, vor allem in Geografie, Geschichte und Deutsch sowie durch außerschulische Erziehungsinstrumente. Speziell für die siebte und achte Klasse relevant waren die Mitgliedschaft in der Jugendorganisation – bis zum 14. Lebensjahr bei den Thälmann-Pionieren19, danach in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) – sowie die Teilnahme an der Jugendweihe, die seit 1958 zur Pflichtveranstaltung geworden war.20 1978 kam mit dem Wehrunterricht ab der neunten Klasse ein weiteres obligatorisches Unterrichtsfach hinzu, mit dem die paramilitärische Erziehung der Jugend in den Curricula verankert wurde. Insgesamt war der Staatsbürgerkundeunterricht in ein umfassendes Erziehungskonzept eingebunden. Das neue Lehrplanwerk entwarf eine Gesamtkonzeption, in der der Staatsbürgerkunde als „Schlüsselfach“ und „Leitfaden“21 aller dings eine besondere Rolle zugedacht wurde. Der Erfolg dieser politischen Erziehungsarbeit schien sich in empirischen Untersuchungen zu bestätigen.22 18 Vgl. Überzeugungsbildung (1971): S. 75. Der insgesamt in sechs Themeneinheiten eingeteilte Unterrichtsstoff begann mit der Entstehungsgeschichte der Verfassung, die im Lehrbuchtext durch einen Bericht aus Figurenperspektive veranschaulicht wurde. In der Stoffeinheit 8.2 wurde mit politischen, sozialökonomischen, wissenschaftlichen und kulturellen Grundlagen der Gesellschafts- und Staatsordnung die sozialistische Gesellschaft charakterisiert, aus denen in der dritten Stoffeinheit die Rechte und Pflichten des Staatsbürgers abgeleitet wurden, die als „Höhepunkt“ der ideologischen Erziehung eine besondere Bedeutung in der Gesamtkonzeption der Staatsbürgerkunde der achten Klasse erhielt, vgl. ebd., S. 76. Weiterhin folgten die Themen politische Institutionenkunde (8.4), Außenpolitik (8.5) sowie Aufgaben der Jugend (8.6), die sich auf schulisches Lernen, soziale Partizipation (Mitgliedschaft in den Jugendorganisationen) sowie militärische Pflichterfüllung bezogen. 19 In ihren Pionierzirkeln hatten sich die Jungen und Mädchen der siebten Klasse zusätzlich mit Lenin-Texten auseinanderzusetzen, die als Ratgeberliteratur für die Gestaltung des Alltagslebens rezipiert wurden, vgl. Überzeugungsbildung (1971): S. 83. 20 In den die Jugendweihe vorbereitenden Unterrichtsstunden wurden die staatsbürgerkundlichen Inhalte vertieft. Hier bestand auch eine enge Verbindung zur Schule. Nicht nur, dass die für Planung, Organisation und Durchführung zuständigen zentralen Jugendweihe ausschüsse dem Ministerium für Volksbildung unterstellt waren, auch die Infrastruktur der Schule wurde für die Jugendweihestunden genutzt. Zur Verbindung mit der Schule und den Inhalten der Jugendstunden vgl.: Knopke, Lars (2007): Kinder im Visier der SED. Eine Untersuchung zur marxistisch-leninistischen Ideologisierung von Kindern und Jugendlichen im DDR-Schulwesen und darüber hinaus. Hamburg: Verlag Dr. Kovac, S. 137–146. 21 Überzeugungsbildung (1971): S. 80. 22 Die Ergebnisse sind aus heutiger Sicht insofern problematisch, weil Vorgehen und Auswertung des Materials mitunter fragwürdig waren, vgl. den in Überzeugungsbildung (1971) präsentierten Unterrichtsversuch, S. 112–136. Die dort dokumentierten Antwortvorgaben dürften es den Schülern nicht allzu schwer gemacht haben zu erkennen, welche Antworten von ihnen gewünscht wurden. Auch verlief die Auswertung des Materials ausgesprochen normativ, insofern zwischen „wesentlichen“ und „unwesentlichen“ Motiven unterschieden wurde: Als wesentlich galten auf unpersönliche Ziele gerichtete Antworten, wie die Stärkung des Sozialismus
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b) Wirksamkeit durch Parteilichkeit Mit der Frage nach der Wirksamkeit korrespondierte die Frage nach Anschaulichkeit und ansprechender Gestaltung des Staatsbürgerkundeunterrichts. Beide bildeten in den methodischen Fachdebatten ein Dauerthema, das in den 1970er Jahren unter dem Begriff der problemhaften Unterrichtsgestaltung verhandelt wurde.23 Was war damit methodisch indiziert? Vereinfacht gesagt bildete der Terminus einen Euphemismus für die aktualitätsbezogene Vermittlung der theoretischen Grundlagen des Marxismus-Leninismus sowie dessen methodologischer Fundierung als Analyseinstrument und Praxisanleitung. Im Vordergrund stand dabei nicht, den Marxismus-Leninismus kritisch zu evaluieren, sondern die Schüler im Gegenteil auf die marxistisch-leninistische Betrachtung sämtlicher Themen- und Lebensbereiche zu verpflichten.24 Die Forderung betraf alle Klassenstufen. Neben dem Aktualitätsbezug sollte die problemhafte Gestaltung des Unterrichts den Schüler zur parteilichen Wertung erziehen. Dafür wurde ausdrücklich auf die Polemik als Methode verwiesen. Umsetzung fand das Konzept in der „Problemstellung“ als einer Aufgabenart, die vorsah, aus dem Unterricht eine „Problemsituation“ herzuleiten, die der Schüler selbstständig zu bearbeiten hatte, und die grundsätzlich auch als „Problemdiskussion“ umgesetzt werden konnte.25 Der methodische Entwurf zur problemhaften Unterrichtsgestaltung war das Ergebnis einer fachdidaktischen Debatte, in der sich zwei verschiedene Konzepte gegenüberstanden: das auf der Konfrontation verschiedener Positionen basierende durch das eigene schulische Lernen. Die auf persönliche Interessen bezogenen Antworten wurden zwar nicht als falsch angesehen, galten in der Auswertung aber als unwesentlich, beispielsweise die Angabe zu lernen, um mit der zehnten Klasse abzuschließen oder im Berufsleben Aussicht auf eine besser bezahlte Anstellung zu erhalten. Später war es genau dieses Propagieren von ausschließlich gemeinschaftlich relevanten Werten, mehr noch, die Negierung der Bedeutung und überdies die moralische Disqualifikation persönlicher Ziele, die nicht nur bei Jugendlichen auf Ablehnung stieß. 23 Die entsprechende Programmatik lieferten die Methodiker Wolfgang Lobeda und Siegfried Piontkowski (1974): Zur problemhaften und emotionalen Gestaltung des Staatsbürgerkundeunterrichts. Berlin: Volk und Wissen. 24 Mit den Worten des Staatsbürgerkundemethodikers Lobeda lag die Bedeutung eines problemhaft gestalteten Unterrichts darin, „daß durch die theoretisch fundierte parteiliche Aus einandersetzung mit Problemen der gesellschaftlichen Praxis und Theorie der innere Zusammenhang von objektiven Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse […] aufgedeckt sowie die Einheit von wissenschaftlicher Erkenntnis und parteilicher Wertung, von marxistisch-leninistischer Theorie und revolutionärer Praxis in der Politik der kommunistischen Arbeiterparteien überzeugend nachgewiesen werden kann.“ Vgl. Lobeda, Wolfgang (1974): Problemhafte Gestaltung des Staatsbürgerkundeunterrichts. In: ders./Piontkowski, Siegfried: Zur problemhaften und emotionalen Gestaltung des Staatsbürgerkundeunterrichts. Berlin: Volk und Wissen, S. 9–66, hier: S. 9 f. 25 Konkret wird dies in der Analyse zu Weltanschauung in Staatsbürgerkunde 10, Abschnitt 6.4.4 c).
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„forschende Lernen“ einerseits, und das rezeptive Lernen andererseits, das sich damit durchsetzte.26 Dies betraf auch den Einsatz von Literatur im Staatsbürgerkundeunterricht, der ebenso rezeptiv konzipiert und damit der Verinnerlichung des Marxismus-Leninismus dienstbar gemacht war.27
c) Wirksamkeit durch Emotion: Literatur im Staatsbürgerkundeunterricht Den Ausgangspunkt der zeitgenössischen methodischen Debatte bildete die Annahme, dass emotional präsentiertes Unterrichtsmaterial die moralische Überzeugung der Schüler stärker festigt als rein rationale Darstellungen.28 Unter einer emotionalen Unterrichtsgestaltung wurde vor allem der Einsatz verschiedener Medien wie Tonbänder oder Bilder in Kombination mit personalisierten Geschichtserzählungen durch Zeitzeugenberichte verstanden.29 Daneben galt Literatur als Instrument der emotionalen Unterrichtsgestaltung schlechthin. Bereits Ende der 1960er Jahre hatte der Fachdidaktiker Siegfried Piontkowski in einem Aufsatz auf die Rolle von Literatur zur „Bewußtseinsbildung“ verwiesen und seine Thesen einige Jahre später an Unterrichtsbeispielen für Klasse 10 expliziert.30 Kunstwerke trügen insgesamt zu einer „höheren emotionalen Wirksamkeit“ der Staatsbürgerkunde bei, wobei der Erfolg auch vom verwendeten Genre abhänge.31 Den Begründungszusammenhang für Piontkowskis Überlegungen lieferte die Literaturrezeption der sozialistischen „Klassiker“ Karl Marx und Friedrich Engels, was zugleich zeigt, dass die argumentative Einbindung und 26 Für die Hintergründe der Debatte vgl. Haase (1977): Staatsbürgerkunde in der DDR, S. 264–274. Die von Lobeda angeführten Beispiele für verschiedene Problemlösungsaufgaben verblieben im Rahmen von Wiederholung und Rekapitulation bereits erworbenen theoretischen Wissens, vgl. ders. (1974): Problemhafte Gestaltung des Staatsbürgerkundeunterrichts, S. 39–56. 27 Vgl. dazu auch Haase (1977): Staatsbürgerkunde in der DDR, S. 276 f. 28 Vgl. Haase (1977): Staatsbürgerkunde in der DDR, S. 137. Die Autorin bezieht sich dabei auf eine Arbeit von Adolf Kossakowski, seinerzeit einem der führenden DDR-Entwicklungspsychologen. 29 Beispielsweise wurde für die Unterrichtseinheit 7.1 Vom schweren Anfang vorgeschlagen, den Schülern zuerst Fotografien ihrer nach 1945 zerstörten Heimatstadt zu zeigen und den visuellen Eindruck mit entsprechenden Opferzahlen und Berichten über das Elend der Überlebenden anzureichern, um dann vom kommunistischen Aufbau zu erzählen. Auf diese Weise sollten gezielt Emotionen hervorgerufen werden, vgl. Überzeugungsbildung (1971): S. 147. In der Gesamterzählung ließen diese sich dann unter Kommunismus verschlagworten. 30 Piontkowski, Siegfried (1968): Zur Rolle des Kunstwerkes bei der Bewußtseinsentwicklung der Schüler im Staatsbürgerkundeunterricht. In: Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde 10, Heft 7, S. 632–639 sowie ders. (1974): Zur Arbeit mit Werken der Literatur im Staatsbürgerkundeunterricht. In: Lobeda, Wolfgang/Piontkowski, Siegfried: Zur problemhaften und emotionalen Gestaltung des Staatsbürgerkundeunterrichts. Berlin: Volk und Wissen, S. 67–139. 31 Vgl. Piontkowski (1974): Arbeit mit Werken der Literatur, S. 67 und 69. Der Autor differenziert zwischen Romanen, Reportagetexten und Gedichten, ebd., S. 69 f.
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der ostentative Verweis auf diese Schriften eine verbreitete Praxis innerhalb des pädagogischen Diskurses bildete.32 Idealtypisch sollte der Einsatz von Literatur der Verinnerlichung des Marxismus-Leninismus dienen.33 Die mit dem Rezeptionsprozess intendierte „ästhetische Identifikation“ – die Vorstellung, dass sich im Kunstgenuss die Einbildungskraft des Künstlers auf den Rezipienten überträgt34 – stand unter der Prämisse, dass der Künstler selbst als Sozialist spricht, und der Lehrer den Rezeptionsprozess der Schüler zusätzlich lenkt.35 Zwei Unterrichtsbeispiele verdeutlichen, wie detailgenau der Einsatz von Literatur geplant und choreografiert wurde: Für den Unterricht der Klasse 9 schlägt der Autor die Verwendung der Brecht’schen Parabel Wenn die Haifische Menschen wären vor, um den Schülern den Imperialismus prinzipiell als menschenfeindliches System zu vermitteln.36 Damit wird das Motiv der systemischen Widernatürlichkeit aufgegriffen, das im Lehrbuchkorpus bereits in Klasse 7 angeklungen war, hier aber noch einmal ins Grundsätzliche überführt werden sollte.37 Aus den angeführten Arbeitsaufgaben geht hervor, dass die Methodiker der Parabel zwar ein gewisses Wirkungspotenzial unterstellten, dieses aber nicht mit neuen Lerninhalten verbanden. Die Aufgaben dienten der Rekapitulation 32 Der Autor führt eine Stelle des Kapitals an, an der Marx auf Shakespeares Timon von Athen verweist und kommt zu dem Schluss: „Wir haben es hier mit einem Beispiel zu tun, in dem Marx einerseits die Funktion des Geldes mittels ökonomischer Kategorien theoretisch analysiert und zu wissenschaftlichen Aussagen gelangt und dieser wissenschaftlichen Analyse eine auf den gleichen Gegenstand bezogene künstlerische Aussage zuordnet.“ Ebd., S. 73 sowie – noch einmal pointiert – S. 84. 33 Die angegebenen Beispiele für die Verwendung von Literatur werden unter der Prämisse gestellt, „Kunstwerke im Hinblick auf die […] weltanschaulichen Erkenntnisse und die auf ihrer Grundlage zu festigende weltanschauliche Position einzubeziehen.“ Vgl. Piontkowski (1974): Arbeit mit Werken der Literatur, S. 86–103. 34 Vgl. Piontkowski (1974): Arbeit mit Werken der Literatur, S. 76. 35 Vgl. Piontkowski (1974): Arbeit mit Werken der Literatur, S. 81–83. Als literarischer Bezugsrahmen für den Staatsbürgerkundeunterricht der Klassen 8 bis 10 wird ausschließlich sozialistische Literatur angegeben, vgl. S. 82. 36 In der Parabel wird die kapitalistische Gesellschaft auf das Reich der Fische übertragen. Der Text besteht größtenteils aus einer Figurenrede. Die Erzählinstanz tritt lediglich am Anfang in der durch Inquit-Formeln als Redewiedergabe gekennzeichneten Kommunikationssituation in Erscheinung. Ausgangspunkt der Schilderungen ist die Antwort eines Herrn K. auf die Frage eines kleinen Mädchens, ob Haie, sofern sie Menschen wären, kleinere Fischer „netter“ behandeln würden. Die Figur entwirft in ihrer Antwort nach und nach ein Szenario, das die kapitalistische Gesellschaft als unmenschlich entlarvt. An einer Stelle heißt es: „Auch eine Religion gäbe es da, wenn die Haifische Menschen wären. Sie würde lehren, daß die Fischlein erst im Bauch der Haifische richtig zu leben begännen.“ 37 Vgl. das Kapitel zur Staatsbürgerkunde 7. Piontkowski hebt das Grundsätzliche des Lernziels ausdrücklich hervor, wenn er anmerkt, „daß die meisten Schüler nach unserem bisherigen Unterricht den Imperialismus im wesentlichen richtig und parteilich einschätzen, manche aber dennoch die Ansicht vertraten, bestimmte Lebensbereiche im Imperialismus würden von der Menschenfeindlichkeit des Systems relativ unberührt bleiben.“ Ders. (1974): Arbeit mit Werken der Literatur, S. 91.
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bereits vorhandenen Wissens, so dass der literarische Text ausschließlich in seiner politischen Funktion als Belegbeispiel fungierte, während ästhetische oder wirkungstheoretische Fragen keine Rolle spielten.38 Dementsprechend beschränkte sich die didaktische Reflexion auf choreografische Überlegungen. Ausgewählte Fotomontagen sollten die Menschenfeindlichkeit des Imperialismus zusätzlich bebildern.39 In der Praxis wurde der Brecht’sche Text im Staatsbürgerkundelehrbuch für Klasse 9 am Ende eines Abschnitts mit dem Titel „Das Wolfsgesetz der kapitalistischen Konkurrenz“ als Arbeitsaufgabe einbezogen, zu dessen Lektüre die Schüler durch einen Querverweis auf das Lesebuch aufgefordert wurden. Erstaunlicherweise waren – trotz der didaktisch recht ausführlichen Anleitung – methodische Konzeption und Schulbuch an dieser Stelle nicht aufeinander ab gestimmt, denn die Methodiker arbeiteten mit einem literarischen Vorschlag, der in den zeitgleich gebräuchlichen Schulbüchern nicht mehr vorkam.40 Die grundsätzliche Bedeutung von Literatur für die Vermittlung der sozialis tischen Weltanschauung wird von Piontkowski aber erst anhand des program matischen Schlusskapitels Grundzüge der sozialistischen Weltanschauung und Moral der Staatsbürgerkunde 10 entfaltet. Dies ist in Bezug auf die Linienführung des Unterrichts innerhalb des zentralistischen Schulsystems nur konsequent, denn für jeden Schüler der DDR endete zumindest der allgemeinbildende Zweig der polytechnischen Oberschule mit diesem Kapitel, dessen methodisch sorgfältige Ausgestaltung sich als dramaturgisch zweckmäßig erwies.41 Die besondere Eignung der Stoffeinheit 10.4 für die Verwendung von Literatur ergab sich nach Piontkowski aus der engen Verbundenheit von weltanschaulich-moralischen Erkenntnissen mit „ästhetischen Bewußtseinsprozessen“, womit der sozialistischen Weltanschauung selbst ein ästhetisches Potenzial unterstellt wurde. Am litera rischen Beispiel sollte dem Schüler etwas gezeigt werden: 38 Beispielsweise forderte eine Arbeitsaufgabe die Schüler vor der Lektüre des Brecht-Textes dazu auf, ihre Einschätzung des Imperialismus darzulegen und dessen „menschenfeindliche[s] Wesen heraus[zuarbeiten]“, nach der Lektüre sollten die Schüler darlegen, „ob die generelle Wertung des Imperialismus […] voll zutrifft“ und mit der Gegenwart „übereinstimmt“, vgl. Piontkowski (1974): Arbeit mit Werken der Literatur, S. 93 f. 39 Genannt wird die Montage von John Heartfield Krieg und Leichen, die letzte Hoffnung der Reichen von 1932, auf der eine Hyäne mit Zylinder zu sehen ist, die zähnefletschend auf einem Schlachtfeld mit toten Soldaten steht. Das Tier trägt einen Orden um den Hals, der in Anspielung auf die preußische Militärauszeichnung Pour le Profit titelt. Vgl. Arbeit mit Werken der Literatur, S. 94. 40 Lediglich die Schulbuchausgabe von 1970 verweist auf den Brecht-Text, vgl. Autorenkollektiv der Sektion Marxismus-Leninismus der Humboldt-Universität Berlin: Staatsbürgerkunde 9. Berlin: Volk und Wissen 1970. 1. Auflage, S. 42. In allen späteren Ausgaben kommt er nicht mehr vor. 41 Vgl. dazu auch den Abschnitt 5b) zum Begriff des „Aberglaubens“ in der Staatsbürgerkunde 10 sowie die zusammenfassende Analyse.
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„Besonders über den Prozeß der ästhetischen Identifikation kann erreicht werden, daß die Schüler entsprechend der künstlerischen Darstellung ihre eigenen Lebens erfahrungen in diesem Prozeß mobilisieren, vergleichen, werten und sich zum künstlerisch gestalteten Entwicklungsprozeß in Beziehung setzen. Ein auf diese Weise erlebnisbetonter und emotional wirksamer Unterricht kann die Aktivität der Schüler bei der Beurteilung und Wertung des eigenen Handelns und Verhaltens durch wissenschaftlich begründete weltanschauliche und moralische Maßstäbe oder bei der Erarbeitung dieser Maßstäbe selbst besonders fördern. […] Fragen des sozialistischen Lebensstils sollen […] nicht allein zur theoretischen Erkenntnis werden, die zum Durchdenken der eigenen Lebenspraxis führt, sondern zugleich von den Schülern bewußt akzeptierte Kriterien für die praktische Veränderung ihrer eigenen unmittelbaren Lebensumstände [Hervorh. i. Orig.].“42
Das Ziel war die Vereinheitlichung von gesellschaftlichen und individuellen Interessen durch eine Normierung von Wissen und Handeln, wenngleich sich der Autor dafür eines Literaturverständnisses bediente, das er zuvor selbst als zu wenig differenziert kritisiert hatte.43 Trotz der geforderten ästhetischen Distanz wurde Literatur so zu einem eigenen, intrinsisch überzeugungsbildenden Unterfangen; ihre Funktion ging weit über den Kunstgenuss hinaus. So war denn auch die Rede von leserunabhängigen „Potenzen“ der Literatur in Bezug auf den so zialistischen Lebensstil, nicht aber von Wirkungspotenzialen eines Textes, wie sie in Wolfgang Isers Wirkungstheorie formuliert worden waren. Dies geht auch aus der von Piontkowski angeführten Dokumentation eines Unterrichtsversuchs hervor, der die Wirksamkeit des populären Romans Die Abenteuer des Werner Holt44 von Dieter Noll zu zeigen beanspruchte. Die Doku 42 Piontkowski (1974): Arbeit mit Werken der Literatur, S. 105. 43 Vgl. ders. (1974): Arbeit mit Werken der Literatur, S. 83. 44 Der Roman bildet den ersten Teil einer zweibändigen Erzählung, der von den Erlebnissen des Schülers Werner Holt in den Jahren 1943 bis 1945 berichtet, in denen er als Flakhelfer und junger Wehrmachtssoldat mit dem Krieg konfrontiert wird. Der Text ist in der Sekundärliteratur als sozialistischer Entwicklungsroman eingestuft worden, vgl. Art. Noll, Dieter, in: Metzler Lexikon DDR-Literatur, hg. von Opitz, Michael/Hofmann, Michael. Stuttgart: Metzler 2009, S. 239. Allerdings wird Holt gerade im zweiten Band, der seine Heimkehr und den versuchten Anschluss im zivilen Leben schildert, immer wieder als Suchender und Scheiternder dargestellt. Während des Krieges zweifelt er zwar mehr und mehr am Nationalsozialismus („Ein Maßstab fehlt […], an dem sich messen lässt, was gerecht und ungerecht ist“, S. 405; „Wenn es möglich wäre, dachte er, daß man den Krieg übersteht, dann müßte man ganz von vorn anfangen, umlernen, suchen, fragen…“ S. 498) und bekennt sich schließlich vor sich selbst schuldig: „Ich hab alles mitgemacht. Ich hab geschwiegen und zugesehen. Etwas davon war auch in mir [Hervorh. i. Orig.]“ S. 530. Der Autor lässt ihn jedoch auch später nicht zum leidenschaftlichen Sozialisten werden, die Figur ist nicht intrinsisch ‚gut‘, wie andere Romanhelden des sozialistischen Realismus. Diese Uneindeutigkeit hat zumindest anfangs für Kritik gesorgt, wenig später war der Roman aber überragend erfolgreich und wurde 1965 von der DEFA verfilmt, vgl. Metzler (2009): S. 239. Im Schulunterricht wurde jedoch stets nur der erste Teil gelesen. Für alle Zitate: Noll, Dieter (1964): Die Abenteuer des Werner Holt. Roman einer Jugend. Band I. Bremen: Carl Schünemann Verlag [©Aufbau-Verlag Berlin/Weimar].
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mentation basierte auf einem Experiment, das Studierende des einjährigen Qualifizierungsstudiums für Staatsbürgerkundelehrer im Jahr 1966/67 durchgeführt hatten45, um eine ideale Unterrichtsstunde zu entwickeln. Die Versuchsdokumentation ist fachdidaktisch aufschlussreich, insofern hier deutlich wird, welche Erwartungen die Methodiker an die Literatur als Erziehungsmittel herantrugen. Man versprach sich grundsätzlich positive Auswirkungen des Romans auf die sozialistische Bewusstseinsbildung, wobei besonders der Film als Medium der Erziehung hervorgehoben wurde.46 Ein Verlaufsentwurf konzipierte den Roman als Ausgangspunkt der Beschäftigung mit der marxistisch-leninistischen Weltanschauung. Die Stunde war dezidiert als „ästhetisch-ideologischer Prozeß“47 geplant und sollte damit über den ästhetischen Gesichtspunkt in Weltanschauungsfragen einführen. Die zu Beginn durch den Lehrer vorgetragene Bestimmung von Weltanschauung als Einflussfaktor auf menschliches Handeln und Verhalten wurde an Textauszügen des Romans, die unterschiedliche Entscheidungssituationen von Figuren, die die Schüler anschließend begründet beurteilen sollten, exemplifiziert.48 Eine angeführte Schlüsselszene des Romans ist besonders interessant, weil dort Religion auf bestimmte Art verhandelt wird: Auf Heimaturlaub kommt der Hauptcharakter Werner Holt mit seinem Freund Sepp Gomulka über den Krieg ins Gespräch, den sie gemeinsam als Wehrmachtsangehörige im Osten erleben. Trauma tisiert vom verbrecherischen Vorgehen der deutschen Armee entspinnt sich zwischen beiden eine Debatte, in der aus der Frage nach soldatischem Gehorsam schnell die Frage nach moralischen Maßstäben für menschliches Handeln wird: „Holt rief: ‚Aber wir müssen doch jeden Befehl ausführen! Das ist doch das oberste Gesetz des Soldaten! Wo käm denn die Wehrmacht hin, wenn wir Befehle verweigern! Befehl ist Befehl!‘ Gomulka lächelte. ‚Wo die Wehrmacht hinkäm? Wo kommt sie denn so hin, Werner! Und was du „oberstes Gesetz“ nennst… Da haben längst alle Gesetze ihre Gültigkeit verloren, nur dieses eine nicht!‘ Er holte aus der Brusttasche sein kleines Notizbuch und blätterte darin. ‚„Es ist in keinem Kriegsgesetz vorgesehen“, las er, „daß ein Soldat bei einem schimpflichen Verbrechen dadurch straffrei wird, daß er sich auf seinen Vorgesetzten beruft, zumal wenn dessen Anordnung in eklatantem 45 79 Schülern der zehnten Klasse wurde ein Fragebogen vor und nach dem gemeinsamen Anschauen der Romanverfilmung Die Abenteuer des Werner Holt vorgelegt. Die gestellten Fragen dienten sowohl der Aktivierung des Vorwissens in Bezug auf den Roman, der den Schülern bereits aus dem Deutschunterricht bekannt war, als auch einer ersten Beurteilung des Figurenhandelns, die ausführlich begründet werden sollte. Die Auswertung ergab, dass die Schüler zwar vielfach ‚richtig‘ entschieden, diese Entscheidung aber nur unzureichend vor dem Klassenkollektiv vertreten würden und manche selbst „falsche Wertungen als möglich und vertretbar“ akzeptierten – ein Ergebnis, das den Methodikern im Hinblick auf die Verhaltens- und Einstellungsnormierung der Schüler als höchst unbefriedigend gelten musste. 46 Vgl. Piontkowski (1974): Arbeit mit Werken der Literatur, S. 114. 47 Vgl. Piontkowski (1974): Arbeit mit Werken der Literatur, S. 116. 48 Im Roman vgl. S. 404–407 sowie 457–463.
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Widerspruch zu jeder menschlichen Moral und jeder internationalen Übung der Kriegsführung stehen.“ Wie findest du das?‘ ‚Das?‘ sagte Holt verwirrt. ‚Das ist… die Genfer Konvention, nicht‘? Da lachte Gomulka bitter, verzweifelt. Er rief: ‚Denk an die Sägemühle!✳ Das hier… das hat Goebbels zu Pfingsten im „Völkischen Beobachter“ geschrieben! Gemeint sind die amerikanischen Flieger, die unsere Städte bombadieren.‘ ‚Aber… das ist doch richtig!‘ ‚Und wer bestimmt, was ein „schimpfliches Verbrechen“ ist? Und was ist „menschliche Moral“? Überhaupt…‘, höhnte Gomulka, ‚„menschliche Moral“‘, das hätte uns der Ziesche [ein überzeugter Nazi und Kamerad] um die Ohren gehauen, Herrenmoral des nordischen Menschen gibt es, sonst gar nichts!‘ Heilloser Wirrwarr! Es fehlt irgendwas, dachte Holt, es fehlt ein Maßstab…! [Hervorh. i. Orig.] ‚Ein Maßstab fehlt, Sepp‘, sagte er, ‚an dem sich messen läßt, was gerecht und ungerecht ist!‘ ‚Jeder behauptet, recht zu haben‘, antwortete Gomulka. ‚Es kommt auf die Maßstäbe an. Es gibt einen sehr einfachen Maßstab, Ziesches Maßstab: wir Deutschen haben recht, immer, auch in der Mühle, wir dürfen alles.‘ ‚Aber so… kann es nicht sein.‘ ‚Wenn du auf das hörst, was die… die uns sagen‘, fuhr Gomulka fort, ‚dann wirst du immer verwirrter, dann weißt du gar nichts mehr. Die drehn alles so, als ob sie recht hätten.‘ ‚Der Archimedische Punkt fehlt‘, sagte Holt. ‚Ja… Hast recht. Es muß etwas geben, wo keiner lügen kann. Wo die Tatsachen sprechen. Wo man sagen kann: Sei ruhig, hier ist der Beweis, du hast unrecht, du hast schuld. Der erste Schuß ist es nicht, solche… äußerlichen Tatsachen kann man organisieren, frisieren, verschleiern. Es muß etwas Innewohnendes geben, etwas im Wesen der Welt.‘ ‚Nicht vielleicht außer ihr?‘ fragte Holt. ‚Du meinst Gott? So sagen viele. Dauernd wird von Gott geredet, von Vorsehung, Schicksal. Mir paßt das nicht. Die Alten, Werner, wo sie etwas nicht wissen, da muß es auf einmal Gott sein.‘ ‚Früher war jedes Gewitter Gott‘, erwiderte Holt, ‚und die Cholera auch. Mein Vater hat gesagt, da war ich noch ganz klein: Gott ist ein Virus… Das Unerkannte ist Gott, Sepp, solange es unbekannt ist. Die Wissenschaft hat Gott schon den Mantel ausgezogen und wird ihm auch noch das Hemd ausziehen.‘ ‚Aber am Krieg soll er schuld sein!‘ sagte Gomulka. ‚Nein, das ist ja genauso primitiv wie der „Weltjude“, da kann sich auch jeder darunter vorstellen, was er will.‘ Er versank wieder in Nachdenken. ‚Bis man’s weiß, muß man sich an das Wenige halten, was eindeutig ist.‘ ‚An die Mühle?‘ sagte Holt leise. ‚Ja. Das genügt ja auch.‘ Gomulka hockte trübselig neben Holt auf einer Gartenbank.“ ✳ Mit der Sägemühle ist ein Kriegsverbrechen und Schlüsselerlebnis der Kameraden verbunden: Während eines Einsatzes entdeckt Gomulka in einer Sägemühle einen durch die SS gefolterten und schließlich bei lebendigem Leib zersägten Körper eines Rotarmisten, im Roman vgl. S. 385–388.
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Die Frage nach einem Maßstab für menschliches Handeln, die Gomulka am Ende des Dialogs durch seine Forderung nach einer innerweltlich und objektiv begründbaren Moral aufwirft, wird über die Abgrenzung zum Außerweltlichen, zu Religion, entwickelt. ‚Gott‘ scheidet als Bezugspunkt für moralisches Handeln aus, denn der Gottesverweis ist nicht rational, lässt sich nicht als übergeordneter Beweis anführen. Die in der Argumentation beider Figuren anklingende kognitive Religionstheorie, die Religion auf Nichtwissen und das Bedürfnis, Unerklärliches zu erklären zurückführt, wird zum Ausgangspunkt für die Suche nach einem objektiven und allgemeingültigen Beweismittel. Der didaktische Entwurf sah vor, dass der Lehrer den Romanausschnitt unter der Prämisse vorträgt, dass den jungen Soldaten anhand der gemeinsamen Erinnerung an das Kriegsverbrechen in der Sägemühle „die Notwendigkeit eines verläßlichen Maßstabes bewußt wird“. Mit diesem Maßstab war die sozialistische Moral gemeint, die „bewußtes und richtiges gesellschaftliches Handeln garantier[t]“.49 In der Dokumentation wird behauptet, dass der Roman den Bezugspunkt auch für die folgenden Unterrichtsstunden gebildet habe, insofern die Schüler immer wieder selbst auf den Text zurückgekommen seien und damit die „Übertragbarkeit“ des Kunstwerkes „praktizierten“. Das ästhetisch-emotionale Erlebnis blieb für die Herausarbeitung der sozialistischen Weltanschauung und Moral präsent, der Text wurde zum Einflussfaktor und zur Argumentationshilfe.50 Ein die Unterrichtseinheit abschließender Fragebogen sollte die Wirksamkeit der Methode eruieren, indem die Schüler die ihrer Meinung nach interessantesten Momente des Unterrichts nennen und begründen sollten und schließlich zu ihrer Einschätzung bezüglich des Literatureinsatzes im Staatsbürgerkundeunterricht insgesamt befragt wurden. Die Antworten fielen angeblich sämtlich positiv aus, was angesichts abwechslungsreicher Unterrichtsgestaltung durch entsprechendes Material durchaus plausibel ist. Piontkowskis Konklusion allerdings, dass mit der Verwendung epischer Werke die „Wirksamkeit“ des Unterrichts für die „Persönlichkeitsentwicklung“ verstärkt werden könne, lässt zumindest die Frage aufkommen, ob diese „Wirksamkeit“ auch über einen längeren Zeitraum messbar gewesen wäre. Konzeptuell sollte fortan der Deutschunterricht explizit in die Weltanschauungsdidaktik einbezogen werden.51 Das am Beispiel des Romans Die Abenteuer des Werner Holt entwickelte Modell einer literaturbasierten Weltanschauungs- bzw. einer staatsbürgerkundlichen Literaturdidaktik wurde für den Einsatz von Literatur im Staatsbürgerkundeunterricht maßgebend. Die erzieherische Funktion von Kunstwerken im Allgemeinen und Literatur im Besonderen sah eine Einstellungs- und Handlungsnormierung der Schüler vor, womit Literatur einem grundsätzlichen Erzie 49 Vgl. Piontkowski (1974): Arbeit mit Werken der Literatur, S. 120–123. 50 Vgl. Piontkowski (1974): Arbeit mit Werken der Literatur, S. 123. 51 Vgl. Piontkowski (1974): Arbeit mit Werken der Literatur, S. 124 f.
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hungsziel dienstbar gemacht war. Dieses kristallisierte sich in der Frage, wie die „Erkenntnisfunktion schöngeistiger Literatur, die eng mit dem emotionalen Erleben verbunden ist, mit den in Staatsbürgerkunde zu gewinnenden Erkenntnissen, Fähigkeiten und Überzeugungen verknüpft werden kann.“52 In dem von Piontkowski entwickelten Modell war die Literaturrezeption darauf beschränkt, die rationalen Anteile der sozialistischen Erziehung um eine emotionale Dimension zu ergänzen.53 Insgesamt formulierte der didaktische Entwurf den Rahmen für die Rolle der Literatur im Staatsbürgerkundeunterricht. Die in der Konzeption vorgeschlagenen Techniken wirkten wiederum auf den Umgang mit den Themen zurück: Der bis ins Detail festgelegte Einsatz von Literatur und ihrer Präsentation sollte die Rezeption der Weltanschauung lenken, und kann damit als Versuch gewertet werden, in der Methodik gleichermaßen Form und Inhalt der Weltanschauung vorzugeben.
52 Vgl. die Vorbemerkung der Studie, dort S. 8. 53 Vgl. dazu auch Haase (1977): Staatsbürgerkunde in der DDR, S. 276 f.
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5 Von der Philosophie über die Anthropologie zur Biologie: Wie Weltanschauung konzeptualisiert wird
Marxismus-Leninismus und Religion werden in den Staatsbürgerkundebüchern als zwei Weltanschauungen konzipiert, die sich unversöhnlich gegenüberstehen: Als Konträrbegriffe bilden sie die beiden Seiten einer philosophisch-weltanschaulichen Kontroverse und repräsentieren die grundsätzlich richtige bzw. falsche Weltsicht. Die Konfrontation der materialistischen Weltanschauung (MarxismusLeninismus) und ihrem idealistischen Gegenstück (Religion) ist dem Text als zentrale argumentative Struktur unterlegt. In der philosophiegeschichtlichen und theoretischen Fundierung wird Religion zum „Mini-Narrativ“1, in dem sich diese Abgrenzung in einem Einzelwort terminologisch verdichtet. Im folgenden Kapitel werden die Begründungsmuster dieser binären Opposi tion erörtert. Ausgehend von der Beobachtung, dass der Religionsbegriff sowie religionsbezogene Themen in den Lehrbüchern der unteren Klassen nahezu keine Rolle spielen, wird der Abgrenzungsdiskurs nachgezeichnet, der zur späteren Plausibilisierung der „wissenschaftlichen Weltanschauung des MarxismusLeninismus“ zentral ist. Im Anschluss werden die grundlegenden theoretischen und philosophiegeschichtlichen Inhalte der richtigen Weltanschauung sowie ihr narrativer Rahmen skizziert. Das Kapitel wird zeigen, dass die Konzeptualisierung über eine bloße Abgrenzung von Religion hinausgeht. Neben der Religionskritik umfasst die sozialistische Erziehung eigene ethische und moralische Ideale, die in Verhaltensmaßregeln und Handlungsmaximen übersetzt und im Entwurf des „neuen Menschen“ in eine Anthropologie überführt werden. Dass diese Anthropologie letztlich auf der Vision biologischer Unsterblichkeit basiert, wird die motivgeschichtliche Analyse der sozialistischen Arbeitsethik zeigen. Sie bildet den Kristallisationspunkt, an dem sich die utopische Dimension der Weltanschauung aufzeigen lässt.
1 In Anlehnung an Ralf Konersmanns Bonmot „Metaphern sind Erzählungen, die sich als Einzelwort maskieren“ (so im Vorwort des von ihm herausgegebenen Wörterbuch der philo sophischen Metaphern, S. 17) hat Ansgar Nünning Metaphern wie Fortschritt, Wachstum, Krise oder Katastrophe als kulturell verdichtete Mini-Narrative bezeichnet, vgl. ders. (2012): Making Crises and Catastrophes – How Metaphors and Narratives shape their Cultural Life. In: Meiner, Carsten/Veel, Kristin (Hg.): The Cultural Life of Catastrophes and Crises. Berlin/Boston: de Gruyter, S. 59–88.
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Die falsche Weltanschauung: Religion
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5.1 Die falsche Weltanschauung: Religion Zwei Fragen sind für die Analyse leitend: Was lernt der Schüler über Religion? Wie wird dieses Wissen (narrativ) präsentiert bzw. vermittelt? Der eigentliche Begriff Religion spielt in den Texten keine Rolle, wohl aber ein entsprechendes Wortfeld, das mit bestimmten Themen assoziiert wird. Das Kapitel macht sich insofern zur Aufgabe, die Konzeptualisierung des Wortfeldes sowie des seman tischen Feldes ‚Religion‘ zu skizzieren.
a) Das Verschwiegene: Religion als Lücke Aus den Lehrbüchern für Staatsbürgerkunde der Klassen 7 bis 10 der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule (POS) lernt der Schüler so gut wie nichts über Religion. Anders als in den Ausgaben der Staatsbürgerkunde für die Klassen 11 und 12 finden sich im gesamten Materialkorpus über die Jahrzehnte nur wenige Textstellen zum Thema, denen dann allerdings die Aussageautorität zukommt. Thematisch stehen dabei das Verhältnis von Kirche und Staat, die politische Partizipation von Christen sowie die ethische Dimension des Sozialismus im Vordergrund. Mit dem Verhältnis von Kirche und Staat wird die institutionelle Dimension von Religion, genauer: des Christentums, behandelt.2 Der Lehrbuchtext verweist vor allem auf die Trennung beider Bereiche, die mit der formaljuristischen Regelung der Glaubens- und Gewissensfreiheit ebenso plausibilisiert werden soll wie die Behauptung, dass es in der DDR weder eine Staatskirche, noch Kirchenkampf oder Kirchenverfolgung gäbe. Vielmehr wendet sich der Staat „gegen jeden Missbrauch des christlichen Glaubens zu verfassungswidrigen oder parteipolitischen Zwecken“, was sich als Vorwurf allerdings ausschließlich auf Vertreter der beiden westdeutschen Kirchen bezieht, denn: „Die übergroße Mehrheit der gläubigen Christen steht treu zum Arbeiter-und-Bauern-Staat.“ Die gesellschaftliche Integration wird mit einem Ulbricht-Wort belegt, demzufolge die christliche Friedensbotschaft erst im Sozialismus Erfüllung fände.3 Das StaatKirche-Verhältnis war ein Leitthema der Politik der 1960er Jahre, das sich dementsprechend in den Lehrbüchern niederschlug4, mit der Veränderung der 2 Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung des Instituts für Deutsche Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Kollektivleiter Heinz Karras: Staatsbürgerkunde 1. Weg und Ziel des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin: Volk und Wissen 1965. 3 Vgl. Staatsbürgerkunde 1 (1965): S. 210. 4 Auch in anderen Klassenstufen war es in Form von Hinweisen auf die gute Zusammenarbeit zwischen Christen und Marxisten Thema, vgl. das für die Klassen 11 und 12 gebräuchliche Lehrbuch Staatsbürgerkunde 3 von 1965, in dem in dem separaten Abschnitt Die Stellung
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Von der Philosophie über die Anthropologie zur Biologie
Kirchenpolitik der SED aber aus den nachfolgenden Büchern verschwand. Das Argument, dass sich Bürger aus religiösen Gründen für den Sozialismus einsetzten, taucht jedoch später wieder auf, womit dem Christentum – andere Religionen finden keine Erwähnung – grundsätzlich eine ethische Qualität zugestanden wird.5 Das Bestreben nach gesellschaftlicher Integration wie es am Verweis auf die Loyalität von Christen zum sozialistischen Staat erkennbar wird, wurde parteipolitisch durch die Konstruktion einer „Nationalen Front“ gestützt. Diese schloss als politisches Einheitsbündnis auch alle weiteren, außerhalb der SED existierenden Parteien ein und war Teil der DDR-Volkskammer. Insgesamt veränderte sich dieser vermeintlich versöhnliche Ton im Rahmen einer zunehmenden Radikalisierung des Stils ab Mitte der 1980er Jahre noch einmal grundlegend. Abgesehen von der Textebene fanden in der Bebilderung gelegentlich christliche Motive Verwendung, die mitunter rasch wieder aus den Lehrbüchern verschwanden, so zum Beispiel die Abbildung zweier Nonnen an einer Wahlurne im Rahmen der Volksabstimmung zur neuen Verfassung der DDR6 oder ein Bild des Künstlers Willi Sitte, Proletarier aller Länder, vereinigt euch, auf dem deutlich die Figur des gekreuzigten Jesus zu erkennen ist, der – abgebildet zwischen Karl Marx und anderen – als Proletarier gedeutet wird.7 Insgesamt sind die angeführten Textstellen weniger relevant. Interessanter ist hingegen der Gebrauch des Begriffs „Aberglaube“, der in der Staatsbürgerkunde 10 von 1984 im programmatischen Schlusskapitel zur sozialistischen Weltanschauung und Moral, mit der der Schüler ins außerschulische Leben entlassen wird, unvermittelt Verwendung findet und bis zur letzten Ausgabe von 1989 inhaltlich und sprachlich identisch bleibt.
des Marxismus zur Religion ausführlich auf die guten Beziehungen zwischen SED und Kirchenvertretern eingegangen wird. Für die Analyse s. Kapitel 6.5b). 5 Im Lehrbuch der siebten Klasse von 1983 etwa werden unter die „Verbündeten“ der Arbeiterklasse auch christliche Bürger gezählt. Als Beispiel dient das Friedensengagement von CDU-Mitgliedern, das mit einem Zitat aus einer Rede des CDU-Vorsitzenden Gerald Götting belegt wird, in dem dieser den „[bewaffneten] Dienst für den Sozialismus“ als „legitime Form des Dienstes am Frieden“ seitens „christliche[r] Demokraten und parteilose[r] christliche[r] Bürger“ bezeichnet, vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Kollektivleiter Heinz Hümmler: Staatsbürgerkunde 7. Berlin: Volk und Wissen 1983, S. 106. 6 Vgl dazu auch die Analyse zur Staatsbürgerkunde 8. 7 Vgl. die Schulbuchausgaben für Klasse 8 von 1969, S. 14 sowie Staatsbürgerkunde 9 (1984), S. 5.
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Die falsche Weltanschauung: Religion
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b) Das Gezeigte: Religion als Aberglaube und der Religionsdiskurs der DDR Mit der 1984 stark überarbeiteten Schulbuchausgabe8 ergeben sich konzeptuelle, didaktische und stilistische Neuerungen, in die die Auseinandersetzung mit Religion als „Aberglaube“ argumentativ eingespeist wird. Der in fünf Kapitel untergliederte Lernstoff ist konzeptuell auf der Gegenüberstellung von Sozialismus und Imperialismus aufgebaut. Den Abschluss des Lehrbuchs bildet ein programmatischer Abschnitt mit dem Titel Der Marxismus-Leninismus – die Weltanschauung, nach der wir leben und handeln. Auf diesen entfallen sechs Unterrichtsstunden.9 Das der Kapitelstruktur insgesamt unterlegte Argumentationsschema verläuft von einer Standortbestimmung zum Charakter unserer Epoche über die gesellschaftliche, politische und ökonomische Veränderung schließlich zum Marxismus-Leninismus als dem Mittel der Veränderung und folgt damit grob den drei Leitfragen Was? – Wo? – Wie? Stilistisch weist das Inhaltsverzeichnis zwei Auffälligkeiten auf: den militärischen Sprachduktus sowie einen mit Verweis auf Historizität evozierten Erwähltheitsgedanken. Beide sind argumentativ verknüpft: Im ersten Kapitel wird die Gegenwart als kriegsähnlicher Zustand beschrieben, insofern die Begriffe „Offensive“ und „Defensive“ zur Charakterisierung der Standortbestimmung der beiden Systeme verwendet und die Kampfmetapher zur Zielformulierung („Kampf für den Frieden“) eingesetzt wird. Dass es sich bei dem Konflikt allerdings lediglich um eine Übergangsperiode handelt, verdeutlicht ein in Kapitel zwei mehrfach angeführter Verweis auf die Geschichtlichkeit, die mit entsprechenden Wendungen wie „historischer Prozeß tiefgreifender Wandlung“ und „historisch neue Triebkräfte“ sowie dem Begriff Epoche versprachlicht wird. Die beiden mittleren Kapitel 3 und 4 thematisieren gesellschaftliche Handlungsfelder des Sozialismus. Mit der Verwendung des doppeldeutigen Begriffs Strategie, in der Ökonomie zur mittel- und langfristigen Unternehmensplanung und im Militär zur Bezeichnung einer zielgerichteten Operationsführung (meistens Krieg) eingesetzt, wird der Führungsanspruch der SED geltend gemacht, der hier allerdings nicht emotional, sondern 8 Autorenkollektiv unter der Leitung von Otto Reinhold: Staatsbürgerkunde 10. Berlin: Volk und Wissen 1984, 1. Auflage. Neuer Kollektivleiter war der Wirtschaftswissenschaftler und SED-Funktionär Otto Reinhold, Spezialist für politische Ökonomie und von 1962 bis 1989 Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften. Das Autorenkollektiv bestand sämtlich aus in unterschiedlichen Bereichen tätigen Mitarbeitern der Akademie für Gesellschaftswissenschaften (AfG) beim ZK der SED. Es blieb weitgehend für die beiden Folgeausgaben von 1987 und 1989 verantwortlich, die Struktur der Lehrbücher bis zum Ende der Staatsbürgerkunde entsprechend gleich. 9 Vgl. Lehrplan Staatsbürgerkunde Klassen 7 bis 10. Berlin: Volk und Wissen 1983, 1. Auflage, S. 58. [Für die Klassen 7 und 9 am 1. September 1983, für die Klassen 8 und 10 am 1. September 1984 in Kraft getreten.] Auch die Kapitelüberschriften des Lehrbuchs sind eng am Lehrplan orientiert.
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Von der Philosophie über die Anthropologie zur Biologie
militärisch kodiert ist. Das Schulbuch endet mit einem 20-seitigen Kapitel zur marxistisch-leninistischen Weltanschauung, die neben einer über den Wissenschaftsbegriff erfolgenden Gegenüberstellung der beiden politischen Systeme Kapitalismus und Sozialismus eine Anleitung zur gesellschaftlichen Veränderung formuliert: Die Rede ist vom „revolutionären“ Handeln der Jugendlichen, der kognitiven Selbst-„Aneignung“ des Marxismus-Leninismus, die als „Kampf aufgabe“ bezeichnet wird und damit die anfangs verwendete Kriegsmetapher wieder aufgreift.10 Der Begriff Aberglaube fällt zu Beginn des letzten Kapitels im Rahmen einer Grundsatzkritik an „idealistischen Vorstellungen“ und fungiert dort als Gattungsbegriff in der Gegenüberstellung der politischen Systeme. Deren Verschiedenartigkeit baut argumentativ auf dem Gegensatz Wissenschaftlichkeit – Unwissenschaftlichkeit auf, die dem gesamten Kapitel als narrative Struktur unterlegt bleibt und die Darstellung einrahmt (vgl. die Abbildung der Schulbuchseite im Anschluss an den Kapitelabschnitt). Während die didaktische Orientierung in der Randspalte auf die „Wissenschaftlichkeit der marxistisch-leninistischen Weltanschauung“ fokussiert, heißt es im Autorentext: „Bisher haben die verschiedensten idealistischen Vorstellungen geherrscht. Noch heute wird den Menschen in den kapitalistischen Ländern ein verzerrtes, falsches, ein unwissenschaftliches Weltbild vermittelt. Nach neueren Umfragen glaubt eine große Anzahl von Menschen in der BRD daran, daß die Sterne einen mehr oder weniger bestimmenden Einfluß auf ihr Schicksal haben; etwa 45 Prozent der Erwachsenen lassen sich Horoskope stellen. Rund 1 Million BRD-Bürger glaubt noch, daß Hexen ihr Unwesen treiben, woran wieder Tausende von Hexenbannern Geld verdienen. In den USA und Westeuropa gebe es etwa dreimal so viel Astrologen wie Physiker und Chemiker. Zwanzig Millionen Menschen in der BRD vertrauen sich mit ihren Leiden lieber einem Wunderheiler an als der modernen Medizin. Allein in Frankreich schätzte man 1980 etwa 50000 Hellseher, die die Zukunft gegen Entgelt aus dem Kaffeesatz, der Glaskugel oder einer Kerzenflamme voraussagen.“11
Der Abschnitt plausibilisiert den Wissenschaftsanspruch des Sozialismus, indem zuerst „idealistische Vorstellungen“ als Wesensmerkmal des ökonomischen Systems „Kapitalismus“ dargestellt werden. Der Text führt hierzu vermeintliche Beispiele für ein „verzerrtes, falsches, […] unwissenschaftliches Weltbild“ an. Der Beispielbestand subsumiert diverse Phänomene, die grob aus dem Feld der modernen Esoterik stammen: Die Rede ist von Sternen- und Hexenglaube, Horoskopen, Astrologen und Wunderheilern sowie von Hellsehern. Religion und Religionen, Christentum oder Kirche, die in den Schulbüchern der Klassen 11 und 12 den Begriffshaushalt prägen, werden hingegen nicht erwähnt. Als Faktizitäts-
10 Vgl. das Inhaltsverzeichnis Staatsbürgerkunde 10 (1984), S. 3. 11 Staatsbürgerkunde 10 (1984): S. 170.
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Die falsche Weltanschauung: Religion
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strategie zur Untermauerung der Aussagen wird auf empirische Methoden der Erhebung („Nach neueren Umfragen…“), vor allem aber mehrfach auf Zahlen verwiesen, die sich auf Westdeutschland, die USA und Frankreich beziehen. So ist von „45 % der Erwachsenen“ oder „rund 1 Million BRD-Bürger[n]“ die Rede, die Existenz von „dreimal so viel Astrologen wie Physiker[n] und Chemiker[n]“ in den USA und Westeuropa, von „zwanzig Millionen“ Menschen der bundes republikanischen Bevölkerung, die „Wunderheiler“ besuchten und „50000 Hell seher[n]“ in Frankreich, wobei offen bleibt, woher die genannten Zahlen stammen.12 Ergänzt wird die Aufzählung durch den Verweis auf bestimmte Praktiken – das Lesen aus Kaffeesatz, Glaskugel oder Kerzenflamme –, die mit dem Hinweis auf Entgeltlichkeit als Betrügereien entlarvt werden sollen. Unter den Begriff des Aberglaubens subsumiert wird dieser Beispielbestand erst durch eine als Suggestivfrage formulierte Arbeitsaufgabe in der Randspalte, die sich stilistisch durch Kursivdruck vom Autorentext abhebt und die Über leitung zur Darstellung der wissenschaftlichen Weltanschauung markiert: „Wie ist Ihrer Meinung nach der Aufschwung des Aberglaubens in einer Zeit zu er klären, in der Raumstationen um die Erde kreisen, Wissenschaft, Technik und Medizin einen hohen Stand erreicht haben?“13 Sie leitet den zweiten Teil der Argumentation ein, die Begründung für die Wissenschaftlichkeit der sozialistischen Gesellschaft: „Unsere sozialistische Weltanschauung hingegen beruht vor allem auf einer nüchternen, sachlichen, wissenschaftlich exakten Analyse der Wirklichkeit. Das heißt zunächst, die Dinge und Sachverhalte so zu nehmen, wie sie außerhalb unseres Kopfes tatsächlich sind, in ihren realen Zusammenhängen und in ihrer wirklichen Entwicklung. Das bedeutet, eine materialistische weltanschauliche Position einzunehmen, das heißt, konsequent davon auszugehen, daß die Natur, das gesellschaftliche Sein außerhalb unseres Bewußtseins und unabhängig davon [Hervorh. i. Orig.] existieren. Nur dann ist es möglich, richtige Einsichten in die tatsächlichen Zusammenhänge in Natur und Gesellschaft zu gewinnen, die Gesetze aufzudecken, nach denen sich die Entwicklung in Natur und Gesellschaft vollzieht. Man könnte meinen, nichts sei so einfach, so einleuchtend und auch anerkennenswert wie diese Position – die Welt so zu nehmen, wie sie wirklich ist, die Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft zu erkennen und im Interesse des Fortschritts zu nutzen. Dennoch hat diese Idee ganz entschiedene Gegner, heute mehr denn je.“14
Über den Begriff der Wissenschaftlichkeit wird das Gegenmodell zur kapitalistischen Gesellschaft und des ihm wesenseigenen „Aberglauben“ entworfen. Der Gegensatz zwischen Materialismus und Idealismus wird jedoch nicht philoso 12 Das Quellenverzeichnis im Anhang verfügt lediglich über Abbildungsnachweise, ein Literaturverzeichnis existiert dort nicht. 13 Staatsbürgerkunde 10 (1984): S. 170. 14 Staatsbürgerkunde 10 (1984): S. 170.
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phiegeschichtlich erläutert, sondern – in seiner trivialsten Konsequenz – gezeigt. Sprachlich durch die Konjunktion „hingegen“ eingeleitet, stellen die Begriffe „analytisch“ und „exakt“ einen wissenschaftlichen Verweisungszusammenhang her, der die sozialistische Weltanschauung in die Tradition quantitativ, mathematisch oder formallogisch operierender akademischer Disziplinen rückt. Der Hinweis auf Beobachtung und Beschreibung evoziert überdies die empirische Ausrichtung der Weltanschauung, die Sachverhalte nimmt, wie sie „tatsächlich […] in ihren realen Zusammenhängen und in ihrer wirklichen Entwicklung“ seien. Die wissenschaftliche Methodik wird schließlich in theoretische Begriffe des Marxismus überführt, wenn davon die Rede ist, dass das „gesellschaftliche Sein“ unabhängig vom „Bewußtsein“ existiere. Ohne dass dies explizit gemacht wird, verweist der Text auf das Marx’sche Basis-Überbau-Modell, nach dem das Bewusstsein als Folge bestimmter ökonomischer Verhältnisse ebenso restlos er klärbar wird, wie die auf einem rein materiellen Prinzip beruhende Welt. Mit der Prämisse von der grundsätzlichen Erkennbarkeit der Welt durch Beobachtung wird der Wissenschaftlichkeitsanspruch der sozialistischen Weltanschauung außerdem philosophiegeschichtlich fundiert, insofern die historische Genese des Begriffspaares Materie und Bewusstsein die einander entgegen gesetzten philosophischen Strömungen Materialismus und Idealismus repräsentiert.15 Auf die knappe Erläuterung der marxistischen Grundbegriffe folgt eine in direkte Leseransprache („Man könnte meinen, nichts sei so einfach […]“), die die unformuliert bleibende Frage aufgreift, weshalb es trotz der Plausibilität des materialistischen Weltbildes Menschen geben mag, die dieses nicht teilen. Die Antwort liegt im politischen System, das ‚falsche‘ Weltanschauungen produziert. An dieser Stelle lässt sich die für das Religionsverständnis einzig relevante Abweichung der verschiedenen Lehrbuchausgaben verorten, die aber Konsequenzen für die Konzeptualisierung des Wortfeldes hat. In der Lehrbuchausgabe von 1984 folgt auf die Aussage, die Idee der Wissenschaftlichkeit des Marxismus-Leninismus habe „entschiedene Gegner“ ein Zitat Zbigniew Brzezinskis, dem damaligen Sicherheitsberater des bis 1981 amtierenden US-amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter. Die Gegner der sozialistischen Weltanschauung werden damit vor allem ins Politische verortet. Drei Jahre später gehören diese Gegner hingegen zur religiösen Landschaft wie ein Vergleich zeigt:
15 Deren Ausdifferenzierungsgeschichte nimmt in den Lehrbüchern der höheren Klassen einen wesentlichen Bestandteil in der Erläuterung der ökonomischen Gesellschaftstheorie von Basis und Überbau ein. Die Basis-Überbau-These, in der Marx – verkürzt formuliert – seine Gesellschaftstheorie vorlegt, nach der sich die ökonomischen Verhältnisse (das Sein) stets im Denken und Handeln der Menschen (deren Bewusstsein) widerspiegelten, bildet über alle Schulbuchausgaben der Staatsbürgerkunde der Klassen 11 und 12 hinweg einen festen Bestandteil in der Argumentation gegen ‚Religion‘. Zum Modell vgl. ausführlicher Kapitelabschnitt 6.5b).
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„Bisher haben die verschiedensten idealistischen Vorstellungen geherrscht. Noch heute wird den Menschen in den kapitalistischen Ländern ein verzerrtes, falsches, ein unwissenschaftliches Weltbild vermittelt. Nach neueren Umfragen glaubt eine große Anzahl von Menschen in der BRD daran, daß die Sterne einen mehr oder weniger bestimmenden Einfluß auf ihr Schicksal haben; [es folgen die Beispiele aus dem Bereich der modernen Esoterik, s. o.]. Man könnte meinen, nichts sei so einleuchtend und auch anerkennenswert wie diese Position – die Welt so zu nehmen, wie sie wirklich ist, […]. Dennoch hat diese Idee ganz entschiedene G egner, heute mehr denn je. [Hervorh. A. K.] Prof. Brzezinski, ein Berater eines ehemaligen USA-Präsidenten, sagte [… es folgt das angebliche Zitat ohne Quellenangabe].“ Staatsbürgerkunde 10 (1984): S. 170
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„Man könnte meinen, nichts sei so einfach, so einleuchtend und auch anerkennenswert wie diese Position – die Welt so zu nehmen, wie sie wirklich ist. Dennoch hat diese Idee ganz entschiedene Gegner, heute mehr denn je. Noch heute wird den Menschen in den kapitalistischen Ländern ein verzerrtes, falsches, ein unwissenschaftliches Weltbild vermittelt. [Hervorh. A. K.] Nach neueren Umfragen glaubt eine große Anzahl von Menschen in der BRD daran, daß die Sterne einen mehr oder weniger bestimmenden Einfluß auf ihr Schicksal haben; [es folgen dieselben Beispiele]. Prof. Brzezinski, ein Berater eines ehemaligen USA-Präsidenten, sagte [es folgt dasselbe Zitat ohne Quellenangabe].“ Staatsbürgerkunde 10 (1987/1987): S. 166
Die veränderte Argumentationsführung verortet die Gegnerschaft zum sozialistischen System unterschiedlich, wobei der Text offen lässt, ob es die religiösen Anhänger selbst oder ‚die Kapitalisten‘ sind, die für die Verbreitung der genannten esoterischen Weltbilder und Praktiken verantwortlich sind, ferner, ob es sich um eine personalisierte oder eine institutionalisierte Gegnerschaft handelt. Mit der Verwendung des Passivs „wird vermittelt“ transportieren beide Textauszüge die Vorstellung von einer strategisch handelnden Instanz, die vorsätzlich falsche Weltbilder verbreitet. Es wird kein Zweifel daran gelassen, dass die Ausübung und Verbreitung des „Aberglaubens“ als Politikum, keineswegs als Ausdruck eines persönlichen religiösen Interesses zu verstehen ist, auf Grund dessen sich ein Individuum bewusst für eine bestimmte Praktik oder ein Weltbild entscheidet. In der veränderten Argumentationsführung rückt anstelle des USPolitischen das Feld der modernen Esoterik in den Fokus der projizierten Feindschaft. Die sich durch minimale Verschiebung der unterschiedlichen Platzierung eines Textbausteins ergebende Verlagerung im Argumentationsmuster lässt Schlussfolgerungen zu, was die staatliche Religionspolitik betrifft, zumal mit den Beispielen nicht ausschließlich die vermeintliche Randgruppe der Esoteriker gemeint ist. Marxismustheoretisch ist Religion „Aberglaube“. „In der marxistischleninistischen Philosophie wird Aberglaube vornehmlich synonym mit Religion (als dem der wissenschaftlichen Erkenntnis entgegengesetzten Glauben an Über© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540497 — ISBN E-Book: 9783647540498
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natürliches überhaupt) gebraucht,“ heißt es im Philosophischen Wörterbuch.16 Die Ausführungen richteten sich damit gegen die Teile der Bevölkerung, die sich als religiös verstehen. Dies wird auch an anderen Stellen der Schulbücher deutlich, wo die Begriffe Religion und religiöser Aberglaube synonym verwendet oder Esoterik, Kirche und Religion an sich als unterschiedliche Erscheinungsformen ein und desselben Phänomens präsentiert werden: als idealistische Vorstellungen von der Welt, die – in welcher Form auch immer – dem konsequent materialistischen Weltbild wesenhaft entgegenstehen. Mit der argumentativen Verschränkung von Religion und Aberglaube zeigt sich überdies ein Spezifikum des DDR-Religionsdiskurses. Zur Plausibilisierung der Wissenschaftlichkeit des Systems diente Aberglaube Jahrzehnte lang als gängiges Gegen-Narrativ, was ein Blick in verschiedene Bildungsmedien zeigt. Das mehrbändige populäre Lexikon Vom Jenseits zum Diesseits, auf Grund des Untertitels Wegweiser zum Atheismus auch in die Ratgeberliteratur einzuordnen, beginnt mit dem Eintrag „Aberglaube“, worunter „übernatürliche Kräfte wie Wahrsagerei, Kartenlegen, Sternenglaube usw.“ verstanden und vorerst von ‚der Religion‘ unter dem soziologischen Gesichtspunkt der Gemeinschaftsbildung unterschieden werden.17 Zugleich wird „Aberglaube“ als ein von der Hegemonialmacht Kirche verwendeter Abgrenzungs- und Abwertungsbegriff vorgestellt. Letztlich könne zwischen beiden Phänomenen aber nicht unterschieden werden, ihre Differenzierung sei nur ein Winkelzug „bürgerlicher Wissenschaftler“. Sowohl Religion als auch Aberglaube seien ihrer Weltdeutung zufolge und der sozialen Funktion nach wesensgleich: Beide dienten dem Menschen dazu, „sich die Zusammenhänge in Natur und Gesellschaft zu erklären“, womit eine kognitive (Religions-)Theorie zugrunde gelegt wird. „Beide spiegeln die Welt falsch, phantastisch wider, sie gehen von der Existenz übernatürlicher Wesen und Kräfte aus“ und resultierten aus bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen sie als Macht- und Unterdrückungsinstrument der herrschenden Klasse fungieren. Der in der Debatte immer wieder vorkommende Phantastikbegriff bezeichnet keine literarische Genreklassifikation, sondern wird, als Gegenteil von ‚real‘, als Synonym für das Fiktive gebraucht und bewertet das Phänomen damit auf der Ebene seines Geltungsanspruchs oder ontologischen Status. Auch die jeweiligen Erscheinungsformen werden nicht unterschieden, wenn „Hostien, Ablaß, Abendmahl“ und „‚magnetisches‘ Wasser, ‚Teufelsdreck‘, ‚kosmische‘ Amulette“ qualitativ mit den kontraintuitiven Konzepten in den alt- und neutestamentlichen Schriften (z. B. Totenerweckungen, sprechende Tiere) oder außerhalb, wie weinende Marienstatuen, verglichen werden. So sei es „letztlich nicht möglich, den
16 Art. Aberglaube. In: Philosophisches Wörterbuch Band 1 (1971): S. 36. 17 Vgl. Vom Jenseits zum Diesseits. Wegweiser zum Atheismus Band I, hg. von Günter Heyden, Karl A. Mollnau, Horst Ullrich. Leipzig/Jena: Urania, S. 7.
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Aberglauben von den religiösen Formen eindeutig abzugrenzen“.18 Das abschließende Urteil lautet: „Die herrschenden Ausbeuterklassen benutzen Religion und Aberglauben zur Verwirrung der Werktätigen. Sie sind daran interessiert, daß diese abergläubisch sind, das heißt falsche und unwahre Vorstellungen von der Wirklichkeit haben, sich nicht zurechtfinden und keinen Ausweg wissen, sondern auf Gott, die Sterne oder ein Glücksschweinchen vertrauen.“19
Aberglaube wird nicht zuletzt deshalb als stichhaltige Abgrenzung zu Religion verworfen, weil rein qualitativ kein Unterschied zwischen institutionalisierter Religion und volksreligiösen Traditionen bestünde.20 Dementsprechend wird dem Terminus Aberglaube jede deskriptive oder metasprachliche Qualität abgesprochen. Dass er dennoch als Gegenbegriff zu Wissenschaft aufgebaut wird und sowohl in als auch außerhalb der Staatsbürgerkundebücher regelmäßig Verwendung findet, konterkariert das begriffskritische Ansinnen freilich wieder. Das mit dem Aberglaube-Begriff verbundene überzeugungsbildende Argument wird anhand des Eintrags „Hexenwahn“ im Lexikon-Band Vom Jenseits zum Diesseits (1960) besonders deutlich. Dort werden mittelalterliche Inquisition und frühneuzeitliche Hexenverfolgung zwar historisch unterschieden, insgesamt aber als Ausdruck des kirchlichen Machtanspruchs sowie als kapitalistisches Unterdrückungsmoment gedeutet, so dass es am Ende des Artikels heißen kann: „Aberglaube an Hexen [wird] auch heute in den kapitalistischen Ländern, besonders in Westdeutschland, von gewissen Geschäftemachern, die Mittelchen gegen ‚Behexung‘ verkaufen, genährt und durch verschiedene Druckerzeugnisse eifrig gefördert.“
Eine entsprechende Schlussfolgerung legt sich nahe: Nur der Sozialismus entzieht dem Aberglauben durch seine konsequent wissenschaftliche Ausrichtung den Boden.21 Zum Korpus der in den 1950er Jahren entstandenen populären „Aufklärungsliteratur“ zur wissenschaftlichen Erziehung der Bevölkerung, die wesentlich durch die 1954 in Berlin neugegründete URANIA-Gesellschaft gefördert wurde, zählten überdies eine Reihe von Sachbüchern, zum Beispiel Magie, Sternen glaube, Spiritismus22 des Schriftstellers Gerhard Zwerenz, das 1956 erstmals 18 Vom Jenseits zum Diesseits Band 1, S. 8. 19 Vom Jenseits zum Diesseits Band 1, S. 9. 20 Dieses Argument fand sich bereits in der Literatur zur atheistischen anti-kirchlichen Volksaufklärung, die in den 1950er Jahren ihren Höhepunkt erreichte. Vgl. dazu besonders die Ausführungen zum Sputnik-Schock in Kapitel 5 b). 21 Vom Jenseits zum Diesseits Band 2, S. 119. 22 Zwerenz, Gerhard (1956): Magie, Sternenglaube, Spiritismus. Streifzüge durch den Aberglauben. Leipzig/Jena: Urania
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erschien und nach der Flucht des Autors in die Bundesrepublik dort erneut im Fischer-Taschenbuch-Verlag gedruckt wurde. Inhaltlich folgte die von Zwerenz vorgelegte Geschichte des Aberglaubens inklusive Spiritismus und Astrologie den üblichen religionskritischen Mustern, wenn die gemeinsame Genese von „Religion (Glaube) und Aberglaube“23 ebenso wie der ‚Klassencharakter‘ des Phänomens24 und seine psychologische Funktion als „Trostideologie“25 betont werden. Zusammenfassend heißt es zum Verhältnis von Glaube und Aberglaube: „Es ist ganz einfach eine wissenschaftliche Notwendigkeit und insofern auch eine notwendige Gerechtigkeit, wenn unsere Auseinandersetzungen mit den verschiedenen Formen des Aberglaubens zugleich die Religion insofern als sie selbst Aberglaube ist, einbeziehen. […] Der heutige Gott der Christen steht also am Ende einer langen Entwicklungsreihe phantastischer Spekulationen. […] Es ergibt sich also eine entwicklungsgeschichtliche Parallele zwischen Religion und Aberglauben insofern, als beide ihren Ausgangspunkt in frühreligiösen (phantastischen) Erkenntnisstufen und Denkweisen haben.“26
Damit wird der Analyse auch hier eine kognitive Religionstheorie zugrunde gelegt. In seiner abschließenden Systematik des Aberglaubens unterscheidet Zwerenz drei Formen: Aberglaube aus „Unwissenheit und Not“, aus „Neugier“ sowie aus „Interesselosigkeit“.27 Während er die ersten beiden rein historisch als Produkte bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse und somit als Über gangserscheinungen einer vorwissenschaftlichen Forschungstradition der frühbürgerlichen Gesellschaft verortet, bezieht sich die dritte Form auf die Gegenwart. ‚Aberglaube‘ ist hier nur möglich, weil ein interessenloser Mensch die ihm zur Verfügung gestellten Bildungsangebote nicht nutzt. Beurteilt als kognitiv zu überwindendes Überbleibsel kapitalistischer Verhältnisse liefert der Autor zwar eine Begründung auch für die mögliche Existenz des Aberglaubens in der DDRGesellschaft. Diese bleibt jedoch heikel, insofern sie auf einen offenbar als Problem empfundenen Phänomenbestand verweist, der den Wissenschaftsanspruch des Systems und damit dessen Legitimität infrage zu stellen schien. Das Buch kann als eindrückliches Beispiel für eine unabhängig von politischen oder systemischen Fragen verbreitete Strategie von ‚Aufklärungs’literatur gelten, das sich durch reißerische Titel, Thesen und Erzählweisen sowie eine entsprechende paratextliche Gestaltung auszeichnete. Dies war typisch für ein sich in Aufmachung und Inhalt am Buchmarkt orientierendes Sachbuch der 1960er 23 Vgl. Zwerenz (1956): Magie, Sternenglaube, Spiritismus, S. 25. 24 Vgl. Zwerenz (1956): Magie, Sternenglaube, Spiritismus, S. 30–32. 25 Vgl. Zwerenz (1956): Magie, Sternenglaube, Spiritismus, S. 33. 26 Zwerenz (1956): Magie, Sternenglaube, Spiritismus, S. 207 f. 27 Vgl. Zwerenz (1956): Magie, Sternenglaube, Spiritismus, S. 210 f.
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DDR-Ausgabe Leipzig: Urania (1956), 1. Auflage.
BRD-Ausgabe Frankfurt/M.: Fischer (1974), überarb. u. erw. Ausgabe. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540497 — ISBN E-Book: 9783647540498
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Jahre und bildete somit kein Spezifikum der DDR-Literatur.28 Dies zeigt auch der Vergleich der Ost- und Westausgabe: Die Umschlaggestaltung der Ostausgabe weist verschiedene grafische Elemente auf: Das Kartensymbol mag als Verweis auf Kartenlegen bzw. -lesen dienen, das Auge mit Dreieckform – lesbar als Andeutung auf die unvollendete Pyramide oder die Triangelform des Strahlenkranzes – als Hommage an Freimaurerei. Das mit der Spitze nach oben zeigende Pentagramm auf schwarzem Grund ist umgeben von Zahlen und Buchstaben. Was diese Symbole jedoch im Einzelnen mit „Magie“, „Sternenglaube“ und „Spiritismus“ zu tun haben, bleibt dem Betrachter überlassen. In der Westausgabe wurde im Gegensatz dazu auf Einzelsymbole verzichtet; der auf dem schwarzen Einband abgebildete Umriss eines Gesichts, dessen Züge durch entsprechende Farbgebung hervorgehoben werden, mag jedoch die Semantik des Verborgenen aufgreifen. In beiden Fällen sind die Symbole nicht selbsterklärend. Sie greifen populäre Rezeptionslinien und Bilder auf, die verborgene Bedeutungszusammenhänge suggerieren. Es ist diese an populäre Vorstellungen appellierende, inszenierte Uneindeutigkeit, die sich beide Ausgaben als Vermarktungsstrategie zunutze zu machen suchen. Daneben gab es zahlreiche weitere Werke zum Verhältnis von Wissenschaft und Aberglaube, die zum Teil aus dem Russischen übersetzt und in der DDR verbreitet wurden, zum Beispiel Der Mythos von der Seele von Dimitri Andrejewitsch Birjukow.29 Auch Publikationen bekannter DDR-Wissenschaftler waren darunter, etwa Naturwissenschaft, Religion und Kirche des Religionssoziologen Olof Klohr, in dem dieser die Verbreitung von Horoskopen in westdeutschen Tageszeitungen als Beleg für mangelnde wissenschaftliche Kenntnisse und die bewusste Täuschung der Bevölkerung bewertet und ebenfalls keinen Unterschied zwischen Aberglaube und „religiöse[m] Wunderglaube“ macht.30 Hochkonjunktur erlebte diese Aufklärungsliteratur im Rahmen der staatlich gelenkten Atheismuskampagne der 1950er Jahre. Trotz der Entspannungsbemühungen bildete diese einen festen Bestandteil der Religions- bzw. Kirchenpolitik und leitete einen Prozess der schleichenden Entchristianisierung ein, der auch den rituellen Bereich umfasste. Der neue politische Kurs verfolgte die Verbreitung des sozialistischen, inhaltlich atheistischen Rituals der Jugendweihe, die nach einer einjährigen Vorbereitungszeit im Frühjahr des achten Schuljahres 28 So vermerkt Stephan Porombka zur Hochkonjunktur von westdeutschen Sachtexten in den 1960er Jahren, dass „jene populären Sachbücher am erfolgreichsten sind, die auf die Gesetze des Buchmarkts zugeschnitten sind und mit zweifelhaften Thesen und reißerischen Erzählweisen operieren“, vgl. ders. (2007): Art. Sachbücher und -texte. In: Anz, Thomas (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart: Metzler, S. 155–160, hier: 156. 29 Erschienen 1959 im Leipziger Urania-Verlag (Originalausgabe 1958). 30 Vgl. Klohr, Olof (1958): Naturwissenschaft, Religion und Kirche. Berlin: Dietz, bes. S. 103–105.
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erfolgen sollte und damit in deutliche Konkurrenz zur christlichen Konfirmation trat. Nach dem politischen Beschluss von 1954 wurde ein Jahr später bereits die erste offizielle Jugendweihe durchgeführt, an der nur etwa 50.000 Jugendliche teilnahmen, was etwa 17 % des Alltagsjahrgangs entsprach.31 Um die Stellung des Rituals in der Folgezeit zu festigen, wurde jeder Bereich des öffentlichen Lebens ausgeschöpft, Bücher über Teilnehmerzahlen geführt und weitere Verbreitungsstrategien entwickelt. Eine besondere Rolle für die Verbreitung des Atheismus sollten die Jugendweihebücher spielen, vor allem das 1954 erstmals erschienene und 20 Jahre in Gebrauch bleibende Geschenkbuch Weltall – Erde – Mensch, in dem sich ebenfalls eine synonyme Begriffsverwendung von Religion und Aberglaube feststellen lässt.32 Der im Januar 1956 veröffentlichte erste Themenplan für die zehn Unterrichtsstunden zur Vorbereitung der Jugendweihe sah für die fünfte Stunde das Thema Wie der Mensch lernte, die Natur zu beherrschen und den Aberglauben zu überwinden vor, die von einem ähnlich lautenden Themenheft, das den Obertitel Geisterglaube, Aberglaube, Wissenschaft33 trug, begleitet wurde. Allerdings wandelte sich die Politik der nachdrücklichen Atheismus propaganda rasch und mit ihr auch der in der DDR aus verschiedenen Gründen stets heikle Atheismusdiskurs. Was blieb war allerdings, dass der Begriff Aberglaube in den Religionsdiskurs diffundierte und zum festen Bestandteil zumindest des populären Wortfeldes Religion wurde. Dass beide Termini über die 1950er Jahre hinaus eine argumentative Einheit bildeten, zeigt sich sowohl an späteren Auflagen der entsprechenden Nachschlagewerke34 als auch an den Ausgaben der Staatsbürgerkundeschulbücher. Gleichwohl ist bemerkenswert, dass 31 Vgl. Illing, Susann (2000): Die Jugendweihe im Wandel der Zeit. Ein Fest der Jugend oder ostdeutsche Familientradition? Vorgeschichte – Hintergründe – Bedeutung vor und nach 1990. Stuttgart: Ibidem, S. 21. 32 Die Auseinandersetzung mit ‚Religion‘ wurde unter der Textüberschrift Die Wissenschaft überwindet den Aberglauben und die Scheintheorie verhandelt, vgl. Weltall – Erde – Mensch, Auflage 2 (1955): S. 345. Resümierend auch Morche, Torsten (2006): Weltall ohne Gott, Erde ohne Kirche, Mensch ohne Glaube. Zur Darstellung von Religion, Kirche und ‚wissenschaftlicher Weltanschauung‘ in Weltall-Erde-Mensch zwischen 1954 und 1974 in Relation zum Staat-Kirche-Verhältnis und der Entwicklung der Jugendweihe in der DDR. Leipzig/Berlin: Edition Kirchhof und Franke, S. 36. 33 Für die Jugendstunde. Programmheft Teil 5, hg. vom zentralen Ausschuss für Jugendweihe in der DDR, Berlin 1956. 34 Das von Manfred Buhr und Alfred Kosing herausgegebene Kleine Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie verfügte auch in späteren Auflagen über den Eintrag ‚Aberglaube‘, in dem es unter anderem hieß: „Die entwickelteren Formen des religiösen Aberglaubens, wie die großen Religionen, sind darüber hinaus ein Produkt der Klassengesellschaft und widerspiegeln vor allem die Ohnmacht der Menschen gegenüber den unerkannten und unbewältigten gesellschaftlichen Mächten. […] Die wissenschaftliche Weltanschauung des Marxismus-Leninismus ist unvereinbar mit allen Formen des A. und führt einen entschiedenen Kampf gegen alle seine Überreste.“ Buhr, Manfred/Kosing, Alfred (Hg.) (1974): Kleines Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie. Berlin: Dietz, S. 13.
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die Lehrbücher den Begriff erst ab der Ausgabe von 1984 aufnahmen. Der Umstand, dass Aberglaube eher Populärbegriff denn anerkannter Terminus der offiziellen wissenschaftlichen Marxismusdebatte und somit der Theoriesprache war35, liefert einen Hinweis darauf, dass er einen realgesellschaftlichen Befund problematisierte: eine entgegen aller Prognosen empirisch vorhandene Religion bzw. Religiosität in der sozialistischen Gesellschaft. Das Begriffsverständnis wurde um eine aktuelle Dimension erweitert, insofern Religion ganz offensichtlich nicht als rein historisches Phänomen deutbar war, sondern als durchaus aktuelles gesellschaftliches Problem aufschien. Die Schlaglichter auf die unterschiedlichen Bildungsmedien der DDR mögen genügen um zu zeigen, dass sich die Schulbuchausgabe mit der synonymen Verwendung von Aberglaube und Religion einer gängigen Wortkombination bediente, die das Gegen-Narrativ zur Wissenschaftlichkeit des sozialistischen Systems kennzeichnete. Für die Plausibilisierung der sozialistischen Weltanschauung diente Aberglaube als Gattungsbegriff in der Gegenüberstellung zweier politischer Systeme, deren Verschiedenartigkeit über den Wissenschaftsbegriff konstruiert wurde. Die Konzeptualisierung von Religion als das Übernatürliche, durch Phänomene wie Horoskop, Wahrsagerei, Astrologie oder Hexenverfolgung angezeigt, verstärkte diese Dichotomie zusätzlich. Dass sich diese später noch weiter verschärfte36, vermag ein Konglomerat aus kirchen- bzw. christentumsgeschichtlichen, religionspolitischen und ökonomischen Gründen zu erklären. Als 1983 das 500-jährige Luther-Jubiläum bevorstand, das der Staat zur Imageverbesserung nutzen wollte, befand sich die DDR vor dem wirtschaftlichen Ruin. Das Politbüro reagierte unter anderem mit Druck nach innen.37 Der Umstand, dass das zur Vorbereitung der Feierlichkeiten eingesetzte staatliche Martin-Luther-Komitee gleichermaßen aus Christen und Marxisten bestand, deren Zusammenarbeit an die seit den 1970er Jahren aufkeimenden institutionalisierten Dialog-Bemühungen anknüpfte, bildete einen Versuch, die innenpolitische Situation zu entspannen und nach außen mehr soziale Integration zu demonstrieren. Wenn der Aberglaube-Diskurs in den Staatsbürgerkundebüchern der späten 1980er Jahre dennoch so deutlich zum Austragungsort der Systemkonkurrenz wird, ist dies demnach auch vor dem Hintergrund der innenpolitischen Lage der DDR zu verstehen.
35 Vgl. dazu auch Abschnitt c) Stilistik: Radikalisierung des Sprachduktus, satirische Religionskritik und die Natürlichkeit des Atheismus in Kapitel 6.5. 36 Vgl. dazu ebenfalls Abschnitt c) in Kapitel 6.5. 37 Zu den vielfältigen Gründen der ökonomischen Krise vgl. Hermann Weber (1985): Geschichte der DDR. München: dtv, S. 460–465, 488 ff. sowie – prägnant – ders. (2000): Die DDR. 1945–1990. München: Oldenbourg, S. 104.
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Zusammenfassende Analyse
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Zusammenfassende Analyse: Wissenschaft und Aberglaube als Gattungsbegriffe Die Analyse des intertextuellen Bezugrahmens der Lehrbücher hat gezeigt, dass der Begriff Aberglaube im DDR-Diskurs zum Wortfeld Religion zählte. In der Theorie wurde Aberglaube zunächst als eine bestimmte Form von Religion bezeichnet, wobei das Philosophische Wörterbuch weiter differenzierte in „umfassende religiöse Glaubensformen“ wie Religionen, Glaubensrichtungen und „Sekten“ und Äußerungen des religiösen Bewusstseins als „Formen des Aberglaubens im engeren Sinn“. Darunter wurden neben „Magie“ auch Phänomene gefasst, wie sie die Religionsforschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts entdeckt hatte, etwa Totemismus, Fetischismus und Animismus, die allerdings hauptsächlich auf den Islam und das mittelalterliche Christentum bezogen blieben.38 Als Formen des Aberglaubens in kapitalistischen Ländern galten explizit „sympathetische Magie“, wie die Annahme von der Auswirkung bestimmter Naturerscheinungen auf das menschliche Dasein, „Astrologie“ (vor allem Horoskope), Zahlen-, Wortund Gegenstandsmagie (zum Beispiel die Rede von Glücks- und Unglückszahlen), „Kurpfuscherei“ und „Massenvertrieb sympathetischer Mittel“ sowie der Glaube an Hexen, Hellseher, Fakire und Wahrsager. Während im Philosophischen Wörterbuch de facto sämtliche Formen des Glaubens an etwas Übernatürliches, Korrespondenzdenken sowie ihre institutionalisierten und individualisierten Formen des Handelns unter den Gattungsbegriff Aberglaube gefasst werden, bezog sich das Lehrbuch mit seinem Beispielbestand lediglich auf diejenigen Phänomene, die auch offiziell als Aberglaube galten. Es führte damit gewissermaßen die ‚Vulgärform‘ von Religion an und bot implizit eine Orientierungsleistung. Die im Textausschnitt auszumachende Strategie zur Plausibilisierung des Marxismus-Leninismus basiert auf der kontinuierlichen Verwendung von Wissenschaft und Aberglaube als aufeinander bezogene Gegenbegriffe, die als Wesensmerkmal des jeweiligen Systems geltend gemacht werden. Die als Suggestivfrage formulierte Arbeitsaufgabe spielt für die Argumentation eine besondere Rolle: Sie verwendet erstmals den Begriff Aberglaube und qualifiziert damit die Beispiele, die als Beleg der Unwissenschaftlichkeit des kapitalistischen Systems dienen. Die explizite Wertung war gewollt; sie bildete ein zentrales konzeptuelles Element der Arbeitsaufgabe, das in der wissenschaftlichen Didaktik-Debatte der DDR immer wieder hervorgehoben wurde. Insgesamt galten Schulbuchaufgaben als „unentbehrliche Strukturelemente […] zur Realisierung der Steuerungs funktion und der ergebnissichernden Funktion des Schulbuchs“39 die einer „viel 38 Vgl. Art. Aberglaube. In: Philosophisches Wörterbuch Band 1 (1971): S. 36. 39 Schulbuchgestaltung. Autorenkollektiv unter der Leitung von Manfred Baumann, Wolfgang Eisenhuth, Eberhard Klinger u. a. Berlin: Volk und Wissen 1984, S. 91–96, hier: 91 sowie
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seitige[n], schöpferischen Auseinandersetzung“ des Schülers mit dem Lernstoff zwecks „Festigung, Systematisierung und Kontrolle“ dienen und die „Herausbildung von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Entwicklung sozialistischer Überzeugungen und Verhaltensweisen“ fördern sollten.40 Als „zusätzliches Steuerungselement im Entwicklungsprozess zur sozialistischen Persönlichkeit“ konzipiert, wurden grob drei Arten von Aufgaben unterschieden: Aufgaben zur Erziehung zur Wissenschaftlichkeit, die wesentlich in der Überprüfung der im Lehrbuch benutzten Grundbegriffe des Marxismus-Leninismus bestanden; Aufgaben zur Förderung der Parteilichkeit, die als sogenannte „Wertungsaufgaben“ zumeist zur persönlichen Stellungnahme aufforderten, vielfach Verbreitung in den Lehrbüchern fanden und als besonders anspruchsvoll beurteilt wurden41, sowie Aufgaben, die Lebensverbundenheit herzustellen suchten, indem sie den Schüler durch direkte Leseransprache, Aufforderung zum Befragen von Familienmitgliedern oder durch den Verweis auf zeitgenössische Ereignisse (Aktualisierungsstrategie) einzubeziehen suchten.42 Der im Lehrbuchtextausschnitt verwendete Typus lässt sich allen drei Formen zuordnen. In den Kontext des Lehrbuchs Klasse 10 eingeordnet, ergeben sich aus der Analyse des Textausschnittes folgende Schlussfolgerungen: Wenn im Rahmen des letzten Kapitels scheinbar plötzlich auf Phänomene des Aberglaubens eingegangen wird, ist dies in der Gesamtargumentation, die auf der Konfrontation von Sozialismus und Imperialismus aufbaut, nur konsequent. Zwar fällt der Rekurs rein quantitativ kaum ins Gewicht, weil er nur wenige Zeilen des 20-seitigen Kapitels beansprucht. Dennoch ist der Verweis nicht zu unterschätzen, bedenkt man den Umstand, dass der Adressat im gesamten Staatsbürgerkunde-Textkorpus der unteren Klassenstufen nahezu nichts über Religion lernt. Der Text auszug repräsentiert die einzige Verweisstelle innerhalb des programmatischen Abschlusskapitels, die dramaturgisch zweckmäßig ans Ende des Lehrbuchs geBeiträge zur Methodik des Staatsbürgerkundeunterricht. Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfgang Feige. Berlin. Volk und Wissen 1975, S. 240. 40 Vgl. Eisenhuth, Wolfgang/Schulze, Günter, Strietzel, Horst (1973): Begriffe der Schulbucharbeit. Erläuterungen und Arbeitsstandpunkte. Manuskriptdruck. Berlin: Volk und Wissen, S. 78. 41 Vgl. Schulbuchgestaltung (1984): S. 94 sowie Feige, Wolfgang (1979): Unterrichtsmittel im Staatsbürgerkundeunterricht. Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfgang Feige. Berlin: Volk und Wissen, S. 39. 42 Die Forderung nach Aktualität bildete einen zentralen Aspekt der Schulbuchgestaltung, vgl. Schulbuchgestaltung (1984): S. 38 sowie Feige, Wolfgang (1975): Beiträge zur Methodik des Staatsbürgerkundeunterrichts. Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfgang Feige. Berlin: Volk und Wissen, S. 241. Konkrete Beispiele zur Gestaltung des Aktualitätsbezugs in der Sekundärliteratur bei Matthes, Eva (2011): Aufgaben zum Thema Bundesrepublik Deutschland in Staatsbürgerkundebüchern der DDR in den siebziger und achtziger Jahren. In: dies./Schütze, Sylvia (Hg.): Aufgaben im Schulbuch. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, S. 139–144. Ihre Durchsicht sämtlicher Arbeitsaufgaben der Staatsbürgerkundelehrbücher Klassen 7 bis 10 der 1970er und 1980er Jahre ergab, dass sich in der Formulierung keine Veränderungen e rgaben.
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„Aberglaube“: Staatsbürgerkunde 10 (1984): S. 170
setzt wird und damit den Schlusspunkt eines Wissens bildet, mit dem zumindest prinzipiell jeder Schüler aus der 10-klassigen Schullaufbahn entlassen wird.43 Mit der Platzierung des Themas im programmatischen Abschlusskapitel stellt der Text überdies selbst eine Vergleichsebene von Marxismus-Leninismus und Religion her: Beide sind Weltanschauungen, eine freilich die richtige, die andere hingegen die falsche.
43 Auch ältere Schulbuchausgaben enden mit einem Kapitel zur sozialistischen Weltanschauung und Moral. Das Begriffsfeld ‚Religion‘ spielt dabei argumentativ jedoch keine Rolle.
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5.2 Die richtige Weltanschauung: Marxismus-Leninismus Im Vergleich zu den Schulbüchern anderer Unterrichtsfächer weisen die Staatsbürgerkundelehrbücher inhaltliche und formale Besonderheiten auf: Nur dort wird die wissenschaftliche Weltanschauung des Marxismus-Leninismus systematisch entfaltet und mit Hilfe bestimmter fiktionaler Strukturen dargestellt. In keinem Unterrichtsbuch der anderen Schulfächer findet sich eine vergleichbare Struktur zur Vermittlung der Inhalte: Die Geografiebücher verwenden Erlebnisberichte von Arbeiterfiguren so gut wie gar nicht44, in den Geschichtsbüchern werden zwar besonders anschauliche historische Quellen angeführt, jedoch keine weiteren fiktionalen Elemente eingesetzt.45 Zudem vertreten die Staatsbürgerkundelehrbücher einen umfassenderen Erziehungsanspruch als die Schulgeschichtsbücher. Während diese sich auf die Vermittlung eines bestimmten Geschichtsbildes konzentrieren, geht es in der Staatsbürgerkunde um die Formung des sozialistischen Menschen und seiner Weltanschauung. Der Befund lässt die Frage nach der Genese des fiktionalen Vermittlungsstils aufkommen. Die chronologische Durchsicht der Lehrbücher ergab, dass sich die Fiktionalisierung zwar bereits in früheren vereinzelten Lehrbuchausgaben findet, systematisch aber erst mit dem aus dem Russischen übersetzten Lehrbuch implementiert wurde. Es liegt deshalb nahe, dieses als das Protobuch zu betrachten, das nicht nur die wesentlichen Themen, sondern auch die Narrative der sozialistische Weltanschauung und ihrem Verhältnis zu Religion vorgab.
a) Der narrative Rahmen der sozialistischen Weltanschauung Mit der Gesellschaftskunde ist 1963 das erste Lehrbuch eines systematischen Staatsbürgerkundeunterrichts in Gebrauch. Die zuvor erteilte Gegenwartskunde konnte sich nicht etablieren, zumal sie weder über eigene Lehrmittel noch eine 44 Die Recherche ergab eine Textstelle, in der sich eine Arbeiterfigur ‚erinnert‘, vgl. Geographie 7. Geographie. Lehrbuch für Klasse 7. Diverse Autoren und Fachbereichsleiter. Berlin: Volk und Wissen 1989, 1. Auflage, S. 86. Dort leitet die Inquit-Formel Aus den Erinnerungen eines Surguter Bauarbeiters einen Erlebnisbericht ein, der sich jedoch ausschließlich auf den Aufbau der chemischen Industrie im sibirischen Erdöl- und Erdgasgebiet Surgut bezieht und keine Aussagen zur Erlebbarkeit des Sozialismus macht. Die Textstelle bildet außerdem eine Ausnahme. 45 Eine in Bezug auf Religion interessante Stelle findet sich im Lehrbuch Geschichte 7, wo antike Religionskritiker angeführt und zitiert werden. Über Euripides heißt es: „In einem Theaterstück läßt der Dichter Euripides sogar einen Schauspieler sagen ‚Im Himmel sind Götter… So heißt es. Nein! Nein! Das ist nicht wahr! Wer nur ein Fünkchen Verstand hat, glaubt den Legenden der Alten nicht…‘“ An dieser Stelle wird Religion das einzige Mal mit Literaturbeispielen zu dekonstruieren versucht. Das ansonsten zur Verinnerlichung der sozialistischen Werte benutzte Mittel der Fiktionalisierung wird in umgekehrter Absicht auf Religion angewendet.
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Fachdidaktik verfügte, und wurde im Jahr 1957 durch die Staatsbürgerkunde abgelöst.46 Mit dem planmäßigen Aufbau des neuen Unterrichtsfaches ab 1963 wurden erstmals systematisch Fachbücher publiziert, zuvor existierten Einzelausgaben. Das erste unter ihnen, die Übersetzung des sowjetischen Lehrbuchs Gesellschaftskunde (Oбществоведение), war nur kurz in Gebrauch, bevor es durch den DDR-Entwurf ersetzt wurde. Die Übersetzung des Schulbuchs besorgte ein nicht näher definiertes Autorenkollektiv der DDR. Dass der Schulbuchtext ohne weitere Veränderungen übernommen wurde, geht aus dem Vorwort zur deutschen Ausgabe und dem Lehrtext selbst hervor.47 Dort erhält der Leser auch Informationen zur Genese des Lehrbuchs sowie zu den Lernzielen: „Dem Fach Gesellschaftskunde ist die Aufgabe gestellt, der Jugend ein solides und gründliches Wissen zu vermitteln, das seinen Ausdruck in festen persönlichen Überzeugungen und praktischen Taten zum Nutzen der Gesellschaft findet. Es hilft der Jugend, sich die Normen für ein richtiges gesellschaftliches Verhalten entsprechend dem Moralkodex der Erbauer des Kommunismus anzueignen.“48
Inhaltlich ist der Lernstoff in fünf Abschnitte untergliedert, die nacheinander die theoretischen Grundlagen des Marxismus-Leninismus (I), ökonomische und gesellschaftliche Strukturen des Sozialismus (II), die kommunistische Partei (III) und den Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus (IV) behandeln. Mit einem Ausblick auf die weltweite Verbreitung des Kommunismus im 20. Jahrhundert (V) schließt das Lehrbuch ab. Die Kapitelstruktur orientiert sich grob an dem Muster Theorie (Marxismus-Leninismus) – Praxis (Sozialismus) – Ausblick/ Konklusion, wenngleich Theoretisches und Praktisches nicht durchgehend analytisch voneinander zu unterscheiden sind, wodurch der theoretische Anspruch verschwimmt. Dies ist besonders zum Ende der Fall als der Ausblick ins Visionäre gleitet. 46 Vgl. dazu ausführlich Kapitel 2 zur Entstehung und Entwicklung der Staatsbürgerkunde. 47 Dort wird darauf verwiesen, dass das Lehrbuch „für Schüler der Abschlußklassen der sowjetischen Oberschule, also für Schüler der 11. Klasse geschrieben ist. Das Fach Gesellschaftskunde wird in der Sowjetunion in der 2. Hälfte der letzten Klasse der allgemeinbildenden Oberschule (11-Klassenschule) und in den entsprechenden Klassen an Fachschulen mit vier bis fünf Wochenstunden gelehrt.“ Vgl. Gesellschaftskunde (1963): S. 7. Im Lehrtext sind die Schüler stets als Sowjetbürger angesprochen, sowjetische Politiker und Arbeiterhelden werden zitiert und die Festigung der kommunistischen Gesellschaft als Ziel formuliert. 48 Autorenkollektiv unter der Leitung von Georgi Ch. Schachnasarow: Gesellschaftskunde. Lehrbuch für die Abschlussklassen der Oberschulen und der Fachschulen. Berlin: Dietz 1963 (Übersetzung aus dem Russischen), S. 5. Beide Lehrbuchausgaben wurden durch ranghöchste Politiker bestätigt. Während für die deutsche Ausgabe die Leiterin des Ministeriums für Volksbildung, Margot Honecker, verantwortlich zeichnete, wurde das sowjetische Lehrbuch seinerzeit durch ein Zitat des damaligen Staatschefs Nikita S. Chruschtschow autorisiert. Zur Zielsetzung hieß es: „Wir möchten, daß die Jugend die Probleme der Gegenwart richtig versteht, sich die Merkmale eines neuen Menschen, eines Menschen, der den Kommunismus aufbaut und im Kommunismus leben wird, anerzieht.“ Ebd.
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Der Argumentation der einzelnen Kapitel ist die marxistische Geschichtsteleologie als – im Sinn Lyotards – große Erzählung unterlegt, die ihre Plausibilität dadurch erhält, dass das System auf sich selbst verweist. Der erste Abschnitt erläutert das „theoretische Fundament des Kommunismus“, den Marxismus- Leninismus, in seinen philosophischen und erkenntnistheoretischen Aspekten. Die philosophiegeschichtlich abgeleiteten Grundbegriffe Materie und Bewegung bzw. Bewusstsein werden in die gegensätzlichen Strömungen Materialismus und Idealismus überführt. Von dieser Verschränkung zweier Wissenschaftstraditionen ausgehend, wird die Prognose der Gesellschaftsentwicklung, wie sie im dialektischen und historischen Materialismus als gesellschaftlicher Entwicklungslehre formuliert ist, entfaltet. Die materialistische Geschichtsauffassung und der Klassenkampf als Triebkraft der Geschichte werden zudem in den Kontext der Naturwissenschaftlichkeit gerückt, wenn von einem gesetzmäßigen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus durch Revolution die Rede ist. Der zweite Abschnitt behandelt den Sozialismus als praktische Umsetzung des theoretischen Marxismus auf ökonomischer, sozialgesellschaftlicher und politischer Ebene. Das Kapitel schließt ab mit den „gesellschaftlichen Organisationen der Werktätigen“ und leitet zum dritten Abschnitt über, der allein der kommunistischen Partei gewidmet ist. Auch dramaturgisch sticht dieser Absatz heraus, was zugleich eine stilistische Besonderheit der russischen Übersetzung kennzeichnet: den nahezu erzählend formulierten Stil mancher Überschriften.49 Die Bedeutsamkeit der kommunistischen Partei wird sprachlich in der Verwendung des bestimmten Artikels als Mittel der politischen und sozialen Singularisierung (die Partei) ausgedrückt und folgte damit einer langen Tradition der Verkörperlichung und emotionalen Kodierung.50 Im vierten Abschnitt zur Entwick 49 Von der Partei als „Verstand, Ehre und Gewissen unserer Epoche“ ist die Rede, es geht um „Das Aufblühen und die Annäherung der Nationen“, sowie um den Menschen, wenn es heißt: „Der neue Mensch des Kommunismus wird heute geboren“ und „Alles am Menschen soll gut und schön sein“. In späteren Ausgaben der DDR-Staatsbürgerkundeschulbücher verändert sich dieser Sprachduktus zu Gunsten einer Versachlichung der Inhaltsverzeichnisse: Die Nachfolgeausgabe Staatsbürgerkunde 3 von 1965 arbeitet zwar weiterhin mit rhetorischen Fragen als Kapitelüberschriften, die zum Teil auch noch in späteren Ausgaben übernommen werden. Insgesamt lässt sich jedoch ein deutliches Bemühen um Verwissenschaftlichung feststellen, so dass sich diese ausgeprägte narrative Form der Kapitelüberschriften in späteren Ausgaben nicht mehr findet. Dies ist sicher auch auf den zwischenzeitlichen Professionalisierungsprozess der Staatsbürgerkunde als Unterrichtsfach zurückzuführen. 50 Zur Singularisierung vgl. Koselleck, Reinhart (1989): Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt: Suhrkamp, 1. Auflage (Original 1979), S. 211–259, hier: 212. Die Partei sah sich in der direkten Nachfolge der 1943 aufgelösten Weltpartei der Kommunistischen Internationale (Komintern) und wurde durch Kraftmetaphern und die Zuschreibung menschlich-moralischer Eigenschaften wie „Verstand“, „Ehre“ und „Gewissen“ verkörperlicht und gefühlsmäßig kodiert, vgl. Florath, Bernd (2009): Die Patei. In: Sabrow, Martin (Hg.): Erinnerungsorte der DDR. München: Beck, S. 79–89, hier: 80.
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lung vom Sozialismus zum Kommunismus überlagern sich die Zeitebenen. Von der Gegenwart wird ein Ausblick auf den sozialistischen Zukunftsstaat geworfen, der auch die Entwicklung der „gesellschaftlichen Beziehungen“ voraussagt: Ausgehend vom als Weltgesellschaft konzeptualisierten Sozialismus, metaphorisch als „Aufblühen […] der Nationen“ bezeichnet, wird auf die Individualentwicklung des Menschen fokussiert. Dieses Kapitel bildet das Kernstück der ‚sozialistischen Ontogenese‘, die einen guten und schönen Menschen projiziert und schließlich im fünften Abschnitt in den Zukunftsentwurf des sozialistischen Weltsystems mündet, das aus dem finalen Konflikt zwischen Frieden (Sozialismus) und Krieg (Kapitalismus) hervorgeht. Die marxistische Geschichts philosophie und ihr teleologischer Duktus sind dem Lehrbuch als narrative Struktur unterlegt. Religion wird vor allem an zwei Stellen in der Schulbucherzählung thema tisiert: im ersten Kapitel innerhalb des philosophiegeschichtlichen Teils sowie im Rahmen des Kapitels zur sozialistischen Erziehung, wo sie als „Überrest der Vergangenheit“ die Gegensatzfolie für den Entwurf des neuen Menschen bildet. Der Erziehungsanspruch des Lehrbuchs konzentriert sich hauptsächlich auf dieses Kapitel und formuliert ein Ideal des neuen kommunistischen Menschen, der sich durch Gemeinschaftssinn und Humanismus als moralische Qualitäten und eine „wissenschaftliche“ – das ist eine nach den Grundsätzen des Marxismus- Leninismus geformte Weltanschauung – auszeichnet, die dezidiert von Religion abgegrenzt wird.51 Zwei Stilmittel sind für die russische Lehrbuch-Übersetzung prägend: fiktionale Textanteile wie Literaturzitate oder Beispielgeschichten, deren Aussagen ungebrochen in die Gesamtargumentation eingespeist werden, sowie die Figur des asymmetrischen Gegenbegriffs, die dem erzieherischen Anspruch unterlegt ist. Immer dann, wenn zentrale Aussagen kommuniziert werden, greift der Text auf das Stilmittel der sozialistischen Zeugenschaft zurück, die Schilderung von Erlebnissen und Erfahrungen aus figuraler Perspektive. Mitunter wird die Argumentation der Literatur überantwortet, wenn für Aussagen über den realen Sozialismus Zitate aus Gedichten oder Romanen angeführt werden, ohne dass ihr literarischer Charakter der Aussageautorität Abbruch täte. Die Inszenierung zentraler Inhalte durch fiktionale Textanteile bricht die Dominanz des Autorentextes auf und kennzeichnet bestimmte Aussagen als bedeutsam. Zusätzlich unterstrichen wird diese Bedeutsamkeit durch die Verwendung von Metaphern, die maßgeblich der Abgrenzung nach außen dienen. Die kommunistische Gesellschaft wird als organische Gemeinschaft imaginiert und sprachlich durch die Körpermetapher konstruiert, deren radikale Formulierung auf einem asymmetrischen Prinzip beruht: Die Körpermetapher ist Teil der sprachlichen Strategie zur Konstruk-
51 Vgl. auch Kapitelabschnitt 6.5.
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tion einer „Wir-Ihr-Konstellation“52 auf der Textoberfläche, deren Ausgrenzung insofern total ist, als das Bild einer organischen Gesellschaft die Vorstellung eines radikalen Abtrennens erkrankter Körperteile evoziert. Die Beschreibung des Wir als Körper lässt keine außerhalb stehende Ihr-Gruppe zu, wobei der Gruppenbezug durch Inklusions- bzw. Exklusionsrhetorik gesteigert wird.53 Das durch die Körpermetapher projizierte Ausgrenzungsmoment ist nicht nur diskriminierend, sondern in seiner Totalität zutiefst polemisch, insofern Mensch und Ausbeuter in der Argumentation einander gegenübergestellt sind. Die Menschheit bildet eine politisch aufgeladene Bezugsgröße, deren Zugehörigkeit über die Einstellung des Einzelnen zum Marxismus-Leninismus definiert und als ethisch-moralische Qualifikation exklusiviert wird. Die Konträrbegriffe suggerieren Vergleichbarkeit, wo es keine gibt. Der Gegenüberstellung von Mensch und Ausbeuter bzw. Kapitalist liegt das binäre Gegensatzpaar von Mensch und Unmensch zugrunde, das seinerzeit, so Koselleck, von Karl Marx zur Kritik der Luther’schen Zwei-Reiche-Lehre benutzt wurde, „die den religiösen Widerschein des Menschen im himmlischen Übermenschen aufrechterhalte, wodurch sich der Mensch selber zum Unmenschen degradiere.“ An dessen Stelle trat der Entwurf eines totalen, eines neuen Menschen als „Typus der herrschaftsfreien Welt“.54 In der Darstellung des Arbeiterhelden verdichtet sich die narrative Inszenierung, die als Stilmittel für die Schulbücher der unteren Klassenstufen übernommen wird.55 Die Gesellschaftskunde von 1963 liefert ein wichtiges Vorbild für den erzählerischen und didaktischen Rahmen der Konzeption der sozialistischen Weltanschauung. Wie die sozialistische Weltanschauung inhaltlich konkretisiert wird, stellen die folgenden Kapitel ausführlich dar. Wesentliche Grundlage dafür liefert die Konstruktion von Philosophie- als Konfliktgeschichte, in der sich mit 52 Die Suche nach Wir-Ihr-Konstellationen bildet laut der Geschichtsdidaktikerin Waltraud Schreiber eine zentrale Fragestellung für die Methodik der Schulbuchuntersuchung, vgl. dies. (2000): Die religiöse Dimension im Geschichtsunterricht. In dies. (Hg.): Die religiöse Dimension im Geschichtsunterricht. Tagungsband. Neuried: Ars Una, S. 15–53, hier: 47. 53 Nach Koselleck wird eine Gruppe erst im Sprachprozess, durch Begrifflichkeiten, „die mehr in sich enthalten als eine bloße Bezeichnung oder Benennung“, zur wirksamen Handlungseinheit. „Eine politische oder soziale Handlungseinheit konstituiert sich erst durch Begriffe, kraft derer sie sich eingrenzt und damit andere ausgrenzt, und d. h. kraft derer sie sich selbst bestimmt.“ Vgl. ders. (1989): Gegenbegriffe, S. 244–256, hier: 211 f. 54 Vgl. Koselleck (1989): Gegenbegriffe, S. 256. 55 Die Arbeiterhelden-Thematik wird besonders in den Lehrbüchern der Klassen 7 und 8 aus einer deutlich präsenten figuralen Perspektive erzählt und so mit Hilfe der Illusion der Unmittelbarkeit zusätzlich authentifiziert. Für nachfolgende Ausgaben der Lehrbücher der Klassen 11 und 12 hingegen wird auf dieses Stilmittel zu Gunsten einer theoretischen Ausrichtung, die sich allerdings anderer Formen der Literarisierung bedient, verzichtet. Vgl. zum Beispiel die Nachfolgeausgabe Staatsbürgerkunde 3 von 1965, in der für die Inszenierung der sozialistischen Arbeit (bes. S. 165–182) Literaturverweise auf Brecht, Egon Erwin Kisch oder andere Schriftsteller gegeben werden.
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Religion und Marxismus-Leninismus die beiden philosophischen Systeme Idealismus und Materialismus gegenüberstehen.
b) Philosophie- als Konfliktgeschichte: von der Theorie zur Religionskritik der Gesellschaft „Die Geschichte der Philosophie ist von ihrem Beginn an die Geschichte des unversöhnlichen Kampfes zwischen Materialismus und Idealismus.“56 Die Rede vom unüberbrückbaren Gegensatz der beiden philosophischen Strömungen ist als Motiv für alle philosophiegeschichtlichen Staatsbürgerkundedarstellungen leitend, wenngleich sie erst in den oberen Klassen, wo die systematische Vermittlung der Philosophie lehrplanmäßig vorgesehen ist, ausführlich theoretisch behandelt wird.57 Für die Vermittlung der marxistisch-leninistischen Philosophie als theoretischer Grundlage der Weltanschauung verwendeten alle über die Jahre hinweg gebräuchlichen Lehrbücher viel Raum für die Darstellung der philo sophiegeschichtlichen Genese des Marxismus-Leninismus, auf der auch die wesentlichen Motive der Religionskritik beruhen. System
Sozialismus
Imperialismus
Wirtschaftsordnung
Planwirtschaft
Kapitalismus
Philosophie (Substrat)
Materialismus
Idealismus
Grundbegriff
Materie
Bewusstsein
Ausdruck (Superstratum): „Weltanschauung“
Marxismus-Leninismus (‚echter‘ Sinn)
Religion (‚falscher‘ Sinn)
Mittel
Arbeit & Kollektiv
Unterdrückung & Täuschung
Wert/Unwert
neuer Mensch
?
56 Staatsbürgerkunde 11/12 (1971): S. 37. 57 Offiziell galt der Marxismus-Leninismus seit jeher als Grundlage des Staatsbürgerkundelehrplans, vgl. Grammes (2006): Staatsbürgerkunde Dokumentenband, S. 64. Eine ausführliche Vermittlung der Philosophie fand aber erst in den Klassen 11 und 12 statt. Seit dem Lehrplan von 1963, der die Forderung nach einer Qualitätserhöhung der „ideologischen Erziehung“ (Neuner) im gesamten Schulwesen umgesetzt hatte, waren die Schulbücher für Klasse 11 und 12 als anspruchsvoller, geschlossener, philosophiegeschichtlicher und marxismustheoretischer Lehrgang konzipiert: als Einführung in den dialektischen und historischen Materialismus (1971) bzw. als Einführung in die marxistisch-leninistische Philosophie (1983). Vgl. auch Neuner, Gerhart (1963): Erziehung überzeugter Staatsbürger. Zur Einführung des neuen Lehrplans für das Fach Staatsbürgerkunde. In: Pädagogik. Zeitschrift für Theorie und Praxis der sozialistischen Erziehung. 18. Jahrgang, Heft 12. Berlin: Deutsches Pädagogisches Institut, S. 1063–1075.
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In der Konzeption stehen sich Sozialismus und Imperialismus, repräsentiert in ihrer jeweiligen ökonomischen Ordnung Planwirtschaft und Kapitalismus, als zwei unversöhnliche Systeme gegenüber. Die marxistische Philosophiegeschichte konstruierte beide zugleich als konkurrierende philosophische und weltanschauliche Systeme. Philosophie- wird damit zur Konfliktgeschichte, in der sich Fortschritt und Reaktion gegenüberstehen.58 Der philosophische Konflikt mündet schließlich in die binäre Opposition von Materialismus und Idealismus, deren Grundbegriffe „Materie“ und „Bewusstsein“ die philosophischen Kategorien bilden, auf die sich die beiden Strömungen verdichten lassen.59 Aus ihnen leiten sich schließlich Marxismus-Leninismus und Religion als entsprechende Weltanschauungen ab. Sie werden in den Lehrbüchern normativ als ‚echte‘ bzw. ‚falsche‘ Sinngebung präsentiert, insofern ihre Durchsetzung über unterschiedliche Mittel erfolgt. Die insgesamt aus den Gesamtsystemen Sozialismus und Imperialismus hervorgehende Essenz kann demzufolge nur fundamental verschieden sein: Der philosophische Materialismus als das Mittel zur radikalen Umgestaltung der sozialen Verhältnisse60 bringt den neuen Menschen hervor. Während dieser den Wert des Sozialismus verkörpert, bleibt für den Imperialismus ebendort nur eine Lücke bzw. ein Unwert. Der Gegensatz zwischen Materialismus und Idealismus bildet den Rahmen für die Religionskritik, die sich theoriegeschichtlich folgendermaßen generiert: Das Philosophische Wörterbuch, Standard-Nachschlagewerk für die marxistische Philosophie in der DDR, lehnt sich in seinen Begriffsbestimmungen unmittelbar an Friedrich Engels an, wenn es zum Idealismus
58 Die gesamte Philosophiegeschichte von der Antike bis zur marxistischen Philosophie der DDR wurde über diesen Gegensatz konstruiert, vgl. den Anhang des Lehrbuchs Staatsbürgerkunde 3, in dem die Philosophiegeschichte tabellarisch abgebildet wird und neben kontextbezogenen Informationen (wirtschaftliche und politische Ereignisse sowie Wissenschaft, Technik und Kultur) nur die beiden Spalten Materialismus und Idealismus enthält, vgl. Staatsbürgerkunde 3 (1965): S. 254–291. Im Lehrbuch Staatsbürgerkunde 11/12 von 1971 ist das philosophiegeschichtliche Kapitel explizit unter die Überschrift Der Kampf zwischen Materialismus und Idealismus in der Geschichte der Philosophie gestellt, vgl. ebd. S. 28. Die Kampfmetapher wird dort mehrfach verwendet. In der letzten Ausgabe von 1983 werden Idealismus und Materialismus unter die Metapher des Klassenkampfes gestellt, vgl. ebd. S. 49–63. 59 „Die Materie ist eine philosophische Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität, die dem Menschen in seinen Empfindungen gegeben ist, die von unseren Empfindungen kopiert, fotografiert, abgebildet wird und unabhängig von ihnen existiert.“ Vgl. Staatsbürgerkunde (1983): S. 109. Der philosophische Gehalt der Begriffe wird auch darin deutlich, dass das Verhältnis von Materie und Bewusstsein in den Lehrbüchern zur „Grundfrage der Philosophie“ erklärt wird, vgl. zum Beispiel Staatsbürgerkunde 11/12 (1971): S. 28. 60 So war es in der berühmt gewordenen elften These aus den Thesen über Feuerbach angeklungen: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.“ Marx, zit. n. MEW Bd. 3 (1969): S. 5 f. Das weit verbreitete Zitat zierte etwa die Rückseite des Lehrbuchs von 1983.
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„diejenigen philosophischen Anschauungen, Systeme und Strömungen [zählt], die vom Primat der Idee, des Geistes bzw. des Psychischen, der Empfindungen ausgehen und in diesen das Bestimmende erblicken, während sie die Materie, die Gesamtheit der objektiven Realität als eine sekundäre Erscheinung betrachten.“61
Engels wiederum hatte in seiner 1886 erstveröffentlichten Schrift Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie Materialismus und Idealismus mittels ‚Religion‘ voneinander unterschieden: „Hat Gott die Welt erschaffen, oder ist die Welt von Ewigkeit da? Je nachdem diese Frage so oder so beantwortet wurde, spalteten sich die Philosophen in zwei große Lager. Diejenigen, die die Ursprünglichkeit des Geistes gegenüber der Natur behaupteten, also in letzter Instanz eine Weltschöpfung irgendeiner Art annahmen – und diese Schöpfung ist oft bei den Philosophen, z. B. bei Hegel, noch weit verzwickter und unmöglicher als im Christentum –, bildeten das Lager des Idealismus. Die andern, die die Natur als das Ursprüngliche ansahen, gehören zu den verschiednen Schulen des Materialismus. Etwas andres als dies bedeuten die beiden Ausdrücke: Idealismus und Materialismus ursprünglich nicht, und in einem andern Sinne werden sie hier auch nicht gebraucht.“62
Die Frage nach dem Anfang der Welt wird zum Kristallisationspunkt des Streits der philosophischen Systeme. Religion ist Ausdruck eines idealistischen, also falschen Weltverständnisses, die Gottesidee dementsprechend zu verwerfen. Die Vorstellung eines der materiellen Welt übergeordneten personalisierten Prinzips Gott steht der marxistischen Weltauffassung, die eine außerhalb der ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse existierende ‚objektive‘ Realität ablehnt – marxistisch ausgedrückt: die Existenz eines „übernatürlichen Bewusstseins“ – entgegen. Das Religionsverständnis wird über Polaritäten aufgebaut, die sich aus den Grundlegungen von Materialismus und Idealismus ergeben: Anstelle der Materie und ihrer wesenseigenen Bewegung nimmt der Idealismus einen ‚Beweger‘ an: „Die Idee vom Anstoß als der allgemeinen Quelle der Bewegung führt folglich zum religiösen Mythos von der ‚Erschaffung der Welt‘.“63 Die Systeme stehen auch für ursächliches Wissen bzw. Unwissen, die sich in Wissenschaft und Religion terminologisch kristallisieren, womit die Auseinandersetzung um Religion in den Wissenschaftsdiskurs eingespeist wird. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass Wissenschaft nicht nur deskriptiv als Welterklärungsmodell, sondern auch normativ als Mittel zur Veränderung der Welt konzipiert 61 Klaus, Georg/Buhr, Manfred (Hg.) (1971): Philosophisches Wörterbuch Band 1. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut, 8. Berichtigte Auflage, S. 497. 62 Engels, zit. n. Karl Marx/Friedrich Engels. Werke (MEW) Band 21, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz, 5. Auflage 1975 [unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962], S. 275. 63 Gesellschaftskunde (1963): S. 30.
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ist64: Der „Traum“ der unterdrückten Klassen von einer besseren Welt und „hellen Zukunft“ kann nur über das ‚wissenschaftliche‘ Erkennen dieser Welt, ihrer Entstehung sowie der Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Dynamiken, also nur auf der Basis des dialektischen und historischen Materialismus, verwirklicht werden. Dessen Grundannahme, dass die Welt ausschließlich materieller Natur und damit grundsätzlich erkennbar ist, macht das marxistische Materieverständnis zum Grundprinzip der Weltanschauung. Materie und Bewegung als die beiden Schlüsselbegriffe der materialistischen Philosophie werden in den Schulbüchern dementsprechend ausführlich behandelt65 und explizit als Gegenprinzip zu religiösen Weltsichten aufgebaut: „In der Geschichte der Philosophie wurde das Verhältnis von Materie und Bewegung auf sehr unterschiedliche Weise betrachtet. Bereits bei der Untersuchung einfachster Bewegungsprobleme entsteht die Frage nach der Ursache der Bewegung. Um einen ruhenden Gegenstand zu bewegen, müssen wir eine bestimmte Kraft aufwenden. Daraus wurde von manchen Idealisten geschlossen, daß auch eine äußere Kraft, eben ein außerweltliches Wesen, die Bewegung und Entwicklung der Welt hervorbringt. Der Schluß von der Bewegung auf einen ersten Beweger ist bei Thomas von Aquin (1225–1274) ein wichtiger Beweis für die Existenz Gottes. Er geht davon aus, daß die Sinne uns die Bewegung der Dinge zeigen. Daraus wird gefolgert: Notwendig wird die Bewegung eines Objekts durch eine Kraft, die von einem anderen Objekt ausgeht, hervorgebracht. Dieses Objekt wird wieder durch ein anderes bewegt, man kann hier aber nicht etwa ins Unendliche fortschreiten, so behauptet Thomas von Aquin. Damit kommt er notwendig zu einem ersten Beweger, der als nichtmaterielle Kraft ideeller Ursprung der Welt ist. Diesen ersten Beweger nennt er Gott. Die Argumentation läuft darauf hinaus, daß Materie und Bewegung von einander getrennt werden.“66
Die Bewegung der Materie widerspricht dem Prinzip eines Schöpfer- oder Erhaltergottes. Über das Motiv der Gottesexistenz wird der philosophische Widerstreit zwischen Idealismus und Materialismus zum weltanschaulichen Gegensatz. Die dem marxistischen Materieverständnis unterlegte Religionskritik soll den Wissenschaftsanspruch des Materialismus zusätzlich plausibilisieren:
64 Diese Wissenschaftskonzeption lag der Rede von der offenkundigen „Parteilichkeit“ der Wissenschaft zugrunde und wurde auch in den Staatsbürgerkundebüchern angeführt, vgl. stellvertretend Staatsbürgerkunde 10 (1984): S. 171 f. 65 Vgl. die Kapitel zum marxistischen Materiebegriff, in denen ausführlich auch das Thema Materie und Bewegung verhandelt wird, vgl. Staatsbürgerkunde 3 (1965): S. 24–51; in der Nachfolgeausgabe werden der Materie sogar zwei lange Kapitel gewidmet, vgl. Staatsbürgerkunde 11/12. Einführung in den dialektischen und historischen Materialismus (1971): S. 100–179 sowie Staatsbürgerkunde. Einführung in die marxistisch-leninistische Philosophie (1983): S. 67–98. 66 Staatsbürgerkunde 11/12 (1971): S. 114.
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„Die Materie bedarf keines ideellen Bewegers, wenn die Bewegung Daseinsweise der Materie ist. Die Geschichte des von der Wissenschaft untersuchten Bewegungs problems zeigt die Richtigkeit des materialistischen Standpunkts, der einen ersten außerweltlichen Beweger der Welt nicht anerkennt.“67
Bruchlos wird von der physikalischen Gesetzmäßigkeit auf die Wahrhaftigkeit des philosophischen Konzepts Materialismus geschlossen. Bemerkenswert ist, dass als Argumentationshilfe auf Gottesbeweise zurückgegriffen wird, obwohl diese philosophiegeschichtlich spätestens seit Immanuel Kant als unlogisch verworfen wurden.68 Erkenntnistheoretisch ernst genommen werden sie hier zur argumentativen Grundlage der marxistischen (Gegen-)Beweisführung. Die Tatsache, dass sich die Materie nicht in der von Thomas von Aquin angenommenen Weise bewegt, gilt als Beleg für die Nichtexistenz Gottes, während die grundsätzliche Beweiskraft des Aquin’schen Gottesbeweises an keiner Stelle des Text ausschnittes infrage steht oder diskutiert wird. Die Schulbuchdarstellung des Materialismus baut damit argumentativ auf einer überholten erkenntnistheoretischen Grundlage auf und ist als Gottes-Gegenbeweis konzipiert. Neben dem philosophiegeschichtlichen Argumentationsstrang werden zur Plausibilisierung der Wissenschaftlichkeit auch Beispiele aus Naturwissenschaften und Technik angeführt69 und mit Verweisen auf Marx und Engels sowie entsprechenden Zitaten unterlegt.70 Die Wissenschaftlichkeit des dialektischen Materialismus wird damit auf eine Traditionslinie ad personam verdichtet und historisch-genealogisch entworfen. Dies ist typisch für den klassischen Autoritäts 67 Staatsbürgerkunde 11/12 (1971): S.115. 68 Vgl. Clayton, John (1984): Art. Gottesbeweise III. In: TRE Band 8, S. 743. 69 So ein an das physikalische Trägheitsgesetz angelehntes Beispiel: „Nehmen wir als ruhenden Körper einen Handwagen, so brauchten wir zwar eine Kraft zum Anschieben, aber dann läuft der Wagen bei ideal-glatter Unterfläche allein weiter. Zum Weltbild verallgemeinert würde das bedeuten, daß sich die Bewegung nach dem ersten Anstoß der Objekte ohne weitere Anstöße vollzieht.“ Staatsbürgerkunde 11/12 (1971): S. 115. Oder ein Verweis auf den Düsenmotor: So wie dieser durch Verbrennung bestimmter Stoffe die Kraft erzeuge, die die Rakete vorantreibt, bauten auch Bewegungen in Natur und Gesellschaft auf gegensätzlich wirkenden Kräfteverhältnissen auf, die in der marxistischen Dialektik als Gesetzmäßigkeit „von der Einheit und dem Kampf der Gegensätze“ formuliert würde. Auch die Dialektik wird wahlweise mit Beispielen aus der Natur, Naturkunde, Naturwissenschaft oder Technik unterlegt und damit ‚vernaturwissenschaftlicht‘. Die Beispiele finden sich im philosophiegeschichtlichen Teil der Lehrbücher immer wieder als Beweismittel zur Bestätigung der materialistischen Philosophie als (natur-)wissenschaftlicher Philosophie. 70 „Marx und Engels sprachen […] von der Selbstbewegung der Materie. Diese These ist eine der größten wissenschaftlichen Leistungen des vergangenen Jahrhunderts in der Verallgemeinerung der Ergebnisse der Naturwissenschaften. […] Engels schreibt im Anti-Dühring: ‚Die Bewegung ist die Daseinsweise der Materie.‘ [Hervorh. i. Orig.]“ Staatsbürgerkunde 11/12 (1971): S. 117. Diese Formulierung wird leicht verändert auch als Abschnittsüberschrift übernommen, vgl. Kapitel IV.3 Die Materie und ihre Existenzformen/Materie und Bewegung, Abschnitt 3: Bewegung als Daseinsweise der Materie.
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topos, für den Zeitrelationen keine Rolle spielen und Schriften stets ungebrochen rezipiert werden, so dass sie auch Jahrzehnte nach ihrer Abfassung volle Gültigkeit besitzen.71 Die Darstellung des historischen Materialismus kann sich so jederzeit auf die Klassiker des theoretischen Marxismus berufen, ohne deren Expertenstatus anzutasten. Religion nimmt in der Argumentationsführung einen definierten Platz als rein historisches Phänomen ein, das für den vor-wissenschaftlichen Menschen des „Altertums“, später kommt als Beispielepoche das Mittelalter hinzu72, kennzeichnend ist: „Im Altertum wußten die Menschen nichts vom Wesen der Elektrizität. Ein Gewitter flößte ihnen Schrecken ein und erschien ihnen als ein Werk der erzürnten Götter. Nicht umsonst wurde in der griechischen Mythologie Zeus als Donnergott dargestellt, der Blitze gegen seine Feinde schleuderte. Im 19. Jahrhundert hat die Wissenschaft die Grundgesetze der Elektrizität entdeckt und diese Erscheinungen theoretisch erklärt.“73
Das Lehrbuch liefert damit eine klassisch intellektualistische und evolutionistische Religionstheorie, in der Gottheiten vor allem der Erklärung von Naturereignissen dienen und damit eine – fehlgeleitete – kognitive, keine soziale Funktion übernehmen. Der Tatsache, dass Gott- und Götterglaube auch in späteren historischen Epochen noch existieren, wird zwar Rechnung getragen, ‚Glaube‘ dabei aber als Ausdruck der Konfliktgeschichte zwischen Materialismus und Idealismus gedeutet. Die der Argumentation unterlegt bleibende Frage nach dem Warum der Existenz von Religion wird mit Hilfe des Marx’schen Basis-Überbau-
71 Zum Umgang mit den Schriften von Marx und Engels vgl. auch die Analyse zur Staatsbürgerkunde 9. 72 Vgl. Staatsbürgerkunde 11/12 (1971): S. 114–119 sowie Staatsbürgerkunde (1983): S. 50 f. Dort heißt es beispielsweise: „Im Mittelalter herrschten in Europa Religion und Theologie im geistigen Leben der Feudalgesellschaft, doch die Ideen des Materialismus gingen nicht unter. Sie drangen in Gestalt des Nominalismus sogar in die Theologie ein und begannen in Form des Pantheismus die Religion zu zersetzen. […] Der Pantheismus ist eine Weltanschauung, die Gott und Welt ganz oder weitgehend miteinander identifiziert. In seiner konsequent materialistischen Form führt er zum Atheismus, zur Leugnung Gottes und damit zur Verwerfung jeder Religion.“ Auch wenn „Mittelalter“ hier zweifellos als Negativbegriff verwendet wird, der für Rückständigkeit und Anti-Wissenschaftlichkeit steht, war das Mittelalterbild insgesamt nicht durchweg negativ. Der Akzent der akademischen Mittelalterforschung lag wesentlich auf der „revolutionären“ Bewegung ländlicher und städtischer Unterschichten. Mittelalter- als Revolutionsgeschichte zu schreiben, war selbstverständlich positiv konnotiert, vgl. Jarausch, Konrad (1997): Die DDR-Geschichtswissenschaft als Meta-Erzählung. In: Sabrow, Martin (Hg.): Verwaltete Vergangenheit. Geschichtskultur und Herrschaftslegitimation in der DDR. Leipzig: Akademische Verlagsanstalt, S. 35–66, hier: 27. In das Geschichtsbuch diffundierte das positive Mittelalterbild vor allem über die Figur Thomas Müntzer, vgl. das Lehrbuch Geschichte 6. 73 Gesellschaftskunde (1963): S. 37.
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Modells sozialgesellschaftlich fundiert, was im Kern heißt: Religion ist erstens Ausdruck eines falschen und damit un- oder vor-wissenschaftlichen Bewusstseins, das zweitens auf bestimmten sozialgesellschaftlichen bzw. ökonomischen Bedingungen, dem gesellschaftlichen Sein, beruht. Überführt in die Gegenüberstellung von Idealismus und Materialismus wird das Religionsverständnis zusätzlich erkenntnistheoretisch verortet: „Der Materialismus ist die führende, fortschrittliche Richtung in der Philosophie. […] Die Idealisten sehen den Geist, die Idee als den Urgrund der Welt an. Im Gegensatz zu den Materialisten lehnen sie es von jeher ab, die Natur, die Materie, das Sein aus sich selbst zu erklären und sie als das zu betrachten, was sie in Wirklichkeit sind. Für die Idealisten sind das Bewußtsein, die Vernunft und Gott die Schöpfer der Natur, der Materie. […] Der Idealismus wird durch die gesamten Ergebnisse der Naturwissenschaft und der menschlichen Praxis widerlegt. […] In krassem Widerspruch zur Naturwissenschaft stehen auch die Vorstellungen von einem Weltgeist als ‚Schöpfer der Welt‘. […] Der Mensch hat mit der Erschließung des Kosmos begonnen, er dringt in die Geheimnisse der Mikrowelt ein, aber nirgends trifft er auf irgendwelche Spuren der Tätigkeit eines Weltgeistes, alle Erscheinungen lassen sich aus natürlichen Ursachen erklären.“74
Der Konflikt zwischen Materialismus und Idealismus ist wesenhaft, insofern er auf erkenntnistheoretischen Prämissen sowie Irrtum75 beruht. Dessen Unversöhnlichkeit wird über Wissenschaft als diskursive Kategorie verhandelt und mit entsprechenden Begriffen bzw. Gegenbegriffen bezeichnet. Der Materialismus, „führend“, „fortschrittlich“ und „natürlich“, mit „Natur“ und Naturwissenschaft, „Materie“ oder „Wirklichkeit“ assoziiert, steht dem Idealismus gegenüber, dem als Gegenbegriffe (Welt-)„Geist“ (als „Schöpfer“), eine „Idee“, das „Bewußtsein“, die „Vernunft“ oder „Gott“ beigesellt werden. Dass Religion eine Ausprägung dieses falschen und überdies keiner näheren Prüfung standhaltenden Weltbildes sei, soll die sowjetische Raumfahrt belegen: Im Universum trifft der Mensch „nirgends […] auf irgendwelche Spuren der Tätigkeit eines Weltgeistes“.76 Dieser abrupt und willkürlich scheinende Hinweis steht im Zusammenhang mit dem Wettlauf der Systeme im Weltraum. 1957 war die sowjetische Raumsonde Sputnik 1 ins All aufgebrochen und leitete damit nicht nur das Zeit 74 Gesellschaftskunde (1963): S. 44 f. 75 Die Ursache für idealistisches Denken wird metaphorisch als falsche Erkenntnis präsentiert: „Lenin schrieb einmal, daß die menschliche Erkenntnis an einen Baum erinnert, der nicht nur Früchte, sondern auch taube Blüten hervorbringen kann.“ Gesellschaftskunde (1963): S. 45. 76 Gesellschaftskunde (1963): S. 45. Der informierte Leser wird diese Formulierung mit dem auch in der DDR populären, als sozialistischen Helden inszenierten, sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin in Verbindung bringen, der als erster Mensch am 12. April 1961 die Erde umkreiste und anschließend gesagt haben soll: „Ich bin in den Weltraum geflogen, aber Gott habe ich dort nicht gesehen.“
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alter der Raumfahrt, sondern auch den „Sputnik-Schock“ ein. Dieser hatte neben dem Beginn des (atomaren) Wettrüstens als militärpolitische Reaktion mit der Entstehung von Studienprogrammen und dem Schulfach Astronomie sowie der Gründung von Laienvereinen positive bildungspolitische Auswirkungen für die DDR. Der konjunkturelle Aufschwung des Phantastischen trug mit der Verbreitung des Science-Fiction in Rundfunk, Film und Fernsehen zudem zur Pluralisierung des Kulturwesens bei.77 Religionsgeschichtlich interessant ist der Sputnik-Schock nicht nur in seiner Funktion als sozialistischer Gottesgegenbeweis, sondern auch als Kristallisationspunkt für die systemische Hegemonialfrage, die beide Supermächte auf dem Feld Berlin: Dietz Verlag 1958. der technischen Konkurrenz für sich zu entscheiden beanspruchten. Mit der Erdumrundung Juri Gagarins sollte der Beleg für die weltanschauliche Überlegenheit des Kommunismus geliefert sein, die mit Hilfe entsprechender anti-religiöser bzw. anti-christlicher Literatur zur Volksaufklärung in der DDR verbreitet wurde. Ein typisches Beispiel dafür bildete das 1958 erschienene Heft Der Sputnik und der liebe Gott, in dem der Autor Rudolf Rochhausen, später Professor für Wissenschaftsphilosophie und Erkenntnistheorie an der Karl-Marx-Universität Leipzig, gegen das Christentum polemisiert. Als Ausgangspunkt seiner Religionskritik dient Rochhausen das bildliche Verständnis eines im Himmel wohnenden Gottes, das er aufgreift, um das Christentum lächerlich zu machen. Dies funktioniert in der Logik des Textes, weil der Autor keine Unterscheidungen des Religiösen vornimmt. „Volksglaube“ und Theologie als intellektuelle Beschäftigung mit Religion bzw. Christentum basieren für ihn gleichermaßen auf absurdem Geschichtenerzählen. Eine theologisch fundierte Beschäftigung mit Glaubensvorstellungen oder Texten ist zu keiner Zeit intendiert, im Gegenteil.78 Der Autor 77 Zum Sputnik-Motiv innerhalb der phantastischen DDR-Kinder- und Jugendliteratur vgl. Roeder, Caroline (2006): Phantastisches im Leseland. Die Entwicklung phantastischer Kinderliteratur der DDR (einschließlich SBZ). Eine gattungsgeschichtliche Analyse. Frankfurt/Main: Peter Lang, bes. S. 201–206. 78 Besonders innerhalb der theologischen Sekundärliteratur wurde dieser Art der sozialistischen Religionskritik immer wieder entgegen gehalten, dass sie auf einem falschen Bibel- mit-
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macht keinen Hehl aus seiner größtenteils ironisch vorgetragenen, polemischen Religionskritik: „Es ist aber doch immerhin eigenartig, dass der liebe Herrgott gerade denen zuerst den Vorstoß ins All gelingen ließ, die nicht an ihn glauben, nämlich den gottlosen Kommunisten. Seine treuen Hirten haben zwar immer eifrig gebetet, aber sonst waren sie nur dazu in der Lage, beißenden Gestank zerplatzter Raketen in den Himmel zu schicken.“79
Die ursprünglich als Kirchen- und Christentumskritik formulierte Offensive wird rasch zur Auseinandersetzung um das überlegene politische System. Das Religiöse dient dem Verfasser als Beleg für die Rückständigkeit der bürgerlichimperialistischen Gesellschaft, die sich in der Rede vom „lieben Gott“ kristallisiert; die Auseinandersetzung mit Kirche, Christentum und Religionen80 bildet ein Stilmittel der Darstellung. Am Ende steht eine Kapitalismuskritik, die in den Fortschrittsanspruch des sozialistischen Systems mündet. Rochhausens knapp 40-seitiges Pamphlet war typisch für die in der Phase der atheistischen anti-kirchlichen Politik der 1950er Jahre massenhaft produzierten, billig verkauften und weit verbreiteten Texte, die sich zumeist, aber nicht immer, weniger gegen Religion an sich und mehr gegen Kirche und Christentum richteten. Weitere Broschüren gab die 1954 neugegründete Urania-Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse heraus.81 Die Sputnik-Thematik und der Weltraumflug Juri Gagarins verschwanden zwar rasch aus den Staatsbürgerkundebüchern, tauchten dafür aber ab 1971 im Lehrbuch Geschichte 10 auf. Dort standen sie ebenfalls als Beleg für die Fortschrittlichkeit und den Erfolg des Sozialismus und verblieben bis zum Ende der DDR als
hin Religionsverständnis aufbaue, vgl. exemplarisch Kittel, Gisela (1996): Anfragen des Atheismus. In: Biewald, Roland (Hg.): Einblicke Religion. Ein Studienbuch. Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht, S. 99. Dort heißt es: „Weil die Verfasser die Symbolhaftigkeit der biblischen Sprache nicht verstehen, weil sie sie nur auf vordergründige Wirklichkeit hin auslegen können, fällt es ihnen leicht, christliche Glaubensaussagen ins Lächerliche zu ziehen und als rückständigen Aberglauben zu denunzieren.“ Diese Kritik unterschätzt die sich aus den unterschiedlichen Religionsverständnissen ergebenden, fundamental entgegen gesetzten Argumentationsebenen. Sie läuft damit ins Leere. 79 Rochhausen, Rudolf (1958): Der Sputnik und der liebe Gott. Berlin: Dietz, S. 3. 80 An einer Stelle bezieht sich der Autor auf die Rezeption der indischen Lehre vom Kreislauf der Wiedergeburt in Oscar Feyerabends Buch Das organologische Weltbild von 1956, um darauf seine systembezogene Wissenschaftskritik aufzubauen: „Ein solcher Unsinn wird von ‚Wissenschaftlern‘ geschrieben, die mit allen Mitteln versuchen, das alte, brüchig gewordene kapitalistische System zu erhalten. […] Wird mit der Wissenschaft Missbrauch getrieben, um die Religion und den Mystizismus zu retten, dann verfällt sie der Stagnation.“ Vgl. Rochhausen (1958): Sputnik, S. 21 f. 81 Vgl. dazu Schmidt-Lux, Thomas (2008): Wissenschaft als Religion. Szientismus im ostdeutschen Säkularisierungsprozess. Würzburg: Ergon, S. 239–243.
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Geschichte 10 (1971).
Thema im Lehrbuch.82 Zusätzlich zierte der Sputnik den Einband des Schulbuchs. In Verbindung mit dem Denkmal auf dem Berliner Leninplatz ging er so auch als Erfolgssymbol in den Bilder- und Erinnerungshaushalt der DDR-Bürger ein. Im Staatsbürgerkundebuch ist der Sputnik vor allem als Beispiel für die zeitnahe Einspeisung kirchen- bzw. religions politischer Diskurse und damit auch für die Geschichte der Religionskritik in Deutschland relevant. Argumentativ steht er jedoch lediglich in einer Reihe mit zahlreichen weiteren Beispielen, mit denen die marxistisch-leninistische Religionskritik plausibilisiert werden soll. Inhaltlich bringt der Lehrbuchtext nichts Neues. Analytisch interessant hingegen ist die Form der beharrlich vorgetragenen Religionskritik, die auf einer intertextuellen Verweisstruktur basiert:
„Napoleon hat einmal im Gespräch mit dem bekannten Astronomen Laplace die Frage gestellt, warum er in seinen Werken niemals von Gott spreche. ‚Ich brauche diese Hypothese nicht‘, erwiderte stolz der Gelehrte. […] Wir können den Ausspruch von Laplace abwandeln✳ und sagen, daß die Menschheit für die wissenschaftliche Erklärung der Welt keine Phantasien von einem Weltgeist bedarf.“83
Über den anekdotischen Verweis auf einen Dialog des 19. Jahrhunderts wird der Gottesglaube als Atavismus historisiert und unter Verwendung der Wissenschaftssprache („Hypothese“) als unwissenschaftlich qualifiziert. Zusätzlich wird der bislang auf der Ebene der wissenschaftlichen Belegbarkeit verhandelten Religion die Funktion eines Unterdrückungsmomentes zugeschrieben. Die auf dem Wissenschaftsanspruch gründende Argumentation mündet in eine Sozial- und 82 Vgl. Geschichte 10 (1971): S. 95; Geschichte 10 (1977/1983): S. 92. Mit der letzten Lehrbuchausgabe von 1989 ändert sich zwar der Einband, und der Sputnik ist dort nicht mehr zu sehen. Im Schulbuchtext bleibt die Thematik aber erhalten und wird noch breiter ausgeführt, vgl. Geschichte 10 (1989): S. 42 f. ✳ Abgewandelt ist der LaPlace’sche Ausspruch hier insofern, als dass dessen Rede von der „Arbeitshypothese Gott“ ursprünglich keine Aussage über die (Nicht-)Existenz Gottes vornimmt, sondern auf die Unerheblichkeit des Gottesglaubens für die wissenschaftliche Welterklärung verweist. 83 Gesellschaftskunde (1963): S. 45.
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Gesellschaftskritik, in der der religiöse Glaube nicht länger nur „taube Blüte“ einer auf falschem Bewusstsein beruhenden irrtümlichen Erkenntnis, sondern Mittel zur Durchsetzung bestimmter Klasseninteressen ist: „Die religiöse Weltanschauung ist der wissenschaftlichen direkt entgegengesetzt. Sie sind Antipoden. Die gesamte Geschichte der Zivilisation ist durchdrungen vom Kampf der Wissenschaft gegen die Religion. Mir ihren Entde-ckungen untergräbt die Wissenschaft die kirchlichen Dogmen von der Existenz Gottes und seiner Allmacht. Die Wissenschaft, die die Naturerscheinungen aus natürlichen Ursachen erklärt, läßt keinen Raum für Gott. In der Vergangenheit hat die Kirche die Wissenschaftler verfolgt. Viele hervorragende Gelehrte sind durch die Schuld der Kirche ums Leben gekommen. Heute muß die Religion der Macht der menschlichen Vernunft weichen. Die Geistlichen negieren gewöhnlich die Wissenschaft nicht mehr; sie suchen jetzt im Gegenteil zu beweisen, daß eben Gott dem Menschen die Fähigkeit verliehen hat, die Welt zu erkennen. Seit ihrer Entstehung spielt die Religion eine reaktionäre Rolle. Sie ist bemüht, den Menschen von der Vergänglichkeit des Seins, von der Nutzlosigkeit des Kampfes um das Glück auf Erden zu suggerieren und sie passiv und gleichgültig zu machen. Zur Belohnung dafür verspricht sie den Gläubigen das ‚Himmelreich‘. Natürlich entsprechen diese Ideen in jeder Weise den Interessen der Ausbeuterklassen, da sie die werktätigen Massen vom revolutionären Kampf abhalten. Deshalb haben die Ausbeuterklassen die Religion immer unterstützt und die Geistlichen beschützt. Die Religion wurde ein Mittel zur geistigen Versklavung der Menschen. Nach einem bildlichen Ausdruck von Karl Marx ist die Religion Opium für [sic!] das Volk. Natürlich ist die Ähnlichkeit der Grundthesen des Idealismus und der Religion nicht zu übersehen. Der Idealismus und die reli giöse Weltanschauung sind sowohl ihrem Wesen als auch ihrer sozialen Rolle nach zutiefst miteinander verbunden.“84
Die Deutung von Religion als Herrschaftsinstrument im Dienst der obersten Klasse bildet das zentrale Argument im Entwurf von Religionsgeschichte als Unterdrückungsgeschichte.85 Der über den Wissenschaftstopos plausibilisierte Verweis auf die wesenhafte Verschiedenheit von Materialismus und Idealismus wird durch den psychologisierenden Erklärungsansatz vom Ohnmachtsgefühl des Menschen gegenüber Natur und Gesellschaft ergänzt. Die synonyme Verwendung der Termini Religion und Kirche verdichtet den Religionsbegriff zudem auf 84 Gesellschaftskunde (1963): S. 46 f. 85 Bisweilen wird der Sprachduktus verstärkt, vgl. Staatsbürgerkunde 11/12 (1971): S. 445, wo es heißt: „Wenn die Religion Jahrtausende hindurch die Köpfe der Menschen beherrscht hat und in großen Teilen der Welt auch noch heute weitgehend beherrscht, so ist dies vor allem im gesellschaftlichen Sein der antagonistischen Klassengesellschaft, in den ökonomischen Verhältnissen dieser Gesellschaft mit ihren verheerenden sozialen Auswirkungen für die breiten Massen begründet. Die Herrschaft des Privateigentums an den Produktionsmitteln, die Spaltung der Gesellschaft in ein Häuflein ‚Herren‘ und in die Masse der ‚Knechte‘, das ist der wahre soziale Boden der Religion seit der Existenz der Klassengesellschaft. Dies gilt von allen Weltreligionen, auch von der christlichen Religion.“
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die Ebene der christlichen Institution. Allerdings ist mit der Formulierung, die Religion wolle „den Menschen von der Vergänglichkeit des Seins“ überzeugen, um ihn „passiv und gleichgültig“ für diesseitige Belange zu machen und ihn auf ein Jenseits zu vertrösten, ein Universalziel behauptet: Dass das religiöse Jenseitsund Paradiesversprechen den Willen der Arbeiter zum Klassenkampf verhindere und deshalb den Herrschaftsinteressen der „Ausbeuterklassen“ entspricht, macht Religion an sich zum Mittel der „geistigen Versklavung“. Mit der fehlerhaften86 Marx-Paraphrase soll die Aussage historische Legitimation erhalten. Inhaltlich folgen an dieser Stelle des Textes keine neuen Argumente mehr, die Aussagen werden lediglich in variierter Form wiederholt. Die vielen Wiederholungen ergeben sich nicht nur aus der Textsorte – das Leseverhalten bei der Schulbuchlektüre unterscheidet sich erheblich von der Freizeitlektüre eines Romans –, vielmehr war die Wiederholungsstruktur als Teil der „Überzeugungsbildung“ auch für die oberen Klassen methodisch intendiert. Sie prägt die Textstruktur entscheidend und führt damit zu der Frage nach den Vermittlungstechniken des Lehrbuchs. Die formalen Besonderheiten des Textes bestehen vor allem aus drei wiederkehrenden Stilmitteln: der direkten Leseransprache, einer hohen Frequenz bestimmter Formulierungen sowie der Verwendung des Kampfbegriffes. Die Leseransprache erfolgt regelmäßig indirekt über den pluralis auctoris, wird aber auch direkt eingesetzt und durch rhetorische Fragen verstärkt. Ein Beispiel zeigt, dass diese Fragen entweder ad hoc beantwortet oder als Suggestivfragen formuliert werden, womit sie das Textverständnis zusätzlich regulieren: „Aber urteilen Sie selbst: Kann man der Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis des Seins zum Bewußtsein ausweichen? Nein, das ist unmöglich.“ Oder: „Die moderne Bourgeoisie ist an keiner wissenschaftlichen Erkenntnis der Entwicklungsgesetze der Wirklichkeit interessiert, da diese Gesetze auf den Untergang des Kapitalismus hinwirken. Kann man da von den bürgerlichen Philosophen Unvoreingenommenheit und Objektivität erwarten?“87 Die auf diese Weise erzeugte Überdeutlichkeit wird durch rekapitulierende Kontrollfragen, etwa „Warum muß man gegen den Idealismus und das Pfaffentum kämpfen?“88 86 Ob es sich um einen Fehler in der Originalausgabe des Gesellschaftskundelehrbuchs, der Übersetzung oder um eine gewollte Marx-Interpretation handelt, ist nicht eruierbar. Die Rede vom Opium für das Volk wird zwar Lenin zugeschrieben. Es bleibt jedoch unklar, ob es sich dabei ebenfalls um einen Übersetzungsfehler aus dem Russischen handelt. In der in der DDR verbreiteten Lenin’schen Schrift Über die Religion ist jedenfalls ausschließlich vom „Opium des Volks“ die Rede: „Die Religion ist das Opium des Volks. Die Religion ist eine Art geistigen Fusels, in dem die Sklaven des Kapitals ihr Menschenantlitz, ihren Anspruch auf ein auch nur halbwegs menschenwürdiges Dasein ersäufen.“ Zit. n. Vladimir I. Lenin (1956): Über die Religion. Eine Sammlung ausgewählter Aufsätze und Reden. Berlin: Dietz-Verlag. 2. Auflage, S. 7; so auch auf den Seiten 20, 28, 31, 43. Die Formulierung hat sich auch in späteren Auflagen nicht verändert. 87 Gesellschaftskunde (1963): S. 49 bzw. S. 50. 88 Gesellschaftskunde (1963): S. 51.
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verstärkt. Leserlenkung und Verankerung der Hauptaussagen erstrecken sich auf alle Ebenen des Lehrbuchtextes. Diese Implementierungsstrategie wird vom Schulbuch selbst reflektiert, wenn vom „Nutzen der Wiederholung“ sowie der Verinnerlichung durch Anwendung die Rede ist.89 Der militärische Sprachduktus durch mehrfache Verwendung der Kampfmetapher evoziert überdies existentielle Bedeutung.90 Insgesamt werden Christentum, Kirche und Religion auf zweifache Weise konstruiert: epistemologisch als Anti-Wissenschaft und machtpolitisch als Herrschaftsinstrument, womit Religionskritik und Streben nach sozialer Gerechtigkeit zusammenfallen. Die mit kirchlichen Strukturen und Gottesglaube gleichgesetzte Religion wird im historischen Teil der Argumentation in den Bereich eines mittelalterlichen Atavismus gerückt und als falsche („idealistische“) Weltsicht verworfen.91 In der Unversöhnlichkeit von Religion und sozialistischer Weltanschauung spiegelt sich die Verschiedenheit der philosophischen Systeme Idealismus und Materialismus, die es auch erzieherisch durchzusetzen gilt.
c) Erziehungsanspruch und Anthropologie: der neue Mensch Der Bürger entwickelt sich nicht von selbst zum sozialistischen Idealmenschen, vielmehr muss er auf das neue Leben ethisch und moralisch vorbereitet werden: „Entwickeln kann man den neuen Menschen nur, wenn man sein ganzes Wesen, seine Einstellung zur Arbeit, zur Gesellschaft und zur Familie verändert, das heißt, wenn man im wahrsten Sinne des Wortes in seinem Bewußtsein eine Revolution vollbringt.“92 89 Vgl. Gesellschaftskunde (1963): S. 312. 90 Die Übertragung der militärischen Sprache auf nicht-militärische Bereiche bzw. der metaphorische Einsatz militärsprachlicher Begriffe war besonders während der Ulbricht-Zeit üblich und oft vom sowjetischen Vorbild übernommen worden, für das das Stalin’sche Konzept des permanenten Klassenkampfes unter Führung der kommunistischen Partei Pate stand. In der DDR besonders verbreitet war die Rede vom durchaus bewaffnet zu verstehenden Kampf für den Frieden sowie der sozialistischen Produktion als alltäglichem „Kampffeld“ der Werktätigen. Nach Abschluss des Grundlagenvertrags mit der BRD 1973 nahm der militärische Sprachduktus deutlich ab, wenngleich sich einige Wendungen bis 1989 hielten. Vgl. Hellmann, Manfred W. (2005): Differenzierungstendenzen zwischen der ehemaligen DDR und BRD. In: Lexikologie. Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen, hg. v. D. Allan Cruse u. a. Berlin: de Gruyter 2002–2005, Band 2, S. 1201–1220, hier: 1213. 91 Diese Position bleibt auch in späteren Lehrbuchausgaben erhalten. So heißt es 1971: „Wer die Einheit von Materie und Bewegung anerkennt, die Bewegung als Daseinsweise der Materie auffaßt, nimmt die Bewegung des Denkens als Widerspiegelung der objektiv-realen Bewegung. Das ist der Standpunkt der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Philosophie. Damit werden alle unhaltbaren Spekulationen über die Existenz außerweltlicher erster Beweger zurückgewiesen.“ Staatsbürgerkunde 11/12 (1971): S. 118 f. 92 Gesellschaftskunde (1963): S. 307.
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Im Protolehrbuch wird dieser erzieherische Anspruch in einem eigenen Kapitel ausformuliert. Dort nicht nur der Entwurf des neuen Menschen Anschauung, auch wird die Weltanschauung des Marxismus-Leninismus inhaltlich gefüllt und damit konkretisiert. Kapitel 10 – Die Erziehung des neuen Menschen § 43 Der Mensch des Kommunismus wird heute geboren Der Streit um den Menschen Die kommunistische Erziehung § 44 Die wissenschaftliche Weltanschauung Der Weg zur geistigen Freiheit Mensch und Gesellschaft § 45 Der neue Mensch wird in der Arbeit geformt Die Schule der Arbeit Das Heldentum einer Generation § 46 Kollektivismus und Humanismus Einer für alle, alle für einen Der Mensch ist des Menschen Freund, Genosse und Bruder § 47 Kampf den Überresten der Vergangenheit Schmarotzer und Spießer – die Allerschlimmsten Über die Überwindung der Überreste der Vergangenheit Der Kampf gegen religiöse Vorurteile § 48 Die kommunistische Moral und Lebensweise Die Lebensweise ist keine Privatangelegenheit Familie und Ehe § 49 Alles am Menschen soll gut und schön sein Geistiger Reichtum Moralische Sauberkeit Körperliche Vollkommenheit
Dem Kapitel ist ein narratives Szenario unterlegt, das, von den sozialen und anthropologischen Grundlagen des Kommunismus ausgehend, sowohl Erziehungsziele als auch -faktoren formuliert und in eine Vision vom neuen Menschen mündet. Der Arbeit als zentralem Erziehungsmoment kommt in dieser Konstellation eine besondere Bedeutung zu. Mit Kollektivismus und Humanismus als grundlegenden Eigenschaften des neuen Menschen werden zwei weitere Erziehungsziele formuliert, mit denen das altruistische Gemeinschaftsideal auf eine moralisch-anthropologische Basis gestellt und durch die Überschrift „Einer für alle, alle für einen“ indirekt literarisch fundiert wird. Das Zitat aus der Literatur des 19. Jahrhunderts, der Leitspruch der Hauptfiguren aus dem zweiten © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540497 — ISBN E-Book: 9783647540498
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Band der Romantrilogie Alexandre Dumas’, später auch unter Die Drei Musketiere bekannt geworden, wird hier zum Wahlspruch für die einheitliche kommunistische Gesellschaft, die verspricht: In der neuen Gesellschaft werden alle Menschen zu Brüdern. Bevor dies eintreten kann, müssen zuerst die „Überreste der Vergangenheit“ bekämpft und entfernt werden. An dieser Stelle kommt Religion ins Spiel, die neben dem „Spießbürgertum“ als Ausdruck der „Privateigentümermentalität“ den am tiefsten im menschlichen Bewusstsein verankerten Überrest repräsentiert, den es zu überwinden gilt. An die Stelle des Alten tritt die neue, kommunistische Art der Lebensführung, die sich auf alle Bereiche des Lebens bezieht, womit eine Trennung zwischen öffentlich und privat aufgehoben ist. Am Ende des Erziehungsprozesses steht die geistige, moralische und körperliche Vollkommenheit: der neue Mensch des Kommunismus. Aber ist es überhaupt möglich, den Menschen in all seinen Auffassungen und Einstellungen wesenhaft zu verändern? Die Problemstellung – den Kommunismus mit Menschen aufzubauen, „wie sie die Geschichte geformt hat“, – wird zur Systemfrage: Im Gegensatz zu ‚bürgerlichen‘ Soziologen oder Moralisten stellt die marxistische Position die Erziehungsfähigkeit des Menschen in den Vordergrund. Mit dem Umerziehungsgedanken wird die Idee einer vermeintlich biologisch verankerten Amoralität des Menschen als idealistisch verworfen: „Nein, nicht die Natur ist schuld an den menschlichen Untugenden, sondern der Kapitalismus, der die wahre Natur des Menschen verunstaltet.“93 Nicht die Biologie bestimmt menschliches Handeln, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse; die Beschaffenheit des Menschen ist im Wesentlichen sozial bestimmt. „Der Mensch läßt sich umerziehen!“ lautet das Fazit, seine Unzulänglichkeiten werden „unweigerlich aussterben, sobald die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie hervor bringen, beseitigt sind.“94 Das Instrument der Umerziehung ist die wissenschaftliche Weltanschauung, die das Wesen des neuen kommunistischen Bewusstseins ausmacht und den Menschen von den „Wolfsgesetzen der bürgerlichen Moral“ befreit. Mit Wendungen wie „‚Jeder für sich‘, ‚Entweder du beraubst den anderen, oder er beraubt dich‘, ‚Dem Reichen und Starken ist alles erlaubt‘, ‚Der Mensch ist ein Wolf unter Wölfen‘“ umschrieben, wird die bürgerliche Moral schließlich narrativ konkretisiert: „Journalisten, die eine unserer Delegationen in die USA begleiteten, haben ein charakteristisches Gespräch mit einem amerikanischen Farmer wiedergegeben. Im Laufe der Unterhaltung stellten sie fest, daß er in diesem Jahr keine schlechte Ernte gehabt hatte. ‚Ja, aber meine Nachbarn auch‘, antwortete der Farmer ehrlich bekümmert, ‚und das bedeutet, daß die Preise fallen und ich je Hektar 100 Dollar einbüße.‘ Ähnlich wie dieser Farmer denkt ein Arzt, der sich wünscht, daß möglichst viele 93 Gesellschaftskunde (1963): S. 308. 94 Gesellschaftskunde (1963): S. 307.
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seiner Mitbürger erkranken; ein Architekt, der sich freut, wenn ein Haus abbrennt, weil er dann wieder einen Auftrag bekommt; ein Jurist, der sich die Hände reibt, wenn wieder ein Verbrechen geschehen ist.“95
Der Texteinschub gibt die Erfahrungen und Beobachtungen einer nicht näher definierten Gruppe sowjetischer Besucher in den USA wieder, wobei der Leser auf das Typische verwiesen werden soll. Die wörtliche Rede als fingierte Wirklichkeitsaussage (Käte Hamburger)96 plausibilisiert die Verallgemeinerung der Erlebnisse: Während der Farmer nur „ehrlich bekümmert“ darüber war, dass durch eine allseits gute Ernte langfristig die Preise fallen, „wünscht“ sich der Arzt die Erkrankung seiner Mitbürger, der Architekt „freut“ sich gar über das Unglück eines eingestürzten Hauses, und der Jurist „reibt“ sich schließlich die Hände, „wenn wieder ein Verbrechen geschieht“. Der Erlebnisbericht liefert das Paradebeispiel für den für die kapitalistische Gesellschaft insgesamt charakteristischen moralischen Verfall des Menschen, der – und damit werden die Beispiele ins Systemische überführt – keineswegs harmlos ist, sondern in letzter Konsequenz in den Faschismus mündet.97 Mit dieser Argumentationsfigur ist die wichtigste Plausibilisierungsstrategie vorweggenommen, mit der später die Notwendigkeit der marxistisch-leninistischen Weltanschauung immer wieder begründet wird. Mögen deren einzelne Inhalte diskutabel sein – mit der direkten Verbindung zwischen bürgerlicher Ideologie und „Faschismus“ als Schreckensbeispiel der jüngsten Vergangenheit wird die Weltanschauung an sich unverhandelbar. Sie bildet zudem den Kern des kommunistischen Bewusstseins. Erst mit ihr als Rüstzeug kann sich der Mensch im Leben orientieren und seine Entwicklung in die Hand nehmen; er ist nicht länger „Sklave der Naturgewalten, sondern seines Glückes eigener Schmied und Gebieter der Natur.“98 Freilich kann die Frage nach dem idealen Sein und Sollen eines Kommunisten erst in einer wissenschaftlichen Weltanschauung Beantwortung finden: „Jeder Mensch hat irgendwelche Vorstellungen von der Welt und dem Sinn des Lebens, die jedoch bei weitem nicht immer wissenschaftlich sind. Er ist dann in irrigen, zum Beispiel religiösen oder spießbürgerlichen Auffassungen befangen und ist auf keinen Fall geistig frei. Die wissenschaftliche Weltanschauung ist das Tor zur Geistesfreiheit.“99
Die Aneignung der Weltanschauung durch das Studium des Marxismus-Leninismus ist keine Privatangelegenheit, sondern eine Pflichterfüllung des Bürgers 95 Gesellschaftskunde (1963): S. 308. 96 Zur Erläuterung vgl. Abschnitt 3.2.1a) im Methodenkapitel. 97 Vgl. Gesellschaftskunde (1963): S. 308. 98 Gesellschaftskunde (1963): S. 309. 99 Gesellschaftskunde (1963): S. 311.
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gegenüber der neuen Gesellschaft, die eine „organisch[e]“ Verbindung ihrer Mitglieder vorsieht und dafür die Unterordnung individueller Bedürfnisse als „Merkmal politischer und sittlicher Reife“ belobigt. Beispielsgeschichten, die vom alltäglichen Heldentum sowjetischer Bürger berichten sowie Literaturverweise illustrieren das Ideal des neuen Menschen. Beide werden im Lehrbuchtext als Stilmittel der Erziehung reflektiert und als Vermittlungsstruktur offengelegt und plausibilisiert, indem der „Umbildungsprozeß“ des Menschen mit allen „ideologischen Mitteln“ – gleichermaßen Schule, Literatur, Kunst und die Medien – geführt werden und auf „Verstand und Gefühl“ einwirken soll100, wobei die Realität des Kommunismus letztlich in die Literatur eingegliedert wird: „Soll man den idealen kommunistischen Menschen in wissenschaftlich-phantas tischen Romanen [Science Fiction] suchen? Diese Romane erzählen von wunderbaren Menschen. Doch wir brauchen nicht nur Romanhelden nachzueifern, wir haben genug lebende Helden. Kommunistisches Bewußtsein kommt in Gedanken und Handlungen der besten sowjetischen Menschen, in ihrer Einstellung zur Arbeit, in ihrer Prinzipientreue, Ehrlichkeit und in anderen hohen moralischen Eigenschaften zum Ausdruck. Sie sind wahrhaft nachahmenswerte Vorbilder.“101
Literatur und gesellschaftliche Realität fallen zusammen, indem der Kommunismus den Menschen die Möglichkeit eröffnet, selbst zu Helden zu werden. Der sozialistische Arbeiterheld ist nicht länger ausschließlich ein Romanheld. Wer für die Gemeinschaft arbeitet, wird zum Protagonisten einer alltäglichen Heldengeschichte. Was ursprünglich die Literatur verspricht, löst der Kommunismus ein: „Und so handelten Hunderttausende von Sowjetmenschen, die auf die Annehmlichkeiten des Lebens in den Städten verzichteten und Schwierigkeiten und Entbehrungen auf sich nahmen, um dem Land Getreide vom Neuland zu geben und die Reichtümer der rauhen nördlichen Landstriche in den Dienst des Volkes zu stellen.“102
Es ist vor allem die sich im „sozialistischen Patriotismus“ ausdrückende affektive Bindung des ‚Sowjetmenschen‘ an Land und Volk, dessen „grenzenlose Hingabe an die fortschrittliche Gesellschaftsordnung, an die Sache des Kommunismus“, die der Menschheit den „Weg in eine helle Zukunft“ garantiert. Die Inszenierung des semantischen Feldes Heimat soll die emotionale Verbundenheit als anthropologische Tatsache verifizieren, wofür wiederum ein unspezifischer Verweis auf das Heimatmotiv in der Literatur als Referenz angeführt wird:
100 Vgl. Gesellschaftskunde (1963): S. 310. 101 Gesellschaftskunde (1963): S. 310 f. 102 Vgl. Gesellschaftskunde (1963): S. 312 f.
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„Dichter und Schriftsteller haben oft beschrieben, wie ein Mensch angesichts des Todes an seine Heimat, sein Vaterhaus, an die Trauerweide oder die Birke, die auf heimatlichem Boden wuchs, denkt. […] Die Heimat verkörpert uns jene einmalige kameradschaftliche Atmosphäre, die das Leben jeder sowjetischen Menschengemeinschaft auszeichnet. Heimat und sozialistische Gesellschaftsordnung sind im Bewußtsein des Sowjetmenschen ineinander verschmolzen. Der sozialistische Patriotismus ist kein blindes Gefühl. […] Wirkliche Liebe zur Heimat heißt, mit offenen Augen durchs Leben zu gehen.“103
Damit dient die argumentative Funktion der Literatur letztlich nicht der Abgrenzung von einer vermeintlich emotionalisierten irreal-fiktiven Weltsicht, wie weiter oben noch anzunehmen war, sondern der Ineinanderblendung literarischer Vorbilder und gesellschaftlicher Realität des Kommunismus. Durch das positiv konnotierte Heimatgefühl werden Emotionalität und Kommunismus auf eigentümliche Weise miteinander verbunden. Der Zukunftsentwurf wird schließlich in eine finale Vision einer über Emotionen konstituierten Gemeinschaft überführt: „In der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft werden alle Völker der Welt eine einträchtige Familie sein. Patriotismus und Internationalismus werden dann vollkommen zu einem tiefen Gefühl der Liebe zur ganzen Menschheit zusammenfließen.“104
Auch in der weiteren Kapitelstruktur spielt Literatur argumentativ und illustrierend immer wieder eine zentrale Rolle, vor allem dann, wenn es um die besondere Erziehungsfunktion oder Verheißung der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit geht. Religion erfüllt im Entwurf des neuen Menschen vor allem als Abgrenzungsmoment eine argumentative Funktion: Als „Überrest der Vergangenheit“ bildet sie einen zentralen Bestandteil der Gegensatzfolie, vor deren Hintergrund der neue Mensch projiziert wird. Dieser zeichnet sich neben Gemeinschaftssinn und Humanismus vor allem durch eine wissenschaftliche, nach den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus geformte Weltanschauung aus. Religion bildet zugleich den Ausgangspunkt, von dem aus die Rede vom Neuen der kommunistischen Gesellschaftsform argumentativ und narrativ entfaltet wird. An dieser grundlegenden Struktur ändert sich auch über die Jahre hinweg nur wenig: Religion repräsentiert die kapitalistische Gesellschaftsordnung und deren ‚Ideologie‘ und wird wahlweise als „irrige Auffassung“, bürgerliche Moralheuchelei oder „blinder Glaube“105 bezeichnet. Ein entscheidendes Charakteristikum des Religiösen ist Unfreiheit, denn: „Ein Mensch, der in religiösen Vorurteilen befangen ist, kann nicht wahrhaft frei sein“.106 Diese Devise stiftet zugleich die program 103 Gesellschaftskunde (1963): S. 314. 104 Gesellschaftskunde (1963): S. 315. 105 Vgl. Gesellschaftskunde (1963): S. 311, S. 324, S. 335. 106 Gesellschaftskunde (1963): S. 306.
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matische Perspektive, unter der Religion später in einem separaten Kapitel präsentiert wird.107 Religionslosigkeit bildet das ideale Charakteristikum des neuen Menschen. Ihre Umsetzung ist eine Erziehungsfrage, womit sich die dem Lehrtext vorangestellte erzieherische Losung explizit auch auf den religiösen Bereich bezieht. Überhaupt kann der Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus als Erziehungsprozess angesehen werden, der eine von Grund auf erneuerte Gesellschaft verspricht. Dass deren Mitglieder nicht nur ideell, sondern auch körperlich verändert sind, wird maßgeblich am Beispiel der sozialistischen Arbeit deutlich.
d) Sozialismus als Bio-Utopie: Arbeitsethik und Unsterblichkeit „Die Gruppenleiterin und Heldin der sozialistischen Arbeit N. G. Saglada aus der Kollektivwirtschaft ‚1. Mai‘ im Gebiet Schitomir erklärte: ‚Ich bin der Meinung, daß ein Mensch, dem die Arbeit Freude macht und nicht zur Last wird, dem Kommunismus sehr nahe ist. Er wird erst spät altern, und seine Seele wird immer jung bleiben.‘“108
Das Zitat aus der sowjetischen Lehrbuchübersetzung folgt dem Schema der sozialistischen Zeugenschaft: Eine Figurenrede berichtet über die ‚Kraft‘ Freude bereitender Arbeit und bezeugt damit die ‚Wirksamkeit‘ des Sozialismus. Die Aussage der namentlich genannten Figur samt Berufsbezeichnung sowie regionaler Verortung und der durch sie erhobene Anspruch auf Faktizität der Aussagen bildet ein typisches Stilmerkmal der sozialistischen „Überzeugungsbildung“, das zumindest in den DDR-eigenen Staatsbürgerkundebüchern der unteren Klassenstufen regelmäßig zur Anwendung kam. Erziehung galt seit jeher als Formungsprozess, der über das Mittel der sozialistischen Arbeit in Gang gesetzt wird. Diese Form der Arbeit sollte mehr als ein reiner Broterwerb oder eine Zivilisierungsmaßnahme des Menschen sein109, ihr wurde eine wesensverändernde Kraft zugeschrieben. Der sozialistische Arbeitsprozess sollte den Menschen transformieren. Im Schulbuch mehrfach literarisch umschrieben110 wird Arbeit schließlich als ontologische Kategorie präsentiert und erhält damit eine existentielle Konnota 107 Vgl. den Kapitelabschnitt 6.5a). 108 Vgl. Gesellschaftskunde (1963): S. 316 f. 109 Als Moment der Charakterbildung sollte Arbeit den Menschen davon abhalten, „verderbliche Wege“ zu gehen, etwa den „Weg des unstillbaren Unbefriedigtseins im Leben […] oder de[n] Weg der freiwilligen, unmerklichen Selbstvernichtung, auf welchem der Mensch schnell bis zu kindischen Launen oder viehischen Genüssen herabsinkt.‘“ Vgl. Gesellschaftskunde (1963): S. 315 f. 110 „Kann es im Leben eines Menschen etwas Erhabeneres und Schöneres geben als die Poesie der Arbeit? Welch ungewöhnlichen Kraftstrom und welche Freude verspürt man doch, wenn man gut gearbeitet und etwas Nützliches geleistet hat. Dann ist es, als scheine die Sonne heller, als lächle einem die Welt zu, und im Überströmen guter und edler Gefühle ist einem leicht und froh ums Herz. Die Arbeit ist für den Menschen eine Quelle der Freude und des
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tion. Dass dies alles durchaus körperlich zu verstehen ist, deutet sich in der Anspielung auf die lebensverlängernde bzw. verjüngende Wirkung der Arbeit an: Der Kommunist „wird erst spät altern, und seine Seele wird immer jung bleiben.“ Damit wird die bis hier nach den üblichen Verweisungsmustern verlaufende Darstellung um eine biologische Dimension ergänzt, die in dieser Form im gesamten Lehrbuchkorpus zwar einzigartig bleibt, motivgeschichtlich allerdings auf eine Verflechtung hinweist, auf deren Grundlage Arbeit überhaupt erst zum sozialistischen Topos werden konnte. Der Hinweis auf die verjüngende Wirkung der Arbeit referenziert auf den sozialistischen Unsterblichkeitsdiskurs, der sich in der frühen Sowjetzeit ver wissenschaftlichte, auch wenn er ideengeschichtlich wesentlich älter ist. Das sowjetische Unsterblichkeitsnarrativ hatte seinen historischen Hintergrund zum einen in der Ideengenese des „Übermenschen“, der für die revolutionäre Lehre im zaristischen Russland als Utopie einer paradiesähnlichen irdischen Welt, in der ein neuer Mensch lebt, arbeitet und eine neue Gesellschaft erwirkt, eine bedeutende Rolle spielte.111 Zum anderen war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-
Lebensmutes. Denken wir an die lebensbejahende, plastisch gezeichnete Gestalt Colas Breugnons, des von Romain Rolland besungenen schaffensfrohen Arbeiters. Maxim Gorki, der die lebensspendende Kraft der Arbeit so sehr liebte, träumte davon, die Balladengestalt Wasska Buslajews zu neuem Leben zu erwecken, eines Rekken, der die schöpferische Arbeit über alles andere stellte.“ Gesellschaftskunde (1963): S. 315. In Rollands Tagebuchroman Colas Breugnon erzählt die Figur, ein burgundischer Handwerksmeister des 17. Jahrhunderts, lebensfroh von ihren Erlebnissen. Lakonisch heißt es: „Arbeiten und darnach trinken, trinken und darnach arbeiten, welch köstliches Leben!“ Der Roman wurde unter anderem von Maxim Gorki sehr geschätzt. Die Erwähnung der Figur Wasska Buslajew spielt auf ein populäres Märchen des russischen Schriftstellers Sergej Narovtschatov an, das von einem jungen Mann und Taugenichts erzählt, der durch die Verteidigung seiner Heimatstadt Novgorod schließlich als Held gefeiert wird. Sowohl Aufbau und Fortgang der Handlung als auch die jeweiligen literarischen Motive sind für den argumentativen Fortgang des Schulbuchs irrelevant. Interessant ist hingegen die politische Instrumentalisierung der Literaten als Vorzeige-Kommunisten, was biografisch für beide Fälle zweifelhaft bleibt: Rolland hatte sich im Zug der ersten Welle stalinistischer Schauprozesse der 1930er Jahre von der Sowjetunion distanziert. Gorki war zwischenzeitlich – unter anderem auf Grund einer Auseinandersetzung mit dem Thema Religion – in Ungnade gefallen und musste erst wieder aufgenommen werden, galt dann aber als Vorzeigeschriftsteller. 111 Freilich sind Neuwerdungsvorstellungen des Menschen älter und historisch zu differenzieren. Einen Überblick zur Entstehung und Entwicklung des Konzepts bei: Küenzlen, Gottfried (1994): Der neue Mensch. Zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne. München: Wilhelm Fink-Verlag. Küenzlen bewertet die anthropologischen Implikationen bei Condorcet, Marx und Nietzsche als „Wegbereiter“ der Idee des neuen Menschen, vgl. ebd., S. 100–138. Peter Scheibert sieht Vorläufer des neuen Sowjetmenschen bereits in der Französischen Revolution, bei der es sich um ein anthropologisches Phänomen gehandelt habe, insofern die Revolution einem Menschen zum Sieg verhelfe, der kraft seiner Einsicht und der Güte der menschlichen Natur bessere Verhältnisse zu schaffen bestrebt gewesen sei, vgl. ders. (1961): Der Übermensch in der russischen Revolution. In: Benz, Ernst (Hg.): Der Übermensch. Eine Diskussion. Zürich: Rhein-Verlag, S. 179–196, hier: 181–186.
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derts ein weltweites Interesse an Verjüngungsmaßnahmen erwacht.112 Die dabei entstandenen Konzepte von Verjüngung konkurrierten zwar auf verschiedenen Ebenen miteinander, schufen aber auch Raum für Nuancierungen in der Debattenkultur, die Fragen nach Lebensverlängerung, Unsterblichkeit oder Auferweckung gleichermaßen umfasste, freilich mit unterschiedlichen biopolitischen Konsequenzen.113 Unsterblichkeitsutopien waren zeitgemäß und keineswegs auf Russland beschränkt, wenngleich die dort entstandenen Ideen und Konzepte, vor allem die seit der russischen Revolution als biologistisches Motiv tradierte Verknüpfung von Lebensverlängerung, Arbeit und Zeitökonomie, für den späteren sozialistischen Diskurs und dessen Verschränkung mit der Arbeitsethik maßgeblich waren. Dass es sich seinerzeit um die Verwirklichung körperlicher Unsterblichkeit, mithin um (Wieder-)Auferstehung handelte, wird anhand der Schriften der sowjetischen Biokosmisten, einer zu Anfang des 20. Jahrhunderts aktiven Intellektuellenbewegung, deutlich. Diese griff auf eine diskursive Tradition zurück, in der Konzepte wie die Philosophie der gemeinsamen Tat, eine biopolitisch mo tivierte Utopie der Wiederauferweckung aller Toten des russischen Philosophen Nikolai Fedorov, formuliert worden waren und nun eine breite Rezeption erfuhren.114 Die unter den Biokosmisten verbreiteten Zeitvorstellungen gipfelten in die Hypothese, dass sich durch einen optimierten Produktionsprozess die Zeit nicht nur beherrschen, sondern final überwinden lasse.115 In Kombination mit 112 Vgl. Stoff, Heiko (2004): Ewige Jugend. Konzepte der Verjüngung vom späten 19. Jahrhundert bis ins Dritte Reich. Köln: Böhlau. 113 Stoff beispielsweise identifiziert zwei verschiedene miteinander im Widerstreit stehende Konzepte von Verjüngung. Der ‚natürlichen‘ Verjüngung, die im Wesentlichen auf ernährungsbedingte, körperkulturelle oder naturheilkundliche Maßnahmen abstellt, steht eine ‚künstliche‘ Verjüngung durch chirurgische oder hormontherapeutische Eingriffe gegenüber. Unabhängig von zeitgenössischen Debatten um Zulässigkeit und ‚Echtheit‘ der vermeintlich wiedererlangten Jugend, verweist er darauf, dass beide Konzepte auf verschiedenen Körpervorstellungen mit jeweils „weitreichenden biopolitischen Konsequenzen“ beruhten, vgl. ebd., S. 13. 114 Kultur- und ideengeschichtlich pointiert beschrieben wird der russische Unsterblichkeitsdiskurs zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Einführung zur Textsammlung bei Michael Hagemeister (2005): „Unser Körper muss unser Werk sein.“ Beherrschung der Natur und Überwindung des Todes in russischen Projekten des frühen 20. Jahrhunderts. In: Groys, Boris/ders. (Hg.): Die neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhundert. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 19–67. Zur Fedorov-Rezeption, vgl. Boris Groys’ Beitrag in dem genannten Band: ders. (2005): Unsterbliche Körper, in: ders./Hagemeister: Die neue Menschheit, S. 8–18, hier: 9. 115 Wesentlich für die Verschränkung von Arbeit und Zeitüberwindung wurde Valerian Murav’ev’s Entwurf Die Beherrschung der Zeit als Grundaufgabe der Arbeitsorganisation von 1924. In seinem Szenario entwirft er nicht nur eine neue Form „kosmischen Wirtschaften“, vielmehr ermöglicht die neue Art der Produktion eine reale Überwindung der Zeit durch die Kombination optimierter und rationalisierter Arbeitsabläufe, vgl. ders. (1924): Beherrschung der Zeit, in: Groys, Boris/ders. (Hg.): Die neue Menschheit, 425–455, hier: 450 f.
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Fedorov’schen Ideen wurde der tayloristisch inspirierte Ansatz in eine Arbeitsphilosophie überführt, an deren Ende die durch rhythmische Tätigkeit optimierten Arbeitsabläufe tatsächlich neue Zeit schaffen sollten: „Auch wenn wir bis heute auf dem Gebiet der Genetik wenig Möglichkeiten zur Überwindung der Zeit haben […], so verfügen wir im Bereich der Produktion über maximale Möglichkeiten, Kultur zu schaffen und die Zeit in eingeschränkten Bereichen zu besiegen. […] In der Tat muss das Ziel eines jeden Schaffens und jeder Produktion darin bestehen, kein Abbild des Lebens zu schaffen, sondern das Leben selbst. Die Produktion muss zur Genetik werden. […] Die Produktion muss zu einer Produktion von Lebewesen gemacht werden, die dabei den derzeitigen halbherzigen Charakter der Übergangsphase, der Sterblichkeit, der Irrationalität und des Unbewussten aufgeben und ganz und gar zu bewussten Wesen werden müssen. […] Tatsächlich muss der Prozess der Schaffung von Leben und somit der realen Überwindung der Zeit einen völlig anderen Charakter tragen – er muss in gewisser Weise eine Vervollkommnung jener massenhaften Verfahren zur Schaffung von Kultur sein.“116
Die Vorstellung von einer realen Überwindung der Zeit im optimierten Arbeitsprozess institutionalisierte sich in neu gegründeten Forschungsinstituten, von denen das berühmteste das Anfang der 1920er Jahre in Moskau ins Leben gerufene Institut zur Erforschung der Rationalisierung der Arbeitsleistung war. Mit der sozialistischen Wirtschaft, die ihre Arbeitsabläufe in Zeitaufwandswerten maß und normierte, diffundierte die Vorstellung von der Überwindung des Todes als Überwindung der Zeit in veränderter Form in das Alltagsleben der Bürger. Die Kausalverknüpfung von Zeit- und Zukunftsverständnis machte das Narrativ operationalisierbar.117 In der Verschränkung von Fortschrittshoffnung und Planerfüllung erwies sich der Kommunismus eben nicht als Utopie, sondern als „verzeitlichte Zukunftsgewissheit“118, deren Omnipotenz auch die biologische Kontrolle von Leben und Tod einschloss. Während des kalten Krieges wurde der Unsterblichkeitsdiskurs zudem Thema in der aktuellen Politik und wurde neben der Konkurrenz um den Weltraum zu einem weiteren Schauplatz des Wettlaufs der Systeme.119 Das Streben nach 116 Murav’ev (1924): Beherrschung der Zeit, S. 448 sowie Murav’ev, Valerian (o. J.): Die Kultur der Zukunft, S. 463, in: Groys, Boris/ders. (Hg.): Die neue Menschheit, S. 456–474. 117 Vgl. dazu Sabrow, Martin (2007): Sozialismus als Sinnwelt. Diktatorische Herrschaft in kulturhistorischer Perspektive. In: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien Nr. 40/41, S. 9–23, hier: 21. 118 Sabrow, Martin (2009): Chronos als Fortschrittsheld: Zeitvorstellungen und Zeitverständnis im kommunistischen Zukunftsdiskurs. In: Polianski, Igor/Schwartz, Matthias (Hg.): Die Spur des Sputnik. Kulturhistorische Expeditionen ins kosmische Zeitalter. Frankfurt/New York: Campus, S. 119–134, hier: 123. 119 Als Beispiel für die zeitgenössische westliche Perspektive auf den sozialistischen Unsterblichkeitsdiskurs vgl. Buchholz, Arnold (1953): Die russische Lehre vom Altern. In: Ost-
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Lebensverlängerung nahm in der marxistisch-leninistischen Naturwissenschaft eine konkrete Form an, die in der Sowjetunion mitunter zu fragwürdigen bio logischen Experimenten und therapieähnlichen Anwendungen führte, die der Lebensverlängerung dienen sollten. Über Landesgrenzen hinaus populär auf diesem Gebiet war die russische Biologin Olga B. Lepeschinskaja (1871–1963), die die „bürgerliche Zellbiologie“ durch eine marxistische ersetzen wollte, auf deren Grundlage sich langfristig biologische Unsterblichkeit erreichen lassen sollte.120 Zwar wurden ihre Experimente später von sowjetischen Wissenschaftlern kritisiert und schließlich verworfen.121 Die unter den Kollegen gleichsam verbreitete Annahme, dass eine zufriedenstellende, unter guten Bedingungen geleistete Arbeit ein wirksames Mittel gegen den Alterungsprozess darstelle, hielt sich allerdings weiterhin als politische Überzeugung.122 In der frühen DDR wurden die von Lepeschinskaja angestellten Überlegungen zu Lebensverlängerung und Unsterblichkeit mit großem Aufwand propagiert123, zumal der religionskritische Tenor ihrer marxistischen Biologie unüberhörbar war. Allerdings stieß das Thema insgesamt auch auf dem Höhepunkt von Lepeschinskajas wissenschaftlicher Popularität im ostdeutschen Erziehungswesen nur auf mäßige Resonanz. Nachdem noch 1954 die viel gelesene Auto biografie der Biologin unter dem Titel An den Quellen des Lebens als Jugendbuch erschienen war124, verschwanden ihre Thesen von der Lebensverlängerung bald darauf aus der Öffentlichkeit und mit ihnen nahezu jede noch so vorsichtige Auseinandersetzung mit dem Tod. Dauerhaft konnte die Unsterblichkeitsphantasie die Problematik, die der Tod für den Marxismus-Leninismus darstellte, nicht kompensieren. Weder die marxistische Theorie noch die realsozialistische Praxis
europa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens. 3. Jg., Heft 1, S. 20–24; ders. (1957): Das naturwissenschaftlichideologische Weltbild der Sowjetunion. In: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens. 7. Jg., Heft 2, S. 77–82. 120 „Eine überaus skurrile Parallele zu Hubbards Vision vom neuen und unsterblichen Menschen unterbreitete zur gleichen Zeit in Moskau Olga Lepesinskaja (1871–1963) dem alternden Stalin. Sie glaubte zeigen zu können, dass nur die bürgerliche Biologie das Leben an alternde Zellen knüpft, während die neue, sozialistische Biologie den neuen Menschen zum Gegenstand hat und somit auch über neue Gesetzmäßigkeiten verfügt. Und so glaubte die Kommunistin Olga Lepesinskaja eine Rezeptur gefunden zu haben, die das menschliche Leben in nicht gekannte Dimensionen verlängert.“ Vgl. Fincke, Andreas (2007): Eine Chimäre der Religionsfreiheit. Was eigentlich ist Scientology? In: Herder Korrespondenz Nr. 5, S. 251–256, hier: 254. 121 Vgl. Shumeiko, Larissa (2001): Der lebende Stoff und die Umwandlung der Arten. Die „neue“ Zellentheorie von Olga Borisovna Lepesinskaja (1871–1963). In: Hossfeld, Uwe/Brömer, Rainer (Hg.): Darwinismus und/als Ideologie. Berlin: VWB, S. 213–222, hier: 222. 122 Vgl. Buchholz (1953): Die russische Lehre vom Altern, S. 23. 123 Vgl. Scheibert (1961): Der Übermensch in der russischen Revolution, S. 196. 124 Dies. (1954): An den Quellen des Lebens. Berlin: Kinderbuchverlag. Zur biologischen Religionskritik vgl. besonders den dritten Teil des Buches, An der Grenze des Lebens, S. 87–124.
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boten zufriedenstellende Antworten auf die Frage nach dem Ende des Lebens125, was ein Grund dafür gewesen sein mag, dass sich die sozialistische Trauerfeier im Gegensatz zur Jugendweihe niemals durchsetzen konnte.126 Die Zurückhaltung der Bildungsmedien hinsichtlich des Themas Tod – weder in Staatsbürgerkundenoch in Jugendweihebüchern findet an den dafür infrage kommenden Stellen eine Auseinandersetzung statt – spiegelt einen für die gesamte DDR charakteristische Problemlage wider.127 Insofern bildet die wenn auch indirekte Thematisierung des 125 Dazu pointiert auch Scheibert: „Wenn die Frage nach dem revolutionären ‚Über‘-Menschen ernst genommen wird, stellt sie sich unüberhörbar und immer neu als eine solche nach der Überwindung des Todes, und an dieser scheitert nach wie vor alle wirksame kommunistische Propaganda im Bereich des persönlichen Lebens.“ Ders. (1961): Der Übermensch in der russischen Revolution, S. 196. Dementsprechend rar sind Publikationen, die systematische Überlegungen zum Themenbereich Marxismus/Sozialismus und Tod anstellen würden. Eine Ausnahme bildet die Abhandlung des Theologen Ferdinand Reisinger von 1977, in der dieser einen Bogen von Marx und Engels zu den damals zeitgenössischen marxistischen Intellektuellen schlägt, vgl. ders.: Der Tod im marxistischen Denken heute. Schaff – Kolakowski – Machovec – Pruche. München: Kaiser. 126 Allerdings schien die Beteiligung an der sozialistischen Beerdigung laut SED-Statistik von 1962 mit 18,9 % immer noch größer gewesen zu sein als die an der sozialistischen Eheschließung, die bei lediglich 9,6 % lag, vgl. Lange, Ines (2004): Von der Wiege bis zur Bahre. Zur Geschichte sozialistischer Feiern zur Geburt, Ehe und Tod in der DDR. In: Kulturation. Onlinejournal für Kultur, Wissenschaft und Politik Nr. 5/2004, S. 3 (unter http://www.kulturation.de/ ki_1_thema.php?id=57, letzter Zugriff: 11.10.2015). Ausführlicher zur Ritual- und Sepulkralkultur: Felix Robin Schulz (2013): Death in East Germany, 1945–1990. New York: Berghahn, besonders Kapitel 6, „Funerals in the GDR. A diversity of rituals“, S. 182–201. Schulz’ Zahlen weichen zudem etwas ab: Namensfeier: 18.2 %, Eheschließung: 8.6 %, Beerdigung: 16.5 %, S. 183. Insgesamt blieben die Teilnahmeraten für sozialistische Ritualangebote weit hinter denen der Jugendweihe zurück, wobei unterschiedliche Regionalentwicklungen zu berücksichtigen sind, vgl. auch Dähn, Horst (2003): Sozialistische Riten und ihre Rolle in der SED-Kirchenpolitik. In: Timmermann, Heiner (Hg.): Agenda DDR-Forschung. Ergebnisse, Probleme, Kontroversen. Münster: LIT, S. 310–328. Als Gründe für die geringe Teilnahme an der sozialistischen Trauerfeier nennt Dähn den Mangel an sozialistischen Rednern sowie einen in der Bevölkerung verbreiteten Wunsch nach dem christlichem Begräbnis, ebd. S. 326. 127 Zu den marxismustheoretischen Hintergründen vgl. den derzeit einzigen aktuellen systematischen Überblick über die Entwicklung des philosophischen Diskurses zum Thema Tod in der DDR von Olaf Briese (2008): Von der Unsterblichkeitshoffnung zur Sterbehilfe. Amplituden marxistischen Philosophierens in der DDR. In: Moser, Márcia/Sieprath, Maud (Hg.): Zwischen Leben und Tod. Religionswissenschaftliche Perspektiven auf Sterben und Sterbehilfe. Münster: LIT, S. 118–131. Ausgehend von der DDR-Philosophie der 1950er Jahre zeichnet Briese den vielschichtigen Diskurs über Sterben und Tod bis in die 1980er Jahre nach und erläutert den marxismustheoretischen Hintergrund dafür, dass eine Auseinandersetzung mit dem individuellen Tod über Jahrzehnte in der DDR-Philosophie nicht nur keine Rolle spielte, sondern bis Anfang der 1980er Jahre in den Bereich „bürgerlicher“ Philosophie und Theo logie fiel. Mit der Konstruktion des Menschen als Kollektivsubjekt erübrigte sich die Frage nach individueller Fortdauer. Das Ewige war nicht der einzelne Mensch, sondern das Menschsein. Mit dieser durch „ständige Übersetzung von individuellen Bio- in kollektive Sozialpotentiale“ erwirkten „Translation“ wurde der Gedanke, dass das Individuum in einem „kollektiven Sozialkosmos“ (ebd. 123) fortlebe, konsistent begründbar. ‚Unsterblich‘ war demzufolge wenn
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Die richtige Weltanschauung: Marxismus-Leninismus
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Todes in der Übersetzung des russischen Staatsbürgerkundelehrbuchs eine Besonderheit, mit der der Verheißungscharakter der sozialistischen Arbeit gleichermaßen biologisch und ontologisch fundiert wird. Obwohl die utopisch aufgeladene Darstellung rasch verschwindet – im zwei Jahre später gebräuchlichen DDR-Lehrbuch Staatsbürgerkunde 3128 findet sich kein Hinweis mehr auf die verjüngende Wirkung der Arbeit –, bildet sie motivgeschichtlich einen zentralen Bezugspunkt der Weltanschauung, ohne deren Kenntnis die Entwicklung von Arbeit zum sozialistischen Topos und dessen Bedeutung für die theoretische Grundlegung und die realpolitische Praxis des Sozialismus nur schwer verständlich ist. Der Verheißungscharakter der sozialistischen Arbeit beruhte ursprünglich auf seiner diskursiven Verschlingung mit Unsterblichkeit: Wenngleich sich die Lehrbuch-Rhetorik im Lauf der Zeit wandelte, so fällt doch auf, dass die transformierende Kraft der sozialistischen Arbeit, wie sie in der narrativen Inszenierung des Arbeiterhelden aufgeführt wurde, als unverändertes Skript über Jahrzehnte tradiert wurde. Die sowjetische Version des Arbeits- und Arbeiterheldennarrativs liest sich so: „Unser Alltag ist überreich an Heldentaten. Da gaben junge Geologen ihr Leben hin, um die Karte einer von ihnen erkundeten Erzlagerstätte zu retten. Da setzten Pionieren ihr Leben aufs Spiel, um ein unterirdisches Munitionslager, das die Sicherheit einer ganzen Stadt gefährdete, unschädlich zu machen. Da koppelte ein Lokomotivführer unter Einsatz seines Lebens brennende Waggons vom Zug ab. Tag für Tag hören wir von neuen edlen Taten bisher unbekannter Menschen. Edle Taten wurden schon immer vollbracht, aber der Sozialismus hat dem Heldentum einen weit größeren Bereich erschlossen. Es hat ihm die Tore zum wichtigsten Bereich des mensch lichen Lebens, zur Arbeit, aufgetan. Gorki sagte einmal, es gebe auf der Welt kein größeres Heldentum als das Heldentum der Arbeit, des Schaffens. Wenn man den tiefen Sinn seiner Arbeit und ihre gesellschaftliche Bedeutung begriffen hat und sich als Kämpfer fühlt, dann wird sich auch die innere Bereitschaft, Heldentaten zu vollbringen, einstellen. […] Das kommunistische Verhältnis zur Arbeit – das ist auch wahre revolutionäre Romantik.“129 überhaupt einzig der Name oder das Werk der kommunistischen Führer Lenin und vor allem Stalin. Diese für das marxistische Denken und seinen Topos des Kollektivs hoch attraktive Idee brachte es mit sich, dass der individuelle biologische Tod als Thema in den Hintergrund rückte. Dieser Konstruktion entsprechend war die Hauptproblematik in der später aufkommenden, sozialistischen Sterbehilfedebatte – abgesehen von den historischen Gräuel der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘ – eine marxismustheoretische: Nicht das Individuum verfügte ja über sich, sondern die Gesellschaft (vgl. 125). Aufschlussreich dafür auch die Literatur der DDR, vgl. den Überblick Tod in der Literatur der DDR. Dort wird das „Tabu“ und seine Brechung in unterschiedlichen literarischen Verarbeitungen verschiedener sozialistischer Romane dargestellt, vgl. Metzler Lexikon DDR-Literatur, hg. von Opitz, Michael/Hofmann, Michael. Stuttgart: Metzler 2009, S. 338–341. 128 Autorenkollektiv unter der Leitung von Dieter Wittich und Reinhold Miller: Staatsbürgerkunde 3. Die sozialistische Weltanschauung. Für die 11. und 12. Klassen der erweiterten Oberschule und die entsprechenden Stufen der Berufsausbildung. Berlin: Volk und Wissen 1965. 129 Gesellschaftskunde (1963): S 318 f.
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Von der Philosophie über die Anthropologie zur Biologie
Wenn auch Unsterblichkeitsvorstellungen und Hypothesen oder Experimente zur Lebensverlängerung aus der Öffentlichkeit und damit aus den Lehrbüchern verschwanden, blieben sie als gewandelte narrative Struktur erhalten: aus der biologischen Transformation wurde eine moralische.130 Die Lehrbücher appellierten immer wieder derart an ihre Rezipienten. Altruistische Taten sollten zum üblichen Verhalten eines durch sozialistische Arbeit zum Kollektivwesen erzogenen Menschen zählen: „Vielleicht träumte auch Tanja Pereschiwko von kosmischen Flügen. Als aber ihre Kollektivwirtschaft Arbeiter für die Schweinefarm braucht, da übernahm das 17jährige Mädchen ohne Zögern diese Tätigkeit. Die Arbeit war sehr schwer. Das Mädchen mußte um einhalb fünf Uhr morgens aufstehen, mußte die Futterrationen für die Schweine vorbereiten, Wasser abkochen, Mängel an der Stallbahn beheben, Dung laden, kranke Tiere pflegen usw. Über dieser Arbeit vergaß Tanja nicht ihre Lehre, sie schloß die Ausbildung als Traktoristin ab. Allmählich, je mehr Wissen und Können sie erwarb, wuchs auch ihr Interesse an der Sache immer mehr. Sie setzte sich große, kühne Ziele. Die Berechnungen bewiesen es: Wenn man vom Buchtensystem abging und die Schweinefarm vollkommen mechanisierte, dann könnte man drei- oder vielmal so viele Tiere halten. Durch Beharrlichkeit setzte sie ihre Pläne in die Tat um. Im Laufe von drei Jahren steigerte das junge Mädchen die Mast und Ablieferung von Schweinen von 500 auf 5200.“131
In der hier erzählten Alltagsheldengeschichte berichtet eine allwissende Erzählinstanz introspektiv über die Gedanken- und Gefühlswelt der Figur der 17-jährigen Tanja Pereschiwko. Die Wiedergabe unterscheidet sich von den bisherigen Texteinschüben durch die Verwendung der erlebten Rede („Die Berechnungen bewiesen es“), womit sich die Distanz zwischen Figur und Erzählinstanz stark verringert, mithin zu verschwinden scheint.132 Im ‚Erleben‘ fremder Bewusstseinsvorgänge entwickelt der intendierte Adressat Empathie für die Figur133 und erhält Einblick in deren moralische Entwicklung. Ergänzt wird diese Entwicklungsgeschichte um ein ästhetisches Moment, dessen Quintessenz lautet: Im sozialistischen Arbeitsprozess wird der Mensch nach und nach reicher, schöner
130 „Indem wir die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen der Mensch lebt, ändern, können wir Einfluß auf seine biologische Entwicklung nehmen,“ konstatierte beispielsweise die an der Kommunistischen Swerdlow-Universität in Moskau tätige Biologin M. L. Rochlina in einem Vortrag im Rahmen der mit dem sowjetischen Verband der kämpfenden Gottlosen assoziierten Unionsgesellschaft zur Verbreitung politischer und wissenschaftlicher Kenntnisse, zit. n. Buchholz, Arnold (1953): Die russische Lehre vom Altern. In: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens. 3. Jg., Heft 1, S. 20–24, hier: 23. Das Buch wurde 1952 im Berliner Aufbau Verlag auch in der DDR veröffentlicht. 131 Gesellschaftskunde (1963): S. 319 f. 132 Vgl. Schmid, Wolf (2008): Elemente der Narratologie. 2., verbesserte Auflage. Berlin/ New York: de Gruyter, S. 193 f. 133 Vgl. Schmid (2008): Elemente der Narratologie, S. 222 f.
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Zusammenfassende Analyse
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und sittlicher.134 Über die Ästhetisierung der zu Beginn als „Poesie“ bezeichneten Arbeit wird schließlich das der kommunistischen Erziehung insgesamt zugrunde liegende ästhetische Konzept entfaltet, das auf eine ganzheitliche Vervollkommnung des Menschen abzielt und sich in der Vision verdichtet: „Alles am Menschen soll gut und schön sein.“135 Wie die weitere Analyse zeigen wird, ändert sich an der formalen Präsentation der sozialistischen Arbeit über die Jahre nur wenig. Für die unterrichtliche Vermittlung der Weltanschauung blieb die sozialistische Arbeit klassenübergreifend und über all die Jahre das zentrale, emotional aufgeladene Thema der Staatsbürgerkundebücher. Der Besonderheitstopos der sozialistischen Arbeit, mithin die gesamt sozialistische Arbeitsethik, beruhte jedoch auf einer biologischen Utopie.
Zusammenfassende Analyse: Zwischen sozialistischer Zeugenschaft und Unsterblichkeitsutopie – die fiktionale Struktur der Weltanschauung Das Kapitel hat die Interferenzen zwischen Theorie und Praxis des MarxismusLeninismus aufgezeigt. In den Lehrbüchern kristallisierten sich dessen grundlegende Topoi wie die Konzeptualisierung von Religion als Aberglaube, die sich im Religionsdiskurs der DDR spiegelten und damit in die Gesellschaft hineinwirkten. Dieses Hineinwirken wurde begünstigt durch den intertextuellen Bezugsrahmen bzw. die Tradierung weltanschaulicher Inhalte über bestimmte Narrative. Dass die säkulare Weltanschauung insgesamt in einen narrativen Rahmen eingebunden war, zeigte die Genese der Lehrbücher. Besonders die sowjetische Gesellschaftskunde bildete sowohl inhaltlich als auch formal eine wichtige Vorlage für die DDR-Staatsbürgerkundebücher und die fiktionale Struktur der Weltanschauung: Hier wurden die Grundlagen des Marxismus-Leninismus philosophiegeschichtlich und theoretisch erläutert, der „neue Mensch“ grundlegend ethisch, moralisch und biologisch konzeptualisiert und Kerninhalte über eine narrative Struktur implementiert. Einige der Inhalte finden sich in den späteren Schulbüchern nahezu ungebrochen wieder, so der Kanon von Seins- und Sollensprinzipien des Idealmenschen, der vor allem in der Lehrbuchreihe für Klasse 10 ausführlich behandelt wird, die Rolle der Arbeit für den Erziehungsprozess oder die philosophiegeschichtliche und theoretische Fundierung des Marxismus- Leninismus, die zum Philosophielehrgang ausgebaut wird. Wie die Gesellschaftskunde auch formal eine prototypische Implementierungsstrategie liefert, konnte am Beispiel Arbeit gezeigt werden. Über das Skript des Heldenmotivs narrativ inszeniert, blieb Arbeit für den Entwurf des sozialisti 134 Vgl. Gesellschaftskunde (1963): S. 320. 135 Vgl. Gesellschaftskunde (1963): S. 334.
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Von der Philosophie über die Anthropologie zur Biologie
schen Idealmenschen und dessen Erziehung als auch körperlichem Formungsprozess stets zentral. Arbeiterfiguren bezeugten das Versprechen einer ästhetischen, sittlich-moralischen und körperlichen Erneuerung, in ihrem Erleben gewann der Verheißungscharakter der neuen kommunistischen bzw. sozialistischen Gesellschaft Anschauung. Die Intensität der Figurenreden wurde über unterschiedliche Redeformen gesteuert: Während die direkte Rede eine authentische Wiedergabe und damit einen starken Erzähler fingiert, schwächt die indirekte Rede das Authentische eher ab. Die erlebte Rede bildet die nachhaltigste Form der Authentifizierung, scheint sie doch einen direkten Blick in die Figur zu ermöglichen, hinter die eine erzählende Instanz zurücktritt. Für die Übermittlung emotionalen Erlebens ist sie das zentrale Stilmittel. Alle drei Redeformen prägten die Struktur des Textes und wirkten damit auf die Präsentation der Weltanschauung ein. Deren Wahrheitsgehalt und Wirksamkeit wurde über die sozialistische Zeugenschaft plausibilisiert. Anhand von Arbeit konnte zudem die Entstehung sozialistischer Topoi exemplarisch aufgezeigt werden. Aus der Entwicklungsgeschichte der Lehrbücher ließ sich rekonstruieren, dass die Genese des affektiv aufgeladenen Topos über den sowjetischen Unsterblichkeitsdiskurs verlief, der Rede von der existentiellen Besonderheit der Arbeit motivgeschichtlich also das Unsterblichkeitsnarrativ zugrunde lag. Anders formuliert: Die sozialistische Arbeitsethik beruhte auf einer biologischen Unsterblichkeitsutopie. Wenn in nachfolgenden Lehrbüchern nicht mehr von Lebensverlängerung, sondern von qualitativer Lebensverbesserung und substantieller Persönlichkeitsveränderung die Rede war, wurde die Bedeutsamkeit der Arbeit lediglich in andere Narrative überführt. Die Transformation des Helden war nicht länger eine biologische, sondern eine moralische. Damit hatte sich die ursprüngliche Unsterblichkeitsverheißung zwar narrativ gewandelt – die weltanschauliche Bedeutsamkeit der sozialistischen Arbeit stand jedoch zu keinem Zeitpunkt infrage. Für die Beschreibung der Weltanschauung bildete dieser Diskursverlauf einen wichtigen Befund. Zwar stellt sich die durch eine „als-Religion“-Perspektive evozierte Frage, ob mit der zentralen Positionierung von Weltanschauung ein Deutungsraum thematisch anders gefüllt und inhaltlich ein Äquivalent zu Religion aufgebaut werden sollte, hier nicht. Die Analyse enthält sich diesbezüglich. Dennoch zeigt die Untersuchung ein Spezifikum des sozialistischen Weltanschauungsdiskurses auf, über den diese sich, losgelöst von der Gegnerschaft zu Religion, als eigenständiger, inhaltlich auf spezifische Weise gefüllter Bereich zu etablieren suchte. Als Mittel der auch biologischen Veränderung erlangte nicht nur Arbeit eine spezifische Dimension. Mit der Verheißung auf Unsterblichkeit ging auch die Weltanschauung über Realpolitik und reine Diesseitigkeit hinaus: Im Topos der sozialistischen Arbeit kristallisierte sich ihre utopische Dimension.
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6 Wie Weltanschauung präsentiert wird
Als ein politisches, „ideologisches“ und ökonomisches System durchdrang der Sozialismus alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Die Staatsbürgerkundelehrbücher waren folglich von Weltanschauung durchsetzt. Wurden in Kapitel 5 der narrative Rahmen, die theoretische und philosophiegeschichtliche Konzeptualisierung sowie die bio-utopische Dimension des Marxismus-Leninismus herausgearbeitet, geht es im Folgenden um die Präsentation der Weltanschauung. Im Vordergrund steht die Frage, welche Rolle Fiktionalität für den weltanschaulichen Entwurf spielte. Der analytische Fokus liegt auf den Textstellen mit dem größten narrativen Potenzial, denen in der Konzeption des Staatsbürgerkundeunterrichts eine besondere ‚Wirkung‘ zugeschrieben wurde. Doch wie ist Wirkung evozierbar? Politik und Didaktik gaben darauf eine eindeutige Antwort: durch Literatur. Wirksamkeit, übersetzbar in narrative Wirksamkeit, bildete das Fundament der als Erzählkultur gestalteten sozialistischen Erinnerungskultur. Verstanden als textinterne, mithin texttheoretische Größe, wird diese im Folgenden anhand eines literaturwissenschaftlich-wirkungstheoretischen Zugangs analysiert. Aufgegriffen werden etwa Aspekte der Funktion der Text-Leser-Bezie hung für den idealtypischen Entwurf des neuen sozialistischen Menschen, wohingegen Fragen nach dem ‚realen‘ Erfolg der narrativ evozierten Wirksamkeit außerhalb des verwendeten Instrumentariums liegen.
6.1 Weltanschauung als historische Größe und persönliches Erleben – Motive der sozialistischen Weltanschauung in Staatsbürgerkunde 7 Den Ausgangspunkt des Lehrbuchs der Klasse 7 bildet eine Geschichtserzählung: Kriegsende und Entstehung von Partei und Staat sind die unmittelbaren Voraussetzungen für das weltanschauliche Traditionskontinuum, in das der Einzelne eingegliedert werden soll. Weltanschauung ist damit vor allem eine historische Größe, die in einer – im Sinne Hobsbawms/Rangers – ‚erfundenen‘ sozialistischen Tradition steht und Anschauung erst in der Sicht von Figuren gewinnt, die den Sozialismus als Erlebensgröße fokalisieren. Wie die Analyse zeigen wird, wirkte sich diese Vermittlungsstruktur der Lehrbuchinhalte, deren Form, auf die Rezeption des Inhalts aus: Dessen Deutung als religiös legt sich dort bisweilen nahe, weil die Figurenreden Elemente aufweisen, die formal mit religiösen Rhetoriken und Redeformen assoziiert werden können, auch wenn inhaltlich explizit davon abgerückt wird. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540497 — ISBN E-Book: 9783647540498
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Wie Weltanschauung präsentiert wird
Für die Präsentation der Weltanschauung sind drei Themenbereiche relevant: Erinnerungsorte der Geschichtserzählung, vor allem die Standortbestimmung zu Anfang des Lehrbuchs, die Gründungserzählungen von Partei und Staat, durch die Sinn und Bedeutung als historische Größen konstruiert werden, sowie die sozialistische Erfahrung, die sich im Arbeiterhelden-Skript narrativ verdichtet. Diese Themenbereiche wurden in der fachmethodischen Konzeption als ausdrücklich geeignet für eine erzählende und emotionale Darstellung betrachtet und insofern als besondere wirksam angesehen.1 Die genannten Textstellen veränderten sich allerdings im Lauf der Zeit in Bezug auf den Grad ihrer erzählenden Anteile. Die narrative Weltanschauungsdidaktik war besonders für die ersten Lehrbücher formprägend.2 Inhaltlich umfasste der mit dem Schuljahr 1968/69 erstmals begonnene Staatsbürgerkundeunterricht für die siebten Klassen3 den Zeitraum von 1945 bis zum Mauerbau von 1961.4 Eine Standortbestimmung Du und deine Zeit führte in das neue Unterrichtsfach ein. Diese wurde in der didaktischen Grundlegung als besonders wichtig für das zukünftige Interesse der Schüler eingestuft und blieb infolgedessen über die Jahre deutlich narrativ gestaltet. Verhältnismäßig viele Texteinschübe in Form von Gedichten und Zitaten sowie direkte Leser 1 Vgl. Überzeugungsbildung im Staatsbürgerkundeunterricht. Pädagogisch-psychologische Probleme der Überzeugungsbildung im Staatsbürgerkundeunterricht der Klassen 7 und 8. Autorenkollektiv unter der Leitung von Horst Kühn. Berlin: Volk und Wissen 1971, 1. Auflage, S. 74 f. 2 Dies spiegelt sich auch in den Inhaltsverzeichnissen, die die Lehrplanvorgaben umsetzen, vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Werner Otto: Staatsbürgerkunde 7. Berlin: Volk und Wissen 1968, 1. Auflage, S. 3 f. sowie Lehrplan für Staatsbürgerkunde Klasse 7. Berlin: Volk und Wissen 1969, S. 13–22. 3 Gleichzeitig wurde das Fach auch für die achten Klassen eingeführt. Zuvor wurde Staatsbürgerkunde erst ab der neunten Klasse der Polytechnischen Oberschule (POS) unterrichtet. Der Plan sah für die siebte Klasse lediglich eine Unterrichtsstunde, für die achte Klasse zwei Stunden pro Woche vor, vgl. Baske, Siegried (1998): Schulen und Hochschulen. In: Führ, Christoph/Furck, Carl-Ludwig (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte Band 6. 1945 bis zur Gegenwart, 2. Teilband: Deutsche Demokratische Republik und neue Bundesländer. München: Beck, S. 189. 4 Eine ausführliche Inhaltsangabe der Staatsbürgerkunde 7 bei Knopke, Lars (2011): Schulbücher als Herrschaftsinstrumente der SED. Wiesbaden: VS Verlag, S. 251 f. Die Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf die letzte Schulbuchausgabe von 1983. Die über die Jahre vorgenommenen inhaltlichen Veränderungen werden nicht berücksichtigt, so zum Beispiel der in der Ausgabe von 1968 noch wichtige dritte und letzte Teil des Lehrbuchs, in dem die Abgrenzung zur Bundesrepublik über den dem offiziellen Geschichtsbild zugrunde liegenden Faschismusvorwurf sowie der Deutung der Berliner Mauer als „Schutz der Staatsgrenze“ bzw. „antifaschistischem Schutzwall“ erfolgte. Zumindest bis Mitte der 1970er Jahre wurde im Lehrbuch die Zukunftsvision eines gesamtdeutschen sozialistischen Staates entworfen, die dann aber mit dem Verweis auf die grundsätzliche und unversöhnliche Verschiedenheit beider Systeme endgültig aufgegeben wurde. Das Fazit des Lehrbuchs von 1968 konnte deshalb nur lauten Die deutschen Imperialisten scheitern an der Kraft des Sozialismus.
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ansprachen wurden verwendet, die den Schüler als Träger der ‚richtigen‘ Weltanschauung in die Siegesgeschichte des Sozialismus eingliederten. Die darauf aufbauende Geschichtserzählung behandelte die Jahre von Kriegsende bis zur Staatsgründung am 7. Oktober 1949 und vermittelte ein Geschichtsbild, das zwischen der Identifikation mit den sowjetischen Siegern und einer vorsichtigen Thematisierung der politischen Verantwortung des deutschen Volkes für den Nationalsozialismus oszillierte. Der Geschichtserzählung war mit der Formulierung Vom schweren Anfang eine emotionale Perspektive vorangestellt, deren narrative Höhepunkte der Zusammenschluss von KPD und SPD zur SED sowie die Staatengründung bildeten. Der zweite Teil konstruierte die ökonomischen und sozialen Veränderungen als Erfolgsgeschichte. Die breite Darstellung von Industrie und (Land-)Wirtschaft der DDR war mit der Vision des neuen Menschen verknüpft. Mit der Inszenierung der sozialistischen Erfahrung im Motiv der Transformation des Arbeiterhelden Adolf Hennecke wurde die Weltanschauung personalisiert und das narrative Potenzial der Figur über fiktionale Elemente des Schulbuchtextes voll ausgeschöpft. Das ökonomische System Sozialismus entfaltete so seine charakterbildenden Eigenschaften, die in der Losung Die Partei der Arbeiterklasse führt die Bauern vom Ich zum Wir narrativ verdichtet wurden.
a) Erinnerungsorte der Geschichtserzählung Die Geschichtserzählung setzt mit der russischen Oktoberrevolution von 1917 ein. Die Traditionslinie, in die sich die DDR offiziell stellte, generierte sich aus einer Rückblende auf die jüngste Vergangenheit. Dementsprechend zeigt das Deckblatt des ersten Kapitels vier sowjetische Bolschewiki, von denen drei als bewaffnete Revolutionäre – erkennbar an ihren Mützen und den mit Bajonetten ausgestatteten Gewehren – dargestellt sind. Der vierte ist der in Schlips und Kragen gekleidete Wladimir Iljitsch Lenin, der den drei Übrigen mit dem Zeigefinger seines linken Armes den Weg weist. Alle vier Figuren sind im Profil abgebildet und bewegen sich von der linken Bildmitte zum rechten Bildrand. Der Deckblatttitel „Du und deine Zeit“ spricht den intendierten Adressaten5 direkt an; mit der Abbildung der russischen Revolutionäre basiert die Zeit, mit der dieser sich identifizieren soll, allerdings auf einem historischen Rückgriff, womit eine Diskrepanz zwischen Abbildung und Titel besteht. Die Identifikation
5 Mit dem Begriff des „intendierten Adressaten“ ist nicht der tatsächliche Empfänger oder reale Rezipienten des Lehrbuchs, sondern der von den Lehrbuchverantwortlichen unterstellte bzw. intendierte Empfänger, eine bestimmte Leservorstellung, gemeint, die als rein textinterne Größe und als ein theoretisches Konzept zu verstehen ist. Vgl. auch Kapitel 3 zum methodischen Zugang.
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Wie Weltanschauung präsentiert wird
mit den Bolschewiki wird durch ein Gedicht von Johannes R. Becher lyrisch unterstrichen.6
Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 5.
Jahrhundert, du zwanzigstes, sei uns gepriesen! Es singe dir zum Ruhme der Völker Millionenchor. Was Propheten gedeutet und was Astronomen verhießen, hast du verwirklicht wie keine Zeit zuvor. Jahrhundert, du zwanzigstes: Schlachtfeld, auf dem sich messen das, was veraltet, und das, was künftig wird sein. Streiks, Barrikaden, das Schlachten des Weltkrieges – indessen Oktober siebzehn: „Aurora“ hieß Morgenschein.7
Das Gedicht endet mit einer Anspielung auf den Panzerkreuzer Aurora der zaristischen russischen Kriegsmarine, der zum Nationaldenkmal der Revolution wurde. Von der Aurora soll 1917 ein Signalschuss zur Erstürmung des Winterpalais, dem Sitz der damaligen Regierung, gegeben worden sein, was im Nachhinein als Beginn der russischen Revolution angesehen wurde. Der mit der Namensgebung des Panzerkreuzers evozierte Verweis auf die römische Mythologie wird allerdings in Diesseitigkeit überführt, wenn es im Gedicht heißt „‚Aurora‘ hieß Morgenschein“, womit die Lichtmetapher für den Beginn einer neuen irdischen Zeit steht, deren Entwicklung wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten folgt. „Oktober siebzehn“ wird zum Erinnerungsort der sozialistischen Geschichtserzäh 6 Johannes Robert Becher (1891–1958) zählte zu den populärsten Schriftstellern der DDR, dessen Werk einen festen Bestandteil der schulischen Ausbildung bildete. Er vertextete seinerzeit die von Hanns Eisler komponierte Nationalhymne. Sein Lebenslauf war in parteipolitischer Hinsicht jedoch keineswegs einwandfrei; er geriet mehrfach aus unterschiedlichen Gründen mit den Parteiführungen der Sowjetunion sowie der DDR in Auseinandersetzungen, vgl. Müller-Enbergs, Helmut u. a. (Hg.) (2001): Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon. Berlin: Chr. Links, S. 51. 7 Der Lehrbuchtext liefert keine Angabe zu dem Gedicht; es handelt sich um einen Auszug aus dem Planetarischen Manifest von Johannes R. Becher (1959), abgedruckt in: Wolf, Gerhard (Hg.): Kämpfende Kunst. Sputnik contra Bombe. Lyrik, Prosa, Berichte. Berlin: Verlag des Ministeriums für nationale Verteidigung, S. 104–108.
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lung, die in ihrer Symbolik auch gegenwärtig präsent ist. Der Panzerkreuzer liegt heute auf seinem „ewigen Liegeplatz“ am Ufer der Newa in St. Petersburg. Der Topos der Gesetzmäßigkeit bildet ein leitendes Argumentationsmotiv. In der Verwirklichung des sozialistischen Staates erweise sich nämlich die Vollführung einer gesetzmäßigen gesellschaftlichen Entwicklung, wie sie von Marx und Engels beschrieben worden war.8 Die aus dem Vertrauen, „auf der Seite der Sieger der Geschichte“ zu stehen abgeleitete historische Verpflichtung – „Jeder steht mitten in dieser weltweiten Auseinandersetzung, unabhängig davon, ob er sie mit ihren Ursachen schon begreift oder nicht“9 –, wird in Gewissheit überführt, die schließlich in die Abgrenzung zum Klassengegner mündet: „Wir wissen, daß der Sozialismus siegt und die Ausbeutergesellschaft zum Untergang verurteilt ist. Was gibt uns diese Gewißheit? Der Übergang zum Sozialismus vollzieht sich nicht zufällig, sondern gesetzmäßig. Dieser Gesetzmäßigkeit verhilft die Arbeiterklasse zum Durchbruch, die gegen Ausbeutung und Unterdrückung des eigenen Volkes und anderer Völker kämpft. […] Wir wissen, dass dieser Kampf nicht einfach ist. Noch immer versuchen die Imperialisten und Militaristen, die Entwicklung zum Sozialismus mit allen Mitteln aufzuhalten.“10
Die Wissenschaftlichkeit des Sozialismus wird doppelt begründet: Als beobachtbarer Prozess ist die Gesellschaftsentwicklung nicht nur ‚empirisch‘ belegbar, sie folgt außerdem einer natürlich gegebenen Entwicklung, sie vollzieht sich „gesetzmäßig“. Die „Imperialisten“ erweisen sich somit in ihrer Gegnerschaft zum Sozialismus in letzter Konsequenz als widernatürlich. Die fachdidaktische Literatur lässt keinen Zweifel darüber aufkommen, dass diese Bewertung ausdrücklich vorgesehen war.11 Die Selbstverständlichkeit, mit der die sozialistische Fortschrittshoffnung als Gewissheit dargestellt wird, bildete eine konsequente Redeform, die sich in der Parole: „Ein Sozialist glaubt nicht, sondern er weiß, dass der Sozialismus kommt“12 verdichtete. Diese Textpassage 8 Plausibilisiert werden soll dies anhand von selbstreferentiellen Quellen aus dem Erdkunde-Atlas der polytechnischen Oberschule und anhand von Tortendiagrammen, die die weltweite geografische Ausbreitung des Sozialismus, dessen prozentuale Verbreitung sowie den Anteil der Industrieproduktion sozialistischer Länder an der weltweiten Produktion belegen sollen, vgl. Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 6–8. Differenzierungen zur marxismustheoretischen Verortung der einzelnen Länder (marxistisch-leninistischen/nicht marxistisch-leninistisch) oder zu ihrem zeitlichen Bestehen (einige hatten nur wenige Jahre Bestand und waren 1968 längst aufgelöst) werden nicht gemacht. Es bleibt offen, wie sich die Zahlen aus den Diagrammen zusammensetzen. 9 Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 8. 10 Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 8. 11 Vgl. dazu Kapitel 4 zur Didaktik der Weltanschauung. 12 So eine Erinnerung Gerda Röders, spätere Weber, die in Hermann Webers Autobiografie über die Jahre in der SED-Parteihochschule berichtet und eine Anekdote referiert, in der der Schulleiter der Kreisparteischule die Teilnehmer an einem 14-Tage-Kurs für deren positive
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Wie Weltanschauung präsentiert wird
verblieb bis zum Ende der DDR in den Lehrbüchern und wurde von einem Gedicht des Schriftstellers Erich Weinert, das die Verschränkung von Hoffnung und Gewissheit unterstreicht, verstärkt: Mit Schrecken fühlt die Welt der Beutemacher, dass ihre alte Macht und Pracht zerfällt; mit Schrecken fühlt sie, daß die neue Welt, der Sklavenwelt gewaltiger Widersacher, der Sozialismus, nicht den Schritt verhält… Hier ist zu Staub getreten das absurde Gesetz, das dem, der sät, die Frucht entwand. Denn hier gehört dem Schaffenden das Land; Und was er säte, wächst in seine Hand, in der es Überfluß für alle wurde.13
Die Metapher der Säens taucht in unterschiedlicher Form auch in anderen Staatsbürgerkundelehrbüchern auf.14 Im Gedicht ist der Säende Synonym für den im Kapitalismus ausgebeuteten Arbeiter, dem die Früchte des eigenen Tuns systematisch vorenthalten werden. Aus diesem Anti-Bild generiert sich eine programmatische Zielformulierung, in der die marxistisch-leninistische Weltanschauung erstmals als Kompass bezeichnet wird: „‚Wir haben ein Ziel vor den Augen – die entwickelte sozialistische Gesellschaft! Wir kennen den Weg zu diesem Ziel – unsere eigene schöpferische Arbeit! Wir besitzen einen sicheren Kompaß – unsere marxistisch-leninistische Weltanschauung. Wir haben die Überzeugung, die Kraft und die Begeisterung, diesen unseren Weg zum Sieg zu gehen!‘“15
Trotz der Verwendung des pluralis auctoris zu Beginn jedes Satzes bleibt der Aufruf unpersönlich. Erst über einen Stilbruch richtet sich der Text später direkt an den Leser. Das Studium des Marxismus-Leninismus wird zum „Bauplan“ und „Rüstzeug“ für den Frieden und das Glück der gesamten Menschheit
Antwort auf die Frage, ob sie „glaubten“, daß der Sozialismus kommt, mit den strengen Worten rügt: „Ein Sozialist glaubt nicht, sondern er weiß, daß der Sozialismus kommt.“ Vgl. Weber, Hermann (2002): Damals, als ich Wunderlich hieß. Vom Parteihochschüler zum kritischen Sozialisten. Die SED-Parteihochschule Karl Marx bis 1949. Berlin: Aufbau-Verlag. 1. Auflage, S. 142. Auch bei Sabrow, Martin (2009): Sozialismus. In: ders. (Hg.): Erinnerungsorte der DDR. München: Beck, S. 189. 13 Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 9. 14 Vgl. Staatsbürgerkunde 7 (1983): S. 6 f. sowie Staatsbürgerkunde 8 (1975): S. 70. Die dort abgebildete Fahne der DDR mit dem Symbol der Ähre steht für den „Arbeiter-und-BauernStaat“. Die Ähre als Symbol für Lebenskraft und Fruchtbarkeit findet sich zudem in dem auszugsweise zitierten Brecht-Text Die Erziehung der Hirse. 15 Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 9.
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erklärt.16 Mit dem Marxismus-Leninismus soll der Schüler außerdem Grundfragen aus dem „kostbarsten Besitz der menschlichen Gesellschaft“ kennenlernen. Die Wendung taucht erneut in variierter Wortwahl wieder auf17 und kündigt die Teilnahme an einer elitären Wissensgemeinschaft an, deren Lernziel mit der Formulierung „Wir werden sehen, daß der Sozialismus auf der Welt unaufhörlich wächst und sein Sieg unaufhaltsam ist“ allerdings vorweggenommen wird. Der Wissenschaftstopos spielt für die Plausibilisierung der sozialistischen Weltanschauung durchgehend eine zentrale Rolle. Auf der formalen Ebene fungiert ‚Wissenschaftlichkeit‘ als Stilmittel zur Erzeugung des staatsbürgerlichen Bewusstseins, indem Textaussagen an die wissenschaftliche Reputationsgemeinschaft angegliedert, und Wissenschaft und Sozialismus argumentativ verschränkt werden. Dass der Wissenschaftsanspruch darüber hinaus auch als Beleg für die moralische Superiorität des Systems geltend gemacht wird, zeigen die Gründungserzählungen von Partei und Staat.
b) Sinn und Bedeutung als historische Größen: die Gründungserzählungen von Partei und Staat In der Geschichtsphilosophie des dialektischen Materialismus sind ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘ notwendig als historische Größen konzipiert. In der Schulbuch darstellung ist es indes ein historischer Bruch, über den die Bedeutsamkeit konstruiert wird.18
16 Die Identifikation von Sozialismus mit Frieden und Glück ist beachtenswert, insofern der Friedenstopos der DDR zwar die Grundlage eines kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses und einen zentralen Legitimationswert des sozialistischen Staates bildete, vgl. Droit, Emmanuel (2009): Frieden. In: Sabrow, Martin (Hg.): Erinnerungsorte der DDR. München: Beck, S. 152–160, hier: 152. Zumindest in der offiziellen Debatte ließ die prospektive Ausrichtung des Staates einen Glücksverweis aber vermissen. Dies ergab eine Stichprobe der Lehrmittel und Erziehungsliteratur, beispielsweise fehlen entsprechende Einträge in den Stichwortverzeichnissen der Lehrbücher für Klasse 7 vollständig, während „Frieden“ bzw. „friedliche Koexistenz“ stets einen Eintrag aufweist. Auch in wissenschaftlichen Lexika wie dem Philo sophischen Wörterbuch oder dem Kleinen Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie findet sich unter „Glück“ kein Eintrag, dafür sind unter „Frieden“ und „friedlicher Koexistenz“ ausführliche Artikel zu finden. Dasselbe gilt für das zentrale Jugendlexikon Marxistisch-leninistische Philosophie, geschrieben für die Jugend. Allerdings weist die Ausgabe 1983 des Jugend weihegeschenkbuchs Vom Sinn unseres Lebens immerhin zwei Abschnitte zum Thema „Glück“ auf (vgl. S. 225–227 sowie 247–149). 17 Später ist in Bezug auf die Schriften von Karl Marx, Friedrich Engels und Vladimir I. Lenin von „Schätzen der Weltkultur“ die Rede, vgl. Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 29. 18 Auch die methodische Konzeption nennt den „Traditionsabbruch“ zur BRD als zentrales Erziehungsziel und gibt damit die Argumentationsrichtung der Gründungserzählungen vor, vgl. Überzeugungsbildung (1971): S. 13.
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Die Entstehungsgeschichten von Partei und Staat stehen unter der Überschrift „Vom schweren Anfang zur Gründung der Deutschen Demokratischen Republik“. Wie die Zeichnung auf dem Deckblatt ankündigt, beginnt der Text mit einer Rückblende auf das Jahr 1945. Zu sehen ist ein Soldat, der die sowjetische Fahne auf einem nicht näher erkennbaren Gegenstand anbringt; die Haltung der Figur deutet darauf hin, dass sie sich auf einer Plattform in einiger Höhe be findet. Für die Erinnerungsgemeinschaft DDR dürfte die Zeichnung klar verständlich gewesen sein. Es handelt sich um eine popularisierte Darstellung der gehissten sowjetischen Fahne auf dem Berliner Reichstagsgebäude, die angeblich am 30. April 1945 durch den georgischen Soldaten Meliton Kantaria angebracht wurde und als nachgestelltes Foto um die Welt ging.19 In der DDR zierte das Motiv überdies verschiedene Briefmarken, die an den „Tag der Befreiung“ erinnerten. Die in der Semantik der Abbildung angelegte Identifikation mit den Siegern sowie die Formulierung „Vom schweren Anfang“ geben die Narrative vor, unter denen die nachfolgende Geschichtserzählung steht. Sie blendet Fragen nach der Partizipation der DDR-Bevölkerung am Nationalsozialismus weitestgehend aus und überträgt die politische Verantwortung für Krieg und Kriegsverbrechen dem „faschistischen deutschen Imperialismus“, der im „verbrecherische[n] Hitlerstaat“ Gestalt gewann. Die in der Formulierung gegebene strukturell-personale Einheit bricht mit der Vorstellung eines symbiotisch imaginierten Verhältnisses von Volk und Diktator in der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ und entwirft eine auf dem antifaschistischem Widerstand basierende Gegengeschichte, die die Identifikation mit den Siegern ebenso möglich macht, wie die Erfindung eines sozialistischen 19 Im Nachhinein stellte sich heraus, dass Kantaria den Statisten in einer sowjetischen Geschichtsfälschung gab: Aus hier nicht weiter relevanten politischen Gründen wurden die Identitäten der Fahnenhisser ausgetauscht.
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Traditionskontinuums.20 Ihr Gründungsnarrativ Antifaschismus wirkte sowohl nach innen als auch nach außen: Vor allem in den 1950er Jahren bildete der Antifaschismus das zentrale innenpolitische Integrationsmoment21, das in der Systemauseinandersetzung beider deutscher Staaten als Abgrenzungsmoment zur Bundesrepublik fungierte, die auf das antifaschistische Selbstverständnis ihrerseits mit dem Begriff des Antitotalitarismus reagierte. Vor diesem Hintergrund sind zwei Andeutungen auf die politische Mitverantwortung der DDR-Bürger immerhin bemerkenswert: Zum einen ist von einem „neuen Abschnitt“ der Geschichte des deutschen Volkes die Rede, das von der „faschistischen Herrschaft […] befreit“ wurde und die Chance erhielt, „mit der Vergangenheit Schluß zu machen“.22 Der zweite Hinweis ist deutlicher formuliert. Der Schüler erfährt in dokumentarischem Stil zuerst von Zerstörungen, Not und Hunger, die mit einer Fotografie sowie einer Detailschilderung unterlegt werden, bevor der Text unmissverständlich auf die Verankerung des nationalsozialistischen Gedankenguts in der Bevölkerung eingeht. Diese wird allerdings vom gängigen Geschichtsbild überlagert, das analog der in den sozialistischen Staaten gängigen Faschismusanalyse „Monopolherren und Großgrundbesitzer[n]“ die Schuld für den Krieg zuweist23, damit die Identifikation mit den Siegern ermöglicht und erst die Vor 20 Die kommunistische Partei galt als Synonym für die Widerstandsbewegung, die sich die DDR mit der Indienstnahme der KPD endgültig einverleibte und damit eine staatliche Widerstandstradition konstruierte. 21 So Thomas Schmidt-Lux: „Antifaschismus als höchstes Ziel von DDR-Politik war be sonders in den Fünfzigerjahren präsent. Sozialistisch und damit antifaschistisch zu sein, war programmatisch und als Merkmal der DDR gemeint, negierte aber auch rückblickend eine Unterstützung Hitlers durch diejenigen Deutschen, die jetzt DDR-Bürger waren.“ Ders. (2003): Vom Bürger zum Werktätigen. Die arbeiterliche Zivilreligion in der DDR. In: Gärtner, Christel/Pollack, Detlef/Wohlrab-Sahr, Monika (Hg.): Atheismus und religiöse Indifferenz. Opladen: Leske + Budrich, S. 315–336, hier: 326. 22 Vgl. Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 12. Die Schlussstrich-Metapher taucht noch einmal in Zusammenhang mit der Staatsgründung auf, wo es heißt, das deutsche Volk habe nach Kriegsende die Möglichkeit erhalten, unter die „unheilvolle Vergangenheit einen Schlußstrich zu ziehen“. Ebd. S. 30. Die Metapher bildete einen gängigen Topos der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte. So forderte Konrad Adenauer in seiner Regierungserklärung vom 20. September 1949 „Vergangenes vergangen sein zu lassen“, zit. n. Dubiel, Helmut (1999): Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages. München/Wien: Carl Hanser, S. 43. Zur vergleichenden Betrachtung zum Umgang mit Nationalsozialismus in beiden deutschen Staaten vgl. auch den von Jürgen Danyel 1995 herausgegebenen Sammelband: Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten. Berlin: Akademie-Verlag. 23 „Sie [die Menschen] glaubten vielfach noch, was ihnen die Faschisten […] jahrelang an falschen Vorstellungen vermittelt hatten. Das hinderte sie, die Schuldigen der Katastrophe zu erkennen und einen Ausweg zu suchen. Die Schuldigen an diesem grausamen Krieg […] waren der verbrecherische deutsche Faschismus, die Monopolherren und Großgrundbesitzer.“ Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 14. Damit folgte die Darstellung der gängigen sozialistischen Faschismusanalyse Georgi Dimitroffs.
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aussetzung dafür schafft, dass der 8. Mai als „Tag der Befreiung“ und nicht als Niederlage erklärt und zum zentralen Feiertag der DDR werden konnte.24 Die Gründungserzählung der DDR baut auf diesem Geschichtsbild auf, das im Schüler das Gefühl der moralischen Überlegenheit zu erzeugen sucht. Dieser ist Bürger eines anderen, des sozialistischen Staates, dessen substanzielle Alterität über das antifaschistische Gründungserzählung beansprucht und plausibilisiert wird. Narrativ konnte der Traditionsbruch zu Westdeutschland endgültig vollzogen werden. Zum Merkmalsträger der Andersartigkeit des Staates wird die kommunistische Partei; ihre Qualität als Orientierungsinstanz („Die KPD weist den Weg aus der Katastrophe“25) hatte sich bildlich bereits in der Darstellung der LeninFigur mit ausgestrecktem Zeigefinger auf dem Kapiteldeckblatt angekündigt. Obwohl die Gründung der DDR in der methodischen Konzeption ebenfalls als emotionaler Höhepunkt angesehen wurde, widmet der Lehrtext der Parteiengründung auffällig viel mehr Platz. Dies hatte sowohl herrschaftspolitische als auch argumentative Gründe. Der parteiliche Führungsanspruch sollte legitimiert werden, gleichzeitig war die Partei für die Plausibilisierung der sozialistischen Weltanschauung zentral, insofern an ihr der Wissenschaftstopos des MarxismusLeninismus entfaltet wurde: In der narrativen Logik wird die Wiederaufbauarbeit der Antifaschisten als Geschichte der „Aktivisten der ersten Stunde“ erinnert, zu denen vor allem die führenden Politkader um Walter Ulbricht zählen. Diese hatten das Programm zur Neugestaltung Deutschlands erarbeitet, aus dem ausführlich zitiert wird, um die Schüler im Umgang mit Quelltexten zu üben und ihre Einstellung in Bezug auf die Entscheidungsfähigkeit der Partei zu normieren – so geht es jedenfalls aus der Zielformulierung der methodischen Konzeption zur Arbeit mit Klassikerschriften im Unterricht hervor. Der Text sollte den Schülern begreiflich machen, dass die Partei richtige Ziele gesetzt habe.26 Der Wissenschaftlichkeitsanspruch der Politik gründet sich auf den Marxismus-Leninismus: 24 Vgl. Hurrelbrink, Peter (2006): Befreiung als Prozess. Die kollektiv-offizielle Erinnerung an den 8. Mai 1945 in der Bundesrepublik, der DDR und im vereinten Deutschland. In: Schwan, Gesine (Hg.): Demokratische politische Identität. Deutschland, Polen und Frankreich im Vergleich. Wiesbaden: VS, S. 71–119, bes. 71, 75, 77, 109. 25 Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 15. 26 „Der deutsche Imperialismus hatte am deutschen Volk schwere Verbrechen begangen. […] In der Einführung sollen die Schüler begreifen, daß dem deutschen Volk in dieser Lage ein solches Ziel und ein solcher Weg zur Überwindung von Not und Elend gewiesen werden mußte, der die Wiederholung der Katastrophe von 1939 bis 1945 ausschloß. Sie sollen verstehen, dass nur die Partei der Arbeiterklasse, die KPD, in der Lage sein konnte, die Aufgaben richtig zu erkennen, weil sie die führende Kraft im antifaschistischen Widerstandskampf war, weil sie seit ihrer Gründung konsequent gegen den Imperialismus gekämpft hatte.“ Vgl. Raetzer, Dietrich (1977): Klassikerschriften und Dokumente in Staatsbürgerkunde. Zur Arbeit mit Werken der Klassiker des Marxismus-Leninismus und mit Dokumenten im Staatsbürgerkundeunterricht der Klassen 7 bis 12. Berlin: Volk und Wissen, S. 47.
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„Die KPD erwies sich als die einzige Kraft, die ein solches wissenschaftlich begründetes Programm vorlegen konnte. Gestützt auf die Theorie des Marxismus-Leninismus zeigte sie den einzigen Weg, der aus der Katastrophe herausführte.“27
Was Wissenschaft ausmacht, wird politisch bestimmt und gefüllt. Wissenschaftlichkeit bildet einen Topos des politischen Diskurses, in dem der Politiker danach beurteilt wird, dass er wissenschaftlich, also marxistisch-leninistisch, argumentiert. Politik bewegt sich somit notwendigerweise stets im selbstreferentiellen Rahmen. Die Legitimation der Partei über den Begriff der Wissenschaftlichkeit hatte Konsequenzen für den akademischen Bereich. Der Marxismus-Leninismus galt als universelle methodologische Grundlage und normierte damit nicht nur die universitäre Forschung, sondern vereinheitlichte auch den Wissenschaftsdiskurs. Dass es sich dabei um einen Diskurs über Wissenschaft, nicht um einen wissenschaftlichen Diskurs handelte, zeigt der Versuch der SED, ihren Führungsanspruch über den Wissenschaftstopos moralisch zu begründen. Der Marxismus-Leninismus war in der Konzeption nämlich beides: Wissenschaft und Weltanschauung und damit Grundlage sowohl politischen Handelns als auch moralischen Verhaltens.28 Gleichzeitig täuschte das Modell der Partei als „entäußerte[r] Verkörperlichung“ eines höheren Ideals von Wissenschaftlichkeit über die faktische Verweigerung politischer Partizipation hinweg.29 Die Einparteienherrschaft wird im Schulbuch gesondert legitimiert. Im Abschnitt über die Gründung der SED ist ein Auszug aus dem Protokoll des Vereinigungsparteitages vom 21./22. April 1946 eingefügt, der sich optisch vom verbleibenden Lehrbuchtext abhebt und das Geschehen aus einer Beobachterperspektive präsentiert: „Aus dem Protokoll des Vereinigungsparteitages ‚Vor dem Admiralspalast auf der Friedrichstraße wogte eine nach Tausenden zählende Menschenmenge. Mehr als tausend Delegierte und Ehrengäste, dazu eine noch größere Zahl von Gästen und Zuhörern, füllten den mächtigen Raum bis auf den letzten Platz. Lebhaft und herzlich war durchweg die persönliche Begrüßung alter Kampfgenossen aus den bisher getrennten Parteilagern nach jahrzehntelanger Spaltung. Nachdem die Fidelio-Ouvertüre von Ludwig van Beethoven, gespielt vom Orchester der Staatsoper, verklungen war, betraten die beiden Parteivorsit-
27 Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 19. Im Lehrbuch wird ausführlich aus diesem Programm zitiert, dabei allerdings jeder Hinweis auf eine sozialistische Umgestaltung oder den politischen Führungsanspruch der kommunistischen Partei vermieden und sich stattdessen auf Entnazifizierungsmaßnahmen konzentriert. 28 Der moralische Impetus wird im Schulbuchtext über das Moment der Verpflichtung gegenüber den „toten Genossen“ sowie über die „Wiedergutmachung politischer Fehler“ akzentuiert, vgl. Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 21. 29 Florath, Bernd (2009): Die Patei. In: Sabrow, Martin (Hg.): Erinnerungsorte der DDR. München: Beck, S. 79–89, hier: 81 sowie 83.
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zenden, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl, von verschiedenen Seiten kommend, die Bühne, trafen sich in der Mitte und reichten sich unter minutenlangem stürmischem Beifall der Delegierten und Gäste, die sich von ihren Plätzen erhoben hatten, die Hände. Einem Schwur gleich brauste ein dreifaches Hoch auf die deutsche Arbeiterklasse durch den Saal.‘“30
Das politische Ereignis fand in einem Saal des Berliner Admiralspalastes statt, einem seit den 1920er Jahren populären Vergnügungs- und Kulturzentrum. Entsprechend der Semantik der Bühne trägt der zitierte Text den Charakter eines Inszenierungsprotokolls, dessen Elemente an eine Theateraufführung erinnern; in der Tat wurde vorher sorgfältig choreografiert. Im Text wird der Zuspruch aller Beteiligten zahlenmäßig ausgedrückt („Tausenden“, „mehr als tausend“) und durch positive Adjektive („lebhaft“, „herzlich“, „persönlich“) unterstrichen. Der Händedruck der Politiker, der später zum Emblem der Partei wurde, ist von Metaphern der Bewegung („wogen“, „brauste“) umrahmt; der Verweis auf die Fidelio-Ouvertüre mag das Ereignis zusätzlich als Befreiung deutbar machen. Besondere Betonung erhält die Wirkmächtigkeit des Vereinigungsrituals auf die Zuschauenden, die den Händedruck mit einem „minutenlange[n] stürmische[n] Beifall“ begleitet und dem als schwurgleich bezeichneten „dreifachen Hoch auf die deutsche Arbeiterklasse“ quittieren. Die auf der gegenüberliegenden Schulbuchseite abgedruckte Abbildung des Handschlags der beiden Akteure Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl spiegelt die im Text beschriebene überschwängliche Freude für den Betrachter weniger offensichtlich wider. Die Handreichenden schauen einander nicht an; auch der in der rechten Bildecke zu sehende spätere Generalsekretär der SED und erste Mann im Staat, Walter Ulbricht, blickt ernst. Dennoch blieb die Abbildung bis zum Ende der DDR in allen Ausgaben und Auflagen des Lehrbuchs erhalten; sie zählte zu den am meisten verbreiteten Fotos, die als „feste Größe im Bilderkanon ostdeutscher Geschichtspolitik“ auch in das Bildgedächtnis der DDR-Bürger einging.31 Der Handschlag wurde fortan zum ungebrochenen Beleg für die Erfolgsgeschichte der Partei, die umstrittenen Umstände ihrer Gründung negiert und stattdessen im Emblem als „Propagem der Einheit“ symbolisch tradiert.32 Dieses war zuvor 30 Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 22. 31 Vgl. Ahbe, Thomas/Gibas, Monika/Gries, Rainer (2005): Der Handschlag. Das Propagem der Einheit und eine seiner tradierten Symbolisierungen. In: Gries, Rainer/Schmale, Wolfgang (Hg.): Kultur der Propaganda. Bochum: Winkler, S. 305–337, hier: 314. 32 Die Gründung der SED wurde in der Forschung gleichermaßen als „freiwilliger Zusammenschluss“ bzw. „Zwangsvereinigung“ gedeutet. Einen verdichteten Überblick über unterschiedliche Positionen gibt Andreas Malycha. Er resümiert: „Auch wenn der Begriff der Zwangsvereinigung nicht benutzt wird, so ist auf der Basis der seit 1990 betriebenen empirischen Untersuchungen eindeutig nachgewiesen worden, wie Zwang und Nötigung als die wesentlichsten Faktoren bei der SED-Gründung durch deutsche und sowjetische Kommunisten
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Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 23.
ebenso wie der Ablauf der Vereinigungsparteitags sorgfältig entwickelt worden.33 Historisch gesehen verfügte das von der Arbeiterbewegung bereits im 19. Jahrhundert verwendete Bild des Handschlags über eine ikonografische Tradition, die sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, nach 1945 aber vor allem zum Einheitssymbol der im Nationalsozialismus zersplitterten Arbeiterbewegung wurde. In der DDR bezeichnete das Ineinandergreifen der Hände nicht nur den Führungsanspruch der Partei, sondern gleichermaßen die Einheit der Klassen, Deutschlands sowie des gesamten sozialistischen Lagers, bis sie 1989 zur Verabschiedungsgeste umgedeutet wurde.34 Gleichwohl bleibt verwunderlich, dass ausgerechnet dieser Abbildung ein besonderes emotionales Potenzial zugemessen wurde. In der seit jeher um die Frage kreisende Debatte nach der wirksamen Gestaltung des Staatsbürgerkundeunterrichts gerieten Anfang der 1980er Jahre auch die Lehrbuchabbildungen der Stoffeinheit 7.2 Vom schweren Anfang in den Fokus. In ihrer „Veranschau eingesetzt werden.“ Ders. (2003): „Die Partei hat immer Recht!“ – Die Geschichte der SED. In: Eppelmann, Rainer/Faulenbach, Bernd/Mählert, Ulrich (Hg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Paderborn u. a.: Schöningh, S. 85–92, hier: 87, bes. 88. 33 Der Entwurf geht auf einen der politischen Akteure zurück: Otto Grotewohl selbst konzipierte das Emblem gemeinsam mit seinem Sohn noch vor dem Vereinigungsparteitag, vgl. Ahbe u. a. (2005): Der Handschlag, S. 306. 34 Vgl. Handschlag (2005): S. 318–322 sowie 324 f. Zur Erklärung: Im Gegensatz zur klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus existierten im Sozialismus durchaus verschieden Klassen, die jedoch im Gegensatz zu den kapitalistischen Klassenverhältnissen als „nicht-antagonistisch“ und somit als Teil einer vorübergehenden Phase auf dem Weg zum Kommunismus gedeutet wurden.
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lichungsfunktion“ galten sie als besonders geeignet, um in Kombination mit einem Lehrervortrag historisches und politisches Wissen als „Bildergeschichten“ erzählend zu vermitteln.35 In der Konzeption sollte die Bildergeschichte den emotionalen Höhepunkt der Unterrichtsstunde bilden. Der didaktische Vorschlag für die Präsentation der SED-Gründung war als Ergänzung zu dem im Lehrbuch abgedruckten Auszug aus dem Protokoll des Vereinigungsparteitages gedacht. Dieser perspektiviert ebenso auf das Geschehen und wiederholt anfangs im Wesentlichen die Lehrbuchinhalte.36 Ein grammatisches Präsens erweckt den Eindruck von Unmittelbarkeit, die Bedeutsamkeit der Ereignisse wird in der Metapher des Bundes sowie dem Gelöbnis der Anwesenden Ausdruck verliehen. Den Höhepunkt des Lehrervortrags bildet die Schilderung eines die außen stehenden Menschen erfassenden Transformationsprozesses: „Die Töne dringen hinaus auf die Straße. Dort stehen Männer, Frauen und Kinder; mager und schlecht gekleidet sind sie, frieren in dem kalten Aprilwetter. Aber jetzt sind sie plötzlich verwandelt. Sie sind andere Menschen geworden. Ein Strom der Kraft zieht durch alle Straßen und Städte und Länder unseres Vaterlandes. Und wer von ihm erfaßt wird, für den beginnt ein neues Leben.“37
In der Sekundärliteratur ist der Vereinigungsparteitag als „geradezu sakrale Zeremonie“38 bezeichnet worden, was sich angesichts des Textbeispiels nahezulegen scheint: Die bildhafte Schilderung, wie mit den Tönen auch ein Kraftstrom auf die Straße dringt, dort die elenden Menschen erfasst und sie plötzlich verwandelt, mehr noch: den Beginn eines neuen Lebens markiert, arbeitet dieser Deutung zu. Formal wird das Ereignis des Bundschlusses als unmittelbare Transformation der gesamten erzählten Welt inszeniert. Die narrative Gestaltung bemüht somit gezielt Analogien. Zusätzlich fiel der Gründungsparteitag auf das Osterfest des Jahres 1946, was Otto Grotewohl, den ehemaligen Vorsitzenden der SPD und von 1949 bis 1964 ersten und einzigen Ministerpräsidenten der DDR, dazu veranlasste, den Zusammenschluss als Auferstehung zu interpretieren. Allerdings relativiert Grotewohl den vermeintlich religiösen Gehalt dieser Bezüge rasch und überdeutlich: 35 Fippel, Günter (1982): Bildergeschichten im Staatsbürgerkundeunterricht der Klasse 7 (I). In: Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde Heft 6, S. 509–517. 36 „Aus dem großen festlichen Theatersaal tönt Musik – Beethovens Fidelio-Ouvertüre. Die letzten Töne der Musik verklingen. Erwartungsvoll blicken die Menschen […] auf die Bühne. Zwei Männer gehen dort aufeinander zu. Von links kommt Wilhelm Pieck. Von rechts Otto Grotewohl. Sie treffen sich in der Mitte des Podiums und reichen sich die Hände. Der Führer der Kommunistischen Partei Deutschlands und der Führer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands schließen einen Bund für immer. Aber nicht nur die Führer: Im Saal erheben sich die Anwesenden, und einem Schwur gleich ertönt ein dreifaches Hoch auf die einige deutsche Arbeiterklasse.„Fippel (1982): Bildergeschichten, S. 515. 37 Fippel (1982): Bildergeschichten, S. 515. 38 Vgl. Handschlag (2005): S. 313.
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„Ich wiederhole hier einige Worte, die uns aus dem Westen immer entgegengetragen wurden und die ich schon auf dem Parteitage der früheren Sozialdemokratischen Partei vorgestern gesprochen habe, als man nämlich uns aus dem Westen zurief, nunmehr sei die Sozialdemokratische Partei am Karfreitag in Berlin ans Kreuz geschlagen. (Heiterkeit) Nein, Genossinnen und Genossen, selbst wenn man mit solchen biblischen Einsichten Politik machen will, kann man auch immer noch sagen, dass diese Kreuzigung des Menschensohnes nur den Zweck verfolgte, die Menschheit zu befreien und sie für das himmlische Dasein zu gewinnen. Nun schön, wenn die SPD ans Kreuz geschlagen ist, wir wollen aber nicht die Menschen und das deutsche Volk für die himmlische Sicherheit gewinnen, sondern unsere Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, daß jeder Mensch, der arbeitet, zunächst einmal auf dieser Erde sein Brot und sein Heim findet. (Beifall) Das möge die Erkenntnis aus diesem Vorgange sein, den wir in Berlin erlebt haben. Das möge die Erkenntnis sein, die ihr in eure Herzen tief eingraben möget, daß, wenn dieses Ans-Kreuz-schlagen erfolgt ist, heute, am Ostertage, die herrliche Auferstehung der deutschen geeinten Arbeiterklasse erfolgt ist. (Lebhafter Beifall)“39
Die Analogien an das christliche Osterfest werden bei Grotewohl durch den ironischen Unterton gebrochen und gewinnen durch den Verweis auf die Diesseitsbezogenheit der Parteipolitik ein religionskritisches Potenzial. Es wird deutlich, dass Grotewohl die Querverweise als Abgrenzungsmoment verwendet und den Parteitag keineswegs als religiöses Ereignis deutet. Wo dies in der Sekundärliteratur mit dem Verweis auf die Verwendung einer bestimmten Sprachlichkeit in sozialistischen Selbstaussagen dennoch geschieht, muss zumindest darauf hingewiesen werden, dass damit die zum Teil von den Akteuren selbst getroffenen Differenzierungen zwischen Form und Inhalt unberücksichtigt bleiben. Dies hat in der Forschung zum Sozialismus durchaus Tradition40, ist für eine religionswissenschaftliche Einordnung des Phänomens, für die der analytische Wert von Kategorisierungen als „religiös“ oder „nicht-religiös“ bzw. „säkular“ aus methodologischen und religionstheoretischen Gründen diskutabel bleibt, aber nur bedingt brauchbar. In Bezug auf die Staatsbürgerkundelehrbücher kann festgehalten werden, dass dort solche sprachlichen Gleichklänge programmatisch und intendiert sind, allerdings als Überzeugungs-, Deutungs- und Involvierungsstrategien in die sozialistische Gesellschaft, in der sich offiziell auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Religionskritik sowohl von einem christlichen Erbe als auch von Religion an sich abgegrenzt wurde. Neben der historischen Standortbestimmung und der Parteiengründung ist es vor allem die Staatengründung, 39 Grotewohl, zit. n. Hille, Nikola (2006): „Brüder, in eins nun die Hände“. Inszenierung und Mythenbildung des „Vereinigungshandschlags“ im politischen Plakat der SBZ und frühen DDR. In: Tepe, Peter u. a. (Hg.): Mythos no. 2. Politische Mythen. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 164–179, hier: 168. 40 Vgl. de Man, Hendrik (1927): Zur Psychologie des Sozialismus. Jena: Diederichs; 80 Jahre später argumentiert der Historiker Dieter Langewiesche strukturell ähnlich, für beides vgl. auch Kapitel 1.
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Wie Weltanschauung präsentiert wird
die den formalen Rahmen der Erfolgsgeschichte Sozialismus konstruiert, in der sich auch die sozialistische Weltanschauung des Individuums entfaltet. Die DDR wurde am 7. Oktober 1949, fünf Monate nachdem mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes im Mai die Bundesrepublik Deutschland entstanden war, gegründet. Die für das Schulbuch entwickelte Darstellung ist sprachlich ähnlich wie der Abschnitt über die Gründung der SED aufgebaut: Auch hier wird ein längerer, als Zitat gekennzeichneter Text eingefügt, der sich optisch vom restlichen Lehrbuchtext abhebt und das Geschehen aus einer Kameraperspektive dokumentiert. Eine Abbildung lockert die Darstellung auf, sie zeigt Wilhelm Pieck nach seiner Wahl zum Präsidenten, wie er Glückwünsche von der jungen Margot Feist, später Honecker, entgegen nimmt. Einführend wird die Gründung der DDR als Abgrenzung zum „Bonner Separatstaat“ bezeichnet und mit der Schlussstrich-Metapher als „historische Chance“ und „reale Möglichkeit“ definiert.41 Die darauf folgende Schilderung dokumentiert das Geschehen aus der Sicht einer nicht-personalen Erzählinstanz, die das bevorstehende Ereignis der Staatengründung aus der Wahrnehmungsperspektive der Berliner Bevölkerung wiedergibt. Der Text besteht aus einer Mischung aus filmischen und interpretativen Elementen und gliedert sich in Vorbereitung – Ereignis – Rezeption/ Deutung: „Berlin am 7. Oktober 1949. Man merkt es der ganzen Stadt an: Es geschieht etwas Außergewöhnliches, etwas Bedeutendes an diesem Tage. Die Betriebe, die Verwaltungsgebäude, die Verkehrsmittel zeigen schwarzrotgoldene Fahnen und Transparente. Die Zeitungsverkäufer werden ihre Zeitungsstapel schneller los. In den Verkehrsmitteln, am Arbeitsplatz, auf Straßen und Plätzen wird eifrig diskutiert. Ein Thema bewegt alle: Zum ersten Mal in der Geschichte unseres Volkes werden Arbeiter, Bauern, werktätige Menschen einen Staat, ihren Staat gründen. In den Vormittagsstunden ist der Verkehr auf dem Thälmannplatz nur noch mit Mühe zu bewältigen. Aus allen Teilen des Landes und aus Berlin kommen die Delegierten des Volkes. Berichterstatter der deutschen und der ausländischen Presse, Vertreter deutscher, französischer und amerikanischer Wochenschauen, Reporter verschiedener Rundfundstationen treffen in Berlin ein.“42
Das als spürbar Besonderes, in schwarzrotgoldenen Fahnen und Transparenten, rasch verkauften Zeitungen sowie öffentlich geführten Diskussionen zum Ausdruck Kommende wird auf die bevorstehende Staatsgründung als das die Bevölkerung bewegende Ereignis bezogen. Sprachlich hervorgehoben wird dessen 41 Vgl. Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 30. 42 Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 31. In einer Einzelausgabe der Staatsbürgerkunde von 1961 wird das Ereignis noch narrativer – unter anderem durch die Verwendung direkter Rede im Hauptlehrtext – ausgeschmückt, vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Ernst-Joachim Krüger. Berlin: Volk und Wissen (1961): Lehrbuch für Staatsbürgerkunde der 9. Klasse der Oberschule. Berlin: Volk und Wissen, S. 5–11. Als Evidenzerlebnis qualifiziert werden die Ereignisse durch eine Geschichte der Schriftstellerin Anna Seghers, ebd., S. 11 f.
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Bedeutsamkeit durch universalisierende Formulierungen, Metaphern der Bewegung sowie den Verweis auf das historische Moment: Die Vorbereitungen zum Parteizusammenschluss werden als omnipräsent wahrnehmbar beschrieben und mit den Worten „außergewöhnlich“, „bedeutend“ und „bewegend“ charakterisiert. Zusätzliche Dynamik erhält der Text durch den Verweis auf wehende Fahnen sowie Adjektivattribute wie rapider Zeitungsverkauf, eifrige Diskussionen, übermäßiger Verkehr, anreisende Personen. Das grammatische Präsens wird durch einen Schnitt gesteigert; das Ereignis steht nun direkt bevor: „Die Abenddämmerung senkt sich bereits über die Stadt, als die Abgeordneten ihre erste historische Sitzung im Hause der Ministerien in Berlin beginnen. Eine feierliche Stille herrscht im Saal. Wilhelm Pieck geht zum Rednerpult, um die Sitzung zu eröffnen. In seiner Begrüßungsansprache weist er auf die große Bedeutung des Beschlusses hin, der von den Abgeordneten gefaßt werden soll. In Resolutionen aus den Betrieben und aus allen Schichten der Bevölkerung wurde gefordert, eine demokratische und unabhängige Regierung zu bilden, einen Staat zu schaffen, in dem die Werktätigen regieren. Wilhelm Pieck verliest die von allen Parteien gemeinsam eingereichte Gesetzesvorlage über die Bildung der Provisorischen Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik. Beifall brandet ihm entgegen, die Abgeordneten erheben sich spontan von ihren Plätzen. Die Deutsche Demokratische Republik ist Wirklichkeit.“43
Die Bedeutsamkeit der Parteisitzung wird durch mehrfachen Verweis auf deren Historizität sowie die Feierlichkeit der Veranstaltung unterstrichen und durch den begeisterten Zuspruch der Teilnehmenden dynamisiert. Die Schilderung der Parteisitzung endet mit einem Friedensversprechen, dann fokussiert die imaginäre Kamera zurück auf die Rezeption und Deutung des Ereignisses durch die Berliner Bevölkerung, die im Imperfekt gehalten ist: „An ihren Arbeitsplätzen und auf den Straßen besprachen viele Menschen die Ereignisse des 7. Oktober. In den Betrieben versammelten sich die Werktätigen und begrüßten die Beschlüsse ihrer Abgeordneten. In Briefen und Telegrammen an die Provisorische Volkskammer versprachen sie, den jungen Staat mit ihrer ganzen Kraft zu unterstützen. In den größeren Städten fanden Kundgebungen statt. In Sprechchören brachten Zehntausende Hochrufe auf die Deutsche Demokratische Republik aus.“44
Den dramaturgischen Höhepunkt der ausnahmslos positiven Reaktionen der Bevölkerung auf die Staatsgründung bildet der Verweis auf Massenkundgebungen und Sprechchöre, der abschließend mit einer Abbildung verifiziert wird. Die Fotografie zeigt einen Ausschnitt des von der FDJ organisierten Fackelzugs vom 11. Oktober 1949, der über die Prachtallee Unter den Linden führte 43 Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 31. 44 Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 31.
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Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 32.
und mit dem Bebelplatz einen symbolischen Ort erreichte; dort hatte 1933 die nationalsozialistische Bücherverbrennung stattgefunden, nun sollte der Demonstrationszug für den Beginn einer neuen Zeit stehen. Der Fackelzug bildete eine zentrale Ausdrucksform der politischen Inszenierung, weshalb ihm in der didaktischen Konzeption eine ebenso bedeutende Rolle wie der Abbildung des Handschlags zwischen Grotewohl und Pieck anlässlich der Parteiengründung zugeschrieben wurde. Der für diese Stelle entwickelte idealtypische Lehrervortrag wiederholt die emotionalen Elemente des Schulbuchtextes, bezieht aber weitere Stimmen ein.45 Ein weiterer Beleg aus einer Ausgabe der Zeitschriftenreihe Illustrierte Historische Hefte sollte das Material ergänzen und das Ereignis über die schulbuchrelevante Literatur hinaus emotional kodieren.46 45 „Das beistehende Foto vermittelt nur einen schwachen Eindruck von dem, was sich wirklich abgespielt hat. Hören wir, wie ein Reporter der Berliner Zeitung ‚Tägliche Rundschau‘ diesen Abend erlebte: ‚In den Nachmittagsstunden zeigte sich in den Straßen Berlins eine fieberhafte Spannung. Die Zugänge zum Stadtkern waren bald von anströmenden Demonstranten überfüllt. […] [B]ald vor Beginn der Kundgebung auf dem August-Bebel-Platz waren alle Straßen von unübersehbaren Menschenmassen überfüllt. … Stürmischer Jubel brauste auf, als der neue Staatspräsident, der alte, verdiente Arbeiterführer, an dem mit Feldblumen geschmückten Rednerpult erschien und den hunderttausendstimmigen Chor „Es lebe der Präsident unserer demokratischen Republik!“ mit einem glücklichen Schwenken der Hand beantwortete.‘“ Fippel (1982): Bildergeschichten, S. 516. 46 „Die folgende Schilderung ist einer Veröffentlichung über die Entstehung unserer Republik entnommen: ‚Inzwischen dunkelte es, 22 große Scheinwerfer warfen ihr Licht auf die Tribüne, Fackeln flammten auf, weitere Repräsentanten des neuen Staates sprachen. Vom Brandenburger Tor her nahte ein Fackelzug von mehr als 40000 Mädchen und Jungen der Freien Deutschen Jugend. Als sie am Platz angekommen waren, sprach Erich Honecker, der Vorsitzende der FDJ, das Gelöbnis der Jungend: „Wir, die deutsche Jugend, geloben der Deutschen Demokratischen Republik Treue, weil sie der Jugend Frieden und ein besseres Leben bringen will und bringen wird. … Wir grüßen aus tiefstem Herzen das Neue, unsere strahlende, freudige Zukunft!“ Präsident Wilhelm Pieck dankte mit bewegten Worten für die Liebe und die Herzlichkeit, die ihm entgegengebracht wurden. Und dann begann die größte Demonstration
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Auffällig war dabei die Bedeutung, die Wilhelm Pieck in beiden Texten zugemessen wurde. An ihn adressierte die Masse ihre emotionale Verbundenheit, mit ihm personalisierte sich die Staatengründung. Pieck wurde später immer wieder als großväterliche Figur inszeniert, was weder mit Ulbricht noch mit Honecker geschah. Insgesamt soll die genauestens bestimmte Verortung der Abbildung innerhalb der Unterrichtsstunde dazu dienen, die Gründung der DDR „emotional betont“ abzuschließen.47 Umso bemerkenswerter ist, dass dem individuellen Bürger im Zeitgeschehen keine tragende Rolle zugemessen wird. Dieser repräsentiert und belegt zwar die vermeintliche Spürbarkeit der angekündigten Veränderung, für die er in kollektive Zeugenschaft tritt, ohne identifizierbar zu werden. In der Gründungserzählung lässt er sich auf den Statisten reduzieren, ohne dass die Bedeutung des geschilderten Ereignisses infrage steht. Die Sinnkonstruktion des Abschnitts bildet eine durch und durch historische Größe, insofern ‚Sinn‘ an den Bruchstellen von Geschichte erfahrbar wird. Diese Bruchstellen vollziehen sich nach marxistischer Geschichtsteleologie gesetzmäßig in aufeinander folgenden Übergängen einer Gesellschaftsform zur nächsten.48 Sinn ist demzufolge kollektive Zugehörigkeit und Zeugenschaft für das historische Ereignis der Staatengründung, das als zentraler Umbruchpunkt auf dem Weg zur Erfüllung der Geschichte deutbar wird. Die Geschichtserzählung konstruiert die historische Voraussetzung für die Etablierung des Sozialismus, die erst durch die Transformation des Einzelnen zur elitären Weltanschauungsgemeinschaft der neuen Menschen wird. Dementsprechend wird die persönliche Veränderung des Menschen durch Arbeit als wesentliches Moment eines sozialistischen Bewusstseins ausführlich thematisiert.
c) Weltanschauung als Erlebensgröße: die Transformation des Arbeiterhelden Bleibt die Rolle des Einzelnen in den Gründungsgeschichten von Partei und Staat der marxistischen Geschichtsdeutung untergeordnet, ändert sich dies in der Schilderung des wirtschaftlichen Neuanfangs, der mit dem Arbeiterhelden Adolf der Nachkriegszeit. FDJler und Werktätige aus Betrieben Berlins und anderer Städte der Republik grüßten ihren Präsidenten. Immer wieder erscholl der Ruf: „Es lebe unser Freund Wilhelm Pieck!“‘“ Fippel (1982): Bildergeschichten, S. 516. 47 Fippel (1982): Bildergeschichten, S. 516. 48 Laut marxistischem Geschichtsevolutionismus entwickelte sich die menschliche Gesellschaft durch einen dialektisch vorangetriebenen Fortschrittsprozess in vier verschiedenen universalhistorischen Entwicklungsstufen: Urgesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus und Kapitalismus. Der Sozialismus ist dabei ein notwendiges Durchgangsstadium zum Endziel, der klassenlosen Gesellschaft im Kommunismus. Überblicksartig und verständlich erläutert bei: Wiersing, Erhard (2007): Marx. Historischer Materialismus und Universalgeschichte. In: Geschichte des Historischen Denkens. Zugleich eine Einführung in die Theorie der Geschichte. Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh, S. 395–413, hier: 407 f.
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Hennecke ein Gesicht erhält. Grundsätzlich plausibilisiert wurde das in der sozialistischen Arbeitsethik angelegte alltägliche Heldentum durch die nach sowjetischem Vorbild gestaltete und in der „Aktivistenbewegung“ der 1950er Jahre umgesetzte Heldenkonstruktion49, die in Arbeiterhelden wie Adolf Hennecke oder Frieda Hockauf personalisiert wurden. Der 1905 in eine Bergarbeiterfamilie hineingeborene Hennecke wurde 1948 schlagartig zum berühmtesten Arbeiter der DDR, nachdem er in Absprache und auf Veranlassung mit den politischen Funktionsträgern sein tägliches Arbeitssoll um 287 % übererfüllte und damit die am sowjetischen Vorbild angelehnte Aktivistenbewegung einleitete. Ökonomiepolitischer Hintergrund war der schwergängige wirtschaftliche Aufbau in der Sowjetischen Besatzungszone, die keine Finanzhilfe aus dem US-amerikanischen Marshall-Plan erhielt und hohe Reparationszahlungen an die UdSSR zu leisten hatte.50 Um die drohende Stagnation der Wirtschaft abzuwenden, bereiteten die politisch Verantwortlichen eine Aktion vor, die für einen überdurchschnittlichen Arbeitseinsatz bei vorerst gleichbleibendem
49 Der anti-exklusive Jedermann-Held war bereits in dem aus dem Russischen übersetzten Lehrbuch Gesellschaftskunde von 1963 als Protoyp des sozialistischen Menschen gelobt worden: „Wir sind stolz auf die Taten der Generationen von Wassili Tschapajew und Sergej Laso, Nikolai Ostrowski und Arkadi Gaidar, Oleg Koschewoi und Soja Kosmodemjanskaja. Einige Jungen und Mädchen meinen, daß es in der heutigen Zeit keinen Platz mehr für Heldentum und Kampfesmut gebe, und sind fast neidisch auf jene, die vor ihnen lebten. Im Leben jedoch ist immer Raum für Heldentaten. Man muß die Aufgaben seiner Zeit nur richtig begreifen und sie mutig lösen.“ Vgl. Gesellschaftskunde (1963): S. 318. Die Personen waren für die Schüler der DDR keine Unbekannten. Neben Bürgerkriegshelden handelt es sich um die Literaten Nikolai Ostrowski und Arkadi Petrowitsch Gaidar, Verfasser der zur Schulpflichtlektüre zählenden Romane Wie der Stahl gehärtet wurde, und Timur und sein Trupp, sowie die sowjetischen Partisanen des Zweiten Weltkriegs Oleg Koschewoi und Soja Kosmodemjanskaja, beide posthum als Helden der Sowjetunion ausgezeichnet und dementsprechend auch im sozialistischen Heldenkabinett der DDR vertreten. Nach Kosmodemjanskaja waren zahlreiche Polytechnische Oberschulen benannt, in der seit 1952 gebräuchlichen methodischen Anleitung Handbuch des Pionierleiters waren beide Personen mit Bild und Kurzbiografie verzeichnet. Aus Ermangelung eigenen Schulungsmaterials für die innerhalb der Kinderorganisation Junge Pioniere, später Thälmann-Pioniere, tätigen Erzieher wurde in der DDR in den 1950er Jahren ebenfalls eine russische Übersetzung verwendet. Die für 1961 geplante DDRVersion wurde rasch wieder aus dem Verkehr gezogen, vgl. Wierling, Dorothee (2002): Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektivbiographie. Berlin: Chr. Links, S. 143. 50 Hermann Weber resümiert: „[D]ie Wirtschaft der der SBZ/DDR [wurde] bis 1953 mit der riesigen Summe von 54 Milliarden Mark zu laufenden Preisen (bzw. 14 Milliarden Dollar) belastet […]. Damit mußte das von der UdSSR besetzte Gebiet zur Wiedergutmachung der von Deutschland im Krieg verursachten Schäden unvergleichlich mehr betragen als in den Westzonen. Unter diesen Umständen erreichte die Industrieproduktion der SBZ 1946 lediglich 22 Prozent der Pro-Kopf-Produktion von 1936. Entsprechend niedrig war der Lebensstandard.“ Ders. (2006): Die DDR. 1945 bis 1990. München: Oldenbourg, 4. durchges. Auflage, S. 12.
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Lohn werben sollte und dafür an die moralische Integrität des sozialistischen Menschen appellierte. Hennecke wurde zum Vorbild des durch Arbeit Gewandelten, der den wirtschaftlichen Neuaufbau vorantreibt und den Erfolg des Sozialismus auf personaler Ebene bezeugt. Die Inszenierung Henneckes verändert die Belegstruktur des Textes: Die partei- und staatspolitische Erfolgsgeschichte des Sozialismus wird auf die Figurenebene transferiert und soll dokumentieren, dass mit der Entstehung des neuen Staates die Grundlage eines auch für den Menschen und dessen Charakter folgenreiches Verän derungspotenzial freigesetzt wird. Die enge Verschränkung von sowjetischer und ostdeutscher Tradition durch die „Der Bergmann Adolf Hennecke wurde Konstruktion einer gemeinsamen, zum allen anderen Arbeitern ein Vorbild einer neuen Einstellung zur Arbeit in den volksTeil schulisch über dieselben Figuren eigenen Betrieben“, Staatsbürgerkunde 7 und Narrative implementierten Er- (1968): S. 37. innerungskultur zeichnet sich auch in der Form der Weltanschauungsdidaktik ab. Die Normübererfüllung ist Ausdruck der sozialistischen Moral und wird über verschiedene Fokalisationsinstanzen, mit denen Sozialismus als erlebbare Größe inszeniert wird, vermittelt. Die Hennecke-Erzählung beginnt mit der Einführung des Charakters: „Wie die Werktätigen unter der Führung der Partei der Arbeiterklasse die gestellte Aufgabe [den wirtschaftlichen Aufbau] in Angriff nahmen, zeigt die beispielgebende Tat des Bergmanns Adolf Hennecke vom Karl-Liebknecht-Schacht in Oelsnitz. Adolf Hennecke, ein klassenbewußter Arbeiter, Mitglied der SED, machte sich mit anderen Genossen Gedanken, wie die Kohleproduktion entscheidend gesteigert werden konnte. Am 13. Oktober 1948 förderte er in einer Sonderschicht anstatt 6,3 cbm, das war sein Tagessoll, 24,4 cbm Steinkohle! Heftig diskutierten die Kumpel Henneckes über das Ergebnis seiner Sonderschicht.“51
Hennecke wird dem Leser zuerst als politisch zuverlässiger Genosse präsentiert, dessen Aktivistentat sowie die Reaktionen der Arbeitskollegen knapp vor 51 Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 36.
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weggenommen, bevor beides im Lehrtext ausgeführt wird. Zuerst wendet sich Hennecke selbst in einer Rede an seine Kollegen aus dem Steinkohleabbau: „Adolf Hennecke fünf Tage nach seiner Sonderschicht in einer Versammlung vor den Vertretern der 6000 Steinkohlekumpel des Karl-Liebknecht-Schachtes ‚Wir sind jetzt die Besitzer unserer Schächte. Wir müssen lernen, diesen Besitz zu gebrauchen. Wir haben zwei Jahre lang immer auf etwas gewartet. Wir haben gedacht, es kämen Verfügungen und Verordnungen, wie wir dieses oder jenes machen sollten. Aber von wem sollen diese Verfügungen kommen, wenn nicht von uns? Deshalb habe ich angefangen. Als erstes müssen wir eine neue Arbeitsorganisation verordnen. Glaubt mir: Meine Schicht war nicht außergewöhnlich. Ihr könnt sie nachmachen. Ihr könnt mich überbieten. Ich helfe euch noch dabei! Ihr müßt nur Ordnung halten im Schacht […]. Spart eure Muskelkraft, strengt dafür das Köpfchen an. Ihr merkt es dann bald an eurem Portemonnaie!‘“52
Der durch Kollektivierung veränderte Besitzstand soll die Arbeiter davon überzeugen, die Arbeitsnormerfüllung als Verpflichtung und Eigenverantwortlichkeit zu begreifen. Die mehrfach mit den Personalpronomen der 1. und 2. Person Plural Nominativ („wir“, „ihr“) beginnenden Sätze suchen Gruppenidentität und Gleichberechtigung zu stärken. Zwar deutet die Figur ihre Sonderschicht als Beginn einer neuen Arbeitsorganisation, diese soll aber personenunabhängig und für jeden reproduzierbar, sogar überbietbar sein. Der Appell lag im Interesse der politischen Führung, die einen Jedermann-Helden konstruierte, der zum Nachahmen einladen sollte. Vereinnahmungsrhetorik und Betonung von Eigenverantwortlichkeit und Einsatzbereitschaft standen realpolitisch freilich im Gegensatz zur zentralistischen Planwirtschaft. Der Hinweis auf die nach Leistungsprinzip gesonderte Vergütung verweist auf diese Spannung. Das Lehrbuch verschweigt denn auch die Umstände, unter denen Henneckes Worte bezeugt sind. Tatsächlich war seine erste große Rede vor den eigenen Arbeitskollegen weit davon entfernt, ein Erfolg zu werden: Wie die Historikerin Silke Satjukow aus den Quellen des Bundesarchivs in Berlin herausarbeitete, stritt Hennecke lautstark mit seinen Kollegen über deren „Hamsterfahrten“ während der Arbeitszeit und wurde für seine Rolle als Vorzeigearbeiter scharf kritisiert. Das Zitat entstammt dem fast verzweifelten Versuch, die Kollegen doch noch für die Akkordarbeit zu gewinnen.53 Der Lehrbuchtext gibt freilich ausschließlich positive Reaktionen auf Henneckes Sonderschicht wieder: 52 Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 36. 53 Vgl. Satjukow, Silke (2002): „Früher war das eben der Adolf…“ Der Arbeitsheld Adolf Hennecke. In: dies./Gries, Rainer (Hg.): Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR. Berlin: Chr. Links Verlag, S. 115–132, hier: 122. Satjukow verweist auf folgende Quelle des Bundesarchivs: NY 4177, Az: 10, Aufzeichnungen von Adolf Hennecke.
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„Ein anderer Kumpel später über die Tat Adolf Henneckes ‚Nicht etwa, daß die Begeisterung gewaltig gewesen wäre. Aber weil wir ehrlich waren, machten wir mit. Aber nach ein paar Tagen hoben wir alle den Kopf. Da war etwas Neues: das Vertrauen in uns selbst. Wir begannen die Kraft zu spüren, von der Hennecke und seine Genossen immer redeten… Die Förderergebnisse in unserer Grube stiegen sprunghaft.‘“54
Anführungsstriche und Inquit-Formel kennzeichnen den Einschub als Zitat, womit eine weitere, explizit vom Haupttext zu unterscheidende Sprecherposition etabliert wird, die den Bericht einer männlichen Figur wiederzugeben fingiert.55 Sowohl Satzzeichen und einführende Formel als auch die dramaturgisch inszenierte Darstellung vom Einstellungswandel der Arbeiter sind als Fiktionalitätsmerkmale identifizierbar. Das Gesagte lässt sich erzähltheoretisch als zitierte Figurenrede bestimmen, in der durch einen anonym bleibenden Kohlearbeiter perspektiviert wird. Das Motiv des Einstellungswandels baut auf dem Hinweis auf die anfängliche Skepsis der Kumpel auf, verweist gleichzeitig aber indirekt auf die kontroversen Reaktionen, die die Sonderschicht Henneckes auch in der Bevölkerung hervorrief, und die den Erfolg der Aktion durchaus hätten gefährden können.56 Im Text werden die Bedenken jedoch sofort entkräftet und ins Positive gewendet: „Aber weil wir ehrlich waren, machten wir mit.“ Der Verweis auf Ehrlichkeit als Begründung für die Teilnahme an der Aktion ist argumentativ nicht unbedingt schlüssig, vielmehr dient er dazu, Rechtschaffenheit im Allgemeinen als Attribut des sozialistischen Arbeiters auszuweisen. Dessen Engagement zahlt sich denn auch aus, die Erzählinstanz umschreibt eine nach wenigen Tagen eintretende Veränderung: „Da war etwas Neues, das Vertrauen in uns selbst. Wir begannen die Kraft zu spüren, von der Hennecke und seine Genossen immer redeten…“ Das Überführen des substantivierten Adjektivs neu in die Metapher der spürbar werdenden Kraft eröffnet einen Assoziationsraum, der durch die drei Auslassungspunkte am Satzende zusätzliche Verrätselung erfährt. Dieses Offenlassen lässt sich wirkungstheoretisch als die Installierung einer im Text deutlich markierten Leerstelle beschreiben, mit der die Erzählinstanz ein Geschehen ausspart: den Zeitraum der Entwicklung dieses durch engagierte Mitarbeit 54 Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 37. 55 ‚Fingiert‘ ist die Rede deshalb, weil sie auf Grund ihres fiktionalen Stils als „fingierte Wirklichkeitsaussage“ (Käte Hamburger) gelten kann, vgl. auch Kapitel 3 zur Methode. 56 Nicht nur bei den Bergarbeitern war die Sonderschicht höchst umstritten, auch in der Bevölkerung wurde sie sehr unterschiedlich aufgenommen: Begeisterte Anhänger schrieben Hennecke Briefe und Gedichte, andere warfen Fensterscheiben ein und zündeten sein Auto an. Vgl. Gries, Rainer/Satjukow, Silke (2002): Von Menschen und Übermenschen. Der „Alltag“ und das „Außeralltägliche“ der „sozialistischen Helden“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Zeitung Das Parlament Nr. 17, S. 39–46, hier: 41 f. sowie Satjukow (2002): „Früher war das eben der Adolf…“, S. 125. Bei den von Satjukow ausgewerteten Materialien aus dem Bundesarchiv Berlin sind auch Protestbriefe und Morddrohungen dabei.
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ausgelösten Neuen, das schließlich als Selbstvertrauen identifiziert wird. Die Auslassungspunkte markieren den Zeitraum der inneren Wandlung bis zum tatsächlichen Anstieg der geförderten Kohle: „von der Hennecke und seine Genossen immer redeten … Die Förderergebnisse in unserer Grube stiegen sprunghaft.“ Der Schulbuchtext nutzt an dieser Stelle Stilmittel und Textfunktionen zur Spannungserzeugung; die Leerstelle eröffnet Deutungspotenziale, insofern die ungeschildert bleibenden, zeitlich gerafften Vorgänge die Vorstellungsbildung des Rezipienten anregen und Raum für Bedeutungsprojektionen schaffen, die vom Topos der Wandlung zum sozialistischen Menschen durch Arbeit umrahmt ist. Das Wandlungsmoment bleibt dem weiteren Lehrbuchtext als narrative Struktur unterlegt, insofern der erzieherische Erfolg der sozialistischen Gemeinschafts arbeit vorwiegend anhand von Figurenreden belegt, die Argumentation und Plausibilisierung damit Zeugen überantwortet wird. Stellvertretend sollen hier zwei Textstellen hervorgehoben werden, die laut methodischer Konzeption die Wirkung der Aktivistentat exemplifizieren sollten, allerdings unterschiedliche Perspektiven auf das Motiv der inneren Wandlung und damit auf die sozialis tische Weltanschauung werfen: Die Deutung als psychologisches Geschehen konstruiert Weltanschauung als Erlebensgröße, wohingegen die Beschreibung als kognitiver Prozess diese zum Ergebnis einer inneren Reflexion stilisiert.
Der Erzähler als Erzieher und moralische Instanz – Die innere Wandlung als Motiv der sozialistischen Literatur Die Hennecke-Rekordschicht wurde explizit als literarisches Thema aufgegriffen. 1959 veröffentlichte die Schriftstellerin Regina Hastedt einen Reportageroman unter dem Titel Die Tage mit Sepp Zach, in dem eine weibliche Erzählinstanz am Alltag von Kohlearbeitern teilnimmt mit dem Ziel, daraus eine Reportage zu verfassen.57 Die in der Tradition des sozialistischen Realismus gehaltene Erzählung wird auszugsweise im Staatsbürgerkundebuch abgedruckt: „Die Lehrlingsgruppe ‚Paul Voitel‘ fährt Henneckeschicht und reißt die ‚Alten‘ mit (von Regina Hastedt) … Auf dem Schacht erfuhr ich, daß die Lehrlingsgruppe ‚Paul Voitel‘ anläßlich des Besuches der beiden alten Bergarbeiterfunktionäre eine Henneckeschicht fährt, und 57 Vgl. dies. (1960): Die Tage mit Sepp Zach. Berlin: Verlag Tribüne, Sonderausgabe für die kleine Hausbibliothek. Die Betriebsreportage bildete in der DDR ein eigenes literarisches Genre, das sich durch dokumentarisch-journalistischen Stil einerseits und eine deutlich gekennzeichnete Erzählinstanz andererseits auszeichnete und ein „ideologisch-erzieherisches Instrument“ bildete, das den Rezipienten auch emotional ansprechen sollte, vgl. Art. Reportage, in: Metzler Lexikon DDR-Literatur, hg. von Opitz, Michael/Hofmann, Michael. Stuttgart: Metzler 2009, S. 275.
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zwar ausgerechnet in meinem Ort. Ich zog mit meinen Leuten durch die Strecken wie in eine Schlacht. Diese Batzis, diese Grünschnäbel! Als wir ankamen, hatten sie sich fein postiert, am Ausgang des Ortes, wo die Rutsche in das Fließband mündet. Wir würdigten sie keines Blickes. Oben angekommen, sagte ich: ‚Kollegen, wenn die Rotzjungen auch nur eine Schaufel Kohlen auf die Rutsche bringen, will ich nicht mehr Zach heißen!‘ Wir teilten uns alles ganz genau ein. Die Jungen unten hatten schon angefangen und schrien ungeduldig: ‚Förderung einschalten!‘ Sollen sie ihr Vergnügen haben. Dann legten wir los. Nach etwa einer Stunde kam ein Junge und fragte: ‚Was macht ihr eigentlich?‘ ‚Kohlen!‘ ‚Aber soviel? Wir kriegen unten nichts weg!‘ Später schickten wir einen Mann runter. Da saßen die Jungen auf ihrer Kohle. Sie hielten aus, hoffend, in der Pause etwas wegzukriegen. Aber wir frühstückten einzeln. Sie brachten keine Schaufel auf die Rutsche. Wir hatten gewonnen. Übertage gab es großes Hallo. Mit Braun und Latts an der Spitze hatte die Grube zum ersten Mal seit Monaten ihren Plan erfüllt. Meine Ortsbelegung schaffte das meiste, und wir konnten uns alle etwas aussuchen. Ich stand da wie ein Dummer ohne Uhr. Den Jungen wollte ich die Henneckeschicht verkümmeln, und nun hatte ich – Gottsverdammich! Aber wer blamiert sich gern? Also nahm ich den Anzugstoff entgegen, als hätte ich es den ganzen Tag nur darauf angelegt gehabt. Auf dem Hof standen die Jungen mit traurigen Augen. ‚Ihr wolltet wohl auch neue Anzüge?‘ ‚Nicht so sehr… Aber wir wollten…‘ ‚Der Hennecke, das ist unser Held…‘ Sie sprachen alle durcheinander. ‚Und ihr wolltet wohl auch Helden sein!‘ ‚Ja!‘ ‚Vielleicht!‘ ‚Mal probieren…‘ ‚Na schön. Dann probiert es morgen noch mal. Da geht ihr ’rauf. Und wehe, wenn wir unten eine Schaufel Kohle auf die Rutsche bringen!‘ ‚Ja?‘ Wie sie mich anstrahlten! Jugend braucht Vorbilder. Und das schlechteste ist der Hennecke nicht. Am anderen Tag fuhr ich eine Stunde früher ein und holte mir aus einem anderen Ort Rutschenbleche mit größerem Profil. (Das war unkollegial – aber wenn die Jungen Helden werden wollten?) Die tauschte ich in meinem Ortsausgang gegen die Normalrutschenbleche aus, so daß wir unsere Kohle gut mit aufschaufeln konnten. Die Jungen kamen von oben. Erst zum Schichtwechsel sahen sie die Bescherung. Und neidlos sagten sie: ‚Ihr Alten wißt eben doch mehr Tricks!‘ Konnte ich sagen, daß ich ihretwegen gemaust hatte? Also lehrte ich ihnen am anderen Tage anständig pickern. Dann sah ich, daß sie umständlich ausbauten. Ich zeigte ihnen, wie man das schneller macht. Die Jungen lachten. Wie sie lachen konnten! Zum Frühstück gab mir einer Kohlrabi. In den nächsten Wochen arbeitete ich wie nie zuvor, und abends fiel ich tot ins Bett. Manchmal, vor dem Einschlafen, lauschte ich in mich hinein. Da war etwas Neues. Ich begann die Kraft zu spüren, von der Hennecke und seine Genossen immer faselten. Ich war fünfundvierzig und dachte, ich sei ausgewachsen. Und nun kam das über mich. So gewaltig, so überwältigend, daß ich nicht wußte, wohin mit mir selbst. Da schlug ich dem Adolf einmal richtig auf die Schultern. Bis ich darüber sprechen konnte, das dauerte noch Jahre. Aber unser Sein entwickelte sich schneller als das Bewußtsein. Bald kam alles: Kleidung, Fahrräder, Radio, Brot. Vor allem Brot.“58
58 Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 37 f.
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Die Inquit-Formel kennzeichnet den Auszug als literarischen Text59, in dem ein Geschehen aus der Sicht einer männlichen Erzählinstanz geschildert wird.60 Diese berichtet, wie eine Gruppe junger Lehrlinge angesichts des Besuchs zweier ‚Bergarbeiterfunktionäre‘ eine Rekordschicht plant, von älteren Bergarbeitern aber hineingelegt wird, die sich einen Spaß daraus machen, soviel Kohle zu fördern, dass die unerfahrenen Kumpel den Abtransport nicht bewältigen können. Der Text zeichnet sich durch einen starken homodiegetischen Erzähler aus, von dem der Leser nach und nach erfährt, dass dieser männlich, 45 Jahre alt und ein Bergarbeiter mit dem Namen Zach ist. Als Teil der erzählten Welt fokalisiert die Figur nicht nur das Geschehen, sie ist auch als Akteur präsent und tritt durch die Ich-Form grammatisch deutlich in Erscheinung. Die zitierte Figurenrede vermittelt die Ereignisse unmittelbar und kennzeichnet den Text zusätzlich als fiktional. Der pejorative Stil in der Abgrenzung des Bergarbeiters von den Lehrlingen macht dessen späteren Einstellungswandel umso deutlicher: Die Geschichte erlangt einen Wendepunkt, als sich die Erzählinstanz vom überlegenen Kumpel zum Lehrer und Mentor der Jugendlichen entwickelt, dessen eigene Vorbildfunktion wiederum auf ihn selbst zurückwirkt. Die Wendung wird eingeleitet durch das Befremden, das der Erzähler anlässlich seiner Belohnung verspürt, und durch eine als Gedankenstrich gekennzeichnete Leerstelle im Text markiert: „Den Jungen wollte ich die Henneckeschicht verkümmeln, und nun hatte ich – Gottsverdammich!“ Das was hier offen bleibt, wird zwei Sätze später klarer, als die Figur realisiert, dass ihre Rekordschicht nicht als erzieherische Maßnahme verstanden, sondern als Ausdruck eines wirtschaftlichen Bedürfnisses interpretiert wurde. Die materielle Anerkennung irritiert den Erzähler aber, und er distanziert sich davon: „Also nahm ich einen Anzugstoff entgegen, als hätte ich es den ganzen Tag nur darauf angelegt gehabt.“ Diese Aussage ist vielleicht die bedeutsamste des gesamten Textausschnittes, insofern sich hier ein zentrales Parameter der narrativen Welt abbildet, auf das später noch zurückzukommen ist. Dem Dialog zwischen Erzählinstanz und Lehrlingen ist das Ideal der sozialistischen Arbeit als etwas Heldenhaftem unterlegt. Nach den Motiven für die Rekordschicht gefragt, antwortet einer der Jugendlichen: „Der Hennecke, das ist unser Held…“ Die drei Auslassungspunkte eröffnen einen Assoziationsraum für das Heldische, das allerdings spezifisch gefüllt werden soll. Die fachdidaktische Literatur gibt Auskunft über die mit der Darstellung verfolgte Intention, wobei die in der Geschichte inszenierte Emotionalität interessanterweise unreflektiert 59 Die Quelle ist nicht näher spezifiziert, dass es sich um einen literarischen Text handelt, geht aus der Autorenangabe hervor. Über die DDR-Schriftstellerin Regina M. Hastedt (geb. 1921) ist indes nur wenig bekannt; in einschlägigen Lexika bleibt sie nahezu unerwähnt. 60 Im Kontext des gesamten Reportageromans stellt sich dies anders dar: Da ist es die weibliche Erzählinstanz, die die Rede der Figur Sepp Zach wiedergibt. Dies geht aus dem Ausschnitt nicht hervor.
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bleibt.61 Die Ausführungen lassen keinen Zweifel daran, dass das an sich weltliche Ziel – eine moderne und leistungsfähige sozialistische Industrie – durch bestimmte literarische Formen vermittelt werden soll. Es geht dabei aber mehr um eine allgemeine Wirkung als um den transformierten Arbeiter als Akteur, womit die Deutungspotenziale des Textes begrenzt werden. In der literarischen Vorlage wird der Heldentopos indes zum leitenden Narrativ in der Plausibilisierung des sozialistischen Systems62, dessen Bedeutsamkeit für den Menschen in der fernab von persönlichen wirtschaftlichen Interessen geleisteten Arbeit liegt und als pädagogisches Anliegen erklärt wird: „Jugend braucht Vorbilder. Und das schlechteste ist der Hennecke nicht.“ Mit dem Floskelhaften und der doppelten Verneinung gleitet die erzieherische Konnotation nur scheinbar ins Allgemeine ab, denn Untertreibung und Abschwächung sind rhetorische Stilmittel zur Hervorhebung dessen, was dem Schüler so nachdrücklich vermittelt werden soll. Dies verdeutlicht der Verlauf der Geschichte, in der der Bergarbeiter zum Vertrauten und Mentor der Jugendlichen wird. Im Text ist es die Erzählinstanz selbst, die diese Erfahrung und die harte körperliche Arbeit introspektiv als Veränderung reflektiert und beschreibt: „Da war etwas Neues. Ich begann die Kraft zu spüren, von der Hennecke und seine Genossen immer faselten.“ Abgesehen vom abwertenden Verbum „faseln“ sowie dem Verzicht auf drei Auslassungspunkte unterscheidet sich die Wortwahl nur geringfügig von der zuvor zitierten Figuren-
61 Die Unterrichtshilfe legt den methodischen Fokus auf die Wirkung der Aktivistentat Adolf Henneckes und spiegelt damit die Lehrbuchargumentation wider. Diese Wirkung soll in einem Lehrervortrag besonders hervorgehoben werden: „Von den anfangs widersprüchlichen Reaktionen der Arbeiter ausgehend, muß die revolutionäre Wirkung der Tat ins Zentrum der Darstellung gerückt und die Geburt der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung als entscheidende Voraussetzung für die Entstehung und Entwicklung der modernen leistungsfähigen sozialistischen Industrie der DDR gewürdigt werden. Diese Akzentuierung gilt gleichermaßen für die Arbeit mit dem Lehrbuch.“ Und zusammenfassend: „Die Tat Adolf Henneckes hob die Aktivistenbewegung auf eine höhere Stufe. Das war eine wichtige Voraussetzung dafür, daß sich eine moderne und leistungsfähige sozialistische Industrie in der DDR entwickeln konnte.“ Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Klaus Beyer: Staatsbürgerkunde 7. Klasse. Unterrichtshilfen. Berlin: Volk und Wissen 1974, 1. Auflage, S. 81. Die Hennecke-Thematik wird später nicht mehr so detailliert in den Unterrichtshilfen beschrieben wie noch 1974. Der Vorschlag zur Überzeugungsbildung fordert zwar eine „lebendige Darstellung“ der Aktivistentaten, fokussiert insgesamt aber auf die sozialistische Gemeinschaftsarbeit als „Quelle der großen Erfolge“, die in den Dienst der Republik gestellt werden, vgl. Überzeugungsbildung im Staatsbürgerkundeunterricht. Pädagogisch-psychologische Probleme der Überzeugungsbildung im Staatsbürgerkundeunterricht der Klassen 7 und 8. Autorenkollektiv unter der Leitung von Horst Kühn. Berlin: Volk und Wissen 1971, 1. Auflage, S. 97. 62 Der „Arbeitsheld“ bildete einen sozialistischen Typus, der in den verschiedenen sozialistischen Ländern unterschiedliche nationale Ausprägungen erfuhr. Für die Sowjetunion, DDR, Polen, Ungarn und die CSSR vgl. den von Rainer Gries und Silke Satjukow 2006 herausgegebenen Sammelband: Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR. Berlin: Ch. Links Verlag.
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rede von Adolf Henneckes Bergarbeiterkollegen. Die Kernaussage ist durch das Signalwort „Kraft“ markiert, bleibt im Text jedoch eigentümlich unterbestimmt. Als Metaphorik des Gemeinsamen oder Metapher für das Gruppengefühl verstanden, steht sie für gelebten und erlebten Sozialismus. Die wortgetreue Wieder holung ist indes kaum als Zufall anzusehen, zumal sie erzählerisch identisch eingerahmt und textlich kongruent gestaltet ist. Die Erzählung stellt damit das narrative Schema zur Interpretation eines Geschehens bereit, das, in eine feste Struktur gegossen, als innere Wandlung des sozialistischen Arbeiters plausibilisiert wird. Durch die Textstruktur Wiederholung als prototypisch implementiert und über ein bestimmtes Vokabular kodiert, ist auch ein sprachlicher Wiedererkennungswert geschaffen. Durch ihn wird die sozialistische Erfahrung nicht nur anhand einer spezifischen Wortwahl und bestimmter Affekte identifizierbar, sondern auch grammatisch stimulierbar. Die umgangssprachlichen Ausdrücke („faseln“, das an anderer Stelle im Text vorkommende Schimpfwort „Gottsverdammich“) adaptieren den vermeintlichen Arbeiter-Sprachstil und erwecken den Eindruck von glaubhafter Wiedergabe. Zusätzlich authentifizieren sie die Lehrer- und Mentorenrolle des Bergarbeiters, die sich aus dessen Charakter erklärt und sich neben Attributen wie Stärke und Gewitztheit vor allem durch Gutmütigkeit auszeichnet. Es ist das ihm eingeschriebene zutiefst Arbeiterliche, für das der vormals Unterpriviligierte soziale Anerkennung erhält und sich zu einer respektablen Persönlichkeit entwickelt.63 Die Worte „Ich war fünfundvierzig und dachte, ich sei ausgewachsen“ leiten nur scheinbar eine Erklärung der zuvor geschilderten Kraftmetaphorik ein. Stattdessen bricht der Text mit der Lesererwartung, und eine weitere Leerstelle wird implementiert: „Und nun kam das über mich. So gewaltig, so überwältigend, daß ich nicht wußte, wohin mit mir selbst.“ Die übertragene Vertrautheitsgeste des Schulterklopfens bezeugt die Wahrhaftigkeit der Wirksamkeit der Hennecke’schen Aktivistentat, gleichzeitig steigert das Unvermögen des Protagonisten, seine Erfahrung in Worte zu fassen, die Inszenierung des Sozialismus als Erlebensgröße. Dessen Sprachlosigkeit hinterlässt eine Leerstelle, die der Leser freilich nicht beliebig füllen soll: Die an Marx angelehnte Aussage „Aber unser Sein entwickelte sich schneller als das Bewußtsein“ weist ihn in eine definierte Interpretationsrichtung ohne diese ausdrücklich zu nennen. Der vermeintliche Spielraum bewahrt also lediglich formal die Unbestimmtheit und macht das Erlebnis als einen Erkenntnisprozess deutbar, in dessen Verlauf der persönliche Einsatz zum Moment der inneren Wandlung durch Arbeit wird. Deren Erfolg scheint überdies mit der lakonischen Umschreibung des Wohlstandsversprechens garantiert: „Bald kam alles: Kleidung, Fahrräder, Radio, Brot. Vor allem Brot“.
63 Vgl. Gries/Satjukow (2002): Von Menschen und Übermenschen, S. 45.
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Dass das Gemeinschaftsideal nicht an gutmütige Bergarbeiter gebunden bleibt, sondern der Sozialismus als gesamtgesellschaftliche Erlebensgröße zur Kollektiverfahrung wird, soll ein weiteres Schulbuchbeispiel aus der Landwirtschaft illustrieren.
„Vom Ich zum Wir“ – Innere Wandlung als Reflexionsprozess Die innere Wandlung bildet das zentrale Motiv, unter dem auch die Vergenossen schaftlichung der Landwirtschaft erinnert werden soll. Sie ergänzt die Popularisierung der körperlichen Arbeit durch Heldentopos und Kraftmetaphorik um die Parole „Vom Ich zum Wir“. Hinter dieser verbirgt sich die politisch verordnete Kollektivierung, die Teil einer auf unterschiedlichen Kanälen verbreiteten Kampagne war, die die landwirtschaftliche Umgestaltung als historisches Ereignis in den Erinnerungshaushalt der Bürger einzuspeisen suchte.64 Ein Beispiel: Zentrales Medium der sozialistischen Traditionsschreibung bildeten die staatlichen Jubiläumsfeiern, die in der DDR zu einem grundlegenden Erinnerungsort der eigenen Geschichte avancierten. Die Kollektivierung war zentraler Gegenstand einer Ausstellung, die das Museum für deutsche Geschichte im Rahmen der Feierlichkeiten zum zehnten Jahrestag der DDR in Berlin zeigte. Der sozialistischen Landwirtschaft wurde eine eigene Abteilung gewidmet, die Protagonisten der Aktivistenbewegung, unter ihnen Adolf Hennecke, grüßten die Besucher auf einem überlebensgroßen Plakat mit der Losung des V. Parteitages Gemeinsam vorwärts zum Sieg des Sozialismus. Museum und Ausstellung bildeten die „zeitgeschichtliche Bühne“, auf der der siegreiche Sozialismus entworfen und medienwirksam vermittelt wurde.65 Das Motiv der Wir-Gemeinschaft diffundierte in das Staatsbürgerkundebuch. Unter der Überschrift Die Partei der Arbeiterklasse führt die Bauern vom Ich zum Wir wird von der erfolgreichen Umgestaltung der Landwirtschaft berichtet, die formal von Zitaten und einer kurzen erzählenden Episode eingerahmt und in der Losung Die werktätigen Menschen verändern sich selbst systematisiert wird. Die Verweisstruktur ist typisch: Eine Parteientscheidung wird durch ein Klassik 64 Diese wird im Schulbuch als freiwillige „Wir-Wirtschaft“ und „Bündnis“ zwischen Arbeiterklasse und Bauern dargestellt, vgl. Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 58. Zur Kollektivierung vgl. Schöne, Jens (2003): Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in der DDR. In: Eppelmann, Rainer/Faulenbach, Bernd/Mählert, Ulrich (Hg.): Bilanz und Perspektiven der DDRForschung. Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh, S. 254 f. sowie S. 257. 65 Zur Konzeption und Durchführung der Ausstellung vgl. Vorsteher, Dieter (1999): „Ich bin 10 Jahre“. Die Ausstellung im Museum für Deutsche Geschichte anlässlich des zehnten Jahrestages der DDR. In: Gibas, Monika u. a. (Hg.): Wiedergeburten. Zur Geschichte der runden Jahrestage der DDR. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, S. 135–146, bes. 163–143.
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erzitat gerechtfertigt, deren Erfolg anschließend in einer erzählenden Figurenrede dokumentiert. Der Umgang mit den Quelltexten folgt dem marxistischen Autoritätstopos, der eine Historisierung der Texte ablehnt: „Die Partei der Arbeiterklasse konnte sich dabei auf viele Hinweise von Karl Marx, Friedrich Engels und W. I. Lenin stützen. Beispielsweise sagte Friedrich Engels bereits vor über 70 Jahren, 1894, welche Aufgabe die Arbeiterklasse und ihre Partei bei der sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft haben. […] Was Friedrich Engels geraten hatte, wurde seit 1952 in die Tat umgesetzt.“66
Erst die Konstruktion der wechselseitigen Bezogenheit, in der Engels als Ratgeber und Wirtschaftsexperte der gegenwärtigen Verhältnisse der DDR auftritt, deren sozialistische Identität umgekehrt über das unbedingte Befolgen dieser Ratschläge entworfen wird, plausibilisiert den überzeitlichen Geltungsanspruch, der später in der Parole „Die Lehre von Marx und Engels ist allmächtig, weil sie wahr ist“ zur weltanschaulichen Gewissheit werden kann.67 Der Leitsatz „Vom Ich zum Wir“ wird durch eine Erzählepisode, die vom Einstellungswandel eines Bauern zur genossenschaftlichen Landwirtschaft berichtet, als erfolgreiche Überzeugungsarbeit narrativ implementiert. Im Vordergrund steht weniger die Fokalisierung des Sozialismus als Erlebensgröße; die innere Wandlung wird nicht als psychologisches Geschehen, sondern als kognitiver Prozess geschildert: „Wie Irma Wattenbach den Bauern Hermann Kupfer für die genossenschaftliche Arbeit gewann Hermann Kupfer hält sich in seinen Ställen eine sehenswerte Schweinezucht. Hermann Kupfer ist nicht irgendein Schweinezüchter – er ist eine Kreisberühmtheit: bewundert und beneidet von vielen. Seine größte Sorge: Soll denn sein guter, sein kreisberühmter Name in den anonymen drei Buchstaben LPG untergehen? … Irma Wattenbach schickte Hermann Kupfer zu Beratungen und Ausstellungen über Viehzucht. Da kann er nicht nein sagen. Darauf brennt er. Da ist er doch wer, kann er mitreden. Hermann Kupfer lernt, sich ein Bild zu machen. Von Hunderten von Bauern, von Dutzenden von Dörfern. Auch von den Genossenschaften. Sollte die Genossenschaft doch der Stein der Weisen sein … Und so im Vorbeigehen, als sei es nicht der Rede wert, sagte Hermann Kupfer eines Tages: Irma, ich baue uns eine Herdbuchscheinezucht auf, die sich sehen lassen kann. Wie? Hermann Kupfer sagt UNS? Das hat Irma Wattenbach erreicht. Und das ist nicht wenig. 24 Monate später ist die Herdbuchscheinezucht der Genossenschaft in Gleicherwiesen die beste im Bezirk. Und Hermann Kupfer zeigt sie in Markkleeberg. Dutzende von Bauern fragen Hermann Kupfer aus nach Rasse, Kreuzung, Futter, Zeit. Hermann Kupfer redet und redet. Es kommt ihm nicht einmal der Gedanke: Behalt es für dich. Die anderen könnten es nachmachen. Dann bist du nur noch halb so gut.“68 66 Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 58 bzw. 60. 67 Vgl. den Kapitelabschnitt zur Staatsbürgerkunde 10. 68 Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 60.
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Ob es sich um einen Reportagetext handelt, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen.69 Der literarische Charakter des Textes ist hingegen durch grundlegende Fiktionalitätsmerkmale wie das der allwissenden Erzählinstanz bezeugt.70 Diese bleibt selbst zwar unbestimmt und ist auch nicht Teil der erzählten Welt, scheint aber über die Perspektivierung des Geschehens sowie über die von ihr zuweilen kommentierten Gedanken und Gefühle der Hauptfigur Hermann Kupfer auf. Im Zentrum des Textes steht dessen Einstellungswandel gegenüber der genossenschaftlichen Landwirtschaft, der durch erlebte Rede als Prozess nachvollziehbar wird. Stilistisch ist die Veränderung durch drei Auslassungspunkte gekennzeichnet, die das zeitlich unbestimmt bleibende, psychologische Geschehen der inneren Wandlung einrahmen und auf der Textoberfläche markieren. Inhaltlich wird die veränderte Einstellung der Hauptfigur als Resultat einer durch Gespräche mit anderen Bauern angeregten Reflexion beschrieben („Hermann Kupfer lernt, sich ein Bild zu machen“, „Sollte die Genossenschaft doch der Stein der Weisen sein …“). Anders als bei den vorigen Einschüben wird Sozialismus nicht als Erlebensgröße präsentiert, sondern als Ergebnis eines erkenntnisgeleiteten Prozesses. Dementsprechend narrativ und semantisch unterbestimmt bleibt der eigentliche Einstellungswandel: Er wird in der Ereignisschilderung weder besonders markiert noch als emotionales Erlebnis hervorgehoben oder gar mystifiziert, im anschließend kommentierenden Lehrbuchhaupttext dann allerdings explizit als Wandlung beschrieben: „Nichts fanden sie [die Bauern] nach außen hin sichtbar verändert. Dennoch war bei ihnen schon eine entscheidende Veränderung eingetreten, sie waren Genossenschaftsbauern geworden!“71 Die Vergenossenschaft lichung bildet die formale Voraussetzung für die charakterliche Veränderung des Menschen, die sich endgültig im Prozess der sozialistischen Arbeit vollzieht. „Die Werktätigen Menschen verändern sich selbst“ lautet denn auch das program matische Fazit, in dem Arbeit zur „Ehrensache“ erklärt, zum Medium sozialer Integration und als Garant für ein glückliches Leben schließlich ontologisch fundiert wird.72 Die narrative Verschränkung von gemeinschaftlicher Arbeit und charakterlicher Veränderung zeigt, dass die Umstrukturierung der Landwirtschaft nicht 69 Im Schulbuch finden sich keine weitere Angabe zum Text oder seinem möglichen Verfasser. Die Unterrichtshilfen für Klasse 7 sind erst mit der Schulbuchneuausgabe von 1974 in Gebrauch, in der die Geschichte nicht mehr abgedruckt wird. Stattdessen finden sich dort andere Textvorschläge aus der Tageszeitung Neues Deutschland, die stilistisch sehr ähnlich sind. Die im vorliegenden Text handelnden Figuren sind allerdings wie in der Erzählung von Regina Hastedt historisch belegbar: Irma Wattenbach war Vorsitzende der LPG „Freie Scholle“ Gleicherwiesen (Thüringen) und später Abgeordnete der Volkskammer; Hermann Kupfer war Leiter der genannten LPG-Schweinezucht. 70 Zu Fiktionalitätsmerkmalen vgl. erneut Martínez, Matías (2011): Erzählen. In: ders. (Hg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart: Metzler, S. 9 f. 71 Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 60. 72 Vgl. Staatsbürgerkunde 7 (1968): S. 70 f.
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ausschließlich als ökonomiepolitischer Vorgang verstanden werden sollte. Vielmehr implementierte die Schulbuchdarstellung Arbeit als absoluten Wert, der sich daraus generierte, gerade nicht in materielle Wertigkeit übersetzbar zu sein, für den es also kein ökonomisches Äquivalent gab. Die Behauptung, mit der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit ein absolutes Nicht-Äquivalent geschaffen zu haben, wurde zum gesellschaftlichen Versprechen des Sozialismus. Damit erhielt Arbeit eine Konnotation, die andernorts als „zivilreligiös“ bezeichnet wurde73, in der vorliegenden Studie aber nicht als inhaltliches Spezifikum mit definitorischer Charakteristik, sondern einzig als Form der narrativen Rede analysiert wird. Arbeit wurde zum prägenden sozialistischen Topos, der die gesamte Gesellschaft prägte und auch ökonomische und ökonomiepolitische Entscheidungen betraf. Diese wurden immer auch als ethische Debatten des Moralsystems Sozialismus geführt und als Heldengeschichten erzählt.74 Den theoretischen Begründungszusammenhang lieferte die marxistische Arbeitsethik, die auf der Grundannahme basierte, dass Arbeit die notwendige Voraussetzung für die Menschwerdung bzw. das Kriterium des Menschseins bilde. Die „durch Arbeit konstituierte Anthropologie“ des Marxismus stand mit ihrem Motiv des sich durch vernunftgeleitete Tätigkeit entwickelnden Menschen durchaus in der Tradition der europäischen Geistesgeschichte75, erhielt in der DDR allerdings einen eigenen – arbeiterlichen – Bilderkanon.76 Wie stark diese Arbeitsauffassung die 73 Vgl. Schmidt, Thomas (2003): Vom Bürger zum Werktätigen. Arbeiterliche Zivilreligion in der DDR. In: Gärtner, Christel/Pollack, Detlef/Wohlrab-Sahr, Monika (Hg.): Atheismus und religiöse Indifferenz. Opladen: Leske + Budrich, S. 315–336. In Anlehnung an die funktionale Begriffsbestimmung Jean-Paul Willaimes (Zivilreligion als „die Art und Weise, wie eine Gesellschaft ihr Zusammen-Sein“ rituell inszeniert und dabei ein ‚Imaginäres‘ konstituiert), definiert Schmidt Zivilreligion als „allgemein geteilte gesellschaftliche Ideen und Inhalte, denen eine transzendente Fundierung verliehen wird“, vgl. ebd. S. 318. Für sein für die Zivilreligion der DDR entwickeltes Schema bildet Arbeit die Grundlage, die als eigener Wert symbolisch über Rituale, Mythen und Personen vermittelt und über die Geschichtsteleologie des historischen Materialismus in einen ‚sinnhaften‘ Deutungszusammenhang gestellt und damit ‚transzendiert‘ wird, vgl. ebd. S. 321. 74 Neben dem politischen Widerstands- und dem Arbeiterhelden des wirtschaftlichen Aufbaus nennt Rainer Gries den Sportheldentypus, der als Teil der „Heldentrilogie der fünfziger Jahre“ für die Popularisierung des überindividuellen Gemeinschaftsgefühls warb, vgl. ders. (2002): Die Heldenbühne der DDR. Zur Einführung. In: ders./Satjukow, Silke (Hg.): Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR. Berlin: Chr. Links Verlag, S. 88–96. 75 Vgl. Wiersing (2007): Marx. In: Geschichte des Historischen Denkens, bes. S. 397–399. 76 Offiziell in die Tradition der Arbeiterbewegung gerückt, präsentierte sich der Staat mit seiner Flagge, die Hammer, Zirkel und Ährenkranz zierten, als „Arbeiter- und Bauernstaat“. Die Symbolik stand für soziale Integration: Die Mehrheit der Berufstätigen ordnete sich unabhängig von ihrem Tätigkeitsfeld der Arbeiterklasse zu; Arbeit wurde zumindest in den ersten beiden Jahrzehnten der DDR vor allem als Tätigkeit für die Gemeinschaft angesehen und genoss ab 1968 als Recht und Pflicht des Bürgers Verfassungsrang, vgl. Schmidt (2003): Vom Bürger zum Werktätigen, S. 322 sowie S. 323–325.
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Gesellschaft prägen sollte, zeigt auch das offizielle Bild der Schule, die der SED seit jeher als Institution der Arbeiterklasse galt.77 Die Erziehung zum Arbeiter wurde mit der Polytechnisierung schulisch institutionalisiert, Arbeit selbst stand seit 1959 bis zum Ende der DDR im Zentrum der sozialistischen Erziehung.78 Ein Ausblick auf die Schulbuchausgaben zeigt, dass sich Texte und Darstellungsweisen der sozialistischen Arbeit zwar nach und nach verändern.79 Hennecke selbst bleibt bis zum Ende der DDR aber eine zentrale Figur der Geschichtserzählung, die auch für den Geschichtsunterricht nutzbar gemacht wurde.80 Dass Figurenreden und literarische Einschübe insgesamt über die Jahre 77 So der französische Historiker Emmanuel Droit, der das Verhältnis zwischen Schulen und Betrieben in der DDR als wesentlichen Bestandteil des sozialistischen Erziehungssystems beschreibt, vgl. ders. (2006): Die ‚Arbeiterklasse‘ als Erzieher? Die Beziehung zwischen den Schulen und den Betrieben in der DDR (1949–1989). In: ders./Knott, Sandrine (Hg.): Die ostdeutsche Gesellschaft. Eine transnationale Perspektive. Berlin: Ch. Links, S. 35–52, hier 51. Die „Entzauberung der Theorie durch die Wirklichkeit der Praxis“ sorgte allerdings dafür, dass der an die Betriebe herangetragene Erziehungsauftrag nicht sehr gut funktionierte, vgl. ebd. S. 52. 78 Ab 1974 wurden Vorbildcharakter und Bedeutung der Arbeiterklasse für die Jugend sogar juristisch festgeschrieben. Im Gesetz werden die Arbeiter noch vor den Eltern als Erziehungsträger genannt, vgl. Gesetz über die Teilnahme der Jugend der Deutschen Demokratischen Republik an der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und über ihre allseitige Förderung in der Deutschen Demokratischen Republik (Jugendgesetz der DDR) vom 28. Januar 1974, Kapitel 1 Die Entwicklung der Jugend zu sozialistischen Persönlichkeiten, § 2, Abschnitt 1–3. 79 In der Neuausgabe von 1974 entfällt der literarische Text von Regina Hastedt, während die Erzählung vom Einstellungswandel des Bauern Hermann Kupfer in variierter Form vorerst im Schulbuch verbleibt. Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Kurt Schneider: Staatsbürgerkunde 7. Berlin: Volk und Wissen 1975, 2. Auflage der Ausgabe von 1974, vgl. S. 41 sowie S. 56 f. 1978 werden dem Aktivisten Adolf Hennecke weitere Beispiele für den vorbildhaften sozialistischen Arbeiter beigesellt, vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Kurt Schneider: Staatsbürgerkunde 7. Berlin: Volk und Wissen 1978, 1. Auflage, S. 58–61. 80 Auf Hennecke wird in den Jahrgänger 9 und 10 des Geschichtslehrbuchs in Zusammenhang mit der Aktivistenbewegung verwiesen, vgl. Geschichte 9. Geschichte Lehrbuch für Klasse 9. Unter Verantwortung des Zentralinstituts für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfgang Bleyer entwickelt. Berlin: Volk und Wissen 1988, 1. Auflage, S. 270 f.; Geschichte 10. Geschichte Lehrbuch für Klasse 10 Teil I. Unter Verantwortung des Deutschen Instituts für Zeitgeschichte, Berlin, von einem Autorenkollektiv mit diversen Leitern entwi-ckelt. Berlin: Volk und Wissen 1971, 1. Auflage, S. 74 f. sowie Geschichte 10. Geschichte Lehrbuch für Klasse 10. Von einem Autorenkollektiv mit diversen Leitern entwickelt. Berlin: Volk und Wissen 1977/1983, 1. Auflage, S. 82 f. Im Lehrbuch von 1983 erfährt seine Aktivistentat allerdings eine erstaunliche Umdeutung, insofern sie explizit als Konstruktionsprozess einer Heldenfigur reflektiert wird. Im Schulbuchtext heißt es: „In dieser Situation entschlossen sich die SED und die Gewerkschaften, ein Beispiel zu schaffen, das die ganze Arbeiterklasse mitreißen sollte. Ein klassenbewußter Bergmann sollte ein Beispiel geben, wie durch gute Arbeitsorganisation und klugen Einsatz der vorhandenen Arbeitsmittel täglich mehr Kohle zu fördern war. Das Mitglied der SED Adolf Hennecke, ein erfahrener Hauer, übernahm diesen Auftrag.“ Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Heinz Hümmler: Staatsbürgerkunde 7. Berlin: Volk und Wissen 1983, 1. Auflage, S. 61.
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rein quantitativ abnahmen, ist nicht zuletzt eine Generationenfrage. Mit dem Generationswechsel verloren auch die persönlichen Erlebenszeugnisse an Bindekraft.81 Freilich blieben die Geschichts- und Gründungserzählungen sowie das Arbeiter-Narrativ bis zum Ende der DDR wesentliche Bausteine der sozialistischen Identität.
Zusammenfassende Analyse: Form und Inhalt der sozialistischen Weltanschauung und die Struktur der sozialistischen Erfahrung Das Staatsbürgerkundelehrbuch der Klasse 7 konstruiert die sozialistische Weltanschauung zunächst als historische Größe.82 Standortbestimmung und Gründungserzählungen bilden die Grundlage für die Konstruktion der sozialistischen Identität über eine Geschichtserzählung, die auch im Geschichtsunterricht gelehrt wurde.83 Diese nimmt ihren Ausgangspunkt in der russischen Oktoberrevolution und formuliert einen in die Zukunft gerichteten Traditionsentwurf: Mit dem Aufbau der sozialistischen Gesellschaft, deren historische Legitimation über die Abgrenzung zur Bundesrepublik als imperialistischem Staat mit faschistischem Erbe erfolgt, bricht eine neue Zeit an. Weltanschauung bedeutet zunächst, ein historisches Bewusstsein dafür zu entwickeln, auf der Seite der „Sieger der Geschichte“ zu stehen. Die im kollektiven Gedächtnis der Leserschaft als Erinnerung installierte Geschichtserzählung beruht auf der Identifikation
81 Dies zeigt ein Vergleich des einführenden Abschnitts Du und deine Zeit, der besonders in der letzten Schulbuchausgabe von 1988 mit einem vorangestellten Zitat aus dem Partei programm der SED „Der Sozialismus hat bereits auf mehreren Kontinenten Fuß gefaßt“ andere Akzente setzte. Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Heinz Hümmler: Staatsbürgerkunde 7. Berlin: Volk und Wissen 1988, 6. Auflage, S. 4. 82 Es folgt damit dem Gesamtkonzept der „Überzeugungsbildung“, das für die unteren Klassen 7 und 8 einen geschichtlichen Zugang zum Lernstoff vorsah, der erst später theoretisch unterlegt werden sollte, vgl. dazu den Abschnitt zur Staatsbürgerkunde 9 im vorliegenden Kapitel. 83 Die Ausgabe des Geschichtslehrbuchs für neunte Klassen von 1988 endet mit der Gründung der DDR; zuvor war die Gründungserzählung in der entsprechenden äquivalenten Ausgabe Geschichte 10 verhandelt worden, vgl. Geschichte 10. Geschichte Lehrbuch für Klasse 10 Teil I. Unter Verantwortung des Deutschen Instituts für Zeitgeschichte, Berlin, von einem Autorenkollektiv mit diversen Leitern entwickelt. Berlin: Volk und Wissen 1971, 1. Auflage, S. 88 f. sowie 158. Anders als in späteren Schulbuchausgaben wird auf die Gründungserzählung an zwei verschiedenen Stellen mitten im Stoff eingegangen, ein eigenes Kapitel dazu existiert nicht. In den Ausgaben von 1977 bzw. 1983 ist dies anders, dort wurde außerdem ein eigenes Unterkapitel zur Bedeutung der Staatengründung eingeführt, vgl. Geschichte 10. Geschichte Lehrbuch für Klasse 10. Von einem Autorenkollektiv mit diversen Leitern entwickelt. Berlin: Volk und Wissen 1977/1983, 1. Auflage, S. 83–89.
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Zusammenfassende Analyse
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mit den sowjetischen Siegern als den auch moralisch „Guten“. Deren Überlegenheit ist fest im politischen System verankert und wird mit der Inanspruchnahme von Wissenschaftlichkeit als Grundlage parteipolitischen Handelns systemisch legitimiert. Damit sind die formalen Voraussetzungen für die Konzeption des sozialistischen Menschen geschaffen, dessen Werden mit den Entwicklungsgeschichten der Arbeiterheldenfiguren in ein narratives Schema überführt wird, das Weltanschauung erst als persönliches Erleben aus Figurenperspektive darstellbar macht. Dass die sozialistische Arbeit den Menschen formt und zugleich das moralische Produkt der sozialistischen Gesellschaft ist, gewinnt in den Geschichten um die innere Wandlung der Arbeiterfiguren Anschauung. Diese beanspruchen zudem, ein Interpretationsschema für die Frage nach der individuellen Bedeutsamkeit des Sozialismus bereitstellen.84 In der Darstellung fallen die Erzählmerkmale des Heldischen mit den Inhalten der Weltanschauung zusammen: Weltanschauung wird als erlebbare Größe konstruiert, die auf das Individuum als spürbar werdende Kraft durch sozialistische Gemeinschaftsarbeit einwirkt und einen Einstellungswandel der Figuren hervorruft, der sich sowohl im Erleben als auch im Handeln durch gegenseitige Hilfe und Einsatz für das Kollektiv als Wir-Gemeinschaft erweist. Die Aktivistenkampagne sollte dazu beitragen, Arbeit medienwirksam als festen Bestandteil der Erinnerungskultur und emotional besetzten Wert im Leben jedes DDR-Bürgers zu installieren. Der weltanschaulich aufgeladenen Popularisierung des sozialistischen Arbeitsideals waren drängende ökonomische Probleme unterlegt: Mangelwirtschaft und Unterernährung in den Aufbaujahren standen der staatlichen Forderung nach Mehrarbeit bei gleichbleibendem Lohn unversöhnlich gegenüber. Die den Topos der Bescheidenheit verkörpernde Figur des Arbeiterhelden und dessen Werbung für Konsumverzicht zu Gunsten der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft werteten den Arbeiter als moralische Instanz auf und suchten über die ökonomischen Interessen und Notwendigkeiten der Mehrarbeit hinwegzutäuschen. Mit dem wirtschaftlichen Aufbau konnten die drängendsten sozialen Probleme entschärft werden, die Erfüllung des Plans blieb jedoch ein Problem in der DDR, was eine Popularisierung der sozialistischen Arbeit auch weiterhin notwendig machte. Das Schulbuch von 1968 bemühte mit Adolf Hennecke allerdings einen Helden, der in der DDR längst nicht mehr präsent war, und griff für die Gegenwart auf ein Motiv zurück, das schon 1953 „wiederbelebt“ werden musste. Diese Problematik wird im Schulbuch freilich nicht reflektiert, auch die methodische Konzeption wollte davon nichts wis 84 Die Frage nach der Bedeutsamkeit wird mehrfach in den Lehrbüchern der 1980er Jahre aufgegriffen. Das Staatsbürgerkundelehrbuch der zehnten Klasse formuliert mehrfach die rhetorische Frage ‚Was hat das alles mit mir zu tun?‘, vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Otto Reinhold: Staatsbürgerkunde 10. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage 1984.
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sen. Ganz im Gegenteil wurde der Unterricht der Klassen 7 und 8 als besonders anschaulich bewertet und dem Schüler eine enge Beziehung zur Thematik und den historischen Heldenfiguren attestiert, deren Wirksamkeit an keiner Stelle infrage stand.85 Die Belohnungsstruktur der Normübererfüllung zeigt, wie tief der Widerspruch war, auf dem das Konzept Arbeit aus Idealismus basierte. Interessant ist, wie dieser Widerspruch in der literarischen Inszenierung ins Positive zu wenden versucht wird, wenn die Bergarbeiterfigur Zach die Worte spricht: „Also nahm ich den Anzugstoff entgegen, als hätte ich es den ganzen Tag nur darauf angelegt gehabt.“ Sein Ausdruck des Befremdens formuliert im Kern die sozialistische Arbeitsmoral und Weltanschauung, denn sie charakterisiert ihn als Menschen, der bedürfnislos für die Sache einsteht und damit das Ideal verkörpert, das fest im Schüler und dessen Erinnerungshaushalt installiert werden sollte. Dass es ausgerechnet der Staat selbst ist, der mit der Belohnungsmaßnahme sein eigenes Ideal konterkariert, hat unmittelbare Konsequenzen für die narrative Welt, in die der Sozialismus gestellt wird: Mit dem materiellen Anreiz für die Sonderschicht bleibt ein kapitalistisches Element die Bezugsgröße des Textes, womit die Behauptung von der wesenhaften Verschiedenheit der Systeme und damit die MetaErzählung Sozialismus insgesamt infrage steht. Das Befremden des Arbeiters als Ausdruck seiner moralischen Integrität hingegen führt eine ‚transzendente‘ Größe, das Gute als Wertkategorie, ein. Dieses Gute ist jedoch nur insofern ‚transzendent‘, als dass es als externer Faktor in die narrative Welt einbricht und dort ein Veränderungspotenzial freisetzt, narra tologisch gesprochen: indem es rein formal als Bruch der Diegesis inszeniert wird. Das Attribut des Neuen, die Kraftmetaphorik, die Beschreibung als Energiephänomen sowie Übermächtigkeit und vor allem Unaussprechlichkeit erinnern an Redeformen zur Beschreibung von Mysterien, die in der Religionswissenschaft auch als Konversionserzählungen untersucht werden. Mit ihnen stellt sich die Betriebsreportage in eine bestimmte literarische Tradition. Über diese wird es stilistisch möglich, die Ebene einer reinen ‚Profangeschichte‘, das bedeutet hier: einer Geschichte, die in ein und derselben narrativen Welt verbleibt, in der alle Akteure nach demselben Prinzip beurteilt werden, zu verlassen. Die das Gute markierende Leerstelle („ – Gottsverdammich!“) bildet die verbleibende Ausdrucksform für das Andere, das nur im Erlebnis- und Gedankenbericht des Arbeiters Anschauung gewinnt. Transzendenz wird somit als Bruch der erzähl 85 „Gegenstand des Staatsbürgerkundeunterrichts der Klassen 7 und 8 sind solche Grundfragen unserer gesellschaftlichen Entwicklung, zu denen die Schüler dieses Alters durch ihre eigene gesellschaftlich-politische Tätigkeit enge Beziehungen haben und durch deren Behandlung sie im Sinne der Zielstellung der ideologischen Erziehung in Verbindung mit sicheren Grundkenntnissen politisch-moralische Schlußfolgerungen für ihr Denken, Fühlen und Handeln ableiten.“ Vgl. Überzeugungsbildung (1971): S. 18 sowie 21.
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Zusammenfassende Analyse
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ten Welt beschreibbar, die in Abhängigkeit zum Genre wahlweise mit dem Guten, der Liebe, der Natur, aber auch „Gott“ als externem Faktor besetzt werden kann. Das Attribut religiös ist dieser Betrachtung zufolge eine Genrebezeichnung. Die Inszenierung von Religion oder Sozialismus als Erlebensgrößen folgen rein formal ähnlichen narrativen Strukturen, insofern sie bestimmte Stilmittel zur Plausibilisierung ihrer Inhalte in Anspruch nehmen, die entsprechend auf der Textoberfläche markiert werden. Dass die durch Leerstellen erzeugten Bedeutungspotenziale der Texte in der methodischen Debatte als literarische Technik reflektiert, geschweige denn im Unterricht thematisiert wurden, darf bezweifelt werden. In der entsprechenden Literatur findet sich dazu kein Hinweis. Dies ist nicht verwunderlich, zumal sich rezeptionstheoretische Ansätze innerhalb der fachdidaktischen Forschung in der DDR erst ab Mitte der 1980er Jahre und nur sehr zaghaft entwickelten, und Neuerungen ohnehin stets verspätet im Unterricht ankamen.86 Dies zeigt auf lange Sicht auch die Literaturrezeption in den Staatsbürgerkundelehrbüchern, die bis zum Ende der DDR weder rezeptionstheoretische Überlegungen noch grundlegende literaturwissenschaftliche Differenzierungen erkennen ließen.87 Bleibt die Frage, weshalb die wesentlichen Inhalte der Weltanschauung der Literatur überantwortet werden? Geschichten als literarische Version von Vergangenheit nehmen eine spezifische Rolle im Prozess des kollektiven Erinnerns, bzw. bei dem Versuch, ein Ereignis als Erinnerung zu installieren, ein. Über die Erzählmerkmale des Heldischen wird eine Erinnerungskultur entworfen, in deren Rahmen die Weltanschauung ihre narrative Gestalt gewinnt. Deren komplexer formaler Aufbau
86 Vgl. Czech, Gabriele (2007): Rezeptionsästhetik als Dilemma? Zur Genese der Publikation Literatur und Persönlichkeit. In: dies. (Hg.): „Geteilter“ deutscher Himmel? Zum Literaturunterricht in Deutschland in Ost und West von 1945 bis zur Gegenwart. Frankfurt/Main: Lang, S. 175–189, hier: 176–178. Anhand der Publikation Literatur und Persönlichkeit, 1986 als Gemeinschaftsprojekt der Akademie der Gesellschaftswissenschaften sowie der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR im Volk und Wissen Verlag erschienen, zeigt Czech die Konfliktlinie auf, die in der fachdidaktischen Debatte zum Literaturunterricht bestanden hat. Ansätze einer sich etablierenden Rezeptionsästhetik in der DDR wurden dabei zu Gunsten der Aufrechterhaltung des Erziehungssystems zu unterdrücken versucht, wofür die genannte Publikation ein zentrales Beispiel bildet. Für die Literaturwissenschaft sieht dies anders aus: Ab Anfang der 1970er Jahre entwickelte sich in der DDR ein eigener Zweig der Auseinandersetzung mit der westdeutschen Rezeptionsästhetik. Federführend war das an der Akademie der Wissenschaften angesiedelte Projekt Gesellschaft – Literatur – Lesen, das 1973 eine gleichnamige Publikation hervorbrachte und die Debatte wesentlich bestimmte, vgl. Funke, Mandy (2004): Rezeptionstheorie. Rezeptionsästhetik. Betrachtungen eines deutsch-deutschen Diskurses. Bielefeld: Aisthesis. 87 Als ein zaghafter rezeptionstheoretischer Ansatz gilt: Bütow, Wilfried/Jonas, Hartmut/ Schulz, Gudrun (1987): Junge Leser und Brecht, hg. vom Brecht-Zentrum der DDR. Berlin: Buchhandlung Brecht, Manuskriptdruck.
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prägt den Inhalt: Die zitierten Figurenreden imitieren einen realen autobiografischen Bericht mit Wahrheitsanspruch, für den der Erlebnishorizont der Erzählinstanz zum Prüfstand wird. Die Kategorien des Erzählens sind in diesen Texteinschüben eindeutig bestimmbar: Im Zentrum steht die Testimonialstruktur der Aussagen, deren Glaubwürdigkeit entscheidend von der kontinuierlichen Präsenz der Erzählinstanz abhängt. Durch Figurenrede und Introspektion ist Weltanschauung nicht mehr nur als reine Lehre, sondern auch als das Ergebnis eines persönlichen „Bekehrungserlebnisses“ – narrationsbezogen formuliert: dem narrativen Wendepunkt im Leben des Helden als Motiv und Grundstruktur der Erzählung – anschaulich und emotional darstellbar. Erst in der direkten Rede werden die marxismustheoretischen Grundlagen konkret; diese sind zweifelsfrei zu verstehen, zumal an keiner Stelle formal äquivalente Fremdperspektiven oder Gegendarstellungen zugelassen werden. Zu Wort kommen ausschließlich die Protagonisten und Helden des Realsozialismus. Durch die Illusion der Unmittelbarkeit vom übrigen Lehrtext abgehoben, kommt den szenischen Darstellungen besondere Relevanz für die Bildung eines Kollektivgedächtnisses zu, das gerade solche einprägsamen Episoden einspeist. Die Geschichten kodieren die Erlebnishaftigkeit des Sozialismus emotional und literarisch. Gleichzeitig sind sie für den Topos der Entwicklung des neuen Menschen durch Arbeit repräsentativ, insofern das zentralistische Schulwesen der DDR garantierte, dass zeitgleich alle Schüler der Jahrgangsstufe 7 dieselben Geschichten gelesen haben, die auch im außerschulischen Bereich präsent waren. Durch Wiederholung wird das mehrfach Gelesene und Gehörte in ein Sprachmuster transformiert und in den Erfahrungshaushalt des Schülers integriert. Das Prinzip der Wiederholung ist nicht nur als rein mechanisches Moment zur Verfestigung bestimmter Lerninhalte zu verstehen. Als Redeform nimmt die Wiederholung Anleihen an das Ritualhafte und ist somit ein Indiz dafür, dass mit ihr eine Bedeutungszuschreibung intendiert ist – es sich somit nicht um einen beliebigen Text handelt.88 Als Teil des kollektiven Erinnerungshaushaltes sind die Geschichten für die literarische Konstruktion der sozialistischen Weltanschauung repräsentativ; umgekehrt kann von literarischen Texten auf Elemente des kollektiven Gedächtnisses geschlossen werden. Literatur genießt in diesem Prozess eine Sonderstellung, insofern ihr Privilegien in der Textgestaltung zukommen, die sie für die Konstruktion einer Erinnerungskultur besonders leistungsfähig machen. Das Unterrichtsfach Staatsbürgerkunde war als Teil des kollektiven Gedächtnisses konzipiert, insofern dort historische Ereignisse (Kriegsende, Zusammenschluss von KPD und SPD zur SED oder Staatengründung) durch erzählerische Verfahren ‚sinnstiftend‘ inszeniert wurden. Der Erinnerung an diese historischen Er 88 Zur Wiederholung als Thema der Religionswissenschaft vgl. auch Abschnitt b) Erzählfrequenz: das Element der Wiederholung in Kapitel 3.
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eignisse war das Konzept Antifaschismus unterlegt, womit die unterrichtlichen Narrationen der Aktualisierung und Konstruktion von Vergangenheitserfahrungen, vor allem aber der Vermittlung von Wertvorstellungen dienten. Dass es sich dabei nicht um eine detailgenaue oder ‚faktische‘ Schilderung, sondern um die Konstruktion einer Geschichte handelt, die den „Sinn- und Identitätsbedürfnissen“ einer Gruppe entspricht, ist kein Spezifikum der Staatsbürgerkunde.89 Spezifisch für die Staatsbürgerkunde ist allerdings, dass ein politischer Anspruch weltanschaulich markiert und über Geschichten in der Bevölkerung zu verankern intendiert wurde. Daraus lassen sich freilich keine Aussagen über die gesellschaftliche Akzeptanz des Realsozialismus ableiten. Die Gestaltung der Text-Leser-Beziehung gibt lediglich Auskunft darüber, wie der Idealtypus des sozialistischen Menschen rein auf der Textebene entworfen und narrativ zu implementieren versucht wurde.
6.2 Der Staat und seine Bürger: Das emergente Kollektiv und die Unrückführbarkeit des Einzelnen – Motive der sozialistischen Weltanschauung in Staatsbürgerkunde 8 Auch in der achten Klasse wird die sozialistische Weltanschauung maßgeblich über das Motiv der substanziellen Veränderung des Menschen präsentiert. Neben der sozialistischen Arbeit ist es vor allem die Verfassung, über die dessen Veränderungspotenzial narrativ inszeniert wird. Die Verfassung bildet sowohl den strukturellen Rahmen90 als auch den weltanschaulichen Mittelpunkt des Lehrbuchs: Neben der Eigenstaatlichkeit der DDR sind mit der Verpflichtung zur Arbeit und dem Bündnis mit der Sowjetunion zwei wesentliche Inhalte der Weltanschauung juristisch fundiert. Die im Lehrbuch der Klasse 8 behandelte politische Institutionenkunde ist überdies der Stiftung einer Erinnerungsund Weltanschauungskultur untergeordnet, insofern der sozialistische Staat über die Inszenierung des Staatschefs Walter Ulbricht personenbezogene Darstellung erfährt. In der politischen Kultur wurde Ulbricht vorübergehend zum personali 89 Vgl. Neumann, Birgit (2005): Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer ‚Fictions of Memory‘. Berlin: de Gruyter, S. 103. 90 Autorenkollektiv unter der Leitung von Werner Wippold: Staatsbürgerkunde 8. Berlin: Volk und Wissen 1970, 2. Auflage der Ausgabe von 1969. Das Autorenkollektiv bestand aus Rechtswissenschaftlern der Humboldt-Universität zu Berlin. Für den Jahrgang 8 erschienen zwischen 1969 und 1989 vier Ausgaben des Staatsbürgerkundelehrbuchs (1969, 1972, 1975 sowie 1984), deren Ausgaben alle lehrplanbasiert waren. Zum Teil wurden die Überschriften aus den Lehrplänen vollständig übernommen. Der gesamte Aufbau des Schulbuchs spiegelt die Verfassung von 1968, z. T. stimmen Kapitelüberschriften und Inhalte mit dem juristischen Text überein, vgl. die Verfassung der DDR vom 6. April 1968 unter http://www.documentarchiv.de/ ddr/verfddr1968.html.
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sierten Erinnerungsort, seine Biografie beispielhaft für die eines integren Kommunisten.91 Im Lehrbuch der achten Klasse fließen somit Konzeption von Staat und Mensch zusammen.
a) Zwischen Anthropologie, Recht und Literatur: zu den Verwebungen des Veränderungstopos Der Lehrtext verbindet die Verfassung der DDR argumentativ mit dem Topos des sich wandelnden sozialistischen Menschen, denn mit der Unterzeichnung des Gesetzestextes beginnt für diesen ein neuer Lebensabschnitt: „Der größte Erfolg des ganzen Aufbauwerkes ist jedoch, wie sich unsere Bürger selbst verändert haben, wie unsere Bürger zu einer sozialistischen Gemeinschaft zusammengewachsen sind, in der zum Wohle des einzelnen und der Gemeinschaft gearbeitet wird und die Früchte der Arbeit allen Bürgern zugute kommen. In ihrer schöpferischen Arbeit beim sozialistischen Aufbau haben die Werktätigen ihre Kräfte und Fähigkeiten entwickelt. Ihr Bewußtsein, Bürger eines sozialistischen Staates zu sein, ist gewachsen und zu einer aktiven Kraft beim sozialistischen Aufbau geworden.“92
Das in der Verfassung repräsentierte sozialistische Vergemeinschaftungsideal wirkt erzieherisch auf die Bürger ein und verändert sie substanziell. Die metaphorische Deutung als Zusammenwachsen suggeriert die Vorstellung von einzelnen, vormals separierten und unabhängig voneinander existierenden Teilen, die in der Gemeinschaft eine organische Einheit bilden. Das Lehrbuch greift damit ein Argumentationsmuster auf, das sich bereits in den evolutionären Gesellschaftstheorien des 19. Jahrhunderts fand, wo die Relevanz des Einzelnen auf dessen Funktion für das Überleben des Gesamtorganismus reduziert wurde93, und überführt den Veränderungstopos zudem in die bekannte Kraftmetapher. 91 Der Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker im Jahr 1971 hat Auswirkungen auf die Darstellung im Schulbuch: Ulbricht wird fortan nicht mehr als Erinnerungsort einer kommunistischen Tradition inszeniert, wenngleich seiner Person in den ersten Jahren noch eine breitere Darstellung gewidmet ist (vgl. v. a. die Schulbuchausgabe von 1972). Auch gibt es keine Versuche zu einem vergleichbaren „Personenkult“ um Erich Honecker. 92 Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 9 Dieselbe Metapher findet noch einmal auf Seite 25 Verwendung und stammt offenbar aus einer Regierungserklärung Walter Ulbrichts, die dieser anlässlich der Verfassungsgebung gehalten hat. 93 So Herbert Spencer im Rahmen seiner Theorie der gesellschaftlichen Evolution von 1860 The Social Organism Band 1, in der er die Formulierung „survival of the fittest“ prägte. Laut Spencer ist der Überlebenskampf der Gesellschaft als Herstellung eines Gleichgewichts zwischen Anpassung und Differenzierung zu verstehen, in der das Individuum nur für das Überleben des Gesamtorganismus von Relevanz ist. Die Metapher vom Staat als Körper ist freilich älter, vgl. Koschorke, Albrecht u. a. (2007): Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt/Main: Fischer, bes. S. 69–76, dort zu antiken Körperschaftslehren. Auch Susanne Lüdemann weist darauf hin, dass die Organismus-
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Es ist kein Zufall, dass die Beschreibung des im Sozialismus freiwerdenden menschlichen Entwicklungspotenzials an dieser Stelle der Literatur überantwortet wird. Mit einem Querverweis auf den Deutschunterricht erhält der Schüler den Arbeitsauftrag, im Lesebuch der achten Klasse nachzulesen, „wie die Werktätigen beim Aufbau der neuen sozialistischen Verhältnisse die Wirklichkeit umgestalten und zugleich sich selbst verändern“.94 Es handelt sich um Auszüge aus zwei klassischen Reportagetexten des sozialistischen Realismus: Kabelkran und Blauer Peter von Franz Fühmann95 sowie Der siebente Sommer von Eberhard Panitz96. Beide Texte verarbeiten das Motiv der prozessualen Veränderung zum sozialistischen Menschen und stehen im Kontext des von der SED propagierten „Bitterfelder Weges“, eines im Rahmen des V. Parteitags im Juli 1958 beschlossenen kultur- und sozialpolitischen Programms zur Förderung der Laienkunst.97 Analogie in der Staatslehre bis in die Antike zurückreicht, vgl. dies. (2004): Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären. München: Fink, S. 45. 94 Vgl. Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 10. 95 Der heute nahezu vergessene Franz Fühmann (1922–1984) widmete sich in seinen Werken unterschiedlichen Stoffen und bemühte dafür verschiedene Genres. Neben der sozialistischen Betriebsreportage bereitete er Märchen, Sagen oder Mythen kindgerecht auf. Autobiografische Inhalte verarbeitete Fühmann vor allem in der Auseinandersetzung mit seiner Rolle im Nationalsozialismus; im Spätwerk setzte er sich zunehmend kritisch mit der sozialistischen Gesellschaft auseinander, die er für gescheitert hielt, vgl. Art. Franz Fühmann, in: Metzler Lexikon DDR-Literatur (2009): S. 104–106. 96 Der Schriftsteller (geb. 1932) wurde mit zahlreichen Literaturpreisen der DDR ausgezeichnet. Auch sein Werk lässt sich mehrheitlich der literaturtheoretischen und politischen Programmatik des sozialistischen Realismus zuordnen. Eine der wenigen gedruckten biografischen Skizzen über Panitz findet sich bei: Mechtel, Hartmut (1988): Art. Eberhard Panitz. In: Simon, Erik/Spittel, Olaf R. (Hg.): Die Science-fiction der DDR. Autoren und Werke. Ein Lexikon. Berlin: Das Neue Berlin, S. 212 f. Das 2009 erschienene Metzler Lexikon DDR-Literatur lässt einen entsprechenden Eintrag vermissen; auch in Wolfgang Emmerichs Literaturgeschichte der DDR wird Panitz kaum erwähnt. 97 Der sozialistische Realismus war von der KPdSU in den 1930er Jahren als verbindliche Leitlinie verkündet worden und verbreitete sich nach 1945 rasch als dominierende Kunstrichtung auf dem gesamten Ostblock. In der SBZ wurde er anfangs durch die Kulturabteilung der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) gefördert, die unter der Leitung eines Literaturwissenschaftlers stand, und später weiterhin von der SED propagiert. Für eine knappe Einführung s. Mittenzwei, Werner (2001): Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945–2000. Leipzig: Faber und Faber, S. 202–206. Leitgedanke des Konzepts, dessen Wahlspruch „Greif zur Feder, Kumpel!“ lautete, war ein enger Kontakt zwischen Schriftsteller und Arbeiter. Der Künstler sollte sich selbst in die Produktion begeben, um den Werktätigen besser zu ‚verstehen‘. Nach anfänglichem Erfolg scheiterte die Initiative wenige Jahre später (vgl. Emmerich, Wolfgang (2000): Kleine Literaturgeschichte der DDR. Berlin: AtV, S. 129 f.), allerdings gingen aus der Bewegung einige Werke hervor, die für die Entwicklung der DDR-Literatur zum sozialistischen Realismus bedeutsam wurden, etwa Erik Neutschs Spur der Steine, später unter der Regie Frank Beyers mit Manfred Krug in der Hauptrolle verfilmt, oder Brigitte Reimanns Ankunft im Alltag. Thematisch konzentrierte sich der sozialistische Realismus vor allem auf die Darstellung von alltäglichem Arbeitsleben und technischen Entwicklungen. Als Stilrichtung war er somit eng mit der kulturpolitischen Phase des Bitterfelder Weges verflochten.
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Mit dem sozialistischen Realismus wurden literaturpolitische Intentionen verfolgt, wofür der Literatur eine Doppelrolle zukam: Einerseits verkörperte sie die moralische Sprecherposition der gesellschaftlichen Verhältnisse, andererseits sollte sie die Verhältnisse, die sie da beschrieb, aktiv herstellen. Indem die Literatur die Aufgabe hatte zu zeigen, dass der Sozialismus ausgezeichnete Charaktere produziert, „verwies sie zwangsläufig immer auch auf das Gegenteil, dass nämlich solche Charaktere nicht die Normalität waren.“98 Unter den Schriftstellern machte sich rasch die Ablehnung des Bitterfelder Weges breit99, die Reportage blieb aber als literarisches Genre erhalten. Das Staatsbürgerkundekundebuch bezog sich an dieser Stelle somit auf eine verbreitete Literaturform. Kabelkran und blauer Peter von 1961 basiert auf Fühmanns eigenen Erfahrungen, die er zuvor auf der Warnemünder Werft zum Zweck der litera rischen Verarbeitung durch teilnehmende Beobachtung gesammelt hatte.100 Im Text beschließt eine namentlich unbestimmt bleibende Erzählinstanz, den Alltag von Werft und Werftarbeitern zu schildern: „Es drängte mich, über unser neues Leben zu schreiben, aber eben dieses Leben kannte ich nur höchst unvollkommen.“101 Obwohl ihm, der – wie der Leser erfährt – nach sowjetischer Kriegsgefangenschaft zehn Jahre einer nicht näher definierten Schreibtischarbeit nachgegangen ist, das Metier gänzlich neu ist, überwindet er die anfänglichen Zweifel und schreibt den Reportagetext. Auch in Panitz’ Der siebente Sommer wird ein Aufenthalt in einem Großbetrieb geschildert. Die Erzählinstanz berichtet in der Ich-Form über ihre Erfahrungen in der mecklenburgischen Stadt Schwedt, damals industrielles Zentrum der DDR, und dem dortigen Erdölverarbeitungswerk. Der Originaltext enthält verschiedene Episoden, in denen der Schriftsteller Gespräche mit Arbeitern und Angestellten führt, die in un 98 Vgl. Art. Sozialistischer Realismus. In: Metzler Lexikon DDR-Literatur (2009): S. 319 f. Der staatliche Erziehungsanspruch reflektierte ja auch, dass das Idealbild eines im Sinn der Kollektivinteressen moralisch handelnden Einzelnen nicht allein mit Hilfe der „Überzeugungs bildung“ herzustellen war, sondern materieller Anreize bedurfte. 99 Beispielsweise schrieb Erwin Strittmacher, einer der bekanntesten Erzähler der DDR, an Franz Fühmann: „Ich weiß jetzt, was der Bitterfelder Weg ist: Man geht hinaus, sieht sich alles gründlich an, und in Berlin kriegt man mitgeteilt, was man gesehen hat.“ Zit. n. Art. Bitterfelder Weg. In: Metzler Lexikon DDR-Literatur (2009): S. 42. 100 Dazu Fühmann selbst: „Der Einfall zu dem Episodenzyklus [gemeint sind 14 unter dem Titel Das Judenauto erschienenen Kurzgeschichten, die gemeinsam mit Kabelkran und Blauer Peter veröffentlicht wurden] kam mir während der Arbeit als Hilfsschlosser im Bauch eines vergammelten Schiffs.“ In: ders. (1993): Das Judenauto, Kabelkran und Blauer Peter, Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens. Werkausgabe Franz Fühmann Band 3. Rostock: Hirnstorff, S. 518. Die Erzählung erschien erstmals 1961 im VEB (Volkseigener Betrieb) Hirnstorff. Die Anregung zu solch einer Reportage kam offenbar von Fühmanns Verleger bzw. Lektor, vgl. Decker, Gunnar (2009): Franz Fühmann. Die Kunst des Scheiterns. Biographie. Rostock: Hirnstorff, S. 163. 101 Vgl. Unser Lesebuch. Klasse 8. Berlin: Volk und Wissen 1975, 8. Auflage der Ausgabe von 1969, S. 161.
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terschiedlichen Funktionen auf der Großbaustelle tätig sind.102 Eine einleitende Arbeitsaufgabe normiert Rezeptionsperspektive und Interpretation. Im Vordergrund der Schülerreflexionen soll die Wandlung des Protagonisten zum sozialistischen Menschen im Kontakt mit den Arbeitern stehen. Beide Textauszüge werden damit auf den Transformationsaspekt reduziert. Die charakterliche Veränderung wird jedoch unterschiedlich präsentiert. Bei Fühmann sind es vor allem drei Momente, die den Transformationsprozess der Erzählinstanz begleiten.103 Hauptgegenstand des Textauszuges ist die narrative Inszenierung von Rechtschaffenheit als Tugend und Beleg für die Entwicklung zum sozialistischen Menschen. In einer Episode berichtet eine Figur von einem Arbeitskollegen, der den Betrieb betrügt. Der Protagonist kommentiert: „Er [der Brigadier] selbst schreibt sich nicht mehr auf, als er wirklich arbeitet. Er kann sein Verhalten theoretisch nicht begründen, aber er fühlt, daß es so sein muß; er fühlt, daß die Werft auch ihm gehört. […] sie hat sein Leben verändert.“104
An das Konzept der organischen Einheit anknüpfend, wird Ehrlichkeit emotional, aus einem Gefühl der Verbundenheit, begründet. Zum Schluss reflektiert der Protagonist seine eigenen Erfahrungen, die in eine anthropomorphisierende Betrachtung der Werft mündet, die nunmehr zum Synonym des sozialistischen Staates wird: „Und ich sah meinem Land ins Angesicht und sah, daß es schön war, menschlich schön, nicht überirdisch, ein Arbeitergesicht, kein Madonnenlächeln. […] Die Toch 102 De facto hatte Panitz vorwiegend „Leitungskader“ beschrieben. Die Arbeiter waren selten zum Gespräch bereit oder äußerten sich mitunter beleidigend der Staatsmacht gegenüber, so dass manche als Figuren gestrichen werden mussten, vgl. Barck, Simone/Langermann, Martina/Lokatis, Siegfried (1998): „Jedes Buch ein Abenteuer.“ Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre. Berlin: Akademie-Verlag, S. 257 f. 103 Die getroffene Entscheidung des Protagonisten, den Reportagetext doch zu verfassen, wobei der genaue Moment im Lesebuchauszug offen bleibt (im Originaltext fällt die Entscheidung während des Stapellaufs eines Schiffes, vgl. Kabelkran und Blauer Peter, Werkausgabe Fühmann Bd. 3 [1993]: S. 195), eigene Ängste, die der Protagonist mit Hilfe eines Arbeiters überwindet und so über sich hinauswächst (vgl. Lesebuch 8 [1975]: S. 166 f., im Original S. 207–210, bes. 209) sowie die Begegnung mit einem Brigadier, der den Typus des fortschrittlichen Arbeiters, der sich durch Studium, Lesen und Reisen weiterbildet, verkörpert, vgl. Lesebuch 8 (1975): S. 169–173. Die Brigadier-Arbeit war ein planwirtschaftliches Konzept, in dem Arbeitskräfte in kleinen Gruppen (Brigaden) als wirtschaftliche Einheiten zusammengefasst wurden. Das Brigade-Konzept war in der DDR weit verbreitet, Wettbewerbe unter den Einheiten gehörten zum Arbeitsalltag. Für weitere Informationen vgl. Roesler, Jörg (1994): Die Produktionsbrigaden in der Industrie der DDR. Zentrum der Arbeitswelt? In: Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen/Zwahr, Hartmut (Hg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 144–170. 104 Lesebuch 8 (1975): S. 172, im Original: S. 237 f. Dort wird Ehrlichkeit zudem in einen Allgemeinplatz überführt: „Ich will nicht beschummelt werden, aber ich will meinen Staat auch nicht beschummeln“, vgl. S. 221.
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ter des Schlossers studiert Philosophie, und der Kuhhirt von gestern wird morgen Ingenieur und wird mithelfen, daß eine Brigade, die ehrlich dort arbeitet, wo es not tut, besser vorankommt als ein eiskalter Rechner, der sich nicht als Herr, sondern als Krämer der Werft fühlt. Der Schleier war zurückgeschoben, ich sah das Angesicht, und es war schön: gute Augen, hohe Stirn, freie Rede und keine glatten Züge…“105
Die Anthropomorphisierung von Werft und Werftarbeit bildet bei Fühmann ein wesentliches Stilmittel des Reportagetextes, im Original wird das Schiff gar als Organismus beschrieben.106 Die von der üblichen Arbeitersicht abweichende Perspektive dient einer thematischen Verschiebung: Gegenstand der Erzählung ist nicht der Arbeiter, der sich zum Sozialisten entwickelt. Vielmehr ist der Schriftsteller das Subjekt der Erziehung, das durch die Begegnung mit dem Werftalltag zum Arbeiter wird, indem er die arbeiterliche Perspektive auf den Sozialismus übernimmt. Dahingegen geht es in Panitz’ Der siebente Sommer weniger um die Veränderung eines Protagonisten und mehr um die Darstellung von für die Jugend vorbildhaften Arbeitercharakteren, die sich im Sozialismus zu Hause fühlen. Unter anderem berichtet ein Maurer und „Held der Baustelle“ von seinem schönsten Erlebnis: der Auszeichnung seines Arbeitskollektivs als „Brigade der sozialistischen Arbeit“. „So etwas,“ so die Figur resümierend, „gibt es für einen Arbeiter nur in einem sozialistischen Staat.“107 Den authentischen Sozialisten verkörpert ein Fabrikdirektor, der trotz Weiterbildung derselbe geblieben ist. Der Erzähler kommentiert: „Es gehören schon einige Jahre Sozialismus dazu, um das zustande zu bringen, eine harte Zeit zuvor, dann Lernen, Lernen und nochmals Lernen. […] Den Bau der neuen Fabrik leitet ein Zimmermann, ein Akademiker, ein Kommunist: Genosse Kurze…“108 Im Sozialismus bleibt selbst ein Direktor im Inneren ein Arbeiter. Die Arbeiterpersönlichkeit ist weder durch Macht noch durch beruflichen Erfolg korrumpierbar, sondern als etwas Substanzielles fest in den Menschen verankert. Mit dieser Konzeption wird die Frage nach dem ontologischen Guten tangiert, die sich bereits in der Darstellung der sozialistischen Heldenfiguren im Staatsbürgerkundelehrbuch für siebte Klassen angedeutet hatte. Dort war es vor allem Adolf Hennecke, der mit seiner Sonderschicht zum Wohl der Gemeinschaft das Vorbild für den sozialistischen Menschen abgab, womit die Frage nach der intrinsischen Motivation des Einzelnen dem Topos des selbstlosen Arbeiters überantwortet wurde. Auf das Motiv des altruistischen Handelns wird in Zu 105 Lesebuch 8 (1975): S. 174. 106 Die überwundene Angst des Protagonisten vor seiner Aufgabe findet ihren literarischen Ausdruck in der Anthropomorphisierung: die Werft als „Gesicht“ (S. 160), die Maschinen als „Schneider“ (S. 162 f.), die etwas in eine „Eisenhaut“ treiben (S. 163). Dies kommt im Originaltext noch stärker zur Geltung. 107 Lesebuch 8 (1975): S. 177. 108 Lesebuch 8 (1975): S. 177, bzw. 179.
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Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 14 f.
sammenhang mit der Darstellung des Staatschefs Walter Ulbricht noch einmal zurückzukommen sein. Im Schulbuchtext wird der Veränderungstopos argumentativ mit dem Thema Verfassung verknüpft, insofern diese die juristische Grundlage für die Entwicklung des neuen Menschen bildet. Zugleich sind es die literarisch explizierten, neuen, sozialistischen Verhältnisse, die die Entstehung des Gesetzestextes erst ermöglichen. Die Verfassung wird im Text mehrfach als Ausdruck eines „Bekennt nisses“ gedeutet, das die feste Verbundenheit zwischen Bürgern und Staat dokumentiert. In Kombination mit der Darstellung der Verfassungsgebung als demokratischem Akt wird die DDR sowohl weltanschaulich als auch politisch legitimiert. In der Belegstruktur spielt auch die Präsenz des Religiösen eine Rolle. Es sind vor allem die beiden vermutlich zisterziensischen Ordensschwestern auf der rechten Bildseite, die dem Betrachter ins Auge fallen. Die Herkunft des Fotos ist nicht eruierbar, so dass weder die Ordenstracht zweifelsfrei zugeordnet werden kann, noch die Gründe für die Bildauswahl rekapitulierbar sind.109 Obwohl in der Unterrichtshilfe die Behandlung des Volksentscheids zur Verabschiedung 109 Das Abbildungsverzeichnis des Lehrbuchs macht keine Angabe. Interessanterweise findet sich im westdeutschen Spiegel vom 15. April 1968 aber ein Verweis auf die Ordensschwestern: „Selbst Nonnen machten ihre Kreuze; im Kloster ‚Marienthal‘ nahe Görlitz zum Beispiel wählten 35 Zisterzienserinnen samt Äbtissin.“ Vgl. Der Spiegel Nr. 16/1968, S. 53.
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des Verfassungsentwurfs ansonsten genauestens choreografiert und dabei auch auf einzelne Abbildungen eingegangen wurde, bleibt diese Darstellung unkommentiert.110 Verstanden als Beleg für die Integration des Sozialismus und die Vereinbarkeit von Verfassung und religiöser bzw. christlicher Überzeugung mag die Darstellung von Ordensschwestern aus dem pragmatischen Grund der äußeren Erkennbarkeit des Religiösen erfolgt sein, auch wenn das Gebiet der DDR vorwiegend protestantisch geprägt und der Katholizismus lediglich regional und prozentual nur gering verbreitet war.111 Für die Integrationsthese spricht auch, dass zu einem späteren Zeitpunkt unter den positiven Stellungnahmen diverser Parteien zum Programm der SED auch die CDU zitiert wird: „Das Programm des Sozialismus weist uns den Weg in die Zukunft der Nation. Unser Wirken in der Nationalen Front des demokratischen Deutschland wird in diesem Programm bestimmt. Es ist das Gesetz unseres Handelns.“112 Letztlich ist das Foto aber doch rasch entfernt worden. In allen späteren Ausgaben sind nur noch singende FDJ-Mitglieder vor einem Hintergrundplakat „JA zur Verfassung!“ zu sehen.113 Unabhängig von der Integrationskraft der Bilder sollten die Schüler die Bedeutsamkeit der Verfassung für die sozialistische Weltanschauung sowie für ihr eigenes Leben begreifen, die der Lehrtext denn auch zum persönlichen Anliegen erklärt; eine direkte Leseransprache fordert den Schüler zum Studium auf: „[D]ie Aneignung des Inhalts der Verfassung ist notwendig, weil sie dein Leben in der ‚sozialistischen Menschengemeinschaft‘ entscheidend bestimmt.“114 Der Versuch, Identität über einen Gesetzestext herzustellen, erfährt in dem Versprechen, durch das Textstudium Teil der Gemeinschaft zu werden, zusätzlich soziale Bedeutung. Bei dem in diesem Zusammenhang erstmals fallenden Begriff der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ – in den Schulbuchausgaben für die Klasse 7 war vom „sozialistischen Vaterland“, der „sozialistischen Bewusstseinsbildung“, später auch vom „Sinn“ des Sozialismus die Rede – handelt es sich um 110 Vgl. Unterrichtshilfen 8 (1973): S. 33. Die Abbildung wird dort nicht erwähnt und infolgedessen auch nicht kommentiert. 111 Der Katholikenanteil in der DDR sank zwischen 1965 und 1985 von 8 auf maximal 6,8 % der Bevölkerung, ca. 1,1 Millionen Bürger. Vgl. Grütz, Reinhard (2004): Katholizismus in der DDR-Gesellschaft 1960–1990. Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh, S. 81. 112 Vgl. Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 28. Ebenso möglich ist, dass sich die Ablichtung zumindest indirekt an den Vatikan richtete, der die DDR bis dato nicht als souveränen Staat anerkannt hatte und dies auch nicht bis zu ihrem Ende tat. Zum wechselvollen politischen Verhältnis zwischen DDR und Vatikan vgl. den Überblicksaufsatz von Bernd Schäfer (1999): Der Vatikan in der Außenpolitik der DDR. In: Timmermann, Heiner (Hg.): Die DDR – Erinnerung an einen untergegangenen Staat. Berlin: Duncker & Humblot, S. 575–590. 113 Zwischenzeitlich verschwand auch die Dokumentation der Verfassungsgebung. Erst in der Schulbuchausgabe von 1984 wird wieder darauf eingegangen, wobei auch hier sämtliche Abbildungen durch ein Wahlplakat mit der Aufschrift „Unser Ja der sozialistischen Verfassung der DDR“ ersetzt wurden. Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Willi Büchner-Uhder: Staatsbürgerkunde 8. Berlin: Volk und Wissen 1984, 1. Auflage, S. 15. 114 Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 16.
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eine Wortschöpfung Walter Ulbrichts, die dieser 1967 als politische Programmatik verkündet und vorläufig in der Verfassung hatte verankern lassen.115 Ulbricht definierte die „Menschengemeinschaft“ als Produkt kollektiver Arbeit, deren Ideale über humanistische Werte wie „Hilfsbereitschaft, Güte, Brüderlichkeit, Liebe zu den Mitmenschen“ noch hinausgehen sollten116, blieb allerdings eine nähere Erläuterung dieses Mehrwerts schuldig. Der Blick auf die weiteren Schulbuchinhalte lässt erahnen, dass damit der Sozialismus an sich gemeint war, dem der Bürger im Kollektiv und vor allem in der Partei begegnet, und der sich ihm als eigener Wert erschließt. Darüber hinaus spiegelt der Ulbricht’sche Terminus den Versuch, dem Sozialismus als eigenständiger, qualitativ neuer Gesellschaftsformation mehr Bedeutung als die eines Durchgangsstadiums zum Kommunismus zu verleihen. Die sozialistische Menschengemeinschaft sollte der „vorläufige Kommunismus“ mit autarker sozialökonomischer Struktur sein, was den politischen Vorstellungen der sowjetischen Seite sowie deren Interpretation der marxistischen Klassiker zuwiderlief.117 Mit dem Führungswechsel im Politbüro wurde der Begriff nicht mehr verwendet. Ulbrichts ideologischer Alleingang war gescheitert. Was blieb, war die Idee vom Sozialismus als Wert an sich, den es auch staatstheoretisch zu etablieren galt.
b) Die Rolle des Einzelnen Mit der Idee der Gemeinschaft wird dem Staat ein substanzielles Wesen zugrunde gelegt, das in den sozialistischen Macht- und Eigentumsverhältnissen seine Kennzeichnung erhält.118 Die Schüler sollen lernen, dass der sozialistische Staat die „bedeutsamste Errungenschaft des Kampfes der Arbeiterklasse“ sowie das „Machtinstrument“ zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft ist und gleichzeitig das Bündnis zwischen Volk und Partei verkörpert: „Auf der Grundlage der Erkenntnis über den Klassencharakter unseres Staates wird die Entscheidung der Schüler bekräftigt, an der Seite der Arbeiterklasse und ihrer Partei den sozialistischen Staat allseitig zu stärken.“119 Die idealtypische Vermittlung der Grundlagen von sozialistischer Gesellschafts- und Staatsordnung sieht an dieser 115 Der Begriff hielt sich allerdings nur bis zur revidierten Fassung des Gesetzestextes vom 7. Oktober 1974. In dieser wurde das Wort Menschengemeinschaft durch Gesellschaft ersetzt. 116 Vgl. Ulbricht, Walter: Unser Weg zur sozialistischen Menschengemeinschaft. Rede des Ersten Sekretärs des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR auf dem Kongreß der Nationalen Front des Demokratischen Deutschland am 22. März 1969. In: Neues Deutschland vom 23. März 1969, zit. n. Judt, Matthias (Hg.) (1997): DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse. Berlin: Chr. Links Verlag, S. 188. 117 Vgl. Wolle Stefan (2008): Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968. Berlin: Ch. Links Verlag, S. 46 f. 118 Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 18. 119 Unterrichtshilfen 8 (1973): S. 37 f.
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Stelle eine dezidiert emotionale Gestaltung vor, die auf einer entsprechenden Präsentation der Verfassung beruhen soll. Ihr voran geht das Jugendweihegelöbnis, das vom Lehrer vorgetragen und „durch geeignete feierliche Musik“ untermalt werden soll.120 Damit ist die unterrichtliche Präsentation der Verfassung genau choreografiert. Der Text setzt am Erfahrungshorizont der Schüler an, von denen die meisten an der Jugendweihe, die im achten Schuljahr stattfand, teilnahmen. In der weiteren Schulbuchargumentation wird das Staatskonzept eng mit dem Arbeitertopos verbunden: Das Wesen des Staates besteht aus seinen Bürgern, die mit ihrer arbeiterlichen Gesinnung zur moralischen Vervollkommnung des Sozialismus beitragen. Die politische Vollkommenheit erlangt der Staat jedoch durch die Arbeiterklasse – nach Lenin’schem Diktum freilich in Form der Partei –, die als fortschrittlichster Teil der Gesellschaft die politische Macht ausübt.121 Der Einzelne erhält in diesem Gefüge vor allem eine repräsentative Rolle, er verkörpert lediglich den fleißigen, fortschrittlichen Arbeiter, der jederzeit einsatzbereit und verantwortungsbewusst für das Wohl der sozialistischen Gemeinschaft handelt. Die sich hier erneut aufdrängende Frage, was den Arbeiter dazu veranlassen mag, ist dem Lehrbuch unterlegt. Sie erzeugt die für die Über zeugungsbildung typische Verweisstruktur nach dem Muster ad-personam-Argu ment (Autoritätstopos) – erzählende Figurenrede (personale Zeugenschaft) – literarische Konklusion: Den Ausgangspunkt der Argumentation bildet ein Ausschnitt aus einer U lbrichtRede zur Entwicklung der Arbeiterklasse in der DDR, in der die Motivation des fortschrittlichen Arbeiters, dessen Planungseffizienz zur Produktionssteigerung sowie die Zusammenarbeit mit seinen Kollegen gelobt und auf die „Kraft der Gemeinschaft“ zurückgeführt wird: „Immer besser lernt er [der Arbeiter] verstehen, dass sein Betrieb Teil eines größeren Ganzen ist und dass von der Qualität seiner eigenen Arbeit auch der Erfolg des Ganzen abhängt. Der Arbeiter steht heute wie damals an der Spitze des gesellschaftlichen Fortschritts. […] Gerade diese Tatsache aber verlangt von ihm ein besonderes Maß an Verantwortungsbewußtsein und Einsatzbereitschaft für unsere gemeinsame sozialistische Sache. Unter der Losung: ‚Nicht auf Kosten der anderen leben‘ gibt der 120 „Die Schüler werden emotional auf die detaillierte unterrichtliche Behandlung eingestimmt, indem sie mit dem Gelöbnis der Jugendweiheteilnehmer vertraut gemacht werden. Anmerkung: Der Lehrer trägt das Gelöbnis vor. Möglich ist eine Tonunterlegung durch geeignete feierliche Musik.“ Vgl. Unterrichtshilfen 8 (1973): S. 40. Es gab verschiedene Versionen des Jugendweihe-Gelöbnisses, dessen Inhalte sich analog der politischen Linie im Lauf der Zeit veränderten. War anfangs noch das Bekenntnis zu einem vereinten Deutschland Teil des Gelöbnistextes, wurde dieses später durch die Verpflichtung auf den „Arbeiter- und Bauernstaat“ sowie vor allem auf die Freundschaft mit der Sowjetunion und den sozialistischen Bruder ländern ersetzt. Für die untermalende Musik findet sich an dieser Stelle kein Vorschlag in der Unterrichtshilfe, vgl. ebd., S. 19. 121 Vgl. Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 18.
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Arbeiter heute wiederum das Beispiel sozialistischen Denkens und sozialistischen Verhaltens für alle, in der Partei und durch sie als Klasse zur politischen Führungskraft der Gesellschaft organisiert. [sic!]“122
Der Verweis auf die „gemeinsame sozialistische Sache“ konkretisiert das zuvor metaphorisch Angedeutete, so dass die Umschreibung des Sozialismus als „das Ganze“ oder die „Kraft“ Unschärfe lediglich imitiert. Die Redeform lehnt sich damit an die von Wolfgang Iser beschriebene Struktur des literarischen Textes an, dessen Aussagen zwecks Aktivierung der Leservorstellung absichtlich un bestimmt bleiben und dadurch zum Mitvollzug der textinternen Intentionen anregen. Unbestimmtheit als „Basis einer Textstruktur, in der der Leser immer schon mitbedacht ist“123, wird im vorliegenden Ausschnitt dort inszeniert, wo der Geltungsanspruch des Sozialismus unter Rückgriff auf die Metaphern des großen Ganzen und der Kraft der Gemeinschaft plausibilisiert wird. Die Rede von der substantiellen Kraft bleibt dem Text als narrative Struktur unterlegt, die vermeintliche Unbestimmtheit wird über die verschiedenen Textebenen weitergegeben. Auch im Lehrbuchhaupttext wird der parteiliche Machtanspruch metaphorisch umschrieben und in das Versprechen auf Gemeinschaft überführt: „Die SED entwirft keine utopischen Traumbilder. Ihre politischen Programme und Pläne sind wissenschaftlich begründet und beruhen auf der Vorausschau der ge sellschaftlichen Entwicklung. Wenn die Partei neue Vorschläge und Programme ausarbeitet, bezieht sie die gesamte Arbeiterklasse und alle übrigen Werktätigen ein; denn sie ist unlösbar mit der Arbeiterklasse und dem werktätigen Volk verbunden. Aus dieser Verbindung schöpft sie ständig neue Kraft.“124
Der Verweis auf Wissenschaftlichkeit begründet den parteilichen Führungsanspruch scheinbar rational. Emotionale Fundierung erfährt dieser zusätzlich durch einen als Figurenrede präsentierten Leserbrief, der nicht mehr nur die grundsätzliche Erfahrbarkeit der Kraft des Sozialismus bezeugt, sondern diese Kraft als „führende Rolle der Arbeiterklasse“ identifiziert, die damit zu einer 122 Walter Ulbricht, zit. n. Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 19. Der vollständige Titel der anlässlich der Ausarbeitung der Verfassung und später als Regierungserklärung veröffentlichten Rede lautet: Erklärung des Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Walter Ulbricht, zur Ausarbeitung der sozialistischen Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik auf der 4. Tagung der Volkskammer der DDR am 1. Dezember 1967. 123 Allerdings macht Iser eine gewichtige Einschränkung: „Darin unterscheiden sich literarische Texte von solchen, die eine Bedeutung oder gar eine Wahrheit formulieren. Texte dieser Art sind ihrer Struktur nach von möglichen Lesern unabhängig, denn die Bedeutung oder die Wahrheit, die sie formulieren, gibt es auch außerhalb ihres Formuliertseins.“ Iser, Wolfgang (1975): Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. In: Warning, Rainer (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München: Fink, S. 228–252, hier: 248. 124 Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 20.
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eigenen Erlebensgröße wird. Eine entsprechende Inquit-Formel leitet den ausführlichen Texteinschub als Erlebnisbericht eines jungen Arbeiters ein, der durch Namens-, Berufs- und Altersangabe des Sprechers sowie dem Zitatbeleg authentifiziert wird. Der Text war tatsächlich am 12. Februar 1968 in der Tageszeitung Neues Deutschland (ND) als Leserbrief abgedruckt worden125 und ging als beispielhafte Schilderung für die Erlebbarkeit der „führende[n] Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei“ in das Schulbuch ein. Die Figur stellt sich zu Anfang selbst als „parteilos, 17 Jahre alt, Bauarbeiter im Rostocker Überseehafen“ vor und berichtet von ihrer ersten Parteiversammlung anlässlich des Verfassungsentwurfs.126 Dem Text ist das Motiv der Lernerfahrung unterlegt, die der Fokalisator im Gespräch mit anderen Arbeitern macht, wobei die intellektuelle Ebene durch den Topos der Mentorenrolle um eine persönliche Note ergänzt und als affektiv besetzter Erkenntnisprozess inszeniert wird. Es ist nämlich der erfahrene Arbeiter und „Genosse“ Bernhard Goeda, der den Schlüsselsatz spricht: „,Der [Verfassungsentwurf] geht dich mit deinen 17 genauso an wie mich mit meinen 60 – vielleicht noch mehr.‘“ Der Leser erfährt weiter: „Bernhard Goeda unterhält sich viel mit mir, und ich kann mit jeder Frage zu ihm gehen. Nach jedem Gespräch weiß ich ein bißchen mehr über den Sozialismus, von der Verantwortung der Arbeiterklasse und ihrer Partei. Genosse Goeda hat mich oft angestoßen, selbst nachzudenken.“
Das väterliche Element des Parteikollegen wird um eine bildungsinteressierte und ergebnis- bzw. lösungsorientierte Dimension ergänzt: „In der Versammlung erlebte ich nun die Genossen von einer ganz anderen Seite als bisher. Daß sie mit jeder Arbeit fertig werden, das wußte ich. Aber jetzt nahmen sie sich den Verfassungsentwurf her, als ob das für sie auch zur Arbeit gehört.“
Die Aufmerksamkeit des Lesers wird schließlich durch eine angedeutete rhetorische Frage auf die Hauptaussage des Textes fokussiert: „Was das alles mit der Verfassung zu tun hat, wurde mir klar, als Genosse Goeda den Artikel 1 zitierte. Da steht – ich habe das zu Hause nochmals nachgelesen –, daß die Werktätigen den Sozialismus gemeinsam unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei verwirklichen.“
Die politische Intention des Einschubs liegt auf der Hand: Es geht um die Rechtfertigung des parteilichen Herrschaftsanspruchs, für die erstmals aus der Perspektive eines als parteilos vorgestellten Jugendlichen berichtet wird, der freilich 125 Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 21. In der Zeitung wurde der bis auf wenige Auslassungen wortgleiche Text unter dem Titel „Ein Brief an das ND. Gedanken zum Artikel 1 des Verfassungsentwurfs“ auf S. 3 abgedruckt. 126 Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 20.
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besser als Identifikationsfigur für Schüler der achten Klasse geeignet ist, als ältere Kohlearbeiter oder politische Funktionäre. Der Text zeigt zudem, dass sich die Bedeutung der neuen Verfassung generationsübergreifend nicht ohne intellektuelle Mühen erschließt, sondern im Prozess gemeinsamen Diskutierens erörtert werden muss: „Keiner wich aus, jeder sagte seine Meinung. Auch Kritisches wurde geäußert.“ Der unspezifisch bleibende Verweis auf Kritik tut dem demokratischen Element genüge, das kognitive Argument wird im Text noch an weiteren Stellen formuliert und schließlich in die Erkenntnis überführt: „Führende Rolle der Arbeiterklasse war für mich bisher nur ein Wort, vor dem ich Achtung hatte. Jetzt weiß ich besser, wie jeder Genosse an seinem Platz ein Stück dazu beiträgt.“127
Der Leserbrief appelliert an eine Verantwortung, die der Einzelne – dem de facto die politische Partizipation verwehrt wurde – freilich nicht wahrnehmen konnte. Dessen Mühen blieben zumindest politisch folgenlos und tragen daher hier eher demonstrativen Charakter. Die Partei hingegen wirkt durch Personen wie den erfahrenen Arbeiter, der den Jüngeren gegenüber eine Beraterrolle einnimmt und den Prozess des Verstehens und Unterweisens maßgeblich beeinflusst. Das hier bemühte Mentorenmotiv verweist gleichzeitig auf ein gewandeltes Arbeiterheldenbild: Überwiegt im Staatsbürgerkundelehrbuch für siebte Klassen mit der Figur Adolf Henneckes noch die für die 1950er Jahre typische Darstellung des ernst blickenden Mannes mit verrußtem Gesicht, rückt nun vor allem das intellektuelle Potenzial des sich weiterbildenden Arbeiters, der mitdenkt und erfinderisch ist, in den Blick. War es in der Erzählung von Regina Hastedt im Schulbuch der Klasse 7 der Erzähler selbst, der als Erzieher und moralische Instanz wirkte, ist es hier mit dem erfahrenen Genossen zwar auch eine Figur der Diegesis, die allerdings von einer weiteren Figur, dem jungen Bauarbeiter, pers-spektiviert wird. Dass der Leserbrief als Beleg aufgenommen wurde zeigt überdies, dass der Lehrbuchtext eine überzeitliche und gattungsübergreifende Redeform über den Sozialismus repräsentiert, die als Erfahrung im kollektiven Gedächtnis installiert werden sollte. Der Leserbrief ist ein Beispiel für die sprachlich kodierte Erlebnishaftigkeit des Sozialismus im außerschulischen Bereich, dessen immer gleiche Wortwahl – das Signalwort „Kraft“ fungiert auch hier als Metapher der Gemeinschaft – ein Interpretationsschema bereitstellt, mit dem die Erfahrung in eine feste narrative Struktur gegossen und abrufbar wird.128 Der auf der Beweishaftigkeit der fremden Erfahrung aufgebaute Beleg für die funktionierende sozialistische Gemeinschaft unter Führung der (Partei der) Arbeiterklasse wird schließlich durch einen literarischen Text konkludiert: dem „Lob der Partei“, das dem Brecht’schen Lehrstück Die Maßnahme entnommen ist. 127 Für alle Zitate: Staatsbürgerkunde 8 (1968): S. 20 f. 128 Vgl. auch das Kapitel zur Staatsbürgerkunde 7.
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Der Einzelne hat zwei Augen, die Partei hat tausend Augen. Der Einzelne sieht seine Stadt, die Partei sieht sieben Staaten. Der Einzelne hat seine Stunde, die Partei hat viele Stunden. Der Einzelne kann vernichtet werden, die Partei kann nicht vernichtet werden; denn sie kämpft mit den Methoden der Klassiker, welche geschöpft sind aus der Kenntnis der Wirklichkeit und bestimmt sind, sie zu verändern, indem die Lehre die Massen ergreift.129
Wie aus den Unterrichtshilfen für achte Klassen hervorgeht, wurde dem Text ein gewisses Wirkungspotenzial unterstellt: Die Verantwortlichen empfahlen ihn an entsprechender Stelle zur „Vertiefung der Erkenntnis von der Führungsrolle der Partei der Arbeiterklasse“ und als „emotional[en] Höhepunkt“.130 Die gefühlsmäßige Kodierung des Lernziels ist damit schlechterdings in der Methodik des Staatsbürgerkundeunterrichts verankert, als deren Objekt vorerst die sozialistische Gemeinschaft benannt wird. Diese gerät in der narrativen Argumentationsführung allerdings in den Hintergrund, wenn das Verhältnis von Individuum und Gruppe im Brecht-Gedicht zu Gunsten der Partei entschieden wird, der sich der Einzelne zu überantworten hat – auch wenn, wie der Literaturwissenschaftler Harald Hartung lakonisch feststellt, diesem im Gegensatz zu anderen Gedichten aus der „Propaganda- und Kampflyrik“ der Stalinzeit immerhin zwei Augen zugestanden würden.131 Die Bedrohlichkeit der Brecht’schen Formulierung von der Partei mit den „tausend Augen“ ist indes nicht zu übersehen. Es ist wenig verwunderlich, dass das Gedicht ohne Reflexion seines problematischen Werkkontextes Eingang in 129 Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 21. Der Text wurde in leicht variierter Form abgedruckt. Vermutlich haben die Verfasser des Lehrbuchs ihn selbst verändert. In der Dokumentation zu den verschiedenen Fassungen ist diese Version des Lob der Partei jedenfalls nicht zu finden, vgl. Bertolt Brecht (1972): Die Maßnahme. Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg, Redaktion: Günther Busch. Frankfurt: Suhrkamp. 130 Vgl. Unterrichtshilfen 8 (1973): S. 42. Als Alternative zum Lob der Partei wird der Text Ohne die guten Genossen des Lyrikers Helmut Preißler (1925–2010) vorgeschlagen: „Ohne die guten Genossen wären wir immer noch,/wie wir einst waren./Sicher, es wären enttrümmert die Städte auch ohne sie./Aber die Herzen lägen verschüttet in Wehmut und Haß./Vergangenes wär’ unbegriffen./Vor der Zukunft wären wir ahnungslos./Unwissend wären wir ohne sie immer noch,/wie wir einst waren.“ Zit. n. Wege und Begegnungen. Berlin: Verlag Neues Leben 1966. 131 Vgl. ders. (1983): Die ästhetische und soziale Kritik der Lyrik. In: Schmitt, Hans-Jürgen (Hg.): Die Literatur der DDR. Reihe: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur Band 11. München: dtv, S. 261–303, hier: 265.
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das Lehrbuch fand, denn was in dem Lehrstück euphemistisch als „Maßnahme“ bezeichnet wird, ist de facto ein politischer Mord132: Die kommunistische Partei autorisiert die Liquidierung eines jungen Genossen, dessen Handeln aus Mitleid133 – und darin lag seinerzeit die Provokation auch für die marxistische Orthodoxie134 – als revolutionsgefährdend eingestuft und mit dem Tod sanktioniert wurde. Brecht selbst versuchte die für die Rezipienten schockierende Radikalität des Textes später zu relativieren und verhängte nach 1945 ein Aufführungsverbot.135 Dennoch geriet das Stück speziell während des kalten Krieges als kommunistische Propaganda in Misskredit; Brecht und Eisler wurden dazu während ihrer Exilzeit in den USA dezidiert vor dem McCarthy-Ausschuss befragt. Vor diesem Werk- und Rezeptionskontext erhält das Zitat des Brecht’schen Parteilobes im Schulbuch zumindest eine problematische Konnotation. Auch wenn den Schülern der Gesamttext der Maßnahme nicht bekannt gewesen sein mag136, werden zumindest die Lehrbuchverantwortlichen um die radikale Aussage des Stückes gewusst haben. Schließlich war die Ambivalenz des Textes einer 132 In dem Stück haben sich vier kommunistische Funktionäre vor dem Parteigericht, dargestellt als „Kontrollchor“, für den Tod eines fünften zu verantworten. Sie hatten im Rahmen ihrer Untergrundtätigkeit in China einen Kollegen – allerdings mit dessen Einverständnis – liquidiert, weil sein Handeln den Erfolg der kommunistischen Revolution gefährdete. Das Gericht spricht die Vier am Ende des Stückes frei. 133 Das Lob der Partei erfolgt im sechsten Akt als Erwiderung auf den jungen Genossen, der aus Empathie für die Arbeiter nach einem sofortigen Aufstand verlangt: „Mit meinen zwei Augen sehe ich, daß das Elend nicht warten kann […]“. Die Funktionäre vertrösten ihn aber und verweisen dafür auf die überindividuelle Bedeutung und Wirkung der Partei. Vgl. Brecht. Versuche 9. Die Maßnahme. Lehrstück. Das Exemplar eines Kritikers von der Uraufführung am 13.12.1930, gefunden, transkribiert, kommentiert und herausgegeben von Reinhard Krüger. Berlin: Weidler 2001, S. 53. 134 Vgl. Lazarowicz, Klaus (1975): Die rote Messe. Liturgische Elemente in Brechts „Maßnahme“. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch Band 16, S. 205–220, hier: 205 sowie 213. Mit dieser Inszenierung der Parteidisziplin – immerhin bestand die Schuld des Genossen lediglich darin, Empathie für die ausgebeuteten elenden Arbeiter empfunden zu haben, wofür er letztlich sterben musste – warf Brecht ein zweifelhaftes Bild auf die marxistische Ethik oder besser: auf die Theorie, die nach dieser Interpretation kein Mitleid kennt. Die Rezeption des Stückes ist breit dokumentiert in: Brecht, Bertolt (1972): Die Maßnahme. Kritische Ausgabe mit einer Spielanleitung von Reiner Steinweg, Redaktion: Günther Busch. Frankfurt: Suhrkamp, S. 319–468. 135 Vgl. Brecht (1972): S. 267. Der Komponist Hanns Eisler, der die Musik zu dem Stück verfasst hatte, verweist an dieser Stelle auf das Aufführungsverbot. Elisabeth Hauptmann, Mitarbeiterin Brechts, kommentiert: „Brecht hatte natürlich keine Einwände gegen das Stück. Er hielt nur die Mißdeutungen bei der Inszenierung und Aufführungskritik damals für der Sache schädlich.“ 136 Aus dem Materialkorpus ist nicht eruierbar, ob die Schüler mit dem Brecht’schen Lehrstück soweit vertraut waren, dass sie das Lob der Partei zuordnen konnten. Die Maßnahme wurde auch in der DDR bis auf die musikalischen Einlagen von Hanns Eisler nicht wieder aufgeführt. Im schulischen Literaturunterricht spielten andere Stücke von Brecht eine Rolle, das Lob der Partei wurde dort nicht behandelt.
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Argumentationsführung, die das Lob der Partei als Rechtfertigung des Herrschaftsanspruchs der SED verstanden wissen wollte, nur allzu dienlich.137 Gleichzeitig warb das Lehrbuch mit dem Versprechen der Einheit von Staat und Bürger und damit für die soziale Integration des Sozialismus und formulierte als Erziehungsziel den „allseitig, das heißt geistig, moralisch und körperlich entwickelten Menschen, der das gesellschaftliche Leben gestaltet und die Natur verändert.“138 Kontrolle und verwehrte politische Partizipation einerseits und staatliche Inklusionsbestrebungen andererseits bildeten zwei Seiten einer Medaille, die die Ambivalenz der DDR als einer „Fürsorgediktatur“139 mit ethischem Anspruch spiegelte. Mit dem sozialistischen Selbstverständnis repräsentierte der Staat nicht nur ein politisches und ökonomisches System, sondern auch das soziale Versprechen, über eine rein materielle Versorgung der Bevölkerung hinauszugehen und die Gesellschaft zur Gemeinschaft umzugestalten. Dies wurde im Schulbuchtext deutlich hervorgehoben: „Was früher unmöglich schien, wurde Wirklichkeit: Menschen mit völlig unterschiedlicher Vergangenheit, Herkunft und Lebenserfahrung wachsen immer fester zur sozialistischen Menschengemeinschaft zusammen.“140
In diesem Spannungsverhältnis zwischen egalitärem Gesellschaftskonzept und dem „Zwangscharakter der sozialistischen Utopie“141 suchte der im Schulbuch präsentierte Entwurf des Einzelnen immer wieder zu vermitteln. Dennoch war die Mischung aus „emanzipatorischer Rhetorik und Konsumanreizen“ – im Lehrbuch der Klasse 7 eindrücklich durch die Bergarbeiterfigur Sepp Zach infrage gestellt – der Herstellung einer „widerwillige[n] Loyalität“142 dienlich, die eine relative Stabilität des Systems bewirkte.143 Das Lobgedicht blieb bis in die 1980er Jahre fester Bestandteil der Schulbuchargumentation und prägte damit auch die Redeform über das Verhältnis von Individuum und Kollektiv in der
137 Auch die abschließende Arbeitsaufgabe „Fasse zusammen, warum nur die Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische Partei die führende Kraft der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft sein kann!“ unterstreicht diesen Führungsanspruch noch einmal unmissverständlich, vgl. Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 21 138 Vgl. Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 22 sowie 34. 139 So der Historiker Konrad Jarausch in: Art. Fürsorgediktatur, Version: 1.0. In: DocupediaZeitgeschichte, 11.2.2010. Unter: http://docupedia.de/zg/F%C3 %BCrsorgediktatur (Letzter Zugriff: 15. Oktober 2015). 140 Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 25. 141 Jarausch (2010): Fürsorgediktatur, S. 3. 142 Jarausch (2010): Fürsorgediktatur, S. 3. 143 So die These Hermann Webers, die sich aber auf den Zeitraum Ende der 1950er bis Ende der 1970er Jahre bezieht. Die relative Stabilität konnte außerdem die spätere Erosion des Systems nicht verhindern, vgl. ders. (2000): Die DDR. 1945 bis 1990. München: Oldenbourg, 3. überarb. und erw. Auflage, S. 50.
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sozialistischen Gesellschaft.144 Für die Gesamtlinienführung des Staatsbürgerkundeunterrichts bildete diese Verhältnisbestimmung einen wichtigen Baustein in der Verpflichtungsrhetorik des Einzelnen auf den Staat, der im Lehrbuch der Klasse 8 schließlich als eigener Wert etabliert werden sollte.
c) Kult der Person? – Die Inszenierung Walter Ulbrichts als sozialistischer Heroe Der Lehrtext konstruiert die Bindung des Einzelnen an den sozialistischen Staat als moralische Verpflichtung. Nicht nur, dass die Wahrnehmung der verfassungsmäßig verankerten Rechte und Pflichten zum „Lebensbedürfnis“145 des Staatsbürgers erklärt wird, die Verfassung ist überdies Handlungswegweiser und Garant für eine „glückliche Zukunft“ der Menschen. In der Konzeption fallen Recht und moralische Pflicht zusammen: „Der Sinn des Lebens besteht im Sozialismus gerade darin, alle individuellen Kräfte zum Nutzen der Gemeinschaft einzusetzen. In der erfolgreichen Teilnahme an dem gewaltigen sozialistischen Aufbauwerk erfüllt sich das Streben des Menschen nach Vollkommenheit, nach Glück und auch nach persönlicher Befriedigung. Die Grundlage dafür ist, daß die in unserer Verfassung zum Ausdruck kommenden gesellschaftlichen Interessen und Ziele grundsätzlich mit den Wünschen und Bestrebungen der Menschen übereinstimmen.“146
Die moralischen Pflicht-Rechte beziehen sich auf die Bereiche Bildung, Verteidigung und Arbeit, wobei die Verteidigung als „Ehrenpflicht“ des Bürgers eine besondere Rolle spielt. Als Reaktion auf eine bestehende Bedrohung konstruiert, dient der Verteidigungstopos letztlich dazu, den militärischen Dienst in der Nationalen Volksarmee als Friedensprävention zu plausibilisieren. Die Inszenierung der DDR als „Friedensstaat“ bedeutete jedoch keinesfalls, dass man als Pazifist missverstanden werden wollte. „Friedensliebe allein verhindert keinen Krieg“ wird denn auch der Staatschef zitiert, „[d]azu bedarf es außer dem Willen zum friedlichen Neben- und Miteinander vor allem politischer Macht und militärischer Kraft des Sozialismus. Die sozialistischen Staaten sehen deshalb die zuverlässigste Friedensgarantie […] in einer vereinten Verteidigungskraft, die stark genug ist, jeden Aggressor rechtzeitig zu zügeln.“147
144 In den Auflagen der Ausgabe von 1977 noch erhalten, wurde das Gedicht mit der Lehrbuchüberarbeitung Anfang der 1980er Jahre endgültig gestrichen. In der entsprechenden Neuausgabe von 1984 findet es sich nicht mehr. 145 Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 38. 146 Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 39. 147 So Ulbricht am 18. Oktober 1968 auf Seite 1 und 2 des Neuen Deutschland, abgedruckt in Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 44.
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Illustriert werden die Aussagen durch eine Zeichnung, die einen Arbeiter – erkennbar an Bekleidung und Kopfbedeckung – zeigt, der ein Gewehr schultert. Die Bildunterschrift macht dem Betrachter unmissverständlich klar, dass der Zweck durchaus die Mittel heiligt. Die Figur spricht: „Ein Gewehr ist eine gute Sache, wenn es für eine gute Sache ist“. Die Zeichnung verdeutlicht einmal mehr, wie eng Friedenstopos und Bedrohungsszenario verwoben waren. Mit der Feindbildkonstruktion ließ sich die NVA als Verteidigungsarmee rechtfertigten, ihre Existenz als Reaktion auf die bundesrepublikanische Bedrohung deuten.148 Die diesem Szenario zugrunde liegende Sprach- und Textstrategie kulminierte in der Rede vom „bewaffneten FrieStaatsbürgerkunde 8 (1969): S. 45. den“ und fand in der Militarisierung der staatlichen Erziehung realpolitische Umsetzung.149 Die breite Schulbuchdarstellung von NVA und ihrer Waffentechnik sowie die Heroisierung des Militärdienstes als „Ehrenpflicht“ suchen dem Schüler freilich den 18-monatigen obligatorischen Grundwehrdienst schmackhaft zu machen, zu dem es allerdings bis zum Ende der DDR ohnehin keine echte Alternative gab.150 Ein ähnlich verpflichtender Charakter wie dem Wehrdienst kommt der Arbeit zu. Die Schüler werden schon früh darauf vorbereitet, dass sie dem Staat am besten als fleißige, gut ausgebildete, sozialistische Patrioten dienen, die „von tiefer Liebe zum Menschen und zum sozialistischen Vaterland durchdrungen sind“.151 Mit der Darstellung Walter Ulbrichts wird die affektive Bindung an den Staat schließlich personalisiert. Ulbricht, dessen Biografie ihn auch moralisch als Staatschef zu qualifizieren scheint, erhält im Schulbuch eine herausragende Rolle. 148 So auch Christian Th. Müller (2004): „Für den Soldaten des Sozialismus ist der Feind immer konkret“. Das Feindbild der Nationalen Volksarmee und die Probleme seiner Implantierung. In: Satjukow, Silke/Gries, Rainer (Hg.): Unsere Feinde. Konstruktion des Anderen im Sozialismus. Schönebeck: Leipziger Universitätsverlag, S. 233–253, hier: S. 235 f. 149 Vgl. dazu auch die Analyse der Staatsbürgerkunde 10. 150 Die einzige Möglichkeit, den Dienst an der Waffe zu umgehen, bot ab 1964 der Einsatz als „Bausoldat“, der einen waffenlosen Wehrdienst vorsah. Totalverweigerer hatten mit Gefängnisstrafen zu rechnen, der Dienst als Bausoldat hatte außerdem negative Konsequenzen für den späteren Berufsweg. 151 Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 53.
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Anhand seines Lebenslaufs lassen sich die Motive der den immer gleichen Redemustern folgenden sozialistischen Heldenbiografie152 nachvollziehen: Als „Sohn einer Arbeiterfamilie“ geboren und insofern selbstverständlich im einfachen Handwerksberuf des Tischlers ausgebildet, wies er durch Mitgliedschaft im Spartakusbund um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sowie als Gründungsmitglied der KPD auch die politisch gewünschte Tradition eines erfahrenen Kommunisten auf, der während der Weimarer Republik inhaftiert und sich später an der Seite des Widerstandshelden Ernst Thälmann „unermüdlich für die Entwicklung der KPD zu einer marxistisch-leninistischen Kampfpartei“ einsetzte. Als „mutige[r] Arbeiterführer“ im „illegalen Kampf “ gegen die „Hitlerdiktatur“ und später durch seine Zeit als Exilkommunist in der Sowjetunion überdies als loyaler Genosse ausgewiesen, kehrte er 1945 nach Berlin zurück, um dort die politische Aufbauarbeit als „hervorragender Sohn des Volkes“ zu leisten.153 Auffällig ist, dass Ulbricht zusätzlich über zwei Zeitgenossen perspektiviert wird, die seine charakterliche Qualifikation bezeugen. Der Schriftsteller Johannes R. Becher, mit seinen lyrischen Texten im gesamten Lehrbuchkorpus präsent, charakterisiert den Staatschef in seiner Ulbricht-Biografie Walter Ulbricht. Ein deutscher Arbeitersohn so: „Walter Ulbricht ist ein bedeutender Staatsmann. Er ist es, weil von einer wirklichen Staatskunst nur dort die Rede sein kann, wo sie von einer Persönlichkeit ausgeübt wird, die ihre Wurzeln im Neuen hat. Das Neue aber besteht heute darin, daß die Arbeiterklasse zur Trägerin des Fortschritts geworden ist, geführt von der Partei, dem schöpferischen Kollektiv des Politbüros, das sich leiten läßt von der wissenschaftlichen Lehre von Marx, Engels und Lenin. In Walter Ulbricht selber hat diese Lehre Gestalt angenommen, und darum bestimmen Prinzipientreue und Charakterfestigkeit seine Handlungen als Politiker und zeigen seine kraftvolle Überlegenheit.“154
Nicht ausschließlich übermenschlich, sondern auch volksnah will der zweite Zeuge Ulbricht verstanden wissen: Der Künstler Johannes Burkhardt schildert, wie er und andere Kollegen auf einer Ausstellung angesichts der Anwesenheit des Staatsmannes zuerst „befangen und förmlich“ gewesen seien. Ulbrichts Bemerkung aber, an repräsentativer Stelle sei ein Bild eine Brigadiers aufzuhängen, habe das Eis gebrochen: „Diese Worte, heiter belehrend hingeworfen, stellten den freundschaftlichen, zu schöpferischem Denken anregenden Kontakt her, der das folgende mehrstündige Gespräch belebte.“155 152 Nach gleichem Muster werden auch Erich Honecker und weitere Abgeordnete der DDRVolkskammer dargestellt, vgl. Staatsbürgerkunde 8 (1975): S. 22 f. sowie Staatsbürgerkunde 8 (1984): S. 22, 26, 28. 153 Vgl. Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 74 f. 154 Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 75. 155 Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 75.
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Ulbricht repräsentiert nicht nur das Neue, den gesellschaftlichen Fortschritt, vielmehr hat die marxistische Lehre ihn ihm Gestalt angenommen. Die Metapher eröffnet Deutungsmöglichkeiten, die einen biblischen Bezug156 zumindest nicht ausschließt, auch das Argumentationsmuster, dass die Verkörperung der Lehre eine ethische und moralische Qualifikation bewirkt, findet in der biblischen Überlieferung immerhin eine Entsprechung. Freilich ist davon weder im Text noch in den methodischen Materialien die Rede, so dass im Nachhinein kaum eruierbar ist, ob sich die Verkörperungsmetapher tatsächlich an die biblische Formulierung anlehnt. Überdies muss fraglich bleiben, ob ein solcher Bezug durch den faktischen Rezipienten verstanden worden wäre, insofern weder religiöses noch religionskundliches Wissen zum Bildungskanon der DDR zählte. Im Schulbuch dient der Verweis auf die Gestaltwerdung vor allem dazu, nicht nur die ethische und moralische Integrität des Staatschefs rückführbar zu machen, sondern auch dessen „kraftvolle“ Überlegenheit zu plausibilisieren. Ulbricht wird zum Übermenschen stilisiert, der gleichzeitig menschlich geblieben ist, wie das auf Volksnähe verweisende Motiv des kontaktfreudigen freundschaftlichen Ratgebers belegen soll. Sowohl die rekapitulierende Arbeitsaufgabe „Warum achten und ehren wir Walter Ulbricht?“ als auch die methodische Anleitung lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass die Verehrung des Staatschefs intendiert ist. Dementsprechend lautet das Erziehungsziel: „Ein besonderer erzieherischer Höhepunkt liegt am Ende der ersten Stunde. Hier kommt es darauf an, Walter Ulbricht als Vorsitzenden des Staatsrates gebührend zu würdigen. Die innere Beziehung, die die Schüler zur Person des Staatsratsvorsitzenden und Ersten Sekretärs des ZK der SED bereits in der 7. Klasse gewonnen haben, wird durch eine emotional betonte Darstellung seines Wirkens weiter vertieft.“157
Dass die emotionale Gestaltung ganz auf die Person Ulbrichts zugeschnitten ist, geht ferner aus der detaillierten Konzeption hervor, in der der Staatschef durch einen „lebendigen Lehrervortrag“ gewürdigt werden soll.158 Ähnlich wie beim Brecht’schen Lobgedicht auf die Partei wird auch hier das Lernziel gefühlsmäßig kodiert und in der Methodik verankert. Die spezifische Redeform lässt Ansätze davon erkennen, was in der historischen Forschung bislang als „Personenkult“ beschrieben worden ist. Der zumeist mit Josef Stalin in Verbindung gebrachte Terminus159 ist historisch vor allem als Abgrenzungsbegriff konzi 156 Zum biblischen Bezug vgl. Joh. 1,14: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“ 157 Staatsbürgerkunde 8. Klasse. Methodische Anleitung Teil 2. Zum Lehrplan 1969. Berlin: Volk und Wissen, S. 8. 158 Vgl. ebd. S. 14 f. 159 Auch wenn das wissenschaftliches Interesse am „Führer-“ bzw. „Personenkult“ erst durch die nach dem Ende der Regime entstehende Stalinismus- und Faschismusforschung auf-
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piert160 und insofern nicht ohne Weiteres in die religionswissenschaftliche Begriffssprache überführbar. Verstanden als „spezifische Form moderner Präsenzherrschaft“161 ist hier mit Personenkult vor allem eine Redeform gemeint, die bestimmte Sprechweisen adaptiert, die im religiösen Kontext allerdings andere Inhalte als im sozialistischen bezeichnet. Mit der Überführung des Begriffs in einen anderen Zusammenhang sind jedoch nicht zwangsläufig Rückschlüsse auf die Inhalte zu ziehen.162 Der Personenkult um Ulbricht knüpfte in gewisser Hinsicht an den Stalin-Kult an, weist aber Besonderheiten auf. Bereits beim Stalin-Kult, der in die frühe DDR zu importieren versucht wurde, hatten sich die Narrative verändert, so dass es sich nicht um eine einfache „Kult-Kopie“ handelte.163 Diese wäre in mehrfacher kam, ist das Phänomen deutlich älter und „ohne den durch die Französische Revolution geprägten (säkularen) Kultbegriff nicht denkbar“. Auch in der marxistischen Arbeiterbewegung findet sich die Marx’sche Kritik am „Lasalle-Kult“. Vgl. Hein-Kircher, Heidi (2010): Führerkult und Führermythos. Theoretische Reflexionen zur Einführung. In: Ennker, Benno/HeinKircher, Heidi (Hg.): Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts. Marburg: Verlag HerderInstitut, S. 3–23, hier: 5. Dennoch sind nach Hein-Kirchner politische Kulte „erstaunlich selten Gegenstand ausführlicher historischer Forschung“, obwohl sie „durch ihre spezifische Wirkungsweise einen wesentlichen Faktor bei der invention of tradition und bei der Entstehung und Festigung von imagined communities darstellen.“ 160 Michael Bergunder verweist zu Recht darauf, dass der Begriff seit der Geheimrede von Nikita Chruschtschow über die stalinistischen Verbrechen als politisches Schlagwort verwendet wurde, das auf die Überhöhung einer Person in Politik, Gesellschaft, und Geschichte verweist, und wegen seiner polemisch-abgrenzenden Konnotation – später auch in der „Sektendebatte“ als Negativattribut des Leitungsstils von Führungsfiguren verwendet – problematisch ist, vgl. ders. Art. Personenkult. In: RGG4 Band 6, S. 1135. Günter Kehrer weist außerdem auf die theologischen Implikationen des Begriffs hin: Positiv verstanden als Verehrung oder Huldigung und damit „Gott“ vorbehalten, wird Personenkult vor allem zum Zeichen der „Degeneration“, vgl. ders. (1997): Personenkult nichtkirchlicher Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland. In: Kerber, Walter (Hg.): Personenkult und Heiligenverehrung. München: Kindt S. 121–137, hier: 122. In der an den Kehrer’schen Beitrag anschließenden Diskussion verweist Hans-Peter Hasenfratz außerdem auf die Problematik des Personenbegriffs in Bezug auf den Hinduismus und hinterfragt damit dessen Eignung als vergleichendem Terminus der Religionswissenschaft, ebd. S. 142. 161 Vgl. Hein-Kircher (2010): Führerkult und Führermythos, S. 3. 162 Dies betont auch Hein-Kircher, die von einer phänomenologischen Ähnlichkeit von Vermittlungs- und Ausdrucksformen spricht, diese aber nicht als „bloße[n] Religionsersatz“ verstanden wissen will, vgl. Hein-Kircher (2010): Führerkult und Führermythos, S. 8. Die von der Autorin erarbeiteten Unterscheidungskriterien zwischen religiösem und politischem Kult sind aber nicht alle religionswissenschaftlich plausibel (vgl. ebd. S. 9–16.). Allerdings steht die Forschung hier erst am Anfang, zumal die meisten Arbeiten zum Führerkult deskriptiv angelegt sind. Der Führerkult wird dort zwar angesprochen, zumeist jedoch nicht analysiert, vgl. ebd. S. 6 f. Die Religionswissenschaft kann mit ihrer Begriffskompetenz zur Schärfung der Termi nologie beitragen. 163 Vgl. Behrends, Jan C. (2004): Exporting the Leader. The Stalin Cult in Poland and East Germany (1944/45–1956). In: ders. u. a. (Hg.): The Leader Cult in Communist Dictatorships. Stalin and the Eastern Bloc. New York u. a.: Macmillan, S. 161–178.
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Hinsicht heikel gewesen. Zwar genoss der Personenkult aus historischen Gründen eine gewisse Plausibilität, denn gerade in Deutschland war die ältere Generation noch an paternalistische Kulte aus der Kaiserzeit gewöhnt.164 Gleichzeitig galt Stalin den Deutschen aber vor allem als Kommandeur der gefürchteten roten Armee, so dass die ostdeutsche Bevölkerung das sowjetische Narrativ vom weisen und fürsorglichen Vater und dessen unverbrüchlicher Freundschaft zum deutschen Volk erst erlernen musste.165 Die dazu in der DDR installierte Popularisierungskampagne nahm ihren Anfang mit Stalins Glückwunschtelegramm anlässlich der Staatengründung 1949, fand allerdings sechs Jahre später nach dem X. Parteitag der KPdSU ihr Ende. Was blieb, war das Motiv der moralischen Überlegenheit der Sowjets, das sich auch in den Staatsbürgerkundebüchern kontinuierlich findet.166 Mit dem Stalin-Kult wurden die DDR-Bürger nicht nur offiziell in die „stalinistische Familie“ aufgenommen, die im Kult inszenierte emotionale Verbindung machte ihnen das offizielle Narrativ und dessen Redeform, das „speaking Bolshevik“, zugänglich.167 Nach 1956 wurde der Kult mit anderen Figuren gefüllt. Neben Lenin, der in den Staatsbürgerkundebüchern durchgehend präsent blieb, war es vor allem der Widerstandsheld Ernst Thälmann, dem für das kollektive Gedächtnis und das Staatsgründungsnarrativ Antifaschismus eine besondere Rolle zukam. Ulbrichts Bekanntschaft mit Thälmann wirkte sich günstig auf seine eigene Popularisierung aus, auch wenn diese in ihrer Intensität nicht an den Stalin-Kult heranreichte. An das moralische Desaster nach Aufdeckung der stalinistischen Verbrechen wollte man performativ nicht anknüpfen. Die Verehrung Ulbrichts bemühte andere Narrative. Aus diesen Gründen ist auch hier ebenso wenig von einer Übertragung des importierten sowjetischen Stalin-Kults auf Ulbricht zu sprechen. Mit der Entstalinisierung war der Begriff „Kult“ zudem endgültig diskreditiert.168 Dennoch ließ die öffentliche Darstellung Ulbrichts im Vergleich zu dessen Nachfolger Erich Honecker eine besondere Art der Inszenierung erkennen. Die bildhafte Präsenz der Partei- und Staatsführung hatte sich ab 1960 komplett auf Ulbricht konzentriert, der unter anderem in der Fest- und Gedenkkultur in den Mittelpunkt gerückt wurde. Die umfassende mediale Kampagne anlässlich seines 70. Geburtstages im Jahr 1963 164 Vgl. Behrends (2004): Exporting the Leader, S. 162. 165 Behrends (2004): Exporting the Leader, S. 183 und 168. 166 Dies bildet in den historischen Darstellungen von Kriegsende und Wiederaufbau ein leitendes Motiv. Beispielsweise wird die Aufbauhilfe der Sowjets immer wieder als „selbstlos“ bezeichnet, vgl. die Analyse zur Staatsbürgerkunde 10. 167 Vgl. Behrends (2004): S. 169. Dass mit dem Ministerpräsidenten Otto Grotewohl ausgerechnet ein ehemaliger Sozialdemokrat zum zentralen Sprecher des Kultes wurde, war kein Zufall. Grotewohl stand fortan als Beispiel für die erfolgreiche Umerziehung zum überzeugten Stalinisten, vgl. ebd. S. 170. 168 Jan Behrends urteilt: „There could be neither debate about his [Stalin’s] crimes nor about his cult. Again, history was carefully rewritten and texts edited. […] In official discourse, the recent past vanished behind the euphemism ‚cult of personality‘.“ Ders. (2004): S. 175.
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sah neben Informationsmaterialien wie Broschüren, Bildbänden, Dokumentarfilmen und Diaserien auch die genaue Choreografie von Schulfeiern vor. In der Ulbricht-Biografie von Johannes R. Becher, aus der das obige Zitat stammt, hieß es gar: „[U]nd wir alle, die wir den Frieden lieben, lieben dich, Walter Ulbricht, den deutschen Arbeitersohn.“169 In der politischen Ikonografie erfolgte eine Angleichung Ulbrichts an die bekannte Rednerpose Lenins mit offener Hand am ausgestreckten Arm, wie sie auch auf dem Deckblatt des Kapitels Du und deine Zeit des Staatsbürgerkundelehrbuchs der Klasse 7 zu sehen war.170 Im Staatschef wurde dieser zeichenhafte Verweis auf ein Traditionskontinuum der Arbeiterbewegung nicht nur zum zentralen Deutungsmoment für die Vergangenheit, sondern auch für die Gegenwart, die Ulbricht interpretierend darstellte. Seine Rolle für die frühe SED-Parteigeschichte wurde im Nachhinein aufzuwerten versucht171, wofür auch das Moment der ausführlichen Biografie spricht, mit dem er in die historische Tradition der DDR integriert, dann als scheinbar konkurrenzlos monumentalisiert und schließlich charismatisch inszeniert wurde – nach der Historikerin Hein-Kircher typische Elemente eines „Führerkults“.172 Die von ihr genannten Kriterien für eine vollkommene „Mythisierung“ – Unfehlbarkeit, Allwissenheit und Allgegenwart – erfüllte der Staatschef allerdings nur bedingt, diese Rolle war in der Schulbuchdarstellung Karl Marx und Friedrich Engels vorbehalten, wie die Analyse der Staatsbürgerkundbücher für neunte Klassen noch zeigen wird. Mit der ‚charismatischen‘ Inszenierung als Muster einer sozialen Beziehung mit entsprechender Rollenverteilung – nicht als Charakterzug einer Person! – wird indes das Interaktionsverhältnis zwischen Ulbricht und der Bevölkerung vorgegeben. Folgerichtig ist es der Staatschef, der die Jugend auf den Staat verpflichtet. Ein programmatisches Abschlusskapitel formuliert die Aufgaben der Jugend bei der Verwirklichung der sozialistischen Verfassung der DDR. Als „Schrittmacher von heute und Hausherren von morgen“173 müssen die jungen DDR-Bürger ihre Vertrauenswürdigkeit unter Beweis stellen. Der idealtypische junge Staatsbürger dokumentiert seine Loyalität maßgeblich durch Mitgliedschaft in den Jugendorganisationen oder der Partei sowie durch seine schulische Leistungsbereitschaft. Die Integration sämtlicher Lebensbereiche ins Politische wird letztlich weltanschaulich begründet: Die Verfassung ist die Anleitung zur wissenschaft 169 Becher, zit.n. Klotz, Katharina (1996): Führerfiguren und Vorbilder. Personenkult in der Ära Ulbricht. In: Vorsteher, Dieter (Hg.): Parteiauftrag: Ein neues Deutschland. Bilder, Rituale und Symbole der frühen DDR. München/Berlin: Koehler & Amelang, S. 322–344, hier: 327. Dort auch weitere Anmerkungen zur Inszenierung Ulbrichts, bes. S. 325–328. 170 Vgl. Klotz (1996): Führerfiguren und Vorbilder, S. 333 sowie das Kapitel zur Staats bürgerkunde 7. 171 Vgl. Klotz (1996): Führerfiguren und Vorbilder, S. 328. 172 Vgl. Hein-Kircher (2010): Führerkult und Führermythos, S. 11. 173 Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 121.
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lichen Lebenspraxis174, womit der Unterschied der gesellschaftlichen Ebenen endgültig verschwimmt, und der Vermächtnischarakter abschließend in Bezug auf die Verfassung formuliert werden kann: „Unsere sozialistische Verfassung bringt das große Vertrauen zu unserer Jugend zum Ausdruck. Sie baut darauf auf, ‚daß in unserer Republik eine zuverlässige junge Garde von Revolutionären heranwächst, die gewillt ist, das Werk der kämpfenden Arbeiter von damals in ihrem Herzen zu bewahren und mit Tatkraft fortzuführen‘, wie es Walter Ulbricht beim Appell junger Revolutionäre von heute anläßlich des 50. Jahrestages der deutschen Novemberrevolution auf dem Berliner Marx-EngelsPlatz zum Ausdruck brachte.“175
Wie der Ausblick auf die verschiedenen Lehrbuchausgaben zeigt, reduziert sich die argumentative Funktion der Verfassung im Lauf der Jahre.176 Stattdessen rückten der Staat sowie der parteiliche Führungsanspruch der SED weiter in den Vordergrund.177 Noch nachhaltiger als die Bedeutung der Verfassung ändert sich die Darstellung Ulbrichts: In der nur drei Jahre später publizierten Schulbuchausgabe von 1972 sind die argumentative Funktion und vor allem die Redeform über Ulbricht komplett verändert. Zwar wird er als ehemaliger Vorsitzender des Staatsrates aufgeführt und biografisch durchaus gewürdigt, von einer Verehrung kann allerdings keine Rede mehr sein.178 Mit dem Machtwechsel im Politbüro verschwand auch der heroisierende Sprachduktus in der Inszenierung des Staatschefs, dessen Ablösung euphemistisch als sein ausdrücklicher Wunsch dargestellt wurde.179 174 Vgl. Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 123. 175 Staatsbürgerkunde 8 (1969): S. 124 und 126. 176 Bildete der Gesetzestext zu Ende der 1960er Jahre noch den Mittelpunkt der Argumen tation, sparten die Schulbücher ab 1975 sowohl die Verfassung als auch den Verfassungsgebungsprozess weitgehend aus. Erst in der letzten Lehrbuchausgabe von 1984, die bis zum Ende der DDR erhalten blieb, wurde erneut – insgesamt aber wesentlich verknappt – auf die Verfassung verwiesen, vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Willi Büchner-Uhder: Staatsbürgerkunde 8. Berlin: Volk und Wissen 1984, 1. Auflage, S. 15–17. 177 Ein knappes Drittel der Lehrbuchausgabe von 1975 ist der Partei gewidmet, vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Hans Berndt: Staatsbürgerkunde 8. Berlin: Volk und Wissen 1975, 1. Auflage, S. 5–42. Die „führende Rolle der Arbeiterklasse“ wird zuerst durch eine SechsPunkte-Programmatik plausibilisiert (vgl. S. 10–17) und abschließend doppelt literarisch belegt: Auf das Brecht’sche Lob der Partei (vgl. S. 18) folgt ein äquivalenter Text des sowjetischen Dichters Wladimir Majakowski. Es handelt sich um einen kurzen Ausschnitt aus einer längeren Lobrede auf Lenin. Zitiert werden die Verse „Partei – das ist das Rückgrat der Arbeiterklasse. Partei – die Unsterblichkeit unserer Sendung. Partei – die einzige Gewähr der Vollendung… Hirn der Klasse, Sinn der Klasse, Kraft der Klasse, Ruhm der Klasse – das ist die Partei“ (vgl. S. 20). 178 Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Werner Wippold: Staatsbürgerkunde 8. Berlin: Volk und Wissen 1972, 1. Auflage, S. 65 sowie 67. 179 „Nachdem er viele Jahre die Funktion des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der SED ausgeübt hatte, beschloß das Zentralkomitee der SED im Jahr 1971 einstimmig, der persönlichen Bitte des Genossen Walter Ulbrichts zu entsprechen und ihn aus Altersgründen von dieser Funktion zu entbinden.“ Staatsbürgerkunde 8 (1972): S. 67.
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Zusammenfassende Analyse
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De facto hatte Ulbrichts politischer Ziehsohn Erich Honecker in Absprache mit dem sowjetischen Generalsekretär Leonid Breschnew, der ebenfalls maßgeblich an der Absetzung seines Amtsvorgängers Nikita Chruschtschow beteiligt war, geputscht. Der Sturz Ulbrichts verdeutlicht, dass die Führungsposition innerhalb der Partei nur schwach institutionalisiert war. Auch die Geschichte zeigt, wie wenig sich kommunistische Parteiführer auf die Autorität ihres Amtes verlassen konnten.180 Als Ulbricht zwei Jahre später starb, wurde er mit einem Staatsbegräbnis geehrt, seine Urne erhielt in der Gedenkstätte der Sozialisten des Berliner Zentralfriedhofs Friedrichsfelde, dem Ehrenfriedhof der DDR, einen Platz. Mit seinem Nachfolger Erich Honecker war die affektive Bindung an den Staat nicht mehr personalisiert. Dies blieb wie auch die heroisierend-verehrende Redeform in der Geschichte der DDR allein Walter Ulbricht vorbehalten.
Zusammenfassende Analyse: Die Genres der sozialistischen Erinnerungskultur Die Staatsbürgerkundebücher der Klasse 8 zeichnen sich, ähnlich jenen des Jahrgangs 7, durch eine ausgeprägte intertextuelle Verweisstruktur aus. Die Verankerungsstrategie zur Vermittlung des Sozialismus verläuft über Texte verschiedener Genres, die zumeist den Veränderungstopos thematisieren und dokumentieren. Mit Ausnahme eines Leserbriefs handelt es sich dabei um dieselben Textgattungen, die auch für die Staatsbürgerkunde 7 verwendet wurden. Im Wesentlichen sind dies literarische Texte, Erlebnisberichte aus Figurenperspektive sowie Zitate. Die geschaffene Textstruktur verweist damit stets auf ein Außerhalb des Lehrbuchhaupttextes, indem das, was den sozialistischen Menschen eigentlich ausmache, grundsätzlich der Literatur überantwortet und das Moment der Veränderung selbst in eine literarische Struktur überführt wird. Dass dabei genrespezifische Redeformen adaptiert werden, wurde bereits für den Beispielbestand der Staatsbürgerkunde für siebte Klassen gezeigt. Für die literarischen Genres der im Jahrgang 8 verwendeten Texte lassen sich folgende Merkmale feststellen: Die Betriebsreportagen dokumentieren einen ausgeprägten arbeitsethisch begründeten erzieherischen Anspruch, wobei die Erziehung von Schriftsteller und Erzähler konzeptuell zusammenfließt. Mit dem methodisch als emotionalem Höhepunkt konzipierten Gedicht Lob der Partei wird das Verhältnis zwischen Individuum und sozialistischem Kollektiv lyrisch bestimmt und der Sozialismus auf Parteitreue verdichtet. Diese Form der Verpflichtungsrhetorik blieb immerhin bis in die 1980er Jahre als feste Redeform in 180 So Ursprung, Daniel (2011): Inszeniertes Charisma: Personenkult im Sozialismus. In: Bliesemann de Guevara, Berit u. a. (Hg.): Charisma und Herrschaft. Führung und Verführung in der Politik. Frankfurt: Campus, S. 151–176, hier: 154 f.
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Wie Weltanschauung präsentiert wird
der Verhältnisbestimmung von Einzelnem und Gemeinschaft im Lehrbuch erhalten. Die sozialistische Biografie bildet eine neue literarische Form in der Überzeugungsbildung, durch die das Leben des Protagonisten nach einer gleich bleibenden Struktur abgebildet und damit idealtypisch normiert wird. Die Motive der politischen Heldenbiografie werden so über Jahrzehnte fest im Sprach- und Erinnerungshaushalt der Bevölkerung verankert. Als eigenes Genre bot die sozialistische Biografie außerdem den narrativen Rahmen für die Idealisierung von Personen aus der politischen Führungsriege der Partei. Besonders die biografische Inszenierung Ulbrichts lässt nach dem marxismustheoretisch fundierten Menschenbild fragen: Was befähigt den Staatschef dazu, in einer ‚falschen‘, d. h. einer nicht-kommunistischen oder -sozialistischen Welt prinzipiell ‚richtig‘ zu handeln und damit trotz eines falschen Seins ein richtiges Bewusstsein zu entwickeln? Die Struktur evoziert einen logischen Bruch in der marxistischen Theorie, die den Einzelnen schließlich als Produkt der sozialen Verhältnisse und als solches immer als von seinen unmittelbaren Lebensbedingungen abhängig beschrieben hatte. Nun mag sich dieser Bruch noch damit erklären lassen, dass Ulbricht oder Widerstandshelden wie Ernst Thälmann bereits in der seit 1917 bestehenden Phase des Sozialismus lebten. Dass tatsächlich ein Bruch vorliegt, wird allerdings vollständig offenbar, wenn auch die Klassiker – allen voran Karl Marx – als gute Menschen dargestellt werden, die sich altruistisch um die Arbeiterschaft sorgen181 und somit unabhängig von den gesellschaftlichen Umständen denken und handeln. Dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, trifft also weder für die Klassiker noch für Ulbricht und andere sozialistische Helden zu. Die in der marxistischen Theorie behauptete Rückführbarkeit des Bewusstseins auf das Sein ist damit zumindest für die genannten Figuren in Abrede gestellt. Stattdessen wird ein ontologisches Gutes eingeführt, das von außen in die Welt des Sozialismus dringt und sie dort verändert. Was für Klasse 7 in Form der Figurenrede eines Arbeiters und somit als fiktionale Textstruktur herausgearbeitet wurde, wird hier auf die Gesamtwelt des Sozialismus übertragen: Die unterschiedliche ethische Qualifikation der Menschen spricht für den oben erläuterten Personenkult, der sich narrativ gleichermaßen als Bruch der diegetischen Welt des Sozialismus beschreiben lässt. Mit dem Guten wird auch hier eine textuell transzendente Größe eingeführt. Die Analyse hat gezeigt, dass Erinnerungskultur innerhalb des Staatsbürgerkundelehrbuchs der achten Klasse zweifach konstruiert wird: juristisch über die Verfassung und personal über die Figur Walter Ulbrichts, womit zwei Gegenstände bemüht werden, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Kombination von textlicher und figürlicher Inszenierung für die Vermittlung der sozialis tischen Identität folgt der Systematik einer Erinnerungskultur, die auf allen
181 Dies Motiv findet sich in den Lehrbüchern der Klassen 9 und 10.
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Zusammenfassende Analyse
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Ebenen des gesellschaftlichen Lebens installiert werden sollte. Dass grundsätzlich auch ein Rechtstext zum „Erinnerungsort“ werden kann, ist indes kein neuer Gedanke. Der französische Rechtswissenschaftler Jean Carbonnier beschrieb den „Code civil“ als einen zentralen Erinnerungsort Frankreichs.182 Ihm zufolge sind Recht und Erinnerung auf verschiedene Weise miteinander verflochten, weil das eine zumindest formal in der Zuständigkeit des anderen steht, woraus sich allerdings noch keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Präsenz des Rechts im kollektiven Gedächtnis ziehen ließen. Jedoch: „Aus der Tatsache, daß ein Ereignis nur schwach in Erinnerung bleibt, folgt freilich nicht, daß es in Vergessenheit geraten ist. Jedes Gedenken weist auf eine kollektive Erinnerung hin, aber sie überlagert es durch ihr eigenes Wirken.“183
Was die Carbonnier’schen Ausführungen für den vorliegenden Zusammenhang relevant macht, ist die Beobachtung, dass der französische Gesetzestext keine „vollendete Geschichte darstellt, sondern auf eine zu vollendende Geschichte vorausdeutet“, die Erinnerung somit nicht bewahrt, sondern erst begründet.184 Genau dies, die Präsenz des Rechts in der kollektiven Erinnerung als Tradition zu verankern, geschah auch mit der Verfassung der DDR. Diese stand nicht für sich, sondern lieferte als Trägerin der sozialistischen Weltanschauung die grundlegende Systematik für das Staatsbürgerkundeschulbuch. Anders als beim Code civil, der seine Historizität Carbonnier zufolge der Figur Napoléon Bonapartes zu verdanken hat, wurde die Bedeutsamkeit der DDR-Verfassung nicht personen bezogen, sondern kollektiv dramaturgisch inszeniert. Einen weiteren Punkt teilen beide Gesetzestexte allerdings: Sie nutzen, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise und in vollkommen verschiedenen Diskurszusammenhängen, die Schule, um ihre Wirkung als Erinnerungsort zu entfalten. Das auffällige Schweigen des Code civil in Bezug auf Religion teilt die DDR-Verfassung hingegen nicht: Durch Artikel 20 und 39 wurden zumindest formaljuristisch Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie Religionsfreiheit garantiert und die Zuständigkeit der religiösen Gruppen für ihre eigenen Belange formuliert.185 Insgesamt wurde im Staatsbürgerkundelehrbuch sowohl aus der Verfassung als auch aus der sozialistischen Biografie des Staatschefs ein Vermächtnis- und Verpflichtungscharakter generiert, der in seinem moralisierenden Tenor ein Idealbild des Schülers entwarf, das durch zusätzliche literarische Mittel wie die sozialistische Zeugenschaft implementiert werden sollte. Anders als in den 182 Vgl. Carbonnier, Jean (1986): Code civil. In: Nora, Pierre (Hg.): Les lieux de mémoire Band 2: Le territoire, l’état, le patrimoine. Paris: Gallimard, S. 293–317. Übersetzt ins Deutsche in: Nora, Pierre/Etienne, François (Hg.) (2005): Erinnerungsorte Frankreichs. München: Beck, S. 159–178. 183 Carbonnier (2005): Code civil, S. 159 f. 184 Vgl. Carbonnier (2005): Code civil, S. 161. 185 Als Kontrast dazu Carbonnier (2005): Code civil, S. 169 sowie 177.
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Figurenreden wird die Inszenierung Ulbrichts allerdings nicht dazu genutzt, den Sozialismus von innen zu fokalisieren. Vielmehr dient sie der personalisierten Traditionserzählung.
6.3 Der narrative Zugang zu den marxismustheoretischen Grundlagen: die Freundschaft von Karl Marx und Friedrich Engels – Motive der sozialistischen Weltanschauung in Staatsbürgerkunde 9 Im Gegensatz zu den Klassenstufen 7 und 8 finden sich im Lehrbuchkorpus der Staatsbürgerkunde 9 insgesamt auffällig wenig literarische Anteile. Besonders die erste Lehrbuchausgabe sticht im Gegensatz zu den unteren Klassenstufen in ihrer nüchternen Gestaltung hervor.186 Zwar nehmen Literaturverweise und sozialistische Zeugenschaften im Lauf der Zeit geringfügig zu. Insgesamt befindet sich der Lehrbuchkorpus für Klasse 9 aber an der Schwelle zur Theoretisierung. Diese Entwicklung entspricht der „Gesamtlinienführung“ des Staatsbürgerkundeunterrichts, die eine altersgerechte Vermittlung der sozialistischen Weltanschauung für jede Klassenstufe nach dem didaktischen Leitprinzip der Wiederholung vorsah. Formal gilt also: Werden die zentralen weltanschaulichen Inhalte in den unteren Klassen vor allem erzählend vermittelt und zusätzlich historisiert, führen die Jahrgänge 9 und 10 in die marxistische Theorie ein und schaffen somit den Übergang zu der in den Klassen 11 und 12 erfolgenden Theoretisierung der Weltanschauung, die dort zum dominierenden Stilmittel der erzieherischen Vermittlung wird. Die weltanschauliche Sozialisation erfolgt stufenweise und lehnt sich demzufolge an ein kognitiv-erzieherisches Konzept an, das vom Konkreten (Geschichten) zum Abstrakten (Theorie) verläuft und argumentativ – ähnlich wie das verfassungsmäßig begründete Vergemeinschaftungsideal in Klasse 8 – an die evolutionären Gesellschaftstheorien des 19. Jahrhunderts anknüpft.187 Der Entwicklungstopos vom Niederen zum Höheren wurde 186 Es handelt sich dabei um den ersten Band der Vorgängerreihe Staatsbürgerkunde 1–4, die von Mitte bis Ende der 1960er Jahre für die Klassen 9 bis 12 in Gebrauch war. Im Vergleich mit der Nachfolgereihe ist diese Ausgabe insgesamt theoretischer konzipiert, was besonders anhand der nüchtern präsentierten historischen Themen wie Partei- und Staatsgründung ins Auge fällt, deren Darstellung in den unteren Jahrgängen deutlich emotional aufgeladen war. Die Inhalte des Lehrbuchs sind marxismustheoretisch ausgesprochen anspruchsvoll und mögen Schüler im Alter von 15 Jahren überfordert haben. Vgl. Staatsbürgerkunde 1. Weg und Ziel des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik. Autorenkollektiv unter der Leitung des Instituts für Deutsche Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Kollektiv leiter Heinz Karras. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage (1965) sowie 2. Auflage (1968). 187 Die geistigen Väter des gesellschaftlichen Entwicklungsgedankens lassen sich freilich viel weiter zurückverfolgen, vgl. die Habilitation von Ina Wunn (2004): Die Evolution der Religionen. (Elektronische Veröffentlichung). Wunn zeichnet die Übertragung des naturwissenschaftlichen Entwicklungsgedankens in die Religionswissenschaft nach und beginnt mit der
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dort sowohl auf phylogenetische Entwicklungsmodelle von Gesellschaft insgesamt als auch auf ontogenetische Konzepte der menschlichen Individualentwicklung angewendet.188 Die Vorstellung von der Evolution des menschlichen Denkvermögens ist nicht nur aufschlussreich, was die Konstruktion von Religionsgeschichte als Entwicklungsgeschichte von vor-rationalen magischen über religiös entwickelte bis hin zu wissenschaftlichen Kulturen betrifft.189 Was diese Unterscheidung für den vorliegenden Zusammenhang interessant macht, ist ihre Auswirkung auf Pädagogik und Menschenbild: In der Konstruktion findet das für fremde Kulturen angenommene „primitive“ Denken seine Entsprechung im kindlichen Denken, womit die Individualgenese des Kindes als Evolution des Geistes beschreibbar wird, der sich vom magisch-mythischen zum rationalen Denken – also vom Konkreten zum Abstrakten – fortentwickele.190 Die Methodik der Staatsbürgerkunde folgt dieser Logik, insofern die Weltanschauungsdidaktik als Weiterentwicklung gleicher Überzeugungen auf jeweils höherem Niveau konzipiert ist, und deren zentrale Vermittlungsstrategie in den unteren Jahrgängen die Erzählung bildet. Die intertextuelle Verweisstruktur der Staatsbürgerkundeschulbücher für neunte Klassen verändert sich deutlich: An die Stelle der literarischen Texteinschübe und Figurenreden treten nunmehr Klassikerzitate. Das bedeutet allerdings nicht, dass erzählende Anteile keine Rolle mehr spielen, im Gegenteil. Wie die Analyse der Schulbücher für neunte Klassen zeigen wird, ist die Konstruktion der sozialistischen Erinnerungskultur auch was die Theoretisierung der Weltanschauung betrifft maßgeblich über Narrative aufgebaut.
Scala naturae des Aristoteles, um von dort über die soziologischen Modelle der Gesellschaftsentwicklung zu den evolutionistischen Religionstheorien des 19. und 20. Jahrhunderts zu ge langen. Es war vor allem Antoine de Condorcet, der bereits Ende des 18. Jahrhunderts mit seinem Hauptwerk Entwurf einer historischen Darstellung des Fortschritts des menschlichen Geistes den Grundstein für die spätere Rezeption des Entwicklungsgedankens in den Geisteswissenschaften legte und erstmals systematisch eine gesellschaftliche Entwicklungstheorie formulierte, deren Modell von der Entwicklung vom Primitiven oder Einfachen zum Höherentwickelten oder Komplexen ausgeht und damit unmittelbar an die Biologie Lamarcks anknüpfte, vgl. Wunn (2004): Evolution der Religionen, S. 105–116. 188 So bei Auguste Comte, der in seinem Dreistadiengesetz nicht nur Religion als Charakteristikum und Faktor gesellschaftlicher Entwicklungsstufen einbezog (vgl. Wunn [2004]: S. 138), sondern die Stadien auch der menschlichen Individualentwicklung zuordnete, vgl. ebd. S. 131, 147 sowie Knoblauch, Hubert (1999): Religionssoziologie. Berlin: de Gruyter, S. 25. 189 Vgl. die Frazer’sche Entwicklungsreihenfolge Magie – Religion – Wissenschaft. 190 Für die Religionstheorie vgl. Tylors Animismus-Theorie; der Animismus-Begriff ging vor allem durch Jean Piaget in die Entwicklungspsychologie ein, wenngleich die grundlegenden Vorstellungen über die Individualentwicklung des menschlichen Geistes wesentlich älter sind. Sie finden sich bereits in J.-J. Rousseaus pädagogischer Schrift Emile oder über die Erziehung von 1762. Dialektischer und historischer Materialismus bilden besonders in den 1980er Jahren einen deutlichen Schwerpunkt der Stoffeinheit, vgl. die Lehrpläne ab 1982.
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Inhaltlich bieten die Lehrbücher für Staatsbürgerkunde der neunten Klasse wenig Neues. Der Stoff untergliedert sich grob in zwei thematische Einheiten, die in den Marxismus-Leninismus einführen und neben dem Gesetzmäßigkeitstopos (dialektischer Materialismus) und der notwendigen Ablösung des Kapitalismus (historischer Materialismus) die Theorie vom Klassenkampf und der Arbeiterklasse als ihrer „historischen Triebkraft“ erläutern.191 Ein Hauptziel des Unterrichts sollte darin bestehen, die Rolle der SED theoretisch zu begründen.192 Mit der Darstellung marxismustheoretischer und begrifflicher Grundlagen ergänzt die Staatsbürgerkunde die bisherigen Inhalte vor allem um eine systematische theoretische Dimension. Wie wurde die Weltanschauung nun genau theoretisiert? Für die Frage nach der historischen Konstruktion der sozialistischen Erinnerungskultur spielt zunächst die Präsentation von Karl Marx und Friedrich Engels eine zentrale Rolle. Am Anfang der Einführung in den Marxismus steht die personenbezogene Darstellung der Theorie: Vor allem über die biografische Inszenierung lernt der Schüler, dass die Klassiker Karl Marx und Friedrich Engels als Personen Vorbildcharakter besitzen und ihre ökonomische Gesellschaftstheorie das Produkt einer lebenslangen Freundschaft ist. Diese an ein populäres Jugendbuchmotiv anschließende Verheißungsstruktur bildet als narratives Moment die Grundlage für die spätere theoriebezogene Präsentation der „wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus“. Bevor sie in den oberen Klassen 11 und 12 in ihren theoretischen Bezügen entfaltet werden kann, wird in den unteren Jahrgängen 7 bis 10 eine sich aus einem Erzählgeflecht konstituierende Erinnerungskultur geschaffen, in der Arbeiter den Sozialismus erleben, Figuren über sich hinauswachsen und Freundschaften wie die zwischen Marx und Engels entstehen. Die Entfaltung der Theorie erfolgt vor dem Hintergrund von Protogeschichten über Verbindlichkeit, das Streben, ein guter Mensch zu sein oder Freundschaft und fokussiert damit auf „human-interest-Themen“. In den verschiedenen Schulbuchausgaben wird das Moment der Freundschaft zwischen Marx und Engels unterschiedlich stark gewichtet. Besonders in den ersten Lehrbüchern ist die Freundschaft das führende Motiv der theoretischen Darstellung, wie der Entwurf des Lehrbuchs Staatsbürgerkunde 1 von 1964 erkennen lässt: 191 Die beiden Teile variieren in ihrem Aufbau über die Jahre insgesamt nur wenig. Zum Teil ergeben sich allerdings inhaltliche und terminologische Verschiebungen, die auf veränderte theoretische Konzepte hinweisen, wie zum Beispiel die Verwendung des Begriffes Kommu nismus sowie die Konstruktion von Sozialismus und Kommunismus als zusammenhängendem Begriffspaar vor allem in den Lehrbüchern der 1970er Jahre. Auf die damit verbundene Intention, den Sozialismus als eigenständige Epoche zu fundieren, wurde bereits im Rahmen der Analyse der Staatsbürgerkundelehrbücher der Klasse 7 verwiesen. 192 Vgl. Haase (1977): Staatsbürgerkunde in der DDR, S. 244 f. Eine detaillierte Inhaltsangabe des Lehrbuchs, allerdings ausschließlich auf die 1980er Jahre bezogen, liefert Knopke (2011): Schulbücher als Herrschaftsinstrumente, S. 256–258.
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„Als Engels im September 1844 Marx in Paris besuchte, konnten beide feststellen, daß sie in allen wesentlichen Punkten zu gleichen Auffassungen gelangt waren. […] Die Gemeinsamkeit der Auffassungen, die Notwendigkeit, ihre Erkenntnisse durch weitere Studien zu vertiefen und nach allen Seiten hin auszuarbeiten, und der Wille, sie dem kämpfenden Proletariat zur Verfügung zu stellen, um ihm opfervolle Irr- und Umwege zu ersparen, besiegelten Marx’ und Engels’ Freundschaft. Keiner von beiden tat fortab etwas von Wichtigkeit, ohne des anderen Rat einzuholen. Engels verwendet viel von seinen beruflichen Einkünften dazu, dem Freunde die Forschungsarbeit zu ermöglichen und ihm und seiner rasch wachsenden Familie die allerärgste Not lindern zu helfen.“193
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Staatsbürgerkunde 9 (1970): S. 7
Im Lauf der Zeit verändern sich die Textdarstellungen, inhaltlich bildet die Freundschaft aber weiterhin den Hintergrund der theoretischen Ausführungen. Die Figuren bleiben zudem sowohl auf der Bild- als auch auf Textebene als Begriffspaar „Marx und Engels“ präsent.194 Die Deckblattzeichnung des ersten Kapitels der Ausgabe von 1970 zeigt eine prototypische Darstellung der „Klassiker“ als geistige Väter der Arbeiterbewegung. Der durch das Zitat aus dem Kommunistischen Manifest hergestellte Ver 193 Staatsbürgerkunde 1. Weg und Ziel des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik. Entwurf. Autorenkollektiv unter der Leitung des Instituts für Deutsche Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Kollektivleiter Heinz Karras. Berlin: Volk und Wissen 1964, S. 8. In der ein Jahr später zum Einsatz kommenden Lehrbuchausgabe werden die Ideen von Marx und Engels als Parallelentwicklung gekennzeichnet und in der Darstellung als gemeinsame präsentiert. Das Kennenlernen der Figuren spielt dort allerdings keine Rolle, vgl. Staatsbürgerkunde 1. Weg und Ziel des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik. Autorenkollektiv unter der Leitung des Instituts für Deutsche Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Kollektivleiter Heinz Karras. Berlin: Volk und Wissen 1965, S. 5–7. Jedoch erfolgt eine gemeinsame Bebilderung von Marx und Engels, vgl. ebd. S. 8. 194 Vgl. die Ausgaben von 1974 und 1977, in denen die marxismustheoretischen Grundlagen noch stärker über Marx und Engels dargestellt werden, als dies schließlich in der letzten Ausgabe von 1983 der Fall ist. Dort geht es hauptsächlich um Inhalte, vgl. Staatsbürgerkunde 9. Autorenkollektiv unter der Leitung von Werner Paff. Berlin: Volk und Wissen 1983, 1. Auflage, S. 6–9.
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weisungszusammenhang wird durch die Fingergeste zur Aufforderung und hebt die Schriftbezogenheit der Lehre hervor, die gleichzeitig als Metapher für den Aufbau des Sozialismus gelesen werden kann. Zwar wurde später auf einzelne Kapiteldeckblätter verzichtet, die gemeinsame Abbildung der Klassiker blieb jedoch fester Bestandteil nicht nur der historischen Schulbuchdarstellungen. Ein Blick auf den außerschulischen Bereich zeigt, dass „Marx und Engels“ – ähnlich wie das Symbol des Handschlags auf dem SED-Parteiemblem195 – als feste Größe der Geschichtspolitik in das kollektive Bildgedächtnis sowie als Begriffspaar in den Sprachgebrauch eingingen.196 Die Inszenierung des Marx-Engels-Duos zeigt sich am Parteitagsemblem der SED, das allerdings auch Lenin abbildete, den zwei großen Texteditionen Marx-Engels-Werke (MEW) bzw. der Marx-EngelsGesamt-Ausgabe (MEGA), an Benennungen öffentlicher Plätze wie dem MarxEngels-Platz, der Marx-Engels-Brücke, die auch die 70-Pfennig-Briefmarke zierte, oder – als berühmtestes Beispiel – an der 1986 eingeweihten Denkmalanlage des Marx-Engels-Forums im Zentrum Berlins, dessen überlebensgroße Bronzefiguren noch heute, allerdings leicht versetzt, zu sehen sind. Das DDR-Fernsehen strahlte 1978 erstmals eine insgesamt elfteilige, als Dokudrama gestaltete und mehrfach auch im westdeutschen Fernsehen wiederholte Miniserie Marx und Engels – Stationen ihres Lebens aus, der ebenfalls das Freundschaftsnarrativ unterlegt war. Auch wo beide Figuren in der Öffentlichkeit nicht gemeinsam präsent waren197, stützte ihre häufig vereinte Darstellung das Bild der Weggefährten und Freunde, das für die narrative Inszenierung der theoretischen Weltanschauungsgrundlagen der Staatsbürgerkundebücher so wichtig war. Zusätzlich gestärkt wurde dieses Bild durch seine fächerübergreifende Präsenz: Bereits in der achten Klasse des Geschichtsunterrichts waren Marx und Engels ausführlich thematisiert worden, wobei es dort vor allem um biografische Details und damit um die Personalisierung der Weltanschauung ging.198 His 195 Vgl. die Analyse zur Staatsbürgerkunde 7. 196 Karl Marx und Friedrich Engels waren auch ein beliebtes Kunstmotiv, wie aus den Schulbuchabbildungen hervorgeht. Die dort abgedruckten Zeichnungen und Bilder zeigen Marx und Engels häufig bei der Arbeit, vgl. zum Beispiel Staatsbürgerkunde 9 (1968): S. 12, Geschichte 8 (1969): S. 23 sowie 118, und stammen von zumeist zeitgenössischen Künstlern. 197 Vgl. verschiedene Ortsbezeichnungen wie Karl-Marx-Stadt für Chemnitz, die Dresdner Militärakademie Friedrich Engels oder die Engels und Marx zierenden Fünfzig- bzw. Ein hundertmarkscheine. 198 Als Stichprobe vgl. Geschichte 8. Unter Verantwortung des Instituts für Geschichte an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Horst Bartel entwickelt. Berlin: Volk und Wissen 1969, 1. Auflage; Lehrbuch für Klasse 8. Unter Verantwortung des Zentralinstituts für Geschichte an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfgang Büttner entwickelt. Berlin: Volk und Wissen 1983/1988, 1. Auflage. In beiden Büchern bildete das Freundschaftsmotiv bildete ein zentrales Element der historischen Darstellungen von Marx und Engels. Es wurde zum Ende der DDR noch gesteigert.
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torisch eingebunden in die Geschichte der Arbeiterbewegung berichtete ein separates Kapitel Aus dem Leben von Karl Marx und Friedrich Engels im Zeitraum von deren Geburt 1818 bzw. 1820 bis 1844, dem Jahr der Veröffentlichung der Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie. Die historisch-biografischen Erzählungen schilderten zunächst, wie beide unabhängig voneinander das Elend der Arbeiterklasse erkannten199, wenngleich dies bei Marx mit einem Überhöhungsgestus verbunden war.200 Der Lehrbuchtext bezog auch die Frage nach den Gründen für das sozialpolitische Engagement der Figuren ein. Entsprechende Arbeitsaufgaben, die explizit auf die bürgerliche Herkunft beider verwiesen, forderten den Schüler auf: „Erkläre, wie Karl Marx, obwohl er der Klasse des Bürgertums entstammte, zum Verfechter der Interessen der Arbeiterklasse wurde!“ Die äquivalente Frage zu Engels lautete: „Welche Einflüsse bewirkten, daß Friedrich Engels, der Sohn eines Kapitalisten, die Sache des Proletariats zu seiner eigenen machte?“201 Dies ist bemerkenswert, weil die Texte der Staatsbürgerkunde diesbezüglich an keiner Stelle zur Reflexion anregen. Dort wo Karl Marx als Person eine Rolle spielt, sind dessen Engagement und seine moralische Integrität stets fraglos.202 Wenn auch die auf die Arbeitsaufgaben gegebenen potenziellen Antworten nicht eruierbar sind, macht der Fokus der Fragestellung deutlich, dass die Aufmerksamkeit der Schüler auf die Glaubwürdigkeit der Klassiker als ‚gute‘ Menschen gerichtet werden soll. Deren gemeinsame Tätigkeit bildet ein zentrales Moment des Freundschaftsnarrativs: „Ihre Auffassungen über die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft stimmten überein. Sie stellten sich auf den Standpunkt der Arbeiterklasse. Das bestimmte ihr weiteres Leben. Sie schlossen Freundschaft und arbeiteten von nun an eng zusammen. Erst der Tod hat die Freundschafsbande zwischen Marx und Engels lösen können.“203 199 Über Marxens Exilzeit in Frankreich heißt es: „Wissenschaftliche Studien und der Kampf der Arbeiter ließen ihn erkennen, daß allein das Proletariat berufen und in der Lage war, die Menschheit für immer von Not und Ausbeutung zu befreien. Deshalb widmete er von da an all seine schöpferischen Kraft und sein tiefes Wissen, seine hohe Begabung und seinen unermüdlichen Fleiß dem Kampf um die Befreiung der Arbeiterklasse vom kapitalistischen Joch.“ Vgl. Geschichte 8 (1969): S. 23. Zu Engels Englandaufenthalt: „Noch deutlicher als in seiner Heimat sah er, welch unermeßliches Elend der Kapitalismus für die Arbeiter brachte. Gründlich machte er sich mit der Lebenslage des englischen Proletariats und seinen politischen Probleme vertraut. Er besuchte die Arbeiterviertel, durchwanderte ihre Gassen mit den baufälligen Häusern und stieg in die kalten und modrigen Kellerlöcher hinunter, in denen die Arbeiter wohnten.“ Vgl. ebd., S. 24. 200 Im Gegensatz zu Engels wurde dieser nicht nur als fleißig, intelligent und fortschrittlich dargestellt, sondern zudem als den Mitmenschen „überlegen“ bezeichnet, vgl. Geschichte 8 (1969): S. 22. 201 Geschichte 8 (1960): S. 23 f. 202 Vgl. die entsprechenden Analyseabschnitte in Staatsbürgerkunde 8 sowie Staatsbürgerkunde 10. 203 Vgl. Geschichte 8 (1969): S. 24.
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Dass ausgerechnet ein Lenin-Zitat diese Freundschaft bezeugen soll, erstaunt angesichts der Tatsache, dass Lenin weder Karl Marx noch Friedrich Engels jemals persönlich kennengelernt hatte: „Lenin über die Freundschaft von Marx und Engels ‚Antike Sagen berichten von manchen rührenden Beispielen der Freundschaft. Das europäische Proletariat kann sagen, daß seine Wissenschaft von zwei Gelehrten und Kämpfern geschaffen worden ist, deren Verhältnis die rührendsten Sagen der Alten über menschliche Freundschaft in den Schatten stellt. [Zit. n. Karl Marx. Eine Biographie. Berlin 1967, S. 78].‘“204
Mit dieser Zeugenschaft aus dem Geschichtslehrbuch für achte Klassen beginnt denn auch eine der frühen staatsbürgerkundlichen Darstellungen.205 In den Ausgaben des Geschichtsbuchs vor allem der 1980er Jahre werden die positiven Eigenschaften der Figuren206 sowie das Freundschaftsargument auf der Text- und Bildebene noch verstärkt, was ein Beispiel verdeutlichen mag. Die einleitende Formulierung des Haupttextes: „1844 trafen sich Marx und Engels in Paris. Sie stellten die weitgehende Übereinstimmung ihrer Gedanken und Auffassungen fest. Bei dieser Begegnung schlossen sie eine Freundschaft, die sich ihr ganzes Leben lang bewährte. Ihr Hauptinhalt war der gemeinsame Kampf für den Sozialismus“ wird mit einer Buntzeichnung bebildert. Diese zeigt Marx und Engels ins Gespräch vertieft. Eine zusätzliche Spalte kommentiert das Bild, ein abschließendes Leninzitat soll die Freundschaft bezeugen. Die Belegstruktur zeigt, dass Freundschaft als leitendes Narrativ der Darstellung auch intertextuell inszeniert wird.207 Die Vermittlung der staatsbürgerkund-
204 Geschichte 8 (1969): S. 24 205 Vgl. Staatsbürgerkunde 9 (1964): Entwurf, S. 5. 206 So auch in der Staatsbürgerkunde: „Marx war besonders aufgeschlossen gegenüber neuen Erkenntnissen der Wissenschaft. Er prüfte sie genau. Wenn sie sich dann als richtig erwiesen, vertrat er sie leidenschaftlich, auch wenn sie herrschenden Auffassungen entgegenstanden oder Kritik an Staat und Gesellschaft zum Ausdruck brachten.“ (S. 21) „Friedrich Engels wollte kein Kaufmann werden. […] Friedrich Engels besaß ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden. Er hielt es nicht für richtig, daß es in der Gesellschaft wenige Reiche und sehr viele Arme gab. Es empörte ihn, daß gerade die Ärmsten vom Morgengrauen bis spät in die Nacht hinein hart arbeiten mußten.“ (S. 23) Karl Marx und Friedrich Engels werden zwar als Anhänger der bürgerlichen Klasse dargestellt, die sich aber „nicht abfanden mit Not und Unterdrückung der Volksmassen.“ (S. 24) In: Staatsbürgerkunde 8. Lehrbuch für Klasse 8. Unter Verantwortung des Zentralinstituts für Geschichte an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfgang Büttner entwickelt. Berlin: Volk und Wissen 1983, 1. Auflage. 207 Diese Struktur blieb bis auf kleinere Veränderungen bis zum Ende der DDR erhalten. Beispielsweise zeigte eine in der letzten Ausgabe des Geschichtsbuchs abgedruckte Abbildung Engels und Marx mit dessen drei Töchtern und dokumentierte damit einen engen familiären Bezug, vgl. Geschichte 8 (1988): S. 73.
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Geschichte 8 (1983): S. 25.
lichen Inhalte steht in direktem Verweisungszusammenhang mit den biografiegeschichtlichen Erzählungen des Geschichtsbuchs, auf das durch entsprechende Arbeitsaufgaben querverwiesen wird: „Im Geschichtsunterricht der 8. Klasse haben Sie sich schon mit Marx und Engels beschäftigt. Beantworten Sie zur Wiederholung folgende Fragen: 1. Was wissen Sie über das Leben von Marx und Engels? Geben Sie dabei insbesondere auf entscheidende Ereignisse in ihrem Leben ein! 2. Welche Werke sind Ihnen bekannt, in denen Marx und Engels ihre wissenschaftlichen Ergebnisse niederlegen?“208
Die Aktivierung von Vorwissen über biografische Details wird zum didaktischen Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit den marxismustheoretischen Grundlagen, die in der neunte Klasse im Vordergrund steht. In der der Lehrkraft obliegenden Choreografie für die Einführungsstunde soll das Freundschaftsnarrativ
208 Staatsbürgerkunde 9 (1969): S. 10; Staatsbürgerkunde 9 (1974): S. 7. Dort sollten die Schüler wichtige Ereignisse, die in direktem Zusammenhang mit dem Leben und Wirken von Karl Marx und Friedrich Engels standen, nennen.
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zusätzlich hervorgehoben und emotionalisiert werden.209 Für die Lehrbuchdarstellung der „Klassiker“ spielt überdies das Überlegenheitsmotiv eine wichtige Rolle, durch das die Besonderheit von Marx und Engels herausgehoben und das Studium der Schriften zum kognitiv aufwendigen Aneignungsprozess wird: „Bereits als junger Mann beeindruckte Marx durch seine Kenntnisse und Fähigkeiten. 1841 schrieb der Publizist Moses Heß an einen Freund. ‚…Du kannst Dich darauf gefaßt machen, den größten, vielleicht den einzigen jetzt lebenden eigentlichen Philosophen kennenzulernen, der nächstens, wo er öffentlich auftreten wird […], die Augen Deutschlands auf sich ziehen wird… Dr. Marx, so heißt mein Abgott, ist noch ein ganz junger Mann (etwa 24 Jahre höchstens alt), der der mittelalterlichen Religion und Politik den Stoß versetzen wird, er verbindet mit dem tiefsten philosophischen Ernst den schneidendsten Witz; denke Dir Rousseau, Voltaire, Holbach, Lessing, Heine und Hegel in einer Person vereinigt […] – so hast Du Dr. Marx.‘“210
Ein persönlicher Brief von Karl Marx an Friedrich Engels dokumentiert die Entstehungsgeschichte des Kapitals.211 „2 Uhr Nacht, 16. August 1867. Dear Fred, Eben den letzten Bogen (49.) des Buchs fertig korrigiert. Der Anhang – Wertform – kleingedruckt, umfaßt 1 ¼ Bogen. Vorrede ditto gestern korrigiert zurückgeschickt. Also dieser Band ist fertig. Bloß DIR verdanke ich es, daß dies möglich war! Ohne Deine Aufopferung für mich konnte ich unmöglich die ungeheuren Arbeiten zu den 3 Bänden machen. I embrace you, full of thanks! Beiligend 2 Bogen Reinabzug. Die 15 £ mit bestem Dank erhalten. Salut, mein lieber, teurer Freund! Dein K. Marx.“212
Aus der Datierung und der einführenden Formulierung geht hervor, dass Friedrich Engels offenbar als erster von der Fertigstellung des Manuskripts erfuhr, was das Freundschaftsnarrativ unterstreicht und mit Aussagen aus dem Geschichtsbuch interferiert, wo auf einen engen Gedankenaustausch mit nahezu 209 Der Entwurf eines idealtypischen Lehrervortrags sah vor, dass der Lehrer zur Einführung in den Stoff unter anderem auf folgende „Tatsachen“ aufmerksam machen solle: Friedrich Engels als „der engste Freund von Karl Marx“ hielt die Gedenkrede an dessen Grab, als „Kampfgefährten haben sie in Freud und Leid zusammengehalten“. Ferner würden immer wieder „Delegationen der Arbeiterklasse aus aller Welt in tiefer Verehrung am Grab von Karl Marx [weilen].“ Vgl. Unterrichtsmittel im Staatsbürgerkundeunterricht. Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfgang Feige. Berlin: Volk und Wissen 1979, S. 52. 210 Staatsbürgerkunde 9 (1970): S. 10. 211 Als Referenzstelle vgl. Geschichte 8 (1988): S. 74. 212 Vgl. Staatsbürgerkunde 9 (1977): S. 8.
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täglich stattfindender Korrespondenz hingewiesen wurde.213 Auch der Hinweis auf die finanzielle Unterstützung durch Engels belegt das Vertrautheitsverhältnis, und wurde keineswegs als problematisch empfunden. Argumentativ dient der Brief dazu, Kapital und Kommunistisches Manifest als zentrale theoretische Schriften einzuführen und ihre Bedeutung für die Lehre des Marxismus-Leninismus und die sozialistische Gesellschaft herauszustreichen, wobei dem Manifest als Quelle der sozialistischen Weltanschauung eine Sonderrolle zugedacht wird. Dafür greift das Staatsbürgerkundebuch erneut auf Schülerwissen aus den Geschichtsbüchern zurück, in denen das Manifest als „Geburtsurkunde des wissenschaftlichen Sozialismus“, „historische Programmschrift“ bzw. „wissenschaftliches Programm“ und „Geburtsurkunde des wissenschaftlichen Kommunismus“ beschrieben auf dessen weltgeschichtliche Rolle verwiesen wurde.214 Insgesamt ist den Staatsbürgerkundebüchern der Klasse 9 ein engmaschiges Netz von Zitaten aus diesen grundlegenden Werken unterlegt. In der Fachdidaktik wurde dies damit begründet, dass der Umgang mit den Quellentexten auf der Basis von Klassikerzitaten und Parteidokumenten Teil der in den Klassen 9 und 10 im Vordergrund stehenden anspruchsvollen Vermittlung der theoretischen Grundlagen des Marxismus-Leninismus sei.215 Die Schriften sollten außerdem als Ratgeberliteratur für die Jugendlichen fungieren216, also verhaltensnormierende und vorbildhafte Funktion erfüllen, was nur durch ein wortwörtliches, von einem im Kern unveränderbaren „Wahrheitsgehalt“ ausgehenden Textverständnis plausibel ist. Dementsprechend hält die methodische Konzeption die Lehrkräfte dazu an, zu erläutern, „daß sich am Wesen des Kapitalismus nichts geändert hat, daß Marx und Engels also nicht ‚überholt sind‘, wie unsere Gegner behaupten“.217 Die Schriften werden zum Instrument einer Rezeptionskultur, die in ihrer Struktur an fundamentalistisch-konservative Schriftrezeptionen im religiösen Bereich erinnert. Auf der Schriftbezogenheit soll gleichermaßen die kol 213 Vgl. Geschichte 8 (1988): S. 74. 214 Vgl. Geschichte 8 (1969): S. 26 sowie Geschichte 8 (1983): S. 29. Die weltgeschichtliche Rolle bezeugte Lenin: „Lenin über das Kommunistische Manifest ‚Dieses kleine Büchlein wiegt ganze Bände auf: Sein Geist beseelt und bewegt bis heute das gesamte organisierte und kämpfende Proletariat der zivilisierten Welt.“ Vgl. Geschichte 8 (69): S. 27. Die Metapher von der „Geburtsurkunde“ findet sich auch in Schulbüchern der höheren Klassenstufen wieder, vgl. Staatsbürgerkunde 11/12 (1971): S. 81. 215 Vgl. Beiträge zur Methodik des Staatsbürgerkundeunterrichts. Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfgang Feige. Berlin: Volk und Wissen 1975, S. 244. 216 Ein separates Kapitel thematisierte die Frage Warum junge Sozialisten die Werke von Marx und Engels studieren und beantwortete resümierend: „Nur wenn wir selbst uns die wissenschaftliche Lehre vom Kampf und Sieg der Arbeiterklasse, die Lehre vom Sturz der kapita listischen Ausbeuterordnung und vom Aufbau der sozialistischen Gesellschaft aneignen, können wir aktive Bürger in unserer sozialistischen Gesellschaft sein.“ Vgl. Staatsbürgerkunde 9 (1970): S. 23. 217 Vgl. Beiträge Methodik (1975): S. 248.
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Wie Weltanschauung präsentiert wird
lektive Identität der Jugend als „Erbe“ des Manifestes und die Identität des Staates als dem Ort aufbauen, an dem die „Forderungen des Kommunistischen Manifestes verwirklicht sind“.218 Mit dem Begriff des „Erbes“ ist zudem ein Schlagwort der kulturpolitischen Debatte um die Konstruktion einer sozialistischen Identität und deren Verankerung im kollektiven Erinnerungshaushalt der DDR-Bürger angesprochen.219 Marx und Engels und deren Werke stehen historisch am Beginn der sozialistischen Traditionserfindung, weshalb ihre narrative Präsentation in den Schulbüchern so wichtig ist. Dass grundsätzlich auch Texte als Erinnerungsorte fungieren können, hat bereits die Analyse der Rolle, die die sozialistische Verfassung im Staatsbürgerkundelehrbuch für achte Klassen einnimmt, gezeigt. Die Klassikertexte bilden einen weiteren zentralen Ort, an dem die sozialistische Identität als Tradition fixiert und in den kollektiven Erinnerungshaushalt eingespeist wird. Über die narrative Inszenierung der Schriften durch das Freundschaftsmoment werden weitere theoretische Inhalte zugänglich gemacht.220 Ein Langzeitvergleich der Lehrbuchausgaben zeigt, dass in der Darstellung der mar 218 Vgl. Staatsbürgerkunde 9 (1970): S. 102. „Erben des Kommunistischen Manifestes sein heißt“, so das Lehrbuch abschließend, „sich auf die Verantwortung vorzubereiten, die jeder als Staatsbürgerkunde der DDR zu tragen hat. […] Wenn die Mädchen und Jungen der DDR sich als Erben des Kommunistischen Manifestes bewußt sind, dann begreifen sie ihr Streben nach hoher Bildung und ihr Bemühen, in das gesamte sozialistische Leben aktiv einzugreifen, als ihren Anteil am Kampf zur Überwindung des westdeutschen Imperialismus und zur Entwicklung des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden.“ Ebd. S. 103. 219 Nach 1945 knüpften beide deutsche Staaten mit der Goethe- und Schiller-Rezeption zunächst an die literarische Klassik an, bevor die Geschichtsdeutung der DDR, wie das Staatsbürgerkundebuch der Klasse 7 eindrücklich belegt, eine eigene antifaschistische sozialistische Tradition erfand, die die Sozialdemokratie rasch bedeutungslos werden ließ. Wissenschaftlich gestützt wurde die sozialistische Identität durch die in der ostdeutschen Geschichtswissenschaft geführte Traditions- und Erbedebatte, vgl. dazu z. B. Kowalczuk, Ilko-Sascha (2005): Geschichte als Legitimationsinstanz. Marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft in der DDR. In: Stark, Isolde (Hg.): Elisabeth Charlotte Welskopf und die Alte Geschichte in der DDR. Wiesbaden: Franz Steiner, S. 12–41, bes. 33–37. Erst ein mit terminologischen Differenzierungen verbundener veränderter Kulturbegriff machte es möglich, dass der Staat beispielsweise ein offizielles ‚säkularisiertes‘ Luther-Jubiläum begehen konnte, ohne auf die religiösen Traditionen verweisen zu müssen. Die Feierlichkeiten anlässlich des 500. Geburtstages des Reformators sind ein eindrückliches Beispiel für den Einfluss der sozialistischen Traditions- und Erbedebatte auf die Geschichtsdeutung, die auch in der Literatur – in Form der Debatte um das literarische Erbe – ihren Ausdruck fand. Neben der spezifischen Klassikerrezeption war es vor allem der sozialistische Realismus, der für die Konstruktion einer sozialistische Erinnerungskultur eine maßgebliche Rolle spielte. Die Literaturgeschichte der Erbedebatte in der DDR untersucht Mandelkow, Karl Robert (1983): Die literarische und kulturpolitische Bedeutung des Erbes. In: Schmitt, Hans-Jürgen (Hg.): Sozialgeschichte der deutschen Literatur Band 11. Die Literatur der DDR. München: dtv, S. 78–119, bes. 89–116. 220 Ausgehend von dem reaktivierten Schülerwissen finden der dialektische und historische Materialismus, die Kritik der politischen Ökonomie sowie die Lehre vom Klassenkampf und der historischen Bedeutung der Arbeiterklasse Erläuterung.
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Zusammenfassende Analyse
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xismustheoretischen Grundlagen interessanterweise der Kommunismus als gesellschaftliches Endziel immer mehr in den Vordergrund rückt.221 Beachtenswert ist außerdem die Veränderung des Freundschaftsnarrativs, die sich im Vergleich zur Klasse 10 ergibt: Ist dieses in Jahrgang 9 noch auf die enge Beziehung zwischen zwei personalen Identitäten – den Figuren Marx und Engels – bezogen, wird in Klasse 10 weitgehend die Partei zum Subjekt der Freundschaft.
Zusammenfassende Analyse: Theorie durch Erzählung Die Staatsbürgerkundeschulbücher der neunten Klasse markieren den Übergang von der beispielhaft illustrierenden zur argumentativen Darstellung des Marxismus-Leninismus. Dass das Lehrbuch die sozialistische Weltanschauung über die narrative Inszenierung von Karl Marx und Friedrich Engels zugänglich macht, die Erklärung der Theorie also über das Narrativ der lebenslangen Freundschaft und nicht über die eigentlichen Inhalte funktioniert, fügt sich als Struktur in die Linienführung des Fachunterrichts ein.222 Auf diese Weise ließ sich das in der fachdidaktischen Debatte hervorgehobene emotionale Potenzial der Schriften223 voll ausgeschöpfen, so dass eine literarische Verweisstruktur kaum mehr nötig war. Wo Literatur dennoch vorkam, diente sie vor allem der Abgrenzung vom „Klassenfeind“. Es ist auffällig, dass dafür ausschließlich Texte von Bertolt Brecht Verwendung fanden.224 221 Während in der Ausgabe von 1974 Sozialismus und Kommunismus noch als Einheit beschrieben werden, liegt der Fokus 1977 bereits auf dem Kommunismus als „Ziel des Kampfes der internationalen Arbeiterbewegung“, und der Leninismus wird als „Marxismus unserer Epoche“ integriert. In der letzten Schulbuchausgabe von 1983 ist vom Kommunismus als „Ziel des Kampfes der Arbeiterklasse“ zu lesen, vgl. Kapitel 2 der Ausgaben der Staatsbürgerkunde 9 von 1974 und 1977 sowie Kapitel 3.2 der Ausgabe von 1983. Diese Entwicklung steht im Gegensatz zum Lehrbuch der Klasse 10, in dem zeitgleich das eigenständige Kapitel zum Kommunismus entfernt wurde, vgl. auch die Analyse zur Staatsbürgerkunde 10. 222 Das Freundschaftsmotiv kommt sowohl auf der Bild- als auch auf der Textebene auch in den späteren Lehrbüchern der Klassen 11 und 12 vor, hat dort insgesamt aber keine so zentrale narrative Funktion mehr für die Erklärung der marxistischen Theorie, vgl. zum Beispiel Autorenkollektiv unter der Leitung von Götz Redlow: Staatsbürgerkunde 11/12. EINFÜHURUNG in den dialektischen und historischen Materialismus. Lehrbuch für Staatsbürgerkunde Klassen 11 und 12. Berlin: Dietz 1971, S. 79 f. 223 Vgl. dazu Beiträge Methodik (1975): S. 252. 224 Vgl. zum Beispiel Staatsbürgerkunde 9 (1970): Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters (S. 18) kritisieren Geschichtsschreibung als Herrschaftsgeschichtsschreibung, die Lehre vom Klassenfeind (S. 22) betont ebenso das Moment der Unversöhnlichkeit von Kapitalismus und Sozialismus wie die Kurzgeschichte im Lesebuch der neunten Klasse Wenn die Haifische Menschen wären (S. 42), auf die querverwiesen wird. In der Schulbuchausgabe von 1974 kommt das Brecht-Gedicht Lob des Kommunismus zum Einsatz (S. 91).
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Wie Weltanschauung präsentiert wird
Insgesamt nahmen die literarischen Anteile der Schulbuchargumentation zwar deutlich ab, dieser Befund muss allerdings vor dem Hintergrund gesehen werden, dass erzählende Texte im gesamten Erziehungssystem der DDR durchgängig eine tragende Rolle spielten.225 Vor allem die Kinder- und Jugendliteratur markierte den fiktionalen Rahmen der sozialistischen Überzeugungsbildung, in dem die für die Weltanschauung zentrale sozialistische Tradition erzeugt werden konnte.226 Die Literatur prägte das Geschichtsbild der Bürger über Jahrzehnte227, wobei der in hohen Auflagen verbreiteten geschichtserzählenden Literatur eine Sonderrolle zukam. Die Vermittlung der sozialistischen Weltanschauung war ein unbedingt intertextuelles Unterfangen. Sowohl in der Methodik des Geschichts- als auch des Staatsbürgerkundeunterrichts spiegelte sich die Bedeutung des Erzählens für die sozialistische Erziehung. Für den Geschichtsunterricht lässt sich zweifelsfrei feststellen, dass die wilhelminische Tradition der Geschichte als Erlebnis-Didaktik in der DDR relativ ungebrochen praktiziert wurde.228 Anhand der Staatsbürgerkunde 9 konnte zudem beispielhaft gezeigt werden, dass die sozialistische Erinnerungskultur als Erzählkultur gestaltet war, in deren Rahmen auch die Theorie betrieben wurde. Dies zeigt nicht nur, dass literarische Kategorien grundlegender sind als theoretische, sondern es stärkt auch das dieser Arbeit zugrunde liegende Argument: Für die narrative Wirksamkeit eines Textes ist die Form und weniger der Inhalt entscheidend.
225 Vgl. Steinlein, Rüdiger (2005): Die Geschichtserzählung in der Kinder- und Jugendliteratur der SBZ/DDR. Zur Programmatik und literarischen Praxis. In: von Glasenapp, Gabriele/ Wilkending, Gisela (Hg.): Geschichte und Geschichten. Die Kinder- und Jugendliteratur und das kollektive und politische Gedächtnis. Frankfurt/Main: Peter Lang, S. 73–96, hier: 73. Dem Literaturwissenschaftler Karsten Gansel zufolge erlangt Literatur in den realsozialistischen Gesellschaften eine besondere Bedeutung, da dort das kollektive Gedächtnis gezielt hergestellt werde, und Literatur grundsätzlich als Medium dieses kollektiven Gedächtnisses fungierte. Vgl. ders. (2009): Rhetorik der Erinnerung. Zu Literatur und Gedächtnis in den „geschlossenen Gesellschaften“ des Realsozialismus zwischen 1945 und 1989. In: ders. (Hg.): Rhetorik der Erinnerung – Literatur und Gedächtnis in den ‚geschlossenen Gesellschaften‘ des Realsozialismus. Göttingen: V+R unipress, S. 9–18, hier: 11. 226 Die Bedeutung der Kinder- und Jugendliteratur der DDR für die Konstruktion einer sozialistischen Tradition kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Nach Kriegsende standen zwar beide deutsche Staaten vor dem Problem, neue Geschichtserzählungen produzieren zu müssen. Für die DDR mag dieser Prozess jedoch einfacher als für die BRD gewesen sein, weil die Erfindung einer sozialistischen Tradition und der damit verbundene Traditionsbruch mit der Bundesrepublik sowie die theoretische und ideologische Fundierung in marxistischer Geschichtsteleologie sowie sozialistischer Weltanschauung optimale Voraussetzungen für eine Neuerfindung der Literatur boten. Vgl. Steinlein (2005): Geschichtserzählung in der Kinderund Jugendliteratur, S. 73. 227 Vgl. Steinlein (2005): Geschichtserzählung in der Kinder- und Jugendliteratur, S. 73 228 Vgl. Steinlein (2005): Geschichtserzählung in der Kinder- und Jugendliteratur, S. 81.
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Weltanschauung programmatisch – Staatsbürgerkunde 10
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6.4 Weltanschauung programmatisch – Staatsbürgerkunde 10 Erstmals zentral verhandelt werden sozialistische Weltanschauung und Moral im Lehrbuch der Klasse 10. Zuvor wurde der an sich unklare Begriff der Weltanschauung vor allem narrativ konkretisiert: In den Klassenstufen 7 und 8 bildete Weltanschauung eine historische Größe, die im Figurenerleben darstellbar wurde. In Jahrgang 9 wurde die Entstehung und Entwicklung der Weltanschauung als Freundschaftsgeschichte zwischen Karl Marx und Friedrich Engels inszeniert; das Freundschaftsnarrativ bildete dort den Ausgangspunkt für die Einführung in die marxistische Theorie. In Klasse 10 wird mit einem eigenen Weltanschauungskapitel, den Grundzügen der sozialistischen Weltanschauung und Moral, eine Programmatik formuliert, die marxismustheoretische und handlungspraktische Grundlagen umfasst. Die Analyse wird zeigen, wie die Abstrakta „Weltanschauung“ und „Moral“ inhaltlich gefüllt und um feste Normen und Verhaltensweisen ergänzt werden.
6.4.1 Weltanschauung als Kompass und Orientierungshilfe Die in den 1960er Jahren gebräuchliche Staatsbürgerkunde 2 konzeptualisiert Weltanschauung metaphorisch als „wissenschaftliche[n] Kompaß“ für ein „sinnerfülltes Leben“ und schließt damit terminologisch an die bereits im Lehrbuch für Klasse 9 gebrauchte Kompass-Metapher an.229 Zunächst ausführlich marxismustheoretisch fundiert wird Weltanschauung in moralischen Handlungskriterien konkretisiert, die in übergeordneten Seins- und Sollensprinzipien ethische Begründung finden, und abschließend mit einem Wahrheitsanspruch versehen.
229 Das Kapitel umfasst gut 60 Seiten (1968: 52) und war für die Auflagen von 1965 bis 1968 als Kapitel III, ab der Auflage von 1969 als Kapitel IV verortet. Inhaltlich schloss es an Darstellungen der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung der DDR an, danach folgten zwei weitere Kapitel, durch die sich das Lehrbuch auf konzeptueller Ebene am deutlichsten von seiner Nachfolgeausgabe unterschied: ein als separates Kapitel zum Thema „Sozialismus und Frieden“, dessen Inhalte später in andere Abschnitte integriert wurden, sowie der am Ende des Lehrbuchs erfolgende programmatische Ausblick zum Kommunismus als „Zukunft der Menschheit“ (vgl. Kapitel V). Vgl. Staatsbürgerkunde 2. Der umfassende Aufbau des Sozialismus. Von einem Autorenkollektiv mit diversen Leitern verfasst. Berlin: Verlag Volk und Wissen 1965/68/69.
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Wie Weltanschauung präsentiert wird
a) Zur Definition von Weltanschauung Verhaltensorientierung und Wissenschaftlichkeit bilden die beiden zentralen Begriffe der Konzeptualisierung der sozialistischen Weltanschauung. Als „Kompaß fürs Leben“ liefert diese die Grundlage für „richtiges Verhalten“ und „fortschrittliches Handeln“, womit Orientierungsleistung und ethischer Anspruch zusammenfallen. Wissenschaftliche Begründung im Sinn des Marxismus-Leninismus erhält die Weltanschauung über ihre auf Zukunftsverheißung und Glücksversprechen aufbauende Bestimmung. Als Einheit von individuellem und kollektivem Glück konzipiert und in die wechselseitige Frage „Was erwarte ich vom Leben? […] Was erwartet die Gesellschaft von mir?“ übersetzt230, wird Glück nach materialistischen Prinzipien als erkennbar und planbar zugesichert. Damit erübrigt sich auch die Annahme von der Zufälligkeit von Geschichte und Geschichtsverläufen: Die Zukunft ist „nicht in geheimnisvolles Dunkel gehüllt“ und kein „Buch mit sieben Siegeln“231, sondern voraussehbar, das glückliche Leben gezielt erreichbar. Richtiges Tun ist das durch Erarbeitung der sozialistischen Weltanschauung erlangte richtige Wissen, womit Tat- und Wissensbestände normiert und durch die Wendung „Sinn und Ziel des Lebens“ überdies ethisch qualifiziert werden.232 Aus diesen Überlegungen generiert sich folgende Definition von Weltanschauung: „Die Weltanschauung eines Menschen ist die Gesamtheit seiner Auffassungen von der Welt als Ganzes. Sie umfaßt seine Ansichten vom Ursprung aller Dinge, von der Herkunft des Lebens über den Sinn des Lebens, über die Möglichkeiten seiner Erkenntnis, seine Meinung über den Staat und andere gesellschaftliche Einrichtungen und sein persönliches Verhältnis zu diesen, seine Auffassung über die Unvermeidbarkeit oder Vermeidbarkeit von Kriegen, über die zukünftige Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und vieles andere mehr.“233
Die typologische Differenzierung in idealistische sowie materialistische Weltanschauung bildet die Grundlage der weiteren Schulbuchargumentation, in der die Besonderheit des Marxismus-Leninismus mit dem Wissenschaftstopos verbunden wird: 230 Staatsbürgerkunde 2. Der umfassende Aufbau des Sozialismus. Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfram Neubert u. a. Berlin: Verlag Volk und Wissen 1968, S. 116. 231 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 126. 232 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 116. Drei Verhaltensregeln tragen zur Erlangung des ‚richtigen‘ Wissens bei: Ursachenforschung, Analyse von Zusammenhängen sowie die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen, die den Einzelnen zu der Einsicht führten, dass persönliches Leben und gesellschaftliche Interessen zusammenhängen, vgl. ebd. S. 117. 233 Staatsbürgerkunde (1968): S. 117 f. Die Definition bleibt über die Jahre im Wesentlichen erhalten; lediglich einzelne Worte, wie zum Beispiel der Begriff „Ursprung“, werden gestrichen, oder Satzteile reformuliert.
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Weltanschauung programmatisch – Staatsbürgerkunde 10
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„Materialistisch nennen wir eine solche Auffassung von der Welt, die die Welt wissenschaftlich erklärt, die sie so auffaßt, wie sie wirklich ist, und die dem Menschen damit hilft, seine Umwelt und seine Lebensbedingungen zielstrebig zu gestalten. Als idealistische Auffassungen bezeichnen wir dagegen solche Lehren, die behaupten, die Welt sei durch irgendein übernatürliches Wesen hervorgebracht und werde von ihm regiert, zu ihnen gehören aber auch solche Meinungen, die besagen, die Welt existiere letztlich nur in unseren Vorstellungen, in unserer Einbildung, und wir könnten über sie wissenschaftlich nichts aussagen.“234
Die häufig von „Vorurteile[n] getrübt[en]“ weltanschaulichen Fragen würden von imperialistischen „Machthabern“ systematisch zu Täuschung, Vernebelung und Betrug eingesetzt, indem diese dem Menschen „Furcht vor ‚übernatürlichen Mächten‘ einflößen“. Mit dem Verweis auf die Instrumentalisierung von menschlicher Furcht zum Machterhalt der Herrschenden wird das in Kapitel 5 bereits vorgestellte und für die Lehrtexte der höheren Klassenstufen zentrale Argument der marxistisch-leninistischen Religionskritik ins Feld geführt. Gleichzeitig schließt das materialistische Plädoyer für die grundsätzliche Erkennbarkeit der Welt auch konstruktivistische wissenschaftstheoretische Ansätze kategorisch aus.235 Der stattdessen formulierte Merkmalskatalog der Weltanschauung umfasst Diesseitigkeit durch Anthropozentrismus (der Mensch als höchstes Wesen), Wirklichkeits- und Fortschrittsorientierung, Lösungsbasiertheit (Weltanschauung als Anleitung zur Veränderung) sowie Universalität (Weltanschauung des Volkes). Die bis dahin beanspruchte empirische Grundlage der Weltanschauung mündet in einen Ausschließlichkeitsanspruch, der mit dem Topos des Friedens verbunden wird.236 Durch den Text der Nationalhymne237 zum offiziellen „Legitimationswert“ des Staates erklärt, war Frieden in der DDR in zahlreiche symbolische Formen und Praktiken gegossen und in Form von Straßennamen, Feier- und Gedenktagen oder Sportereignissen gesellschaftlich präsent.238 Die 234 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 120. 235 Die damit implizierte Wissenschaftskritik wird später aufgegriffen, wenn es um das Sinnpotenzial der sozialistischen Weltanschauung für den Bürger geht, vgl. den folgenden Abschnitt b). 236 „Die marxistische Weltanschauung ist die rechtmäßige Erbin aller fortschrittlichen, humanistischen Traditionen der Menschheit. […] [Die] Gemeinsamkeit des Interesses an Frieden, Fortschritt und Glück unseres Volkes war auch die Voraussetzung für die Entwicklung eines wahrhaften Friedensstaates auf deutschem Boden.“ Vgl. Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 124. 237 Im Text der zweiten Strophe hieß es: „Glück und Friede sei beschieden Deutschland, unserm Vaterland. / Alle Welt sehnt sich nach Frieden, reicht den Völkern eure Hand. Wenn wir brüderlich uns einen, schlagen wir das Volkes Feind. / Laßt das Licht des Friedens scheinen, daß nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint, ihren Sohn beweint.“ Ab den 1970er Jahren war die Hymne nur noch instrumental zu hören; auf Grund der problematischen Formulierung „Deutschland, einig Vaterland“ in der ersten Strophe wurde sie nicht mehr gesungen. 238 Vgl. Droit, Emmanuel (2009): Frieden. In: Sabrow, Martin (Hg.): Erinnerungsorte der DDR. München: Beck, S. 152–160, bes. 153–155.
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Wie Weltanschauung präsentiert wird
unablässig wiederholte Rede von der DDR als „Friedensstaat“, in Abgrenzung zu einem militaristischen und aggressiven „Kriegsstaat“ BRD konstruiert, stand jedoch einer zunehmenden Militarisierung der Sprache gegenüber. Was auf eine allgemeine Entwicklung in der sozialistischen Erziehung verweist, machte sich auch in der Rhetorik der Staatsbürgerkundebücher bemerkbar.239 Friedens- und sozialistischer Wissenschaftstopos werden verbunden, indem der Lehrtext die Politik mit einem Verweis auf Marx, Engels und Lenin und deren als wissenschaftlich bezeichnete Kriegsanalyse begründet. Auf die Formel „Krieg als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse“ verdichtet, erfolgt die Verwissenschaftlichung schließlich über eine medizinhistorische Analogie: „Dieses Vorgehen bei der Erforschung gesellschaftlicher Erscheinungen ist ebenso wissenschaftlich wie die Forschungsmethode auf anderen Gebieten der Wissenschaft. Stellen wir kurz einen Vergleich an: Als der berühmte deutsche Mediziner Robert Koch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts daranging, die Tuberkulose, jene verheerende Volksseuche zu bekämpfen, suchte er deren Erreger auch nicht irgendwo, außerhalb des Organismus, sondern eben gerade im befallenen Organismus. Hätte er sich dabei von solchen tatsächlich vorhandenen Meinungen irreführen lassen, Krankheiten seien auf das Wirken übernatürlicher Mächte zurückzuführen, wäre er ebenso wenig imstande gewesen, die Ursachen dieser Plage der Menschheit zu finden, wie Marx, Engels und Lenin die Ursachen des Krieges ohne wissenschaftliches Forschen nicht hätten finden können.“240
Das Zitat spiegelt die marxistisch-leninistische Methodologie, der die Annahme von der Äquivalenz verschiedener Wissenschaftsdisziplinen zugrunde liegt. Mit der Projektion eines aus der Geschichte der bakteriologischen Forschung stammenden Beispiels auf ein gesellschaftliches Phänomen werden Krieg und Tuberkulose analogisiert, Krieg somit als Infektionskrankheit deutbar. Die sich aus der medizinischen Diagnostik normalerweise ergebende Definition eines entsprechenden Therapeutikums wird jedoch der Metaphorik überantwortet, so dass unausgesprochen bleiben kann, was mit dem durch den „Erreger […] befallenen Organismus“241 geschehen soll. Die Organismusmetapher bildet einmal mehr ein 239 Zur militärischen Sprache in den Lehrbüchern vgl. exemplarisch Staatsbürgerkunde 10 von 1984, besonders Kapitel 1, sowie Staatsbürgerkunde 11/12. Der zentralen Bedeutung, die dem Friedensnarrativ in Schulen und Jugendorganisationen zugedacht wurde, sowie der ethischen Qualifizierung des Friedens als „sozialistischem Wert“ stand ab 1978 der Wehrunterricht für 9. und 10. Klassen der Polytechnischen Oberschule als Teil einer umfassenden vormilitärischen Ausbildung, der Wehrerziehung, gegenüber. „Kampf für den Frieden“ und „bewaffneter Frieden“ waren damit endgültig nicht länger bloße Metaphern. Langfristig pluralisierte sich der staatlich normierte Friedensdiskurs im Zuge der „Friedensbewegung“ der 1980er Jahre, vgl. Droit (2009): Frieden, S. 155–158. 240 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 125 f. 241 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 125.
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Weltanschauung programmatisch – Staatsbürgerkunde 10
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Stilmittel – hier allerdings nicht zur Plausibilisierung von Wissenschaftlichkeit, sondern zur Integration des Einzelnen in die als organisch verstandene Gemeinschaft. Die aus der Analogiebildung konstruierte Wissenschaft wird programmatisch verdichtet, „Wissenschaftlichkeit“ als Naturwissenschaftlichkeit konzeptualisiert und der Marxismus-Leninismus in eine Reihe mit naturwissenschaftlichen Disziplinen gestellt.242 Die auf Gesetzmäßigkeit verdichtete Naturwissenschaftlichkeit wird schließlich auf die gesellschaftliche Entwicklung übertragen: „Der Marxismus-Leninismus lehrt und beweist, daß sich die Gesellschaft ebenso gesetzmäßig entwickelt wie das Naturgeschehen. [Hervorh. i. Orig.]“243 Das Kongruenzpostulat von Marxismus-Leninismus und Wissenschaftlichkeit bleibt über die Klassenstufen hinweg ein unverrückbarer Inhalt aller Lehrbuchausgaben und -auflagen. Gemeinsam mit dem Element der Literarisierung bildet es einen zentralen Bestandteil der Verpflichtungsrhetorik, wenngleich Literaturzitate und -verweise im Verlauf der Lehrbuchausgaben kontinuierlich abnehmen. Dass sich Wissenschaft einerseits und die Behauptung von der überzeitlichen Gültigkeit des Marxismus-Leninismus andererseits nach einem bestimmten Wissenschaftsideal konzeptuell ausschließen, bleibt über einen langen Zeitraum unreflektiert. Erst Anfang der 1980er Jahre wird Weltanschauung vorsichtig historisiert und als dynamisch postuliert.244 Dennoch hat der überzeitliche Gültigkeitsanspruch eines unveränderbaren Marxismus-Leninismus Bestand: „Der Marxismus-Leninismus ist allmächtig, weil er wahr ist,“ heißt es, angelehnt an das Lenin-Wort, auch weiterhin in den Schulbüchern.245 Mit dem Hinweis darauf, dass dieser Leitsatz „millionenfach“ in der „gesellschaftlichen Praxis bestätigt“ worden sei, wird der Wahrheitsanspruch scheinbar empirisch belegt und damit in den Wissenschaftlichkeitstopos eingegliedert.246 Die spezifische Auffassung von Weltanschauung einerseits und Wissenschaft andererseits führt zur Vermischung von theoretischen Prämissen wie der von der Gesetzmäßigkeit mit moralischen Urteilen wie „gerecht“ oder „gut“.247 Dies erlaubt, die Theorie lebenspraktisch zu konkretisieren.
242 „Aus dem Gesagten geht hervor, daß der marxistisch-leninistischen Weltanschauung jede Spekulation fremd ist. Der Marxismus-Leninismus weist die gleiche Wissenschaftlichkeit auf, die für die moderne Biologie, Physik und andere Wissenschaften typisch ist. Er geht von den realen Gegebenheiten aus und bedient sich exakt wissenschaftlicher Forschungsmethoden. [Hervorh. i. Orig.]“ Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 126. 243 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 128. 244 Dies bereits in der Ausgabe von 1977, dort S. 148; (1982): S. 140. 245 Staatsbürgerkunde 10 (1982): S. 143. 246 Staatsbürgerkunde 10 (1982): S. 143; (1977): S. 152; (1975): S. 169. In der Ausgabe von 1972 durch das Lenin-Zitat direkt (1972): S. 159. 247 Vgl. dazu besonders den Lehrbuchabschnitt zum Thema Gesetzmäßigkeit der Naturund Gesellschaftsentwicklung in Staatsbürgerkunde 10 (1982): S. 145.
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Wie Weltanschauung präsentiert wird
b) Die Bedeutung der Weltanschauung für das kollektive und persönliche Leben In einer rhetorischen Frage werden die Begriffe Sinn und Weltanschauung verknüpft: „Wie muß ich leben, um das Gefühl zu haben, daß mein Leben sinnvoll ist?“248 Der Lehrbuchtext lässt keinen Zweifel darüber aufkommen, dass „Sinn“ weit über Arbeitserfüllung hinausgehen soll, was über eine nicht näher spezi fizierte Figurenrede deutlich wird: „Ein Jugendlicher äußerte seine Meinung über den Sinn des Lebens mit folgenden Worten: ‚Ich nehme das Leben, wie es kommt; muß man denn unbedingt einen Sinn hineinlegen, auf alles eine Antwort finden? Ich arbeite fleißig und gewissenhaft in meinem Betrieb und gehe gern aus. Damit bin ich zufrieden, mein Ideal ist Zufriedenheit.‘“249
Trotz der integren Arbeitsamkeit wird die Position der Figur abgelehnt, womit auch das in der Rede anklingende Kritikpotenzial an Sinnkonzepten als Konstruk tion verworfen wird. Nach der argumentativen Herleitung der Wissenschaftlichkeit des Marxismus-Leninismus über den Sinnbegriff wird ein Element in die Debatte eingeführt, das auch hier als ‚narrativ-transzendente‘ Größe beschreibbar ist: Ähnlich wie in den Heldenerzählungen der Staatsbürgerkundebücher der Klassen 7 und 8250, klingt mit dem Verweis auf den „Kampf “ der Arbeiterklasse ein ontologisches Gutes an. Im Gegensatz zum individuellen ist hier allerdings ein kollektives Gutes angesprochen, das eine soziale Klasse, die sich unter Einsatz ihres Lebens selbstlos für überindividuelle Interessen einsetzt, ethisch qualifiziert.251 Der bedingungslose Einsatz für den Sozialismus wird schließlich über eine jugendliche Identifikationsfigur heroisiert. Aus einem Brief des zur Zeit der napoleonischen Befreiungskriege als studentischer Freiheitskämpfer und Dichter aktiven Theodor Körners heißt es: „,Eine große Zeit will große Herzen, und ich fühle die Kraft in mir, eine Klippe sein zu können in der Völkerbrandung, ich muß hinaus und dem Wogensturme die mu 248 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 131. 249 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 131 f. 250 Das Veränderungspotenzial der Arbeiter wurde hier entweder durch ein in die Welt einbrechendes Gutes bedingt oder es qualifizierte als Charaktereigenschaft die Führungspersönlichkeiten des Sozialismus. Für Staatsbürgerkunde 7 vgl. vor allem die Bergarbeiterfigur Zach, für Staatsbürgerkunde 8 vor allem den Personenkult um Walter Ulbricht. 251 „Hierher [zum Sozialismus] gelangt sind wir doch gerade dadurch, daß sich die Werktätigen, die Sklaven, die Bauern des Mittelalters und schließlich die Arbeiterklasse immer wieder gegen die Ausbeutergesellschaft erhoben und für ihre Freiheit gekämpft, ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben. Sie haben den Blick von ihrer oftmals qualvollen Arbeit erhoben und auf das Ganze, auf die Erfordernisse ihrer Zeit gerichtet. Sie sind nicht in dem Streben nach dem kleinen privaten Glück befangen geblieben, sondern haben sich dem Kampf für den gesellschaftlichen Fortschritt verschrieben.“ Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 132.
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tige Brust entgegendrücken. Soll ich in feiger Begeisterung meinen siegenden Brüdern meinen Jubel nachleiern? […] Daß ich mein Leben wage, das gilt nicht viel, daß aber dies Leben mit allen Blütenkränzen der Liebe, der Freundschaft, der Freude geschmückt ist und daß ich es doch wage, … das ist ein Opfer, dem nur ein solcher Preis entgegengestellt werden darf.“252
Über ein personalisiertes Heldisches Emotionen zu kodieren, bildet ein typisches Stilmittel der Staatsbürgerkundetexte. Allein dass an dieser Stelle auf eine histo rische Figur des frühen 19. Jahrhunderts zurückgegriffen wird, ist ungewöhnlich; zumeist werden Persönlichkeiten aus der Arbeiterbewegung oder sozialistische Alltagshelden als Identifikationsfiguren inszeniert.253 Für die Argumentation spielt der historische Hintergrund des gewählten Beispiels keine Rolle, denn die Frage nach der Gestaltung eines sinnvollen Lebens erweist sich letztlich als Frage des politischen Systems, womit das vermeintlich ‚narrativ-transzendente‘ Moment rückführbar und damit aufgelöst wird. In einem Texteinschub, der ein Gespräch über das Leben in Westdeutschland im Rahmen einer DDR-Jugendveranstaltung wiederzugeben fingiert, schildert ein in der DDR lebender, westdeutscher, namentlich ungenannt bleibender Schauspieler seine Entfremdung gegenüber der westdeutschen Gesellschaft: „Auf einem Jugendforum in unserer Republik wurde unter anderen die Frage gestellt, ob das sogenannte ‚süße Leben‘ im Westen nicht interessanter sei als das Leben in der DDR. Ein bekannter Schauspieler antwortete darauf: ‚[…] Ich habe eine entsetzliche Feststellung gemacht: Meine eigenen Verwandten, die mir lieb sind, sogar meine Mutter, alle diese Menschen beginnen ihren Wert untereinander fast ausschließlich danach zu bemessen, was jeder von ihnen hat. […] [Es] wird überhaupt nicht mehr danach gefragt, ob jemand gute Beziehungen zu seinem Nächsten hat, ob er Interesse hat, mit ihm über ein politisches oder menschliches Problem zu reden, ihm zu helfen. […] Schuld daran ist dieses ganze auf Korrumpierung ausgerichtete System. […] Bei uns ist mir so sympathisch, daß die gemeinschaftlichen Beziehungen der Menschen so wunderbar entwickelt werden, daß die Menschen, besonders aber die Jugend, Tag für Tag zu regem geistigem Leben angehalten werden! Ich bin überhaupt der Ansicht, daß der Sozialismus dem deutschen Volk etwas ganz Wesentliches gebracht hat, das man in Westdeutschland verneint – die Ausschöpfung der geistigen Kräfte des Volkes!‘“254 252 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 132. 253 Eine entsprechende Unterrichtshilfe, die die Auswahl reflektieren würde, ist für die frühen Schulbuchjahrgänge von 1964 bis 1970 noch nicht vorhanden. Die Unterrichtshilfen für Staatsbürgerkunde wurden erst zwischen 1966 und 1970 eingeführt, die davor entwickelte didaktische Literatur wurde in der Zeitschrift Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde veröffentlicht, hatte aber wenig mit den systematischen Unterrichtshilfen zu tun, vgl. Schluss, Henning/Grammes, Tilmann (2006): Staatsbürgerkunde in der DDR. Ein Dokumentenband. Wiesbaden: VS, S. 67 sowie 159. Allerdings taucht dieser Verweis in der deutlich überarbeiteten Nachfolgeausgabe des Lehrbuchs Klasse 10 auch nicht mehr auf. 254 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 134.
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Das Fazit, es sei der Sozialismus, der „dem menschlichen Leben einen neuen Sinn und Inhalt gegeben“ hat, wird mit einer repetitiven Arbeitsaufgabe noch einmal herausgestrichen: „Beweisen Sie, daß nur die sozialistische Weltanschauung die Orientierung für ein sinnerfülltes Leben geben kann!“255 Die Vermittlungsstruktur zeigt: „Sinn“ ist mehr als reine Pflichterfüllung oder das Streben nach individueller Zufriedenheit. Erst im bedingungslosen Einsatz für überindividuelle Ziele generiert sich „Sinn“ als Kollektiverfahrung, die ethisch als das Gute qualifiziert wird, wofür das Beispiel Theodor Körners den historischen Beleg liefert. Wahrhaftigkeit erlangt das sozialistische Sinnsystem im Erfahrungsbericht des westdeutschen Schauspielers, dessen Zeugnis mehr wiegt als das eines genuinen DDR-Bürgers. Insgesamt dient die Zitatstruktur des Textes dazu, „Sinn“ zuerst über Emotionen zugänglich zu machen und dann als Systemfrage zu implementieren. Von hier aus ist es möglich, die Vermittlungsstruktur einer genauen Analyse zu unterziehen.
c) Jeder kann ein Held sein – Wie Weltanschauung vermittelt wird Vorübergehend wird die sozialistische Weltanschauung auf eine Moralprogrammatik verdichtet256, die neben Allgemeinplätzen und Benimmregeln auch Anweisungen zur gegenseitigen Disziplinierung der Jugendlichen untereinander enthält. Die Wirksamkeit der sozialistischen Moral für den Aufbau des Staates belegen drei vermeintliche Zitate von DDR-Bürgern, denen die Kronzeugenschaft für die im Text getätigten Aussagen zukommt.257 Zu Beginn steht ein Tage bucheintrag: „‚Wir wachsen täglich ein Stück, Du, ich, Dora und andere, winzig wenig, aber wir wachsen. Nicht äußerlich, dazu sind wir erwachsene Menschen, aber im Herzen und Hirn…‘ Mit diesen einfachen Worten gab die Arbeiterin im Tagebuch ihrer Brigade der großen historischen Umwandlung Ausdruck, die sich im Denken und Verhalten, in der Moral und in der ganzen Lebensweise der Werktätigen im Sozialismus vollzogen hat und täglich vollzieht.“ 255 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 135. 256 Als Teil der kulturpolitischen Kampagne des „Bitterfeldes Weges“ unter Ulbricht beschlossen, verschwinden die programmatischen Moralgebote mit dem Machtwechsel zu Honecker endgültig aus allen Schulbüchern. In den ersten Schulbuchausgaben der Staatsbürgerkunde 2 (1964 bis 1970) sowie in der Nachfolgeausgabe Staatsbürgerkunde 10 von 1972 bildeten sie jedoch ein wichtiges Element. In der überarbeiteten Version von 1975 sind sie nicht mehr Teil des Lehrtextes, sondern werden zum Teil durch literarische Auszüge ersetzt. 257 Später erfolgt die Plausibilisierung der sozialistischen Weltanschauung auf der Ebene des Lehrbuchhaupttextes, nicht mehr durch verschiedene Figurenreden, und wird über die Begriffspaare gut und schlecht, Pflicht und Verantwortung, Ehre und Gewissen einerseits, über die Einstellungen zu Gesellschaft, sozialistischer Staatengemeinschaft sowie Arbeit und Lernen andererseits definiert. Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Werner Kalweit: Staatsbürgerkunde 10. Berlin: Volk und Wissen 1970, 1. Auflage, S. 140.
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Die Erfahrung wird dann zeithistorisch eingeordnet: „[S]chon 1949 konnte der heutige Stellvertreter des Vorsitzenden des Minister rates unserer Republik, Alexander Abusch, folgende optimistischen Worte über die Wandlung der Jugend schreiben: ‚Zweifelte man in den Nazijahren voll bewegter Erwartung an der Zukunft der jungen Generation in Deutschland, die von Hitler mißbraucht worden war, so offenbart das Leben…, daß die Jugend… nach vier Jahren ihrer Erziehung im Geiste des Humanismus und der Völkerfreundschaft auf diesem neuen Weg voranschreitet.‘“
Es folgt eine politisch motivierte Erklärung mit theoretischem Anspruch: „Diese Wandlung konnte sich vollziehen, weil der Militarismus und Imperialismus in unserem Teil Deutschlands mit Stumpf und Stil ausgerottet wurden. ‚Wir sind glücklich, feststellen zu können: Die Mehrheit jener, die zu Millionen den ver logenen Parolen der faschistischen Führung glaubten, sind heute gebildete, selbstbewußte Mitgestalter des neuen sozialistischen Lebens. Unsere Partei vermochte, das Bewußtsein des Volkes zu verändern, weil sie die Kraft hatte, das Sein zu verändern [Hervorh. i. Orig.], weil sie die Kraft hatte, die ökonomischen Grundlagen der imperialistischen Politik und Ideologie zu vernichten.‘“
Zuletzt wird ein Aufruf zum Aufbau des Sozialismus formuliert: „‚In den vor uns liegenden Jahren‘, führte Walter Ulbricht in seiner Erklärung vor der Volkskammer der DDR am 1. Dezember 1967 aus, ‚werden wir die sozialistische Gesellschaft auf der Grundlage ihrer eigenen Gesetze gestalten. […] Die großen Aufgaben sind nur zu bewältigen, […] wenn die Kraft, die in der sozialistischen Gemeinschaft liegt, voll zur Wirkung kommt, wenn die sozialistische Gemeinschaftsarbeit […] zu einem tragenden Prinzip unseres Lebens wird.“258
Mit der namenlos bleibenden, einfachen Arbeiterin über den Literaten und Politiker Alexander Abusch zum Staatschef Walter Ulbricht kommen Figuren unterschiedlicher Ebenen der sozialen Hierarchie zu Wort, die einen Querschnitt aus der Bevölkerung repräsentieren. Deren Reden thematisieren den Sozialismus auf unterschiedlichen Ebenen: Die persönliche Empfindungs- und Erfahrungsebene der Arbeiterin wird durch die Zeitzeugenschaft Abuschs historisiert und in Ulbrichts Kommentaren marxismustheoretisch fundiert. Die Erfolgsgrundlage für das Gelingen der Transformation in die sozialistische Gemeinschaft sollen die Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik bilden, die den Genossen erstmals auf dem V. SED-Parteitag von 1958 von Staatschef Walter Ulbricht präsentiert wurden. Inhaltlich bezogen sich die zehn Moralgebote auf Verhalten, Bildung bzw. Ausbildung sowie Erziehung der Jugend und verkörperten damit eine Selbstverpflichtung zum Aufbau des Sozialismus. Dass in der ab 1957 von der SED initiierten Ethik- und Moraldebatte die sozialistische 258 Für alle Zitate: Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 135 f.
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Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-57163-0001; Zentralbild/Repro 30.7.1958, Fotograf unbekannt, hg. vom ZK der SED, Abt. Agitation und Propaganda
Arbeitsmoral im Zentrum stand, hatte auch wirtschaftliche Hintergründe. Für die Plausibilisierung der Überlegenheit des sozialistischen Systems mangelte es an entsprechenden materiellen Erfolgen259, die durch die weltanschauliche Kampagne teilkompensiert werden sollten. Vorübergehend wurde eine „ideologische Kommission“ des Politbüros eingerichtet, deren Leiter Kurt Hager unter anderem an der Entwicklung einiger Staatsbürgerkundelehrbücher beteiligt war. Die Kommission erarbeitete Maßgaben für Kultur und „Ideologie“, sie beschloss beispielsweise die Übersetzung des sowjetischen Parteilehrbuchs Grundlagen des Marxismus-Leninismus ins Deutsche260, das neben dem 1963 veröffentlichten 259 Vgl. Weber, Hermann (1985): Die DDR. München: dtv, S. 310. 260 Weber (1985): Die DDR, S. 314.
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Schulbuch Gesellschaftskunde ein weiteres Beispiel für den Einsatz sowjetischer Übersetzungen im Lehrbuchkorpus für Staatsbürgerkunde bildet. Die Anlehnung des Zehn-Punkte-Katalogs an die christliche Formulierung war freilich kein Zufall. Auch inhaltlich sollten die Moralgebote laut Lehrbuch als Verhaltensorientierung und ethischer Maßstab fungieren. Interessanterweise hat vor allem die äußere Ähnlichkeit dazu geführt, dass den sozialistischen Geboten in der Forschung mitunter eine „religiöse Überhöhung“ (Niethammer) bescheinigt und damit ein formales Kriterium zur inhaltlichen Klassifikation herangezogen wurde.261 Im Schulbuchtext wird die formale Entsprechung der Moralisierung der Erziehung dienstbar gemacht, deren Verheißung, einer sittlichen Elite anzugehören, in den Werten Heldentum und Gutheit repräsentiert ist. Über die Verbindung mit dem sozialistischen Heldentum sollte die Attraktivität der Moralgrundsätze gesteigert werden. Stellvertretend für die sozialistische Moral und Lebensweise stehen denn auch sowohl die bekannten russischen Kosmonauten Valentina Tereschkowa und Juri Gagarin, der kommunistische Widerständler Ernst Thälmann und selbst Staatschef Walter Ulbricht, aber auch „so mancher aus unserer unmittelbaren Umgebung“, denn: „Keine ‚Heiligen‘ sind es, die uns die sozialistische Moral vorleben, sondern Menschen, die mitten im Leben stehen, die sich auszeichnen durch eine klare politische Haltung, die ihre Arbeit, ihre Aufgaben ernst nehmen, bei denen Wort und Tat übereinstimmen. Hohe Ansprüche an sich selbst und andere, großes Wissen, ständiges Arbeiten an sich selbst, natürliche und klare Verhältnisse zu anderen, Offenheit und Kühnheit, optimistische Lebensauffassung – das sind wichtige Merkmale der sozialistischen Persönlichkeit.“262
Neben berühmten Arbeiterpersönlichkeiten wie sie vor allem in den unteren Jahrgängen des Staatsbürgerkundelehrbuchkorpus inszeniert wurden, wird mit der Konzeption des Arbeiterhelden hier ein Alltags- und Jedermannheldentum 261 So Niethammer (2009): Kollektiv, S. 277. Der analytische Wert dieser Analogie ist fraglich; der Autor scheint ihn selbst zu bezweifeln, wenn er die Gebote als „so etwas wie de[n] Katechismus des Sowjetimperiums“ beschreibt und damit in seiner Einordnung augenfällig zwischen Form und Inhalt unterscheidet. Klaus Tenfelde spricht denn auch von einer „Formhülse“, attestiert diese aber eine rhetorische Tradition in der europäischen frühen Arbeiterbewegung, vgl. ders. (2008): Katechismen für Arbeiter. In: Benninghaus, Christina u. a. (Hg.): Unterwegs in Europa. Beiträge zu einer vergleichenden Sozial- und Kulturgeschichte. Festschrift für Heinz-Gerhard Haupt. Frankfurt/New York: Campus, 323–342; hier: 324. Auch der Soziologe Thomas Schmidt-Lux urteilt vorsichtiger, wenn er die zehn Punkte „als Versuch“ deutet, „jenseits christlicher Ethik neue moralische Regeln aufzustellen, die ihre Legitimation u. a. aus ihrer traditionellen Gliederung schöpfen, nun aber Christen und Konfessionslose vereinen sollten“ und von einer „Parallelisierung“ spricht, über die „ethische Äquivalente stark gemacht werden, die die Abkehr von der christlichen Religion erleichtern sollten“, vgl. Schmidt-Lux (2008): Wissenschaft als Religion, S. 177. 262 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 138.
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entworfen, dessen Erreichen mit dem Befolgen des Zehnpunkteplans in greifbare Nähe zu rücken scheint. Der Lehrbuchtext verheißt: Jeder kann ein Held sein, er muss sich nur den Regeln konform verhalten. Diese Regeln gehen allerdings weit über das gesellschaftlich Notwendige hinaus; sie repräsentieren das Gute als eigene Wertkategorie263, dessen Genese aus den „Erfahrungen und Kämpfen der deutschen und internationalen Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Gesellschaft, gegen die Polemik und Unmoral der herrschenden Großbourgeoisie erwachsen“ ist und damit zur historischen Verpflichtung wird. Mit der Gegenüberstellung von Kapitalismus und Sozialismus als „unversöhnliche[m] Kampf “ zweier Moralsysteme, „der reaktionären, menschenfeindlichen imperialistischen Moral und der fortschrittlichen, sozialistischen und humanistischen Moral“264 wird die Systemfrage endgültig zur moralischen Frage. Argumentativ durch Autoritätstopos und Beispiele unterlegt, soll die sozialistische Moral als Kontinuum von Aufklärung und Fortschritt plausibilisiert werden. Ihr gegenüber gestellt ist ein stereotypes Mittelalterbild: „Und tatsächlich hat ja die revolutionäre Bourgeoisie im Zeitalter der Aufklärung die Menschheit von den Hexenprozessen, der Folter der Inquisition befreit.“ Zu diesem Mittelalterbild als Inbegriff der Unaufgeklärtheit gehört auch ein entsprechender Verweis auf die mittelalterliche Kirche, die den Menschen unter das „Joch […] des geistigen, religiösen Terrors“ stellte.265 Formal repräsentiert auch dieser Textausschnitt die typische Schulbuchargumentation der sozialistischen Belegstruktur, in der die Aussagen der „Klassiker“ omnipräsent sind, als überzeitlich gültige Beweise angeführt und über sozialistische Zeugenschaften aktualisiert werden. Zusätzlich folgt hier ein Texteinschub, der die Beobachtungen eines schwedischen Journalisten in Westdeutschland wiederzugeben beansprucht.266 Die Beschreibung des westdeutschen Wohlstands als Resultat mangelnder Integrität bildete ein Leitmotiv in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz, mit dem die DDR das westdeutsche wirtschaftliche Erfolgsmodell, an dem sie sich Zeit ihrer Existenz messen lassen musste, moralisierte.267
263 Vgl. Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 139. 264 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 140. 265 Vgl. Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 141. 266 Der auch optisch vom Lehrbuchhaupttext abgehobene Einschub wird mit einer durch entsprechende Adjektive und Substantive emotional gestalteten Inquit-Formel eingeleitet, in der von einer „Atmosphäre der blindwütigen, rücksichtslosen Jagd nach Besitz, der Oberflächlichkeit, des hohlen Scheins, der Heuchelei“ die Rede ist. Die Kritik der Figur betrifft sowohl die westdeutsche Wohlstandsgesellschaft mit ihren Statussymbolen – genannt werden Kleider, Auto, Wohnung – als auch personelle Kontinuitäten aus der Zeit des Nationalsozialismus, die die instanziierte Beobachterfigur zum abschließenden Urteil führen, Westdeutschland sei keine Demokratie, vgl. Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 141 f. 267 Die Argumentation bleibt einseitig, insofern der Text freilich unerwähnt lässt, dass der materielle Wohlstand auch der Fluchtbewegung von Ost nach West geschuldet war, denn die
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Mit der Kritik am Aufschwung durch den Verweis auf die Weiterbeschäftigung ehemaliger nationalsozialistischer Funktionsträger in entsprechenden Ämtern wird zudem die Frage nach der staatlichen Rechtmäßigkeit und Souveränität, die beide Seiten gleichermaßen für sich beanspruchten und in ihre jeweiligen Gründungsnarrative gossen, verhandelt. Die Kritik am westdeutschen Staat mündet in ein Bedrohungsszenario, das die Gefahr eines atomaren Krieges projiziert und damit die grundsätzliche Notwendigkeit der Weltanschauung legitimiert.268 Mögen deren Inhalte im Einzelnen diskutabel sein – die Negativbeispiele Nationalsozialismus und Atomkrieg zeigen, weshalb die sozialistische Weltanschauung an sich prinzipiell unverhandelbar ist.
d) Wahrheitsanspruch durch Schriftbezogenheit Die Weltanschauung des Marxismus-Leninismus liefert ein Erklärungsmodell für die Entstehung und Entwicklung von Gesellschaft sowie eine Handlungsanleitung für die Arbeiterklasse zur Veränderung der Welt. Ihre Bedeutung als moralischer „Kompaß“ wird außerdem in einen überzeitlich gültigen Wahrheitsanspruch überführt. Weltanschauung umfasst nicht mehr nur Ansichten über das Leben, sondern sie gibt „Antwort auf die Fragen nach dem Wesen und dem Sinn des menschlichen Lebens“269: „Lenin über die Bedeutung der Theorie von Karl Marx ‚Die ganze Genialität Marx’ besteht gerade darin, daß er auf die Fragen Antwort gegeben hat, die das fortgeschrittene Denken der Menschen bereits gestellt hatte… Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren läßt.‘“270
Bundesrepublik nahm bis zum Bau der Berliner Mauer rein statistisch gesehen den Geburtenüberschuss der DDR auf und verfügte damit über ein weit höheres Arbeitskräftepotenzial. Vgl. Hardach, Gerd (2000): Krise und Reform der Sozialen Marktwirtschaft. Grundzüge der wirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik der 50er und 60er Jahre. In: Schildt, Axel/Siegfried, Detlef/Lammers, Karl Christian (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften. Hamburg: Christians, S. 197–217, hier: 203 f. 268 Als Beleg wird ein Zitat Walter Ulbrichts angeführt. In dem Ausschnitt aus einer sich an Absolventen der staatlichen Militärakademien wendenden Rede wird dieser zitiert, wie er von der „geistige[n] Kriegsvorbereitung“ der westdeutschen Bevölkerung spricht, die durch Antikommunismus entfacht werde und die angebliche Eroberung und Angliederung der DDR an die BRD zum Ziel habe, vgl. Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 142. 269 Staatsbürgerkunde 10 (1970): S. 128. 270 Staatsbürgerkunde 10 (1970): S. 129. Zit. n. W. I. Lenin: Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus. In: Staatsbürgerkunde. Dokumente und Materialien. Berlin 1967, dort S. 67. Die drei Punkte markieren eine Auslassung.
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Verstanden als „Übereinstimmung der rationalen Erkenntnis mit der objektiven Realität“271 bildet ‚Wahrheit‘ den Kernbegriff der marxistisch-leninistischen Philosophie, deren materialistischer Grundsatz – die vollständige Erkennbarkeit der Welt – den Ausgangspunkt der philosophiegeschichtlichen Herleitung und theoretischen Erläuterung der Wissenschaftlichkeit der Weltanschauung liefert. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Argumentation werden ausführlich in Klasse 11 und 12 behandelt, während der Wahrheitsanspruch zusätzlich im Geschichtsunterricht der zehnten Klasse historisch fundiert wird.272 Mit der Verdichtung von Wahrheit auf revolutionäres Handeln273 und der Zusammenführung von Marxismus und Leninismus gliedert der Lehrbuchtext den Staat und seine Bürger in den Prozess der „sozialistischen Weltrevolution“ ein. Gelernt und erkannt wird diese Wahrheit durch das intensive Schriftstudium. Ein Bericht über ein Lenin-Massenstudium verifiziert Autorität und vor allem Wirkung der Klassikerschriften: „Ende 1969 beteiligten sich im Rohrkombinat Riesa fast 400 Kollektive am LeninAufgebot. […] Auf der Grundlage der gelesenen Werke gab es angeregte Diskus sionen, die nicht nur die geistige Aktivität der Kollektive sichtbar steigerten, sondern sich bei den meisten auch in politischen und ökonomischen Verpflichtungen niederschlugen, zum Beispiel 10 bis 20 Prozent neue Mitglieder für das DSF [Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, ] zu gewinnen. Es gab zahlreiche Kollektive, die weitaus höhere Zahlen erreichten (40 Prozent). Eine ganze Abteilung stellt sich das Ziel, als erste ein ‚Bereich der DSF‘ zu werden. Noch zahlreicher waren die ökonomischen Auswirkungen, wobei es zum Beispiel in einem Fall – durch Verwirklichen eines Neuerervorschlages✳ – zu einer Steigerung der Arbeitsproduktivität auf 150 Prozent kam. […] Insgesamt trug diese – durch das Massenstudium der Werke Lenins ausgelöste – geistige Auseinandersetzung wesentlich dazu bei, daß der Gesamtplan des Werkes – erstmalig seit Jahren – wesentlich übererfüllt wurde.“274 271 Vgl. Philosophisches Wörterbuch. Band 2, hg. von Manfred Buhr und Georg Klaus. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1971, 8. berichtigte Auflage, S. 1123. 272 Dazu die Unterrichtshilfe für Staatsbürgerkunde 10: „Im Geschichtsunterricht liefert die gesamte Geschichte der Arbeiterklasse den Nachweis für die Notwendigkeit, sich stets vom Marxismus-Leninismus leiten zu lassen und um dessen Einheit und Reinheit zu kämpfen.“ Autorenkollektiv unter der Leitung diverser Autoren: Staatsbürgerkunde 10. Unterrichtshilfen Band 2. Berlin: Volk und Wissen 1970, S. 60. 273 Ein Zitat von Friedrich Engels aus dessen Rede am Grab von Karl Marx ergänzt den Wahrheitsbegriff um eine praktische Dimension: Wissenschaft wird als revolutionäres Handeln gedeutet. Zu Beginn der Rede setzt Engels die Marx’sche Geschichtsteleologie mit der Darwin’schen Evolutionstheorie gleich und hebt damit jeglichen epistemologischen Unterschied zwischen Naturgesetz und politisch motivierter Analyse auf. Vgl. Friedrich Engels, Rede am Grabe von Karl Marx, zit. n. Staatsbürgerkunde. Dokumente und Materialien. Berlin 1967, S. 63–65, hier: 63. ✳ Die Neuererbewegung war Teil der staatlich gelenkten Kampagne zur Steigerung der Produktivität; Werktätige sollten entsprechende Vorschläge zur Verbesserung der Arbeitsleistung unterbreiten. 274 Staatsbürgerkunde 10 (1970): S. 132.
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Der Bericht lässt keinen Zweifel daran, dass das organisierte Schriftstudium zu einer unmittelbaren Einstellungsveränderung der Menschen führt, die in der Steigerung ihrer Arbeitsproduktivität messbar wird. Unklar bleibt, aus wessen Perspektive die Ereignisse geschildert werden, der Schulbuchtext liefert keinen Nachweis. Die Sprecherinstanz scheint jedoch am Massenstudium teilgenommen zu haben, berichtet sie doch von „angeregten Diskussionen“, Zielsetzungen einer Abteilung oder Verbesserungsvorschlägen. Die Einstellungsveränderung wird schließlich in den marxistischen Gesetzmäßigkeitstopos eingegliedert, für den der historische Marx herangezogen wird: „In Natur und Gesellschaft vollzieht sich eine Entwicklung. […] Die Entwicklung der Dinge und Erscheinungen in Natur und Gesellschaft vollzieht sich vom Niederen zum Höheren. Dieser Entwicklungsprozeß vom Niederen zum Höheren ist gesetzmäßig. […] Karl Marx erwarb ein unvergängliches wissenschaftliches Verdienst, indem er das Entwicklungsgesetz der kapitalistischen Gesellschaft enthüllte. Er bewies, daß die kapitalistische Gesellschaftsordnung gesetzmäßig durch die sozialis tische Gesellschaftsordnung abgelöst wird.“275
Auch hier beruht der Beleg für eine gerichtete Fortentwicklung argumentativ auf der Analogisierung von biologischer und gesellschaftlicher Entwicklung.276 Die mit dem Gesetzmäßigkeitstopos aufkommende Frage nach der freien Handlungsmöglichkeit des Menschen wird separat thematisiert, wobei Freiheit eine marxistische Begriffsdeutung erhält. Als politische und ökonomische Größe ist sie bereits durch entsprechende Macht- und Produktionsverhältnisse gegeben und damit keine willkürliche oder individuelle Empfindung.277 Es ist der Literat, der das letzte Wort über die sozialistische Freiheit hat: „Der Dichter Johannes R. Becher sah den Sinn unserer persönlichen Freiheit darin, ‚daß wir uns in Übereinstimmung bringen mit den großen geschichtlichen Er fordernissen unserer Zeit. Freiheit ist Übereinstimmung. Nur in Übereinstimmung mit solch einer erkannten geschichtlichen Notwendigkeit können wir tiefe und lebensechte Persönlichkeiten werden und zu einer wahren Freiheit der Persönlichkeit gelangen.‘“278
Mit dem Dichterwort wird ein Zirkel geschlossen: Die über fiktionale Textanteile wie dem Bericht über das Lenin-Massenstudium konstituierte Belegstruktur zur 275 Staatsbürgerkunde 10 (1970): S. 134. 276 Im Verweis auf den Klassenantagonismus als Triebkraft enthält der Entwicklungsgedanke allerdings eine spezifisch marxistische Prägung. Die gesellschaftliche Entwicklung vollzieht sich ganz im Marx’schen Sinn durch den Klassenantagonismus als Kampf der Gegensätze, der notwendig zu einer Höherentwicklung führt, vgl. Staatsbürgerkunde 10 (1970): S. 135. 277 Vgl. Staatsbürgerkunde 10 (1970): S. 139 sowie Unterrichtshilfe 10 (1970): S. 70. 278 Für beide Zitate, vgl. Staatsbürgerkunde 10 (1970): S. 139, zit. n. ders.: Über Literatur und Kunst. Berlin 1962, S. 49.
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Wirkung der Schrift wird dem Autor zur Bestätigung überantwortet. Der Literat als Schöpfer seiner literarisch entworfenen Illusion wird zum Kronzeugen der Wirksamkeit seines Werkes und erhält gleichzeitig die Aussagehoheit über die Wirksamkeit der sozialistischen Weltanschauung.
6.4.2 Die Inhalte der sozialistischen Moral Mit der sozialistischen Moral, die Seins- und Sollensprinzipien des sozialistischen Menschen formuliert, wird eine neue Konkretisierungsstufe erreicht: Der Lehrbuchtext gelangt von der Konzeptualisierung zur Konkretisierung der Weltanschauung. Was die sozialistische Moral genau ausmacht, wird in den Büchern anhand der Themenfelder militärische Verteidigung, Arbeit, sozialistisches Kollektiv und Lebensgestaltung konkretisiert. Diese Bereiche bleiben über die Jahre als Grundgerüst der sozialistischen Moralprogrammatik erhalten, wenngleich das moralische Element auf lange Sicht einer nüchternen Präsentation weicht.279 Was die sozialistische Moral vor allem ausmacht, ist ihre Abgrenzung von Transzendenzbezügen: Eine gesellschaftsunabhängige, klassenneutrale, „‚höhere‘ oder ‚ewige‘ Moral“ wird abgelehnt und bisweilen unter Verweis auf Klassiker wie Lenin als „Betrug“ und „Schwindel“ bezeichnet.280 Klassikerzitate281 fundieren die Darstellung der sozialistischen Moral marxismustheoretisch und verabsolutieren diese darüber hinaus als etwas qualitativ Neues, denn: „Die sozialistische Moral unterscheidet sich grundlegend von jeder bisherigen Moral der Ausbeuterklassen.“282 Als Klassenmoral konzeptualisiert283 bestärkt sie den 279 Diese liest sich durch den Verweis auf die Bedeutung der SED wie ein Parteiprogramm, vgl. Staatsbürgerkunde 10 (1977): S. 160–177. So heißt es unter anderem, die Entwicklung der sozialistischen Moral sei der geduldigen parteilichen Erziehungs- bzw. Umerziehungsarbeit zu verdanken, mit der das faschistische und bürgerliche Gedankengut nach dem Krieg „aus den Köpfen der Menschen [geräumt wurde]“, vgl. Staatsbürgerkunde 10 (1972): S. 166, Staatsbürgerkunde 10 (1975): S. 178, Staatsbürgerkunde 10 (1977): S. 164. In der ersten Lehrbuchausgabe von 1970 war davon noch keine Rede. Diese stand mit der Formulierung von der Befreiung vom Faschismus durch die selbstlose Sowjetunion noch deutlicher im Zeichen der politischen Nachkriegsrhetorik, vgl. Staatsbürgerkunde 10 (1970): S. 143. Mit diesem Lob wurde zugleich eine Schwerpunktverlagerung in der Erinnerungskultur vorgenommen, die einen, wenn auch verhaltenen, Hinweis auf Kontinuitäten nationalsozialistischen Gedankenguts in der Bevölkerung zumindest zuließ und den Nationalsozialismus damit nicht ausschließlich externalisierte, was in einigen Darstellungen des Staatsbürgerkundelehrbuchs der Klasse 7 der Fall gewesen war. 280 Vgl. Staatsbürgerkunde 10 (1977): S. 164; auch: (1975): S. 179, (1972): S. 167. 281 So auch an anderen Stellen der Argumentation, zum Beispiel, wenn die Frage nach Moral zuerst als Klassenfrage beurteilt und die Argumentation dann mit einem Zitat von Friedrich Engels aus dessen Schrift Anti-Dühring unterlegt wird, vgl. Staatsbürgerkunde 10 (1977): S. 165. 282 Staatsbürgerkunde 10 (1977): S. 165. 283 Vgl. Staatsbürgerkunde 10 (1982), wo die Schüler in einer entsprechenden Arbeitsaufgabe dazu aufgefordert werden, die Notwendigkeit einer Arbeiterklassenmoral zu begründen: „Warum braucht die Arbeiterklasse ihre eigene, moralische Klassenposition?“ Vgl. ebd. S. 154.
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Einzelnen, mit der erworbenen moralischen Haltung zu lernen, ein neuer Mensch zu sein.284 Mit der sozialistischen Moral verknüpft ist die Frage nach dem Sinn des Lebens, die nicht individuell beantwortbar, sondern nur in der gemeinschaftlichen Arbeit und Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft erfahrbar wird. Sichtbar ist dieser Sinn zunächst in „großen“ und „guten“ Menschen.
Vaterlandsliebe und Landesverteidigung als ethisches Streben: der sozialistische Internationalismus „Wer ist ein guter Deutscher?“ Unter dieser Frage wird die Behandlung des „sozialistischen Internationalismus“, der sozialistischen Version eines Patriotismus, der sich vom nicht-sozialistischen Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts abzugrenzen behauptet285, als wesentlicher Teil der Moralprogrammatik eingeführt. „Vaterlandsliebe, patriotisches Streben und Freundschaft mit allen Völkern“ fokussieren auf die korrekte Einstellung des „guten Deutschen“, der Militärdienst in der Nationalen Volksarmee (NVA) bildet die praktische Seite. Beides wird als Ausdruck eines humanistischen Ideals geltend gemacht, das in die Tradition „große[r] Deutsche[r]“ – namentlich Herder und Kant, aber auch Ernst Moritz Arndt – gerückt wird. Den Inbegriff des „guten Deutschen“ bildet der Kommunist, der mit Liebknecht, Luxemburg, Thälmann und anderen ein prominentes Gesicht erhält, aber auch die unpersönlich bleibende Gruppe der in der DDR lebenden Bürger umfassen soll. Es ist jedoch Thälmann, der ihnen eine Stimme verleiht.286 Als Prototyp des „politischen Führer-Helden“ kommt ihm eine Sonderrolle für die Konstruktion der antifaschistischen Staatsidentität zu. Sein Tod im Widerstand gegen den Nationalsozialismus ließ ihn für die Inszenierung des staatlichen Selbstverständnisses und als Integrationsmittel nach innen besonders geeignet erscheinen.287 Mit dem Brief an einen Kerkergenossen von 1944 wird außerdem ein in der DDR im Allgemeinen und in der Staatsbürger 284 Vgl. Staatsbürgerkunde 10 (1982): S. 154. 285 Der Begriff bildet eine Anlehnung an den in der UdSSR propagierten Sowjetpatriotismus, vgl. Dengel, Sabine (2005): Untertan, Volksgenosse, Sozialistische Persönlichkeit. Politische Erziehung im Deutschen Kaiserreich, dem NS-Staat und der DDR. Frankfurt/Main: S. 154. Dengel verweist auf Baske (1998): Schulen und Hochschulen. 286 „Mein Leben und Wirken kannte und kennt nur eines: für das schaffende deutsche Volk meinen Geist und mein Wissen, meine Erfahrungen und meine Tatkraft, ja mein Ganzes, die Persönlichkeit, zum Besten der deutschen Zukunft, für den siegreichen sozialistischen Freiheitskampf im neuen Völkerfrühling der deutschen Nation einzusetzen.“ Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 144. 287 Vgl. Satjukow, Silke/Gries, Rainer (2002): Zur Konstruktion des „sozialistischen Helden“. Geschichte und Bedeutung. In: dies. (Hg.): Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR. Berlin: Chr. Links Verlag, S. 15–34, hier: S. 16 bzw. 25 f.
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kunde im Besonderen häufig zitiertes Dokument herangezogen, das zum „Kernstück der SED-Geschichtspropaganda“ avancierte, nachdem es seinerzeit von Walter Ulbricht den Parteiansprüchen angepasst worden war.288 In der DDR gehörte Thälmann vor allem in den 1950er und 1960er Jahren zu den populärsten sozialistischen Helden, wenngleich eine wesentliche Voraussetzung für die moralische Integrität des Einzelnen bereits in seiner Staatsbürgerschaft lag: Die moralische Gemeinschaft war eine Geburtsgemeinschaft. Die DDR-Bürger sind von Staats wegen die ‚guten‘ Deutschen, die ihren Gegenpart zwar nicht in den westdeutschen Bürgern insgesamt, wohl aber in Westdeutschland als Staat der Kapitalisten und Altnazis finden.289 Ein guter Deutscher ist ein guter Sozialist, dessen Auftrag, leistungsfähig im Berufs- und Alltagsleben zu sein, als quasi-militärische Tugend dargestellt wird. Obwohl die Landesverteidigung der Armee überantwortet bleibt, überlappten sich beide Bereiche im Schul- und Bildungssystem der DDR immer wieder. Auch in den Schulbüchern verschwimmt die Trennung zwischen zivil und militärisch.290 Der Aufruf zur Verteidigung geht über nationale Grenzen hinweg. Die „sozialistische Völker familie“ verlangt nach einer „internationalen sozialistischen Waffenbrüderschaft“, der der Einzelne auch im zivilen Leben verpflichtet bleibt. Später wird das Bekenntnis zur DDR nicht mehr als Attribut des ‚guten‘ Deutschen bezeichnet und damit normativ-ideell begründet, sondern über ein ökonomisch-sozial integratives Argument plausibilisiert: „In der JW✳-Leserdiskussion ‚Hand aufs Herz‘ schrieb Sabine Becker aus Erfurt: ‚Ich würde mein Heimatland, die DDR, gegen kein anderes Land eintauschen. Hier konnte ich zehn Jahre zur Schule gehen, wusste, daß ich danach ganz sicher eine Lehre antreten kann. Bei uns sind die Arbeitsplätze gesichert, es gibt keine Arbeitslosen, man kann sich qualifizieren. Ich fühle mich hier geborgen und sicher, habe viele Rechte und erfülle deshalb meine Pflichten gern.‘“291
288 Grübel, Egon (2000): Realsozialistische Schönschrift. In: Monteath, Peter (Hg.): Ernst Thälmann. Mensch und Mythos. Amsterdam: Rodopi, S. 93–108, hier: 94. Der Sammelband ist der Herausbildung der DDR-Legende im Verhältnis zum historischen Thälmann gewidmet. Dementsprechend arbeiten sich etliche der Beiträge an der Frage nach Realität und Fiktion ab; daneben enthält der Band mehrere Aufsätze zur Rezeption Thälmanns in der DDR, die dessen Sonderrolle für den ostdeutschen Erinnerungshaushalt verdeutlichen. 289 Vgl. Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 145. 290 „Die praktische Vaterlandsverteidigung verlangt vom einzelnen Bürger, daß er, wie in der Arbeit, strenge und bewußte sozialistische Disziplin übt und gewissenhaft die ihm durch das Gesetz oder durch Verhaltensmaßregeln übertragenen Aufgaben und Funktionen erfüllt.“ Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 147. ✳ Die Junge Welt war das fast täglich erscheinende Publikationsorgan der Freien Deutschen Jugend, deren Auflagenstärke die der Tageszeitung Neues Deutschland überschritt. 291 Staatsbürgerkunde 10 (1982): S. 156. Der Leserbrief wird in der Fußnote auf die Junge Welt-Ausgabe vom 18. Dezember 1981 datiert.
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Die von dem Argument der Versorgungssicherheit ausgehende, zurückproji zierte historische Entwicklung mündet in eine Art Generationenvertrag, dessen Verpflichtungsrhetorik in letzter Konsequenz den Opfertod für die DDR als „realisierter Traum“ und „Ergebnis und Krönung eines jahrhundertelangen Kampfes fortschrittlicher Kräfte für einen neuen, humanistischen deutschen Staat“ einschließt. Der Staat, für den „die Besten unseres Volkes, oft unter Verzicht auf ein bequemes Leben und Einsatz ihres Lebens, gekämpft und gestritten“ haben und sogar „auf dem Schaffott [sic!] gestorben [sind]“, wird damit historisch und moralisch konstruiert. Trotz der Rationalisierung der Verbundenheit zur DDR über das Versorgungsmotiv bleibt dem sozialistischen Patriotismus ein emotionales Moment unterlegt, wenn diese Verbundenheit durch den Begriff der Liebe schließlich in eine affektive Bindung überführt und als Pflicht zu Schutz und Verteidigung unter Einsatz des eigenen Lebens formuliert wird.292 International wird der sozialistische Patriotismus über die Arbeiterklasse. Die DDR wird in die weltweite „Kampfgemeinschaft für den Frieden“ eingegliedert: Lebenssinn ist hier zu finden.
„Herz der sozialistischen Moral“ und ethisches Erleben: die sozialistische Arbeit Arbeit ist nicht nur der Ausdruck eines allgemeinen Strebens, sondern der Ort, an dem Sinn erlebt werden kann. Die Verbindung von Arbeit und Heldentum bildet ein festes Motiv, dessen Rede- und Vermittlungsform bereits in der Gesellschaftskunde von 1963 vorformuliert worden war. Das Protobuch hatte die sozialistische Arbeit als Heldentum und den sozialistischen Arbeiter selbst zum heldenhaften und ethisch qualifizierten Heroen erklärt293 und ein narratives Muster zur Darstellung des sozialistischen Arbeiterhelden bereitgestellt, das durch literarische Verweise und erlebnisbezogene Figurenreden implementiert wurde.294 In seiner ursprünglichen Konzeption setzte der sozialistische Heldentopos nicht am klassischen „Werktätigen“, sondern am Bauern an, der den Prototyp des neuen Menschen verkörperte und damit ein sowjetisches Motiv aufgriff, das über die 292 Vgl. Staatsbürgerkunde 10 (1982): S. 157. 293 „[D]er Sozialismus hat dem Heldentum einen weit größeren Bereich erschlossen. Er hat ihm die Tore zum wichtigsten Bereich des menschlichen Lebens, zur Arbeit, aufgetan. Gorki sagte einmal, es gebe auf der Welt kein größeres Heldentum als das Heldentum der Arbeit […]. Wenn man den tiefen Sinn seiner Arbeit und ihre gesellschaftliche Bedeutung begriffen hat und sich als Kämpfer fühlt, dann wird sich auch die innere Bereitschaft, Heldtaten zu vollbringen, einstellen. Dann wird man auch im alltäglichen Beruf Heroisches entdecken und den Mut finden, sich immer und überall für die Wahrheit einzusetzen.“ Vgl. Gesellschaftskunde (1963): S. 319. 294 Vgl. dazu exemplarisch den Abschnitt Der neue Mensch wird in der Arbeit geformt in: Gesellschaftskunde (1963): S. 315–320.
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Lehrbuchübersetzung in die DDR-Staatsbürgerkunde diffundierte.295 Arbeit war in erster Linie landwirtschaftliche, also körperliche Arbeit, deren identitätsstiftende Wirkung sich aber auf alle Gesellschaftsschichten – vom Kolchosbauern über die Arbeiter bis hin zur „Intelligenz“ – erstreckte.296 Zentral für die Beschreibung von Arbeit waren außerdem die Begriffe Ehre und Lebensinhalt, die auf die DDR-typische lexikalische Einheit „Held der Arbeit“ verweisen297, der seine Wertschätzung durch die Tat für das Kollektiv gewinnt. Dementsprechend ist in den Staatsbürgerkundebüchern zumeist von der kollektiven Arbeit die Rede, die durch die affektiv besetzte Semantik des Gemeinschaftsbildenden aufgewertet wird. Auch formal gab das sowjetische Schulbuch vor, wie die emotionale Bindung auf der Ebene des Lehrbuchtextes zu gestalten ist: „Für die Sowjetmenschen ist die Arbeit eine Sache der Ehre und der Hauptinhalt ihres Lebens. Daher fand auch der Artikel ‚Ehrt den Bauern!‘ von N. G. Saglada so lebhaften Widerhall bei Kolchosbauern, Arbeitern und der Intelligenz. Nadesha Grigrojewna schreibt mit innerer Bewegung, daß man in unserer Zeit nicht ohne Arbeit und ohne Gewissen leben kann. Zornig verurteilt sie die Menschen, denen ihre Arbeit nicht am Herzen liegt.“298
Der Verweis auf den „lebhaften Widerhall“ einer unbestimmt bleibenden Anzahl von Bürgern steht für deren grundsätzliche Identifikation mit der sozialistischen Arbeit, die über die Präsentation der Gefühle „innere Bewegung“ und „Zorn“ der weiblichen Rezipientenfigur Nadesha Grigrojewna emotional qualifiziert wird. Ihre Gefühle werden dem Leser über eine Vermittlungsinstanz zugänglich gemacht, deren Präsenz nur über die Auswahl des Geschehens und dem Wie des Erzählten, der Wiedergabe der inneren Gefühlswelt der Figur, aufscheint. Die Erzählinstanz bleibt verborgen, ihre Identität wird auch im Nachhinein nicht geklärt. Der Schulbuchtext bedient sich damit erkennbar einem Stilmittel der fiktionalen Erzählung299, um die ethische Qualität der sozialistischen Arbeit zu plausibilisieren. Die moralisch aufgeladene Verpflichtungsrhetorik wird im Helden-Narrativ um das Heroische als Bedeutungsstruktur ergänzt. Im sozialistischen Moralsystem erhält Arbeit eine besondere Bedeutung: „Die Arbeitsmoral ist […] der wichtigste Bereich, gleichsam das Herz der sozialisti 295 Zur Bedeutung des Bauernmotivs in der sowjetischen Konzeption des neuen Menschen vgl. Scheibert (1961): Der Übermensch in der russischen Revolution, S. 184 f. 296 Dementsprechend wurde der Begriff des „Werktätigen“ in der DDR sozialintegrativ gebraucht; er bezog sich auf alle gesellschaftlichen Bereiche. 297 Vgl. Schroeter, Sabina (1994): Die Sprache der DDR im Spiegel ihrer Literatur. Studien zum DDR-typischen Wortschatz. Berlin: de Gruyter, S. 11. 298 Vgl. Gesellschaftskunde (1963): S. 317 f. 299 Vgl. Lahn/Meister (2008): Erzähltextanalyse, S. 126: „Da es uns in der realen Welt unmöglich ist, die Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen anderer Menschen direkt zu erfahren, gelten in der Erzähltheorie diese Darstellungen der figuralen Innenwelt als ein typisches Merkmal für fiktionale Literatur.“
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schen Moral.“300 Dementsprechend ist die Präsentation der sozialistischen Arbeit zumindest in den ersten Lehrbuchausgaben durch auffallend viele Literatur verweise gekennzeichnet.301 Diese zeichnen sich mitunter durch die Überlagerung verschiedener ‚Stimmen‘ innerhalb des Textes aus, durch die eine eigentümliche Mischung der Redeformen entsteht.302 Ähnlich wie in den Staatsbürgerkunde büchern der Klassen 7 und 8 soll Arbeit auch hier zum „Lebensinhalt“ werden, der die Menschen emotional erfasst und dadurch substanziell verändert.303 Die Veränderung wird im Text allerdings gesondert, durch ein semi-fiktionales Element, inszeniert: Ein Texteinschub präsentiert ein Zitat aus Maxim Gorkis dreibändiger autobiografischer Romantrilogie Meine Universitäten, das durch den Lehrbuchtext kommentiert wird. Damit verhält sich der Lehrbuchtext zu seinem Beleg; er inszeniert das Fiktionale, indem das Zitat paraphrasiert und deutend und kommentatorisch in den Quellentext eingegriffen wird: „Maxim Gorki beschrieb die menschengestaltende Kraft der Arbeit, ihren Heroismus und ihre Schönheit, wie sie selbst die Ausbeutungsverhältnisse nicht völlig zerstören können, in seiner Erzählung ‚Meine Universitäten‘. Eine große Barke war in einer stürmischen Herbstnacht auf einen Felsen gelaufen und leck geschlagen. Und nun beschlossen die Schauerleute, die mit der Entladung begonnen hatten, zu zeigen, ‚was arbeiten heißt‘. Die ermüdeten und mißgelaunten Menschen verwandelten sich förmlich, sie bewältigten die Arbeit wie spielend und warfen einander die schweren Säcke zu. ‚Ich erlebte in dieser Nacht eine Freude, die ich noch nie verspürt hatte…‘ schreibt Gorki. ‚Man sollte meinen, daß solcher Anspannung freudig sich austobender Kraft nichts widerstehen könnte, daß sie auf Erden Wunder wirken, die ganze Welt in einer Nacht mit mächtigem Palästen und Städten bedecken müsse, wie es in alten Märchen heißt.‘ Auf dem Heimweg begegnete Gorki dem Dieb Baschkin, der sich über den Widerschein der Freude auf Gorkis Gesicht verwundert zeigte. Gorki versuchte, ihm das Gefühl seiner Bewunderung für die Allmacht der menschlichen Arbeit zu erklä 300 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 152. 301 Später wird der Abschnitt zum sozialistischen Arbeiten und Lernen wesentlich gekürzt, so dass die Elemente der Literarisierung und Fiktionalisierung deutlich reduziert werden. Dadurch verändert sich die Plausibilisierungsstrategie wesentlich: Anstatt zahlreicher Einfügungen bezeugen nur noch wenige Figurenreden die Aussagen, stattdessen werden die Informationen durch statistische Angaben zu verobjektivieren versucht. An die Stelle des Elementes der personalisierten Zeugenschaft tritt nun eine empirische Belegstruktur. Vgl. Staatsbürgerkunde 10 (1970): S. 145–148. 302 Beispielsweise wird ein Textausschnitt nicht nur zitiert oder paraphrasiert, sondern innerhalb des Zitierten durch eine entsprechende Instanz kommentiert oder mit einem als fiktiv gekennzeichneten Beispiel unterlegt. 303 „‚Jeder trägt Verantwortung für das Ganze‘, dieser moralische Grundsatz kennzeichnet deutlich das Neue im moralischen Bewusstsein und Verhalten. […] Ein wesentlicher Bestandteil der schöpferischen Kräfte des Menschen im Sozialismus, eine starke Triebkraft zur Stei gerung der Arbeitsproduktivität ist die moralische Einstellung, das moralische Verhalten zur Arbeit, die sozialistische Arbeitsmoral.“ Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 150 f.
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ren. Baschkin hörte ihm zu und sagte schließlich verächtlich: ‚Du bist ein Narr! Nein noch schlimmer… ein Rindvieh bist du!‘“304
Durch den Wechsel der Textebenen verschwimmen die Sprecherpositionen und damit auch die Erzählebenen ineinander. Es ist nicht mehr ohne Weiteres nachvollziehbar, welche Instanz an welcher Stelle spricht. Der Lehrbuchhaupttext deutet Gorkis autobiografisches Werk, wenn er Arbeit als „menschengestaltende Kraft“ bezeichnet und ästhetisiert. Zwar wird der Kommentar durch den Verweis, dass es sich bei dem Referenztext um eine Erzählung handelt, als solcher erkennbar, das Fiktionale des autobiografischen Textes wird auf der Ebene des Lehrbuchtextes allerdings nicht reflektiert: Vom Verweis auf die Erzählung befindet sich der Leser unvermittelt in der Erzählung, die Gorkis Text ungebrochen als Tatsachenbericht aufnimmt („war […] auf einen Felsen gelaufen“). Durch die direkte Redewiedergabe innerhalb der Paraphrase findet überdies ein Wechsel zwischen der Lehrbuchtext- und der Erzählerstimme Gorkis statt. Diese Uneindeutigkeit betrifft auch die syntaktische Ebene: Die drei Auslassungspunkte lassen unklar, ob es sich um eine syntaktische Leerstelle oder eine Auslassung innerhalb des Zitats handelt, die seitens der Lehrbuchautoren vorgenommen wurde. Beides ist denkbar, zumal die emotionale Erlebbarkeit sozialistischer Arbeit an anderen Stellen des Lehrbuchwerkes durch Leerstellen inszeniert wird.305 Auch die metaphorische Beschreibung betrifft beide Textebenen und trägt zur Ambiguität bei: Die Wendungen „menschengestaltende Kraft“, „Heroismus“ und „Schönheit“ der Arbeit, die „förmlich“ eine Verwandlung auslösten, werden durch die Gorki’sche Erzählerstimme ergänzt, die von einer freudig sich austobenden, auf dem Gesicht der Figur widerscheinenden „Kraft“ spricht, von einem „Wunder“ wie aus „alten Märchen“. Die Abgrenzung zur kapitalistischen Arbeit und dem kapitalistisch denkenden Arbeiter erfolgt mehrfach – über die Figur des Baschkin ebenso wie über verschiedene Beispiele – und verbindet damit den semi-fiktionalen Einschub mit dem Lehrbuchhaupttext. Dass zwischen kapitalistischer und sozialistischer Arbeit ein qualitativer Unterschied besteht, wird im Folgenden anhand eines als fiktiv gekennzeichneten Beispiels erläutert, das Pflichtbewusstsein und Spezialisierung eines westdeutschen Arbeiters dem Gefühl des ostdeutschen Arbeiters, „etwas wahrhaft Großes zu leisten im Dienste der Menschheit, beim Aufbau einer neuen, menschlichen Gesellschaftsordnung [mitzuwirken]“ gegenüberstellt.306 Das besondere Kennzeichen der sozialistischen Arbeitsmoral soll die Einstellung des Werktätigen zum Volkseigentum sein, denn: „Was des Volkes Hände schaffen, ist des Volkes eigen.“
304 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 151. 305 Vgl. besonders die Analysen von Staatsbürgerkunde 7 und 8. 306 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 152.
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Dass das tatsächliche Arbeitsverhalten der Menschen offenbar Mängel aufwies, lassen die weiteren Ausführungen vermuten, in denen ausführlich auf das moralische Moment eingegangen wird. Die diversen Einschübe in Form von Figurenreden, unpersönlich bleibenden Beispielen, Erlebnisberichten und Kommentaren sowie einem Ulbricht-Zitat dienen vorrangig als Disziplinierungsmomente. So wird geschildert, wie ein namenlos bleibender Arbeiter Material aus seinem Betrieb für private Zwecke entwendet, schließlich erwischt und bestraft wird. Im Vordergrund der Geschichte stehen Strafandrohung und juristische Konsequenz, wenngleich Diebstahl als Systemfrage gedeutet wird und damit in den Bereich der Erziehung fällt. Lakonisch heißt es, dass sich die sozialistische Arbeitsdisziplin nicht „von selbst“ einstelle. Ein fiktives Beispiel erzählt, wie ein Berliner Arbeiter in der Auseinandersetzung mit seinen Kollegen sein Arbeitsverhalten schließlich dem sozialistischen Ideal anpasst, womit der Erfolg der Erziehungsversuche durch das Kollektiv dokumentiert scheint.307 Ein weiteres Merkmal der sozialistischen Arbeit bildet Kameradschaftlichkeit in Form gegenseitiger Hilfe und Unterstützung, die als ethisches Produkt der sozialistischen Produktionsverhältnisse entsteht und auf den Menschen zurückwirkt.308 Dass auf das ethische Moment besonderen Wert gelegt wird, zeigt die doppelte Belegstruktur, mit der der Lehrbuchtext die Qualität der sozialistischen Arbeit auch wissenschaftlich zu bestätigen sucht. Ein durch entsprechende Inquit-Formel als Erfahrungsbericht eines Wissenschaftlers gekenn zeichneter Einschub schildert die Verwandlung durch den sozialistischen Arbeitsprozess so: „‚Dieser Prozeß ist nicht so genau in Formeln zu fassen wie ein chemischer. Wir wurden uns dessen gar nicht so sehr gewahr, wie jede Diskussion, jede Auseinandersetzung über fachliche Probleme, jedes tägliche Gefecht mit Widerständen uns auch menschliche einander näherte und unsere Gedanken und Interessen anglich. Schritt für Schritt formte sich so ein neues gegenseitiges Verhältnis… Dieses Neue in den menschlichen Beziehungen halte ich für ein nicht weniger bedeutendes Ergebnis der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit als den rein ökonomischen Erfolg.‘“309
Der Verweis auf den Beruf des Wissenschaftlers fungiert als textinterne Legitimierungsstrategie, mit der das Zeugnis der Figur aufgewertet werden soll. Die Figurenrede weist die typischen Elemente der sozialistischen Zeugenschaft auf: das Motiv der Wandlung, die menschliche Annäherung der Beteiligten, die 307 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 153. 308 „[D]ie sozialistische Gemeinschaftsarbeit besitzt zugleich einen hohen ethischen Wert, sie vervielfältigt die Kräfte des einzelnen, ermöglicht und erfordert den schöpferischen und an regenden Austausch der Gedanken, fördert die gegenseitige Hilfe und die Entfaltung sozialistischer Persönlichkeiten.“ Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 154. 309 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 154.
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schließlich in die Metapher der Formung überführt wird. Die durch drei Auslassungspunkte markierte Leerstelle greift deutend in die Figurenrede ein, indem sie die folgende semantische Unbestimmtheit – das „Neue“ – syntaktisch vorbereitet. Durch Substantivierung als eigene Struktur etabliert, kann lediglich angedeutet bleiben, was das Neue der sozialen Beziehungen genau ausmacht. Stattdessen fordert der als Sprechpause inszenierte Raum den Adressaten dazu auf, diesen selbst mit Bedeutung zu füllen. Der Text konkretisiert nicht weiter; er qualifiziert das Verhältnis lediglich relational (alt versus neu), unterstreicht abschließend aber noch einmal die Bedeutung in Abgrenzung zur rein ökonomischen Arbeitseffizienz. Ein Ausblick zeigt, dass Arbeit als Moment der Charakterbildung auch künftig ein zentrales Motiv der sozialistischen Weltanschauung bildet, wenngleich sich die Präsentationsformen verändern. Die persönlichen Erlebenszeugnisse werden nach und nach zu objektivieren versucht, indem der Text mit statistischen Angaben, Grafiken und Diagrammen eine empirische Belegstruktur erzeugt, die das Element der personalisierten Zeugenschaft auf lange Sicht ersetzt. Insgesamt moralisiert der Schulbuchtext später deutlich weniger; die Abgrenzungsfolie zur sozialistischen Arbeit, die kapitalistische Arbeitseinstellung, bleibt allerdings weiterhin als Kristallisationspunkt des auch moralischen Unterschieds zweier Systeme erhalten.310 Erlebnis- und Sinnhaftigkeit kann nur in den kollektiven Strukturen erfahren werden, die der Staat bereitstellt. Die gemeinschaftliche Arbeit wird schließlich zum wichtigsten Erziehungsfaktor. Die Erziehung des Einzelnen bleibt damit maßgeblich dem „Kollektiv“ überantwortet, mehr noch, das Kollektiv fungiert als Erzieher.
Fremderziehung: das Kollektiv „Der sozialistische Mensch wächst im Kollektiv“.311 Unter dieser Prämisse stehen die Lehrbuchausführungen zur Bedeutung der „sozialistischen Menschengemeinschaft“, in der persönliche und gesellschaftliche Interessen übereinstimmen. Mit der anklingenden Körpermetapher vom Kollektiv als organischer Gemeinschaft wird zudem ein bekanntes Bild verwendet.312 Nur die „entwickelte 310 Vgl. zum Beispiel in der Ausgabe Staatsbürgerkunde 10 (1970): S. 148. 311 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 157. 312 Dieses hatte bereits in der zuvor gebräuchlichen Lehrbuchübersetzung Gesellschaftskunde für die Klassen 11 und 12 eine wichtige argumentative Rolle gespielt. Das Kollektiv wurde dort einerseits als wichtigstes erzieherisches Mittel im Vervollkommnungsprozess des sozialistischen Menschen gepriesen, bildete gleichzeitig aber auch die Oberfläche der organischen Gemeinschaft, und damit die Grenze des sozialistischen Organismus. Die Körpermetapher erhielt somit eine zentrale narrative Funktion für die sozialistische Ausgrenzungslogik, die argumentativ in die Abgrenzung zu Religion als Überrest der Vergangenheit mündete. Die
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sozialistische Gesellschaft“ – ein Fortschritts-Topos, der den Sozialismus als eigene Epoche plausibilisieren sollte – vermag eine „echte“ Gemeinschaft herauszubilden, die die Menschen „politisch-moralisch“ vereint, mehr noch, sie „im Prozeß der sozialistischen Planung und Arbeit zu einer großen […] Gemeinschaft freier und gebildeter Mitgestalter ihres sozialistischen deutschen Vater landes zusammen[wachsen]“ lässt.313 Die Vorstellung von einer organischen Einheit bildet die Grundlage der sozialistischen Ordnung, in der sich der Wandel des Menschen vollzieht.314 Die Gegensatzfolie dieses Ideals, die kapitalistische Gesellschaftsordnung, wird mit einem literarischen Beispiel illustriert: „Welche Auswirkungen das [der Gegensatz der Menschen in kapitalistischen Gesellschaftsordnungen] auf die moralischen Beziehungen der Menschen zueinander hat, beschrieb schon der französische Realist Balzac in seinem Werk ‚Vater Goriot‘. Die Gräfin de Beauséant unterrichtet ihren Günstling, den Studenten Rastignac, darüber, wie er sich in der ‚Gesellschaft‘ zu verhalten habe, um Karriere zu machen: ‚Je kühler Sie rechnen, desto weiter werden Sie kommen. Schlagen Sie zu ohne Mitleid – Sie werden gefürchtet sein. Sehen Sie in Männern und Frauen nur Postpferde, die Sie bei jedem Relais wechseln und krepieren lassen. Sie werden so zum Gipfel Ihrer Wünsche gelangen. Empfinden Sie aber ein aufrichtiges Gefühl, so verbergen Sie es wie einen Schatz; lassen Sie es niemanden merken, sonst sind Sie verloren! Sie wären dann nicht mehr der Henker, Sie wären das Opfer!‘“315
Mit dem Zitat, das rücksichtsloses Karrierestreben als Resultat der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu entlarven und den moralischen Verfall der Menschen zu dokumentieren scheint, erhält die Kapitalismuskritik eine fiktionale Struktur. Der unbelegt bleibende Textausschnitt blendet jedoch den Werkzusammenhang, aus dem der gesellschaftskritische Impetus deutlich hervorgeht, aus.316 An keiner Stelle wird die Literarizität des Textes reflektiert oder kommentiert. Der Monolog, in dem die sprechende Figur Teil eines von der durch Balzac instanziierten Erzählerstimme fokalisierten Geschehens ist, bleibt als Beleg für die moralische Verderbtheit der kapitalistischen Gesellschaft stehen. Der Lehrbuchtext intendiert nicht einmal, zwischen den Ebenen zu unterscheiden, wie aus der einführenden Inquit-Formel, in der von den „Auswirkungen“ des Kapitalismus Überwindung von Religion wurde zum Gesundwerdungsprozess des Kollektivs, vgl. dazu Kapitelabschnitt 5.2 a). 313 Vgl. Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 157. 314 Durch den gemeinsamen Aufbau der neuen Gesellschaft „wächst und entfaltet sich ihre Persönlichkeit“, wird „reicher und weiter in ihren Interessen, entwickelt in der Gemeinschaft die Liebe zur Arbeit und Verantwortungsbewußtsein, Wahrheitsliebe und Kühnheit, Offenheit und Selbstlosigkeit, Treue zum Sozialismus und Völkerfreundschaft“. Zit. n. Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 158. 315 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 158. 316 Weder die verwendete Übersetzung und Ausgabe des Romans noch die Seitenangabe werden angegeben. Für den Dialog vgl. z. B. S. 61 der Ausgabe von 1909 im Leipziger Insel-Taschenbuch Verlag, übersetzt von Gisela Etzel.
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die Rede ist, hervorgeht. Der Verweis auf Balzac als „Realisten“ mag die Argumentationsstruktur zusätzlich stützen. Der ungebrochene Umgang mit Literatur wurde in späteren fachmethodi schen und -didaktischen Debatten durchaus kritisiert, ist hier aber zweckmäßig und wird dazu genutzt, einen Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Faschismus zu konstruieren. Echte Solidarität und Moral könnten nur in der so zialistischen Gemeinschaft entstehen: „Sie befähigten die Arbeiter, dem Schrecken und der viehischen Grausamkeit faschistischer Konzentrationslager zu widerstehen, ihre Standhaftigkeit und menschliche Würde zu bewahren.“317 Mit dem zwar unvermittelten, keinesfalls aber zufälligen Verweis auf die jüngste Vergangenheit wird das emotional aufgeladene Antifaschismusmotiv der DDR bemüht. Die Argumentation folgt der Logik der sozialistischen Faschismusanalyse und greift auf eine Geschichtsversion zurück, die die Arbeiterschaft als vereintes Widerstandsbündnis gegen den Nationalsozialismus konstruiert, was historisch so uneingeschränkt keineswegs der Fall war318, auch wenn der Lehrbuchtext diesen Zusammenhang suggeriert.319 Das Thema Persönlichkeit und sozialistisches Kollektiv bleibt emotional besetzt, insofern das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft als eine freundschaftlich-intime Beziehung dargestellt wird. Formal macht sich dies vor allem durch zahlreiche intertextuelle Bezüge bemerkbar.320 Wie ein Ausblick zeigt, verändert sich jedoch auch hier die Vermittlungsstruktur; sie wird verwissenschaftlicht. Eine Studie soll beispielsweise die Steigerung moralischer Qualitäten des Menschen durch sozialistische Arbeit empirisch fundieren: „In einer wissenschaftlichen Untersuchung wurden zahlreiche Werktätige in einigen sozialistischen Großbetrieben danach befragt, was sie zur Teilnahme an der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit bewegt. Neben den materiellen Interessen, beispielsweise an Prämien oder zusätzlicher Vergütung, gaben sie vor allem moralische Motive an. Da hieß es: ‚Ich arbeite gern im Kollektiv.‘ – ‚Ich fühle mich für die Er-
317 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 158. 318 Vgl. dazu den auch religionswissenschaftlich interessanten Beitrag von Alf Lüdtke (1991): „Ehre der Arbeit“: Industriearbeiter und Macht der Symbole. Zur Reichweite symbolischer Orientierungen im Nationalsozialismus. In: Tenfelde, Klaus (Hg.): Arbeiter im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 343–392. 319 In einer Arbeitsaufgabe wird der Schüler aufgefordert, die sozialistische Gemeinschaft und ihren Grundsatz „Einer für alle, alle für einen“ als Ausdruck neuer menschlicher Beziehungen, in denen der Gegensatz zwischen gesellschaftlichem Nutzen und persönlichen Interessen endgültig aufgehoben sei, zu erläutern. Der Leitspruch taucht weiter unten im Text sowie im Lehrbuch Gesellschaftskunde auf. 320 Der Abschnitt zum Kollektiv zeichnet sich durch besonders viele Texteinschübe aus: Auf zwei Schulbuchdoppelseiten werden sieben Einfügungen installiert, in denen unterschiedliche Sprecherinstanzen verschiedene Aspekte der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit thematisieren.
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füllung des Betriebsplanes verantwortlich.‘ – ‚Die Produktionsaufgaben lassen sich besser im Kollektiv lösen.‘ – ‚Ich will mithelfen, uns allen die Arbeit zu erleichtern.‘ – ‚Ich fühle mich für die Entwicklung meiner Arbeitskollegen mitverantwortlich.‘“321
Die Antworten, gern im Kollektiv zu arbeiten, ein Verantwortungsgefühl gegenüber Betrieb und Kollegenschaft zu verspüren oder die gemeinsame Arbeit als effektiv einzuschätzen, bilden die Belege für die moralische Qualität der Vergemeinschaftung. Das Gemeinschaftsideal wird zusätzlich durch Berichte von als Wissenschaftler gekennzeichneten Figuren verifiziert322 und scheint damit nicht nur die wissenschaftliche Messbarkeit des systemischen Erfolgs, sondern auch die schichtenübergreifende Integration und Überzeugungskraft des Sozialismus zu dokumentieren. Die politische Legitimierung erfolgt weiterhin durch Zitate des Staatschefs oder hoher Parteimitglieder der SED. In der Struktur der zunehmenden Konkretisierung von Weltanschauung – vom Lebensstreben und dem historischen Kampf zum Erlebnis von Arbeit und der Kollektiverfahrung – ist es letztlich die Partei, die die lebensnahe Konkretisierung und den Kern der sozialistischen Lebensweise bildet.
Von der Selbst- zur Fremderziehung: sozialistische Lebensweise und die Normierung der Lebensbereiche Die persönliche Lebensgestaltung wird in einem so gut wie jeden Bereich des menschlichen Lebens umfassenden Anforderungskatalog fixiert, der in der DDR unter dem Schlagwort der „sozialistischen Lebensweise“ firmierte.323 Im Gegensatz zur Fremderziehung durch das Kollektiv stellt die sozialistische Lebensgestaltung die Selbsterziehung des Menschen in den Vordergrund. Dessen Streben nach einem „sinnvolle[n] Leben [Hervorh. i. Orig.]“324, soll neben Arbeiten und Lernen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben einschließen und auch private Kontakte wie Liebe und Ehe betreffen, womit der Staat selbst die intimsten Beziehungen seiner Bürger zu normieren sucht. Dass die sozialistische Arbeit eine positive Wirkung auf die Persönlichkeitsbildung hat, wird über einen als Erfahrungsbericht einer Jugendbrigade gekenn-
321 Staatsbürgerkunde 10 (1970): S. 149. 322 Vgl. Staatsbürgerkunde 10 (1970): S. 150. 323 Diese Lebensweise konstruierte eine auf dem politischen System und der Produktionsweise basierende ‚neue Art‘ des Zusammenlebens in gegenseitigem Verständnis und gemeinsamem Streben der Menschen nach Vervollkommnung der sozialistischen Gesellschaft, vgl. Wolf, Birgit (2000): Sozialistische Lebensweise. In: dies.: Sprache in der DDR. Ein Wörterbuch. Berlin: de Gruyter, S. 210. 324 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 161.
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zeichneten Texteinschub belegt.325 Das in dem Einschub transportierte Bildungsverständnis geht weit über Ausbildung hinaus: Vor allem Literatur und Kunst regten das Erleben und Empfinden des Menschen an und weckten dessen „Bedürfnis, den großen humanistischen Idealen des Sozialismus und Kommunismus nachzuleben. Sie geben ihm seelische Kraft und Begeisterungsfähigkeit.“326 In der sowohl rezeptiv als auch aktiv erfolgenden kulturellen Bildung deutet sich erneut die Konzeptualisierung von Kunst als politisches Erziehungsinstrument an, wobei die Kunstwerke ihre Wirkung von allein entfalten. Insgesamt verspricht die sozialistische Lebensweise soziale Integration, erfordert allerdings ein hohes Maß an Disziplin, wobei es nicht nur die Selbstdisziplinierung des Menschen ist, sondern auch eine Fremddisziplinierung durch das Kollektiv. Veranschaulichung findet dies in einem literarischen Beispiel aus dem Werk des in der DDR bekannten Lyrikers, Schriftstellers und Kinderbuchautors Helmut Preißler327: Bericht des Abraumkippers Manfred K. über das Versagen seines besten Freundes Mein bester Freund sollte mich anklagen, aber er tat es nicht. So hat sich herausgestellt, daß seine Freundschaft nicht stark genug war.
Sie habe Sie haben mich auseinander genommen Und mir die lumpige Seele verprügelt. Zwei Stunden lang! Mein bester Freund saß dabei und hat gar nichts gesagt. Er hat geschwiegen Ich hatte zu bummeln begonnen: Mal eine Fehlschicht wegen der Mädchen, und ich hab’ gedacht: Das kann nicht dein Freund sein. mal eine Fehlschicht wegen des Katers, Damals mal eine Fehlschicht, hab’ ich das freilich um zu beweisen, ganz anders gemeint, daß ich’s mir leisten kann. als ich’s heute begreife. 325 „Über die Auswirkungen der gemeinschaftlichen Arbeit auf die Gestaltung der Lebensweise heißt es im Bericht einer Jugendbrigade: ‚Früher ging es nach Feierabend sehr oft in die Kneipe, aber jetzt haben wir andere Interessen. Der eine nimmt am Meisterlehrgang teil, die anderen besuchen Abendkurse, um einen zweiten Beruf zu erlernen. Wir veranstalten Brigadeabende mit unseren Frauen, bei denen auch Künstler anwesend sind. Wenn jetzt in der Arbeit einmal jemand nicht weiterkommt, helfen wir. Und das geht auch über den Betrieb hinaus, wir sind eben eine wirkliche Gemeinschaft.‘“ Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 161. 326 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 162. Die der Kunst zugedachte erzieherische Funktion wurde in der fachmethodischen Debatte ausführlich diskutiert. 327 Helmut Preißler (1925–2010) gehörte zu der Generation der Neulehrer, die nach Kriegseinsatz und Gefangenschaft in der DDR rasch ausgebildet wurden. Nach einem Studium der Literatur in Leipzig war er vorübergehend an der Universität als Assistent sowie als Kulturfunktionär des FDGB tätig, bevor er bis zum Ende der DDR im künstlerischen Bereich arbeitete. In der Sekundärliteratur wurde Preißler als „Parteilyriker“ bezeichnet, vgl. Schmitt, Hans-Jürgen (Hg.) (1983): Sozialgeschichte der deutschen Literatur Band 11. Die Literatur der DDR. München: dtv, S. 62.
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Unter vier Augen hat mich mein Freund stets gemahnt; aber als er mich anklagen sollte, hat er’s verweigert.
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Damals warf ich ihm vor, daß er sich scheute, mich zu verteidigen; heute werf ’ ich ihm vor, daß er sich scheute, mich anzuklagen.
Angeklagt wurde ich dann durch den Meister; das Kollektiv hat die Klage behandelt. Sie haben mich eiskalt geduscht und mir die vernebelten Augen gewaschen. Aber ich werfe ihm heute wie damals vor, Sie haben mich umgestülpt daß er neutral blieb.328 und mir mein dreckiges Innen gezeigt.
Die Sprechinstanz fordert ihre Strafe nicht nur ein, ihr Schuldbekenntnis verkehrt sich auch als Anklage gegen den besten Freund. Dieser bleibt hingegen eigentümlich schattenhaft, insofern er lediglich durch sein über den Sprecher als Versagen beurteiltes Verhalten präsent ist. Nahezu auffällig vermieden wird, dass der Leser etwas über seine Person, Verhaltensmotivation oder gar sein inneres Erleben erfährt. Die vermeintliche Neutralität wird stattdessen als unaufrichtig und feige verurteilt, Kritik und Selbstkritik schließlich als die einzig richtigen Mittel der inneren Wandlung gelobt. Die Figur des Abraumkippers Manfred K. wird damit zum Vordenker der sozialen Praxis der Parteidisziplinierung, die, euphemistisch als zu behandelnde „Klage“ bezeichnet, historisch freilich anders aussah: Als entwürdigende Selbstanklage und devote Selbstanzeige – der Verlauf einer Selbstkritik ist exemplarisch in Wolfgang Leonhards Autobiografie nachlesbar329 – fielen ihr besonders in der Sowjetunion viele Parteimitglieder zum Opfer. In der DDR konnte sich die Selbstkritik zwar nicht in gleichem Maß durchsetzen, sie diffundierte als Thema aber in die Literatur.330 Ganz anders als im Staatsbürgerkundeschulbuch der neunten Klasse, wo Freundschaft mit den Figuren Marx und Engels noch als enge Beziehung zwischen zwei personalen Entitäten konstruiert war, findet hier eine Umdeutung statt: Die Partei ersetzt fortan das Subjekt der Freundschaft, sie selbst wird als Freund inszeniert. Dass private Freundschaft in der sozialen Praxis der Selbstkritik dem328
328 Zit. n. Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 164 f. 329 Vgl. ders. (1966): Die Revolution entläßt ihre Kinder. Frankfurt am Main/Berlin: Ullstein, S. 181–189, bes. S. 188. 330 So die Literaturwissenschaftlerin Hynseon Lee in ihrer Dissertation, vgl. dies. (2000): Geständniszwang und „Wahrheit des Charakters“ in der Literatur der DDR. Stuttgart/Weimar: Metzler. Lee zeigt, wie die Redeformen der Selbstkritik sowohl als Narrative – häufig in Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit – in der DDR-Literatur auftauchen als auch als Schreibmotivation von DDR-Schriftstellern fungieren: „In literarischen Texten seit den siebziger Jahren tauchen Tabu-Themen wie die faschistische und stalinistische Vergangenheit auf. Man findet oft Anspielungen auf diese Themen und Kritik- wie Selbstkritikrituale.“ Ebd. S. 19. Manche der Schriftsteller waren in der DDR selbst zu Opfern der stalinistischen Selbstkritik geworden.
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entsprechend keinen eigenen Wert bildete, zeigt Preißlers Text eindrücklich. Die Auslegung des Schweigens als Fehlverhalten entspricht dem offiziellen Wertekanon, in den persönliche Loyalität nicht zufällig keine Aufnahme fand. Mehr noch wird diese im Schulbuchbuchtext als „kumpelhaftes Verdecken“ und „Nichtaussprechen“331 verurteilt, „helfende Kritik“ hingegen als Kameradschaft gelobt. Insgesamt bleibt der Text als einer der wenigen auch in den Folgejahrgängen der Staatsbürgerkundelehrbücher erhalten.332 Die Aufforderung nach gegenseitiger Kontrolle wird durch entsprechende Arbeitsaufgaben über die Jahre noch radikalisiert.333 Damit ist der Text nicht nur als Handlungsanleitung im Umgang mit zukünftigen Verfehlungen zu verstehen, sondern als Aufruf zu überlegen, ob es bereits etwas Berichtenswertes gibt, und damit als Aufforderung zur Denunziation. Wie ein Langzeitvergleich zeigt, bleiben die staatlichen Normierungsbestrebungen der Lebensbereiche ein zentrales Moment der sozialistischen Moral, die über die Jahre nur geringfügig durch Aussagen zu Wohnungsbau und Wohnkultur sowie vage bleibende Bemerkungen zur Frauenpolitik ergänzt werden. Die Ausführungen zur privaten Lebensgestaltung beinhalten neben der Regulierung von Freizeitaktivitäten auch das Thema Liebe und Partnerschaft, Reproduktion wird zur moralischen Verpflichtung gegenüber des Kollektivs.334
Die affektive Bindung an den Staat: die „Liebe zur DDR“ als Grundlage der sozialistischen Moral Die sozialistischen Moralgrundsätze sind nicht nur der Garant für die Verwirklichung eines „glücklichen und sinnvollen Leben[s] in der Gemeinschaft“, sie binden ihre Mitglieder auch emotional an den Staat: „Kurt Hager✳ über die Veränderung des sozialistischen Bewußtseins der DDR-Bürger ‚Die heute in der Deutschen Demokratischen Republik herrschenden, in den Herzen und Hirnen der Bürger fest verankerten Ideen der Liebe zur DDR, unserem 331 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 165. 332 Erst mit der Neuausgabe der Staatsbürgerkunde 10 von 1984, die ohne größere Veränderungen bis zum Ende der DDR in Gebrauch blieb, wird der Text endgültig ersetzt. 333 Beispielsweise sind in der Lehrbuchausgabe von 1970 zwei Arbeitsaufgaben an den Text angeschlossen, von denen die eine den Schüler auffordert, sich selbst und seine eigenen freundschaftlichen und kameradschaftlichen Beziehungen auf die Frage nach Entwicklungs- und Verbesserungsmöglichkeiten des eigenen Charakters sowie des Kollektivs zu prüfen, vgl. Staats bürgerkunde 10 (1970): S. 151. 334 „‚An der Liebe sind zwei Menschen beteiligt‘, sagte Lenin, ‚und es entsteht ein drittes, neues Leben. Hier liegt auch ein gesellschaftliches Interesse verborgen, es erwächst eine Verpflichtung gegenüber dem Kollektiv‘. Die Konsequenz der Liebe, ihre Vertiefung ist die Familie und die Erziehung der Kinder [Hervorh. i. Orig.].“ Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 165. ✳ Kurt Hager war bis zum Ende der DDR Mitglied des Politbüros und dort für die Bereiche Bildung und Kultur zuständig. Er galt als „Chefideologe“ der Partei.
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sozialistischen Vaterland, […] sind […] das Ergebnis des ständigen erfolgreichen Ringens unserer Partei um die Entwicklung des sozialistischen Bewußtseins und der sozialistischen Menschengemeinschaft.‘“335
Über die Rede von der „Liebe zur DDR“ wird die Bindung des Individuums an den Staat über eine affektive Dimension herzustellen versucht. Der bereits früher verwendete Topos der Liebe zum Vaterland bzw. zur Republik wird durch Literatureinfügungen maximal gesteigert: Der Text Du meine Republik der Berliner Schriftstellerin und Publizistin Cläre M. Jung überführt die emotionale Verbindung von Individuum und Staat in eine organische: „Mit allen Fasern bin ich tief verwurzelt in deinem Boden, meine Republik. Aus dir ist meine Kraft gewachsen, dir gebe ich sie ganz zurück. Mit tausend Fäden bin ich fest verbunden in deinem Leben, in dem Heut und Hier. Mit deinem Werden bin auch ich geworden. Ich bin ein unlösbarer Teil von dir.“336
Die literarische Beschreibung der Verbindung von Republik und Bürger wird auch politisch autorisiert. Was sich in mahnenden Worten des Staatschefs Walter Ulbricht ankündigt – dass die Sicherung des Friedens erheblich von dessen Stärke und Kraft abhängt –, wird schließlich als militärische Pflicht der Verteidigung, die den Opfertod fürs Vaterland einschließt, auf der Ebene des Haupttextes so formuliert: „Die Liebe zu unserem sozialistischen Vaterland schließt zugleich auch die Pflicht und die Bereitschaft in sich ein, den sozialistischen Staat zu schützen, ihn mit der Waffe zu verteidigen und, wenn es notwendig ist, dafür das Leben einzusetzen.“337 Zumindest für den Moment bleibt unklar, gegen welche Instanz sich Schutz und Verteidigung des Staates richten; auch wenn das Feindbild rasch auf die „Imperialisten“ projiziert wird, besteht vorübergehend eine semantische Unterbestimmtheit. In späteren Lehrbüchern wird der Verteidigungstopos noch gesteigert. Die dem Lehrbuchkorpus insgesamt vorangestellte Konstruktion der DDRBevölkerung als Opfergemeinschaft, die Fragen nach politischer Verantwortlichkeit wie der für den zweiten Weltkrieg an den westdeutschen Staat delegiert338, gehörte ebenso zum offiziellen Geschichtsbild, wie die als selbstlos bezeichnete 335 Staatsbürgerkunde 10 (1970): S. 140. 336 Staatsbürgerkunde 10 (1970): S. 141. 337 Vgl. Staatsbürgerkunde 10 (1970): S. 141. 338 Vgl. das erste Kapitel der Staatsbürgerkunde 7 Vom schweren Anfang zur Gründung der Deutschen Demokratischen Republik; in der Analyse 6.1.a).
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Hilfe der militärischen Siegermacht. Zumindest vorübergehend mündet die Moralprogrammatik deshalb im Verheißungscharakter des (sowjetischen) Kommunismus als „Glück der Völker“.
Die Utopie: Kommunismus als „Zukunft der Menschheit“ Der Kommunismus findet nur in den Anfangsjahren des systematischen Staatsüberkundeunterrichts Eingang in die Lehrbücher. Dort wird die Zukunftsvision eines kommunistischen Staates in der Entwicklung von Mensch und Gesellschaft analog der marxistischen Geschichtsphilosophie als notwendiges „Aufwärtsschreiten von der niederen […] zur höheren Entwicklungsstufe“ entworfen.339 Neben den ökonomischen Voraussetzungen für den Aufbau des Kommunismus (Planwirtschaft) spielen auch Erziehungsfragen eine Rolle; beides zusammen bildet die Grundlage für die Errichtung der kommunistischen Gesellschaft, die metaphorisch als „Glück der Völker“ bezeichnet wird.340 Die „Erziehung des kommunistischen Menschen“ ist unmittelbar mit der klassenlosen Gesellschaft verwoben, der die Voraussetzung für „neue menschliche Beziehungen“, in denen die Menschen „einander Freund“ sind, bildet.341 Die kommunistische Zukunftsvision skizziert eine Gemeinschaft der Gleichen, in der der Mensch nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen handelt.342 Ihr ist der von Bertolt Brecht verfasste und von Hanns Eisler vertonte Text Lob des Kommunismus unterlegt: Er ist vernünftig, jeder versteht ihn. Er ist leicht. Du bist doch kein Ausbeuter, du kannst ihn begreifen. Er ist gut für dich, erkundige dich nach ihm. Die Dummköpfe nennen ihn dumm, und die Schmutzigen nennen ihn schmutzig. Er ist gegen den Schmutz und gegen die Dummheit. Die Ausbeuter nennen ihn ein Verbrechen. Aber wir wissen: Er ist das Ende der Verbrechen. Er ist keine Tollheit, sondern Das Ende der Tollheit. Er ist nicht das Chaos, Sondern die Ordnung. Er ist das Einfache, Das schwer zu machen ist.343 339 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 214. 340 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 221. 341 Vgl. Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 218. 342 Vgl. Marx, Karl (1875): Kritik des Gothaer Programms. Zit. n. MEW Band 19 (1973): S. 20. 343 Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 219, dort zit. n. Hundert Gedichte. 1918–1950. Berlin: Aufbau-Verlag, S. 251.
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Die an das Gedicht anschließenden Aussagen zum Leben im Kommunismus wiederholen im Wesentlichen die Inhalte der sozialistischen Moral, werden aber um einen Verweis auf die führende Rolle der kommunistischen Partei ergänzt. Die Sowjetunion ist das „Urbild der kommunistischen Völkergemeinschaft“ und das Vorbild für die „dereinstige Vereinigung blühender kommunistischer Nationen zur einheitlichen kommunistischen Weltgemeinschaft“.344 Der Kommunismus – so das Resümee – bildet deshalb das „Glück der Völker“, „[w]eil die kommunistische Gesellschaft die Gesellschaft […] des kulturvollen und sinnvollen Lebens für alle, die Gesellschaft der vollen Entwicklung der Persönlichkeit, der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ ist, die den „ewigen Frieden auf Erden“ und die „wirkliche Freiheit“ des Menschen garantiert. Diese ist das Resultat der Verschmelzung persönlicher und gesellschaftlicher Interessen, durch die das persönliche Glück des Einzelnen schließlich in ein gemeinsames „wahres Glück“ überführt wird: „das Bewußtsein, mit der Zeit und mit der Menschheit vorwärtszuschreiten.“345 Mit dieser Glücksverheißung und der Gewissheit, auf der ‚richtigen‘ Seite der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung zu stehen, endet der Lehrtext der in den 1960er Jahren gebräuchlichen Staatsbürgerkunde 2. Mit dem mehrfach verwendeten Terminus der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ wird der Sozialismus endgültig zur eigenständigen Epoche erklärt, der Wandel von einem utopischen zu einem nunmehr pragmatischen Sozialismusbild eingeleitet.346 In den Staatsbürgerkundebüchern schlägt sich dieses vor allem darin nieder, dass keine der zukünftigen Lehrbuchausgaben – anders als dies für die Klassenstufe 9 der Fall war – über ein eigenes Kapitel zum Kommunismus verfügt. Die utopische Dimension des politischen Entwurfs verschwindet endgültig aus dem Lehrbuch der Klasse 10.
6.4.3 Die marxistisch-leninistische Antwort auf die Sinnfrage: vom Romanheld zur Partei „Glück“ und „Lebenssinn“ sind die beiden Schlagworte der sozialistischen Weltanschauung.347 Als Streben und Erlebnis konkretisiert, wird der Sinnbegriff systematisch aufgeschlüsselt und eine marxistisch-leninistische Antwort auf die Sinn 344 Vgl. Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 220 f. 345 Vgl. Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 221 f. 346 Vgl. Sabrow, Martin (2009): Sozialismus. In: Ders. (Hg.): Erinnerungsorte der DDR. München: Beck, S. 188–204, hier: 197 f. Zur Konzeption und Bedeutung der „entwickelten so zialistischen Gesellschaft“ vgl. im Einzelnen Rossade, Werner (1997): Gesellschaft und Kultur in der Endzeit des Realsozialismus. Berlin: Duncker & Humblot, bes. S. 342–345. 347 Vorübergehend schließt mit diesen Begriffen das Weltanschauungskapitel und damit auch das Lehrbuch ab. In das Kapitel fließen Aussagen ein, die in der Vorausgabe Staatsbürgerkunde 2 bereits formuliert worden waren, vor allem in den Abschnitten zur sozialistischen
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frage formuliert: Sowohl Glück als auch Sinn bilden keineswegs übergeordneten oder transzendenten Kategorien, sondern gemeinschaftliche und planbare Ziele. Das Vorbild für das Streben nach einem kollektiven Glück gibt Karl Marx ab: „In den ‚Bekenntnissen‘, einem Fragebogen, den Marx’ Töchter ihrem Vater einmal vorlegten, antwortete Marx auf die Frage nach seiner Auffassung vom Glück: Zu kämpfen! Marx verabscheute nichts mehr als Feigheit und Heuchelei, Standpunktlosigkeit und abwartendes Beiseitestehen. Er erkannte, daß die Welt nur kämpfend zu verändern ist; und in diesem Kampf gegen die alten reaktionären Mächte, gegen Unwissenheit und Trägheit, für den historischen Fortschritt durch die Befreiung des Proletariats sah Marx das Glück seines Lebens. Gewiß, auch Marx hat nicht nur gekämpft, und nicht nur darum war er glücklich; er kannte auch das Glück der Liebe und eines schönen Familienlebens. Aber wie oft war dieses Glück vom Unglück überschattet, weil eben das größere Glück, das der Arbeiterklasse und des Volkes, noch nicht erkämpft war.“348
Das hier referierte Glücksverständnis basiert auf einer Antwort, die Karl Marx einer seiner Töchter schriftlich gegeben hatte. Die beiden Mädchen Jenny und Laura legten in der Zeit von 1865 bis 1872 mehrere, als „confessions“ bezeichnete Foto- und Fragebögen-Alben an, in denen sowohl die Familienmitglieder als auch Verwandte, Freunde und Bekannte verewigt wurden.349 Aus ihnen geht hervor, dass Marx die Frage nach dem Glück im Fragebogen der ältesten Tochter Jenny unbeantwortet ließ, im ihm zeitgleich von seiner jüngeren Tochter Laura vorgelegten Bogen auf die Frage nach der „idea of happiness“ schlicht „to fight“ notierte.350 Auf diesen zweiten Bogen bezieht sich der Lehrbuchtext offenbar ebenso, wenn er Feigheit und Heuchelei („servility“) als von Marx zutiefst verhasste Eigenschaften angibt.351 In der Darstellung fließen Politik und Moral ineinander, insofern Marxens privates Bedürfnis nach Glück in das politische Programm der Befreiung der Arbeiterklasse überführt wird. Die erläuternde und kommentatorische Stimme stellt Marx nicht nur als politisches, sondern vor allem als moralisches Vorbild dar. Die theoretische Auseinandersetzung mit Klassenkampf und Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterschaft wird als moralisches Anliegen interpretiert, womit der Text gezielt die Erwartung stützt, dass sozialpolitisches Engagement Weltanschauung und Lebenshaltung, vgl. Staatsbürgerkunde 2 (1968): S. 116 f.; S. 131–135. In den 1980er Jahren verschwindet der Glücksbegriff gänzlich aus der Argumentation. 348 Staatsbürgerkunde 10 (1970): S. 157. 349 Derartige Fragebögen waren im 19. Jahrhundert ein weit verbreitetes „Gesellschaftsspiel“. Die in diesem Rahmen entstandenen Porträts sind erstmals veröffentlicht worden, vgl. Omura, Izumi/Fomicev, Valerij/Hecker, Rolf/Kubo, Shun-ichi (Hg.) (2005): Familie Marx privat. Die Foto- und Fragebogen-Alben von Marx’ Töchtern Laura und Jenny. Eine kommentierte Faksimile-Edition. Berlin: Akademie Verlag. 350 Vgl. Omura u. a. (2005): Familie Marx privat, S. 118 sowie den entsprechenden QuellenKommentar auf Seite 234. 351 Omura u. a. (2005): Familie Marx privat, S. 235.
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und moralische Integrität des Privatlebens unmittelbar zusammenhängen.352 Aus dem Marx’schen Autoritätstopos wird schließlich ein Vermächtnischarakter abgeleitet, der die DDR-Bürger verpflichtet, ihr Glück und den „Sinn“ des Lebens trotz persönlicher Leiderfahrung wie dem Verlust nahe stehender Menschen – hier erfolgt das einzige Mal im gesamten Lehrbuchkorpus eine Anspielung auf den Tod – in der sozialistischen Gemeinschaft und Tätigkeit zu suchen.353 Lebenssinn wird schließlich zur Systemfrage: Ein auf den 17. Januar 1970 datierter Aufruf der BILD-Zeitung zu der Frage, ob „mit 30 […] alle Wünsche und Träume [sterben]“, soll die „Untergangsstimmung“ in der westdeutschen Bevölkerung, deren Macht- und Hilflosigkeit angesichts des Gefühls von „Alleinsein“, der „Furcht“ und „Existenzunsicherheit“ be- Staatsbürgerkunde 10 (1970): S. 159. legen und den Vorzug des sozialistischen Systems plausibilisieren. Die im Schulbuchtext thematisierte Frage nach dem Sinn des Lebens wird abschließend in einer auf vier Gesichtspunkte verdichteten Sinnprogrammatik formuliert: „Sinnvoll zu leben bedeutet daher vor allem, für die Arbeiterklasse und ihre revolutionäre Partei, die Hauptkraft im Kampf für Frieden und Sozialismus, einzutreten. Sinnvoll zu leben bedeutet, an der Seite der Sowjetunion und der sozialistischen Staatengemeinschaft die geschichtliche Aufgabe erfüllen zu helfen, den Frieden zu sichern und den Sozialismus zum Siege zu führen. Sinnvoll zu leben bedeutet, durch seine gute sozialistische Arbeit, durch gute Leistungen die gerechte und humanistische sozialistische Gesellschaft vollenden zu helfen und sie gegen alle Anschläge des Imperialismus zu schützen und zu verteidigen. 352 Dies ist freilich nur die eine Seite eines Marxbildes, zu dem in der Forschung ein auch politisch motiviertes Kontrastprogramm aufgebaut wurde, das die Amoralität des Charakters herauszustellen suchte, indem auf das weitgehend von Friedrich Engels finanzierte großbürgerliche Leben der Familie sowie das aus der Liaison mit der Haushälterin hervorgegangene uneheliche Kind verwiesen wird, für das Engels im Nachhinein die offizielle Vaterschaft übernahm. In beiden Argumentationen wird Forschung für eine moralische Beurteilung dienstbar gemacht. 353 Vgl. Staatsbürgerkunde 10 (1970): S. 158.
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Sinnvoll zu leben bedeutet, sein ganzes Leben richtig zu führen, stets verantwortungsbewußt und gewissenhaft zu handeln, sich für die Interessen der Gemeinschaft einzusetzen und die Würde der anderen Menschen zu achten.“354
Durch Wiederholung an jedem Satzanfang wird die Dringlichkeit der Aussage, dass ein sinnvolles Leben durch die Teilhabe an der Gemeinschaft generiert und sich auch nur daran messen lässt, gezielt gesteigert und durch ein unmittelbar anschließendes Zitat aus dem Roman Wie der Stahl gehärtet wurde des sowjetischen Schriftstellers Nikolai A. Ostrowski reformuliert: „Pawel Kortschagin in Nikolai Ostrowskis Roman »Wie der Stahl gehärtet wurde« ‚Das Wertvollste, was der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird ihm nur einmal gegeben, und er muß es so nützen, daß ihn später sinnlos vertane Jahre nicht qualvoll gereuen, die Schande einer unwürdigen, nichtigen Vergangenheit ihn nicht bedrückt und daß er sterbend sagen kann: Mein ganzes Leben, meine ganze Kraft habe ich dem Herrlichsten auf der Welt – dem Kampf für die Befreiung der Menschheit – geweiht.‘“355
Die Selbstverpflichtung der Figur auf den Aufbau des Sozialismus und damit auf die Befreiung der Menschheit bildet den Schlusspunkt des Lehrbuchtextes356, womit die Frage nach dem Lebenssinn endgültig der Literatur überantwortet wird, die damit die zeitweise der Wissenschaft zugewiesene Aussageautorität über grundlegende philosophische Lebensfragen zurück erhält. Das Zitat knüpft unmittelbar an das Schülerwissen an. Der Roman zählte zum obligatorischen Literaturkanon der DDR und damit zur Pflichtlektüre jedes Schülers. In Wie der Stahl gehärtet wurde357 erzählt der sowjetische Revolutionär und Schriftsteller Nikolai Alexejewitsch Ostrowski (1904–1936) die Geschichte des Arbeiterjungen Pawel Kortschagin, der sich in der Zeit der russischen Oktoberrevolution von 1917 politisiert, freiwillig der Roten Armee anschließt und dort zuerst im ersten Weltkrieg gegen die Deutschen, danach im russischen Bürgerkrieg auf der Seite der Bolschewiki gegen die „Konterrevolutionäre“ kämpft. Nach dem
354 Staatsbürgerkunde 10 (1970): S. 159 f. 355 Zit. n. Staatsbürgerkunde 10 (1970): S. 160. Im Roman: Ostrowski, Nikolaj (1973): Wie der Stahl gehärtet wurde. Philipp Reclam jun.: Leipzig, S. 313. 356 Der Text bleibt auch in den folgenden Lehrbuchausgaben und ihren Auflagen erhalten, wird durch eine Verpflichtungsrhetorik aber noch stärker normativ eingebunden, vgl. auch Staatsbürgerkunde 10 (1977): S. 177. 357 Der Titel des Romanwerks bildet einen Ausspruch, der dem Freund und Vorbild Pawels, dem Matrosen Fjodor Shuchrai, in den Mund gelegt wird. Als dieser die harte körperliche Arbeit junger Männer beim Graben einer Trasse zum Verlegen von Gleisen beobachtet, äußert er begeistert: „[D]as sind Prachtkerle. Ja, so wird der Stahl gehärtet.“ Ostrowski (1973): Wie der Stahl gehärtet wurde, S. 289.
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Sieg der Bolschewisten tritt er der KPdSU bei und wirkt im Komsomol, der kommunistischen Jugendorganisation, vor allem in der politischen Erziehung der Jugend. Als Spätfolgen diverser Verwundungen erblindet und gelähmt ans Bett gefesselt, führt Pawel seine politische Arbeit nunmehr literarisch fort. Am Ende des Romans erhält er eine positive Rückmeldung auf sein nach Leningrad gesendetes Manuskript. ‚Religion‘ wird in dem Roman nach dem bekannten Schema der Abgrenzung von idealistischem und reaktionärem Gedankengut verhandelt und gleich zu Beginn des Romans mit ‚Naturwissenschaft‘ konfrontiert: Der für die alte Ordnung stehende Pope Wassili vertritt ein wortwörtliches Bibelverständnis und bestraft Pawel, der in einer Biologiestunde von der Entwicklungsgeschichte der Erde und der Evolution des Menschen gehört und seinen Lehrer unbefangen mit den neu gewonnenen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen konfrontiert hatte. Schließlich verweist er den Jungen wegen eines Streiches endgültig von der Schule, was den erzählerischen Ausgangspunkt des sozialistischen Bildungsromans liefert. Wassili taucht später als Konterrevolutionär am Rand der Handlung noch einmal auf, steht freilich auf der Seite der Verlierer und repräsentiert damit die zu überwindende alte Ordnung. Ostrowski schrieb seinen weitgehend autobiografischen Roman in den Jahren 1930 bis 1933 und verarbeitete darin seinen eigenen Werdegang und die tragische Krankengeschichte, die 1936 schließlich zum Tod des erst 32-jährigen Autors führte. 1937 erstmalig ins Deutsche übersetzt, erschien der Text 1947 als einer der ersten Romane in der damaligen Sowjetisch besetzen Zone im Leipziger Verlag Neues Leben und war bis zum Ende der DDR eines der wenigen, jederzeit lieferbaren Bücher. Von der Figur Pawel Kortschagin und seiner Geschichte versprach man sich erzieherische Wirkung auf die Jugend. Kortschagin, der sich vom Raufbold zum strebsamen, ernsthaften und asketischen Parteifunktionär wandelt, und – ganz anders als die Figur des Werner Holt – keinerlei erotische Abenteuer erlebt, sondern sich für eine freundschaftliche Parteiehe aufspart, verkörperte das Idealbild der sozialistischen Persönlichkeit. Dessen im Staatsbürgerkundebuch zitiertes Lebensmotto, sich dem Kampf für die Befreiung der Menschheit zu verschreiben, sollte maßgebend für die Erziehung von Generationen werden. Der sowohl mit der Person Ostrowskis verbundene als auch im Romantext ausgeprägte moralische Impetus fügt sich in die didaktische Moralstruktur ein. Ob die Verinnerlichung des idealisierten Helden als Vorbild gelang, mag dahingestellt bleiben. Im Gegensatz zur Lebendigkeit der Figur Werner Holt und deren Zweifel und Verzweiflung auf dem Weg zur sozialistischen Gesinnung gerät Kortschagin zunehmend schablonenhaft. Dessen einwandfreie moralische Qualitäten lassen den Charakter eigentümlich holzschnittartig erscheinen und machen die Lektüre des insgesamt 500-seitigen Werks mühsam. Zwar ist allgemein bekannt, dass die Erzählung in der DDR auf unterschiedlichen Kanälen Verbreitung fand, zur Rezeption Ostrowskis existiert allerdings so gut wie keine © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540497 — ISBN E-Book: 9783647540498
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Sekundärliteratur.358 Die ästhetische Bindekraft des Romans war wohl nicht zuletzt eine Generationenfrage. Später weicht die literarische Begründung des Lebenssinns einer Handlungsprogrammatik, die den richtigen vom falschen Lebensentwurf beurteilend unterscheidet. ‚Sinn‘ wird dabei ebenso als ein auf ein kollektives gesellschaftliches Ziel gerichtetes Gemeinschaftshandeln entworfen, wobei nicht der Handlungsaspekt, sondern das Ziel als sinngebendes Element im Vordergrund steht.359 Dieses wird wechselweise als Teilnahme an der Verwirklichung gesellschaftlicher Ziele, „Streben nach hohen und edlen Idealen“ oder Orientierung „an den Interessen und Zielen der Arbeiterklasse“ formuliert, der daraus abgeleitete Wert des Menschen als sozialistische Persönlichkeit funktional definiert. Er gründet sich darauf, „was er [der Mensch] entsprechend seinen Fähigkeiten für die Gemeinschaft leistet.“360 Potenzieller Merkmalsträger der sozialistischen Persönlichkeit und damit der Sinnkonstruktion ist der DDR-Staatsbürger selbst: „Wir finden die Merkmale der sozialistischen Persönlichkeiten im Handeln der Arbeiter. […] Wir finden sie im selbstlosen Einsatz der Parteiarbeiter. […] Wir finden diese Merkmale im Wirken der Frauen […].“
Die Wiederholung auf semantischer Ebene wird hier um die syntaktische Wiederholung durch Verwendung der Anapher ergänzt. Sie ist ein didaktisches Stilmittel, das gleichermaßen Überzeugungsbildung und Lehrbuchinhalte des gesamten Textkorpus entscheidend prägt. Auch die Bestimmung der sozialistischen Persönlichkeit greift auf eine Wiederholung zurück, insofern sie über den Selbstverweis konstruiert wird: „Sozialistische Persönlichkeiten […] zeichnen sich dadurch aus, daß sie sich in Wort und Tat für den Sozialismus einsetzen.“361 Das letzte Wort hat schließlich die Partei, wenn abschließend aus dem Bericht des ZK an den X. Parteitag der SED und nicht mehr aus dem Roman Ostrowskis zitiert wird. Der dort zum wiederholten Mal formulierte Appell an die Jugend, sich für den Sozialismus einzusetzen, mündet in der Verpflichtung auf die Partei und ihr Programm.362 Was sich bereits vielfach andeutete, wird damit zur Gewissheit: „Sinn“ als Metapher für den Aufbau des Sozialismus wird zur Systemfrage, der Sinnbegriff somit funktional definiert. 358 Eine Ausnahme bildet die 1973 in der DDR entstandene Dissertation A Die Rezeption der russischen Sowjetliteratur in der Deutschen Demokratischen Republik im Zeitraum 1949 bis 1955 des Slawisten Hans Auerswald, die unter anderem Ostrowski behandelt. In der Magisterarbeit der Kassler Erziehungswissenschaftlerin Isabel Carqueville von 2008 zum Thema Kindheits konstruktionen in Kinderbüchern der DDR spielt der Roman am Rande eine Rolle. 359 Vgl. Staatsbürgerkunde 10 (1982): S. 162. 360 Vgl. Staatsbürgerkunde 10 (1982): S. 162. 361 Staatsbürgerkunde 10 (1982): S. 163. 362 „Bewährt euch bei der Lösung der Aufgaben des Programms der SED als leidenschaftliche und lebensfrohe Kämpfer für unsere Ideale!“ Staatsbürgerkunde 10 (1982): S. 163.
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6.4.4 Ausblick: Veränderungen im Vermittlungsstil Ein Ausblick auf die Entwicklung des Weltanschauungskapitels zeigt, dass die Schulbücher zwischen 1972 und 1982 trotz inhaltlicher und stilistisch-didaktischer Veränderungen als Einheit gesehen werden können. Die Textlastigkeit der Lehrbücher der Klasse 10 wird erst mit der letzten Schulbuchausgabe von 1984 aufgebrochen.363 Dort wird auch das Weltanschauungskapitel noch einmal grundlegend umkonzipiert.364 Formal ändert sich vor allem die Belegstruktur der Inhalte: Das Element der sozialistischen Zeugenschaft in Form von Figurenreden wird im Langzeitvergleich immer mehr reduziert und durch einen Autoritätstopos, der sich durch Klassiker-Zitate sowie Auszüge aus politischen Reden und Schriften auszeichnet, ersetzt.365 Auch literarische Texte werden nur noch spärlich verwendet: Einzig der Bericht des Abraumkippers Manfred K. von Helmut Preißler bleibt über den Zeitraum von 1970 bis 1982 erhalten, während andere Zitate, wie der am Ende des Lehrbuchtextes stehende Auszug aus dem populären Roman Wie der Stahl gehärtet wurde, durch nüchterne Parteidokumente ersetzt werden.366 Einzig neu hinzu kommt ein Ausschnitt aus dem sowjetischen Theaterstück Protokoll einer Sitzung, das jedoch rasch wieder entfernt wird. Gleichzeitig wird der Topos der Wissenschaftlichkeit verstärkt: Anstatt der Figurenreden und literarischen Einschübe kommen Belege in Form von grafisch aufbereiteten Statistiken sowie empirischem Material in Form von Befragungen zum Einsatz. Dennoch wird die Literarisierungsstruktur nicht komplett durch Verwissenschaftlichung oder Verobjektivierung der Aussagen ersetzt. Die grundlegende Zweiteilung der Kapitelinhalte in „sozialistische Weltanschauung“ einerseits und „sozialistische Moral“ andererseits und damit auch die Differenzierung in terminologisch-theoretische sowie praktisch-ethische 363 Zwar werden die Schulbuchtexte grundlegend inhaltlich gestrafft. Da insgesamt aber wenig Grafiken und Abbildungen verwendet werden, und auch optisch hervorgehobene Einfügungen zwischenzeitlich deutlich abnehmen, erscheinen die Lehrbücher oftmals als „Textwüsten“. 364 Die Systematik in sozialistische Weltanschauung einerseits und sozialistische Moral andererseits wird endgültig aufgegeben, womit auch der Moralbegriff aus der Argumentation verschwindet, auch ist dort nicht mehr die Rede vom „Sinn“ oder „Glück“ des Sozialismus, vgl. auch weiter unten. 365 Besonders deutlich im Vergleich zwischen den Staatsbürgerkunde 2 von 1968 und Staatsbürgerkunde 10 von 1970, wenngleich das Lehrbuch von 1970 – obwohl weit weniger Zitate als noch in den Vorausgaben verwendet werden – insgesamt deutlich stärker von Figurenreden und sozialistischen Zeugenschaften geprägt ist, als die späteren Ausgaben von 1972, 1975 und 1977, wo literarisierte Überzeugungselemente so gut wie gar nicht mehr vorkommen. 366 In der Ausgabe von 1982 verschwindet das Zitat und wird durch einen knappen Auszug aus dem Bericht des ZK an den X. Parteitag der SED ersetzt, der vom 11.–16. April 1981 in Berlin stattfand, vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Hans Müller: Staatsbürgerkunde 10. Berlin: Volk und Wissen 1982, 1. Auflage, S. 163.
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Aspekte bleibt vorerst erhalten. Die Definition von Weltanschauung über das evolutionistische Wissenschaftsmoment, die Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung, bleibt ebenso ein fester Bestandteil des Weltanschauungsbegriffs wie der Klassencharakter die Grundlage der spezifischen Moral. Die geringen inhaltlichen Abweichungen spiegeln die über die Jahre unverändert bleibende Rezeptionskultur der marxismustheoretischen Grundlagen – des dialektischen und historischen Materialismus der politischen Ökonomie sowie des wissenschaftlichen Kommunismus – wider. Durch die Verwendung von Fachbegriffen, wie sie eigentlich erst im philosophisch anspruchsvollen Staatsbürgerkundelehrbuch für Klassen 11/12 üblich ist, wird der Lehrtext zusätzlich theoretisch fundiert.367 Die Inhalte der sozialistischen Moral werden hingegen in den Folgeausgaben gekürzt oder integrierend zusammengefasst.368 Bis zur letztmalig grundlegend überarbeiteten Lehrbuchausgabe von 1984 endet das Weltanschauungskapitel mit dem gut zweiseitigen Abschnitt zum Thema Vom Sinn des Lebens.369 Das damit verbundene Thema „Glück“ ist in den Ausgaben aber viel weniger präsent.370 Mit der vorübergehenden Tilgung der Abgrenzungsrhetorik zur Bundesrepublik, die zuvor noch einen guten Teil des Abschnittes ausgemacht hatte, verschwindet auch der 1970 noch prominent thematisierte westdeutsche BILD-Artikel. Neben den inhaltlichen und formalen Veränderungen ändert sich über die Jahre auch der Vermittlungsstil der Lehrbücher: Durch den Einsatz von Literatur entstehen mitunter ungewollte Deutungsräume, die der Vereindeutigungs-
367 Vgl. zum Beispiel die Ausgabe von 1977, in der vertiefend „antagonistische“ und „nichtantagonistische“ Klassengegensätzen als zwei Arten der gesellschaftlichen Widersprüche voneinander unterschieden werden und damit tiefer als zuvor üblich auch in die marxistische Terminologie eingeführt wird. Die qualitative Unterscheidung der Widersprüche ermöglicht es überdies, gesellschaftliche Probleme anzusprechen ohne das gesamte System infrage zu stellen, was diese Differenzierung vor allem politisch relevant gemacht haben dürfte. Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Hans Müller: Staatsbürgerkunde 10. Berlin: Volk und Wissen 1977, 1. Auflage, S. 159. 368 In der Ausgabe von 1972 werden proletarischer Internationalismus und Patriotismus sowie Persönlichkeit und Kollektiv als Themen zusammengefasst, womit nur noch zwei Konkretionen der sozialistischen Moral erfolgen. Die „sozialistische Lebensweise“ wird hingegen nicht mehr separat behandelt, auch fehlen ab 1972 die Ausführungen zum sozialistischen Freiheitsbegriff sowie der Abschnitt zum sozialistischen Arbeiten und Lernen. Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Hans Müller: Staatsbürgerkunde 10. Berlin: Volk und Wissen 1972, 1. Auflage, S. 168–174. 369 Dieser Teil bleibt, von geringfügigen Kürzungen oder veränderter Platzierung einiger Passagen abgesehen, in den Ausgaben von 1972, 1975 und 1977 nahezu identisch; lediglich die Darstellung in der Ausgabe von 1982 weicht etwas ab. 370 Dies fällt besonders im Vergleich zur Ausgabe von 1970 auf. Fortan wird der Begriff Glück nicht nur aus Kapitelüberschriften entfernt, sondern auch im Lehrbuchhaupttext gemieden und – sofern überhaupt – nur in deutlich entpersonalisierter Form verwendet.
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funktion zuwiderlaufen. Im Sprachduktus verändern sich die Ebenen der Kommunikation; anstelle der Figurenreden wird der Lehrbuchhaupttext immer mehr zum perspektivierenden und fokalisierenden Agens. Inhaltlich ist es vor allem die Wiederholung, die zum leitenden Prinzip der Argumentation wird. Mitte der 1980er Jahre hat sich die Grammatik der „Überzeugungsbildung“ noch einmal deutlich verändert.
a) Ungewollte Deutungsräume? – Das subversive Potenzial der Literatur Die Staatsbürgerkundebücher zeichnen sich durch die Wiederholung bestimmter Inhalte auf jeweils höherem kognitiven Niveau sowie einer Überregulierung des Adressaten aus. Dessen Rezeptionsverhalten wird durch Unbestimmtheits- und Leerstellen bzw. fingierte Leerstellen zwar anzuregen, zumeist aber unverzüglich auch zu regulieren versucht. Selten lassen die intertextuellen Bezüge durch Figurenreden, literarische Einschübe oder Zitate Interpretationsräume entstehen, die offen bleiben für allzu weite oder gar persönliche Deutungen. Die Ausnahme bildet ein Auszug aus einem Theaterstück, das als neues Element in die Vermittlungsstruktur der sozialistischen Moral integriert wird. Es handelt sich dabei um einen Text des 1933 in Moldawien geborenen Schriftstellers Alexander Gelman, der in der UdSSR zum populären Dramatiker und Drehbuchautor avancierte und auch in der DDR bekannt war. Dessen Stück Protokoll einer Sitzung, 1976 am Halle’schen Theater erstaufgeführt, später unter anderem am Maxim Gorki Theater in Berlin gespielt, und außerdem als Hörspiel inszeniert und im DDRRundfunk gesendet, wird in der Schulbuchausgabe von 1977 auszugsweise abgedruckt. Der Auszug steht im Kontext der Auseinandersetzung mit der sozialistischen Arbeit und soll beispielhaft für neue Moralvorstellungen, Werte und Verhaltensweisen des Arbeiters stehen. Einführend heißt es: „In dem bei uns aufgeführten sowjetischen Theaterstück ‚Protokoll einer Sitzung‘ verweigert eine Brigade die Annahme einer Prämie. Das ist natürlich nicht alltäglich und ruft eine heftige Auseinandersetzung in anderen Kollektiven, besonders aber mit der übergeordneten Leitung, hervor. Dabei geht es gar nicht so sehr um die Prämie, sondern um Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit, Verantwortungsbewußtsein und sozialistische Beziehungen im Kollektiv und zu den Leitern. Wie soll man sich entscheiden? Für den gesellschaftlichen Nutzen, auch wenn das in diesem Fall mit einer finanziellen Einbuße verbunden ist, darüber hinaus zu einer Auseinandersetzung führt, Beharrlichkeit und Standvermögen fordert? Oder für den leichteren Weg, die Augen vor den Mängeln zu verschließen, den Kampf um ihre Beseitigung lieber anderen zu überlassen?“371
371 Staatsbürgerkunde 10 (1977): S. 161.
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Das Theaterstück handelt von einer Parteileitungssitzung, in der über zwei Akte hinweg die Entscheidung einer Brigade, ihre leistungsbezogene Prämie zurückzuweisen, diskutiert wird. Der im Lehrbuch abgedruckte Textauszug setzt mit der Erklärung des Brigadiers Potapow ein, in der dieser die Gründe für die Zurückweisung der Prämie durch seine Arbeitsgruppe erläutert: Das Geld sei für die Erfüllung eines von vornherein nach unten korrigierten Plans ausbezahlt worden, um diverse Missstände an der Baustelle zu vertuschen und die Arbeit erfolgreich aussehen zu lassen. Die den nach Leistung bezahlten Arbeitern zugewiesene Prämie in der Höhe von 50 Rubel decke jedoch nicht deren durch Wartestunden bedingten Verdienstausfall. Die von der Parteileitung vorgeschlagenen Lösungs versuche werden sämtlich von Potapow abgelehnt. Seine Kritik richtet sich gegen das parteikonforme Verhalten der Kollegen, die undurchführbare Pläne wider besseres Wissen zu erfüllen versprechen, sowie an die Partei selbst, die diese Pläne aufstellt. Der Auszug endet mit der Selbstkritik eines Mitglieds der Parteileitung sowie der Aufforderung zur Abstimmung über den von Potapow vorgelegten Vorschlag, das Prämiengeld zurückzuzahlen.372 Der Textausschnitt zeichnet auf der einen Seite das idealisierte Bild des vollständig vergemeinschafteten Arbeiters, der eher auf seine Prämie verzichtet, als dem Kollektiv finanziellen Schaden zuzufügen. Interpretiert als bloße Idealisierung, wäre das Verhalten der Figur für Schüler vermutlich weder besonders attraktiv noch glaubwürdig. Im Text wurde diese Glaubwürdigkeitslücke denn auch aufgenommen, insofern gerade die sozialistische Integrität der Arbeiterfigur zur heftigen Kritik an der Politik der Parteibonzen führt, die in den Dialogen des gesamten Theaterstücks immer wieder geäußert wird und an zwei Stellen sogar im Betrugsvorwurf gipfelt373, was der Textauszug im Lehrbuch freilich ebenso auslässt, wie die nur knapp für Potapows Vorschlag ausfallende Entscheidungsfindung. Dennoch ist es bemerkenswert, dass für das Lehrbuch der Text eines für seine kritischen Stücke bekannten Autors ausgewählt wurde, in dem denn auch nicht mit Kritik an der planwirtschaftlichen Arbeitsorganisation, deren Prämienwesen sowie der Mangelwirtschaft gespart wird. Möglicherweise wurde der Auszug deshalb nach nur zwei Auflagen wieder aus dem Lehrbuch entfernt.374 In der Lehrbuchrezeption wird das Stück insgesamt auf seine vordergründige Aussage reduziert, der kritische Aspekt bleibt gänzlich unkommentiert. Die Umdeutung der im Textauszug deutlich formulierten Systemkritik dürfte dem Schüler nicht entgangen sein. 372 Vgl. Staatsbürgerkunde 10 (1977): S. 161 bis 163. 373 Vgl. Gelman, Alexander (1975): Protokoll einer Sitzung. Stück in zwei Akten mit Prolog. Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt. Berlin: Henschelverlag, S. 54 sowie 80. 374 Obwohl die Ausgabe von 1982 das Textverständnis durch Leseanweisungen im Vorfeld und Kommentare im Nachhinein noch stärker zu normieren suchte, wurde der Text in der gänzlich veränderten Schulbuchausgabe von 1984 nicht mehr verwendet.
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Wie im Unterricht damit tatsächlich umgegangen wurde, muss allerdings ebenso offen bleiben wie die Frage, was die Lehrbuchverantwortlichen zur Übernahme des heiklen Stückes bewogen haben mag. In der Unterrichtshilfe wird die entsprechende Schulstunde zwar ausführlich choreografiert, der literarische Text aber nur am Rand erwähnt und lediglich konzeptuell verortet. Er steht im Kontext der Stoffeinheit Die sozialistische Moral – Ausdruck der Klasseninteressen der Arbeiterklasse, die den „Zusammenhang von Weltanschauung, Moral, Lebensweise und aktivem Handeln des einzelnen“ zum Thema hat.375 Idealtypisch soll die entsprechende Unterrichtsstunde mit einem als „Zielorientierung durch den Lehrer“ bezeichneten informierenden Unterrichtseinstieg beginnen, der nicht nur wortwörtlich vorformuliert wird, sondern auch Anmerkungen und Kommentare, die sich an den Lehrer richten, enthält: „Bisher haben wir uns vorwiegend mit dem Zusammenhang zwischen der Welt anschauung der Arbeiterklasse und der darauf beruhenden Politik der kommunistischen und Arbeiterparteien beschäftigt. In der letzten Stunde wurde deutlich, daß diese Politik durch unser bewußtes Handeln durchgesetzt wird. Unsere Handlungskonsequenzen ergeben sich also aus Einsichten in bestimmte Notwendigkeiten (Beispiel: fleißige Arbeit, weil es mir und der ganzen Gesellschaft nützt). Sehr oft im Leben stehen wir vor wichtigen Entscheidungen, sei es nun in der Arbeit (Berufsentscheidung!), in politischen Fragen oder bei der Gestaltung des persön lichen Lebens. (Das muß mit konkreten Beispielen aus der betreffenden Klasse verbunden dargestellt werden!) Nicht immer sind diese Entscheidungen einfach. Es ergeben sich Probleme: Entspricht die Entscheidung den gesellschaftlichen Interessen, unseren persönlichen Interessen? Stehen diese Interessen im Widerspruch zueinander oder nicht? Erkennt der einzelne immer, was seinen persönlichen Interessen entspricht? Die sozialistische Moral als Bestandteil unserer Weltanschauung gibt uns dafür Maßstäbe (Thema der UE [Unterrichtseinheit] der Stunde!). Sie orientiert, bewertet und bestimmt unsere Entscheidungen und unser Verhalten von den Positionen der Arbeiterklasse aus.“376
Das Theaterstück bildet eine Variante für ein Belegbeispiel der im Unterrichtseinstieg geforderten „Handlungskonsequenzen“: „Zur Verdeutlichung der Lebensbezogenheit des Anliegens der Unterrichtseinheit kann anstelle des Bezuges auf Lebensentscheidungen der Schüler auch der Auszug aus Alexander Gelmans ‚Protokoll einer Sitzung‘ im Lehrbuch, S. 161 bis 163, herangezogen werden. Es muß aber beachtet werden, daß der Auszug für Schüler, die das Theaterstück nicht kennen, nicht ohne weiteres verständlich ist. Einige Erläuterungen des Lehrers über die Zusammenhänge sind notwendig.“377 375 Autorenkollektiv unter der Leitung diverser Autoren: Staatsbürgerkunde 10. Unterrichts hilfen. Berlin: Volk und Wissen 1979, 1. Auflage, S. 222. Der Auszug wird in der sechsten Unterrichtsstunde der vierten Stoffeinheit thematisiert. 376 Unterrichtshilfe 10 (1979): S. 222 f. 377 Unterrichtshilfe 10 (1979): S. 232.
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Die mit dem literarischen Text verbundene Problematik wird lediglich angedeutet. Zu den von Seiten des Lehrers gegebenenfalls zu liefernden Erklärungen finden sich keine Vorgaben, was angesichts der ansonsten überregulierenden Unterrichtshilfen erstaunlich ist. Außerdem dürfte es für den Schüler schwierig gewesen sein, sich außerhalb einer Theateraufführung über den Inhalt zu informieren; der Text wurde in der DDR ausschließlich als unverkäufliches Manuskript zu Aufführungszwecken und auch dann nur kontrolliert entliehen.378 Da der Schulunterricht in der DDR insgesamt stark lehrbuchbasiert verlief, ist die Verwendung des Theaterstückes jedoch sehr wahrscheinlich. Von den sich trotz möglicher Intervention durch den Lehrkörper eröffnenden Deutungspotenzialen bleibt letztlich unklar, ob sie intendiert waren oder als Folge einer Unbedachtheit seitens der Lehrbuchverantwortlichen anzusehen sind. Die späteren Unterrichtshilfen schweigen zum Verbleib des literarischen Ausschnittes, eine Angabe von Gründen für dessen Streichung findet sich nicht.
b) Kommunikationsversuche mit dem Leser379 Im Vergleich zu den vorigen Lehrbüchern verändert sich in der Lehrbuchausgabe von 1982 vor allem die Rhetorik der „Überzeugungsbildung“. Stilistisch neu ist, dass der Text stärker bei den vermeintlichen Einstellungen der Adressaten ansetzt, wenn er fiktive, quasi introspektiv erlangte ‚Meinungen‘ einer projizierten Schülerfigur aufgreift, und auf dieser Grundlage Seins- und Sollensprinzipien formuliert. Der außerdem häufig verwendete pluralis auctoris konstruiert die Suche nach dem Lebenssinn als kollektives Anliegen, das durch rhetorische Fragen als Ergebnis einer diskursiven Gemeinschaft inszeniert wird, obwohl über falsche Lebenseinstellung und falschen Lebenssinn kein Zweifel besteht. Der integrierende Sprachduktus des Lehrbuchhaupttextes ersetzt nahezu vollständig die in Figurenreden gekleideten Fokalisierungen des Sozialismus. Die wenigen Literarisierungsstrukturen380 bleiben inhaltlich unverändert, allerdings ist die Leserlenkung stärker ausgeprägt. So heißt es einleitend zum Theaterstück Protokoll einer Sitzung: „Wie die Arbeiterklasse sich solche moralische Anschauungen zu eigen macht, wie sie diese auf ihre Weise versteht, mit Inhalt erfüllt und stets auch weiterentwickelt, 378 Dies geht aus dem Impressum des Manuskriptes hervor. 379 Hier ist der abstrakte Leser, ein Attribut des abstrakten Autors, und damit der vom Autor unterstellte bzw. gewünschte Adressat eines Textes gemeint, keinesfalls der Rezipient als faktischer Empfänger, vgl. dazu auch die in Kapitel 3 erläuterten Leser- und Adressaten konzepte. 380 Verwendet werden der Ausschnitt des Gelman’schen Theaterstücks Protokoll einer Sitzung sowie Preißlers Bericht der Abraumkippers Manfred K., beide im Abschnitt zur sozialistischen Moral, vgl. Staatsbürgerkunde 10 (1982): S. 151–153 sowie S. 159.
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zeigt das bei uns aufgeführte sowjetische Theaterstück ‚Protokoll einer Sitzung‘. Darin verweigert eine Brigarde die Annahme einer Prämie. Das ist natürlich nicht alltäglich und ruft eine heftige Auseinandersetzung in anderen Kollektiven, besonders aber mit der übergeordneten Leitung, hervor. Geht es dabei allein um die Prämie oder nicht genauso um Ehrlichkeit und Gewissenhaftigkeit, Verantwortungsbewußtsein und sozialistische Beziehungen im Kollektiv und zu den Leitern? Beachten Sie im folgenden besonders die moralischen Konflikte und Entscheidungsfragen sowie die Möglichkeiten ihrer Lösung!“381
Auch hier wird das Stück als Demonstration der sozialistischen Moral eingeführt, das Verhalten der Brigade aber immerhin als Interpretation und Weiterentwicklung dieser Moral verstanden. Die rhetorische Frage weist den Leser zusätzlich in eine bestimmte Interpretationsrichtung. Das Stück wird außerdem in den Hauptlehrtext einzubinden versucht, was zuvor nicht der Fall war, und der Leser auf dessen Erziehungsfunktion, die Darstellung der „neuen, sozialistischen Anschauungen und Verhaltensweisen“, hin orientiert. Auch für die die Moral konkretisierenden Abschnitte zum proletarischen Internationalismus bzw. sozialistischen Patriotismus sowie zur Verhältnisbestimmung von Persönlichkeit und Kollektiv spielt die Verpflichtungsrhetorik eine Rolle. Die Verhaltens- und Einstellungsnormierung erfolgt psychologisierend durch suggestiv-introspektiv gestaltete, wahrnehmungsbezogene Formulierungen. Die Überzeugungsarbeit wird wesentlich der Argumentation des Haupttextes überlassen, auf die sozialistische Zeugenschaft in Form von Erfahrungsberichten, wie sie in der Ausgabe von 1975 und 1977 noch vereinzelt vorkamen, wird nun gänzlich verzichtet. Anstatt dessen appelliert der Lehrtext an das vermeintliche Erleben und die Wahrnehmung des intendierten Lesers: „Jeder macht die Erfahrung […] was es für ihn bedeutet, fest mit dem Kollektiv verbunden zu sein. […] Aufgaben zu erhalten, an denen man sich vor den anderen beweisen kann, das spornt an und stärkt das Selbstbewußtsein. Wenn man gemeinsam um Lösung schwieriger Probleme ringt, […] wenn man aber auch ganz individuelle Probleme ‚los wird‘ und das echte Interesse der anderen und ihre Hilfe erfährt, dann spürt man, wie wertvoll kameradschaftliche Beziehungen im Kollektiv sind.“382
Wesentlich für die Einstellungsnormierung ist die bereits in der Schulbuchausgabe von 1972 nachdrücklich eingeforderte Übereinstimmung von öffentlicher und privater Moral, wenngleich die der Forderung unterlegte, vermeintliche Doppelmoral dort ausschließlich auf die „bürgerliche Gesellschaft“ projiziert wurde.383 Dies ist in der Ausgabe von 1982 anders, wenngleich sich die Beispiele
381 Staatsbürgerkunde 10 (1982): S. 151. 382 Staatsbürgerkunde 10 (1982): S. 157. 383 1972: S. 173; 1975: S. 186; 1977: S. 174; 1982: S. 158.
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für diese doppelte Moral wohlweislich ausschließlich auf das Privatleben, keineswegs auf die ungleich heiklere Domäne des Politischen beziehen.384 Im Kapitelabschnitt Vom Sinn des Lebens wird ‚Sinn‘ schließlich über einen fiktiven Standpunkt, von dem sich der Haupttext in Sprache und Stil abgrenzt, entworfen, die Notwendigkeit der Sinnfrage über eine Abgrenzung formuliert und mit rhetorischen Fragen gelenkt: „Man kann natürlich gedankenlos vor sich hinleben, ohne sich den Kopf zu zerbrechen über eine so komplizierte Frage wie nach dem Sinn des eigenen Lebens. Aber sie drängt sich dennoch auf, man kann ihr nicht ständig ausweichen. Mag es eine Entscheidung sein, die man treffen muß, z. B. für den Beruf, oder eine Enttäuschung, die uns bedrückt, vielleicht aber auch eine Diskussion mit Freunden, in der ein eigener Standpunkt verlangt wird – das Nachdenken über sich selbst und sein eigenes Dasein läßt sich nicht umgehen. Da tauchen dann Fragen auf: Wozu lebe ich eigentlich? Was erstrebe ich in meinem Leben? Wofür lerne und arbeite ich? Plötzlich erscheint alles das, was bisher so selbstverständlich schien, in einem ganz anderen Licht, wird zum Problem, das man selbst lösen muß. Was bedeuten mir das Lernen, der erwählte Beruf, die Arbeit? Suche ich darin eine nützliche Tätigkeit, die mir Spaß macht und die die Gesellschaft braucht und achtet? Oder ist es nur ein Job, woran mich lediglich das Geld interessiert und den ich beliebig wechsele, wenn mir ein noch besser bezahlter in Aussicht steht? Was ist in meinem Leben das Wichtigste, welche Rangfolge setze ich mir selbst, wie ordne ich das alles ein, was ich erstrebe: Materieller Wohlstand, Geld, Freundschaft, Liebe, Wissen, Anerkennung, Freizeit, Arbeit?“385
Persönliche Fürwörter bzw. das unpersönliche Indefinitpronomen „man“, die in Verbindung mit Aktiv- und Passivkonstruktionen gebraucht werden, kennzeichnen Bestätigung und Ablehnung. Die aus der Darlegung generierte Aufforderung, Sinngebung und Sinnerfüllung selbstständig zu „erringen“, wird schließlich in eine Moralprogrammatik überführt, die sehr genau vorgibt, worin der Sinn des Lebens zu bestehen habe. Die durch pluralis auctoris und direkte Leseransprachen sowie Abgrenzungsoder Bestätigungsbeispiele veränderte grammatische Struktur der „Überzeugungsbildung“ ersetzt die figuralen Perspektivierungen des Sozialismus und kann als Kommunikationsversuch des Lehrbuchhaupttextes mit dem Leser verstanden werden.
384 „Manch einer beweist in seinem Arbeitskollektiv eine gute Einstellung zur Arbeit und zu den Interessen des Kollektivs. Aber im persönlichen Leben, zum Beispiel in der Familie, verhält er sich weniger vorbildlich, läßt er sich nur bedienen, hilft nicht bei der Hausarbeit, unterstützt den Ehepartner nicht bei der Qualifizierung usw. Hier lebt er also auf Kosten anderer.“ Staatsbürgerkunde 10 (1982). S. 158. 385 Staatsbürgerkunde 10 (1982): S. 161 f.
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c) Wiederholung als Prinzip Ein letztes Mal grundlegend überarbeitet wird das Lehrbuch Staatsbürgerkunde 10 mit der Entwicklung des neuen Lehrplans von 1983, der für die zehnten Klassen ab 1. September 1984 in Kraft trat und bis zum Ende der DDR in dieser Form erhalten blieb.386 Die für die entsprechende Stoffeinheit vorgesehenen sechs Unterrichtsstunden (vormals waren es neun) untergliedern den Lernstoff in drei thematische Einheiten, deren Überschriften im Lehrbuch nahezu vollständig übernommen werden.387 Die ursprüngliche Zweiteilung des Kapitels in Weltanschauung einerseits und Moral andererseits bleibt nicht erhalten, vielmehr verschwindet der Moralbegriff aus der neuen Kapitelüberschrift Der Marxismus- Leninismus – die Weltanschauung, nach der wir leben und handeln. Der Bezug zum Handlungsaspekt stellt die Verhaltensnormierung des Schülers noch deutlicher als zuvor in den Vordergrund; argumentativ wird dies in drei Kapitelteilen umgesetzt.388 Im Verhältnis zu früheren Schulbuchausgaben lassen sich einige Neuerungen feststellen: Rein formal sticht die didaktische Überarbeitung und Präsentation des Lernstoffs positiv ins Auge.389 Inhaltlich auffällig ist der Versuch, die ostdeut 386 Der letzte veröffentlichte Lehrplan von 1988 ist mit der Ausgabe von 1983 identisch. Dieser definiert als oberstes Ziel und Aufgabe des Staatsbürgerkundeunterrichts, den Schülern den Marxismus-Leninismus in Verbindung mit der Politik der Partei zu vermitteln und sie in „Denken, Fühlen und Handeln“ zu sozialistischen Staatsbürgern zu erziehen. Die Weltanschauung soll zu einer „wissenschaftlich-fundierten, unverrückbaren Klassenposition“ beitragen und den Schüler dazu führen, seine „ganze Kraft für die begeisternden Aufgaben bei der Weiterführung der sozialistischen Revolution“ einzusetzen. Auf der Wissensebene wird der Anspruch formuliert, den Sozialismus als das „gesetzmäßige Resultat der bisherigen Menschheitsentwicklung“ sowie als „einzige Alternative zum menschenfeindlichen System des Imperialismus“ anzuerkennen. Vgl. Lehrplan Staatsbürgerkunde. Klassen 7 bis 10, hg. vom Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Abteilung Ministerium für Volksbildung. Volk und Wissen: Berlin 1983, S. 5. 387 Die Überschriften lauten: Der Marxismus-Leninismus – die wissenschaftlichen Weltanschauung der revolutionären Arbeiterklasse, Grundlegende Erkenntnisse des Marxismus-Leninis mus – Politik der Partei – revolutionäres Handeln, Die Aneignung des Marxismus-Leninismus als Kampfaufgabe junger Revolutionäre, vgl. Lehrplan Staatsbürgerkunde. Klassen 7 bis 10 (1983): S. 77 f. 388 Der erste Teil erläutert ausführlich die theoretischen Aspekte der Weltanschauung, bevor im zweiten Abschnitt Parteipolitik und revolutionäres Handeln als die praktische Umsetzung der aus dieser Weltanschauung gefolgerten „Erkenntnisse“ dargestellt werden. Den Abschluss bildet eine Verpflichtung auf den Sozialismus, in der Weltanschauung und Sinn des Lebens zusammenfließen; mit der militärischen Metaphorik wird das dem Kapitel als Leitgedanke vorangestellte Zitat Erich Honeckers „Erobert euch die Erkenntnisse des Marxismus-Leninismus und nutzt sie als Kompaß für euer Leben! Macht euch den Lebenssinn der Kommunisten zu eigen, alles für das Wohl des Volkes zu tun“ wieder aufgegriffen. 389 Viele Bilder sowie optische Hervorhebungen von Merksätzen, vor allem aber die didaktische Randspalte lockern den Lehrbuchhaupttext auf und gliedern den Stoff übersichtlich.
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sche jugendliche Identität der 1980er Jahre über das Moment des Revolutionären, und damit über die historische Tradition der bolschewistischen Revolution, zu konstruieren. Der Erfolg muss allerdings bezweifelt werden. Fühlte sich laut Umfragen ein Großteil der Jugendlichen 1975 noch persönlich an die Sowjetunion gebunden, nahm deren Zahl innerhalb von zehn Jahren kontinuierlich – ein kurzzeitiges Hoch erfolgte nach dem Amtsantritt Michail Gorbatschows im Frühjahr 1985 – ab. Gorbatschow war bei der DDR-Jugend sehr beliebt, und die Lehrbuchverantwortlichen reagierten darauf, indem sie in späteren Auflagen der Staatsbürgerkunde mehrere Zitate von diesem anführten. Der sich der DDR gegenüber abzeichnende Einstellungswandel war jedoch nicht mehr aufzuhalten, zumal die SED-Führung die Politik von Glasnost und Perestroika ablehnte.390 Mit dem brüchig gewordenen Narrativ vom „Bruderland“ nahm ein zentrales Motiv der Selbstkonstruktion des sozialistischen Staates Schaden. Die Vermutung liegt nahe, dass sich die mit dem wirtschaftlichen Verfall einhergehende weltanschauliche Erosion des Systems auch auf der Ebene des Lehrbuchs nachweisen lässt. Im Weltanschauungskapitel stechen denn auch die Stilmittel Polemik und Wiederholung hervor, die mit der deutlichen Zunahme aktuell politischer Entwicklungen und einer ausgeprägten Feindbildkonstruktion einhergehen. Die Polemik war durchaus gewollt und kein Zufallsprodukt eines zu rasch konzipierten und umgesetzten Lehrbuchs. Als didaktisches Mittel war sie bereits Mitte der 1970er Jahre vom führenden DDR-Methodiker Wolfgang Feige in der Zeitschrift Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde beworben worden391 und ging später in das Pädagogische Wörterbuch, das dem Philosophischen Wörterbuch in seiner Verbindlichkeit in nichts nachstand, ein.392 Im Lehrbuchtext findet die Polemik ihren Ort in der Abgrenzung zu den USA als dominierendem Feinbild, das sich in den US-Präsidenten Jimmy Carter und Ronald Reagan sowie Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski als Hauptakteure personalisiert. Wesentlich für die Verstärkung des Abgrenzungsmotivs ist ein atomares Bedrohungsszenario, das sich im militärischen Sprachduktus des Inhaltsverzeichnisses abzeichnet, besonders aber das erste Kapitel prägt und am Ende des Lehrbuchs noch einmal aufgegriffen wird. Die Inhalte des Weltanschauungskapitels werden ebenfalls über das Moment der Gegnerschaft aufgebaut. Die eigentliche Argumentation des Lehrbuchs geht nahezu vollständig in der Wiederholung zentraler Aussagen auf, was dem Text insgesamt eine stark reaktive Konnotation verleiht. Diese war methodisch vorgezeichnet, insofern 390 Zu den Zahlen vgl. Bunke, Florian (2005): „Wir lernen und lehren im Geiste Lenins…“ Ziele, Methoden und Wirksamkeit der politisch-ideologischen Erziehung in den Schulen der DDR. Oldenburg: BIS, S. 129. 391 Feige, Wolfgang (1974): Zur Polemik als Methode des Lernen. In: Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde 16, Heft 9. Berlin: Volk und Wissen, S. 1088–1092. 392 Vgl. Art. Polemik. In: Pädagogisches Wörterbuch, hg. von Hans-Joachim Laabs u. a. Berlin: Volk und Wissen 1987, 1. Auflage, S. 301.
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davon ausgegangen wurde, dass die wirksame Vermittlung marxistisch-leninistischen Grundwissens nur auf der Grundlage ständiger Auseinandersetzung mit „feindlichen bzw. falschen Auffassungen“ erfolgen könne.393 Der polemische Stil zählte seit Mitte der 1970er Jahre auch offiziell zum festen Bestandteil der Staatsbürgerkundemethodik, wurde aber erst ab den 1980er Jahren zum leitenden Prinzip der Lehrbücher. Damit basiert die Sinnkonstruktion der sozialistischen Weltanschauung sowie ihre Verfestigung und Bestätigung maßgeblich auf der Variation ein und derselben Aussage. Die Wiederholung wird zum Stilmittel, das gleichermaßen die Erscheinungsform und die Inhalte der Lehrbücher entscheidend prägt. Die „Überzeugungsbildung“ erfolgt damit nicht mehr argumentativ, sondern repetitiv.
d) Polemischer Geist, die Normierung des Lebenssinns und die Rolle der Literatur Die parallel mit dem überarbeiteten Lehrplan und dem neuen Lehrbuch eingeführte Unterrichtshilfe von 1984 verfügt über zwei konzeptuelle Neuerungen: Das Erziehungsziel ist langfristiger formuliert, die Stoffeinheiten sind hingegen nicht mehr so detailliert wie zuvor dargestellt, womit der Lehrkraft insgesamt mehr Gestaltungsfreiheit ermöglicht werden soll. An der normierenden Funktion der Erziehungsarbeit ändert dies freilich nichts.394 Für das Weltanschauungskapitel erhält die Arbeit mit dem Lehrbuch eine herausragende Bedeutung, da dieses laut Unterrichtshilfe von der „Art und Weise der Darstellung anderer Lehrbuchkapitel abweicht.“ Vorgeschlagen werden die als besonders wirksam angesehene Problemdiskussion sowie das Element der Polemik, die als führende Unterrichtsmethode galt, besonders aber in der fünften Stoffeinheit zur Weltanschauung Anwendung finden sollte.395 Polemik und Problemdiskussion hängen konzeptuell eng zusammen: Bereits in den späten 1960er Jahren war die Problemdiskussion im Unterricht als Aneignungsmethode des Marxismus-Leninismus entwickelt worden. Die „Problemstellungen“ waren als Diskussionen gedacht, in denen der Schüler seinen „Klassenstandpunkt“ in Abgrenzung zum „Klassengegner“ argumentativ verteidigen 393 Vgl. Feige (1974): Zur Polemik als Methode, S. 1092. 394 Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Siegfried Piontkowski: Staatsbürgerkunde 10. Unterrichtshilfen. Berlin: Volk und Wissen 1984, 1. Auflage. Das Programm der SED ist der Mittelpunkt des Quellenstudiums und wird als Grundlage des „revolutionären Handelns“ geltend gemacht. Die Gestaltung soll „in besonderer Weise dem Anspruch des Unterrichts in der Abschlußklasse“ gerecht werden und den Schüler für die „ideologische“ Auseinandersetzung mit dem Klassengegner vorbereiten, vgl. ebd., S. 10–14. 395 In der Grundlegung der Unterrichtshilfe hieß es: „Der polemische Geist muß den gesamten Stil des Unterrichtens prägen.“ Vgl. Unterrichtshilfen 10 (1984): S. 15. Zur Weltanschauung vgl. ebd., S. 162.
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lernen sollte, wenngleich das Ergebnis der vom Lehrer geleiteten Diskussion von vornherein feststand. Dass sich daran die didaktische Debatte über die wirksame Gestaltung der „Überzeugungsbildung“ entzündete, hing mit einer unterschiedlichen Einschätzung zusammen, was die tatsächlichen Überzeugungen der Schülerschaft betraf. Über diese gerieten die Hauptakteure Ekkehard Sauermann und Gerhart Neuner, beide führende Methodiker auf dem Gebiet der Staatsbürgerkunde, heftig aneinander. Während Neuner auf eine eher abstrakte Vermittlung des Marxismus-Leninismus und Überzeugung durch Wissensaneignung fokussierte, entwarf Sauermann ein emotional-agitatorisches Konzept, in dem der Schüler seinen Standpunkt über ein vom Lehrer gestelltes Problem entwickeln sollte. Sauermann, anders als Neuner im Schuldienst erfahren, war sich darüber bewusst, dass die Überzeugung der Schüler bei weitem nicht so ausgeprägt war, wie die politische Führung es gern gehabt hätte. Dennoch wurde die Streitfrage durch Margot Honecker zu Gunsten Neuners entschieden, das spätere Lehrplanwerk von 1973 noch stärker auf „ideologische“ Absicherung angelegt.396 Was indes blieb, war das Konzept der emotionalen Gestaltung des Staatsbürgerkundeunterrichts durch Polemik als leitendem Unterrichtsprinzip, das sich in den Lehrbuchausgaben der 1980er Jahre so weit verdichtete, dass deren Inhalte nahezu aus Polemik bestanden. Der erzieherische Beitrag des Weltanschauungskapitels liegt laut Unterrichtshilfe darin, dass der Schüler sich „den Lebenssinn eines Kommunisten zu eigen [macht]“, was strukturell durch die Bestimmung des Marxismus-Leninismus (Was?) sowie dessen Funktion (Wozu?) umgesetzt wird. Auf diese Weise sollen die Lebensentscheidungen der Schüler im Sinn der sozialistischen Weltanschauung normiert und in der Auseinandersetzung mit dem „Klassengegner“ das eigene „Bekenntnis zum Sozialismus“ formuliert und gefestigt werden.397 Die „erkenntnislogische Verschmelzung von Wissen und Haltung“398 ist den drei Kapitelteilen als argumentativer Dreischritt von Definition, Legitimation als kollektiver Handlungsgrundlage sowie individuelle Bedeutung unterlegt, der die Schüler zum eigenverantwortlichen Denken anzuleiten behauptet, was im Hinblick auf den Lehrbuchtext unplausibel wirkt. Die Polemik wird während des gesamten Kapitels immer wieder eingesetzt, besonders dann, wenn die Grundlagen des Marxismus-Leninismus abgrenzend dargestellt (Parteilichkeit des Marxismus-Leninismus als Ausdruck für dessen Wissenschaftlichkeit) oder anhand von Kritik und Vorwürfen von außen (vor allem in Bezug auf die Parteiherrschaft der SED) entwickelt werden.
396 Zu den Hintergründen der Debatte vgl. sehr differenziert und aufschlussreich: Grammes u. a. (2006): Staatsbürgerkunde Dokumentenband, S. 252–270. 397 Vgl. Unterrichtshilfen 10 (1984): S. 159. 398 Vgl. Grammes u. a. (2006): Staatsbürgerkunde Dokumentenband, S. 268.
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Aus den Hinweisen und Materialien zur Unterrichtsgestaltung geht hervor, dass die Herausforderung für den Staatsbürgerkundelehrer eher darin gelegen zu haben scheint, den Schülern die geforderten Ergebnisse als deren eigene zu präsentieren. Die dort angeführten Lehrerfragen, Vorträge und Gruppenarbeiten werden bis ins Detail ausformuliert, so dass wenig Platz für eine freie Unterrichtsgestaltung geblieben sein dürfte. Auch die Ergebnisse unterlagen feststehenden Normen.399 Aus den weiteren Ausführungen geht zudem der apodiktische Unterrichtscharakter hervor, was in besonderem Maß für den Entwurf der Unterrichtsstunde, die die persönliche Bedeutung des Marxismus-Leninismus für jeden Schüler herauszuarbeiten beansprucht, zutrifft. In diese Stunde fällt auch der einzige literarische Verweis des Schulbuchtextes, der in der Unterrichtshilfe allerdings nicht thematisiert wird. Methodisch hat in dieser Stunde die oben erwähnte Problemdiskussion ihren Ort, für deren Anwendung die Unterrichtshilfe verschiedene Möglichkeiten skizziert.400 Relevant für die Frage nach der emotionalen Gestaltung des Staatsbürgerkundeunterrichts ist der Vorschlag zum Stundenverlauf, in dem literarische Bezüge hergestellt werden sollen. Er fokussiert auf das Moment der Erfahrungs- und Erlebnishaftigkeit der Überzeugungsbildung und schlägt zwei literarische Vorlagen vor: Erscheinen Pflicht von Gerhard Holtz-Baumert sowie Zwei leere Stühle von Erik Neutsch, der schon früher mit dem Roman Spur der Steine bekannt und populär geworden war.401 Aus der kurzen Vorstellung der Textausschnitte sowie der methodischen Anleitung geht hervor, dass die auszuwählenden Passagen als Entscheidungssituationen geltend gemacht und dem Schüler für dessen eigene Positionierung zum Sozialismus als beispielhaft präsentiert werden sollen. Für den Text Erscheinen Pflicht gibt die Unterrichtshilfe zwei Szenen an, in denen die Staatsloyalität der Hauptfigur Christina thematisiert wird: Nach einer verpflichtenden FDJ-Veranstaltung nimmt sie die Fahne mit nach Hause, die ihr zuvor von einem Mitschüler überantwortet wurde. Dazu heißt es lediglich: „Ohne daß zunächst die Entscheidung Christinas dargelegt wird, sollten sich die Schüler
399 Beispielsweise schlägt die Unterrichthilfe zur Erarbeitung von „Wissen über die Rolle der ideologischen Tätigkeit der marxistisch-leninistischen Partei“ sowie das Parteiprogramm die Bildung zweier Schülergruppen vor, die in „SST“, d. h. „angeleiteter, relativ selbständiger Schülertätigkeit“, zu begründen haben, dass die ideologische Tätigkeit den Kern der Parteiarbeit ausmacht, ferner, worin die Bedeutung des Parteiprogramms liegt. Eine Ergebnissicherung formuliert die in den anschließenden Schülervorträgen zu erwartenden Inhalte aus. Vgl. Unterrichtshilfen 10 (1984): S. 169. 400 Vorgeschlagen werden ein Tafeltext, mit dem sich der Schüler anhand zusätzlicher Fragen auseinandersetzen soll, die Lektüre des entsprechenden Lehrbuchabschnittes oder die Arbeit mit literarischen Verweistexten. Vgl. Unterrichtshilfen 10 (1984): S. 171 f. 401 Holtz-Baumert, Gerhard (1981): Erscheinen Pflicht. Sechs Erzählungen. Berlin. Verlag Neues Leben; Neutsch, Erik (1979): Zwei leere Stühle. Novelle. Halle-Leipzig: Mitteldeutscher Verlag (Lizenzausgabe für den Damnitz Verlag München).
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dazu äußern, was sie an ihrer Stelle getan hätten.“402 Größeres Gewicht wird der Szene beigemessen, in der das Mädchen sich und die Fahne gegen einen betrunkenen Arbeiter verteidigt, der sie in der S-Bahn behelligt: „Auch hier kann der Lehrer so vorgehen, daß er die Episode bis zum Höhepunkt vorträgt und die Schüler auffordert, ihre Entscheidung in der Situation zu fällen. Möglich ist jedoch auch, die gesamte Episode vorzutragen, das Verhalten Christinas zur Diskussion zu stellen und die Diskussion eventuell auf prinzipielle Fragen des Bekenntnisses zur sozialistischen Gesellschaft und zu ihren Symbolen auszuweiten.“403
Es ist interessant, dass sich in der Unterrichtshilfe kein Hinweis auf die Thematisierung der Arbeiterfigur findet, deren Darstellung als verwahrloster Raufbold und Trinkkumpan so gar nicht das Arbeiterheldenbild repräsentierte und daher unerhört scheinen musste. Überdies ist es ausgerechnet der Arbeiter, der unmissverständlich auf Partei und Arbeiter-und-Bauern-Staat schimpft. Die Auswahl des Textes ist auch deshalb erstaunlich, weil der gleichnamige, 1984 uraufgeführte und ausgesprochen populäre Film den Honeckers schwer missfiel, daraufhin verboten und erst nach dem Ende der DDR wieder gezeigt werden konnte. Zu heikel schien der gesellschafts- und staatskritische Aspekt, der in den Äußerungen verschiedener Figuren zum Ausdruck kam, und den in den Augen der Verantwortlichen offenbar auch die letztlich loyale Haltung der Heldin nicht zu neutralisieren vermochte.404 Die Novelle Zwei leere Stühle ist in gewisser Hinsicht nicht minder delikat und für den vorliegenden Zusammenhang auch deshalb interessant, weil dort unter anderem der Staatsbürgerkundeunterricht literarisch thematisiert wird. Die zwei Stühle stehen als Symbol für zwei Schüler, die dem Treffen des zehnjährigen Jubiläums einer Abiturklasse aus unterschiedlichen Gründen fernbleiben. Aus der Sicht der Erzählinstanz Helmut Hausknecht, Schuldirektor und Lehrer für Staatsbürgerkunde und Geschichte, erfährt der Leser vom Werdegang der beiden Schülerfiguren Uwe Tolls und Wolfgang Lichtenfeld. Der stets politisch integre Lichtenfeld besteht sein Abitur – nicht zuletzt wegen zuvorkommender Benotun 402 Unterrichtshilfen 10 (1984): S. 173. Im Originaltext werden die Beweggründe dieser Entscheidung nur angedeutet. Lakonisch heißt es: „Los, die Fahne hingestellt und ab. Daß sie es nicht tat, lag nicht am Gedanken, man könnte später nachforschen, wer zuletzt die Fahne getragen hatte.“ Holtz-Baumert (1981): Erscheinen Pflicht, S. 190 sowie S. 193 f. 403 Unterrichtshilfen 10 (1984): S. 173. 404 Zwischen Film und Erzählung bestehen allerdings Unterschiede: Im Film wird von der 16-jährigen Oberschülerin Elisabeth Haug berichtet, deren behütetes und privilegiertes Leben als Tochter eines Parteifunktionärs mit dem plötzlichen Tod des Vaters ein jähes Ende findet. Über die Reflexion ihres Vaterbildes beginnt auch die kritische Auseinandersetzung mit der DDR, wenngleich diese stets im Rahmen der staatspolitischen Korrektheit verbleibt. Diese Elemente kommen im Originaltext nicht vor.
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gen – mit Auszeichnung, studiert Medizin und begeht schließlich Republikflucht. Der nachdenklich-kritische Tolls hingegen schlägt eine militärische Laufbahn ein und kommt bei einer Übung ums Leben. Es stellt sich heraus, dass gerade der in Schülertagen Aufsässige der politisch Zuverlässigere von beiden war, was die Erzählinstanz zum grundlegenden Zweifel an sich selbst und dem Schulsystem veranlasst. Für die Anwendung des Textes schlägt die Unterrichtshilfe zwei Episoden vor: In der einen verweigert Uwe Tolls aus Verantwortungsbewusstsein während einer Übung einen militärischen Befehl und nimmt dafür seine Degradierung in Kauf.405 Die Episode kann laut Unterrichtshilfe so vorgetragen werden, dass die Entscheidung der Figur zunächst offen bleibt, um die Schüler zu einer eigenen Position zu leiten. Das Unterrichtsgespräch dient der Diskussion und Beurteilung Tolls’ Verhalten, wobei besonderen Wert auf die Übertragung der Konfliktsituation – Befehl versus selbstständiges Handeln – auf nicht-militärische Entscheidungsfindungsprozesse gelegt und als Ausgangpunkt für die „Diskussion von Maßstäben der Verantwortlichkeit gegenüber der Gesellschaft, des klassenmäßigen Verhaltens als wesentliches Entscheidungskriterium“ definiert wird.406 Der zweite Vorschlag bezieht sich auf ein Gespräch, das die beiden zufällig zusammentreffenden, ehemaligen Schüler führen, und das laut Unterrichtshilfe eine stärkere Lenkung durch den Lehrkörper erfordert: „Das Gespräch während dieses Treffens, die hier geäußerten unterschiedlichen Standpunkte sind im wesentlichen Produkt entgegengesetzter Grundhaltungen, die sich bei jedem Gesprächspartner im praktischen Leben herausgebildet haben. Die Frage nach der Einheit von Wort und Tat bzw. wie sich jemand verhält, der so argumentiert wie Wolfgang Lichtenfeld oder Uwe Tolls, steht also im Zentrum der Auswertung und macht die Information über bestimmte Stationen des Lebensweges beider Figuren erforderlich.“407
Freilich hat der Schüler für die Position Tolls’ Partei zu ergreifen und nach entsprechenden Argumenten gegen die von Lichtenfeld in der Episode vorgebrachte Kritik zu suchen. Der Ausschnitt soll die Einheit von marxistisch-leninistischer Grundposition und persönlichem Verhalten und Handeln problematisieren. Die Episode ist deshalb heikel, weil der Schüler in den Äußerungen Lichtenfelds mit einer umfassenden Systemkritik konfrontiert wird, in der Begriffe wie Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Mitbestimmung fallen, die es deshalb auch
405 Die Episode wird als Rekonstruktion vorgetragen: Nach dem Klassentreffen begibt sich die Erzählinstanz auf Spurensuche und ergründet in einem Gespräch mit den ehemaligen Vorgesetzen von Uwe Tolls die Gründe für dessen Befehlsverweigerung. Zu diesem Zeitpunkt ist die Figur längst tot. Zum Wesentlichen des Gesprächs vgl. Neutsch (1979): Zwei leere Stühle, S. 81–89. 406 Vgl. Unterrichtshilfen 10 (1984): S. 173. 407 Unterrichtshilfen 10 (1984): S. 173.
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„richtig zu stellen“ gelte.408 Auch wenn das Kritikpotenzial des Textes in der Literaturwissenschaft insgesamt als weniger stark eingeschätzt worden ist409, bleibt die Frage bestehen, weshalb als literarisches Material zur Überzeugungsbildung zwei insgesamt nicht unproblematische Referenztexte vorgeschlagen werden. Die Antwort muss spekulativ bleiben, auch wenn einige Indizien dafür sprechen, dass es sich dabei weniger um eine bewusste Lockerung handelt. Bei der Bildungsministerin Margot Honecker lässt sich in den 1980er Jahren jedenfalls kein gravierender Einstellungswandel bezüglich der „ideologischen“ Fundierung der Staatsbürgerkundebücher feststellen. Mit Rudolf Parr saß an entsprechender Stelle der dem Ministerium für Volksbildung direkt unterstellten Akademie der Pädagogischen Wissenschaften, die unter anderem mit der Lehrmittelentwicklung betraut war, außerdem ein „engstirniger Dogmatiker“, bei dem die Fäden nahezu vollständig zusammenliefen. Parr war nicht nur für die Druckgenehmigung der entsprechenden Schulbücher, Lehrpläne und Unterrichtshilfen zuständig, ab 1982 saß er auch dem Verlag Volk und Wissen vor und kontrollierte damit Inhalt und auch Produktion eines Großteils des unterrichtsrelevanten Schrifttums.410 Gegen eine Lockerung der ideologischen Vorgaben spräche auch die rasche Entfernung des in der Schulbuchausgabe von 1977 eingeführten Textauszuges des Theaterstücks Protokoll einer Sitzung. Der Umgang mit Neutschs Novelle innerhalb der akademischen Didaktikdebatte lässt erkennen, dass der Text trotz ministerieller Kritik als beispielhaft für das im Staatsbürgerkundeunterricht zu vermittelnde Handeln der sozialistischen Persönlichkeit zu vereinnahmen versucht wurde.411 Vor dem Hintergrund der didaktischen Normierung von Weltanschauung und Lebenssinn erscheint der zu Anfang in der Unterrichtshilfe geforderte „eigene Standpunkt“ des Schülers ebenso als Farce wie die betonte „Lebendig 408 Vgl. Unterrichtshilfen 10 (1984): S. 173. Für das Gespräch vgl. Neutsch (1979): S. 103–109. 409 Vgl. Kiefer, Sascha (2010): Die deutsche Novelle im 20. Jahrhundert. Eine Gattungsgeschichte. Köln u. a.: Böhlau; zu Neutsch S. 486–492. Zwar erboste die Schulkritik seinerzeit Margot Honecker, der Roman müsse dennoch als Teil eines „systemaffirmierenden Diskurs[es]“ verstanden werden, insofern die Erzählinstanz aus dem Schicksal der Schülerfiguren ihre Selbstkritik ableitet, daraus einen Veränderungsimpuls formuliert und damit der sozialistischen Gesellschaft verpflichtet bleibt, vgl. ebd., S. 489 f. 410 Vgl. Malycha, Andreas (2008): Die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR. 1970 bis 1990. Leipzig: Akademische Verlagsanstalt, S. 171–174. 411 Erika Kolakowsky, seinerzeit Leiterin der monatlich erscheinenden Zeitschrift Deutschunterricht, betont die Bedeutung der literarischen Thematisierung von Staatsbürgerkundeunterricht und Staatsbürgerkundelehrer. Ihr abschließendes Urteil über die Novelle lautet: „Sowohl Anna Seghers als auch Erik Neutsch zeigen in den Entscheidungen ihrer Helden, daß ein parteilicher Klassenstandpunkt unverzichtbarer Bestandteil sozialistischer Persönlichkeiten ist.“ Der problematische Aspekt der Heldin bleibt somit ausgeblendet. Vgl. dies. (1981): Für eine klare und entschiedene Weltanschauung – ohne die geht es nicht! Literarische Texte auch für den Staatsbürgerkundeunterricht. In: GuS 23. Jg., Heft 1, S. 72–79, hier: 78.
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keit“ des Marxismus-Leninismus.412 Beide Zielvorgaben werden durch den Lehrbuchtext konterkariert.
e) Aberglaube versus Weltanschauung – zur Umsetzung der Polemik im Lehrbuch Zu Beginn des Weltanschauungskapitels steht eine rhetorische Frage, die die Siegesgewissheit der bolschewistischen Revolutionäre auf das Moment der Wissenschaftlichkeit ihrer Weltanschauungsgrundlage zurückführt: „Was gab jenem Vortrupp die gewaltige Kraft […] [w]as verleiht den Kommunisten den Mut, die Stärke und das Selbstbewußtsein […] standhaft und unerschütterlich an ihrer Überzeugung vom Sieg der fortschrittlichen Kräfte festzuhalten?“413
Anders als in vorigen Ausgaben bildet die metaphorisch-emotionale Umschreibung als Kraftspender den Ausgangspunkt der Argumentation, weniger ihre marxismustheoretische Herleitung. Wie in Kapitel 5 dargelegt, werden Wissenschaftsanspruch und -verständnis zudem über die im Begriff „Aberglauben“ kulminierende Abgrenzung zu „idealistischen Vorstellungen“ definiert, die sprachlich durch die Verwendung von grammatischen (Passiv und Aktiv) sowie semantischen (Adjektivbildungen) Gegensatzpaaren gekennzeichnet sind.414 Die ausführliche Beschreibung des Gegensatzpaares über den unvermittelt auftauchenden Aberglaube-Begriff dient der Plausibilisierung der marxistischen Geschichtsphilosophie. Diese wird ebenfalls abgrenzend, allerdings personalisiert über den politischen Akteur Brzezinski, vermittelt. Dessen unbelegt bleibende Äußerung über die Zufälligkeit des Geschichtsverlaufs bildet den Ausgangspunkt für eine ausführliche Polemik gegen die stellvertretend für den Imperialismus stehende USA. Sie gipfelt in ein atomares Bedrohungsszenario: „[S]ie [die bürgerliche Klasse] muß diese [die wissenschaftliche Weltanschauung] mit allen Mitteln, durch Verdrehungen und Entstellungen, Lügen und Verleumdungen, mit Hilfe eines ganzen Arsenals von Argumenten aus ihrer unwissenschaft lichen, idealistischen Weltanschauung bekämpfen. Der USA-Präsident Reagan behauptete, daß der Kommunismus ein Irrtum, gewissermaßen ein Unglücksfall der Weltgeschichte sei. Aber wenn der Kommunismus keine historisch notwendige Lösung […] ist, sondern lediglich eine bloße Verirrung in der Geschichte, dann kann er auch leicht wieder ‚korrigiert‘ werden, zum Beispiel durch einen Kernwaffenkrieg!“415 412 Vgl. Unterrichtshilfen 10 (1984): S. 10 sowie 7. 413 Staatsbürgerkunde (1984): S. 169. 414 Die idealistische Vorstellung wird vermittelt und beinhaltet ein „verzerrtes, falsches, ein unwissenschaftliches Weltbild“, während die sozialistische Weltanschauung auf einer „nüchternen, sachlichen, wissenschaftlich exakten Analyse der Wirklichkeit [beruht]“. Zur argumentativen Bedeutung des Aberglaube-Diskurses vgl. auch Kapitel 5. 415 Staatsbürgerkunde (1984): S. 171.
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Es bleibt nicht das einzige Mal, dass im Lehrbuchkorpus ein derartiges Bedrohungsszenario entworfen und argumentativ genutzt wird.416 Allerdings nehmen Dringlichkeit der Rede und die Qualität als Argumentationsmoment in der vorliegenden Ausgabe deutlich zu, wenn in der programmatischen Standortbestimmung Der Charakter unserer Epoche zu Beginn des Lehrbuchs die Gefahr eines nuklearen Krieges mehrfach projiziert und als Ausdruck einer verschärften Auseinandersetzung der Systeme gewertet wird.417 Der Lehrbuchtext antwortet damit auf die politische Krise, die sich Anfang der 1980er Jahre als Folge der Hochrüstungspolitik beider Supermächte entwickelte. Mitte der 1970er Jahre erhielt der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt geheime Informationen über die Stationierung neuer sowjetischer Atomraketen in den osteuropäischen Wäldern.418 Nachdem die Verhandlungen über die im umstrittenen NATO-Doppelbeschluss formulierte gegenseitige Abrüstungspolitik endgültig gescheitert waren, wurde mit der Stationierung der Raketen in Westdeutschland begonnen, was eine innenpolitische Krise auslöste.419 In der Darstellung des Staatsbürgerkundelehrbuchs wird die Stationierung der Pershing II als Kennzeichen der „imperialistischen Nuklearstrategie“, Ausdruck eines „wahrhaft teuflische[n] Plan[s]“ und als Folge einer „Bedrohungslüge“ bezeichnet.420 Die Zahlen des Zentralinstituts für Jugendforschung (ZIJ) liefern Hinweise dafür, dass dieses Bedrohungsszenario zumindest zeitweise funktionierte und die Konstruktion von der DDR als Friedensstaat stützte. Als eine der wenigen sozialwissenschaftlichen Einrichtungen führte das Institut regelmäßig 416 Bereits in früheren Ausgaben der Staatsbürgerkunde finden sich ähnliche Redeformen, die eng mit dem Friedenstopos der DDR sowie dem sozialistischen Internationalismus als moralischer Pflicht des Staatsbürgers verbunden waren und der grundsätzlichen Legitimation der Weltanschauung dienten. So zum Beispiel in der Ausgabe Staatsbürgerkunde 2 von 1968, in der die DDR in Abgrenzung zum aggressiv-militaristischen „Kriegsstaat“ BRD als Friedensstaat bezeichnet wird. Dort ist das atomare Szenario aber eher eine unkonkret bleibende Bedrohung des kalten Krieges, auf die Kuba-Krise Anfang der 1960er Jahre wird nicht eingegangen. 417 Vgl. S. 5, 8, 10, 15, 27, bes. 28 f. 418 Offiziell sollte die leistungsfähige SS20 mit dreifacher Zerstörungskraft Raketen älteren Typs ersetzen, ihre Ziele waren allerdings auf Deutschland gerichtet. Daraufhin bot die amerikanische der deutschen Regierung die Stationierung der parallel entwickelten US-Mittel streckenrakete Pershing II auf deutschem Boden an, die im Ernstfall in nur wenigen Minuten Moskau hätte erreichen können. 419 Über die Entstehung der Friedensbewegung, die im Verdacht stand, von der Sowjetunion und der DDR gelenkt zu sein, sowie den Streit um den Doppelbeschluss zerbrach die Fraktion. Helmut Schmidt wurde 1982, allerdings aus anderen politischen Gründen, durch ein konstruktives Misstrauensvotum abgewählt und durch Helmut Kohl abgelöst. Wie aus einem am 19. Februar 1981 veröffentlichten Artikel des Stern hervorging, wurde die Friedensbewegung tatsächlich von der DDR unterstützt. Der Artikel nannte die Standorte von Atomwaffen in der Bundesrepublik, die auf Informationen der DDR-Staatssicherheit zurückgingen. Die DDR suchte die Friedensbewegung als Ausdruck des Einverständnis der westdeutschen Jugend mit dem Sozialismus zu vereinnahmen. 420 Vgl. Staatsbürgerkunde (1984): S. 28 f.
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Untersuchungen zur Entwicklung des politischen Bewusstseins der Jugendlichen durch, die zu Zeiten der DDR freilich der staatlichen Zensur unterlagen und zumeist gar nicht erst veröffentlicht wurden. Bei aller Vorsicht, die bei der Verwendung der Umfragen als Quelle des politischen Bewusstseins der DDR-Jugend geboten ist, lassen die Werte erkennen, dass die seit Mitte der 1970er Jahre stetig zurückgehende Identifikation mit dem Staat zwischen 1983 und 1985 wieder anstieg, was die Forschenden als Reaktion auf die Verschärfung des kalten Krieges deuteten. 1983 fühlten sich angeblich 91 % der Jugendlichen durch die westliche Militärpolitik bedroht, 26 % von ihnen sogar sehr.421 Allerdings nahm das Zugehörigkeitsgefühl der Jugend zu ihrem Staat ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre immer mehr ab.422 Die politische Krise sowie die Angst vor einem Atomkrieg spiegeln sich deutlich in der Präsentation der sozialistischen Weltanschauung und deren Sinnkonstruktion. Das Staatsbürgerkundebuch ist insgesamt durch einen stärker militärischen Sprachduktus geprägt, als dies zuvor der Fall war. Dieser spiegelt sich deutlich im letzten Abschnitt, in dem das Thema „Sinn des Lebens“ durch die Aufforderung zum Studium des Marxismus-Leninismus als „Kampfaufgabe junger Revolutionäre“ ersetzt wurde, womit auch der letzte Rest vermeintlich individuell bezogener Lebensgestaltungsfragen verschwindet. In der gesamten Konzeption der letzten Staatsbürgerkundeausgabe nimmt die Projektion des Gegners nach außen, die zwischenzeitlich durch die Politik der friedlichen Koexistenz zumindest etwas in den Hintergrund getreten war, wieder deutlich zu. Die gleichzeitige Intensivierung des Drucks nach innen – die mit dem Machtwechsel zu Honecker verbundene Hoffnung auf Liberalisierung zerschlug sich bereits Mitte der 1970er Jahre, was eine Verschärfung der staatlichen Repressionspolitik zur Folge hatte – äußert sich auf der Textebene in Parteiapologetik, endloser Wiederholung sowie Polemik als Stilmittel, womit die Argumentation insgesamt deutlich reaktiv ist. Zwar sind für die Bestimmung der Weltanschauung nach wie vor die drei Bestandteile des Marxismus-Leninismus, vor allem der Gesetzmäßigkeitstopos, ausschlaggebend. Diese werden argumentativ allerdings nicht mehr anhand der philosophischen Grundlage, sondern indirekt, über vermeintliche Kritikpunkte von außen, plausibilisiert und im zweiten Kapitelabschnitt als „Erkenntnisse“ präsentiert. Auch diesem Abschnitt ist mit dem projizierten Vorwurf der Parteiherrschaft eine Außenperspektive unterlegt.423 Der Vorwurf soll durch eine Vermischung von kognitiven und emotionalen Textanteilen entkräftet werden: Wesentlich für die Legitimation des parteilichen Handelns ist der Wissen 421 Vgl. eine entsprechende Tabelle in: Bunke, Florian (2005): „Wir lernen und lehren im Geiste Lenins…“ Ziele, Methoden und Wirksamkeit der politisch-ideologischen Erziehung in den Schulen der DDR. Oldenburg: BIS, S. 135. 422 Vgl. Bunke (2005): „Wir lernen und lehren im Geiste Lenins…“, S. 79. 423 Vgl. Staatsbürgerkunde (1984): S. 176, 177, 178, 181.
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schaftstopos, der dem Willkürlichkeitsvorwurf entgegen gehalten und im Verweis auf das Vertrauensverhältnis zwischen Partei und Volk Ergänzung findet. Moralisiert wird die Weltanschauung schließlich im letzten Teil, der mit vier optisch hervorgehobenen Fragen beginnt: „Warum ist es für Sie wichtig, sich eine eigene, marxistisch-leninistische weltanschauliche Position zu erarbeiten? Kann man auch ohne wissenschaftliche Weltanschauung richtig handeln? Kann uns die marxistisch-leninistische Weltanschauung eigene Entscheidungen ersparen? Welche Ziele sind Ihnen im Leben die wichtigsten, welchen Inhalt, welchen Sinn wollen Sie ihrem [sic!] eigenen Leben geben?“424
Ein imaginierter Standpunkt leitet die Regulierung der Antworten auf diese Fragen ein: „Man könnte sagen, einverstanden, Politik und Weltanschauung sind eng miteinander verbunden, das leuchtet ein. Aber was hat das mit mir selbst zu tun, was geht das mich ganz persönlich an? ‚Weltanschauung‘ ist mir außerdem zu hoch, schließlich kann ich doch auch ohne sie auskommen, meine Arbeit gut machen, ein anständiger Mensch sein! Die Hauptsache ist doch nicht die Weltanschauung, die jemand hat, sondern sein Charakter! Versuchen Sie darauf eine Antwort zu finden!“425
Das unpersönliche „man“, Konjunktiv und rhetorische Frage sowie der Verweis auf intellektuelle Überforderung lassen keinen Zweifel über die Abgrenzungsfunktion dieser quasi-introspektiv gewonnenen, fiktiven Position aufkommen, die durch „Anhaltspunkte“ denn auch vorgegeben wird. Die Frage nach der persönlichen Bedeutung des Marxismus-Leninismus für das individuelle Leben erweist sich letztlich als irrelevant: An den als „Verwirklichung“ der Weltanschauung bezeichneten gesellschaftlichen Verhältnisse haben zwangsläufig alle in der DDR lebenden Menschen teil, am Ausschließlichkeitsanspruch des MarxismusLeninismus als einzig richtiger geistiger Orientierung, die „allein geeignet ist, sich in den Kämpfen der Zeit klar zu orientieren“ wird kein Zweifel gelassen.426 Dementsprechend wird die Sinnfrage in diese Normierungsstruktur integriert: Der „Sinn des Lebens“ besteht darin, den „Klassenstandpunkt der Arbeiterklasse einzunehmen“, sich von „moralischen Werten der Arbeiterklasse leiten zu lassen, vor allem gewissenhaft, verantwortungsbewusst und gemeinschaftlich zu arbeiten, das Neue und Bessere kämpferisch mit durchsetzen zu helfen“, ferner die als Regeln des alltäglichen menschlichen Zusammenlebens bezeichneten Tugenden „Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit und Ehrlichkeit“ sowie „Achtung der Würde anderer Menschen, Zuverlässigkeit und Opferbereitschaft“ einzuhalten.427 424 Vgl. Staatsbürgerkunde (1984): S. 182. 425 Staatsbürgerkunde (1984): S. 183. 426 Vgl. Staatsbürgerkunde (1984): S. 185. 427 Vgl. Staatsbürgerkunde (1984): S. 185 f.
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Worauf sich die Opferbereitschaft bezieht, bleibt an dieser Stelle ungesagt. Mögliche Schwierigkeiten bei der Erfüllung dieses Anforderungskatalogs werden lediglich angedeutet. Die in der Randspalte formulierten Fragen lassen zwar erkennen, dass sich die Lehrbuchverantwortlichen durchaus bewusst waren, dass dies Idealbild bei weitem nicht von jedem Staatsbürger erfüllt wurde. Der Hauptlehrtext geht jedoch rasch darüber hinweg und beantwortet die Frage nach dem Werden des sozialistischen Menschen schließlich mit einem Selbstverweis, wenn die sozialistische Weltanschauung mit den Worten des Schriftstellers und Literaturwissenschaftlers Reinhard Weisbach als „unerhörte Möglichkeit“ der Persönlichkeitsentwicklung gepriesen wird: Auch die Wirklichkeit Dereinst wird niemals größer Als sie heut im Möglichen reift Aber diese Möglichkeit Ist nirgends größer Als da, wo sie einer ergreift Darum nimm dir Mut Zur harten, kühnen Frage! Versteck dich nicht hinter der Hand! Und die Frage (kaum zu glauben!) Bringt zu Tage: Benutze den eigenen Verstand Denn wieviel mehr ist möglich Als man für möglich hält! Was gestern noch beweglich Ist heute tot und fällt. Darum nimm Dir Mut Zur harten, kühnen Antwort! Unterschätze nicht deinen Verstand Kämpfe! Sorg dich mit deiner ungeschminkten Antwort Um alles in unserem Land! Ach, ganz sichtbar ist Dabei auch zu verlieren Doch gänzlich unterliegst du nicht: Nicht dein Kommunistenherz ist zu verlieren Und auch nicht dein eignes Gesicht Denn wieviel mehr ist möglich Als man für möglich hält! Was gestern noch beweglich Ist heute tot und fällt.
Dies ist das einzige Mal, dass in dem Kapitel ein literarischer Text Verwendung findet, wenngleich die Unterrichtshilfe als weitere Referenztexte Holtz-Baumerts Erscheinen Pflicht und Neutschs Zwei leere Stühle angab. Literarische Vorlagen werden grundsätzlich als geeignet erachtet, die Frage „Wozu brauche ich die © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540497 — ISBN E-Book: 9783647540498
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marxistisch-leninistische Weltanschauung?“ zu beantworten428, womit Literatur auf einen eher eindimensionalen unspezifisch bleibenden Wirkungsfaktor reduziert wird. Da sich die Unterrichtshilfe über die Funktion des Gedichts ausschweigt, ist dessen Verwendung ebenso unkonkret wie die im Text gepriesene „Möglichkeit“ unausgesprochen bleibt. Diese ist lediglich in einer als „kühn“ bezeichneten Frage repräsentiert, wird jedoch ebenso wenig wie die Antwort formuliert. Die argumentative Einbindung des lyrischen Textes und seine Platzierung lässt allerdings keinen Zweifel über dessen Bezugnahme auf den MarxismusLeninismus als Handlungsanleitung „junger Revolutionäre“ aufkommen, auch wenn der literarische Einschub unkommentiert stehenbleibt. Der Lehrtext hat längst umfassend klargemacht, dass die zu Beginn des Abschnitts präsentierten Fragen, ob auch ohne „wissenschaftliche Weltanschauung“ ein richtiges Handeln möglich, ferner, ob das entscheidende Merkmal eines moralisch integren Menschen unabhängig von dessen Weltanschauung in seinem „Charakter“ zu suchen sei, rhetorischer Natur sind. Daran ändert auch der letzte Absatz nichts, der Eigenverantwortlichkeit bei der Beantwortung der Sinnfrage anmahnt: „Vielleicht wäre es leichter, wenn einem die Antworten auf diese Fragen fertig vorgesetzt würden. Aber von niemand anderem als von uns selbst, weder aus der natürlichen Umwelt noch von einem überirdischen Wesen, können diese Antworten kommen. Der Mensch selbst muß sein ganzes Tun sinnvoll gestalten, seinem Leben einen Sinn geben. […] Sinngebung und Sinnerfüllung des Lebens kann uns also niemand abnehmen, wir müssen sie um den Preis geistiger, moralischer und praktischer Anstrengungen erringen, sie sind notwendige Momente der aktiven und schöpferischen Lebensgestaltung.“429
Außerhalb des Marxismus-Leninismus existiert keine alternative Antwort auf die Frage, ob man ohne Weltanschauung ein guter Mensch sein könne. Vor dem Hintergrund dieser Lehrbuchgestaltung nimmt sich der Anspruch des Lehrplans, durch den Unterricht das Interesse der Schüler „an der weiteren Beschäftigung mit weltanschaulichen und politischen Fragen an[zu]regen“430, fraglich aus, zumal das programmatische Kapitel zur Weltanschauung die im Text mehrfach gestellte Frage ‚Was hat das alles eigentlich mit mir zu tun?‘ nicht zu beantworten vermag. Sie bleibt rhetorisch, die Antwort ist vorgegeben und ist insofern als Versuch anzusehen, parteipolitische Entscheidungen als Lebensgestaltungsfragen zu plausibilisieren, ethisch-moralisch anzumahnen und letztlich zu vereinheitlichen. Es liegt nahe, die Struktur und den Inhalt des Lehrbuchs als Abgesang auf ein System zu verstehen, dessen Machthaber es nicht wahrhaben wollten, dass der 428 Vgl. Unterrichtshilfen 10 (1984): S. 172. 429 Staatsbürgerkunde 10 (1984): S. 189. 430 Vgl. Lehrplan 7–10 (1983): S. 77.
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Zusammenfassende Analyse
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von ihnen hartnäckig beschriebene neue Mensch, die sozialistische Persönlichkeit, sich den Normierungsbestrebungen seines Privatlebens entzog. Der Einstellungswandel der Jugend gegenüber dem Marxismus-Leninismus vollzog sich seit Mitte der 1970er Jahre unaufhaltsam, wobei ein relativ hoher, angesichts zu befürchtender Repressionen allerdings mit Vorsicht zu genießender Wert unter den Studierenden auffällt431, der die Frage aufkommen lassen mag, ob nicht zumindest dem theoretischen Marxismus auch zum Ende der DDR ein gewisser Erfolg beschieden werden konnte. Als persönliche Verhaltensorientierung aber, wie in den Staatsbürgerkundelehrbüchern intendiert, stieß die Weltanschauung auf breite Ablehnung. Mit der Auflösung des Faches Staatsbürgerkunde nach 1989 verschwand der feste methodische und didaktische Rahmen und damit der Garant für die vermeintliche Identifikation mit der sozialistischen Weltanschauung. Die kollektive Erinnerungskultur hatte ihre zentrale Vermittlungsstruktur verloren.
Zusammenfassende Analyse: Die Übernahme literarischer Strukturen in der Moralvermittlung Weltanschauung wird in Klasse 10 dreifach konstruiert: theoretisch über eine durch den Marxismus-Leninismus plausibilisierte „Wissenschaftlichkeit“, praktisch über die handlungsanleitenden Inhalte der sozialistischen Moral sowie ethisch aus den daraus folgenden Normen für den sozialistischen Menschen. Sozialistische Weltanschauung und Moral hängen in der Argumentation unmittelbar zusammen: Der Begriff der wissenschaftlichen Weltanschauung vereint den sozialistischen Wissenschaftstopos mit dem Weltanschauungsbegriff zur untrennbaren Wortkombination. Gleichzeitig wird der Wissenschaftsanspruch verabsolutiert und vorübergehend in eine Moralprogrammatik gegossen, die sich in vier Bereichen konkretisiert: quasi-militärisch im „sozialistischen Internationalismus“, arbeitsethisch in der „sozialistischen Arbeit“ als eigenem Wert, gemeinschaftlich-erzieherisch in der Konzeption des „sozialistischen Kollektivs“ sowie allumfassend normierend in der „sozialistischen Lebensweise“, womit es keine sozialen Rollen, keine Privatheit außerhalb des Sozialismus gibt. Arbeit und Kollektiv sind zwei eng aufeinander bezogene Größen: Die sozialistische Arbeit bildet das Mittel, durch das die Arbeitenden als Kollektiv zusammenwachsen; die Voraussetzung dafür sollte mit den veränderten Produktionsverhältnissen der Planwirtschaft gegeben sein. Die Umdeutung der individuellen 431 Vgl. dazu die Tabelle Identifikation mit dem Marxismus-Leninismus in: Bunke (2005): S. 133. Gaben 1975 noch fast 50 % der Lehrlinge und jungen Arbeiter an, vom MarxismusLeninismus überzeugt zu sein, sank deren Zahl bis 1989 auf 6 bzw. 11 %. Die höchsten Werte wurden unter den Studierenden mit 66 % bzw. für 1989 immerhin noch 35 % erreicht.
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Arbeit als „Tätigkeit für die Gemeinschaft“432 sowie die Verheißung eines erst in der gemeinschaftlichen Arbeit erfahrbar werdenden und die Veränderungspotenziale freisetzenden Kollektivs, bildete das wichtigste, vor allem für die ersten beiden Jahrzehnte der DDR das bestimmende Element der sozialistischen Arbeit433 und ihrer Konzeption als Erziehungsfaktor sowohl am Arbeitsplatz als auch im gesamten staatlichen Bildungswesen.434 Obwohl die Idee des Kollektivs nach Lutz Niethammer keine Tradition im deutschen Marxismus hatte und auch begriffs- und theoriegeschichtlich nicht aus den Werken der Klassiker Marx und Engels ableitbar war, wurde die Kollektiverfahrung zum Kern der arbeiterlich konzipierten DDR-Gesellschaft, die ihre Umsetzung in der Brigade als „Grundeinheit betrieblicher Arbeitsorganisation“ und Keimzelle des Kollektivs fand.435 Laut Niethammer diente die sozialistische Konzeption von Arbeit vor allem dazu, die durch die krisenhafte DDR-Wirtschaft unerfüllbar gewordenen materiellen Bedürfnisse der Bevölkerung „ideell“ zu kompensieren.436 Gestützt durch die affektive Bindung an den Staat, wie sie im Postulat der „Liebe zur DDR“ anklingt und in der Verheißung des Kommunismus als „Zukunft der Menschheit“ eine Zielsetzung erfährt, wird der „wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus“ außerdem ein Sinnbegriff unterlegt, der Aspekte von Orientierung, Bedeutung und Wertigkeit vereint. Metaphorisch als „Kompaß“ bezeichnet, verhilft die Weltanschauung dem Einzelnen dazu, die eigene Orientierungslosigkeit zu überwinden und sich in einer komplexen Welt zurechtzufinden. Überführt in die Inhalte der sozialistischen Moral bietet der „Kompaß“ Verhaltensmaßregeln, deren Bedeutsamkeit für den Einzelnen im Gemeinschaftsversprechen liegt. Narrativ über das Moment der 432 Schmidt, Thomas (2003): Vom Bürger zum Werktätigen. Arbeiterliche Zivilreligion in der DDR. In: Gärtner, Christel; Pollack, Detlef; Wohlrab-Sahr, Monika (Hg.): Atheismus und religiöse Indifferenz. Opladen: Leske + Budrich, S. 315–336, hier: 323. 433 Vgl. Schmidt (2003): S. 324 sowie Niethammer, Lutz (2009): Das Kollektiv. In: Sabrow, Martin (Hg.): Erinnerungsorte der DDR. München: Beck, S. 269–280, hier: 277. 434 Vgl. Niethammer (2009): Das Kollektiv, S. 277. 435 Vgl. Niethammer (2009): Das Kollektiv, S. 270 f. Zur Entwicklung und den verschiedenen Phasen der Brigadebewegung vgl. die Arbeit von Thomas Reichel (2011): „Sozialistisch arbeiten, lernen und leben!“ Die Brigadebewegung in der DDR (1959–1989). Köln: Böhlau. Das ursprünglich aus der Sowjetunion stammende Brigade-Modell wurde in der DDR als Gegenmodell zur unbeliebten Aktivistischenbewegung in zwei Schüben realisiert (1950 sowie 1958) und unter der Bezeichnung „sozialistischer Wettbewerb“ zum „beherrschenden Strukturmerkmal von Gruppenakkord, Prämienwesen und organisierter Kollegialität“, vgl. Niethammer (2009): S. 273. 436 Vgl. Niethammer (2009): Das Kollektiv, S. 275. Resultat war die Verflechtung der Brigadebewegung mit der kulturpolitischen Kampagne des Bitterfeldes Weges als zweiter Stufe der Brigadebewegung „Sozialistisch arbeiten und leben“. Die Verbindung von Arbeits- und Privatleben in den Kollektiven, die laut Niethammer auch wesentliche kulturelle Funktionen übernahmen (vgl. ebd. S. 276), prägte gleichermaßen Alltagserfahrung der DDR-Bürger und Idealbild der sozialistischen Lebensgestaltung.
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inneren Wandlung und Wendepunkt im Leben einer Figur inszeniert, wird Gemeinschaft zur erlebbaren Größe. Vor allem die Arbeitserfahrung stiftet sozialistische Identität: Sie ist es, die den Moment, in dem der Mensch zum Sozialisten wird, ausmacht, und damit einen absoluten Wert verkörpert, der die Geschichten überhaupt erzählenswert macht: die Entstehung des neuen Menschen. Diese marxistisch-leninistische ‚Sinnstiftung‘ steht im Gegensatz zu der auf falschen Voraussetzungen basierenden Religion, die in der Vergangenheit zwar der Erklärung von Naturereignissen und damit durchaus der Komplexitätsreduktion diente. Letztlich basieren diese Erklärungen aber immer auf Nichtwissen und „Aberglauben“, insofern die Überzeugung von der Existenz höherer Wesen als Voraussetzung des religiösen Glaubens auf einem idealistischen, also falschem Weltverständnis beruht, womit auch die ‚Sinnstiftung‘ nur eine vordergründige, mithin falsche sein kann: „Für viele Formen der idealistischen Weltbetrachtung ist der Sinn eines Gegen standes, eines Prozesses, einer Entwicklung durch die Ausrichtung auf ein anzustrebendes Ziel (Teleologie) gegeben. […] Der Mensch allein ist bewusster Gestalter von Sinn, und er allein kann durch seine Tätigkeit den Dingen und Prozessen einen Sinn verleihen.“437
Damit wird die Vorstellung von ‚Sinn‘ als einer „von außen […] aus einer übernatürlichen Sphäre“ in die Welt getragenen Größe negiert438, was die Begründung für den Ausschließlichkeitsanspruch des Marxismus-Leninismus, wie ihn die Lehrbücher mehrfach formulieren, argumentativ nachvollziehbar macht. Formal erfährt die idealtypische Erzählung vom Werden des neuen sozia listischen Menschen mitunter eine weltliche Wendung, zum Beispiel durch die materielle Belohnungsstruktur, die der Arbeitsnormübererfüllung unterlegt ist. Was bleibt, ist jedoch der Verheißungscharakter des Neuen, der erst über das Narrativ darstellbar wird. Die Vermittlung von Glück und Sinn des Lebens durch Literatur ist fest in der Methodik der Staatsbürgerkunde verankert: „Im Deutschunterricht wird den Schülern vor allem bei der Behandlung von Literatur der DDR bewußt gemacht, daß Glück und Sinn des Lebens auf der Übereinstimmung von gesellschaftlichen und persönlichen Interessen beruhen und im aktiven Einsatz für den Sozialismus ihre Erfüllung finden.“439
An vielen Stellen des Lehrbuchs Klasse 10 wurde deutlich, dass methodisch kein Unterschied zwischen literarisch formulierten Werten und tatsächlichem Verhalten gemacht wurde. Wie das Romanbeispiel Wie der Stahl gehärtet wurde zeigt, 437 So der Eintrag Sinn im Philosophischen Wörterbuch Band 2, S. 982. 438 Vgl. ebd., S. 982 439 Autorenkollektiv unter der Leitung von Hadubrand Krüger: Unterrichtshilfen Staatsbürgerkunde 10. Klasse. Teil 1. Zum Lehrplan 1970. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage, S. 60.
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sollten sowohl Nikolai Ostrowski als auch dessen Held Pawel Kortschagin den Schülern gleichermaßen als Vorbild dienen, in der Rezeption flossen der historische Autor und dessen Figuren zusammen. Aus der didaktischen Reflexion zum Einsatz von Literatur geht zwar hervor, dass in der Arbeit mit literarischen Werken diese oft ungebrochen, als Abbildung und Teil gesellschaftlicher Realität, behandelt würden: „Werke der Kunst und Literatur sind für die meisten Staatsbürgerkundelehrer durchaus nicht mehr ‚Phänomene nicht so ganz von dieser Welt‘, oft aber werden sie ohne viel Rücksicht auf die Spezifik der Kunst bzw. Literatur ‚als wirkliche Teile der wirklichen Welt‘ genommen.“440
Dies war aber methodisch gewollt: „Die Verwendung von Kunstwerken in Staatsbürgerkunde, die im Deutschunterricht behandelt wurden, garantiert […] die Möglichkeit, die Vorstellungen und Erkenntnisse der Schüler, die Emotionen, Stellungnahmen und Wertungen, die an solchen Werken entwickelt und vertieft worden sind, mit den geistigen Prozessen, die in Staatsbürgerkunde zu vollziehen sind, zu verknüpfen.“441
Die intendierte „moralische Mitentscheidung [Hervorh. i. Orig.]“ des Schülers basierte gar auf der Überblendung von Kunst und Alltag: „Künstlerisches Erleben vollendet sich erst, indem vielfältige, vor allem moralische Beziehungen aufs heutige und künftige Leben hin neu durchlebt, durchdacht, durchfühlt werden. Ästhetische Erziehung ist nicht zuletzt die Organisierung eines solchen neuen Durchlebens, Durchdenkens, Durchfühlens ganz persönlicher Beziehungen zum Leben hin am künstlerischen Gegenstand. Die ästhetische Erziehung ist sehr wohl von der moralischen Belehrung, nicht aber von der moralischen Erziehung zu trennen. Im Umgang mit den Künsten liegt zweifellos eine der wesentlichsten, längst nicht genügend erschlossenen Reserven moralischer Erziehung und Bildung.“442
Für die Erzählstruktur der sozialistischen Weltanschauung bedeutet diese Erwartung, dass Kunst die „persönlichen politisch-moralischen Entscheidungen für den Sozialismus“ formt und bestärkt443, dass Moral der Literatur und Moral der Weltanschauung in der Konzeption zusammenfallen: Literarische Werte werden als tatsächliche Werte implementiert, womit sich die Vermittlungsstruktur
440 Piontkowski (1974): Arbeit mit Werken der Literatur im Staatsbürgerkundeunterricht, S. 72. Dafür vorgeschlagen wird unter anderem das in Klasse 9 auf dem Lehrplan Deutsch stehende Buch von Ostrowski, vgl. ebd. S. 82. 441 Piontkowski (1974): Arbeit mit Werken der Literatur, S. 72. 442 Koch, Hans (1973): Die Ausbildung der ästhetisch-künstlerischen Erlebnisfähigkeit der sozialistischen Persönlichkeit. In: Pädagogik 28, S. 351–357; hier: S. 356. 443 Vgl. Koch (1973): Ausbildung der ästhetisch-künstlerischen Erlebnisfähigkeit, S. 356.
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der sozialistischen Weltanschauung an ein literarisches Vorbild anlehnt. Indem ihre Konkretisierung über literarische Belege erfolgt, nimmt die Form der Weltanschauung die Form von Literatur an. Die Übernahme literarischer Strukturen in der Moralvermittlung bedingt deren narrative Struktur und vermag so unterschiedliche dramaturgische Potenziale zu entfalten. Wurde Weltanschauung bis hier vor allem philosophiegeschichtlich-theoretisch hergeleitet und politisch-historisch begründet, kommt in den Staatsbürgerkundebüchern der Klassen 11/12 ein weiteres Argumentationsmoment hinzu: die Verhältnisbestimmung zu Religion.
6.5 Die Rhetorik der Unversöhnlichkeit von Marxismus-Leninismus und Religion – Staatsbürgerkunde 11/12 Mit der theoretischen Fundierung der Weltanschauung erhält Religion einen zentralen Stellenwert im Lehrbuch Staatsbürgerkunde.444 Auf der Basis der philosophiegeschichtlichen Herleitung des dialektischen Materialismus, wie dieser bei Marx und Engels in der Mitte des 19. Jahrhunderts konzipiert worden war, werden die marxismustheoretischen Grundlegungen erläutert. Im Vordergrund stehen das materialistische Materieverständnis sowie die marxistische Bewusstseinskonzeption445, womit Religion vor allem als Abgrenzungsmoment fungiert: Das „religiöse Bewusstsein“ ist unwissenschaftlich, da es aus den ‚Widerspiegelungen‘ der ‚objektiven Realität‘ abgeleitet ist. Seine philosophische Wurzel liegt im Idealismus und steht damit der materialistischen Philosophie und wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse, dem Marxismus-Leninismus, gegenüber. Historisch wird Religion als Unterdrückungsmoment der herrschenden Klasse gedeutet, Religionsgeschichte somit als Unterdrückungsgeschichte konzeptualisiert. Die Analyse der Lehrbuch-Religion behandelt drei Aspekte ihrer Präsentation: den metaphorischen, wie er unter dem Gesichtspunkt der Überwindung von Religion als Genesung des sozialistischen Organismus zum Ausdruck kommt, den relationalen, der in der Verhältnisbestimmung von Marxismus-Leninismus und Religion eine Rolle spielt, sowie den stilistischen, der sich in der Präsentation von Religion als Gegenstand satirischer Kritik ausdrückt und inhaltlich mit der 444 In den Lehrbüchern der Klassen 7 bis 10 der polytechnischen Oberschule (POS) fand sich der Begriff Religion weder im Inhalts- oder Stichwortverzeichnis noch in den Schulbuchtexten. Dort war lediglich an einer Stelle von „Aberglaube“ die Rede. In dem für die Lehrbücher 11/12 ab 1971 verwendeten Stichwortverzeichnis erhält Religion einen festen Eintrag im Register; die Verweisstellen nehmen im Lauf der Jahre zudem deutlich zu. 445 Vgl. z. B. Staatsbürgerkunde 11/12 (1971): S. 78 f., S. 114–117, S. 444–447.
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Darstellung des Atheismus verbunden ist. Grundsätzlich ist zu beobachten, dass in den DDR-eigenen Büchern ein anderes Vokabular zur Beschreibung und Verhandlung von Religion verwendet wird als in der russischen Lehrbuchübersetzung von 1963, die sprachlich radikaler und ausgrenzender formulierte und damit auf den sowjetischen Religionsdiskurs verwies. In der Langzeitperspektive können außerdem zwei Besonderheiten in der Entwicklung der Lehrbücher ausgemacht werden: Eine Radikalisierung und Multiplizierung im Umgang mit Religion sowie eine ausführlichere Behandlung des Themas Atheismus.
a) Metaphorik: Die Überwindung von Religion als Genesung des Kollektivs Wie in den Lehrbüchern der unteren Klassen narrativ vorbereitet, gewinnt der sozialistische Idealmensch seine moralische Qualität durch den altruistischen, aus „innerste[r] Überzeugung“ bedingten Einsatz für das Kollektiv, der auf die „organische Verschmelzung [Hervorh. i. Orig.]“446 von persönlichen und gesellschaftlichen Interessen abzielt. Die Semantik des Inneren liefert das Stichwort für eine Abgrenzungsargumentation, die auf einer pauschalen Christentumspolemik aufbaut: „Nein, in Beziehungen, die sich auf gegenseitige ‚Vergebung der Sünden‘ und ‚Nichtaussprechen‘ gründen, sind Falschheit und Heuchelei unvermeidlich. Unser, der sozialistische Humanismus, hat nichts gemein mit jener allgemeinen ‚Liebe in Christo‘, die die bürgerliche Moral heuchlerisch predigt.“447
Der Tadel an der christlichen Sündenlehre als Beispiel für bürgerliche Amora lität und Heuchelei wird zur Systemkritik umformuliert, die als „Kampf gegen das Böse“ in einen ontologischen Gegensatz mündet, an dessen Ende ein finaler Konflikt steht: „Gerade die Liebe zu den Menschen zwingt uns, aus tiefster Seele all jene zu hassen, die die Werktätigen zu grausamer Ausbeutung verdammen […]. Wir […] sind bereit, den Kampf gegen das Böse mit der einzigen Waffe, die es anerkennt, mit der Waffe der Gewalt zu führen.“448
Mit der Rezeption dieses für die politische Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zentralen apokalyptischen Deutungsmusters speist der Schulbuchtext das auch religionsgeschichtlich zentrale Motiv der dualistischen Weltsicht in seine Darstellung ein, die am Ende der verbalen Legitimation von Gewalt dient. Rhetorisch erfolgt mit der Gegenüberstellung ein asymmetrischer Vergleich: Die 446 Gesellschaftskunde (1963): S. 321. 447 Gesellschaftskunde (1963): S. 324. 448 Gesellschaftskunde (1963): S. 324.
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Liebe zu den Menschen wird dem Hass auf die Ausbeuter entgegengesetzt, womit diese „suggestiv in die Gegenposition zum Menschen rücken“. Mit dem Begriffspaar Mensch – Unmensch ist der Argumentation ein – im Sinn Reinhart Kosellecks – asymmetrischer Gegenbegriff unterlegt.449 Was Koselleck als Argumentationsstrategie der „Aufklärungspolemik“ identifiziert hatte450, findet sich als Sprachstruktur auch in den Staatsbürgerkundeschulbüchern und bestimmt dort die narrative Konkretisierung. Der „Kampf gegen das Böse“ wird euphemistisch als Kampf gegen die „Überreste der Vergangenheit“ identifiziert, deren Adressaten als „Schmarotzer und Spießer“ bezeichnet und letztlich in entpersonalisierter Form in der Religion als Institution verortet.451 Ausgehend von der binären Opposition gesund (Kommunismus) versus krank (Kapitalismus/bürgerliche Moral) werden Körpermetapher und die Figur des asymmetrischen Gegenbegriffs zu einer semantischen Einheit verbunden: „Unsere Gesellschaft ist durch und durch gesund. Krankheiten, wie sie der Kapitalismus kennt, sind ihr fremd. In der UdSSR ist dem Individualismus, der Gewinnsucht, dem Schmarotzertum und anderen charakteristischen Erscheinungsformen der bürgerlichen Moral der Boden entzogen. Aber Spuren dieser Krankheiten haben sich noch in den Überresten der Vergangenheit erhalten, die der Sache des kommunistischen Aufbaus beträchtlichen Schaden zufügen.“452
Wenn sich in der eigentlich gesunden kommunistischen Gesellschaft dennoch Ansätze des bürgerlich-krankhaften Verhaltens wie Individualismus, Profitstreben und „Schmarotzertum“ finden, sind dies „Spuren“ und „Überreste der Vergangenheit“. Es handelt sich dabei nicht um menschliche Charaktereigenschaften, sondern um das Weiterwirken einer vergangenen ökonomischen Gesellschaftsordnung. Die der Erklärung für die Kontinuitäten „bürgerlichen“ Verhaltens in der kommunistischen Gesellschaft unterlegten Ansätze der ökonomischen Theorie von Karl Marx werden in medizinischer Metaphorik ausgedrückt und erlangen damit den Status einer Diagnose:
449 Koselleck hatte den Terminus des asymmetrischen Gegenbegriffs in seiner Studie zur historischen Zeiterfahrung und ihrer semantischen Vermittlung entworfen und anhand dreier historischer Beispiele von binären Begriffsoppositionen mit Universalanspruch – HellenenBarbaren, Christen-Heiden und Übermensch-Untermensch – expliziert. Asymmetrie entsteht laut Koselleck dort, wo die Begriffe durch ungleiche Zuordnung nur einseitig verwendbar sind, Selbst- und Fremdbezeichnungen also nicht übereinstimmen, mehr noch: abwertenden Charakter tragen. Ihr Gegensatz ist „auf ungleiche Weise konträr“. Vgl. ders. (1989): Zur historischpolitischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt: Suhrkamp, 1. Auflage (Original 1979), S. 211–259, hier: 211–213. 450 Vgl. Koselleck (1989): Gegenbegriffe, S. 250. 451 Vgl. Gesellschaftskunde (1963): S. 324–329. 452 Gesellschaftskunde (1963): S. 324 f.
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Wie Weltanschauung präsentiert wird
„‚Muttermale‘ des Alten, die zur Gewohnheit, zur Tradition geworden sind, haften gewissermaßen noch an der neuen Welt; sie gehen von einem Menschen auf den anderen über und wollen sich auch in der Gesellschaft festsetzen.“453
Durch abgrenzende Anführungszeichen und das Adverb „gewissermaßen“ wird die Metaphorik der Rede zwar reflektiert. Zugleich bleibt dem Text mit der Formulierung des „von einem Menschen auf den anderen über[gehenden]“, sich in der Gesellschaft „festsetzen[den]“ Leberflecks die Logik des asymmetrischen Gegenbegriffs unterlegt: Die eigentümliche Entlehnung, die an den Sprachgebrauch von Onkologie und Virologie erinnern mag, verweist auf Disziplinen, die der Krankheitsbekämpfung dienen, womit eine entsprechende Therapie nahegelegt wird. Die mit der Krankheit gemeinten „Erscheinungsformen der bürgerlichen Moral“ werden um die Attribute Gleichgültigkeit und mangelndes Unrechtsbewusstsein ergänzt und damit moralisiert. Die Krankheit ist eine moralische Krankheit, deren Therapie auf die Exklusion des „Spießbürgertums“ abzielt: „Wenn das Spießbürgertum – letztlich eine Erscheinungsform der Privateigentümer mentalität – in so offener Form zutage tritt, dann kann man es leicht bekämpfen. Leider findet man aber auch bei an sich nicht schlechten Menschen Züge kleinbürgerlichen Denkens. Kann jeder von euch – Hand aufs Herz! – sagen, daß sein Gewissen rein ist, daß er niemals, um Vorteile zu erlangen, oder auch nur, um seine Ruhe zu haben, Unrecht begangen hat? Du schweigst, wenn Du Mängel in der Arbeit siehst – das ist kleinbürgerliches Denken. Du hast gesehen, wie ein Rowdy eine Frau beleidigt hat, und hast geschwiegen – das ist kleinbürgerliches Denken. Du hast gesehen, wie Maschinen einer Kollektivwirtschaft unter freiem Himmel Rost ansetzen, und hast es geduldet – das ist kleinbürgerliches Denken.“454
Die dem Aufbau des Kommunismus schadenden „Schmarotzer und Spießer“ bleiben zwar gesichtslos, werden aber nicht nach außerhalb verlagert. Sie bilden den letztlich unakzeptablen Teil des Gesamtorganismus, wie der über vermeintliche Empathie geltend gemachte, totale Erziehungsanspruch dokumentiert. Wo das erzieherische Moment nämlich scheitert, stößt auch die Inklusionsstrategie an ihre Grenzen und kehrt sich ins radikale Gegenteil um. Bevor eine therapeutische Maßnahme des erkrankten Organismus formuliert wird, steigert sich die Exklusionsrhetorik deshalb in eine Hasstirade: „Kommunismus und Überbleibsel des Alten sind unvereinbar. Wir können aber nur dann die ‚Muttermale‘ der alten Welt endgültig ausmerzen, wenn das ganze Volk daran mitarbeitet. Lenin sagte dazu, daß nur die freiwillige und gewissenhafte, von revolutionärem Enthusiasmus getragene Zusammenarbeit der Massen, der Arbeiter und Bauern bei der Registrierung und Kontrolle… der Gauner, der Schmarotzer und Rowdys [Hervorh. i. Orig.] diese Überbleibsel der verfluchten kapitalistischen 453 Gesellschaftskunde (1963): S. 325. 454 Gesellschaftskunde (1963): S. 326.
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Gesellschaft✳ besiegen kann, diesen Abschaum der Menschheit, diese hoffnungslos verfaulten und abgestorbenen Glieder, diese Seuche, diese Pest, dies Geschwür, das der Kapitalismus dem Sozialismus als Erbe hinterlassen hat.“455
Die Unnachgiebigkeit, mit der hier Bürger aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden, ist für ein Schulbuch erstaunlich. In den nachfolgenden DDR-eigenen Ausgaben findet sich ein derart emotionaler Wortschwall nicht mehr, wenngleich für die Lehrbücher der 1980er Jahre erneut eine Radikalisierung des Sprachgebrauchs festzustellen ist.456 Rhetorisch wird die Ausgrenzung über die medizinische Metapher der Nekrose als pathologisches Absterben von Zellen durch schädliche Einflüsse plausibilisiert. Allerdings bleiben die erkrankten, „hoffnungslos verfaulten“ und sogar „abgestorbenen“ Glieder auch als Wunde Teil des Gesamtorganismus, womit das der Argumentation zugrunde liegende asymmetrische Gegenbegriffspaar sein Spezifikum entfaltet: den „Allgemeinheitsanspruch, der so total ist, dass kein Mensch ausschließbar zu sein scheint“.457 Zwar ist nicht direkt von der Entfernung erkrankter Teile des Gesamtorganismus die Rede, die drastischen Euphemismen zur Unterscheidung der Gesellschaftsmitglieder lassen eine solche aber zumindest vermuten. Die anderen, weniger erkrankten Teile sollen hingegen durch kontinuierliche und systematische Erziehungsarbeit von der „Bürde“ der „Überreste“ befreit werden.458 Zu diesen Überresten zählt auch Religion, die, semantisch unter die Kategorie des „Schlechte[n]“459 gestellt, final überwunden werden soll. Dramaturgisch am Ende des zu überwindenden alten Systems steht Der Kampf gegen religiöse Vorurteile, mit dem der Systemkonflikt zwischen Sozialismus und Kapitalismus auf der Weltanschauungsebene – Religion versus MarxismusLeninismus – verhandelt wird. Allerdings ist dafür ein christentumsbasiertes Begriffsverständnis leitend: Religion bzw. „religiöse Vorurteile“ bilden eine Sammelbezeichnung für bestimmte Überzeugungen („religiöse[n] Aberglaube[n]“), institutionalisierte Religion („Kirche“) und (christliche) Randphänomene („religiöse Sekten“), gegen die gleichermaßen polemisiert wird: ✳ Die Rede von „Überbleibseln“ oder dem Erbe einer „verfluchten Vergangenheit“ bildete eine typische Redeform im sowjetischen Diskurs um den neuen Menschen. Dort verknüpften, wie Torsten Rüting betont, „Vordenker der entstehenden Sowjetzivilisation historische und biologische Entwicklungsdiskurse“, wobei bestimmte unerwünschte Verhaltensweisen mit der Vererbungsmetaphorik in einen (pseudo-) biologischen Zusammenhang gebracht wurden. Vgl. ders. (2002): Pavlov und der Neue Mensch. Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland. München: Oldenbourg, bes. S. 179. 455 Gesellschaftskunde (1963): S. 327. 456 Vgl. die Analysen zum Lehrbuch Staatsbürgerkunde 10 von 1983 in den Abschnitten 5.1 b) und 6.4. 457 Koselleck (1989): Gegenbegriffe, S. 217 f. 458 Vgl. Gesellschaftskunde (1963): S. 327 f. 459 Vgl. Gesellschaftskunde (1963): S. 328.
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„Zu den am tiefsten im Bewußtsein der Menschen verwurzelten Überresten des Alten gehört der religiöse Aberglaube. Die Kirche und religiöse Sekten (von denen jede behauptet, einzig und allein ihre ‚Lehre‘ sei wahr!) sind aktiv tätig und versuchen, die Menschen zu ihrer Religion zu bekehren.“460
Mit dem Argument, dass der Erfolg dieser Gruppen ausschließlich dem persönlichen Unglück der Rezipienten geschuldet sei und auf die Entpolitisierung der Menschen abziele, wird schließlich eine erkenntnistheoretisch basierte Kritik formuliert, die auf dem Gegensatzpaar Glaube – Wissen aufbaut: „Die Religion stellt den Glauben über das Wissen. Damit werden die schöpferischen Kräfte im Menschen gelähmt, die Menschen sollen sich blind ihrem ‚Schicksal‘ unterwerfen, ihre Aktivität wird auf Gebete, auf die Befolgung des kirchlichen Zeremoniells und auf die Beachtung der Fasten[zeit] gelenkt. Es gibt Sekten, die ihren Mitgliedern das Lernen untersagen und ihnen verbieten, gesellschaftlichen Organisationen anzugehören, ins Kino und Theater zu gehen, Bücher und Zeitungen zu lesen usw. In einigen Sekten werden sogar primitive, unmenschliche Bräuche gepflegt, die den Menschen körperliche und sittliche Schäden zufügen und häufig zum frühen Tod oder seelischen Leiden führen.“461
Der Verweis auf die von den „Sekten“ ausgehende Lebensgefahr bildet ein bis hier in der Darstellung nicht gebräuchliches Motiv. Mit der Differenzierung in Religion und Sekte wird eine Negativkonnotation übernommen, der ursprünglich ein religiöses Identifikations- und Abgrenzungsbedürfnis zugrunde lag.462 Die Verwendung des Terminus Sekte, vor allem aber die Erwähnung der entsprechenden Stereotype der psychischen und finanziellen Abhängigkeit machen sichtbar, dass der Text zumindest an dieser Stelle eine unterschiedliche Wertigkeit und Ungleichheit annimmt, die zu Gunsten der etablierten Institution Kirche geht.463 Die Maßnahmen zur Lösung des „religiösen Problems“ – genannt werden die juristische Trennung von Kirche und Staat, besonders die Schule, sowie die erzieherische „wissenschaftlich-atheistische Propaganda [Hervorh. i. Orig.]“ – beziehen sich dann allerdings auf Religion als Ganzes. Diese Maßnahmen sollen jedoch nicht einer gesellschaftlichen Ausgrenzung, sondern der Befreiung der Betroffenen dienen: „Taktlosigkeit gegenüber den Anhängern einer Religion und Beleidigung ihrer religiösen Gefühle verschlimmern die Sache nur und führen zum Fanatismus. In ihrer 460 Gesellschaftskunde (1963): S. 328 f. 461 Gesellschaftskunde (1963): S. 329. 462 Vgl. Remus, Babett (2005): Art. Sekte. In: Metzler Lexikon Religion Band 3. Stuttgart: Metzler, S. 283–285, hier: 285. 463 Diskurs- und religionsgeschichtlich durchaus interessant ist, dass diese Art der Exklusionsrhetorik sowie die Binnendifferenzierung in Religion bzw. Kirche einerseits und Sekte andererseits bereits in den 1960er verbreitet gewesen zu sein schien, auch wenn damit andere Phänomene als in der sogenannten Sektendebatte der 1980er Jahre gemeint waren.
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Mehrzahl sind die Gläubigen rechtschaffene Menschen, und man muß ihnen helfen, sich von ihrem religiösen Aberglauben zu befreien.“464
Die Bemerkung, es handele sich bei den Gläubigen um „rechtschaffene“ Menschen, greift das Vorurteil von der Zweifelhaftigkeit ethischer und moralischer Gesinnung nicht religiöser Menschen auf und wendet es ins Gegenteil. Abschließend wird ein metaphorisch gewendeter und aus seinem religiösen Kontext gelöster Glaubensbegriff zum Kennzeichen des Sozialisten: „Die Religion, dieses nach einem Ausdruck Lenins ‚untaugliche Produkt einer untauglichen Gesellschaftsordnung‘, muß allmählich aus dem Leben der sowjetischen Menschen verschwinden. Unser Volk kennt nur einen Glauben, den Glauben an die eigene Arbeit, an die schöpferischen Kräfte und die unbegrenzten Möglichkeiten des menschlichen Geistes.“465
Mit der Rede von der Befreiung vom „Aberglauben“ und dem Verweis auf den „Glauben“ an die Arbeit schließt sich auch argumentativ ein Kreis: Der Text knüpft an den Anfang des Abschnitts an, wo Religion als Zeichen der psychologischen Unterdrückung definiert und der Freiheit der wissenschaftlichen Weltanschauung gegenübergestellt wurde.466 Religion spielt in dieser Vision des Neuen vor allem als Abgrenzungsmoment und Teil des Alten eine Rolle. Wie ein Ausblick zeigt, bleibt diese Form der Exklusionsrhetorik einzigartig. Auch wenn die ausgrenzenden Anteile über die Zeit wieder zunehmen, weil die Polemik in den 1970er Jahren zur Methode des Staatsbürgerkundeunterrichts erklärt und ausgearbeitet wurde, bildet diese radikale Form ein Spezifikum des aus dem Russischen übersetzen Lehrbuch Gesellschaftskunde von 1963 und verweist damit vor allem auf die Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat in der Sowjetunion der 1950er und 1960er Jahre.467 Insgesamt funktioniert die Plausibilisierung des dialektischen Materialismus über einen Abgrenzungsdiskurs, in dem Religion und Wissenschaft zwei Größen der Argumentationsführung bilden. Religiöse Strukturen wie Kirche und Gottesglaube stehen stellvertretend für das Reaktionäre der alten Ordnung, während die materialistische Weltsicht im Gegensatz dazu über ihre vermeintliche Naturwissenschaftlichkeit definiert wird. Diese Gegenüberstellung ist für das Verhältnis von Marxismus und Religion zentral.
464 Gesellschaftskunde (1963): S. 329. 465 Gesellschaftskunde (1963): S. 329. 466 Vgl. Gesellschaftskunde (1963): S. 311–313. 467 Unter Staatschef Nikita Chruschtschow setzte eine neue Welle der Kirchenverfolgung ein, vgl. Hildermeier, Manfred (1998): Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München: Beck, S. 981–990.
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b) Relationale Bestimmung: Marxismus und Religion – Grundzüge der marxistisch-leninistischen Religionskritik Obwohl der Gegensatz von Marxismus-Leninismus und Religion das leitende Motiv bildet, wird er nur in einer einzigen Lehrbuchausgabe, der Staatsbürgerkunde 3, in einem separaten Abschnitt explizit behandelt.468 Die Verhältnisbestimmung bildet dort den Schlusspunkt der Ausführungen des ersten Lehrbuchteils, das der marxistisch-leninistischen Philosophie gewidmet war.469 Der Abschnitt kündigt an, Die Stellung des Marxismus zur Religion zu erläutern und damit die Perspektive der marxistischen Theorie zu referieren. Tatsächlich ist der Text argumentativ zweigeteilt: Im ersten Teil geht es um die sozialen Entstehungsbedingungen von Religion, wie sie Marx und Engels formuliert hatten, während der zweite das Verhältnis von Kirche und Staat in der DDR thematisiert und damit den Realsozialismus in den Vordergrund rückt. Theoretisch hergeleitet aus dem Wechselverhältnis von Sein und Bewusstsein470 wird Religion im Bereich des Bürgerlich-Idealistischen verortet und als 468 Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Dieter Wittich und Reinhold Miller: Staatsbürgerkunde 3. Die sozialistische Weltanschauung. Für die 11. und 12. Klassen der erweiterten Oberschule und die entsprechenden Stufen der Berufsausbildung. Berlin: Volk und Wissen 1965, S. 143–148. Die von 1965 bis 1970 gebräuchlichen Auflagen sind identisch, alle weisen den Abschnitt zum Verhältnis von Marxismus und Religion auf. Dieser wurde mit Erich Hahn, dem späteren Direktor des Instituts für Marxistisch-leninistische Philosophie an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, der zentralen gesellschaftswissenschaftlichen Forschungsund Ausbildungsstätte, die dem Politbüro des ZK der SED direkt unterstellt war, einem weltanschaulich absolut zuverlässigen Autor überantwortet. 469 Die Grundstruktur des Lehrbuchs sah im ersten Teil Grundbegriffe der marxistisch-leninistischen Philosophie, im zweiten Teil Grundbegriffe der marxistisch-leninistischen Ethik vor. 470 Die terminologische Unterscheidung zwischen Religion und religiösem Bewusstsein geht auf das Marx’sche Gesellschaftsmodell von Basis und Überbau zurück, in dem der Zusammenhang zwischen den ökonomischen Grundlagen einer Gesellschaft (dem Sein) und dem Denken und Handeln der Menschen (ihrem Bewusstsein) dargestellt wird. Der Überbau bezeichnet sowohl Verwaltungsorgane des Staatsapparates als auch politische, philosophische oder religiöse Vorstellungen der Menschen, die Marx als Ableitungen aus den wirtschaftlichen Verhältnissen verstand, vgl. dazu im Lehrbuch Staatsbürgerkunde 11/12 (1971): S. 278–285, bei Marx programmatisch in der Politischen Ökonomie: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, zit. n. MEW Band 13 (1971): S. 8 f. Den Begriff Überbau hatte Friedrich Engels später im Anti-Dühring spezifiziert, vgl. MEW Band 20 (1968): S. 25. Diese Schrift ist auch deshalb interessant, weil Engels in ihr die „Weltanschauung“ des Kommunismus (so der Autor selbst)
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eine Bewusstseinsform von vielen sowohl Philosophie als auch Wissenschaft gegenübergestellt und historisiert.471 Das religiöse Bewusstsein zeichnet sich durch den Transzendenzbezug als Grundlage der Welterklärung aus: „[A]lles Geschehen in Natur und Gesellschaft sowie im Leben der einzelnen Menschen [wird] auf den Willen und das Wirken übernatürlicher und außergesellschaftlicher, nämlich göttlicher Mächte zurück[ge]führt“.472 Die Behauptung, dass das Weltbild den Interpretationsrahmen vollständig vorgibt, ein religiöses Bewusstsein – nicht der religiöse Mensch!473 – also dazu neigt, jegliches Geschehen als religiöses Geschehen zu deuten, unterstellt diesem einen mangelnden Grad an Differenzierungsvermögen, der theoriegeschichtlich an die Aussagen evolutionistischer Religionsforscher des 19. Jahrhunderts erinnert. Der Bewusstseinsbegriff suggeriert überdies eine kulturübergreifende gesellschaftliche Funktion von Religion: die ökonomisch bedingten Lebensverhältnisse des Menschen in den Bereich des Übernatürlichen und Außergesellschaftlichen – hier summierend als „göttliche Mächte“ bezeichnet – zu verlagern und damit ihre Herrschaftsfunktion zu verschleiern. Zentral für die Verhältnisbestimmung von Religion und Marxismus ist die Wesensbestimmung des Religiösen: „Es gibt in der Geschichte des menschlichen Denkens zahlreiche Beispiele dafür, daß besonders materialistische Denker sich immer wieder um die Aufdeckung des Wesens der Religion bemüht haben. Jedoch haben bei aller Vielfalt von Einsichten erstmals systematisch darlegte. Neben Philosophie, Kunst oder Wissenschaft zählt auch Religion zum gesellschaftlichen Überbau. Mit der philosophiegeschichtlichen Verortung zentraler Begrifflichkeiten erfährt die ökonomische Theorie bei Marx ihre philosophische Grundlegung: Dem Bewusstseinsbegriff wird dort der Terminus Materie gegenübergestellt. Die Materie ist die Grundlage allen Lebens und damit primär, während das Bewusstsein aus der Materie abgeleitet, demnach sekundär ist. Es entsteht erst auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Materie und hat Abbildungscharakter, insofern es die materielle Welt in Form von Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Theorien etc. lediglich ideell widerspiegele. In der weltanschaulichen Konsequenz bedeutet dies: Der Idealismus lässt transzendente Weltdeutungen zu, während der Materialismus explizit atheistisch ist. Für die ausführliche Argumentation vgl. vor allem Abschnitt I (Feuerbach) der Vorrede zur Deutschen Ideologie, in der Marx den Gegensatz von „materialistischer und idealistischer Anschauung“ darlegt und über den Bewusstseinsbegriff das Modell von Basis und Überbau entwickelt, zit. n. MEW Band 3 (1969): S. 26–32 sowie S. 37–50. 471 „Die Existenz der einzelnen Formen ist an bestimmte historische Umstände gebunden. Die Wirkung und Rolle einer einzelnen Form kann zu verschiedenen Zeiten stark variieren.“ Staatsbürgerkunde 3 (1965): S. 143. 472 Staatsbürgerkunde 11/12 (1971): S. 444. 473 Aus marxistisch-leninistischer Perspektive war die Annahme von einer menschheitsgeschichtlich frühen Religionsentstehung abzulehnen, was weniger in der wissenschaftlichen Kritik an entsprechenden theoretischen Konzepten wie Animismus, Präanimismus oder Urmonotheismus begründet lag, sondern in der Verneinung eines homo religiosus. Vgl. Art. Religion in: Philosophisches Wörterbuch Band 2 (1971): S. 939–944, hier 939 f. Dort ist Religion als Produkt der „Phantasie“ erst mit der Entstehung des abstrakten Denkens, das auf die Gesellschaften der Altsteinzeit projiziert wird, möglich.
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die Philosophen vor MARX [Hervorh. i. Orig.] dieses Wesen nicht durchschauen können. Entsprechend fanden sie auch kein praktisches Verhältnis zu religiösen Menschen und deren Glaubensgemeinschaften. Vor allem beschränkten sie sich – so zum Beispiel die französischen Aufklärer – darauf, Religion aus der Einbildung der Menschen abzuleiten oder sie als das Produkt von Betrügern zu denunzieren. Auch der große bürgerliche Atheist Ludwig FEUERBACH, in dessen Schriften sich bedeutende Erkenntnisse über das Zustandekommen der religiösen Vorstellungen finden, stieß nicht bis zu den wahren Ursachen, den sozialen Wurzeln der Religion vor.“474
Trotz der Verwendung des Wesensbegriffs wird hier nicht substanziell klassi fiziert. Es geht nicht um eine Ergründung im Sinn der klassisch phänomenologischen Wesensschau, sondern um die Deutung von Religion als Ausdruck bestimmter sozialer Verhältnisse, was angesichts des DDR-Philosophiediskurses konsequent ist.475 Mit der Forderung nach einer Erklärung für die Entstehung von Religion anstelle ihrer bloßen Bewertung als Einbildung oder (Priester-) Betrug werden sowohl die Ansätze der französischen Aufklärer als auch die Arbeiten Feuerbachs als ungenügend verworfen und schließlich zur Marx’schen Perspektive auf Religion als sozialem Phänomen übergeleitet, was freilich jede religionsphänomenologische Betrachtung verbietet, die im wissenschaftlichen nicht-theologischen Religionsdiskurs der DDR denn auch verworfen wurde. Prominentestes Beispiel aus der Religionswissenschaft ist sicher immer noch Kurt Rudolphs Phänomenologiekritik.476 474 Staatsbürgerkunde 3 (1965): S. 143 475 Dies entsprach der marxistischen Hegelkritik, die in den Staatsbürgerkundebüchern im Rahmen der philosophiegeschichtlichen Darstellung von Idealismus und Materialismus immer wieder aufscheint, allerdings nicht ohne die Bedeutung Hegels für die Entwicklung der marxistischen Philosophie herauszustellen, vgl. exemplarisch Kapitelabschnitt Religion als Teil einer reaktionären Ordnung. Innerhalb der akademischen Debatte war die Auseinandersetzung mit Hegel aus verschiedenen Gründen ein heikles Thema, entsprechend wechselvoll gestaltete sich die Hegel-Rezeption in der DDR, vgl. Warnke, Camilla (2001): „Das Problem Hegel ist längst gelöst.“ Eine Debatte in der DDR-Philosophie der fünfziger Jahre. In: Gerhardt, Volker/Rauh, Hans-Christoph (Hg.): Anfänge der DDR-Philosophie. Ansprüche, Ohnmacht, Scheitern. Berlin: Chr. Links, S. 194–221. Die Hegelproblematik verunmöglichte eine systematische Auseinandersetzung mit der methodischen Phänomenologie Husserls, die als verfehlt angesehen wurde, vgl. den Eintrag Phänomenologie im Philosophischen Wörterbuch Band 2 (1971), S. 836. Philosophiegeschichtlich differenziert dargestellt wird die Problematik bei Michael Thomas (1994): Husserl und die DDR-Philosophie. Ein konkreter und aufschlussreicher Modellfall. In: Daedalus. Europäisches Denken in deutscher Philosophie Band 5: Husserl in Halle. Berlin u. a.: S. 131–159. 476 Die von Kurt Rudolph formulierte Kritik an der bis weit in die 1960er Jahre betriebenen Commonsense-Religionsphänomenologie prägte die kulturwissenschaftliche Ausrichtung der deutschsprachigen Religionswissenschaft entscheidend, vgl. Rudolph, Kurt (1978): Die ideologiekritische Funktion der Religionswissenschaft. In: Numen Nr. 25, S. 17–39. Freilich wollte Rudolph selbst seine Religionsphänomenologiekritik nicht als marxistisch inspirierte Religionskritik (miss-)verstanden wissen, sondern als Produkt einer traditionell historisch und philologisch sauber arbeitenden Religionswissenschaft, die sich in der DDR jedoch in mehrere Richtungen behaupten musste: „Es war für mich zunächst Tradition und Aufgabe zugleich, nämlich
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Die soziale Entzauberungsstrategie von Religion durch den Hinweis auf ihre gesellschaftliche Bedingtheit wird argumentativ durch die Gegenüberstellung mit einem materialistischen, als wissenschaftlich bezeichneten Atheismus verstärkt. Als Ausdruck bestimmter sozialer Verhältnisse wird Religion in die Vielzahl von „Bewusstseinsformen“ eingereiht und verliert damit jegliche transzendente Exklusivität: „Mit der Entstehung und Entwicklung des dialektischen und historischen Materialismus nahm auch der Atheismus einen neuen Charakter an. Natürlich ist die marxistische Philosophie eine atheistische Weltanschauung. Gestützt auf den ständigen Fortschritt der natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnis erklärt sie die Welt und ihre Entwicklung aus den ihr selbst innewohnenden Gesetzten, aus materiellen Triebkräften, ohne Zuhilfenahme überirdischer, jenseitiger Mächte. Aber das bedeutet nicht, daß die Marxisten die Fehler der vormarxistischen Atheisten [Religion nur unzureichend zu erklären] wiederholen. Aus dieser materialistischen Grundposition ergibt sich vielmehr zwangsläufig die Aufgabe, die entscheidenden Ursachen und Wurzeln der Religion [Hervorh. i. Orig.] wie jeder anderen Form des gesellschaftlichen Bewußtseins in den materiellen Lebensumständen der Menschen aufzudecken, die Religion als Widerspiegelung ganz bestimmter empirischer Verhältnisse zu erklären.“477
Mit einem Verweis auf Karl Marx werden die Aussagen historisch autorisiert: „‚Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend‘.✳ In diesem Satz ist die marxistische Erklärung der Religion sehr präzise ausgedrückt. Die entscheidenden Wurzeln der Religion liegen in der sozialen Wirklichkeit. Die gesellschaftlichen Verhältnisse der Klassengesellschaft sind es, die den Menschen zu einem elenden, ohnmächtigen, unterdrückten, entwürdigten und verkümmerten Wesen werden ließen und ihn veranlaßten, eine phantastische, illusionäre Bestätigung seiner selbst zu suchen. Die soziale Praxis der Klassengesellschaft versagt dem Menschen Trost, Bestätigung, Freiheit, Würde, Sicherheit, Wärme und Herzlichkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Deshalb sucht er sie im Jenseits, soweit er nicht auf der Grundlage der Weltanschauung der Arbeiterklasse diese soziale Praxis durchschaut.“478 den Ansatz W. Baetkes in der damaligen, noch sehr von Rudolf Otto, Friedrich Heiler, Gustav Mensching beherrschten Religionswissenschaft in Deutschland entschieden und wirksam zu verteidigen. […] Es galt damals die Grenzen der Religionswissenschaft möglichst eng und streng zu ziehen, um unnötigen, angereicherten Ballast von ihr zu entfernen, der ihrer Eigenständigkeit im Wege war (und teilweise immer noch ist).“ Die streng philologische Arbeit war „Möglichkeit des Überlebens“ durch Abgrenzung gegenüber der Vereinnahmungsversuche seitens der marxistisch-leninistischen Philosophie, zugleich aber die Besiegelung ihrer Isolation“, vgl. Rudolph, Kurt (1992): Einleitung, in: Geschichte und Probleme der Religionswissenschaft. Leiden u. a.: Brill, S. vii sowie S. viii. 477 Staatsbürgerkunde 3 (1965): S. 143. ✳ Karl Marx: Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie. Einleitung. Zit. n. MEW Bd. 1. Berlin: Dietz 1956, S. 378. 478 Staatsbürgerkunde 3 (1965): S. 143 f.
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Mit dem Begriff der „Protestation“ erhält Religion eine neue Dimension: Sie ist nicht länger nur Ausdruck bestimmter Lebensumstände und damit reaktiv, sondern aktive Form des sozialen Protests gegen ebendiese Verhältnisse. Die zitierte Phrase, die der Einleitung der Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie entnommen ist, bereitet dort den wohl berühmtesten Satz Marxens479 vor, auf den hier zu Gunsten einer politischen Integrationsstrategie, dies wird später deutlich, verzichtet worden ist. Stattdessen liegt der Fokus auf der Kompensationsfunktion von Religion gegenüber dem alltäglichen, in der Klassengesellschaft wurzelnden Elend. Mit der Frage nach der Entstehung von Religion entfernt sich der psychologische Ansatz schließlich von der Marx’schen Textvorlage, die seinerzeit auf den bestehenden Staat rekurrierte. Im Schulbuch heißt es: „MARX hat die Religion als das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen bezeichnet, ‚der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat.‘✳ Noch nicht erworben hat sich der Mensch zu der Zeit der ersten Anfänge der Religion in der Urgesellschaft. Er findet sich einer übermächtigen Natur gegenüber, deren Zusammenhang und Wirkung er nur unvollständig zu erfassen und auszunutzen vermag. Aus diesem Verhältnis gegenüber der übermächtigen Natur erklären sich zu dieser Zeit die religiösen Vorstellungen in erster Linie. Im Prozeß des historischen Fortschritts, der sich in der Klassengesellschaft entwickelte, erwirbt der Mensch immer größere Macht und Selbstständigkeit gegenüber der Natur, ‚erwirbt er sich als Mensch‘. Zugleich aber verliert er sich wieder, indem die Macht gegenüber der Natur mit zunehmender Ohnmacht gegenüber der Gesellschaft erkauft wird. Auf diese Weise deckt der Marxismus das Wesen der Religion auf. Und deshalb formuliert Marx als Programm des sozialistischen Atheismus: ‚Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde…‘✳✳“480
Bis auf das Zitat zu Anfang sowie den Verweis am Ende weist der Abschnitt wenig Bezug zum Marx’schen Referenztext auf, der deutlich religionskritischer formuliert worden war.481 Herausstechend ist der Terminus „sozialistischer Athe 479 „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes [alle Hervorh. i. Orig.].“ Marx, zit. n. MEW Band 1 (1976): S. 378. ✳ Zit. n. MEW Band 1 (1956): S. 378. ✳✳ Zit. n. MEW Band 1 (1956): S. 379. 480 Staatsbürgerkunde 3 (1965): S. 144. 481 Dort heißt es: „Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben, oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d’honneur [Ehrenpunkt], ihr Enthusiasmus, ihre
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ismus“, der weder in späteren Schulbuchausgaben noch in führenden Lexika zu finden ist482, und hier einen eigenen Begriff für die Konzeption von Atheismus als Humanismus liefert. Humanismus bildet auch das Stichwort für den zweiten, realpolitisch relevanten Argumentationsteil, der das positive Verhältnis von Marxisten und „allen Gläubigen“ in der DDR herausstellt. Autorisiert werden sollen die Aussagen mit einem Engels-Zitat, durch das der Religionsbegriff endgültig auf das Christentum verengt wird: „Aber die Religion ist nicht nur Ausdruck des Elends, sondern zugleich ‚Protestation‘ gegen das wirkliche Elend [Hervorh. i. Orig.]. ENGELS hebt hervor, daß das Christentum in seinem Ursprung deutlich als Bewegung der Unterdrückten erkennbar ist: ‚…es trat zuerst auf als Religion der Sklaven und Freigelassenen, der Armen und Rechtlosen, der von Rom unterjochten oder zersprengten Völker.‘✳ Daraus ergeben sich wichtige Schlußfolgerungen für die Gestaltung des praktischen Verhältnisses der Marxisten zu allen Gläubigen.“483
Die Parallelisierung von Urchristentum und Arbeiterbewegung bezieht sich auf Engels Schrift Zur Geschichte des Urchristentums von 1894.484 Weitere Bezüge zu der Engels’schen Abhandlung, in der dieser sich mit der zeitgenössischen neutestamentlichen Forschung zur Textgenese auseinandersetzte, um darauf seine Theologie- und Bibelkritik aufzubauen485, erfolgen nicht. Vielmehr stellt der moralische Sanktion ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. […] Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik [alle Hervorh. i. Orig.].“ Zit. n. MEW Band 1 (1976): S. 378 f. 482 Für den wissenschaftlichen Diskurs vgl. stellvertretend das Philosophisches Wörterbuch sowie das Pädagogische Wörterbuch; für die populärwissenschaftliche Bildung vgl. Marxistischleninistische Philosophie, geschrieben für die Jugend sowie Kleines Wörterbuch der marxistischleninistischen Philosophie. ✳ Friedrich Engels: Zur Geschichte des Urchristentums. Zit. n. MEW Band 22. Berlin: Dietz 1963, S. 449. 483 Staatsbürgerkunde 3 (1965): S. 144. 484 In dieser hieß es zu Beginn: „Beide, Christentum wie Arbeitersozialismus, predigen eine bevorstehende Erlösung aus Knechtschaft und Elend; das Christentum setzt diese Erlösung in ein jenseitiges Leben nach dem Tod, in den Himmel, der Sozialismus in diese Welt, in eine Umgestaltung der Gesellschaft.“ Engels, zit. n. MEW Band 22 (1972): S. 449. 485 Vgl. v. a. S. 455–473. Exemplarisch Engels’ Konklusion am Schluss: „Daß die Evangelien und die Apostelgeschichte späte Überarbeitungen von jetzt verlornen Schriften sind, deren schwacher historischer Kern […] heute nicht mehr zu erkennen ist; daß selbst die paar angeblich
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„Walter Ulbricht und Landesbischof Mitzenheim während eines Gespräches auf der Wartburg am 18. August 1964“ Staatsbürgerkunde 3 (1965): S. 145.
Lehrbuchtext die gute Zusammenarbeit zwischen Marxisten und „Gläubigen“ im gemeinsamen „Kampf um die Errichtung einer neuen Gesellschaft“ in den Mittelpunkt und knüpft damit an die in den 1950er Jahren begonnene Dialog-Bewe gung zwischen Kirche und Staat in der DDR an. Diese war entstanden, als die mit der Hoffnung auf baldigen Zusammenbruch des Systems, sich in der Metapher des „Überwinterns“ ausdrückende Verweigerungshaltung der Kirchen nicht mehr aufrecht zu erhalten war.486 Im Schulbuch wird in Text und Bild ausführlich auf ein Treffen zwischen Walter Ulbricht und dem Landesbischof der evangelischen Kirche Thüringens, Moritz Mitzenheim, eingegangen. Das Foto zeigt den Staatschef Ulbricht mit dem Bischof an einem Tisch sitzend im Gespräch. Zitate verleihen der Szene zusätzlich Authentizität: „‚Die gemeinsame humanistische Verantwortung verbindet uns alle‘, sagte Walter ULBRICHT in dem Gespräch mit Landesbischof D. Dr. Moritz MITZENHEIM auf ‚echten‘ apostolischen Briefe […] spätere Schriften oder im besten Fall […] Bearbeitungen älterer Werke unbekannter Verfasser sind, wird nur noch von Theologen von Profession oder anderen interessierten Geschichtsschreibern geleugnet. […] Nur durch die Vermittlung der monotheistischen jüdischen Religion konnte der gebildete Monotheismus der späteren griechischen Vulgärphilosophie die religiöse Form überkommen, worin allein er die Massen er greifen konnte. Aber einmal diese Vermittlung gefunden, konnte er Weltreligion werden nur in der griechisch-römischen Welt und durch Fortentwicklung in und Verschmelzung mit dem durch sie eroberten Gedankenstoff.“ Zit. n. MEW Band 22 (1972): S. 472 f. 486 Vgl. Thiede, Simone (1999): Der Dialog zwischen Religionen und säkularen Weltanschauungen. Dargestellt am Beispiel des christlich-marxistischen Dialogs in der DDR. Frankfurt/ Main u. a.: Peter Lang, S. 25 f.
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der Wartbug am 18. April 1964. Diese verbindende Verantwortung erstreckt sich vor allem auf die Grundfragen der Sicherung des Friedens, der humanistischen Entwicklung, der friedlichen Lösung der deutschen Frage und des Aufbaus des Sozialismus. [Hervorh. i. Orig.] In diesen Fragen herrscht – ungeachtet unterschiedlicher Auffassungen in Fragen der Weltanschauung – nicht nur Übereinstimmung zwischen Marxisten und Christen in der Deutschen Demokratischen Republik, sondern an ihnen erweist sich ehrliche religiöse Überzeugung als eine Triebkraft der Bereitschaft zur Mitwirkung am praktischen Aufbau des Sozialismus. ‚Die Arbeiter kommen auf Grund ihrer sozialen Stellung in der Gesellschaft, Teile der Intelligenz auf Grund philosophischer Gesichtspunkte und Christen auf Grund ihres huma nistischen Standpunktes zum Sozialismus.‘✳“487
Das Treffen fand 1964 auf der Wartburg statt – ein zweites kam 1966 zustande – und wurde von der SED-Führung als Erfolg verbucht, zumal Mitzenheim einer der wenigen, dem Staat offenkundig loyal gegenüberstehenden Kirchenvertreter war, weshalb er innerhalb der evangelischen Kirche äußerst umstritten war. Die Zusammenarbeit stand im Zeichen des Thüringer Wegs, einer Differenzierungspolitik der SED, in der durch Einzelgespräche und Abmachungen die dem System zugewandten Kirchenvertreter von den kritisch-distanzierten unterschieden und demonstrativ als Beispiele für die staatliche Integrationspolitik präsentiert wurden. Der die lutherische Zwei-Reiche- bzw. -Regimente-Lehre vertretende Mitzenheim spielte darin eine Schlüsselrolle.488 Dass Mitzenheim hier mit dem Argument, Christen kämen auf Grund ihres humanistischen Standpunktes zum Sozialismus, zitiert wird, war nicht allein Ausdruck der parteilichen Integrationsoder Differenzierungspolitik, sondern gleichermaßen Signal an die westdeutsche evangelische Kirche. Dort war der Bischof auf Grund seines politischen Engagements in Ungnade gefallen und 1961 aus dem gesamtdeutschen Rat der EKD abgewählt worden. Da die SED ohnehin an einer Spaltung der evangelischen Kirche in Ost und West interessiert war, die mit der Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK, auch: Bund) 1969 auch endgültig vollzogen wurde, suchte sie den Konflikt innenpolitisch zu nutzen. Es ist bemerkenswert, wie der Lehrbuchtext zwischen dem zuvor betonten wesenhaften Unterschied zwischen Marxismus-Leninismus und Christentum bzw. Religion, hier euphemistisch als „unterschiedliche Auffassungen in Fragen der Weltanschauung“ bezeichnet, zu vermitteln versucht, indem die Mitarbeit am sozialistischen Aufbau ✳ Zit. n. Marxisten und Christen wirken gemeinsam für Frieden und Humanismus. Schriftenreihe des Staatsrates der DDR, Heft 5/1964, S. 25. 487 Staatsbürgerkunde 3 (1965): S. 145 f. 488 Vgl. Thiede (1999): Dialog zwischen Religionen und säkularen Weltanschauungen, S. 30 f. Zur detaillierten Analyse des Thüringer Weges und Mitzenheims Rolle vgl. Koch-Hallas, Christine (2009): Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen in der SBZ und Frühzeit der DDR (1945–1961). Eine Untersuchung über Kontinuitäten und Diskontinuitäten einer landeskirchlichen Identität. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, S. 287–347.
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als Beleg für eine authentische religiöse Überzeugung angeführt wird. Zur Bestätigung der Zusammenarbeit wird ein zweiter Kirchenmann in Zeugenschaft genommen, mit dessen Zitiertwerden zum ersten und einzigen Mal im gesamten Lehrbuchkorpus zwei biblische Passagen angeführt werden: „Gemeinsame Ideale und Ziele zwischen Christentum und Sozialismus betonte auch Pfarrer OELZE, als er in einem anderen Gespräch zwischen Repräsentanten unseres Staates und kirchlichen Würdenträgern an das Wort aus dem zweiten Thessalonicher-Brief ‚Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‘✳ sowie an die Prophezeiungen Jessajas und Michas erinnerte, daß die Völker ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen werden.“489
Es mag eine Ironie der Geschichte sein, dass die Redewendung von den Schwertern zu Pflugscharen gut 20 Jahre später zum Leitwort der aus der Friedensbewegung der DDR hervorgegangenen Bürgerrechtsbewegung wurde, die maßgeblichen Anteil am Systemwechsel haben sollte. Im Schulbuch dient die Wendung der Abgrenzung von einem ‚falsch‘ verstandenen Christentum. Sie fungiert damit als Argument in einer eigentlich theologischen Beurteilungs- und Auslegungsdebatte, an der sich die Politik durch Genehmigung des Lehrbuchs indirekt beteiligt: „Die Bereitschaft zum praktischen Zusammengehen wurzelt auch in den historischen Erfahrungen und Lehren des Christentums. […] Da ist die Erfahrung des Mißbrauchs der Religion, des Glaubens und der Gläubigen durch die herrschenden Klassen. ‚Als Mißbrauch des Christentums sehen wir es an, wenn gewisse staatliche, wirtschaftliche oder politische Kreise meinen, sie seien die allein christlichen, wenn sie ihre bestimmte kapitalistische Gesellschaftsstruktur mit den Zielen des Christentums identifizieren‘ betonte Oberkirchenrat Gerhard LOTZ in dem bereits erwähnten Wartburggespräch. Landesbischof D. Dr. Moritz MITZENHEIM warnte, ‚im kalten Krieg kirchliche Dinge als Munition zu verwenden‘✳✳.“490
Dass Lotz seinerzeit als inoffizieller Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) tätig war, rückt im Nachhinein nicht nur die Kooperationspoli✳ Inwiefern das Zitat eine Anspielung auf den Arbeiterführer August Bebel ist, muss an dieser Stelle offenbleiben. Dieser hatte in seinem auch in der DDR verbreiteten Bestseller Die Frau und der Sozialismus unter Verweis auf ebendieses Zitat auf die Übereinstimmung von Sozialismus und Bibel hingewiesen: „Der Sozialismus stimmt mit der Bibel darin überein, wenn diese sagt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ Ders. (1879): Die Frau und der Sozialismus. 21. Kapitel: Grundgesetze der sozialistischen Gesellschaft. 1. Heranziehung aller Arbeitsfähigen zur Arbeit. Berlin/DDR, 62. Auflage, S. 414. (Unter http://www.mlwerke.de/beb/ default.htm, letzter Zugriff am 24.10.2015). 489 Staatsbürgerkunde 3 (1965): S. 146, dort zit. n. Sozialisten und Christen verbinden gemeinsame Ideale und Ziele. Schriftenreihe des Staatsrates der DDR, Heft 5/1961, S. 24 f. ✳✳ Zit n. Marxisten und Christen wirken gemeinsam für Frieden und Humanismus. Schriftenreihe des Staatsrates der DDR, Heft 5/1964, S. 29. 490 Staatsbürgerkunde 3 (1965): S. 146.
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tik der evangelischen Kirche der DDR in ein anderes Licht491, sondern zieht auch dessen Glaubhaftigkeit als Zeuge für die gute Zusammenarbeit von Christen und Marxisten in Zweifel. Bemerkenswert ist, dass die politisch-sozialen Integrationsbemühungen schließlich als Konsequenz des „marxistischen, wissenschaftlichen Atheismus“ gedeutet werden: „Die Propagierung und Organisierung des einheitlichen revolutionären Kampfes der Werktätigen, ungeachtet der weltanschaulichen Differenzen, ist daher auch kein ‚taktischer‘ Winkelzug der Kommunisten, er widerspricht nicht etwa der marxistisch-leninistischen Theorie. Ganz im Gegenteil. Der historische Materialismus lehrt, daß die mächtigste Triebkraft bei der Änderung des Bewußtseins der Menschen der Einfluß der revolutionären Praxis ist. Die ehrlichen Bemühungen um die Gewinnung auch aller Gläubigen für unseren großen Kampf um den gesellschaftlichen Fortschritt ergeben sich geradezu als Konsequenz des marxistischen, wissenschaftlichen Atheismus. Und es ergibt sich weiter, daß Überheblichkeit, Hochnäsigkeit gegenüber gläubigen Bürgern, Verletzung ihrer religiösen Gefühle, Empfindungen und Gewohnheiten nicht nur kein Ausdruck revolutionärer Gesinnung sind, sondern der marxistischen Lehre gröbstens zuwiderlaufen. Glaubens- und Gewissensfreiheit sind in der Verfassung der DDR garantiert [Hervorh. i. Orig.].“492
Auch wenn der „wissenschaftliche Atheismus“ die Menschen einen soll, lässt der Text vermuten, dass mit der „Gewinnung […] aller Gläubigen“ weniger ein tolerantes Nebeneinander von Religiösen und Marxisten gemeint ist und eher deren Umerziehung, wie sie in der Formulierung vom „Einfluß der revolutionären Praxis“ auf die „Änderung des Bewußtseins“ anklingt. Die Diskriminierung religiöser DDR-Bürger wird mit dem Hinweis auf die in der Verfassung der DDR verankerte Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 20 der Verfassung von 1968) zwar verurteilt, entsprach allerdings besonders in den 1950er Jahren der restriktiven religionspolitischen Praxis, die damit der gesetzlichen, damals noch recht ausführlich geregelten Grundlage zuwiderlief.493 491 Ob diese deshalb gänzlich als Produkt der Staatssicherheit angesehen werden muss, war in der Forschung bislang umstritten, vgl. exemplarisch die gegensätzlichen Einschätzungen bei Besier, Gehrhard (1993): Aus der Resistenz in die Kooperation. Der „Thüringer Weg“ zur „Kirche im Sozialismus“. In: Heydemann, Günther/Kettenacker, Lothar (Hg.): Kirchen in der Diktatur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 182–214 und Thiede (1999): Dialog zwischen Religionen und säkularen Weltanschauungen, S. 31. Differenzierter urteilt Koch-Hallas (2009): S. 345–348. 492 Staatsbürgerkunde 3 (1965): S. 146 f. 493 Die juristische Regelung des Verhältnisses von Religion und Staat hat sich zwischen 1949 und 1968 stark verändert, wie der Vergleich der Verfassungen zeigt: In der Ausführung von 1949 zählte die freie Religionsausübung zu den Grundrechten, der Umgang mit „Religion und Religionsgemeinschaften“ wurde in Anlehnung an die Weimarer Verfassung recht ausführlich in insgesamt acht Artikeln (41–48) reguliert, die Erteilung von Religionsunterricht oblag den Religionsgemeinschaften selbst (Art. 40). In der Verfassung von 1968 war Religion kein
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Das hier ausschließlich positiv dargestellte Verhältnis von Christen und Marxisten bildet auch in späteren Lehrbüchern einen festen Bestandteil der Argumentation. Mit ihm verbunden ist eine Differenzierung des Religionsbegriffs, die die Integration von Christen potenziell ermöglicht: „Auch in der Geschichte der christlichen Kirche und Religion haben sich auf der Grundlage des Klassenkampfes zwei gegensätzliche Klassenlinien oder Traditionen herausgebildet und durchgesetzt: eine reaktionäre, den jeweils herrschenden und ausbeutenden Klassen (Sklavenhalter, Feudaladel, Kapitalisten) verpflichtete Tradition und eine progressive humanistische Tradition, die den Kampf der Volksmassen gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg, für Frieden, soziale Gerechtigkeit und ein besseres Leben widerspiegelt und die auch in der sozialistischen Gesellschaft noch weiterwirkt. Es sei hier nur auf die mittelalterlichen Ketzerbewegungen, auf den deutschen Bauernkrieg (Thomas Müntzer) und andere frühbürgerliche Bewegungen verwiesen.“494
Die Differenzierung von christlicher Kirche und Religion unterscheidet die Anhängerschaft in reaktionäre und progressive Kräfte und ermöglicht so partielle gesellschaftliche Integration. Der Verweis auf das Weiterwirken der ‚fortschrittlichen‘ Kräfte in der sozialistischen Gesellschaft ist allerdings bemerkenswert, insofern sich der sozialistische Staat damit ansatzweise in die religionsgeschichtlich bedeutsame Tradition von Ketzerbewegung und Bauernkrieg rückt, die im DDRGeschichtsbild und -unterricht freilich eine eigene Interpretation erfuhren.495 Zumindest ein Teil der christlichen Anhängerschaft wird so aber als möglicher Kooperationspartner rehabilitiert: „Die Klassiker des Marxismus-Leninismus und auch die marxistisch-leninistischen Parteien haben stets sehr genau unterschieden zwischen den reaktionären Kräften, die die christliche Religion zur Rechtfertigung der Herrschaft des kapitalistischen Privateigentums, der Ausbeutung, des Profits und des Krieges mißbrauchten,
eigener Artikel zugedacht: „Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat unabhängig von seiner Nationalität, seiner Rasse, seinem weltanschaulichen oder religiösen Bekenntnis, seiner sozialen Herkunft und Stellung die gleichen Rechte und Pflichten.“ Zur Religionsfreiheit hieß es knapp: „Gewissens- und Glaubensfreiheit sind gewährleistet. Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleich.“ (Art. 20) Offenbar bestand zwanzig Jahre nach der ersten Verfassung keine Notwendigkeit mehr, das Recht auf freie Religionsausübung detailliert zu verankern. 494 Staatsbürgerkunde 11/12 (1971): S. 446. 495 Vgl. Staatsbürgerkunde 11/12 (1971): S. 446. Im Geschichtsunterricht wurde die Erinnerung an Thomas Müntzer mit dem Schlagwort „frühbürgerliche Revolution“ verbunden, wie der Titel des ersten Kapitels im Lehrbuch für Klasse 7 „Reformation und Bauernkrieg in Deutschland als frühbürgerliche Revolution“ zeigt, vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Adolf Laube: Geschichte. Lehrbuch für Klasse 7. Unter Verantwortung des Zentralinstituts für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR entwickelt. Berlin: Volk und Wissen 1989, 1. Auflage, S. 29.
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und jenen Gläubigen, die den Kampf für Frieden, für Demokratie und sozialen Fortschritt unterstützten und damit zu potentiellen Verbündeten der Arbeiterklasse wurden.“496
Das kameradschaftlich-freundschaftliche Moment bleibt für die Verhältnisbestimmung von Marxisten und Christen trotz „mancherlei zeitweilige[r] Konflikte und Auseinandersetzungen mit reaktionären kirchlichen Kräften“ bestimmend. Es wird zusätzlich über ein gemeinsames Ziel formuliert: „in unserer Republik die politisch-moralische Einheit des Volkes zu festigen und für alle Menschen die friedliche Aufbauarbeit gegen imperialistische Anschläge zu sichern.“497 Den Beleg für die Zusammenarbeit bildet die in der DDR formaljuristisch garantierte Religionsfreiheit, so dass es integrierend heißen kann: „Der weltanschauliche Gegensatz zwischen Marxismus-Leninismus und der Religion schließt also keineswegs aus, daß Marxisten und Christen zur Errichtung ihrer gemeinsamen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Ziele, die auf der Grundlage des Sozialismus zutiefst humanistisch sind, in Gemeinschaft und Freundschaft zusammenwirken und einander achten und helfen.“498
Auch hier weist die Betonung einer grundsätzlich möglichen Zusammenarbeit von Marxisten und Christen auf die ab Ende der 1960er Jahre einsetzende Entspannungsphase im Staat-Kirche-Verhältnis hin.499 Der Verweis auf die gute Zusammenarbeit zwischen Marxisten und Christen mag auf den ersten Blick positiv wirken. In der Theorie bleibt die Gegensätzlichkeit von Marxismus-Leninismus und Religion aber wesenhaft und damit unversöhnlich. Ein Ausblick zeigt, dass die inhaltliche Auseinandersetzung mit Religion auch in den Folgeausgaben grundlegend für die Charakterisierung des Marxismus-Leninismus bleibt, aber nicht mehr in einem eigenen Kapitel als Verhältnisbestimmung von Religion und Marxismus verhandelt wird. Der Zugang erfolgt weiterhin über den Marx’schen Bewusstseinsbegriff, Religion ist Teil einer reaktionären Ordnung und Ausdruck eines vereinfachten nicht-materialistischen Weltbildes, wie die in diesem Zusammenhang verhandelte Entstehungsfrage zeigt: „Die Religion entstand auf sehr früher Stufe der Menschheitsgeschichte, auf der Stufe der urgemeinschaftlichen Gentilgesellschaft. Sie war ursprünglich als Naturreligion Ausdruck der Hilflosigkeit und Angst, des ohnmächtigen Ausgeliefertseins 496 Staatsbürgerkunde 11/12 (1971): S. 446. 497 Vgl. Staatsbürgerkunde 11/12 (1971): S. 446. 498 Staatsbürgerkunde 11/12 (1971): S. 447. 499 Ab den 1970er Jahren orientierte die Parteiführung stärker auf Integrationspolitik, und auch das kirchliche Selbstverständnis wandelte sich zur Kirche im Sozialismus. Auf dieser Basis entwickelte sich schließlich der christlich-marxistische Dialog, vgl. Thiede (1999): Dialog zwischen Religionen und säkularen Weltanschauungen, S. 20–40.
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der Menschen an unerkannte Erscheinungen und Kräfte der Natur wie Sonne, Blitz und Donner, Feuer, Erde, Meer, Krankheit, Tod usw. Diese Erscheinungen wurden mit der Zeit, wie die wissenschaftliche Untersuchung der Religion nachgewiesen hat, von ihren unerkannten natürlichen Trägern und Ursachen getrennt, als Geister oder übernatürliche Persönlichkeiten gleichsam verselbständigt, als Götter vorgestellt und verehrt, denen in anthropomorphistischer (vermenschlichender) Weise Bewußtsein und Willen sowie andere, das Leben der Menschen positiv oder negativ beeinflussende Eigenschaften und Fähigkeiten zugesprochen wurden. Mit der Entstehung des Privateigentums an Produktionsmitteln, mit dem damit verbundenen Aufkommen der antagonistischen Klassengesellschaft und der Herausbildung des Staates gingen in der religiösen Vorstellungswelt der Menschen tiefgreifende Wandlungen vor sich. Zu den unerkannten ‚geheimnisvollen‘ Naturmächten gesellten sich nunmehr ebenso unerkannte ‚geheimnisvolle‘ gesellschaftliche Mächte, die personifiziert oder mit überkommenen religiösen Vorstellungen vereinigt und als höhere, göttliche Mächte verehrt wurden. Diese gesellschaftliche Quelle der Religion gewann mit dem Fortschreiten der Produktion, mit der Entwicklung der Klassengesellschaft und der Wissenschaft gegenüber den ursprünglichen naturreligiösen Vorstellungen immer größere und bestimmendere Bedeutung für das religiöse Bewußtsein der Menschen.“500
Der für die Zeit der Stammesgesellschaften des Neolithikums angenommene Ursprung religiöser Vorstellungen wird als Mittel der Angstreduktion psychologisiert und als „Naturreligion“, die übernatürliche Entitäten als Handlungsträger imaginiert und vermenschlicht, kategorisiert. Die Entstehung des Privateigentums wirkt auf die religionsgeschichtliche Entwicklung ein: Die neuen ökonomischen Herrschaftsverhältnisse werden in die religiöse Vorstellungswelt integriert, das ursprünglich angesichts von Naturgewalten empfundene Ohnmachts- und Abhängigkeitsgefühl des Menschen auf Personen oder gesellschaftliche Institutionen übertragen, was diese transzendiert.501 Der Wissenschaftlichkeitsanspruch der dem Text unterlegten ökonomischen Hypothese zur Veränderung und Veränderbarkeit von Gottesbildern basiert auf einem ironisch distanzierten Sprachduktus, der sich in Apostrophierung („geheimnisvoll“) und entsprechender Wortwahl („gesellten“) ausdrückt. Religion ist vor allem mangelnde Kenntnis naturwissenschaftlicher und gesellschaftlicher Zusammenhänge. Die Belegstruktur bleibt dem marxistischen Autoritätstopos verpflichtet. Es sind zumeist Karl Marx oder Friedrich Engels, die, wo es um die wesenhafte Bestimmung, die Entwicklung und gesellschaftliche Bedeutung von Religion geht, in Zeugenschaft treten: 500 Staatsbürgerkunde 11/12 (1971): S. 444 f. 501 Diese Perspektive auf Religionsgeschichte war üblich. Im Eintrag Religion des Philosophischen Wörterbuchs heißt es: „Die Ablösung von Religionen durch andere in der Geschichte ist mit Fortschritten in der materiellen und geistigen Kultur der Völker unlöslich verbunden, mit Wandlungen in den Gesellschaftsordnungen, denen die religiöse Vorstellungswelt angepaßt wird.“ Philosophisches Wörterbuch Band 2 (1971): S. 939.
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„Engels charakterisierte in seiner Auseinandersetzung mit Dühring das Wesen der Religion, den Prozeß der Entstehung der sogenannten Naturreligionen und des Übergangs zu den sogenannten Geschichtsreligionen.✳ ‚Nun ist alle Religion nichts andres als die phantastische Widerspiegelung, in den Köpfen der Menschen, derjenigen äußern Mächte, die ihr alltägliches Dasein beherrschen, eine Widerspiegelung, in der die irdischen Mächte die Form von überirdischen annehmen. In den Anfängen der Geschichte sind es zuerst die Mächte der Natur, die diese Rückspiegelung erfahren und in der weitern Entwicklung bei den verschiednen Völkern die mannigfachsten und buntesten Personifikationen durchmachen. Aber bald treten neben den Naturmächten auch gesellschaftliche Mächte in Wirksamkeit, Mächte, die den Menschen ebenso fremd und im Anfang ebenso unerklärlich gegenüberstehn, sie mit derselben scheinbaren Naturnotwendigkeit beherrschen wie die Naturmächte selbst. Die Phantasiegestalten, in denen sich anfangs nur die geheimnisvollen Kräfte der Natur widerspiegelten, erhalten damit gesellschaftliche Attribute, werden Repräsentanten geschichtlicher Mächte. Auf einer noch weitern Entwicklungsstufe werden sämtliche natürlichen und gesellschaftlichen Attribute der vielen Götter auf Einen allmächtigen Gott übertragen, der selbst wieder nur der Reflex des abstrakten Menschen ist. So entstand der Monotheismus, der geschichtlich das letzte Produkt der spätern griechischen Vulgär philosophie war und im jüdischen ausschließlichen Nationalgott Jahve seine Verkörperung vorfand. In dieser bequemen, handlichen und allem anpaßbaren Gestalt kann die Religion fortbestehn als unmittelbare, das heißt gefühlsmäßige Form des Verhaltens der Menschen zu den sie beherrschenden fremden, natürlichen und gesellschaftlichen Mächten, solange die Menschen unter der Herrschaft solcher Mächte stehn.‘“502
Inhaltlich bringt das Engels-Zitat nichts Neues. Die durch Übertragung und Projektion äußerer Ängste vollzogene Missdeutung von Naturgewalten oder unverstandener gesellschaftlicher Mechanismen als Religion wiederholt das psychologisch-kognitive Argument. Die Zitatstruktur soll den wissenschaftlichen Beleg der Hypothesen zur Religionsentstehung liefern. Dafür muss das Zitierte weder in seiner Historizität eingeführt noch kommentiert werden. Im Gegenteil: Die der Argumentation unterlegte typische Verweisstruktur konstruiert ihre Beweiskraft gerade dadurch, dass die ad-personam-Argumente keine weitere Fundierung erfahren. Nur auf diese Weise kann der Autoritätstopos als Moment der „Überzeugungsbildung“ funktionieren.503 Der Lehrbuchhaupttext resümiert religionskritisch: ✳ Die Begriffe stammen nicht von Engels selbst; im Anti-Dühring ist weder von ‚Natur-‘, noch von ‚Geschichtsreligion‘ die Rede, vgl. Anti-Dühring, zit. n. MEW Bd. 20 (1962): S. 32–135. 502 Staatsbürgerkunde 11/12 (1971): S. 445. 503 In der DDR waren alle öffentlichen Repräsentationen des Staates, zu denen die Schul bücher auf Grund ihrer hohen bildungspolitischen Relevanz unbedingt gezählt werden müssen, stets von Zitaten und auch Abbildungen von gegenwärtig-politischen und historischen
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„Wenn die Religion Jahrtausende hindurch die Köpfe der Menschen beherrscht hat und in großen Teilen der Welt auch noch heute weitgehend beherrscht, so ist dies vor allem im gesellschaftlichen Sein der antagonistischen Klassengesellschaft, in den ökonomischen Verhältnissen dieser Gesellschaft mit ihren verheerenden sozialen Auswirkungen für die breiten Massen begründet. Die Herrschaft des Privateigentums an den Produktionsmitteln, die Spaltung der Gesellschaft in ein Häuflein ‚Herren‘ und in die Masse der ‚Knechte‘, das ist der wahre soziale Boden der Religion seit der Existenz der Klassengesellschaft. Dies gilt von allen Weltreligionen, auch von der christlichen Religion.“504
Zwar stützt sich die marxistisch-leninistische Kritik in ihrem Beispielbestand zumeist auf das Christentum. Der Verweis auf die „Weltreligionen“ macht aber deutlich, dass hier ein Allgemeinbegriff verwendet wird, die Kritik damit als Religions-, nicht als Christentumskritik konzipiert ist. Insgesamt erfolgt die Plausibilisierung der Weltanschauung kontrastiv über die Abgrenzung zu Religion, die dabei zwar als potenzielles Unterdrückungsinstrument verstanden, vor allem aber als Folge mangelnder naturwissenschaftlicher Welterkenntnis expliziert wird. Die Konstruktion einer in Anlehnung an Friedrich Engels505 vorgenommenen gemeinsamen Revolutionsgeschichte von Arbeiterbewegung und Urchristentum hebt allerdings ausdrücklich die progressiven Seiten des Urchristentums hervor. Ganz anders verläuft die Argumentation im letzten Lehrbuch von 1983.
Autoritäten begleitet. Dies zeigt sich im außerschulischen Bereich an prominenter Stelle, etwa SED-Parteikonferenzen, die sich in Text und Bild ebenso auf ihre Autoritäten Marx, Engels und Lenin bezogen wie die Staatsbürgerkundebücher. Im gesamten Schulbuchkorpus bildet der Autoritätstopos jahrgangsübergreifend ein zentrales Argumentationsmoment, vgl. die Analyse zur Staatsbürgerkunde 8 und 9. Zusätzlich und fächerübergreifend wurden die Schüler dazu angehalten, die Verinnerlichung des Autoritätstopos unter Beweis zu stellen, indem sie die Zitate des Staatschefs begründend auf zentrale schulische Aufgabenstellungen anwandten. Im Jahr 1987 lautete eine der schriftlichen Abituraufgaben für das Fach Deutsch, einen Ausspruch Erich Honeckers, in dem Parteilichkeit, Volksverbundenheit und Realismus zu den Beurteilungskriterien gegenwartsbezogener Literatur erklärt wurden, auf ein literarisches Werk anzuwenden. Vgl. Demke, Elena (2007): Indoktrination als Code der SED-Diktatur. In: Schluss, Henning (Hg.): Indoktrination und Erziehung. Aspekte der Rückseite der Pädagogik. Wies baden: VS, S. 41. 504 Anti-Dühring, zit. n. MEW Bd. 20 (1962): S. 294 f. 505 Vgl. Friedrich Engels, Die Entstehung des Urchristentums: „Die Parallele beider geschichtlicher Erscheinungen [Urchristentum und Arbeiterbewegung] drängt sich schon im Mittelalter auf, bei den ersten Erhebungen unterdrückter Bauern und namentlich städtischer Plebejer.“ Zit. n. MEW Band 22 (1972): S. 450.
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c) Stilistik: Radikalisierung des Sprachduktus, satirische Religionskritik und die Natürlichkeit des Atheismus Die letzte Ausgabe der Staatsbürgerkunde lässt eine Multiplikation von Religion erkennen506, die vergleichbar auch für das Unterrichtsfach Geschichte festzustellen ist.507 Den argumentativen Ausgangspunkt der Religionskritik bildet die zugespitzte Konzeption von Religion als falscher Beantwortung der „Grundfrage der Philosophie“, während die materialistische als richtige, da natürliche Anschauung der Welt, anzusehen ist. Stilistisch neu ist, dass die Kritik über das Satirische als Stilmittel aufgebaut wird. Religion war zuvor euphemistisch als unterschiedliche weltanschauliche „Auffassung“ bezeichnet, ihre Überwindung in die medizinische Metapher eines Gesundwerdungsprozesses gekleidet und damit als Krankhaftigkeit freilich nicht weniger radikal beschrieben worden, auch wenn die Rede von der Zusammenarbeit von Marxisten und Christen den Duktus der staatlichen Integrationspolitik in die Lehrbücher trug. Ironisierung und satirischer Ton bilden eine neue Qualität in der Auseinandersetzung, deren
506 Im Sachregister werden unter dem entsprechenden Stichwort elf Textstellen verzeichnet, im Inhaltsverzeichnis findet sich aber kein Eintrag mehr, wie es in der vorigen Ausgabe von 1971 mit der Kapitelüberschrift „Das religiöse Bewußtsein“ der Fall war, vgl. Staatsbürgerkunde. Einführung in die marxistisch-leninistische Philosophie. Autorenkollektiv der Akademie für Gesellschaftswissenschaft beim ZK der SED Erich Hahn, Alfred Kosing, Frank Rupprecht. Berlin: Dietz, 1. Auflage. 507 In Geschichte 5 (Antike) kommt Religion als antiker „Fruchtbarkeitskult“ sowie – recht breit ausgeführt – als „Jagdzauber“ vor allem im Rahmen des Themas Rolle der Priester und der Religion im altbabylonischen Reich vor (vgl. Geschichte 5 [1966]: S. 53). Zentral verhandelt wird auch die antike Religionskritik, maßgeblich die Kritik Xenophanes’ an der religiösen Weltdeutung der Griechen (ebd. S. 93). Im Lauf der Jahre ergeben sich einige thematische Veränderungen. Nachdrücklicher wird das Motiv von Religion als Unterdrückungsmoment gepflegt („Beweise mit Hilfe der Abb. auf S. 59, daß Könige und Priesterfürsten die Religion benutzten, um ihre Herrschaft zu festigen!“ Vgl. Geschichte 5 [1971]: S. 60). „Die Rolle der Religion“ in Mesopotamien wird eigens verhandelt (vgl. Geschichte 5 [1984]: S. 50). Im Lehrbuch von 1988 kommt neu hinzu: „Die Entstehung und Ausbreitung des Christentums“, vgl. ebd., S. 88. In Geschichte 6 (Mittelalter) kommt Religion vor allem im Rahmen der Ausbreitung des Christentums (Chlodwig tritt zum Christentum über, ebd. [1968]: S. 41 f.), der frühmittelalterlichen Kunst und Dichtung (ebd. S. 69), Ketzerbewegungen (149–151) sowie Reformation und Bauernkrieg (175–186) vor, um die Missstände in der Kirche aufzudecken. Später kommt der Islam als Thema hinzu (vgl. Geschichte 6 [1978]: S. 86–90; 96 f.; noch deutlicher: Geschichte 6 [19902]: S. 98–102). In Geschichte 7 (Reformation und Bauernkrieg, 15. bis Mitte 19. Jh.) ist Religion über einen langen Zeitraum kein Thema. Mit der zweiten Ausgabe des Lehrbuchs, die allerdings erst 1985 folgte, änderte sich dies. 1989 durchzieht Religion das Lehrbuch, das mit Reformationen und Bauernkrieg kirchenhistorische Themen aufgreift, die freilich in marxistischer Tradition gedeutet werden (vgl. ebd. S. 5–28, S. 29–32, 61 f.). Geschichte 8 und 9 sind für das Thema Religion nicht ergiebig. Erst in Geschichte 10 wird mit der Thematisierung des Lutherjubiläums von 1983 erneut die Reformation aufgegriffen, dann allerdings als Beleg für den Humanismus der DDR geltend gemacht (vgl. Geschichte 10 [1989]: S. 291 f.).
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desintegrative Züge offenbar politisch gewollt waren.508 Ein Religion lächerlich machendes Schulbuch ist aus heutiger Sicht politisch bemerkenswert und ein historisch interessantes Phänomen, zumal Satire und Ironie keine üblichen Stilmittel einer in Schulbüchern vertretenen Religionskritik bilden.509 Inhaltlich bereiten sie die Thematisierung des Atheismus vor. Mit der „Grundfrage der Philosophie“ wird die Konfliktgeschichte von Idea lismus und Materialismus auf einen Terminus verdichtet, mit dem die Religionskritik in ihrer weltanschaulichen Konsequenz formuliert wird, denn: „Die Antwort auf die Grundfrage der Philosophie bestimmt den Charakter der ganzen Weltanschauung.“510 Es war Friedrich Engels, der in seiner Schrift Ludwig Feuer bach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie das Verhältnis zwischen beiden philosophischen Strömungen auf die Frage nach dem Ursprünglichen – Geist oder Natur – reduzierte und konstatierte: „[D]iese Frage spitzte sich, der Kirche gegenüber, dahin zu: Hat Gott die Welt erschaffen, oder ist die Welt von Ewigkeit da?“ Er gelangte zu der Folgerung: „Je nachdem diese Frage so oder so beantwortet wurde, spalteten sich die Philosophen in zwei große Lager. Diejenigen, die die Ursprünglichkeit des Geistes gegenüber der Natur behaupteten, also in letzter Instanz eine Weltschöpfung irgendeiner Art annahmen […] bildeten das Lager des Idealismus. Die andern, die die Natur als das Ursprüngliche ansahen, gehören zu den verschiednen Schulen des Materialismus.“511
Die Prämissen des Materialismus – die Materialität und Erkennbarkeit der Welt – bilden die Perspektive, unter der im Lehrbuch die weltanschauliche Plausibilisierung des Materialismus als Abgrenzungsbewegung erfolgt: „Lange Zeit glaubten die Menschen unter dem geistigen Einfluß verschiedener Religionen, die Welt sei ‚am Anfang‘ von einem überweltlichen Wesen, von Gott, ‚erschaffen‘ worden.“512 Über die Kombination der an die einleitende Phrase ‚Es war einmal‘ erinnernden Einstiegsworte „lange Zeit“ mit dem Imperfekt des Verbums „glauben“ wird die 508 Die strenge politische Kontrolle, die jedes neue Schulbuch durchlaufen musste, macht es unwahrscheinlich, dass die satirische Religionskritik und ihr ausgrenzender Charakter ein Versehen waren. Vielmehr verweist jeder Schulbuchinhalt auf die Politik. 509 Monika Tworuschka weist allerdings auf den tendenziösen Gehalt westdeutscher Religionsschulbücher der 1970er Jahre hin, in denen Satirisches mitunter als vermeintlich erheiternde Elemente verwendet wurden. Ihre Beispiele beziehen sich auf den Islam, der in den Lehrbuchtexten ins Lächerliche gezogen wird, vgl. Tworuschka, Udo (1982): Methodische Zugänge zu den Weltreligionen. Einführung in Unterricht und Studium, unter Mitarbeit von Monika Tworuschka. Frankfurt/Main u. a.: Diesterweg, S. 40. Damit wird Amüsement zum zentralen Lehrziel, nicht die Erklärung eines (religiösen) Sachverhalts. 510 Staatsbürgerkunde Einführung Philosophie (1983): S. 38 und 41. 511 Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, zit. n. MEW Band 21. Berlin: Dietz, 5. Auflage 1975, S. 274–282, hier: 274 f. So auch im Lehrbuch zitiert, vgl. Staatsbürgerkunde Einführung Philosophie (1983): S. 40. 512 Staatsbürgerkunde Einführung Philosophie (1983): S. 39.
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Schöpfungsidee als falsche Weltsicht historisiert. Die Rede vom „geistigen Einfluß“ der Religionen deutet die marxistische Perspektive auf Religion als Machtund Herrschaftsinstrument an. Stilistisch verstärken Anführungszeichen und Konjunktiv den Zweifel am religiösen Weltbild. Satirisch heißt es weiter: „Noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts [sic!]✳ schrieb John Lightfoot, ein Vizekanzler der berühmten englischen Universität Cambridge: ‚Himmel und Erde sowie der Mensch wurden von der heiligen Dreieinigkeit im selben Augenblick erschaffen. Dies geschah am 23. Oktober viertausendundvier vor Christi Geburt um neun Uhr morgens.‘ Welche allgemeine philosophische Auffassung kommt in dieser – uns heute nur noch erheiternden, zum Lächeln anregenden – Behauptung zum Ausdruck? Dieser naive Schöpfungsglaube stellt der Welt, der Natur den Geist in Gestalt eines Gottes als Ursprung gegenüber. Der Geist ist nach dieser Auffassung das Erste, und er bringt die Natur hervor, er erschafft sie.“513
Auch hier wird der Schöpfungsglaube vermittels der einleitenden Formulierung zuerst historisiert und durch das Zitat ironisiert. Dieses bildet eine Kuriosität, insofern sich an keiner anderen Stelle des Lehrbuchs ein vergleichbarer Rückgriff findet. Es ist auffällig, dass neben Marx und Engels für den Bereich Religion ausgerechnet Lightfoot sprechen gelassen wird. Über die Gründe für die Auswahl des Zitats kann allerdings nur spekuliert werden: Wollten die Lehrbuchverantwortlichen die noch verbleibende religiöse Schülerschaft gezielt ausgrenzen oder das Schulbuch lediglich über die Polemik humorvoll gestalten? Feststeht, dass mit der Satire ein vollkommen anderer Ton angeschlagen wird, als dies in der Lehrbuchübersetzung von 1963 der Fall war, wo die Rhetorik durch die wütende Rede und Pathologisierung des Religiösen im sozialistischen Organismus geprägt war.514 Dass die idealistische Philosophie durch ihr naives Schlussfolgerungspotenzial lediglich erheitere, bleibt allerdings zweifelhaft. Die Leserlenkung spricht eine andere Sprache: Die rhetorische Frage deutet einen möglichen Reflexionsspielraum des Schülers zwar an, dieser wird im darauffolgenden Kommentar aber sofort reguliert. Die als Frage formulierte Äußerung ist durch einen doppelten Kommentareinschub sowie das Urteil „naiver Schöpfungsglaube“ als Abwertungsstrategie gekennzeichnet, wo✳ Das hier angeführte, falsch datierte und zugeordnete Zitat bezieht sich auf den britischen Theologen John Lightfoot (1602–1675), der vermutlich auf Grund einer Verwechslung mit dem gleichnamigen Botaniker ins 18. Jahrhundert eingeordnet wurde. Die Datierung der Weltentstehung auf den 23. Oktober stammt ursprünglich nicht von Lightfoot selbst. Zwar hatte er 1642 Berechnungen zum Weltalter angestellt und dabei den Tageszeitpunkt auf 9 Uhr morgens festgelegt. Das im Schulbuch zitierte Datum geht aber auf den irischen Erzbischof James Ussher (1581–1656) und seine 1650 veröffentlichten Annales veteris testamenti zurück. Auf Grund der mangelnden bibliographischen Angaben ist die dem Schulbuchzitat zugrunde gelegte Übersetzung auch über den historischen Fehler nicht mehr eruierbar, die Fehlerquelle lässt sich somit nicht zuordnen. 513 Staatsbürgerkunde Einführung Philosophie (1983): S. 39. 514 Vgl. den Abschnitt zur Überwindung von Religion als Genesung des Kollektivs in diesem Kapitel.
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Staatsbürgerkunde (1983): S. 39.
mit der Leser über die ideale Deutung des Textausschnittes keinen Moment im Unklaren bleibt. Grafisch ergänzt wird die Aussage durch eine Karikatur am Seitenrand, die den (alt-)väterlichen Gott mit schwebendem Heiligenschein, angedeutetem Vollbart und Glatze zeigt, der eine als Säugling dargestellte Erde auf dem Arm hält und mit einer Flasche füttert. Über einen stilistischen Bruch Der an die Satire anschließende Textteil führt in die materialistische Philosophie ein, und greift dafür erneut die Geg-nerschaft zu Schöpfungs- und Gottesvorstellungen auf:
„Im Gegensatz zu solchen Anschauungen haben zahlreiche Philosophen und Wissenschaftler die Auffassung vertreten, daß die materielle Welt keinen ‚Ursprung‘, keinen Anfang hat, daß sie ewig sich bewegende Materie ist. Sie ist folglich von keinem Geist erschaffen worden, vielmehr ist alles, was wir Geist nennen, das heißt das menschliche Bewußtsein, das Denken und mit diesem auch die Vorstellung eines Gottes, ein Entwicklungsprodukt der Materie, der Natur und der Gesellschaft.“515
Das stellvertretend für idealistische Weltdeutungen stehende Christentum ist mit der wissenschaftlichen Weltsicht fundamental unvereinbar.516 Interessanterweise wird dies in der Unterrichtshilfe nicht weiter kommentiert. Dort stehen die erkenntnistheoretischen Aspekte des Lernstoffes im Vordergrund, ohne dass auf die Rhetorik eingegangen würde. Im Gegenteil heißt es an entsprechender Stelle gar: „Aus der Erkenntnis, daß der philosophische Idealismus in der Geschichte häufig die Anschauung reaktionärer Klassen war, darf bei den Schülern jedoch nicht der Eindruck entstehen, daß alle Vertreter idealistischer Auffassungen politisch reaktionär sind oder der philosophische Idealismus einfach Unsinn sei. […] Außerdem sollen die Schüler verstehen, daß Marxisten und Christen in der Praxis, insbesondere im Kampf um die Sicherung des Friedens, eng zusammenarbeiten können.“517
Die mangelnde pädagogische Reflexion des religionskritischen Sprachduktus ist bemerkenswert: Die Auswahl eines aus dem 17. Jahrhundert stammenden Zi 515 Staatsbürgerkunde Einführung Philosophie (1983): S. 39. 516 So heißt es denn auch: Die idealistische Antwort auf die Grundfrage der Philosophie „befindet sich im Gegensatz zu den Resultaten der Wissenschaften und der Praxis und trägt deshalb tatsächlich den Charakter einer unwissenschaftlichen Glaubensentscheidung.“ Staatsbürgerkunde Einführung Philosophie (1983): S. 44. 517 Staatsbürgerkunde Abiturstufe. Unterrichtshilfen. Autorenkollektiv unter der Leitung von Gisela Diecke. Berlin: Volk und Wissen 1985, 1. Auflage, S. 25. Weder in der Übersichtsgliederung für die Unterrichtsstunde noch in den Hinweisen und Materialien zur Unterrichtsgestaltung wird auf den ironischen Sprachduktus verwiesen, vgl. ebd. S. 29 und 33–35.
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tats, das historisch nicht kontextualisiert, wohl aber als prototypische religiöse Aussage präsentiert wird, ist auch schul- und unterrichtspolitisch als Radikalisierung deutbar, insofern religiöse Schüler hier nachweislich im Lehrtext diskriminiert werden.518 Es liegt nahe, dies auch als Ausdruck der innenpolitischen Probleme der DDR Anfang der 1980er Jahre zu lesen, die sich stilistisch in den Schulbüchern durch verstärkte Polemik, Wiederholung zentraler marxistischleninistischer Lehrsätze und Ironisierung niederschlagen und demnach als Radikalisierung anzusehen sind. Mit dem radikalisierten Sprachstil verbunden ist die Thematisierung des Atheismus. Zwar verbleibt die philosophiegeschichtliche Darstellung von Materialismus und Idealismus in ihren Grundzügen, neu ist aber die Kennzeichnung des Materialismus als atheistischer Philosophie sowie die Qualifizierung religiöser Vorstellungen als „Aberglaube“: „Der Materialismus ist seinem Wesen nach atheistisch [Hervorh. i. Orig.] und ein Gegner der Religion und jeden Aberglaubens.“519 Wie für die letzte Ausgabe der Staatsbürgerkunde 10, lässt sich auch hier eine gesellschaftliche Relevanz von Religion vermuten, auf die der Lehrtext mit Satire und dem Populärbegriff Aberglaube reagiert.520 Religion, der als Problem der Gegenwart in den Schulbüchern Rechnung getragen wird, ist somit kein rein historisches Phänomen mehr, wie in der theoretischen Grundlegung des Materialismus behauptet. Besonders ist aber die Verwendung des Atheismusbegriffs. Zwar ist dieser dem Text vor allem im Abschnitt zu Materie und Bewegung als logische Folge der materialistischen Weltsicht unterlegt, bislang wurde er jedoch vermieden.521 Ver 518 Freilich waren religiöse Schüler im Schulalltag vielfach Druck ausgesetzt, zum Beispiel wenn es um die Frage sozialistische oder kirchliche Weihe ging. Auch der Eintritt in die staatlichen Jugendorganisationen wurde als obligatorisch angesehen. Christen konnten nur unter Schwierigkeiten eine höhere Schullaufbahn einschlagen oder studieren. 519 Staatsbürgerkunde Einführung Philosophie (1983): S. 42; im Sachregister wird auf diese Textstelle als einzige verwiesen. 520 Vgl. den Abschnitt zum Religionsdiskurs der DDR in Kapitel 5. Dass der Begriff Populärphänomene bezeichnet und damit nicht zu den Grund- und Fachtermini der offiziellen wissenschaftlichen Marxismusdebatte gehörte, belegt auch der Eintrag im Philosophischen Wörterbuch, Band 1 (1971): S. 36 f. In Populärnachschlagewerken ist Aberglaube ein gleichwertiger Begriff, vgl. Buhr, Manfred/Kosing, Alfred (Hg.) (1974): Kleines Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie. Berlin: Dietz, S. 12; Heyden, Günter/Mollnau, Karl A./Ullrich, Horst (1959): Vom Jenseits zum Diesseits. Wegweiser zum Atheismus, Band I. Leipzig: Urania, 1. Auflage, S. 7. Aberglaube bildet den ersten Eintrag des Nachschlagewerks. 521 Vgl. Lehrbuch Staatsbürgerkunde 11/12 (1971) Weder an entsprechender Stelle in Kapitel 4, S. 114–119, noch im Stichwortverzeichnis wird der Begriff Atheismus verwendet. Er taucht lediglich ein einziges Mal in einem historischen Zusammenhang, im Rahmen der Darstellung des französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts, auf: „Mit äußerster Schärfe und größtem Mut griffen die französischen Materialisten die reaktionäre Theologie und Philosophie der Kirche und des Feudalismus an, brandmarkten offen die im Namen der Religion verübten Gewalttaten und propagierten einen bürgerlichen Atheismus.“ Vgl. ebd., S. 57 f.
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fassungsmäßig galt die DDR denn auch nicht als atheistischer Staat, auch wenn sie sich in die philosophische Tradition des Materialismus stellte.522 Dementsprechend diffizil war das Thema Atheismus für den internen Marxismusdiskurs: In der DDR-Philosophie weniger Legitimationsmoment und eher problema tischer Grenzbereich523, fand sich der Terminus in Standardwerken wie beispielsweise im Titel der mehrbändigen Geschichte der Aufklärung und des Atheismus (1966–1989) von Hermann Ley, dessen Arbeit neben Mauthners vierbändiger Darstellung524 noch heute als die zweite Universalgeschichte des Atheismus des 20. Jahrhunderts gilt. Indem Ley Atheismus zum konzeptuellen Ausgangspunkt einer alternativen Geschichtsschreibung zum „christlichen Abendland“ wählt, entwirft er eine eigene Traditionsgeschichte, von denen auch gegenwärtige Entwürfe konzeptionell und narrativ abhängig sind.525 Was sein Werk für die vorliegende Untersuchung zudem relevant macht, ist seine Sprecherposition: Aus der Innensicht eines politischen Systems formuliert und in der Tradition der Klassiker der Kommunismusgeschichte verortet, trifft der Autor spezielle themati 522 Keine der insgesamt drei DDR-Verfassungen (1949, 1968 und 1974) formuliert Atheismus als Staatsgrundlage der DDR, auch der Eintrag im Philosophischen Wörterbuch lässt, obwohl eine „atheistische Propaganda“ dort explizit als „objektiv notwendiger Bestandteil des Kampfes gegen den politischen Klerikalismus und den Mißbrauch der Religion durch die Ausbeuterklassen wie für die Freimachung aller schöpferischen Talente und Energien des Volkes im Kampf um die neue, menschliche Gesellschaft“ gefordert wird, eine juristische Fundierung vermissen. Im Gegenteil heißt es: Die atheistische Propaganda „berührt nicht die Frage der vollen Glaubensfreiheit und der ungehinderten Religionsausübung, die in allen sozialistischen Staaten verfassungsmäßig garantiert und geschützt ist.“ Vgl. Band 1 (1971): S. 125–129, hier: 129. Vgl. dazu auch Thiede, Simone (1999): Dialog zwischen Religionen und säkularen Weltanschauungen, S. 64. 523 Manfred Lauermann spricht vom „ungeliebten Stiefkind“, vgl. ders. (2006): Der Atheismus – das ungeliebte Stiefkind der DDR-Philosophie. In: Faber, Richard/Lanwerd, Susanne (Hg.): Atheismus. Ideologie, Philosophie oder Mentalität? Würzburg: Königshausen und Neumann, S. 121–147. Auch Horst Groschopp verweist auf einen sparsamen Gebrauch des Begriffs. Vgl. ders. (2007): Atheismus und Realsozialismus in der DDR. In: Säkulare Geschichtspolitik. Humanismus aktuell, Heft 20. Berlin, S. 67–83, hier: 68–71. Die Tatsache, dass die westliche Rezeption von einer zentralen Bedeutung des Atheismus für den DDR-Marxismus ausging, interpretiert er als bewusste interessengeleitete Verkennung, vgl. ebd., S. 70. Groschopps kenntnisreiche Darstellung liefert, obwohl an einigen Stellen offen parteiisch, wertvolle Hinweise zum DDR-internen Atheismusdiskurs. 524 Vgl. Mauthner, Fritz (1920–1923): Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt. 525 So die Historikerin Dorothea Weltecke, die sowohl Mauthners als auch Leys fünfbändige, in neun Teilen veröffentlichte Weltgeschichte des Atheismus als Monumentalerzählungen bezeichnet, die Atheismus – auch wenn sich der Autor nicht auf den Begriff festlegt, sondern in seine Betrachtung religiöse Dissidenten wie Waldenser und Katharer einbezieht – zum Ausgangspunkt einer alternativen Traditionsgeschichte Europas machen. Erst im 20. Jahrhundert entstanden, unter Verwendung des Begriffs als systematischem Zugang, Gesamtgeschichten des Atheismus. Vgl. dies. (2010): Der Narr spricht, es ist kein Gott. Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit. Frankfurt/New York: Campus, S. 71–75.
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sche Gewichtungen, etwa wenn Reformkritiker mit Oppositionellen gleichgesetzt werden. Als Philosoph und Professor für Dialektischen und Historischen Materialismus an der Technischen Universität Dresden, später an der Humboldt-Universität zu Berlin für Probleme der Naturwissenschaften zuständig, „hatte Hermann Ley die Macht, der neuen Weltanschauung eine universalgeschichtliche Gültigkeit zu verleihen.“526 Daneben behandelten vor allem Populärlexika das Thema Atheismus: Das Nachschlagewerk Vom Jenseits zum Diesseits (1959–1962) trug den Untertitel Wegweiser zum Atheismus und positionierte sich damit als Ratgeberliteratur. Auch das Philosophische Wörterbuch verfügte über einen entsprechenden Eintrag. Allerdings waren die meisten der hier angeführten Werke der ersten Hälfte der 1960er Jahre zuzuordnen und sind insofern Produkte der im Kontext der Zuspitzung des kalten Krieges geführten Atheismusdebatten. Nach dem Mauerbau kam die Atheismusforschung nahezu zum Erliegen.527 So wurde der einzige Lehrstuhl für Wissenschaftlichen Atheismus in der DDR, der Anfang der 1960er Jahre in Jena installiert wurde und vom Religionssoziologen Olof Klohr besetzt war, nach wenigen Jahren aufgelöst und entsprechende Forschung nur von einer geringen Anzahl an Experten an geografisch marginalen Orten vorangetrieben.528 Der Versuch, Atheismus als Forschungsschwerpunkt innerhalb der universitären Landschaft der DDR zu etablieren, wie es in der Sowjetunion der Fall war529, scheiterte endgültig mit dem Ende der Ulbricht-Ära.530 Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass der ansonsten keine nennenswerte Rolle für die Lehrbücher spielende Atheismus in der Ausgabe on 1983 explizit thematisiert wird. In der weiteren Argumentation wird die atheistische Weltanschauung in Abgrenzung zu Religion über die Rede vom „gesunden Menschenverstand“ als natürlich plausibilisiert: „Das Grundprinzip des Materialismus in allen seinen verschiedenen geschicht lichen Formen besteht darin, die objektive Welt so zu betrachten, wie sie wirklich ist, ohne erdachte phantastische Annahmen, ohne übernatürliche Spekulationen. […] Die materialistische Auffassung befindet sich damit in voller Übereinstimmung mit den praktischen Erfahrungen der Menschen, mit dem gesunden Menschenverstand, aber auch mit der Wissenschaft. Im Grunde denkt ja jeder vernünftige Mensch, der mit dem praktischen Leben und der Wissenschaft verbunden ist, spontan materialistisch.“531 526 Weltecke (2010): Der Narr spricht, S 71. 527 Vgl. Lauermann (2006): Der Atheismus, S. 128–130. Atheismus als Populär- und Forschungsthema hatte vor allem in den 1950ern und der ersten Hälfte der 1960er Jahre Konjunktur. 528 Vgl. Lauermann (2006): S. 121, auch Thiede (1999): S. 288 f. 529 Vgl. dazu als eine der wenigen systematischen religionswissenschaftlichen Arbeiten immer noch Thrower, James (1983): Marxist-Leninist „scientific atheism“ and the study of religion and atheism in the USSR. Berlin: Walter de Gruyter. 530 Vgl. Lauermann (2006): Der Atheismus, S. 134. 531 Staatsbürgerkunde Einführung Philosophie (1983): S. 49.
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Der „gesunde Menschenverstand“532 allein genügt aber nicht zur richtigen Beant wortung der Frage nach der Weltentstehung. Erst in Kombination mit dem philosophischen Materialismus gelangt der Mensch zu „natürlichen“ Erkenntnissen: „Der Materialismus hat bereits eine lange Geschichte. Er entstand zusammen mit dem philosophischen Denken, welches versuchte, die Welt auf natürliche Weise zu erklären, im Gegensatz zum religiös-mythologischen Denken, welches die Welt auf das Wirken übernatürlicher Kräfte zurückführte.“533
Die Argumentation basiert auf einer anthropologischen Prämisse: In der Schlussfolgerung, dass die Materie und damit auch die materialistische Weltdeutung natürlich seien, womit das Natürliche das Materialistische, nicht das Religiöse ist, wird die marxistische Anthropologie aufgegriffen, die sich – das geht zumindest aus dem Eintrag des Philosophischen Wörterbuchs hervor – gegen die als bürgerlich abgelehnte „philosophische Anthropologie“ vor allem Max Schelers sowie dessen theologisches Menschenbild richtet.534 Aus der Gottesleugnung wird die Ablehnung jeglicher Religion geschlussfolgert: „In seiner konsequent materialistischen Form führt er [der Pantheismus] zum Atheismus, zur Leugnung Gottes und damit zur Verwerfung jeder Religion.“535 Das zuvor implizierte weite Atheismusverständnis wird dadurch von einem (mono)theistisch geprägten Religionsverständnis überlagert.
Zusammenfassende Analyse: Sozialismus und Religion als Gegennarrative Der Marxismus-Leninismus wird in Klasse 11/12 als wissenschaftliche Weltanschauung wesentlich über die Abgrenzung zu Religion konstruiert. Dem als systematisierender Philosophielehrgang konzipierten Schulbuch ist die Opposition von Religion und Wissenschaft als narrative Struktur unterlegt, die über die Darstellung von Materialismus und Idealismus als Gegensatz und Ausdruck entgegen gesetzter Klasseninteressen expliziert wird. Handlungsanweisungen hingegen, wie sie im Lehrbuch der zehnten Klasse mit der ausführlichen Erläuterung des sozialistischen Moralkodex und seiner Verhaltensnormen gegeben wurden, umfasst das Schulbuch kaum noch. Stattdessen wird Weltanschauung theore 532 Der Terminus wird weder philosophiegeschichtlich eingeordnet noch erläutert. Er ist als Verweis auf die britische Common-sense-Philosophie lediglich durch einen sehr knappen Eintrag im Philosophischen Wörterbuch rekonstruierbar (vgl. Philosophisches Wörterbuch Band 1 (1971): S. 214. Sowohl im Register des Schulbuchs als auch in Schülerlexika fehlt ein Eintrag zu den Begriffen „gesunder Menschenverstand“ bzw. „commen-sense“. 533 Staatsbürgerkunde Einführung Philosophie (1983): S. 50. 534 Vgl. Artikel Anthropologie, in: Philosophisches Wörterbuch Band 1 (1971): S. 77, v. a. 78. 535 Staatsbürgerkunde Einführung Philosophie (1983): S. 51.
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Zusammenfassende Analyse
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tisiert. Dies ändert freilich nichts daran, dass die Staatsbürgerkunde methodisch als ‚Bekenntnisunterricht‘ konzipiert blieb: „Der Unterricht soll dazu beitragen, den Schülern begründete Maßstäbe für ihr Verhalten und Handeln als Staatsbürger der Deutschen Demokratischen Republik im Sinne der von der Partei der Arbeiterklasse gegebenen Orientierung zu vermitteln. Er soll weltanschauliche und politisch-ideologische Voraussetzungen für ihre bewußte und aktive Teilnahme an der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik, für die Erfüllung ihrer Pflichten bei der Stärkung und Verteidigung des Sozialismus entwickeln helfen.“536
Auf der narrativen Ebene macht sich die Veränderung zum philosophiegeschichtlichen und marxismustheoretischen Lehrgang deutlich bemerkbar, wie das Beispiel Arbeit zeigt: Der Wert der sozialistischen Arbeit war in den Klassen 7 bis 10 über Erlebnisberichte, die das Moment der inneren Wandlung durch Arbeit fokalisieren, vermittelt und als Wendepunkt im Leben einer Figur gedeutet worden. Die sozialistische Gemeinschaft wurde damit zur erlebbaren Größe, ihr Verheißungscharakter erst über das Narrativ darstellbar. In der elften und zwölften Klasse weicht die narrative Präsentation – das sowjetische Lehrbuch Gesellschaftskunde bildete eine Ausnahme – weitgehend der theoretischen und philosophischen Explikation, deren Form dem Schema ‚vom Mythos zum Logos‘ folgt. Mit dem Bild der sozialistischen Gemeinschaft als Organismus bedient sich die Lehrbuchdarstellung allerdings gezielt einer konventionellen metaphorischen Vermittlungsstruktur aus der politischen Literatur537, in die die Überwindung von Religion als Gesundwerdungsprozess des Kollektivs argumentativ eingespeist wird. Inhaltlich wird Religion als Gegensatz zu Materialismus und Marxismus-Leninismus konzeptualisiert: Religiöse Institutionen wie die Kirche oder religiöse Inhalte wie der Gottesglaube stehen für eine alte, zu überwindende Ordnung, der Materialismus hingegen für eine moderne naturwissenschaftliche Weltsicht. Die im Rahmen der Verhältnisbestimmung von Marxismus und Religion dargelegte marxistische Religionskritik liefert die Grundlage für das theoretische Konzept von Religion als Bewusstseinsform: Weder existiert ein homo religiosus, noch ist das Religiöse eine natürliche Disposition des Menschen, sondern ein Produkt des Bewusstseins und damit ein sekundäres, im „Überbau“ einer Gesellschaft zu verortendes Phänomen, das die materiellen Verhältnisse der Gesellschaft widerspiegelt. Daneben fungiert das religiöse Bewusstsein auch als Deutungskategorie, mit der Ereignisse in Natur, Gesellschaft und persönlichem Leben als göttliches 536 Vgl. Lehrplan Staatsbürgerkunde Abiturstufe. Unterrichtshilfen. Berlin: Volk und Wissen 1980, 2. Auflage, S. 6 537 Vgl. Meyer, Urs (2007): Bilder/Tropen. In: Anz, Thomas (Hg.): Handbuch Literatur wissenschaft Band 1. Stuttgart: Metzler, S. 104.
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Wirken interpretiert und damit auf freilich falsche Kausalzusammenhänge zurückgeführt werden. Aber wie erklärt sich dann die Existenz von Religion in der kommunistischen und sozialistischen Gesellschaft? Die marxistische Wesensfrage gibt hierauf folgende Antwort: Als Ausdruck des sozialen Protests einerseits und als Erklärungsansatz für bestimmte Gefühle und Erfahrungen andererseits hatte Religion in der Vergangenheit durchaus wichtige Funktionen für den Menschen, zum Beispiel als Kompensation existentieller Angst angesichts von als übermächtig erlebten Naturereignissen oder als Hoffnungsträger für ein besseres Leben im Jenseits, wenngleich die Bedeutung von Religion für die Frage nach dem Umgang mit dem Tod ausgeklammert wird. Die gesellschaftspolitisch relevante Verhältnisbestimmung von Christen und Marxisten in der DDR relativiert die marxistische Religionskritik insofern, als dass die gute Zusammenarbeit zumindest mit einigen der christlichen Vertreter die Differenzierung in progressive und reaktionäre Anhänger des Religiösen ermöglicht. Letztlich geht es aber, auch wenn Christentum und Marxismus-Leninismus mitunter euphemistisch als „unterschiedliche Auffassungen in Fragen der Weltanschauung“ bezeichnet werden, um die Umerziehung des religiösen Bewusstseins. Insgesamt liegt den Lehrbuchdarstellungen ein statischer, auf soziale Mechanismen beschränkter Religionsbegriff zugrunde, der Religion ausschließlich als ein aus den gesellschaftlichen Verhältnissen ableitbares Phänomen versteht. Als Herrschaftsinstrument liefert Religion auf kognitiver und psychologischer Ebene (vorwissenschaftliche) Erklärungsmodelle zur Angstreduktion bzw. Hoffnung auf ein besseres Leben. Der reduktionistische Religionsbegriff mag mögliche religionsgeschichtliche Dynamiken außer Acht lassen, vermeidet andererseits aber die Rede von der Irreduzibilität von Religion. Transzendente Wahrheiten bleiben damit ebenso ausgeschlossen wie die Darstellung von Religion als Erlebensgröße. An keiner Stelle erfolgt eine Fokalisierung durch religiöse Figuren. Erlebbar und bedeutsam für den Menschen ist nur die ‚Kraft‘ des Sozialismus, die den Einzelnen substanziell verändert. Die Frage, ob Religion ein ähnliches Veränderungspotenzial oder gar überzeitliche Sinnpotenziale freizusetzen vermag, ist in der narrativen Struktur der Staatsbürgerkundebücher nicht angelegt. Stattdessen werden religiöse Erklärungsmodelle – zum Beispiel zur Weltentstehung – ironisiert und als lächerlich verworfen. Dieser formalen Ungleichheit liegt die Konstruktion von Wir-Gruppen zugrunde, die laut Albrecht Koschorke stets asymmetrisch angelegt sind: Zwischen zwei Konfliktparteien besteht nie ein dialogisches Verhältnis, sondern stets das „Nicht-Verhältnis eines doppelten Monologs“, in dem die „Wechselseitigkeit zwischen den beiden Seiten […] blo-ckiert [Hervorh. i. Orig.]“ wird538, weshalb Koschorke die der Gruppenkonstellation 538 Vgl. Koschorke, Albrecht (2012): Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt/Main: Fischer S. 96 f.
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Zusammenfassende Analyse
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zugrunde liegende Sprachstruktur mit der von Reinhart Koselleck beschriebenen Funktionsweise der asymmetrischen Gegenbegriffe identifiziert. Übertragen auf das hegemonial konstruierte Verhältnis zwischen Sozialismus und Imperialismus bedeutet das: Gerade weil die in der binären Opposition von gesundem Kommunismus und krankhaftem Kapitalismus angelegte Sprachstruktur des asymmetrischen Gegenbegriffs auf das von Koselleck beschriebene Begriffspaar Mensch – Unmensch hinausläuft, kann das Religiöse als das Nicht-Natürliche, der religiöse Mensch mithin als Unmensch nicht fokalisiert werden. Dasselbe gilt für den imperialistischen und kapitalistischen Gegner, der ebenfalls stets von außen, nie aber aus einer Innenperspektive dargestellt wird. Die narrative Konkretisierung bleibt dem Sozialismus vorbehalten, Religion ist ebenso wie Kapitalismus und Imperialismus auf eine Außendarstellung beschränkt, die auf der Ebene der theoretischen und historischen Grundlagen der marxistischen Religionskritik verbleibt. Dort wo Religion als soziale Tatsache in der Gesellschaft vorkommt, ist sie weniger ein zwischenmenschliches Problem und mehr ein grundsätzlicher Überrest vergangenen Denkens. Das Religiöse bleibt das Fremde und Unverständliche, das zwar funktional erklärt werden kann, wo diese Erklärung den Religiösen aber nicht erreicht, vermag auch die marxistisch-leninistische Weltanschauung nicht wirksam zu werden. Wandlungsgeschichten, die dem Muster der Konversionserzählung folgen, und von der ‚Bekehrung‘ eines Christen zum Sozialisten berichten, oder narrative Konkretisierungen, die den Glauben einzelner Menschen erklären würden, finden sich an keiner Stelle des gesamten Materialkorpus. Die Grenzziehung wird somit „nicht im Hinblick auf ihre Durchlässigkeit, ihren Übergangs- und Schwellen charakter erzählerisch modelliert, sondern mit großem Aufwand antagonistisch befestigt, um bedroht geglaubte Innen/Außen- beziehungsweise Freund/Feind-Unterscheidungen zu stabilisieren,“
in deren Erzählungen die Erzählinstanz zum „Choreographen der Grenzziehung“ wird.539 Die unversöhnliche Begrenzung mag ein Grund dafür sein, dass auch die Auseinandersetzung mit dem Tod, durch den die existentielle Bedeutung religiöser Erklärungsmuster zumindest nachvollziehbar werden könnte, in allen Lehrbüchern ausgespart bleibt. Dass die Darstellung von Religion im Lehrbuchkorpus der Staatsbürgerkunde ein Spezifikum der Klassen 11/12 bildet, lässt sich auch marxismustheoretisch plausibilisieren: Rein quantitativ zählte Religion nicht zu den Hauptthemen von Karl Marx540, im Gegenteil machte dieser im ersten Satz seiner Kritik 539 Vgl. Koschorke (2012): Wahrheit und Erfindung, S. 99 f. 540 „Für Marx war die Religion nicht nur philosophisch, sondern eben auch faktisch weithin erledigt, sodass [sic!] sie in ihrer Bedeutung überschätzt würde, wenn die ganze Energie der Kritik auf sie konzentriert wird.“ Vgl. Weinrich, Michael (2011): Religion und Religionskritik.
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Wie Weltanschauung präsentiert wird
der Hegel’schen Rechtsphilosophie unmissverständlich klar: „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.“ Nachdem der Irrtum erkannt und Religion als Menschenwerk entlarvt war, galt es, sich der Kritik zuzuwenden, die verblieb: der Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, die des illusionären religiösen Zustands bedürfen. Marx’ Religionskritik mündet notwendigerweise in eine Gesellschaftskritik, mit der sich „die Kritik des Himmels […] in die Kritik der Erde [verwandelt]“.541 Dementsprechend wurde in der DDR auch darauf verwiesen, dass in der politischen Arbeit der Partei nicht der „Kampf gegen die Religion“ im Vordergrund stünde, sondern der Aufbau des Sozialismus, mit dem Religion ohnehin verschwinden würde, sobald ihr die sozioökonomische Grundlage – vor allem das Privateigentum an Produktionsmitteln – entzogen ist.542 Wenn in den Lehrbüchern dennoch auf Religion zurückgekommen wird, sei es als Kritik am bürgerlichen „Aberglauben“ wie im Lehrbuch der zehnten Klasse oder im Rahmen der theoretischen Grundlegung der sozialistischen Weltanschauung, ist dies immer auch als Hinweis auf ihre gesellschaftliche Präsenz zu verstehen. Die plötzliche Verwendung des Terminus Atheismus, mit dem die marxistische Philo sophie inhaltlich qualifiziert und der Religion als Gegenbegriff gegenübergestellt wird, verweist in diese Richtung. Über Religion und Marxismus-Leninismus werden letztlich erkenntnistheoretische Prämissen verhandelt, wobei Atheismus und wissenschaftliche Weltanschauung miteinander verschmelzen. Dass auch der Atheismus als zentrale weltanschauliche Konsequenz der materialistischen Weltsicht insgesamt so wenig in den Schulbüchern thematisiert wird, mag neben gesellschaftspolitischen marxismustheoretische Gründe gehabt haben. Karl Marx zeigte in seinen Schriften jedenfalls genauso wenig Interesse an antireligiöser oder atheistischer Propaganda wie an Religion. In den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 stellte er klar: „Indem die Wesenhaftigkeit des Menschen und der Natur […] sinnlich anschaubar geworden ist, ist die Frage nach einem fremden Wesen, nach einem Wesen über der Natur und dem Menschen – eine Frage, welche das Geständnis von der Unwesentlichkeit der Natur und des Menschen einschließt – praktisch unmöglich geworden. Der Atheismus, als Leugnung dieser Unwesentlichkeit, hat keinen Sinn mehr, denn der Atheismus ist die Negation des Gottes und setzt durch diese Negation das DaGöttingen: Vandenhoeck, S. 146. Insofern mag die interessante Frage eher lauten, weshalb ein Zweig in der Marx-Rezeption sich so eingängig mit dem Thema Religionskritik beschäftigt. Freilich ließe sich argumentieren, dass die verhältnismäßig wenigen Stellen zu Kirche und Christentum im Werk von Karl Marx – Friedrich Engels hat sich dazu öfter geäußert – dann aber für seine Sicht auf Religion repräsentativ sind. 541 Marx, zit. n. MEW Band 1 (1976): S. 378 f. 542 Wegweiser zum Atheismus Band 1, S. 22.
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Zusammenfassende Analyse
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sein des Menschen; aber der Sozialismus als Sozialismus bedarf einer solchen Vermittlung nicht mehr; er beginnt von dem theoretisch und praktisch sinnlichen Bewußtsein des Menschen und der Natur als des Wesens. Er ist positives, nicht mehr durch die Aufhebung der Religion vermitteltes Selbstbewußtsein des Menschen. [Hervorh. i. Orig.]“543
Auf die Schulbuchdarstellung übertragen folgt daraus, dass nicht Religion als solche Gegenstand der Ausführungen sein konnte, denn offiziell galt sie nicht als aktuell-gesellschaftspolitisches Problem. Im Vordergrund stand die Etablierung des Sozialismus, der über die Abgrenzung von falschen Weltsichten theoretisch expliziert und plausibilisiert werden sollte: Religion war Stilmittel in der sozialistischen Abgrenzungsdebatte und repräsentierte damit vor allem einen Allgemeinplatz, kein inhaltlich qualifiziertes unrückführbares Phänomen sui generis. Theoriegeschichtlich ist die im Schulbuch vertretene Position von der Natürlichkeit des materialistisch-atheistischen Denkens insofern interessant, als dass ähnliche Fragen in der aktuellen religionstheoretischen Naturalness-Debatte544 verhandelt werden, wenngleich aus marxistischer Sicht kein Zweifel daran besteht, welche Seite das „Unnatürliche“ repräsentiert. Die Quellen liefern einen religionshistorischen Beleg dafür, dass es sich bei der Frage um die Natürlichkeit von Religion bzw. Säkularität nicht um ein neues Phänomen handelt, auch wenn weiterführende Überlegungen zur religiösen Konstitution, wie die Frage, ob der Mensch als Materialist geboren und dann durch ‚falsche‘ Erziehung religiös sozialisiert wird, im Schulbuchtext unterbleiben.
543 Marx, Karl (1844): Ökonomisch-philosophische Manuskripte, zit. n. MEW Band 40 (1968), S. 546. 544 Die Frage nach der Natürlichkeit von Religion ist im Rahmen der Cognitive Science of Religion, u. a. durch Robert N. McCauley, angestoßen worden. Aktueller ist die Debatte in Religion zwischen Geertz/Markusson und Barrett: Geertz, Armin/Markusson, Guðmundur Ingi (2010): Religion is natural, atheism is not. On why everybody is both right and wrong. In: Religion 40, S. 152–165; Barrett, Justin (2010): The relative unnaturalness of atheism. On why Geertz and Markusson are both right and wrong. In: Religion 40, S. 169–172.
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7 Wie die Form dem Inhalt Bedeutung verleiht – Zusammenfassung und Fazit
Weltanschauungen hatten in der Erziehung des Staatsbürgers einen zentralen Stellenwert: Im Weltanschauungsunterricht Staatsbürgerkunde spielte der Marxismus-Leninismus im gesamten Lehrbuchkorpus von jeher eine wichtige Rolle. Religion hingegen war in den unteren Klassenstufen kaum relevant. Darstellung und narrative Konkretisierung der sozialistischen Weltanschauung und Moral kamen über weite Teile gänzlich ohne Religionsbezug aus. Dies änderte sich allerdings in den systematisch-theoretisch und philosophiegeschichtlich orientierten Klassenstufen 11/12. Dort erlangte Religion grundlegende Bedeutung als das Gegenmodell, vor dessen Hintergrund der Marxismus-Leninismus als ‚richtige‘ Weltanschauung entfaltet wurde. Den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit bildete die analytisch getrennte Untersuchung von Form und Inhalt der beiden Weltanschauungen Religion und Marxismus-Leninismus, wie sie in den Staatsbürgerkundeschulbüchern dargestellt und narrativ plausibilisiert wurden. Die Unterscheidung zwischen Darstellungsebene (Form der Vermittlung) sowie der semantischen Ebene (dem Inhalt) setzt an der grundsätzlichen literaturwissenschaftlichen Differenzierung von Fiktionalität und Fiktivität an, wurde hier aber erstmals in zwei systematische Analysekategorien überführt. Was Hayden White einst als The content of the form bezeichnete, um darauf aufmerksam zu machen, dass bestimmte poetologische Muster oder Formen bestimmte Rezeptionsfolgen auslösen, diente hier der systematischen Untersuchung des Verhältnisses von Sozialismus und Religion auf unterschiedlichen Ebenen. Den debattentheoretischen Rahmen der Untersuchung bildete die akademische Rezeption des Sozialismus als Religion, die der Analyse vorangestellt war. Der auf der Ebene der Quellenanalyse geleistete religionsgeschichtliche Beitrag zum Verhältnis von Sozialismus und Religion wurde als Konstruktionsgeschichte einer sozialistischen Erinnerungskultur gedeutet und über das Konzept des kulturellen Gedächtnisses kulturwissenschaftlich angebunden. Die Staatsbürgerkunde bildete den Kristallisationspunkt für einen Religionsdiskurs, der abschließend noch einmal aufgegriffen wird, indem auf die Ausgangsfrage, weshalb die über Fächergrenzen hinweg erfolgende Assoziation von Religion und Sozialismus so plausibel zu sein scheint, ein narrationsbezogener Erklärungsversuch formuliert wird. Zunächst sollen die Ergebnisse der drei Untersuchungsebenen Inhalt, Form sowie Rezeptionskontext von Religion und Marxismus-Leninismus noch einmal zusammen gefasst werden. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540497 — ISBN E-Book: 9783647540498
Sozialismus als Erzählung
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a) Sozialismus als Erzählung: Form und Inhalt einer Weltanschauung In der Arbeit ging es um die sozialistische Weltanschauung und deren narrative Form sowie ihre didaktische Präsentation, die sich in der historischen Diskussion um die Staatsbürgerkunde auf die Hauptfrage verdichtete: Wie wird Sozialismus möglichst überzeugend für den Schüler dargestellt und emotional ansprechend vermittelt? Es konnte gezeigt werden, dass den Lehrbüchern eine intertextuelle Verweisstruktur unterlegt ist, in der je nach Klassenstufe verschiedene litera rische Genres und narrative Elemente zum Einsatz kamen, über die ‚Sozialismus‘ und ‚Weltanschauung‘ inhaltlich konkretisiert und narrativ konstruiert wurden. Mit den spezifischen Präsentationstechniken wurde Sozialismus auf der Ebene des Schulbuchtextes als bedeutsam inszeniert, worauf die erzieherische Vermittlung der Weltanschauung aufbauen sollte. In Klasse 7 zum Beispiel dienten vor allem die Gründungserzählungen von Partei und Staat der grundlegenden Plausibilisierung des Sozialismus als dem ‚richtigen‘ System, das sich gleichermaßen über Erbe und Traditionsabbruch konstituierte: Mit dem Geschichtsbild wurde einerseits eine Kontinuitätserzählung – die Fiktion einer breiten kommunistischen Tradition seit dem 19. Jahrhundert – sowie ein umfassender antifaschistisch-kommunistischer Widerstand während des Nationalsozialismus installiert und damit die Adaption der Siegerperspektive vorbereitet. Neben der Rede von einem kommunistischen Erbe war es andererseits der über die Semantik des Neuen als Traditionsabbruch zu den Westzonen inszenierte Aufbau der sozialistischen Gesellschaft, der die Geschichtserzählung komplettierte. Das als kollektive Kraft erfahrbare Neue kam an dieser Stelle des Staatsbürgerkundeunterrichts noch ohne personale Akteure aus: Die Lehre, so die Idee, wirkt von sich aus auf die Menschen. Die Marx’sche Argumentationsfigur einer die Massen ergreifenden Lehre, wie sie in der Einleitung zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie formuliert worden war, wurde in der literarischen Verarbeitung des Brecht’schen Lob der Partei in die Staatsbürgerkunde 8 eingespeist.1 Während die eigentliche Staatsgründung eher der Form der Chronik folgte, wurde der Sozialismus motivisch konzipiert und in narrative Schemata überführt. So diente das Genre der Betriebsreportage maßgeblich der Darstellung des sich zum Sozialisten wandelnden Arbeiterhelden. Intertextuelle Verweise auf literarische Darstellungen erlaubten, Beschreibungsmodalitäten und ein Vokabular in den Schulbuchtext einfließen zu lassen, das Sachtexten gewöhnlich
1 Dort heißt es: „[D]ie Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen […]“, vgl. MEW Band 1 (1976): S. 385. Vgl. ausführlich Kapitel 6.2, Abschnitt b).
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Wie die Form dem Inhalt Bedeutung verleiht – Zusammenfassung und Fazit
nicht zur Verfügung steht. Die „fiktionalen Privilegien“2 dienten dazu, im Text Bedeutung zu erzeugen – eine literarische Technik, die an einigen Stellen durch narrative Transzendenzen verstärkt wurde. Die Begriffsschöpfung der narrativen Transzendenz dient zunächst als Kategorie zur Beschreibung von Sollbruchstellen innerhalb eines Erzählgeschehens, etwa den Moment des Wandels des Werktätigen, den die körperliche Arbeit zum Sozialisten transformiert. Dieser ist rein formal als Bruch der Diegesis beschreibbar und über eine Leerstelle markiert: Der Schlüsselmoment der Transformation wird zwar in Figurenrede wiedergegeben, das Ereignis selbst bleibt aber unbestimmt und damit dem Leser zur Konkretisierung überlassen: „Da war etwas Neues […]. Wir begannen die Kraft zu spüren.“3 Die durch derart evokative Leerstellen ausgelösten Vorstellungsfolgen vermögen den Leser zum Erlernen einer bestimmten Beschreibungsmodalität anzuregen, die als feste memorierbare Struktur abgerufen werden kann und auf diese Weise in den Erinnerungs- und Erfahrungshaushalt des Rezipienten eingespeist wird. Die Vermittlung des Sozialismus ist so eine Vermittlung spezifischer Sprachmuster. Leerstellen lassen sich nie beliebig füllen, vielmehr eröffnet ihr Rahmen, der Text, einen bestimmten Interpretationsspielraum, in dem die zentralen Leerstellen als gezielt eingesetzte Verstärker eines auf der Textoberfläche ausgespart bleibenden Geschehens eingesetzt werden. Auf die Relevanz des Geschehens w eisen sie gerade dadurch hin, dass sie inhaltlich darüber schweigen. Die auf diese Weise entstehende „Präsenz der Absenz“4 suggeriert Bedeutung, die zunächst jedoch nur als textoberflächenstrukturelles, rein formales Phänomen besteht. Erst im Rezeptionsprozess wird die Leerstelle inhaltlich gefüllt. Dass ihr vermeintlicher Inhalt indes vom Leser nachvollzogen wird, ist durch ein komplexes textliches und paratextliches Informationsgeflecht garantiert, das den Rezipienten zu bestimmten Schlussfolgerungen leitet. Das Besondere an solchen Leerstellen innerhalb der Staatsbürgerkundetexte ist, dass ihr Einsatz nicht dazu diente, Bedeutungspotenziale zu eröffnen, sondern diese mit Hilfe fingierter Schlussfolgerungspotenziale streng zu normieren. Dem Schüler wurde suggeriert, er sei selbst auf etwas gekommen, das tatsächlich bereits unmissverständlich feststand: dass Sozialismus nämlich vor allem Herrschaftsanspruch der Partei bedeutet. Das „Erleben“ der Kraft des Sozialismus war zwar individuell und insofern auch von individueller Bedeutsamkeit, ihren Ort fand diese Kraft jedoch in der SED.
2 Vgl. Nünning, Ansgar (2005): Literarische Geschichtsdarstellung. Theoretische Grundlagen, fiktionale Privilegien, Gattungstypologie und Funktionen. In: Bannasch, Bettina/Holm, Christiane (Hg.): Erinnern und Erzählen. Der Spanische Bürgerkrieg in der deutschen und spanischen Erzählliteratur und in den Bildmedien. Tübingen: Narr, S. 35–58. 3 Vgl. die Analyse der Lehrbücher für Klasse 7 in Kapitel 6.1, besonders Abschnitt c). 4 Vgl. Reif, Danielle (2005): Die Ästhetik der Leerstelle. Raymond Federmans Roman „La Fourrure de ma tante Rachel“. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 8.
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Sozialismus als Erzählung
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Fiktionalisierungsmomente liefern die Plotstruktur bzw. das Skript, nach dem die Weltanschauung des Marxismus-Leninismus in den Lehrbüchern erzählt wurde: Ein Werktätiger tritt in Zeugenschaft für die Wirksamkeit des Systems, indem er seine eigene oder die innere Verwandlung eines Dritten in den „neuen Menschen“ des Sozialismus schildert. Dieses Skript bildete den grundlegenden narrativen Baustein für die in den Staatsbürgerkundebüchern präsentierte Erzäh lung Sozialismus. Einzelne Elemente dieser Handlungssequenz konnten inhaltlich durchaus variieren, ohne dass sich die narrative Gesamtstruktur verändert hätte. In Klasse 8 beispielsweise wurde Bedeutsamkeit juristisch über die Verfassung und personal über Walter Ulbricht konstruiert; beide bildeten gleichermaßen Erinnerungsorte der DDR. Die Verfassung gab die Systematik des Lehrbuchs Staatsbürgerkunde 8 vor, die Inszenierung Ulbrichts diente der personalisierten, in die Form der politischen Heldenbiografie gegossenen Traditionserzählung. Narrative Transzendenz wurde hier vor allem über den Personenkult hergestellt. Dies war auch in den höheren Klassen 9 und 10 der Fall, wo Karl Marx und Friedrich Engels als intrinsisch ‚gute‘ Menschen, die sich altruistisch der Befreiung der Arbeiterklasse widmen, dargestellt wurden. Mit einem Freundschaftsnarrativ verbunden, markierte das Schulbuch der Klasse 9 den Übergang von der illustrierenden zur theoretischen Darstellung. Die Geschichte der tiefen Beziehung zwischen Marx und Engels stellte den narrativen Rahmen für die Rezeption der Schriften bereit. Diese wurden über die Freundschaftsgeschichte memorierbar und – als Freundschaftsprodukt – überdies emotional kodiert. Mit Freundschaft ließ sich ein zentrales Alltagsthema des jugendlichen Rezipienten dazu nutzen, Theorie zugänglich zu machen. Freundschaft und Aufopferung im Dienst der Befreiung der Schwachen und Unterdrückten bildeten die wesentlichen Motive, mit denen die moralische Glaubwürdigkeit von Marx und Engels belegt werden sollte. Mit der Inszenierung bestimmter Personen und Figuren wurde der moralische Legitimitätsanspruch des Staates, der zuvor vor allem historisch konstruiert worden war, nun auch personifiziert begründbar: ‚Gute‘ Menschen gründen einen ‚guten‘ Staat. Kommunist bzw. Sozialist zu sein bildete dementsprechend auch ein zentrales Auswahlkriterium für den Einsatz von Literatur im Rahmen der Staatsbürgerkunde.5 Nicht nur die Protagonisten, sondern auch die Autoren sollten der 5 Das Spektrum der im Deutschunterricht behandelten Literatur war freilich breiter, es reichte grob von der Barockdichtung des 17. Jahrhunderts bis zur zeitgenössischen sozialis tischen Literatur. Allerdings war der Literaturkanon seit den 1950er Jahren normiert. Einen großen Anteil der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur bildeten sozialistische Schriftsteller sowie Sowjetliteratur. Weitere ausländische Autoren wurden so gut wie nicht aufgenommen, eine Ausnahme bildete freilich der chilenische Dichter Pablo Neruda. Für einen Überblick über die Konzeption des Literaturunterrichts in der DDR und seine verschiedenen Etappen vgl. den kenntnisreichen Artikel des ehemaligen DDR-Literaturdidaktikers Wilfried Bütow (2007): Kanon und Literaturunterricht in der DDR. In: Czech, Gabriele (Hg.): „Geteilter“ deutscher Himmel? Zum Literaturunterricht in Deutschland in Ost und West von 1945 bis zur Gegenwart. Frankfurt/Main: Lang, S. 71–93.
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Wie die Form dem Inhalt Bedeutung verleiht – Zusammenfassung und Fazit
Figur des sozialistischen Alltagshelden entsprechen. Das literarische Werk schilderte vorbildhaftes Verhalten, welches in der Lebensgeschichte des Autors (bzw. in deren Nacherzählung) gespiegelt und damit jeweils ad personam letztbegründet wurde. Dies war in der Rezeptionskultur der DDR nur konsequent: So wie die verwendeten literarischen Formen als ungebrochene Belege für die Aussagen über den Realsozialismus fungieren sollten6, verkörperten die Autoren der für die sozialistische Erziehung insgesamt relevanten Texte gewissermaßen den lebenden Beweis für die Wirksamkeit der sozialistischen Moral. Das prägnanteste Beispiel für die Moralerwartung bzw. die moralische Qualifikation eines Sozialisten oder Kommunisten lieferte die Darstellung von Karl Marx im Lehrbuch der Klasse 10. Für die im Rahmen der Staatsbürgerkunde konstruierte literarische Erinnerungskultur war vor allem Bertold Brecht zentral, dessen Stücke den gesamten Lehrbuchkorpus dominierten.7 Brecht, der sich bereits lange vor der Zeit des Nationalsozialismus als Kommunist ausgewiesen hatte, eignete sich wie kaum ein anderer für die Bestätigung der kommunistischen Traditionslinie. Nur wenige ließen sich so unzweifelhaft als Vorzeigemarxisten inszenieren8, weshalb ihm für die literarische Konstruktion der sozialistischen Weltanschauungstradition eine besondere Rolle zukam. 6 Eine analytische Trennung zwischen der Aussageautorität eines realen Autors und einer Erzählinstanz oder Figur wurde nicht getroffen. Mit allen verwendeten Texten sollte – im literarischen Verständnis – zuvorderst etwas gezeigt werden, womit die Rezeptionskultur der Staatsbürgerkundetexte keinerlei literatur- und rezeptionstheoretische Reflexionen erkennen ließ. „Die Rolle des Lesers war eine passive“, urteilt Mandy Funke. „Das literarische Werk war nach dieser Auffassung Träger eines einmaligen unwandelbaren Sinnes, und die mögliche Aktivität des Lesers reduzierte sich auf die Wiederentdeckung dieses ‚ewigen‘ Sinns. […] Diese einseitig auf die Produktions- und Darstellungsseite bezogene Perspektive führte dazu, daß die marxistische Theorie die Beziehung zwischen Werk und Adressaten, d. h. den aktiven Charakter der Wiederaneignung des Werkes seitens des Lesers unterschätzte.“ Vgl. dies. (2004): Rezeptionstheorie – Rezeptionsästhetik, S. 31. 7 Ähnliches gilt für den Deutschunterricht. Dort erhielt Brecht zwar erst im Lehrplan von 1964 einen festen Platz, seine ab dato in den Lehrbüchern aller Klassenstufen vorhandene Präsenz bezeichnet Wilfried Bütow allerdings als „einmalig“, vgl. ders. (2007): Kanon und Literaturunterricht in der DDR, S. 91. Der Sammelband als Ganzes liefert wichtiges Hintergrundwissen für die Frage nach der Vermittlung der sozialistischen Erinnerungskultur durch Literatur. Dort werden sowohl Aspekte der wissenschaftlichen Theoriebildung in Literaturwissenschaft und Germanistik als auch in der wissenschaftlich und politischen Debatte um Methodik bzw. Didaktik des Literaturunterricht in der DDR und der BRD aufgegriffen. Für einen Überblick über die im Unterricht der Klassenstufen 1–12 verwendeten BrechtWerke Mitte der 1980er Jahre vgl. auch Bütow u. a. (1987): Junge Leser und Brecht, S. 19 f. 8 Dies mag auch die Verwendung von ‚uneindeutiger‘ Literatur wie des Theaterstücks Protokoll einer Sitzung von Alexander Gelman erklären. Der zwar nicht vollständig auf Parteilinie liegende Text wurde für die Traditionsbegründung vereinnahmt, ein genaues Nachlesen war durch die rigorosen Bestimmungen für den Umgang mit dem Text – er wurde ausschließlich für Theaterinszenierungen kontrolliert verliehen – unmöglich. Zum subversiven Potenzial der Literatur vgl. Kapitelabschnitt 6.4.4 a).
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Sozialismus als Erzählung
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Literatur bildete das wohl wichtigste Plausibilisierungsinstrument dieser Weltanschauung, weil hier die für die Inszenierung von Bedeutsamkeit notwendigen literarischen Techniken bereitgestellt wurden: Das in der didaktischen Konzeption geforderte emotionale Engagement der Schüler im Unterricht sollte explizit durch den Einsatz fiktionaler Textanteile hergestellt werden. Literatur stellte das Beschreibungsinstrumentarium zur Verfügung, mit dem die Inhalte der Weltanschauung affektiv konkretisiert wurden. Mit der Fokalisierung im Rahmen von Figurenreden ließen sich narrative Transzendenzen – also die durch den Bruch der Diegesis erzeugten Leerstellen – als persönliche Erlebnisse mit existentieller Qualität illustrieren. Erst in der Erzählung Sozialismus wurde es möglich, zur Veranschaulichung der Wirksamkeit des Marxismus-Leninismus bestimmte Deutungspotenziale in den Texten zu installieren, und eine reine ‚Profangeschichte‘, narratologisch gesprochen: eine Geschichte (Story), in der alle Geschehnisse auf derselben Erzählebene (Discourse) stattfinden, zu verlassen. Mit der methodischen Verankerung von literarischen Strukturen in der „Überzeugungsbildung“ nahm der Marxismus-Leninismus bisweilen selbst literarischen Charakter an. Die Moral der Literatur und die Moral der Weltanschauung fielen insofern zusammen, als dass sie sich identischer Formen bedienten. Erst ab Klasse 10 veränderten sich die Mittel der „Überzeugungsbildung“: An die Stelle von Literarisierung und Fiktionalisierung traten nun überwiegend theoretische Ausführungen, wenngleich die hybride Struktur der Lehrbücher auch dort erhalten blieb, etwa wo im Hauptlehrtext auf Romanfiguren wie Pawel Kortschagin aus Nikolai Ostrowskis Wie der Stahl gehärtet wurde querverwiesen wurde oder weltanschauliche Lernziele über die Auseinandersetzung mit Literatur erreicht werden sollten. Die sozialistischen Romane waren zentrale Bausteine einer Weltanschauungsdidaktik, die auf Identitätsstiftung durch Traditionserzählung abzielte. Mit dem didaktischen Impetus wurden sie zu Medien des kulturellen Gedächtnisses, insofern mit Belehrung stets Erinnerung einhergeht.9
9 So die Germanistin Gabriele von Glasenapp, die den Zusammenhang von Geschichtsbewusstsein und geschichtserzählender Literatur herausstreicht: „Mit der Belehrung einher geht die Funktion des Erinnerns – historische Romane waren immer auch geschichtserin nernde Literatur und damit zugleich ein Medium des kulturellen Gedächtnisses.“ Dies. (2005): „Was ist Historie? Mit Historie will man was“. Geschichtsdarstellungen in der neueren Kinderund Jugendliteratur. In: Dies./Wilkending, Gisela (Hg.): Geschichte und Geschichten. Die Kinder- und Jugendliteratur und das kulturelle und politische Gedächtnis. Frankfrut/Main u. a.: Peter Lang, S. 15–40, hier: 19.
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Wie die Form dem Inhalt Bedeutung verleiht – Zusammenfassung und Fazit
b) Weltanschauung und Wiederholung: Zur Einübung des kulturellen Gedächtnisses Weltanschauungswissen (Belehren) und Traditionserzählung (‚Erinnern‘) wurden aber nicht nur durch Leerstellen und den durch sie erzeugten Interpretationsraum als bedeutsam inszeniert, sondern gleichermaßen durch die dem Lehrbuchkorpus unterlegte Wiederholungsstruktur. Als zentrale Methode der Weltanschauungsdidaktik war diese mehr als ein rein mechanisches Mittel zur Wissensvertiefung. Im Reproduktionsvorgang sollten nicht nur bestimmte Inhalte gelernt, sondern als besonders wichtig eingestuft werden. Wiederholung diente ebenso der Inszenierung von Relevanz. Die Wiederholungsformen waren sowohl syntaktischer als auch semantischer Art. Das Lehrbuch der Klasse 7 zeichnete sich beispielsweise durch die wortgetreue Wiederholung von Kernaussagen aus: „Da war etwas Neues: das Vertrauen in uns selbst. Wir begannen die Kraft zu spüren, von der Hennecke und seine Genossen immer redeten.“ Und: „Da war etwas Neues. Ich begann die Kraft zu spüren, von der Hennecke und seine Genossen immer faselten.“ Die in kurzem Abstand aufeinander folgende Wiederholung war weder Zufall noch stilis tisches Versehen, sondern der Versuch, einen spezifischen Inhalt als Botschaft syntaktisch, semantisch und emotional zu implementieren, und damit Ausdruck der Textstruktur Wiederholung. Die ‚Erfahrung‘ erhielt Zitatcharakter. Dies war typisch für eine Zitatgesellschaft, die ihre Weltanschauung über Wiederholung und die Kenntnis bestimmter Schriften historisierte und dadurch zu plausibi lisieren suchte. Was an anderer Stelle als „Einüben von Sprechakten“ verstanden wurde10, mag zu der Frage führen, ob diese Akte dann als ‚echt‘ oder ‚unecht‘ gelten dürfen. Auch wenn sich die vorliegende Arbeit diesbezüglich der Wertung enthielt, soll die Überlegung, ob der Akt des Zitierens selbst Auswirkungen auf die Zitatgesellschaft zeitigte, hier noch einmal aufgegriffen werden. Grammatisch nahm die Textstruktur Wiederholung die Form der Anapher an: „Wir finden die Merkmale der sozialistischen Persönlichkeiten im Handeln der Arbeiter. […] Wir finden sie im selbstlosen Einsatz der Parteiarbeiter. […] Wir finden diese Merkmale im Wirken der Frauen […].“ Auch die sozialistische Sinnprogrammatik war anaphorisch strukturiert: „Sinnvoll zu leben bedeutet daher vor allem, für die Arbeiterklasse […] einzutreten. Sinnvoll zu leben bedeutet, an der Seite der Sowjetunion […] die geschichtliche Aufgabe erfüllen zu helfen […]. Sinnvoll zu leben bedeutet, durch seine gute sozialistische Arbeit […] die gerechte und humanistische sozialistische Gesellschaft vollenden zu helfen […]. Sinnvoll zu leben bedeutet, sein ganzes Leben richtig zu führen […].“ 10 So bei Behrmann (1999): Einübung ideologischer und moralischer Sprechakte durch „Stabü“, in: Schule als moralische Anstalt, S. 149–182.
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Weltanschauung und Wiederholung
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Eine besondere Form der Wiederholung bildete der Selbstverweis, der argumentativ in einen Zirkelschluss mündete: „Sozialistische Persönlichkeiten […] zeichnen sich dadurch aus, daß sie sich in Wort und Tat für den Sozialismus einsetzen.“ Wiederholung wurde schließlich zum leitenden Prinzip der Argumentation: Dem programmatischen Abschlusskapitel im Lehrbuch der Klasse 10 war eine syntaktische und semantische Wiederholungsstruktur unterlegt, in der die Rolle des Einzelnen für die Erfüllung der Geschichte immer mehr in den Hintergrund trat. Indem auch die Antworten auf Lebensfragen vorgegeben waren, ging die Pluralität der Stimmen im Text weiter zurück; fiktionale Einschübe kamen nicht mehr vor. Stattdessen konstituierte sich die Argumentation über die Wiederholung bestimmter Aussagen, die auf unterschiedlichen Textebenen reproduziert wurden. Eine wichtige Funktion in dieser Reproduktionsstruktur kam der Arbeitsaufgabe zu, die sowohl der Aktivierung von Vorwissen, als auch der Verfestigung des gerade Gelesenen diente. Häufig als Suggestivfrage formuliert und stilistisch durch Polemik geprägt, übernahm diese eine zentrale Steuerungsfunktion bei der Einübung des Weltanschauungswissens: „Wie ist Ihrer Meinung nach der Aufschwung des Aberglaubens in einer Zeit zu erklären, in der Raumstationen um die Erde kreisen, Wissenschaft, Technik und Medizin einen hohen Stand erreicht haben?“ Auch wenn die Wiederholungen ab den 1980er Jahren noch einmal deutlich zunahmen, bildeten sie insgesamt und von vornherein die grundlegende methodische Struktur der Lehrbücher. Dies ist wenig überraschend, zumal es sich bei der Wiederholung um ein genrespezifisches Prinzip handelt. Die sequenzielle Lektüre eines Schulbuchs unterscheidet sich wesentlich vom Rezeptionsprozess eines literarischen Textes und ist insofern auf regelmäßige Wiederholungen angewiesen. Dies gilt gleichermaßen für geistes- und naturwissenschaftliche Unterrichtsfächer. Denn „damit ein Schema erlernt und verfügbar bleibt – es also ein stabiles Wissenselement wird –, muss es […] immer wieder geübt werden“.11 Und genau darum ging es: Als methodisches Prinzip diente die Reproduktion nicht nur der Reaktivierung bereits vorhandenen Vorwissens oder der Festigung des Erlernten durch systematisches Wiederholen12, sondern der Implementierung eines Weltanschauungswissens, das als verankertes Schema jederzeit verfüg 11 So der Mathematikdidaktiker Hans-Georg Weigand; das Wiederholen geschieht auf unterschiedlichen Niveaus: „Üben muss ferner regelmäßig stattfinden („Prinzip der konsequenten Wiederholung“) und sollte bereits gelernte Dinge immer wieder in neuen Kontexten aufgreifen („Prinzip der integrierten Wiederholung“). Damit ein Schema erlernt und verfügbar bleibt – es also ein stabiles Wissenselement wird –, muss es in herausfordernden und anregenden Kontexten immer wieder geübt werden („Prinzip der Stabilisierung“). Vgl. ders. (o. J.): Didaktische Prinzipien. Abschnitt 5: Produktiv Üben und Wiederholen. (Unter http://goo.gl/ 6KSIvK, S. 6. Letzter Zugriff: 25.10.2015). 12 Vgl. Lehrplanwerk 1969 n. Reich, Kersten (1977): Theorien der allgemeinen Didaktik. Zu den Grundlinien didaktischer Wissenschaftsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik. Stuttgart: Klett, S. 280.
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bar sein sollte. Durch Wiederholung sollten bestimmte Narrative, zum Beispiel „Kapitalismus führt zu Krieg“ oder die Rede von der Überlegenheit der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus als zentrale Motive der Selbstkonstruktion des sozialistischen Staates gelernt und ‚verinnerlicht‘ werden. Die Wiederholungsstruktur konnte sich auch auf einzelne Begriffe beziehen, die als Einwort- oder Mininarrative eine herausragende Bedeutung erlangten, etwa die im Lehrbuch der Klasse 9 inszenierte Freundschaft zwischen Marx und Engels. Diese war nicht nur fächerübergreifend, sondern auch im außerschulischen Bereich präsent und wurde mithin zu einer Größe der Geschichtspolitik.13 Dies zeigt, dass das Erzählgeflecht Sozialismus, in das die theoretische Grundlage der Weltanschauung eingepasst wurde, weit über die Schulbücher hinausreichte. Die Wiederholung bildete das Mittel der Erzeugung einer eigenen sozialistischen Erinnerungskultur, sie war die wesentliche Form des kulturellen Gedächtnisses. Die Problematik, die diese ausgeprägte Wiederholungsstruktur für eine ansprechende Unterrichtsgestaltung bedeuten mochte, wurde zwar reflektiert, konnte letztlich aber nicht das in der Schulkultur der DDR fest verankerte rezeptive Lernen ablösen, das die Weltanschauungsdidaktik und somit auch ihre Struktur entscheidend prägte. In der Diskursforschung wird debattiert, ob die stabilisierende Wirkung von Wiederholungen entscheidend von einem sich wandelnden Kontext abhängt.14 Eine rein mechanische Reproduktion hingegen, in deren Verlauf die Zeichenhaftigkeit des Wiederholten erkannt und der Inhalt als Klischee oder Stereotyp überformt wird, führt zur ironischen Distanzierung und erzeugt einen Verfremdungseffekt: Der Mediennutzer erkennt das Zeichen als Zeichen.15 Folgt
13 So etwa der Rede von den sowjetischen „Freunden“. Bei dieser Freundschaftsgeschichte handelte es sich freilich nicht um die staatliche Förderung zwischenmenschlicher Kontakte von Privatpersonen, eher um das Gegenteil, wie die Historikerin Silke Satjukow feststellt, die die Beziehung zwischen DDR-Bürgern und sowjetischen Besatzern eher als eine durch „Freundschaftsfunktionäre“ verwaltete (Abschottungs-)Politik deutet, vgl. dies. (2009): Die „Freunde“. In: Sabrow, Martin (Hg.): Erinnerungsorte der DDR. München: Beck, S. 55–67. 14 Hendrik Pletz erläutert, inwiefern Wiederholungsstrukturen ein subversives Potenzial aufweisen, vgl. ders. (2010): Diskursiver Wandel und technische Praxis. Differenzierende Wiederholung im medialen Dispositiv des Videorekorders. In: Landwehr, Achim (Hg.): Diskursiver Wandel. Wiesbaden: VS, S. 311–333. Am Beispiel des Videodiskurses, der in den 1980er Jahren um das Genre Zombiefilm geführt wurde, stellt er medien- und diskurstheoretische Überlegungen zum Wechselverhältnis von Zeichensystemen und Zeichenpraxis an. Diese beziehen sich auf die technisch reproduzierbare Wiederholung bestimmter Filmsequenzen und die Auswirkungen, die mediale bzw. filmische Wiederholungsstrukturen auf das Ausgangsobjekt haben (vgl. S. 311). Er fragt nach den Modifikationen, die Wiederholungsstrukturen in der materiellen und medialen Reproduktion erfahren, und identifiziert zwei Rezeptionsmuster: Verfremdungseffekt und ironische Distanzierung. Mit ihnen ginge die ursprüngliche Wissensvermittlung verloren, das Element neutralisiert sich und schlägt mithin ins Negative um. 15 Vgl. ders. (2010): Diskursiver Wandel, S. 314–318 f.
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Religion und Atheismus in der sozialistischen Erinnerungskultur
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man diesen Überlegungen, so ist jeder Akt des Zitierens zumindest ambivalent, insofern ihm ein destabilisierendes Potenzial innewohnt. Übertragen auf den Beispielbestand ist zu überlegen, ob die Zitatstruktur der Gesellschaft, die ungebrochene Wiederholung bestimmter Lehraussagen und Sprachmuster innerhalb der Staatsbürgerkundelehrbücher, nicht letztlich einen gegenteiligen Effekt bewirkte. Genauer: ob in der Unterweisungsstruktur und den Lehrtexten bereits ein subversives Potenzial angelegt war, das den Hegemonialdiskurs Sozialismus unterhöhlte. Empirische Daten aus DDR-Zeiten wie Unterrichtsmitschnitte und Lehrfilme, die diese Problematik ansatzweise identifiziert hatten, weisen in eine entsprechende Richtung.16 Aus der narrationsbezogenen Analyse der Lehrtexte geht dies freilich nicht hervor. Auch wenn Wiederholung kein hinreichendes Mittel zur Konstruktion und Plausibilisierung eines tragfähigen kulturellen Gedächtnisses sein mag, wäre es hermeneutisch und politisch naiv, von Texten und Textstrukturen allein auf die Gründe für das Scheitern eines politischen Systems zu schließen. Die Analyse beschränkte sich deshalb auf die Frage, welche Rolle dem Zusammenwirken von Memorierbarkeit und Wiederholung im Prozess des Erlernens der sozialistischen Weltanschauung zugemessen wurde. Alles andere ist Sache einer an die empirische Rezeptionsforschung anschließenden Studie, die wiederum mit eigenen methodischen und methodologischen Problemen konfrontiert wäre.
c) Religion und Atheismus in der sozialistischen Erinnerungskultur Am Ende des geschlossenen Korpus Staatsbürgerkunde standen die Lehrbücher der Klassen 11/12. Sie bildeten den Schlusspunkt eines Wissens, das mit Geschichten begann und mit theoretischen und philosophiegeschichtlichen Inhalten endete und damit formal der Struktur ‚Vom Mythos zum Logos‘ folgte. Die dramaturgische Verknüpfung von Textteilen in argumentativer Absicht zeigt, dass die Texte in ihrem Sendungsbewusstsein genau aufeinander abgestimmt waren. Mit der systematischen Ergänzung der Inhalte um theoretische Aspekte wurde die Erinnerungskultur nach und nach theoriebezogen konstruiert. Atheismus zählte nur sehr bedingt zu dieser Konstruktion. Die sozialistische Erinnerungskultur und Weltanschauung konstituierte sich eben nicht über Atheismus; er bildete weder das zentrale Integrationsmoment, noch war er Schlagwort der sozialistischen Erziehung.17 Vielmehr wurden in den Lehrbüchern andere Attribute gewählt, die 16 Vgl. das Beispiel eines Lehrfilms Staatsbürgerkunde, der im Materialanhang von Grammes (2006): Dokumentenband, S. 530–535 dokumentiert ist. 17 Dieser Befund knüpft an eine (wissenschaftliche) Kontroverse an, die um die Bedeutung des Atheismus für den Marxismus-Leninismus sowie für den DDR-Sozialismus insgesamt geführt wird. Die Debatte bewegt sich zwischen den beiden Polen ‚ja‘ und ‚nein‘: Zustimmung aus wissenschaftlicher Sicht findet sich zum Beispiel bei dem Leipziger Kultursoziologen Thomas Schmidt-Lux, der in seiner Dissertation, der neusten systematischen Analyse für den Bereich So-
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sich für die narrative Inszenierung der sozialistischen Weltanschauung besser eigneten, so dass deren Erzählstrukturen das Thema Atheismus schließlich überlagerten. Dies war im Hinblick auf das Gesamtkonzept folgerichtig. Im Sinn der Konstruktion einer eigenen Traditionskultur konnte es nicht darum gehen, das Gesellschaftsmodell auf Gegnerschaft oder Anti-Haltung aufzubauen. Während Atheismus immer auch ein Sich-Verhalten zu Religion impliziert, wurden für die Vermittlung Elemente gewählt und in den Schulbüchern narrativ inszeniert, die frei von Religionsbezug dargelegt werden konnten. Das Anliegen der „Überzeugungsbildung“ war grundlegender: Im Vordergrund stand die Verankerung einer alternativen sozialistischen Erinnerungskultur, von der aus Religion nur als temporäre Abweichung von der ‚richtigen‘ Weltanschauung erschien. Für die Frage nach der Instrumentalisierung des Religionsbegriffs in dieser Konstruktionsgeschichte ist der an einigen Stellen der Lehrbücher vorkommende Atheismusbezug hingegen unmittelbar relevant. Als Religion in den Klassen 11/12 zum Lehrbuchthema wurde, rückte auch Atheismus in den Blick. Dass Religion und Atheismus die Kehrseite einer Medaille bildeten und als Allgemeinbegriffe einander gegenübergestellt waren, belegen auch die Einträge des Referenzwerkes Philosophisches Wörterbuch. Im Artikel Religion wurde Theismus als wesentliches Identifikationskriterium für Religion insgesamt hervorgehoben, alle „Weltreligionen“ (Christentum, Buddhismus, „Brahmanismus“, „Lamaismus“, „BuddhismusLamaismus“) galten dort gleichermaßen als „Monotheismus“.18 Mit der Konstruktion von Atheismus als Gegenbegriff der Kategorie Religion, wie diese im Artikel Atheismus festgeschrieben wurde19, konnte es keine atheistische Religion geben, auch wenn kritisch darauf verwiesen wurde, dass die „bürgerlich-christliche Reli gionsgeschichtsschreibung neuerer Zeit vielfach [den] Buddhismus und [den] chine zialismus und Religion, den Atheismus als einen wesentlichen Faktor für die Bekämpfung bzw. „Substituierung“ in der Konfliktkonstellation Staat – Kirche ansieht, vgl. Schmidt-Lux (2008): Wissenschaft als Religion, S. 181. Auch in der Politik wurde an prominenter Stelle davon ausgegangen, dass die Erziehung zu einer „atheistischen Lebenskultur“ Hauptbestandteil der sozialistischen Bildung überhaupt gewesen sei, vgl. Band Ideologie (3/1) der Enquête-Kommission, S. 216. Dagegen argumentierten bereits zu DDR-Zeiten politische Akteure aus Kirche und Partei, später vermehrt ehemalige DDR-Wissenschaftler wie Hans Lutter, Horst Groschopp oder Olof Klohr, die sich mitunter auf Karl Marx und dessen berühmtes Atheismus-Zitat bezogen, vgl. dazu die zusammenfassende Analyse des Kapitels zur Staatsbürgerkunde 11/12. Das Interessante an der Debatte ist weniger die ohnehin nur schwer entscheidbare Frage um die ‚tatsächliche‘ Bedeutung atheistischer Lehrinhalte. Aufschlussreich sind vielmehr die mit dem Atheismusbegriff verbundenen verschiedenen (religions-)politischen Implikationen, wie in Kapitel 1 dargelegt. 18 Vgl. Art. Religion, in: Philosophisches Wörterbuch Band 1, S. 943. 19 Dort heißt es: „Atheismus [griech.] – eigtl: Gottlosigkeit, Leugnung der Existenz Gottes, eines göttlichen Prinzips. Wesenszug einer Klasse von Weltanschauungen, die die Welt aus sich selbst erklären und daher bewußt jede Art von Gottesvorstellungen ablehnen, was die Absage an alle Glaubensgehalte bestimmter bzw. jeglicher Religion einschließt.“ Vgl. Art. Atheismus, in: Philosophisches Wörterbuch Band 1, S. 125 f.
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Religion und Atheismus in der sozialistischen Erinnerungskultur
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sische[n] Taoismus [Hervorh. i. Orig.] als atheistisch bezeichnet“.20 Die terminologische Ausweitung hatte es möglich gemacht, Atheismus und Theismus nicht nur argumentativ, sondern auch phänomenologisch zu unterscheiden. Damit war die über den Atheismusbegriff konstruierte Religionskritik nicht auf Christentum oder Gottesglauben beschränkt. Die Lehrbücher verwendeten ‚religiös‘ und ‚Religion‘ nicht als Synonyme für christlich oder Christentum, sondern als Gattungsbegriffe für eine grundlegend falsche Weltanschauung. Die wissenschaftliche Weltanschauung des Marxismus-Leninismus war allein philosophiegeschichtlich so selbstverständlich als atheistische – dies meint hier: als säkulare – Weltanschauung konzipiert, dass ihre narrative Plausibilisierung im Wesentlichen ohne die Inszenierung der Gegnerschaft zu Religion auskam. Im Gegensatz zu dem im zweiten deutschen Kaiserreich auch aus vereinsrechtlichen Gründen als Gegenbegriff zu Religion entworfenen Terminus wurde Weltanschauung im ostdeutschen Diskurs als Kategorienbegriff verwendet. Die DDR schuf zudem den juristischen Rahmen dafür, eine eigene Weltanschauungsgeschichte nicht nur neu zu erzählen, sondern auch – im ‚Weltanschauungsstaat DDR‘ (Alexandra Budke) – zu i mplementieren. Mit dem Marxismus-Leninismus liegt der Weltanschauungsforschung ein eigener Diskursstrang vor, dessen Spezifikum es ist, Weltanschauung nicht als Gegen-, sondern als Oberbegriff etabliert zu haben, denn Weltanschauungen waren beide: sowohl Marxismus-Leninismus als auch Religion. Allerdings unterschieden sich religiöse und sozialistische Weltanschauung grundsätzlich voneinander. Dabei waren es nicht die (gegenseitig unterstellten) politischen Ziele, die eine Koexistenz verunmöglichten, sondern die in der theoretischen Konzeption festgeschriebene fundamentale Unvereinbarkeit der Prämissen und philosophischen bzw. erkenntnistheoretischen Grundlagen von Marxismus-Leninis mus und Religion als materialistischer und idealistischer Weltanschauung. Auch wenn die SED auf der Ebene der Realpolitik immer wieder mit Vertretern der Kirchen ins Gespräch kam und zeitweise die Rede von einem christlich-marxis tischen „Dialog“ war, fand dieser Dialog stets zwischen Individuen – Christen und Marxisten –, nicht aber zwischen Idealismus und Materialismus statt.21 Im Gegenteil lag das tiefgreifende religionskritische Potenzial der sozialistischen Weltanschauung ja gerade in einer erkenntnistheoretisch begründeten Gegensätzlichkeit. Diese erklärt nicht nur, weshalb sich der Marxismus-Leninismus konsequent einem theologischen Religionsdiskurs verweigerte, sondern fundiert 20 Vgl. Art. Atheismus, in: Philosophisches Wörterbuch Band 1, S. 126. 21 In dieser Konstellation erhält der Titel des kenntnisreichen Beitrags des DDR-Philosophen und ehemaligen Leiters der Forschungsstelle Wissenschaftlicher Atheismus, Hans Lutter, eine andere Konnotation, vgl. ders. (2006): Gegensätze zwischen Weltanschauungen sind keine Gegensätze zwischen Menschen. Zur Geschichte des Atheismus in der DDR. In: Isemeyer, Manfred (Hg.): Humanismus ist die Zukunft. Festschrift. Hundert Jahre Humanistischer Verband Berlin. Gräfenhainichen: Winkler Druck, S. 167–182.
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die bereits bei Marx und Engels vorgenommene Kritik an Religion als Religionskritik und eben nicht als reine Christentumskritik – auch wenn seinerzeit das Christentum in den Schriften den (Haupt-)Beispielbestand abgab.
d) Fazit: Sozialismus und Religionsbegriff Die Lehrbuchanalyse verblieb weitgehend auf der Textebene, wo für die Frage nach der Konstruktion der narrativen Wirksamkeit der Lehrtexte wirkungstheoretische Ansätze einbezogen wurden. Abschließend soll es nun noch einmal um die Deutung des Sozialismus in der akademischen Diskussion und damit um tatsächliche Rezeptionsprozesse gehen. Die Ergebnisse der Analyse werden damit an die der Arbeit zugrunde liegende Beobachtung einer Verschränkung von Religions- und Sozialismusdiskurs rückgebunden und, ausgehend von dessen Deutung als religiösem Phänomen, als Frage nach dem Verhältnis von Narration und Rezeption reformuliert: Inwiefern leistet die narrative Struktur des Sozialismus, wie sie am Beispiel Staatsbürgerkunde expliziert wurde, einer Deutung als religiös Vorschub? In der akademischen Debatte herrscht Übereinstimmung darüber, dass Sozialismus und Religion irgendetwas miteinander zu tun haben.22 Die Verwendung des Religionsbegriffs im Zusammenhang mit Sozialismus und Kommunismus ist offenbar plausibel genug, dass sie zunächst keiner weiteren Begründung bedarf. Der Religionsbegriff scheint zumeist als selbsterklärend verstanden zu werden, zumindest wird ihm auch über Fächergrenzen hinweg eine Erklärungsfunktion unterstellt. Dies ist freilich fraglich. So wurde in der Sekundärliteratur denn auch mehrfach als Problemhorizont formuliert, dass mit der Ausweitung des Religionsverständnisses eine Entgrenzung des Gegenstandsfeldes und damit eine auf Kosten sprachlicher Genauigkeit gehende Entgrenzung von Sprache verbunden sein kann.23 Die Analyse hat ergeben, dass ein wesentlicher Unterschied in der Darstellung von Religion und Marxismus-Leninismus in ihrer erzählerischen Präsentation besteht: Über die Fokalisierung durch Figuren werden der Sozialismus und seine Weltanschauung narrativ konkretisiert, während die stets von außen geschilderte Religion als Erfahrungsgröße unzugänglich blieb. Die fiktionalen Beschreibungsmodalitäten sind der Darstellung der sozialistischen Weltanschauung vorbehal 22 So Makrides, der es für unbestreitbar hält, dass säkulare Phänomene einen „wie auch immer gearteten Bezug zu den traditionellen Religionen aufweisen“, vgl. ders. (2012): Jenseits herkömmlicher Religionsformen, S. 270; ausführlicher auch in der Einleitung. 23 Jüngst bei Kevin Schilbrack (2013): What isn’t Religion? In: Journal of Religion in Europe 6, Heft 4, S. 291–318. In Rekurs auf Timothy Fitzgerald und Martin Riesebrodt heißt es: „There is not much within culture which cannot be included as ‚religion‘. […] Everything becomes ‚somehow‘ or ‚implicitly‘ religious.“ Und: „When soccer games are seen as religious phenomena and the recitation of Buddhist sutras is not, something has obviously gone wrong.“ Ebd., S. 291 f.
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Fazit: Sozialismus und Religionsbegriff
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ten, an keiner Stelle der Lehrbücher wird ein inhaltliches Sinngebungspotenzial von Religion in Erwägung gezogen oder gar ihre weltanschauliche Qualität inszeniert. Wirksamkeit, wie sie in der Fokalisierung des Sozialismus aus der Innensicht von Figuren illustriert wird, ist für Religion ausgeschlossen. Auch äquivalente Beispielgeschichten für die Hinwendung von Christen oder anders Religiösen zum Sozialismus finden sich an keiner Stelle des Lehrbuchkorpus. Das narrative Potenzial einer inneren tiefgreifenden Erfahrung, wie sie als Wendepunkt im Leben einer Person vor allem im Genre der Konversionserzählung inszeniert wird, bleibt für die Darstellung der Wirksamkeit des Sozialismus auf religiöse Menschen ungenutzt. Allerdings wird mit der Überführung des narrativen Schemas Konversion in den sozialistischen Kontext eine in religiösen Kontexten weit verbreitete Beschreibungsmodalität bemüht. Auch wenn das kulturelle Schema Konversion mit einer bestimmten Weltsicht verbunden ist24, sagt dessen Aktivierung erst einmal nichts über den Inhalt aus: Die Strukturen selbst sind nicht religiös, sondern narrativ. So wie die Leerstelle ein formales Merkmal bildet, das an sich keinen Inhalt qualifiziert – deshalb kann es weder religiöse Leerstellen geben, noch ließe sich Religion hinreichend als Leerstelle definieren –, sind auch Figurenerleben, Erzählinstanzen oder intertextuelle Verweisstrukturen zunächst Fiktionalitätsmerkmale. Sowohl ihre inhaltliche als auch ihre metasprachliche Klassifizierung als religiös bzw. ‚religiös‘ verweist auf eine spezifische Rezeptionstradition, in der formale Merkmale wie der Bruch im Erzählgeschehen auf bestimmte Weise gedeutet und ggf. genrespezifisch zugeordnet werden, etwa der Konversionserzählung. Diese Zuordnung verweist ihrerseits auf kollektive Vorstellungen dessen, was in den Bereich des Religiösen zu zählen sei. Sie bildet insofern stets den Rahmen, in dem sich eine Zuordnung überhaupt erst als metasprachliche Zuordnung erweist. Diesen Problemhorizont ließ sowohl die Debattenlage in der wissenschaftlichen Sekundärliteratur durchscheinen, als auch die an einigen Stellen der Analyse hinzugezogene Deutung des Sozialismus durch seine Protagonisten. Diesen war am Gebrauch eines metasprachlichen Religionsbegriffs nicht gelegen, infolgedessen sie weder den Sozialismus noch seine Weltanschauung als ‚religiös‘ gedeutet wissen wollten. Ein eindrückliches Beispiel hierfür lieferte die Rezeption des Vereinigungsparteitages von KPD und SPD zur SED, die in der Analyse Staatsbürgerkunde 7 behandelt wurde. Freilich ließe sich einwenden, dass eine re 24 Vgl. Schneider (2010): Methoden rezeptionstheoretischer und kognitionswissenschaftlicher Ansätze, S. 74 f. Das durch bestimmte Schemata ausgelöste Literaturverstehen beruht weniger auf dem Nachvollziehen von Faktenwissen und mehr auf der Aktivierung einer mit dem Schema verbundenen Weltsicht, „d. h. den Konzeptionen von der Welt und ihrer Bewertung“, die der Autor als kulturelle Schemata, als „die Wissensstrukturen“ bezeichnet, „die Mitglieder einer Gesellschaft aufgrund ähnlicher Sozialisationsbedingungen teilen und die ihre Wahr nehmung der Welt und Handlungsdispositionen bedingen.“ Damit sind diese Schemata nie objektiv oder wertneutral, vgl. ebd.
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ligionswissenschaftliche Untersuchung, die auf die methodologisch begründete Trennung von Objekt- und Metasprache25 besteht, die Selbstaussagen des Gegenstands kaum zum Ausgangspunkt ihrer wissenschaftlichen Klassifikation wählen kann. Was sie aber kann ist, die jeweiligen Begründungsmuster der Klassifizierung zu analysieren, wo nötig von anderen als wissenschaftlichen oder erkenntnisleitenden Motivationen zu unterscheiden und zumindest auf die Diskrepanz zwischen metaphorischer Rede und Realaussage hinzuweisen. Interessant ist immerhin, dass politische Akteure wie der damalige Ministerpräsident der DDR, Otto Grotewohl, die von außen erfolgte Zuschreibung an den Sozialismus als religiöses Phänomen durchaus aufgegriffen haben – dies aber ausschließlich in ihrer Zeichenhaftigkeit, womit Grotewohl selbst die Äußerung metaphorisch gewendet hat. Ob eine Religionsmetapher indes ausreicht, um einen Gegenstand als religiös/‚religiös‘ zu qualifizieren, bleibt zweifelhaft. Ein grundlegendes Problem metaphorischer Rede ist, „dass sie nicht sagt, was sie meint“, bzw. dass sie etwas anderes meint, als die Sprachäußerung bedeutet und dadurch eine Diskrepanz zwischen semantischen und pragmatischen Bedeutungshorizonten produziert.26 Dass die metaphorische Begriffsverwendung normative Verständnisse begünstigt, hat die Analyse der als Religion- Debatte gezeigt. Die Verwendung des Religionsbegriffs diente dort dazu, qualitative Unterscheidungen von Religion und Sozialismus zu treffen, was sich auf den politischen Diskurs auswirkte. Ein ursprünglich metaphorisch verwendeter Religionsbegriff wurde hier in einen ontologischen Status überführt und entfaltete damit erst seine politische Wirksamkeit: In der Debatte um die DDR waren die Begriffe religiös (oder pseudo-religiös) eben keine terminologischen Experimente mehr, sondern die Basis für die realpolitische Gesamtbewertung des Systems. Dies zeigt, dass die Metapher nicht ganz ungefährlich ist: Zwar mag der metaphorische Effekt einer Redehandlung erst dann eintreten, wenn diese als 25 Dass die eindeutige Trennung von Objekt- und Metaebene bei einigen religionsgeschichtlichen Gegenständen allerdings Probleme bereitet, hat Michael Bergunder am Beispiel der modernen Esoterik gezeigt, wo sich eine Trennung beider Ebenen durch die esoterischen Bezüge der Esoterikforschung als schwierig erweist. Womöglich ist dies aber ein Scheinproblem, schließlich sei „zwischen einer Gegenstandsbestimmung und dem religionswissenschaftlichen Zugriff auf diesen Gegenstand“ zu unterscheiden. Vgl. ders. (2008): Was ist Esoterik? Reli gionswissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Esoterikforschung. In: NeugebauerWölk, Monika (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation. Tübingen: Max Niemeyer, S. 477–507, hier: 479. 26 So Matthias Junge in Bezug auf die Frage nach der Konstitution von Metaphern und deren „Wahrheitsfähigkeit“, vgl. ders. (2011): Die metaphorische Rede: Überlegungen zu ihrer Wahrheit und Wahrheitsfähigkeit. In: ders. (Hg.): Metaphern und Gesellschaft. Die Bedeutung der Orientierung durch Metaphern. Wiesbaden: VS, S. 205–218, hier: 205. Zweifellos ist die Erweiterung von Begriffsverständnissen nichts Negatives, sondern Ergebnis wissenschaftlicher Re flexion. Wissenschaftstheoretisch ist die Arbeit am Begriff außerdem ohnehin nie abgeschlossen, da Grundbegriffe nicht im eigentlichen Sinn definibel, sondern nur erörterbar sind.
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Fazit: Sozialismus und Religionsbegriff
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Metapher erkannt wurde.27 Dass und vor allem wie die Form dem Inhalt jedoch Bedeutung verleihen kann, genauer: wie die Form einer Rede Rezeptionsprozesse beeinflusst und damit bestimmte (Be-)Deutungen evoziert, haben L akoff und Johnson mit ihrer Metaphernanalyse hinlänglich gezeigt.28 Metaphorik bildet zwar eine grundlegende und zudem kaum vermeidbare Kommunikationsform, sie kann aber auch verschleiernd wirken, indem bestimmte Vorstellungen erst durch das Sprachbild generiert werden, dann aber als feste konzeptuelle Form Verankerung finden.29 Metaphern sind niemals selbsterklärend und dienen nur solange einem Verständnis, wie alle Gesprächsteilnehmer die entsprechenden Sätze „in gleicher Weise verstehen“. Durch die Untersuchung metaphorischer Konzepte lässt sich zumindest „partiell sichtbar machen, in welcher Weise wir Kommunikation, Argumentation und Zeit begreifen, und daß durch diese punktuelle Beleuchtung andere Aspekte dieser Konzepte verborgen werden“.30 Ähnlich wie der Metapherngebrauch vermag auch ein theoretisch informierter Begriff Religion Konzeptbrüche aufscheinen zu lassen. Die Irritation, die entsteht, wenn die Religionswissenschaft Phänomene unter einem metasprachlichen, rein heuristischen Theoriebegriff ‚Religion‘ untersucht, kann ihrerseits dazu beitragen, Vorverständnisse aufzudecken und diese gezielt infrage zu stellen. Dies ist aber etwas grundsätzlich anderes, als den Religionsbegriff metaphorisch zu verstehen. Eine metaphorische ist noch lange keine theoretisch informierte metasprachliche Begriffsverwendung, auch wenn dies am Begriff selbst nicht unbedingt sichtbar wird, sondern am Kontext rekonstruiert werden muss. Sofern das gedankliche Konzept Religion durch eine Metapher strukturiert wird, ist es in einer bestimmten Weise inhaltlich gefüllt. Die Gefahr ist groß, dass dabei aus dem Blickfeld gerät, dass die Metapher die Ähnlichkeiten, die sie zu il-
27 Womit es denn auch weniger die Intention und mehr die Rezeption, „der Rezipient [ist], der den entscheidenden Beitrag für die Konstitution des metaphorischen Effekts liefert“, vgl. Junge (2011): Die metaphorische Rede, S. 211. 28 Lakoff, George/Johnson, Mark (2004): Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg: Carl Auer, 4. Auflage. 29 Lakoff und Johnson erläutern dies am Beispiel der das Nachdenken über Sprache strukturierenden „Röhrenmetapher“. Sie beziehen sich dabei auf Michael Reddy, der dieses Denken über Sprache durch folgende komplexe Metaphorik strukturiert sieht: „Ideen (oder Bedeutungen) sind Objekte – Sprachliche Ausdrücke sind Gefäße – Kommunizieren heißt senden“ (S. 18) und erläutern: „Zunächst läßt sich aus dem Aspekt der Röhren-Metapher Sprachliche Ausdrücke sind Gefäße für Bedeutungen ableiten, daß Wörter und Sätze inhärente Bedeutungen haben, die von jeglichem Kontext oder Sprecher unabhängig sind. Aus dem Aspekt der Röhren-Metapher Bedeutungen sind Objekte läßt sich beispielsweise ableiten, daß Bedeutungen unabhängig von Menschen und Kontexten existieren. Aus dem Aspekt der Röhren-Metapher Sprachliche Äußerungen sind Gefäße für Bedeutungen läßt sich ableiten, daß Wörter (und Sätze) Bedeutungen haben, die ebenso von Kontexten und Sprechern unabhängig sind.“ Ebd., S. 19 f. Alle Hervorh. i. Orig. 30 Lakoff/Johnson (42004): Leben in Metaphern, S. 20 f.
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Wie die Form dem Inhalt Bedeutung verleiht – Zusammenfassung und Fazit
lustrieren vorgibt, erst herstellt31, und damit ein bestimmtes normatives Vorverständnis generiert. Das Metaphorische – ob „Fußballreligion“ oder „Sozialismus als Religion“ – verweist stets auf eine bestimmte Rezeptionskultur und ihren eminent (religions-)politischen Kontext. Als Einordnungen sind diese Konzepte immer auch gesellschaftspolitische Selbstvergewisserungstechniken durch Ein- und Ausgrenzungen – auf der Ebene von Realdefinitionen: Was ist Religion bzw. was ist eine gute Religion? Die These war, dass in der Beschreibung des Sozialismus als Religion ebendiese Probleme der metaphorischen Sprachregelung sichtbar werden. Die Beschreibung als Religion stellt Ähnlichkeiten her, ohne dass Form und Inhalt analytisch unterschieden würden. Da die Form die inhaltliche Rezeption lenkt, wird beides häufig zusammengelesen. Welche Konzepte die unterschiedlichen Perspektiven hervorbringen, bzw. wie diese Konzepte argumentativ funktionieren, zeigt das folgende Schema: Sozialismus/Marxismus-Leninismus Perspektive
narratologisch
metaphorisch
fiktional
fiktiv
Geltungsanspruch
erzählende Rede (narrative Form)
vermeintliche Ähnlichkeit (inhalt)
Konzepte zur Einordnung
hybride Textstruktur: Mischformen fiktionaler und faktualer Rede („Faction“)
Ersatzreligion Politische Religion Zivilreligion
Adjektivbildung
fiktional/ faktual
implizit, quasi-, pseudo-, ersatzreligiös
Ein narratologischer bzw. narrationsbezogener Zugang zum Untersuchungsfeld Sozialismus fokussiert auf narrative Formen. Er qualifiziert verschiedene Modi erzählender Rede (fiktional/faktual, „Faction“), während die einen Vergleich evozierende, metaphorische als Religion-Perspektive mit einer realdefinitorischen und damit inhaltlichen Beurteilung des Phänomens, also dessen vermeintlich ontologischem Status32, verbunden ist. Dies spiegelt sich mitunter in entsprechen 31 Vgl. dazu Lüdemann, Susanne (2004): Metaphern der Gesellschaft, bes. S. 30–46. 32 Fiktiv und real sind im Deutschen keine per se literaturwissenschaftlichen Kategorien zur Qualifizierung einer narrativen Rede, sondern Bewertungen bezüglich der ‚Echtheit‘ von Inhalten: Sie bezeichnen den „ontologischen Status des in dieser Rede Ausgesagten“, vgl. Martínez/Scheffel (1999): Einführung Erzähltheorie, S. 13. Auf die religionswissenschaftliche Theoriesprache übertragen: Ontologisch wird ein Status dort, wo das der Analyse zugrunde liegende Vorverständnis vom Gegenstand (bei Michael Bergunder „Religion 2“) herangezogen
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Fazit: Sozialismus und Religionsbegriff
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den Einordnungskonzepten und Adjektivbildungen. Wie die Rezeptionsanalyse gezeigt hat, sind mit der inhaltlichen Beurteilung stets Aussagen zum Realitätsoder Echtheitswert des Phänomens verbunden. Bestimmte Konzeptualisierungen treffen Unterscheidungen auf inhaltlicher Ebene und beurteilen den Gegenstand ebendort, was offensichtlich normative Begriffe wie „Pseudo-“, „Para-“ und „Quasireligion“ oder Abgrenzungsbegriffe wie „politische Religion“ belegen. Aber auch in der Rede von einer „impliziten“ Religion sowie in „Zivilreligion“ vermag sich ein Kritikpotenzial zu verbergen, das dann ideologisch wird, wenn ihm Vorstellungen von der ‚guten‘ oder ‚richtigen‘ Religion unterlegt sind. In diesem Fall sind die Konzepte für eine religionswissenschaftliche Analyse nicht brauchbar, wohl aber aufschlussreich für eine Untersuchung der wissenschaftlichen Rezeptionsgeschichte des Religionsbegriffs und dessen Diskursivität. Während sich also Konzeptualisierungen wie Ersatzreligion oder politische Religion auf die inhaltliche Ebene eines Phänomens beziehen und dieses dort beurteilen, beschränkt sich die narratologische oder narrationsbezogene Konzeptualisierung auf Textstrukturen und Redeformen. Sowohl Religion als auch Sozialismus generieren Erzählkulturen, in denen sich Anteile fiktionaler Rede finden. Eine auf diesem Befund basierende Qualifizierung beider Gegenstände würde sich demnach als Genreentscheidung erweisen: Im Zentrum stünde der Modus der Rede, der als hinreichendes Kriterium für eine Qualifizierung als religiös an formalen Strukturen orientiert bliebe. Sich bei der religionswissenschaftlichen Analyse von Fiktionalitätsmarkern leiten zu lassen ist prinzipiell möglich, spart aber die Semantik und damit eine weitere wichtige Analyseebene aus. Die Untersuchung hat gezeigt, dass sich beide Weltanschauungen hinsichtlich ihrer Inhalte durchaus voneinander unterscheiden. Dies müsste gesondert berücksichtigt werden, sofern die Bezeichnung religiös nicht ausschließlich formal verstanden wird. In diesem Sinn plädiert die vorliegende Arbeit nicht nur für die Unterscheidung zwischen Darstellungsebene oder Form und semantischer Ebene bzw. Inhalt eines Gegenstands, sondern auch dafür, beide als Analyse kategorien zu verstehen, die sich gewinnbringend in die Debatte um die Beschreibung von Religion einbringen lassen.
wird, „um die Plausibilität von Religion 1“ (dem Klassifikationsbegriff, unter den vermeintlich ähnliche Gegenstände subsumiert werden) aufzuzeigen, vgl. Bergunder (2011): Was ist Religion, bes. S. 13.
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Quellenverzeichnis a) Staatsbürgerkundelehrbücher Klassen 7–12 Staatsbürgerkunde Klasse 7 (1968): Autorenkollektiv unter der Leitung von Werner Otto: Staatsbürgerkunde 7. Berlin: Volk und Wissen 1968, 1. Auflage (1975): Autorenkollektiv unter der Leitung von Kurt Schneider: Staatsbürgerkunde 7. Berlin: Volk und Wissen, 2. Auflage der Ausgabe von 1974 (1978): Autorenkollektiv unter der Leitung von Kurt Schneider: Staatsbürgerkunde 7. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage (1983): Autorenkollektiv unter der Leitung von Heinz Hümmler: Staatsbürgerkunde 7. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage Staatsbürgerkunde 8 (1969): Autorenkollektiv unter der Leitung von Werner Wippold: Staatsbürgerkunde 8. Berlin: Volk und Wissen 1970, 2. Auflage der Ausgabe von 1969 (1972): Autorenkollektiv unter der Leitung von Werner Wippold: Staatsbürgerkunde 8. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage (1975): Autorenkollektiv unter der Leitung von Hans Berndt: Staatsbürgerkunde 8. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage (1984): Autorenkollektiv unter der Leitung von Willi Büchner-Uhder: Staatsbürgerkunde 8. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage Staatsbürgerkunde 9 (1961): Lehrbuch für Staatsbürgerkunde der 9. Klasse der Oberschule. Autorenkollektiv unter der Leitung von Ernst-Joachim Krüger. Berlin: Volk und Wissen (1964): Staatsbürgerkunde 1. Weg und Ziel des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik. Entwurf. Autorenkollektiv unter der Leitung des Instituts für Deutsche Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Kollektivleiter Heinz Karras. Berlin: Volk und Wissen (1965): Staatsbürgerkunde 1. Weg und Ziel des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik. Autorenkollektiv unter der Leitung des Instituts für Deutsche Geschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Kollektivleiter Heinz Karras. Berlin: Volk und Wissen (21968) (1970): Staatsbürgerkunde 9. Lehrbuch für Klasse 9. Autorenkollektiv der Sektion MarxismusLeninismus der Humboldt-Universität Berlin. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage (1974): Staatsbürgerkunde 9. Lehrbuch für Klasse 9. Autorenkollektiv unter der Leitung von Kurt Heuer. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage; 1. Auflage der Ausgabe 1977; 1. Auflage der Ausgabe 1983 Staatsbürgerkunde Klasse 10 (1964–1969): Staatsbürgerkunde 2. Der umfassende Aufbau des Sozialismus. Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfram Neubert u. a. Berlin: Verlag Volk und Wissen (1970): Autorenkollektiv unter der Leitung von Werner Kalweit: Staatsbürgerkunde 10. Berlin: Volk und Wissen 1970, 1. Auflage (1972): Autorenkollektiv unter der Leitung von Hans Müller: Staatsbürgerkunde 10. Berlin: Volk und Wissen 1972, 1. Auflage (21973; 31974)
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(1975): Autorenkollektiv unter der Leitung von Hans Müller: Staatsbürgerkunde 10. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage der Ausgabe 1975 (21976) (1977) Autorenkollektiv unter der Leitung von Hans Müller: Staatsbürgerkunde 10. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage der Ausgabe 1977 (21978; 31979; 41980; 51981) (1982) Autorenkollektiv unter der Leitung von Otto Reinhold: Staatsbürgerkunde 10. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage der Ausgabe 1982 (21983); 1. Auflage der Ausgabe 1984 (21985; 3 1986); 1. Auflage der Ausgabe 1987 (21988); 1. Auflage der Ausgabe 1989 Staatsbürgerkunde 11/12 (1963): Gesellschaftskunde. Lehrbuch für die Abschlussklassen der Oberschulen und der Fachschulen. Autorenkollektiv unter der Leitung von Georgi Ch. Schachnasarow (Übersetzung aus dem Russischen). Berlin: Dietz (1964–1970): Staatsbürgerkunde 3. Die sozialistische Weltanschauung. Für die 11. und 12. Klassen der erweiterten Oberschule und die entsprechenden Stufen der Berufsausbildung. Autorenkollektiv unter der Leitung von Dieter Wittich und Reinhold Miller. Berlin: Volk und Wissen; Entwurf: 1964; (21965, 31966, 41967, 5. bearbeitete Neuauflage 1968, 6. durchgesehene Neuauflage 1969, 7. durchgesehene und 8. unveränderte Neuauflage 1970) (1971–1982): Staatsbürgerkunde Klasse 11/12. EINFÜHRUNG in den dialektischen und historischen Materialismus. Autorenkollektiv unter der Leitung von Götz Redlow. Berlin: Dietz (11971, 21972, 31974, 4. überarbeitete Auflage [Leitung: Götz Redlow, Eberhard Fromm] 1974, 51976, 8/91979) (1983–1989): Staatsbürgerkunde. Einführung in die marxistisch-leninistische Philosophie. Autorenkollektiv der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED Erich Hahn, Alfred Kosing, Frank Rupprecht. Berlin: Dietz (11983, 21984, 31985, 51986, 71987, 9. durchgesehene Auflage 1988, 111989)
b) Unterrichtshilfen Staatsbürgerkunde 7–12 Klasse 7 (1970): Staatsbürgerkunde 7. Klasse. Methodische Anleitung. Zum Lehrplan 1968, ausgearbeitet von Klaus Beyer (Halle) u. a. Berlin: Volk und Wissen (1974): Unterrichtshilfen Staatsbürgerkunde 7. Klasse. Von einem Autorenkollektiv der Sektion Philosophie/Geschichte/Staatsbürgerkunde der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Kollektivleiter: Klaus Beyer. Berlin: Volk und Wissen Klasse 8 (1969a): Staatsbürgerkunde 8. Klasse. Methodische Anleitung Teil 1. Zum Lehrplan 1969. Berlin: Volk und Wissen (1969b): Staatsbürgerkunde 8. Klasse. Methodische Anleitung Teil 2. Zum Lehrplan 1969. Berlin: Volk und Wissen (1973): Unterrichtshilfen Staatsbürgerkunde 8. Klasse. Zum Lehrplan 1969, Ausgabe 1972. Autorenkollektiv unter der Leitung von Jonny Gottschalg. Berlin: Volk und Wissen Klasse 9 (1967): Unterrichtshilfen. Staatsbürgerkunde 9. Klasse. Materialien und Hinweise zur Vorbereitung des Unterrichts. Ausgearbeitet von Ekkehard Sauermann (Kollektivleiter), Klaus Beyer, Wolfgang Feige, Günter Fippel, Jonny Gottschalg und Wolfgang Heidler. Berlin: Volk und Wissen (1970): Unterrichtshilfen. Staatsbürgerkunde 9. Klasse. Zum Lehrplan 1970. Ausgearbeitet von einem Kollektiv unter der Leitung von Siegfried Piontkowski. Berlin: Volk und Wissen., 1. Auflage (21971)
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(1975): Unterrichtshilfen. Staatsbürgerkunde 9. Klasse. Autorenkollektiv aus dem Institut für gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik. Kollektivleiter: Siegfried Piontkowski. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage (21979; 31982) (1983): Unterrichtshilfen. Staatsbürgerkunde 9. Klasse. Autorenkollektiv der Sektion Marxismus-Leninismus/Staatsbürgerkunde der Pädagogischen Hochschule Ernst Schneller Zwickau unter der Leitung von Dietrich Riedel. Berlin: Volks und Wissen, 1. Auflage (21985) Klasse 10 (1970): Unterrichtshilfen Staatsbürgerkunde 10. Klasse. Teil 1. Zum Lehrplan 1970. Autorenkollektiv unter der Leitung von Hadubrand Krüger. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage (1975): Staatsbürgerkunde 10. Klasse. Unterrichtshilfen. Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfgang Heidler und Dietrich Riedel. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage (1979): Staatsbürgerkunde Klasse 10. Unterrichtshilfen. Autorenkollektiv unter der Leitung von Rudolf Bauer. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage (1984): Staatsbürgerkunde Klasse 10. Unterrichtshilfen. Von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Siegfried Piontkowski. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage (21985) Klasse 11/12 (1971): Staatsbürgerkunde 11./12. Klasse. Unterrichtshilfen. Zum Lehrplan 1971. Autorenkollek tiv der Sektion Philosophie/Geschichte/Staatsbürgerkunde der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg unter der Leitung von Gisela Diecke. Berlin: Volk und Wissen (11973; 2 1975; 31978) (1981): Staatsbürgerkunde Klassen 11/12. Unterrichtshilfen. Autorenkollektiv unter der Leitung von Gisela Diecke. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage (1985): Staatsbürgerkunde Klassen 11/12. Unterrichtshilfen. Autorenkollektiv unter der Leitung von Gisela Diecke. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage (21989)
c) Lehrpläne für Staatsbürgerkunde 7–12 Klasse 7 (1969): Lehrplan für Staatsbürgerkunde Klasse 7. Berlin: Volk und Wissen [Am 1. September 1968 in Kraft getreten.] Klasse 8 (1968): Lehrplan für Staatsbürgerkunde Klasse 8. Berlin: Volk und Wissen [Am 1. September 1969 in Kraft getreten.] (1982): Lehrplan Staatsbürgerkunde Klasse 8. Berlin: Volk und Wissen, 4. Auflage der Ausgabe von 1975. Berlin: Volk und Wissen [Am 1. September 1975 in Kraft getreten] Klasse 9 (1968): Lehrplan für Staatsbürgerkunde an den allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen Klassen 9–12. (1969): Lehrplan für Staatsbürgerkunde an allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen Klasse 9. Berlin: Volk und Wissen [Am 1. September 1970 in Kraft getreten.] (21972) (1973): Lehrplan für Staatsbürgerkunde an allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen Klasse 9. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage [Am 1. September 1974 in Kraft getreten.] (21977) Klasse 10 (1969): Lehrplan für Staatsbürgerkunde an den allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen Klasse 10. Berlin: Volk und Wissen. [Am 1. September 1970 in Kraft getreten.]
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(1972): Lehrplan für Staatsbürgerkunde an den allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen Klasse 10. Berlin: Volk und Wissen. [Am 1. September 1970 in Kraft getreten.] (1974): Lehrplan für Staatsbürgerkunde an den allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen Klasse 10. Berlin: Volk und Wissen. [Am 1. September 1975 in Kraft getreten.] (1983): Lehrplan Staatsbürgerkunde. Klassen 7 bis 10, hg. vom Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Abteilung Ministerium für Volksbildung. Volk und Wissen: Berlin, 1. Auflage. [Für die Klassen 7 und 9 am 1. September 1983, für die Klassen 8 und 10 am 1. September 1984 in Kraft getreten.] (1988): Lehrplan Staatsbürgerkunde Klassen 7 bis 10. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage. [Jeweils am 1. September 1983, 1984, sowie für die Klassen 9 und 10 1988 in Kraft getreten.] Klasse 11/12 (1975): Lehrplan Staatsbürgerkunde an den allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen Klasse 11 und 12. (Ausgabe 1974), hg. vom Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Abteilung Ministerium für Volksbildung. Berlin: Volk und Wissen, 3. Auflage [Am 1. September 1971 in Kraft getreten.] (1980): Lehrplan Staatsbürgerkunde Abiturstufe. Unterrichtshilfen, hg. vom Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Abteilung Ministerium für Volksbildung. Berlin: Volk und Wissen, 2. Auflage [Für die Klasse 11 am 1. September 1980, für die Klasse 12 am 1. September 1981 in Kraft getreten.]
d) Methodische und didaktische Literatur: Staatsbürgerkunde Allgemeinbildung und Lehrplanwerk (1987). Berlin: Volk und Wissen Verlag Baumann, Manfred/Eisenhuth, Wolfgang (1984): Schulbuchgestaltung. Autorenkollektiv unter der Leitung von Manfred Baumann, Wolfgang Eisenhuth, Eberhard Klinger u. a. Berlin: Volk und Wissen Bütow, Wilfried/Jonas, Hartmut/Schulz, Gudrun (1987): Junge Leser und Brecht, hg. vom Brecht-Zentrum der DDR. Berlin: Buchhandlung Brecht, Manuskriptdruck Eisenhuth, Wolfgang/Schulze, Günter/Strietzel, Horst (1973): Begriffe der Schulbucharbeit. Erläuterungen und Arbeitsstandpunkte. Manuskriptdruck. Berlin: Volk und Wissen (Reihe Information zu Schulbuchfragen Heft 9) Feige, Wolfgang (1974): Zur Polemik als Methode des Lernen. In: Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde 16, Heft 9. Berlin: Volk und Wissen, S. 1088–1092 Ders. (1975): Beiträge zur Methodik des Staatsbürgerkundeunterrichts. Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfgang Feige. Berlin. Volk und Wissen Ders. (1979): Unterrichtsmittel im Staatsbürgerkundeunterricht. Autorenkollektiv unter der Leitung von Wolfgang Feige. Berlin: Volk und Wissen Fippel, Günter (1982): Bildergeschichten im Staatsbürgerkundeunterricht der Klasse 7 (I). In: Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde Heft 6, S. 509–517 Drefenstedt, E. (1977): Sozialistische Unterrichtstheorie. Berlin: Volk und Wissen Verlag Koch, Hans (1973): Die Ausbildung der ästhetisch-künstlerischen Erlebnisfähigkeit der sozialis tischen Persönlichkeit. In: Pädagogik 28, S. 351–357 Kolakowsky, Erika (1981): Für eine klare und entschiedene Weltanschauung – ohne die geht es nicht! Literarische Texte auch für den Staatsbürgerkundeunterricht. In: Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde 23. Jg., Heft 1, S. 72–79 Kühn, Horst (1971): Überzeugungsbildung im Staatsbürgerkundeunterricht. Pädagogischpsychologische Probleme der Überzeugungsbildung im Staatsbürgerkundeunterricht der Klassen 7 und 8. Autorenkollektiv unter der Leitung von Horst Kühn. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage
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g) Referenzliteratur: Geschichts- und Deutschlesebücher Geschichte 5 (1966): Geschichte. Lehrbuch für die 5. Klasse der Oberschule [diverse Autoren]. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage (1971): Geschichte 5. Geschichte Lehrbuch für Klasse 5. Unter Verantwortung des Arbeitsbereiches Methodik des Geschichtsunterrichts an der Pädagogischen Hochschule Dresden von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Dieter Behrendt entwickelt. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage Geschichte 6 (1968): Geschichte 6. Geschichte. Lehrbuch für Klasse 6 der Oberschule. Unter Verantwortung der Fachrichtung Geschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Rigobert Günther und Hans Wermes entwickelt. Berlin: Volk und Wissen (1978): Geschichte 6. Geschichte. Lehrbuch für Klasse 6. Unter Verantwortung der Sektion Geschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Hans Wermes und Sieglinde Müller entwickelt. Berlin: Volk und Wissen (1989): Geschichte 6. Lehrbuch für Klasse 6. Autorenkollektiv unter der Leitung von Hans-Joachim Bartmuß, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Berlin: Volk und Wissen, 1. Auflage (1990): Lehrbuch für Klasse 6. Autorenkollektiv unter der Leitung von Hans-Joachim Bartmuß, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Berlin: Volk und Wissen 1990, 2. Auflage
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I Abkürzungen AfG FDJ
ML
MEW
Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED Freie deutsche Jugend; größte Jugendorganisation der DDR; Eintritt ab 14 Jahren Der FDJ gehörten seit den 1960er/1970er Jahren fast alle Schüler vom 1. bis 7. Schuljahr als Jung- (1.–3. Klasse) oder Thälmannpioniere (4.–7. Klasse) an. Die Pionierorganisation bildete die politische Kinderorganisation und war als Bestandteil des einheitlichen sozialistischen Schulsystems fest in die Schulen integriert. Sie wurde am 13. Dezember 1948 gegründet und im August 1990 aufgelöst. (= Marxismus-Leninismus) sowjetische Marx-Interpretation, die in der DDR als „wissenschaftliche Weltanschauung der Arbeiterklasse“ aufgefasst wurde, und in Anlehnung an Stalin aus drei Elementen besteht: Dialektischer und historischer Materialismus als (geschichts-) philosophische und erkenntnistheoretische Grundlage Politische Ökonomie (bei Marx Kritik der Politischen Ökonomie): die v. a. im Kapital entwickelte Lehre von der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse und der menschlichen Arbeit Wissenschaftlicher Kommunismus: „marxistisch-leninistische Politologie“1; Lehre von Klassenkampf, Revolution der Arbeiterklasse und Aufbau des Sozialismus bzw. Kommunismus; in der DDR als gesetzmäßige und notwendige Entwicklung verstanden (Strategie und Taktik) Marx-Engels-Werke, auf Grund des Umschlags auch als ‚blaue Bände‘ bezeichnet; autorisierte DDR-Studienausgabe in 43 Bänden, die von 1956–1990 hauptsächlich vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED herausgegeben wurden; Dogmatisierungsvorwurf: Die deutsche Ausgabe basierte im Wesentlichen auf der sowjetischen Parteiausgabe; Textauswahl, Vorworte sowie Fußnotenapparat und Register wurden von der russischen Vorlage größtenteils übernommen. Die ab 1975 publizierte Ausgabe MEGA war als historischkritische Gesamtausgabe konzipiert.
1 Glaeßner, Gert-Joachim (1982): Sozialistische Systeme. Einführung in die Kommunismus- und DDR-Forschung. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 232.
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Abkürzungen
SBZ SED ZK
SMAD
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Sowjetisch besetzte Zone, ab 9. Oktober 1949 Gebiet der DDR; in den westdeutschen Medien weiterhin pejorativ verwendet Generalsekretär Politbüro (PB) Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Vorsitzender des ZK; gleichzeitig leitender Vorsitz des Politbüros vom ZK- Plenum gewähltes ausführendes Organ Zentralkomitee; Entscheidungsgremium der kommunistischen Partei, das gemeinsam mit Politbüro, Generalsekretär und Sekretariat über tatsächliche Entscheidungen bestimmte Sowjetische Militäradministration; Verwaltungsapparat der SBZ
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II Begriffsklärungen a) Kommunismus
Quelle: Staatsbürgerkunde 9 (1974): S: 91
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Begriffsklärungen
b) Die Phasen der kommunistischen Gesellschaftsform: Sozialismus und Kommunismus
Quelle: Staatsbürgerkunde 9 (1977): S. 84
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Begriffsklärungen
c) Das Marx’sche Basis-Überbau-Modell in seiner philosophiegeschichtlichen Implikation
Überbau Staat, Wissenschaft, Kunst, Religion usw.
als Gegensatzpaar
BEWUSSTSEIN
Materie
abgeleitet
primär philosophische Herleitung
Idealismus
= unwissenschaftlich; Idee (Hegel) als Grundprinzip der Welt = Gott Bewegung als Ergebnis göttlicher Intervention
(ökonomische) Basis
vs.
Materialismus
= wissenschaftlich; Materie als Grund prinzip der Welt Bewegung als Ergebnis des Zusammenspiels gegensätzlicher Kräfteverhältnisse (Dialektik)
SEIN
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Begriffsklärungen
d) Verhältnis von Materialismus und Idealismus: Die „Grundfrage der Philosophie“ als Frage nach dem Verhältnis von Materie und Bewusstsein
Quelle: Staatsbürgerkunde 11./12. Klasse. Unterrichtshilfen. Berlin: Volk und Wissen 1973, S. 132.
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Register Aberglaube 156–159, 161–164, 1 66–169, 171, 185, 203, 295, 337, 345, 347, 3 51–353, 373, 380 Affekt 232 Anthropologie 49, 83, 104, 112, 138, 154, 189, 236, 244, 376 Antifaschismus 64, 66, 135, 213, 243, 264, 308 Appellstruktur 98, 121, 128–130, 253 Arbeit 34, 39, 40 f., 42, 67, 68, 154, 177, 189 f., 193, 195–197, 201–204, 206, 223–228, 229, 230–232, 234, 235–237 f., 239, 240, 244, 248, 252, 254, 259, 261, 292, 298, 301–306 ff., 325, 331, 340, 353, 362, 377, 382, 388 Arbeiterbewegung 41, 46, 64, 77, 217, 236, 263, 265, 273, 275, 281, 289, 293, 359, 368 Arbeiterheld 176, 193, 201, 207, 223, 239, 293, 301, 383 Atheismus 15, 36, 40, 50, 162, 166 f., 182, 185, 348, 357–359, 363, 369, 373–376, 380, 391–393 Auferstehung 111, 197, 218 Bedeutung 13, 55, 86 f., 89, 102, 104, 115, 117, 118–123, 128–130, 142, 144, 201, 211, 241 f., 255, 279, 288, 295, 301, 302, 306, 333, 340, 382, 396 BRD (Darstellung) 158, 161, 189, 211, 282, 286, 295, 338, 386, 397 Brecht, Bertold 176, 241, 256, 281, 314, 386 Buddhismus 48, 53, 392 Der siebente Sommer (Erzählung) 245, 248 Deutschunterricht 58, 139, 150, 152, 245, 336, 345, 385 Die Abenteuer des Werner Holt (Roman) 138, 149, 152 Diegesis 106, 240, 255, 384, 387 Diegesis, Bruch der 240, 384, 387 Die Maßnahme (Theaterstück) 255–257 Die Tage mit Sepp Zach (Roman) 228 Emplotment 87, 94, 138
Engels, Friedrich (Darstellung von) 33, 44, 146, 178 f., 181, 270–277, 281, 283, 298, 317, 344, 347, 354, 359, 366–368, 370, 380, 385, 390, 394 Erinnerungsgattung 22, 137 Erinnerungskultur 13, 22, 28, 56, 75, 82, 88, 134, 137, 139, 205, 225, 239, 241, 267, 271, 282, 298, 343, 382, 386, 390, 392 f. Erinnerungsort 137, 208, 233, 244, 269 Erlebensgröße 205, 223, 228, 232–235, 254, 378 Ersatz-, Pseudo-, Para-, Quasireligion 17, 48, 398 Erscheinen Pflicht (Erzählung) 333, 341 Erzählforschung 86, 89–92, 94–97, 130, 132, 137 Erzählinstanz 93, 97–99, 103, 106 f., 109, 112–116, 118, 123, 125, 127, 147, 202, 220, 227, 230 f., 234 f., 242, 246, 302, 334–336, 342, 346, 379, 386, 395 Erzählkultur 134, 205, 282 Erzähltheorie 89–98, 101, 105, 113, 115, 124–126, 130–132, 302, 378, 398 Faschismus 57, 64, 192, 213, 298, 308 Figurenrede 114, 118, 147, 195, 227, 230, 234, 242, 252, 268, 288, 305, 384 fiktional/faktual 86, 88, 96–101, 230, 398 Form und Inhalt 51, 101, 112, 153, 219, 239, 293, 382, 383, 398 Genrefrage 96, 100, 112 Geschichtserzählung 88, 205–208, 212, 223, 237, 282, 383 Glück 187, 210, 259, 284, 288, 314–317, 321, 345 Hennecke 142, 207, 224–231, 233, 237, 239, 248, 388 Idealismus 142, 159, 174, 177–180, 182, 187–189, 240, 347, 355, 370, 372, 376, 393 Imperialismus 65, 141, 147, 157, 170, 177, 212, 214, 280, 291, 317, 329, 337, 379 Intertextualität 21, 132, 134, 137
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Register Kabelkran und Blauer Peter (Kurzgeschichte) 245–247 Kapitalismus 41, 63, 158, 174, 177, 188, 191, 210, 223, 272, 275, 279, 281, 294, 307, 349, 351, 379, 390 Kirche, Kirchenpolitik 17, 40, 61, 155, 158, 162, 166, 185, 187, 189, 294, 351–354, 360, 363–365, 369, 373, 377, 380, 392 kollektives Gedächtnis 28, 49, 136–139 Kommunismus 17, 20, 28, 33–37, 40, 48–50, 52, 55, 64, 146, 173–175, 184, 190, 193–195, 198, 217, 223, 251, 272, 279, 281, 283, 310, 314, 322, 337, 344, 349, 354, 379, 394 Leerstelle 121, 128–130, 227, 230, 232, 240 f., 304, 306, 384, 387, 395 Literatur 19, 21 f., 54, 88, 120, 135, 136–139, 146–153, 175, 184, 193 f., 201, 205, 209, 228, 241, 244–246, 267, 280–282, 302, 308, 310, 318, 323, 331, 342, 345–347 Marxismus-Leninismus 18–25, 30 ff., 32, 34, 47, 54, 82, 102, 142, 154, 157, 160, 167, 172, 177, 192, 194, 199, 215, 272, 279, 283, 295, 331–333, 337, 339, 347, 365, 380, 393, 398 marxistische Philosophiegeschichte 178 Marx, Karl (Darstellung von) 21, 31, 33–35, 41–44, 146, 154, 160, 176, 187, 196, 234, 236, 261, 265, 268, 270 ff., 278, 283, 286, 297, 311, 314, 316, 349, 357, 366, 379 f., Materialismus 32, 34, 66, 75, 77, 82, 142, 159, 174, 177–183, 187, 189, 211, 223, 236, 271, 280, 322, 347, 353, 355–357, 363, 370, 373–377, 393 narrationsbezogen 19, 22, 28, 38, 53, 84 ff., 382, 391, 398, 399 Narrativ 21, 29, 66, 84, 87, 91, 96, 155, 191, 194, 198, 203–207, 214, 231, 234, 243, 264, 268, 276, 281, 283, 330, 344, 348, 374, 377, 382, 392, 394 narrative Transzendenz 384, 385, 387 Narratologie 20, 84, 88–93, 95, 97, 100–103, 106–109, 113–116, 123–125, 131, 137, 202 Nationalsozialismus 24, 37, 53, 58, 60, 64, 77, 149, 207, 212, 217, 245, 294, 298, 308, 383, 386 Neuer Mensch 17, 177, 196, 299
437
Paratext 131, 133 Personenkult 39, 49, 244, 262 f., 267, 288, 385 Plausibilisierung 13, 19, 125, 154, 162, 168, 169, 181, 211, 214, 228, 231, 241, 287, 292, 337, 353, 368, 370, 383, 387, 391, 393 Plot/Plotstruktur/Emplotment 87, 90, 93–96, 102, 138, 385 Politische Religion 17, 28, 37, 48, 398 Protokoll einer Sitzung (Theaterstück) 321, 323–327, 336, 386 Pseudoreligion 17 Religionsbegriff 17, 20, 25, 28, 30, 40, 43–51, 55, 154, 187, 359, 364, 378, 392, 394–397, 399 Religionsgeschichte 37, 39, 55, 87, 117, 120, 187, 196, 271, 347, 366 Religionskritik 35, 154, 168, 177, 180, 184–186, 189, 199, 219, 285, 354, 356, 369, 377–380, 393 religiöse Erzählung 111 f. Rezeptionsgeschichte 28, 54, 119–123, 399 Rezeptionstheorie 118, 122, 132, 241, 386 Rezipient 55, 85, 90, 94, 104, 108, 110, 123, 126, 128, 131, 138, 147, 202, 207, 228, 257, 262, 326, 352, 384, 397 Schulbuchforschung 14, 26, 88 SED 24, 32, 62, 67, 70, 78, 80, 142–144, 156, 179, 206, 215–217, 220, 225, 237, 242, 245, 250, 253, 258, 262, 266, 272, 274, 291, 298, 309, 320, 331, 354, 361, 369, 384, 393, 395 Sinn/Sinnfrage/Lebenssinn 13, 18, 34, 41, 70, 120 f., 124 f., 129, 177, 178, 192, 201, 206, 211 ff., 223, 246, 250, 259, 288–290, 299, 301, 315–320, 328, 331 ff., 336, 340, 342, 345, 388 Sinnstiftungspotential 83, Skript 37, 131, 201, 203, 385 Sozialdemokratie 57, 280 Sozialismus als Religion 30, 33–55, 382, 398 Sozialistische Erfahrung 206, 232, 238 Sozialistische Zeugenschaft 29, 175, 195, 203, 269, 305, 321, 327 Staatsbürgerkundeunterricht 13, 19, 53, 56–58, 61–72, 80 f., 140 ff., 146 ff. Story und Plot 90, 95
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Register
Textoberfläche 23, 101 f., 176, 235, 241, 384 Theologie 40, 48, 53, 91, 182, 184, 200, 359, 373 Überzeugungsbildung 19, 21–23, 29, 83, 135, 140 ff., 146, 188, 195, 206, 211, 231, 238, 240, 246, 252, 268, 282, 320, 323, 326, 328, 331–333, 336, 367, 387, 392 Unsterblichkeit 154, 195, 197, 199, 201, 203 ff., 266 Unterricht 19, 22–24, 27, 56, 58, 61–63, 65, 67, 71, 75–80, 82, 134, 139, 145, 147–149, 152, 214, 240, 272, 325, 331, 342, 370, 377, 386 Utopie 195–203, 204, 258, 314 ff.
Weltanschauung 13, 18 f., 22, 32, 34 f., 46, 48, 51–54, 67, 88, 102, 148, 154 ff., 171, 172 ff., 177 f., 187, 201, 203 ff., 207, 223 ff., 238–243, 282, 284, 322, 329, 331, 340, 342, 370, 376 ff., 382, 383, 388, 390–395, 393, 399 Wie der Stahl gehärtet wurde (Roman) 224, 318, 321, 345, 387 Wirksamkeit 13, 24, 76, 128, 139, 145, 146–153, 195, 204, 205, 232, 240, 282, 290, 298, 339, 385–387, 394–396 Wirkungstheorie 119, 121, 123, 149 Zivilreligion 37, 39, 213, 236, 344, 398 Zwei leere Stühle (Roman) 333–335, 341
© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525540497 — ISBN E-Book: 9783647540498