Religion als diskursive Formation: Zur Darstellung von Religion in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 9783839447123

Religion ist gegenwärtig ein breit diskutiertes und kontroverses Thema, das in unterschiedlichen Formen Eingang in die d

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German Pages 414 Year 2020

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Inhalt
Vorwort
I Einleitung
II Religion als diskursive Formation – theoretischer und analytischer Rahmen
II.1 Religion – ein schwer umkämpfter Begriff
II.2 Diskurstheoretischer Rahmen – von Michel Foucault zu Ernesto Laclau und Chantal Mouffe
II.3 Religion als diskursive Formation in literarischen Texten – Analyserahmen
III ›Wiederkehr der Religion‹, Säkularisierung und Formen der ›Religiosität‹
III.1 Säkularisierung und das Narrativ der ›Wiederkehr der Religion‹
III.2 Formen der ›Religiosität‹
IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph
IV.1 Paratextuelle und narratologische Vorüberlegungen
IV.2 Das ›Judentum‹: doktrinäre Gemeinschaft mit individuellem Widerstandspotenzial
IV.3 Das ›Christentum‹: Doktrin vs. Unmittelbarkeit von individueller Erfahrung
IV.4 Religion in Sunrise. Das Buch Joseph – eine Synthese
IV.5 Religiöse Erfahrung im Zeichen ästhetischer Erfahrung
IV.6 Sunrise. Das Buch Joseph und das literarische Werk von Patrick Roth
V Benjamin Stein: Die Leinwand
V.1 Paratextuelle und narratologische Vorüberlegungen
V.2 Die ›Orthodoxie‹ – Religion zwischen Identitätsstiftung und ›Unterwerfung‹
V.3 Der ›Westen‹ und die ›Orthodoxie‹ als ideologische Herrschaftsblöcke
V.4 Zwischen Verortung und ›Widerstand‹ – individuelle Positionierungen und Aushandlungen
V.5 Religion in Die Leinwand – eine Synthese
V.6 Die Leinwand – ein literarischer Seismograf von Krisenerfahrung
V.7 Die Leinwand und das literarische Werk von Benjamin Stein
VI Navid Kermani: Große Liebe
VI.1 Paratextuelle und narratologische Vorüberlegungen
VI.2 Islamische Mystik vs. westdeutsche Kleinstadt
VI.3 Eindeutige Identitätsverortungen – eine literarische Absage
VI.4 Religion in Große Liebe – eine Synthese
VI.5 Verortungsstörungen – Hybridität als ästhetische Praxis
VI.6 Große Liebe und das literarische Werk von Navid Kermani
VII Literatur im diskursiven Feld von Religion, Säkularisierung und Moderne
VIII Ausblick – Jenseits der Episteme?
IX Literatur
IX.1 Primärliteratur
IX.2 Forschungs- und weitere Literatur
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Religion als diskursive Formation: Zur Darstellung von Religion in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
 9783839447123

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Ludmila Peters Religion als diskursive Formation

Lettre

Ludmila Peters (Dr. phil.), geb. 1985, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paderborn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gegenwartsliteratur, Religion und Literatur, Vormärz, Postkoloniale Studien und Narratologie.

Ludmila Peters

Religion als diskursive Formation Zur Darstellung von Religion in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

D 466

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4712-9 PDF-ISBN 978-3-8394-4712-3 https://doi.org/10.14361/9783839447123 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort .................................................................................. 7 I

Einleitung........................................................................... 9

II

Religion als diskursive Formation – theoretischer und analytischer Rahmen ........................................... 23 II.1 Religion – ein schwer umkämpfter Begriff .......................................... 23 II.2 Diskurstheoretischer Rahmen – von Michel Foucault zu Ernesto Laclau und Chantal Mouffe.................................................. 28 II.3 Religion als diskursive Formation in literarischen Texten – Analyserahmen ........... 44 III ›Wiederkehr der Religion‹, Säkularisierung und Formen der ›Religiosität‹ ......... 75 III.1 Säkularisierung und das Narrativ der ›Wiederkehr der Religion‹ ..................... 75 III.2 Formen der ›Religiosität‹ ........................................................... 82 III.2.1 Spiritualität ................................................................. 83 III.2.2 Religiöse Erfahrung.......................................................... 88 III.2.3 Mystik ....................................................................... 96 III.2.4 Zwischen Religion und Kultur – analytische Begriffsverwendung ............. 103 IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph ............................................107 IV.1 Paratextuelle und narratologische Vorüberlegungen ................................107 IV.2 Das ›Judentum‹: doktrinäre Gemeinschaft mit individuellem Widerstandspotenzial ................................................ 121 IV.2.1 Das Wissen der Gemeinschaft ............................................... 122 IV.2.2 Zwischen Klischee und Überlieferung – Herrschaftsbeziehungen und Gewalt ........................................ 140 IV.2.3 Joseph, der treue Außenseiter .............................................. 148 IV.3 Das ›Christentum‹: Doktrin vs. Unmittelbarkeit von individueller Erfahrung........... 151 IV.3.1 Das Wissen der urchristlichen Gemeinde – die Wahrheit der Überlieferung.............................................. 152

IV.3.2 Monoimos und Neith: Herrschaftsstrukturen vs. (scheinbarer) machtfreier Raum .......................................................... 163 IV.3.3 Monoimos – zwischen Gruppenzugehörigkeit und Einzelposition.............. 168 IV.4 Religion in Sunrise. Das Buch Joseph – eine Synthese ............................... 182 IV.5 Religiöse Erfahrung im Zeichen ästhetischer Erfahrung............................. 195 IV.6 Sunrise. Das Buch Joseph und das literarische Werk von Patrick Roth ............... 202 Benjamin Stein: Die Leinwand ..................................................... 209 Paratextuelle und narratologische Vorüberlegungen ................................ 209 Die ›Orthodoxie‹ – Religion zwischen Identitätsstiftung und ›Unterwerfung‹ .........216 Der ›Westen‹ und die ›Orthodoxie‹ als ideologische Herrschaftsblöcke.............. 232 Zwischen Verortung und ›Widerstand‹ – individuelle Positionierungen und Aushandlungen .................................. 236 V.5 Religion in Die Leinwand – eine Synthese ........................................... 256 V.6 Die Leinwand – ein literarischer Seismograf von Krisenerfahrung ................... 266 V.7 Die Leinwand und das literarische Werk von Benjamin Stein......................... 269 V V.1 V.2 V.3 V.4

VI VI.1 VI.2 VI.3 VI.4 VI.5 VI.6

Navid Kermani: Große Liebe....................................................... 281 Paratextuelle und narratologische Vorüberlegungen ................................ 281 Islamische Mystik vs. westdeutsche Kleinstadt ..................................... 292 Eindeutige Identitätsverortungen – eine literarische Absage ........................ 305 Religion in Große Liebe – eine Synthese............................................. 314 Verortungsstörungen – Hybridität als ästhetische Praxis ........................... 320 Große Liebe und das literarische Werk von Navid Kermani .......................... 326

VII

Literatur im diskursiven Feld von Religion, Säkularisierung und Moderne ......... 341

VIII Ausblick – Jenseits der Episteme?................................................ 365 IX Literatur .......................................................................... 369 IX.1 Primärliteratur .................................................................... 369 IX.2 Forschungs- und weitere Literatur ................................................. 370

Vorwort

Die Frage nach der Darstellung von Religion in der Gegenwartsliteratur hat mich in verschiedener Hinsicht eine sehr lange Zeit begleitet: als Idee, Wunsch, Plan, manchmal auch Fluch und Pflicht, vor allem aber aus Interesse und Begeisterung. Die 2018 als Dissertation von der Universität Paderborn angenommene Fassung wurde für die hier vorliegende Publikation geringfügig überarbeitet. Begleitet, unterstützt, motiviert und konstruktiv gefördert hat mich in dieser Zeit mein Doktorvater Prof. Dr. Norbert Otto Eke, dem ich an dieser Stelle für die zahlreichen Hinweise, sein Interesse, die immer vorhandene Bereitschaft für ein Gespräch, vor allem aber für die Forschungsfreiheit danken möchte. Meinem Zweitgutachter, Herrn Prof. Dr. Michael Hofmann, gilt ebenfalls mein Dank. Eine große Unterstützung ist ferner das Graduiertenstipendium der Universität Paderborn gewesen, der ich dafür verbunden bin. Schließlich möchte ich noch René Wessel danken, der mich bei den unsichtbaren Aufgaben einer wissenschaftlichen Arbeit unterstützt hat. Über die Theorien, Texte und Thesen habe ich im Laufe der Zeit mit vielen Freund*innen und Kolleg*innen gesprochen und diskutiert. Sie alle zu nennen, ist hier nicht möglich, ihnen allen gebührt aber ein großer Dank für ihre Hinweise, das offene Ohr und ihre Geduld. Meinen Eltern, denen diese Arbeit gewidmet ist, möchte ich besonders danken – für eure Unterstützung während des Studiums und der Promotion, für euer Interesse, eure Offenheit und euer Vertrauen. Nicht zuletzt gebührt meinem Mann ein großer Dank – seine Begeisterung und der Glaube an mich haben diese Arbeit stets begleitet und geprägt.

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Einleitung

Religion und Literatur – dieser Konnex ist nicht begründungspflichtig, lassen sich doch zahlreiche literarische Werke aus verschiedensten Zeiträumen benennen, die mit Religion in Verbindung stehen. In einer neuen ›Übersicht‹ unternimmt der Theologe Bernhard Lang eine Auswahl von 100 solcher »Spitzentitel« aus »Millionen« Büchern für wissenschaftliche und interessierte Leser*innen.1 Damit reiht er sich in eine seit Jahren u.a. von theologischer, politikwissenschaftlicher, soziologischer und literaturwissenschaftlicher Seite anhaltende Bewegung ein, die das Phänomen einer ›Revitalisierung‹ der gesellschaftlichen und politischen Relevanz von ›Religion‹ beobachtet. Dieses Phänomen ist seit den späten 1990er Jahren als eine in die ›scheinbar‹ bereits säkularisierte Moderne eingebrochene »Wiederkehr der Religion«2 – oder als »Wiederkehr der Götter«3 , »Rückkehr der Religionen«4 , »Desecularization of the World«5 oder den »Eigenen Gott«6 – teilweise verkürzt rezipiert worden. Seither mehren sich die Stimmen, die die diskursiven Verflechtungen von Religion, Moderne, Säkularisierung, Ökonomie und Globalisierung zu differenzieren suchen.7 Auch im deutschsprachigen Raum finden sich seit den 1990er Jahren zahlreiche Autor*innen, die sich dem Feld ›Religion‹ aus unterschiedlichen Perspektiven

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Bernhard Lang: Religion und Literatur in drei Jahrtausenden. Hundert Bücher. Paderborn: Schöningh 2019, S. 1. Gottfried Künzlen: Die Wiederkehr der Religion. Lage und Schicksal der Moderne. München: Olzog 2003. Friedrich W. Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München: C.H. Beck 2004. Martin Riesenbrodt: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der »Kampf der Kulturen«. München: C.H. Beck 2001. Peter L. Berger: The Desecularization of the World. A Global Overview: In: The Desecularization of the World. Resurgent Religion and World Politics. Washington: Eerdmans 1999, S. 1–18. Ulrich Beck: Der eigene Gott. Von der Friedensfähigkeit und dem Gewaltpotential der Religionen. Frankfurt/Main: Insel 2008. Vgl. hierzu den Sammelband Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung. Hrsg. von Ulrich Willems u.a. Bielefeld: transcript 2013.

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Religion als diskursive Formation

nähern, sodass Daniel Weidner bereits 2016 mit dem Handbuch Literatur und Religion eine grundsätzliche »Zwischenbilanz«8 zu ziehen versucht. Darin skaliert auch Michael Braun die literarische Darstellung von Religion in der Gegenwartsliteratur zwischen Konkurrenz und Kooperation, sei es als existenzieller Ausweg aus einer nicht mehr deutbaren säkularen Welt, einer ästhetischen Überformung von Religion, der Problematik von Religion und Gewalt sowie interreligiösen Impulsen von Religiosität im säkularen Alltag.9 Nur: Was genau verstehen die literarischen Gegenwartstexte unter ›Religion‹ und lassen sie sich unter die ›Religions‹-Kategorie subsumieren, wenn sie gar nicht das Wort ›Religion‹ verwenden, wie dies für Werke von Patrick Roth oder Benjamin Stein konstatiert werden kann? Der Begriff ›Religion‹ ist bis heute ein problematischer geblieben, weswegen sich auch zahlreiche Definitionsversuche in den Fachwissenschaften finden. Zur Veranschaulichung wird denn auch wiederholt auf James Leuba verwiesen, der bereits 1912 über 100 Definitionen aufzählen konnte,10 und von diesen kann wiederum der individuelle Alltags- bzw. Selbstgebrauch abweichen: Tatsächlich kommt es oft vor, dass jemand meint, etwas sei eine ›Religion‹ oder jemand sei ›religiös‹, während die so Bezeichneten dies weit von sich weisen. Sie, die Insider, bezeichnen das, was sie tun oder zu erlangen suchen, viel lieber bewusst nicht als ›Religion‹, sondern beispielsweise als ›spirituellen Weg‹. Andere wiederum halten ihre Anschauungen für wissenschaftlich beweisbar und lehnen aus diesem Grunde die Bezeichnung ›Religion‹ ab. Oder es gelten die eigenen Lehren ihren Befürwortern nicht als ›Religion‹, da diese Lehren als absolut wahr aufgefasst werden – im Gegensatz zu den Lehren all der anderen bloßen ›Religionen‹, die diese absolute Wahrheit nicht haben.11 Gerade dieses Alltags- bzw. Allgemeinverständnis von ›Religion‹ scheint allerdings vielen Religionsdefinitionen als »unerklärtes« und implizites zugrunde zu liegen.12 Als isolierte und eigenständige Kategorie wird ›Religion‹ auch in der breiten Öffentlichkeit tradiert. Am deutlichsten zeigt sich dies in der deutschsprachigen Diskussion um den ›Islam‹. So wurde der Ausdruck »Der Westen und der Islam« oder

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Daniel Weidner: Vorwort. In: Handbuch Literatur und Religion. Hrsg. von dems. Stuttgart: Metzler 2016, S. VII–VIII, hier S. VII. Michael Braun: Gegenwartsliteratur/Postmoderne. In: ebd., S. 199–203, hier S. 200f. Vgl. James H. Leuba: A Psychological Study of Religion. Its Origin, Function, and Future. New York: Macmillan 1912, S. 51. Jens Schlieter: Einleitung. In: Was ist Religion? Texte von Cicero bis Luhmann. Hrsg. von dems. Stuttgart: Reclam 2010, S. 9–28, hier S. 9. Vgl. Michael Bergunder: Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft (ZfR) 19/1-2 (2012), S. 3–55, hier S. 10.

I Einleitung

»Der Islam und der Westen« verstärkt seit den Ereignissen um 9/11, dem Karikaturenstreit 2005 und Thilo Sarrazins umstrittener Publikation Deutschland schafft sich ab (2010) in zahlreichen journalistischen Beiträgen aufgegriffen und hat sich mittlerweile als Sprachfigur für zwei inkompatible Größen etabliert.13 Bekannt geworden ist diese Reduzierung auf eine antagonistische Dichotomie durch Samuel Huntingtons Gegenüberstellung vom »Islam und de[m] Westen«14 , die einen zukünftigen »Kampf der Kulturen« (Clash of Civilizations) aufzeigen sollte. Diesen Konflikt sieht er in einem »clash« von Kulturkreisen (»civilizations«), die er als »größte kulturelle Einheiten« mit unscharfen, jedoch explizit vorhandenen »Grenzlinien« versteht.15 Solche essenzialisierenden Reduzierungen unterschiedlicher Gesellschaften auf im Kern homogene ›civilizations‹ werden dabei in einen antagonistischen Dualismus, ein ›Entweder-oder‹ gepresst, bei dem der Ausgrenzungs- und Inferiorisierungscharakter offensichtlich ist.16 Religion, in dem Fall in der historischen Ausprägung des Islam, wird hier als das dem Westen Entgegengesetzte, mit ihm und seinen Werten nicht zu vereinbarende Andere, als eine qualitativ eigenständige Kategorie positioniert. Eine weitere Wahrnehmung von Religion als eigenständigem Bereich ist die Vorstellung der Religion als Privatsache, eine sich im Zuge der Säkularisierung

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Vgl. bspw. Nils Minkmar: Der Westen und der Islam: Raus aus der Defensive! In: FAZ online vom 19. Februar 2006. www.faz.net/aktuell/feuilleton/der-westen-und-der-islam-rausaus-der-defensive-1305932.html; Gudrun Krämer: Der Islam und der Westen. In: Spiegel online vom 21. November 2006. www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-49626797.html; Nicole Diekmann: Der Blick des Westens auf den Islam. ›Kampf der Kulturen‹? In: tagesschau online vom 30. August 2007. www.tagesschau.de/ausland/meldung390614.html. Bei der Süddeutschen online findet man »Der Islam und der Westen« als Themenfeed Ende des Jahres 2017: www.sueddeutsche.de/politik/der-islam-und-der-westen-gottmissbrauchen-1.1503414. Ähnlich ZEIT online: www.zeit.de/2003/04/Schuld_im_Islam. Bei DW erschien hingegen ein Kommentar, der diesen Dualismus kritisch reflektiert: Loay Mudhoon: Der Islam und der Westen sind kein Widerspruch. In: DW vom 11. Dezember 2017. www.dw.com/de/kommentar-der-islam-und-der-westen-sind-kein-widerspruch/a41719032 (Zugriff alle: 25.07.2020). Samuel Huntington: Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert [1996]. München, Wien: Europaverlag 6 1997, S. 334. Die erste Publikation erfolgte als Aufsatz 1993 in der Politikzeitschrift Foreign Affairs. Huntington hat seine Publikation als eine »Interpretation der Entwicklungen der globalen Politik nach dem Kalten Krieg« verstanden (ebd., S. 12). Ebd., S. 53f. Islam und Westen stellen dabei jeweils eigene Kulturkreise (vgl. ebd., S. 57–62) dar. Die großen Kulturkreise bei Huntington sind: der »sinische«, »japanische«, »hinduistische«, »islamische«, »westliche« und »lateinamerikanische« sowie zusätzlich der »orthodoxe« und der »afrikanische« (ebd.). Kritisch mit Huntingtons Thesen hat sich prominent Riesenbrodt (vgl. Die Rückkehr der Religionen, S. 15–28) auseinandergesetzt.

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Religion als diskursive Formation

und Individualisierung entwickelte Position,17 sowie aus den Zugängen der sich mit Religion beschäftigenden Disziplinen, die, abseits der Begriffsproblematik, Religion als separate, von der Kultur getrennte Sphäre, als eigenständige Kategorie verstehen. Die Schwierigkeit an dieser auch von der Religionswissenschaft unterstützten Setzung von Religion als einer »Kategorie sui generis« liege, so Führding, darin, dass Religion damit nicht unter die gleichen Konstitutionsprozesse falle wie Kultur.18 Damit sind aber Fragen nach Konstruktions- und Legitimationsprozessen kultureller Ordnungsstrukturen, den sie stützenden Grenzziehungsmechanismen (in Form von Wahrheitssetzungen), den ihnen zugrundeliegenden Machtbeziehungen sowie Formen der Aushandlung von Identitätszugehörigkeiten und Selbstpositionierungen von Akteur*innen für ›Religion‹ nur eingeschränkt möglich. Von hier aus formulieren denn auch Greil und Bromley ihre Position, Religion als »›category of discourse‹« zu verstehen, »whose precise meaning and implications are continually being negotiated in the course of social interaction«.19 Dabei findet ›Religion‹ als Teil von in Wechselwirkung miteinander stehenden diskursiven Aushandlungsprozessen in Gesellschaft, Wissenschaft, Medien und Politik Eingang in künstlerische Ausdrucksformen wie die Literatur. Literatur, verstanden auch als »Gegenstand kultureller Selbstwahrnehmung und Selbstthematisierung«20 , kann dabei sowohl als Spiegel wie auch als Speicher dieser Diskurse gesehen werden. Auf der einen Seite wird sie von ihnen (mit-)bestimmt und kann so über die jeweiligen Aushandlungsprozesse Auskunft geben, die in sie eingeschrieben sind, die sie speichert und die de- und rekonstruiert werden können. Andererseits kann sie gerade den Konstruktionscharakter dieser Prozesse literarisch ausstellen, sichtbar machen sowie »(neu) verhandeln«.21 Dementsprechend lassen sich auch gerade die aktuellen gesellschaftlichen Aushandlungen von ›Religion‹ in literarischen Selbstwahrnehmungen beobachten; folglich ist Gegenwartsliteratur als Untersuchungsgegenstand somit besonders aufschlussreich. Mit Gegenwart(-sliteratur) wird hier ein Zeitraum anvisiert, dessen Zäsur 17 18

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Vgl. hierzu Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion [1967]. Mit einem Vorwort von Hubert Knoblauch. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991. Vgl. Steffen Führding: Jenseits von Religion? Zur sozio-rhetorischen ›Wende‹ in der Religionswissenschaft. Bielefeld: transcript 2015, S. 63ff., hier S. 7. Im Folgenden werden nur Hervorhebungen, die nicht im Original enthalten sind, explizit ausgeführt. Arthur L. Greil, David G. Bromley: Introduction. In: Defining Religion. Investigating the Boundaries Between the Sacred and Secular. London: Emerald Group 2003, S. 3–19, hier S. 5. Wilhelm Voßkamp: Die Gegenstände der Literaturwissenschaft und ihre Einbindung in die Kulturwissenschaften. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 503–507, hier S. 505. Carsten Gansel, Elisabeth Herrmann: »›Gegenwart‹ bedeutet die Zeitspanne einer Generation« – Anmerkungen zum Versuch, Gegenwartsliteratur zu bestimmen. In: Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Hrsg. von dens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht unipress 2013, S. 7–24, hier S. 14.

I Einleitung

einerseits um den Epochenwechsel 1989 angelegt ist,22 andererseits viel konkreter Texte umfasst, die »eine größtmögliche kommunikative Nähe von Produktion und Rezeption«23 aufweisen. Gegenwartsliteratur meint daher »eine ›Diskursivierung‹ bereitgestellter Ordnungsmuster der je eigenen Gegenwart, als Umschrift derselben und als das Bereitstellen von Gegenentwürfen innerhalb eines zeitlich und räumlich kopräsenten literarischen Feldes«.24 Literatur der Gegenwart ist in diesem Verständnis permanent verschiedenen diskursiven Einflüssen ausgesetzt, auf die sie reagiert. In diesem Sinn kann anhand ausgewählter, sich in zeitlicher Nähe befindender Texte der Gegenwartsliteratur einerseits die literarische Darstellung von Religion und die ihr eingeschriebenen Aushandlungen des Diskursgegenstandes Religion beobachtet und kritisch hinterfragt werden; andererseits agiert Literatur in ihrer künstlerischen Verarbeitung als Akteurin innerhalb des Diskurses über Religion, die diesen durch die literarische Umsetzung (ggf.) auf eine spezifische Weise verändern und beeinflussen kann.25

Forschungsstand – Religion und Literatur Religion im weitesten Sinn ist seit der Moderne aus der Literatur nicht verschwunden, entgegen der aktuellen ›Wiederkehr‹-Rufe, bei denen gestritten wird, ob die Religion oder die mediale Aufmerksamkeit für sie zurückgekehrt seien. Mehrere Einzeluntersuchungen und vor allem Sammelbände haben in den letzten Jahren die explizite und implizite Präsenz religiöser Themen, der Mystik, der Religionskritik oder spiritueller Aspekte in der Literatur bis in die Gegenwart aufgezeigt. Eine vermeintliche ›Renaissance‹ des Religiösen in der Literatur ist dementsprechend auch eher von literaturinteressierter theologischer Seite veranschlagt worden.26 So könne man seit den 1990er Jahren, verstärkt aber seit den 2000ern einen Anstieg an Texten erkennen, die »Glaubensfragen« gerade nicht als »Säkularisate, auch nicht als historisch-religiöses Wissen, sondern als phänomenale Suche nach

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Vgl. Norbert Otto Eke, Stefan Elit: Zur Einführung. In: Deutschsprachige Literatur(en) seit 1989. Hrsg. von dens. [Sonderheft ZfdPh 131 (2012)]. Berlin: Erich Schmidt 2012, S. 1–14; Gansel, Herrmann: »›Gegenwart‹ bedeutet die Zeitspanne einer Generation«, S. 14. Silke Horstkotte, Leonhard Herrmann: Poetiken der Gegenwart? Eine Einleitung. In: Poetiken der Gegenwart. Deutschsprachige Romane nach 2000. Hrsg. von dens. Berlin, Boston: de Gruyter 2013, S. 1–12, hier S. 2. Ebd. Nicht außer Acht gelassen werden darf dabei, dass Literatur – wie auch Literaturwissenschaft – teilnehmende Beobachterin solcher Gegenwartsentwürfe sei, so Horstkotte, wobei die Beobachtung gleichzeitig auf das beobachtete Feld zurückwirke (vgl. ebd.). Vgl. Albrecht Grözinger, Andreas Mauz, Adrian Portmann: Religion und Gegenwartsliteratur: Spielarten einer Liaison. Einleitendes zum Band und zur Thematik. In: Religion und Gegenwartsliteratur. Spielarten einer Liaison. Hrsg. von dens. Würzburg: Könighausen & Neumann 2009, S. 1–20, hier S. 2.

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Religion als diskursive Formation

und Erfahrung von großen Transzendenzen« betrachten.27 Der 2015 erschienene Sammelband Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert 28 bietet in seiner Auswahl von genuin literarischen Themen über Filme bis hin zu Computerspielen ein anschauliches und breites Bild der medialen Rezeption von Religion. In der Gegenwartsliteratur tritt die Religionsthematik so auch verstärkt in der Kombination mit Darstellungen von (kultureller) Identität, Migration, Zugehörigkeitsproblematiken und Fremdkontakt auf, was man bei Autor*innen wie Saša Stanišić, Olga Grjasnowa, Ilija Trojanow, Martin Mosebach, Christoph Peters, Emine Sevgi Özdamar, Feridun Zaimoglu, Sherko Fatah, Zafer Şenocak, Sibylle Lewitscharoff u.v.a. beobachten kann. Die Theologie hat sich dabei lange vor der Literaturwissenschaft mit religiösen Themen in literarischen Texten beschäftigt. Der ›Vater‹ der Forschungsrichtung »Theologie und Literatur«, Karl-Josef Kuschel, bezeichnete lange Zeit das Verhältnis von Literatur und (christlicher) Theologie als »konfrontativ«.29 Nichtsdestotrotz forschte er zu ihrem Verhältnis mit einem dialogischen Anspruch, den gerade sein wissenschaftlicher Erbe, Georg Langenhorst, für gescheitert erklärt.30 In eigener langjähriger Auseinandersetzung mit Religion und Literatur kommt Langenhorst zu folgenden Ergebnissen: Die theologische Rezeption à la Kuschel ist geprägt von starren hermeneutischen Deutungen, die posthermeneutische Konzepte vollkommen ausklammern; die literaturwissenschaftliche Seite ist an dem ›Dialog‹ kaum beteiligt, da sie den theologischen Deutungen gegenüber vorsichtig eingestellt ist; von theologischer Seite fehlt es hingegen an literaturwissenschaftlicher Methodik, Aktualität der theoretischen Forschung und Internationalität. Von Interesse ist vor allem die Beobachtung, die Langenhorst in jahrelanger Arbeit und Sichtung der Gegenwartsliteratur vorgenommen hat: So hätten die Autor*innen einen neuen, anderen Weg gefunden, über Religion zu sprechen. Man könne diesen nicht mit dem Begriff »Renaissance« bezeichnen, aber leugnen könne man die Anwesenheit eines Bedürfnisses, über sie zu schreiben, ebenfalls nicht.31 Jedoch liegt eine diachrone literaturwissenschaftliche Studie, die sich von der Sattelzeit bis in das 21. Jahrhundert erstreckt und die immer wieder bemühte ›Wiederkehr‹ auf den literaturhistorischen Prüfstand stellt, in der gegenwärtigen Forschung bislang nicht vor. Auch sind die zahlreichen religionspädagogischen Arbeiten zum

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Silke Horstkotte: Poetische Parusie. Zur Rückkehr der Religion in die Gegenwartsliteratur. In: Deutschsprachige Literatur(en) seit 1989, S. 265–282, hier S. 267. Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert. Motive, Sprechweisen, Medien. Hrsg. von Tim Lörke, Robert Walter-Jochum. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht unipress 2015. Karl-Josef Kuschel: Vielleicht hält Gott sich einige Dichter. Mainz: Matthias Grünewald 1991, S. 380. Georg Langenhorst: Theologie & Literatur. Ein Handbuch. Darmstadt: WBG 2005, S. 215. Georg Langenhorst: Konfession und Gottesrede im Werk Ralf Rothmanns. In: Religion und Gegenwartsliteratur, S. 53–68, hier S. 67.

I Einleitung

Religions- bzw. neuerdings auch Spiritualitätsthema zwar ob der Auflistung vieler Autor*innen sowie der pädagogischen Zielsetzung für einen ersten Überblick hilfreich, aufgrund dieser Breite jedoch in ihrem literaturwissenschaftlichen Gehalt nicht fachspezifisch differenziert genug.32 Einen neuen Versuch, theologische und literaturwissenschaftliche Positionen zusammenzudenken und das weite Feld des Themenkomplexes Religion/Literatur aufzudröseln, findet sich aktuell in Weidners Handbuch Literatur und Religion. In der literaturwissenschaftlichen Forschung zeichnet sich das Interesse an Religion in erster Linie durch eine Relektüre klassischer Texte vor dem Hintergrund religiöser Fragen und Themen aus; dabei nehmen Einzelstudien größtenteils Werke der literarischen Moderne ins Visier, so die Sammelbände Heilige Texte. Literarisierung von Religion und Sakralisierung von Literatur im modernen Roman33 (2013); Literatur im Religionswandel der Moderne. Studien zur christlichen und jüdischen Literaturgeschichte34 (2009); Literatur und Religion35 (2012); Das Heilige (in) der Moderne. Denkfiguren des Sakralen in Philosophie und Literatur des 20. Jahrhunderts36 (2013), und auch der bereits zitierte Sammelband Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert (2015) lässt sich hier einordnen. Eine Ausnahme stellen die Sammelbände Religion und Gegenwartsliteratur 37 (2009), Kultur und Religion: eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme38 (2016) sowie Religion in Contemporary German Drama39 (2013) dar, die sich mit aktuellen literarischen Texten beschäftigen. Auch die gängigen monografischen Darstellungen zur Gegenwartsliteratur enthalten keine eigenständige Abteilung zur Religion, weder christlicher noch jüdischer noch muslimischer – mit Ausnahme der 32

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So die Publikationen von Georg Langenhorst: »Ich gönne mir das Wort Gott«. Gott und Religion in der Literatur des 21. Jahrhunderts. Freiburg/Breisgau, Basel, Wien: Herder 2009; Magda Motté: Auf der Suche nach dem verlorenen Gott. Religion in der Literatur der Gegenwart. Mainz: Matthias Grünewald 1997; Christoph Gellner: »… nach oben offen«. Literatur und Spiritualität – zeitgenössische Profile. Ostfildern: Matthias Grünewald 2013; Georg Langenhorst, Christoph Gellner: Blickwinkel öffnen. Interreligiöses Lernen mit literarischen Texten. Ostfildern: Patmos 2013. Heilige Texte. Literarisierung von Religion und Sakralisierung von Literatur im modernen Roman. Hrsg. von Klaus Antoni u.a. Berlin: LIT 2013. Literatur im Religionswandel der Moderne. Studien zur christlichen und jüdischen Literaturgeschichte. Hrsg. von Alfred Bodenheimer, Georg Pfleiderer, Bettina von Jagow. Zürich: Theologischer Verlag 2009. Literatur und Religion. Hrsg. von Toni Tholen, Burkhard Moennighoff, Wiebke von Bernstroff. Hildesheim: Universitätsverlag 2012. Das Heilige (in) der Moderne. Denkfiguren des Sakralen in Philosophie und Literatur des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Héctor Canal u.a. Bielefeld: transcript 2013. Grözinger, Mauz, Portmann: Religion und Gegenwartsliteratur. Kultur und Religion: eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme. Hrsg. von Michael Hofmann, Sabine Schmitz, Klaus von Stosch. Bielefeld: transcript 2016. Sinéad Crowe: Religion in Contemporary German Drama. Botho Strauß, George Tabori, Werner Fritsch, and Lukas Bärfuss. Rochester, NY: Camden House 2013.

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Religion als diskursive Formation

Einführung Gegenwartsliteratur 40 (2016) von Silke Horstkotte und Leonhard Herrmann. Diese weist als eigenes Kapitel allerdings »Fantastik und Spekulation« aus, was die Religionsthematik in ein eher despektierliches Licht rückt. Und in Michael Brauns Monografie Die deutsche Gegenwartsliteratur 41 taucht die religiöse Erinnerung bei Christoph Hein im Kapitel »Literatur und Geschichte« auf, wohingegen Patrick Roths Johnny Shines unter »Literatur und Film« verhandelt wird. Neben der verstärkten Fokussierung auf die literarische Moderne fällt in der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung auf, dass die Analysen sich jeweils auf die Autor*innen einer institutionellen Religion beziehen, die Sammelbände hingegen maximal zu der christlichen noch die jüdische bzw. muslimische Literatur hinzunehmen. Die ersten Sammelpublikationen, die sich sowohl mit Gegenwartsliteratur als auch mit verschiedenen religiösen Traditionen (allerdings i.d.R. jeweils einzeln) beschäftigen, wurden zuerst im Rahmen der englischsprachigen Auslandsgermanistik publiziert und sind heute auch in der Inlandsgermanistik aktuell. Der neueste Sammelband zur Gegenwartsliteratur, Gegenwart schreiben. Zur deutschsprachigen Literatur 2000–2015 (2017), enthält mittlerweile Beiträge zu den drei Monotheismen.42 Literaturwissenschaftliche Arbeiten, die die Religionsthematik religionsübergreifend thematisieren, sind dagegen eine Rarität; zu nennen wären hier Horstkotte mit ihrem Aufsatz Heilige Wirklichkeit! Religiöse Dimensionen einer neuen Fantastik, in dem sie Texte von Sibylle Lewitscharoff, Thomas Glavinic und Benjamin Stein vergleicht, sowie ein Aufsatz von Daniel Weidner, der ebenfalls zwei Religionstraditionen aufgreift.43 Die literaturwissenschaftliche Forschung zum Islam bezieht sich größtenteils auf die viel thematisierten Aspekte der Fremdheit, Interkulturalität und kulturellen Identität; das Thema ›Islam‹ als Religion hat der Theologe Christoph Gellner

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Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Hrsg. von Leonhard Herrmann, Silke Horstkotte. Stuttgart: Metzler 2016. Michael Braun: Die deutsche Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Köln: Böhlau 2010. Vgl. Traces of Transcendency. Religious Motifs in German Literature and Thought. Hrsg. von Rüdiger Görner. München: iudicium 2001; Der untote Gott. Religion und Ästhetik in der deutschen und österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Olaf Berwald, Gregor Thuswaldner. Köln: Böhlau 2007; Der Gott der Anderen. Interkulturelle Transformationen religiöser Tradition. Hrsg. von Ernest W.B. Hess-Lüttich, Aru Pon Natarajan. Frankfurt/Main: Lang 2009; Religion and Identity in Germany Today. Doubters, Believers, Seekers in Literature and Film. Hrsg. von Julian Preece, Frank Finlay, Sinéad Crowe. Bern: Lang 2010; Gegenwart schreiben. Zur deutschsprachigen Literatur 2000–2015. Hrsg. von Corina Caduff, Ulrike Vedder. Paderborn: Fink 2017. Vgl. Silke Horstkotte: Heilige Wirklichkeit! Religiöse Dimensionen einer neuen Fantastik. In: Poetiken der Gegenwart, S. 67–82; Daniel Weidner: Jenseits, Umkehr, Heilige Schrift. Erzählen im Zeichen der Rückkehr der Religion. In: Gegenwart schreiben, S. 75–85.

I Einleitung

als Desiderat für die Literaturwissenschaft 2014 herausgestellt.44 Jedoch haben die Sammelbände Encounters with Islam in German literature and culture45 (2009) und Islam in der deutschen und türkischen Literatur 46 (2012) hier bereits Vorarbeit geleistet. Im Bereich der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur liegen Sammelbände in dieser Form nicht vor. Vielmehr wird zu den Themen der Theodizeefrage, des Generationenkonflikts, der Shoah und ihren Folgen sowie der Erinnerung geforscht. Zudem wird eine postkoloniale Lesart jüdischer Gegenwartsliteratur seit einiger Zeit kontrovers diskutiert.47 Während diese Beiträge verschiedene, meist inhaltliche Themen analysieren, wird von Horstkotte in ihrem Überblick zur Gegenwartsliteratur das Fehlen einer diskursanalytischen Arbeit zu Religion und Literatur herausgestellt;48 eine deutschsprachige literaturwissenschaftliche Untersuchung, die Religion diskurstheoretisch fokussiert, stellt ebenfalls ein Forschungsdesiderat dar.49

Untersuchungsparameter Diese Untersuchung setzt theoretisch an diesem Desiderat an und versteht sich als eine exemplarische Querschnittsstudie, die sich gerade nicht mit Texten einer religiös-kulturellen Provenienz beschäftigt. Dieser Ansatz trägt vor allem den Entwicklungen der Globalisierung und sich kulturell verändernden Gesellschaften Rechnung, die sowohl die gegenwärtigen Diskurse als auch deren Subjekte prägen, damit auch die Autor*innen und Leser*innen. Anders formuliert: Die aktuellen Auseinandersetzungen und Diskussionen um die Themen Religion, Gesellschaft und Säkularisierung können nicht mehr nur in einem rein westlich-christli44

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Christoph Gellner: »Allah ist kein Ausländer«. Zur Präsenz des Islam in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik XLVI/2 (2014), S. 25–46, hier S. 25. Encounters with Islam in German Literature and Culture. Hrsg. von James Hodkinson, Jeffrey Morrison. Rochester, NY: Camden House 2009. Allerdings wird hier nationale bzw. ethnische Herkunft häufig analog zur religiösen Zugehörigkeit verwendet. Islam in der deutschen und türkischen Literatur. Hrsg. von Michael Hofmann, Klaus von Stosch. Paderborn: Schöningh 2012. Vgl. hierzu den Sammelband: Orientalism and the Jews. Hrsg. von Ivan Davidson Kalmar, Derek J. Penslar. Waltham: University Press 2005. Vgl. Horstkotte: Poetische Parusie, S. 269. Ähnliche Ansätze lassen sich allerdings in der Religionswissenschaft für die Genderthematik nachweisen. Vgl. Frau – Gender – Queer. Gendertheoretische Ansätze in der Religionswissenschaft. Hrsg. von Susanne Lanwerd, Márcia Elisa Moser. Würzburg: Könighausen & Neumann 2009. In der Anglistik hingegen finden sich Untersuchungen in Bezug auf postkoloniale Romane und vor dem Hintergrund der Konstellation Religion, Medium und Gewalt: Gabriele Rippl: Inszenierung von Differenz. Interreligiöse Konflikte im englischsprachigen indischen Gegenwartsroman. In: Aufgeklärte Zeiten? Religiöse Toleranz und Literatur. Hrsg. von Romana Weiershausen, Insa Wilke, Nina Gülcher. Berlin: Erich Schmidt 2011, S. 175–196 und der Sammelband And the Birds Began to Sing. Religion and Literature in Post-Colonial Cultures. Hrsg. von Jamie S. Scott. Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1996.

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Religion als diskursive Formation

chen Kontext geführt werden, sondern müssen »transkulturell«50 werden. Der ausschließliche Blick auf christlich-assoziierte Texte erscheint vor dem Hintergrund der von Welsch als »permeativ«51 bezeichneten kulturellen Verflechtung als zu verengt. In einer Versuchsanordnung greift diese Untersuchung daher auf literarische Texte zurück, die christlich, jüdisch und muslimisch konnotiert sind. Da das Feld der möglichen literarischen Untersuchungsgegenstände durch den vorliegenden Ansatz potenziert wird, hat diese Arbeit nicht den Anspruch, das Diskursfeld umfassend zu sichten, sondern es vielmehr abzustecken auf die Möglichkeiten hin, die sowohl der theoretische Zugang als auch die Erweiterung des Bezugsrahmens mit sich bringen. Vor diesem Hintergrund wird in der Untersuchung denn auch nicht nach dem Wesen von ›Religion‹ abseits aller gesellschaftlichen und kulturellen Ausprägungen gefragt; auf die hier ansetzenden substanzialistischen Religionsdefinitionen und ein essenzialistisches Verständnis von Religion als einer Kategorie sui generis gilt es somit zu verzichten. Auch ein funktionalistischer Ansatz hinsichtlich der Überlegung, wie Religion in der Gegenwartsliteratur dargestellt wird, kommt über die Frage nach der Leistung der Religion für die Gesellschaft nicht hinaus: Individuelle religiöse Identitätsaushandlungen, die auf sie einwirkenden Machtbeziehungen, kulturelle Ordnungsstrukturen können mit einem funktionalistischen Verständnis nicht adäquat erfasst werden.52 Die vorliegende Untersuchung nimmt Religion als Ordnungskategorie in den Fokus und operiert mit einem zu erarbeitenden, diskurstheoretischen Verständnis von Religion, dem bestimmte Grenzziehungs-, Konstruktions-, Stabilisierungs-, Wissens-, Macht- und Subjektivierungsprozesse zugrunde liegen und das, ausgehend von Michel Foucault, auf der Erweiterung der Diskurstheorie durch Ernesto Laclau und Chantal Mouffe in Religion als einer diskursiven Formation53 fußt. Leitend ist dabei die Frage nach Religion als diskursiver Formation und danach, wie und auf welchen Ebenen Diskursivierungsprozesse als Wissen und Formen der Wahrheit – und damit Sinn – erzeugende Operationen, die bestimmten Machtbeziehungen unterliegen und sich in spezifischer Weise auf die jeweiligen Individuen auswirken, in Literatur verhandelt werden? Die Diskurstheorie, die den Blick auf die Konstruktions-, Identitäts-, Aushandlungs-

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Wolfgang Welsch: Was ist eigentlich Transkulturalität? In: Immer nur der Mensch? Entwürfe zu einer anderen Anthropologie. Hrsg. von dems. Berlin: Akademie 2011, S. 249–322, hier S. 249. Ebd. Zu Fragen der Religionsdefinition, des Religionsbegriffs siehe einführend: Michael Stausberg: Religion: Begriff, Definitionen, Theorien. In: Religionswissenschaft. Hrsg. von dems. Berlin, Boston: de Gruyter 2012, S. 33–48. Im Folgenden wird Religion als diskursive Formation im Sinne einer Ordnungskategorie, von der die jeweiligen einzelnen Religionen als historische und kulturelle Ausprägungen verstanden werden, im Text kursiviert.

I Einleitung

und vor allem Machtprozesse ermöglicht, wird hier daher als theoretischer Rahmen gesehen, der helfen kann, die Darstellung von Religion auf eine andere Weise zu betrachten, nämlich in ihrer Konstruktion, in ihrem Prozesscharakter. Der in der Arbeit gewählte diskurstheoretische Zugang zur Analyse von Religion richtet sich damit nicht auf rein literarisch-motivische sowie hermeneutische Fragen. Stattdessen möchte dieser Ansatz fokussieren, wie die jeweils spezifische Ausformung, Schwerpunktsetzung und ästhetische Verarbeitung des Themenfeldes ›Religion‹ in den hier untersuchten literarischen Werken erfolgen. Damit soll nicht nur das komplexe Themenfeld produktiv neu befragt, sondern gleichzeitig ein Forschungsdesiderat im Hinblick auf eine diskurstheoretisch-literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung bezüglich der Darstellung von Religion bearbeitet werden. Das für diese Arbeit heuristisch relevante diskursive Umfeld ist das deutsche bzw. westeuropäische. Dementsprechend finden weder asiatische noch afrikanische, amerikanische oder australische Religionsdiskurse Eingang in die Analyse. Auch der Beschränkung auf die drei Monotheismen Christentum, Judentum und Islam liegt diese heuristische und topografische Engführung zugrunde. Es geht in dieser Arbeit zudem nicht darum, die historisch adäquaten Darstellungen des Christentums, Judentums oder Islam zu untersuchen, auch theologisch sowie religionswissenschaftlich spezifische Fragen nach dem Gottesbegriff oder der Opferthematik finden keine Erwähnung. Untersucht wird in dieser Arbeit die Darstellung von Religion als diskursiver Formation in Gegenwartsliteratur und welche Impulse eine dergestalt fokussierte Fragestellung für die Literaturwissenschaft geben kann. Dabei ist weder Ziel noch Anspruch dieser Arbeit, eine empirische Diskursanalyse der Religion(-en) in der Literatur durchzuführen. Vielmehr sollen in Anlehnung an die Diskurstheorie die sich spiegelnden Diskurse und die ihnen zugrundeliegenden Regeln rekonstruiert werden, nach denen man Wissen von Religion haben, nach denen man innerhalb des diskursiven Feldes handeln, sprechen, sich positionieren kann. In dieser Form der exemplarischen Querschnittsstudie liegen dieser Untersuchung epische Texte dreier für die Religionsthematik prominenter Autoren zugrunde, wobei jeweils ein Text des Autors einer ausführlichen Einzelanalyse unterzogen wird, um im Anschluss in das Œuvre eingeordnet zu werden. Neben der Konzentration auf epische Texte ist weiterhin eine zentrale Religionsthematik für die Textauswahl obligatorisch. Der Auswahl der Autoren liegt zudem ein biografischer Aspekt zugrunde. Die Schriftsteller haben einen interkulturellen Hintergrund, entweder sind sie nicht in Deutschland geboren, gehören einer religiösen/kulturellen Minderheit an, leben nicht (aber schreiben) in Deutschland oder ihre Muttersprache ist nicht das Deutsche. Dabei entwickeln sie eigene Methoden, das Verhältnis zwischen Religion und Kultur zu verhandeln sowie narrativ und ästhetisch originell umzusetzen. Die für die Einzelanalysen ausgewählten Texte sind

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Religion als diskursive Formation

dabei bewusst in zeitlicher Nähe zwischen Produktion und Rezeption (2010, 2012 und 2014) angesiedelt. Patrick Roth, bis 2012 in Los Angeles lebend, zeigt einen ganz eigenen Zugang zu Religion. Er greift biblische Motive auf, in der Regel aus den Apokryphen, und erzählt diese neu bzw. anders, wofür er bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde und wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte. Das Interesse für seine Literatur kommt vor allem durch seine Sprachkunst, die die Kritiker*innen und Wissenschaftler*innen immer wieder in Erstaunen versetzt. Die erste große Prosaarbeit stellte der Roman Riverside. Christusnovelle (1991) dar. Im Jahr 1993 folgte Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten. Seelenrede und 1996 mit Corpus Christi auch der letzte Teil des Triptychons. Der 2012 erschienene Roman Sunrise. Das Buch Joseph schließt an die Christus-Trilogie an und wird in dieser Arbeit primär untersucht Benjamin Stein ist ein in der DDR geborener und aufgewachsener Informatiker jüdischen Glaubens. Mit seinem Romandebüt Das Alphabet des Juda Liva (1995) sorgte er für großes Aufsehen und wurde mit vielen Preisen geehrt. Umso verwunderlicher war sein Rückzug aus dem literarischen Betrieb, den er erst 2010 mit seinem ebenfalls hochgelobten Roman Die Leinwand wieder betrat, worauf 2012 mit Replay die dritte Prosaveröffentlichung folgte sowie 2014 eine Bearbeitung des Alphabets des Juda Liva (neuer Titel: Das Alphabet des Rabbi Löw). Navid Kermani machte 2011 mit seinem 1.200-seitigen Werk Dein Name Schlagzeilen, bevor er 2015 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde. Er ist habilitierter Orientalist, Muslim, Sohn einer aus dem Iran immigrierten Familie und ein engagierter Kulturvermittler. Für sein Engagement und seine literarische Tätigkeit ist er mit mehreren Preisen ausgezeichnet worden. Dabei weisen seine Bücher eine große Bandbreite von Inhalten auf, wobei Religion stets im Zentrum steht. In dem hier zu analysierenden Werk Große Liebe (2014) wird eine Jugendliebe vor dem Hintergrund der islamischen Mystik entfaltet. Das Verhältnis von (westlicher) Kultur und (muslimischer) Religion im Alltag erscheint hier besonders interessant.   Der Analyse der Texte geht in einem ersten Schritt die Beschreibung des theoretischen Rahmens voraus. Hier wird die dieser Arbeit zugrundeliegende Diskurstheorie nach Michel Foucault und ihre Weiterführung bei Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, auch im Kontext von Literatur, diskutiert und als theoretischer Rahmen für den hier verwendeten Religionsbegriff fruchtbar gemacht. Aus der Synthese der vorherigen Erläuterungen wird dann eine methodische Herangehensweise entwickelt (Kap. II.3), die mithilfe der drei operativen Kategorien Wissen/Wahrheit, Macht und Subjekt/Identität die Aspekte in den literarischen Texten untersucht, anhand derer über Religion gesprochen wird: Was wird wie als ›religiös‹ konstituiert? Da das Themenfeld ›Religion‹ in seiner Breite und Interdisziplinarität komplex ist, soll

I Einleitung

vor der Textanalyse ein Überblick über die in der Religionsforschung verwendeten Begriffe, besonders im Hinblick auf ihre Aktualität, erfolgen (Kap. III). Diese Begriffsklärung schließt an die theoretische und methodische Darstellung an und leitet zu den Textanalysen über; die jeweiligen Kapitel enden mit der Einbindung und Situierung des analysierten Textes in das Gesamtwerk des jeweiligen Autors (Kap. IV-VI). Das abschließende Analysekapitel führt die Ergebnisse zusammen und ordnet sie in den gegenwärtigen Religionsdiskurs ein (Kap. VII).

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II Religion als diskursive Formation – theoretischer und analytischer Rahmen

II.1

Religion – ein schwer umkämpfter Begriff

Der Begriff ›Religion‹ ist in den damit verbundenen Disziplinen aus unterschiedlichen Gründen so umstritten, dass mittlerweile vorgeschlagen wurde, auf diesen ganz zu verzichten.1 Im Jahr 2012 konstatiert Michael Bergunder drei »Hauptstrategien« für den Umgang mit ›Religion‹ in den Religionswissenschaften: 1. die Suchbewegung nach einer konsensfähigen Religionsdefinition, mit der der Gegenstand der Disziplin bestimmt werden könne; 2. die Ablehnung der Notwendigkeit einer expliziten Definition als Forschungsgrundlage und schließlich 3. die Abschaffung des Begriffs aufgrund seiner eurozentristischen Vorbelastung.2 Die Strategien bewegen sich demnach in drei verschiedene Richtungen: das Festhalten, Relativieren und Eleminieren eines Begriffs, um den seit Jahrhunderten debattiert wird und dessen Etymologie bis heute nicht eindeutig geklärt ist. So kann religio von religere abgeleitet werden und ist in diesem Kontext als eine »gewissenhafte [gottesfürchtige] Erfüllung von (kultischen) Pflichten«3 zu verstehen; ähnlich wird dies über relegere mit Cicero abgeleitet.4 Obwohl sich relegere und religere auf die gewissenhafte und sorgfältige kultische Ausübung beziehen, wurde eine andere Ableitung am meisten rezipiert: Lactantius führte religio auf religare (»verbunden sein«) zurück und verschob den Bezug damit vom Kultischen auf die Beziehung zwischen Transzendenz und Mensch.5 Für die Neuzeit konstatiert Ernst

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Vgl. Hartmut Zinser: Grundfragen der Religionswissenschaft. Paderborn: Schöningh 2010, S. 35. Bergunder: Was ist Religion, S. 5f. Für die Abschaffung vgl. auch Michael Weinrich: Religion und Religionskritik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, S. 21. Johann Figl: Einleitung: In: Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen. Hrsg. von dems. Innsbruck: Tyrolia 2003, S. 18–81, hier S. 63. Dieser Beitrag bietet einen breiten und informativen Zugang zu dem Komplex um die Begriffsproblematik. Auch hier als ein »sorgfältiges Beachten, ein immer wieder Durchgehen« (legere) oder als »gewissenhafte Berücksichtigung, Sorgfalt« (ebd., S. 63f.). Ebd., S. 64.

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Religion als diskursive Formation

Feil in seiner vierbändigen Begriffsverwendungsstudie ein Religionsverständnis, das ›Religion‹ als eine in das Innere des Menschen verlagerte, anthropologische und ahistorische Konstante begreift und »als Oberbegriff […] alle Einstellungen und Handlungen gegenüber jener Wirklichkeit bezeichnet, die Menschen als […] Transzendenz annehmen und benennen«6 . Laut Feil wurde der Begriff in der Antike zudem gerade nicht als ein Sammelbegriff gebraucht und konnte folglich auch nicht in dieser Funktion bis in die Neuzeit fortwirken.7 Damit erteilt Feil einer Begriffskontinuitätsannahme eine klare Absage: Ein neuzeitlicher dominanter oder gar exklusiver Gebrauch von ›religio/Religion‹ als Sammelbezeichnung jeweils einer (Glaubens)Überzeugung und als Oberbegriff, unter den verschiedene Überzeugungen subsumiert werden könnten, ließ sich nicht [seit der Antike] nachweisen.8 Allerdings hat sich diese Unterscheidung in Religion als Sammel- bzw. Oberbegriff und Religionen als jeweilige einzelne historische Religionen bis heute erhalten. Diese Untersuchung folgt dieser Unterscheidung heuristisch, wenn sie Religion als Ordnungskategorie, als diskursive Formation begreift, ohne sie mit einer essenziellen und universalen Bedeutung auszustatten; Religionen im Plural werden hingegen als institutionell verfasste, historisch und kulturell gewachsene Formen 6

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Ernst Feil: Religio. Bd. 1: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Reformation. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986, S. 25ff.; Zitat: S. 29. Vgl. Ernst Feil: Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs. 4 Bde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986–2007. Feil möchte hier die allgemeine Annahme einer »kontinuierlichen Geschichte dieses Begriffs« sowie einer »frühen zentralen Bedeutung« untersuchen und erfragen, »seit wann die Begriffsgeschichte von ›Religion‹ auf ihr neuzeitliches Verständnis hin in einer grundsätzlichen Kontinuität gesehen werden kann« (Feil: Religio, Bd. 1, S. 13). Ernst Feil: Zur Bestimmungs- und Abgrenzungsproblematik von ›Religion‹. In: Streitfall ›Religion‹. Diskussionen zur Bestimmung und Abgrenzung des Religionsbegriffs. Hrsg. von dems. Münster: LIT 2000, S. 5–35, hier S. 20. Für das 16. Jahrhundert stellt Feil im zweiten Band fest: »Der Terminus ›religio‹ hat im Verlauf des 16. Jahrhunderts in den in diesem Band vorgestellten Schriften keine deutliche Entwicklung genommen.« Ernst Feil: Religio. Bd. 2: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs zwischen Reformation und Rationalismus (ca. 1540–1620). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997, S. 337. Auch im dritten Band, der den Zeitraum des 17. und frühen 18. Jahrhunderts abdeckt, sieht Feil keine »kontinuierliche einlinige Entwicklung«. Die Entwicklung eines/des neuzeitlichen Begriffs sieht er daher erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ernst Feil: Religio. Bd. 3: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 472f. Vgl. zur Rezeption von Feils Ansatz und Ergebnis aus religionswissenschaftlicher Sicht Frank Neubert: Die diskursive Konstitution von Religion. Theorie und Praxis der Diskursforschung. Wiesbaden: SVS 2016, S. 21ff. Feil: Religio. Bd. 1, S. 273. Vgl. auch ders.: Zur Bestimmungs- und Abgrenzungsproblematik, S. 23.

II Religion als diskursive Formation – theoretischer und analytischer Rahmen

aufgefasst, die sich anhand bestimmter Charakteristika prototypisch in den drei Monotheismen zeigen.9 Aus dem Verständnis von Religion als einem Oberbegriff, unter den verschiedenste Religionsformen subsumiert werden können, entstanden zahlreiche Religionsdefinitionen, die in ihrem Erkenntnisinteresse deutlich voneinander abweichen. Grob können sie in zwei Formen aufgeteilt werden: die substanzialistischen und die funktionalistischen Definitionen.10 Die ersten zielen darauf, das Wesen bzw. die Substanz von Religion zu bestimmen, dabei nehmen sie häufig Transzendenzvorstellungen in die Begriffsbildung auf. Besonders erfolgreich haben sich substanzialistische Definitionen vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Kontext der Religionsphänomenologie etabliert. Der Religionskern wurde dabei im ›Heiligen‹ gesehen, einem »Zauberwort«11 . Während die religionssoziologisch ausgerichtete Auseinandersetzung mit dem Heiligen bei Émile Durkheim noch die Opposition heilig/profan fokussiert, die er als »Unterscheidungsmerkmal des religiösen Denkens«12 charakterisiert, hat die Arbeit Das Heilige (1917) von Rudolf Otto die Rezeption des Heiligen als Wesensmerkmal von Religion wirkungsgeschichtlich maßgeblich beeinflusst.13 Das Heilige ist hier eine rationalisierte Form des Numinosen,14 das bei Otto zentral ist, da es den Kern des Religiösen bildet und als religiöses Apriori gilt: Es ist das »Heilige minus seines sittlichen Momentes und […] minus seines rationalen Moments überhaupt«.15 Weiterführungen des ›Heiligen‹ erfolgten durch Mircea Eliade und Gustav Mensching im Rahmen der Religionsphänomenologie als »erlebnishafte Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit des Heiligen und des antwortenden Handelns des vom Heiligen bestimmten Menschen.«16 Dieser religionsphänomenologische, sich auf das Heilige und auf das Erleben der Einzelnen beziehende Ansatz hat zwar bis heute viel Kritik geerntet, aber obsolet geworden ist er nicht

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Vgl. Saler zu seiner Religionsbestimmung anhand von spezifischen Merkmalen, die er aus den historisch vorhandenen Religionen als ein »Prototypes Approach« ableitet. Benson Saler: Conceptualizing Religion. Immanent Anthropologists, Transcendent Natives, and Unbounded Categories. New York, Oxford: Berghahn Books 2000, S. 197–225, hier S. 197. Vgl. hierzu überblickshaft Neubert: Die diskursive Konstitution von Religion, S. 23ff. Carsten Colpe: Über das Heilige. Versuch, seiner Verkennung kritisch vorzubeugen. Frankfurt/Main: Hain 1990, S. 7. Émile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Übers. von Ludwig Schmidt. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1981, S. 62. Vgl. Colpe: Über das Heilige, S. 40f. Vgl. Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München: C.H. Beck 31 1963, S. 94f. Ebd., S. 6. Gustav Mensching: Soziologie der Religion. 2., neubearb. und erw. Aufl. Bonn: Röhrscheid 1968, S. 103.

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Religion als diskursive Formation

– im Gegenteil: In den letzten Jahren sind verstärkt Versuche aufgekommen, das Heilige wieder in den Religionsdiskurs einzuführen.17 In den funktionalistischen Definitionen wird statt des Wesens die Leistung von Religion für die Gesellschaft bestimmt, sei es als Sinnerzeugung, Kontingenz, Angstbewältigung u.a.18 Ein weiterer Zugang findet sich im kulturwissenschaftlichen Ansatz, der sich in Abgrenzung von der Phänomenologie und in Anlehnung an die Römische Schule19 seit den 70er Jahren entwickelt hat und in Deutschland besonders durch die Religionswissenschaftler Burkhard Gladigow und Hubert Canik sowie den Ethnologen Karl-Heinz Kohl bekannt ist.20 Für sie liegt die systematische Gegenposition zur traditionellen Forderung, das Wesen der Religion zu bestimmen, in der konsequenten Einbindung der Religion in den kulturellen Kontext, in der »Auflösung des religiösen Gegenstandes«.21 Während die zuvor aufgeführten Ansätze an der Beibehaltung des Religionsbegriffs als Oberkategorie festhalten bzw. ihn für ihre Arbeit als nicht gegenstandsbestimmend erachten, vollzieht die dritte von Bergunder aufgeführte, eingangs zitierte Strömung einen radikalen Bruch mit dem Religionsbegriff. So verweisen die Arbeiten von Talal A. Asad, Jonathan Z. Smith und William Arnal gerade auf die Konstruiertheit und europäische Provenienz des Religionsbegriffs. Als einer der ersten hat bereits 1983 der Ethnologe Asad die Universalität des Begriffs angezweifelt und das Religionskonzept als ein Nebenprodukt der historischen und politischen Entwicklung der westlichen Moderne angesehen.22 Für Arnal referiert 17

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Vgl. hierzu die Beiträge in: Das Heilige als Problem der gegenwärtigen Religionswissenschaft. Hrsg. von Wolfgang Gantke, Wolfgang Serikov. Frankfurt/Main: Lang 2015. Interessante Ansätze finden sich im Kontext von neurowissenschaftlichen Untersuchungen, ein kurzer Überblick bei Martin Mittwede: Die heilige Transzendenz und empirische Forschung: Überlegungen und Perspektiven. In: Das Heilige als Problem der gegenwärtigen Religionswissenschaft, S. 67–74; ferner Hans Joas: Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung. Berlin: Suhrkamp 2017. Vgl. Zinser: Grundfragen, S. 44ff. Die Römische Schule ist eine Richtung der italienischen Religionswissenschaft, die als Gründer Raffaele Pettazzoni verehrt, der in seinen Arbeiten als einer der ersten bereits Anfang/Mitte des 20. Jahrhunderts forderte, Religion gerade nicht als Manifestation des Heiligen, sondern in ihrer Geschichtlichkeit und als gemachtes menschliches und weltliches Produkt zu untersuchen. Vgl. kritisch Michael Stausberg: Zur Geschichte der italienischen Religionswissenschaft. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 43 (1991), S. 184–186. Vgl. Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe (HrwG). Hrsg. von Hubert Cancik, Burkhard Gladigow, Karl-Heinz Kohl. 5. Bde. Stuttgart: Kohlhammer 1988–2001. Burkhard Gladigow: Gegenstände und wissenschaftlicher Kontext von Religionswissenschaft. In: ebd., Bd. 1, S. 26–40, hier S. 32. Vgl. Talal A. Asad: Genealogies of Religion. Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam. Baltimore, London: Johns Hopkins University Press 1993, S. 22–54. Arnal hält dementsprechend fest, dass zukünftig für die Religionswissenschaft die Dekonstruktion des Religionsbegriffs sowie die Untersuchung seines populären Gebrauchs in den Vordergrund

II Religion als diskursive Formation – theoretischer und analytischer Rahmen

das Konzept ›Religion‹, wenn es auch einen privatisierten und kognitiven Religionscharakter meint, auf »the West’s distinctive historical feature of the secularized state.«23 Und laut Smith (Imagining Religion) sei Religion als solche das Konzept eines seit der Aufklärung andauernden partikularen historischen und gelehrten Diskurses, welcher während der europäischen Kolonialzeit transformiert wurde24 und mit Luckmann als ›Unsichtbarwerden der Religion‹ (The Invisible Religion [1967]) im Zuge der Ausdifferenzierung der Moderne verstanden werden könne.25 Im Westen habe Religion schrittweise an normativem Einfluss verloren, auf ganz andere Weise hingegen sei sie aber aufgrund der durch die Kolonisation ›entdeckten‹ und eroberten Länder in die Diskussion gekommen. So führte die religionswissenschaftliche Forschung in dem besagten Kontext zur Stilisierung und Konstruktion eines Konzeptes von Religion bzw. Weltreligion, das die Erforschung der fremden religiösen Traditionen bestimmte und prägte: Dabei ging die Identifizierung und Definition von ›Weltreligionen‹ mit der Konzeptualisierung des Begriffs ›Religion‹ einher, welchem ein universaler und kulturübergreifender Charakter zugesprochen wurde. Der Begriff ›Religion‹ als Oberbegriff – und damit anwendbar auf verschiedenste Praktiken europäischer und außereuropäischer religiöser Traditionen – fuße dieser Argumentation zufolge auf der Unterstellung einer angeblichen kulturellen Neutralität des Begriffs:26 einer Kategorie sui generis. Die universale Ausdehnung des Begriffs ließ allerdings Fragen nach Begrenzungen aufkommen, die die Gleichwertigkeit und Unterlegenheit der nichtchristlichen Religionen sowie die Frage nach einer allgemeinen Form der Religion überhaupt thematisierten und die Theologie sowie die Religionswissenschaft jahrelang beschäftigten.27 Das heutige Verständnis von Religion sei demnach ein Produkt von Konfessionalisierung und Moderne und eben nichts Überkommenes, Organisches, Ursprüngliches:

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rücken sollten. Vgl. William E. Arnal: Definition. In: Guide to the Study of Religion. Hrsg. von Willi Braun, Russell T. McCutcheon. London: Cassel 2000, S. 21–34, hier S. 30. Arnal: Definition, S. 30. Vgl. hierzu auch Peter van der Veer: Imperial Encounters. Religion and Modernity in India and Britain. Princeton: Unipress 2001. »Religion is solely the creation of the scholar’s study. It is created for the scholar’s analytic purposes by his imaginative acts of comparison and generalization. Religion has no existence apart from the academy.« Jonathan Z. Smith: Imagining Religion. From Babylon to Jonestown. Chicago: University Press 1982, S. XI. Vgl. hierzu die bis heute populäre und in der Religionssoziologie erneut breit rezipierte Publikation von Thomas Luckmann Die unsichtbare Religion, wo er diese als eine gesellschaftliche Reaktion auf die Entwicklungen der Moderne konstatiert, die sich durch den Bedeutungsverlust von religiösen Institutionen und Religion als Privatsache charakterisiert. Vgl. Andreas Nehring: Religion und Kultur. Zur Beschreibung einer Differenz. In: Religious Turns – Turning Religions. Veränderte kulturelle Diskurse – neue religiöse Wissensformen. Hrsg. von dems., Valentin Joachim. Stuttgart: Kohlhammer 2008, S. 11–31, hier S. 16f. Vgl. ebd., S. 17.

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Religion als diskursive Formation

Der prekäre Verkehr mit dem Göttlichen und die komplizierten Ordnungen des Heiligen, die Angst vor Schuld, Sinnlosigkeit, Tod und die Hoffnung auf Heil und Erlösung, sie mögen allgegenwärtig und vielleicht zeitlos sein: Religion als Konzept ist es nicht – was auch daran erkannt werden kann, dass ihre Ökonomisierung und Politisierung als Abweg, ihre Familiarisierung und Individualisierung hingegen als Selbstverständlichkeit angesehen wird.28 Die kritischen Diskussionen führten zu der Einsicht, dass die Religionswissenschaft nicht nur ihre Begrifflichkeiten überdenken – und ›Religion‹ lediglich als umbrella term verwenden könnte –,29 sondern auch das Religionskonzept als solches sowie die Bedingungen, unter denen das Forschungsmaterial erworben und die Forschung betrieben wurden, sollten einer kritischen Revision unterzogen werden. Die letzten Aspekte kamen im Zuge der Rezeption von postmodernen und postkolonialen Ansätzen30 auf, die auch diskursanalytische und -theoretische Zugänge beinhalten31 – und damit die Fragestellung nach ›Religion‹ auf eine andere Ebene verlagern.

II.2

Diskurstheoretischer Rahmen – von Michel Foucault zu Ernesto Laclau und Chantal Mouffe

Der Ansatz, Religion abseits einer funktionalistischen und substanzialistischen Fragestellung diskursanalytisch zu untersuchen, findet sich in der deutschsprachigen Religionswissenschaft bereits 1983 bei Hans G. Kippenberg, wo er für eine Verbindung von Sozial- mit Religionsgeschichte als Diskursanalyse plädiert.32 Seine Darstellung einer diskursiven Religionswissenschaft ist allerdings noch skizzenhaft, auch wird nicht klar, in welchem Kontext er den Diskursbegriff konkret gebraucht bzw. er entwickelt keinen methodischen Transfer für die Religionswissenschaften. In den kommenden Jahren, besonders in den 2000ern, finden sich

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Martin Trempl, Daniel Weidner: Zur Aktualität der Religion. Einleitung. In: Nachleben der Religionen. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zur Dialektik der Säkularisierung. Hrsg. von dens. München: Fink 2007, S. 7–22, hier S. 13. Ernst Feil: Religion. Zum Begriff. In: RGG 7: R-S (2004), Sp. 263–267, hier Sp. 266. In dieser Tradition stehen Arnal und Asad, die für den Religionsbegriff und dessen Konstruktionscharakter sensibilisieren möchten und die Reflexion darüber sogar an die erste Stelle des Studiums der Religionswissenschaften stellen (vgl. Arnal: Definition). Vgl. Nehring: Religion und Kultur, S. 18. Vgl. Hans G. Kippenberg: Diskursive Religionswissenschaft. Gedanken zu einer Religionswissenschaft, die weder auf einer allgemein gültigen Definition von Religion noch auf einer Überlegenheit von Wissenschaft basiert. In: Neue Ansätze in der Religionswissenschaft. Hrsg. von Burkhard Gladigow, dems. München: Kösel 1983, S. 9–29.

II Religion als diskursive Formation – theoretischer und analytischer Rahmen

bereits mehrere Beiträge mit einem diskursanalytischen Bezug.33 So versucht etwa Kocku von Stuckrad – sich Kippenbergs Vorarbeiten bewusst – eine Discursive Study of Religion in den Religionswissenschaften zu etablieren, die sich in ihren grundlegenden Ansätzen auf Michel Foucault stützt:34 A discursive study of religion allows for a polyfocal analysis of religious and cultural phenomena, describing different views and scholarly explanations from a meta-perspective that does neither cling to nor refute certain ontologies and rationalities. […] By fostering multiple perspectives and approaches to its subject, it makes visible dynamic networks of identities and meaning.35 Dabei liege der Vorteil eines diskursanalytischen Zugangs in der Wendung der Fragestellung hin zur »public appearance of religious propositions«.36 Mittlerweile finden sich zahlreiche Ansätze, Religion aus einer kulturwissenschaftlichen und diskursanalytischen Perspektive zu betrachten.37 Diese Hinwendung der deutschsprachigen Religionswissenschaft zur kulturwissenschaftlich orientierten Analyse zeigt, dass diskursanalytisches Vorgehen hier vor allem auf den historischen Aspekt von Religion als Untersuchungsgegenstand zielt, also nach den jeweiligen gesellschaftlich-historischen Bedeutungskonstruktionen religiöser Texte, Praktiken, Rituale und Begriffe fragt. Dabei wird allerdings ein substanzialistisches Vorverständnis nicht immer kategorisch abgelehnt, sondern analytisch ausgeschlossen. Konkret bedeutet das, dass auch hier die Deutung von Religion als eigenständiger Kategorie bzw. als explizitem Gegenstand, das Individuen real zugänglich ist, implizit mitgedacht wird, aber nicht mehr als Forschungsgegenstand dienen kann. Michael Bergunder grenzt dieses Verständnis einer »unerklärten Religion«, also »ein zeitgenössisches, alltägliches Religionsverständnis«, gegen einen von der Wissenschaft explizit definierten »erklärten« Religionsbegriffgebrauch ab.38 Für die religionswissenschaftliche Analyse macht Bergunder dabei die diskurstheoretischen Überlegungen von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe fruchtbar, die seit den 2000er Jahren, bspw. von den Geschichtswissenschaften in der Historischen Diskursanalyse,39 und bis heute im gesellschaftstheoretischen 33

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Vgl. hierzu den Überblick über diskursanalytische Arbeiten von Angelika Rohrbacher: Eurozentrische Religionswissenschaft? Diskursanalytische Methoden an den Grenzen von Ost und West. Marburg: Tectum 2009. Kocku von Stuckrad: Discursive Study of Religion. From States of the Mind to Communication and Action. In: Method & Theory in the Study of Religion 15/3 (2003), S. 255–271, hier S. 266. Ebd., S. 267. Von Stuckrad: Discursive Study of Religion, S. 267. Vgl. Neubert: Die diskursive Konstitution von Religion, S. 35ff. Bergunder: Was ist Religion, S. 5f. Vgl. Philipp Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003; Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse. Frankfurt/Main, New York: Campus 2008.

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und politischen Forschungskontext breite Resonanz finden.40 Der von Bergunder vollzogene Rückschluss auf die Diskurstheorie von Laclau und Mouffe, die ihren Ausgangspunkt bei Michel Foucault und Jacques Derrida nimmt, ist hilfreich, weil damit ein Bezug zu einem in den Religionswissenschaften rezipierten Ansatz hergestellt ist, ferner kann die Erweiterung der religionswissenschaftlichen Forschung im deutschsprachigen Raum um die postkolonialen Ansätze Fragen nach transkulturellen Beziehungen und Machtprozessen, die die Konstruktion von religiösen Identitäten und Gegenständen beeinflussen, eröffnen.41 Während die Impulse aus den Postkolonialen Studien an späterer Stelle thematisiert werden, dienen die vor allem an einer Historisierung von ›Religion‹ interessierten Ausführungen Bergunders als Ausgangspunkt der anschließenden Auseinandersetzung mit der Theorie von Laclau und Mouffe, einem im Folgenden formulierten Verständnis von Religion als diskursiver Formation und der analytischen Operationalisierung für literarische Texte.

Der Diskursbegriff bei Michel Foucault Der Diskursbegriff bzw. die Diskurstheorien sind seit den 1960er Jahren mehrfach diskutiert, weiterentwickelt und für verschiedene Forschungsdisziplinen fruchtbar gemacht worden. Abseits des im deutschsprachigen Raum bekannten Diskursbegriffs von Jürgen Habermas, der unter Diskurs, vereinfacht formuliert, den »Schauplatz kommunikativer Rationalität«42 versteht, ist ›Diskurs‹ maßgeblich durch die Arbeiten des französischen Philosophen Michel Foucault geprägt worden. Allgemein formuliert, sind Diskurse hier als »materielle[] Produktionsinstrument[e]« in Form von historisch-spezifischen Aussageformationen beschrieben, die ›Wahn-

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Vgl. hierzu Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie. Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Hrsg. von Martin Nonhoff. Bielefeld: transcript 2007. Vgl. auch Diskurs und Hegemonie. Gesellschaftskritische Perspektiven. Hrsg. von Iris Dzudzek, Caren Kunze, Joscha Wullweber. Bielefeld: transcript 2012. Vgl. Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftlich Beiträge. Hrsg. von Andreas Nehring, Simon Tielesch. Stuttgart: Kohlhammer 2013. Vgl. auch Nehrings Beitrag zu den Postkolonialen Studien in den Religionswissenschaften in: Andreas Nehring: Postkoloniale Religionswissenschaft. Geschichte – Diskurse – Alteritäten. In: Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Hrsg. von Julia Reuter, Alexandra Karentzos. Wiesbaden: VS 2012, S. 327–341, sowie die Einzelstudien: ders.: Religion, Kultur und Macht. Auswirkungen des kolonialen Blicks auf die Kulturbegegnung am Beispiel Indiens. In: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 87/3 (2003), S. 200–217; ders.: Orientalismus und Mission. Die Repräsentation der tamilischen Gesellschaft und Religion durch Leipziger Missionare 1840–1940. Wiesbaden: Harrassowitz 2003. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1981, S. 114.

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sinn‹, ›Sexualität‹, ›Normalität‹ und ›Subjekte‹ als Diskursgegenstände produzieren, gleichzeitig aber spezifischen Regeln und Reglementierungen unterliegen.43 Dabei wird der Begriff, der den Ausgangspunkt für Foucaults Arbeiten bildet, von ihm selbst nicht einheitlich verwendet. In Archäologie des Wissens konstatiert er: Schließlich glaube ich, daß ich, statt allmählich die so schwimmende Bedeutung des Wortes ›Diskurs‹ verengt zu haben, seine Bedeutung vervielfacht habe: einmal allgemeines Gebiet aller Aussagen, dann individualisierbare Gruppe von Aussagen, schließlich regulierte Praxis, die von einer bestimmten Zahl von Aussagen berichtet […].44 Einerseits impliziert der Begriff allgemein eine diskursivierte Wahrnehmung der Wirklichkeit, womit Aussagen grundsätzlich von ihrem gesellschaftlichen und historischen Kontext abhängig sind und »Gegenstände des Wissens nicht prädiskursiv vorhanden«45 sein können. Andererseits bezieht sich Foucault auf seine Differenzierung der Diskurse sowohl in spezielle Wissensgebiete als auch einen bestimmten Gegenstand, das wäre der Diskurs im engeren Sinne. Dabei gibt es in modernen Gesellschaften Wissensbereiche, die historisch-spezifische Spezialdiskurse ausgebildet haben. Die jeweiligen speziellen Diskurse können wiederum Teil anderer Diskurse sein, Gegenstände beschreiben, die sich aus mehreren Diskursen konstituieren, oder »interferierende[], koppelnde[], integrierende[] usw. Querbeziehungen zwischen mehreren Spezialdiskursen« als »Interdiskurse« ausbilden – so die Ausdifferenzierung foucaultscher Theorie bei Jürgen Link und Ursula Link-Heer.46 Eine dritte Bedeutung des Diskurses evoziert einen produktiven Aspekt: Diskurse als Praktiken zu verstehen, »die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.«47 Diskurs bei Foucault ist, so Link und Link-Heer,

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Jürgen Link, Ursula Link-Heer: Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 77 (1990), S. 88–99, hier S. 89f. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt/Main: Suhrkamp 16 2013, S. 116. Zur Begriffsgeschichte siehe: Helge Schalk: Diskurs. Zwischen Allerweltswort und philosophischem Begriff. In: Archiv für Begriffsgeschichte 40 (1997/98), S. 56–104. Zu Foucault, seinem Werk und der Rezeption siehe Philipp Sarasin: Michel Foucault zur Einführung. 5., vollst. überarb. Aufl. Hamburg: Junius 2012; Clemens Kammler: Michel Foucault. Eine kritische Analyse seines Werks. Bonn: Bouvier 1986; Reiner Keller: Michel Foucault. Konstanz: UVK 2008; Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken. Hrsg. von Marcus S. Kleiner. Frankfurt/Main: Campus 2001; Gilles Deleuze: Foucault. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987; Hubert L. Dreyfus, Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Weinheim: Beltz 1989. Hannelore Bublitz: Diskursanalyse als Gesellschafts-›Theorie‹. In: Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults. Hrsg. von ders. u.a., Frankfurt/Main, New York: Campus 1999, S. 22–48, hier S. 23. Link, Link-Heer: Diskurs/Interdiskurs, S. 92. Foucault: Archäologie des Wissens, S. 74.

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die sprachlich-schriftliche Seite einer ›diskursiven Praxis‹[,] […] das gesamte Ensemble einer speziellen Wissensproduktion […]: bestehend aus Institutionen, Verfahren der Wissenssammlung und -verarbeitung, autoritativen Sprechern bzw. Autoren, Regelungen der Versprachlichung, Verschriftlichung, Medialisierung.48 Demnach wirken diskursive Praktiken »normend, normierend, normalisierend«;49 als heterogene Prozesse, die eine bestimmte Form von Wirklichkeit produzieren und konstituieren, »von der angenommen wird, dass sie auf der Verselbstständigung konstruktiver Prozesse und subjektloser Operationen sowie ihrer Performanz beruht und dass sie sich in materiellen Anordnungen, Technologien und Praktiken manifestiert.«50 Ein erweitertes Diskursverständnis führt Foucault selbst in seinen späteren Arbeiten ein, angefangen mit Die Ordnung des Diskurses, wo er dessen Einbindung in ein komplexes System von Macht und Wissen diskutiert:51 Angesprochen wird die Produktion von Wissen, die bestimmten Ausschlussmechanismen, Regeln, Abläufen etc. unterliegt. Diese Mechanismen bestimmen dabei, was als wahr oder falsch normiert und normalisiert wird, kurz: was zur Wahrheit wird, womit dem Subjekt und seiner diskursiven Verflechtung wie auch Machtverhältnissen eine große Bedeutung zukommt.52 Im Kontext der Diskursrezeption wurden die Widersprüchlichkeit in Foucaults Arbeiten, die Weiterentwicklung wie auch die inkonsequente Verwendung relevanter Begrifflichkeiten problematisiert.53 So nimmt der Diskursbegriff in seinen späten Arbeiten eine weniger relevante Position ein, vielmehr begreift Foucault die Konstitution von Wissen und Subjektpositionen als eine Vernetzung diskursiver, nicht-diskursiver und institutioneller Aspekte. Dieses Zusammenspiel von Diskursivem, dem Sagbaren, und Nicht-Diskursivem, dem Sichtbaren,54 bezeichnet er als Dispositiv (der Begriff ist bei ihm nicht systematisch ausgearbeitet),55 welchem 48 49 50 51 52

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Link, Link-Heer: Diskurs/Interdiskurs, S. 90. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses [1975]. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, S. 236. Hannelore Bublitz: Diskurs. Bielefeld: transcript 2003, S. 9. Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses [1972]. Frankfurt/Main: Fischer 11 2014. Vgl. Michel Foucault: Subjekt und Macht. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits IV: 1980–1988. Hrsg. von Daniel Defert, François Ewald, unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Aus dem Franz. von Michael Bischoff u.a. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 269–294, hier S. 269f. Im Folgenden wird die Werkausgabe Dits et Ecrits mit der Sigle »DE« und Bandangabe zitiert. Foucault gebraucht die Begriffe Diskurs, diskursive Formation und Formationssystem unübersichtlich in der Archäologie des Wissens; die begriffliche Unterscheidung ergibt sich größtenteils durch den thematischen Prozess bzw. die Schwerpunktlegung (vgl. Foucault: Archäologie des Wissens, S. 108, 156 u. 170). Vgl. Deleuze: Foucault, S. 71ff. »M. Foucault: Das, was ich mit diesem Begriff zu bestimmen versuche, ist erstens eine entschieden heterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektoni-

II Religion als diskursive Formation – theoretischer und analytischer Rahmen

verschiedene Bedeutung mit jeweils unterschiedlichen Akzenten inhärent sind: ein heterogenes Gebilde, eine bestimmte Form der Interaktion der Elemente innerhalb und außerhalb des Gebildes sowie die Funktion, zu einem spezifischen historischen Zeitpunkt auf eine bestimmte »Anforderung«56 bzw. einen »Notstand«57 zu reagieren. Die Problematik, die sich im Dispositivbegriff findet und so auch auf die Kritik an Foucault verweist, ist unter anderem die der Begriffsunschärfe, der Trennung von diskursiver und nicht-diskursiver Praxis sowie weiterer Einflussfaktoren auf die Konstruktion von Wirklichkeit. Aus diesen Leerstellen heraus sind verschiedene Weiterführungen aus jeweils unterschiedlichen Forschungsdisziplinen und mit spezifischen Fokussierungen entstanden. Ausgehend von der Frage nach Religion jenseits einer Kategorie sui generis, ist der Diskursbegriff fruchtbar, da er auf den produktiven Aspekt diskursiver Praktiken im Hinblick auf die Konstruktion von Wahrnehmung und Wirklichkeit verweist, womit auch Religion als diskursiviert verstanden werden müsste. Alle Aussagen über bzw. Konzepte von Religion sind demnach als historisch zu betrachten, damit auch die der eigenständigen Kategorie. Über den Diskursbegriff können daraus folgernd die Formierungs- und Stabilisierungsprozesse von Religion und die damit zusammenhängenden, als Wissen und Wahrheit normierten Aussagen, die sich durch Machtbeziehungen auf die Subjekte auswirken, kritisch in den Blick genommen werden. Allerdings hat Foucault keine diskursanalytische Arbeit zu Religion vorgenommen, auch hat er seine Ergebnisse nicht zu einer kohärenten Diskurstheorie ausformuliert, die auf kulturelle Ausformungen ausgerichtet ist, weswegen seine Ausführungen um einen solchen Ansatz erweitert werden müssen, der eine »theoriepolitische Grundentscheidung [trifft], nämlich die Verabschiedung von allen essenzialisierenden Begründungen, insbesondere die von der ahistorischen

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schen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen, kurz, Gesagtes ebenso wie Ungesagtes, das sind die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen spannen kann.« Michel Foucault: Das Spiel des Michel Foucault. In: DE III, S. 391–429, hier S. 392f. Zum Dispositivbegriff bei Foucault vgl. Siegfried Jäger: Dispositiv. In: Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken, S. 72–89; Keller: Michel Foucault, S. 93; Gilles Deleuze: Was ist ein Dispositiv? In: Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken. Hrsg. von François Ewald, Bernhard Waldenfels. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 153–162. Zur Problematik der uneinheitlichen Verwendung des Dispositivbegriffs vgl. Andrea D. Bührmann, Werner Schneider: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse. Bielefeld: transcript 2008; kritisch zur Trennung diskursiv und nicht-diskursiv: Dreyfus, Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Foucault: Das Spiel des Michel Foucault, S. 393. Jäger: Dispositiv, S. 76.

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Natur des Menschen.«58 Die gesellschaftstheoretische Weiterführung diskurstheoretischer Fragestellungen durch Ernesto Laclau und Chantal Mouffe bietet dafür einen anschlussfähigen Ansatz.

Die gesellschaftstheoretische Erweiterung von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe Ernesto Laclau und Chantal Mouffe entwickeln in ihrer Arbeit Hegemonie und radikale Demokratie (Hegemony & Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics, 1985)59 eine Gesellschaftstheorie, die auf dem Begriff der Hegemonie basiert. Sie plädieren für eine radikale und plurale Demokratie, die mit dem »Traum von einer um einen homogenen Kollektivwillen herum ethisch versöhnten Gesellschaft« bricht und sich stattdessen einem Pluralismus öffnet, der die »fortwährende Existenz von Konflikt, Spaltung und Antagonismus impliziert« (HuD 23). Für ihre Arbeit grundlegend sind dabei zwei Aspekte: Machtprozesse werden als konstitutiv für alle sozialen Verhältnisse verstanden sowie jegliche Formen von Essenzialismen vor einem konstruktivistischen Hintergrund abgelehnt (vgl. HuD 23f.). Formen gesellschaftlicher Verhältnisse sind von hier aus auch als konstruiert, historisch und durch Machtbeziehungen bedingt zu verstehen (vgl. HuD 185f.) – so die »ins Gesellschaftstheoretische gewendete Konsequenz der Diskurstheorie«60 bei Laclau und Mouffe. Entitäten, die als stabile Totalitäten angenommen werden, wie bspw. ›das Subjekt‹ (mit einem festen Identitätskern) oder ›die Gesellschaft‹, werden von den beiden hinterfragt und als »›soziale Ordnungen‹«, als »prekäre[r] und letztlich verfehlte[r] Versuch, das Feld der Differenzen zu zähmen« (HuD 130), verstanden. Zu ihren Ergebnissen kommen die Autor*innen durch eine genealogische Analyse des Hegemoniebegriffs. Dabei führen sie selbst aus, dass die Wahl des Analysegegenstandes, der klassische Marxismus als »diskursive Formation«, der persönlichen Vergangenheit zugrunde liegt, ihre theoretischen Überlegungen aber auch anhand anderer diskursiver Formationen hätten entwickelt werden können, wie der Religion bzw. bestimmter Formen des Christentums (vgl. HuD 33f.), was einen Anschluss, abseits materialistischer Fragestellungen, ermöglicht. In ihrer Bestimmung von sozialen Ordnungen als diskursiven Formationen, die durch eine vorübergehende Bedeutungsfixierung charakterisiert sind (vgl. HuD 149), knüpfen sie einerseits an Michel Foucaults Diskursbegriff an, andererseits

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Bublitz: Diskurs, S. 21. Zur Frage von Diskurs und Gesellschaftstheorie vgl. auch dies.: Diskursanalyse als Gesellschafts-›Theorie‹. Ernesto Laclau, Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. 4., durchges. Aufl. Wien: Passagen 2012. Im Folgenden im laufenden Text mit der Sigle »HuD« und Seitenzahl zitiert. Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, S. 48.

II Religion als diskursive Formation – theoretischer und analytischer Rahmen

an die Überlegungen von Jacques Derrida zur différance.61 Diskurs meint in diesem Verständnis eine »strukturierte Totalität«, die aus artikulatorischen Praxen hervorgegangen ist, wobei Laclau und Mouffe unter Artikulation »jede Praxis, die eine Beziehung zwischen Elementen so etabliert, daß ihre Identität als Resultat einer artikulatorischen Praxis modifiziert wird«, verstehen (HuD 141): Das Resultat einer artikulatorischen Praxis ist damit der Diskurs. Diese Praxis durchdringt zudem neben den sprachlichen Aspekten auch die gesamte »materielle Dichte der mannigfaltigen Institutionen, Rituale und Praxen […], durch die eine diskursive Formation strukturiert wird« (HuD 146). Laclau und Mouffe lehnen sich an Foucault an, wenn sie von einer diskursiven Formation als von einer »Regelmäßigkeit in der Verstreuung« sprechen. Sie verstehen diese regelbasierte Formation aus der Perspektive der Regelmäßigkeit (bei Foucault Perspektive der Verstreuung) »als ein Ensemble differentieller Positionen«, das in einem bestimmten Kontext als eine Totalität erscheint (HuD 142). Für sie sind demnach alle diskursiven Positionen auf Differenz basierend. In diesem Kontext heben die beiden Foucaults Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praxen, die sie für inkonsistent halten, auf. Sie verstehen sowohl sprachliche als auch praktische Äußerungen als konstitutiv für einen Diskurs: Unsere Analyse verwirft die Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praxen und behauptet, dass zum einen sich jedes Objekt insofern als Objekt eines Diskurses konstituiert, als kein Objekt außerhalb jeglicher diskursiver Bedingungen des Auftauchens gegeben ist und zum anderen jede Unterscheidung von gewöhnlich als linguistisch und behavioristisch bezeichneten Aspekten gesellschaftlicher Praxis entweder eine falsche Unterscheidung ist oder als eine Differenzierung innerhalb der sich in verschiedene diskursive Totalitäten strukturierenden gesellschaftlichen Sinnproduktionen verortet werden sollte. (HuD 143)62

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Zur Diskurstheorie bei Laclau und Mouffe sowie der Kritik am Hegemonie- bzw. Politikkonzept vgl. auch Joscha Wullweber: Konturen eines politischen Analyserahmens. Hegemonie – Diskurs – Antagonismus. In: Diskurs und Hegemonie, S. 29–58; Urs Stähli: Die politische Theorie der Hegemonie. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. In: Politische Theorien der Gegenwart II. Hrsg. von André Brodocz, Gary S. Schaal. 3., erw. u. akt. Aufl. Opladen: Barbara Budrich 2009, S. 253–284; Das Undarstellbare der Politik. Zur Hegemonietheorie Ernesto Laclaus. Hrsg. von Oliver Marchart. Wien: Turia + Kant 1998. Vgl. in diesem Sinn auch Bublitz: Diskurs, S. 55: »Soziale Wirklichkeit, Gesellschaft, Individuum, Subjekt, körperliche Materialität und Sexualität werden ebenso wie spezifische Identitätskategorien nicht als präexistente Gegebenheiten vorausgesetzt. Sie stellen keine immer schon vorhandene objektive Realität dar, die im Sinne einer Abbildung der Realität bloß symbolisch repräsentiert werden. Die ›Dinge‹ haben jenseits oder vor ihrer diskursiven und das heißt, sprachlichen und sozialen Konstruktion kein inneres, ursprüngliches Wesen oder eine ›intrinsische Bedeutung‹, die ihnen vor aller sprachlichen Beschreibung und begrifflich-

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Die beiden versuchen nicht, die bei Foucault aufgemachte Problematik der Trennung von diskursiven und nicht diskursiven Praxen, oder wie Jäger sagen würde, von Diskurs und Wirklichkeit,63 zu lösen. Sie verschieben vielmehr den Blickwinkel der Diskussion darauf, dass menschliches Verhalten, sei es Sprechen oder Handeln, grundsätzlich seine Bedeutung erst durch »die Strukturierung des diskursiven Feldes« erhält (HuD 144)64 – eine Reduzierung diskursiver Strukturen auf einen »geistigen Charakter« wird so abgelehnt, der materielle und performative Aspekt diskursiver Praxis betont (vgl. HuD 145). Eine ähnliche – allerdings anders gelagerte – Argumentation hat Andreas Reckwitz aufgezeigt, der, in Abgrenzung zu u.a. Foucaults frühem Diskursbegriff, die »sozialen Praktiken« fokussiert. Ausgehend von einem »Praxis-Paradigma«65 in den Sozialwissenschaften, perspektiviert er Handeln und das Soziale in einer Praxeologie bzw. Praxistheorie:66 Die Praxistheorie begreift die kollektiven Wissensordnungen der Kultur nicht als ein geistiges ›knowing that‹ oder als rein kognitive Schemata der Beobachtung, auch nicht allein als die Codes innerhalb von Diskursen und Kommunikationen, sondern als ein praktisches Wissen, ein Können, ein know how, ein Konglomerat von Alltagstechniken, ein praktisches Verstehen im Sinne eines ›Sich auf etwas verstehen‹. Der ›Ort‹ des Sozialen ist damit nicht der (kollektive) ›Geist‹ und auch nicht ein Konglomerat von Texten und Symbolen (erst recht nicht ein Konsens von Normen), sondern es sind die ›sozialen Praktiken‹, verstanden als know-how abhängige und von einem praktischen ›Verstehen‹ zusammengehaltene Verhaltensroutinen, deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte

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kategorialen Zuordnung Existenz verleihen. Vielmehr bilden sie diskursiv erzeugte Objekte, die erst im Zuge ihrer Repräsentation den Status des Realen erlangen. Diskurse bringen das hervor, was sie bezeichnen.« Vgl. Jäger: Dispositiv, S. 75. Laclau und Mouffe verdeutlichen dies am Erdbeben-Beispiel: Das Erdbeben als solches erhält erst Bedeutung, indem es als religiöses, naturwissenschaftliches, gesellschaftsrelevantes Objekt kategorisiert wird: »Nicht die Existenz von Gegenständen außerhalb unseres Denkens wird bestritten, sondern die ganz andere Behauptung, daß sie sich außerhalb jeder diskursiven Bedingung des Auftauchens als Gegenstände konstituieren können« (HuD 144). Andreas Reckwitz: Praxis – Autopoiesis – Text. Drei Versionen des Cultural Turn in der Sozialtheorie. In: Interpretation, Konstruktion, Kultur. Ein Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften. Hrsg. von dems., Holger Sievert. Opladen: Westdeutscher Verlag 1999, S. 19–49, hier S. 26. Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie 32/4 (2003), S. 282–301, hier S. 284. In dem Abdruck des Aufsatzes in ders.: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie. Bielefeld: transcript 2008, S. 97–130, hat Reckwitz einige Veränderungen, wie Aktualisierung von Forschungsliteratur, vorgenommen.

II Religion als diskursive Formation – theoretischer und analytischer Rahmen

›inkorporiert‹ ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen ›verwendeten‹ materialen Artefakten annehmen.67 Das praktische Verstehen bzw. Wissen wird über soziale Praktiken, also »eine sozial geregelte, typisierte, routinisierte Form des körperlichen Verhaltens (einschließlich des zeichenverwendenden Verhaltens)« erworben und zugleich performativ umgesetzt. Soziale Praktiken beinhalten dabei »spezifische Formen des Wissens, […] des Interpretierens, der Motivation und der Emotion«, wobei »körperliches Verhalten, Wissen, Interpretationen, Regeln und Codes […] sich in Praktiken […] zu einem Komplex« verbinden.68 Dabei stellt Reckwitz heraus, dass den Praktiken keine geistige Aktivität vorausgeht, die Praktik also nicht Folge von etwas Geistigem ist, sondern gerade das Wissen im Körper verinnerlicht ist. Die Aufwertung des Materiellen ist hier eines der zentralen Anliegen der Praxeologie. Das Subjekt stellt dabei praxeologisch gesehen »den Kreuzungspunkt unterschiedlicher Verhaltens-/Wissenskomplexe sozialer Praktiken dar[], ein mehr oder minder loses Bündel von praktischen Wissensformen«. Aufgrund der heterogenen Wissensformen könne es so zu »Unberechenbarkeit des Verstehens und Verhaltens des Einzelnen und für die kulturelle Transformation der Praxis« kommen und einzelne Personen weichen so in bestimmten Situationen von routinisiertem Verhalten ab.69 Reckwitz ruft dabei in Erinnerung, dass ›Konstruktionen‹ jeglicher Form nicht außerhalb des menschlichen Körpers existieren, und geht auch auf die Diskussion um die Kontroverse zwischen praxeologischen und diskurstheoretischen Ansätzen ein. Aus seiner Perspektive führt eine bereits vorhandene methodische Annäherung zu einer konzeptionellen: So unterscheidet er einerseits grundsätzlich zwischen Praktiken und Diskursen (als »zeichenverwendende Praktiken […], in denen die Dinge auf bestimmte Art und Weise repräsentiert werden«70 ), hebt diese Differenz jedoch wieder auf, wenn er »die soziale und humane Welt […] [als] aus Praktiken zusammengesetzt« konstatiert. Von diesen sozialen und humanen Praktiken sind die diskursiven die »Praktiken der Repräsentation«.71 Dieses reduzierte Diskursverständnis72 führt bei Reckwitz zur 67 68 69 70

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Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, S. 289. Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2006, S. 36f. Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, S. 296; vgl. auch ders.: Das hybride Subjekt. Andreas Reckwitz: Praktiken und Diskurse. Zur Logik von Praxis- und Diskursformationen. In: Ders.: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie. Bielefeld: transcript 2016, S. 49–66, hier S. 63. Ebd., S. 62. Unkommentiert bleibt, dass die praxeologischen Überlegungen auf die Subjektkonzeption des späten Foucault, i.e. die ›Technologien des Selbst‹, zurückgreifen, während das Diskurs-

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Annahme von Praxis-/Diskursformationen: »zwei aneinander gekoppelte Aggregatzustände der materialen Existenz von kulturellen Wissensordnungen«, die sich wechselseitig in ihren Verhandlungen von Wissensordnungen bedingen und nicht als homogene, totale Blöcke verstanden werden dürfen.73

Diskurse als partiell fixierte Gebilde Während die Praxeologie nach Reckwitz das Soziale in den Praktiken sucht, finden Laclau und Mouffe das Soziale im »Feld der Diskursivität« (HuD 149). Mit ihrem weiten Diskursbegriff, der die Trennung von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken aufhebt, lehnen Laclau und Mouffe gleichzeitig Konzeptionen vom Außerdiskursiven ab (vgl. HuD 253, Fn. 20). Alle Wirklichkeitswahrnehmungen (und -handlungen) sind demensprechend diskursiv bedingt und basieren auf der Artikulation differenzieller Positionen zu einer diskursiven Formation. Relevant ist hierbei, dass die beiden Diskurse als kontingente Ergebnisse artikulatorischer Praxen begreifen und damit nicht als universale, essenzielle und ahistorische Entitäten. Stattdessen verweisen sie mit ihrem Konzept der Artikulation darauf, dass die scheinbare Totalität durch eine vermeintliche Fixierung eines Bedeutungsüberschusses erzeugt wird, die aber gerade nicht vollkommen bzw. komplett geschlossen, sondern nur partiell ist (vgl. HuD 149f.). In diesem Zusammenhang wird der von den Autor*innen vollzogene Anschluss an Derrida relevant. Während der Bezug zu Foucault die ›Struktur‹ diskursiver Formationen beschreibt, dient der Rekurs auf Derrida als Fundament: Laclau und Mouffe schließen in diesem Verständnis von nicht-endgültig-fixierbaren Diskursen, denen ein absolut gesetztes Zentrum fehlt, an Jacques Derridas Begriff von Diskurs an. Derrida, der die Präexistenz eines Signifikats ablehnt und die Zeichen in einem ›Nicht-Ort‹ positioniert, an dem diese sich unendlich austauschen, hält fest, dass aufgrund des Fehlens eines Zentrums bzw. eines Ursprungs alles zum Diskurs würde, also zu einem stetigen und unendlichen Austausch des Bezeichnens.74 Die Signifikanten generieren in einem anderen Kontext zwar neue Signifikate – die auf Differenz basierenden Bezeichnungen können laut Derrida demnach ins Unendliche gehen, in ein unendliches, nicht-fixierbares Gleiten75 –, ihnen ist jedoch immer die vorherige Bedeutung ebenfalls inhärent; dadurch entsteht eine

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verständnis auf einen Zeichencharakter beschränkt wird; auch geht Reckwitz auf Foucaults wissensproduzierenden Aspekt nicht ein. Während bei diesem das Individuum durch verschiedene Diskurse und Dispositive subjektiviert wird, sind es bei Reckwitz die Praktiken. Zum Bezug auf den späten Foucault vgl. Reckwitz: Unscharfe Grenzen, S. 9. Reckwitz: Praktiken und Diskurse, S. 61. Vgl. Jacques Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976, S. 422–442, hier S. 422; vgl. auch HuD 149ff. Vgl. Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel, S. 422f.

II Religion als diskursive Formation – theoretischer und analytischer Rahmen

immer mitzudenkende Mehrdeutigkeit, die nicht aufgehoben werden kann, eine Spur, die immer wieder auf das bereits vorher Bezeichnete ebenfalls mitverweist, im Sinne der différance.76 Laclau und Mouffe greifen diese Überlegungen auf, indem sie grundsätzlich der Unmöglichkeit einer absoluten Bedeutungsfixierung zustimmen, dies allerdings dergestalt einschränken, dass sie partielle Fixierungen annehmen, um überhaupt Bedeutung zu ermöglichen (vgl. HuD 150). Diskurse wären demnach der »Versuch, das Feld der Diskursivität zu beherrschen, das Fließen der Differenzen aufzuhalten, ein Zentrum zu konstruieren« (ebd.). Dem Feld der Diskursivität, das begrenzt werden muss, liegt demnach ein »Bedeutungsüberschuss«77 zugrunde, der einerseits durch die artikulatorische Praxis partiell auf bestimmte Positionen beschränkt – also zum Diskurs – wird, andererseits durch die Polysemie nicht endgültig fixiert werden kann und so destabilisierend auf den Diskurs wirkt. Da die Diskurse Teil des Feldes der Diskursivität sind, sind sie ihm nicht äußerlich, damit nicht davon getrennt und so auch nicht endgültig, sondern teilweise ›festgelegt‹. Zur Begriffsunterscheidung differenzieren Laclau und Mouffe dabei in »Momente«, als diskursiv artikulierte, in ihrem Bedeutungsspektrum reduzierte differenzielle Positionen, und in »Elemente« als diskursiv (für einen bestimmten Diskurs noch) nicht artikulierte Differenzen innerhalb des Feldes der Diskursivität (HuD 141); oder anders formuliert: Die artikulatorische Praxis der Sinnproduktion reduziert die vieldeutigen Elemente (die gleichzeitig auch Momente anderer Diskurse sein können und damit eigentlich zu Momenten »re-artikuliert« werden)78 auf spezi76 77

78

Vgl. Jacques Derrida : Die Différance. In: Postmoderne und Dekonstruktion. Hrsg. von Peter Engelmann. Frankfurt/Main: Reclam 2010, S. 76–110, hier S. 88ff. Das Konzept des »Bedeutungsüberschusses« bezeichnen Laclau und Mouffe als »Überdetermination«. Diesen Begriff finden sie einerseits bei Louis Althusser, der der Diskussion von Hegels und Marx’ geschichtsphilosophischen Entwürfen den Begriff ›entlehnt‹, um darauf zu verweisen, dass bestimmte historisch-politische Begebenheiten, gesellschaftliche Formen sich nicht auf ein einziges, reines Ereignis bzw. einen Begriff reduzieren lassen können, sondern überdeterminiert sind, d.h. auf verschiedene teilweise widersprüchliche Bedingungen zurückgeführt werden können, die sich u.a. als »Überbleibsel« zeigen. Louis Althusser: Widerspruch und Überdeterminierung. Anmerkungen für eine Untersuchung. In: Ders.: Für Marx [1965]. Hrsg. mit einem Nachwort von Frieder Otto Wolf. Aus dem Franz. von Werner Nitsch u.a. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 105–144, hier S. 143. Andererseits greifen sie auf den ursprünglichen Verwendungszusammenhang zurück, der sich in der Traumdeutung von Sigmund Freud findet. Hier meint Überdeterminierung die Bedeutungsvielfalt von Traumsymbolen: Einzelne Elemente sind im Trauminhalt mehrfach verknüpft. Vgl. Sigmund Freud: Die Traumdeutung [1900]. In: Ders.: Studienausgabe in zehn Bänden. Bd. II. Hrsg. von Alexander Mitscherlich, James Strachey, Angela Richard. Frankfurt/Main: Fischer 1972, S. 239; vgl. hierzu auch HuD 132–141. Urs Stähli: Gesellschaftstheorie und die Unmöglichkeit ihres Gegenstandes. Diskurstheoretische Perspektiven. In: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 21/2 (1995), S. 361–390, hier S. 369.

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fische Momente eines Diskurses, die wiederum, um die vorherigen Gedanken aufzugreifen, nur temporär und partiell in ihrem aktuell gültigen Bedeutungskontext festgelegt sind. Das Feld der Diskursivität bietet aus der Perspektive einzelner, spezifischer Diskurse mit Stähli, in einer systemtheoretischen Wendung formuliert, eine »diskursive Umwelt« voll von störenden, verwirrenden Elementen.79 Diese partielle Begrenzung der Diskurse, die aus dem Feld der Diskursivität scheinbare Totalitäten mit einem Bezugszentrum (die Nation, die Gesellschaft etc.) konstruieren, fokussiert einzelne Momente auf privilegierte Punkte, die als »Knotenpunkte« bezeichnet werden – bzw. in Anlehnung an Lacan: als »Stepp-Punkte«, als »points de capiton«, als »privilegierte[] Signifikanten, die die Bedeutung einer Signifikantenkette fixieren« (HuD 150). Dabei können an die Knotenpunkte verschiedene, auch widersprüchliche Momente anschließen. Je mehr unterschiedliche Momente sich um einen Knotenpunkt gruppieren und hegemonial aufgeladen werden, umso mehr kann dieser eine reine Verweis- bzw. Bezeichnungsfunktion annehmen, seinen spezifischen Bedeutungsinhalt verlieren und zu einem »leeren Signifikanten« werden, der zwar die unterschiedlichsten Momente auf etwas allen Präsentes (»gleicherweise präsentes Etwas«) bringt, aber gleichzeitig auf eine »reale[] Unmöglichkeit, auf die das X des leeren Signifikanten zeigt« – »ein Signifikant ohne Signifikat« – verweist.80 So fallen unter den Begriff ›Religion‹ gegenwärtig verschiedenste Ausprägungen, die sich teilweise ausschließen bzw. widersprechen (seien es bestimmte Formen von ›Spiritualität‹, Zivilreligion oder religionsähnliche Formate im säkularen Raum) und nur in ihrem Bezug auf das, was nicht ›Religion‹ ist, miteinander verbunden sind. Während die Diskurse um die Knotenpunkte herum (partiell) fixiert sind, kann der ihnen inhärente, polysemische Charakter diese destabilisieren, da »jeder Knotenpunkt in einer ihn überflutenden Intertextualität konstituiert ist« (HuD 151) – also im Feld der Diskursivität.81 Gerade die Unabgeschlossenheit der Diskurse birgt so ein widerständiges und transformatorisches, aber auch konfliktgeladenes Potenzial. 79 80

81

Ebd. Ernesto Laclau: Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun? [1996]. In: Ders.: Emanzipation und Differenz. Aus dem Engl. von Oliver Marchart. Unver. Nachdruck der Ausg. von 2002. Wien: Turia + Kant 2002, S. 65–78, hier S. 65, 72, 65 u. 70. In On Populist Reason wird dies ausführlicher und zudem grafisch verdeutlicht. Ferner werden hier die theoretischen Überlegungen weitergeführt, wie die ›vereinheitlichende‹ Verbindung zwischen leerem Signifikanten und den diskursiven Elementen beschaffen ist, die Laclau gerade nicht als begriffliche Unterordnungen, sondern als »naming«, als ›Erzeugung‹ von Einheit durch den Benennungsakt als solchen, definiert. Ernesto Laclau: On Populist Reason. London, New York: Verso 2005, S. 101ff. Laclau und Mouffe verwenden Diskurs und diskursive Formation stellenweise analog, wobei sie die Überlegungen mit dem Begriff der diskursiven Formation eingeleitet haben (vgl. HuD 141ff.), dabei sind diskursive Formation bzw. Diskursformation die partiell fixierten Einheiten des Diskursiven bzw. des Feldes der Diskursivität.

II Religion als diskursive Formation – theoretischer und analytischer Rahmen

Antagonismus und Hegemonie Die partielle Fixierung als artikulatorische Praxis folgt dabei einer »Logik der Differenz« wie auch einer »Logik der Äquivalenz« (HuD 171). Die Logik der Differenz bestimmt jeden Diskurs, wie bereits oben erläutert, da dieser eine partiell fixierte Entität differenzieller Positionen darstellt. Innerhalb des Diskurses, der um einen Knotenpunkt konstruiert ist, sind verschiedene Positionen möglich, die sich überkreuzen und neu definiert werden (vgl. ebd.). Innerhalb eines christlichen Diskurses kann man zwischen Katholiken, Protestanten, Orthodoxen etc. unterscheiden – es existiert also eine Ausdehnung an Positionen. Um sich jedoch als Formation von anderen Formationen zu unterscheiden, findet eine Abgrenzung nach außen statt. Differenzielle Aspekte werden hierbei äquivalent gestellt, also ihre Unterschiedlichkeit relativiert, indem sie auf etwas Einheitliches bezogen werden: »die Differenzen heben sich […] gegenseitig auf, insofern sie etwas ihnen allen zugrundeliegendes Identisches ausdrücken« (HuD 167). In dieser Vereinheitlichung durch Reduktion der differenziellen Positionen werden Äquivalenzketten gebildet, die das, was dieses identische Etwas nicht ist, ausschließen und sich gerade in der Negation konstituieren: »Identität ist rein negativ geworden« (HuD 167f.).82 In einem anderen Beitrag hat Laclau diesen Aspekt mit Rückgriff auf Derridas »constitutive outside« verdeutlicht und damit in Beziehung zur Konstitution von Identität gesetzt.83 Dabei verweist das Ausgeschlossene allein durch seine Präsenz als Bezugspunkt des identischen Etwas auf den Konstruktionscharakter des Diskurses. Als Antagonismus ist es »Ausdruck der permanenten potenziellen Krise der Diskurse«84 und stellt die Grenze zwischen dem Diskursinneren und seinem Außen dar: »Der Antagonismus als die Negation einer gegebenen Ordnung ist ganz einfach die Grenze dieser Ordnung« (HuD 166). Antagonismus meint demnach weder Kämpfe sozialer Akteure noch logische Widersprüche, auch sind damit nicht zwei sich gegenüberstehende objektive Entitäten gemeint. Laclau und Mouffe verstehen Antagonismus als ein »Verhältnis, worin die Grenzen jeder Objektivität gezeigt werden« (HuD 165f.).85 Dieses abstrakte Konzept meint, dass der Antagonismus als Grenze immer dort ›erfahrbar‹ bzw. sichtbar wird, wo eine Ordnung in ihrer Konstitution als Ordnung bedroht ist: »Objektivität – als Gegenbegriff zum Antagonismus – bedeutet die Präsenz eines völlig konstituierten Objekts«.86 Die

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83 84 85 86

Ein Diskurs »kann nur die Bedingungen der Denkbarkeit bestimmter Objekte konstituieren durch die Konstruktion der Undenkbarkeit anderer Objekte.« Ernesto Laclau: Die Politik als Konstruktion des Undenkbaren. In: kultuRRevolution 17/18 (1988), S. 47–57, hier S. 57; vgl. auch Reckwitz: Subjekt, S. 76. Ernesto Laclau: New Reflections on the Revolution of our Time. London: Verso 1990, S. 9. Wullweber: Konturen eines politischen Analyserahmens, S. 43. »Die Präsenz des ›Anderen‹ [des Negierten] hindert mich daran, gänzlich Ich selbst zu sein. Das Verhältnis entsteht […] aus der Unmöglichkeit ihrer Konstitution.« (HuD 164) Stähli: Gesellschaftstheorie und die Unmöglichkeit ihres Gegenstandes, S. 379.

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Konstitution einer diskursiven Identität von Kolonisatoren wird als antagonistisches Verhältnis in der Präsenz des Negierten sichtbar: im sich mit dem Kolonisator identifizierenden Kolonisierten, der sich diskursiv als ›Kolonisator-äquivalent‹ verortet, aber nicht Teil der Äquivalenzkette werden kann, weil er zu dem gehört, was diese Kette als ihr Äußeres konstituiert – damit wird er zum diskursiven Störfaktor par exellence. Genau diesen diskursstörenden und subversierenden Aspekt hat Homi Bhabha in seinem Konzept der Mimikry aufgezeigt;87 auch für Wullweber wird in diesem Verständnis von Antagonismus die Ablehnung abgeschlossener Identitäten deutlich, weil dieser gerade durch den Ausschluss »die Konstituierung der [festen] Identität verhindert bzw. unmöglich macht.«88 Wenn nun auf einem überdeterminierten Feld sich überkreuzender antagonistischer Positionen sich ein ›Konsens‹, eine ›Einheit‹ herausbildet, die als (scheinbare) Totalität wahrgenommen wird, dann sprechen Laclau und Mouffe von einer »›hegemonialen Formation‹ als einer artikulierten Totalität von Differenzen« (HuD 185; vgl. auch HuD 175ff.). Es geht also gerade nicht darum, dass eine ›Gruppe‹ oder Interessenpartei allen anderen ihre Position aufzwingt. Hegemonie bei Laclau und Mouffe betone immer den »konsensuale[n] Charakter von gesellschaftlichen Verhältnissen«.89 Die Ausbildung einer Formation zu einer hegemonialen Form ist dabei von verschiedenen Aspekten sowie Machtformen abhängig. Hegemonie als »politischer Typus von Beziehung, eine Form von […] Politik« (HuD 181), wobei Politik hier bestimmte Formen gesellschaftlicher Interaktion meint, geht damit nicht auf das Zentrum einer Gruppe oder Person zurück, sondern auf bestimmte, sich zu einem historischen Zeitpunkt stabilisierte Beziehungsformen zwischen antagonistischen Positionen und Formen der Macht. Allerdings verweisen Laclau und Mouffe gleichzeitig auf den subversiven Charakter artikulatorischer Praxis, da das Feld der Diskursivität in seinem Bedeutungsüberschuss auch die hegemoniale Struktur bedroht und einer ständigen Verschiebung und Transformation aussetzt (vgl. HuD 177 u. 182ff.)90 – gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen damit immer etwas Konfliktäres und Unabgeschlossenes inhärent ist. Laclau und Mouffe verstehen demnach gesellschaftliche Verhältnisse als diskursiv, ›Gesellschaft‹ ebenfalls als eine Formation, die der Logik der Äquivalenz und der Differenz unterliegt. Die diskursiven Bedeutungsproduktions- und Konstruktionsprozesse und ihre ›Verhärtung‹ führen zur Etablierung von scheinbaren universalen Wahrheiten; gesellschaftlichen Verhältnissen liegen damit allerdings

87 88 89 90

Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 125–136. Wullweber: Konturen eines politischen Analyserahmens, S. 43. Ebd., S. 31. Zur v.a. gegenwärtigen deutschsprachigen Rezeption des Hegemoniebegriffs vgl. Nonhoff: Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie.

II Religion als diskursive Formation – theoretischer und analytischer Rahmen

keine Notwendigkeit und vor allem keine Ursprünglichkeit zugrunde.91 Nonhoff verweist darauf, dass in diesem Kontext auch nicht mehr von »der Gesellschaft in objektiver Weise« gesprochen werden soll/kann, sondern es existieren vielmehr »andauernde und andauernd scheiternde Prozesse der Ver-Gesellschaftung und verschiedenste, fragile, einander häufig gegenseitig beeinflussende gesellschaftliche Formierungen.«92 Auch sie sind partielle Ergebnisse einer artikulatorischen Praxis, die einerseits durch Komplexitätsreduzierung und Bedeutungsentleerung der Knotenpunkte (»leere Signifikanten«) so stabilisiert und hegemonial aufgeladen sein können, dass ihre Erscheinung als natürlich und universal daherkommt. Andererseits bleiben sie durch die Logik der Differenz (und damit unterschiedlichen, widersprüchlichen, nebeneinander befindenden und sich überkreuzenden differenziellen Positionen) sowie das antagonistisch Ausgeschlossene (das sich bereits nur in der Möglichkeit des Vorhandenseins als störend zeigt) immer einer anhaltenden Destabilisierung ausgesetzt, sind damit für Subversionen und Krisen anfällig (vgl. HuD 180). Mit dieser Gesellschaftstheorie können Laclau und Mouffe erläutern, warum bestimmte gesellschaftliche Positionen und Verhältnisse als universal gültig wahrgenommen werden; warum ihre Infragestellung als identitätsstörend und krisenhaft empfunden wird, warum es zu sozialen Kämpfen kommen kann.93 Gleichzeitig zeigt ihr Ansatz aber auf, dass diese Positionen nie vollkommen fixiert werden können und einem ständigen Prozess der Neudefinition, der Grenzstabilisierung und Destabilisierung ausgesetzt sind. So kann es auch passieren, dass zwei gegensätzliche Positionen relativiert und zu zwei Differenzen einer übergeordneten Äquivalenz werden, als Widersprüche zwar, aber doch Teile derselben Formation (vgl. HuD 180f.). Hier könnte man an die historische Transformation, die Verschiebung der antagonistischen Formationen des Katholizismus und des Protestantismus hin zu Differenzpositionen der ›Religion‹ bzw. des ›Christentums‹ denken. Mit ihrer Gesellschaftstheorie bieten Laclau und Mouffe somit eine Möglichkeit, im Anschluss an die Überlegungen von Foucault, ›Religion‹ als diskursive Ordnung, als Konstruktion zu untersuchen – abseits der essenzialistischen Konzeption von Religion als Kategorie sui generis.

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92 93

Vgl. Alex Demirović: Hegemonie und die diskursive Konstruktion der Gesellschaft. In: Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie, S. 55–86, hier S. 64; Martin Nonhoff: Diskurs, Radikale Demokratie, Hegemonie. Einleitung. In: Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie, S. 7–24, hier S. 10. Ebd., S. 9. Vgl. Demirović: Hegemonie und die diskursive Konstruktion der Gesellschaft, S. 60f.

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Religion als diskursive Formation

II.3

Religion als diskursive Formation in literarischen Texten – Analyserahmen

Greift man die bisherigen Überlegungen auf, dann wird hier eine analytische Bestimmung von Religion als diskursiver Formation vorgeschlagen, die sich um ein leeres Signifikat RELIGION/RELIGIÖS formiert: Damit ist ein umfassendes nicht-essentialistisches Modell gegeben, mit dem das heutige Alltagsverständnisses von Religion und dessen Geschichte erforscht werden kann. ›Religion‹ ist zwar immer nur in einer konkreten sprachlichen Artikulation, die mit keiner vorgängigen identisch sein kann, fassbar, aber zugleich ist sie ein sedimentierter Name. Durch den Gedanken der Sedimentierung ist eine konsequente Historisierung von ›Religion‹ möglich und notwendig. Als sedimentierter Name tritt uns ›Religion‹ zugleich als real-existierende, materialisierte Erscheinung entgegen, die das Soziale tiefgreifend strukturiert. Diese Materialisierung macht verständlich, warum Religion 2 [die ›unerklärte Religion‹] auch in unerklärter Form eine so kraftvolle und überzeugende Wirkung als impliziter Gegenstand der Religionswissenschaft entfalten kann.94 Von hier aus kann es auch keine als religiös verstandenen bzw. artikulierten Aspekte geben, die außerhalb des Diskursiven liegen: Alle Konzeptionen, Vorstellungen, Praktiken, Artefakte, Wissensordnungen, Institutionen, die es hinsichtlich Religion im weitesten Sinn gibt, sind diskursiv und historisch. Sie entsprechen partiell fixierten Diskursen, die sich verändern können, auf bereits Bestehendes rekurrieren und vor allem in den jeweiligen Ordnungen wirken. Das bedeutet, dass Religion gerade nicht als eigenständige, universale, nicht hintergehbare Entität angesehen wird, sondern als diskursives Ordnungskonstrukt innerhalb gesellschaftlicher Formationen, deren Stabilisierungsstrategie u.a. darin besteht, als universale, ahistorische Totalität zu erscheinen (ohne dass hier dem Ordnungskonstrukt der Status eines aktiven Akteurs zugesprochen wird). Überträgt man nun die vorhergehenden Aspekte, lässt sich Folgendes festhalten: Unter Religion als diskursiver Formation versteht diese Arbeit eine Agglomeration von verschiedenen Diskursen, die um den Knotenpunkt bzw. leeren Signifikanten RELIGION/RELIGIÖS partiell fixiert sind und der Logik der Differenz folgend binnendiskursiv verschiedene differenzielle Positionen besetzen. Gemeint sind damit verschiedene, sich überlappende, überkreuzende wie auch widersprechende Diskurse, die wiederum – nach außen der Logik der Äquivalenz folgend, nämlich der Exklusion des radikalen Anderen, der Negation, – als eigenständige Formation konstituiert werden. Über einen Antagonismus wird dabei eine scheinbar ontologische Grenze aufgebaut, die RELIGION/RELIGIÖS (wie auch immer dies jeweils historisch besetzt ist) vom NICHT94

Bergunder: Was ist Religion?, S. 39.

II Religion als diskursive Formation – theoretischer und analytischer Rahmen

RELIGIÖSEN/NICHT-RELIGION trennt. Die diskursive Formation wird so um den Knotenpunkt RELIGION/RELIGIÖS partiell fixiert, in dem ein konstitutives Anderes (das NICHT-RELIGIÖSE/NICHT-RELIGION) ausgeschlossen wird, während die differenziellen Bedeutungen der verschiedenen Binnendiskurse soweit auf ein ›identisches Etwas‹ hin vereinheitlicht und reduziert werden, dass die jeweiligen Differenzen als aufgelöst erscheinen. Dieses identische Etwas scheint dabei eine wie auch immer geartete ›Transzendenzform‹ zu sein: Die »Differenz von Transzendenz und Immanenz«95 wird zur konstitutiven Setzung, wobei das rein Immanente aus der Formation ausgeschlossen wird. Niklas Luhmann folgend, ist »[i]mmanent […] danach alles, was die Welt, wie sie ist, für innerweltliche Beobachtung bietet.«96 Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen bestehe dabei darin, dass »alles Immanente erreichbar, hinterfragbar, bezweifelbar und kritisierbar ist«97 , während das Transzendente unerreichbar, unverfügbar und nicht irritierbar sei, wobei Religionen als historische Erscheinungsformen das (gesetzte) Transzendente für die Menschen zugänglich machten.98 Im Verständnis der Religion als diskursiver Formation ist der Ausschluss der Immanenz die antagonistische Äquivalenzsetzung und der negative Identitätsmarker, womit die Fixierung der einzelnen Diskurse auf einen Transzendenzbezug die Formation ›vereinheitlicht‹. Dabei ist es wichtig hervorzuheben, dass diese Bedeutungsfixierungen oder Schließungen des Diskurses […] notwendig [sind] und in keiner Weise (›postmodern‹) beliebig! Dennoch sind sie zugleich kontingent, oder genauer gesagt, ihre Existenz und Grenzziehung lässt sich nicht durch eine äußere Referenz bzw. transzendentales Signifikat rechtfertigen.99

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Niklas Luhmann: Zur Ausdifferenzierung der Religion. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 3. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 259–357, hier S. 313. Nach Luhmanns Verständnis von Religion konstituiert sich diese als gesellschaftliches System mit einer bestimmten Funktion (Kontingenz und Sinnhaftigkeit) über einen binären Code, hier: transzendent/immanent (vgl. ebd., S. 310). Vgl. zur Funktion der Religion ders.: Funktion der Religion. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977. Luhmann: Zur Ausdifferenzierung der Religion, S. 330. Genau hier liegt auch die Problematik der zahlreichen Religionsdefinitionen, die sich in der Bestimmung dieses Bezugsgegenstandes unterscheiden, und von Gott/Göttern, dem Heiligen, dem absolut Gültigen etc. ausgehen. Vgl. Detlef Pollack: Religion und Moderne. Versuch einer Bestimmung ihres Verhältnisses. In: Gottesrede in postsäkularer Kultur. Hrsg. von Peter Walter. Unter Mitwirkung von Margit Eckholt u.a. Freiburg/Breisgau, Basel, Wien: Herder 2007, S. 19–52, hier S. 21–24. Ebd., S. 25. Vgl. ebd., S. 26. Vgl. zum Verständnis von ›metaphysischer Unverfügbarkeit‹ Jochen Schmidt: Kultur der Heiligkeit. Über theologische Rede vom Unverfügbaren in einem säkularen Zeitalter. In: ZThK 113 (2016), S. 279–290. Bergunder: Was ist Religion, S. 33.

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Religion als diskursive Formation

Die einzelnen Diskurse innerhalb der (historischen) Formation machen den Transzendenzbezug für die Menschen auf wiederum jeweils historisch spezifische Art und Weise zugänglich. Zur Religion gehört demnach alles, was in einer bestimmten, durch die jeweiligen Diskurse geregelten Weise mit dem RELIGIÖSEN/RELIGION in Zusammenhang steht. Dies können im Detail diverse, als religiös artikulierte Texte, Praxen, Normen und Wissensannahmen sein; oder die einzelnen historischen Religionsdiskurse wie auch die Spezialdiskurse der Wissenschaften (Theologien, Religionswissenschaften, Religionssoziologie etc.). So unterschiedlich und widersprüchlich diese in Bezug auf Religion sein können, so sind sie in der Äquivalenzkette miteinander über den Ausschluss des NICHT-RELIGIÖSEN/NICHTRELIGION und damit den Transzendenzbezug als Formation konstituiert: unter Einbezug und Transformation verschiedener interner Diskurse, über eine längere Zeit hinweg, mit evtl. Brüchen, Erweiterungen und Abwandlungen. Es wäre zudem möglich, dass sich über die Zeit das konstitutive Andere verändert, denn die diskursive Formation schließt nur partiell aus; alte oder neue Momente bzw. Elemente können sich abwechseln bzw. transformiert werden:100 Wenn ›das Religiöse‹ als leerer Signifikant die positive Äquivalenzkette benennt und ›das Säkulare‹ die negative antagonistische Grenze des Ausschlusses, dann könnte das in einer konkurrierenden hegemonialen Schließung genau umgedreht sein. Dann bildet ›das Säkulare‹ die positive Äquivalenzkette, und ›das Religiöse‹ wäre dann die rein negative antagonistische Grenze. ›Das Religiöse‹ ist dann seinerseits nur die Negation ›des Säkularen‹ und hat in dieser Funktion keinen positiven Gehalt.101 Indem die diskursive Formation Religion sich von anderen Formationen dadurch unterscheidet, dass sie sich auf das Religionszugehörige bezieht, werden bestimmte Aspekte nicht Teil der verschiedenen religiösen Diskurse, sondern sie finden Eingang in andere Diskurse, die gerade nicht religiös sind. Religion als Knotenpunkt einer partiell fixierten diskursiven Formation mit all ihren jeweiligen einzelnen internen Religionsdiskursen bzw. Positionen kann demnach nur existieren, wenn ein konstitutives Anderes als scheinbar ontologische Grenze nach der Logik der Äquivalenz ausgeschlossen wird. Gleichzeitig kann diese Formation nicht als homogenes und fixiertes Gebilde, das anderen Formationen gegenübersteht, verstanden werden. Gerade die Wechselwirkungen verschiedener Formationen, ihr ›offener‹ Charakter ermöglichen historisch beobachtbare Transformationen. 100 Damit sind die historischen Veränderungen in der Religionsbestimmung gemeint. Der Äquivalenzbezug auf ein identisches Etwas kann sich historisch, abhängig von den jeweiligen historischen Entwicklungen, ändern. So ist der Bezug in der gegenwärtigen globalisierten Welt ein anderer als zur Zeit der Aufklärung, in der die Unterscheidung ›Religion‹ als übergreifender Begriff etabliert wurde. Vgl. Feil: Religio. Bd. 1, S. 191ff. 101 Bergunder: Was ist Religion, S. 37.

II Religion als diskursive Formation – theoretischer und analytischer Rahmen

Vom diskurstheoretischen Ansatz von Religion als diskursiver Formation her lässt sich auch die am westlichen Religionskonzept vorgebrachte Kritik durch Joachim Matthes nachvollziehen. Dieser hat drei universal-gesetzte Aspekte des westlich-christlichen Religionsverständnisses problematisiert: die Setzung von Religion als etwas »›Apartem‹, als ein Etwas, das sich als eine eigene und eigenartige Gefühls-, Denk- und Handlungswelt darstellt«; die Annahme von Religion als einer der Normalität entgegengesetzten Sphäre: ein »›Außerhalb-der-NormalitätStehen[]‹« sowie drittens die Vorstellung von etwas »Geschlossenem« und einer »Ein-Deutigkeit« der Religion, die sich klar gegen andere Religionen, aber auch Nicht-Religiöses abgrenzen ließe.102 Im diskurstheoretischen Blick auf Religion können diese Aspekte als Ergebnis partiell fixierter Diskurse einer diskursiven Formation verstanden werden, die durch ihren hegemonialen Status die Form einer scheinbaren Totalität ausweist, oder anders formuliert: Im Kontext der eigenen religiösen Verortung erscheinen diese Aspekte als ›natürlich‹, selbstverständlich und für alle Menschen gültig. Der Konstruktionscharakter ist vollkommen verdeckt. Dabei ist eine diskursive Formation weder unendlich noch essenziell; das heißt, dass sie weder schon immer da gewesen ist noch in dieser Form bzw. überhaupt als solche bestand oder für immer bestehen bleibt. Religion als diskursive Formation ist also historisch, die Bestimmung der jeweiligen inkludierten diskursiven Positionen hat sich mit der Zeit gewandelt und es liegt ihr kein real existierender Gegenstand zugrunde, zu dem die Diskurse in einem Verweiszusammenhang stünden. Die artikulatorische Praxis konstituiert Religion, die durch performative Wiederholungen bzw. durch ›Sedimentierung‹ als gegeben erscheint.103 Neben der historischen Komponente kommt zur diskursiven Formation noch die kulturelle bzw. teilweise die nationale hinzu. Keine diskursive Formation ist universal, alle sind sie vom historischen und räumlichen Zeitpunkt ihrer Existenz abhängig.104 In der Theorie von Laclau und Mouffe könnte jede ›Gesellschaft‹ eine diskursive Formation Religion haben, es würde aber nie dieselbe sein, weil sie sich auf unterschiedliche Diskurse beziehen würde. Religion als diskursive Formation meint hier also Religion im Sinne eines gesellschaft-

102 Joachim Matthes: Was ist anders an anderen Religionen? Anmeldungen zur zentristischen Organisation des religionssoziologischen Denkens. In: Religion und Kultur. Hrsg. von Jörg Bergmann, Alois Hahn, Thomas Luckmann. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 16–30, hier S. 23, 24, 25. 103 Vgl. hierzu Bergunder mit Bezug auf Laclaus Sedimentierungsüberlegungen und Butlers Performativitätsverständnis. Bergunder: Was ist Religion, S. 38ff. Bergunder greift hierzu auf Laclaus Unterscheidung von Begriff und Name zurück. Vgl. hierzu Laclau: On Populist Reason, S. 101ff. 104 Vgl. auch Matthes zum interkulturellen Religionsverständnis (Matthes: Was ist anders an anderen Religionen, S. 22ff.).

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lichen »Ordnungsdiskurs[es]«, der von einem Diskurs der Religion(en) in den jeweiligen historisch-kulturellen Ausprägungen unterschieden werden muss.105 Aus der Übertragung der theoretischen Überlegungen auf den Gegenstand ›Religion‹ – und damit auf Religion als diskursiver Formation – ergibt sich im Anschluss die Möglichkeit, literarische Texte mit diskurstheoretischem Begriffsinstrumentarium zu untersuchen. Geht man davon aus, dass es sich bei Diskursformationen um Wissensordnungen handelt, die in diskursiven Praktiken pro- und reproduziert werden, gilt es in einem ersten Schritt zu klären, was von Religion ›gewusst‹, kommuniziert bzw. als Wahrheit ›anerkannt‹ wird. Dies wird vor allem auch über den Ort, an dem Differenzierungen und Wahrheitssetzungen getroffen werden, bestimmt. Subjekte, die sich innerhalb der diskursiven Formation positionieren und dort einen privilegierten Status haben, nehmen größeren Einfluss auf die ›Bestimmung‹ von Gegenständen, Praktiken etc. Diese wiederum können in anderen Themenbereichen reartikuliert werden; ihre Bedeutung, Funktion und Verwendung gilt es aber gerade dann neu zu bestimmen. Zentral für die Frage nach den Wissensordnungen sind ferner die ihnen zugrundeliegenden, sie stabilisierenden Reproduktionsmechanismen und Machtformen sowie schließlich die Frage, wie sich wiederum individuelle Aushandlungen und Positionierungen von Subjekten in und mit diesen Formationen verhalten. Aus dieser Überlegung heraus, nämlich, dass Subjekte sich mit vorhandenen, sich bildenden Diskursen und Diskursformationen identifizieren, leiten Laclau und Mouffe ihr Verständnis von hegemonialer Praxis und Machtverhältnissen ab, denen wiederum Foucaults Machtbegriff106 zugrunde gelegt ist.   Wie lässt sich aber nun die literarische Darstellung von Religion vor einem diskurstheoretischen Hintergrund untersuchen? Diskurs und die Diskursanalyse sind im Zuge der breiten Rezeption von Foucaults Arbeiten in verschiedenen kulturwissenschaftlichen Disziplinen aufgenommen worden, so auch in den Literaturwissenschaften. Dabei sei der historische Zugang zur Literatur mithilfe der Diskursanalyse laut Klaus-Michael Bogdal bereits etabliert: Auf der Grundlage eines antihermeneutischen Textverständnisses werden literarische Werke textnah untersucht und in ihrer historischen Verortung kontextualisiert.107 Foucault selbst hat das traditionelle Interpretationskonzept der Literaturwissenschaften, die Hermeneutik, zwar 105 Vgl. Jürgen Mohn: Die Religionen im Diskurs und die Diskurse der Religion(en). Überlegungen zu Religionsdiskurstheorien und zur religionsaisthetischen Grundlegung des Diskursfeldes Religion. In: Religion – Wirtschaft – Politik. Forschungszugänge zu einem aktuellen transdisziplinären Feld. Hrsg. von Antonius Liedhegener u.a. Zürich: Pano 2011, S. 83–110, hier S. 102. 106 Vgl. Stähli: Gesellschaftstheorie und die Unmöglichkeit ihres Gegenstandes, S. 366. 107 Klaus-Michael Bogdal: Historische Diskursanalyse der Literatur. Theorie, Arbeitsfelder, Analysen, Vermittlung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1999, S. 7.

II Religion als diskursive Formation – theoretischer und analytischer Rahmen

kritisiert,108 allerdings seine Diskursanalyse nicht auf literarische Texte erweitert bzw. deren Untersuchung diskursanalytisch konzipiert.109 In diesem Kontext konstatierte Frank bereits früh eine inflationäre Verwendung des Diskursbegriffs besonders in den Literaturwissenschaften.110 Foucault hat Literatur zwar in seinen frühen Arbeiten als »Gegendiskurs«111 hervorgehoben, jedoch sei ihre Relevanz, so Geisenhanslüke, in seinen späten Arbeiten immer mehr zurückgegangen.112 Andererseits hat Foucault sich explizit mit der Kategorie ›Autor‹ beschäftigt und die Zuschreibung eines Textes zu einer Autor*in als eine diskursive Strategie dargestellt.113 Die Rezeption der Diskursanalyse in der Literaturwissenschaft greift vereinfacht formuliert auf zwei Ebenen zurück: 1. auf die Vorstellung des Gegendiskurses, der Literatur auf eine bestimme Art und Weise ermächtigen soll, gegen die dominanten Diskurse anzuschreiben, 2. auf den Aspekt der Spiegelfunktion und damit als einen Gegenstand der historischen Diskursanalyse, bei dem es um die Frage der Reproduktion von Diskursen innerhalb von Literatur und somit ihre Einbindung in ein historisches Diskursnetz geht.114 Diese beiden Ebenen – und die fehlenden Vorarbeiten von Foucault – ermöglichen es, die Beziehung zwischen Diskurs bzw. Diskurstheorie und Literatur zu problematisieren. So ist Literatur ein Produkt ihrer Zeit. Geht man nun diskurstheoretisch davon aus, dass unsere historisch und kulturell geprägte Wahrnehmung der Welt, unser Denken, unser Handeln und unser Sprechen, bestimmt wird von diskursiven (i.w.S.) Praktiken, dann gilt dies ebenfalls für die Literatur und ihre Inhalte. Gleichzeitig ist der Literaturbetrieb, in seiner Bestimmung, was zum ›Kanon‹ gehört, was der ›Autor‹ ist etc., selbst eine diskursive Formation. Wenn Diskurse die Wirklichkeit konstituieren, dann äußert sich ihre historische Gemachtheit nicht nur außerhalb der Literatur, sondern auch in ihr – die Literatur spiegelt die sie umgebenden und

108 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/Main: Suhrkamp 22 2012, S. 77. 109 Vgl. Friedrich Kittler, Horst Turk: Einleitung. In: Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Hrsg. von dens. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 9–43, hier S. 33; Link, Link-Heer: Diskurs/Interdiskurs, S. 91. 110 Manfred Frank: Zum Diskursbegriff bei Foucault. In: Diskurstheorie und Literaturwissenschaft, S. 25–44, hier S. 25. 111 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 76. 112 Vgl. Achim Geisenhanslüke: Foucault und die Literatur. Eine diskurskritische Untersuchung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 30f. 113 Vgl. Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: DE I, S. 1003–1041. 114 Achim Geisenhanslüke: Literatur und Diskursanalyse. In: Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken, S. 60–71, hier S. 69. In etwas abgewandelter Fokussierung thematisieren Link und Link-Heer Literatur als Interdiskurs, in dem die jeweiligen Spezialdiskurse verarbeitet werden (vgl. Link, Link-Heer: Diskurs/Interdiskurs).

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sie involvierenden Diskurse,115 indem sie durch die Wiederholung von Aussagen diskursive Praktiken reproduziert. Für die Frage nach Religion als diskursiver Formation bedeutet das, dass die sich in den literarischen Texten spiegelnde diskursive Formation eben die gegenwärtige ist. Gleichzeitig sind ihr aber auch im Sinne der différance alle vorgängigen Bedeutungskonnotationen inhärent. Die dargestellte diskursive Formation ist zudem eine, mit der die die Texte produzierenden Autor*innen, aber auch die diese Texte rezipierenden Leser*innen (und die sie wiederum analysierenden Literaturwissenschaftler*innen) normalisiert wurden. Gerade weil hier Gegenwartsliteratur, die sich in zeitlicher Nähe der Produktion und Rezeption befindet, analysiert wird, teilen die Instanzen dieselben »Episteme«.116 Sarasin erinnert aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive daran, dass auch der Diskursanalytiker einem basalen Verstehen unterliege, damit ebenfalls interpretierend in seinen Gegenstand, der wiederum einen medialen Charakter habe, involviert sei.117 Friedrich Kittler, der zwar auf die fehlende Ausarbeitung bei Foucault verweist, sieht literarische Werke gerade als Effekte von Medien und Diskursen, wobei Medien bei ihm über den schriftlichen Bereich hin zu den technischen Medien hinausgehen.118 Zudem sind Diskurse als nicht-essenzialistische Einheiten a priori historisch, das Sprechen der Gegenwartsliteratur über Religion ist ebenfalls in diesem Sinne historisch und kontingent und spiegelt die gegenwärtigen Diskurse. Vor diesem Hintergrund ist es angebracht, von verschiedenen Ebenen der Beobachtung literarischer Texte auszugehen: die die Gegenwart beobachtende Literatur (1. Ebene), die diese beobachtenden Leser*innen (2. Ebene) sowie die Literaturwissenschaftler*innen, die als Rezipient*innen auf der sekundären Beobachtungsebene zu finden sind wie auch auf einer tertiären, wenn sie die Rezeptionsprozesse in den Blick nehmen. Eine vierte Ebene wäre schließlich der Versuch, seinen eigenen Reflexionsvorgang zu beobachten.119 Diskurse können in Literatur allerdings nicht nur reproduziert, sondern auch hinterfragt, verfremdet werden, um so gerade auf ihren diskursiven und damit nicht essenzialistischen Charakter zu verweisen. Und hier kann die Literatur auf eine eigene, ästhetische Weise wirken. Sie kann durch verschiedene literarische Verfahren, Themen, Motive etc. die diskursiven Praktiken umkehren, verfremden,

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Vor diesem Hintergrund ist auch Horstkottes und Herrmanns Verständnis von Gegenwartsliteratur zu sehen (vgl. Horstkotte, Herrmann: Poetiken der Gegenwart, S. 2f.). »Die fundamentalen Codes einer Kultur, die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungsschemata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken beherrschen, fixieren gleich zu Anfang für jeden Menschen die empirischen Ordnungen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird.« Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 22. Vgl. Sarasin: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, S. 38–43. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900. München: Fink 1995, S. 495 u. 519. Vgl. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990; ders.: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995.

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entmachten und zur Disposition stellen. Das sollte allerdings nicht mit dem ominösen Verständnis vom »Gegendiskurs« verwechselt werden. Die Literatur, die die Diskurse widerspiegelt, kann im Sinne Foucaults auch als ein widerständiges, subversives Moment gelesen werden, das die Diskurse unterläuft, ihnen widerspricht und sie offenbart, sie sozusagen sichtbar macht. Denn so wie ihre Produzent*innen und auch ihre Rezipient*innen in die Diskurse und die ihnen zugrunde liegenden Episteme eingebettet sind, liegt gerade hier das Potenzial, von innen heraus widerständig zu sein. Literatur ist dementsprechend nicht nur Spiegel oder nur Widerstandsmoment, sondern kann auch ihren Blick auf die gesellschaftsrelevanten Aspekte kritisch richten und sie beleuchten, hier ist sie ›politisch‹. Das spezifisch Literarische daran ist allerdings gerade das Ästhetische.120 In der Übertragung diskursanalytischer und diskurstheoretischer Ansätze auf die Literatur, so schwierig und problematisch – und manchmal das Ästhetische zurückdrängend – sie sein mögen, liegt dementsprechend die Möglichkeit, bestimmte Phänomene auf eine neue Art zu untersuchen und sichtbar zu machen. Gleichzeitig darf nicht übersehen werden, dass auch literarische bzw. ästhetische Verfahren diskursiv geformt und historisch kontingent sind. Aus einer praxeologischen Perspektive hat Reckwitz dies für »ästhetische Praktiken« ausgearbeitet. Diese versteht er »allgemein als Aktivitäten, in denen Sinne, Affekte und Interpretationen selbstreferenziell werden und sich von der Unterordnung unter zweckrationales oder normatives Handeln lösen«.121 Ästhetische Praktiken sind damit für Reckwitz an eine bestimmte Form sozialer Praktiken und damit auch sinnlicher Wahrnehmung, die wiederum Teil dieser ist, gebunden, die gerade nicht als individuell verstanden werden kann:

120 Thomas Ernst konstatiert in seinem Aufsatz über Foucault und die Gegenwartsliteratur, dass ein diskursanalytischer Zugang zur Literatur den ästhetischen Blick gerade überspringen und Literatur »primär in ihrer historischen Entstehungssituation« betrachten müsste. Thomas Ernst: Foucault, die Literatur und der Gegendiskurs. In: Das Foucaultsche Labyrinth. Hrsg. von Marvin Chlada, Gerd Dembovski. Aschaffenburg: Alibri 2002, S. 152–162, hier S. 158. Diese Ansicht ist problematisch, weil hier eine statische Trennung vorgenommen wird, nach der ästhetische Aspekte bei Foucault ausgeschlossen seien, was mit seinem UnterworfenenSubjekt-Konzept zusammenhängt. Allerdings ist das entmachtete Subjekt-Konzept, und die Machtdefinition, auf die Ernst sich hier bezieht, eine des frühen Foucaults, die dieser später abgelehnt hat. In seinen letzten Arbeiten ging es gerade darum zu zeigen, dass das Subjekt nicht gänzlich unterworfen sei, damit aber auch ästhetisch wirken kann. Dies wiederum hebt die Relevanz des historischen Kontextes nicht auf, sondern vielmehr müssten beide Aspekte zusammengedacht werden. In seinem Schlusswort enthebt Ernst die literarische denn auch nicht von einer formal-ästhetischen Analyse, nur solle diese nicht als Diskursanalyse erfolgen (vgl. ebd., S. 162). 121 Andreas Reckwitz: Ästhetik und Gesellschaft – ein analytischer Bezugsrahmen. In: Ästhetik und Gesellschaft. Grundlagentexte aus Soziologie und Kulturwissenschaft. Hrsg. von dems., Sophia Prinz, Hilmar Schäfer. Berlin: Suhrkamp 2 2017, S. 13–52, hier S. 13.

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Die Körper sind nicht nur dadurch soziale Körper, dass sie implizite Wissensformen ›inkorporieren‹, sondern auch dadurch, dass ihre Mobilisierung der Sinne sozial reguliert wird. Die Wahrnehmungen der Akteure sind keine individuellen, ›inneren‹ Prozesse, sondern Bestandteile der sozialen Praxis und ihres Umgangs mit der Welt.122 Ästhetische Praktiken sind in diesem Verständnis spezifische Formen von Praktiken, die sich dadurch auszeichnen, dass in ihrem »Zentrum die Hervorbringung ästhetischer Wahrnehmungen steht«.123 In einer idealtypischen Weise unterscheiden sich ästhetische von nicht-ästhetischen Praktiken durch 1. ihre Selbstreferenzialität: Ihr »basales Ziel« sei die sinnliche Wahrnehmung ihrer selbst; Praktiken also, die um »das Wahrnehmen in seiner Eigendynamik zentriert sind«, und damit gerade nicht instrumentalisiert, also Mittel zu einem bestimmten Zweck, sind. Reckwitz unterscheidet dabei »ästhetische Episoden«, in denen ästhetische Wahrnehmungen als unberechenbarer Moment aufscheinen, von Praktiken, die in einer »sozial regulierten Form, routinisiert oder gewohnheitsmäßig« erfolgen. Darin eingefasst sind ästhetische Praktiken, die performativ erlebt werden, als auch solche, die dieses Erleben produzieren. In diesem Sinn wird der Begriff ausgeweitet, da im Grunde alles, was selbstreferenziell erlebt wird, ästhetisch sein kann. Ein weiterer idealtypischer Marker ästhetischer Praktiken ist 2. das kreative Gestaltungspotenzial, das von einem instrumentellen Handeln abgegrenzt werden kann; 3. eine emotionale Involviertheit der Produzent*innen bzw. Rezipient*innen ästhetischer Praktiken, die sich historisch in Ausdrücken wie »lustvoll, angenehm, spannend etc.« äußere; 4. eine Interpretationsoffenheit, die Reckwitz einer auf Information gerichteten Rezeption gegenüberstellt: »Zeichensequenzen« als Träger von Interpretationen, Zeichen als Orte von Bedeutungsproduktion, in denen sich imaginierte Welten bilden; 5. liegt ästhetischen Praktiken eine grenzüberschreitende und experimentelle Offenheit zugrunde, die sich aus ihrer spielerischen Anlage ergibt.124 Abseits dieser idealtypischen Gegenüberstellung verweist Reckwitz darauf, dass man in der Regel eher bzw. vor allem von »ästhetisch-imprägnierten Praktiken« sprechen kann, also einer Mischung von selbstreferenziellen und gleichzeitig auf einen Zweck ausgerichteten Praktiken begegnet. Ein Beispiel hier wäre

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Ebd., S. 23f. Reckwitz knüpft dabei an Martin Seel an, wenn er zwischen »Aisthesis als d[er] Gesamtheit sinnlicher Wahrnehmung« und ästhetischer Wahrnehmung unterscheidet. Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin: Suhrkamp 6 2019, S. 13. Aisthetische Wahrnehmungen sind für Reckwitz wiederum sozial bedingt und stellen damit eine bestimmte Form sozialer Praktiken dar, womit ästhetische Wahrnehmungen ebenfalls praxeologisch untersucht werden können. Vgl. hierzu Reckwitz: Ästhetik und Gesellschaft, S. 22f. 123 Ebd., S. 22. 124 Ebd., S. 25–29.

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die Unterhaltungslektüre, deren Zweck die Lektüre als solche ist, die dabei gleichzeitig auch eine bestimmte, routinisierte Form von Unterhaltung bietet.125 Ästhetische Praktiken als eine spezifische Form sozialer Praktiken sind somit auch in ein weites Netz von Diskursen, Subjektivierungsformen, Artefakten und auch hegemonialen Positionen eingebunden. Sie umfassen dabei auch selbstreferenzielle routinisierte Erlebnispraktiken wie den Konzert- oder den Fußballspielbesuch. Von hier aus ist solchen Praktiken auch ein bestimmtes Wissen bzw. sind bestimmte Schemata, wie diese Wahrnehmungen produziert oder rezipiert werden können, inhärent. Bezogen auf Literatur, deren ästhetische Wahrnehmung über die Bedeutungsproduktion, den Rezeptionsvorgang und die Fiktionalisierung verläuft, kann man einerseits verschiedene konventionalisierte literarische Verfahren, Erzählformen, Motivkomplexe, Handlungsschemata, Gattungen und Genres; andererseits aber auch experimentelle, mit routinisierter Wahrnehmung brechende Verfahren nennen – auch die Letzteren sind für Reckwitz ästhetische Praktiken. Nur kommt diesen noch zusätzlich ob ihres Experiment- und Grenzüberschreitungscharakters aus gesellschaftstheoretischer Perspektive ein kritische bzw. subversive Funktion zu, da sie es ermöglichen, »die Kontingenz herrschender sozialkultureller Formen zu demonstrieren, diese zu untergraben und ihre Grenzen zu überschreiten«.126 Wenn die Selbstreferenzialität und Zwecklosigkeit ästhetischer Praktiken von Reckwitz besonders in den Fokus gerückt werden, dann knüpft er hier explizit an einen Kunstautonomiediskurs an, der u.a. auf Karl Philipp Moritz und Immanuel Kant zurückgeht. Bereits bei Moritz findet sich explizit die Formulierung, dass man mit ›schön‹ etwas bezeichne, das »keines Endzwecks, keiner Absicht, warum es da ist, außer sich selbst bedarf, sondern seinen ganzen Werth, und den Endzweck seines Daseins in sich selber hat«;127 noch bekannter ist Kants Aussage der »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«.128 Reckwitz ist sich dieser Tradition zwar bewusst, indem er auf die klassische Erhaben-schön-Unterscheidung verweist;129 eine kritische (praxeologische) Reflexion der Selbstzweck-Setzung steht jedoch noch aus. Der Hinweis auf die Historizität und Kontingenz von ›Literatur‹, ›Kunst‹ und des ›Ästhetischen‹ zeigt vor allem, dass von einem essenzialistischen Verständnis dieser Aspekte abgesehen werden muss. Ganz im Gegenteil greifen die Autor*innen, die Religion in ihren Texten verarbeiten, auf ein bereits vorhandenes ›Arsenal‹ 125 126 127 128

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Vgl. ebd., S. 30. Ebd., S. 44. Karl Philipp Moritz: Ueber die bildende Nachahmung des Schönen. Braunschweig: Schulund Buchhandlung 1788, S. 13. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Ders.: Gesammelte Schriften [Akademieausgabe]. Abt. I, Bd. 5. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Reimer 1913, S. 165–485, hier S. 226. Vgl. Reckwitz: Ästhetik und Gesellschaft, S. 27 (Fn. 24).

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an ästhetischen Praktiken und literarischen Traditionen nicht nur der Literaturproduktion als solcher, sondern auch der mit dem Bezug zu Religion zurück. Die diskurstheoretische Untersuchung von Religionsdarstellungen in Gegenwartsliteratur ist damit auf zwei Ebenen angesiedelt: Einerseits geht es um das Sprechen über Religion: Hier ist die Frage nach Wissens- und Wahrheitskonstruktionen von Religion zu stellen – was wird von Religion in den Werken gewusst bzw. praktiziert, was als wahr in Bezug auf Religion angesehen? Diesen Wissens- und Wahrheitsformen wiederum liegen Machtprozesse zugrunde. Mit Rückgriff auf Foucaults Arbeiten zur Macht sollen so im zweiten Schritt die sich in den literarischen Texten zeigenden Machtprozesse (in Bezug auf Religion) analysiert werden. Als Synthese aus diesen beiden vorbereitenden Aspekten wird schließlich drittens nach den Beziehungen der Subjekte innerhalb dieser Formationsstrukturen und Machtprozesse gefragt – wie stark sind die Subjekte innerhalb der religiösen Formation verortet, womit und wie identifizieren sie sich und welche Möglichkeiten haben sie, die Formationsstrukturen subversiv zu überschreiten bzw. werden diese durch und mit ihnen reproduziert? Schließlich, und das ist die zweite Ebene, rückt das Sprechen über Religion in den Fokus, darf der literarische Charakter der Texte bei einer diskurstheoretisch ausgerichteten Analyse nicht ausgeblendet werden. Die in den Texten sich zeigenden Ergebnisse werden vor einem fiktionalen und ästhetisch verarbeitenden Kontext gelesen, dem bestimmte literarische Verfahren, Motive und Traditionen zugrunde liegen.

Wissen und Wahrheit Das Wissen der Figuren von Religion in den literarischen Texten kann sich auf verschiedene Weise offenbaren, sei es explizit als gewusstes, gelerntes Wissen oder implizite und inkorporierte Annahmen und Praktiken. Dieses Wissen kann auch einen mehr oder weniger hinterfragbaren Charakter aufweisen – es kann als ›Wahrheit‹ gesetzt sein. Liest man ›Wissen‹ und ›Wahrheit‹ analytisch aus einer diskurstheoretischen Perspektive im Hinblick auf Religion, dann bezieht sich das diskursiv produzierte Wissen über Religion (und Religionen als bestimmte historische Erscheinungsformen wie das ›Christentum‹, ›Judentum‹ etc.) allerdings nicht nur auf das, was gesagt worden ist, sondern vor allem auf das, was gesellschaftlich gesagt, gedacht und getan werden darf, und meint hier Wissen sowohl in einem normativen wie auch normalisierten Sinn. In diskursiven Formationen, die man sich als Interfaces vorstellen kann, werden religiöse Aussagen, Bedeutungen, Praktiken, Artefakte etc. durch diskursive Beziehungen und Prozesse von Ausdifferenzierung und Ausschließung produziert und als Wahrheit etabliert. Foucault hatte diese Fragerichtung in seiner Inauguralvorlesung bereits anvisiert: Hier konstatiert er, dass »in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert

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wird«, mit dem Ziel, das Unberechenbare zu bändigen.130 Dabei unterscheidet er zwischen externen Prozeduren der Ausschließung und internen Kontrollmechanismen. Neben dem »Verbot« sowie der »Grenzziehung und Verwerfung« ist die »Gegenüberstellung zwischen Wahrem und Falschen« oder der »Wille zur Wahrheit« die dritte Form eines Ausschlussmechanismus: Der Wille zur Wahrheit stützt sich, ebenso wie die übrigen Ausschließungssysteme, auf eine institutionelle Basis: er wird zugleich verstärkt und ständig erneuert von einem ganzen Geflecht von Praktiken […]. Gründlicher noch abgesichert wird er zweifellos durch die Art und Weise, in der das Wissen in einer Gesellschaft eingesetzt wird, in der es gewertet und sortiert, verteilt und zugewiesen wird.131 In Die Ordnung des Diskurses und vor allem Überwachen und Strafen ist Wissen als ein Macht-Wissen-Komplex für Foucault zudem mit Machtbeziehungen verknüpft132 – Macht und Wissen stehen also in einem reziproken Verhältnis zueinander, als eine »Verzahnung von Machtwirklichkeit und Wissensgegenstand«, bei der die »Machtbeziehungen ein Wissen ermöglichen und das Wissen die Machtwirkungen erneuert und verstärkt«.133 Gerade dieser Macht-Wissen-Komplex verweist auf die Produktion von Wahrheit in Diskursen, der dann wiederum die Subjekte ›unterworfen‹ werden. Wahrheit als »das Ensemble der Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden und das Wahre mit spezifischen Machtwirkungen ausgestattet wird«,134 ist weder fest verankert noch unveränderlich; sie ist diskursiv erzeugt, vor allem in ihrem Status als Wissen von Wahrheit. Dabei habe jede Gesellschaft eine eigene Ordnung von Wahrheit […]; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus

130 Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 11. 131 Ebd., S. 15. Wissen steht dabei in einem Gegensatz zur Erkenntnis: »Wissen ist keine Summe von Erkenntnissen« und besteht aus »einer Gesamtheit von Elementen (Gegenständen, Formulierungstypen, Begriffen und theoretischen Entscheidungen) […], die aus ein und derselben Positivität heraus im Feld einer einheitlichen diskursiven Formation gebildet sind.« Michel Foucault: Über die Archäologie der Wissenschaften. In: DE I, S. 887–931, hier S. 921. 132 »Eher ist wohl anzunehmen, daß die Macht Wissen hervorbringt […]; daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; daß es keine Machtbeziehungen gibt, ohne daß sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert«. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 39. 133 Ebd., S. 42. 134 Michel Foucault: Wahrheit und Macht. Interview mit Michel Foucault von Alessandro Fontana und Pasquale Pasquino. In: Ders.: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve 1978, S. 21–54, hier S. 53. Vgl. auch Michel Foucault: Gespräch mit Foucault. In: DE III, S. 186–213, hier S. 210f.

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festlegen, in dem die einen oder die anderen sanktioniert werden; es gibt bevorzugte Techniken und Verfahren zur Wahrheitsfindung; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht.135 Stuart Hall spricht in diesem Fall von Repräsentationsregimes: Das Wissen, das ein Diskurs produziert, konstituiert eine Art von Macht, die über jene ausgeübt wird, über die ›etwas gewusst wird‹. Wenn dieses Wissen in der Praxis ausgeübt wird, werden diejenigen, über die ›etwas gewusst wird‹, auf eine besondere Weise Gegenstand der Unterwerfung. Das ist immer eine Machtbeziehung […]. Diejenigen, die den Diskurs produzieren, haben also die Macht, ihn wahr zu machen […].136 Wissen und Macht sind miteinander verknüpft und produzieren Formen von Wahrheit, die sich gerade nicht in einer abgeschlossenen Diskursgesellschaft, mit einem exklusiven Kreis, wiederfinden, sondern in sogenannten Doktringruppen, denen es gerade um die Verbreitung ihrer Wahrheit geht und die einen großen gesellschaftlichen Radius haben. Hierzu zählt Foucault religiöse, politische und philosophische Doktrinen.137 Für die Untersuchung des sich in den Texten spiegelnden Wissens über Religion und dessen, was dort als wahr angesehen wird, muss daher unterschieden werden zwischen normativem Wissen im Sinne dessen, was von wem in welchem Kontext gesagt und getan werden kann, sowie davon, wie Wahrheit produziert wird – also zwischen kulturellem Wissen, als der »Gesamtheit kollektiv geteilter und symbolisch vermittelter Annahmen über die Wirklichkeit, d.h. über gesellschaftlich prävalente Themen, Werte, Normen, Selbstund Fremdbilder«138 sowie Konzeptionen und Prozessen von Wahrheitssetzungen. Literatur setzt dabei kulturelles Wissen voraus: »Literarische Werke entstehen im Kontext von Kulturen, in deren symbolischen Ordnungen bereits kulturelles Wissen zirkuliert«; sie greift »auf die verfügbaren Wissenselemente, Topoi, Stereotype, Wertehierarchien und narrative Schemata zurück« und verarbeitet diese

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Foucault: Wahrheit und Macht, S. 51. Foucault hält fest, dass in »unseren Gesellschaften« fünf Charakteristika für die Wahrheit genannt werden können: Wahrheit ist um den wissenschaftlichen Diskurs und seine Institutionen angelegt; »sie ist ständigen ökonomischen und politischen Anforderungen ausgesetzt; sie zirkuliert in verschiedensten Institutionen und Formen«; sie ist »Einsatz zahlreicher gesellschaftlicher Konfrontationen und politischer Auseinandersetzungen« (ebd., S. 51f.) Stuart Hall: Der Westen und der Rest. Diskurs und Macht. In: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument 1994, S. 137–179, hier S. 154. Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 28f. Birgit Neumann, Ansgar Nünning: Kulturelles Wissen und Intertextualität. Grundbegriffe und Forschungsansätze zur Kontextualisierung von Literatur. In: Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeption und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur. Hrsg. von Marion Gymnich, dens. Trier: WVT 2006, S. 3–28, hier S. 6.

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fiktional.139 Aus dieser kulturwissenschaftlichen Perspektive sind literarische Texte damit nicht nur Produkte des kulturellen Wissens, sondern auch an der »Konstruktion, Modifikation und Dissemination« dieser beteiligt: Sie sind Formen der »kulturellen Wissenserzeugung und gesellschaftlichen Selbstthematisierung«.140 Dabei kann im Sinne der »Umkehrung« bei Foucault das anerkannte, normative Wissen auf den Konstituierungsprozess durch Ausschluss- und Verknappungsmechanismen, soweit ersichtlich, hinterfragt werden. Diese Ausschluss- und Kontrollmechanismen werden zudem als Machtwirkungen verstanden, die sowohl diskursintern, diskursextern wie auch interdiskursiv wirken. Im Vordergrund stehen dabei einerseits die diskursinternen Regeln: Interne Prozeduren, mit denen die Diskurse ihre eigene Kontrolle selbst ausüben; Prozeduren, die als Klassifikations-, Anordnungs-, Verteilungsprinzipien wirken. Diesmal geht es darum, eine andere Dimension des Diskurses zu bändigen: die des Ereignisses und des Zufalls.141 Auf der anderen Seite findet man diskursexterne Mechanismen.142 Das Ziel dieser Analyseeinheit ist die Konstitutions- und Funktionsbeschreibung der Regelung des Sag-Mach-Baren als einer partiellen Fixierung der Diskurse, des kulturellen Wissens von Religion in den jeweiligen Texten, die auch aus postkolonialer Perspektive »von den Mechanismen der Macht nicht zu trennen« sind.143 Gerade für den gegenwärtigen Religionsdiskurs ist in diesem Sinn eine postkoloniale Perspektive unumgänglich. Denn die anhaltenden Diskussionen zur Kompatibilität des Islam mit – wie auch immer gearteten – europäischen Werten reproduzieren gerade den von Hall herausgearbeiteten »Westen und der Rest«-Diskurs. Stuart Hall hat diese Bezeichnung für den westlichen Diskurs über nicht-westliche Nationen geprägt, der dem Westen als holistisches Gebilde die Anderen als Auszugrenzendes gegenüberstellt und dessen Konsolidierung Hall in der Abgrenzung zum Islam sieht.144 In seiner Argumentation beruft er sich dabei auf die – nicht unumstrittene – Untersuchung Orientalism (1978) von Edward Said, der in dem eu-

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Ebd., S. 6f. Ebd., S. 7. Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 17. Sie »wirken gewissermaßen von außen: sie funktionieren als Ausschließungssysteme; sie betreffen den Diskurs in einem Zusammenspiel mit der Macht und dem Begehren« sowie die Reglementierungen des Diskurszugangs (ebd., S. 25). 143 Sebastian Conrad, Shalini Randeria: Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt. In: Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Hrsg. von dens. Frankfurt/Main, New York: Campus 2002, S. 9–49, hier S. 34. 144 Vgl. Hall: Der Westen und der Rest, S. 154.

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ropäischen Diskurs über die ›Orientalen‹ gerade eine bestimmte, von Machtbeziehungen geformte Repräsentation dieser sieht.145 Homi Bhabha hingegen, der in seinen Arbeiten von Frantz Fanon, Jacques Lacan und Jacques Derrida beeinflusst ist, kritisiert im Rahmen seines Hybriditätskonzepts die dialektische Identitätslogik, die sich bei Said findet: Die Repräsentation verorte bereits – unwichtig wie wenig eurozentristisch sie sein möchte – eine andere Kultur und reproduziere so »Beziehung[en] der Herrschaft über sie.«146 Dies funktioniert jedoch nur, weil die Vorstellung vom hegemonialen Diskurs mit einem herderschen Kulturverständnis operiere. Das Hybriditätskonzept hingegen geht von einem Konzept der kulturellen Differenz aus, welches das »Problem der Ambivalenz kultureller Autorität« in den Vordergrund rückt und sowohl die binäre Aufteilung als auch die Vorstellung homogener Kultursysteme obsolet macht.147 Das Konzept wendet sich damit explizit gegen die anthropologische Deutung von Kultur als Text bzw. System von Bedeutungen (Clifford Geertz), in dem es hinter die Symbole auf die Struktur symbolischer Repräsentation selbst schaut. Bei Bhabha durchläuft jede kulturelle Äußerung einen Dritten Raum (third space), der sich in einem Dazwischen (inbetween) befindet. Kulturelle Identitäten werden hier durch Verortung, Suchbewegung und Auslotung an der Grenze von Kultur verhandelt (liminal negotiation) und neu positioniert – traditionelle Differenzachsen von Klasse, Ethnie, Nation, Tradition oder Geschlecht damit durchkreuzt. Bhabha rezipierend versteht auch Stuart Hall Hybridität in einem globalen Zusammenhang. Dabei ist Hall sich der Problematik des Begriffs und vor allem seiner Verwendungsvielfalt durchaus bewusst, sieht in diesem jedoch das Potenzial, auf den dynamischen Charakter von kulturellen Verbindungen und Vernetzungen sowie der Unmöglichkeit von essenzialisierenden Festlegungen hinzuweisen:

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Vgl. Edward Said: Orientalismus [1978]. Aus dem Engl. von Hans Günter Holl. Frankfurt/Main: Fischer 2 2010. Said wendet die Diskursanalyse auf den kolonialen Kontext an und konstatiert, dass der Orientalismus nicht das empirische Wissen über den Orient darstelle, sondern eine Form der westlichen diskursiven Repräsentation und Konstitution der Anderen als ›Orientale‹ sei. Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit Saids Orientalismus-Konzept Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin, New York: de Gruyter 2005; Nicole Brechmann u.a.: Die OrientalismusDebatte im Vergleich: Verlauf, Kritik, Schwerpunkte im indischen und arabischen Kontext. In: Gesellschaften im Vergleich. Forschung aus Sozial- und Geschichtswissenschaften. Hrsg. von Hartmut Kaelbe, Jürgen Schriewer. 2., durchges. Aufl. Frankfurt/Main: Lang 1999, S. 511–567. 146 Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 48. 147 Ebd., 52. Vgl. zum Hybriditätskonzept ferner Kien Nghi Ha: Unrein und vermischt. Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und der kolonialen »Rassenbastarde«. Bielefeld: transcript 2010. Kritisch zu Bhabhas Konzept vgl. Ania Loomba: Colonialism/Postcolonialism. London, New York: Routledge 1998; Bart Moore-Gilbert: Postcolonial Theory. Contexts, Practices, Politics. London: Verso 1997.

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Hybridity describes the inevitable process of cultural translation which is inevitable in a world where communities, peoples, cultures, tribes, ethnii are no long [sic] homogeneous, self sufficient autochthonous entities, tightly bound within by kinship and tradition and strongly boundaried in relation to the outside world. […] It insists, that is to say, on being neither fully this nor fully that.148 Für ihn ist Hybridität kein Analysekonzept, sondern er nutzt den Term als »polemische Metapher, als ›unreines Konzept‹«, der eine »störende Kraft« entfalten kann, weil er unter anderem darauf verweist, dass Kultur schon immer als hybrid verstanden werden konnte bzw. gerade keine »organische Einheit« sei.149 Versteht man Kultur demnach vor dem postkolonial-theoretischen Hintergrund als dynamisch und hybrid, zielt die transkulturelle Interaktion »auf ein intermediäres Feld, das sich im Austausch […] als Gebiet eines neuen Wissens herausbildet und erst dadurch wechselseitige Differenzerfahrung und zugleich Identifikationsmöglichkeit gewährleistet.«150 Für die deutsche Gegenwart spricht Herbert Uerlings dem intrakulturellen (bzw. intranationalen) Verhältnis dabei eine spezielle Bedeutung zu. Die Verlängerung des deutschen kolonialen Diskurses nach innen – und so über das Zeitalter der Dekolonisierung hinaus – könne anhand der Situation der Migrant*innen, besonders der türkischen Minderheit, verfolgt werden. Auch das Afrikaverhältnis Deutschlands sei von diesem Fortwirken gekennzeichnet. Das deutsch-jüdische Verhältnis sowie das zu den Sinti und Roma zeuge dabei von einer besonderen Form, die eine strukturelle Verwandtschaft mit dem kolonialen Diskurs aufweise. Juden und ›Zigeuner‹ galten als europäische Fremde (fremd im Sinne von anders/different) im eigenen Land, also intrakulturelle (intranationale) Fremde.151

148 Stuart Hall: The Multicultural Question. The Political Economy Research Centre Annual Lecture. Delivered on 4th May 2000 in Firth Hall Sheffield. http://red.pucp.edu.pe/wp-content/ uploads/biblioteca/Stuart_Hall_The_multicultural_question.pdf (Zugriff: 25.07.2020). 149 Stuart Hall, Christian Höller: »Ein Gefüge von Einschränkungen«. Gespräch zwischen Stuart Hall und Christian Höllerer. In: Die kleinen Unterschiede. Der cultural studies reader. Hrsg. von Jan Engelmann. Frankfurt/Main: Campus 1999, S. 99–122, hier S. 107 u. 106. 150 Vgl. Ortrud Gutjahr: Von der Nationalkultur zur Interkulturalität. Zur literarischen Semantisierung und Differenzbestimmung kollektiver Identitätskonstrukte. In: Interkulturalität und Nationalkultur in der deutschsprachigen Literatur. Hrsg. von Maja Razbojnikova-Frateva, Hans-Gerd Winter. Dresden: Thelem 2006, S. 91–122, hier S. 112. 151 Vgl. Herbert Uerlings: Kolonialer Diskurs und Deutsche Literatur. Perspektiven und Probleme. In: (Post)-Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie. Hrsg. von Axel Dunker. Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 17–44, hier S. 20. Zum letzten Punkt vgl. zuletzt: Julia-Karin Patrut: Binneneuropäischer Kolonialismus als deutscher Selbstentwurf im 18. und 19. Jahrhundert. In: Postkoloniale Germanistik. Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren. Hrsg. von Gabriele Dürbeck, Axel Dunker. Bielefeld: Aisthesis 2014, S. 223–270.

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Uerlings sieht die Fortsetzung kolonialer Diskursmuster im postkolonialen Zeitalter dabei vor allem durch den Aspekt der »ethnisierende[n] Inferiorisierung« bestimmt: Es gibt einen kolonialen Diskurs bereits vor dem neuzeitlichen Kolonialismus und auch noch nach dem Ende des Zeitalters der Dekolonisierung. Die ethnisierende Inferiorisierung scheint ein Diskursmuster zu sein, das es zu allen Zeiten und nicht nur in Europa gegeben hat und immer noch gibt […] [und] dessen zentrales Element so ›erfolgreich‹ ist, daß es bis heute nichts an Präsenz und Vitalität eingebüßt hat.152 Das Feld der postcolonial studies ist dabei bei Weitem nicht so einheitlich, wie es der Begriff impliziert – kritische Diskussionen werden geführt zum Begriff des Postkolonialen, zur Rezeption der Forschung aus den ehemaligen Kolonialländern, zu einzelnen Konzepten, zu den Vermittlungsformen, zu methodischen Aspekten etc.153 Die Ablehnung jeglicher Essenzialismen sowie die Problematisierung von binären, vereinfachenden, ideologischen, stereotypisierenden, rassistischen, eurozentristischen Positionen, Konzepten und Aussagen bilden dabei Hauptaspekte der postkolonial orientierten Untersuchungen.154

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Uerlings: Kolonialer Diskurs, S. 20. Einen guten Einstieg in die Kritik an den postcolonial studies bietet Stuart Hall: Wann gab es »das Postkoloniale«? Denken an der Grenze. In: Jenseits des Eurozentrismus, S. 219–246; weiterhin einführend, aber immer noch, auch in der zweiten Ausgabe, auf die ›holy trinity‹ Said, Bhabha und Spivak fokussiert: María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. 2., komplett überarb. Aufl. Bielefeld: transcript 2015. Vgl. Conrad, Randeria: Jenseits des Eurozentrismus; Dipesh Chakrabarty: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung. Frankfurt/Main, New York: Campus 2010. Allerdings werden die Postkolonialen Studien international bereits als durch die Globalisierungsstudien abgelöst angesehen, während es in der deutschsprachigen Forschung 2010 trotz schwindender »kolonialer Amnesie der Deutschen« (Jürgen Zimmerer: Kolonialismus und kollektive Identität: Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. In: Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Hrsg. von dems. Frankfurt/Main, New York: Campus 2013, S. 9–38, hier S. 10) noch Stimmen gab, die diese für einige Fachbereiche als unbeachtet konstatierten (vgl. María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: Mission Impossible. Postkoloniale Theorie im deutschsprachigen Raum. In: Postkoloniale Soziologie. Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Interventionen. Hrsg. von Julia Reuter, Paula-Irene Villa. Bielefeld: transcript 2010, S. 303–330). Vgl. auch weiterführend für die Germanistik Gabriele Dürbeck: Postkoloniale Studien in der Germanistik. Gegenstände, Positionen, Perspektiven. In: Postkoloniale Germanistik, S. 19–70. Im Gegensatz zu bspw. Großbritannien und Frankreich kann für die deutsche Literaturlandschaft allerdings kaum von einer postkolonialen Literatur gesprochen werden, bei der die ehemals Kolonisierten ›zurückschreiben‹. Vgl. Sara Lennox: Postcolonial Writing in Germany. In: The Cambridge History of Postcolonial Literature. Bd. II. Hrsg. von Ato Quayson. Cambridge: Cambridge University Press 2012, S. 620–648, hier S. 624.

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Im Zuge der Globalisierung, der Migrationsbewegungen, des weltweiten Informationszugangs sowie der Flüchtlingsbewegungen können die gegenwärtigen Diskurse in Europa und auch Deutschland nicht unabhängig vom Postkolonialismus gedacht werden. Die Nachwirkungen der Kolonisierungen fänden sich in der Globalisierung wieder, die sich u.a. in einer westlichen, auf Exklusion basierenden Hegemonie ausdrücke: »Exklusionen aus ethnischen, religiösen, ideologischen, ökonomischen, politischen Gründen sind zentrale und dominierende Strategien der westlichen Welt.«155 Und auch Spivak sieht in der »globale[n] Migration eine Folgeerscheinung des Postkolonialen und nicht die Ursache des Postkolonialismus.«156 Somit sind gerade Wissenskomplexe zur Religion und Kultur, zu dem, was zu uns gehört und was nicht, hochgradig politisch und in einen postkolonialen Kontext eingebunden. Wissen und Wissenschaft über jemanden oder etwas, die Fragen nach dem Wahren, sind aus postkolonialer Perspektive daher niemals unschuldig und unvorbelastet, sie sind eingewoben in die sie umgebenden (global) produzierenden Verhältnisse.157 Jede Form von ›Fremd‹-Begegnung greift auf bereits bekannte diskursiv erzeugte ›Macht-Wissen-Komplexe‹ zurück. Der Kontakt mit Muslim*innen erfolgt vor dem Hintergrund des Islamdiskurses, der Bezug auf Juden und Jüdinnen evoziert in Deutschland automatisch die Shoah. Durch die Diskursintegration, und sei es nur auf der Ebene des Alltagswissens, des common sense,158 sind die Akteur*innen bereits mit einer bestimmten Form von Wissen vorgeprägt, sie greifen auf ein Archiv von Stereotypen, Vorurteilen, tradierten Wertungen, normativen Aussagen zurück. Wenn sie auf etwas treffen, was sie nicht kennen, dann rekurrieren sie auf all das ihnen zur Verfügung stehende, regulierte Wissen, auf die bekannten Muster. Diese sind allerdings hierarchisch konstruiert. Das kulturelle Wissen, das in Literatur, auch von Religion, vermittelt wird, ist somit ebenfalls von Macht durchzogen.

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Peter Weibel: Die koloniale Kondition. In: Inklusion. Exklusion. Probleme des Postkolonialismus und der globalen Migration. Hrsg. von dems., Slavoj Žižek. 2. überarb. Aufl. Wien: Passagen 2010, S. 13–18, hier S. 14. Gayatri Chakravorty Spivak: Achtung: Postkolonialismus. In: Inklusion. Exklusion, S. 117–130, hier S. 121f. Vgl. Julia Reuter, Paula-Irene Villa: Provincializing Soziologie. Postkoloniale Theorie als Herausforderung. In: Postkoloniale Soziologie, S. 11–46, hier S. 33. Hall versteht unter »common sense« den Alltagsverstand, die »Herrschaft des sicher Gewussten«. Stuart Hall: Bedeutung, Repräsentation, Ideologie. Althusser und die poststrukturalistischen Debatten. In: Ders.: Ideologie. Identität. Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Hamburg: Argument 2004, S. 34–65, hier S. 53.

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Macht und Herrschaft Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden; Disziplin soll heißen die Chance, kraft eingeübter Einstellung für einen Befehl prompten, automatischen und schematischen Gehorsam bei einer angebbaren Vielheit von Menschen zu finden.159 Diese Definition zu ›Macht‹ findet sich bei Max Weber. Macht scheint hier von einem Subjekt besessen werden zu können, während das andere Subjekt in dem besagten Moment keine Macht hat; sie ist zudem negativ konnotiert. Herrschaft stellt wiederum eine legitimierte Form der Machtausübung dar. Laclau und Mouffe verarbeiten in ihren gesellschaftstheoretischen Überlegungen hingegen Foucaults späteres Machtverständnis, das sich sowohl von diesem als auch ähnlichen Machtund Herrschaftsbegriffen abgrenzt.160 Während in den früheren Arbeiten Foucaults Macht ebenfalls eher repressiv und negativ erscheint, erfährt der Machtbegriff in den späteren Texten eine strategische Betonung.161 Seit Der Wille zum Wissen wird die produktive Kraft der Macht in den Fokus gerückt: Nicht Gesetze, Verbote und die Annahme einer Souveränität sollten im Analysezentrum stehen, sondern Strategien der Macht.162 Unter strategischen Machtbeziehungen versteht er die Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese

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Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Hrsg. von Johannes Winkelmann. 5., rev. Aufl. Tübingen: Mohr 1976, S. 28. 160 Allgemein zum Thema Foucault und Macht siehe aus sozialwissenschaftlicher Perspektive Peter Imbusch: Macht und Herrschaft in der wissenschaftlichen Kontroverse. In: Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaftliche Theorien und Konzepte. Hrsg. von dems. 2., aktual. u. erw. Aufl. Wiesbaden: Springer 2012, S. 9–31; Widerstand denken. Michel Foucault und die Grenzen der Macht. Hrsg. von Daniel Hechler, Axel Phillips. Bielefeld: transcript 2008; Axel Honneth: Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985; Reiner Keller: Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS 3 2011. 161 So noch in Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 11. Die hier formulierten Ansichten zur Macht werden von ihm später abgelehnt, da sie ausschließlich als negativ und verknappend auftauchen. Vgl. Michel Foucault: Die Machtverhältnisse gehen in das Innere der Körper über. In: DE III, S. 298–309, hier S. 299. 162 Vgl. Isabell Lorey: Macht und Diskurs bei Foucault. In: Das Wuchern der Diskurse, S. 87–97, hier S. 92. Vgl. zum späteren Machtbegriff Thomas Lemke: Die politische Theorie der Gouvernementalität: Michel Foucault. In: Politische Theorien des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von André Brodocz, Gary S. Schaal. 3., erw. u. akt. Aufl. Opladen, Farmington Hills: Barbara Budrich 2009, S. 467–498.

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Kraftverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kraftverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten – oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren; und schließlich Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristallisierung sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern. Die Möglichkeitsbedingung der Macht […] liegt […] in dem bebenden Sockel der Kräfteverhältnisse, die durch ihre Ungleichheit unablässig Machtzustände erzeugen, die immer lokal und unstabil sind. […] Nicht weil sie alles umfaßt, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht überall.163 Foucault dezentriert hier Macht bzw. Machtbeziehungen, es gibt nicht ›die Macht‹, die Personen, Gruppen oder Institutionen eigen ist, sondern sie wird vielmehr in ihrer Produktivität164 dargestellt. Die Machtbeziehungen als »Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen« verhandeln Positionen, wirken sich in Strategien aus – produzieren auch Wissen – und haben als Endprodukt gerade die institutionelle Herrschaft: Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt. […] Die Macht ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert; die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht.165 Dieser Machtbegriff arbeitet mit dem Leitbegriff der Führung bzw. der Regierung (franz.: gouvernement, Lenkung). Gemeint sei damit i.w.S. sowohl politische Steuerung als auch Führung von Menschen bezogen auf Kontexte wie das eigene Selbst, die Familie bis hin zur Gesellschaft:166 »In Wirklichkeit sind Machtbeziehungen de-

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Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt/Main: Suhrkamp 19 2012, S. 93f. Dabei geht es Foucault nicht um eine Theorie der Macht, sondern um die Analyse von Machtbeziehungen: »Ich gebrauche das Wort Macht kaum, und wenn ich es zuweilen tue, dann um den Ausdruck abzukürzen, den ich stets gebrauche: die Machtbeziehungen.« Michel Foucault: Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit. In: DE IV, S. 875–902, hier S. 889 und: »In den vorgesehenen Untersuchungen wird es weniger um eine ›Theorie‹ als um eine Analytik der Macht gehen: um die Definition des spezifischen Bereichs der Machtbeziehungen und die Bestimmung der Instrumente zu ihrer Analyse.« Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 84. 164 Vgl. Lemke: Die politische Theorie der Gouvernementalität, S. 485. 165 Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 94. 166 Vgl. Lemke: Die politische Theorie der Gouvernementalität, S. 474ff. Zur Gouvernementalität vgl. einführend Thomas Lemke: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität. Hamburg, Berlin: Argument 1997; Mitchell Dean: Governmentality. Power and Rule in Modern Society. London u.a.: SAGE 1999.

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finiert durch eine Form von Handeln, die nicht direkt und unmittelbar auf andere [wie bei Weber], sondern auf deren Handeln einwirkt.«167 Macht gibt es demnach nicht als totale, einheitliche Größe; sie ist auch kein äußerlicher Überbau, sondern durchzieht die Körper, die Wahrnehmung, die Interaktion, die Institutionen – kurz: Sie durchzieht die Diskurse in Form von Macht-Wissen-Komplexen. Macht ist demnach auch nicht vorgängig und repressiv, sondern entsteht erst als Machtbeziehung im Prozess und ist produktiv.168 Diese Machtbeziehungen ziehen sich dabei durch die gesamte Gesellschaft: Gerade gegen die Vorstellung einer von oben nach unten wirkenden Kraft, gegen »das Privileg der souveränen Macht« formuliert Foucault, dass »[z]wischen jedem Punkt eines Gesellschaftskörpers […] Machtbeziehungen [verlaufen], […] [die] vielmehr der mobile und konkrete Boden [sind], auf dem sie sich verankern kann, die Bedingung der Möglichkeit, dass sie funktionieren kann.«169 Damit wirke Macht lokal als Mikrophysik direkt auf der kleinsten Ebene von unten nach oben bei den einzelnen sozialen Beziehungen;170 in ihren ›negativen‹ und repressiven Erscheinungen normalisiert, rationalisiert, kontrolliert, überwacht und bildet sie so erst den Boden für ihre institutionalisierte Form – Gewalt und Konsens sind allerdings »Mittel oder Wirkung« und gerade nicht das »Prinzip« von Macht.171 Die produktive Wirkung von Macht richtet sich als Führung auf das Handeln und meint dabei neben der politischen Führung bzw. Regierung auch die »Lenkung des Verhaltens von Individuen und Gruppen«; nicht nur institutionalisierte Formen, sondern auch »mehr oder weniger überlegte und berechnete Handlungsweisen, die jedoch darauf abzielen, die Handlungsmöglichkeiten anderer zu beeinflussen.«172 In diesem Machtverständnis ist eine Aussage inbegriffen, derer sich Foucault explizit bewusst ist: Wenn Macht sich als Regierung/Führung auf Handeln richtet, also Handeln beeinflussen und nicht erzwingen (was bei Foucault Gewaltbeziehungen/-handlungen wären) will, dann kann sie nur über freie Subjekte ausgeübt werden, die alternative Handlungsoptionen hätten. Macht und Freiheit schlie167

Foucault: Subjekt und Macht, S. 285f., Vgl. auch: »Der Ausdruck ›Führung‹ (conduite) vermag in seiner Mehrdeutigkeit das Spezifische an den Machtbeziehungen vielleicht noch am besten zu erfassen. ›Führung‹ heißt einerseits, andere (durch mehr oder weniger strengen Zwang) zu lenken, und andererseits, sich (gut oder schlecht) aufzuführen, also sich in einem mehr oder weniger offenen Handlungsfeld zu verhalten. Machtausübung besteht darin, ›Führung zu lenken‹, also Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten zu nehmen. Macht gehört letztlich weniger in den Bereich der Auseinandersetzung zwischen Gegnern oder der Vereinnahmung des einen durch den anderen, sondern in den Bereich der ›Regierung‹ in dem weiten Sinne, den das Wort im 16. Jahrhundert besaß« (ebd., S. 285). 168 Vgl. Lemke: Die politische Theorie der Gouvernementalität, S. 471. 169 Foucault: Die Machtverhältnisse gehen in das Innere der Körper über, S. 303. 170 Vgl. Lemke: Die politische Theorie der Gouvernementalität, S. 472. 171 Foucault: Subjekt und Macht, S. 284. 172 Ebd., S. 286.

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ßen sich bei Foucault demnach nicht aus, sondern »Freiheit ist die Voraussetzung für Macht«, ohne die Macht gar nicht möglich wäre und ermögliche ›Widerstand‹; Freiheit verhalte sich zur Macht gerade nicht in einem antagonistischen Verhältnis, sondern vielmehr in einem agonalen, provokativen.173 Freiheit bezogen auf das Subjekt bedeutet bei Foucault jedoch keinen individuellen freien Willen eines autonom handelnden Subjektes, sondern die Freiheit von den eignen Gelüsten174 – ein besonderes Verhältnis zu sich selbst: Es gibt also im Verhältnis zur Macht etwas, das der Macht unterworfen ist und das gleichzeitig ihr gegenüber einen Verhaltensspielraum hat und damit politische Handlungsmöglichkeiten erschließt. Es ist das Subjekt, das seine ›Autonomie‹ paradoxerweise gerade durch Verortung im Kraftfeld gesellschaftlicher Machtstrukturen gewinnt, sich diesen unterwirft und gleichwohl gegen sie gerichtet ist.175 Foucault beschreibt das Auflehnen, den Widerstand als eine Gegenwehr, aber gerade nicht gegen einen autoritären Feind, sondern gegen bestimmte Machttechniken und -formen. Da Machtbeziehungen tief im sozialen Gefüge verwoben sind, bedeutet ein Leben in einer Gesellschaft, dass es immer die Möglichkeit gibt, auf das Handeln anderer Einfluss zu nehmen. Die Feststellung, dass es keine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen gibt, ist für Foucault politisch und meint nicht, dass aktuelle Machtbeziehungen gültig bzw. »notwendig«176 seien, sondern dass diese analysiert, herausgestellt und infrage gestellt werden müssen. Foucault sagt also, dass Widerstand möglich ist, allerdings erklärt er nicht, wie. Laut Hall kann Foucaults Konzept trotz der später etablierten Freiheit nicht erklären, warum einige Menschen sich gegen bestimmte Aspekte auflehnen, anders verhalten, sich anders entscheiden. Hall begründet dies damit, dass die Erklärung in den Menschen zu suchen sei und Foucault dies kategorisch, in Form der Psychoanalyse, ablehne.177 Nicht die Konzeption der Macht ist also laut Hall der Grund, warum Widerstand bei Foucault nicht erklärt werden kann, sondern eher seine Vorstellung vom Subjekt.

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Ebd., S. 287f. Diese »individuelle Freiheit« sollte man laut Foucault »nicht als Unabhängigkeit eines freien Willens« verstehen: »Ihr Gegensatz ist weder ein naturhafter Determinismus noch der Wille einer Allmacht, sondern die Sklaverei, und zwar die Versklavung seiner durch sich. Frei sein im Verhältnis zu den Lüsten – das ist: nicht ihr zu Diensten stehen, nicht ihr Sklave sein.« Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd. 2: Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986, S. 112. Zur ›Freiheit‹ des Subjekts vgl. auch Lemke: Die politische Theorie der Gouvernementalität, S. 484. Bublitz: Diskurs, S. 90. Foucault: Subjekt und Macht, S. 289. Vgl. Stuart Hall: Wer braucht ›Identität‹? In: Ders.: Ideologie. Identität. Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Hamburg: Argument 2004, S. 167–187, hier S. 174.

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Das Subjekt ist bei Foucault dem Macht-Wissen-Komplex unterworfen, kann aber anderseits auch Einfluss auf das Handeln anderer nehmen oder sich einem Einfluss in Form von Selbsttechniken verwehren. Damit ist es in heterogene Machtbeziehungen eingebunden, die u.a. auch herrschaftliche Formen annehmen können. Foucault grenzt Machtverhältnisse von Gewaltverhältnissen ab, wobei »Gewaltbeziehungen […] auf Körper und Dinge [einwirken]. Sie zwingen, beugen, brechen, zerstören«.178 Gewalt und Übereinstimmung sind Mittel der Macht, wie auch Herrschaft; während Machtbeziehung durch Praktiken der Freiheit beeinflusst und umgekehrt werden können, trifft dies nicht so einfach auf die Herrschaftszustände zu. Foucault erfasst die Machtbeziehungen als »mobil, reversibel und instabil«, sie sind nicht fest und damit veränderbar; Herrschaftszustände hingegen sind starr und fixiert. Wenn Machtbeziehungen von einer oder mehreren Personen mit Hilfe von bestimmten Instrumenten (ökonomisch, politisch, gewalttechnisch) geblockt werden, sodass sie in einem statischen Zustand verharren, dessen Änderung kaum möglich ist, dann spricht Foucault von Herrschaft. Hier sei Widerstand dementsprechend schwerlich möglich, da die Machtbeziehungen sich verfestigt haben und asymmetrisch geworden sind.179 Foucault differenziert noch weiter: Er unterscheidet zwischen »Machtbeziehungen als strategischen Spielen zwischen Freiheiten« (Spiel im Sinne von Einflussnahme auf Handeln anderer durch Taktiken und Strategien); »Herrschaftszuständen, die das sind, was man üblicherweise Macht nennt« – also repressive, asymmetrische Beziehungen – und dazwischen noch die »Regierungstechnologien«, ein sehr weit gefasster Ausdruck, der sowohl die Führung einer Person bspw. in der Ehe als auch die Lenkung eines Unternehmens oder einer Institution meine.180 Das Besondere an dem Konzept der Regierungstechniken sei, dass sie »Selbstführungstechniken mit Techniken der Führung anderer koppeln.«181 Es wird deutlich, dass diese drei Formen in ihrem statischen Zustand zu den strategischen Machtbeziehungen hin aufweichen;182 sprich: Die Herrschaftszustände haben einseitige und fixierte Machtbeziehungen, die Regierungstechniken sind durch ein Führen von Handlungen gekennzeichnet, also einen bewussten Eingriff ins Handeln anderer, während die strategischen Macht178 179 180 181 182

Foucault: Subjekt und Macht, S. 285. Vgl. Foucault: Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit, S. 878–891, Zitat S. 890. Ebd., S. 900. Lemke: Die politische Theorie der Gouvernementalität, S. 482. Die drei Formen unterscheiden sich wiederum von »Kommunikationsbeziehungen« (medialer Einsatz zur Informationsübertragung) und »objektiven Fähigkeiten« (Macht über Dinge). Diese Beziehungen sind allerdings nicht getrennt, sondern in Verbindung miteinander zu betrachten, sie verschränken sich, bedingen sich, stehen im Austausch. Ihr Verhältnis nimmt je nach Aspekt verschiedene Formen an, wobei es auch »Blöcke« gibt, in denen »wechselseitige Anpassung der Fähigkeiten, Kommunikationsnetzwerke und Machtbeziehungen geregelte, abgestimmte Systeme [bspw. Institutionen wie die Schule] bilde[n]«. Foucault: Subjekt und Macht, S. 281–283.

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beziehungen als am wenigsten normierte und geordnete Beziehungen verstanden werden können, die sich eher auf der Mikroebene intersubjektiver Interaktion befinden, bei der austariert wird, inwieweit man Einfluss auf das Handeln anderer ausüben kann. Eine solche Differenzierung erlaubt es daher nach der Art der Machtausübung und ihren Konstitutionsbedingungen statt ihrer ›Träger‹ zu fragen.183 Obwohl Foucaults Analysen einer breiten Thematik folgen, lassen sie allerdings das Wissen um andere Kulturen bzw. das Andere aus. Foucault beantwortet daher nicht die Frage, wie sich Subjekte in Kontexten dominanter interkultureller Diskurse positionieren bzw. wie sie positioniert (oder unterworfen) werden, wie Wissen vom Fremden produziert wird und wie bei diesem Prozess Machtbeziehungen ausgeübt werden. In diesem Zusammenhang weisen die machttheoretischen Arbeiten Foucaults eine Leerstelle aus. Zwar habe er mitunter den Kolonialismus thematisiert, eine eingehende Beschäftigung fehle jedoch, so Gandhi.184 Um diesen für die kulturelle Interaktion konstitutiven Aspekt des hierarchischen Kulturkontakts analysieren zu können, ist der Rückgriff auf die Überlegungen der postcolonial studies evident. Das Sprechen von Religion in literarischen Texten ist dabei sowohl textintern als auch diskursiv nicht von Fragen der Macht und der Kultur zu trennen. Es gilt zu klären, wie sich Gruppen und Individuen hierarchisch positionieren; wie sich eine wahrgenommene, gegebene oder bewusste Vorherrschaft auf das Miteinander und Untereinander auswirkt und ob eine bestimmte – auch kulturell bedingte – hierarchische Anordnung Einfluss auf grundsätzliche Identitätsproblematiken und -konstruktionen hat.

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Analysiert werden können nach Foucault das »System der Differenzierung«, das die jeweiligen Unterschiede zwischen den Protagonisten, seien sie ökonomischer, kultureller, sozialer etc. Natur, meint; ferner müssten die »Art der Ziele« der Machtausübung untersucht werden; weiterhin geht es um die Frage der »instrumentellen Modalitäten«, also um den Aspekt, mit welchen Mitteln Macht ausgeübt wird; daneben stehen auch die »Formen der Institutionalisierung« im Untersuchungsfokus, die sogenannten Blöcke bzw. die Herrschaftszustände und schließlich der »Grad der Rationalisierung«, bei dem es um die Frage geht, inwieweit die Machtausübung bereits perfektionierenden oder problemfreien Ablauf erreicht habe. Foucault: Subjekt und Macht, S. 288–291. Foucault verweist darauf, dass diese Aspekte als miteinander verbunden und als Ausdruck von Machtbeziehungen verstanden werden sollen, die in einer Gesellschaft in zahlreicher Ausprägung vorkommen können: »Sie überlagern, kreuzen und begrenzen einander, zuweilen heben sie sich gegenseitig auf, und in anderen Fällen verstärken sie sich wechselseitig« (ebd., S. 291). Auch Laclau führt in seiner späteren Arbeit New Reflections of the Revolution of our Time (London: Verso 1990) an, dass »social relations are […] always power relations«, wie auch Identität als solche von Macht bestimmt ist. Laclau: New Reflections, S. 31. 184 Leela Gandhi: Postcolonial Theory. A Critical Introduction. New York: Columbia University Press 1998, S. 26.

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Subjekt und Identität Eine Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex ›Diskurs‹ und ›Macht‹ kommt nicht um die Frage nach den ›handelnden‹ Personen aus, die sich als eine des Subjekts und der Identität stellt – beides komplexe Begriffe, die explizit unterschieden werden müssen. Das Subjekt versteht Reckwitz als eine spezifische[] kulturelle[] Form, welche die Einzelnen in einem bestimmten historischen und sozialen Kontext annehmen, um zu einem vollwertigen, kompetenten, vorbildlichen Wesen zu werden, [das im] Prozess der ›Subjektivierung‹ oder ›Subjektivation‹, in dem das Subjekt unter spezifischen sozial-kulturellen Bedingungen zu einem solchen ›gemacht‹ wird.185 Foucault hat sich in seinen Arbeiten zentral mit dem ›Subjekt‹ auseinandergesetzt.186 Dabei habe er eine Dezentrierung des Subjekts vollzogen, das zwar aktiv am Geschehen teilnehmen, dieses aber nicht schöpferisch beeinflussen kann. Die Menschen nehmen dabei an einem Prozess teil, der sie verschiebt, verformt – sie also als »Subjekte umgestaltet« bzw. erst zu Subjekten macht – die Subjektivierung.187 Subjektivierung bei Foucault meint einen Prozess, der Menschen auf eine bestimmte Art und Weise festlegt – auf Denkmuster, Handlungen, Wahrheitsbegriffe etc. Das Subjekt ist in diesem Kontext dennoch ein aktives, allerdings nur insoweit, als es sich aus Praktiken konstituiert, die es nicht selbst erschafft, sondern »[e]s sind [diskursive] Schemata, die es in seiner Kultur vorfindet, und die ihm vorgegeben, von seiner Kultur, seiner Gesellschaft, seiner Gruppe aufgezwungen sind.«188 Bublitz zeichnet nach, dass das Subjekt einen Status als Objekt einnimmt, indem es sich durch die Übernahme universeller Wahrheiten als Objekt von Machtwirkungen offenbart und gleichzeitig sich dieser Macht unterwirft, indem es sich selbst mit einer Identität ausstattet, sich identifiziert. Erst im Zusammenspiel von Prozessen der Disziplinierung, Kontrolle und Normalisierung würde das Subjekt erzeugt bzw. unterworfen werden.189 In den späteren Arbeiten wendet sich Foucault der Frage nach den Gestaltungsmöglichkeiten des Subjekts zu, die er als ›Techniken des Selbst‹ kennzeichnet. Bublitz folgert, dass der Verweis auf das Subjekt als rein Unterworfenes zu kurz ge-

185 Reckwitz: Subjekt, S. 9f. 186 »Genau an diesem Berührungs-, Schwebe- und unter Umständen Konfliktpunkt zwischen dem System der Regeln und dem Spiel der Unregelmäßigkeiten [verschiedenes Verhalten der Menschen] setze ich mit meinen Fragen an.« Michel Foucault: Auf dem Präsentierteller. In: DE II, S. 888–895, hier S. 891. 187 Foucault: Gespräch mit Docio Trombadori, S. 94. 188 Foucault: Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit, S. 888f. 189 Vgl. Bublitz: Diskurs, S. 88–93.

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dacht sei und es einen Selbstbezug ausbildet.190 Das Subjekt bei Foucault befindet sich demnach in einem Spannungsfeld zwischen Machtpraktiken und Diskursen, die es festlegen, disziplinieren und normieren auf der einen Seite, und den Selbsttechniken, also der Selbstpositionierung, auf der anderen. Trotz dieser Verschiebung in seiner Subjekt-Konzeption bleibt Foucault der Kritik ausgesetzt, er könne ›Handlungsmacht‹ (agency) von Subjekten nicht erklären.191 Wie Foucault beziehen sich Laclau und Mouffe auch auf Subjektpositionen, die Gesamtheit aller, auf den Einzelnen bezogen, artikulierten Subjektpositionen ist dann das Subjekt.192 Während in Hegemonie und radikale Demokratie das Subjekt nur diskursiv positioniert ist, entwickelt Laclau durch kritische Hinweise von Žižek seine Subjektkonzeption weiter,193 bis hin zu einer möglichen ›Handlungsmacht‹ (agency) des Subjekts abseits diskursiver Verortung: Werden Subjektpositionierungen durch Unentscheidbarkeiten (»dislocations«; die durch die nur partielle Fixierung der Diskurse ermöglicht werden) gestört, kann das Subjekt diese aktiv als Identifizierungen auflösen.194 In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen der Geschichtswissenschaft, die die Diskursanalyse fruchtbar gemacht hat, um historische Abläufe abseits von den »Intentionen bedeutender historischer Subjekte«195 zu denken. In diesem Kontext verweist Sarasin darauf, dass Subjekte zwar diskursiv vorgeprägt sind, jedoch die Diskurse, Diskursformationen sich in ihren Signifikationsprozessen und -ketten teilweise überschneiden und widersprechen, auf verschiedenste Diskurse und Gegenstände rekurrieren und so eine Vielzahl von unterschiedlichs-

190 Vgl. ebd., S. 90. 191 Vgl. Tina Spies: Diskurs, Subjekt und Handlungsmacht. Zur Verknüpfung von Diskurs- und Biografieforschung mithilfe des Konzepts der Artikulation. In: Forum Qualitative Social Research 10/2 (2009). http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0902369 (Zugriff: 25.07.2020). In diesem Beitrag erläutert Spies Stuart Halls Artikulationskonzept, das auch für die folgenden Überlegungen relevant ist. 192 Vgl. ebd. 193 In seiner Erweiterung geht Laclau mit Rückgriff auf Lacan davon aus, dass es abseits der kulturellen Subjektpositionen psychische Aspekte geben müsste, die jedoch instabil seien, da sie aus einem Mangel bestehen würden. Da das (primordiale) Subjekt aus einem Mangel konstituiert sei, strebe es nach Komplementierung und unterwerfe sich daher symbolischen Ordnungen, in dem Bestreben, diesen Mangel aufzuheben, was allerdings nie gelingen könne. Vgl. Reckwitz: Subjekt, S. 80; Spies: Diskurs, Subjekt und Handlungsmacht. Zu Žižeks Rezeption von Laclau und Mouffe vgl. Slavoj Žižek: The Sublime Object of Ideology. London: Verso 1989; zur positiven Annahme durch Laclau (und Mouffe) vgl. Laclau: New Reflections, S. 98 u. 253. 194 Ebd., S. 36; zu den weiteren Ausführungen hierzu vgl. ebd., S. 36–41. 195 Philipp Sarasin: Subjekte, Diskurse, Körper. Überlegungen zu einer diskursanalytischen Kulturgeschichte. In: Kulturgeschichte Heute. Hrsg. von Wolfgang Hardtwig, Hans-Ulrich Wehler: Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht 1996, S. 131–164, hier S. 133.

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ten Subjektpositionierungen generieren196 – ein Subjekt ist also weder auf eine Subjektposition reduziert noch den verschiedenen Subjektpositionen vollkommen unterworfen. Es bleibt eine gewisse agency bzw. ›aktive Teilhabe‹, die sich vor allem in der Auflösung der Unentscheidbarkeit bzw. der Entscheidung für eine bestimmt Position zeigt. Aus praxeologischer Perspektive hat Bourdieu dies in seinem Habituskonzept mitbedacht: In seinem Verständnis von Habitus als einem »sozial konstituierte[n] System von strukturierten und strukturierenden Dispositionen, das durch Praxis erworben wird und konstant auf praktische Funktionen ausgerichtet ist«,197 wird Habitus als dynamisch und wandelfähig gedacht; er manifestiere sich »erst im Verhältnis zu einer bestimmten Situation«, wobei unterschiedliche Situationen unterschiedliche Reaktionen und Praktiken erfordern. Zwar sind auch diese habituell geprägt, allerdings könnten die Akteure, so Bourdieu, sich dessen in einer »reflexive[n] Analyse« bewusst werden – das Habituskonzept denkt das Subjekt insoweit als ein aktives, als dass es sich dazu positionieren kann.198 Bourdieu betont dabei, dass auch die Reflexionspraktiken historisch und sozial bedingt, also habituell geprägt sind;199 was wiederum eine weitere Metareflexion bzw. Beobachterebene im luhmannschen Sinn erfordert. Dies gilt in gleicher Weise auch für das dislocation-Konzept Laclaus, denn auch die hier thematisierten ›Entscheidungen‹ bzw. Identifizierungen können ebenfalls diskursiv geprägt sein: Das Subjekt ist also nur in den Grenzen des Diskursiven ›frei‹, damit also immer in irgendeiner Weise diskursiv geprägt. Während die ›Gemachtheit‹ des Subjekts zu einem Allgemeinplatz geworden zu sein scheint, ist die damit zusammenhängende Diskussion um Identität bzw. Identifizierung – und damit Handlungsmacht – noch nicht abgeschlossen.200 Wenn mit dem Subjekt die gesamte kulturelle Form gemeint ist, in welcher der Einzelne als körperlich-geistig-affektive Instanz in bestimmten Praktiken und Diskursen zu einem gesellschaftlichen Wesen wird, dann bezeichnet die ›Identität‹ einen spezifischen Aspekt dieser Subjektform: die Art und Weise, in der in diese kulturelle Form ein bestimmtes Selbstverstehen, eine Selbstinterpretation einge-

196 Vgl. ebd., S. 160ff. 197 Pierre Bourdieu, Loïc J.D. Wacquant : Reflexive Anthropologie. Übers. von Hella Beister, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996, S. 154. 198 Ebd., S. 168. 199 Vgl. ebd., S. 167. 200 Für einen Überblick zu »Identität« vgl. Transitorische Identität. Der Prozesscharakter moderner personaler Selbstverhältnisse. Hrsg. von Joachim Renn, Jürgen Straub. Frankfurt/Main, New York: Campus 2002; Heiner Keupp u.a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek/Hamburg: Rowohlt 4 2008.

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baut ist, wobei diese Identität immer direkt oder indirekt auch mit einer Markierung von Differenzen zu einem kulturellen Anderen verknüpft ist.201 Subjekt ist dementsprechend die Bezeichnung für den verortenden Aspekt, Identität hingegen für den selbstbestimmenden, wobei sich die Selbstwahrnehmung und Selbstpositionierung der Individuen in einer ständigen Interaktion zwischen diesen beiden Polen befindet. Da diese Untersuchung nicht nur danach fragt, wie Subjekte in Religion als diskursiver Formation verortet werden, sondern wie sie sich selbst positionieren und ob sie Möglichkeiten der Subversion haben bzw. nutzen, scheint es nötig, kurz auf den Aspekt von Identität einzugehen. Ausgehend von einem dezentrierten, in diskursive Praktiken eingebundenen Subjekt und der Frage, wie sich Subjekte zu sie diskursivierenden Praktiken verhalten, verweist Hall auf Identität bzw. vielmehr »Identifikation«.202 Halls Identitätsverständnis knüpft dabei an Foucault und Laclau an: Ich gebrauche Identität, um auf den Punkt des Vernähens (to suture) zu verweisen, zwischen Diskursen und Praktiken auf der einen Seite – die Anrufung, uns als diskursiv bestimmtes gesellschaftliches Wesen zu verorten – und Prozessen, die Subjektivitäten produzieren auf der anderen Seite – die uns als Subjekte konstruieren, die sich ›sprechen‹ lassen, die verständlich sind. Identitäten sind solche Punkte temporärer Verbindungen mit Subjektpositionen, die aus diskursiven Praktiken hervorgehen.203 Subjekte werden demnach (bei Foucault und auch bei Laclau und Mouffe) ›angerufen‹. Dieses Konzept der ›Anrufung‹ (Interpellation) geht auf Althusser zurück. Mit Interpellation meint dieser die Anrufung des Individuums in die Ideologie. Das Subjekt wird angerufen, es reagiert und stimmt damit gleichzeitig dem Anrufenden zu, da es sich angesprochen fühlt,204 und wird so ein Unterworfenes bei 201 Reckwitz: Subjekt, S. 17. In der Forschung wird dabei i.d.R. zwischen einer personalen und kollektiven Identität unterschieden. Dabei geht es vor allem um Fragen des Inhalts/Gehalts von Identität sowie gleichzeitig um die Prozesse, die zur Identitätsbildung führen und diese verändern. Vgl. zur kollektiven Identität Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbek/Hamburg: Rowohlt 2001; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck 6 2007. 202 Stuart Hall: Wer braucht ›Identität‹, S. 168. Vgl. insg. auch Spies: Diskurs, Subjekt und Handlungsmacht. 203 Hall: Wer braucht ›Identität‹, S. 173. Hall bezieht sich explizit auf Foucault in seinen Überlegungen zur personalen Identität (vgl. ebd., S. 178ff.) und zur kulturellen (vgl. Hall: Der Westen und der Rest, S. 150ff.). 204 »[D]as Individuum wird als (freies) Subjekt angerufen, damit es sich freiwillig den Anordnungen des SUBJEKTS unterwirft, damit es also (freiwillig) seine Unterwerfung akzeptiert und folglich ›ganz alleine‹ die Gesten und Handlungen seiner Unterwerfung ›vollzieht‹.« Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung). In:

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Foucault wie auch bei Laclau und Mouffe. Hall setzt hier kritisch an: Obwohl er zustimmt, dass Subjekte Unterworfene einerseits sind, fehlt ihm die Erklärung, wie Subjekte individuell mit der Subjektivierung umgehen, warum manche sie gerade nicht annehmen.205 Diesen Aspekt, die Anrufung mit der eigenen Identifikation zu verbinden, bezeichnet Hall nun als ›vernähen‹206 bzw. als »Artikulation«207 und das Produkt als Identität: Auf der einen Seite der Naht die Anrufung, die die Subjekte mit diskursiven Subjektpositionen in Beziehung setzt (Subjektivierung), auf der anderen Seite das Subjekt, das sich in die Position verortet (Identifikation), weil es in sie investiert. Das Subjekt nach Hall ist demnach nicht nur der Subjektposition unterworfen, sondern es nimmt diese auch auf bestimmte Arte und Weise individuell an – und in diesem Sinn versteht er Handlungsmacht, da das Individuum die Annahme auch verweigern könnte. Identität ermöglicht bei Hall demnach eine Form der Ablehnung, die über Laclaus dislocation hinausgeht. So versteht er Identitäten als Ergebnis artikulatorischer Praktiken: »Eine Artikulation ist demzufolge eine Verknüpfungsform, die unter bestimmten Umständen aus zwei verschiedenen Elementen eine Einheit herstellen kann. Es ist eine Verbindung, die nicht für alle Zeiten notwendig, determiniert, absolut oder wesentlich ist«, wobei sie auch »reartikuliert« werden kann.208 Hall rezipiert damit Laclaus und Mouffes diskurstheoretische Überlegungen und bezieht diese konkreter und expliziter auf die Frage der menschlichen Identitätsmöglichkeiten. Die Betonung bei Hall liegt demnach nicht in einem antiessenzialistischen Programm, das Laclau und Mouffe geleistet haben, sondern darauf aufbauend auf den Möglichkeiten der Reartikulation und Intervention. Dies steht auch in Korrelation zu seiner Ablehnung von Laclaus und Mouffes Aufhebung der Unterscheidung diskursiv/nicht-diskursiv. Für Hall ist alles Soziale gerade nicht-diskursiv: Meiner Ansicht nach haben Ereignisse, Verhältnisse und Strukturen ihre Existenzbedingungen und reale Effekte außerhalb der diskursiven Sphäre; aber nur innerhalb des Diskursiven, und vorbehaltlich seiner spezifischen Umstände, Grenzen

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Ders.: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg, Berlin: VSA 1977, S. 108–153, hier S. 148. Bei Althusser zeigt sich das am Beispiel des Polizisten, der »He, Sie da« ruft (vgl. ebd.). Hall: Wer braucht ›Identität‹?, S. 183. Hall versteht »Naht« psychoanalytisch als »›Platz-einnehmen‹« (ebd., S. 187 (Fn. 2); vgl. auch ebd., S. 173). Ebd., S. 183. Stuart Hall: Postmoderne und Artikulation. Ein Interview mit Stuart Hall. Zusammengestellt von Lawrence Großberg. In: Ders.: Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt. Ausgewählte Schriften 3. Hrsg. u. übers. von Nora Rätzel. Hamburg: Argument 2000, S. 52–78, hier S. 65ff.

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und Modalitäten, haben sie Bedeutung oder können innerhalb eines Bedeutungsrahmens konstruiert werden.209 Während bei Laclau und Mouffe also Signifikationsprozesse die Wirklichkeitswahrnehmung und damit gesellschaftliche Ordnungen erst konstruieren, werden diese bei Hall auf außerdiskursive, reale ›Verhältnisse‹ bezogen. Auf der einen Seite ermöglicht diese Unterscheidung sein politisch-programmatisches Projekt, auf der anderen Seite bleibt Hall damit der marxistischen ›Blöcke‹-Metaphorik, gegen die Laclau und Mouffe gerade angeschrieben haben, verhaftet.210 Der Rückgriff auf Hall dient hier vor allem seiner Ausarbeitung der individuellen Möglichkeiten von Subjekten abseits einer Diskursivierung, ohne dass seinem Verständnis von diskursiv/außerdiskursiv gefolgt wird, wobei noch ergänzend seine Position insoweit differenziert wird, als dass individuelle Artikulation bzw. Identifikation ebenfalls diskursiv sein kann – also nur der Eindruck einer ›freien‹ Entscheidung vorliegt. Während Identität aus der Anrufung und der ›Antwort‹ des Individuums partiell fixiert wird, ist sie gleichzeitig für Hall Machtbeziehungen ausgesetzt, die sowohl die Anrufung als auch die Antwort beeinflussen und machtvolle Hierarchisierungen mit daraus resultierenden binären Oppositionen produzieren.211 Bei Hall werden die Machthandlungen hinsichtlich der Konzeption von Subjekten und Identitäten expliziter ausgestellt als bei Laclau und Mouffe. Dies mag am politischen Ansinnen seiner Arbeiten liegen, insoweit er sie programmatisch versteht. Seine Untersuchungen beschäftigen sich vor allem mit der Frage der Repräsentationsmöglichkeiten (v.a. postkolonialer) Marginalisierter im herrschenden Diskurs. In diesem Kontext hat er sich mit Stereotypen, Rassismus, Ethnizität, Diaspora, Ideologie sowie der kulturellen Identität beschäftigt. Identitäten, besonders kulturelle, sind für ihn unweigerlich mit Macht-Wissen-Komplexen, den daraus entstehenden Wahrheitsregimes, bei Hall »Repräsentationsregimes«212 , verknüpft.213

209 Stuart Hall: Neue Ethnizitäten. In: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument 1994, S. 15–25, hier S. 17. Vgl. Hall: Postmoderne und Artikulation, S. 70f. 210 Vgl. hierzu Stähli: Gesellschaftstheorie und die Unmöglichkeit ihres Gegenstandes, S. 373. 211 Vgl. Stuart Hall: Das Spektakel des ›Anderen‹. In: Ders.: Ideologie. Identität. Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Hamburg: Argument 2004, S. 108–166. Menschen, die »auf irgendeine signifikante Weise von der Mehrheit verschieden – ›sie‹ und nicht ›wir‹ – sind, [werden] oft binären Formen der Repräsentation ausgesetzt […]. Sie werden scheinbar durch gegensätzliche, polarisierte, binäre Extreme wie gut/schlecht, zivilisiert/primitiv, hässlich/übermäßig attraktiv, abstoßend-weil-anders/anziehend-weil-fremd-und-exotisch repräsentiert« (ebd., S. 112). 212 Stuart Hall: Kulturelle Identität und Diaspora. In: Ders.: Rassismus und kulturelle Identität, S. 26–43, hier S. 30. 213 Hall: Der Westen und der Rest, S. 154.

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Sie sind »konstruiert aus unterschiedlichen, ineinandergreifenden, auch antagonistischen Diskursen, Praktiken und Positionen […] und beständig im Prozess der Veränderung und Transformation begriffen«.214 Für Hall können Identitäten, und damit auch die zugrunde liegenden Subjektpositionen, nur als diskursivierte verstanden werden, wobei er Individuen Formen der Intervention zuspricht. Wie zeigt sich dies nun in Bezug auf Religion in literarischen Texten? Wie sind Subjekte hinsichtlich Religion verortet bzw. unterworfen; welche religiösen Identitätskonstruktionen gibt es in den Texten und wie sprechen die Figuren bzw. die Erzählinstanz über Religion (bzw. Religionen)? Die Verwobenheit von Wissen und Wahrheit mit Macht verdeutlicht, wie stark Diskurse und Diskursivierungen von Subjektpositionen von Machtbeziehungen, und zwar bis zur mikrophysischen Ebene hin, durchzogen sind. Daraus ergibt sich zwingend die Frage, wie die Verhältnisse beschaffen sind, unter denen sich die Figuren Religionen zugehörig fühlen, sich als religiös verstehen und mit welchen literarischen Mitteln dies dargestellt wird. Die Wahl von Gegenwartsliteratur ermöglicht dabei den Bezug zum gegenwärtigen Religionsdiskurs und zu der Frage, wie sich Literatur auf diesem vielfach diskutierten Feld positioniert. Jedoch ist dieses Feld in seiner Breite kaum zu überblicken. Das folgende Kapitel dient daher einer kurzen Skizzierung der zentralen Begriffe des aktuellen Religionsdiskurses: Säkularisierung, Spiritualität, religiöse Erfahrung und Mystik, die für die spätere Analyse relevant werden.

214 Hall: Wer braucht ›Identität‹, S. 170.

III ›Wiederkehr der Religion‹, Säkularisierung und Formen der ›Religiosität‹

Eine literaturwissenschaftliche Untersuchung, die die Darstellung von Religion, im Sinne einer diskursiven Formation, in der Gegenwartsliteratur in den Blick nimmt, kommt nicht umhin, dieses komplexe – und zwischen den Religionswissenschaften, Theologien, Sozialwissenschaften, Philosophie und Kulturwissenschaften umkämpfte – Forschungsfeld, in das sie sich interdisziplinär begibt, zu reflektieren. Zudem ist ›Religion‹ durch zahlreiche weitere Entwicklungen geprägt, die im Zuge der Säkularisierung und der ›Privatisierung der Religion‹1 das Diskursfeld um andere ›religiöse‹ Formen erweitert haben, welche wiederum einen expliziten Widerhall in den hier untersuchten Texten finden. Da diese Entwicklungen eng verzahnt sind mit dem Säkularisierungsparadigma, das sie bedingt, werden im Folgenden die relevanten Begrifflichkeiten, auf die später in den Werkanalysen zurückgegriffen wird, geklärt.

III.1

Säkularisierung und das Narrativ der ›Wiederkehr der Religion‹

Gibt es eine ›Wiederkehr‹ der Religion? Der ›Boom‹ der Religionsthematik in Gesellschaft, Kunst, Medien, Forschung etc. ist augenfällig, hat man doch bis spät in die 1960er Jahre an der Säkularisierungsthese festgehalten. Diese wird als ein Prozess verstanden, »durch den Teile der Gesellschaft und Ausschnitte aus der Kultur aus der Herrschaft religiöser Institutionen und Symbole entlassen werden«.2 Somit ging die ursprüngliche Säkularisierungsthese davon aus, dass die Bedeutung der Religion für die ver-

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Vgl. Thomas Luckmann: Privatisierung und Individualisierung. Zur Sozialform der Religion in spätindustriellen Gesellschaften. In: Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung. Biographie und Gruppe als Bezugspunkt moderner Religiosität. Hrsg. von Karl Gabriel. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1996, S. 17–28. Peter L. Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Frankfurt/Main: Fischer 1973, S. 103.

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schiedensten gesellschaftlichen und privaten Bereiche im Zuge der europäischen Modernisierungs- und Ausdifferenzierungsprozesse sukzessive abnehmen würde. Seit den 1990er Jahren sind in der Forschung hingegen verstärkt Publikationen aufgekommen, die das Säkularisierungsparadigma infrage stellten oder eine ›Wiederkehr der Religion‹ attestierten. Eine der ersten kritischen Arbeiten war die breit rezipierte Studie Public Religions in the Modern World3 (1994) von José Casanova, die die Annahme einer scheinbar global gültigen Säkularisierungsthese ins Wanken brachte. Seitdem mehren sich in den letzten Jahren die Stimmen, die das Paradigma der ›Wiederkehr der Religion‹ kritisch hinterfragen: So zeichnet Albrecht Koschorke nach, dass es sich sowohl bei der Säkularisierung als auch der ›Wiederkehr der Religion‹ um ›große Erzählungen‹ (grand récit) im Sinne Lyotards handle. Während die Falsifikation der Säkularisierungsthese problematischer denn je sei – besonders, da in den letzten Jahren Untersuchungen gezeigt hätten, dass das Ausgangspostulat eines »Rückzug[s] der Religion«4 sich gerade nicht »im Einklang mit den tatsächlichen Gegebenheiten befand«5 , um nur eines der Hauptargumente Koschorkes zu nennen –, sei die eine Meistererzählung durch eine neue »abgelöst oder zumindest abgewandelt«6 worden: dem Narrativ der ›Wiederkehr der Religion‹. Der Clou am Paradigma der ›Wiederkehr‹ ist, dass hier gerade nicht die Säkularisierungsthese negiert wird, sondern dass die neue Erzählung auf dem »Vorgängernarrativ gleichsam aufsattelt«.7 In der Forschung hat dies zu verschiedenen Positionen geführt: So finden sich neben Ansätzen, die einzelne Aspekte der Säkularisierungsthese unterstützen,8 ablehnende Haltungen wie die Koschorkes; daneben gibt es mit José Casanova eine prominente Stimme, die die Säkularisierungsthese nicht per se ablehnt, sondern eine stärkere Differenzierung, vor allem im globalen Kontext, fordert.9 Die

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José Casanova: Public Religions in the Modern World. Chicago: University Press 1994. Albrecht Koschorke: ›Säkularisierung‹ und ›Wiederkehr der Religion‹. Zu zwei Narrativen der europäischen Moderne. In: Moderne und Religion, S. 237–260, hier S. 248. Ebd. Ebd., S. 247. Ebd. Vgl. Detlef Pollack: Still alive – das Säkularisierungsparadigma. In: Religion – Wirtschaft – Politik. Forschungszugänge zu einem aktuellen transdisziplinären Feld. Hrsg. von Antonius Liedhegener, Andreas Tunger-Zanetti, Stephan Wirz. Zürich: Nomos 2011, S. 41–60. Pollack hat zudem einen Aufsatz publiziert, der die Modernisierungsthese, deren kritische Hinterfragung an die Problematisierung der Säkularisierungsthese anschließt, bestätigt: »Religion und Kirche [sind] von den Folgen der Modernisierung insgesamt doch eher negativ betroffen. Bei der Behauptung, dass Religion und Moderne kompatibel seien, handelt es sich um eine neue Meistererzählung der Sozial- und Geisteswissenschaften.« Detlef Pollack: Religion und Moderne. Theoretische Überlegungen und empirische Beobachtungen. In: Moderne und Religion, S. 293–330, hier S. 324f. Vgl. Casanova: Public Religions.

III ›Wiederkehr der Religion‹, Säkularisierung und Formen der ›Religiosität‹

Problematisierung der Säkularisierungsthese führte wiederum zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Modernisierungsthese; in der Religionswissenschaft wird ferner dem Komplementärbegriff Säkularität, im Gegensatz zu Religion bzw. zum Religiösen, in den letzten Jahren verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt.10 Dieses heterogene Forschungsfeld verweist letztlich auf die (für westlich-europäische Gesellschaften) übergeordnete Frage, wie die Säkularisierungsthese sich zu dieser ›Rück-/Wiederkehr‹ verhält, wie ›Religion‹ und ›Moderne‹ in diesem Kontext gedacht werden sollen und was das für die »postsäkulare Gesellschaft«11 an Implikationen mit sich bringt. An diesem kurzen Abriss wird jedoch vor allem deutlich, dass der Religionsdiskurs in der gegenwärtigen Diskussion kein isolierter ist, sondern in einen heterogenen Kontext eingebunden ist, der sich im Spannungsfeld von Säkularisierung, Moderne, Rationalisierung etc. befindet.

Säkularisierung Wie viele andere ›große‹ Begriffe ist auch der der Säkularisierung nicht eindeutig definiert und immer noch umkämpft.12 Etymologisch leitet er sich aus dem lateinischen saeculum, Zeitalter, ab. Dabei habe er allerdings eine christliche Bedeutungsverschiebung erfahren, nach der saecularisatio aufgrund eines Sphärenwechsels eine erlaubte Verweltlichung meine (dabei von Profanisierung als frevelhaft verstandenem Vorgang unterschieden werden müsse).13 Während anfangs saecularisatio einen »kirchenrechtliche[n] Akt« (Wechsel eines Ordensgeistlichen zum Weltgeistlichen) meinte, wird der Begriff seit 1646 auch auf Kirchengüter bezogen und bezeichnete die im Reichsdeputationshauptschluss von 1803 festgelegte Übertragung von Kirchengütern in den staatlichen Besitz.14 Der deutsche Begriff für diesen kirchenrechtlichen Vorgang war anfangs Säkularisation; erst seit der

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Vgl. zur Diskussion um den Modernebegriff den bereits zitierten Sammelband Moderne und Religion; zu Säkularität siehe: Säkularität in der religionswissenschaftlichen Perspektive. Hrsg. von Steffen Führding, Peter Antes. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht unipress 2013. Jürgen Habermas: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Frankfurt/Main: Suhrkamp 8 2016, S. 12. Vgl. hierzu Pollack: Still alive, S. 43. Zur Problematik der Bedeutungspluralität und zur Vertiefung siehe Ulrich Ruh: Säkularisierung als Interpretationskategorie. Zur Bedeutung des christlichen Erbes in der modernen Geistesgeschichte. Freiburg/Breisgau, Basel, Wien: Herder 1980; Hartmut Lehmann: Säkularisierung. Ein europäischer Sonderweg in Sachen Religion. Göttingen: Wallstein 2004. Vgl. Richard Schröder: Säkularisierung. Ursprung und Entwicklung eines umstrittenen Begriffs. In: Säkularisierung. Bilanz und Perspektiven einer umstrittenen These. Hrsg. von Christina von Braun, Wilhelm Gräb, Johannes Zachhuber. Berlin: LIT 2007, S. 61–73, hier S. 61. Ebd., S. 63. Der Begriff saecularisatio sei allerdings bereits im 16. Jahrhundert belegt (vgl. ebd.).

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zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird sowohl hierfür als auch für den gesellschaftlichen Prozess der Begriff ›Säkularisierung‹ verwendet.15 In der Forschung gibt es mittlerweile verschiedene »deskriptiv-quantitative«16 Begriffsverwendung von Säkularisierung: Das ist 1. die Vorstellung von Säkularisierung als dem Nachlassen des Wissens von Religion sowie der Ausübung von Religion in modernen westlichen Gesellschaften (Stichwort: Verweltlichung). Das ist 2. die Säkularisierung des kulturellen und geistigen Lebens als Folge der wissenschaftlichen Fortschritte speziell auf den Gebieten der Naturwissenschaft, der Medizin und der Technik (Stichworte: Rationalisierung, Entzauberung, Verwissenschaftlichung). Das ist 3. Säkularisierung als Beschreibung der Tatsache, daß die etablierten Kirchen seit der Aufklärung das Monopol bei der Bewältigung schwieriger Lebenssituationen verloren haben (Stichwort: Entkirchlichung). Und das ist 4. schließlich das Verständnis von Säkularisierung als einer sehr allgemeinen und grundlegenden Transformation der Kultur, die sich von einer transzendenten Orientierung, die bei der Beantwortung der ›letzten Dinge‹ hilft, hin zur Orientierung an rein innerweltlichen Werten, Normen und Praktiken entwickelt hat (Stichworte: Privatisierung, Individualisierung, Ausdifferenzierung).17 Diese ausdifferenzierte Begriffsverwendung hat sich in den Sozialwissenschaften mittlerweile durchgesetzt. Die Arbeiten, auf die sich das ursprüngliche Säkularisierungsparadigma beruft, haben den Begriff der Säkularisierung allerdings gerade nicht benutzt. So haben Max Weber und Émile Durkheim, die wesentlich für das Verständnis der Säkularisierungsthese sind, auf den Begriff verzichtet.18 Im Kontext seiner Überlegungen zum Prozess der Rationalisierung und der westlichen Modernisierung thematisierte Weber die Abnahme der gesellschaftlichen Bedeutung der Religion, die sich in der bekannten Formel der »Entzauberung der Welt«19 wiederfindet. Dabei sei »das Christentum, genauer die jüdisch-christliche Tradition, sowohl Wegbereiter wie prominentes Opfer dieser Entwicklung« gewesen, so

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Vgl. Lehmann: Säkularisierung. Lehmann zeichnet hier ausführlich die begriffsgeschichtliche Entwicklung anhand der relevanten Lexika des 18., 19. und 20. Jahrhunderts nach. Pollack: Still alive, S. 44. Lehmann: Säkularisierung, S. 57. Vgl. Johannes Zachhuber: Die Diskussion über Säkularisierung am Beginn des 21. Jahrhunderts. In: Säkularisierung. Bilanz und Perspektiven einer umstrittenen These, S. 11–42, hier S. 14f. »Jener große religionsgeschichtliche Prozeß der Entzauberung der Welt […] fand im Protestantismus seinen Abschluß.« Max Weber: Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus [1920]. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1. Tübingen: Mohr 9 1988, S. 17–206, hier S. 94f.

III ›Wiederkehr der Religion‹, Säkularisierung und Formen der ›Religiosität‹

Zachhuber, der diesen paradoxen Aspekt als »charakteristische Dialektik der westlichen Modernisierung« bezeichnet.20 Was bei Weber die Rationalisierung leiste, sei bei Durkheim dem Prozess der Individualisierung zuzuschreiben. Da Durkheim Religion funktional als Gesellschaftskonstituens sieht, habe der Prozess der Individualisierung zum Rückgang des Gesellschaftszusammenhaltes geführt, und damit auch zum Rückgang der Religion.21 Zachhuber betont allerdings, dass Durkheim und Weber kein »explizites Konzept von Säkularisierung« haben, weil die damit einhergehende Aussage zu »jener Zeit so evident war«.22 Diese undifferenzierte Verwendung des Begriffs bzw. die scheinbar offensichtliche Annahme einer Säkularisierung führte ab den 1960er Jahren, auch vor dem Hintergrund der Diskussionen um den Religionsbegriff, zu einer kritischen Intervention. So haben Peter Berger und Thomas Luckmann darauf verwiesen, dass Religion nicht mit Kirche gleichzusetzen sei, wobei die kirchlichen Zugehörigkeiten zurückgingen und im Kontext einer Individualisierung und Privatisierung ›Religion‹ »unsichtbar« würde, ohne jedoch zu verschwinden.23 In den 1980/90er Jahren wird die Säkularisierungsthese schließlich in ihrer bisherigen teleologischen Form breitflächig kritisch hinterfragt, auch von Autor*innen, die vorher noch ihre Anhänger waren, so Berger, der später konstatierte, dass Modernisierung zur Säkularisierung, aber genauso gut auch zur »Desäkularisierung« führen könnte.24 Den Höhepunkt erreichte die Kritik mit der Publikation Public Religions von José Casanova, der vom ›Paradox der Säkularisierungsthese‹ spricht, die unkritisch vorausgesetzt und daher nicht erforscht wurde: Any discussion of the theory of secularization, particularly an attempt to trace its genealogy and its history once it was incorporated into the social sciences, especially into sociology, where the theory eventually found its home, has to begin with the statement of a striking paradox. The theory of secularization may be the only theory which was able to attain a truly paradigmatic status within the modern social sciences. In one form or another […] the theory of secularization was shared by all the founding fathers [der Soziologie], […]. Indeed, the consensus was such that not only did the theory remain uncontested but apparently it was not even necessary to test it, since everybody took it for granted. This means that although the theory, or, rather, the thesis of secularization often served as the unstated premise

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Zachhuber: Diskussion über Säkularisierung, S. 15. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Luckmann: Die unsichtbare Religion; Peter L. Berger: Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft [1979]. Frankfurt/Main: Fischer 1980. Vgl. hierzu den von ihm hrsg. Band The Desecularization of the World, in dem es heißt: »My point is that the assumption that we live in a secularized world is false.« (Berger: The Desecularization of the World, S. 2)

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of many of the founding father’s theories, it itself was never either rigorously examined or even formulated explicitly and systematically.25 Er geht auf die Verwendung des Begriffs und die Säkularisierungsthese ein, die er hauptsächlich als eine in drei Subthesen unterteilte versteht: »[S]ecularization as differentiation of the secular spheres from religious institutions and norms, secularization as decline of religious beliefs and practices, and secularization as marginalization of religion to a privatized sphere.«26 Während die beiden letzten, also Abnahme der religiösen Sphäre und die Privatisierung, keinen Einfluss auf die Säkularisierung hätten, stellt Casanova die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in verschiedene, getrennte institutionelle Bereiche als einen Aspekt der Säkularisierung heraus.27 Vor diesem Hintergrund sei die Säkularisierungsthese unter modifizierten Bedingungen noch gültig – so Casanovas Ergebnis.28 Die Gründe für die Kritik an der Säkularisierungsthese sind dabei verschiedener Provenienz: Neben den bereits erwähnten Aspekten wird der These eine eurozentristische Position und Konzeption vorgeworfen. Die Übertragung auf ähnlich modernisierte Gesellschaften zeige ein vollkommen anderes Ergebnis hinsichtlich der Verankerung der Religion in der Gesellschaft, bspw. in den USA oder auch in Japan. Ferner widersprächen die historischen Entwicklungen der letzten Jahre, i.e. das starke Anwachsen der Bedeutung von Religion, sei es in Polen, in den islamischen oder in den südamerikanischen Ländern, gerade der Säkularisierungsthese. Auch zeigten sich in den säkularen europäischen Ländern Bewegungen eines Wiedererstarkens der Religion in Form alternativer Religionsbewegungen, die auf ein Versagen des rationalen Zugangs zur Welt in Bezug auf existenzielle Probleme hinweisen. Schließlich impliziere die Aussage einer Abnahme einen historischen Zeitpunkt, ein »Goldenes Zeitalters des Glaubens«, das allerdings historisch nicht eindeutig nachgewiesen werden könne, sodass die Säkularisierungsthese retrospektiv postuliert zu denken sei.29 Ein weiterer Aspekt ist eine normative Auslegung des Säkularisierungsbegriffs, auf die Habermas in seiner Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zu sprechen kommt: Das Wort ›Säkularisierung‹ hatte zunächst die juristische Bedeutung der erzwungenen Übereignung von Kirchengütern an die säkulare Staatsgewalt. Diese Bedeutung ist auf die Entstehung der kulturellen und gesellschaftlichen Moderne insgesamt übertragen worden. Seitdem verbinden sich mit ›Säkularisierung‹ entgegengesetzte Bewertungen, je nachdem ob wir die erfolgreiche Zähmung der 25 26 27 28 29

Casanova: Public Religions, S. 17. Ebd., S. 211. Vgl. ebd., S. 211–216. Vgl. Pollack: Still alive; Detlef Pollack: Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland. Tübingen: Mohr Siebeck 2003. Vgl. Zachhuber: Diskussion über Säkularisierung, S. 19ff.

III ›Wiederkehr der Religion‹, Säkularisierung und Formen der ›Religiosität‹

kirchlichen Autorität durch die weltliche Gewalt oder den Akt der widerrechtlichen Aneignung in den Vordergrund rücken. Nach der einen Lesart werden religiöse Denkweisen und Lebensformen durch vernünftige, jedenfalls überlegene Äquivalente ersetzt; nach der anderen Lesart werden die modernen Denk- und Lebensformen als illegitim entwendete Güter diskreditiert. Das Verdrängungsmodell legt eine fortschrittsoptimistische Deutung der entzauberten, das Enteignungsmodell eine verfallstheoretische Deutung der obdachlosen Moderne nahe. Beide Lesarten machen denselben Fehler. Sie betrachten die Säkularisierung als eine Art Nullsummenspiel zwischen den kapitalistisch entfesselten Produktivkräften von Wissenschaft und Technik auf der einen, den haltenden Mächten von Religion und Kirche auf der anderen Seite.30 In dieser Aussage macht Habermas deutlich, dass mit der Säkularisierungsthese eine Wertung des ›Fortschritts‹, der ›Entwicklung‹ einer Gesellschaft zu einer ›modernen‹ Form impliziert ist, die die Wahrnehmung und Kommunikation über verschiedene Gesellschaften beeinflusst. Abschließend kann festgehalten werden, dass die klassische Säkularisierungsthese einer stetigen Abnahme der religiösen Bedeutung für die Gesellschaft bei gleichzeitiger Modernisierung so nur noch von wenigen Forscher*innen vertreten wird. Es scheint eher der Fall zu sein, dass das Konzept der Säkularisierung in der Forschung beibehalten und modifiziert wird, was unter anderem von Knoblauch als Folge einer »Wendung zur Spiritualität [als] Ausdruck einer grundlegenden Transformation der Religion«31 innerhalb der Gesellschaft verstanden werden müsste. Der Begriff der Spiritualität beschreibt dabei für Knoblauch gegenwärtig eine neue Form der ›Religion‹, wobei ursprünglich religiöse Kommunikation in den Bereich des Populären und vice versa diffundiere, woraus sich »populäre Religionen«32 bzw. mit Günter Thomas »implizite Religion[en]«33 bilden. Dieses weite Feld der Formen des ›Religiösen‹ in der gegenwärtigen Gesellschaft wird dabei häufig, wie von Knoblauch, mit dem neuen Sammelbegriff ›Spiritualität‹ umfasst, der einer Klärung bedarf.

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Habermas: Glauben und Wissen, S. 13. Hubert Knoblauch: Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft. Frankfurt/Main: Campus 2009, S. 41. Ebd. Günter Thomas: Implizite Religion. Theoriegeschichtliche und theoretische Untersuchungen zum Problem ihrer Identifikation. Würzburg: Ergon 2001.

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Religion als diskursive Formation

III.2

Formen der ›Religiosität‹

Bereits 1969 konstatierte Thomas Luckmann, dass das »Verhältnis zwischen Individuum und gesellschaftlichem Ordnungsgefüge mit dem Aufkommen der modernen Gesellschaft eine radikale Veränderung erfahren« habe.34 In seiner Arbeit, der ein auf menschlichen Transzendenzerfahrungen beruhender, anthropologischfunktionalistischer Religionsbegriff zugrunde liegt,35 vertritt er die These, dass im Zuge der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung die religiöse Beziehung des Einzelnen sich von den traditionellen Institutionen hin zur »Privatsphäre« des autonomen Individuums verschoben habe; einer »Ausbildung der individuellen Religiosität«, die nicht übereinstimmen muss mit dem Angebot der offiziellen religiösen Institutionen.36 Luckmann geht dabei davon aus, dass die Bedeutung dieser ›Offiziellen‹ immer mehr abnimmt und die ›Privatisierung‹ zunimmt, ohne dass die modernen westlichen Gesellschaften areligiös würden. Diese gesellschaftliche Veränderung verstünde er als »durchgängige Tendenz«, bei der die »persönliche Identität zur letzten Instanz der Organisation des Religiösen« wird.37 Interessant dabei ist, dass diese These in den letzten Jahren immer mehr, oder wieder, Beachtung gefunden hat und zu einer Einigung bezüglich der gesellschaftlich-religiösen Entwicklung auf die Interpretation als Individualisierung des Religiösen und damit einer Bestätigung der Arbeit von Luckmann durch empirische Studien geführt hat.38 Die Veränderung der ›Religion‹ bzw. der gesellschaftlichen Wahrnehmung dessen, was als ›Religion‹ verstanden und von den Akteur*innen gelebt bzw. kommuniziert wird, vollzog sich über die erst sichtbare institutionalisierte zu einer »unsichtbaren Individualreligion«, die mittlerweile einen »Patchworkcharakter als synkretistische[] Individualreligion« hat. In der Selbstbeschreibung

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Luckmann: Die unsichtbare Religion, S. 47. So heißt es in seinem Nachtrag, »daß die grundlegende Funktion der ›Religion‹ darin besteht, Mitglieder einer natürlichen Gattung in Handelnde innerhalb einer geschichtlich entstandenen gesellschaftlichen Ordnung zu verwandeln« (ebd., S. 165). Zur Transzendenzerfahrung bei Luckmann vgl. Hubert Knoblauch: Die Soziologie der religiösen Erfahrung. In: Religiöse Erfahrung. Ein interdisziplinärer Klärungsversuch. Hrsg. von Friedo Ricken. Stuttgart: Kohlhammer 2004, S. 69–79. Luckmann: Die unsichtbare Religion, S. 141. Der Begriff der »unsichtbaren Religion« taucht nur in titelgebender Funktion in der besagten Arbeit auf. Hubert Knoblauch: Die Verflüchtigung der Religion ins Religiöse. Thomas Luckmanns Unsichtbare Religion. In: Luckmann: Die unsichtbare Religion, S. 7–41, hier S. 31 u. 33. Vgl. Armin Nassehi: Religiöse Kommunikation. Religionssoziologische Konsequenzen einer qualitativen Untersuchung. In: Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008. Hrsg. von der Bertelsmann Stiftung. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 2009, S. 169–203.

III ›Wiederkehr der Religion‹, Säkularisierung und Formen der ›Religiosität‹

der Akteur*innen ist dabei der Begriff ›Spiritualität‹ immer häufiger aufgetaucht und hat mittlerweile einen prominenten Charakter eingenommen.39

III.2.1

Spiritualität

Seit einiger Zeit hat sich das Forschungsinteresse auf eine neue »Sozialform der Religion«40 bzw. das Phänomen der Spiritualität verschoben. Der Begriff ist allerdings ein Neologismus: »Als man begann, die griechische Welt des Neuen Testaments auf Latein auszudrücken, fehlte dort ein Adjektiv für: ›pneumatikos‹, vom Geist Gottes getragen und beseelt. Man bildete den Neologismus […]: ›spiritualis‹«.41 Im deutschen Sprachgebrauch finden sich für Spiritualität zwei Begriffstraditionen: einerseits »französischer und katholisch-ordenstheologischer Herkunft (spiritualité)« – seit 1940 von Theologen ins Deutsche eingebracht, verbreitete sich diese Tradition erst auf katholischer, später auf protestantischer Seite –; anderseits ist der Begriff »angelsächsischer und protestantischer bzw. freireligiöser Provenienz (spirituality)«, hierzulande etwa seit den 1970ern im Kontext der ›New Age Bewegung‹ zu finden.42 Laut Bochinger stand in der romanischen Tradition Spiritualität zuerst in der Nähe zur Frömmigkeit, seit den 1960er Jahren würde man den Begriff allerdings verstärkt in Abgrenzung dazu thematisieren. Vielmehr meine sie nun den christlichen Lebensvollzug, wobei der kirchliche Gemeinschaftsaspekt relevant ist. Diese Weiterentwicklung des theologischen Begriffs versteht Bochinger als Reaktion

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Jörg Herrmann, Jörg Metelmann: Dimensionen des Erfahrungsbegriffs. Skizzen zur Theorie und Phänomenologie der Jetztzeit. In: Ästhetik und Religion. Interdisziplinäre Beiträge zur Identität und Differenz von ästhetischer und religiöser Erfahrung. Hrsg. von Wilhelm Gräb u.a. Frankfurt/Main: Lang 2007, S. 23–50, Zitate S. 45. Hubert Knoblauch: Spiritualität und die Subjektivierung der Religion. In: Individualisierung. Spiritualität. Religion. Transformationsprozesse auf dem religiösen Feld in interdisziplinärer Perspektive. Hrsg. von Wilhelm Gräb, Lars Charbonnier. Berlin: LIT 2008, S. 45–57, hier S. 46; vgl. auch die Beschreibung als »eigene Sozialgestalt des Religiösen« in: Wilhelm Gräb: Einleitung. In: ebd., S. 9–19, hier S. 10. Josef Sudbrack: Neue Religiosität. Herausforderung für die Christen. Mainz: Matthias Grünewald 3 1988, S. 75. Vgl. Christoph Bochinger: ›New Age‹ und moderne Religion. Religionswissenschaftliche Analysen. Gütersloh: Chr. Kaiser 1994, S. 377; Zitate: ebd. Knoblauch sieht das Aufkommen der Bewegung in Deutschland erst in den 1980er Jahren. Vgl. Knoblauch, Spiritualität und die Subjektivierung, S. 47. Er verweist zudem darauf, dass die behauptete Homogenität der NewAge-Bewegung irreführend sei, »weil dieses Konzept selbst nur für den kleinsten Teil einer Bewegung zutraf, die aus quantitativ nicht besonders zahlreichen Aktivisten bestand« (ebd., S. 47) und diese Bewegung im Kern undogmatisch ist, da hier verschiedene ›religiöse‹ Traditionen zusammenkommen. New Age stünde für die Erwartung eines »epochalen Wandels zu einem ›Neuen Zeitalter‹« (Knoblauch: Populäre Religion, S. 100f. u. 109).

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Religion als diskursive Formation

auf die jeweiligen gegenwärtigen Entwicklungen, die durch den Rückgang der Kirchenmitglieder gekennzeichnet sind.43 Für die christliche Spiritualität bilden demnach das Christentum, Frömmigkeit sowie subjektive Erfahrungen den Bezugspunkt. Anders ist die Entwicklung gestaltet, auf die der angelsächsische Begriff verweist: ›Spirituality‹ bezeichnet schon am Ende des vorigen Jahrhunderts [i.e. 19. Jhd.] eine sich auf innere Erfahrung berufende, vollmächtige und freigeistige Haltung gegenüber religiösen Fragen, die sich im Gegensatz zur ›dogmatischen Religion‹ traditioneller Christlichkeit sieht.44 Diese Bedeutung wird vor allem von Mitgliedern der frei religiösen bzw. alternativen religiösen Szene (New Age) als Selbstattribution, als »Ethnokategorie«, aufgegriffen.45 Aufgrund des breiten Gebrauchs würde der Begriff in der Religionsforschung als Sammelbezeichnung für eine »neue religiöse Szene und ihre Praktiken« verwendet.46 Relevant hierbei ist, dass spirituality bereits verbunden ist mit experience, Erfahrung: »›Experience‹ wird als unmittelbarer Zugang zu jedem Kern des Religiösen verstanden und der historischen Kontingenz der ›Dogmen‹ oder ›Doktrinen‹ in den verschiedenen Religionen entgegengesetzt.«47 Dabei ist der deutschsprachige Spiritualitätsbegriff angelsächsischer Herkunft, auf den weiterhin Bezug genommen wird, nicht einheitlich definiert. Wilhelm Gräb spricht von einem »diffuse[n] Containerbegriff«, der »eine Art postmoderne[] Religiosität zu repräsentieren« scheint.48 Benke sieht darin eine »unbestimmte Chiffre zur Bezeichnung höchst disparater Angebote, Übungen, Traditionen, Zustände, Gefühle und Wirklichkeitsdeutungen«.49 Heinz Streib und 43

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Bochinger: ›New Age‹, S. 378ff. Vgl. zur christlichen Spiritualität, die Knoblauch als „erfahrungsorientierte christliche Bewegungen“ bezeichnet (damit sind u.a. Neupfingstler, Charismatiker etc. gemeint), auch überblickshaft Knoblauch: Populäre Religion, S. 87ff. Bochinger: ›New Age‹, S. 386f. Knoblauch: Spiritualität und die Subjektivierung der Religion, S. 47. Das ›fundamentalistische‹ Lager benutze das Wort »als Kampfbegriff gegen ein allzu verweltlichtes Verständnis von Religion. Spiritualität ist hier ein Synonym für Frömmigkeit in einem traditionalistischen Sinn«, während Esoterik »für relativ neue, offene Formen religiösen Lebens außerhalb religiöser Großorganisationen« stünde. Karl Baier: Spiritualität und Identität. In: Multiple religiöse Identitäten. Aus verschiedenen religiösen Traditionen schöpfen. Hrsg. von Reinhold Bernhardt, Perry Schmidt-Leukel. Zürich: Theologischer Verlag 2008, S. 187–218, hier S. 187. Ebd. Bochinger: ›New Age‹, S. 387. Wilhelm Gräb: Spiritualität – die Religion der Individuen. In: Individualisierung. Spiritualität. Religion, S. 31–44, hier S. 31. Christoph Benke: Was ist (christliche) Spiritualität? Begriffsdefinitionen und theoretische Grundlagen. In: Spiritualität – mehr als ein Megatrend. Hrsg. von Paul M. Zulehner. Ostfildern: Schwabenverlag 2004, S. 29–43, hier S. 29. Kritisch auch Christian M. Rutishauser:

III ›Wiederkehr der Religion‹, Säkularisierung und Formen der ›Religiosität‹

Barbara Keller führen in ihrer empirischen Studie zur Spiritualität weitere, besonders englischsprachige Publikationen auf, die ebenfalls die Unschärfe monieren bzw. dazu beitragen.50 Gleichzeitig konstatieren sie den wissenschaftlichen Versuch, den Begriff Spiritualität als gegensätzlich zu dem der Religion zu etablieren, wobei sie dieses Phänomen vor allem der gegenwärtigen englischsprachigen Forschung zuschreiben, während die deutsche Seite diesem Vorhaben eher skeptisch gegenüberstehe. Hierzulande habe man die Spiritualitätsforschung als marginales Problem bis weit in die 2000er Jahre vernachlässigt51 und noch 2009 wird von Knoblauch ein Mangel an quantitativen Untersuchungen erkannt.52 Obwohl außereuropäische Spiritualitätskonzepte nicht systematisch erforscht sind, hat sich in den meisten Definitionsansätzen ein anthropologisches Verständnis von Spiritualität als einer universalen Kategorie etabliert;53 Spiritualität wird demnach als eine anthropologische und ahistorische Konstante verstanden. Kritisch zu sehen ist hier die Verlagerung von Universalaussagen von ›Religion‹ auf ›Spiritualität‹. Die Problematisierung des Religionsbegriffs wird so nicht mitvollzogen, obwohl gerade der Begriff ›Spiritualität‹ – wie auch ›Religion‹ – einen christlichen Hintergrund hat.54 So differenziert denn auch Polak im Kontext der Feld-Theorie von Bourdieu: Es finde ein Transformationsprozess im ›religiösen Feld‹ statt, dabei diene Spiritualität einerseits als Platzhalter für diese Prozesse, andererseits aber auch um »die Such- und Experimentierbewegungen außerhalb

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Spiritualität im Kontext. Eine zeitgeschichtliche und religionswissenschaftliche Verortung. In: Spiritualität und Wissenschaft. Hrsg. von Samuel Leutwyler, Markus Nägeli. Zürich: vdf Hochschulverlag 2005, S. 185–196. Vgl. Heinz Streib, Barbara Keller: Was bedeutet Spiritualität? Befunde, Analysen und Fallstudien aus Deutschland. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, S. 25ff. Hierzu auch Winfried Gebhardt, Martin Engelbrecht, Christoph Bochinger: Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts. Der ›spirituelle Wanderer‹ als Idealtypus spätmoderner Religiosität. In: ZfR 13 (2005), S. 133–151. Bochinger kritisiert deutsche Autor*innen, die bei der Pluralität der Spiritualität immer eine christliche verstehen, während in der angelsächsischen Tradition ein eher universaler Anspruch liegen würde. Vgl. Bochinger: ›New Age‹, S. 397. Hubert Knoblauch, Andreas Graff: Populäre Spiritualität oder: Wo ist Hape Kerkeling? In: Woran glaubt die Welt, S. 725–746, hier S. 725f. Eine der aktuellen deutschen Studien ist die aus dem Jahre 2015 von Streib und Keller: Was bedeutet Spiritualität? Einen Anstieg der Publikationen auf dem populären deutschen Buchmarkt hat Bernadette-Getrudis Schwarz aufgezeigt und analysiert (vgl. Erfahrung und Spiritualität. Zu Angeboten und Inhalten auf dem Markt des gelingenden Lebens. In: Religiöse Erfahrung II. Interkulturelle Perspektiven. Hrsg. von Gerd Haeffner. Stuttgart: Kohlhammer 2007, S. 251–265). Vgl. Gräb: Spiritualität – die Religion der Individuen, S. 32; insgesamt: Karl Baier: Unterwegs zu einem anthropologischen Begriff der Spiritualität. In: Spiritualität und moderne Lebenswelt. Hrsg. von dems., Josef Sinkovits. Wien, Berlin: LIT 2006, S. 21–42. Vgl. hierzu Sudbrack: Neue Religiosität, S. 75.

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Religion als diskursive Formation

des ›religiösen Feldes‹« zu kennzeichnen. Polak plädiert dafür, den Begriff in der anglo-amerikanischen Verwendung zu gebrauchen, nicht als praktisch-gelebte Ausdrucksform einer bestimmten Konfession oder Religion, sondern als anthropologisch jeder konkreten Religiosität vorgängige allgemein-menschliche Fähigkeit des Menschen, ›Sinn‹ zu leben, zu erfahren und zu denken bzw. sich im Modus von Erfahrung und deren Reflexion auf eine letzte Wirklichkeit sinn- und identitätsstiftend zu beziehen.55 Die Schwierigkeiten, die dieser breit rezipierte Begriff mit sich bringt, liegen dabei nicht nur in der Definition, sondern auch in der Abgrenzung zu anderen Begriffen wie Religion, Religiosität oder Mystik. Allein bei Gräb finden sich mehrere Bestimmungssondierungen,56 die verdeutlichen, dass das Verständnis des Begriffs stark von seinem disziplinären Verwendungskontext abhängt: Spiritualität wird als eine »›ethnographisch-semantische Kategorie‹« in den Sozialwissenschaften gesehen, in der Religionswissenschaft als »Weltwort, das wir in allen Religionen zur Selbstbezeichnung der eigenen Praxis finden können«, religionssoziologisch als »eigenständige Sozialform des Religiösen«, religionsphänomenologisch als »spezifische Art von Erfahrung, die mit Kategorien wie Transzendenz, Selbst, letzte Wirklichkeit, Wert, Grundentscheidung etc. in Verbindung gebracht wird«, und theologisch als »normative Dimension und […] auch die gelebte Religion im Sinne des gelebten Glaubens«.57 Wie sich Religion zu Spiritualität und Religiosität verhält, ist daher nicht eindeutig zu bestimmen, da hier verschiedene Abgrenzungen vorliegen: Religion vs. Spiritualität (Heelas/Woodhead)58 , »Spiritualität als eigene Art der Religiosität« (Knoblauch)59 , Spiritualität als eine »Sozialform der Reli-

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Regina Polak: Spiritualität – neuere Transformationen im »religiösen Feld«. In: Individualisierung. Spiritualität. Religion, S. 89–109: 94. Wurde durch den Einbezug praxeologischer Theorie das konstruktive und historische Moment des Begriffs aufgeworfen, nimmt Polak dies hier wieder zugunsten einer ahistorischen und universalen Kategorie zurück. Einerseits diene das »Spiritualitätskonzept[] zur Beschreibung der modernen Religion«, also als Teil, nämlich der moderne, der Religion, die nicht näher beschrieben wird; dann Spiritualität als »Funktion des menschlichen Bewusstseins in dessen Rekurs auf unbedingte Sinnbedingungen«, also eine psychologische Funktion; später ist sie eine Handlung, »ein bewusstes Sich-Verhalten von Menschen zu der sie gründenden, transzendenten, geistigen Wirklichkeit« oder aber auch eine »objektive, in Symbolen und Ritualen manifeste Religion«; sie wird aber auch als »die individuell selbst vollzogene Religiosität« bezeichnet; schließlich kommt Gräb auch zu einer Wertung, wenn es heißt, Spiritualität sei die Religion der Individuen, die »gewissermaßen durch die Aufklärung hindurchgegangen ist«. Gräb: Spiritualität – die Religion der Individuen, S. 31f., 35. Polak: Spiritualität – neuere Transformationen, S. 96f. Paul Heelas u.a.: The Spiritual Revolution. Why religion is giving way to spirituality. London: Blackwell 2005. Knoblauch: Spiritualität und die Subjektivierung der Religion, S. 54.

III ›Wiederkehr der Religion‹, Säkularisierung und Formen der ›Religiosität‹

gion« (Knoblauch und Streib/Keller)60 , Spiritualität habe Frömmigkeit und Religiosität abgelöst61 oder die Unterscheidung zwischen atheistischer Spiritualität, Patchwork-Religiosität und mehrfacher Religionszugehörigkeit.62 Insgesamt scheint es eine Tendenz zu geben, Spiritualität als eine Folge gegenwärtiger diverser, heterogener gesellschaftlicher Entwicklungen, sei es Pluralisierung, Individualisierung oder Entkirchlichung, anzusehen und darauf aufbauend Kriterien für ›Spiritualität‹ zu formulieren: Zur gegenwärtigen Spiritualität gehört (1) eine entschiedene Orientierung an den subjektiven Erfahrungen, die als besonders und herausragend gedeutet werden. (2) Quellen dieser Deutung sind vor allem in der alternativen Religiosität zu suchen, die sich aus den nicht hegemonialen […] Traditionen der Religion zusammensetzen. (3) Distanz zur Dogmatik religiöser Großorganisationen und eine Tendenz zum Anti-Institutionalismus verbinden sich mit (4) einer Betonung der religiösen Autonomie des Individuums und damit einem ausgeprägten weltanschaulichen Individualismus. Die Erfahrungsorientierung ermöglicht (5) eine Art der Ganzheitlichkeit, die die funktionale Differenziertheit für die Einzelnen wieder zusammenhängend deuten lässt. (6) Schließlich gibt es Hinweise darauf, dass ›Spiritualität‹ für die Handelnden selbst zu einem Alternativbegriff für Religion wird.63 Wenn in der Religionswissenschaft bzw. -soziologie von ›Spiritualität‹ gesprochen wird, ist damit häufig die Abgrenzung zu institutionalisierten, historischen Formen von Religion(-en) und Religiosität (bspw. christliche Frömmigkeit) impliziert; der Spiritualitätsbegriff wird dann als eine subjektivierte, individualisierte Form von ›Religiosität‹ verstanden (und von den Akteuren als Selbstbezeichnung gebraucht), die sich gerade nicht an den tradierten Religionsformen orientieren will (aber auch kann) und so durch eine große Offenheit gekennzeichnet ist.64 60 61 62

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Ebd., S. 53; bei Streib und Keller als »Variante« der Religion: Streib, Keller: Was bedeutet Spiritualität, S. 27. Michael N. Ebertz: ›Spiritualität‹ im Christentum und darüber hinaus. Soziologische Vermutungen zur Hochkonjunktur eines Begriffs. In: ZfR 13 (2005), S. 193–208, hier S. 193. Wolfgang Pfüller: Atheistische Spiritualität – Patchwork-Religiosität – Mehrfache Religionszugehörigkeit. Stichworte zur Situation säkularisierter, multireligiöser Gesellschaften. In: Liberale Frömmigkeit. Spiritualität in der säkularen und multireligiösen Gesellschaft. Hrsg. von Werner Zager. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015, S. 149–169. Vgl. auch ähnlich Ebertz: ›Spiritualität‹ im Christentum; Baier: Unterwegs zu einem anthropologischen Begriff der Spiritualität; und mit dem Bild des »spirituellen Wanderers«: Gebhardt, Engelbrecht, Bochinger: Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts. Hubert Knoblauch: Einleitung. Soziologie der Spiritualität. In: ZfR 13 (2005), S. 123–131, hier S. 123. Vgl. Heelas u.a.: The Spiritual Revolution, S. 3f. Heelas u.a. etablieren in ihrer empirischen Untersuchung Spiritualität als Oppositionsbegriff zu Religion/Religiosität, wobei ersterer

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Religion als diskursive Formation

Neben den verschiedenen Punkten, die u.a. in der Ablehnung des Dogmatischen, im Synkretismus sowie der Individualisierung liegen, wird im Spiritualitätsbegriff die subjektive Erfahrung in den Fokus gerückt. Für Knoblauch steht dabei die Erfahrung des Transzendierens65 ; für andere, ebenfalls anthropologisch argumentierende Ansätze, die der Transzendenz im Vordergrund.66 Erfahrung ist dabei das relevante Stichwort, das in den Definitionen von Spiritualität betont67 und von Bochinger als zentral markiert wird. In diesem Kontext fungiert der Begriff als umbrella term, der für sämtliche Formen religiösen (und damit auch spirituellen) Erlebens Verwendung findet. Im Folgenden soll es daher um die Klärung dieses Begriffs gehen, auf den alle drei zentral analysierten literarischen Werke immer wieder rekurrieren.

III.2.2

Religiöse Erfahrung

Der Begriff der ›religiösen Erfahrung‹ hat zu zahlreichen Studien und Arbeiten geführt, besonders im Kontext des Themenfeldes Spiritualität.68 Auch bei diesem Ausdruck ist die Begriffsschärfung problematisch. In der klassisch-philosophischen Erklärung von Erfahrung bei Wilhelm Dilthey liegt der Fokus auf dem Subjekt: »Als Erfahrung bezeichnen wir den Vorgang im Bewußtsein, durch welchen ein Wirkliches dem Bewußtsein aufgeht. Dieses Wirkliche kann ein äußeres Ding, ein äußerer Vorgang oder eine Tatsache des psychischen Lebens sein.«69

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»the sacred in the cultivation of unique subjective life« evoziert; letzterer hingegen ordne das Subjektive bzw. Individuelle überlieferten Traditionen unter (ebd., S. 5). Vgl. hierzu Knoblauch: Spiritualität und die Subjektivierung der Religion, S. 49. Gräb: Spiritualität – die Religion der Individuen, S. 34. So heißt es bei Streib und Keller: Spiritualität als »erfahrungsorientiere, privatisierte Religion« (Streib, Keller: Was bedeutet Spiritualität, S. 33); bei Knoblauch und Graff ist Spiritualität »erfahrungszentrierte[] Religiosität […], die sich an großen Transzendenzen unterschiedlicher inhaltlicher Ausprägung orientiert« (Knoblauch, Graff: Populäre Spiritualität, S. 730); bei Polak »als anthropologisch jeder konkreten Religiosität vorgängige allgemein-menschliche Fähigkeit des Menschen, ›Sinn‹ zu erleben, zu erfahren und zu denken« (Polak: Spiritualität – neuere Transformationen, S. 94); bei Gräb als »die unmittelbare persönliche Erfahrung von Transzendenz und damit auch die Verinnerlichung von Religion« (Gräb: Spiritualität – die Religion der Individuen, S. 32) und bei Baier als »Suchen und Erfahren eines unbedingt Angehenden sowie die persönliche Transformation, das Existenzgefühl und die Lebensgestaltung im Raum dieses letzten Worumwillens, der für die personale Identität konstitutiv ist« (Baier: Unterwegs zu einem anthropologischen Begriff der Spiritualität, S. 41). Vgl. die beiden Sammelbände: Religiöse Erfahrung. Ein interdisziplinärer Klärungsversuch. Hrsg. von Friedo Ricken. Stuttgart: Kohlhammer 2004 und Religiöse Erfahrung II. Interkulturelle Perspektiven. Hrsg. von Gerd Haeffner. Stuttgart: Kohlhammer 2007. Wilhelm Dilthey: Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Ausarbeitungen und Entwürfe zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften (ca. 1870–1895). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 19. Hrsg. von Helmut

III ›Wiederkehr der Religion‹, Säkularisierung und Formen der ›Religiosität‹

Ein Subjekt macht demnach eine Erfahrung von etwas ›Wirklichem‹, die ihm passiv widerfährt. Im Religionskontext ist das Primat eines Erfahrungszugangs gegenüber institutionellen Einrichtungen bereits bei Schleiermacher zu finden: Das Wesen der Religion »ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.«70 Die bekannteste und breit rezipierte Auseinandersetzung mit dem Erfahrungsbegriff hat William James mit The Varieties of Religious Experience 1902 vorgelegt.71 Den deutschsprachigen Begriff bezieht Haeffner dabei auf einen psychologischen und erkenntnistheoretischen Aspekt. Psychologisch gesehen rekurriert Erfahrung auf das Erleben, auf etwas, das jemandem innerlich widerfährt: »Wenn dieses Erleben ›Erfahrung‹ genannt wird, so verknüpft sich damit ein Erkenntnisanspruch.«72 Dieser Unterschied im Deutschen zwischen einem »subjektive[n] Erlebnis« und einer »objektive[n] Erfahrung« wird im Englischen hingegen in beiden Fällen mit experience bezeichnet. Die Rezeption von William James’ religious experience hat im Deutschen den Begriff ›Erfahrung‹ favorisieren lassen, obwohl eigentlich religionspsychologisch Erlebnis die adäquate Übersetzung wäre.73 Der etymologische Zugriff Haeffners zeigt eine dreifache Bedeutung des Begriffs: »Erfahren als Vernehmen«, »Erfahren als Erleben« und »Erfahren als Herausbildung eines Wissens im Durchgang durch verschiedene Zeiten und Arten des Wahrnehmens und Erlebens«74 – also Erfahrungswissen. Das Erste meint Erfahren im Sinne von allgemeiner Wahrnehmung, Erleben verweist hingegen auf einen Emotionseindruck als Ergebnis dieser Wahrnehmung. Erfahrungen im Bereich des Ästhetischen, der Religion und Freiheitserfahrungen, sind für Haeffner demnach Formen des Erlebens. Er erläutert die forschungsübliche Verwendung von ›Erfahren‹ (statt Erleben) mit der Evozierung eines »kognitiven Anspruch[s]« durch den

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Johach, Frithjof Rodi. 2. durchges. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997, S. 23; vgl. auch Gerd Haeffner: Erfahrung – Lebenserfahrung – religiöse Erfahrung. Versuch einer Begriffsklärung. In: Religiöse Erfahrung I, S. 15–39, hier S. 20. Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799). In: Ders.: Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Hans-Joachim Birkner u.a. Abt. I, Bd. 2: Schriften aus der Berliner Zeit: 1796–1799. Hrsg. von Günter Meckenstock. Berlin, New York: de Gruyter 1984, S. 185–326, hier S. 211. William James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur [1902]. Übers. von Eilert Herms und Christian Stahlhut. Mit einem einführenden Essay von Peter Sloterdijk. Berlin: Insel 2014. Der Originaltitel lautet The Varieties of Religious Experience. A Study in Human Nature. Gerd Haeffner: Vorwort. In: Religiöse Erfahrung II, S. 9–13, hier S. 9. Ebd. Haeffner: Erfahrung – Lebenserfahrung – religiöse Erfahrung, S. 16.

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Erfahrungsbegriff.75 Die Verwendung des Erfahrungsbegriffs soll demnach einen Erkenntnisanspruch aufrufen, der mit ›Erleben‹ nicht gegeben wäre. Haeffners anschließende Übertragung seiner Begriffsdifferenzierung auf ›religiöse Erfahrung‹ löst allerdings seine klare Trennung auf und offenbart die problematischen Aspekte des Erfahrungsbegriffs, bei dem sich die Definitionsschwierigkeiten von ›Religion‹ fortsetzen und zu verschiedenen, meist substanzialistischen oder seltener funktionalistischen Erklärungen führen. Die substanzialistischen Ansätze sehen in der religiösen Erfahrung den Kern der Religion. Für Hick begründet die innere Erfahrung des Religiösen geraden das essenzielle Unterscheidungsmerkmal der Religion: »Without the inner experience, the religious organisations would be purely cultural or political or welfare organisations.«76 Auch William James hat in The Varieties of Religious Experience ein substanzialistisches Verständnis von religiöser Erfahrung geprägt, auf das sich viele gegenwärtigen Arbeiten, und wenn nur in Abgrenzung, beziehen. Hier deklariert er religiöse Empfindungen in erster Linie als »konkrete Geisteszustände, die durch ein Gefühl plus einer spezifischen Art von Objekten zustande kommen«.77 Für James sind religiöse Erfahrungen Ausdruck der »persönlichen Religion«, die er gegen die institutionelle abgrenzt und als die »Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen in ihrer Abgeschiedenheit, die von sich selbst glauben, daß sie in Beziehung zum Göttlichen stehen«78 definiert – und gleichzeitig bestimmte Momente ausklammert: so ›religiöse Erfahrungen‹ in Gruppen. Von hier aus folgert er dementsprechend, dass ›Religion‹ in der subjektiven Erfahrung, als menschliche Erfahrung des Religiösen, zu finden ist, und nicht in religiösen Institutionen, deren Gemeinschaften und rituellen Praktiken (wobei diese Praktiken wiederum zur Erfahrung führen können, wie im Fall der Mystik);79 oder mit Charles Taylors Einschätzung von James formuliert: »Die Religion hat ihren wirklichen Ort in der individuellen Erfahrung und nicht im körperschaftlich verfaßten Leben«; der »wirkliche Ort der Religion lieg[t] in der Erfahrung, das heißt im Erleben«.80 Die Besonderheit religiöser Erfahrung liegt für James demnach in dem, was erfahren wird und einen »Zauber 75

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Ebd., S. 18. Im dritten Fall hingegen, der Erfahrung, wie sie eigentlich begriffslogisch zu verstehen sei, geht das Wort über Erleben und Wahrnehmen hinaus; vielmehr markieren diese beiden Begriffe die Basis, auf der sich die Erfahrung als »ein Prozeß noch höherer Ordnung« als das Wahrnehmen und das Erleben durch Wiederholung herausbildet (ebd., S. 19). Aus heuristischen Gründen wird daher im Folgenden an die Forschungsverwendung anknüpfend der Begriff ›Erfahrung‹ verwendet, für Haeffners dritte Kategorie Erfahrungswissen. John Hick: The New Frontier of Religion and Science. Religious Experience, Neuroscience and the Transcendent. New York: Palgrave Macmillan 2006, S. 202. James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung, S. 60. Ebd., S. 64. Vgl. ebd., S. 383ff. Charles Taylor: Die Formen des Religiösen in der Gegenwart. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 13.

III ›Wiederkehr der Religion‹, Säkularisierung und Formen der ›Religiosität‹

ins Leben [bringt], der nicht rational oder logisch ableitbar ist. Diese Verzauberung, die – wenn sie kommt – als ein Geschenk kommt […], erleben wir entweder oder wir erleben sie nicht.«81 Die Wahrnehmungsform der Erfahrung als individueller psychischer Vorgang wird damit nicht nur als privilegierter, sondern sogar als einzig ›wahrer‹ Zugang zum Bezugsobjekt erklärt. Dieses wiederum ist in der religionssoziologischphänomenologischen Rezeption des Erfahrungsbegriffs häufig mit dem ›Heiligen‹ identifiziert worden.82 Beim religionssoziologischen Ansatz werden »Erfahrungen [als] von gesellschaftlich konstruierten Deutungen entscheidend beeinflusst« verstanden.83 In diesen Bereich fallen auch Knoblauchs Arbeiten, die auf dem Religionsbegriff von Luckmann basieren und von verschiedenartigen Transzendenzerfahrungen sprechen, von denen die religiösen eine mögliche Variante darstellen. Knoblauch sieht Erfahrung als einen »elementare[n] Prozeß des Bewußtseins« an, der aber auch leibliche Wahrnehmung beinhaltet, als intentional, also Erfahrung von etwas, zeitlich begrenzt, ferner »auf etwas Erfahrenes bezogen […], das nicht mit dem zeitlichen Vorgang des Erfahrens identisch ist. In diesem Sinne transzendiert das vom Bewußtsein konstituierte Erfahrene den Vorgang des Erfahrens.«84 Es gibt demnach eine analytische, etablierte Trennung zwischen dem Prozess des Erfahrens und dem Ergebnis, das inhaltlich gedeutet wird. Unter Transzendenz versteht Knoblauch »die in der Struktur des menschlichen Bewußtseins angelegte ›Metaphysik der Präsenz‹ […]: Etwas erscheint als unmittelbar gegeben, das tatsächlich erst durch die Eigenleistungen des Bewußtseins konstituiert wird.«85 Auf diesen Transzendenzbegriff bei Schütz und Luckmann zurückgreifend, der von Knoblauch prozessual, also als Transzendieren, gedeutet wird,86 unterscheidet er zwischen den alltäglichen kleinen, den mittleren87 und großen Transzendenzen, die bei Luckmann folgende sind: Solche Erfahrungen reichen von der Hilflosigkeit im Angesicht unkontrollierbarer natürlicher Ereignisse bis zum Wissen um den Tod. Sie werden regelmäßig

81 82 83 84 85 86 87

James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung, S. 80. Vgl. Hubert Knoblauch: Religionssoziologie. New York, Berlin: de Gruyter 1999, S. 191. Ebd., S. 196. Knoblauch: Die Soziologie der religiösen Erfahrung, S. 71. Ebd. Vgl. Knoblauch: Populäre Religion, S. 56. Gemeint sind hier: Umgang des Menschen mit »zeitlich und räumlich nicht unmittelbar Erfahrbarem […] – mit Erinnerungen, mit Zukunftsplänen und -ängsten, mit Wirkungen von Ursachen, die nicht unmittelbar zugänglich sind oder mit Zielen, die wir nur durch technologische Mittel erreichen können« (kleine Transzendenzerfahrungen) und »Umgang mit anderen Akteuren, denen wir Intentionalität zuschreiben« (mittlere Transzendenzerfahrungen), die man aber nie selbst einsehen kann (Knoblauch: Die Soziologie der religiösen Erfahrung, S. 71f.).

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Religion als diskursive Formation

von Angst oder Ekstase, oder einer Mischung aus beidem begleitet. Erfahrungen dieser Art werden in aller Regel als unmittelbare Äußerungen der Wirklichkeit des sakralen Bereichs aufgefaßt.88 Diese großen Transzendenzerfahrungen bilden laut Knoblauch die Basis für das, was man als religiöse Erfahrung bezeichnet, wobei sie selbst nicht ›Religion‹ sind. Erfahrungen sind erst dann religiös, und nicht ästhetisch, »wo sie mit einer Deutung verbunden sind, die eine Trennung von Alltag und anderen Wirklichkeiten (häufig als Trennung von Sakralem und Profanem) vollzieht, [hier] können wir in einem engeren Sinne von Religion und dann auch von religiösen Erfahrungen sprechen.«89 Knoblauch unterscheidet dabei explizit zwischen Transzendenzerfahrungen, also dem Erfahrungsprozess, und ihrer Deutung. Diese sei wiederum stark von kulturellem Wissen und kulturellen Kommunikationsmustern geprägt. Zusätzlich verweist Knoblauch auf die analytische Schwierigkeit, dass Erfahrungen von Subjekten kommuniziert werden müssen, man also Erfahrung als solche nicht untersuchen kann.90 Aus kommunikationstheoretischer Perspektive wird hingegen eingewendet, dass das, was »soziologisch als Religion erscheint, in erster Linie in kommunikativer Form vorkommt«, weswegen man das Religiöse in die Erfahrung verlagert habe, so Nassehis Kritik.91 Phänomenologie verstehe Religion als eine »Erfahrensordnung«, die sich auf außergewöhnliche Erfahrungen bezieht und es »gemahnt doch an den substanziellen Religionsbegriff der klassischen Religionswissenschaft, in dem das Heilige, das Numinose und das Göttliche als das Grundkonstituens des Religiösen gedacht wird und zugleich in die innere Erfahrung des Menschen hineinverlagert wird.« In dieser Perspektive würde religiöse Erfahrung »gesteigert und entdramatisiert«: gesteigert, weil das Heilige im eigenen Inneren gefunden wird, entdramatisiert, weil diese Erfahrung außerhalb des Äußerlichen und in einer »exklusionsindividualisierten Sphäre« stattfindet.92 Nassehi sieht das Religiöse hingegen systemtheoretisch mit Luhmann als Sinnform, die »als Kommunikation vorkommt, [und] […] in erster Linie von ihrer Anschlussfähigkeit abhängig ist«.93 Gefragt werden müsste demnach nach den Kontexten und Formen, in denen religiöse Äußerungen aktiv sind.94 88 89 90 91 92 93 94

Luckmann: Unsichtbare Religion, S. 96. Knoblauch: Die Soziologie der religiösen Erfahrung, S. 72. Vgl. ebd., 74ff. Nassehi: Religiöse Kommunikation, S. 169f. Ebd., S. 172f. Ebd., S. 173. Vgl. ebd, S. 177. Auch wenn sich Knoblauch dagegen abgrenzt, ist die Kategorisierung von religiöser Erfahrung als großer Transzendenz in Form der Abgrenzung von sakral und profan inhaltlicher Natur und damit in gewisser Weise substanzialistisch, verlagert sie doch die qualitative Aussage in den Charakter der Erfahrung.

III ›Wiederkehr der Religion‹, Säkularisierung und Formen der ›Religiosität‹

Neben den bereits aufgeführten Positionen bezüglich der religiösen Erfahrung hat sich weiterhin prominent der kognitive Ansatz etabliert. Im Streit um die Frage, ob es »any ultimate transcendent reality« gibt (Religion) oder nicht (Physik), hat sich laut Hick die Grenze, an der die Positionen verhandelt werden, von der Schöpfung (Urknall mit Beweger oder nicht, Multiversen) auf das bzw. in das Gehirn verlagert.95 Der kognitive Ansatz geht davon aus, dass Erfahrungen im Bewusstsein mit besonderen Attributen ausgestattet und konstruiert werden und so als religiöse erscheinen. In die Forschung werden hier psychologische und neurobiologische Prozesse einbezogen, da die Bewusstseinszustände auch von spezifischen chemischen und biologischen Grundlagen herrühren könnten.96 Die soziologischen Untersuchungen, die von einer kulturell bedingten Unterscheidung zwischen Erfahren und Deuten ausgehen, sind breit aufgestellt an Ansätzen, die, vereinfacht formuliert, an substanzialistische Vorläufer anknüpfen und statt nach dem Wesen der Religion nach dem der religiösen Erfahrung suchen; oder aber funktionalistisch u.a. auf dem Transzendenzbegriff von Luckmann basieren. Eine diskursanalytische Lesart der religiösen Erfahrung hat Andreas Nehring vorgelegt.97 Dabei hebt er unter anderem deutlich die begriffliche Unschärfe hervor und verweist auf einen weiteren analog gebrauchten Begriff, der nicht klar von der religiösen Erfahrung abgegrenzt ist – die mystische Erfahrung.98 Bezeichnenderweise knüpft Nehring an eine Aussage des britischen Literaturwissenschaftlers Terry Eagleton an, wenn er dessen Ausführung zur Literatur zitiert, also religiöse Erfahrung und Spiritualität als Namen, die Menschen den »verschiedenen Arten des Glaubens, Verhaltens und Erfahrens geben, innerhalb eines ganzes Feldes dessen, was Michel Foucault als ›diskursive Praxis‹ genannt hat.«99 Für Nehring 95

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»The inescapable new question is whether the advance of the neurosciences have shown mind to be at most a mysterious temporary by-product of the functioning of the brain. If so, religious experience is not, in any of its forms, an authentic awareness of a reality transcending the material universe – for according to materialism there can be no such reality – but merely a reflection of physical events in the brain within the seamless causal continuity of the natural world.« Hick: The new Frontier of Religion and Science, S. XI. Vgl. Knoblauch: Religionssoziologie, S. 191f. Vgl. Andreas Nehring: Die Erfindung der religiösen Erfahrung. In: Kontexte der Schrift. Bd. II: Kultur – Politik – Religion – Sprache – Text. Hrsg. von Christian Strecker. Stuttgart: Kohlhammer 2005, S. 301–322. Vgl. ebd., S. 304. Ebd., S. 306. Das auf Literatur bezogene Zitat von Eagleton lautet: »Meiner Meinung ist es am sinnvollsten, ›Literatur‹ als einen Namen anzusehen, den die Menschen verschiedenen Arten des Schreibens innerhalb des ganzen Feldes dessen, was Michel Foucault die ›diskursiven Praktiken‹ genannt hat, von Zeit zu Zeit aus verschiedenen Gründen geben, und daß, wenn es überhaupt einen Untersuchungsgegenstand geben soll, dieser eher dieses ganze Feld von Praktiken sein sollte als nur die, die ziemlich obskur als ›Literatur‹ etikettiert werden.« Terry Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie. 4., erw., aktual. Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler 1997, S. 199.

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Religion als diskursive Formation

muss also eben dieses Feld in seiner historischen und kulturellen Ausprägung untersucht werden. In diesem Sinn sieht er ›religiöse Erfahrung‹ als leeren Signifikanten, als Verschiebung, die im Zuge des Ausdifferenzierungsprozesses der Moderne »nur in der Differenz zu Exoterischem, kirchlicher Tradition, Zeugnissen der Schrift, Metaphysik« gedacht werden kann.100 In Bezug auf Bergers Arbeiten zur Vervielfältigung von Wahlmöglichkeiten, also dem Verlust des sicheren gesellschaftlichen Ordnungsrahmens und dem »Zwang zur Häresie« des Einzelnen,101 kommt Nehring zu dem Ergebnis, dass gerade Bergers Ausführungen zur Konstitution von religiöser Erfahrung als etwas radikal anderem, »als eine Kategorie ›sui generis‹« geführt haben.102 Laut Berger umfasst das, »was man üblicherweise Religion nennt, […] ein Aggregat menschlicher Einstellungen, Glaubenshaltungen und Handlungen angesichts von zwei Erfahrungsformen: der Erfahrung des Übernatürlichen und der Erfahrung des Heiligen«, wobei beide Erfahrungsbereiche einander überlappen würden. Jegliche Religion leite sich daher von diesen Erfahrungen ab, sei allerdings nicht universell und würde über Traditionen vermittelt und für alle, die diese Erfahrungen nicht gemacht haben, institutionalisiert.103 So haben Bergers Ausführungen zum subjektiven Erleben »das Postulat einer Ursprünglichkeit der Erfahrung oder Spiritualität erst ermöglicht«.104 Neben dieser These legt Nehring eine kurze Genealogie der religiösen Erfahrung zurück bis zur Aufklärung vor und kommt für das 20. Jahrhundert zu dem Ergebnis, dass der Anspruch auf unmittelbare Erfahrung, der sich am Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts in den neu rezipierten fernöstlichen (buddhistischen, hinduistischen) Texten zeigte, sowie die Suche nach dem Ursprünglichen dieser Erfahrung auch den dominanten Aspekt des aktuellen Diskurses über Spiritualität und religiöse Erfahrung prägen:105 In der vor allem phänomenologisch ausgerichteten Religionswissenschaft [des 20. Jahrhunderts] wird dieser neue Erfahrungsbegriff aufgenommen, mit der Übersetzung östlicher Weisheitslehren bildet sich ein gemeinsamer Diskurs aus, in dem religiöse Erfahrung als Kategorie sui generis hervorgehoben wird. Sie wird gegenüber anderen Erfahrungen privilegiert und, indem der Ort religiöser Signifikation in einen ›inneren Bereich‹ verlegt wird, auch universalisiert.106

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Nehring: Die Erfindung der religiösen Erfahrung, S. 308. Berger: Der Zwang zur Häresie, S. 46ff. Nehring: Die Erfindung der religiösen Erfahrung, S. 310. Berger: Der Zwang zur Häresie, S. 55; vgl. ebd., S. 57ff. Nehring: Die Erfindung der religiösen Erfahrung, S. 310. Vgl. ebd., S. 310–315. Ebd., S. 318f.

III ›Wiederkehr der Religion‹, Säkularisierung und Formen der ›Religiosität‹

Zurück blieb ein Absolutheitsanspruchs religiöser Erfahrung als eigenständiger Kategorie mit einem substanzialistischen Deutungsziel. Auf prägnante und offensichtliche Weise hat dies bereits C.G. Jung verdeutlicht: Religiöse Erfahrung ist absolut. Man kann nicht darüber diskutieren. Man kann nur sagen, daß man niemals eine solche Erfahrung gehabt habe, und der Gegner wird sagen: ›Ich bedauere, aber ich hatte sie.‹ Und damit wird die Diskussion zu Ende sein. Es ist gleichgültig, was die Welt über die religiöse Erfahrung denkt; derjenige, der sie hat, besitzt den größten Schatz einer Sache, die ihm zu einer Quelle von Leben, Sinn und Schönheit wurde […].107 Mit Rückblick auf das theoretische Fundament dieser Arbeit muss spirituelle Erfahrung als Teil der diskursiven Formation von Religion verstanden werden, da auch in dem oben geschilderten Verständnis von Spiritualität eine strukturelle Grenzziehung zwischen Alltäglichem, Immanentem, dem Menschen immer Verfügbaren sowie einem Unzugänglichen, Unverfügbaren, ggf. Transzendentem grundlegend ist.108 Kennzeichnend für das Themenfeld ›Spiritualität‹ und ›religiöse Erfahrung‹ ist in diesem Sinn ihre partikulare Verwobenheit bzw. Abgrenzungsbewegung. Das Bindeglied zur Spiritualität stellt die Erfahrung dar, die, so William James, auch eine mystische sein kann.109 Nehring hatte ebenfalls auf die Schwierigkeiten begrifflicher Differenzierung zwischen religiöser und mystischer Erfahrung hingewiesen, Mystik und Spiritualität werden zudem häufig analog verwendet.110 Im Folgenden wird neben Spiritualität und religiöser Erfahrung die Mystik als dritte Form der Religiosität eingeführt, deren Relevanz sich aus der werkübergreifenden Konstante in den Analysen erklärt. 107 Carl Gustav Jung: Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion. Bd. II. Olten: Walter 1972, S. 116. 108 Knoblauch nimmt den Transzendenzbegriff als Grundlage für sein Verständnis von Spiritualität, wobei er sich explizit von der binären Konstellation transzendent/immanent distanziert und die Grenzüberschreitung als solche zum Kennzeichen der Transzendenzerfahrung macht. In der Umsetzung wird dann allerdings doch wieder eine analytische Dichotomie zur Bestimmung der Transzendenz eingeführt, nämlich die des Alltags bzw. des NichtAlltäglichen/Besonderen: „Was eine Erfahrung großer Transzendenz ist, bemisst sich nicht an der Qualität der besonderen Erfahrung, sondern an der Qualität der normalen Alltagserfahrung.“ Laut Knoblauch überschreitet, transzendiert die große Transzendenzerfahrung die Alltagserfahrung und kann sowohl religiös als auch spirituell gedeutet werden. Knoblauch: Populäre Religion, S. 64, 76. Daher fasst diese Arbeit große Transzendenzen im Sinne von Knoblauch ebenfalls als religiöse auf, die nicht unbedingt religiös (also mit den Semantiken der traditionellen, institutionellen Religionen) gedeutet werden müssen. 109 Vgl. James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung, S. 380. 110 Vgl. Knoblauch, Graff: Populäre Spiritualität; Ebertz: ›Spiritualität‹ im Christentum; Baier: Spiritualitätsforschung heute. Die quantitative Studie von Streib und Keller bemisst Spiritualität mit einem Instrumentarium, das für die Mystik aufgestellt wurde. Vgl. Streib; Keller: Was bedeutet Spiritualität, S. 31ff.

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Religion als diskursive Formation

III.2.3

Mystik

Eine geteilte Minimaldefinition der Mystik oder der mystischen Erfahrung findet sich ebenfalls nicht.111 Dementsprechend offen liest sich auch der Beitrag zu ›Mystik‹ (gr. »myein«, also Augen schließen, ausschließen, still sein sowie »myeomai«, initiiert werden, also in die Mysterien bzw. Geheimnisse eingeführt werden)112 in der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie: Sammelbezeichnung für introverse Anschauungen, Haltungen und Handlungsanweisungen, die sich auf ein individuell vollziehbares Vereinigungserlebnis mit einem personalen und impersonalen Göttlichen (unio mystica) beziehen bzw. dessen Herbeiführung anstreben. Dieses Erleben wird in einem nicht-diskursiven Rahmen unter Abschirmung äußerer Erfahrungsgehalte durch meditative […] und kontemplative […] Versenkung vorbereitet, im Extremfall durch längere Askese, die freilich auch dann bloßes Mittel bleibt […].113 Allerdings werden jüdische, christliche, muslimische oder buddhistische mystische Beschreibungen subsumiert und universalisiert, was auch hier eine Begriffsunschärfe, die bereits für ›Religion‹, ›Spiritualität‹ und ›religiöse Erfahrung‹ konstatiert wurde, aufzeigt. Die folgenden Ausführungen müssen demnach vor allem als Orientierung in diesem sehr weiten Feld verstanden werden – einem Feld, von dem Gershom Scholem sagte, es habe so viele Definitionen wie definierende Autoren.114 Bernard McGinn hat auch dementsprechend in seiner Studie zur westlichen Mystik auf eine Definition verzichtet und stattdessen drei Aspekte seines Verständnisses von Mystik aufgeführt: »Mystik als Teil oder Element von Religion; Mystik als Prozeß oder Lebensweg; Mystik als ein Versuch, die unmittelbare Gegenwart Gottes zum Ausdruck zu bringen«.115 Der letzte Punkt ist von McGinn bewusst so formuliert, dass er nicht eine Vereinigung (unio mystica) expliziert, bei 111

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Vgl. Peter Schäfer: The Origins of Jewish Mysticism. Tübingen: Mohr Siebeck 2009, S. 1; vgl. auch Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland. Bd. 1: Ursprünge. Aus dem Engl. übers. von Clemens Maaß. Freiburg/Breisgau, Basel, Wien: Herder 1994, S. 14; Alois Maria Haas: Mystik – Zur Entstehung des Begriffs. In: Mystik. Die Sehnsucht nach dem Absoluten. Hrsg. von Albert Lutz. Zürich: Scheidegger & Spiess 2011, S. 25–29. Vgl. Schäfer: Origins, S. 1. Christian Thiel, Siegfried Blasche: Art. »Mystik«. In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 2: H-O. Hrsg. von Jürgen Mittelstraß. Stuttgart, Weimar: Metzler 1995, S. 947–951, hier S. 947. Zur Analogie des Einheitserlebnisses, das mit christlichen Vorstellungen universalisiert wird, vgl. Haas: Mystik, S. 25f. Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1967, S. 4. Ebd. Eine ähnliche Einteilung, d.h. bezogen auf den Weg des Mystikers sowie eine bestimmte Form der mystischen Erfahrung, findet sich auch bei Philip S. Alexander: The Mystical Texts. Songs of the Sabbath Sacrifice and Related Manuscripts. London: T & T Clark 2006, S. 8.

III ›Wiederkehr der Religion‹, Säkularisierung und Formen der ›Religiosität‹

der eine Selbstauflösung stattfindet – also das allgemein bekannte, abendländische Charakteristikum für Mystik, das auch Eingang gefunden hat in Nachschlagelexika.116 Dieses Vereinigungserlebnis ist in der christlichen Mystik bzw. den mystischen Texten, so McGinn, eher selten zu finden.117 Versteht man Mystik zudem als Teil von je spezifischen Religionstraditionen, rücken die jeweils historischen Ausprägungen in den Vordergrund. Dieses antiuniversalistische und vor allem auf den historischen Charakter jeglicher Mystikvorstellung zielende Verständnis hat auch Scholem prominent vertreten: »Es gibt nicht Mystik an sich, sondern Mystik von etwas, Mystik einer bestimmten religiösen Form: Mystik des Christentums, Mystik des Islams, Mystik des Judentums und dergleichen.«118 Von Mystik nur in einem bestimmten Religionskontext zu sprechen, ist mittlerweile zu einem Konsens in der Mystikforschung geworden,119 wobei der Begriff hier heuristisch als umbrella term verwendet und in einem breiten Verständnis dargestellt wird. Obwohl die mystischen Formen in den jeweiligen verfassten Religionen verankert waren, haben sie sich durch bestimmte Annahmen, Aussagen und Praktiken von den jeweiligen traditionellen Ausprägungen distanziert, was in der Regel zu Reibungen und Konflikten mit der Orthodoxie führte.120 Daher wird Mystik häufig als antiinstitutionell, antidogmatisch und den jeweiligen Traditionen kritisch gegenüberstehend angesehen. Nichtsdestotrotz wird in der Forschung darauf hingewiesen, dass Mystik nicht als Opposition zu der jeweiligen Tradition gelesen werden darf, sondern mehr als eine Ergänzung. Dies bedeutet, dass die mystischen Strömungen sich in bestimmten Aspekten von der orthodoxen Auslegung entfernen, aber nicht, dass sie die Lehren der jeweiligen Tradition, aus der sie stammen, grundlegend ablehnen. Scholem spricht hier von dem Vorurteil des »religiösen Anarchisten«121 . Er verweist explizit darauf, dass die historische Forschung die »großen Mystiker als getreue Söhne der großen Religionen« zeigt.122

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Vgl. Peter Gerlitz u.a.: Art. »Mystik«. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 23: Minucius Felix – Name/Namengebung. Hrsg. von Horst Robert Balz u.a. Berlin, New York: de Gruyter 2014, S. 533–592, hier S. 534. 117 Vgl. McGinn: Die Mystik im Abendland, S. 15. 118 Scholem: Die jüdische Mystik, S. 6. Gegenwärtig gibt es in der jüngsten Kabbala-Forschung Ansätze, die kritisch der Frage nachgehen, inwieweit das Konzept des europäischen Verständnisses von ›Mystik‹ die wissenschaftliche Rezeption von Kabbala als jüdischer Mystik überhaupt erst beeinflusst habe. Vgl. Boaz Huss: The Formation of Jewish Mysticism and its Impact on the Reception of Rabbi Abraham Abulafia in Contemporary Kabbalah. In: Religion and its Other. Secular and Sacral Concepts and Practices in Interaction. Hrsg. von Heicke Bock, Michi Knechts, Jörg Feuchter. Frankfurt/Main, New York: Campus 2008, S. 142–162. 119 Vgl. Elliot R. Wolfson: Mysticism and the Poetic-Liturgical Compositions from Qumran: A Response to Bilhah Nitzan. In: JQR 85/1–2 (1994), S. 185–202, hier S. 185. 120 Vgl. Scholem: Die jüdische Mystik, S. 7f.; Hick: The New Frontier of Religion, S. 21. 121 Scholem: Die jüdische Mystik, S. 7. 122 Ebd.

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Wichtig sind in diesem Kontext seine Überlegung zur religiösen Autorität. Da Mystikerinnen und Mystiker in die religionsgemeinschaftliche Sphäre zurückkehren, stünden sie mit ihren ›revolutionären‹ Erfahrungen abseits der gültigen Meinung, müssen daher erst einen Weg finden, diese Erfahrungen ihren Mitmenschen zu kommunizieren. Da ihre Erfahrungen sich wiederum auf die »Quellen der traditionellen Autorität«123 berufen, also einen ›konservativen‹ Aspekt haben, können die Mystikerinnen und Mystiker Gehör finden. Indem aber die alten Traditionen durch die ›neue‹ Erfahrung und Interpretation »transformiert und verändert« werden, sogar bis hin zu einer Ablehnung der traditionellen Autorität, hat die Mystik eine ›revolutionäre‹ Form: »Neben den konservativen tritt der ebenso mögliche revolutionäre und Konflikt erzeugende Aspekt.«124 Zudem haben sich in einigen Fällen darüber hinaus Orden etabliert, in die man als Schüler eintritt; mystische Strömungen sind demnach nicht per se gemeinschaftsfeindlich.125 Die jeweiligen Formen haben ferner eigene Texte, Begrifflichkeiten und Anleitungen hinterlassen, anhand derer man versucht, sich ein Bild über die jeweilige Ausprägung zu machen. McGinn hat in seiner Studie einen Großteil der Mystikforschung kritisiert, die Aussagen über mystische Erfahrung aus den überlieferten Texten quellenunkritisch extrahiere, ohne auf Gattung, Adressatenkreis, literarische Formen etc. zu achten.126 Die mystische Erfahrung galt dabei den meisten Arbeiten zur Mystik als ihr zentraler Kern und ist laut McGinn, der im Anhang seines ersten Bandes eine ausführliche Übersicht über die Mystikforschung des 20. Jahrhunderts darlegt, in eine »Sackgasse geraten […], was zumindest zum Teil an der Unschärfe und Vieldeutigkeit des Ausdrucks ›Erfahrung‹« liegt.127 Diese mystische Erfahrung wird in monotheistischen Kontexten als eine Vereinigung mit Gott, als unio mystica beschrieben. Dabei muss hinzugefügt werden, dass die ›jüdische Mystik‹ die unio mystica eher marginal thematisiert, was bei Scholem in einer Kritik an den unio zentrierenden Definitionen mündet.128 So sei die unio mystica gar nicht von allen Mystikern und Mystikerinnen erwähnt worden;129 und auch die Ekstase und die Schau Gottes wären als Definitionskategorien problematisch, daher habe man die verschiedenen Ausprägungen der Mystiken vor allem als historische Phänomene zu betrachten, 123

Gershom Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Darmstadt: WGB 1968, S. 11–48, hier S. 16. 124 Ebd., S. 18. 125 Vgl. ebd. 126 Vgl. McGinn: Die Mystik im Abendland, S. 13. Damit ist er allerdings nicht der erste, dies hat auch bereits 1978 Steven T. Katz explizit formuliert. Vgl. Steven T. Katz: Language, Epistemology, and Mysticism. In: Mysticism and Philosophical Analysis. Hrsg. von dems. New York: Oxford University Press 1978, S. 22–74. 127 McGinn: Die Mystik im Abendland, S. 17. 128 Vgl. Scholem: Die jüdische Mystik, S. 6. 129 McGinn: Die Mystik im Abendland, S. 17.

III ›Wiederkehr der Religion‹, Säkularisierung und Formen der ›Religiosität‹

die in ihren Eigenheiten zu untersuchen sind.130 Die Frage, inwiefern die jüdische Mystik als ›Mystik‹ gelten soll/kann, ist in der Forschung umstritten und habe laut Schäfer bei Autoren, die die unio als zentral ansahen, sogar zu antijudaistischen Haltungen geführt, so bei C.G. Jung und C. Zaehner. Schäfer verweist zudem auf Forscher, die Scholem widersprechen und Texte zitieren, die gerade ekstatische Kernelemente aufweisen.131 In der zeitgenössischen Forschung hat Elliot Wolfson in Bezug auf die frühe jüdische (Merkavah-)Mystik darauf hingewiesen, dass die neuplatonische Vorstellung einer »form of union whereby the soul separates from the body and returns to its ontological source in the One«132 den frühen Texten fremd sei und stellt ein anderes Konzept, basierend auf einer »›angelification‹ of the human being who crosses the boundary of space and time and becomes part of the heavenly realm«, vor.133 Von ›mystisch‹ sollte man nach Wolfson daher sprechen, wenn damit die Erfahrung einer ontischen Transformation, als Vergöttlichung oder Engelwerdung, durch bestimmte Praktiken gemeint ist.134 Die Auseinandersetzung mit Mystik bzw. die Begriffsentwicklung reicht dabei nicht weit zurück. Der Begriff tauchte im 17. Jahrhundert in Frankreich auf; in Deutschland verstärkt sich die Beschäftigung mit Mystik in theologischer und philosophischer Annäherung besonders im 19. Jahrhundert,135 wobei hier eine größtenteils negative Wertung vorliegt. So war Mystik, seit dem 18. Jahrhundert auch häufig pejorativ als Mystizismus bezeichnet,136 seit der Aufklärung in der klassisch-philosophischen Lesart verpönt. Bei Kant wird sie zur häufig zitierten »Schwärmerei«137 und als auf »übernatürliche Erfahrungen und schwärmerische Gefühle« verweisender »vernufttödtende[r] Mysticism« abgewertet.138 Die deutsch130 131 132 133 134 135

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Vgl. Scholem: Die jüdische Mystik, S. 6f. Vgl. Schäfer: Origins, S. 17–21. Wolfson: Mysticism, S. 186. Ebd. Vgl. ebd., S. 187. Vgl. McGinns Ausführungen zur Mystikforschung: McGinn: Die Mystik im Abendland, S. 383–481. Vgl. auch die Literaturübersicht bei Volkhard Krech: Wissenschaft und Religion. Studien zur Geschichte der Religionsforschung in Deutschland 1871–1933. Tübingen: Mohr Siebeck 2002, S. 266. Vgl. Peter Dinzelbacher: Wörterbuch der Mystik. 2., erw. Aufl. Stuttgart: Kroener 1998, S. 370. »Daß hierin nun ein gewisser mystischer Takt, ein Übersprung (salto mortale) von Begriffen zum Undenkbaren, ein Vermögen der Ergreifung dessen, was kein Begriff erreicht, eine Erwartung von Geheimnissen, oder vielmehr Hinhaltung mit solchen, eigentlich aber Verstimmung der Köpfe zur Schwärmerei liege: leuchtet von selbst ein.« Immanuel Kant: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie. In: Ders.: Gesammelte Schriften [Akademieausgabe]. Abt. I, Bd. 8. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin, Leipzig: de Gruyter 1923, S. 387–402, hier S. 398. Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten. In: Ders.: Gesammelte Schriften [Akademieausgabe]. Abt. I, Bd. 7. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Reimer 1907, S. 1–116, hier S. 59.

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sprachige philosophische Beschäftigung mit der Mystik des 19. Jahrhunderts ist vor allem durch negative Kritik und Vorwürfe gekennzeichnet: als »›dunkel‹, ›unheimlich‹, ›verworren‹, ›subjektiv‹, ›antirational‹, ›geheimnisvoll‹, ›hinterwäldlerisch‹ […], ›versponnen‹, ›krankhaft‹, ›degeneriert‹ und ›dekadent‹«;139 die angloamerikanische erfährt hingegen gerade gegen Mitte des 19. Jahrhunderts eine Wende: »mysticism […] becomes a global species of religious experience with innumerable subspecies, historical, geographic, and national.«140 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich Mystik schließlich als universale Grundlage religiöser Erfahrung etabliert – und findet bei James ihre deutlichste Ausprägung als ein ahistorisches und jeder religiösen Erfahrung immanentes subjektives Phänomen, das er anhand von vier Merkmalen charakterisiert: »Unaussprechbarkeit«, »Noetische Qualität«, »Flüchtigkeit« und »Passivität«.141 Die Unaussprechbarkeit ist bis heute die häufigste Beschreibung mystischer Erfahrung und meint, dass das Erfahrene sich jeglicher Form der verbalen Wiedergabe entzieht142 – alle bekannten Kategorien, sei es Zeit, Raum, Gegenständlichkeit etc., werden negiert.143 Die noetische Qualität mystischer Erfahrung impliziert einen Erkenntniszustand, der mit Offenbarungen, Einsichten etc. identifiziert wird.144 Auch hier ist die unio mystica anzusiedeln, die beschrieben wird als »All-Einheit und Ich-Entgrenzung« als »Erfahrung der All-Einheit, die mit einer Entgrenzung bzw. Auflösung des Ich […] verbunden ist«.145 Flüchtigkeit meint bei James die relative Dauer mystischer Bewusstseinszustände, bei denen Zeitempfinden und tatsächliche Dauer stark differieren können; mit Passivität verweist er darauf, dass

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Peter Heidrich, Hans-Ulrich Lessing: Art. »Mystik, mystisch«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel. Bd. 6.: Mo–O. Basel, Stuttgart: Schwabe & Co. 1984, Sp. 268–279, Sp. 273f. 140 Leigh Eric Schmidt: The Making of Modern »Mysticism«. In: Journal of the American Academy of Religion 71/2 (2003), S. 273–302, hier S. 282; vgl. diesen Beitrag auch zur Entwicklung von ›Mystik‹ als eigenständiger Kategorie im anglo-amerikanischen Raum. 141 James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung, S. 384. Vgl. kritisch zu James Verständnis von religiöser Erfahrung als Entpolitisierung und damit einem Ausschluss ›kritischer‹ Themen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ›Religion‹ Grace M. Jantzen: Power, Gender and Christian Mysticism. Cambridge: Cambridge University Press 1995. 142 Vgl. James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung, S. 384. 143 Vgl. Reinhard Margreiter: Erfahrung der Mystik. Grenzen der Symbolisierung. Berlin: Akademie 1997, S. 72. Ausgehend von Meister Eckhart und in Ergänzung anderer christlicher Mystiker, bestimmt Reinhard Margreiter acht Merkmale, die er, sich auf die Mystik- sowie EckhartForschung stützend, heuristisch als der »Mystik im allgemeinen [sic]« charakteristisch bestimmt. In diesem Sinn folgt er der mittlerweile problematisch gewordenen universalistischen und substanzialistischen Bestimmung von ›Mystik‹. 144 James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung, S. 384. 145 Margreiter: Erfahrung der Mystik, S. 66. Vgl. auch Annemarie Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus. Köln: Diederichs 1985, S. 19.

III ›Wiederkehr der Religion‹, Säkularisierung und Formen der ›Religiosität‹

man zwar durch Übungen mystische Erfahrungen antizipieren, jedoch nicht aktiv herbeiführen kann. Die »Augenblicklichkeit, Unverfügbarkeit, Passivität« hat auch Margreiter als Beschreibung der (von ihm universell verstandenen) unio mystica herausgestellt.146 Zwar könne sich der Mensch auf diese Erfahrung vorbereiten, indem er bestimmte Stationen auf dem »mystischen Weg« beschreitet, genannt werden hier meditative, asketische, kontemplative Übungen oder andere Formen der Vorbereitung, die in den jeweiligen mystischen Ausprägungen genau beschrieben sind, so der Achtstufige Pfad im Buddhismus oder die Stationen im Sufismus. In den theistischen Formen der Mystik, hier vor allem der christlichen, wird die unio als Gnade Gottes verstanden, der sie dem jeweiligen Menschen schenkt und die damit nicht prinzipiell verfügbar ist.147 Vielmehr kann der Mensch sich durch seine Lebenspraxis und durch bestimmte Bemühungen, hier: der »mystische[] Weg als Stufenprozeß«148 , dieser Erfahrung annähern. Die mystischen Texte verschiedenster Provenienz beschreiben die mystische Erfahrung als das Ziel eines Weges, der durch mehrere Stufen gekennzeichnet ist. Der Weg und die jeweiligen Stufen beziehen sich sowohl auf Rituale wie das Gebet oder das Fasten, meinen aber auch eine bestimmte Haltung zur Umwelt.149 Schließlich wird die mystische Erfahrung häufig metaphorisch als Liebeserfahrung beschrieben bzw. man könne sich der unio über Liebe, Emotionalität und Ekstase annähern.150 Diese Kategorien haben sich in der Forschung teilweise bis heute erhalten. Überblickt man McGinns Forschungsrevision des 20. Jahrhunderts, wird eine Beschäftigung der meisten Arbeiten mit der Frage nach dem Wesen der Mystik bzw. den verschiedenen Formen der mystischen Erfahrungen deutlich – was sich in der Erarbeitung der Kategorien zur Klassifizierung der mystischen Erfahrung widerspiegelt.151 Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hingegen findet sich eine kritische Wende: von Scholems Ablehnung eines universellen und ahistorischen Phänomens der Mystik;152 Michel de Certeaus La fable Mystique XVIe–XVIIe Siècle, das sich in Anlehnung an Foucault diskursanalytisch mit Texten von Mystikern des 16. und 17. Jahrhunderts beschäftigt und erst für diese Zeit einen Diskurs über Mystik als eine bestimmte Erfahrungsform von ›Religion‹ feststellt;153 bis hin zu Ste146 Margreiter: Erfahrung der Mystik, S. 85f. 147 Vgl. hierzu McGinn: Die Mystik im Abendland, S. 15; Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam, S. 19f. 148 Margreiter: Erfahrung der Mystik, S. 89. 149 Vgl. ebd., S. 89f.; Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam, S. 17. 150 Vgl. Margreiter: Erfahrung der Mystik, S. 77. Eine weitere, in den mystischen Texten auftretende Beschreibung stellt die Ekstase dar, die man während der unio empfindet; vgl. ebd. 151 Vgl. McGinn: Die Mystik im Abendland, S. 383–398. 152 Vgl. Scholem: Die jüdische Mystik. 153 Michel de Certeau : Mystische Fabel [1980]. Aus dem Franz. von Michael Lauble. Mit einem Nachwort von Daniel Bogner. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2010.

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Religion als diskursive Formation

ven T. Katz’ Aufsatz Language, Epistemology, and Mysticism (1978), in dem er für »the recognition of differences«154 – und zwar im radikalen Sinn zwischen einzelnen Textüberlieferungen – plädiert und die seit James gültige Annahme der Unaussprechbarkeit bzw. Unmittelbarkeit von mystischer Erfahrung negiert: »There are NO pure (i.e. unmediated) experiences.«155 Ende des 20. Jahrhunderts war der Mystikbegriff in der internationalen Forschung als eine ›leere‹ Kategorie problematisch geworden: »mysticism was returned to the conditioning webs of history, culture, and language. Religious experience was no more unmediated, unique, ineffable, or perennial than any other kind of experience.«156 Auch in der deutschsprachigen Forschung ist in den letzten Jahren die Herausbildung eines neuen Mystikverständnisses in der Moderne verstärkt in den Fokus gerückt.157 Der Germanist Hans-Dieter Zimmermann sticht dabei mit seiner kontroversen These, die Moderne sei aus dem Geist der Mystik hervorgegangen, hervor.158 Mystik versteht er hier als eine »neue Mystik«, die atheistisch und nicht auf die Inhalte der alten, also vor allem der christlich-mittelalterlichen, bezogen sei. Sie rezipiere vor allem das »Sprachproblem« der unmittelbaren Erfahrung, die daran anschließende Frage nach den Möglichkeiten der Erkenntnis sowie der sinnlichen Wahrnehmung.159 Eine differenzierte Analyse findet sich bei Martina Wagner-Egelhaaf, die in ihrer Arbeit zur Mystikrezeption in literarischen Texten der Moderne »strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen mystischem und poststrukturalistischem Denken« beobachtet und den Texten eine Erfahrung der Negativität und Nicht-Identität entnimmt. Die aktuellen Arbeiten setzen sich mit den mittelalterlichen mystischen Texten und der Literatur der Moderne auseinander; daneben gibt es Einzeluntersuchungen zu Gegenwartsautor*innen wie Ralf Rothmann oder Christoph Ransmayr,160 aber auch zur jüdischen und islamischen Mystik, die in 154 155 156 157

Katz: Language, Epistemology, and Mysticism, S. 25. Ebd., S. 26. Schmidt: The Making of Modern »Mysticism«, S. 274. Vgl. Mystik ohne Gott. Tendenzen des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Wolfgang Böhme. Karlsruhe: Evangelische Akademie Baden 1982; Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Metzler 1989; Mystik, Mystizismus und Moderne in Deutschland um 1900. Hrsg. von Moritz Baßler, Hildegard Châtellier. Strasbourg: Universitätsverlag 1998; Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. 2: Um 1900. Hrsg. von Wolfgang Braungart, Gotthard Fuchs, Manfred Koch. Paderborn u.a.: Schöningh 1998; vgl. einzelne Beiträge in Berwald, Thuswalder: Der untote Gott. 158 Vgl. Hans-Dieter Zimmermann: Die Entstehung der Moderne aus dem Geist der Mystik. Mystische Tendenzen in Philosophie und Kunst eines ›atheistischen‹ Jahrhunderts. In: Mystik ohne Gott, S. 9–31. 159 Vgl. ebd., S. 14. 160 Anja Maria Richter: Das Studium der Stille. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur im Spannungsfeld von Gnostizismus, Philosophie und Mystik. Heinrich Böll, Botho Strauß, Peter Handke, Ralf Rothmann. Frankfurt/Main u.a.: Lang 2010; Dana Pfeiferová: Das Ende der Welt

III ›Wiederkehr der Religion‹, Säkularisierung und Formen der ›Religiosität‹

den jeweiligen Werkanalysekapiteln erwähnt werden. Insgesamt fällt die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Mystik in der Gegenwartsliteratur allerdings noch marginal aus.

III.2.4

Zwischen Religion und Kultur – analytische Begriffsverwendung

Überblickshaft ist bisher das breite und komplexe Diskursfeld um die Begriffe Religion, Spiritualität, religiöse Erfahrung und Mystik aufgezeigt worden, wobei deutlich wurde, dass alle vier Sammelbegriffe darstellen, unter die verschiedene, dem Erkenntnisinteresse folgende Phänomene subsumiert werden. Dabei ist eine trennscharfe Abgrenzung der Begriffe nicht möglich, weil sie miteinander vernetzt sind und aufeinander zurückwirken. So werden Spiritualität und Mystik über Erfahrung definiert, die sowohl abseits und unabhängig institutionell verfasster Religionen als auch innerhalb oder als Teil dieser erlebt werden kann. Die Unterscheidung zwischen institutionell verfassten Religionen und einer »persönlichen Religion« (James) ist in der westlichen Gesellschaft mittlerweile zentral und die Herausbildung dieser ins Innere, Private und Individuelle verlagerten Religiosität mit der Vorstellung der Säkularisierung des Westens verbunden.161 Für die Gegenwart macht Taylor eine Entwicklung im Zuge des zum Massenphänomen gewordenen »›expressiven Individualismus‹«162 fest, die sich hinsichtlich der Religiosität, durch Pluralismus, radikalen Selbstbezug und Grenzenlosigkeit bei Einhaltung des Nichtverletzungsprinzips auszeichnet: »Mein spiritueller Weg muß den der anderen respektieren […]. Bis auf diese Einschränkung kann sich der eigene Weg auf alle möglichen Formen der Spiritualität erstrecken.«163 Taylor knüpft an die persönliche Religion bei James an und benennt die verschiedenen Ausprägungen davon als »Formen der Religiosität«.164 Für die Untersuchung wird diese (weitgefasste) Differenzierung in institutionell verfasste Religionen mit ihrer Glaubenspraxis und Religiosität bzw. persönliche Religion aufgegriffen, womit alle individuell-subjektiven, innerlichen Beziehungen zu einem, wie auch immer verstandenen Religiösen gemeint sind. Das Religiöse meint, wie auch Religion im Singular, einen Oberbegriff, unter den alle Ausprägungen subsumiert und der »unverrückbare Ort«. Christoph Ransmayrs Erzählen zwischen Dystopie, Utopie und Mystik. In: Bis zum Ende der Welt. Ein Symposium zum Werk von Christoph Ransmayr. Hrsg. von Attila Bombitz. Wien: Praesens 2015, S. 28–40. 161 Vgl. Taylor: Die Formen des Religiösen, S. 17f., Zitat: S. 20. 162 Ebd., S. 71. 163 Ebd., S. 91. 164 Ebd., S. 20. Im Orginal spricht Taylor von „modes of devotion“ (Charles Taylor: Varieties of Religion Today. William James Revisited. Cambridge, MA: Harvard University Press 2002, S. 15). Die deutsche Übersetzung ›engt‹ damit das Bedeutungsspektrum ein, wenn ›nur‹ von Religiosität die Rede ist. Für diese Untersuchung wird mit »Formen der ›Religiösität‹« an Taylors breites Verständnis angeschlossen.

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Religion als diskursive Formation

werden können und ist damit ebenfalls diskurstheoretisch als Ordnungskategorie zu verstehen. Mit Spiritualität wird im Anschluss an die Spiritualitätsforschung (und auch das Verständnis von Taylor) eine bestimmte Form des Religiösen verstanden, die sich synkretistisch auf den individuellen Sinnbedarf ausrichtet und dabei auf verschiedene (religiöse) Traditionen zugreift und diese kombiniert, wobei Erfahrung, als diskursiver Begriff, als zentraler Bestandteil dient. Auf die Mystik als Sammelbegriff für historisch divergente Formen wird in den jeweiligen Kapiteln eingegangen.   Wie auch Religion wird Kultur in dieser Untersuchung diskurstheoretisch verstanden: Kultur »umschreibt die impliziten gesellschaftlichen Wissensordnungen, die zentralen Codes und Unterscheidungen, die sie strukturieren und die den Raum möglicher Praktiken und Diskurse sowie schließlich auch Subjektformen abstecken.«165 Dabei ist ›Kultur‹ seit mehreren Jahren einer der zentralen Begriffe in den Geisteswissenschaften. Der cultural turn, also die wissenschaftliche Hinwendung zu kulturellen Fragen, wobei Kultur als »notwendige Bedingung aller sozialer Praxis« verstanden wird, setzte bekanntlich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ein und hat dazu geführt, dass in den verschiedenen Wissenschaften »kollektiven Sinnsystemen ein neuer, zentraler Stellenwert beigemessen« wird.166 Die in diesem Kontext entstanden Kulturtheorien und -diskussionen sind so vielfältig und zahlreich, wie sie auch bereits weiterentwickelt wurden. In seiner breit angelegten Studie Transformation der Kulturtheorien hat Andreas Reckwitz eine operative Kategorisierung der Kulturtheorien vorgeschlagen.167 Er unterscheidet dabei vier Typen von Kulturbegriffen – »normativ«, »totalitätsorientiert«, »differenzierungstheoretisch« und »bedeutungs- und wissensorientiert« –, die sich in verschiedenen Kulturtheorien wiederfinden.168 Während in Antike und Renaissance der Kulturbegriff »auf den Intellekt eines Individuums« verweist, wird er seit der Aufklärung als »Eigenschaft eines Kollektivs« verstanden: »Kultur ist der normativ ausgezeichnete Zustand einer sozialen Gemeinschaft.« Der normative Kulturbegriff des 18./19. Jahrhunderts ist universal und bezieht sich auf alle Gesellschaften, auch hat er eine wertende Implikation, nämlich als Beschreibung einer in »irgendeiner Weise aus-

165 Reckwitz: Subjekt, S. 18. 166 Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist: Velbrück 2000, S. 16f., hier S. 22. 167 Eine andere eher historisch und inhaltlich orientierte Kategorisierung findet sich in den Darstellungen von Stephan Moebius: Kultur. Bielefeld: transcript 2009 und Kultur. Theorien der Gegenwart. Hrsg. von Stephan Moebius, Dirk Quadflieg. 2., erw. u. akt. Aufl. Wiesbaden: VS 2011. 168 Reckwitz: Transformation, S. 64.

III ›Wiederkehr der Religion‹, Säkularisierung und Formen der ›Religiosität‹

gezeichnete[n], erstrebenswerte[n] Lebensweise.«169 Ebenfalls im 18./19. Jahrhundert bildet sich der totalitätsorientierte Begriff aus, bei dem weniger die Wertung und der Universalitätscharakter zentral sind als vielmehr eine Historisierung. Als Vater des Gedankens verweist Reckwitz auf Johann Gottfried Herder: Kultur ist hier »die spezifische Lebensform eines Kollektivs in einer historischen Epoche« und bezeichnet nun wertneutral die gesamte, historisch-spezifische Lebensweise einer sozialen Gruppe im Unterschied zu anderen sozialen Gruppen. ›Kultur‹ wird zu einem holistischen Konzept; dessen Interesse gilt der Totalität der kollektiv geteilten Lebensform eines Volkes, einer Nation, einer Gemeinschaft. Alles, was nicht durch die Natur vorgegeben ist, wird damit zur Kultur.170 Dieser holistische Kulturbegriff setze laut Reckwitz allerdings Gesellschaften und Kulturen gleich und ist gerade wegen seiner Breite stark rezipiert worden (mit der Gefahr einer Komplexitätsreduzierung und einer Nebeneinanderstellung von Kulturen als Totalitäten).171 Im Unterschied hierzu fokussiert der differenzierungstheoretische Begriff Aspekte innerhalb der Gesellschaft – das Verständnis der Künste als Kultur und der kulturelle Betrieb haben hier ihren Platz.172 Der letzte Typ entspricht dem aktuell rezipierten, in der Forschung breit vertreten und sich aus den verschiedenen postmodernen Strömungen zusammensetzenden bedeutungs- und wissensorientierten Kulturbegriff: Kultur ist hier »jener Komplex von Sinnsystemen oder […] von ›symbolischen Ordnungen‹, mit denen sich die Handelnden ihre Wirklichkeit als bedeutungsvoll erschaffen und die in Form von Wissensordnungen ihr Handeln ermöglichen und einschränken.«173 Der dieser Untersuchung zugrundeliegende Kulturbegriff ist hier mit Bezug auf die Postkoloniale Theorie (hinsichtlich der kulturellen Hybridität von Homi Bhabha und Arbeiten von Stuart Hall zur kulturellen Identität) verortet;174 und versteht Religion als ein Teil der Kultur: Religion wird also gerade nicht als eine von Kultur zu trennende Ordnung verstanden, sondern ist dieser immanent, obwohl die Abgrenzungspraktiken darauf ausgerichtet sind, sich von Kultur essenziel abzusondern – Religion als »kulturelles Konzept«175 also. 169 Ebd., S. 65f. [alle Zitate]. 170 Ebd., S. 72. 171 Ebd., S. 75ff. Kultur sei hier: »a) die regelmäßige und beobachtbare Lebensweise selbst […], b) gleichzeitig die ideellen und normativen Voraussetzungen dieser Handlungen […], c) schließlich die ›künstlichen‹ Produkte und Artefakte, die in diesem Zusammenhang hergestellt werden« (ebd., S. 75). 172 Vgl. ebd., S. 79. 173 Ebd., S. 84. 174 Vgl. Homi K. Bhabha: The Commitment to Theory. In: new formations 5 (1988), S. 5–23; Bhabha: Die Verortung zur Kultur; Hall: Der Westen und der Rest. 175 Matthes: Was ist anders an anderen Religionen, S. 26.

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Religion als diskursive Formation

Während substanzialistische Vorstellungen Religion und Kultur somit als getrennte Entitäten denken und Religion als Kategorie sui generis verstehen, wird hier Religion in der Kultur verortet, was wiederum bedeutet, dass Religion eine Form kultureller Praxis, nämlich als religiös bestimmter, darstellt. So kann Religion denn auch zum Hauptcharakteristikum einer kulturellen Bestimmung werden: christlich-jüdische Kultur beispielsweise.176 Im Fall der Religion als diskursiver Formation werden dabei die kulturellen Konstruktionsstrukturen überdeckt durch die antagonistischen Setzungen, sodass das Ergebnis von Religion und Kultur sich als scheinbar ›natürlich‹ und universal zeigt.

176

Vgl. Dario Sabbattucci: Kultur und Religion. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 1, S. 44–58, hier S. 44.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

IV.1

Paratextuelle und narratologische Vorüberlegungen

Patrick Roth ist ein literaturwissenschaftlich breit rezipierter Autor, dessen künstlerisches Schaffen in den USA begann und seit 2012 im Zuge seiner Rückkehr aus den USA in Deutschland fortgesetzt wird. Seine ersten literarischen Publikationen stellten Dramen dar, die erste, Die Wachsamen1 , aus dem Jahr 1990; das Prosadebüt Riverside. Eine Christusnovelle2 erschien ein Jahr später. Es folgten weitere Dramentexte sowie 1993 Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten3 , in dem die Verarbeitung biblischer Stoffe, die bereits in Riverside zu finden ist, fortgesetzt wurde. Den Abschluss dieser Reihe bildete 1996 Corpus Christi4 ; im Jahr 2017 wurden diese drei Texte, die auch als Christus-Trilogie bekannt sind, in einer kommentierten Ausgabe publiziert – ein eher ungewöhnliches Vorgehen für Texte eines Gegenwartsautors, das eher auf eine Aufmerksamkeitsstrategie für das Werk Roths zielt.5 Seit den späten 1990er Jahren folgten kürzere Erzählungen, 2002 die Poetikdozentur in Frankfurt und 2005 in Heidelberg. Bei der Publikation von Sunrise. Das Buch Joseph (2012)6 , Roths bislang umfassendster Prosaarbeit, waren seine Texte bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden (Rauriser Literaturpreis 1992, Hugo-Ball-Preis 2002, Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2003). Die Publikation von Sunrise führte zu einer neuen Rezeptionswelle, die auch die Christus-Trilogie miteinschloss.7 Stiefmütterlich behandelt werden die Erzählbände, die keinen expliziten oder geringen Bezug zur Bibel haben, wie Die Nacht der 1 2 3 4 5

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Patrick Roth: Die Wachsamen. Drei Monodramen: Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990. Patrick Roth: Riverside. Christusnovelle. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991. Patrick Roth: Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993. Patrick Roth: Corpus Christi. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996. Patrick Roth: Die Christus Trilogie. Riverside. Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten. Corpus Christi. Kommentierte Neuausgabe in einem Band. Komm. von Michaela Kopp-Marx. Göttingen: Wallstein 2017. Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph. Göttingen: Wallstein 2012. Vgl. Silke Horstkotte: Den Tod nicht kosten. Patrick Roths Sunrise als moderne Gnosis. In: Scientia poetica 17 (2013), S. 150–177, sowie den Sammelband: Die Wiederentdeckung der

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Religion als diskursive Formation

Zeitlosen (2001)8 , Starlite Terrace (2004)9 oder der autobiografisch motivierte Band Die amerikanische Fahrt. Stories eines Filmbesessenen (2013)10 . Zur Christus-Trilogie und zu Sunrise finden sich neben literaturwissenschaftlichen Arbeiten auch zahlreiche Beiträge aus dem theologischen und psychoanalytischen Bereich, was u.a. die breite Rezeption begründet. Viele dieser Beiträge orientieren sich dabei an Aussagen, die Roth selbst in seinen öffentlichen Äußerungen bzw. den Poetikdozenturen thematisiert hatte.11 Einzelne Ansätze fallen in der rothschen Rezeption besonders auf, weil sie sich von den biografischen Hinweisen distanzieren und mit einem neuen Blick auf die Texte aufwarten können.12 Von der Literaturkritik wurde Sunrise. Das Buch Joseph13 mehrheitlich positiv aufgenommen und dem Text eine Sonderstellung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zugesprochen.14 Der Inhalt ist schnell zusammengefasst: Im Jahre 70

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Bibel bei Patrick Roth. Von der Christus-Trilogie bis Sunrise. Das Buch Joseph. Hrsg. von Michaela Kopp-Marx, Georg Langenhorst. Göttingen: Wallstein 2014. Patrick Roth: Die Nacht der Zeitlosen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001. Patrick Roth: Starlite Terrace. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004. Patrick Roth: Die amerikanische Fahrt. Stories eines Filmbesessenen. Göttingen: Wallstein 2013. So bspw. zu Roths Rezeption von C.G. Jung: Michaela Kopp-Marx: Schuld, Erkenntnis und Erlösung – Die Geschichte des Johnny Shines. Eine Tiefeninterpretation. In: Der lebendige Mythos. Das Schreiben von Patrick Roth. Hrsg. von ders. Würzburg: Könighausen & Neumann 2010, S. 43–111; Jörg Rasche: Gott in Not. Gedanken eines Psychoanalytikers zu Sunrise. Das Buch Joseph von Patrick Roth. In: Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth, S. 346–362; zum Hinweis auf seine Filmbezüge: Reinhold Zwick: »Alles beginnt im Dunkeln«. Das Kino und Patrick Roths revelatorische Ästhetik. In: Brennender Dornbusch und pfingstliche Feuerzungen. Biblische Spuren in der modernen Literatur. Hrsg. von Udo Zelinka. Paderborn: Bonifatius Druckerei 2003, S. 161–176; Michaela Kopp-Marx: »Prosa soll sehen machen«. Patrick Roth und der Film. In: Gegenwartsliteratur 13 (2014), S. 227–253. Vgl. Uwe Schütte: Die Umarmung des Schamanen. Patrick Roths »Christus-Novelle« Riverside. In: Traces of Trancendency. Spuren des Transzendenten. Hrsg. von Rüdiger Gröner. München: iudicium 2001, S. 141–166; Joseph A. Kruse: »Und erkannte Joseph nicht mehr im Dunkeln«. Patrick Roths Josephs-Gestalt im Sunrise-Roman und ihr Beziehungsreichtum. In: Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth, S. 145–171, sowie Günter Beck, der Roths ChristusTrilogie, speziell Riverside und Johnny Shine, im Kontext eines erweiterten Midrash-Begriffs liest: Günter Beck: Between New Testament and New World: Representation of Jews in Patrick Roth’s Fiction. In: Der lebendige Mythos, S. 129–146; schließlich Lothar van Laak: Anerkennung. Überlegungen zur Erzählökonomie in Patrick Roths Sunrise. Das Buch Joseph. In: Die Wiederentdeckung der Bibel, S. 237–247. Die hier verwendete Ausgabe von Sunrise ist: Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph. 2. Aufl. Göttingen: Wallstein 2012 und wird im Folgenden mit der Sigle »S« und Seitenzahl im Text zitiert. Vgl. Anja Hirsch: Nicht das Wissen, nur die Erfahrung läutert. In: FAZ online vom 17. Mai 2012. www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/buecher-der-woche/patrick-roth-sunrise-nicht-das-wissen-nur-die-erfahrung-laeutert-11754583.html oder Eckhard Nordhofen:

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

u.Z. bzw. im zweiten Jahr der Regierung Kaiser Vespasians gelangen zwei Mitglieder der urchristlichen Gemeinde von Pella, Monoimos und Balthazar, nach Jerusalem. Ihr Auftrag ist der Schutz des Grabes Jesu Christi. Sie treffen, durch zufällige Umstände herbeigeführt, auf eine alte Ägypterin, die ihnen allerdings vom Leben Josephs, Jesu Vater, berichtet. Die Ägypterin Neith war im Jahr der Kreuzigung Jesu Christi eine Dienerin des Josephs von Arimathäa und beaufsichtigte einen Grabbau, den letzterer in Auftrag gegeben hatte. Die Arbeiten an diesem Grab wurden von drei Personen, Dymas, Gemas und Joseph, ausgeführt. Hier hatte Neith Joseph kennengelernt und von ihm seine Lebensgeschichte erfahren. Diese Konstellation offenbart sich allerdings erst am Ende des Romans. Neith berichtet innerhalb einer Nacht chronologisch vom Leben Josephs, dessen Verlauf – und darauf werden die Rezipient*innen schnell aufmerksam – stark von der kanonischen Überlieferung abweicht, sowie von ihrem beiden Zusammentreffen: Vor Maria war Joseph bereits einmal verheiratet und hatte einen Sohn namens Jesus, der durch einen Unfall im Alter von einem Jahr ertrunken ist. Joseph ist mit Maria verlobt, als er auf dem Heimweg einen verletzten ägyptischen Sklaven rettet, diesen in einer Grube Marias Obhut überlässt und selbst flieht. Bei seiner Rückkehr ist Maria schwanger und Joseph, zuerst ablehnend, heiratet sie schließlich (nachdem ein Engel ihn dazu angewiesen haben soll). Nach der Rückkehr von einer Pilgerreise erhält Joseph einen Traum, in dem sein Gott das Opfer des eigenen Sohnes verlangt. Josephs Weigerung führt zur Trennung von seiner Familie, seinem vorgetäuschten Tod, seiner Verstummung, der Gefangennahme durch eine Bande von Räubern, seiner Erblindung, bis er und die beiden übrig gebliebenen Räuber schließlich von Neith zum Grabbau beauftragt werden. Der Roman endet mit der Geburt von Neiths Zwillingen in der fertigen Grabhöhle und der Vision eines Abendmahls sowie einer Hochzeitsgesellschaft. Die Frage nach der Darstellung von Religion in Sunrise ist evident, obwohl der Begriff ›Religion‹ nicht einmal im Text auftaucht: Der Roman knüpft an die biblische Person Josephs, des Vaters von Jesus Christus, an, seine Konzeption spiegelt biblische Elemente und Anlehnungen wider,15 eine religiöse Erfahrung steht im Vordergrund, ein explizites Gottesbild sowie dessen Kommunikation werden thematisiert und in Träumen verhandelt. Die Träume evozieren zusätzlich eine weitere biblische Gestalt, nämlich die Josephs, des Träumers, aus dem Alten Testament, dem sich bereits Thomas Mann gewidmet hat.16

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Vor der Schrift kamen die Träume. In: Die Zeit online vom 6. Juni 2012. www.zeit.de/2012/24/LB-Roth (Zugriff beide: 25.07.2020). Zu den intertextuellen Bezügen in Sunrise siehe Markus Schiefer Ferrari: Lektüre im Schatten des Webbaums biblischer Inventionen. Exegetische Fadensuche in Patrick Roths SunriseRoman. In: Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth, S. 289–314. Vgl. Kruse zu Parallelen zwischen Roths Joseph und dem von Thomas Mann (»Und erkannte Joseph nicht mehr im Dunkeln«, S. 159).

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Der Roman – paratextuelle Aspekte Patrick Roth hat an seinem Roman Sunrise. Das Buch Joseph mehrere Jahre gearbeitet. Das Ergebnis ist ein erzählerisch und stilistisch komplexer Text, der sowohl mit unterschiedlichen Ebenen, Erzählinstanzen, Symboliken als auch Einflüssen und Quellen arbeitet. Eine reine Fokussierung auf statische Textmerkmale und der Bezug auf Modelle, die dem Vorgehen der klassischen Narratologie eigen sind, sind hier kaum möglich, viel zu sehr sind die Inhalte mit dem Erzähler, dem Erzählmodus und der Rezeptionswirkung verbunden. Die jeweils spezifischen narratologischen Aspekte werden dementsprechend in den jeweiligen relevanten Abschnitten eingebunden und analysiert.17 Die angedeutete Vielschichtigkeit des Romans wird bereits auf der paratextuellen Ebene deutlich. So ist die gebundene Erstausgabe in einen Schutzumschlag eingefasst, der die Aufmerksamkeit der Leser*innen durch eine Illustration auf sich ziehen soll. Dabei handelt es sich um Die Flucht nach Ägypten von Adam Elsheimer aus dem Jahr 1609. Das Bild ist auf zwei Ebenen relevant, einerseits darstellend, andererseits biografisch in Bezug auf Roths Äußerung zum Einfluss dieses Bildes hinsichtlich der Themenwahl seines Romans. Die textuelle Gestaltung der äußeren Umschlagseiten ist sparsam gehalten, das Bild kommt somit deutlich zur Geltung. Ferner ist nicht das gesamte Bild abgedruckt, sondern es wurde diagonal halbiert (von links unten nach rechts oben), wobei die untere Hälfte Verwendung fand. Das Bild ist zudem deutlich dunkler abgedruckt als das Original und erstreckt sich über den gesamten äußeren Schutzumschlag, wobei die Innenseiten, die Klappen, schwarz gefärbt sind und sich von der Hintergrundfarbe an die Illustration anpassen. Während auf der ersten Seite des Schutzumschlags sich Autorenname, Titel, Untertitel und Gattungsbezeichnung sowie unauffällig der Verlag befinden, ist die letzte Seite fast vollständig mit dem Bild besetzt. Nur ein Zitat aus dem Roman ist hier zu finden: »Ich kenne einen Menschen, dessentwegen Himmel und Erde geworden sind. Der hieß Joseph.« Dieses Zitat stammt romanintern von Neith und leitet zu ihrer Erzählung von Josephs Leben über. Es sind genau die Worte, die die beiden Urchristen Monoimos und Balthazar auf die Geschichte neugierig werden lassen – genau wie dies für die Lesenden gelten könnte. Auch verweist der abgebildete Joseph in einer Situation, in die er durch Träume gekommen ist, auf die Themen des Romans. Die dargestellte Milchstraße, 17

Dabei wird diese Untersuchung sich im weitesten Sinne an den Prämissen der kulturgeschichtlichen Narratologie orientieren: »Grundfrage und Kernproblem der kulturgeschichtlichen Narratologie ist dabei die Frage nach der Verwobenheit von Kultur und Literatur, genauer der kollektiven Erfahrungswirklichkeit und literarischer Formen.« Astrid Erll, Simone Roggendorf: Kulturgeschichtliche Narratologie: Die Historisierung und Kontextualisierung kultureller Narrative. In: Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Hrsg. von Ansgar Nünning, Vera Nünning. Trier: WVT 2002, S. 73–114, hier S. 79.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

die auch Josephsstraße genannt wird, wiederholt ebenfalls das metaphysische Thema. Für den Titel eines Werkes hat Genette in seinen Untersuchungen zu den Paratexten vier Funktionen herausgestellt: 1. »Bezeichnungs- oder Identifizierungsfunktion«, 2. »deskriptive Funktion«, 3. »konnotative Funktion« und 4. die – freilich wenig eindeutig beschriebene – »Verführungsfunktion«.18 Sowohl die Wahl der Schutzumschlagsgestaltung als auch die des Titels sind durchdacht, sie beziehen sich gegenseitig aufeinander und dienen jeweils als Ergänzung. Der Titel »Sunrise« und der Untertitel »Das Buch Joseph« wirken auf den ersten Moment anachronistisch: Das englische Wort für Sonnenaufgang wird angebunden an die altertümlich bzw. biblisch anmutende Bezeichnung für die Geschichtsbücher des Alten Testaments, bspw. die Bücher Mose, das Buch Josua, die Bücher Samuel. Der moderne Einbezug englischer Sprache trifft hier auf das klassischste Buch im christlich-europäischen Kontext schlechthin, die Bibel. Die Komposition ist eindeutig motiviert. Diese wiederum liegt unter anderem auch in der Identifikationsfunktion. Roth schließt mit diesem Titel an seine Christus-Trilogie, auch bekannt als Resurrection-Trilogie, an. Hier haben die Titel ebenfalls einen englischen bzw. englisch anmutenden Teil und einen erläuternden, in der Regel deutschen Untertitel: Riverside. Christusnovelle, Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten. Seelenrede sowie Corpus Christi, wobei letzterer einerseits auf eine Stadt in den USA und anderseits auf die lateinische Wortfolge verweist. Sunrise. Das Buch Joseph schließt an diese Reihe an, sowohl paratextuell als auch inhaltlich. »Sunrise« als Titel benennt das Thema des Romans: einen Neuanfang, einen Neubeginn. Der Roman, der durch ein Gedicht eingeleitet wird, beginnt mit den Worten »Sonnenaufgang des ersten Tages // seit Abschluß der Schrift«. Die Schrift steht dabei im Mittelpunkt und der Sonnenaufgang kann symbolisch als Ausgangspunkt für etwas Neues gelesen werden. Auf dieser deskriptiven Ebene beschreibt der Titel den »konstitutiv symbolisch[en], nämlich […] metaphorische[n] Typus.«19 »Sunrise« ist der Name mehrerer Orte in den USA, hier wäre also eine Analogie zu Corpus Christi; es ist auch der Titel eines Spielfilms von Wilhelm Friedrich Murnau: Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen (Sunrise: A Song of Two Humans, 1927). Auf den ersten Blick und eingedenk Roths früherer Arbeiten scheint die Filmanalogie schlüssig zu sein. Roth ist neben seinen literarischen Arbeiten ein Filmexperte, hat Drehbücher geschrieben und bezieht auch in seinen anderen Texten Filmelemente sowie Anspielungen auf klassische Filme mit ein. Sunrise: A Song of Two Humans ist ein englischsprachiger Film des deutschen Regisseurs Murnau, seine erste Arbeit in den Vereinigten Staaten. Er basiert seinerseits auf der Erzählung 18 19

Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 93. Ebd., S. 83.

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Reise nach Tilsit von Hermann Sudermann und handelt von der Dreiecksbeziehung zwischen einem Mann, seiner Frau und seiner Geliebten. Bezüge zwischen dem rothschen Roman und dem Film finden sich in der See-Episode: Der Mann und die Geliebte einigen sich darauf, dass dieser seine Frau bei einer Bootsfahrt im See ertränken soll. Er zögert im letzten Moment und verbringt stattdessen einen angenehmen Tag mit ihr. Auf der Heimfahrt geraten beiden in einen Sturm, bei dem das Boot kentert, die Frau scheint umgekommen zu sein. Der Mann zerstreitet sich anschließend mit seiner Geliebten und als er erfährt, dass seine Frau überlebt hat, kehrt er zu dieser zurück. Beide fangen ein neues gemeinsames Leben an – die Sonne geht auf. Die Bezüge zum Roman beinhalten die eingangs erwähnte See-Episode sowie das Thema des Neubeginns.20 Neith berichtet, wie Joseph einst bei der Überfahrt des Sees Genezareth, im Roman »Galiläisches Meer« (S 51f.), in einen Sturm gerät. Bei dieser Überfahrt wird Joseph von seiner ersten Frau, deren Name nicht bekannt ist, und dem gemeinsamen Sohn, Jesus, begleitet. In dem Sturm wird das Kind, zu dem Zeitpunkt ein Säugling, aus dem Boot geschleudert und ertrinkt. Auch bei der Suchaktion wird der Leichnam nicht gefunden, das Kind bleibt tot bzw. verschwunden. Für Roths Adaptionen von filmischen Inhalten ist diese Vorgehensweise typisch, alle seine literarischen Werke rekurrieren unterschiedlich auf diverse Filmklassiker.21 Dabei sind die Filme, auf die sich Roth bezieht, publikumswirksames Unterhaltungskino. Wenn Roth in seinen Arbeiten also die ›hohen‹ biblischen Themen mit der Unterhaltungsbranche verbindet, dann scheint es ihm um den Einbruch des Transzendenten in das Profane zu gehen, so jedenfalls die wiederholten Ergebnisse der Forschung zu seinen früheren Texten wie auch bereits zu Sunrise.22 Traut man seinen eigenen Arbeiten, so ist das Religiöse selbst für ihn etwas »Grundsätzliches«, ohne das Bücher gar nicht geschrieben werden müssen.23 Die Titel seiner religionsrezipierenden Werke lassen sich in diesem Kontext lesen. Durch die Synthese zwischen Unterhaltungsfilm und Bibel wird religiöser Inhalt mit einem Unterhaltungsmoment vermischt: Das Religiöse erhält so einen breiten Rezeptionsbezug. Unterstützt wird diese Annahme durch die gemischte deskriptive Funktion des Titels, die sowohl thematisch als auch rhematisch ist. Denn durch die Nennung »Sunrise« und die damit zusammenhängende Information über den Kinofilm wird nicht nur der Inhalt angedeutet, sondern auch die Erzählform: Unterhaltungsfilm verweist auf unterhaltende Literatur. Dieses Moment der Vermischung, der Einbezug ›hoher‹ Themen, wie des Religiösen, sowie unterhaltungswirksamer Szenari20 21 22 23

Vgl. hierzu auch Kruse: »Und erkannte Joseph nicht mehr im Dunkeln«, S 147f. Vgl. ausführlicher zum Film bei Patrick Roth: Kopp-Marx: »Prosa soll sehen machen«. Vergleich hierzu auch den Sammelband Der lebendige Mythos sowie aktuell die Beiträge aus Kopp-Marx, Langenhorst: Die Wiederentdeckung der Bibel. Vgl. hierzu Roth in: Rita Anna Tüpper, im Interview mit Patrick Roth: »Das Ästhetische muss zunächst einmal dienen.« In: Die Politische Meinung 519 (2013), S. 116–123, hier S. 118.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

en, wie der Geschichte um Liebe und Mord eines Unterhaltungsfilms, spiegeln sich auch in der Gestaltung des Schutzumschlags.24 Das bereits erwähnte Bild mit dem christlichen Thema, die Reduzierung des Textes und die Einbindung eines Zitats, das textimmanent bereits die Funktion der Aufmerksamkeitserregung innehat – dies alles sind Aspekte der von Genette beschriebenen Verführungsfunktion. Nur der Titel lässt noch nicht auf den neutestamentlichen Joseph schließen, die Analogie zum Alten Testament könnte eher auf Joseph, den Träumer, deuten. Erst in der Vermischung des Bildes mit dem Text wird der Bezug zum Neuen Testament, zum Vater Jesu Christi deutlich – und soll neugierig machen. Denn wie die beiden Figuren, die vor Neith sitzen, weiß sowohl die christlich-informierte Leserschaft wie auch die nicht-christliche wenig über diese Person, die in der Bibel kaum Erwähnung findet und auch im Vergleich zu anderen biblischen Gestalten literarisch geringe Aufmerksamkeit gefunden zu haben scheint.25 Demnach zeigt ein erster Blick auf die paratextuellen Aspekte, dass bereits die Aufmachung des Buches bestimmte Strategien anwendet, Aufmerksamkeit für sich zu generieren. So ist das Umschlagsbild gerade minimalistisch genug gestaltet, um den Klappentext lesen zu müssen, damit man Informationen zum Inhalt bekommt; zudem vermittelt der Titel, wie oben dargelegt, einerseits einen Anachronismus bzw. Widerspruch zwischen religiösem Thema und englischsprachigem Wort bzw. Unterhaltungsfilm. Der Klappentext wiederum greift auf Formulierungen zurück, die eher aus den Unterhaltungsgenres bekannt sind: »›Spione‹ des Herrn« werden auf eine Mission in ein belagertes Gebiet geschickt – das Setting ist also an Spannung kaum zu überbieten; vor Ort erfahren sie nicht nur von einem fiktionsinternen Geheimnis, sondern dieses wirkt sich direkt auch auf die reale Rezipient*innen-Ebene aus: »Von ihm [Jesu Vater Joseph] wissen die jungen Jesus-Anhänger kaum mehr als wir Heutigen. […] Denn wer weiß um die Geschehenisse vor Jesu Geburt? […] ›Sundrise‹ dringt in Erfahrungsräume vor, in denen Gewißheiten brüchig werden« (S Klappentext). Mit diesem Versprechen stellt sich der Klappentext in eine Tradition von Religionsthrillern wie Dan Browns The Da Vinci Code. Es folgen rhetorische Fragen, die die Spannung erhöhen sollen, den Lesenden wird zudem eine ästhetische und subjektiv-involvierende Komponente versprochen: »Erzählkunst« und »außergewöhnliche Sprachkraft« sowie »verblüffend authentisches, greifbar gegenwärtiges Drama zwischen dem Menschen und dem Numinosen« (ebd.). Gleichzeitig wird mit dem »gegenwärtigen Drama« eine zweite, nämlich anthropologische Rezeptionsebene evoziert, die mit dem Hinweis

24 25

Vgl. zur Synthese von populären, religiösen, filmischen und biblischen Themen die Beiträge in Kopp-Marx: Der lebendige Mythos. Vgl. Georg Langenhorst: »… nimm das Kind und seine Mutter …«. Literarische Transformationen Josephs von Henriette Brey bis Patrick Roth. In: Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth, S. 120–144, sowie Kruse: »Und erkannte Joseph nicht mehr im Dunkeln«.

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»existenzielle[] Erlebnisse« auf allgemeingültige, große menschliche Themen anspielt – salopp formuliert, ist in Sunrise alles enthalten: Action, Spannung, tolle Erzählkunst und große Fragen, die ein wichtiges gegenwärtiges Thema aufgreifen. Die Werbestrategien der paratextuellen Buchgestaltung kann man ergänzen durch Interviewaussagen Roths, in denen er die Entstehung des Buches schildert und dieses somit in eine bestimmte Aura des ›Nicht-Alltäglichen‹, des Prophetischen einkleidet: Eine deutsche Wochenzeitung hatte mich Ende 2004 gebeten, eine ›Weihnachtsgeschichte‹ zu schreiben. Die Beschäftigung mit der Figur des Joseph – in ›Lichternacht‹ hieß er ›Joe‹ – löste bald darauf intensive Träume aus. Träume, die mir zeigten, dass hinter der modernen Weihnachtsgeschichte eine weitaus größere, viel tiefer liegende immer noch wartete: Es ist die Geschichte dieses archetypischen Joseph, der uns über die Jahrhunderte hinweg eigentlich völlig verborgen geblieben ist und über den wir kaum etwas wissen.26 Tatsächlich wird der Bezug zu den eigenen Träumen und ihrer Analyse von Roth immer wieder bemüht, zuletzt in einem 2020 erschienenen Interview: Damals, bedingt durch die starke, auch sprachliche Isolation, hatte ich einige sehr eindrückliche Träume, die Bilder enthielten, die ich überhaupt nicht verstand. Sie erschlossen sich mir erst durch das Studium der Werke Jungs und durch eine Analyse. Ich ging dann noch einmal zur Bibel zurück. Aber eigentlich musste ich das gar nicht, denn ich sah jetzt, dass die biblischen, bzw. wie Jung sagen würde, die ›archetypischen‹ Bilder jede Nacht zu mir zu Besuch kamen – in den Träumen.27 Der Autor Roth gibt allerdings mit solchen autobiografischen Aussagen eine, auch für die Literaturwissenschaft, deutliche Lese- und Interpretationsanweisung, die es gerade zu hinterfragen gilt, was bislang eine eklatante Lücke in der Roth-Forschung darstellt. Auf den Aspekt der Inszenierung als Verkünder einer bestimmten ›Wahrheit‹ mit einer Aura des ›Nicht-Alltäglichen‹ wird noch später im Kontext der literarischen Verfahren der Darstellung von Religion eingegangen.

Das Gedicht Blickt man auf den literarischen Text, so kann man festhalten, dass dieser dreifach gegliedert ist: Auf der ersten Ebene findet man zwei Bücher, »Bücher des Abstiegs« 26

27

[o.A.,] Patrick Roth: Das Interview mit Autor Patrick Roth. Das Geheimnis des Joseph ist – unseres. In: Taunus Nachrichten vom 4. Dezember 2013. www.taunus-nachrichten.de/ koenigstein/aktuelles/koenigstein/interview-autor-patrick-roth-geheimnis-joseph-%E2% 80%93-unseres-id5654.html (Zugriff: 25.07.2020). Andreas Günter, Ludger Verst, Patrick Roth: Patrick Roth erzählt von Schlüsselmomenten. Über Träume und das Schreiben und Lesen von Literatur. In: Diakonia 51 (2020), S. 39–44, hier S. 41.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

und »Bücher des Aufstiegs«. Jedes dieser Bücher besteht wiederum aus je drei Büchern, alphanumerisch geordnet. Alle sechs Bücher haben eine bestimmte Anzahl an Kapiteln, ebenfalls durchgängig alphanumerisch angelegt, insgesamt 112. Die dreifache Gliederung des Romans korreliert mit drei Erzählebenen. Sunrise. Das Buch Joseph beginnt in ultimas res mit einem ›lyrischen‹ Einstieg in vier Strophen, die grafisch als solche gekennzeichnet sind. Sonnenaufgang des ersten Tages seit Abschluß der Schrift. Die Römer sind durch die Mauer gedrungen. Dem Hunger Jerusalems wird ein Ende durch Feuerbrand, Schärfe des Schwerts.   Vor Stunden noch träumte mir: Eine Schicht, dünn wie Haut, hebt der Sohn aus dem Tiegel flüssigen Erzes. Und sieht hin: Da ist’s ein Blatt lebendiges Gold.   Überdauern werden sie also, die das Versteck hier empfängt: die Worte des Buchs, die ich durch Neith Erfahren von Joseph.   Zu mir, Monoimos, der hörte und aufschrieb, tritt Neith. Und sie spricht: Wer bis ans Ende geht dieser Worte, der wird den Tod nicht kosten. (S 7) Das Gedicht hat weder ein Reimschema noch ein Metrum. Die Strophenübergänge sind durch Enjambements gestaltet. Stilistisch orientiert es sich an Hölderlins Pindar-Hymnen und greift dessen altgriechische Syntax auf. Die vier Strophen stellen den temporalen Ausgangspunkt der Erzählung28 dar und rekurrieren direkt auf den Titel: »Sonnenaufgang des ersten / Tages seit Abschluß der / Schrift«. Das 28

Erzählung wird hier im Sinne Genettes récit gebraucht. Vgl. Gérard Genette : Discours du récit. In: Ders.: Figures III. Paris: Seuil 1972.

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Gedicht umreißt explizit bzw. implizit die Erzählsituation der extradiegetischen Ebene. Es ist Ende August im Jahre 70 u.Z. Die römische Armee unter dem zukünftigen Kaiser Titus hat Jerusalem nach einer mehrmonatigen Belagerung erobert. Der homodiegetische Erzähler in der ersten Person/das lyrische Ich, Monoimos, hat gerade eine Niederschrift abgeschlossen, die von Joseph (von Nazareth, Vater Jesu) Leben handelt. Davon berichtet hat ihm eine Frau namens Neith. Er übergibt die Schrift einem Versteck, in dem Wissen, dass sie »überdauern« wird. Das Gedicht entfaltet seine Wirkung auf unterschiedlichen Ebenen: In der ersten Strophe wird inhaltlich ein zeitlicher und geografischer Rahmen gesetzt: Die Anspielung auf die Eroberung Jerusalems durch die Römer datiert die Ereignisse in das erste nachchristliche Jahrhundert im damaligen Judäa. Die zweite, kursivierte Strophe mit der Nennung eines »Traums« von einem »Sohn« hebt leitmotivisch den Traum/das Träumen sowie Jesus Christus bzw. die Ereignisse/Beteiligten bezogen auf seine Person hervor. Deutlich wird hier eine Trennung bzw. ein Kontrast zu dem Vorherigen aufgebaut: Die historischen Ereignisse, physische Wahrnehmungen des Hungers, des Feuers und des Schmerzes werden kontrastiert mit einer nicht physischen Erfahrung bzw. Wahrnehmung: dem Traum vom Sohn, der damit das Christentum und folglich die religiöse Ebene darstellt. Unterstrichen wird diese Entgegensetzung durch die grafische Hervorhebung (Kursivierung) des Berichts über den Traum. Stellt die zweite Strophe grafisch, inhaltlich und motivisch einen Kontrast zur ersten dar, schafft sie innerhalb ihrer selbst wiederum eine Verbindung, eine Verschmelzung des Dualismus zwischen den beiden Strophen und den beiden Ebenen. Die Verbindung zwischen dem Physischen und dem Metaphysischen ist der Traum. Form der Wahrnehmung, verhaftet im physischen Rezipienten, und ihr Inhalt verschmelzen miteinander, das Träumen wird metaphysisch. Auch hier hervorgehoben durch die grafische Gestaltung: »Vor Stunden noch träumte mir: / Eine Schicht, dünn wie«. Das trinäre Muster wird noch deutlicher, nimmt man neben der Wahrnehmungsebene die der Vermittlung hinzu, die sich ebenfalls in einem Dreierschritt offenbart: »erfahren«, »der hörte und aufschrieb«. Auch hier findet sich erneut ein trinäres Muster der Rezeption: Erfahren – Hören – Aufschreiben.29 Dass es sich bei der Schrift um etwas Außergewöhnliches handelt, darauf haben bereits die ersten beiden Strophen vorbereitet. Vor dem Hintergrund eines mit apokalyptischen Metaphern gemalten Untergangs Jerusalems, des jüdischen Tempels, der alten Welt, der jüdischen Religion steht der Sonnenaufgang, an dem die Schrift beendet wird. Diese stellt einen Kontrast zum Untergang dar und Neiths

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Ein trinäres Muster sieht Braun ebenfalls bei Sunrise in der Darstellung der Heiligen Familie, vgl. Michael Braun: Geschichten, die nicht in der Bibel stehen. Joseph und die Heilige Familie in Patrick Roths Roman Sunrise. Das Buch Joseph. In: Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth, S. 248–266.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

Worte, die auch das Gedicht beenden, explizieren es: »Wer bis ans / Ende geht dieser Worte, der / wird den Tod nicht kosten.« Es ist also ein Neuanfang, die Schrift wurde gehört, erfahren und aufgeschrieben, damit sie überdauern kann. Der Erzähler/das lyrische Ich nimmt für sich damit eine testimoniale Funktion in Anspruch: Er hat einen Bericht verschriftlicht und will diesen der Nachwelt übermitteln. Er hat etwas erfahren, was von anderen wiederentdeckt werden soll. Mit dem Begriff »Buch« wird auf die Bibel rekurriert, besonders auf das Alte Testament, mit dem historischen Setting und dem Traum vom Sohn wird auf das Christentum verwiesen. Mit der Nennung Josephs wird sowohl auf den alttestamentarischen, träumenden Joseph angespielt als auch auf den Vater von Jesus Christus, der ebenfalls häufig als Träumender ikonografisch dargestellt wird. Horstkotte sieht in dem Untertitel dabei einerseits den Roman als »moderne Offenbarungsschrift, analog etwa dem ›Buch Mormon‹«. Ferner vermutet sie in der »Anlehnung der fiktiven medialen Situation des Romans an die Überlieferung biblischer und pseudobiblischer Offenbarungsschriften« eine Analogie zur gnostischen Tradition, das Buch von Monoimos im Kontext einer theologischen Interpretation als Offenbarungstext mit einem heimlichen Wissen.30 In diesem Kontext weist sie auch auf die intertextuelle Referenz hin, die sich in dem Gedicht offenbart: Dies sind die verborgenen Worte, die der lebendige Jesus sagte, und Didymos Judas Thomas schrieb sie auf. Und er sprach: ›Wer die Deutung dieser Worte findet, wird den Tod nicht schmecken.‹ So lautet das Incipit des sogenannten Thomasevangeliums, des wohl bekanntesten der 1945 im ägyptischen Nag Hammadi entdeckten gnostischen Texte.31 Diese apokryphe, sich sowohl an das Alte als auch an das Neue Testament anlehnende und dabei doch keines davon favorisierende Struktur verweist darauf, dass der Text weder die jüdische noch die christliche Religion privilegiert, sondern auf etwas Drittes, beides Verbindendes und darüber Hinausgehendes referiert.32 Wie der Traum als Wahrnehmung, die Erfahrung als Vermittlung ist Joseph hier das Bindeglied der Traditionen. Der Erzähler/das lyrische Ich des Gedichts gibt Auskunft darüber, dass er eine Schrift verfasst hat über einen Inhalt, den er von Neith erfahren hatte (vgl. S 30

31 32

Horstkotte: Den Tod nicht kosten, S. 151. Horstkotte hat zudem herausgestellt, dass »der Name des Rahmenerzählers, Monoimos, explizit auf die gnostische Tradition« verweist (ebd.). Vgl. hierzu ausführlicher sowie zur Namenserklärung von Balthazar und Neith: Schiefer Ferrari: Lektüre im Schatten des Webbaums, S. 291ff. Horstkotte: Den Tod nicht kosten, S. 150. Einen ähnlichen Ansatz hat auch Kruse, der dieses Buch als eine »Klammer« ansieht, die er durch die sprachliche Analogie auf die Bücher des Alten Testaments sowie die apokryphe Natur des rothschen Textes zurückführt. Vgl. Kruse: »Und erkannte Joseph nicht mehr im Dunkeln«, S. 155ff.

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7). Direkt im Anschluss folgt der Roman, der genau diesen Inhalt wiedergibt. Paratextuell ist das Gedicht nicht vom Romantext getrennt, sondern es wird in die erste Einteilungskategorie: »Bücher des Abstiegs« eingebaut – als Autorenverweis bzw. Entstehungsangabe. Auch ist der Monoimos aus dem Gedicht identisch mit dem Monoimos des Prosatextes. Dieser ist eine spätere Erzählung der Ereignisse, die Monoimos zu Neith führten und anschließend die Erzählung ihrer Worte, was mit der Angabe im Gedicht korreliert, dass Monoimos die Worte aufschrieb, die er von Neith hörte. Das würde ihn allerdings nicht unbedingt zum ›Autor‹ der besagten Schrift machen, denn er fungiert im Gedicht als Schreiber und nicht als ›Autor‹: Ihm kommt eine testimoniale Funktion zu, welche allerdings durch eine kommentierende aufgeweicht und an anderer Stelle thematisiert wird. Der testimoniale Fokus erklärt auch, warum er und sein Begleiter nicht charakterisiert werden und nur die Funktion zu erfüllen scheinen, zu Neith zu gelangen. Die Wahrnehmung des Textes als nachträglich verfasste Schrift von Monoimos führt zu einer dreigliedrigen Erzählkonzeption. Das Gedicht, in den Textkontext eingebunden, markiert die Rahmenhandlung in Form einer einleitenden Rahmung. Der Roman wird nicht mit einer Rückkehr zu dieser Ebene geschlossen. Das lyrische Ich/Monoimos ist ein extradiegetisch-homodiegetischer Erzähler, der eine testimoniale Funktion übernimmt. Der Prosatext, die »Schrift«, stellt die intradiegetische Ebene dar. Da der Bezug zwischen Gedicht und Prosatext nicht explizit hergestellt ist, wirkt der letztere als eigenständige Erzählung. Hier berichtet Monoimos, extradiegetischer Erzähler, wie er zu Neith gekommen ist und diese ihm vom Leben Josephs erzählt hat (intradiegetische Erzählerin). Eine weitere Erzählerebene, die metadiegetische, nimmt Joseph als Erzähler implizit selbst ein. Laut Neith habe er ihr die Ereignisse genauso erzählt, wie sie diese den beiden Urchristen wiedergibt (vgl. S 450). Hier liegt also eine Struktur in Form dreifacher Narration vor: Monoimos erzählt, was Neith erzählt hat, was Joseph erzählt hatte – eine scheinbar direkte Überlieferung. Drei Haupterzählinstanzen kennzeichnen somit den Roman, allerdings sind diese nicht klar voneinander getrennt. Der Prosatext erscheint nicht explizit als Binnenhandlung des Gedichts, sondern als eigenständige Geschichte. Neiths Erzählung von Ereignissen stellt sich am Schluss als Gesprächswiedergabe heraus, hier: Josephs Erzählung, um dann in eine tatsächliche Erzählung von Ereignissen überzugehen, als sie ihre eigene Lebensgeschichte mit den Begebenheiten von Josephs Leben verwebt. Somit ist der Roman eine Erzählung von ›Worten‹, da Monoimos diese Rede Neiths in der Schrift wiedergeben will und nur die Geschehnisse, die zum Zusammentreffen von Monoimos und Neith führten, sind eine Erzählung von Ereignissen. Deutlich wird hier, dass die drei narrativen Instanzen miteinander verwoben sind, teilweise nicht klar voneinander unterschieden werden kön-

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

nen.33 Ferner wird ein eklatanter Widerspruch evident zwischen dem Anspruch der direkten Überlieferung und einer dreifachen medialen Brechung. Damit wird bereits in der narrativen Struktur auf einen Dualismus in der Rezeption verwiesen, der den Text durchzieht: die Lesart einer ›Wahrheit‹, die unmittelbar von denen, die sie erlebt haben, überliefert wurde gegen die nüchterne, rationale Lesart einer durch Vermittlung veränderten oralen Erzählung – als dritten Weg finden sich die Rezipient*innen involviert, die den Rezeptionsweg nachgehen, also die »Schrift« lesen sollen: Darauf spielen die letzten Verse des Gedichts an: »Wer bis / ans Ende geht dieser Worte der, / wird den Tod nicht kosten«. Auch auf der Zeitebene setzt sich das trinäre Muster fort, da neben den drei Erzählinstanzen auch drei gliedernde Anachronien betrachtet werden, die jeweils durch verschiedene Analepsen gekennzeichnet sind. Greift man auf Genettes Erzählebenenkonzept zur Veranschaulichung zurück, so kann man die einzelnen Ebenen nach einem Anfangspunkt, der Basiserzählung und dem Endpunkt aufteilen. Auf der intradiegetischen Ebene stellt die aufgehende Sonne den Anfangspunkt dar; die Erwähnung der Niederschrift und wie es dazu gekommen ist, die Basiserzählung, während Neiths letzte Worte als Endpunkt bezeichnet werden können. Die »Schrift« ist eine externe partielle Analepse zur Rahmenhandlung, die Rahmenhandlung wird also nicht geschlossen. Die metadiegetische Ebene, Neiths Erzählung, ist wiederum selbst eine Analepse, nämlich der Rückblick auf Josephs Leben durch Neith bis zu dem Punkt, an dem sie ihm selbst begegnet. Dabei reicht sie in die intradiegetische herein. Neith erzählt weiterhin etwas, was Joseph ihr vorher berichtet hatte, eine dritte Analepse also. Diese Rückschau, die metametadiegetische Ebene, überschneidet sich zum Teil mit der metadiegetischen Ebene, sie ist ihr innerlich, weil sie bis an einen bestimmten Punkt, Joseph hatte einen Traum und erzählt Neith anschließend von seinem Leben, heranreicht. Diese Ordnung ist nicht chronologisch abgebildet: Auf der metadiegetischen Ebene wird die dritte Analepse als metametadiegetische Ebene erst rückwirkend deutlich, d.h. Neith berichtet von etwas, was ihr bereits als Rückschau vermittelt wurde, gibt das aber erst nach dem Bericht zu. Man kann sehen, dass Josephs Bericht eingerahmt ist von Neiths Geschichte, die eingerahmt ist von Monoimosʼ Jerusalemfahrt, die eingerahmt ist von seiner Niederschrift. Das Matroschka-System wirkt also auch auf der Ordnungsebene und verdeutlicht die komplex konstruierte Erzählstruktur des Romans. Weitere Analepsen finden sich zudem auf allen anderen Ebenen. Diese dienen vor allem der inhaltlichen Ergänzung bzw. sollen das Konzept der ›Erfahrung‹ un-

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Horstkotte sieht in der »kosmologischen Vereinigung des Getrennten«, die der Roman darstellen würde, das »poetologische[] Strukturprinzip« des Textes, das sich u.a. in der Verschmelzung und Aufspaltung der Figuren zeigt – ein Ergebnis ihrer gnostischen Lesart des Textes. Horstkotte: Den Tod nicht kosten, S. 158.

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terstützen. Neben den Analepsen gibt es auch drei relevante Prolepsen, wobei diese iterativer Natur sind. Die erste findet sich direkt im Gedicht, hier deutet Neith voraus, dass »Wer bis ans / Ende geht dieser Worte, der / wird den Tod nicht kosten.« (S 7), die zweite, »nicht glauben sollt ihr, sondern erfahren« (S 22), und schließlich »Als wollte ichʼs ›miterinnern‹. […] ›mitzuerinnern‹, als hätte ich etwas ›mitzuerinnern‹.« (S 448). In diesen drei Fällen beziehen sich die Prolepsen auf Neiths Konzept des ›Erfahrens‹, welches an anderer Stelle besprochen wird. Vorausdeutend wird hier auf eine Form der Wahrnehmung verwiesen, die leitmotivisch den Roman durchzieht. Neben diesen Prolepsen sind es aber auch immer wieder Erzählkommentare, die inhaltlich auf das weitere Geschehen verweisen; diese haben eher die Funktion, die Oralität zu unterstützen.

Der narrative Akt Die narrative Konstellation des Erzählers zu seinem Bericht ist für die Rezeption des Romans evident. Dieser positioniert sich als primär christlich-sozialisiert und für ein religiös affirmatives Publikum berichtend. Monoimos, ein extradiegetischhomodiegetischer Erzähler, fungiert dabei als Nebenrolle: als Beobachter und Berichterstatter von Ereignissen und Worten. Diese Ereignisse enthalten vor allem Neiths Bericht über das Leben von Joseph, der 90 Prozent des Romans einnimmt. Die Fokussierung auf Neiths Erzählung führt allerdings zu einer Transgression. Das Gedicht wird ausgeklammert, der Rahmen auf die Ereignisse um Monoimos und Balthazar verlagert und Neiths eigentlich metadiegetische Erzählung als intradiegetische wahrgenommen. Sie wird ins Zentrum gerückt und als Hauptinhalt vorgestellt.34 Geht man davon aus, dass die gesamte Handlung ab dem »Ersten Buch« die »Schrift« darstellen soll, von der Monoimos im Eingangsgedicht spricht, dann hieße das, dass Neiths Erzählung die von Monoimos ist: Wortwahl, Anordnung und Kommentare müssen ihm zugeordnet werden. Allerdings hat Monoimos deutlich formuliert, dass er Neiths Worte reproduziert. Ihre Aussagen werden auch ausschließlich in wörtlicher Rede wiedergegeben und auch druckgrafisch durch Anführungszeichen eingeleitet und abgeschlossen. Das Gedicht dient dabei nicht nur als ein Verweis auf Transparenz, Authentizität und Legitimierung, vielmehr soll auf einen zeitlosen Inhalt hingewiesen werden. Monoimos als religiöser, christlich sozialisierter Erzähler richtet sich an eine fiktional-fiktive, explizit beliebige, jedoch implizit christlich-sozialisierte Leser-

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Diese Transgression mag dazu geführt haben, dass die meisten Rezipient*innen das Gedicht vollkommen ausklammern, wenn sie von der narrativen Struktur sprechen, oder aber davon ausgehen, dass der Erzähler der »Schrift« ein allwissender Beobachter ist, der manchmal Monoimos zu sein scheint. Vgl. Kruse, »Und erkannte Joseph nicht mehr im Dunkeln«, S. 150. Vgl. auch Horstkotte, die in der narrativen Konstellation die Anlage zu einer »(Fehl-)Lektüre« sieht, vgl. Horstkotte, Den Tod nicht kosten, S. 159.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

schaft mit einer »Schrift«, in der er sich selbst klar als Berichterstatter und Zeuge zu erkennen gibt und deren Fokus (durch die Transgression) auf Neiths (pseudodiegetischer) Erzählung liegt.35 Was bedeutet diese narrative Konstellation für die Frage, wie Religion im Roman dargestellt wird? Wenn die Analyse auf das Wissen zielt, kommen drei Aussageinstanzen infrage: Monoimos als Endproduzent der Rede, die angeblich eine direkte Wiedergabe von Neiths Rede sein soll, die wiederum eine direkte Wiedergabe von Josephs Erzählung sei. Da die Thematisierung der jeweiligen Religionsformen unterschiedlichen Figuren zugeordnet wird, erfolgt die Problematisierung der vermittelten Rede hinsichtlich des Wissens im weiteren Verlauf der Untersuchung.

IV.2

Das ›Judentum‹: doktrinäre Gemeinschaft mit individuellem Widerstandspotenzial

Inhaltlich thematisiert der Roman explizit die (früh-)christliche und die jüdische Tradition sowie an einer Stelle die römische Staatsreligion. Zentral sind zudem Gottesdarstellungen, Überlieferungsfragen, existenzielle Glaubensinhalte sowie Praktiken der monotheistischen Religionen. Im Roman ist zudem eine Vielzahl an symbolischen, sprachlichen und medialen Aspekten enthalten, die einer Analyse bedürfen, hier jedoch aus methodischer Sicht nicht thematisiert werden können bzw. bereits an anderer Stelle vorgenommen wurden.36 Wenn einzelne Aspekte herangezogen werden, so im Kontext der Verdeutlichung für die diskurstheoretisch orientierte Untersuchung. Ausgehend von der Annahme, dass Literatur Diskurse spiegelt und diese produktiv diskutieren kann, steht die diskursive Formation Religion, das Ordnungssystem Religion, im Untersuchungsfokus. Verstanden als Interface, als Schnittstelle verschiedener, nicht nur religiöser Diskurse und als Knotenpunkt einer diskursiven Formation sollen im Folgenden für Religion die Frage des kulturellen Wissens sowie die Frage der Wahrheitskonstruktion, der Machtverhältnisse sowie der individuellen Positionierung rekonstruiert werden – und zwar so, wie sie im Text explizit oder implizit erscheint. Dementsprechend kann Religion hier nicht als historische diskursive Formation per se untersucht werden, sondern als ein in der Literatur sich spiegelnder, verarbeiteter Aspekt, der bestimmte Gegenstände, bestimmte Subjektpositionen, Begriffe, Strategien bewusst oder unbewusst thema35 36

In einem anderen Kontext hat auch Kruse darauf hingewiesen, dass der Roman eine bestimmte Zielgruppe hat. Vgl. Kruse, »Und erkannte Joseph nicht mehr im Dunkeln«, S. 149. Vgl. hierzu die Beiträge im Sammelband Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth. Wie durchgeplant teilweise einzelne Szenen auf ihren symbolischen Gehalt hin gestaltet wurden, berichtet Roth in einem Interview: Günter, Verst, Roth: Patrick Roth erzählt von Schlüsselmomenten, S. 42.

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tisiert und dabei Spuren hinterlässt. Dementsprechend sind die Aussagen, die im Roman über die historische Ausgestaltung des Judentums oder Frühchristentums getroffen werden, weder als historisch ›das Judentum‹ korrekt darstellend noch als darauf zielend zu betrachten – aus dem Text lassen sich nur Aussagen über Religion erzielen, die als gegenwärtige verstanden werden müssen: Der Text ist in seiner Produktion kontextuell in den 2000er/2010er Jahren angesiedelt – und speist sich aus einem zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Wissen sowie dem gegenwärtigen Religions-, aber natürlich auch Literaturdiskurs – wie auch vielen anderen Einflüssen, denen die Literatur der Gegenwart ausgesetzt ist. Da das Setting in Jerusalem bzw. in Galiläa des ersten Jahrhunderts u.Z. angesiedelt ist und der Text sich u.a. an ein mit christlicher Symbolik und christlichen Begrifflichkeiten vertrautes implizites Publikum richtet, wird das Wissen vorausgesetzt, dass die einheimische Bevölkerung, die den römischen Herrschern unterstand, größtenteils jüdisch gewesen ist. Auch der Romanbeginn und Joseph als Protagonist verweisen auf das Judentum. Aus dem Bericht über sein Leben, den Neith an Monoimos und Balthazar weitergibt, können einige Rückschlüsse auf die Darstellung jüdischer Religion, die hier eine homogene Form innehat, geschlossen werden. Die folgende Aufzählung soll weder die historische Richtigkeit der Darstellung nachweisen noch eine inhaltliche Übersicht geben, wie das jüdische Leben im ersten Jahrhundert u.Z. aufgearbeitet wird.37 Vielmehr geht es darum, textimmanent herauszufiltern, zu welchen Schlüssen über Religion die vorhandenen Hinweise führen können. Diese Informationen werden größtenteils von Joseph vermittelt. Für die Frage der Darstellung des (fiktiven) Judentums kann hiermit nur auf die Darstellung des common sense verwiesen werden, der sich in den Ansichten, Urteilen und dem Wissen von Joseph spiegelt; von dem er berichtet.

IV.2.1

Das Wissen der Gemeinschaft

Für Joseph sind viele Aspekte seines Lebens fest geregelt und diese Regelung unterliegt in den meisten Fällen religiösen Gesetzen. Hier können bspw. die Verlobung nach jüdischem Gesetz (vgl. S 33), die Reise zum Pessach nach Jerusalem (»ging Joseph hinauf nach Jerusalem, um Jahwe das Pessach zu halten, wie das Gesetz es uns weist« S 125) oder die Bestimmungen, die das Betreten bestimmter Bereiche des Tempels regeln (vgl. S 165), angebracht werden. In all diesen Fällen handelt es sich um Verhaltensnormierungen, die vor einem religiösen Hintergrund stehen,

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Langenhorst, der den Roman in die Tradition der Jesus-Romane einordnet, kommt zu der Feststellung, dass Sunrise weder eine korrekte historische noch eine theologisch-dogmatische Darstellung beabsichtigt. Vgl. Langenhorts: »… nimm das Kind und seine Mutter …«, S. 147; ähnlich Beck: Between New Testament and New World, S. 129.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

nicht vor einem staatlichen oder stammesrechtlichen. Die einzige andere Rechtsprechungsinstanz, die im Roman erwähnt wird, ist die der Eroberer, die der Römer. Diese wird von Joseph an mehreren Stellen negativ angeführt. So hat Joseph Angst vor der römischen Strafverfolgung, als er einen Sklaven befreit und diesen nach Nazareth bringt (vgl. S 30), Jesus berichtet negativ von den Kreuzigungen, die die Römer angeordnet haben, und darüber, wie sie mit sympathisierenden Personen in der Menge umgehen (vgl. S 170), der römische Landhausbesitzer hat das Recht, einheimische Reisende von ihrem Weg abzuziehen und sie ad hoc für die Löschung eines Brandes bzw. die Rettung seines Kindes zu rekrutieren (S 97ff.), Verurteilungen werden durch die römischen Herrscher vorgenommen (vgl. S 168f.), die Römer sind Sklavenbesitzer, die nicht davor zurückschrecken, ihre Sklaven hart zu bestrafen bzw. bei Flucht zu töten (vgl. S 24f. u. 30f.) und Brandstifter kreuzigen zu lassen sowie Aufständische im Allgemeinen zu verfolgen (vgl. S 112). Jüdische Gesetze werden hier denen des römischen Reichs gegenübergestellt. Auf der Seite der Einheimischen, der Juden, findet man die religiösen Gesetze, die auch das individuelle Leben in den verschiedensten Aspekten zu gliedern und zu bestimmen scheinen; auf der anderen Seite, die der Eroberer, des Römischen Reichs, stehen Gesetze, die sich hier vor allem auf das Straf- und das Eigentumsrecht beziehen und die keine Konnotation mit einer römischen Religion aufweisen. In dem Roman gibt es zudem keinen Hinweis, dass Joseph bzw. andere sich von den sie bindenden jüdischen Gesetzen eingeengt bzw. unterdrückt fühlen. Vielmehr befolgt Joseph in einer alltäglichen Weise diese Gesetze und erzieht seinen Sohn ebenfalls dazu. Aus dem Roman geht hervor, dass dieses Wissen um die Gesetze unter anderem durch die Familie an die Nachkommen weitergereicht wird, wie die Pilgerrituale zeigen. Diese Darstellung des jüdischen Alltagslebens im Roman, auch unter der Besatzung der Römer, steht im Kontext der religiösen Gesetze, die sich auf das gesamte Leben ausrichten und die nicht zwischen religiös und nicht religiös unterscheiden bzw. dies maximal in Abgrenzung zu den Römern tun. Dieser Sachverhalt, die strukturierende Ordnung in Form des jüdischen Gesetzes, wird zwar erwähnt, jedoch nicht näher ausgeführt, vielmehr vorausgesetzt. Woher dieses kommt, wer es bestimmt, wer über die Ausübung wacht, für wen welche Gesetze gelten und wo diese nachgelesen werden können, wird im Roman nicht thematisiert. Es ist auch nicht klar, welches Gesetz hier genau gemeint sein soll und ob es ein übergreifendes, für alle Juden geltendes Gesetz gibt, auf das im Roman rekurriert wird. Im letzten Fall könnte der Bezug allgemein auf die Halacha (»im weitesten Sinne gesamte gesetzliche Tradition des jüdischen Rechts«38 ) bzw. das jeweils gültige jüdische Recht, das aktualisiert wird, fallen, ohne diese zu benennen. Explizit wird im Roman jedoch eine binäre Opposition von den als 38

Johann Maier: Judentum von A bis Z. Glauben, Geschichte, Kultur. Freiburg/Breisgau, Basel, Wien: Herder 2001, S. 191.

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Religion als diskursive Formation

einheitlich scheinenden Gesetzblöcken, jüdisches vs. römisches Recht, aufgebaut, wobei das jüdische Gesetz das Leben gliedert und das römische beherrschend in dieses eingreift. Interessanterweise scheint gerade diese Opposition, die stark wertend aufgeladen wirkt, historisch nicht zuzutreffen. So wurde die Halacha, von der man evtl. noch als dem jüdischem Gesetz sprechen könnte, erst Ende des ersten Jahrhunderts u.Z. nach und nach allgemein gültig; vorher sei das jüdische Recht kaum einheitlich gewesen, im Alltag dominierte das lokale bzw. regionale Gewohnheitsrecht und teilweise hielt man sich auch an die römische Gesetzgebung und Rechtsprechung.39 Im Roman werden hingegen die jüdischen Gesetze kaum als solche thematisiert, und die Problematisierung, die in den Konflikt mit den Römern mündet, entspringt nicht primär der römischen Gesetzgebung, sondern vor allem deren Besatzung, die Darstellung der juristischen Aspekte dient demnach der Hervorhebung der binären Opposition. Die ›Gesetze‹ bestimmten zudem eine Trennung dessen, was als heilig angesehen wird und was nicht. So begeht Jesus, als er bei seinem Alleingang in den Tempelbereich der Hohepriester vordringt, einen Eklat, denn dieser Bereich ist nur den Hohepriestern vorbehalten (vgl. S 162ff.). Neben der Opposition jüdische Gesetze/römische Gesetze scheint es demnach die ordnende Opposition heilig/nicht heilig zu geben. Die Vorstellung von Heiligkeit im Judentum ist eng mit der von Reinheit/Unreinheit verbunden.40 Heilig, auf die Wurzel qdš zurückgeführt und nicht unproblematisch mit holy oder sacred bzw. heilig zu übersetzen, ist lange unter der Vorstellung von »›being seperate‹«, als Abgesondertes, Ausgegrenztes, verstanden worden, wohingegen Schwartz auf die Bedeutung im Sinne von »›designated, belonging to the deity‹« aufmerksam macht. 41 In diesem Kontext ist »Holiness […] therefore received from God, but maintenance of purity will keep God from leaving his people«.42 Neben dem Göttlichen kann alles heilig sein, was zu dessen Sphäre gehört: Personen (Priester, die himmlischen Wesen in der Hebräischen Bibel) werden genauso als heilig gesehen wie heilige Orte (der Tempel), der Kult 39 40

41

42

Vgl. ebd., S. 344f. Vgl. Marcel J.H.M. Poorthuis, Joshua Schwartz: Purity and Holiness: an Introductory Survey. In: Purity and Holiness. The Heritage of Leviticus. Hrsg. von dens. Leiden, Boston, Köln: Brill 2000, S. 3–26. Jenson sieht das »Holiness Spectrum« in den beiden Gegensatzpaaren heilig/profan und rein/unrein. Philip Peter Jenson: Graded Holiness. A Key to the Priestly Conception of the World. Sheffield: Sheffield Academic Press 1992, S. 40. Baruch J. Schwartz: Israel’s Holiness. The Torah Traditions. In: Purity and Holiness, S. 47–59, hier S. 53. Vgl. auch Cana Werman: The Concept of Holiness and the Requirements of Purity in Second Temple and Tannaic Literature. In: Purity and Holiness, S. 165–179. Poorthuis, Schwartz: Purity and Holiness:an Introductory Survey, S. 10. Die unterschiedlichen Bedeutungen in ihrer jeweiligen Textgestalt leiten sich aus den verschiedenen jüdischen Quellen her, sei es biblische oder talmudische Überlieferung. Vgl. hierzu die Untersuchung von Jacob Neusner: The Idea of Purity in Ancient Judaism. Leiden: Brill 1973.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

(das Opfer, priesterliche Gewänder, die religiösen Schriften) oder eine bestimmte Zeit (wie der Schabbat). Jenson spricht hier bezogen auf die Priesterschrift des Pentateuch von Heiligkeitsgraden (»graded holiness«).43 So gibt es eine Steigerung des Heiligen zum Hochheiligen, also der innere Tempelbereich, Brandopferaltar und Räucheraltar.44 Dabei repräsentiere das Paar heilig/profan »the divine relation to the ordered world« und rein/unrein »embraces the normal state of human existence in the earthly realm«.45 Die Unterscheidung Reinheit und Unreinheit im religiösen Kontext hat Mary Douglas in ihrer bekannten (mittlerweile teilweise von ihr selbst revidierten) Untersuchung Purity and Danger (1966) vorgelegt. Hier bezieht sie sich u.a auf die Reinheitsvorschriften im Pentateuch.46 Soziologisch betrachtet können Reinheitsvorschriften verstanden werden als a reflection of rules of behavior. These rules regulate behaviour between the ›ingroup‹ and the ›out-group‹ […]. Within group relationships, they regulate behaviour between priests and lay persons and between men and women. Impurity would not be something intrinsic or ›ontological‹, but rather related to a specific group.47 Reinheitskonzepte sind damit Vorstellungen kultureller Ordnung, die Zugehörigkeiten klassifizieren und soziale Ordnungen strukturieren.48 Für den jüdischen Kontext unterscheidet Klawans zwischen »ritual impurity« und »moral impurity«.49 Rituelle Unreinheit entsteht durch Berührung oder Kontakt mit als unrein verstandenen Dingen, Tieren, menschlichen Zuständen (Geburt, Tod, Sexualität),50 »moral impurity« bezieht sich vor allem auf bestimmte Verhaltensweisen, durch die man Unreinheit erlangt.51 Unreinheit ist in einer weiteren Lesart in spezifischer Weise mit Tod verbunden bzw. symbolisiert diesen im übertragenen Sinn. Der Kontakt mit dem Tod stellt damit eine der höchsten Formen der Unreinheit

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Vgl. Jenson: Graded Holiness, S. 37. Vgl. die jeweiligen Dimensionen: Personen (ebd., S. 115ff.); Orte (ebd., S. 89ff.); Kultur (ebd., S. 149ff.); Zeiten (ebd., S. 182ff.). Ebd., S. 47. Vgl. Mary Douglas: Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo. New York: Praeger Publishers 1966, S. 30ff., 42ff. Pooerthuis, Schwartz: Purity and Holiness: an Introductory Survey, S. 9. Vgl. das Vorwort zur Routledge Classics Edition, wo Douglas auf den Klassifizierungscharakter deutlicher hinweist, weil er in Purity and Danger vermisst wurde. Mary Douglas: Preface to the Routledge Classics Edition. In: Dies.: Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo. London: Routledge 2002, S. X–XXI, hier S. XVII. Jonathan Klawans: Purity, Sacrifice, and the Temple. Symbolism and Supersessionism in the Study of Ancient Judaism. Oxford: Oxford Unipress 2006, S. 53. Vgl. ebd., S. 53f. Vgl. ebd., S. 55.

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dar.52 Dabei gehört es zum Alltag, die Reinheitsgesetze für die religiöse Lebenspraxis zu kennen,53 wobei es im historisch-antiken Judentum (natürlich) auch gegensätzliche Tendenzen, nämlich die Einhaltung der Gesetze nicht akribisch, sondern mit graduellen Abweichungen durchzuführen, gegeben hat; hierfür kann man in der frühchristlichen Zeit Beispiele finden.54 Neben diesen ›rituellen‹ und ›moralischen‹ Aspekten meint Reinheit aber auch eine Abgrenzungskategorie, die der Konstruktion und Stabilisierung einer frühen jüdischen Identität gedient habe:55 eine Abgrenzung zu Nichtjuden und -jüdinnen, die als nicht rein betrachtet werden, so in Es 6,21: »Und so aßen die Israeliten, die aus der Verbannung heimgekehrt waren, sowie alle, die sich von der Unreinheit der Völker des Landes abgesondert«. Von einer stringenten Ausgrenzung nichtjüdischer Personen könne man allerdings für die historische Zeit nicht pauschal ausgehen, stellt Heil heraus.56   In Sunrise werden die Ordnungskategorien rein/unrein und heilig/profan ebenfalls thematisiert. So weiß Joseph intuitiv bzw. ohne Rückgriff auf andere, was als heilig angesehen wird und was nicht. Der Tempel als Heiligtum ist im Roman ebenso präsent wie Josephs Angst in Bezug auf Jesu Verhalten. Der Tempel ist zudem mit bestimmten religiösen Ritualen, wie dem Opfer, verbunden. Dieses ist heilig und ebenfalls allgemein bekannt, die Magd und ihr Bruder, die zu Beginn Monoimos und Balthazar in Jerusalem antreffen und diesen helfen, sind verwundert, dass die beiden nicht wissen, dass im Tempel Opfer gebracht sowie Schlachtungen vorgenommen werden (S 17ff.).57 Neben dem Opferritual, welches im Roman leitmotivisch betrachtet werden muss, wird durch dieses auch die Opposition rein/unrein aufgebaut, die sich später am Ufer des Sees Genezareth wiederholt, an einem Ort, der als »unrein« in das kollektive Wissen eingegangen zu sein scheint. Der Grund für die Unreinheit des Ortes liegt in dem Friedhof, auf dem er sich befindet (vgl. S 52 53 54 55

56 57

Vgl. Jenson: Graded Holiness, S. 45f. Vgl. Johann Maier: Das Judentum. 2., durchges. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, S. 47. Vgl. Klawans: Purity, Sacrifice, and the Temple, S. 157f. Vgl. Christoph Heil: Die Absonderung Israels von Sündern und Heiden. In: Prekäre Zeitgenossenschaft. Mit dem Alten Testament in Konflikten der Zeit. Hrsg. von Joachim Kügler. Berlin: LIT 2006, S. 150–168, hier S. 150. Vgl. zum Themenkomplex Identität, ›Rassen‹-Konstruktion und Judentum: Race, Color, Identity. Rethinking Discourses about ›Jews‹ in the Twenty-First Century. Hrsg. von Efraim Sicher. New York, Oxford: Bergham Books 2003. Vgl. Heil: Absonderung, S. 165. Vgl. zum Opferbegriff im Alten Israel Rolf Rendtorff: Studien zur Geschichte des Opfers im alten Israel. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1967. Horstkotte konzentriert sich in ihrer Analyse von Sunrise hingegen auf das christliche Opfermotiv und stellt fest, dass Roth ein zentrales Problem der neuzeitlichen Theologie, den Opferbegriff, im Roman kritisch durchdenkt. Vgl. Horstkotte: Den Tod nicht kosten, S. 161.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

51f.), und ist für Joseph normativ bzw. wird nicht angezweifelt: Die historisch von Herodes Antipas neu gegründete Stadt Tiberias wurde auf alten Gräbern errichtet, weswegen dort niemand leben wollte und dies von Herodes per Gesetz erzwungen werden musste (so auch in Sunrise). Interessant ist nun, dass im gesamten Roman die vor allem für das jüdische Alltagsleben fundamentalen Reinheitsvorschriften nur eine einzige Erwähnung finden, nämlich die des Sees Genezareth. Da die Reinheitsgesetze sich auf alltägliche Bereiche wie Speisen und Getränke beziehen, die Berührung mit totem Tier (Joseph und das Pferd auf dem Opferberg), die Reinigung vor dem Tempelbesuch etc., verwundert es doch sehr, dass Josephs Leben davon kaum betroffen gewesen zu sein scheint bzw. dass es keine Erwähnung findet. Eine mögliche fiktionsinterne Erklärung scheint in dem Adressat*innenkreis des Berichts zu liegen, der gerade nicht jüdisch ist und für den diese Reinheitsgebote nicht relevant sind bzw. u.U. kein Vorwissen aktivieren könnten.58 Es ist tatsächlich frappant, wie sehr sich die genau durchstrukturierten Romaninhalte, die verzweigte Symbolik u.a. in einem Kontrast zur Ausblendung solch relevanter historischer Details zeigen. Dies zeugt auf der impliziten, realen Adressat*innenebene möglicherweise von einem fehlenden Interesse an einer historisch akkuraten Darstellung des antiken jüdischen Lebens, damit aber auch einer differenzierten Schilderung davon. Für Joseph bedeutet dies im Umkehrschluss und in seiner Figurenanlage einen Verzicht auf Individualisierung und Charakterdifferenzierung – er ist damit eher als eine exemplarische Figur angelegt. Auch werden weitere rituelle Aspekte, die einen normativen Charakter haben, nicht thematisiert. Der Schabbat findet keine Erwähnung, auch wenn Joseph mehrere Tage auf der Flucht ist. Und wenn spezielle Rituale angesprochen werden, dann werden sie erklärt. So wird der Grund für die Reise nach Jerusalem, »um Jahwe das Pessach zu halten, wie das Gesetz es uns weist« (S 125), erläutert. Auffällig ist an dieser Stelle zudem, dass die Erzählinstanz in der ersten Person Plural spricht und an diesem Punkt aber eigentlich Neith sein müsste. Von Neith weiß man aber nicht, ob sie überhaupt einer bestimmten und wenn, dann welcher religiösen Tradition angehört. Alternativ könnte es sich hier um eine narrative Metalepse handeln, wenn Josephs Erzählung hier noch anklingt und in die von Neith übergeht. Grafisch ist jedoch nichts gekennzeichnet. Auch die Erwähnung des Sees Genezareth passt in diesen Erklärungsgestus. Für Personen, die mit den jüdischen Reinheitsgesetzen vertraut sind, wie Neith, die in einem jüdischen Haushalt aufgewachsen ist, hätte Joseph nicht erläutern müssen, dass die Unreinheit des Ortes durch einen Friedhof bedingt ist. Vor allem der Hinweis, dass dort später die Stadt Tiberias gebaut werden würde, hätte Joseph zum Zeitpunkt seiner Anwesenheit 58

Unterstützt wird dies durch die fehlende Kenntnis der beiden Frühchristen Monoimos und Balthazar hinsichtlich der Schlachtungen im Tempel (vgl. S 16f.).

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nicht wissen können, zum erzählenden Zeitpunkt schon. Auch werden an manchen Stellen Begriffe und Namen erläutert, die für die inhaltliche Handlung an der Stelle nicht relevant sind und einen narrativen Aspekt beinhalten, nämlich den Adressat*innen etwas zu explizieren. Wer wird allerdings angesprochen: Neith als Josephs Zuhörerin oder die Urchristen als Neiths Zuhörer oder doch die fiktive Leseinstanz von Monoimos Schrift oder die impliziten Romanleser*innen? Die Unklarheit wird besonders an dem Punkt evident, als davon berichtet wird, wie Joseph seinem ersten Sohn Jesus ein Grabmal baut: »Am nächsten Morgen, der Sturm war vorübergezogen, baute Joseph mit Hilfe der Männer am Fuße des Felshügels […] ein Kenotaph, Leergrab und Denkmal für den Sohn des Nazoräers. Und das Mal, das er baute, stand erinnernd an den nezer, das ist verdolmetscht ›Sprößling‹ und ›Sproß‹« (S 58). Ruft man sich die Erzählsituation in Erinnerung bzw. nimmt sie ernst, so will Monoimos das (wörtlich) wiedergeben, was Neith ihm (wörtlich) erzählt, was Joseph ihr (wörtlich) berichtet hat – also müsste hier Josephs mehr oder weniger wörtlicher Redefluss vorliegen. Warum sollte nun Joseph ein griechisches Wort, »Kenotaph«, benutzen und später das Hebräische »nezer« erklären? Die Diskussion um diesen Begriff wäre unproblematisch, wenn die Erzählsituation nicht als authentische präsentiert worden wäre, denn hier liegt eindeutig ein Eingriff des extradiegetischen Erzählers vor – Monoimos, der den Leser*innen seiner Schrift sowohl den griechischen als auch den hebräischen Begriff erläutert, ja evtl. sogar diesen Begriff Kenotaph in die Erzählung einbringt. Da er aber damit seiner explizit angekündigten Mission der wörtlichen Wiedergabe zuwiderhandelt und hier so ein erzähllogischer Bruch vorliegen würde, kann dies entweder durch eine Unzuverlässigkeit Monoimos’ aufgelöst werden, was seinen Anspruch an seine »Schrift« ad absurdum führen würde, oder hier zeigt sich eine weitere narrative Instanz, die über Monoimos fiktive Autorschaft hinausgreift, jedoch verborgen bleibt und nur durch den Bruch aufscheint.59 Zusammenfassend bleibt hier festzustellen, dass für Joseph die Einhaltung der eigenen Gesetze als normativ gilt, viele Rituale jedoch für die fiktiven (und auch impliziten) Zuhörer*innen erläutert werden, wobei diese Zuhörer*innen – und das ist der springende Punkt – nicht als jüdische bzw. mit der ›jüdischen Kultur‹ vertraute vorgestellt werden.   In einen anderen Kontext fällt das Erzählen der überlieferten Geschichten auf Reisen. Auf diesen Reisen werden Texte aus der Schrift, also der Hebräischen Bibel, wiederholt und sich gegenseitig erzählt. Sie sind mit den Orten, an denen man vorbeikommt, verbunden und werden, indem man an ihnen vorbeizieht, in Erinnerung gerufen und aktualisiert (vgl. S 135). Die Wiederholung wird als InErinnerung-Rufen, als ritualisierte, identitätsstiftende Praxis ausgeführt, die die 59

Eine andere Lösung wäre auf der Textproduktionsseite zu verorten.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

aktuellen Handlungen erklären soll (vgl. S 17 u. 132). Diese Geschichten scheinen dabei keine neuen und unbekannten zu sein, sie werden von Jesus seinem Vater gegenüber als »Schrift, wie wir sie kennen«, bezeichnet, mit einer gleichzeitigen Abweichung, dass es gerade auch andere, unbekannte, lokale Varianten der kanonisierten Geschichten gäbe, als Beispiel nennt er die Geschichte von Jona (vgl. S 210). Gerade diese Abweichung vom »im Buch Jona Berichteten« zweifelt Joseph in Folge jedoch an und legt sie als Scherz eines alten Mannes aus (S 216). Die Geschichten der Schrift, wie sie zu dem Zeitpunkt bekannt und kanonisiert zu sein scheinen, bilden demnach hier das historische Wissen, über das sich Joseph und seine Familie ihrer Identität versichern. Dieses Wissen ist in der Schrift genau festgelegt, die Gesetze sind ebenfalls in das Alltagsverhalten eingebunden, sodass die Bevölkerung historisch und alltäglich in einem religiösen, normalisierten Wissensfeld eingebunden zu sein scheint. Zudem verweist das Wiederholen von als historisch angesehenen Ereignissen auf ein Geschichtsbewusstsein, in dem sich die Personen durch Repetition ihrer Herkunft versichern. Vor dem Hintergrund dieser Zugehörigkeitsversicherung können auch die genealogischen Bezüge gelesen werden, durch deren Rückversicherung die eigene Identität betont wird. Exemplarisch wird dies im Kapitel 12 »Die Ragebilder« (S 42–50) verdeutlicht. Bei diesem Begriff scheint es sich um ein einen Neologismus bildendes Kompositum zu handeln, das sich aus ›Rage‹ und ›Bild‹ zusammensetzt. Etymologisch betrachtet weist das Verb ragen auf zwei Bedeutungen aus dem Mittelhochdeutschen hin: ragen im Sinne von »starr, steif sein« und »hervor- oder emporstarren«.60 Interessant dabei ist, dass gerade die Bedeutung von starr, steif häufig im Kontext von Verstorbenen gebraucht wurde.61 Ragebilder wären im übertragenen Sinn demnach dreidimensionale Bilder von Verstorbenen, die aus einem Hintergrund heraustreten, herausragen. Während das Wort ›Ragebilder‹ in den biblischen Texten nicht vorkommt, gibt ein anderer Hinweis eine mögliche Erklärung: So heißt es an der Stelle: »aufrecht stehendes Ragebild, wie er es bei den Ismaeliten gesehen« (S 43). Mit Ismaeliten werden im Alten Testament bzw. Tanach die Nachkommen Ismaels, des Erstgeborenen von Abraham, den er mit der ägyptischen Magd Hagar zeugte, bezeichnet. In der biblischen Tradition ist Ismael der Vater von zwölf Stämmen (vgl. Gen 25,9–17), seine Nachkommen werden daher als Ismaeliten bezeichnet, welche wiederum historisch mit nordarabischen, protobeduinischen Stämmen (»Konföderation«62 ) identifiziert werden.63 In diesem 60

61 62 63

Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: ragen. In. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode= Vernetzung&lemid=GR00380#XGR00380 (Zugriff: 25.07.2020). Vgl. ebd. Ernst Axel Knauf: Ismael. Untersuchungen zur Geschichte Palästinas und Nordarabien im 1. Jahrtausend v. Chr. Wiesbaden: Harrassowitz 1985, S. 41. Vgl. Knauf: Ismael, S. 6f., 41 u. 45.

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Kontext wird Ismael als der Stammvater des Islam verstanden.64 Joseph soll demnach ›Ragebilder‹ bei den Ismaeliten gesehen haben. Auf die Frage, welche Quelle hier zugrunde liegt – eine biblisch-kanonische kann es nicht sein, da dort die Ismaeliten nicht mit solchen ›Bildern‹ erwähnt sind –,65 kann diese Untersuchung nicht eingehen. Die Forschung zur vorislamischen Religion spricht von mehreren Göttern, wobei nicht überall die gleichen Götter und Göttinnen und zudem in Form von Felssteinen verehrt wurden.66 Die Frage, ob Roth sich hier auf eine historische Quelle, die von großen, aufrecht stehenden Statuen berichtet, bezieht, kann nicht beantwortet werden.67 Einen Hinweis zur Quelle der Felswandvorstellung und des Herabseilens gibt Horstkotte: Hier soll Roth eine Traumschilderung von Jung übernommen haben, bei der er sich an einer Felswand herabseilt.68 Der Bezugsrahmen zu Sunrise scheint vorhanden zu sein, allerdings entspricht die Textstelle keiner expliziten Traumschilderung Jungs, wie Horstkotte sagt, sondern nur seiner Vorstellung davon.69 Wie nun die genaue Verbindung einer Schilderung Jungs mit arabischen, präislamischen Göttervorstellungen verstanden bzw. gedeutet werden muss, wird hier bezogen auf die diskurstheoretische und nicht hermeneutische Fragestellung nicht weiter ausgeführt, könnte aber in einer breiten und ausführlicheren Analyse von Roths intertextuellen Strategien, die noch aussteht, betrachtet werden. Was allerdings noch abschließend erwähnt werden sollte, ist an dieser Stelle, i.e. im Ragebild-Traum, eine explizite Assoziation bzw. Erinnerung an die

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65 66 67

68 69

Vgl. Thomas Naumann: Feindbild Islam – Historische und theologische Gründe einer europäischen Angst. In: Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen. Hrsg. von Thorsten Gerald Schneiders. Wiesbaden: VS 2009, S. 19–36, hier S. 20. Vgl. die untersuchten Stellen bei Knauf, die keinen Hinweis darauf enthalten, sowie eine Recherche nach dem Wort »Ismaeliter« bzw. »Ismaeliten« in den biblischen Texten. Vgl. Jan Retsö: The Arabs in Antiquity. Their History from the Assyrians to the Umayyads. New York: Routledge 2003, S. 600–622. Götterstatuen/-bilder sind dagegen als solche historisch belegt, so in einem alten assyrischen Text, in dem König Asarhaddon (7. Jhd. v.u.Z.) gebeten wird, die erbeuteten Götter(-bilder) zurückzugeben. Vgl. Knauf: Ismael, S. 81f. Horstkotte: Den Tod nicht kosten, S. 170. »Um die Phantasien zu fassen, stellte ich mir oft einen Abstieg vor. Einmal bedurfte es sogar mehrerer Versuche, um in die Tiefe zu gelangen. Das erste Mal erreichte ich sozusagen eine Tiefe von dreihundert Metern, das nächste Mal war es schon eine kosmische Tiefe. Es war wie eine Fahrt zum Mond, oder wie ein Abstieg ins Leere. Zuerst kam das Bild eines Kraters, und ich hatte das Gefühl, ich sei im Totenland. Am Fuß einer hohen Felswand erblickte ich zwei Gestalten, einen alten Mann mit weißem Bart und ein schönes junges Mädchen. Ich nahm meinen Mut zusammen und trat ihnen wie wirklichen Menschen gegenüber. Aufmerksam hörte ich auf das, was sie mir sagten. Der Alte erklärte, er sei Elias, und das versetzte mir einen Schock. Das Mädchen brachte mich fast noch mehr aus der Fassung, denn sie nannte sich Salome! Sie war blind. Was für ein seltsames Paar: Salome und Elias!« Carl Gustav Jung: Erinnerungen, Träume, Gedanken. Ostfildern: Patmos 17 2011, S. 202f.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

biblische Schilderung (Gen 16,10; Gen 25, 9.17) einer genealogischen ›Verwandtschaft‹ der drei Monotheismen. Diese kurze Andeutung findet im Weiteren keine Entsprechung und wirkt daher wie ein Hinweis bei einer intellektuellen ›SymbolSchnitzeljagd‹, die der Roman exaltiert betreibt.70 Zurückkommend zum Ragebild-Traum, sieht sich Joseph hier durch einen Riss im Felsen hinabseilen, an Ragebildern, steinernen hohen Statuen, vorbei, die insgesamt einen Tempel bilden sollen. Diese Ragebilder, an denen er sich hinunterseilt, stellen Statuen von Männern dar – und zwar aller seiner männlichen 64 Ahnen. Dieser »Stammtraum« (S 49) führt Joseph von seinem Vater bis zu Adam und Eva, die nur mit einem »sie« bezeichnet ist. Das Wiedererkennen seiner Ahnen ist hier der hervorgehobene Moment, der für Joseph relevant ist. Deutlich wird zudem, dass die genealogische Linie eine rein männliche ist, Eva als erste Frau und Mutter wird auf ein Pronomen reduziert. Im Traum versichert sich Joseph also seiner (familiären) Geschichte als einer Abstammungsgeschichte und diese ist männlich.71 Genealogie und familiäre Ordnung werden zudem in diesem Kontext als weitere Ordnungsstrukturen ersichtlich, die allerdings in einen religiösen Diskurs eingebunden sind. Dieses Kapitel ist textintern zudem insoweit relevant, als es Joseph in eine direkte genealogische Linie zu Adam und Jesus Christus und auf diesem Weg zu Gott stellt. Josephs Bedeutung wird mit dieser exponierten Herkunft, die bis an den Anfang der Geschichte der Menschheit als solcher reicht, hervorgehoben und ihm wird für die Leser*innen ein herausgehobener Status zugesprochen, der sich gerade nicht in seiner Handwerkertätigkeit erschöpft. Herkunftsbewusstsein und Geschichtserfahrung sind dem Roman in diesem Sinn stets immanent. Das Kriterium der Herkunft dient dabei nicht nur der eigenen Rückversicherung, sondern auch der Abgrenzung. Untereinander grenzt man sich nach Stämmen und Herkunftsorten ab. Denn der alte Mann, der Jesus und Jakobus die abweichende Jonaversion berichtete, stammt aus Gat-hefer (vgl. S 210), die Begleiter auf der Pilgerfahrt nach Jerusalem kamen ebenfalls aus verschiedenen Orten (vgl. S 125); zudem erzählt man sich die Geschichte des eigenen Stammvaters (vgl. S 133ff.). Die Identifizierung über den Stamm ist dabei maskuliner Natur, es sind die Männer, die einen Stamm begründen, zu dem man dazugehört. Die Abgrenzung von Personen, die nicht jüdisch sind, ist dabei weniger eindeutig. So gibt es einerseits eine auf Herkunft beruhende Abgrenzung (die Römer, der ägyptische Sklave), andererseits tauchen auch wiederholt religiöse auf: wir vs. die 70

71

Man bedenke nur die zahlreichen Symbole, Hinweise und Andeutungen allein in der Landhausszene, im Ragebild-Traum, bei der Fluchtdarstellung von Joseph bis hin zu seiner Rückkehr zu Maria. Eine Untersuchung des Romans im Kontext der gender studies wäre nicht nur an dieser Stelle relevant und kann hier nicht berücksichtigt werden. Horstkotte liest die Männlichkeits- und Weiblichkeitsdarstellung an dieser Stelle ausschließlich vor dem Gnosis-Hintergrund, vgl. Horstkotte: Den Tod nicht kosten, S. 164.

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Nichtjuden, die mit dem Begriff der Heiden bezeichnet werden.72 Im Roman hat der Begriff eine religiöse Konnotation bzw. gilt als allgemeines Abgrenzungskriterium für Nichtjuden. Diejenigen, die an dem von Joseph als unrein identifizierten Ort leben, nennt er Heiden (vgl. S 61);73 einen sich seltsam und ›wirr‹ benehmenden Mann, auf den er trifft, nennt er im ersten Schritt Heide (vgl. S 64), und als es deutlich wird, dass dieser ein desertierter Römer mit dem Namen Virdanus ist, wird er nur noch als »der Mann« oder »Virdanus« angesprochen. Auch wird explizit erwähnt, dass alle Heiden keinen Zugang zum Tempel haben (vgl. S 123). Dabei wird nicht nach geografischer Herkunft unterschieden, Heide ist aus Josephs Perspektive jeder, der nicht Jude ist. ›Juden‹ erscheinen so im Roman schablonenhaft als eine Gruppe, die sich grundsätzlich gegenüber allen Nichtjuden und speziell im Kontext der Fremdherrschaft gegen die Römer abgrenzt, die als eine homogene Einheit daherkommen, welche sich auf ein das gesamte Leben umfassendes jüdisches Gesetz, ein konkretes und genealogisches Geschichtsbewusstsein und den Glauben an einen Gott bezieht. Der Glaube an einen einzigen Gott wird besonders in der LandhausbrandSzene hervorgehoben, in der Joseph an den römischen Götterstatuen und auf dem Bodenmosaik mit den dort dargestellten Mythen- und Götterfiguren vorbeikriecht: In der fernen Ecke aber des Raums ragte die Statue ihres Merkur. Und hinter teils glühend herabgebrochenen Balken, sah Joseph die fremden Götter. Sah sie jagend und trinkend, zürnend und zeugend, im Augenwinkel herabstarrend auf ihn: kriechenden Judenwurm. Der ins Feuer gesandt war, das Kind zu retten dem römischen Herrn. Dem Herrn, der den Knecht gnädig ausleben ließe die Leibesfrist unterm Fuße der Herrscher. (S 103) Joseph ist hier von einem römischen Landhausbesitzer in ein brennendes Haus geschickt worden, um dessen Säugling zu retten. Die Statuen der fremden Götter sind hier explizit als die Götter von anderen markiert. Die Gegenüberstellung jüdischer und nichtjüdischer Gottesvorstellung(-en) wird präsenter, folgt man dem anschließenden Satz: »Da wollte Joseph nicht weiter, wollte schließen die Augen, liegen zu bleiben. Denn er wollte nicht sinnlos weiter kriechen dahin, ehe Gott gäbe ein Zeichen, daß ER mit ihm stünde im Feuer.«74 Viele Götter der Römer stehen dem einen Gott Josephs gegenüber, der diesem, so der Text, ein Zeichen, nämlich einen Pfeil, schickt, der Joseph aus dem Feuer in die richtige Richtung führt. Joseph rettet sich, über ein Bodenmosaik kriechend, auf dem verschiedene römische

72 73 74

Im Roman werden alle Personengruppen mit dem generischen Maskulinum bezeichnet. Aus Gründen der Leserlichkeit und Zitation wird dies für Inhalte aus dem Buch beibehalten. Hier wäre ein möglicher Bezug zu Reinheitsvorschriften zu identifizieren (vgl. Ausführung zu Reinheit/Unreinheit). Vgl. auch die Situation, in der sich Joseph über die ägyptischen Götter amüsiert (S 265).

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

Mythengestalten dargestellt sind. Die Gegenüberstellung zwischen dem rettenden Pfeil von Josephs Gott und dem brennenden Haus des Römers mit seinem Nachkommen, seinen Göttern und seiner Geschichte – denn bei der Mythosdarstellung auf dem Mosaik handelt es sich um den Aeneasmythos, also die Tradition des griechischen Reiches im römischen durch die Flucht des Aeneas aus Troja – ist geradezu mit einem metaphorischen Pathos aufgeladen, das die Allmacht von Josephs Gott unterstreicht, während es auf die Machtlosigkeit der römischen Götter verweist. Insgesamt ist auch diese Textstelle semantisch stark aufgeladen, denn der »kriechende Judenwurm«, der ins Feuer geworfen wird, ist eine explizite Anspielung auf die Shoah, deren Zweck bzw. Bezug zum Roman hier nicht ersichtlich ist. Bezüge zur Shoah finden sich dabei in mehreren Texten von Roth und sind bereits in der Forschung kurz thematisiert worden.75 Diese Stelle ist dabei eine der wenigen im Roman, in denen die durch Herrschaft gekennzeichnete Beziehung der jüdischen Bevölkerung zu den Römern als problematische thematisiert wird, auch die einzige Stelle, an der sich Joseph selbst als Jude bezeichnet. Zu fragen wäre hier, inwiefern die Bezeichnung Jude eine Fremdbezeichnung ist, was sie tatsächlich ist, und die Positionierung an dieser Stelle auf gerade diesen repräsentierenden Charakter der Zuschreibung verweist. Ferner sticht noch ein anderer Aspekt an dieser Textstelle hervor: Joseph erkennt den Gott Merkur. Hier schließen sich gleich mehrere Fragen an: Warum kennt er den Gott überhaupt und die anderen Götter nicht? Warum kennt er einen der römischen Götter, aber nicht den römischen Mythos? Und erhält gerade der Götterbote hier eine gesonderte Relevanz, weil er als Botschaften- und Wegvermittler an dieser Stelle seiner ›Macht‹ beraubt ist? Dieser Aspekt, das Erkennen eines Gottes im Gegensatz zu den anderen bzw. des Mythos, kann nicht handlungsintern und erzähllogisch begründet werden. Vielmehr scheint auch hier eine weitere narrative Instanz präsent zu sein, die auf ein implizit vorhandenes Wissen rekurriert.76 Nicht zu verkennen ist allerdings sowohl in der Ragebilder-Episode als auch hier die Hervorhebung eines einzigen Gottes. Diese Explikation der Gottesvorstellung als eines einzigen ist diesem Roman auf stets präsente Weise immanent.

75

76

Vgl. hierzu Uwe Schütte: »Von der anderen Seite«. Über die Transzendierung des Profanen und das Politische im Werk von Patrick Roth. In: Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth, S. 23–43; zur Referenz auf die Shoah in der Christus-Trilogie siehe Beck: Between New Testament and New World. Vgl. hierzu auch die Situation, in der Joseph auf der Suche nach Jesus in eine Aufführung des Ödipus platzt, ohne diese als solche zu erkennen (S 152ff.).

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Josephs Gottesbild Signifikant für Josephs Leben und das seiner Umgebung ist das Wissen um die Existenz ihres Gottes. Von diesem weiß er durch familiäre Erziehung, Erzählungen, Feste, Rituale wie Gebete, Opfer oder Tempelbesuche, Gesetze und vor allem durch das Kennenlernen und Wiederholen der Texte aus der Schrift. Die Akzeptanz der Schrift als historische Quelle, das Wissen um die Inhalte als ein Allgemeingut, das bereits Kinder im Alter von 13 Jahren kennen, und die Ausrichtung dieses Wissens auf diesen Gott zeugen davon, dass im Roman die Existenz dieses Gottes nicht geglaubt, sondern gewusst zu werden scheint, so sehr ist das allgemeine alltägliche Leben mit den religiösen Inhalten verbunden, dass es keine eigentliche Trennung außer in dem Kult zwischen Gott und den Menschen gibt. Andere, das menschliche Leben strukturierende Ordnungen, wie das Gesetz, sind dabei der religiösen Sphäre untergeordnet, mit dieser verflochten. Die einzige Trennung besteht in dem Heiligtum, dessen Innerstes nur von den Priestern betreten werden kann. Der andere Aspekt einer Trennung ist die Fremdherrschaft der Römer, die jedoch keine Auswirkung auf die religiöse Ausübung zu haben scheint. Wenn bei Joseph von Gott die Rede ist, dann wird dieser mit Gott, Jahwe oder Herr bezeichnet; werden Personalpronomen verwendet, dann werden sie in Majuskeln gesetzt: ER, IHM. Zudem wird dieser Gott mit bestimmten Attributen versehen: Sein Name kann nicht ausgesprochen werden (vgl. S 90) und man kann ihn nicht direkt ansehen (S 370f.), ferner wird er als ein gewalttätiger Gott dargestellt (Opferforderung).77 Weiterhin scheint er mit den Menschen zu kommunizieren bzw. Joseph geht davon aus, dass die Zeichen, die er bekommt, und der Inhalt seiner Träume eine Form der Kommunikation Gottes mit ihm sind (vgl. S 37). Diese Träume sind für ihn Zeichen Gottes, die er abwechselnd als Anweisungen oder Visionen versteht und dementsprechend handelt: So will er erst zu Maria zurückkehren, wenn er einen Traum gehabt hat, in dem er dazu angewiesen wurde (vgl. ebd.), die Ragebilder sind ebenfalls Teil eines Traumes, die Aufforderung, Jesus zu opfern, kommt ebenfalls in einem Traum vor (vgl. S 175ff.), und sprachlich imposant ist Josephs Kreuztraum (vgl. S 134–144). Hervorgehoben werden muss allerdings, dass diese Zeichen von Gott in Form von Träumen, Vögeln (vgl. S 29) oder anderen Symbolen wie dem Pfeil im brennenden Haus (vgl. S 103) ausschließlich von Joseph wahrgenommen werden – niemand anders hat einen Zugang zu dieser vermeintlichen Kommunikation. Auch Maria, die von Josephs Annahme der Träume als Zeichen weiß, ist nicht mit Sicherheit davon überzeugt. Anstatt sich auf Josephs Träume zu verlassen, will sie ihm selbst ein Zeichen schicken: »Falls nun aber der Traum und sein Zeichen dir ausbleiben, will ich dir mein Zeichen senden, wenn ich nämlich keine Gefahr mehr sehe und du mir zurückkehren kannst« (S 77

Schiefer Ferrari hat das Gottesbild in Sunrise aus christlich-theologischer Perspektive als zu starr bewertet, vgl. Schiefer Ferrari: Lektüre im Schatten des Webbaums, S. 314.

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37). Für sie ist seine Wahrnehmung damit keine Gewissheit, sondern etwas, das Josephs subjektiven Zugang zur religiösen Sphäre kennzeichnet. Zudem nimmt Joseph für sich in Anspruch, mit Gott kommunizieren zu können, relativiert dies jedoch bei Jesus (vgl. S 162ff.). Stattdessen sieht er in den Handlungen seines Sohnes eine Lästerung, einen Frevel: Und Joseph fürchtete sich, denn er fürchtete um seinen Sohn. Ihm war, als habe Jesus, die Grenzen des Heiligtums verletzend, das Heilige verletzt und gefehlt wider die Gottheit. Und als täuschten den Sohn die Gefühle der Freude, die der empfand überm Fund. […] Und davon sprach er dem Sohn und sagte: ›Denn woher nahmst du das Recht, zu überschreiten die Grenzen, hineinzugehen zu IHM, wieʼs nur dem Hohepriester erlaubt ist einmal im Jahr?‹ (S 165) ›Worüber du mir berichtet hast […], du darfst es niemandem weitersagen! Sondern für dich behalten sollst duʼs. Ich fürchte sonst einige deiner Brüder im Dorf und im Umland, die könnten dich hassen. Seiʼs der Entehrung halber, die sie sähen in der Tat, daß du entehrt hast das Heiligtum. Oder Ehre wegen, die Gott dir erwiesen hat dort, wie du sagst. […].‹ (S 166) Deutlich wird hier, dass Joseph die Tat seines Sohnes als einen absoluten Tabubruch ansieht und sie nicht unwidersprochen akzeptiert, sondern eher aus väterlicher Sorge eine Warnung ausspricht. Auch soll Maria nichts davon erfahren: Wäre die Kommunikation Gottes mit Jesus für Joseph genauso unproblematisch und existent wie seine, warum sollte er darauf verzichten, dies Maria zu berichten, die doch auch von seinen eigenen Träumen weiß? Während also handlungsintern niemand, mit Ausnahme Marias, von Josephs Träumen weiß bzw. diese als reale Kommunikation mit Gott ansieht, ist es für die urchristlichen Rezipienten von Neiths Geschichte unproblematisch zu glauben, dass Gott mit Joseph durch Träume interagiert hat. Stattdessen sind sie sich in erster Linie der Erzählung als solcher unsicher, weil sie bislang noch nie etwas darüber gehört hatten. Auch die Rückfragen an Neith beziehen sich auf den Inhalt der Botschaften, die Gott Joseph geschickt haben soll, nicht auf die Kommunikation an sich (vgl. S 422f.). Für die fiktive Leserschaft ist die Glaubwürdigkeit der Träume Josephs fiktionsintern gesichert, da sie die Bestätigung durch das vorliegende Buch von Monoimos erhält. Nicht nur auf inhaltlicher Ebene wird hier zudem versucht, die Träume als existente göttliche Kommunikation darzustellen, sondern auch auf der narrativen: Die implizite christlich-westliche Leserschaft des Textes kann durch ihr kulturelles Wissen bzw. die christliche Überlieferung einen teleologischen Ereignisverlauf ausmachen, der so kommen musste, weil er dem Plan Gottes entsprach. So haben die Lesenden daher auch keinen Grund, an den Träumen und Erzählungen Josephs zu zweifeln, weil sie sich erfüllen werden bzw.

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erfüllt haben.78 Haben aber Leser*innen den Text vor Augen, denen gerade dieses Wissen nicht präsent ist, dann greift die Kommunikation nicht mehr – das gemeinsame religiöse Kommunikations- und Symbolarchiv fehlt. Aus dieser Perspektive wirkt Joseph wie ein Mann, der Wahnvorstellungen hat, die ihn bis in seine Träume verfolgen, bei denen er nicht zwischen Realität und Traum unterscheiden kann, die er in seine alltäglichen Entscheidungen einfließen lässt, bis zu dem Punkt, an dem diese Vorstellungen ihn dazu bringen, sein Kind opfern zu wollen. Ohne die Prämisse der christlichen Glaubensinhalte bzw. einer Transzendenz ist dies die Geschichte eines Verrückten, eines religiösen Fanatikers. Und gerade diese Prämisse ist fundamental für die Rezeption dieses Textes auf allen narrativen Ebenen. Diese Prämisse erklärt auch, warum vielen Aspekten des jüdischen Lebens keine bzw. ungenügende Beachtung geschenkt wird, warum Josephs Leben und Handeln gerade vor dem Hintergrund von Jesu Leben und Sterben relevant sind; warum Maria inhaltlich überhaupt keine Rolle spielt. Warum sollte Joseph einer ägyptischen Magd/Sklavin gerade nur von diesen Aspekten seines Lebens berichten, aber nicht von seiner Geburt und nichts davon, was in den zwölf Jahren zwischen Landhausbrand und Pilgerreise mit Jesus passiert ist? Alle berichteten Ereignisse leiten sich aus ihrem Bezug u.a. zum frühen Christentum und den fiktiven wie impliziten christlich-sozialisierten Rezipient*innen her. Dies ist auch der Grund, warum textinterne Aspekte der jüdischen Religion in diesem Text eher implizit herausgefiltert werden können bzw. wiederum im Bezug zum Erzählungsziel betrachtet werden müssen. Die erzählte Geschichte kann nicht unabhängig vom Narrationskontext rezipiert werden.

›Judentum‹ als Doktrin – Joseph als herausgehobener Einzelfall Fasst man die vorherigen Überlegungen zusammen, so kann man festhalten, dass Sunrise vor dem Hintergrund der biblischen Ereignisse im ersten Jahrhundert u.Z. spielt und auf historische Daten, Ortsangaben und Bezüge rekurriert, ohne ein historisch korrekter Roman sein zu wollen. Eine Aussage über den historischen Judentumsdiskurs dieser Zeit kann aus diesem Roman nicht gewonnen werden. All das, was der Roman über ›das Judentum‹ des ersten Jahrhunderts aussagt, ist fiktional und verrät vielmehr, wie sich ein Text des 21. Jahrhunderts in einem biblischen Setting das Judentum des ersten vorstellt. Daher fungiert der jüdische Kontext eher als eine quellenbezogen bindende Komponente, da Joseph von Nazareth, ein Jude, im Fokus einer Geschichte steht, die jedoch für ein mit dem Christentum vertrautes Publikum geschrieben ist, sowohl textintern als auch textextern.

78

Von der Kreuzigung Jesus Christi wird im Roman nicht explizit berichtet, aber durch die Träume und die Erwähnung von Dymas und Gemas als die Räuber, die mit Jesus Christus gekreuzigt wurden, genau das aufgerufen und impliziert. Ferner geht die Rahmenhandlung von einem Tod aus, wenn die Urchristen ausgesendet werden, das Grab zu sichern.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

Vor dem Hintergrund dieser Einschränkungen sind nichtsdestotrotz einzelne Aspekte einer (fiktiven textintern durchscheinenden) ›Judentum‹-Vorstellung ersichtlich, der ein bestimmtes Wissen zugrunde liegt. Folgt man Foucaults Analyse von Machtbeziehungen, kann die im Roman skizzierte ›jüdische Gesellschaft‹ als eine Doktrin, die auf eine bestimmte ›Wahrheit‹ ausgerichtet ist, gelesen werden: Durch die gemeinsame Verbindlichkeit eines einzigen Diskursensembles definieren Individuen, wie zahlreich man sie sich auch vorstellen mag, ihre Zusammengehörigkeit. Anscheinend ist die einzige erforderliche Bedingung die Anerkennung derselben Wahrheiten und die Akzeptierung einer – mehr oder weniger strengen – Regel der Übereinstimmung mit den für gültig erklärten Diskursen.79 Die gemeinsame Verbindlichkeit, die im Roman erkennbar ist, ist die Anerkennung des einen Gottes, der eine Verbindung mit dieser Gruppe hat, die sich in der überlieferten Schrift zeigt. Dazu gehören als Folge die Anerkennung der Schrift als Wahrheit und die Akzeptanz sowie die Praxis der in ihr feststehenden und tradierten Regeln. Aus dieser Akzeptanz der gültigen Regeln und Normen ergibt sich hier ein klar eingegrenztes Wissen darüber, was bzw. wer zum Judentum gehört und was/wer nicht, das sich in der Alltagspraxis spiegelt, die dieser Roman thematisiert. Das Wissen ist auf verschiedene Arten verfügbar bzw. in die Lebenspraxis eingebunden. Dreh- und Angelpunkt dieses Wissens ist ebendiese Schrift, ein kanonisierter Text, aus dem sich Regeln, Zuordnungen und eine bestimmte Gottesvorstellung herleiten. Hier wird auf das Wissen der Rezipient*innen vertraut, das mit dieser Schrift die Torah identifiziert. Die Inhalte dieser Schrift sind dabei allen Subjekten bekannt und werden von ihnen akzeptiert bzw. sie regeln ihr gesamtes alltägliches Leben. Innerhalb der Doktrin sind die Subjekte an bestimmte Aussagetypen gebunden,80 wie die der Benutzung nur bestimmter Bezeichnungen ihres Gottes, der Anerkennung der Unaussprechlichkeit seines Namens, die Akzeptanz eines bestimmten Geschichtsbewusstseins oder der Einhaltung der jeweiligen Gebote. Die Subjekte sind diskursiv in diese Aussagen und Praktiken eingebunden, eine Abweichung davon würde sie aus der Doktringruppe wenn nicht ausschließen, so doch als Abweichler von den anderen abgrenzen, wie Josephs Angst vor der Reaktion der Umwelt über Jesu Eindringen in den Tempel zeigt. Für Foucault führt die Doktrin »eine zweifache Unterwerfung herbei: die Unterwerfung der sprechenden Subjekte unter die Diskurse und die Unterwerfung der Diskurse unter die Gruppe der sprechenden Individuen.«81 Gerade diese repressive Darstellung der Diskurse gegenüber dem Subjekt ist immer wieder an Foucaults Konzept kritisiert worden.

79 80 81

Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 28f. Vgl. ebd., S. 29. Ebd.

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Dass diese Unterwerfung gerade nicht das Subjekt vollkommen determiniert, es sich diskursintern widersetzen kann, wird später an der Figur Josephs und der Weigerung, seinen Sohn zu opfern, gezeigt. Die inneren Kontrollmechanismen, die Foucault herausgearbeitet hat, scheinen auch in der Darstellung des ›Judentums‹ präsent zu sein. So dient die mündliche Wiederholung von in der Schrift, dem Primärtext, kanonisierten Texten durch die Figuren, wie bei der Reise nach Jerusalem zum Pessachfest, sowohl der Erinnerung, der Identifikation mit der eigenen Geschichte als auch der Bestätigung des gültigen Diskurses. Für Foucault erfüllt im Kommentar die Abstufung von Primärtext und Sekundärtext zwei einander ergänzende Rollen. Einerseits ermöglicht es (und zwar endlos) neu Diskurse zu konstruieren: der Überhang des Primärtextes, seine Fortdauer, sein Status als immer wieder aktualisierbarer Diskurs, […] – all das begründet eine offene Möglichkeit zu sprechen. Aber andererseits hat der Kommentar, welche Methoden er auch anwenden mag, nur die Aufgabe, das schließlich zu sagen, was dort schon verschwiegen artikuliert war. […] Der Kommentar bannt den Zufall des Diskurses, indem er ihm gewisse Zugeständnisse macht: er erlaubt zwar, etwas anderes als den Text selbst zu sagen, aber unter der Voraussetzung, daß der Text selbst gesagt und in gewisser Weise vollendet werde.82 Im Roman kann man die Wiederholung der einzelnen Passagen aus der Schrift als einen oralen Sekundärtext ansehen, da gerade die inhaltliche Abweichung nicht akzeptiert wird, siehe die Episode um die Geschichte von Jona. Die Funktion solcher diskursinternen Mechanismen dient laut Foucault der Bannung des Zufalls innerhalb des Diskurses. Dadurch, dass das Gültige immer wieder aktualisiert wird, wird das Ungeplante so ausgeschlossen. Der Kommentar würde in dem Fall den Zufall des Diskurses bannen, indem etwas anderes als der Text selbst gesagt werden kann, aber nur, wenn der Text auf eine gewisse Weise doch gesagt wird: »Das Neue ist nicht in dem, was gesagt wird, sondern im Ereignis seiner Wiederkehr« – in der Wiederholung gelte es so, den inhärenten Sinn wiederzuentdecken sowie die Identität zu bestätigen.83 Wem im Roman die Verschriftlichung, Diskussion, Kanonisierung der Schrift, die Formulierung der Gesetze obliegt, ist nicht explizit ersichtlich, es scheint sich jedoch um die Personen im Tempel, die dort einen Dienst verrichten, zu handeln (vgl. S 164f.) bzw. um den Tempel als religiöses Zentrum an sich. Hier scheinen auch die Personen angesiedelt zu sein, die Einfluss auf das nehmen können, was als heilig bzw. religiös verstanden wird, also die Tempelumgebung bzw. die Subjekte, die mit dem als heilig Festgelegten Umgang haben. Das Beispiel der Veränderung der 82 83

Ebd., S. 19. Ebd., S. 20.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

Geschichte von Jona zeigt auch hier, dass der besagte Mann aus Josephs Sicht nicht das Recht hat, die Erzählung zu verändern. Nimmt man Joseph und seine Träume auf, so kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu. Im Roman ist Josephs Kommunikation mit Gott »im Wahren«. Damit hat er eine besondere Subjektposition, ohne zu dem Kreis von Subjekten zu gehören, die Einfluss auf das Wissen nehmen können; damit überschreitet er tradierte Gesetze und verstößt gegen die ›Diskursregeln‹ – Joseph ist hier als der zu bannende Zufall, den es eigentlich auszuschließen gilt, angelegt, was auch durch seine eher symbolhafte Figurenanlage unterstützt wird. In Sunrise wird eine jüdische ›Gesellschaft‹ grob als eine homogene, geschlossene Gruppe skizziert, die sich explizit über eine Abgrenzung nach außen (Juden/Nichtjuden; rein/unrein, Beherrschte/Beherrscher) definiert und dadurch als zusammengehörend identifiziert. Interne Unterschiede sind durch den Bezug auf die gemeinsame Wissens- und Wahrheitsquelle – die Schrift – aufgehoben. Der materielle und mediale Charakter dieser Schrift, die für Identifikations- und Erinnerungsprozesse die Grundlage bildet und die Transzendenz, hier als personalisierter Gott vorgestellt, verfügbar und in das Leben integrierbar macht, wird dabei kontrastiert mit den sich auf den gesamten Wahrnehmungsapparat auswirkenden Träumen und Visionen, die eine unmittelbare und ganz subjektive Erfahrung der Transzendenz ermöglichen, frei vom Zugriff einer vorgängigen Instanz. Der hier aufgebaute Gegensatz liegt somit zwischen einem tradierten, durch ein Medium84 transportierten Zugang zur ›Wahrheit‹ und zur transzendenten Sphäre und einem direkten, unmittelbaren, bei dem der Empfänger zugleich das Medium ist und damit zum eigenständigen und eigenverantwortlichen Handeln aufgefordert ist. Die Tatsache wiederum, dass die implizite Leserschaft Josephs Träume als religiöse Kommunikation anerkennt, liegt einerseits daran, dass er selbst durch seinen herausgehobenen Zugang gerade nicht den Regeln der hier dargestellten ›jüdischen‹ Gesellschaft (und den ihr zugrunde liegenden religiösen Diskursivierungen) unterliegt und damit auch andere Formen der ›Wahrheit‹ gelten lassen kann; andererseits ist der implizite Leser*innenkreis ebenfalls in einen ähnlich strukturierten, christlichen-assoziierten Diskurs eingebunden. Konkret bedeutet das, dass die Kommunikation solange als religiöse an-erkannt wird, solange die impliziten Leser*innen ebenfalls auf ein religiöses Wissensarchiv zurückgreifen und das Postulat einer dem Menschen entzogenen transzendenten Sphäre, die wiederum über bestimmte Formen (wie hier die Träume) verfügbar gemacht werden kann, als ›Wahrheit‹ verstehen. Ist die Verortung in der diskursiven Formation Religion nicht mehr gegeben, brechen das religiöse Kommunikationskonstrukt und die Leseakzeptanz zusammen. Dieser Punkt macht erneut deutlich, dass der Roman ein

84

Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt/Main 2008, S. 32.

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Religion als diskursive Formation

religionsaffines Publikum implizit anvisiert und auf ein kulturelles Archiv religiöser Kommunikationsformen sowie Vorstellungen von dogmatisch ausgerichteten religiösen, homogenen Gemeinschaften, deren regulierte Subjekte nur einen limitierten, vermittelten Zugang zum Transzendenten haben, zurückgreift, um diesen den subjektiven und unmittelbaren Zugang eines eigenverantwortlichen Subjekts als Alternative gegenüberzustellen.

IV.2.2

Zwischen Klischee und Überlieferung – Herrschaftsbeziehungen und Gewalt

Wirft man einen kurzen Blick auf die Makroebene der fiktiven Welt, so spielt das Geschehen vor dem Hintergrund der römischen Herrschaft über die Provinzen Galiläa und Judäa. Diese Herrschaft ist dabei eine fremde, die auch als solche wahrgenommen wird. Zudem ist diese Beherrschung des Landes keine legitime, da sie in der Wahrnehmung der Beherrschten, hier vor allem am Beispiel der Juden dargestellt, als solche nicht anerkannt wird.

Die Römer, die Herren – die Beherrschten, die Diener Die hier beschriebene Herrschaft des Römischen Reiches ist militärischer Natur und wird, so die durchgängige Darstellung im Roman, durch Gewalt aufrechterhalten. In der Eingangsszene wird bereits darauf verwiesen, dass Jerusalem belagert wird und dass einige Menschen nach Pella geflohen sind. Die Furcht Josephs vor der Rache der Römer aufgrund der mutmaßlichen Ermordung des Aufsehers des römischen Herrn, die Suche nach ihm durch römische Soldaten, der Zwang, in das brennende Haus zu gehen und dabei sein Leben zu riskieren, die spätere Hinrichtung des besagten Aufsehers sowie der Angriff von Virdanusʼ Legion auf einheimische Dörfer und das dortige Massaker, an dem dieser verrückt geworden ist – all das sind Zeichen des gewalttätigen Eingriffs der Römer in das Leben der Einheimischen. Diese durch Gewalttechniken ausgeübte Herrschaft der Römer als Gruppe wie auch einzelner römischer Personen wird als die einzige Herrschaftsform beschrieben. Tatsächlich, wie bereits im Fall der Abgrenzung als Heiden, scheinen die Römer in diesem Roman weniger eine Plotfunktion als eine Abgrenzungsfunktion bzw. Opposition einzunehmen. So ist entweder von den Römern als Besatzern oder von dem römischen Herrn, der seine Diener und Sklaven schlecht behandelt, indem er einen grausamen Aufseher beschäftigt und fremde, freie Männer ins Feuer schickt, die Rede. Deutlich ist, dass sowohl die homogene Gruppe der Römer als auch einzeln erwähnte Personen (bspw. Virdanus) keine weiteren und vor allem differenzierten bzw. individuellen Charaktere aufweisen – sie haben nicht einmal Namen. Die Römer werden in diesem Text als eine geschlossene und vor allem negative Schablone vorgestellt, die ihre Herrschaft ausschließlich auf Gewalt aufbau-

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

en und auch erhalten. Diese Herrschaft bezieht sich sowohl auf die militärischen Geschicke als auch auf das persönliche Leben jedes einzelnen Nichtrömers, das deren willkürlicher Gewalt ausgeliefert ist. Zwar scheint das alltägliche Leben in seinem Ablauf von dem römischen Zugriff frei zu sein – die Menschen folgen in ihren Dörfern ihren Regeln, sie reisen, sie arbeiten –, allerdings nur solange, bis sie mit dem römischen Gesetz und Strafrecht in Konflikt geraten. Deutlich ist, dass diese Herrschaftsstrukturen fest etablierte und fixierte Machtbeziehungen sind, die allen Protagonist*innen bekannt sind und von ihnen als Zwang wahrgenommen werden. Außerhalb dieser Herrschaft liegt in diesem Text der religiöse Bereich. So scheint es keine Einschränkung in Bezug auf die Glaubensinhalte und die Religionsausübung zu geben. Die jüdische Bevölkerung feiert ihre Festtage, zieht nach Jerusalem, die religiösen Regeln werden zudem gewahrt, indem die Römer keinen Zugang zum Tempel haben, auch die Frau von Joseph von Arimathäa kann ihrem ›Propheten‹ folgen, der von Stadt zu Stadt zieht und predigt. Exekutiert werden in dem Roman Straftäter und entlaufene Sklaven, bestraft werden zudem Diebe, Räuber – es gibt keine Anzeichen für einen Eingriff der herrschenden Gruppe in den religiösen Bereich anderer: Das Politische ist getrennt vom Religiösen. Dabei fällt auf, dass die römische Regierungsform, die gerade eine explizite Trennung zwischen Staat und Religion zu haben scheint – eine mögliche Anspielung auf säkulare politische Konzepte – als rein negativ und herrschend beschrieben wird. Es gibt ferner keine Darstellung im Roman, in der die religiöse Sphäre mit dem römischen Gesetz in Konflikt gerät, an dem dies hätte durchgespielt werden können. Daher scheint hier eine Herrschaftsbeziehung dargestellt zu sein, die sich zwar auf den Körper der Menschen auswirkt, allerdings nicht auf ihre Religionszugehörigkeit. Die Darstellung einer Nichteinmischung in die religiöse Sphäre scheint jedoch weniger eine bewusste Charakterisierung der römischen Herrschaft zu sein, sondern eher das Produkt einer fehlenden Konkretisierung auf der Textproduktionsebene, wobei die Frage ist, welche Ebene – die reale oder die fiktive des Monoimos – hier herangezogen werden könnte. So kann diese durchweg negative und schablonenhafte Darstellung der Römer, die bereits geschilderte Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen, die fehlenden Konkretisierungen zu verschiedensten Punkten, allgemein der fehlende Fokus auf die Römer als Gruppe bzw. auf einzelne Personen auf die Funktion eines Berichtes bzw. eines Zeugnisses über das Leben Josephs in einer den fiktiven Rezipient*innen bekannten historischen Situation zurückgeführt werden, die sich ausschließlich auf die Erzählung dieses Lebens konzentriert. Andererseits kann hier eine textexterne Autorenumsetzung vorliegen oder aber die Vermittlungsinstanz, die diese Darstellung der Römer abgibt, nimmt sie als Gruppe genauso schablonenhaft und wertend wahr – anders formuliert: Josephs Wahrnehmung der Römer, denn nimmt man die narrative Konstellation ernst, dann ist er es, der hier immer wie-

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der spricht, ist von einer binären Opposition geprägt, in der die Römer stereotyp daherkommen.   Eine ähnliche, auf fixierten Herrschaftsstrukturen beruhende Machtbeziehung stellt das Verhältnis zwischen Herren und Dienern bzw. Sklaven dar. In diesem Fall gibt es eine ökonomische Herrschaft der einen über ihre Diener und Dienerinnen, eine Ausbeutung und Objektivierung von Menschen als Sklaven, die zudem einem ethnisch und rassistisch inferiorisierenden Faktor zu unterliegen scheinen, da im Text alle Sklaven ägyptischer Herkunft sind und Dunkelhäutigkeit für die Römer problematisiert wird: »›Willst du Verrückter dem Herrn anbieten das Dunkelhäutige da? Ihn und die Herrin im Gram auch noch kränken? Bist du blind? Noch dazu istʼs ein Mädchen« (S 110). In dieser herrschaftlichen Beziehung steht auch Neith zu ihrem ehemaligen Besitzer bzw. Arbeitgeber, Joseph von Arimathäa. Dass diese Beziehung weniger gewalttätig und willkürlich dargestellt wird als der Umgang der Römer mit ihren Sklaven, scheint ein weiteres Indiz für die klischeehafte Zeichnung der Römer zu sein. Grundsätzlich kommt immer wieder die Frage auf, warum es hier die Ägypter sein müssen, die Sklaven sind. Liegt dieser Festlegung einer Gruppe eine symbolische Inversion zugrunde, da die Juden überlieferungshistorisch ägyptische Sklaven waren? Die überhandnehmende symbolische Verbindung und Konstruktion verschiedener intertextueller Motive könnte in diesem Kontext allerdings nivellierend auf die zahlreichen anderen relevanten Aspekte wirken, die mit Sklaverei und Gewalt assoziiert werden. Dabei kommt in diesem Kontext der eingangs aufgezeigte Verweis zum Tragen, dass dieser Roman eine Darstellung des ›Judentums‹, zwar in einem historischen Setting, nichtsdestotrotz aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts darstellt und damit das zur Verfügung stehende kulturelle Wissen gegenwärtiger Zeit beinhaltet.85 Die Anspielung auf die Juden als ehemalige Sklaven, ihre Beherrschung sogar bis zum Tod (Sendung Josephs in das brennende Haus) und die Anspielung auf die Konzentrationslager sowie die Shoah offenbaren gerade einen retrospektiven Konstruktionscharakter dieser ›historischen‹ Juden. Vor dem Hintergrund des heutigen Wissens wird ein schablonenhaftes Bild des Judentums gezeichnet, das sich auf allgemein bekannte und damit ›unproblematische‹ Aspekte bezieht und so einer detaillierten und differenzierten Gestaltung verweigert, oder anders formuliert: Das im Roman dargestellte Judentum ist aus der Erinnerung an die Shoah heraus konstruiert und als solches im Roman in der Szene des Landhausbrandes abgebildet, wenn der als Negativ-Schablone typisierte Römer bzw. historisch der ›Deutsche‹ als Nachfolger des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation den ›Juden in das Feuer schickt‹. Die negative und gewalttätige Darstellung der Römer 85

In diesem Kontext verweist Horstkotte auf die intertextuelle Rezeption von Thomas Mann, C.G. Jung und der jüdischen Kabbala. Vgl. Horstkotte: Den Tod nicht kosten, S. 165f.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

korrespondiert mit der konstruierten Analogie. Auch hier, wie schon bei dem Aspekt der Sklaverei, scheint jedoch das kurze Aufrufen dieser Erinnerung bzw. der textinterne Vorausblick an/auf die Schrecken der Shoah, der auch nicht weiter im Text aufgegriffen wird, einen eher nivellierenden und überkonstruierten Charakter zu haben, der sich noch dadurch steigert, dass der »kriechende Judenwurm« durch die Hilfe Gottes überlebt (Pfeil) und das Kind (Neith) rettet, das später zu seiner Erlösung aus der Blind- und Taubheit beitragen wird. Wie diese Assoziationen eines göttlichen rettenden Eingriffs im Kontext der Shoah-Diskussion in diesem in der römischen Antike situierten Text adäquat funktionieren sollen, bleibt offen. Für Roths in der Gegenwart spielende Texte hat Schütte diesen Shoah-Bezug auf eine »biographische Erfahrung« des Autors zurückgeführt, die in dem Verschweigen der unvorstellbaren Gräuel kulminierte.86 Auch Beck hält für die Christus-Trilogie fest, dass in »Rothʼs novellas the horrors and atrocities of the Shoah are literally unspeakable and cannot be adequately addressed or communicated as they go way beyond the referential and representational capacity of language«.87 Dies ist allerdings in Sunrise in dieser Form nicht verarbeitet bzw. erscheint als ein anachronistischer Verweis auf die späteren Leiden des jüdischen Volkes anhand Josephs Kriechen durch ein brennendes Haus zu konstruiert, besonders, wenn er durch ein von ihm als göttlich verstandenes Eingreifen (Pfeil) überlebt – solch eine »significant association between ancient biblical world and the modern (post-)Holocaust world«, wie Beck sie in Riverside oder Johny Shines sieht, die »in the question of theodicy after the Shoah« mündet,88 kann diese Anspielung jedoch nicht leisten.

Die Schrift, Gott und Mensch – Herrschaftsstrukturen Die jüdischen Figuren leben nach bestimmten Gesetzen und Regeln, die durch eine Schrift tradiert werden, welche einen Wahrheitsstatus besitzt, wobei der Prozess dieser Wahrheitssetzung aus der Darstellung der fiktiven Welt nicht erschlossen werden kann. Allerdings kann die auf die fiktive jüdische Doktringesellschaft bezogene Machtanalyse auf die Frage eingehen, welche Machtbeziehungen wirken müssen, um diese Wahrheit zu erhalten und zu tradieren, und wie das im Text vermittelt wird. Im Folgenden soll speziell auf den Aspekt der Wahrheit in der Form der dogmatischen Schrifterhaltung und Tradition eingegangen werden sowie anschließend auf die in diesem Roman expressiv formulierte Machtbeziehung zwischen Gott und dem Menschen bzw. Joseph. Dabei vermittelt der Text den Eindruck, dass das gesamte jüdische Leben in eine gemeinsam geteilte, religiöse Sphäre einer Erinnerungsgemeinschaft eingebunden ist, die absolut ist und sich maximal von der nicht-religiösen in Form einer

86 87 88

Vgl. Schütte: »Von der anderen Seite«, S. 23. Beck: Between New Testament and New World, S. 149. Ebd., S. 130.

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nichtjüdischen Sphäre unterscheiden lässt; der Austritt wäre demnach der Austritt aus dem Kollektiv. Gerade diese identitätsstiftende und sich auf die einzelnen Individuen auswirkende Funktion von kulturellen Artefakten und kulturellem Wissen haben Aleida und Jan Assmann im Kontext des »kulturellen Gedächtnisses« untersucht.89 Den Ausgangspunkt für die Überlegungen zum kulturellen Gedächtnis bilden die Arbeiten von Maurice Halbwachs zum kollektiven Gedächtnis. Dieser geht davon aus, dass die Erinnerungen des Einzelnen in die sozialen Bezugsrahmen, die »cadres sociaux«, einer Gruppe eingebettet sind und in Form von Denkschemata die Erinnerungen und Wahrnehmungen des Einzelnen prägen. Gedächtnis ist für Halbwachs demnach sozial geprägt und gerade nicht vor allem neuronal bzw. biologisch.90 Da der Begriff des »kollektiven Gedächtnisses« nicht eindeutig zu fassen ist, haben Aleida und Jan Assmann diesen präzisiert und in der Form von zwei Gedächtnisrahmen thematisiert, als »kommunikatives Gedächtnis« und als »kulturelles Gedächtnis«. Das kommunikative Gedächtnis oder Alltagsgedächtnis […] basiert auf alltäglicher und informeller Kommunikation und deckt sich weitestgehend mit dem, was Halbwachs als ›mémoire collective‹ beschrieben hat und was als ›Kollektivgedächtnis‹ den Forschungsbereich der Oral History bildet.91 Die Begriffsaufteilung dient vor allem auch als Abgrenzung zum kulturellen Gedächtnis, das im Zentrum der Überlegungen steht. Im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis ist das kulturelle organisiert und geformt, es dient der Identitätssicherung, hat eine Auswahl durchlaufen und bestimmte Personen haben Einfluss darauf, was in das kulturelle Gedächtnis aufgenommen wird. Ferner sind die in ihm transportierten Wertvorstellungen für die Gruppe verbindlich, die Gruppe reflektiert sich selbst darüber, auch ist das kulturelle Gedächtnis retrospektiv konstruiert:92 Unter dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und Riten zusammen, in deren ›Pflege‹ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über 89

90 91 92

Vgl. hierzu u.a. Aleida Assmann, Jan Assmann: Schrift, Tradition und Kultur. In: Zwischen Festtag und Alltag. Zehn Beiträge zum Thema »Mündlichkeit und Schriftlichkeit«. Hrsg. von Wolfgang Raible. Tübingen: Narr 1988, S. 25–50; Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Kultur und Gedächtnis. Hrsg. von dems., Tonio Hölschen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 9–19; ders., Das kulturelle Gedächtnis sowie Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C.H. Beck 2006. Vgl. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 35f. Assmann, Assmann: Schrift, Tradition und Kultur, S. 29. Vgl. Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S. 12–15.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt.93 Die überlieferte Schrift ist das zentrale Element des kulturellen Gedächtnisses dieser dargestellten jüdischen Gruppe. Über die Wiederholung der Erzählungen der Schrift, und daraus ableitend die jährlichen Feste, die sich auf vergangene prägende Ereignisse als kulturell geformte und institutionell etablierte »Erinnerungsfiguren«94 (Assmann) beziehen, sichert die Gruppe ihre Identität, ihre Vergangenheit und damit auch ihre Zukunft. Diese Schrift erscheint hier als ein machtvolles Objekt, das die Gruppenzugehörigkeit und den Lebensablauf reguliert und in einer abgeschlossenen Form vorliegt, die nicht verändert werden darf: Die religiöse Schrift mit dem in ihr vermittelten Wissen hat für die (fiktive) jüdische Gesellschaft den Status einer unantastbaren Wahrheit. Dabei rekurriert die Schrift auf eine Trennung der Sphäre des Transzendenten bzw. dem zum Göttlichen gehörenden und dem Nichtgöttlichen – eine ontologische Grenzziehung. Diese Sphäre des Göttlichen wird als dem Menschen entzogene bestimmt, zu der er keinen Zugang hat. Gerade diese Grenzziehung ist für die Machtbeziehung elementar. Indem die Schrift zu einer heiligen und damit unantastbaren transformiert wird, ist sie nicht nur dem menschlichen Zugriff entzogen, sondern auch dem Moment der Unwahrheit. Wenn sie heilig ist, muss sie göttlich und damit wahr sein. Wer diese Heiligkeit nicht akzeptiert, bricht mit den Gruppenregeln und riskiert, sanktioniert zu werden. Das Wissen um die Heiligkeit dieser Schrift entnimmt die Gruppe allerdings ebendieser Schrift selbst. In gewissem Maße ist die Legitimierung tautologisch: Die Schrift ist wahr, weil sie heilig ist und sie ist heilig, weil sie zu Gott gehört, und sie gehört zu Gott, weil es in der Schrift so steht. In dieser dogmatischen Form entzieht sich der Wahrheitsdiskurs jeglichem Zugriff und wird absolut autonom. Die Ausrichtung des jüdischen Lebens ist demnach die Ausrichtung nach einem Buch – eine Buchreligion, die diskursiv so absolut zu sein scheint, dass kein Platz für außerdiskursive Positionierungen bleibt. Dabei ist der Wahrheitsaspekt, wie er im Roman gezeigt wird, nicht exklusiv auf den Inhalt der Schrift bezogen, sondern auf die Schrift als ein Medium – der Inhalt ist wahr, weil er in dieser Form transportiert wird. Interessanterweise hat Foucault in Die Ordnung des Diskurses gerade diese Form als den »wahren Diskurs« der griechischen Antike bis zum 6. Jahrhundert v.u.Z. konstatiert, wobei er die platonische

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Ebd., S. 15. Jan Assmann hat die jüdische Geschichte in seinen Fallstudien vor diesem gedächtnistheoretischen Hintergrund untersucht, so den Exodus als »Erinnerungsfigur« oder das »Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik«. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 200. Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S. 12.

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Änderung von der Aussage zum Inhalt auf das nachfolgende Jahrhundert datiert.95 Im Gegensatz dazu will der laut Foucault vorplatonische »wahre Diskurs« den Willen zur Wahrheit, also seinen Machtanspruch, gar nicht verschleiern; er tarnt sich nicht als universelle Wahrheit, sondern bezieht sich in seiner Reichweite konkret auf eine bestimmte Gruppe, die gerade in ihrer Akzeptanz seiner selbst sich als Gruppe konstituiert. Im Roman zeigt sich dies exemplarisch für (konstruierte) Doktringesellschaften an der Darstellung der jüdischen Religion und der identitätssichernden Funktion der als wahr gesetzten Schrift: Die Subjekte sind dabei gruppenintern verortet und es wird Macht über sie ausgeübt. Dabei sind diese Machtbeziehungen auf verschiedenen Ebenen angesiedelt und nicht monokausal. So wird durch die ontologische Grenzziehung eine asymmetrische ›Herrschaft‹ einer Buchreligion dargestellt, die auf Stabilität zielt und elementar an die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe gebunden ist. Die Umsetzung dieser ›Herrschaft‹ scheint wiederum über ein Netz von Machtbeziehungen zu funktionieren, die sich makro-perspektivisch von einer regionalen Gruppe bis hin zur Mikroebene der Familieneinheit durchziehen. Wird die Schrift nicht befolgt, wird man ausgeschlossen bzw. sanktioniert. Tatsächlich hat man sogar den Eindruck, dass die Schrift so ›autonom‹ zu sein scheint, dass sie nicht einmal institutionell legitimiert und unterstützt werden muss. Zwar wird der Tempel als ein weiterer heiliger Ort angeführt, allerdings weiß man nicht genau, in welchem Verhältnis die Priester zur Schrift stehen. Jedoch ist die Erklärung dieses Aspekts, erneut, nicht Ziel des Settings, sondern nur die Rahmenbedingung, weswegen hier keine weiteren auf dem Text basierenden Schlüsse gezogen werden können; der Konstruktionscharakter der jüdischen ›Religion‹ als auf Herrschaft basierende Doktrin wird allerdings bereits in dieser skizzenhaften Zeichnung evident, wobei – und das muss hervorgehoben werden – die Vereinnahmung und Beherrschung von den Figuren nicht explizit als beschränkend bzw. repressiv wahrgenommen wird. Vielmehr wird die Achtung der Schrift und der damit einhergehenden Traditionen als identifikatorischer Faktor positiv konnotiert. Die Erzählungen auf den gemeinsamen Reisen scheinen für die Gruppe eine den Zusammenhalt stiftende Funktion zu erfüllen, die als bewahrend und gut erfahren wird. Der identifikatorische Bruch tritt erst ein, wenn die durch den Wahrheitsdiskurs gesetzten Grenzen aufgebrochen werden, wie dies im Fall von Josephs elitärer Kommunikation mit Gott und ihren Folgen ist. Gott und Mensch stehen in einer asymmetrischen Beziehung, in einer Herrschaftsbeziehung zueinander. Der Wille Gottes ist in der Schrift niedergelegt, in Form von alten Erzählungen oder Gesetzen, und muss von den Menschen befolgt 95

Foucault referiert hier auf die moderne Gesellschaft, die ihre philosophischen Wurzeln im antiken Griechenland hat, und bezieht keine nicht westlichen Philosophien an dieser Stelle mit ein. Vgl. Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 13f.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

werden. Sie haben keinen direkten Zugang zu ihm, sie können keine Position einnehmen, in der sie von sich aus in Kommunikation treten können, immer ist es Gott, der kommuniziert, sei es in den Texten der Schrift, sei es in Träumen, sei es durch Zeichen, durch eine Stimme. Gott wird als der direkten menschlichen Wahrnehmungssphäre entzogen dargestellt und die Beziehung zwischen Gott und Mensch damit per se als eine Herrschaftsbeziehung des einen über den anderen etabliert. Scheinen die Machtbeziehungen zwischendurch auch in Form von Techniken, die sich auf das Handeln der Menschen auswirken sollen, also Gottes Eingreifen in das Geschehen durch Träume oder Symbole, vorzuliegen, so ist diese Wahrnehmung nur auf den ersten Blick möglich. Als Wahrheit werden die Träume textintern vor allem durch die Analogie zu den Träumen Josephs aus dem Alten Testament, durch die intertextuelle Referenz des träumenden Josephs von Nazareth im Matthäus- und Lukasevangelium sowie durch den Traum des Ältesten in der frühchristlichen Gemeinde, der die Erstürmung Jerusalems im Traum sieht (vgl. S 12), gesetzt. Trotz der scheinbaren Regierungstechniken, die sich in den Symbolen und den meisten Träumen offenbaren, wird in der Romanschlüsselszene deutlich, dass die für Joseph gültige, dargestellte Beziehung Gott/Mensch hier nicht nur eine absolut herrschende, sondern auch eine gewalttätige ist. Denn in dem Moment, in dem Joseph sich weigert, wird er bestraft. Sich dem Göttlichen zu widersetzen, gilt in diesem Kontext als Grenzüberschreitung, die mit absolutem Ausschluss nicht nur aus der Gruppe, sondern auch aus dem diskursintern konstruierten religiösen Menschsein sanktioniert wird: Josephs Name wird aus dem Buch des Lebens ausgelöscht; er existiert nicht mehr (S 248ff.). Diese Grenzüberschreitung könnte auch im Sinne der Übertretung der Reinheitsvorschriften als ein Ausschlussmechanismus aus dem sozialen Kollektiv verstanden werden. Klawans zeigt auf, dass die moralische Unreinheit schwerer wog als die rituelle und »atonement or punishment, and ultimately, exile« nach sich zog.96 Die darauffolgende Strafe ist demensprechend ein Ausschluss aus der ›reinen‹, der jüdischen Gemeinschaft. Ausschluss aus der Gemeinschaft, nur auf einer anderen Ebene, hätte aber auch die Opferung bedeutet. Die Analogie des Sohnesopfers von Abraham wird nicht nur intertextuell evoziert, sondern textintern expliziert. Wie bei Abraham verlangt Gott von Joseph nicht nur ein Menschenopfer, sondern auch die Aufgabe seiner Zukunft, seines Stammes, denn mit Jesus wäre die Stammlinie gestorben. Er soll nicht sein eigenes physisches Leben, sondern den Fortbestand seiner Linie aufgeben und die komplette Auslöschung seines Namens selbst vollziehen – er soll sich selbst aus der Geschichte streichen. Explizit wird in dieser gewalttätigen Gottesdarstellung ein Bild vermittelt, das dessen Verhalten teleologisch, wenn nicht sogar eschato-

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Klawans: Purity, Sacrifice and the Temple, S. 56.

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logisch begründet.97 Die anthropomorphen Züge eines planenden, strafenden, gewalttätigen Gottes konstruieren diesen als einen in seinen Taten zielgerichteten. Für die Rezipient*innen erscheint alles nachvollziehbar, weil sie suggeriert bekommen, dass alles einem Plan folgt und auf verschiedenen Wegen erreicht werden kann bzw. erreicht wird.98 Damit gibt der Mensch allerdings die Verantwortung für den Verlauf der Ereignisse ab.

IV.2.3

Joseph, der treue Außenseiter

Wie verhält es sich nun mit den Subjekten und den individuellen religiösen Verortungen von Personen in diesem gezeichneten Gefüge? Als diskursivierte Subjekte einer als homogen konstruierten doktrinären Gemeinschaft offenbaren sich die Figuren durch ihre normierte und normalisierte Lebensweise, die sich auf Alltag, Kult und Tradition stützt sowie durch die Abgrenzungen zu den Heiden, die ebenfalls allgemein akzeptiert zu sein scheint. Die Rahmung in einen religiösen sowie genealogischen Kontext bildet dabei die Basis für die gemeinschaftliche Identifikation über bereits erläuterte Exklusionsprozesse. Auch Joseph ist Subjekt, insoweit er mit der internen diskursiven Ordnung, in der er lebt, einverstanden zu sein scheint, die Regeln befolgt, betet, an den Gott glaubt, ja sogar von einer besonderen Beziehung ausgeht, der Schrift folgt, seinen Sohn dazu erzieht etc. – er identifiziert sich mit seiner Gemeinschaft und implizit der diskursiven Ordnung. Allerdings scheint seine Identifikation sich weniger auf die normative Ordnung der Gemeinschaft als vielmehr auf die Beziehung zu seinem Gott zu zentrieren. Deutlich wird dies an einzelnen Aspekten, wenn Joseph Jesus zwar für seinen Tabubruch tadelt, diesen allerdings nicht sanktioniert. Auch die Anweisung, nicht darüber zu sprechen und damit evtl. darauffolgende Strafen durch die Gemeinschaft zu vermeiden, zählt zu dieser weiten Auslegung der gemeinschaftlichen Gebote. Ferner kann sein zweifacher Aufenthalt im ›unreinen‹ Land dazugezählt werden. Die diskursive Ordnung ist demnach keine statisch-repressive, sondern wirkt eher auf einer normalisierenden und weniger auf einer sanktionierenden Ebene, wenn es um den Einzelnen geht, und lässt diesem Freiraum, der individuell genutzt werden kann. Nicht zu verwechseln ist diese Freiheit mit einer absoluten individuellen Freiheit, denn Joseph kann sich nur innerhalb der vorgesehenen Abschwächungen des Normativen bzw. Normalen bewegen, ein vollkommener Bruch ist zwar möglich, allerdings nicht ohne Konsequenzen. Und 97

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Eine heilsgeschichtliche Logik des Romans sieht auch Michaela Kopp-Marx: »Denn ins Herz reißt ER mir sein Geritz«. Das Gottesbild in Sunrise. Das Buch Joseph. In: Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth, S. 209–236, hier S. 234. Zum Gottesbild in Sunrise siehe auch ebd. sowie Eckart Reinmuth: Der Gott des Entsetzens. Neutestamentliche Stimmlagen in Patrick Roths Sunrise. Das Buch Joseph. In: Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth, S. 189–209.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

gerade dieser Bruch findet im Roman statt und zeigt den Leser*innen, welche Aspekte eine widerständige Selbstpositionierung mit sich bringt. Was bewegt Joseph dazu, gegen die Regeln bzw. Normen zu verstoßen? Und können diese Verstöße als Widerstand bezeichnet werden? Analog zu Roths anderen Protagonisten in der Christus-Trilogie erscheint Joseph hier als ein Außenseiter, der abseits der Gesellschaft seinen individuellen Weg zum Transzendenten gefunden hat. Sein Außenseiterstatus entspringt seiner Gottbezogenheit, die weit über die gesellschaftlichen Normen hinausgeht, deren A-Normalität ihm selbst bewusst ist – er spricht nicht darüber – und die von anderen ihm Nahestehenden nicht geteilt wird. Im weiteren Verlauf wird dieser Status noch verschärft, denn er entsagt jeglichen sozialen Bindungen, verliert seine Freiheit, tötet und reist mit einer Gruppe aus der Gesellschaft ausgeschlossener Räuber. Wichtig zu betonen ist hier, dass diese Entscheidung der Entsozialisierung seine persönliche gewesen ist. Aus der Perspektive anderer ist Josephs Verhalten, auch seine Gottbezogenheit, a-normal, weil sie die Grenzen des Normalisierten übersteigt. Mit seiner Konzentration auf die vermeintliche Kommunikation mit Gott, indem er die schwangere Maria heiratet, den Sklaven entgegen aller Regeln rettet oder mit Jesus zum Opferberg aufbricht, überschreitet er bereits die Grenzen seiner gesellschaftlichen Ordnung. Diese Transgressionen betreffen allerdings eben die Ordnung der Menschen und nicht die göttliche, deswegen folgen textlogikintern auch keine Sanktionen: Joseph hat zwar gegen die Gesetze der Menschen verstoßen, aber nicht gegen die von Gott, so die Argumentation im Roman. Erst als er gegen den Willen Gottes verstößt, nämlich das Kind nicht opfert, wird er laut Text bestraft. Die diskursive Grenze, die Joseph hier übertreten haben muss, scheint eine existenzielle zu sein, denn sie betrifft den Willen Gottes bzw. die diskursstabilisierende Grenze zwischen Transzendentem und Menschlichem. Aber ist die Weigerung, Gottes Willen zu befolgen, die Übertretung einer ontologischen Grenze zwischen Gott und Mensch? In diesem Fall hätte sich Joseph von Gott als transzendenter Macht jenseits des Menschlichen selbst distanzieren müssen. Genau dies geschieht hier nicht, denn Joseph befindet sich immer noch in der diskursiven Ordnung, wenn er das Opfer des Sohnes ablehnt und sein eigenes Leben dafür anbietet. Er bleibt in der binären Opposition verhaftet und sieht sich immer noch als Gott zugehörig. Daher muss diese Weigerung auf einer anderen diskursiven Ebene angesiedelt werden, denn sie betrifft einen Konflikt zwischen verschiedenen Diskursen: der (Religions-)Kultur und dem Familienverbund. Die Bindung Josephs an seinen Sohn ist stärker als die das allgemeine Leben und seine eigenen Ansichten beherrschenden religiös-kulturellen Vorstellungen – die Vater-Sohn-Beziehung wird hier existenziell und anthropologisch aufgeladen und als Widerstandsauslöser dargestellt. Weder die Angst um sein Leben (Sklavenepisode, Flucht und Landhausbrand) noch das gesellschaftliche Abseits (Heirat Marias als bereits schwangere Frau) ha-

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ben Joseph bislang die religiösen Anweisungen ablehnen lassen. Erst die Gefahr für seinen Sohn, und vielleicht auch für seine genealogische Nachfolge – Joseph hat bereits einen Sohn verloren –, lassen ihn sich widersetzen. Aus der Anlage von Josephs Figur heraus kann diese Tat tatsächlich als eine widerständige gelesen werden. Da die Kommunikation für Joseph real ist, sind die Anweisungen und Träume ebenfalls real, und die Weigerung, zu gehorchen und darauffolgend auch nicht zurückzukehren, ist ein radikaler Bruch mit der eigenen gesellschaftlichen Zugehörigkeit. Durch das ursprüngliche Vorhaben des Opfers verletzt Joseph die sozialen Grenzen seiner Gruppe; er durchbricht jedoch nicht die ontologisch-religiöse Grenzziehung, da er, seiner Ansicht nach, Gottes Willen gehorcht. Als er das Opfer schließlich verweigert, ist dies ebenfalls keine Transgression der ontologischen Grenze, sondern die Verweigerung der herrschaftlichen Gewalt über ihn. Die Überschreitung erfolgt demnach auf der Machtebene. In Josephs Handeln zeigt sich, dass diskursive Grenzen, die sich auf mikrospezifische Aspekte der Gesellschaftsordnung beziehen, sowie Machtverhältnisse übertreten werden können, allerdings mit Folgen. Problematisch ist, dass Josephs Weigerung auf einer anderen Ordnungsstruktur beruht, nämlich der der Familie und der Genealogie. In der Opferforderung trifft demnach nicht ›Gott‹ auf den individuellen Menschen, sondern die Dominanz des religiösen Diskurses auf soziale Aspekte, i.e. genealogische, familiäre – und die individuelle Entscheidung liegt in der Priorisierung Josephs. Da diese sich nicht in einem Antagonismus befinden, sondern miteinander verbunden sind, man denke zurück an den Ragebild-Traum, der sowohl vor einem historisch-identitätsstiftenden, genealogischen als auch religiösen Rahmen angesiedelt ist, ist eine Positionierung in dem einen nicht die Negation des anderen. Das zeigt sich deutlich in Josephs Entscheidung: Er priorisiert die Familie, lehnt aber die religiöse Ordnung nicht ab, sondern unterwandert sie, indem er sich selbst als Opfer anbietet. ›Widerstand‹ ist hier demnach diskursextern begründet, aber diskursintern umgesetzt. Joseph überschreitet in seinem Handeln damit niemals die Grundordnung der diskursiven Formation Religion, da er immer das göttliche Primat anerkennt; politisch kann sein Widerstand aus dieser Perspektive nicht bezeichnet werden.99 Er selbst ist sich nur eines Vergehens gegen Gottes Willen bewusst, nicht gegen die gesellschaftliche Ordnung. Relevant ist hier erneut der Verweis darauf, dass die Kommunikation Gottes mit Joseph als Wahrheit nur auf der Rezipient*innenebene wirksam ist, auf der textintern jüdischen befindet er sich in einer Außenseiterfunktion. Das heißt, dass Josephs Verhalten, die Träume als Kommunikation anzunehmen, die Zeichen als Signale von Gott und das Opfer als tatsächliche Anweisung 99

Siehe Schütte, der bei Roth für ein politisches Schreiben argumentiert und dies an der Figur des Johnny Shine vorführt. Vgl. Schütte: »Von der anderen Seite«.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

zu sehen, für die implizite Leserschaft vom Schluss her legitimiert werden: durch die religiöse Erfahrung, die sowohl Joseph als auch Neith und die Frühchristen haben, durch die teleologische Ausrichtung der Geschichte und Gottes Vorhersehung dieser Entwicklung (also: alles musste so kommen), durch die Verwobenheit der Ereignisse miteinander, die auf ein sinngebendes Ganzes deuten, durch die Symbollastigkeit des Textes, der dies ebenfalls anvisiert. Vor allem jedoch ist die Setzung eines qualitativ eigenständigen, religiösen Bereichs eine Prämisse dieses Textes. Die Anerkennung dieser grundsätzlichen und die religiöse Formation bildenden Grenzziehung stellt die Grundvoraussetzung für die Rezeption nicht nur der Schrift von Monoimos, sondern für den Roman an sich dar. In der dazugehörigen textinternen Argumentation fällt die Weigerung Josephs auch gar nicht mehr so radikal aus, denn dass er Jesus nicht opferte, führte gerade dazu, so die nicht ganz implizite teleologische Konstruktion des Romans, dass dieser zu der Person wurde, an die die Christ*innen glauben – Gott hat Josephs Weigerung natürlich vorhergesehen. Eine ähnliche Argumentation wird auch in der Darstellung des ›Christentums‹ zu finden sein, deren Analyse im nächsten Kapitel vorgenommen wird.

IV.3

Das ›Christentum‹: Doktrin vs. Unmittelbarkeit von individueller Erfahrung

Wie die narratologische und die vorausgehende Untersuchung zeigen konnten, visiert die »Schrift« von Monoimos sowohl ein mit dem Christentum vertrautes fiktives wie auch implizites Publikum an, auch wenn der reale Autor selbst dieser Aussage nicht unbedingt zustimmen würde.100 Zudem ist Sunrise erzählerisch dergestalt konzipiert, dass die Erzählung als die von Monoimos verfasste Schrift erscheint, wie ein neues »Testament«, bei dem Monoimos Zeugnis ablegt über Jesus Christus bzw. Joseph von Nazareth.101 Eingebunden ist dieser Bericht, wie in der Darstellung des ›Judentums‹, in einen historischen Kontext und dieselben methodischen Einschränkungen hinsichtlich der Fiktionalität gelten auch hier. Durch die wenigen Hinweise und das Vorgehen der Gemeindemitglieder wird allerdings ein Bild der Wissensproduktion, der Machtbeziehungen sowie der einzelnen individuellen Positionierung gezeichnet. 100 Vgl. Tüpper, Roth: »Das Ästhetische muss zunächst einmal dienen.«, S. 120. Allerdings sind Roths Aussagen bezüglich der Relevanz von Religion in seinen Texten widersprüchlich; vgl. die Aussagen in Günter, Verst, Roth: Patrick Roth erzählt von Schlüsselmomenten, S. 40f. Das Gleiche gilt auch für die Auskunft, dass der Schreibprozess eine »einsame Tätigkeit« darstelle, bei der Rezipient*innen stören würden; im selben Interview (und auch in anderen) wird jedoch explizit darauf verwiesen, dass die ›Veränderung‹ der (impliziten) Leser*innen das eigentliche Ziel darstelle. Tüpper, Roth: »Das Ästhetische muss zunächst einmal dienen.« 101 Ähnlich auch bei Kopp-Marx: »Denn ins Herz reißt ER mir sein Geritz«, S. 211.

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IV.3.1

Das Wissen der urchristlichen Gemeinde – die Wahrheit der Überlieferung

Monoimos und die urchristliche Gemeinde In der Gegenwart der Romanhandlung hat Monoimos die römische Belagerung überlebt und innerhalb kürzester Zeit ein Buch über die Ereignisse verfasst, von denen ihm innerhalb dieser Zeit berichtet wurde. Nach Jerusalem gekommen war Monoimos im Auftrag des Ältesten einer urchristlichen Gemeinde aus Pella, jenseits des Jordans (vgl. S 12). Ursprünglich war er mit weiteren drei jungen Männern (vgl. ebd.) ausgesandt worden, um »mit Leib und Leben [zu] bewahren das Grab des Grabzertrümmerers, des Beherrschers des Todes, unseres Herrn, des auferstandenen Christus« (ebd.). Monoimos und sein Begleiter Balthazar erreichen das Haus von Neith, sie berichtet von Joseph, wobei ihre Erzählung zum Schluss häufiger von den beiden Frühchristen unterbrochen wird, um sich durch Rückfragen der Glaubwürdigkeit ihres Berichts zu versichern. Der letzte Auftritt der Figur Monoimos geschieht am Ende des Romans, als Neith vom visionären Abend-/Hochzeitsmahl berichtet: Da schwiegen Balthazar und Monoimos. Denn sie sahen vor sich das Mahl. Und sahen sich sitzen am Tisch, hatten verharrend-wartend gesehen sich selbst. Jetzt aber waren erfaßt. Und sie waren aufgestanden, beide, noch während sprach Neith Und sie zitterten, da sie hinsahen. Und ausweichend rückwärts stießen hin an die Wand. Und nach langem spricht Monoimos zu ihr: ›Wer bist du?‹ Und Balthazar spricht: ›Wo sind wir mit dir?‹ Da sagt sie und spricht: ›Angekommen.‹ (S 498) Monoimos scheint als Figur im Roman kein Handlungspotenzial zu besitzen. Im Grunde hat er nur Neith zugehört und der Roman endet auch mit ihren Worten »Angekommen«. Ihm widerfährt dieses Ankommen allerdings passiv, nämlich durch Neith. Monoimos hat im Roman nichts intentional getan, die Reise nach Jerusalem war eine Anweisung der Gemeinde; er hat sich auch als Charakter nicht weiterentwickelt. Der einzige Aspekt, den man als eigenmotiviert erkennen könnte, ist die Verfassung einer Schrift, die Neiths Geschichte enthält und von der im Gedicht die Rede ist. Im Roman fungiert Monoimos als ein homodiegetischer Erzähler. Er hat einen persönlichen Hintergrund, der ihn und seine Erzählung einordnet. Monoimos gibt nur auf den ersten Seiten der Geschichte mehrere kurze Selbstaussagen und Selbst-

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

verortungen. Zunächst einmal spricht er, außer im Einstiegsgedicht, sowohl in der ersten Person Plural, also von wir, oder er benutzt die dritte Person Singular, um von sich selbst zu sprechen. Das zitierte Ende des Romans veranschaulicht gerade diesen Aspekt. Die Wir-Form wird ausschließlich zu Beginn benutzt. Fragt man danach, mit wem Monoimos sich identifiziert – wer also »wir« ist –, findet man zwei Zugehörigkeitsaussagen. Direkt zu Beginn grenzt der Wir-Erzähler sich von den belagernden Römern ab: »römische Legionen halten die Stadt umringt […]. Innerhalb der Mauern aber streiten sich die Parteien unserer Verteidiger, istʼs ein Zerfleischen« (S 11). Ein genauer Blick auf die Art der Identitätsbekundung zeigt, dass sie aus einem Antagonismus resultiert: die Römer als Angreifer außerhalb der Stadt und die anderen als die Verteidiger innerhalb. »Unsere Verteidiger« meint daher auch nicht die jüdischen Einheimischen als größte Bevölkerungsgruppe Jerusalems, sondern Nicht-Römer, Nicht-Angreifer. Die Selbstverortung (und gleichzeitig auch Fremdverortung, da Monoimos damit alle positioniert, die er unter »wir« fasst) ist also zeitlich begrenzt und kontextbezogen auf den stattfindenden Angriff und dient ausschließlich der Abgrenzung gegenüber den angreifenden Römern. Sie hat auch keine moralische Wertung, denn die Verteidiger werden im Folgenden aufgrund von Nahrungsmangel als grausam dargestellt. Die nächste Zugehörigkeitsaussage gibt Monoimos direkt im folgenden Kapitel, wo er einen weiteren Antagonismus aufbaut: Jerusalem und die katastrophalen Zustände versus Pella, jenseits des Jordans als Zufluchtsort (vgl. S 12). Hier erfährt man, dass »wir« sich auf eine urchristliche Gemeinde bezieht, die an diesen Ort geflüchtet ist. Der Gemeindebezug, die Gemeinschaft, ist auch die Erklärung, warum der Erzähler-Monoimos von »wir« spricht. Bis zu dem Punkt, an dem Neith mit ihrer Erzählung beginnt, ist die Gruppe im Auftrag der Gemeinde unterwegs. Monoimos als individuelle Person ist nicht relevant, als Erzähler gibt er auch keine Auskunft über sich selbst, wer er ist, wie alt er ist, wo er herkommt, wie er aussieht. Alle individuellen Aspekte, bis auf die Namen, fehlen – und zwar für alle jungen Männer, die den Auftrag erhalten. Die Vorgeschichte des Erzählers wird nicht erwähnt, sondern er nimmt eine Nebenrolle, eine Beobachter-/Berichterstatterrolle ein. Damit gibt die »Wir«-Positionierung des Erzähler-Monoimos allerdings tatsächlich Auskunft über die Verortung innerhalb einer Gruppe, mit der er sich identifiziert, deren Werte, Normen, Inhalte und Anweisungen er teilt bzw. ausführt. Aus der »Wir«-Positionierung als Ausdruck einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit kann man auf das Selbstverständnis dieser Gruppe schließen, und zwar wie der Sprecher, hier Monoimos, sie sieht. Die urchristliche Gemeinde (»Brüder im Herrn«, S 11) ist, wahrscheinlich vor den Römern, nach Pella geflüchtet und lebt dort. Sie wird von einem Ältesten geleitet, der Aufträge an die Mitglieder verteilt. Ferner scheint es in der Gruppe nur Männer zu geben, da die Beauftragten männlich sind und auch von »anderen Brüdern« (S 13) Ratschläge erhalten. Da der Erzäh-

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ler nur Auskunft über die Sachverhalte und Personen gibt, die relevant sind für die Reise nach Jerusalem, bedeutet das Fehlen von Frauen nicht, dass der Gruppe keine beiwohnen. Zu bedenken ist allerdings, dass für den Auftrag keine (möglicherweise vorhandenen) Frauen infrage gekommen sind, erneut wird der Gegensatz männlich/weiblich als Opposition aufgebaut und das ›Weibliche‹ ausgeschlossen. Die Gruppe konstituiert sich über die Zugehörigkeit zum christlichen Glauben. Dies wird nicht explizit benannt, sondern erfolgt über eine referenzielle Verschiebung des Zugehörigkeitspronomens: »Wir/Uns« meint einerseits die Mitglieder der Gemeinde und andererseits die vier entsandten jungen Männer. Die synonyme Verwendung des Pronomens bezogen auf Missionsgruppe und Gesamtgruppe bringt diese beiden in direkte Verbindung und setzt sie miteinander gleich, sie sind qualitativ identisch.102 Für die Personen bedeutet das, dass die Ziele der Gemeinde die Ziele der kleineren Gruppe sind und vice versa. Für die Gemeinde ist kontextbezogen das höchste Ziel die Sicherung des Grabes Jesu. Dass die vier jungen Männer dafür auch »alles zu wagen« (S 11) bereit sein sollen, stellt explizit den religiösen Aspekt in den Lebensmittelpunkt; der Älteste als Sprecher der Gemeinde erwartet die Bereitschaft des Lebensopfers; er fordert das Existenzielle, das eigene Leben ein. Religion wird hier damit als primäres, wenn nicht sogar einziges Gruppenkonstituens etabliert. In der Rekurrenz auf die Gemeinde und durch die referenzielle Verschiebung zeugt auch Monoimos von einer primären Selbstverortung zu einem religiösen Kollektiv. Einen weiteren Hinweis bezüglich dieser Hierarchisierung gibt Monoimos in einem Gespräch mit Neith und Balthazar. Auf die Frage Neiths, was man über Joseph, Jesu Vater wisse, antwortet Monoimos: »Allerdings, Balthazar, mir sagte einer – es war einer von uns, der Galiläer aus Gat-hefer, der uns im Vorjahr besuchte« (S 21). Der Hintergrund dieses Gesprächs ist das bekannte Wissen um das Leben Josephs. Monoimos versucht hier eine andere Meinung einzubringen und beruft sich dabei auf den Mann aus Gat-hefer. Interessant ist dabei die Reihenfolge, die er wählt, um zu sagen, dass die Aussage glaubwürdig ist: zuerst die religiöse Gruppenzugehörigkeit – »einer von uns« – und danach erst die geografische Verortung – »aus Gat-hefer«. Deutlich wird hier, dass die Erstnennung der gemeinsamen Gruppenzugehörigkeit dient, der Identifikation. Dies soll der Aussage Glaubwürdigkeit verleihen, der Bezug auf die Herkunft hat dann wiederum die Funktion der Verifizierung bzw. der Differenzierung: Es ist ein bestimmter Christ, der das gesagt hat, nämlich der aus Gat-hefer – und nicht aus Pella. Unterstützt wird die räumliche Verifizierung durch eine zeitliche, »der uns im Vorjahr besuchte« (ebd.).

102 Vgl. zum Unterschied von numerischer, qualitativer und als Selbstverständnis bezeichneter Identität bei Tim Henning: Personale Identität und personale Identitäten – Ein Problemfeld der Philosophie. In: Identität – Ein Kernthema moderner Psychotherapie – interdisziplinäre Perspektiven. Hrsg. von Hilarion G. Petzold. Wiesbaden: VS 2012, S. 19–38.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

So wird auch hier kollektive Zugehörigkeit über interne Ausgrenzung bzw. Abgrenzung definiert. Allerdings wird dieses Kollektiv sprachlich nicht näher bestimmt bzw. als gegeben und bekannt vorausgesetzt. Monoimos spricht immer wieder vom »Herrn«. Dabei rekurriert er auf das fiktive kollektive christliche Gedächtnis und bezieht die Aussage auf Jesus Christus. Der Erzähler setzt dieses Wissen bei den impliziten Rezipient*innen ebenfalls voraus, er geht von einer Leserschaft aus, die die Aussage »Herr« dem christlichen Kontext zuordnet. Bereits im Einstiegsgedicht, in dem Monoimos seinen Traum schildert, heißt es: »Vor Stunden noch träumte mir: / Eine Schicht, dünn wie / Haut, hebt der Sohn« (S 7). Auch hier ist die Referenz eindeutig, mit Sohn ist Jesus Christus gemeint. Dabei stellen die Wahl des Pronomens und die Implikation des Christentums einerseits eine Selbstverortung des Erzählers als Mitglied einer christlichen Urgemeinde dar; andererseits werden hier gleichzeitig eine fiktive und eine implizite Leserschaft, die mit christlichen Symboliken und Traditionen vertraut ist, vorausgesetzt. Monoimos wird demnach als Erzähler explizit in einen historischen und religiösen Kontext positioniert: als christlicher Erzähler, der sich an ein fiktives christlich-sozialisiertes Umfeld wendet; wobei auch der implizite narrative Rahmen ebenfalls christlich-westlich sozialisierte Lesende affirmiert. Der Begriff »Herr« taucht dabei sowohl im jüdischen als auch hier im christlichen Kontext auf, und für die beiden Männer ist der Wechsel in der Verwendung in der Regel unproblematisch. Andererseits gibt es seitens Neith eine häufige Verifizierung, wenn sie sagt, dass Joseph Vater »eures Herrn« (S 21 u. 22) gewesen ist. Auch wird der Begriff für »Vater« (S 22) oder für Besitzer, Arbeitgeber im Fall Neiths und Josephs von Arimathäa (vgl. S 381) synonym verwendet. In der Regel ist der Gebrauch eindeutig, nur an den Stellen, wenn Neith und die beiden Christen den Begriff verwenden, merkt man, dass dieser in verschiedene Kommunikationskontexte eingebunden ist, denn in diesen Fällen muss eine Klärung vorgenommen werden, wessen »Herr« gemeint ist. Die Identifizierung mit einer Gruppe über den Glaubensbezug führt zur Abgrenzung anderer Gruppen bzw. Identitätsangebote wie dem jüdischen. Die primären Aspekte, die für das Judentum herausgearbeitet wurden, scheinen für die christliche Gruppe nicht zu gelten. So ist weder der Tempel noch das Opfer für sie »heilig«, sie schwimmen einfach durch den Fluss und verfluchen den Schmutz. Ferner kennen sie sich mit der Schrift nicht aus, denn ihnen sind die Psalme, die die Magd und ihr Bruder wiedergeben, nicht bekannt. Auch sind die Themen Abstammung, Tradition, Geschichte nicht relevant. Die beiden Männer haben keine hebräischen Namen – überhaupt gibt es in diesem Text keine Hinweise darauf, dass es Judenchristen sein könnten. Vielmehr scheint die einzige Verbindung zwischen den beiden Gruppen Jesus Christus und dessen Familie zu sein. Die Gemeinde wird somit als nur über die religiöse Sphäre verbunden beschrieben, andere Lebensbe-

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reiche werden nicht beachtet. Deutlich wird dies zudem auch an der Geschichte der Frau von Joseph von Arimathäa. Um sich Jesus Christus anzuschließen, musste die Frau ihre Familie und ihr altes Leben verlassen.103 Der Text vermittelt hier eine absolute Trennung zwischen diesen beiden Bereichen. Die kleine Gruppe, mit der sich Monoimos und Balthazar identifizieren, deren Regeln sie folgen, besteht anscheinend nur aus Männern, grenzt sich von den Juden und den Römern ab, wirkt lokal und ohne eine genealogische Legitimierung. Das Fehlen dieser genealogischen Komponente, die für die jüdische Darstellung evident war, zeigt sich demnach auch in der Gruppenzusammensetzung, bei der die jeweiligen Männer verschiedener Herkunft sind. Viel wichtiger ist jedoch, dass durch die fehlende genealogische Komponente Normen und Wissen nicht auf Tradition und Überlieferung allein durch die Nachkommen zurückgeführt werden können. In dieser Gruppe wird Wissen auf eine andere Weise produziert und diese zeigt sich darin, wie neues Wissen aufgenommen wird. So ist die Lebensgeschichte Josephs, die Neith erzählt, den beiden Christen unbekannt. Für sie gibt es ein überliefertes Wissen und eine andere, abweichende Version: Und Balthazar sprach: ›Auch unsere Brüder in Pella, jenseits des Jordan, woher wir gekommen, wissen von Joseph nur, daß er gestorben sein soll, als unser Herr noch jung bei den Seinen […] lebte. Weiter wüßte ich nichts. […].‹ […] Da antwortete Balthazar: ›Das nehme ich an. Würdig und Frieden, wie sichʼs gehört, wurd er bestattet. Noch zur Seite saß ihm der Sohn am Totenbett, hielt seine Hand bis zum letzten.‹ Monoimos aber sprach: ›Allerdings, Balthazar, mir sagte einer […], und er sagteʼs mir insgeheim, unruhig darüber –, daß jener Joseph nicht wirklich Vater war, nur Ziehvater gewesen sein soll unseren Herrn. Auch wußte er von Nazoräern, daß Joseph nicht friedlich, sondern gewaltsamen Todes gestorben. Angegriffen wurde Joseph des Nachts, als man außerhalb lagerte und alles schlief. Joseph aber habe nicht vermocht sich zu wehren und war noch im Schlaf von wilden Tieren zerrissen.‹ Balthazar antwortete: ›Gehört hab ich das auch – und auch von ihm, dem Bruder aus Gat-hefer, derʼs mir ebenfalls insgeheim, mit großer Unruhe, erzählte, als käme nur mir zu, was er zu flüstern hatte. Nun aber, glaub ichʼs?‹ (S 21f.) Deutlich wird an dieser Stelle, dass innerhalb der Gruppe in Pella eine Version von Josephs Tod und Leben vorherrschend ist. Diese wiederum weicht von einer weiteren ab, die von jemandem aus einem anderen Ort berichtet wurde, und wird als

103 Auch hier sei anzumerken, dass die historisch korrekte Darstellung einer frühchristlichen Gemeinde nicht vordergründig thematisiert zu sein scheint.

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nicht glaubwürdig eingestuft. Zum Zweifel trägt hier neben der fehlenden Gruppenzugehörigkeit auch die geheimnisvolle und unruhige Art, mit der der Bruder aus Gat-hefer die Information vermittelt haben soll, bei. Es scheint ihm bewusst gewesen zu sein, dass er etwas erzählt, was er nicht in der Öffentlichkeit sagen könnte. Der gleiche Zweifel, nur viel stärker, trifft auch Neith. Denn ihre Version, ihre Erzählung wird von den beiden Männern immer wieder angezweifelt und hinterfragt; sie suchen nach Zeugen, die ihre Geschichte bestätigen können (vgl. S 21, 380, 392, 421, 423 u. 447–458). Dabei hinterfragen sie nicht nur Neith als Berichterstatterin, sondern Joseph selbst, ob auch er die Wahrheit erzählte (vgl. S 449). Bevor etwas als Wissen akzeptiert werden kann, muss es demnach bestimmte Kriterien erfüllen, das wird hier deutlich, und diese sind: Zeugenschaft und Glaubwürdigkeit. Monoimos und Balthazar geben dies Neith gegenüber auch zu: »Es ist doch auch für andere: Und da ist es immer besser, sagen zu können: ›Der und der haben es ebenfalls gesehen.‹ Und: ›Viele sind Zeugen. Denn viele haben es mit eigenen Augen gesehen‹« (S 458). Das unbekannte Wissen wird als wichtig für die beiden Urchristen und damit ihre Gruppe geschildert, allerdings muss es auch die Glaubwürdigkeitsparameter erfüllen. Schaut man sich die wiederkehrenden Begrifflichkeiten und ihren Äußerungskontext an, wird deutlich, dass für die dargestellte (fiktive) frühchristliche Ordnung Jesus Christus zentral ist, ebenso sein Grab und seine Vergangenheit. Die Gruppenidentität ist um diesen Punkt herum fixiert, das Wissen um das Grab und seine Erhaltung bekommen einen existenziellen Status, es muss mit dem Leben der Anhänger verteidigt werden, und sie rekurrieren in ihren Aussagen immer wieder auf den Begriff »Herr«. Die Akzeptanz dieses elementaren Ensembles, das verschiedene Gruppen miteinbezieht, deutet auch auf die Darstellung des frühen Christentums als einer Doktringruppe hin. Die Mitglieder haben dabei weniger miteinander gemeinsam, als dies für das Judentum erarbeitet wurde, denn die einzige Gemeinsamkeit liegt in der Person von Jesus Christus. Der Schutz des Grabes unter allen Umständen bezeugt die Bedeutung dieses Kerngedankens. Mit der Logik der Äquivalenz verbinden sich die einzelnen Ortsgruppen zu einem gemeinsamen Kollektiv, das einen spezifischen signifikanten Aspekt akzeptiert. Mit der Logik der Differenz unterscheiden sie sich voneinander durch spezifische Merkmale, bspw. der Existenz verschiedener Gruppen an verschiedenen Orten. Neben dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi als Abgrenzungsknotenpunkt lassen sich andere Grenzziehungen als Ausschlussmechanismen erkennen. So wird eine Grenze gezogen zwischen dem Leben in der Gemeinde und einem möglichen vorherigen Leben, von dem man sich radikal trennen muss. Diese Grenzziehung ist eine absolute, weder wird sie auf Zeit vorgenommen noch unter Einschränkungen, die andere existenzielle Aspekte beinhalten wie die Familie. Die Familie, im Judentum noch als der genealogische Anker dargestellt,

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hat für das frühe Christentum hier keine Bedeutung. Vielmehr wird Familie als Gemeinde verstanden, die Gemeindeangehörigen nennen sich Brüder und werden von einem Ältesten geführt. Die familiären Strukturen sind demnach in ihrer Hierarchisierung und in dem Zusammenhalt durch das Verständnis einer gewissen Verwandtschaft untereinander in den Aufbau der Gemeinde übertragen worden, allerdings mit einer semantischen Verschiebung. Diese Gemeinde als Familie scheint auch keine Frauen zu beinhalten, denn gesprochen und gehandelt wird nur von Männern, obwohl im Text deutlich wird, dass zu Lebzeiten von Jesus Christus sich auch Frauen seiner Gruppe angeschlossen hatten. Die Frage, die sich hier aufdrängt, ist, was es bedeutet, wenn Frauen in diesem Roman auf verschiedenen Ebenen aus der identitätsstiftenden Funktion, im hier dargestellten Juden- und Christentum, ausgeschlossen werden – sei es bezüglich der Stammesgenealogie oder der Gruppenzugehörigkeit. In beiden Fällen stellt man für die ›institutionalisierten‹ Religionen eine eklatante und auffällige, als ›männlich‹ markierte Fokussierung fest. Deutlich wird eine Trennung von Männern und Frauen auch darin, dass Neiths Erzählung nicht anerkannt wird. Wissen ist in dieser Doktringruppe unter Bezug auf akzeptierte Zeugen anerkannt, eine Frau zählt nicht dazu. Die Rückfragen, die die beiden Männer an Neith richten, beziehen sich zudem auf ihren Status als Nichtgemeindemitglied. Hier wird nicht nur die Grenze zwischen dem bezeugten und damit anerkannten Wissen und dem nicht bezeugten Wissen deutlich, sondern auch der Ausschlussmechanismus des Verbots, nämlich, dass diese Zeugen eine bestimmte Subjektposition innehaben müssen, um im Rahmen des Diskurses sprechen und gehört werden zu können. Und Neith als Frau, ehemalige Sklavin und Nichtchristin hat diese Subjektposition nicht, sie befindet sich vielmehr außerhalb des Diskurses und hat damit kein Sprachrecht. Da sie sich dieses Recht nimmt, folgt die ungläubige und ablehnende Haltung der beiden Gemeindemitglieder direkt, die in dem sie prägenden Wissensproduktionsmodus und seinen Praktiken verhaftet sind: Sie verweisen immer wieder darauf, dass Wissen auf eine bestimmte Art und Weise übermittelt werden muss, sie versteifen sich auf den Aspekt der Zeugenschaft und hinterfragen permanent Neiths Aussagen. Auf einen Tabubruch reagieren sie dementsprechend mit einem Schock, als Neith berichtet, dass sie die Halbschwester von Jesus Christus sein müsste, und lehnen dies rundheraus (vgl. S 472) als unwahr ab. Der stärkste Ausschlussmechanismus, den alle anderen unterstützen, ist der des Willens zur Wahrheit. Denn in den Gesprächen der Christen mit Neith geht es primär um die Frage, ob das, was sie erzählt, ›wahr‹ ist. Und die Grenzziehungen dienen gerade dazu, das, was als wahr bestimmt wurde, zu akzeptieren und das Falsche auszuschließen. Die Produktion von Wahrheit, die bestimmte Regeln, nämlich Diskurszugehörigkeit, Zeugenstatus und Subjektposition, beinhaltet, steht ihr nicht zu. Nach den Regeln dieses Diskurses kann das, was sie sagt,

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nicht als Wahrheit anerkannt und zum Wissen werden. Wie auch Joseph, sogar viel mehr als er, ist sie nicht in der Position, im Wahren zu sein, obwohl sie, und das gibt der Text intern zu verstehen, mit ihrem Weg die (übergeordnete) ›Wahrheit‹ sagt. Nach innen sichert sich die Gruppe wiederum durch verschiedene Mechanismen ab: So gibt es eine klare hierarchische Grenze, die einen Ältesten umfasst, eine homogene Gruppe, die sich noch nach Alter organisiert. Es scheint ein kanonisiertes Wissen zu geben, welches nicht verändert werden darf. Die Kommentarfunktion ist auch diesem Diskurs inhärent, merkt man doch, dass Änderungen an den bekannten Erzählungen, vor allem durch Externe, explizit abgelehnt werden. Stärker als in der Darstellung des Judentums ist die Autorenfunktion als »Diskursverknappung« präsent: Der Autor (eines Berichts) ist hier nicht als sprechendes Individuum, sondern »als Prinzip der Gruppierung von Diskursen, als Einheit und Ursprung ihrer Bedeutungen, als Mittelpunkt ihres Zusammenhalts« zu verstehen – dies trifft auch auf Monoimos zu.104 Es ist die Identität des Autors als Zeuge von Ereignissen und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, die diese erst gelten lassen, sie glaubwürdig machen. Genau dies stellt sich für Monoimos und Balthazar als Problem heraus. Denn Neith ist, da sie nicht innerhalb des Systems ist, für die beiden nicht glaubwürdig. Bezogen auf die Autorenfunktion kann man auch erkennen, warum fiktionsintern die Zeugenschaft Neiths auf Monoimos als Autor der »Schrift« übertragen werden muss, sodass er einerseits eine reine testimoniale Funktion als Neiths Sprachrohr übernimmt und sich selbst soweit wie möglich zurückhält; andererseits diskursintern noch als in seiner Zeugenfunktion erkannt wird.

Zeugenschaft und Glaubwürdigkeit – narrative Authentizitätsstrategien Der von Monoimos überlieferte Text soll den Ansprüchen an Authentizität genügen, wie er dies eingangs im Gedicht impliziert hat. Die Authentizität zeigt sich im erzählten Bericht neben der fehlenden Subjektivität durch die Hervorhebung einer wörtlichen Wiedergabe, also einem Zeugnis. Dies ist allerdings allein vor einem narratologischen sowie gedächtnistheoretischen Hintergrund nicht einzuhalten.105 Wie bereits festgestellt, werden von einem Erzähler Erklärungen eingeschoben, die nicht von Neith respektive Joseph stammen können und damit Monoimos zugeordnet werden müssten, dieser wiederum hat angegeben, nicht in die Geschichte eingegriffen zu haben. Aus gedächtnistheoretischer Perspektive spricht

104 Vgl. Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 20. 105 Eine erinnerungstheoretische Arbeit stellt für diesen Text bislang ein Defizit dar. Bezeichnend für Roths Rezeption gibt es bis auf Kruse und Horstkotte keine weitere Arbeit, die Neiths Gedächtnis problematisiert. Vgl. Kruse: »Und erkannte Joseph nicht mehr im Dunkeln«, S. 261 und Horstkotte: Den Tod nicht kosten.

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zudem dagegen, dass Neith sich wörtlich an alles erinnern soll, was geschehen ist. Die Gedächtnisforschung ist sich trotz verschiedener Ansätze einig, dass Erinnerungen retrospektiv von Einzelnen konstruiert werden. Das menschliche Gedächtnis sei kein Speicher, sondern mehr ein Interface: ein »erinnerndes Individuum [operiert] wie ein Interface[], dass [sic] je nach der gegebenen Anforderungssituation ganz unterschiedliche Segmente und Lesarten von […] verfügbaren Erinnerungseinheiten neu organisiert und nach Gebrauch wieder abspeichert.«106 Für die Erinnerung sind damit aber auch nicht die Vergangenheit, sondern der Kontext, in dem erinnert wird, und die Zukunft, auf die diese Erinnerung gerichtet ist, funktional.107 Erinnerungen sind also hochgradig konstruiert, sozial bedingt und von der Anerkennung der sozialen Umwelt abhängig. Die Erinnerung einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt ist beeinflusst von der Situation, in der erinnert wird. Auch sind die meisten Erinnerungen lücken- und fehlerhaft bzw. man vergisst schnell Ereignisse, mit Ausnahme evtl. wichtiger und für das eigene Leben einschneidender Geschehen. Fehlinformationen und Verfälschungen der Erinnerung können bereits beim Ereignis passieren, auch werden Ereignisse später im Gedächtnis selektiert, abstrahiert, interpretiert, in bestimmte andere Aspekte integriert und vor allem als Erinnerung rekonstruiert, wobei fehlende Teile ergänzt werden.108 Übertragen auf Sunrise würde dies – im Kontext einer rationalen Lesart – die Möglichkeit, sich wörtlich an eine Erzählung zu erinnern, die sogar in Abschnitten und im Laufe von Monaten berichtet wurde, ausschließen. Der Text ›benötigt‹ daher auch einen »naiv-affirmativen Leser«109 , der die erzähllogischen Widersprüche und die Unwahrscheinlichkeit einer derartigen Gedächtnisleistung ausblendet. So müssen durch die Rezipient*innen zeitliche Unstimmigkeit vernachlässigt werden: Schaut man auf die erzählte Zeit der Binnenhandlung, so stellt man fest, dass Neiths Zeitangaben unzuverlässig sind. Sie rechnet zurück: Vor 77 Jahren rettete Joseph den Ägypter und vor 40 Jahren traf sie ihn auf dem Markt. Das bedeutet, dass in den dazwischenliegenden 37 Jahren die beschriebenen Ereignisse stattgefunden haben müssen. Berechnet man allerdings die in dem Roman angegebenen Daten, so kommt eine Differenz zustande, die sechs Jahre beträgt. Ist in der Althistorik eine Ungenauigkeit von Jahreszahlen unter zehn nicht unüblich, fällt es in diesem Werk allerdings auf. Schließlich ist es gerade Neith, die Josephs Erzählung terminiert, den Beginn mit »Sieben und Siebzig Jahre bevor das Seil euch zu mir 106 Harald Welzer: Erinnerung und Gedächtnis. Desiderate und Perspektiven. In: Gedächtnis und Erinnerung. Hrsg. von Christian Gudehus, Ariane Eichenberg, dems. Stuttgart, Weimar: Metzler 2010, S. 1–10, hier S. 4. 107 Vgl. ebd., S. 6ff. 108 Vgl. Rüdiger Pohl: Das autobiographische Gedächtnis. In: Gedächtnis und Erinnerung, S. 75–84. 109 Horstkotte: Den Tod nicht kosten, S. 155.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

zog« (S 22) und das Ende mit dem Bau der Grabhöhle, »Lange ist das her, vierzig Jahre nunmehr«. Auch werden zwischendurch Hinweise auf vergangene Jahre gegeben: Der Landhausbrand fand ein halbes Jahr nach Jesu Geburt statt (vgl. S 96), die Pilgerreise nach Jerusalem zwölf Jahre später (vgl. S 125), im Winter desselben Jahres fiel er in die Grube und traf anschließend auf die Räuber (vgl. S 286) – die Zeit mit den Räubern wird nicht länger als ein paar Monate gedauert haben, da sie sich auf der Flucht befanden – sowie schließlich Neiths Aussage, dass Joseph mit Dymas und Gemas 16 Jahre unterwegs war, bis sie die Männer traf. Es bleibt dabei, dass ca. sechs Jahre fehlen, die über Josephs Zeit nach dem verweigerten Opfer und vor der Begegnung mit den Räubern erklärt werden könnten. Allerdings gibt es im Text keine Anzeichen, dass seine Einsamkeit Jahre gedauert hätte, eher wenige Tage bzw. Wochen. Die Erzählerin Neith scheint hier in Bezug auf konkrete Daten unzuverlässig zu sein. Sechs Jahre fehlen allerdings auch in Neiths Angaben zu ihrer Person: Geboren wurde Neith ca. ein halbes Jahr vor Jesus, sie war 15, als sie die Episode in der Höhle erlebte (vgl. S 465), und 16 Jahre später wurde sie mit dem Grabbau beauftragt, also im Alter von 31. Rechnet man noch die 40 Jahre hinzu, die seitdem Vergangen sind, fehlen auch hier sechs Jahre. Denn die Jahresangabe »vor Sieben und Siebzig Jahren« zeigt nicht nur den Beginn der Geschichte Josephs an, sondern auch Neiths: Vor 77 Jahren wurde sie geboren, sie ist also zum Zeitpunkt der Erzählung 76/77. Die Auslassung dieses Zeitraums sowohl in Josephs als auch in Neiths Lebenslauf stößt problematisch auf und wirkt konstruiert – allerdings von wem und wozu: von Neith, das würde sie unzuverlässig erscheinen lassen; von Monoimos, das würde seiner Authentizitätsstrategie zuwiderlaufen oder liegt hier ein erneuter erzähllogischer Bruch vor, der nur über eine verdeckte narrative Instanz erklärt werden kann oder einen Fehler in der realen Textproduktion? Auch in der Erzählzeit der Binnenhandlung lassen sich Unstimmigkeiten finden. Grundsätzlich ist die Frage der Erzählzeit nicht uninteressant, da der Roman eine mündlich wiedergegebene Berichterstattung Neiths, mit einigen Unterbrechungen, assoziiert. Neiths Erzählung vom Leben Josephs umfasst in etwa 350 Seiten, also 70 Prozent des gesamten Romans. Die Sprechzeit des Romans in Form eines Hörbuches entspricht 930 Minuten, also 15,5 Stunden. Während Neith die gesamte Geschichte innerhalb einer Nacht erzählt haben soll, gibt sie an, dass Joseph ihr seine Geschichte in Tagen und Wochen berichtet hatte, und das nicht nur, wenn er müde war, sondern auch beim Tragen der Steine (vgl. S 444). Hätte Joseph ihr nur das erzählt, was sie Monoimos und Balthazar wiedergibt, hätte er dafür einige Stunden gebraucht und nicht die vielen Monate des Grabbaus. Es sei denn, Neith spart Teile der Geschichte und ihrer Gespräche mit Joseph aus, wie sie das an einer Stelle explizit zugibt (vgl. S 460). Man kommt nicht umhin zu sagen, dass Joseph entweder mehr berichtet hat, was Neith verschweigt, anders berichtet hat, was sie auslässt bzw. verkürzt oder aber die narrative Konstellation ›hofft‹

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erneut auf eine naiv-affirmative Leserschaft, die die Kriterien einer mündlichen Kommunikationssituation nicht kritisch hinterfragt. So oder so, Neiths Erzählen, das sie als authentisches und wörtliches charakterisiert hat, wird durch solche Aspekte in Zweifel gezogen und ihre aufgebaute Glaubwürdigkeit hinterfragt. Aus Leser*innenperspektive zeigt sich demnach ein Text, der authentisch zu sein vorgibt, dies aber nicht einhalten kann. Auch wird eine Gedächtnisleistung evoziert, die in dieser Form nicht möglich ist. Aus dieser hier stark vereinfacht dargestellten gedächtnistheoretischen Perspektive kann der Anspruch an eine direkte Wiedergabe nicht eingehalten werden. Zudem verweist Horstkotte darauf, dass die »fragliche Zuverlässigkeit der Evangelienberichte […] im Mittelpunkt schon der vorausgehenden Roth-Romane« gestanden habe.110 Wenn also die ›Testamente‹ in ihrer Mittelbarkeit bereits als solche infrage stehen, dann kann die Rede Neiths keinen privilegierten Status einnehmen, ist sie doch nach denselben Strategien aufgebaut: Anwesenheit, Unmittelbarkeit, Bericht vor Zeugen – das Gleiche gilt auch für die »Schrift« von Monoimos als neuem ›Evangelienbericht‹. Damit führen diese Überlegungen allerdings zu einem direkten erzähllogischen Bruch bzw. Problem, denn die authentische Überlieferung der Erfahrung, die durch Neith vermittelt wurde, soll – und das wird eingangs im Gedicht bereits expliziert – in der »Schrift« als etwas Besonderes, als unmittelbarer Bezug zum Transzendenten weitergegeben werden. Dieses ›Ziel‹ würde jedoch ad absurdum geführt werden, wenn sowohl die Erzählerin, die diese Erfahrung vermittelt, als auch der fiktive Autor Monoimos als unzuverlässig erscheinen bzw. solche Berichte kritisch hinterfragt werden.111 Im Text gibt es demnach eine explizite Diskrepanz zwischen den Erzählinstanzen, ihrem formulierten Anspruch und einer sich dahinter verbergenden, jedoch in den diegetisch deplatzierten Kommentaren 110 111

Ebd., S. 171. Der Begriff der »unreliable narration« wurde von Wayne C. Booth 1961 geprägt. Gemeint ist hier, dass die Werte, Normen und Handlungen des Erzählers nicht mit denen des impliziten Autors übereinstimmen. Unter implizitem Autor versteht Booth eine vermittelnde Instanz zwischen realem Autor und fiktivem Erzähler; der Leser kann sich dabei ein Bild von ihm machen, seinen Werten und Normen. Vgl. hierzu Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction. Chicago: University of Chicago Press 1961. Ansgar Nünning verweist darauf, dass der Begriff des impliziten Autors zu Verwirrung geführt habe, und schlägt eine andere Definition vor: Unreliable narration ist hier ein relationales Phänomen, »bei dem Informationen und Strukturen des Textes und das von Rezipienten an den Text herangetragene Weltwissen und Werte- und Normensystem« eine Diskrepanz aufweisen. Dabei kann es sich sowohl um faktische Unzuverlässigkeit als auch normative Diskrepanz handeln, die anhand verschiedener textueller und kontextueller (außertextueller) Signale erkennbar sind. Ansgar Nünning: Unreliable Narration zur Einführung. Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens. In: Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Hrsg. von dems. Unter Mitarbeit von Carola Surkamp und Bruno Zerweck. Trier: WVT 2 2013, S. 3–40, hier S. 23.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

und den erzähllogischen Brüchen durchscheinenden weiteren narrativen Instanz, die hier als implizite ›Erzählinstanz‹ bezeichnet werden soll – analog zur Ebene der impliziten Leseinstanz, die diese anvisiert. Zudem kann für diese implizite Erzählinstanz ein bestimmtes ›Wertesystem‹ herausgefiltert werden, das religiöse Erfahrung bzw. Neiths Position privilegiert, Josephs Opferverweigerung unterstützt (was man aus den am Ende zusammenlaufenden Fäden und der teleologischen Konstruktion deuten kann) und Monoimos Verschriftlichung affirmiert. Bereits durch die narrative Konstruktion vermittelt der Text seinem Publikum so eine authentisch scheinende Botschaft, die als positive transportiert wird und auf die man sich einlassen soll. Innerhalb der Diegese dienen die Authentifizierungsstrategien, wie bspw. Zeugenschaft oder die Versicherung der wörtlichen Wiedergabe, wiederum zur Absicherung des Diskurses – und zwar sowohl für den christlichen wie auch für den der religiösen Erfahrung, wobei letztere später thematisiert wird. Auch Josephs Erzählung wird nicht geglaubt, vielmehr muss Neith Beweise dafür anführen, dass Josephs Geschichte ebenfalls stimmt. Wie sehr die Verknappung der sprechenden Subjektposition einen Kontrollmechanismus der Doktringruppe darstellt, soll in der anschließenden Machtanalyse gezeigt werden.

IV.3.2

Monoimos und Neith: Herrschaftsstrukturen vs. (scheinbarer) machtfreier Raum

Die Frühchristen als beherrschte Gemeinschaft Innerhalb der Gruppe der Frühchristen stellen sich die Machtbeziehungen auf der Makroebene als herrschaftliche heraus. Sie sind asymmetrischer Natur und folgen einer klar etablierten Hierarchie, die mit dem Ältesten an der Spitze beginnt und bis hinunter zu den jungen Brüdern reicht. Der Älteste hat dabei die Herrschaft inne; er kann Anweisungen erteilen, sogar das Leben seiner ihm unterstellten Gemeindemitglieder einfordern. Diese Machtform ist dabei klar geregelt und explizit ausgeübt. Die Abgrenzung gegenüber anderen, die Fokussierung auf die eigene Gruppe und auf ein Geschlecht homogenisiert die Gruppe, vermeidet Differenzen und damit Komplikationen sowie unerwartete Reaktionen. Die Hierarchisierung und Fixierung der Machtbeziehungen in Verbindung mit der Produktion von Wissen schafft innerhalb dieser Gruppe ein bestimmtes Bild darüber, was als wahr und was als falsch angesehen werden kann und auch, wie das Leben organisiert wird. Im Mittelpunkt dieses Wahrheitsdiskurses stehen die Informationen über das Leben Jesu Christus. Allerdings werden neue Informationen nicht einfach aufgenommen, vielmehr müssen sie bestimmten Kriterien entsprechen sowie von bestimmten Subjektpositionen aus formuliert werden. So haben sie sich einerseits i.w.S. auf Jesus Christus zu beziehen und bestimmte, gemeinsam geteilte Begriffe zu verwenden: Als wahr werden in diesem Kontext nur Aussagen anerkannt, die von einem

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Gruppenmitglied, im besten Fall aus derselben Mikrogruppe, bezeugt und zudem niedergeschrieben wurden sowie nicht den bereits anerkannten Wahrheiten widersprechen. Besonders hervorzuheben ist die Position des sprechenden Subjekts. Nur Mitgliedern der Gemeinde ist die Wissenserweiterung möglich; Fremden wird automatisch der Wahrheitsanspruch verweigert. Explizit vorgeführt wird dies an der Darstellung von Monoimos und Balthazar gegenüber Neith. Das Wissen der Gruppe, dessen Anerkennung auch durch die hierarchische Positionierung beeinflusst wird, unterliegt neben dem Primat der Zeugenschaft dem der Schrift bzw. dem des Wortes. Neues Wissen muss bezeugt, verschriftlicht und für andere übermittelt werden. Das überlieferte Wort steht dabei im Zentrum des Wahrheitsdiskurses. Aussagen, die weder einer anerkannten Subjektposition noch regelkonformen Artikulationen unterliegen, werden nicht aufgenommen. Da die Gruppenmitglieder sich selbst als Familie bzw. Stammesersatz verstehen, ihre Herkunft hinter sich gelassen haben und ihre Identität über den Glauben bilden, scheint die herrschaftliche Machtausübung sich nicht nur auf die Wissensproduktion, sondern auch auf die Positionierung der Subjekte innerhalb der Kleingruppe auszuwirken. Diese radikale Gruppenidentifikation bis hin zur Aufgabe des vorherigen Lebens scheint dabei eine Herrschaftstechnik zu sein, die die Willigen von den Unwilligen abgrenzt, sich die freiwillige Zugehörigkeit der ersten sichert und so innere Konflikte vermeidet. Dies führt dazu, dass die Machtausübung gewaltfrei verläuft, weil sie auf der Akzeptanz der Zugehörigkeitsprämisse und der Gruppenregeln basiert; Konflikte entstünden erst dann, wenn die gesetzten Grenzen überschritten würden. Tatsächlich lässt sich dieser Aspekt in dem Text beobachten, denn hier prallen zwei Wahrheitsdiskurse aufeinander bzw. die christliche Gruppe steht in einer konflikthaften Beziehung zum Wissen, das Neith vermittelt. Die Reaktion der beiden Gemeindemitglieder, vor allem die endgültige Textversion von Monoimos, ist spannend, weil genau hier strategische Machtbeziehungen zum Versuch einer Diskurstransformation führen. Während Monoimos, und stellvertretend seine Gemeinde, Wissen durch die Lektüre bzw. Konsumierung von Inhalten, die den internen Diskursregeln entsprechen, erlangt und neue Aussagen gerade diesen Regeln gehorchen müssen, um ebenfalls zum Wissen zu werden, steht Neith dieser Position konträr gegenüber. Für sie besteht der Zugang zu einer transzendenten Sphäre nicht im intellektuellen Wissen, sondern in der sinnlichen Erfahrung, der »aisthetischen«112 Wahrnehmung. Das Primat des Erfahrens ist im Roman deutlich gesetzt; die beiden

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Seel versteht unter aisthetischem Wahrnehmen das menschliche Wahrnehmungsvermögen überhaupt, das er vom ästhetischen als einer bestimmten Form dessen explizit abgrenzt. Vgl. Martin Seel: Ästhetik und Aisthetik. Über einige Besonderheiten ästhetischer Wahrnehmung. In: Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik. Hrsg. von Birgit Recki, Lambert Wiesing. München: Fink 1997, S. 17–38.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

Christen sollen von dem Leben Josephs durch Neiths Erzählung »erfahren« (S 22). Erfahren ist hier allerdings nicht im Sinne von ›etwas hören, etwas mitbekommen‹ gemeint, sondern als ›selbst etwas am eigenen Leib erfahren‹, also erleben. Neith verweist die Urchristen im Folgenden immer wieder auf diese sinnliche Erfahrung: ›Denn Joseph hatte es so erfahren und mir bezeugt, daß er’s so erfahren. Auf daß ich, Neith, ihm Zeugin sei. Wie auch ihr werdet Zeugen sein, ihr werdet’s erfahren.‹ (S 306)   ›Wissen sollt ihr es. Mehr noch. Ihr sollt es erfahren.‹ (S 380)   ›Sondern, daß der Händler selbst war ergriffen vom Gesehen-Erfahrenen und daß er erzählend auch meinen Herrn hatte berührt, das war Erfahrung.‹ (S 391) ›Und doch wißt ihr’s bereits. Und habt es jetzt auch erfahren. Aber ihr nehmt die Erfahrung nicht an. Buchstabengetreu muß es euch eingeritzt sein. Sonst – glaubt ihr – bleibt nicht zu lesen. Versucht euch also in der Erfahrung, laßt euch ergreifen.‹ (S 392)   ›Und mir war, als er sprechend begann, als ginge ich mit ihm. Als käm ich daher auf der Straße – von Sepphoris nämlich, der Stadt –, sei auf dem Weg heim von der Arbeit, auf dem Weg zurück in mein Dorf Nazaret.‹ (S 446)   ›Versteh uns nur, Neith. Es ist doch auch für andere. Und da ist es immer besser, sagen zu können: ›Der und der haben es ebenfalls gesehen.‹ Und: ›Viele sind Zeugen. Denn viele haben es mit eigenen Augen gesehen! ‹ Und Neith antwortete ihnen: ›Wie kommt das, meint ihr, daß es stets viele sein müssen, die es sagen und es bezeugen? Und nicht etwa nur eine wie ich, die vor euch sitzt, hier und jetzt?‹ Da sprach Balthazar: ›Viele werden auch wiederum viele glauben machen. Denn sie erzählen einig, und einer bestätigt immer den andern.‹ Neith aber antwortete: ›Was für Seelenkrüppel sind das, die von anderen sich bestätigen lassen, was sie – wenn sieʼs erfahren – nur erfahren in der Seele innerster Höhle? Denn wer dorthin nicht gezwungen ist Zuflucht zu nehmen, findet nicht hin. Und wer nicht hinfindet, erfährtʼs nicht. Und werʼs nicht erfährt, dem – und nur dem! – sollen es andere bestätigen! Denn da war es einsam und grausam im Innersten jener Höhle, in der Hand des lebendigen Gottes.‹ (S 458) Wissen ist hier der unmittelbaren Erfahrung nachrangig gesetzt; etwas zu wissen bedeutet nicht, es auch erfahren zu haben. Mit Wissen wird hier aber die Kenntnis

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von als objektiv und als Wahrheit anerkannten Aussagen gemeint. Die Erfahrung scheint eine andere Qualität aufzuweisen. Was also ist hier Erfahrung? Betrachtet man die obigen zitierten Aussagen, so kann man festhalten, dass Erfahrung, so wie Neith sie versteht, ein Weg ist, über das Wissen hinauszukommen. Diese Erfahrung kann nicht durch auf Informationsaufnahme gerichtetes Rezipieren gewonnen werden. Sie muss auch nicht von anderen bestätigt werden. Mit Erfahrung meint Neith eine Rezeptionsform, die, ausgehend von grundlegenden sinnlichen – und damit allen Menschen zugänglichen – Wahrnehmungen, das Erfahrene am eigenen Körper erleben lässt. Die Selbstempfindung findet in der »Seel innerster Höhle« statt, an einem Ort also, der jeder einzelnen Person ganz eigen und existenziell ist, wo man sich »in der Hand des lebendigen Gottes« befindet (S 458). Und dieser Ort ist laut Neith »einsam und grausam, und es graut die Menschen zu sich selbst hinab zu steigen« (ebd.).113 Diejenigen, die diese Erfahrung machen, brauchen laut Neith keine Bestätigung durch Zeugen oder Texte. Und nur diejenigen, die die Erfahrung nicht machen, müssten überzeugt werden und für sie würden die Schriften gelten. Das sei laut Neith allerdings eine vermittelte Version des Inhalts. Für sie ist nur sinnliche Erfahrung unmittelbar, sie ist direkt und stößt in den Kern dieser »Höhle« vor. Es lässt sich also eine eindeutige Hierarchie in der Vermittlung von ›Wahrheit‹ bei Neith feststellen. Während für Monoimos durch die bezeugte und, von einer mit Autorität versehenen Gruppe, anerkannte Verschriftlichung Wahrheit ›institutionell‹ transportiert wird, ist es für Neith die subjektive ›Erfahrung‹. In existenziellen Fragen gibt es für sie daher kein objektives Wissen, sondern nur die subjektive, innere Wahrnehmung, die sich immer auf die eigene Person bezieht. Dabei werden in Sunrise verschiedene Bezugsobjekte von Erfahrung thematisiert. Josephs Erfahrungen, in seinen Träumen, sind religiöser Art, weil er sie als Zeichen/Visionen von Gott versteht; bei Neith ist dies problematischer: Im Gegensatz zu Monoimos (und auch zu Joseph) ist Religion bzw. der Bezug zum Transzendenten für Neith nicht an eine überlieferte Schrift und auch nicht an eine bestimmte institutionalisierte Ausformung gebunden. Sie weist daher immer wieder von sich, dass es sich bei dem angesprochenen »Herrn«, sei es Gott oder Jesus Christus, um »ihren« Herrn handelt. Die ehemalige ägyptische Sklavin ist ohne eindeutige Religionszuordnung, aber nichtsdestotrotz religiös im Sinne von transzendenzbezogen. Dies lässt sich vor allem an ihrem an religiöse Kommunikation anschließenden Wortgebrauch festmachen: Joseph ist der Mensch, »dessentwegen Himmel und Erde geworden sind«, »[a]usersehen war er, das heißt aber: geschaut in Gedanken

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Die für die Rezeption Roths prägende psychoanalytische Lesart mit C.G. Jung setzt dabei an solchen Aussagen an, die auf das Unterbewusstsein verweisen. Vgl. Horstkotte: Den Tod nicht kosten.

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Gottes von Anfang« und »entrückt ins Paradies und sah unaussprechliche Worte« (S 22).114 Zudem ist sie ohne Familie, Kind von Sklaven, sie arbeitet für Joseph von Arimathäa, lernt freiwillig lesen, ist von einer unbekannten Person schwanger (Maria-Analogie) und teilt mit Joseph biografische Erinnerung; sie gebiert in einem visionär anmutenden Ende Zwillinge, die sich familiär in die Ahnenreihe von Joseph einordnen, da sie sich als Jesu Halbschwester wahrnimmt. Damit gehört sie weder zu der jüdischen noch zu der frühchristlichen Position, sondern ist vielmehr zwischen den beiden, auf einer dritten Ebene angesiedelt (womit das trinäre Muster des Gedichts wieder aufgegriffen wird) als diejenige, die beide Positionen in sich vereint, ohne davon vereinnahmt zu werden. Diese drei Positionen sind aber nicht durch ein Nebeneinander, sondern durch einen qualitativen Unterschied gekennzeichnet: Neiths ›Erfahrung‹, und zwar in Bezug auf jegliche große Transzendenzen (Luckmann/Knoblauch), wird vom Text privilegiert, der über Schriftzeugnisse, institutionalisierte und normierte Praktiken (Opfer, Tempel, Gebet, Reinigung) transportierte ›Zugang‹ als sekundär, weil vermittelt dargestellt. Deutlich wird dies an ihrer Interaktion mit Joseph: Für sie war seine Geschichte bis zu einem gewissen Punkt ein reiner Bericht, dem sie zugehört hat. Erst in dem Moment, in dem sie eine persönliche Beziehung zu dem Erzählten ausmachen konnte, war ihr die Rezeption in Form der unmittelbaren, existenziellen Erfahrung möglich (vgl. S 461). In dem Moment, in dem Joseph von etwas sprach, das sie explizit emotional und vor allem existenziell (Feuer, Zugehörigkeit, Geburt) betraf, konnte sie ihre Wahrnehmungsebene erweitern. Für Neith ist die sinnliche Erfahrung der unmittelbarste Zugang zu einem kategorial anderen Wissen, also auch eine bestimmte Form der Wahrheit, die existent ist und über die Erfahrung ›geschaut‹ werden kann. Sie ist in ihrem Zugang allerdings an das jeweilige individuelle Subjekt gebunden und nicht an das religiöse Ritual oder den Kult. Damit kann diese Erfahrung auch nicht durch Menschen beherrscht oder unterdrückt werden – sie erscheint als ein machtfreier Zugang zu existenziellen bzw. transzendenten Aspekten. Bezeichnenderweise wird im Roman der impliziten Leserschaft Neiths Zugang als der privilegierte präsentiert, auch die beiden Glaubensbrüder werden am Ende zu Erfahrenden und bestätigen damit Neiths Position. Wird zwar immer wieder darauf verwiesen, dass die Erfahrung subjektiv, individuell und unvermittelbar ist, scheint sie doch wiederum in gewisser Hinsicht eine intersubjektive Ähnlichkeit zu implizieren, anhand derer man feststellt, dass man eine religiöse

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Vgl. auch die zentralen Stellen, an denen vom »lebendigen Gott« (S 458 u. 497) die Rede ist; eine sowohl im Alten als auch im Neuen Testament verwendete Gottesbezeichnung. Vgl. Christiane Zimmermann: Art. »Gottesbezeichnungen/Gottesnamen (NT)«. In: WiBiLex. www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/ gottesbezeichnungen-gottesnamen-nt/ch/68fa0523176d95e5a7e4bea7534784aa/#h22 (Zugriff: 25.07.2020).

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bzw. transzendente Erfahrung hatte. Im Text wird also die Vorstellung einer religiösen Erfahrung vermittelt, die eine bestimmte Qualität bzw. Substanz oder Essenz (»Höhle, Hand des lebendigen Gottes«) aufweist und als allen Menschen zugänglich daherkommt. Damit können auch Monoimos und Balthasar an dieser ›Erfahrung‹ teilhaben, ja sie sogar wie Neith anderen ermöglichen. Dafür müssten sie aber ihre sozialen, durch die frühchristliche Gruppe bedingten Wahrnehmungs-›Parameter‹ ändern. Denn Monoimos und Balthazar sind in ihre diskursiven und beherrschenden Strukturen eingebunden, sowohl auf der Wissensebene als auch auf der gesellschaftlichen in Form der angedeuteten Inferiorisierung von Neith ob ihres Geschlechts und ihrer ethnischen wie sozialen Herkunft als Ägypterin und Sklavin. Diese Strukturen aufzubrechen, ohne sie verlassen zu müssen, würde die Aufweichung der Ordnung bedeuten, den Einlass diskursfremder Momente, wie die ›Erfahrung‹, die neuen Informationen, die Vermittlung durch eine weibliche ehemalige Sklavin. Welche widerständigen Möglichkeiten sich hier auf individueller Ebene bieten, zeigt sich schließlich in der Umsetzung der »Schrift« durch Monoimos als einer diskursiven Transformation.

IV.3.3

Monoimos – zwischen Gruppenzugehörigkeit und Einzelposition

Monoimos identifiziert sich sowohl auf der übergeordneten Ebene mit Religion als auch vor allem mit dieser Gruppe. Er nimmt, ob intentional ist nicht klar, die vorhandenen Regeln und Hierarchien an, die sich sogar bis auf seinen Körper und sein Leben ausdehnen. Die Gruppenkonstitution, die Ausschlussmechanismen, die Regeln, die Hierarchie erscheinen ihm dabei natürlich und normal, sie sind in ihm selbst verwirklicht, wenn er sich von den Römern abgrenzt, intern von anderen Gemeinden und schließlich sogar sein Leben aufs Spiel setzt. Auch das diskursiv konstruierte und im Kontext von Machtbeziehungen produzierte Wissen ist für Monoimos das gültige wie auch die diskursinterne Konstruktion von Wahrheit. Dabei ist sein gesamtes Leben bestimmt von der religiösen Gemeinschaft, da er mit anderen Glaubensbrüdern zusammenlebt bzw. sich diese Gruppe als Familie identifiziert und so auch eine bestimmte Machtposition über die jeweiligen Mitglieder entsteht, die in der Verwandtschaftsbeziehung als machtvolle verschleiert werden. Bezogen auf die religiöse Sphäre ist Monoimos als Subjekt in seinem Denken, seinen Vorstellungen, seinem Wissen und seinen Wahrheitseinstellungen positioniert. Der Knotenpunkt der Religion ist in diesem Fall zudem stark aufgeladen, da das bisherige Leben aufgegeben werden muss und der Diskurs auf den Körper, auf das Leben zugreift. Er ist zudem explizit an der Wissensproduktion beteiligt, die bestimmten Regeln unterliegt, welche für ihn wiederum normativ sind. In seinem Insistieren auf den Indikatoren, die für ihn Wahrheit signalisieren, offenbart

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

er sich als Objekt von Machtwirkungen, indem er für ihn universell geltende Wahrheiten übernimmt, wie auch Balthazar und Joseph. Monoimos als Individuum ist ferner nicht nur verortetes Subjekt, sondern er identifiziert sich mit dieser Gruppe ganz bewusst und eindeutig. Nach Hall liegt gerade in diesem Wechselverhältnis von Identifikation und Verortung das Potenzial einer agency zum Widerspruch, zum Abweichen innerhalb des dominanten Diskurses. Und zu dieser Abweichung ist Monoimos imstande, die allerdings keinen Bruch mit der Subjektivierung, keine Grenzüberschreitung des positionierten Subjekts darstellt. Vielmehr ist es Monoimos innerhalb seiner Wahrnehmung möglich, eine andere Form von ›Wahrheit‹, die sich von der ihm normal erscheinenden unterscheidet, anzuerkennen. Diese Veränderung wird hier extern durch jemand nicht Gruppenzugehöriges ausgelöst, indem in die Diskussion ein diskursexternes Moment einfließt – die ›Erfahrung‹. Dieses Moment bringt dabei das Neue des Sinnlichen, des Körperlichen zur Geltung und ermöglicht eine bislang ›unbekannte‹ Wahrnehmung, die für das Subjekt diskursiv nicht vorgesehen ist, da sie bereits ausgeschlossen wurde. Konkret: Für die Produktion von Wahrheit gilt ein bestimmtes Verständnis von Wissen, das sich auf Zeugenschaft Vieler, also Legitimation und Objektivität, Zeitlosigkeit sowie auf eine schriftliche Verbreitung und ›geistige‹ Rezeption bezieht. Wissen kann durch die Aussagen (von bestimmten Personen) aufgenommen, gesichert (da es wahr ist), verbreitet (schriftliche Fixierung) und gelesen werden. Was jedoch nicht zum nachprüfbaren Wissen gehört, was aus dem Wahrheitsdiskurs ausgeschlossen wurde, ist die individuelle, körperliche und scheinbar nicht diskursivierte Wahrnehmung bestimmter Ereignisse. Dabei kann man erkennen, wie automatisiert die diskursiven Muster greifen, denen Monoimos und Baltasar unterliegen. Sie beginnen direkt mit der Verifizierung von Neiths Aussagen, um diese an ihren Wahrheitskriterien zu messen. Als dies immer problematischer wird, weil ihre Erzählung unbekannte Inhalte aufweist, beharren sie immer stärker auf der Offenlegung ihrer Quelle und der Bestätigung der Glaubwürdigkeit dieser. Dass dieses Vorgehen für Neith unverständlich ist, leuchtet ein, da sie nicht diesen Wahrheitsmustern unterliegt. Damit sind Monoimos’ Reaktionen im diskursinternen Sinn ›normal‹, genauso wie der Versuch der Konfliktbewältigung durch Unterordnung des neuen Wissens unter eigene Strukturen, was als eine Praktik erscheint, die den Diskurs nicht destabilisieren würde. In diesem Fall würden neue Aspekte an die vorliegenden Strukturen angepasst und so übernommen werden, wobei die Strategie hier misslingt bzw. nicht überzeugen kann. Konsequenterweise müssten die beiden Christen nun Neiths Geschichte aus ihrer diskursiven Position heraus ablehnen. Was im Roman dargestellt wird, ist jedoch gerade das Gegenteil bzw. eine Verschiebung: Monoimos und Balthazar erkennen Neiths »Erfahren« an, nicht, weil es doch letztlich verifizierbar ist und Neith als Zeugin legitimiert wird, hier also bestimmte Diskursregeln bestätigt werden; stattdessen erleben sie die ›Erfahrung‹ selbst (vgl. S 497f.) und werden

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damit zu doppelten Zeugen: der eigenen Erfahrung und der des anderen. Hier findet also kein direkter Bruch bzw. keine explizite Abweichung von stabilisierenden Diskursregeln statt, sondern eine Verschiebung der Vermittlungsinstanz – der Diskurs wird transformiert, weil ihm neues, abweichendes Wissen eingespeist wird. Diese subjektive Komponente, das ›Erfahren‹, ist damit eine grenzverschiebende Überschreitung des Exkludierten, die auch noch individuell akzeptiert wird. Es stellt sich die Frage, wie dieses diskursexterne Element ›Erfahrung‹ beschaffen ist, damit es diese Wirkung haben kann. Die Antwort, die im Text gegeben wird, ist die einer höheren Wahrheit, die mächtiger ist als die Diskursgrenzen. Denn die Erfahrung referiert auf eine der historisch-christlichen Formation übergeordnete Kategorie des Transzendenten; es ist eine Erfahrung vom Transzendenten und des Transzendierens, eine religiöse Erfahrung, die sich direkt auf Religion als Ordnungskategorie bezieht. Den einzelnen Religionsdiskursen vorausgehend, wird hier ein Zugang zu etwas Absolutem, Außeralltäglichem, nämlich dem Transzendenten, evoziert, der als universell formuliert wird, weil er unabhängig von religiöser Gruppenzugehörigkeit (Juden, Christen), Ethnie (Hebräer, Ägypter), Geschlecht (Männer und Frauen) oder einer bestimmten Klasse (Sklaven, Freie, Diener, Reiche und Arme) zugänglich ist, und sich damit auf etwas bezieht, das von dem Menschen Verfügbaren getrennt und diesem nur über die Erfahrung verfügbar gemacht wird, eine transzendente Ebene, kategorisch und ontologisch von einer menschlichen abgegrenzt. Während also Aspekte der jeweiligen einzelnen Religionsdiskurse gruppenspezifisch, durch menschlichen Einfluss erzeugt, sprich kulturell-historisch, sind und sich damit auf verschiedenste religiöse Praktiken, Aussagen etc. beziehen, wird eine Ebene gesetzt, die von dieser getrennt ist, und dem menschlichen Zugriff zwar entzogen ist, jedoch über ›Erfahrung‹ erlebbar gemacht wird. Dabei müssen die Erfahrungen nicht mit einer ›Gotteserfahrung‹ zusammenhängen, sondern können auch außergewöhnlich, über das menschliche Fassungsvermögen hinausgehende Wahrnehmungen sein, in Sunrise als Neiths Todeserfahrungen geschildert – große Transzendenzen in Form von Endlichkeitserlebnissen. Damit wird in Sunrise qualitativ nicht zwischen großen Transzendenzen unterschieden: Josephs explizit religiöse Erfahrungen stehen neben Endlichkeitserfahrungen von Neith sowie ihren Andeutungen religiöser Erfahrung, die sich vor allem in der Romanschlussszene zeigt. Konstituiert sind sie stets durch die Überschreitung einer ontologisch verstandenen Grenze hin auf ein Anderes. Dieses auf die Frage des Religiösen an sich zielende Moment verweist auf die Religion als diskursive Formation und diesen Exklusionsvorgang als ihren identitätsstiftenden Knotenpunkt, der damit das Religiöse markiert. Religionen sind demnach das, was in Form von kulturell-religiösen Praktiken an der transzendenten Sphäre teilhat, da diese sich auf sie beziehen. Von anderen kulturellen Formationen unterscheiden sich diese durch das Postulat einer übergeordneten Ebene des Transzendenten als

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ein dem Menschen Entzogenes – Religion wird hier als eine Kategorie sui generis artikuliert, die in ihrem Bezug auf den vermeintlichen Kern, nämlich das Religiöse, als frei von Machtbeziehungen und rein individuell erfahrbar charakterisiert wird. Dass die Beschreibung und Vermittlung dieser Erfahrung und ihres Inhalts allerdings einer religiös-kulturellen Kommunikation folgt, die das vorprägt, was sie beschreibt, wird im Roman nicht reflektiert, sondern diese ›Erfahrung‹, sowohl in ihrem Inhalt als auch als Vorgang, universal und ahistorisch, etabliert. Das Unbekannte, das mit der Erfahrung in die Welt von Monoimos eindringt, bezieht sich daher auch auf den Prozess des Erfahrens, nicht auf den Erfahrungsinhalt – und erscheint daher auch nicht konfliktbeladen, denn es gefährdet nicht die Stabilität der Religion als diskursiver Formation, die hier evoziert wird, sondern das Konfliktpotenzial bezieht sich ausschließlich auf die diskursinterne kulturelle Ebene.115 Der Konflikt, auf den im Text immer wieder angespielt wird, ist der zu den anerkannten Praktiken und Institutionen – also ein Konflikt herrschaftlicher Natur. Die religiöse ›Erfahrung‹ als anthropologische, existenzielle und ahistorische (wie Todeserfahrung etc.) wird damit als ein (scheinbar) machtfreier Zugang zum Transzendenten vorgestellt, der den kulturellen Ausprägungen vorausgeht: Denn die religiöse Erfahrung ist sowohl einem Text, einer bzw. der Schrift als auch dem Wort an sich vorgängig; ist sprachlich nicht vermittelbar, stets wird der Status des Erfahrens als sinnlich-bildlich beschrieben – auch Monoimos und Balthazar empfinden die Erfahrung in Form einer Vision. Und es ist auch bezeichnend, dass Josephs direkteste Gotteserfahrung ihn das Augenlicht kostet.116 Religiöse Erfahrung ist hier demnach subjektive Transzendenzerfahrung, die körperlich und nicht intellektuell, auf Gefühl und nicht auf Verstand, auf Sinne und nicht auf das Wort bezogen ist. Auffällig ist allerdings auch hier die konstitutive Differenzierung in binäre Oppositionen, die auf religiöse Erfahrung als einen Gegenstand eines eigenen Diskurses verweisen. Dieser Beobachtung soll allerdings erst im nächsten Kapitel nachgegangen werden.

Die Regeln der »Schrift« – Probleme narrativer Instanzen Unbeantwortet geblieben ist bislang die Frage, wie Monoimos mit dieser Transgression in Form der Erfahrung umgeht. Die Situation nach dieser Erfahrung 115

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In der Forschung, und zwar der nicht-theologischen, wurde dieser Einbruch durchweg mit dem Numinosen identifiziert, was hier problematisch erscheint, da man sich mit dieser Zuordnung direkt in die Tradition der substanzialistischen Religionsdefinition begibt, so bei Michaela Kopp-Marx, Georg Langenhorst: Vorwort. In: Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth, S. 7–10; Jochen Hörisch: Die Erlösung der Physis. Die Poetisierung Gottes im Werk von Patrick Roth. In: Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth, S. 11–22, Schütte: »Von der anderen Seite«. Auf die Blick- bzw. Bildanalogie als strukturierendes Merkmal von Sunrise, wie auch von anderen Texten Roths, hat bereits Zwick verwiesen. Vgl. Zwick: »Alles beginnt im Dunkeln«.

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müsste für Monoimos ambivalent sein, denn einerseits haben sich die religiös existenziellen Annahmen bestätigt, er hatte eine Transzendenzerfahrung, andererseits sind die sein Weltbild prägenden Aspekte eben nicht ›im Wahren‹. Für Monoimos müsste sich daher die Frage stellen, wie mit diesem für ihn neu erworbenen und durch die Erfahrung bestätigten Wissen umzugehen bzw. wie es zu vermitteln ist. Der Wille dazu kann dem Anfangsgedicht entnommen werden, jedoch wird die Handlung zwischen dem Erfahrungserlebnis und Abschluss der Verschriftlichung im Text ausgespart. Die Lösung der Vermittlungsfrage stellt, so die These, die Schrift dar, die Monoimos anschließend verfasst. Will Monoimos sowohl seine Gruppe als auch andere, offene (fiktive) Zuhörer*innen ansprechen, muss das Neue mit dem Akzeptierten verbunden werden. Es geht also um eine Diskurstransformation, bei der die diskursfremden Elemente mit den Diskursregeln in Einklang gebracht werden: So gilt es daher, auf kanonisiertes Wissen und auf Wahrheitsmomente zu rekurrieren, Nachprüfbarkeit durch Zeugenschaft herzustellen, wobei die Zeugen in bestimmten Subjektpositionen verortet sein müssen, sowie diskurskonforme Aussagen zu treffen. Durch die Schilderung des Settings und die Wiederholung kanonischen Wissens (von Ereignissen und Personen) wird das Bekannte und Anerkannte als Fundament wirksam. Die Nachprüfbarkeit wird zum einen durch Balthazar als Zeugen und zum anderen durch die Fragen, die Neith beantworten musste, gesichert. Die direkte Verschriftlichung im Anschluss an die Erzählung, also keine zeitliche Distanz, und im (scheinbaren) Wortlaut von Neiths Bericht, also keine inhaltliche Veränderung, rekurrieren auf die Authentizität und Legitimierung der Überlieferung. Die biblisch anmutende Sprache, die in Analogie zu den fiktiven überlieferten und bekannten Texten (die implizit als die Evangelien evoziert werden) steht, sowie die testimoniale Funktion des Schriftverfassers verankern die »Schrift« im diskursiv anerkannten Aussagemodus. Monoimos als Mitglied einer Gemeinde, als opferbereiter Urchrist, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hat und der von einem ähnlich charakterisierten Gruppenmitglied begleitet wurde, hat eine Subjektposition inne, von der er in die Gruppe diskurskonform hineinkommunizieren kann. Neiths fehlende Legitimität wird dabei durch den Bericht der selbsterlebten Erfahrung suspendiert – Monoimos muss sich nicht auf Neith als Zeugin verlassen, er selbst (und mit ihm Balthazar) ist einer. Der zweite Aspekt, der sich in der »Schrift« zeigt, das neue Wissen, soll nicht nur dem Inhalt nach kommuniziert und aufgenommen werden. In diesem Fall hätte Monoimos den Bericht kürzen bzw. einfach referieren können. Als reine Inhaltswiedergabe hätte die »Schrift« jedoch nur die Wissensebene bedient. Dies scheint jedoch nicht der einzige Aspekt zu sein, den Monoimos von Neiths Erzählung zu vermitteln versucht: Monoimos will als Verfasser der »Schrift« den gesamten Erzählvorgang von Neith wortgetreu wiedergeben, zumindest wird diese Illusion erzeugt. Der Redebeginn von Neith und die Unterbrechungen durch Monoimos und

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Balthazar werden grafisch durch die Anführungszeichen gesetzt. Dem Lesepublikum soll immer bewusst sein, wann Neith spricht und wann nicht; es wird damit immer wieder in die Erzählsituation zurückgeholt, d.h. daran erinnert, dass Neith diese Geschichte im Jahr 77 u.Z. erzählt. Hier überkreuzen sich zwei Strategien: Einerseits die Zeitzeugenschaft von Monoimos und Balthazar, die aufgerufen werden muss, um den Text zu legitimieren, andererseits muss die Erzählung so unmittelbar wie möglich gestaltet sein, um die Erfahrungssituation zu evozieren, hierzu dienen die Transgression, die Neith zur scheinbaren Alleinerzählerin macht, sowie die »Elementarisierung des Textes«117 , die dazu führt, dass der narrative Charakter der Erzählung in den Hintergrund tritt. Dieses scheinbare Paradoxon lässt sich jedoch genau aus der Perspektive der Einspeisung eines neuen Wissens, einer Erfahrung in einen andersartigen Kontext auflösen: Die Erzählsituation dient der Regelkonformität und Reproduktion; die Verlagerung auf Neiths Erzählvorgang und die Geschichte, die sich ›selbstständig‹ macht, eröffnen einen Raum der Unmittelbarkeit, der die Erfahrung transportieren und den Rezipient*innen das Erlebnis ermöglichen soll. Dementsprechend deuten die detaillierte Wiedergabe, die deutliche Kenntlichmachung der Erzählerfigur Monoimos und der durchgängige Gebrauch des Präsens auf der intradiegetischen Ebene (Monoimos) und der des Imperfekt auf der metadiegetischen Ebene (Neith) darauf hin, dass die Lesenden sich genau in der gleichen Situation befinden sollen wie der Berichterstatter Monoimos. Durch diese auf den ersten Blick als authentisch und unmittelbar, weil wörtlich wiedergegeben, wirkende Erzählung von Monoimos wird erzähltechnisch die Ausgangssituation simuliert, in der sich Monoimos befunden haben soll. Die Lesenden sollen ihm nun folgen von Pella aus bis nach Jerusalem in Neiths Hütte und dort soll Neiths Geschichte genauso vernommen werden, wie dies Monoimos widerfahren ist. Die Erfahrung soll den Lesenden ›aus erster Hand‹ direkt und unmittelbar präsentiert werden, wobei Widersprüche und Erzähllogikbrüche verschleiert bzw. ausgeblendet werden müssen – nicht ein intellektuelles, kritisches Lesen wird hier evoziert, sondern ein emotional-sinnlich ästhetisches – anders formuliert: Das »Textereignis« steht im Vordergrund und führt zum »Wahrheitsereignis«.118 In diesem Sinn muss zwischen Monoimos und dem Roman eine weitere narrative, implizite Erzählinstanz eingeschoben werden. Die bisher in der gesamten Romananalyse aufgezählten widersprüchlichen Aspekte, erläuternden Kommentare, zeitlichen Diskrepanzen, Ellipsen, anachronistischen Bezüge, die Fokussierung auf eine implizite christlich-sozialisierte, religiös-affirmative Leserschaft sind dieser Instanz zuzusprechen, die hinter Monoimos und der Schrift durchscheint.

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Weidner: Die Gewalt der Schrift, S. 177. Ebd., S. 174.

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Deutlich wird dieser Punkt auch anhand der Gesamtkonzeption des Textes: Der Romanschluss, der bereits zitiert wurde, zeigt, dass Monoimos und Balthazar genau diese besondere, religiöse Erfahrung durchleben und eine Vision haben. Dass dieses Erlebnis das eigentliche Ziel der Erzählung gewesen ist, erscheint rückblickend logisch, da der Roman an dieser Stelle abbricht. Der Rest – nämlich Joseph, sein weiteres Leben und vor allem sein Tod – scheinen nicht mehr berichtenswert zu sein, man weiß nicht einmal, was Neith davon erzählt hat und ob überhaupt, es gibt eine eklatante Ellipse. Im Fokus steht also, bereits im Anfangsgedicht explizit angekündigt und am Schluss vollzogen, die Heranführung an die ›Erfahrung‹ mit ihr als finalem Ziel. Die »Schrift« von Monoimos will nicht primär von Josephs Leben berichten, denn das hätte er auch in anderer, kürzerer Form vornehmen können – und das Ende fehlt –, sondern das Ziel ist, den Leser*innen das gleiche zu vermitteln, das er selbst durchlebt hat: Sie sollen erfahren.119 Dieses Ziel nicht nur der »Schrift«, sondern auch des Romans wird offensichtlich, wenn man die versteckte narrative implizite Instanz hinzuzieht und so die angeführten erzähllogischen Widersprüche problematisiert: anachronistische Anspielungen und Kommentare vor dem Hintergrund eines kulturelles Wissens, das der Homodiegese von Monoimos bzw. Neith widerspricht (Shoah-Anspielung, See Genezareth, Kenotaph, Götternamen); eine schablonenhafte Zeichnung von oppositionellen gesellschaftlichen Gruppen mit der Hervorhebung der Römer als Gewaltherrscher, die keine differenzierte Betrachtung der jeweiligen Gruppierungen erlaubt; die dichotomische Darstellung rational-objektiver, auf überliefertes Wissen pochender männlicher Doktringruppen gegenüber Neith als weiblicher, sinnlich-subjektiver Kontrastfigur mit der präferierten Wahrheit der Erfahrungswahrnehmung120 wie auch einer symbolisch aufgeladenen, teleologisch ausgerichteten Narration auf ein schließendes Zusammentreffen und einer Vision. Die Schwierigkeit, die sich aus der Feststellung einer weiteren Instanz ergibt, ist evident: Der Romantext erscheint durch das Gedicht, das Monoimos’ Kontextualisierung, Legitimation und der Bezeugung von Authentizität dient, und dem folgenden Teil, der eine bestimmte religiöse Erfahrung vermitteln soll, die wiederum durch verschiedene ästhetisch-formale Mittel unterstützt wird, insgesamt als die »Schrift« von Monoimos. Die aufgeführten kritischen Punkte zeigen hingegen, dass dem Text ein impliziter Narrator übergeordnet ist, der sich hinter Monoimos ›tarnt‹ und wie eine Vermischung oder Symbiose aus übergeordneter Erzählinstanz und implizitem Autor daherkommt, weil er hinter der homodiegetischen Erzählerfigur Monoimos verborgen ist. Daraus resultiert jedoch auch die Frage, welcher narrativen Instanz die artifiziell-ästhetische sprachliche Umsetzung, die 119

Vgl. auch ähnlich Horstkotte mit dem Schwerpunkt auf die gnostische Lesart. Horstkotte: Den Tod nicht kosten, S. 175. 120 Zu dieser Opposition vgl. bereits ebd., S. 173f.

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die »Schrift« sein soll, zugeschrieben werden soll: Monoimos oder dem impliziten Narrator-Autor. Schließlich fungiert gerade diese sprachlich-grafische Erfahrungsschilderung, die das Primat der Erfahrung, das den Text auf allen narrativen Ebenen durchzieht, als literarische Vermittlung eines Erfahrungserlebnisses, das sowohl fiktive Lesende von Monoimos »Schrift«, aber auch besonders ein implizites, christlich sozialisiertes und mit dem kulturellen Wissen der impliziten Instanz ausgestattetes Lesepublikum fokussiert. Die Vermittlung der Erfahrung hat dabei das Ziel, ein ähnliches neues Wissen zu erleben, also eine eigene Erfahrung zu machen. Auf dieser impliziten Ebene stehen dem Erfahrungsprimat nicht nur auf der Oberfläche liegende Religionsinstitutionen bzw. institutionell verfasste Religion, sondern darüber hinaus ebenfalls die christlich-westliche, institutionell fixierte, kanonisierte ›Wahrheit‹ gegenüber. Sie wird im Roman als auf Objektivität, Nachprüfbarkeit, Sinnlichkeitsablehnung und Machtbeziehungen basierend gezeigt und deutet damit eine kritische Position gegenüber säkularisierungsdoktrinärer Wahrnehmung von Wirklichkeit an, welche als männliche präsentiert wird. Als Kontrast bzw. Korrektiv wird hier die Erfahrung einer Transzendenz (in Analogie zu menschlich-existenziellen Erlebnissen), die als universal zugänglich geschildert wurde und die eine religiös-offene, spirituelle implizite Leserschaft anvisiert, dargestellt. ›Erfahrung‹ in ihrer gesamten aisthetischen, sich also sowohl auf Endlichkeitserlebnisse als auch die religiöse Form beziehend, soll über ästhetische Erfahrung aufgewertet werden, als eine andere, neue Form der Wahrnehmung von ›Wahrheit‹ – wobei unter ästhetisch auch Unterhaltungsformate subsummiert werden, wie dies bereits eingangs aufgezeigt wurde. Der Roman ist nicht zufällig für seine ästhetische Erscheinung gelobt worden, die auf verschiedenen Ebenen funktioniert. So wird die Teilhabe aller Sinne vor allem in der Darstellung der Träume ersichtlich. Am deutlichsten und sprachgewaltigsten wird dies im Kammertraum (vgl. S 366–371) dargestellt, von dem Joseph erblindet. Wie eine Kamera folgt der Blick der Lesenden Joseph, wie er sich in seinem Traum in einem Nachen wiederfindet, im Wasser rötliche Bahnen sich kreuzen sieht, die in das Meer fließen und aus Blut bestehen. Bildhaft wird vor Augen geführt, wie sich dieses Blut nicht als Flüssigkeit ins Meer ergießt, sondern durch Seile, die es durchtränkt, in ein großes Gefäß zusammenläuft, das Joseph als Urne und Wiege zugleich entziffert: Der kammergleiche Kasten war Urne und Wiege zugleich. War knochenbleich glühend. Mit Füßen darauf, die rotglühten wie Erz. Und die Füße ruhten strängeumwunden, rotseilumschnürt auf dem Kasten. (S 369)

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Besonders die Träume sind hochgradig stilistisch und rhetorisch aufgeladen und gestaltet. Der Blutfluss, den Joseph als den aller Zeit versteht, läuft zusammen in einem Punkt, der Kammer, die symbolisch in der Urne und Wiege für den Anfang und das Ende in einem dargestellt wird. Einem Vergleich (kammergleiche Kasten) und einer contradictio in adiecto (Urne und Wiege zugleich) folgt ein Pleonasmus (knochenbleich) sowie im selben Zusammenhang ein Oxymoron (knochenbleich glühend). Gleichzeitig ist dieses Oxymoron eine rhetorische Epiphora, da nicht wörtlich, sondern metaphorisch wiederholt wird. Ähnlich stilistisch gefüllt ist auch der darauffolgende Satz: »Mit Füßen« und »Und die Füße« ist anaphorisch, »rotglühten wie Erz« ein Vergleich und »strängeumwunden, rotseilumschnürt« nicht nur Neologismen, sondern auch metaphorisch zu den rot glühenden Füßen zu sehen. Und damit ist »Und die Füße ruhten strängeumwunden, rotseilumschnürt auf dem Kasten« eine metaphorische Repititio von »Mit Füßen darauf, die rotglühten wie Erz«, denn im Grunde steht dort doppelt, dass die Füße, die jeweils näher beschrieben werden, sich auf einem Kasten befinden. Die Fülle an rhetorischen Mitteln und die grafische Anordnung in einem epischen Text gibt der Passage eine ›lyrische‹, auf die Stimmung, auf die Gefühle wirkende Konnotation. Diese rhetorisch-stilistisch aufgeladenen Sätze ergänzen die als überwältigend dargestellte Wahrnehmungsbeschreibung von Joseph: Die Lesenden sind durch die interne Fokalisierung auf Josephs sinnliche und kognitive Wahrnehmung ausgerichtet und die stilistische Dichte übermittelt auf sprachlicher Ebene die emotionale Perzeption. Deutlich wird dies daran, dass die zitierte Passage eine Beschreibung dessen ist, was Joseph gesehen hat und was ihn grenzenloses Entsetzen fühlen ließ: »Und es gerät aus den Grenzen sein Entsetzen über das, was er sieht.« Dabei bildet der angeführte Ausschnitt gerade den Beginn der Beschreibung dessen, was dieses Entsetzen auslöst, und wird in ähnlich rhetorischer Dichte fortgeführt, bis Joseph bemerkt, dass da jemand sitzt, »saugt auf und trinkt und schwitzt selbst das Blut und vergießt und trinkt es in Strömen« (S 370). In diesem »Ungeheuer« erkennt Joseph: SEIN Angesicht. Erkennt, daß es Gott ist, der sieht herauf, und Sein Sehen ist, das er sieht. Und sieht Gottes Angesicht und erkennt IHN: gebunden. Gefesselt an Strängen und Seilen und Fäden, die kreuzhin und querhin IHN binden. Als zerrissen IHN, die IHN tränkten und speisten und trauften das Blut durch den gläsernen Kasten. Da: Verzerrt war von Leid, von maßloser Qual, das Angesicht, das heraufsah zu Joseph. Und Joseph entsetzt sich vor IHM, der so leidet. Und es war Joseph unfaßbar dieses Gesicht, das er gesehen. (S 371)

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

Die Erfahrung, die Joseph hier erlebt, lässt ihn bewusstlos werden, das Gesehene entsetzt ihn bis zur Erblindung. In der schriftlichen Vermittlung der Erfahrung wird dabei auf die verschiedenen Möglichkeiten der Sprache zurückgegriffen, sei es stilistisch, optisch durch bestimmte Zeichen- und Satzanordnungen (S 250, Ragebilder-Traum) und die Bildhaftigkeit, klanglich durch die lyrischen Elemente, emotional, verstörend, informativ. Nicht allein die Erzählung einer Geschichte steht im Vordergrund, sondern darüber hinaus die Möglichkeit der Übermittlung von religiös/transzendenter Erfahrung durch Sprache. Denn der Sprache muss sich der Text bedienen, um sowohl Eingang in den fiktiven (und ggf. auch realen) Wissensdiskurs zu finden als auch die Erfahrung als solche für Laien, die dieses Erleben nicht kennen, zu überliefern. Es müssen also die Wissensproduktionsregeln befolgt werden, um überhaupt als sprechendes Subjekt anerkannt werden zu können, sowohl von Monoimos für die fiktiven Leser*innen als auch generell für das implizite Publikum. Relevant ist, dass das geschriebene Wort als solches keine Option darzustellen scheint. Denn man könnte sich auch fragen, warum überhaupt versucht wird, diese Erfahrung weiterzugeben, wenn doch eigentlich nur das unmittelbare eigene Erleben diese Erfahrung vermitteln kann – und auf keinen Fall das gesprochene Wort. Warum es also überhaupt versuchen? Hier greifen die bereits früher geschilderten und im Gedicht dargestellten Gründe für die Verfassung der Schrift. Es scheint, dass gerade diese Form der schriftlichen Vermittlung, also die ästhetische Form, die Evokation von Bildern und Emotionen als Medium der religiösen Erfahrung denkbar ist. Sprache muss demnach, will sie die religiöse Erfahrung vermitteln, eine ästhetische sein und der Text führt dies vor bzw. der reale Autor benennt dies explizit als sein Programm: »Das Ästhetische muss erstmal dienen.«121 Der ›Erfolg‹ kann dann schließlich von den Leser*innen individuell erlebt werden, und gerade weil diese Erfahrung nur im Individuum selbst wirkt, bricht der Roman an der relevanten visionären Stelle ab. Ein neues Wissen bringt der Text auch auf der impliziten Leserschaftebene ein. So wird diese, wie bereits erläutert, als christlich-westlich sozialisierte und damit mit einem bestimmten, auch religiös-kanonischen Wissen ausgestattete anvisiert. Diesem Publikum wird nun das neue Wissen von einer außerhalb des Kanons, des anerkannten Wissens stehenden Wahrnehmungsform vermittelt. Dabei werden die geltenden Diskursregeln aufgegriffen und als Authentifizierungsstrategie eingesetzt: Der Fokus auf Joseph als ›Vater‹ von Jesus wird über ein ›Evangelium‹, das Thomasevangelium, intertextuell eingewoben und in der sprachlichen Gestaltung einer Analogie auf neutestamentliche Evangelien als gleichwertige, alternative Quelle dargestellt, die von Horstkotte als geheimes, gnostisches Wissen inter-

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Tüpper, Roth: »Das Ästhetische muss zunächst einmal dienen.«

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pretiert wurde.122 Im Zuge der Beschreibung religiöser Erfahrung, ihrer affektiven Wahrnehmung durch Träume und Visionen und einer direkten körperlichen Auswirkung, wie Josephs Erblindung, evoziert der Text neben gnostischen auch mystische Elemente. Im Folgenden sollen die textinternen Hinweise zur (christlichen) Mystik und Gnosis abschließend diskutiert werden.

Exkurs: Christliche Mystik und Gnosis Unter dem Begriff Gnosis, γνῶσις, Erkenntnis, Wissen, versteht man die »Kennzeichnung einer Reihe von Denkrichtungen […], die – in unterschiedlichen Mischverhältnissen – als religiös, mythisch oder philosophisch zu klassifizieren sind«. Man lehne sich (mehr oder weniger) an bereits bestehende Vorstellungen von Religionen an, wobei »den gnostischen Richtungen jedoch die Metaerzählung von Ursprung, Abfall und Erlösung des Menschen und der Welt aus einem, von einem und durch ein positives, göttliches Prinzip« gemeinsam sei.123 Die Quellenlage zur Gnosis basiert größtenteils auf spätantiken Texten, die v.a. über die polemischen Verteidigungsschriften gegen die gnostischen Strömungen der Kirchenväter überliefert wurden; der Fund der Nag-Hammadi-Texte 1947 führte zu einer bis in die Gegenwart anhaltenden Aufarbeitung der dort gefundenen, teilweise gnostischen Quellen.124 Gnosis als heterogene Strömung hat sich vom ersten bis zum vierten Jahrhundert u.Z. herausgebildet und ist stark durch jüdische, christliche, iranische und andere regionale Einflüsse und Bearbeitungen gekennzeichnet, die auf verschiedene Weise, häufig als Kompilationen und Vermischungen zusammengesetzt sind bzw. anhand vorhandener Überlieferungen in einen neuen Rahmen gestellt wurden.125 Erkenntnis, weniger im Sinne eines erkenntnistheoretischen Wissens, wird als ein auf Erlösung und Befreiung zielendes Wissen verstanden; Erkenntnis ist religiös gemeint, insoweit sie sich auf das Zusammenspiel von Mensch, Gott und Welt bezieht. Dabei soll dieses Wissen als ›geheim‹, als nur bestimmten Auserwählten zugänglich verstanden worden sein.126 Ferner ist vielen gnostischen Überlieferungen gemeinsam, allgemein formuliert, die Annahme einer höheren Transzendenz, die Göttlichkeit der Seele, eine dualistische Weltsicht als Teilung der Welt (die wiederum eine »Fülle (pleroma)«127 an himmlischen Wesen enthält) in einen geistigen und einen materiellen Bereich durch einen untergeordneten Schöpfer, wobei die Teilung wiederum für das Böse in der Welt verantwortlich ist. Erklärungen für diese (Unfall-)Teilung liefern verschiedene 122 Vgl. Horstkotte: Den Tod nicht kosten. 123 Margreiter: Erfahrung und Mystik, S. 152. 124 Kurt Rudolph: Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 4 2005, S. 30f., 39ff. 125 Vgl. ebd., S. 59f. 126 Vgl. ebd., S. 63f. 127 Ebd., S. 66.

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Kosmologien.128 Im Vordergrund steht so die Erlösung aus diesem grundlegenden dualistischen Zustand, die sich in verschiedenen Soteriologien, bspw. in der Lehre der Himmelfahrt der Seele, niederschlägt.129 Von herausgehobener Bedeutung ist die Selbstermächtigung des Menschen, der in der Lage ist, diese Trennung zu überwinden und die Welt in ihrer Teilung zu erkennen.130 Gerade die Fähigkeit, selbst Einfluss auf die eigene Erkenntnis nehmen zu können, unterscheidet laut Margreiter die Gnosis von christlicher Mystik.131 Der Beginn der christlichen Mystik wurde bereits in der paulinischen und johanneischen Theologie vermutet, wobei hier das individuelle Moment nicht ausgeprägt ist. Die zeitliche Nähe und Wechselwirkungen zwischen christlicher Gnosis und Mystik führen dazu, dass diese häufig als eine Form angesehen werden. Zentral für die christliche Mystik ist die Gotteserfahrung in Jesus Christus und dessen Leidenserfahrung,132 diese »theistische und christozentrische Ausrichtung« sei ein charakteristisches Unterscheidungsmerkmal zu anderen Mystiken.133 Wendel unterscheidet bei der christlichen Mystik zwischen einer affektiven und einer spekulativen Form. Die affektive Form weise »mystische Konzeptionen […] [auf], in deren Zentrum eine besondere Erfahrung steht wie etwa Visionen oder Auditionen«, sie fokussiere vor allem den Aspekt einer personalen Gottheit, der man in einer unmittelbaren Erfahrung (Visionen, Audition und Ekstase; Liebes-, Leidensmystik) begegnet. Die spekulative Ausprägung lehne hingegen diese affektiven Aspekte ab. Zwar würden die Erfahrungen auch hier als »Spüren oder Gewahren«134 beschrieben, allerdings ohne Bezüge auf Visionen und Ähnliches: »Gemeint ist vielmehr ein bildloses, gewissermaßen intellektuelles Schauen und Erfahren Gottes«135 , das in einer ausführlichen Reflexion münde, wobei auch in der affektiven Mystik reflektiert wurde. Die Differenz der beiden Richtungen bestünde im Fehlen der Affekte bei der spekulativen Richtung und der Aufnahme scholastischer Traditionen in diese. In der affektiven Mystik wird dabei die Vereinigung durch »Minne und Passion«, in der spekulativen die »intellektuelle Einung der Seele mit dem göttlichen Grund nicht als Vereinigung, sondern als Einswerdung, als Einung« geschildert.136 Einen weiteren relevanten Aspekt in der christlichen Mystik sieht Wendel in der Verzahnung von Theorie und Praxis der Mystiker. Die zeige sich schon darin, dass »eine 128 129 130 131 132 133 134 135 136

Vgl. Margreiter: Erfahrung und Mystik, S. 152. Vgl. Rudolph: Die Gnosis, S. 67. Vgl. ebd., S. 77f. Margreiter: Erfahrung und Mystik, S. 153. Vgl. Josef Sudbrack: Christliche Mystik – Vorüberlegungen. In: Große Mystiker. Leben und Wirken. Hrsg. von dems., Gerhard Ruhbach. München: C.H. Beck 1984, S. 7–16, hier S. 11. Saskia Wendel: Christliche Mystik. Kevelaer: topos 2 2011, S. 25f. Ebd., S, 26. Ebd., S. 27. Ebd., S. 40.

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spirituelle Praxis« die Selbstreflexion erst auslöse, also Gebet, Liturgie o.ä. Auch sei die Praxis die Folge aus der mystischen Erfahrung, die sich entweder in der Umsetzung des Geschauten zeigt, also Nächstenliebe, oder aber in der Praxis der Mitteilung, die von der Erfahrung berichtet:137 »Mystikerinnen und Mystiker fordern also eine Einheit von Kontemplation, dem mystischen Weg der Erkenntnis, und Praxis, dem Handeln in der Nachfolge dessen, was sie erkannt haben.«138 Zudem haben Mystiker und Mystikerinnen auch immer Kritik an gesellschaftlichen, politischen und kirchlichen Missständen geübt, »mystische Spiritualität und eine politische Praxis auch des Widerstands gegen Unrecht und einer Kritik am status quo stehen nicht gegeneinander, sondern bedingen einander.«139 Die Kritik an den zeitgenössischen Umständen, und zwar als eine radikale, ist auch für die Gnosis herausgestellt worden. Zudem findet sich der mystische Pfad als Stufenform in der christlichen Mystik und hat sein Pendant in der Gnosis, wo es ebenfalls über verschiedene Stufen aufzusteigen gilt, daneben kann noch die Gottesschau angeführt werden; als Unterschiede werden dabei die Einheit mit Gott in der Mystik, die über Erfahrung erlangt werden kann, sowie die fehlenden Kosmologien benannt. Auch wirkt die christliche Mystik mehr als ein innerlicher Vorgang, zudem differieren die Erlösungsvorstellungen.140 Laut Margreiter könne man aber die Gnosis nicht eindeutig von christlicher Mystik abgrenzen, da sie sich in der Entwicklung bedingt haben: So sei »das Weltgefühl der Entfremdung und Defizienz« ein geteilter Ausgangspunkt; gemeinsam ist ihnen auch die Hoffnung auf eine mögliche Rückkehr in Authentizität und Vollkommenheit, die durch ein ›höheres‹, esoterisches Wissen zu erzielen sei. Das aktivistische, voluntaristische Moment der Gnosis ist freilich dem rezeptiven, auf unverdiente ›Gnade‹ ausgerichtete Moment der Mystik entgegengesetzt […].141 Betrachtet man Sunrise unter diesen Prämissen, so kann man mit Horstkotte sagen, dass der Roman eindeutig gnostische Elemente aufgreift und neu kombiniert bzw. interpretiert. Dies zeigt sich sowohl in den intertextuellen Einbezügen des Thomas-Evangeliums, der »kosmologischen Vereinigung des Getrennten«142 als symbolisches Thema und Struktur, am Erkenntnisweg von Joseph, der in die Ablehnung der Opfertheologie (nicht Sühne, sondern Erlösung) und in der »Vollendung der Heilsgeschichte« durch Neiths Gebären der Zwillinge führt. Auch kommt der 137 138 139 140 141

Vgl. ebd., S. 102f. Ebd., S. 107. Ebd.; vgl. auch Margreiter: Erfahrung und Mystik, S. 151. Vgl. McGinn: Mystik des Abendlandes, S. 139–152. Margreiter: Erfahrung und Mystik, S. 154. McGinn sieht eine geringere Beeinflussung, da die Gemeinsamkeiten sich aus den geteilten Quellen ergeben könnten. Vgl. McGinn: Mystik des Abendlandes, S. 141. 142 Horstkotte: Den Tod nicht kosten, S. 158.

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aktive Aspekt hinzu, bei dem laut Horstkotte die »Versöhnung von Mensch und Gott […] nicht von Gott, sondern von Menschen bewirkt«143 wird. Sie interpretiert den Roman als »Geheimoffenbarung in Konkurrenz zur um das Kreuz zentrierten neutestamentlichen Überlieferung«.144 Kritisch betrachtet werden muss hingegen diese von den Aussagen des realen Autors angeleitete und auf den von ihm angegebenen Quellen basierende Interpretation, da nicht klar ist, ob der Erkenntnisprozess sich auf Joseph oder auch auf die Lesenden bezieht. Wer leitet Joseph an und wer weiht ihn ein? So wurden von der Forschung hierzu die Frauenfiguren in Sunrise angeführt, allerdings lösen deren Aussagen keine Veränderung in Josephs Verhalten aus; 145 es ist auch nicht eindeutig nachvollziehbar, von wem Joseph eine aktive »gnostische Einweisung«146 in eine Geheimlehre bekommt. Ferner bleibt auch die Frage offen, wer eine gnostische Erkenntnis hat: Joseph, Neith – schließlich »stiftet sie eine neue, alternative, weibliche Überlieferung«147 – oder Monoimos, oder gar alle? Trotz der offenen Punkte sind die von Horstkotte aufgezeigten, gnostischen Elemente evident. Offen bleibt die Frage, wie sich Mystik und Gnosis in Sunrise zueinander verhalten. Den Hinweis auf die Mystik bietet Horstkotte selbst, wenn sie Neiths Anspruch an Erfahrung als mystischen beschreibt.148 Die Beschreibung der Erfahrung von Neith, wie sie in Sunrise erfolgt und bereits analysiert wurde, kann allerdings schwerlich als mystische gelten. Zwar findet in Josephs Träumen eine Gottesbegegnung statt, ihr fehlen allerdings die vorausgehenden Stufen der Selbstauflösung (bzw. die bekannte Variante der Merkavah-Mystik als Thronschau); der Bezug auf Jesus Christus und seine Leidenserfahrung, zentral für die christliche Mystik, ist dagegen in Analogie, aber auf Joseph als den neuen Leidenden übertragen; die Träume wiederum und das abschließende Hochzeitsmahl können als Vision verstanden werden, da diese gerade nicht von den Menschen selbst herbeigeführt wurden: Joseph widerfahren die Träume, die er als Zeichen Gottes deutet, und auch die Hochzeits-/Abendmahlvision, die auch die Raum- und Zeitdimension auflöst, was dem ›Gnadengeschenk‹ der unio mystica entsprechen könnte, mag in einen mystischen Kontext gestellt werden. Der Widerspruch findet sich wiederum in der Vision für die Frühchristen, denn diese wird von Neith durch ihre Erzählung

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Ebd., S. 174. Ebd., S. 175. Vgl. ebd., S. 163ff. Ebd., S. 164. Horstkotte bezieht sich hierfür auf die Träume, die aber haben Joseph zum Opfer aufgefordert. Schließlich erblindet Joseph nach einem der Träume, die laut Horstkotte zu einer theologischen Neuinterpretation der Opfertheologie führen. Inwiefern sich dies mit der gnostischen Erkenntnis und Josephs Leben als Räuber verbinden lässt, wird nicht ausgeführt. 147 Ebd., S. 174. 148 Vgl. ebd., S. 172.

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herbeigeführt. Auf der anderen Seite ist gerade die symbolische und metaphorische Ausgestaltung der Sprache Ausdruck des mystischen Sprachproblems, dem man durch diese Artistik begegnen wollte. Allerdings ist die Selbstermächtigung, die im gesamten Text durchscheint und auch von Horstkotte hervorgehoben wurde, ein Hinweis eher auf gnostische Einflüsse statt auf mystische Erfahrung.

IV.4

Religion in Sunrise. Das Buch Joseph – eine Synthese

Fasst man die Ergebnisse der Analyse zusammen, die auf bestimmte Themen der rothschen Rezeption verzichtet hat, weil sie von Forschung bereits aufgegriffen wurden,149 so kann man folgende zentrale Aspekte zur Darstellung von Religion festhalten: Mit dem Frühchristentum und dem Judentum werden zwei verschiedene Religionsformen vorgestellt. Ähnlich ist beiden die Gruppenkonstitution durch Abgrenzungsmechanismen nach außen, wobei die Qualität dieser Exklusion verschieden ist: Im Fall des Judentums gibt es eine genealogische und religiöse Komponente in Form der Differenzierung Jude/Heide, für die Gruppe der Frühchristen fällt die genealogische Komponente weg, die Differenzierung bezieht sich ausschließlich auf die Gruppenzugehörigkeit, ist in diesem Fall jedoch bindender, was allerdings nicht problematisiert wird, da diese Gruppe die Rolle der Familie übernimmt. In der Darstellung ist zudem ein eklatanter Mangel an ›weiblicher‹ Teilhabe festgestellt worden, die für diese Gemeinde nonexistent zu sein scheint. Ähnlich ist beiden zudem die strikte Abgrenzung gegenüber den Römern, die als herrschende Militärmacht von beiden Seiten als negativ wahrgenommen werden und im Roman stereotyp als Gewaltherrscher auftauchen bzw. als Gruppe schablonenhaft gezeichnet sind. Neben den Römern sind auch die beiden anderen Gruppen, ›Juden‹ und ›Christen‹, eher schablonenhaft skizziert. Es gibt für keine Figur aus den jeweiligen Gruppen eine Charakterisierung und differenzierte Figurenzeichnung; von Psychologisierung und Charakterentwicklung kann hier keine Rede sein. Vielmehr erfüllen die Figuren i.d.R. bestimmte Rollen auf dem Weg zum literarischen Finale. Als religiöse Ordnungen legitimieren sich beide Formen durch eine ontologische Grenzziehung zwischen Mensch und Gott (binärer Code: transzendent/immanent). Diese ist in beiden Fällen stark aufgeladen und durch verschiedene Prozesse gestärkt. Für das Judentum ist dies besonders in der Trennung heilig und nicht

149 Hier wären bspw. Roths selbst genannte Inspirationsquellen wie die Tiefenpsychologie, die Traumanalyse, amerikanische Filme und biblische Stoffe zu nennen. Vgl. die Sammelbände Der lebendige Mythos und Patrick Roth – Erzähler zwischen Bibel und Hollywood (hrsg. von Georg Langenhorst. Münster: LIT 2005).

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heilig ersichtlich. Das Überlieferungsmedium der Schrift, welches die religiösen Inhalte vermittelt, ist durch diese Opposition als heilig und wahr markiert, kann demnach auch nicht verändert werden. Auch für die christliche Ordnung ist die Trennung Gott/Mensch fundamental, wobei unter Gott Jesus Christus mitgedacht wird. Allerdings scheint diese Trennung noch nicht den stabilen Charakter zu haben, den das Judentum in der Schrift aufweist. Der Prozess der Kanonisierung ist im Roman für die Gruppe noch im Gange, denn neue Informationen werden, wenn man sie als Wahrheit anerkannt hat, in das kulturelle Wissen bzw. kulturelle Gedächtnis aufgenommen und erhalten analog zum Judentum durch die Verschriftlichung einen überzeitlichen und identitätsstiftenden Charakter. Die homogen und geschlossen erscheinenden Gruppen können als Doktrinen (i.S. von Foucault) gelesen werden, die auf bestimmte Weise organisiert sind bzw. ihre Subjekte diskursivieren. Dementsprechend sind die in den religiösen Ordnungen vorherrschenden Machtbeziehungen größtenteils herrschaftlicher Natur, sei es in der etablierten Gott-Mensch-Beziehung, sei es in dem Primat der Buchreligion, die lebensordnend ist. Auch in der christlichen Gemeinde herrschen hierarchisch fixierte Beziehungen vor. Zudem weisen beide religiösen Ordnungen institutionelle bzw. organisierte Formen auf, die sich ebenfalls in einer herrschenden Machtbeziehung auf die Subjekte auswirken. Weitere, auf der Mikroebene wirkende Machtbeziehungen zeigen zudem, dass die Interaktion und Verortung der Subjekte bezogen auf die religiöse Sphäre nicht frei sind, hierarchischen Positionierungen und Inferiorisierung bezogen auf soziale, Geschlechter- und Herkunftsverhältnisse unterliegen. In Sunrise werden demnach in einem historischen Setting religiöse Bewegungen anachronistisch als doktrinäre, homogene, geschlossene, herrschaftsbasierte Blöcke gezeichnet, vor denen sich einzelne Figuren, Menschen in ihrer vermeintlichen Individualität, abheben. Zudem werden diese Blöcke als ›männlich‹ und so mit für Männlichkeitskonstruktionen gültigen Eigenschaften und Zuschreibung beschrieben (vgl. bspw. Rationalismus, Objektivität, Intellektualität, Genealogie, Stammesherkunft).150 Die Figuren im Roman, beispielhaft analysiert an Joseph und Monoimos, zeichnen sich schließlich durch ihre Subjektivierung und als Objekte von Machtbeziehungen aus. Während Monoimos sich insoweit emanzipiert, als er die ausgeschlossene religiöse Erfahrung aufnehmen will und sie positiv umdeutet, bricht Joseph zwar mit der gesellschaftlichen Ordnung, bleibt aber nichtsdestotrotz ebenfalls im religiösen Diskurs verhaftet, da er sich nicht von diesem emanzipiert, sondern ihn sogar mit dem Angebot des Selbstopfers bekräftigt. Auch Monoimos’ Subversion ist aus der Rezipient*innen-Perspektive kein Akt des Widerspruchs, denn auf dieser

150 Vgl. zum Thema Männlichkeitskonstruktionen Michael Meuser: Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster. Wiesbaden: VS 3 2010.

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Beobachtungsebene vermittelt der Roman die Botschaft, dass schriftlich niedergelegtes Wissen hinsichtlich der Mensch-Gott-Beziehung zwar nur sekundär, aber nicht ›falsch‹ ist. Die auf den ersten Blick widerständig wirkenden Handlungsweisen beider Figuren werden zugunsten der Legitimation einer ›höheren Wahrheit‹ nivelliert. Dabei wird vom Text eine Offenheit aufseiten der Rezipient*innen für die Vorstellung dieser ›höheren Wahrheit‹ vorausgesetzt und im Verlauf der Geschichte immer wieder aktualisiert. Diese ›Wahrheit‹ wird wiederum auf einer Ebene verortet, die in der ontologischen Trennung eines Transzendenten (i.S.v. ontologisch Unverfügbaren) vom Menschlichen angesiedelt ist und durch eine bestimmte Form von subjektiver (aber gleichzeitig in ihrer Qualität vergleichbarer) Erfahrung, die gerade körperlich-sinnlich sein muss, für den Menschen verfügbar, erlebbar werden kann. Eine differenzierte Auseinandersetzung oder gar die Infragestellung dieser ontologischen Grenzziehung ist nicht zu finden. Dabei bedient sich die Setzung dieser priorisierten, religiösen Erfahrung ebenfalls einer binären Opposition, bei der eine der beiden Seiten abgewertet wird. Dichotomisiert wird hier zwischen dem unmittelbaren, auf sinnlicher Erfahrung beruhenden Erleben des Religiösen (sowie Existenziellen) und der sprachlichen bzw. schriftlichen Vermittlung, die als nachrangig nicht nur textintern von Neith, sondern auch vom Ende her vom gesamten Text markiert ist. Damit zeigt sich die religiöse Erfahrung allerdings ebenfalls als ein diskursiver Gegenstand, der Logiken der Äquivalenz und Differenz folgt und in seinem Bezug auf Religion Teil der diskursiven Formation ist. Die religiöse Erfahrung wird als weder quantitativ noch qualitativ messbar formuliert, sie ist als absolut subjektiv dargestellt, die jedem, und zwar universal, auf verschiedene Art und Weise widerfahren kann, aber nicht muss und sich vor allem gerade in der einzelnen, subjektiven Empfindung erschöpft. Ihr scheinbarer Universalcharakter impliziert zudem eine ahistorische Form, die sie damit zu einer essenziellen Größe macht, die gerade nicht diskursiv sein könnte, weil sie überzeitlich sei. Gerade diese Historizitätsnegation ist allerdings eine Verschleierungsstrategie des Diskurses. Als zentrale Grenzziehung liegt auch hier die ontologische Trennung zwischen Immanenz und Transzendenz/Unverfügbarkeit zugrunde, wobei letztgenannte von speziellen Diskursen, Kategorien, Zuschreibungen gelöst wird und nur in einer ›reinen‹ Transzendenzform dem menschlich Zugänglichen entgegensteht. Damit erscheint sie hier als eigener, übergeordneter Knotenpunkt, der die einzelnen Diskurse intern vereint. Mit der Abwertung der historisch religiös-kulturellen Formen unter das Erfahrungsprimat wird er zu einer ›Essenz‹, die weder über Schrift, Genealogie, Ethnie noch Geschlecht definiert ist. So muss es auch Neith sein, die als Erfahrungsvermittlerin ins Recht gesetzt wird, da sie im Roman die Position der Minderheit und den Gegenpart zur institutionalisierten ›männlichen‹ Religionsform besetzt: als Frau, als ehemalige Sklavin, als Ägypterin, als Dienerin: »Neiths Erzählung, und mit ihr der Roman,

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stiftet also eine neue, alternative, weibliche Überlieferung«.151 Das ›Weibliche‹ als das ›bessere‹, durch männliche Machtverhältnisse ausgeschlossene ›Andere‹, das anders wahrnimmt, nämlich in Form der unmittelbaren, subjektiven, sinnlichen Erfahrung, wird hier dem ›männlichen‹ Wort bzw. der Schrift entgegengesetzt. Die so konstruierte binäre Opposition greift dabei allerdings auf gängige stereotype Zuschreibungen zurück – das Männliche ist herrschaftsbezogen, rational, objektiv, dominant und starr, das Weibliche als sinnlich, emotional, subjektiv und nicht herrschaftsbestimmt – und versucht in einem ›naiven Twist‹ das ›Weibliche‹ aufzuwerten. Im Ergebnis findet sich allerdings in Sunrise die unreflektierte Übernahme nicht nur von vorhandenen Geschlechterkategorisierungen, sondern von Heteronormativität und Geschlechtskonstruktionen als solchen – ja sie werden durch diese Reproduktion sogar gefestigt. Ferner wird Religion, so die Ausführungen, im Roman ontologisch getrennt von Kultur, wobei schriftliche Überlieferungen, Institutionen, Riten, Praktiken etc. zur religiös-kulturellen Sphäre gezählt werden, weil sie sich zwar auf das Transzendente beziehen, aber doch dem menschlich-konstruierten Bereich zugerechnet werden. Religion im Sinne einer Ordnungskategorie, die den Charakter einer ahistorischen ›Essenz‹ hat und über die religiöse Erfahrung zugänglich ist, erscheint im Roman als ein dem Menschen entzogenes Transzendentes, das frei von kulturellen Mechanismen wie Exklusion, Machtbeziehungen, Inferiorisierung ist. Gerade diese Struktur verschleiert jedoch, dass durch die Artikulation einer Unverfügbarkeit und damit dem Entzug menschlich-negativer Einflüsse, eine positiv-wertende Setzung erfolgt, durch die die Dichotomie transzendent/immanent asymmetrisch und hierarchisch wird. Je direkter der Bezug zur religiösen Sphäre ist, umso höher wird dieser gewertet. Frei von historischen und kulturellen ›Altlasten‹ ist in dieser Argumentation nur die individuelle Beziehung zum Transzendenten/Unverfügbaren bzw. Religiösen in Form der unmittelbaren Erfahrung.   Die hier aus dem Roman rekonstruierten diskursiven Strukturen können dabei in einen direkten Bezug zum (westlichen) Religionsdiskurs gestellt werden. So lässt sich der Text mit seiner Prämisse einer höheren universellen transzendenten ›Wahrheit‹/Essenz in die Tradition des substanzialistischen Religionsansatzes mit dem Bezug auf das Wesen der Religion als dem Numinosen, dem Menschen Entzogenen setzen, wobei er den an Rudolf Otto angelehnten, wieder aufgekommenen Heiligkeits- bzw. Numinositätsdiskurs reproduziert. Im Verständnis Ottos wird das Numinose als »mysterium tremendum« und »mysterium fascinans« erfahren; im mysterium tremendum zeigt sich Gott dem Menschen als das ganz Andere, nicht vernunftmäßig Fassbare, der Mensch erschauert davor, er erfährt das am Zorn

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Horstkotte: Den Tod nicht kosten, S. 174.

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Gottes;152 andererseits zeigt sich das Numinose als »Anziehendes, Bestrickendes, Faszinierendes«.153 Das Heilige hingegen zeige sich in der Versittlichung, der Rationalisierung, also in den Religionen.154 Gerade diese Vorstellung des Transzendenten als dem Numinosen, dem Menschen und seinen Kategorisierungen Entzogenes liegt den substanzialistischen Definitionen zugrunde, die der Roman hier affirmativ aufgreift. Denn bis zum Ende wird Joseph als eine Person präsentiert, die gerade dieses Numinosum erfährt, sich zwar widersetzt, allerdings nicht dieser ›höheren Wahrheit‹, und trotz allem religiös bleibt. Inwiefern man dieses Verhalten Josephs derart charakterisieren kann, dass er das »religiöse Problem der Gegenwart« trage, zumal »stellvertretend für den heutigen Menschen«,155 muss hier angezweifelt werden. Es ist problematisch, Joseph als einen Stellvertreter der westlichen Gesellschaft zu positionieren, da er ein Außenseiter der eigenen Gesellschaft ist, und zwar nicht erst durch seine Verweigerung des Opfers, sondern von der Figurenkonzeption an sich. Außerhalb der Ordnung seiner Gesellschaft steht er durch seine individuelle religiöse Kommunikation, a-sozial wird er durch die Opferung und den vorgetäuschten Tod. Und er versucht vor allem nicht, zurück zur Mitte zu finden, sondern er bleibt a-sozial, seiner Gesellschaft entfremdet, indem er sich den Räubern anschließt. Die Jahre eventueller, möglicher Rückkehrversuche in die Gesellschaft werden jedoch gerade elliptisch ausgespart bzw. bleiben Theorie. Ferner ist die Figur gerade nicht als mehrdimensionaler, psychologisierter Charakter angelegt, der seine Umgebung, seine Annahmen etc. kritisch hinterfragt, sondern nur im Hinblick auf die im Text verhandelte Opfer- und Verweigerungsthematik. Joseph agiert zudem auch nicht als Individuum vor dem Hintergrund einer differenziert dargestellten ›jüdischen‹ Gesellschaft, sondern könnte eher als eine literarisch bearbeitete ›Allegorie‹ auf einen zweifelnden, in seinem Innersten getroffen Menschen verstanden werden.156 Liest man Sunrise dabei nicht in einem religiösen Kontext, dann werden anhand der Figur Josephs vielmehr die Konsequenzen einer extremen bzw. radikalen Einstellung eines gesellschaftlichen Außenseiters durchgespielt, und zwar als Widerstreit zwischen einer noch stark normierenden Subjektivierung und einer individuellen Entscheidung, sich teilweise davon zu lösen. Das Besondere an dieser

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Vgl. Otto: Das Heilige, S. 14ff. Ebd., S. 43. Vgl. ebd., S. 95. Kopp-Marx: »Denn ins Herz reißt ER mir sein Geritz«, S. 211. Auch die Charakterisierung von Joseph durch Kopp-Marx als »mit einem hochdifferenzierten Bewusstsein, einem tiefgründigen Reflexionsvermögen« (ebd.) muss hier angezweifelt werden, da sie zwar auf die Traumerfahrungen zutrifft, jedoch nicht auf die anderen Aspekte: Gesellschaft, Römerbild etc. Zu Joseph als bearbeitete, gestaltete, allegorisierte Figur und damit gerade nicht als differenzierter Charakter vgl. van Laak: Anerkennung, S. 241.

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Figur ist daher nicht die religiöse Grundanlage der träumenden Gotteskommunikation, nicht die Mensch-Gott-Beziehung, sondern die radikale, bis auf die eigene soziale und persönliche Wurzel gehende Umsetzung einer individuellen Entscheidung. Vor dem Hintergrund der Religionsfragestellung der Arbeit bleibt Joseph seinen religiösen Überzeugungen treu, seine Entscheidung wird am Ende als diejenige präsentiert, die getroffen werden musste, damit das Christentum überhaupt entstehen kann, seine Bestimmung hat sich erfüllt. Damit wird allerdings dieser radikale Figurenzug auf der Metaebene nivelliert, um den Anspruch der heilsgeschichtlichen Logik des Romans und die Existenz einer ontologischen Grenze zu stützen. Bezeichnenderweise wird im Text an keiner Stelle diese ontologische Setzung kritisch problematisiert. Vielmehr erscheinen sogar das durchgängige religiöse Involviertsein aller Figuren und die allen zugängliche religiöse Erfahrung als eine anthropologische Konstante, wobei es verfehlt wäre, Roths Roman als reaktionär oder als Religionsprosa zu bezeichnen. Im Vordergrund steht in Sunrise der Mensch und sein Zugang zu einer ›Wahrheit‹, zu einer Erfahrung, die sich existenziell auf sein eigenes Leben auswirkt; nicht gesellschaftliche Verhältnisse sind hier das Thema, sondern die Auslotung transzendenter Erfahrung im Inneren des Menschen, die auf das Religiöse zielt.157 Mit dieser Ausrichtung muss der Roman dabei im Kontext des Diskurses der religiösen Erfahrung verortet werden. Ruft man sich die Erläuterungen, die eingangs zu Spiritualität und religiöser Erfahrung ausgeführt wurden, an dieser Stelle in Erinnerung, lassen sich viele Parallelen finden. Wie für den Spiritualitätsdiskurs und den der religiösen Erfahrungen gibt es hier eine explizite Abgrenzung gegenüber der institutionellen Religion, einerseits bei Joseph in seiner erfahrungsbasierten Kommunikation mit Gott, anderseits bei dem Primat der Erfahrung, das an Neiths Figur durchgespielt wird. Der individuelle, subjektive, alle Sinne erfassende Zugang zum Religiösen wird in diesem Roman favorisiert, wie auch in den beiden Diskursformen. Wie dort wird hier das subjektive Erleben gegenüber den von ›Experten‹ überlieferten Texten und ihrem Wissen aufgewertet, damit religiöse Erfahrungen, die auch für den Spiritualitätsdiskurs zentral sind, priorisiert und von einer kanonischen Festlegung befreit; denn religiöse Erfahrungen macht man nicht nur von dem im Kanon Erlaubten, sondern die Erfahrungen können auch gerade diesem widersprechen und neues Wissen bzw. neues Erleben zutage fördern, wie hier bei Joseph und Monoimos vorgeführt. Dabei scheint Sunrise eher den Diskurs der religiösen Erfahrung zu spiegeln als den der Spiritualität. Während an der Darstellung der Figur Josephs und seines Konflikts der Bezug auf den Diskurs des Heiligen bzw. des Numinosen ersichtlich wurde, kann die Darstellung der religiösen Erfahrung in die Diskussion um die 157

Zur Erfahrung bei Roth vgl. auch Schütte: »Von der anderen Seite«; van Laak: Jenseits der Lesbarkeit.

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Transzendenzerfahrung bei Luckmann bzw. Knoblauch eingebettet werden. Wie bereits erläutert, unterscheidet er verschiedene Formen von Transzendenzen bzw. vom Transzendieren, wobei die großen den religiösen entsprechen, aber nicht unbedingt religiös sein müssen, so Erfahrung des Rauschs oder Todeserfahrungen. Gerade dieser zweite Aspekt, nämlich die Erfahrung des Todes, widerfährt Neith; es ist der Moment, in dem Josephs Erzählung sie individuell und existenziell berührt, sich damit für sie ›bewahrheitet‹ und ihre Wahrnehmung transzendiert, was dann auch ihr Argument für die Urchristen ist. Zwei Male hat sie dem Tod gegenübergestanden, als Säugling im Feuer und als Sklavin in der Höhle, und in beiden Erzählmomenten erkennt sie sich wieder und ›erfährt‹ durch dieses individuelle Involviertsein, das Transzendieren, die ›Wahrheit‹ von Josephs Geschichte. Sie macht demnach eine große Erfahrung, die sich durch ihre Verbindung mit Joseph in eine religiöse transformiert.158 Dass sie ihre eigene Erfahrung auch als religiöse, und zwar abseits des Religionsverständnisses der Urchristen, ansieht, zeigt sich in der Kommunikation mit Monoimos und Balthazar, die den »lebendigen Gott« suchen sollen, sowie die Einbindung Neiths in das visionäre Romanende. Der Roman partizipiert damit am Diskurs der religiösen Erfahrung, der die Erfahrung des Religiösen sowohl als Transzendenzerfahrung von anderen Transzendenzerfahrungen unterscheidet als auch auf die Erfahrung des Transzendierens verweist und ihr eine eigene Sphäre zuordnet. Diese religiöse/transzendente Erfahrung wird dabei als universal charakterisiert, die auf diejenigen, denen sie widerfährt, eine lebensverändernde Wirkung ausübt, die wiederum nicht immer als positive verstanden werden muss, was man an Josephs Erblindung erkennen kann. Es gibt allerdings keinen privilegierten Ort, der einem den Zugang zur Erfahrung erleichtert. Jeder Mensch, sei es ein in die jüdischen Traditionen eingebundener Joseph, zwei Urchristen oder eine nicht explizit traditionell-religiöse, aber spirituelle Neith machen diese auf ihre eigene Art und Weise und sie betrifft sie ganz individuell. Damit wird hier auch für die religiöse Erfahrung eine universelle und egalitäre Struktur evoziert, die alle mit Machtbeziehungen und Hierarchisierungen besetzten Konflikte negiert. Dieser universell-anthropologische Charakter der religiösen Erfahrung großer Transzendenzen bzw. des Transzendierens wird bei Knoblauch über theistische Konzepte hinaus gedacht, um Spiritualität zu beschreiben, die wiederum vor allem auf religiöser Erfahrung basiert. Neben der Transzendenzerfahrung bei Luckmann und Knoblauch muss die Darstellung der religiösen Erfahrung, in dieser institutionsskeptischen und subjektivistischen Form, zudem explizit in die Tradition von William James gestellt werden, der genau die im Roman sich zeigenden Charakteristika bereits zu Beginn 158

Bezeichnenderweise ist die alttestamentarische Konversionsgeschichte von Joseph und Aseneith, Neiths Namenspatin, genauso angelegt. Hier konvertiert die ägyptische Prinzessin zum Judentum und heiratet den Träumer-Joseph, auf den der Roman ebenfalls anspielt.

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des 20. Jahrhunderts für die religiöse Erfahrung herausgestellt hatte,159 und deren diskursive Struktur bzw. ›Erfindung‹ Nehring in der Moderne ansiedelt160 – damit reproduziert Sunrise einen Diskurs des beginnenden 20. Jahrhunderts, ohne dies kritisch zu hinterfragen. Der Roman partizipiert demnach interdiskursiv an verschiedenen Diskursen, wobei er die einen reproduziert, andere transformiert und diese Prozesse in die Gegenwartsliteratur transportiert, wo sie vor dem Hintergrund von Tradition, Zugehörigkeit, Identitätsstiftung, Herrschafts- und Machtbeziehungen, aber auch ›Widerstand‹ diskutiert werden. Sunrise problematisiert allerdings nicht den dargestellten anthropologisch-universellen Charakter des Religiösen, sondern proklamiert diesen gerade als ›höhere Wahrheit‹. Nicht Religion als diskursive Formation steht in diesem Roman zur Disposition, sondern die traditionellen bzw. institutionellen Religionsdiskurse und über sie hinausgehend der Rationalitätsdiskurs; die Setzung einer eigenständigen, separaten religiösen Sphäre der Transzendenz/Unverfügbarkeit (gegenüber der Immanenz) wird hingegen nicht hinterfragt, weder in der Darstellung des Judentums noch in der der Urchristen oder Neiths. Damit reproduziert der Roman affirmativ die Wahrnehmung der Wirklichkeit als einer, in der das Religiöse eine eigene Sphäre, einen eigenen Seinsbereich hat, der über das Kulturelle hinausreicht und davon getrennt verstanden wird. Kritisiert wird hingegen die gesellschaftsordnende Funktion von institutionell verfassten Religionen, die über Inhalte, Wahrheiten, Überlieferung und Machtbeziehungen Subjekte in ihrem Zugang zu den existenziellen Fragen und dem Religiösen einschränken und sogar inferiorisieren (siehe Neith). Demgegenüber wird die religiöse Erfahrung als in jedem menschlichen Bereich auffindbar, sogar im ›Profansten‹, geschildert. Die religiös-kulturellen, normativen Setzungen religiöser Gegenstände werden in Sunrise einer Umdeutung und Verschmelzung unterzogen, deren Ergebnis eine Vermischung der ehemals als getrennt verstandenen Bereiche ist. Dieses Vorgehen der Aneignung eines negativ aufgeladenen symbolischen Begriffs (profan, auch im Sinne von trivial, unterhaltend und massentauglich) und dessen Umdeutung in einen positiven ist eine von mehreren »Transcodierungsstrategien«, die Stuart Hall vor allem in Bezug auf die Umkehrung und Umdeutung von alltagsrassistischen Stereotypen in den dominanten Repräsentationsregimes entwickelt hat und die er als politische Widerstandsstrategie versteht.161 In diesem Kontext kann die Transcodierungsstrategie als von der Inferiorisierung durch Stereotypisierung abgelöst und als ›Widerstandsstrategie‹ betrachtet werden, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass Bedeutungsverschiebungen vorgenommen werden. Das dominante Regime ist in Sunrise dabei die rational-objektive Wissensgesellschaft, die sich neuen

159 Vgl. James: Religiöse Erfahrung. 160 Vgl. Nehring: Die Erfindung der religiösen Erfahrung. 161 Hall: Das Spektakel des ›Anderen‹, S. 158–165.

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Wissensformen verschlossen, diese ausgegrenzt und als ihr Anderes konstruiert hat; dieser steht die subjektiv-sinnliche Wahrnehmung der Wirklichkeit als Opposition gegenüber. Durch die Bedeutungsverschiebung, die sich vor allem aus dem Einsatz literarisch-formaler und erzähltechnischer Mittel ergibt, wird der dominante Diskurs unterlaufen und ihm die als wahr und unmittelbar verstandene Erfahrungsform als mögliche Alternative eingespeist. Neben der »positiv/negativ-Strategie«, die sich laut Hall auf den Inhalt richtet, kann die Darstellung der Erfahrung auf formaler Ebene auch als eine Gegenstrategie von innen heraus gesehen werden. Gerade indem der Text sich der Form bedient, die ausgeschlossen wurde, und diese so durch den Wahrheitsanspruch positiv deutet, versucht er von innen, aus der diskursinternen Positionen heraus und in die Diskursregeln eingebunden, die Form zu verändern. In ihrer gnostischen Deutung des Romans spricht Horstkotte hier von einer »Konkurrenz«-Schrift, die der Roman hinsichtlich der kirchlichen Überlieferung darstellen soll.162 Dabei werden in der intertextuellen Gestaltung und den unterhaltungswirksamen Einbezügen in Sunrise die Grenzen zwischen dem Religiösen und Profanen verwischt, alles kann, bezogen auf das individuelle Erlebnis und dessen Auswirkung auf das eigenen Selbst, zu einer religiösen Erfahrung führen.163 Die kulturell-historische Trennung von Hoch- und Trivialbereich wird hier suspendiert.164 Vielmehr kann aus einer profanen Konstellation heraus eine transzendente Erfahrung gemacht werden – und eine Einbindung in eine Religionsgruppe oder das Rezitieren von als heilig angesehenen Schriften führen nicht eine solche herbei. Was hier aufgehoben wird, ist nicht die ontologische Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz, sondern die als kulturell-historisch verstandene zwischen sakral und profan, die Transzendenz, die ›Wahrheit‹, bleibt bestehen. Diese Aufhebung wird auch in der formalen Umsetzung evident, die aus den verschiedensten Elementen des kulturell-westlichen Archivs besteht: Bibelrezeption, Filmanleihen, Literatur, actionreich gestaltete Szenen, griechische Mythologie, Western sowie in der ästhetischen Gestaltung, in der alle Themen des Romans, von den göttlichen Träumen bis hin zu den profanen ›Action‹-Begebenheiten wie der Reise nach Jerusalem oder der Rettung des Ägypters, in einer rhetorisch aufgeladenen, biblisch anmutenden, bilderreichen Sprache präsentiert werden. Horstkotte hat diese bricolageartige Verarbeitung (allerdings dort nur für kanonische christliche Texte und deren Umdeutung durch gnostische Einflüsse) vor allem auf die Rezeption gnostischer Vorbilder zurückgeführt und den Roman in 162 163

Horstkotte: Den Tod nicht kosten, S. 175. Dieser Aspekt findet sich explizit in: Patrick Roth: Mulholland Drive. Magdalena am Grab. In: Ins Tal der Schatten, S.77–111. 164 Vgl. Michaela Kopp-Marx: Das Heilig-Hohe und das Erdig-Irdische. Versuch über das Schreiben Patrick Roths. In: Suche nach dem Unbedingten. Spirituelle Spuren in der Kunst. Hrsg. von Wolfgang W. Müller. Zürich: TVZ 2008, S. 137–165.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

den Kontext einer neognostischen Bewegung eingeordnet, wo dieser an der »gegenwärtigen Transformation des Religiösen hin zu einer neuen Spiritualität« teilnimmt.165 Zum einen evozieren Horstkottes Ausführungen in Verbindung mit der narratologischen Analyse das Bild einer christlich orientierten Gnosis, und damit eine christliche Spiritualität, auf die sich Sunrise beziehen soll. Zum anderen führt Horstkotte aus, dass die Rezeption der Gnosis sich u.a. in der Anlage des fiktiven Textes, wie auch des Romantextes als solchem, als eine Geheimlehre mit einem exklusiven Zugang zeigt.166 Ihre Argumentation eines geheimen Wissens basiert dabei auf der Annahme einer gnostischen Rezeption sowie der von C.G. Jung und dessen Gnosisauseinandersetzung. Dabei kann die Argumentation, die sie aufzeigt, am Text nicht nachgewiesen werden: So heißt es, dass Joseph von zwei Frauen in ein neues Wissen eingewiesen wird,167 das dann später zu einer alternativen Offenbarung in Form von Neiths Erzählung wird,168 zu der ihr wiederum Joseph verholfen hat, womit die Tradierungslinie der weiblichen Überlieferung unterbrochen und Neith doch nicht die Stifterin wäre. Wie Neith wiederum zum geheimen Wissen, außer durch Joseph, gekommen sein kann, wird in der Argumentation ausgeblendet. Besonders gegen Horstkottes Geheimwissen-These spricht jedoch, dass nicht ersichtlich wird, anhand welcher Textstelle der Exklusivitätscharakter des geheimen Wissens, abseits paratextueller Hinweise,169 nachgewiesen werden kann. Horstkotte konzentriert sich auf eine Aussage von Neith, bei der sie die Urchristen für ihr Beharren auf die Zeugenschaft Vieler kritisiert. Nimmt man die gesamte Passage in Augenschein, wird deutlich, dass hier nicht die Masse, sondern die Überlieferungsform problematisiert wird, die wiederum mit den diskursiven Regeln der christlichen Gruppe zusammenhängt. Explizit wird das in den folgenden Aussagen Neiths ausgeführt. Das Wissen ist nur deswegen limitiert, weil nicht alle den Weg auf sich nehmen, um die Erfahrung zu machen: »Wenn ihr den Ort nicht findet, ihn aber wirklich sucht, umgeht alle Bestätigung!« (S 459) Das Problem des Zugangs besteht nicht in einer durch Einweihung exklusiven Auswahl, sondern in der individuellen Bereitschaft, sich komplett auf die Suche einzulassen und damit nicht aufzuhören, weil es bereits Zeugen und damit Bestätigung gibt. Hingegen muss der Hinweis, dass Roth sich als »poeta vates«170 inszeniert und in Beziehung zu C.G. Jungs Gnosisrezeption als über geheimes Wissen, das er über Träume erlangt, verfügend darstellt, hier hervorgehoben werden. Dieser Gedanke wird an späterer Stelle noch aufgegriffen.

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Vgl. Horstkotte: Den Tod nicht kosten, S. 152. Vgl. ebd., S. 174f. Vgl. ebd., S. 163. Vgl. ebd., S. 174. Vgl. ebd., S. 173. Ebd., S. 154.

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Ferner kommt die Frage auf, warum der Roman die christliche Gnosis aufgreift und nichtchristliche gnostische Texte außen vor lässt, die andere Kosmologien und Gruppen von Auserwählten ohne die christlichen Bezüge beschreiben, und die gezeigt haben, dass die Gnosis auch vorchristlichen Ursprungs ist.171 Jedoch wird diese Fragestellung in der Forschung nicht diskutiert, womit für eine weitere und ausführliche Auseinandersetzung mit Roths Gnosisrezeption plädiert wird. Dabei mag der christlich-westliche Fokus des Romans an der Themenwahl und Sozialisation des Autors liegen sowie der Weiterführung seiner Christus-Trilogie. Es deutet allerdings nichts darauf hin, dass der christliche Weg favorisiert wird, dafür sprechen die Umdeutung des christlichen Sühne- und Kreuzesgedankens und die Privilegierung eines als universell geltenden Erfahrungserlebnisses.172 Überträgt man die Ergebnisse hinsichtlich der religiösen Erfahrung in den Kontext gegenwärtiger Diskussionen um die Vereinbarkeit bestimmter Religionen mit der deutschen Gesellschaft, gibt der Roman eine deutliche Antwort: Das Primat der Erfahrung birgt die Aussage, dass gerade keine religiös-kulturelle Tradition einen höheren Wert bzw. Anspruch hat als die anderen (dies zeigt sich in den gleich negativ bewerteten Doktringruppen, die in der positiven Opposition zur subjektiven Erfahrung stehen, sowie in der im Ragebild-Traum evozierten Analogie der genealogischen Verbindung von Juden, Christen und Muslimen). In der Vermittlung des neuen Wissens in Form der Erfahrung zeigt sich eine Diskurstransformation, die gleichzeitig eine performative ist, da die Schrift sich nicht nur in den fiktiven Diskurs der Urchristen einschreibt, sondern implizit auch in den gegenwärtigen Religionsdiskurs, wobei sie gerade für die Aufhebung einer strikten Unterscheidung zwischen sakral und profan einsteht und sich den religiösen Institutionen und ihren Dogmen distanzierend bis ablehnend verhält. Auch soll durch die Lektüre die Leserschaft zu ebendieser religiösen Erfahrung angeregt werden. Ferner sei hier noch Joseph und seine radikale Entscheidung, für seine Überzeugungen einzustehen und zu handeln, genannt. Roths Protagonist in diesem Roman zeichnet sich

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Rudolph weist explizit darauf hin, dass gerade die Nag-Hammadi-Funde in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden dürfen, da sie gezeigt hätten, dass die Gnosis und das Christentum zwar verwoben waren, aber auch unabhängig voneinander existierten. Vgl. Rudolph: Die Gnosis, S. 57. Kruse liest Sunrise als christlich motiviert: Gott oder das Numinose »als Seelenfunke« würde vorausgesetzt und eine »positive und bewusst christliche Historie mit Begründungscharakter für diese vor 2000 Jahren sich ergebende neue Weltreligion, deren Tiefenstruktur als sinnvoll bzw. mit den tiefenpsychologischen Voraussetzungen der Existenz verknüpft wird«, erzählt. Kruse: »Und erkannte Joseph nicht mehr im Dunkeln«, S. 163f. Ähnlich liest auch Hörisch den Roman: Roths Texte »poetisieren und medialisieren das Göttliche und deifizieren das Mediale. Genau damit sind sie aber gegen alle kircheninstitutionelle Dogmatik christologisch, sie entsprechen nämlich dem Medium Jesus Christus, das als Medium die inkarnierte Botschaft ist.« Hörisch: Die Erlösung der Physis, S. 16.

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vor allem dadurch aus, dass er handelt und das ihm Widerfahrene aktiv gestaltet. Schütte sieht in den Texten Roths eine politische Implikation, die sich jedoch nicht auf die Figuren bezieht, sondern auf die Leser*innen: All dies aber sind Aspekte einer hochindividuellen Erfahrung des Absoluten, die rückwirken auf eine ›Bewusstseinsveränderung‹ nach der Rückkehr in den Alltag. Ein Aufwachen, das man durchaus als ›politisch‹ bezeichnen könnte, weil durch sie ein neuer Blick auf die Verhältnisse innerhalb der Gesellschaft und deren Stellung gegenüber der Welt aufgeschlossen wird.173 Diese politische Dimension könnte sich laut Schütte dabei auf die Leser*innen auswirken. Hier wird dagegen eine individuelle Sensibilisierung und Reflexion der eigenen Positionierung in der normativen Ordnung angenommen, ohne direkt auf gesamtgesellschaftliche Prozesse einzugehen. Denn für die Problematisierung dieser sind die gesellschaftlichen Strukturen in Roths Roman zu starr, zu homogen und zu schablonenhaft gezeichnet. Es scheint auch nicht das zentrale Thema des Romans zu sein, im Fokus steht vielmehr der Mensch, der sich auf sich selbst und seine Erfahrungen und weniger auf vorgegebene, normal-rational erscheinende Kategorien beziehen soll – dann würde er seine ›Bestimmung‹ finden: wie Joseph, Monoimos und auch Neith. Dabei zeigt sich allerdings, dass Sunrise mit dem Fokus auf die religiöse Erfahrung zwar die Interaktion der Einzelnen mit dem Transzendenten, Übermenschlichen diskutieren kann, jedoch nicht die daraus entstehende Interaktion mit und für die Gemeinschaft und schon gar nicht die Interaktion einer kulturell pluralistischen Gesellschaft, da Sunrise als implizite Leserschaft westlichchristlich-affirmative Rezipient*innen fokussiert. Andererseits wird insoweit gesamtgesellschaftlich Stellung genommen, als Sunrise anhand von zwei Figuren einen internen ›Widerstand‹ vorführt, der zwar nicht die Grundfeste der diskursiven Formation erschüttert, aber doch ihre internen Sicherungsmechanismen tangiert. Dies erfolgt im Roman durch eine diskursiv exkludierte Form der Kommunikation, die ein neues Wissen, ein neues Sprechen und eine neue Identifizierung von vorher getrennten Subjekten ermöglicht. Man könnte Sunrise also in diesem Sinn als kritisches Korrektiv zum dominanten Rationalismusdiskurs lesen, das für die (Wieder-)Aufnahme bzw. Anerkennung einer neuen, aber eigentlich alten Form der Wahrnehmung von Wirklichkeit plädiert – nämlich die individuelle und sinnliche metaphysische Erfahrung – die hier aus dem Religionsdiskurs der Moderne (Jung, James, Otto) reaktiviert und reproduziert wird. In Roths Roman wird damit Religion als eigenständige Sphäre, eine Kategorie sui generis über eine ontologische Grenze wieder etabliert, ohne an die traditionellen, institutionell verfassten Religionen anzuknüpfen. Die Werke von Roth »partizipieren« demnach nicht nur an der »gegenwärtigen 173

Schütte: »Von der anderen Seite«, S. 36.

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Transformation des Religiösen hin zu einer neuen Spiritualität, die um das private Individuum und dessen subjektive Erfahrung zentriert«174 ist, sondern viel konkreter wird hier vor allem der Diskurs der religiösen Erfahrung reproduziert, der auf einem substanzialistisch-phänomenologischen Religionsbegriff basiert, universal, ahistorisch und anthropologisch gedacht wird. Damit positioniert sich Roth in der Tradition hermeneutisch orientierter Diskurse nicht nur in der Religionswissenschaft, sondern auch in der Literatur. Er steht in Opposition zu all den Texten, die gerade diese ›höhere Wahrheit‹, den Sinn dezentrieren und negieren, die davon ausgehen, dass menschliche Wahrnehmung und Wirklichkeit eine diskursive Konstruktion ist. Dabei geht er allerdings vom christlichen bzw. europäisch-kulturellen Archiv aus und verallgemeinert es für die gesamte Menschheit, auch für die, die die Existenz einer ontologischen Grenze zu einer Transzendenz verneinen würden. Interessanterweise findet sich in literarischen Texten der Moderne (Rilke, Musil) eine Verarbeitung der Mystik, die gerade diese substanzialistische Position, vor allem hinsichtlich der Frage der Subjektkonstitution, hinterfragt und in ihrer Negativität problematisiert.175 Mit seinem Bezug auf eine ›Wahrheit‹, eine Essenz, in der zuvor Getrenntes wieder zu einer Einheit gelangen kann (Neith und ihre Familie/Erinnerung, die Frühchristen und eine sinnliche, religiöse Erfahrung, das abschließende Hochzeits-/Abendmahl mit allen Anwesenden), knüpft Roth allerdings wieder an einen Subjektdiskurs an, dessen Dezentrierung poststrukturalistische Positionen vorgenommen hatten und der in diesem Sinn hinter der die Mystik verarbeitende Literatur der Moderne zurückbleibt. Dabei wird die religiöse Erfahrung aufgewertet und auf eine andere strukturelle Ebene als die traditionellen Religionen gestellt, denn diese vermitteln den Zugang zu Transzendenz, bei der Erfahrung ist dieser subjektiv und unmittelbar. Bezeichnenderweise ist die religiöse Erfahrung, auch bei Roth, aber gerade auf die traditionellen Diskurse angewiesen, um die individuellen Erfahrungen als transzendente zu deuten, denn die Deutung schöpft aus dem kulturellen Wissensarchiv. Und spätestens ab dem Moment, in dem man die Erfahrung teilt, muss man sich religiöser Kommunikationsmuster bedienen, die als solche auch von der Umgebung anerkannt werden müssen, so die kommunikationstheoretische Richtung der Spiritualitätsforschung. Wenn allerdings hier das Primat der Erfahrung gegenüber den traditionellen und identitätsstiftenden Religionsdiskursen favorisiert wird, dann deutet das auf eine Aufweichung dieser diskursiven Stabilisierungspunkte. Konkret wird hier die Frage evident: Wenn religiöse Erfahrung abseits der religiösen Institutionen zur neuen und verbreiteten Form werden würde, was hieße das für die identitätsstiftenden Formationen der traditionellen Religionsdiskurse, 174 175

Horstkotte: Den Tod nicht kosten, S. 176f. Vgl. Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, S. 210ff.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

ja für die identitätsstiftende Funktion von Religion überhaupt? Würden die religiös-kulturellen Differenzen abnehmen, da der Erfahrungsdiskurs scheinbar gerade nicht auf kulturelle Aspekte rekurriert und es damit keine Differenzen, keine Religionen mehr gäbe? Worauf würde sich die religiöse Erfahrung überhaupt beziehen, wenn die traditionellen religiösen Deutungsmuster durch das institutionelle Zurückweichen aufgelöst würden? Die Frage, die sich aus dem Primat einer religiösen Erfahrung ergibt, ist die, ob es die Deutung der Erfahrung ohne die Institution, die Überlieferung – das kulturelle Archiv also – überhaupt geben würde. Soll es gerade das allgemein Menschliche, Existenzielle sein, worüber große Transzendenzen kommuniziert werden, dann ist nicht ersichtlich, warum Sunrise gerade wieder an religiös-traditionelle Kommunikation anschließt. Auch die literarische Verarbeitung der ›religiösen Erfahrung‹ setzt an dem Thema der ›Erfahrung‹, nämlich der der Rezipient*innen an – soll diese sogar vermitteln. Dabei scheint Roths Vorstellung durch, seine Texte als »Passagen« zu verstehen, als einen »Durchgangs-Ort«,176 dessen Ende erst die (eventuelle) Leseerfahrung bedeutet. Diese Passage wird wiederum über bestimmte literarisch-ästhetische Verfahren evoziert, die prägend für Roths Schreiben sind und an bestimmte literarische Diskurse anknüpfen.

IV.5

Religiöse Erfahrung im Zeichen ästhetischer Erfahrung

In Sunrise wird erzählt, wie der Mensch Transzendenz erfahren kann – und zwar vor allem durch Kommunikation. Dabei stellt sich die Frage, ob die transzendente Erfahrung als Vorgang vor der Deutung nicht bereits diskursiv vorgeformt ist, also eine diskursive Praxis als solche ist. Roths Texte widersprechen diesen Annahmen, denn sie gehen von einer unhintergehbaren Wahrheit und einer existenziellen Erkenntnis bzw. einem Sinn aus, der von der postmodernen Philosophie bis hin zur Sprachkritik verneint wird. Zwar ist die Erfahrung, von der Roths Texte sprechen, bildhaft und sinnlich, aber nichtsdestotrotz soll sie in Kommunikation durch sprachlichen Dialog bei anderen ebenfalls zu Erfahrungserlebnissen führen. Wenn dies aber mündliche Sprache kann, müsste dies für die schriftliche nicht auch gelten bzw. wie müssen Texte beschaffen sein, um eine solche Wirkung entfalten zu können? Es scheint dabei einen eklatanten Widerspruch zwischen der Verschriftlichung der Erfahrungen und ihrem unmittelbaren Erleben zu geben. Neith expliziert, dass das neue Wissen nur über unmittelbare, individuelle Erfahrung erlangt werden 176

Patrick Roth: Zur Stadt am Meer. Heidelberger Poetikvorlesungen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 78f. Vgl. auch zum Abstieg und Aufstieg seine Frankfurter Poetikvorlesung: Roth: Ins Tal der Schatten.

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Religion als diskursive Formation

kann und nur diejenigen, die diese nicht erreichen, eine Bestätigung durch andere suchen sollen (vgl. S 458f.). Hier werden dabei nicht nur die in überlieferten Texten festgelegten und als Glaubensdogmen gesetzten Aussagen infrage gestellt, sondern auch Personen kritisiert, die sich zuerst an die Überlieferung wenden, anstatt in sich selbst zu gehen: »Aber ihr nehmt die Erfahrung nicht an. Buchstabengetreu muß es euch eingeritzt sein, sonst – glaubt ihr, bleibt nichts zu lesen« (S 392). In Riverside, seinem Prosadebüt, hat Roth bereits die kanonisierte Überlieferung problematisiert, allerdings unter einem anderen Vorzeichen: Hier steht die Frage, wie Wissen entsteht, im Mittelpunkt. Von Diastasimos, einem scheinbar vom Aussatz betroffenen Einsiedler, wird immerzu kritisiert, dass das, was berichtet wird, nicht adäquat in Sprache umgesetzt werden kann, da der körperliche Ausdruck fehle,177 auch spiegeln die Aussagen der beiden, bei ihm anwesenden Christen wider, wie selektiv, fehlerhaft und unvollständig die Zusammenstellung überlieferter Texte ist.178 Die Kritik an den kanonischen Texten findet sich in Sunrise jedoch abgewandelt wieder, nämlich nicht bezogen auf eine authentische Wiedergabe des Geschehenen, sondern auf die Funktion des Kanons als gültig gesetztes, unveränderbares Wissen, das fern eines individuellen Zugangs und alternativer Erlebnisse ist. Die Kritikverlagerung ist dabei textintern dringend nötig, da die »Schrift« von Monoimos, die das neue Wissen überliefern will, einen Widerspruch zur Überlieferungskritik in Riverside bilden würde, und damit ihre Legitimation und das neue Wissen seinen Status und Wert verlieren. Aus diesem Grund wird im Roman auf der einen Seite auf die Überlieferungskritik verzichtet, was wiederum zu bereits herausgearbeiteten Widersprüchen bezüglich der Gedächtnisleistung und der erläuternden Kommentare führt; auf der anderen Seite wird eine Authentifizierungsstrategie verfolgt, die aufzeigen soll, dass hier eine direkte, ohne Unterbrechung vorhandene Erzählung vorliegt, die wiederum in direktem Anschluss von einer bekannten Person verschriftlicht wurde, und zwar als unmittelbares Diktat und damit Zitat. Sunrise erzählt von der unmittelbaren Erfahrung nicht um des Inhalts, sondern um der Erfahrung selbst willen – das Erzählen folgt somit einer »Ästhetik des Performativen«.179 Dabei werden verschiedene ästhetische Praktiken,180 die den literarischen Erfahrungstext als Erfahrungsmedium auszeichnen, kombiniert: Die komplexe, eine authentische und unmittelbare Erzählsituation erzeugende narrative Anlage, der dramatische Modus, die Symboldichte und bildhafte Sprache, die

177 178 179

Roth: Riverside, S. 46f. Vgl. ebd. Erika Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung. In: Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Hrsg. von Joachim Küpper, Christoph Menke. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 138–161, hier S. 138 u. 144. 180 Vgl. Reckwitz: Ästhetik und Gesellschaft – ein analytischer Bezugsrahmen.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

lyrisch anmutenden Passagen, die grafischen Auszeichnungen – alle diese Verfahren fließen ineinander und bewirken ein In-Szene-Setzen des Erzählens, das als ereignishaft, unmittelbar und performativ beschrieben werden kann181 und auf die Rezipient*innen gerichtet ist. Diese erleben (möglicherweise) dabei eine ästhetische Erfahrung nicht nur als »Schwellenerfahrungen«, als »Destabilisierung und Umstrukturierung des Bedeutungssystems des rezipierenden Subjekts«,182 sondern darüber hinaus in einem ästhetisch-performativen Sinn eine Transformation der »Selbst- und Weltwahrnehmung« sowie des körperlichen Empfindens der Rezipient*innen – eine Erfahrung also, wie sie im Text von Neith beschrieben wird. Der Roman bzw. die fiktive »Schrift« von Monoimos können für diejenigen, die (noch) keine direkte Erfahrung gemacht haben, als Einführung, als Anleitung verstanden werden – Literatur und Ästhetik werden hier als Erfahrungsvermittlungsinstanzen explizit evoziert und in den Dienst genommen.183 Das Schreiben Roths kann vor diesem Hintergrund als eine Poetik der Erfahrung bzw. des Erlebens bezeichnet werden, das explizit darauf zielt, Leser*innen zu verändern, sie zu »Mitspielern« zu machen,184 sie mithilfe und dann über das Ästhetische hinaus auf ein »Absolutes« hin zu öffnen.185 Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung wird auch im Roman auf inhaltlicher Ebene stets mit Räumen des Dazwischen, der Transformation, des Übergangs und der Grenze in Verbindung gebracht: Bei Joseph sind es die Träume, also ein Schwebezustand; bei Neith sind es existenzielle Situationen: Feuer und Todesnähe; bei den beiden Urchristen ist es der Raum der dialogischen, sprachlichen Kommunikation, der als ein Dazwischen, zwischen den Kommunikationspartner*innen aufgerufen wird und schließlich Literatur als Kommunikationsraum sowohl auf fiktiver, auf impliziter wie auch auf realer Rezeptionsebene. Dabei kann

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Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung, S. 145. Ebd., S. 150. Vgl. Tüpper, Roth: »Das Ästhetische muss zunächst einmal dienen«; vgl. auch Braun: Geschichten, die nicht in der Bibel stehen, S. 248–266. 184 Matthias Morgenroth, Stefan Sprang, Patrick Roth: Fast Food, Fast Literature, Fast Everything. Interview. In: Konzepte 10 (1991), S. 11–17, hier S. 12. 185 »Verstehen Sie, ich lehne das Ästhetische ja nicht ab – ich muss als Schriftsteller mit allem arbeiten, was mir auch an ›techne‹, an künstlerischen Ausdrucksmitteln, zur Verfügung steht. Aber die ästhetische Dimension des Textes oder Films muss – meiner Meinung nach – zunächst einmal ›dienen‹, das heißt, sie muss die aufmerksamste Entsprechung zum Inhalt anstreben. Und dann, letztlich, muss diese ästhetische Dimension durchbrochen werden. Auf ein Anderes, uns Übersteigendes hin. […] Etwas vom Buch oder Film bleibt in uns – eine Erfahrung, die wir an ihnen gemacht haben; und die ihre Wurzeln letztlich in uns hat. Nur waren sie – diese Wurzeln, diese Tiefenbereiche in uns – verschüttet, vergraben oder tot. Das Buch oder der Film, das Kunstwerk, hat sie jetzt wieder lebendig gemacht. Das ist der Idealfall, die Ambition. Ich sage nicht, dass meinen Büchern das in jedem Fall gelingt. Aber das ist ihr Ziel.« Tüpper, Roth: »Das Ästhetische muss zunächst einmal dienen«, S. 118.

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für alle Erzähler*innen ein »Schwellenzustand« bzw. ein Zustand der »Liminalität« festgestellt werden: Sie sind alle »Grenzgänger«, die »weder das eine noch das andere [sind], sondern [sie] befinden sich zwischen [im Orig.: »in betwixt and between«] den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen«186 – dies gilt für Neith in der Situation ihrer Gefangenschaft und Todeserfahrung, für Joseph in seiner Zeit nach der verhinderten Opferung und für Monoimos während des Rezeptionsprozesses von Neiths Narration. In all diesen Situationen sind die vorher gültigen (Diskurs-)Regeln und Strukturen ausgesetzt und der nachfolgende Zustand ist im Gegensatz zur Ausgangsposition transformiert. Die Reisen der erzählenden Figuren, die gleichzeitig auch Rezipient*innen (religiöser) Erfahrung sind, können so auch als Initiationsriten (rites des passage im Sinne Arnold van Genneps)187 in ein neues bzw. gegenwärtig verdrängtes, nicht buchstabengetreues, sondern körperlich-sinnliches Wissen gelesen werden, das wieder erfahrbar gemacht werden kann und das als ästhetischperformative Erfahrung auch für die realen Rezipient*innen möglich ist. Als eine weitere, in die reale Kommunikation übergreifende und damit schon metaleptische Authentifizierungsstrategie können in diesem Kontext Roths wiederholte Verweise auf seine eigene Traumdeutungspraxis und Analyse seines Unter- bzw. Unbewussten angesehen werden.188 Mit dem Thema einer möglichen religiösen Erfahrung durch Kunst lehne sich Roth dabei einerseits an ein »romantische[s] Vorstellungskonstrukt [an]: der Fähigkeit der Kunst/Literatur, auf das metaphysische Grundbedürfnis des Menschen, […] nicht nur zu antworten, sondern ihm auch Zugang zu einer Erfahrung der Spiritualität zu schaffen, die des personalen Gottes letztlich nicht bedarf«,189 andererseits müssen seine Texte in der Tradition jener extremistischen Literatur [gelesen werden] […], die in der Auseinandersetzung mit einer als ungenügend erfahrenen Welt nach radikalen Schreibweisen und bis zum Äußersten reichenden poetologischen Praxen sucht, immer angetrieben von der Hoffnung, mit der Macht des Wortes die Welt aus den Angeln heben zu können.190

186 Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur [1969]. Frankfurt, New York: Campus 2005, S. 95. 187 Vgl. ebd., S. 94. 188 Vgl. Tüpper, Roth: »Das Ästhetische muss zunächst einmal dienen«, Günter, Verst, Roth: Patrick Roth erzählt von Schlüsselmomenten. 189 Norbert Otto Eke: »Wir kommen/Ins Heilige hinein/Noch auch«. Zum Religiösen als Paradigma in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Kultur und Religion: eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme, S. 47–68, hier S. 50. 190 Schütte: »Von der anderen Seite«, S. 29.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

Was sich hier zwischen diesen beiden Bewertungen aufspannt, ist ein bestimmtes ›Autorenkonzept‹, eine bestimmte Autoreninszenierung, die diesen als Visionär und poeta vates zeigt – und dabei vor dem Hintergrund der Diskussion um das Konzept der ›Kunstreligion‹ gelesen werden muss.191 Unter dem Begriff Kunstreligion (als eine sich Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte frühromantische Vorstellung) wird ein Zugang zum Religiösen, eine Teilhabe am Metaphysischen verstanden, die nicht über die institutionell verfassten Religionen und religiösen Traditionen (mit ihren Texten und Autoritätspersonen) erfolgt, sondern über einen ästhetischen Zugang: Kunst kann so einen eigenständigen Weg zum Religiösen ermöglichen.192 Konkreter könne man von Kunstreligion sprechen, wenn die Kunst sich Religion emphatisch nähere, Funktionen von Religion in Bezug auf Produkt, Produktion, Produzenten und Reproduktion übernehme, sich auf bestimmte religiöse Aspekte beziehe (transzendent/immanent, Opfer, Heil etc.) sowie eine bestimmte Form von Beziehungen zu Religion habe: »als Konvergenz und als Konkurrenz« – Kunst als Mittlerin oder als Ersatzreligion also.193 Detering findet in Schleiermachers Ausführungen zur Kunstreligion bereits Hinweise auf einen medientheoretischen Widerspruch, der in der Analyse ebenfalls thematisiert wurde, nämlich das Problem der unmittelbaren, gesprochenen Vermittlung von religiöser Erfahrung und ihrer Verschriftlichung, das bei Schleiermacher personalisiert als Seher und Dichter beschrieben wird:194 Seher und Redner als Propheten, die sich der »unmittelbaren Äußerungen in Zeichenhandlungen und mündlicher Rede« bedienen, und Dichter bzw. Künstler, die auf Schrift und Bild zurückgreifen.195 Beide stellen für Schleiermacher ein höhere[s] Priestertum [dar], welches das Innere aller geistigen Geheimnisse verkündigt, und aus dem Reiche Gottes herabspricht; dies ist die Quelle aller Gesichte und Weissagungen, aller heiligen Kunstwerke und begeisterter Reden, welche

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Vgl. zur Verbindung von Roth und Kunstreligion: Eke: »Wir kommen/Ins Heilige hinein/Noch auch«. 192 Vgl. Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 13ff. 193 Vgl. insg. Heinrich Detering: Was ist Kunstreligion? Systematische und historische Bemerkungen. In: Kunstreligion. Bd. 1: Der Ursprung. Das Konzept um 1800. Hrsg. von Albert Meier, Alessandro Costazza, Gérard Laudin. Berlin, New York: de Gruyter 2011, S. 11–28, hier S. 14. Detering bindet dabei Konvergenz an Schleiermacher zurück, der den Begriff ›Kunstreligion‹ geprägt hatte. Bei ihm findet Detering Konvergenz als die Tendenz, Zugang zur religiösen Erfahrung autonom durch Kunst, abseits der Dogmatik der institutionell verfassten Religion, zu öffnen; unter Konkurrenz wird hier auf die Ersatzreligion bei ästhetisch voller Ausprägung verwiesen. 194 Vgl. ebd., S. 21f. 195 Vgl. ebd., S. 23.

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ausgestreut werden aufs Ohngefähr, ob ein empfängliches Gemüt sie finde und bei sich Frucht bringen lasse.196 Blickt man auf die Ergebnisse der Analyse zurück, so scheinen Schleiermachers Aussagen sich programmatisch bei Roth wiederzufinden. Denn die Vermittlung einer Erfahrung erfolgt durch direkte Sprache (bei Joseph und bei Neith), und diese Erfahrung wiederum über die »Schrift« des Monoimos sowie über den Roman. Der »Priester des Höchsten« stellt all denen, die nur das »Endliche und Geringe zu fassen gewohnt« sind, das »Himmlische und das Ewige […] als einen Gegenstand des Genusses und der Vereinigung« dar.197 Während Neith und Joseph textintern als Seher bzw. Seherin und Monoimos als Dichter aufgebaut werden, stellt Roth sich im Kontext seiner Selbstaussage in eine noch exaltiertere Position. Er ist sowohl Seher (Traum über Joseph) als auch Dichter; übernimmt damit auch gleichzeitig die erwähnte Funktion der Kunst gegenüber der Religion: Die Produktion wird durch den Traum abgebildet, der Produzent durch Roth als Dichter, das Kunstwerk getragen von der »Poetik, die die Schrift [überschreitet], sie transzendiert die Schriftlichkeit und drängt auf ein – höheres oder tieferes – Vergegenwärtigen und Sehen, eine erhöhte Wirklichkeit«;198 zuletzt erfüllt er in der dreifachen (fiktiv) bzw. vierfachen (implizit) narrativen Anlage eine Form der Reproduktion. Die eigene Ausgestaltung als Seher und Prophet, der der »buchstabengetreuen« Welt eine neue bzw. verdrängte Wahrheit – aber eigentlich die Religionsdiskurse der Moderne reproduzierend – (wieder-)bringt, muss in diesem Kontext und unter Rückgriff auf die romantische Tradition als Arbeit am Autorenbild ›Roth‹ betrachtet werden, das explizit von der realen Person Patrick Roths abweicht. Diese Ausformung des eigenen Autorenselbstbildes knüpft dabei explizit an prophetisches Vokabular an: Etwas hält mich fest, fasziniert mich, lässt mich nicht mehr los. Bei ›Sunrise‹ war es – unter anderem – ein Bild, eine Urszene, die Josephs Leben bestimmt und den größten Konflikt stiftet. Sein Leben wird umgeworfen, umgeformt. Ich darf nicht verraten, worum es sich handelt. Es ist dann ganz wichtig – für den Autor – herauszufinden, warum ihm dieses Bild ›erschien‹ und nicht etwa ein anderes, was es gerade mit ihm zu tun hat, warum es so tiefe Emotionen in ihm auslöst – und warum es ihm heute bewusst wird, dieses ›Urbild‹, und nicht schon vor zehn Jahren. Generell würde ich sagen: Bilder, wie sie mir als Autor einkommen, sind Aufträge, sind ›assignments‹, wie man im Amerikanischen sagen würde – also wörtlich: Bilder sind immer ›mir Zugeschriebene‹. Ihr ›Auftrag‹ besteht darin, von mir schriftstellerisch gedeutet, das heißt: mit Verstand und Gefühl, mit Intuition und Emp-

196 Schleiermacher: Über die Religion, S. 192. 197 Ebd., S. 191. 198 Lothar van Laak: Jenseits der Lesbarkeit. Unsichtbare Spuren und Spuren der Unsichtbarkeit in der Erzählpoetik Patrick Roths. In: Der lebendige Mythos, S. 215–232, hier S. 221.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

findung betrachtet und dann – in welcher Form auch immer – als eine Geschichte ›ausgetragen‹ zu werden. Verwirklicht zu werden. So ergibt sich die Handlung eines Romans, ein ganzes Leben – das eigene inbegriffen.199 Als Aufmerksamkeitsstrategien, die die Aufmerksamkeit der Rezipient*innen gewinnen sollen, um dann wiederum die der Autor*in zu erhöhen,200 können solche habituellen Selbstinszenierungen nicht nur im literarischen, sondern auch wissenschaftlichen Feld (Bourdieu) vor allem zur Steigerung, wenn nicht des ökonomischen, so doch des symbolischen Kapitals gelesen werden.201 Vor diesem Hintergrund kann die Analyse seiner Interviewpraxis sowie der Peri- und Epitexte als Forschungsdesiderat der sonst sehr produktiven Rothforschung angemerkt werden.202 Auch könnte sich eine weiterführende Betrachtung von Roths Verarbeitung der ›Kunstreligion‹ über die Gnosis und Mystik auch auf Konzepte von ›Kunstreligion‹ um/nach 1900 ausdehnen, bis hin zu der Einordnung in die gegenwärtige Rezeption. Hier scheint es bezeichnend zu sein, dass Roth gerade nicht zu den vorherrschenden Autor*innen gehört, die die kunstreligiösen Ansprüche parodieren, ironisieren, umkehren oder ihren Absolutheitsanspruch problematisieren.203 Stattdessen inszeniert sich Roth als Seher, Prophet und Dichter in einer doppelten Wendung der Heiligkeit. Die hervorgehobene Stellung des Sehers liegt auch seiner Christus-Trilogie zugrunde, womit abschließend ein Ausblick auf mögliche werkübergreifende Darstellungskonstanten bzw. -unterschiede erfolgen soll.

199 [o.A.,] Roth: Das Geheimnis des Joseph ist – unseres. 200 Vgl. Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf [1998]. München: dtv 2007. 201 Vgl. zu Bourdieus Feldtheorie: Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs, Achim Russer. Frankfurt/Main: Suhrkamp 7 2016; zur Autorinszenierung: Christoph Jürgensen, Gerhard Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Heuristische Typologie und Genese. In: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte. Hrsg. von dens. Heidelberg: Winter 2011, S. 9–30. 202 Die Traumaussagen finden sich bereits in Interviews zu seinen frühen Texten; die Inszenierung als Seher, Prophet mit einem Auftrag allerdings erst seit Sunrise. Vgl. [o.A.:] Patrick Roth: »Christus hat eine Schwester«. Über Gott, Auferstehung, die Wut und den Autor als Grenzgänger: Gespräch mit Patrick Roth. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt vom 22. Oktober 1993; [o.A.:] Patrick Roth: Beten, um ein neues Auto zu bekommen. Interview. In: Rheinische Post vom 22. August 2003. 203 Vgl. Gérard Laudin, Albert Meier, Alessandro Costazza: Vorwort. In: Was ist Kunstreligion? Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Bd. 3: Diversifizierung des Konzepts. Hrsg. von dens. Berlin, New York: de Gruyter 2014, S. 7–9.

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IV.6

Sunrise. Das Buch Joseph und das literarische Werk von Patrick Roth

Patrick Roths Texte sind breit rezipiert und thematisiert worden. Dabei gibt es bestimmte, sich wiederholende Themen, die Roth selbst als Inspirationsquellen benannt hat und die von der Forschung aufgegriffen wurden, wie Tiefenpsychologie, Traumdeutung oder der Film. Viele dieser Aspekte erfordern eine hermeneutische, intertextuelle oder medientheoretische Analyse, die diese Arbeit nicht fokussiert, da hierzu bereits Forschungsergebnisse vorliegen.204 In Riverside. Christusnovelle suchen die Brüder, Christen und Angehörige der frühchristlichen Gemeinde, Tabeas und Andreas im Auftrag des Jesus-Jüngers Thomas nach dem Zeitzeugen Diastasimos, der eine Begegnung mit Jesus Christus gehabt haben soll.205 Die beiden jungen Männer sollen dessen Zeugnis aufnehmen, da die christliche Gemeinde Berichte und Zeugnisse über den Verstorbenen sammelt. Diastasimos ist vom Aussatz befallen, lebt deswegen seit mehreren Jahren abseits der Gesellschaft in einer Höhle und ist als Ungläubiger bei der Bevölkerung bekannt. Jesus soll versucht haben, ihn zu heilen, und sei ob des großen Unglaubens von Diastasimos gescheitert, so der Volksmund. Am Ende klärt sich auf, dass der Kranke bereits geheilt wurde, dies verheimlicht hat und es erst den beiden Christen offenbart, die sich als seine Söhne herausstellen, von denen Tabeas wiederum den Text als Bericht verfasst und als Ich-Erzähler auftritt. Der Text, der in einer frühen, noch einfacheren Version von Roths Schreibstil verfasst ist, hat zu Beginn der 1990er Jahre die Kritik in zwei Lager gespalten: »entweder völliger Verriss oder hohes Lob«.206 Die Novelle ist einerseits im Kontext der Tradierungsgeschichte gelesen worden;207 als Gleichnis von der rettenden Kraft des Glaubens, die am

204 Vgl. Kopp-Marx: Der lebendige Mythos; Kopp-Marx, Langenhorst: Die Wiederentdeckung der Bibel; Garhammer, Zelinka: Brennender Dornbusch; Mythos und Mythisches in der Gegenwartsliteratur. Studien zu Christoph Ransmayr, Peter Handke, Botho Strauss. Hrsg. von Herwig Gottwald. München: Akademischer Verlag 1996. 205 Ausführlich geht Keith Bullivant auf den Titel ein und argumentiert, dass Riverside zwar der erste Text ist, für ihn jedoch das Zentrum der Trilogie darstellt. Vgl. Keith Bullivant: That oldtime Religion? Thoughts on Patrick Rothʼs ›Resurrection‹ Trilogy. In: Religion and Identity in Germany Today, S. 147–161. 206 Georg Langenhorst: Deutung einzelner Werke. Hinführung. Riverside. In: Patrick Roth – Erzähler zwischen Bibel und Hollywood, S. 61–64, hier S. 61. Ein detaillierter Überblick über die kritische Rezeption von Riverside findet sich ebenfalls hier. 207 Vgl. Georg Langenhorst: Verhüllung im Dienst der Kenntlichmachung – Patrick Roths literarische Annäherung an Jesus. In: Patrick Roth – Erzähler zwischen Bibel und Hollywood, S. 22–30; Jörg Seip: Stäbe-Netze-Schrift. Biblische Rezeption bei Felicitas Hoppe, Ferdinand Schmatz, Patrick Roth. In: Brennender Dornbusch, S. 143–160.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

eigenen Körper erfahren werden muss;208 oder als eine »narrative Theologie«, der die »Dimension des Reiches Gottes […], ein politischer Anspruch« fehlt.209 Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten. Seelenrede ist in der Gegenwart, in einem kleinen Dorf in den Vereinigten Staaten, angesiedelt. Der junge Mann Johnny Shines sieht sich selbst in der Nachfolge von Jesus Christus, indem er durch das Land zieht, die Särge gerade Verstorbener aufbricht und versucht, diese aufzuwecken. Zum Schluss wird auch hier die Vorgeschichte von Johnny Shines (er hatte bei einem Unfall seine Schwester im Alter von 13 Jahren erschossen) entwirrt und ihm gelingt die unbewusste Wiedererweckung dieser toten Schwester, die auch die Erzählerin darstellt. Auch dieser Text hat die Kritiker verwirrt,210 in der Forschung herrscht Uneinigkeit darüber, ob es sich hier um einen »Roman in Gesprächsform«211 oder eine Erzählung212 handelt, ob die Ich-Erzählerin die tote Schwester Sharon213 ist oder doch eher eine »Anima (lat.: Atem, Wind, Seele, Leben), die aus und zugleich in Johnny spricht«, ein »unkörperlich[es] geistig[es] Wesen«,214 die ein Seelengespräch, mit Verweis auf den Untertitel, führt. Der dritte Teil, Corpus Christi, rekurriert – nach Heilung und Wiedererweckung – auf die Auferstehung. Der Jünger Judas Thomas, der nicht an die Auferstehung Christi glauben kann, weil ihm die Beweise fehlen, steht hier im Zentrum. Er sucht nach der Frau Tirza, die im leeren Grab verhaftet wurde und behauptet, zu wissen, wo der Leichnam versteckt sei. Der fingierte Dialog zwischen Tirza und Thomas stellt den Hauptteil der Erzählung dar. Indem Thomas zum Ende die zweifelnde und nach Beweisen suchende Haltung aufgibt, gelangt er zu dem Glauben an die Auferstehung. Dieser Text wird meist als Roman verstanden,215 in dem es um Selbsterkenntnis geht;216 um das »innere Erleben, die seelische Erfahrung der Hauptfigur«217 oder theologisch u.a. um die innere Einstellung des Gläubigen zum Glauben als Grundfrage des Textes.218 208 Vgl. Michael Braun: Patrick Roths literarische Bibel-Archäologie. In: Patrick Roth – Erzähler zwischen Bibel und Hollywood, S. 16–21, hier S. 18f. 209 Wilfried Köpke: Ein Gleichnis auf ihn und auf uns. In: Patrick Roth – Erzähler zwischen Bibel und Hollywood, S. 65–68, hier S. 67. 210 Vgl. Langenhorst: Deutung einzelner Werke, S. 82–84. 211 Michaela Kopp-Marx: Schuld, Erkenntnis und Erlösung – Die Geschichte des Johnny Shines. Eine Tiefeninterpretation. In: Der lebendige Mythos, S. 43–111, hier S. 44. 212 Vgl. Braun: Erinnerung und Mythos, S. 114, sowie Schwab: Patrick Roth, S. 3. 213 Vgl. Andreas Mauz: Johnny Shines oder die Wiedererweckung der Toten. Ein close reading. In: Patrick Roth – Erzähler zwischen Bibel und Hollywood, S. 89–108. 214 Kopp-Marx: Schuld, Erkenntnis und Erlösung, S. 48. 215 Vgl. Braun: Erinnerung und Mythos, S. 114, sowie Schwab: Patrick Roth, S. 3. 216 Braun: Patrick Roths literarische Bibel-Archäologie, S. 19. 217 Kopp-Marx: Schuld, Erkenntnis und Erlösung, S. 46. 218 Hermann Josef Spital: Corpus Christi. Gedanken zu einem Roman von Patrick Roth. In: Patrick Roth – Erzähler zwischen Bibel und Hollywood, S. 121–134. Weitere theologische Interpretationen finden sich ebenfalls in diesem Sammelband.

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Die meisten Publikationen zur Christus-Trilogie finden sich in den drei vorhandenen Sammelbänden Patrick Roth – Erzähler zwischen Bibel und Hollywood (2005), Der lebendige Mythos. Das Schreiben von Patrick Roth (2010) und Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth. Von der »Christus-Trilogie« bis »SUNRISE. Das Buch Joseph« (2014). Am wenigsten von den drei ersten Prosatexten ist Corpus Christi rezipiert worden, häufig beziehen sich die Publikationen auf Roths poetologisches Schaffen und beziehen diese Werke vereinzelt ein. Problematisch an der Rezeption Roths, die von theologischer Perspektive eine Sensibilisierung für das spezifisch Literarische vermissen lässt,219 scheint die Konzentration auf die von Roth selbst genannten Quellen und Beweggründe zu sein. Ähnlich verhält es sich bei Sunrise; neuere Sichtweisen zeigen sich bei Horstkotte in der gnostischen Perspektivierung oder bei Norbert Otto Eke, der Roths Texten den Besonderheitsstatus, der ihnen immer wieder zugewiesen wird,220 in seinem Vergleich mit Werner Fritsch abspricht bzw. relativiert.221 Schaut man sich die Werke an, so wird deutlich, dass in allen drei genannten, wie auch für Sunrise festgestellt, ein bzw. eine extradiegetisch-homodiegetische/r Erzähler bzw. Erzählerin berichten, wobei die Erzählerin in Johnny Shines auch als Seele gelesen wurde und damit, folgt man dieser Lesart, wiederum ein Teil der männlichen Figur wäre. Die komplexe Ebenenkonstruktion, die in Sunrise vorliegt (Joseph – Neith – Monoimos [– impliziter Narrator/Autor]), also Bericht dritter Ordnung, findet sich bereits bei Johnny Shines (Hallie – Johnny – Sharon/Seele); auch die für Sunrise herausgearbeitete Transgression der Erzähler sowie das trinäre Muster sind bereits in Johnny Shines umgesetzt,222 die Verschriftlichung einer außergewöhnlichen Erfahrung, die ein christliches Gemeindemitglied erlebt, also Monoimos, gibt es bereits in Riverside, wo Tabeas genauso als Vermittler und Beobachter fungiert. Dabei ist die testimoniale Funktion in Sunrise viel deutlicher ausgeprägt; die Figuren, zwei Christen auch in Riverside, sind in der Novelle stärker psychologisiert als die beiden Männer in Sunrise, die sich kaum voneinander unterscheiden, während in Riverside Tabeas den emphatischen und Andreas den kritischen Part übernimmt. Wie in Riverside sind die beiden Christen in Sunrise von einem Gemeindevorstand ausgesandt, eine relevante Aufgabe zu erfüllen, wobei sie am Ende eine religiöse Erfahrung machen und von Begebenheiten hören, die un-erhört sind, also auf der einen Seite die Heilung des Aussätzigen durch ein Leidenserlebnis Jesu und auf der anderen Seite mehrere un-erhörte Begebenheiten in Sunrise: Josephs verweigertes Opfer, Neith als Halbschwester oder Joseph als 219 Hierzu schon Mauz: Johnny Shines oder die Wiedererweckung der Toten. 220 Vgl. die Hinführungen in Langenhorst: Patrick Roth – Erzähler zwischen Bibel und Hollywood oder Kopp-Marx: Das Heilig-Hohe und das Erdig-Irdische, S. 147. 221 Vgl. Eke: »Wir kommen/Ins Heilige hinein/Noch auch«. 222 Zur formalen Analyse dieser Aspekte vgl. Mauz: Johnny Shines oder die Wiedererweckung der Toten.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

Grabbauer für seinen Sohn. Gibt es in Riverside noch keine weibliche Stimme, sind alle anderen Texte mit mindestens einer weiblichen intradiegetischen Erzählerin versehen. Ferner wird der Sprachstil, der zuletzt seinen Höhepunkt in Corpus Christi fand, in Sunrise im Umfang potenziert. Befand sich der Stil in Riverside noch in einer frühen Form, hat Roth diesen in Corpus Christi perfektioniert,223 wobei dieser Stil von der theologischen Seite gerade für Johnny Shines als unpassend und funktionslos empfunden wurde.224 Die symbolträchtige Sprache, die symbolisch aufgeladenen Träume, die so zahlreich und durchkonstruiert in Sunrise vorhanden sind, finden sich in dieser Form bereits in Corpus Christi, hier jedoch nicht im selben Umfang. Auch die sich abwechselnden Passagen verschiedener Redemodi, dialogisch-dramatische, bildhaft-narrative, stilistisch-aufgeladene, findet man in allen Texten besonders ausgeprägt, Sunrise am ähnlichsten in Corpus Christi. In Sunrise finden sich zudem viele intradiegetische Erzählungen bekannter bzw. veränderter Passagen (Miriam, König Joschija, Jona, Jesus im Tempel) aus der Bibel oder aus den Apokryphen, ähnlich auch in Corpus Christi (Jesus und Satan in der Wüste) oder Johnny Shines (Löwengruben-Legende). Schaut man auf inhaltliche Momente, lassen sich weitere Ähnlichkeiten nachweisen: Alle Protagonisten sind männlich, freiwillige Außenseiter,225 haben eine religiöse Erfahrung gemacht, es gibt in den Texten einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang, dem ein Plan zugrunde liegt (besonders deutlich in Johnny Shines und Sunrise), in allen Texten gibt es eine familiäre Wiedervereinigung, als Vision am Ende von Sunrise oder in den anderen drei Büchern.226 Die Abraham-Analogie der Sohnesopferung und auch die Verweigerung des Ziehvaters findet sich in Corpus Christi, hier in der Gestalt der Tempelwächters und seines Ziehsohnes Boas; die Aufforderung zum Opfer (nur in anderer Form als in Sunrise) kommt dem Wächter ebenfalls im Traum. Die schematische Darstellung von Gruppen, wie sie in Sunrise vorliegt, findet man ebenfalls in Corpus Christi, in Riverside ist diese Darstellung noch nicht so ausgeprägt, hier könnte man sogar von einer Andeutung einer sozialkritischen Haltung sprechen, die sich aus dem Verhalten Aussätzigen gegenüber ergibt. In Corpus Christi hingegen sind die Gruppen bereits schablonenhaft gezeichnet: die Römer als Feinde, gesteigert in der Folterung einer Frau, und die christliche Gruppe, die an die Auferstehung glaubt. Bleibt man bei den Frauen, so sind diese 223 Vgl. Langenhorst: Verhüllung im Dienst der Kenntlichmachung, S. 30, sowie die bereits zitierten Beiträge zu Sunrise bezüglich des Stils. 224 Vgl. ebd., S. 28; Köpke: Ein Gleichnis auf ihn und auf uns, S. 87. 225 Diastasimos, weil er freiwillig nicht zu seiner Familie zurückkehrt, obwohl er geheilt ist; Johnny, weil er freiwillig sich abseits hält und einer Profession nachgeht, von der er weiß, dass sie nicht gesellschaftsfähig ist; Thomas, weil er sich von den anderen Gruppenmitgliedern absondert, die an die Auferstehung glauben, er aber zweifelt; und schließlich Joseph. 226 Riverside: Söhne und Vater, Johnny: Bruder und Schwester sowie Corpus Christi zwei Verbindungen: Bruder und Bruder, Tirza und Familie.

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ebenfalls in allen Texten funktionalisiert, sie verhelfen den Männern zu der religiösen Erfahrung – abgesehen vom ersten Werk, hier kommen gar keine Frauen vor. Es mutet auch etwas seltsam an, dass die Frauen bei Roth alle körperlichem Missbrauch bzw. Tod ausgeliefert waren. So glaubt Johnny, dass er Hallies Körper ›verwüstet‹ hat, um seine Schwester zu erwecken, die er wiederum ermordet hatte; Tirza wird ermordet und ihre Leiche vergewaltigt und ebenfalls zugerichtet; Maria fällt in der Grube mit dem Sklaven in Ohnmacht und kann sich an nichts erinnern, wird aber danach schwanger (womit hier gegen den heilsgeschichtlichen Hintergrund eine Vergewaltigung impliziert wird) und Neith verbrennt fast als Kind, wird von einer Räuberbande angegriffen und folgt man dieser Gewaltlinie, dann könnte das Kind, das sie erwartet, aus einer Vergewaltigung stammen, wobei es hierzu keine Hinweise im Text gibt. Allen Frauen widerfährt in den Texten Roths Gewalt, körperliche Gewalt und daraus resultierend auch psychische Gewalt, diese wird aber nicht thematisiert. Vielmehr verwundert es, wie gut die Frauen mit diesen Erlebnissen umzugehen scheinen: Während Neith nicht darüber spricht, wie es ihr nach dem Raub ergangen ist, sie war auch Sklavin, die persönlichen Erfahrungen aus diesem Lebensabschnitt sind ebenfalls absent, scheint Tirza die Erfahrung ihrer eigenen Ermordung, Beerdigung und Wiederauferstehung unbeeinflusst überstanden zu haben; sie lässt sich sogar in eine Grabkammer lebendig einschließen. Anschließend übersteht sie, ohne Schaden zu nehmen, die Folter, und verhilft in einem Gespräch Thomas zu seiner Erfahrung. Die Übertreibung der Darstellung lässt sich nur auflösen, wenn man die Frauen nicht als psychologisierte Charaktere begreift, sondern als Figuren mit einer Funktion, den Protagonisten beim Erinnern zu helfen. Denn gerade die Erinnerung soll die Erfahrung stimulieren. In allen Erzähltexten wird die religiöse Erfahrung in einem kommunikativen Rahmen aus einem Erinnerungsprozess heraus anderen zugänglich gemacht, wohingegen andere Formen der Wissensvermittlung, wie die Schrift, abgelehnt bzw. relativiert werden. Die Unterschiede der vier Werke liegen in der jeweiligen Fokussierung desselben Themenbereichs, nämlich der Medien- bzw. Rationalismuskritik und der religiösen Erfahrung. In Riverside steht die Frage, wie Wissen entsteht, im Mittelpunkt. Von Diastasimos wird eine adäquate sprachliche Überlieferung problematisiert,227 die Aussagen der beiden Christen rekurrieren auf Selektionsprozesse bei Textzusammenstellungen.228 Johnny Shines hingegen fokussiert den individuellen, und damit vielleicht auch extremen, Zugang zum Religiösen: Johnny nimmt bestimmte Passagen der Bibel wörtlich und will im Auftrag von Jesus Christus Tote erwecken. Diese Handlung beruht auf einer inneren Überzeugung, dass das, was 227 Roth: Riverside, S. 46f. 228 Es wäre hier wiederum weiterführend zu untersuchen, wie die Medienkritik aus Riverside für Sunrise funktioniert.

IV Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph

man tut, möglich, richtig und von Gott gewollt ist, da es einen Plan hinter den scheinenden Dingen gibt.229 Diese Wahrheit kann aber nicht bewiesen oder rational erklärt werden, sondern erst wenn diese rationale Prämisse aufgegeben wird, man sich entmachtet, kann man diese Wahrheit erfahren – hier liegt der Fokus von Corpus Christi, wo Thomas erst die Auferstehung von Jesus Christus annehmen kann, als er seine kritisch-rationalistische Haltung aufgibt.230 Der Christus-Trilogie liegt demnach die Annahme einer ›höheren Wahrheit‹ zugrunde, die körperlich im dialogischen Rahmen vermittelt und erfahren werden kann und bildhaft zu denken ist. Dies ist aber auch das Thema von Sunrise. Erfahrung bzw. religiöse Erfahrung als Kernthema ist zudem nicht nur in Sunrise ersichtlich, sondern wurde mehrfach bereits für seine Poetologie, die Christus-Trilogie sowie die in der Gegenwart angesiedelten Texte von der Forschung aufgezeigt – und zwar auch vor dem Hintergrund einer ›höheren Wahrheit‹ bzw. eines Sinns auf höherer Ebene:231 »Vielmehr wird hier argumentiert, dass Patrick Roths Literatur als hochindividuelle Erfahrung eines Absoluten zu begreifen ist, mit der in der neoliberalen Immanenz der Gegenwart ein Ausblick eröffnet wird auf ein gänzlich Anderes.«232 Auch Horstkottes Feststellung einer gnostischen Tradition bzw. Verarbeitung in Roths Texten ist bereits mehrfach, allerdings nicht so ausführlich, von anderen getroffen worden.233 Während in den ersten beiden Texten der Christus-Trilogie die ›höhere Wahrheit‹ zurück zu Jesus Christus und damit Gott, also einem monotheistischen Ansatz, führt (Diastasimos, der am Ende doch wieder glaubt; Johnny, der von seinem Auftrag überzeugt ist), ist es bei Thomas die Erfahrung, seinen totgeglaubten Bruder wiederzusehen, wodurch er am Ende ebenfalls die Auferstehung Jesu Christi anerkennt, also eine große Transzendenzerfahrung, die zu einer religiösen wird, wie dies auch in Sunrise breiter und intensiver mit Neith durchgespielt wird. Es ist also problematisch, von einem »prägnanten« Unterschied zur ChristusTrilogie zu sprechen, wie dies Weidner tut.234 Er macht das an der unterschiedli229 Roth: Johnny Shines, S. 97f. 230 Roth: Corpus Christi, S. 175f. 231 Vgl. Mauz: Johnny Shines oder die Wiedererweckung der Toten, S.104; Kopp-Marx: Schuld, S. 49; Paul Konrad Kurz: Unerhörtes aus der archaischen Höhle. Patrick Roths Christusnovelle Riverside. In: Ders.: Komm ins Offene. Essays zur zeitgenössischen Literatur. Frankfurt/Main: Josef Knecht 1993, S. 116–132, hier S. 124. 232 Schütte: »Von der anderen Seite«, S. 24. Vgl. auch van Laak: Jenseits der Lesbarkeit; aus medienzentrierter Perspektive auch Oliver Jahrhaus: Epiphanie als Medienereignis. Patrick Roths Brief an Chaplin und seine Medienpoetik. In: Der lebendige Mythos, S. 241–254. 233 Vgl. Langenhorst: Verhüllung im Dienst der Kenntlichmachung; Paul Konrad Kurz: Die Auferstehung als Psychodrama. In: Patrick Roth – Erzähler zwischen Bibel und Hollywood, S. 116–120; Kurz: Unerhörtes aus der archaischen Höhle; Wilfried Köpke: Auferstehung postbiblisch. In: Patrick Roth – Erzähler zwischen Bibel und Hollywood, S. 112–115. 234 Daniel Weidner: Die Gewalt der Schrift. Biblisches Erzählverhalten in Patrick Roths Sunrise. Das Buch Joseph. In: Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth, S. 172–188, hier S. 172.

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chen Seitenanzahl, der Erzählung eines bestimmten Ereignisses in den Texten der Trilogie sowie an der verschachtelten Geschichte in Sunrise fest.235 Die angeführten Punkte sind jedoch bereits entkräftet worden und es wiederholen sich formale, inhaltliche, motivische und quellentechnische Aspekte. In den hier angesprochenen Texten, in Roths Poetik allgemein und auch in seinem großen Roman Sunrise finden sich dieselben Themen und auch eine frappierend ähnliche ästhetischliterarische Umsetzung. Dementsprechend kann man Sunrise eindeutig in die Reihe der Christus-Trilogie stellen. Von Riverside bis zum Joseph-Roman lässt sich eine Linie ziehen, die auf Ähnlichkeit, vor allem aber Wiederholung basiert und nur motivische Varianz aufzuzeigen scheint.236 Da Patrick Roth sich zu seinem Selbstverständnis als Schriftsteller mehrfach in Poetikdozenturen geäußert hat, werden diese Aussagen dementsprechend durch die Forschung auch auf sein Werk übertragen, wobei immer wieder deutlich wird, dass seine Angaben sich in den Texten wiederfinden lassen und die Texte zu bestimmen scheinen – eine self fulfilling prophecy also. Eines dieser wiederholten Elemente, das allen seinen bisher publizierten Werken gemeinsam sein soll, sieht Kopp-Marx in der Überblendungstechnik des dissolve, das eine Gleichzeitigkeit von Gegensätzen und verschiedenen Bedeutungsebenen vermittelt.237 Auch die Darstellung der Religion in der Christus-Trilogie im Vergleich mit Sunrise zeigt, dass es hier gerade keinen gravierenden Unterschied gibt, sondern nur einen quantitativen und keinen qualitativen, da Religion respektive religiöse Erfahrung eine die Werke durchziehende Konstante darstellt. Waren die ersten Texte noch durch ihre Kürze, Prägnanz und ihren novellistischen Charakter gekennzeichnet, es konnten also viele Aspekte wie biografischer Hintergrund, psychologische Motivation und sozialkritischer Hintergrund nicht behandelt werden, zeichnet sich Sunrise besonders durch seine Länge und Intensivierung bereits vorhandener Muster aus: Träume, dialogische Gestaltung, Symboldichte, formale Konstruktion, heilgeschichtlicher Plan und Fokussierung auf das Primat der Erfahrung vor der schriftlichen Vermittlung. Aus diesem Vergleich der Christus-Trilogie mit Sunrise wird deutlich, dass sich Roths Hauptthemen in den bibel-rezipierenden Texten in ihrer unterschiedlichen Erscheinung seit der Publikation von Riverside 1991 nicht geändert haben, auch nicht sein literatur-ästhetisches Vorgehen. Zudem führen die Texte zu heterogenen Fragestellungen und verweisen auf eine intertextuelle Praxis, die sich auf verschiedene Formen der Religiosität bezieht und diese verarbeitet.

235 Vgl. ebd. 236 Vgl. auch Horstkotte, die einen knappen Vergleich der Christus-Trilogie vorgenommen hat, Horstkotte: Poetische Parusie. 237 Vgl. Michaela Kopp-Marx: Gleichzeitigsein. Patrick Roths Poetik der Verwandlung. Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 301–319.

V Benjamin Stein: Die Leinwand

V.1

Paratextuelle und narratologische Vorüberlegungen Meine Eltern sind nicht jüdisch. Punkt. Das steht außer Zweifel. Wenn es jüdische Vorfahren gab, dann über die Väterlinie, und jeder dieser Männer hätte die Verbindung zur Religion weit von sich gewiesen. So war ihre Überzeugung. Es gibt Leute, die betreiben ›Ahnenforschung‹, um jeden einzelnen jüdischen Vorfahren auszugraben. Ich habe das immer abgelehnt. Religiös wäre diese jüdische Vorfahrenschaft ohnehin irrelevant gewesen. Damit stand mein Weg fest: Ich musste konvertieren, wobei ich den Begriff immer unpassend fand, weil es in meinem Fall keine Konfession gab, von der ich hätte konvertieren können oder müssen. Dieser Prozess begann 1986 und endete endgültig erst 2004 – nach 18 Jahren jüdischen Lebens!1

Diese und andere private Details zu seinem Leben, speziell zum religiösen Hintergrund, sieht Benjamin Stein sich gezwungen, der Öffentlichkeit preiszugeben. Dabei würde er sich als Autor lieber zurückhalten, der Literatur nütze das Autorenporträt nichts und es verwundere ihn, dass diese Autorenfixierung erst in jüngerer Zeit aufgekommen sein müsste, denn zur Veröffentlichung des Alphabets des Juda Liva, seines Debütromans, habe man ihm als Person solch aufdringliches Interesse noch nicht entgegengebracht, so Steins Resümee in seinem Literaturblog vom 3. Juni 2010.2 Kurz zuvor ist Steins Die Leinwand erschienen und das mediale Interesse am Autor und seiner religiösen Biografie war groß. Aufgrund einer defizitären Wiedergabe seiner Worte in einer Rezension entschloss er sich zum öffentlichen Kommentar:

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Benjamin Stein: Der Autor als Seelenstripper. 3. Juni 2010. In: Ders.: Turmsegler. Literaturblog. https://turmsegler.net/20100603/der-autor-als-seelenstripper (Zugriff: 25.07.2020). Bezeichnenderweise ist das Interesse an der ›Autorfigur‹ bzw. am ›Autor‹, die sogenannte ›Rückkehr des Autors‹ als differenzierte Auseinandersetzung mit dem Konzept der ›Autorschaft‹, sowohl in der medialen Wahrnehmung als auch in der Forschung seit den späten 1990er Jahren wieder präsent. Vgl. hierzu überblickshaft Theorien der Autorschaft. Hrsg. von Matthias Schaffrick, Marcus Willand. Berlin, Boston: de Gruyter 2014.

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Religion als diskursive Formation

Wo ich sehr sorgfältig meine Worte wähle, werden sie anders wiedergegeben. Wo ich bewusst keine Auskunft gebe, wird von den Journalisten aus einer sorglosen Erwartungshaltung heraus ergänzt. Und damit stehe ich vor einem Dilemma: Widerspreche ich nicht, steht eine von mir ›gebilligte‹ Lüge im Raum. Wenn ich aber widerspreche und richtigstelle, muss ich öffentlich intimste Details meines Privatlebens verhandeln, und das empfinde ich als absolut unzumutbar.3 Das Interesse des Literaturbetriebs an der realen Person des Autors, der über Religion spricht, scheint auch hier – wie dies bereits für Roth der Fall war – zuzutreffen, so als müsste eine biografische Legitimierung vorhanden sein, um über Religion sprechen/schreiben zu können – dem Autor Benjamin Stein ist dies explizit bewusst, wie seine Ausführungen zeigen. Der Turmsegler, Steins Literaturblog, dient ihm dabei als Sprachrohr, sowohl für private Themen und Kommentare – es gibt hier einen interessanten Beitrag zur Familiengeschichte – als auch für Teilveröffentlichung und Diskussion seiner Bücher. Während Steins erster Text, Der Libellenflügel4 , 1989 nur auszugsweise veröffentlicht wurde, konnte er 1995 mit seinem Debütroman Das Alphabet des Juda Liva5 direkt große Aufmerksamkeit bei Publikum und Kritik wecken sowie mit Literaturpreisen ausgezeichnet werden. 2008 erschien Ein anderes Blau. Prosa für 7 Stimmen6 , das kaum Beachtung fand, 2010 folgte Die Leinwand7 mit einem positiven Medienecho und vermehrten Übersetzungen in verschiedene Fremdsprachen. Auf Replay8 , 2012, einen unterschiedlich aufgenommenen Science-Fiction-Roman,9 folgte 2014 eine Überarbeitung des Debüts, hier unter dem neuen Namen Das Alphabet des Rabbi Löw10 , sowie eine Neubearbeitung von Ein anderes Blau11 im Jahr 2015. Beide Neupublikationen konnten keinen Nach3

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Stein: Der Autor als Seelenstripper. Auf den Widerspruch zwischen einer Kritik am öffentlichen Interesse seiner Arbeit und Biografie einerseits und der eigenen, vorangegangenen bzw. parallel laufenden Schilderung auf seinem Blog andererseits hat bereits Costazza hingewiesen. Vgl. Alessandro Costazza: Benjamin Steins Die Leinwand oder über die (Un-)Möglichkeit (auto-)biographischen Schreibens. In: Logik der Prosa. Zur Poetizität ungebundener Rede. Hrsg. von Astrid Arndt, Christoph Deupmann, Lars Korten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht unipress 2001, S. 301–333, hier S. 307. Benjamin Stein: Der Libellenflügel. Auszüge. In: Temperamente – Blätter für junge Literatur 3 (1989). Benjamin Stein: Das Alphabet des Juda Liva. Zürich: Ammon 1995. Benjamin Stein: Ein anderes Blau. Prosa für 7 Stimmen. München: Edition Neue Moderne 2008. Benjamin Stein: Die Leinwand. München: C.H. Beck 2010. Die hier verwendete Ausgabe ist: Benjamin Stein: Die Leinwand. München: dtv 2012. Im Folgenden unter der Sigle »L« mit den Kapiteln »W« (Wechsler) bzw. »Z« (Zichroni) und Seitenzahl im Text zitiert. Benjamin Stein: Replay. München: C.H. Beck 2012. Vgl. hierzu die Auflistung der unterschiedlichen Kritiker*innenmeinungen sowie Steins Statements in seinem Literaturblog https://turmsegler.net/replay (Zugriff: 25.07.2020). Benjamin Stein: Das Alphabet des Rabbi Löw. Berlin: Verbrecher Verlag 2014. Benjamin Stein: Ein anderes Blau. Prosa für 7 Stimmen. Berlin: Verbrecher Verlag 2015.

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hall in den Medien und auch nicht in der Forschung erzeugen,12 die bekanntesten und meist rezipierten Texte bleiben neben der Leinwand vor allem der Debütroman Das Alphabet des Juda Liva und mittlerweile verstärkt Replay in der Dystopie-/UtopieForschung. Neben Prosatexten finden sich im Blog zudem mehrere Gedichte von Stein, die dort erstpubliziert wurden. Im Kontext der Veröffentlichung von Die Leinwand wurde Stein dann auch als »ambitionierter Erzähler« und der Roman als eine »Sensation«,13 sogar als ein »literarisches Meisterwerk«14 bezeichnet, der »weit aus dem Mainstream der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur«15 herausrage. Die Leinwand ist als Flipbook gestaltet. Die Geschichte des Ich-Erzählers Amnon Zichroni kann von der einen Seite gelesen werden, die des Ich-Erzählers Jan Wechsler von der anderen. Beide Geschichten sind diegetisch miteinander verbunden und treffen formal in der Mitte aufeinander, ohne dass dabei den Leser*innen ein geschlossenes Ende präsentiert wird. Amnon Zichroni wächst in einer ultraorthodoxen jüdischen Familie in Jerusalem auf, vollzieht seinen Bildungsweg durchgängig auf jüdischen Schulen, einem jüdischen Internat, einer jüdischen Universität. Er studiert Medizin, bildet sich zum Psychoanalytiker weiter und trifft während seiner Zeit in der Schweiz auf den Geigenbauer Minsky, den er bei der Wiedergewinnung von dessen Erinnerungen unterstützt. Zichroni eignet sich besonders für diese Unterstützung, da er die Gabe besitzt, die Erinnerung anderer durch den Kontakt seiner bloßen Hände zu sehen, nachzuempfinden und auch zu verändern. Mit der Handlung um Minsky wird dabei der Skandal um Binjamin Wilkomirski fiktionalisiert.16 Dieser 12

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So thematisiert Stefan Müller in seiner Rezension zum Alphabet der Rabbi Löw die Neupublikation als im »neuen Gewand« erschienen, ohne auf die inhaltlichen Veränderungen einzugehen. Stefan Müller: Das Spiel mit dem Feuer. Oder: Benjamin Steins Das Alphabet des Rabbi Löw. In: literaturkritik.de. https://literaturkritik.de/id/19369 (Zugriff: 25.07.2020). Ijoma Mangold: Religion ist kein Wunschkonzert. In: Zeit online vom 8. April 2010. www.zeit.de/2010/15/Schriftsteller-Benjamin-Stein/komplettansicht (Zugriff: 25.07.2020). Jakob Hessing: Benjamin Stein und die göttliche Komödie. In: Welt online vom 4.  Dezember 2010. www.welt.de/print/die_welt/vermischtes/article11383042/Benjamin-Stein-und-diegoettliche-Komoedie.html (Zugriff: 25.07.2020). Steffen Richter: »Wahrheit, wechsel dich«. In: Tagesspiegel vom 4.  April 2010. www.tages spiegel.de/kultur/literatur/benjamin-stein-wahrheit-wechsel-dich/1783156.html. Vgl. auch Anja Hirsch: Benjamin Stein: Die Leinwand. Für meines Autors Gleichung gibt es viele Lösungen. In: FAZ online vom 4.  Juni 2010. www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/benjamin-stein-die-leinwand-fuer-meines-autors-gleichung-gibtes-viele-loesungen-1999031-p2.html (Zugriff alle: 25.07.2020). Benjamin Stein nahm im Rahmen seiner Recherche für Die Leinwand Kontakt zu Wilkomirski auf, er wollte auch mit dessen damaligem Psychotherapeuten sprechen, dieser hat sich allerdings zurückgezogen und wohnt in Israel – auch hier eine Anleihe für Steins Roman. Vgl. Stein: Die Leinwand (Z.01). 26. Februar 2008. In: Ders.: Turmsegler. Literaturblog. https:// turmsegler.net/20080226/die-leinwand-z01 (Zugriff: 25.07.2020).

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hatte 1995 das vermeintlich autobiografische Werk Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948 publiziert,17 in dem er scheinbar aus seinen eigenen Erinnerungen heraus von seiner Kindheit in verschiedenen Konzentrationslagern, seinen Aufenthalten in Kinderheimen sowie von staatlich organisierter Identitätsverschleierung durch die Schweiz berichtet. Es folgten Übersetzungen, Talkshow-Auftritte und Preise, wobei das Buch ökonomisch gesehen kein Beststeller war.18 Zum Skandal entwickelten sich diese Publikation und ihr Autor, als 1998 der Schweizer Journalist Daniel Ganzfried in der Weltwoche einen Artikel veröffentlichte, in dem er Wilkomirski als den Schweizer Bruno Dössecker ›entlarvte‹. Historisch aufgearbeitet wurde dieser Skandal von Stefan Mächler.19 Wilkomirski ist in der Leinwand in der Figur Minskys abgebildet. Nach dem Skandal verliert nicht nur Minsky jegliches Ansehen, auch Zichroni wird in Mitleidenschaft gezogen, er zieht nach Israel und trifft Jahre später dort Wechsler wieder, der sich nicht an ihn erinnern kann. Die Zichroni-Erzählung endet, als er Wechsler bei einem nächtlichen Mikwenbesuch unter Wasser drückt. Der zweite autodiegetische Erzähler ist ebendieser Jan Wechsler (in ›Anlehnung‹ an Daniel Ganzfried), dessen Erzählung mit dem Bericht einer Identitätsverunsicherung einsetzt. Dabei stellt er im Laufe der Erzählung fest, dass seine gesamte biografische Erinnerung nicht zu stimmen scheint, sondern vielmehr die (fiktive) Fiktionalisierung seines eigenen Romans ist. Der Versuch einer Aufklärung, die u.a. auch einen Mordverdacht an Zichroni beinhaltet, endet an besagter, nun leerer, Mikwe, in die Wechsler am Ende seines Berichts springt. Der ›Fall Wilkomirski‹ bzw. dessen Fiktionalisierung sowie Erinnerungskonstruktionen im Allgemeinen gehören zu den Hauptthemen des Romans. Ferner können hier die Frage der Identität – also: Was macht meine Identität aus, wenn meine Erinnerungen falsch sind? – sowie die Frage der Religion angeführt werden. Interessanterweise spielen die Geschichten der beiden Erzähler vor dem Hintergrund einer orthodoxen Lebensweise im säkularisierten Europa. Die Auseinan17 18 19

Vgl. Binjamin Wilkomirski: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948. Frankfurt/Main: Jüdischer Verlag 1995. Vgl. Stefan Mächler: Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie. Zürich: Pendo 2000, S. 133. Vgl. zum ›Fall Wilkomirski‹ Mächler: Der Fall Wilkomirski und ders.: Aufregung um Wilkomirski. Genese eines Skandals und seine Bedeutung. In: Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder von der Sehnsucht, Opfer zu sein. Hrsg. von Irene Diekmann, Julius H. Schoeps. Zürich, München: Pendo 2002, S. 86–131. Der ›Fall Wilkomirski‹ wurde unter erinnerungstheoretischer Perspektive sowie vor dem Hintergrund der Shoah mehrfach untersucht, vgl. hierzu Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Zur Verarbeitung des ›Wilkomirski-Skandals‹ in der Leinwand vgl. Silke Horstkotte: »Ich bin, woran ich mich erinnere.« Benjamin Steins Die Leinwand und der Fall Wilkomirski. In: Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Torben Fischer, Philipp Hammermeister, Sven Kramer. New York, Amsterdam: Rodopi 2014, S. 115–132.

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dersetzungen der Protagonisten mit ihrer europäischen bzw. US-amerikanischen Umgebung im Kontext der strengen Regelwahrung der ultraorthodoxen Tradition ist dem Roman in beiden Erzählsträngen inhärent. Immer wieder werden religiöse Vorschriften, eine religiöse Ausbildung, aber auch Abweichungen davon thematisiert. Gerade dieses alltagsreligiöse Setting mit den dazugehörenden Konflikten bietet die Möglichkeit, nach Religion als diskursiver Formation im Roman zu fragen; nach den Mechanismen der Aus- und Eingrenzung, nach den Wissensformen, die den religiösen Alltag regeln, aber auch nach den Machtprozessen, die sich auf Fragen nach religiöser Wahrheit, Identität beziehen, sowie schließlich der Aspekt der Identitätsbestimmung vor dem Hintergrund einer bestimmten Subjektivierung, die im Roman einen zentralen Stellenwert einnimmt. Während Sunrise ein historisches Setting aufweist, ist Die Leinwand in der Gegenwart angesiedelt. Auch hier gilt jedoch für die Analyse: Die Leinwand, die die jüdischen Religionsformen fokussiert, greift auf verschiedene Diskurse, die sich auf das ›Judentum‹ in Deutschland nach 1945, den Shoah-Diskurs, den ShoahErinnerungsdiskurs, den Religionsdiskurs, den literarischen Diskurs u.a. beziehen, zurück. In Interaktion mit diesen verschiedenen Diskursen steht auch hier Religion als diskursive Ordnungskategorie, die sich gerade in der Abgrenzung und Exklusion zeigt und dem Roman immanent ist.

Die Leinwand – paratextuelle Aspekte Die impliziten Leser*innen sind in der Leinwand bereits in der formalen Gestaltung explizit angesprochen und mitgedacht. Paradoxerweise führt gerade die Vorstrukturierung des Leseprozesses durch verschiendene Verfahren dazu, dass sowohl der Rezeptionsprozess als auch das -ergebnis gerade konträr durch Offenheit, Unsicherheit, ja Undeutbarkeit charakterisiert sind. Dies zeigt sich bereits vor der Lektüre sowohl in der Wahl des Flipbooks, der Umschlagsgestaltung als auch der Leseanweisung, die den Leser*innen freistellt bzw. offeriert, den Leseprozess ganz individuell zu handhaben und auch kapitelweise das Buch zu wenden: »Das Buch verweigert also systematisch jede Art der Schließung oder closure«.20 Die Wahl eines Flipbooks ist dabei eine Ausnahmeerscheinung.21 Die informative Funktion des Umschlags wird zudem bereits im Untertitel, »Jan Wechsler« bzw. auf der anderen Seite »Amnon Zichroni«, aufgeweicht und schon paratextuell ein Perspektivwechsel angekündigt. Die beiden Untertitel werden durch jeweils ein Bild, bei Zichroni weiße Handschuhe, bei Wechsler ein schwarzer Aktenkoffer,

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Horstkotte: »Ich bin, woran ich mich erinnere.«, S. 118. Zur Diskussion über die Wahl eines Flipbooks und der Covergestaltung siehe Benjamin Stein: Am Start. 24. Juni 2009. In: Ders.: Turmsegler. Literaturblog. https://turmsegler.net/ 20090624/am-start/#more-2850 (Zugriff: 25.07.2020).

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ergänzt. Zudem findet sich unter dem jeweiligen Bild als Zitat der Beginn des jeweiligen Erzählstranges. Für die Lesenden tragen die abgebildeten Zeichnungen nicht zur tiefergehenden Informationserweiterung bei. Erst retrospektiv werden sie als Transfersymbole erkannt, die einerseits auf einen zentralen Aspekt der jeweiligen Handlung verweisen, andererseits aber auch den Übergang zum anderen Erzählstrang bilden. So deuten die Handschuhe sowohl auf die Gabe als ›Erinnerungsflüsterer‹, und damit auf die Themen Erinnerung und Identität, als auch proleptisch auf Jan Wechslers Geschichte, die durch das Abstreifen der Handschuhe und der daraus resultierenden Ereignisse initiiert wird. Der Koffer wiederum bildet den Ausgangspunkt für den Erzählstrang von Wechsler, er steht für die Erinnerungsarbeit, die Wechsler vornehmen muss, und verbindet beide Geschichten symbolisch, da Zichroni derjenige sein muss, der ihm diesen gegeben hat – werden doch die Dinge, die der Koffer enthält, in der Zichroni-Geschichte erläutert. Mit dem Koffer setzt Wechslers Geschichte ein, er wird zur Büchse der Pandora, mit dem Abstreifen der Handschuhe hört Zichronis Geschichte auf. Retrospektiv kann man auch die Verbindung des Symbols mit dem jeweiligen Zitat auf dem Umschlag erkennen. So öffnen Wechslers die Tür am Schabbat, als der Koffer zugestellt wird;22 Zichronis sechster Sinn ist die besagte Gabe,23 die er mit den Handschuhen kontrolliert. Für die Erstleser*innen sind diese Verbindungen zwischen Untertitel und Symbol bzw. hier noch Zeichnung, zwischen Zeichnung und Zitat nicht erkennbar. Sie können sie nicht eindeutig zuordnen. Auch die Verbindung der Zitate zu den Untertiteln scheint Fragen aufzuwerfen. So steht der ›nichtjüdische‹ Name Jan Wechsler in Verbindung mit einem Zitat, das explizit auf die Praxis des Judentums verweist; Amnon Zichroni hingegen, bei dem man ob des Namens einen jüdischen Bezug vermuten würde, wird eher als ›übersinnlich‹ denn religiös eingeführt. Auch der Titel erschließt sich den Leser*innen vor allem im Leseprozess auf seinen verschiedenen Ebenen. Würde man im ersten Moment bei einer Leinwand an Aspekte von Handwerk, Kino oder Kunst denken, kommen diese im Roman im übertragenen Sinn vor. So verweist die Leinwand einerseits auf den individuellen Prozess der Identitätskonstruktion durch Erinnerung, dies zeigt sich darin, dass Zichroni bei seiner Arbeit während der Psychoanalyse die Erinnerungen der Patientinnen zutage fördert, wobei die Behandelten dann zu Künstlerinnen werden können: »In der Analyse konnte man die Zügel wieder in die Hand geben – oder vielmehr die Palette und den Pinsel, mit dem sie auf der Leinwand ihrer Erinnerungen neue Akzente setzten« (L Z 152). Andererseits findet sich die Leinwand gerade als Bild für eine verfälschte Identität. So geht es Minsky, der bei der Suche nach der

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Umschlagseite L W: »Für gewöhnlich öffnen wir am Schabbes nicht die Tür, wenn es läutet.« Umschlagseite L Z: »Ich glaubte lange Zeit, ich hätte so etwas wie einen sechsten Sinn.«

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eigenen Vergangenheit seiner Erinnerung nicht trauen kann und Stück für Stück sich, wie ein Restaurator, annähern muss: Sein Leben, so beschrieb er [Minsky] es mir [Zichroni] gegenüber, als wir aus Polen zurückkehrten, kam ihm vor wie eine Leinwand, wie ein überdimensionales verfälschtes Gemälde. Er trug die Farben ab, um die Grundierung freizulegen, die fünf ersten Jahre seines Lebens, die grob übermalt worden waren […]. (L Z 176f.) Während diese beiden Titelbezüge vom Individuum ausgehen und dieses aktiv einbeziehen, taucht die Leinwand auch als eine Projektionsfläche, als dem Subjekt passiv Widerfahrenes auf. Wechsler kann sich an seine alte Identität nicht erinnern. Als seine Frau mit seiner Mutter telefoniert und ihr Berndeutsch hört, löst eben dieses Wort bei Wechsler eine von den verdrängten Erinnerungen aus: »Die Erinnerung kam wie ein Flash: Worte aus einem Lautsprecher, inszenierte und auf eine Leinwand projizierte Bilder – wie ein Film, der meine Mutter und mich in einem anderen Leben zeigt« (L W 102). Damit kann die gemischte deskriptive Funktion des Titels auf zwei Ebenen angesiedelt werden, einerseits thematisch, indem der Titel auf die Leinwand als Thema, nämlich als Identitäts- und Erinnerungsfläche verweist, andererseits rhematisch, da der Roman wie eine Leinwand funktioniert: mit verschiedenen Schichten, die durch die Erzählstränge und die Leseanleitung als verschiedene Farbschattierungen und Grundierungen wirken. Der Titel konnotiert so verschiedene Assoziationen: von den Zeichnungen, den Leinwandbedeutungen, den Figurennamen samt Zitaten hin zum jüdisch-orthodoxen Kontext sowie der europäischen Literatur.24 Ein Kaleidoskop an verschiedenen, unverbundenen Eindrücken, die nicht auf einen eindeutigen Nenner zu bringen sind, wird auf paratextueller Ebene bereits als poetologisches Konzept angelegt und das diegetische Thema der Negierung von universalen Wahrheitskonzepten zu verschiedenen subjektiven Wahrnehmungen eingeführt.25 Auch die Relevanz der ›jüdischen Religion‹ für den Roman lässt sich der formalen Anlage entnehmen, da die Erzählstränge auf das Judentum verweisen: Zichroni mit seinem Namen, Wechsler mit dem Schabbat-Hinweis im Zitat. Inwiefern sich die Darstellung der Religion in der formalen Gestaltung des Romans spiegelt, wird im Folgenden in den jeweiligen Kapiteln behandelt.

24 25

Oscar Wildes Dorian Gray wird im Roman immer wieder aufgerufen. Vgl. Oscar Wilde: The Picture of Dorian Gray [1890/91]. London: Everyman 2001. Zur metaphorischen Wirkung des Titels »Leinwand« vgl. auch Costazza: Benjamin Steins Die Leinwand, S. 321.

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V.2

Die ›Orthodoxie‹ – Religion zwischen Identitätsstiftung und ›Unterwerfung‹

Die Leinwand ist ein Roman, der jüdische Religion, jüdischen Alltag und den Umgang mit der Shoah thematisiert. Dass es ›das Judentum‹ nicht gibt, ist ein Allgemeinplatz, genauso wie dies auch für jede andere religiöse Form wie das Christentum, den Islam, den Hinduismus, den Buddhismus etc. nicht gilt; eine Verwendung des Begriffs dient daher allein einem analytischen Zweck. In der Leinwand steht besonders das ultraorthodoxe und modern orthodoxe Judentum im Zentrum, in Jerusalem, den USA, der Schweiz und in Deutschland. Dies sind die Schauplätze, an denen sich die Protagonisten des Romans aufhalten, wo sie aufwachsen und wo sie ihrem Alltag nachgehen, und zwar als orthodoxe Juden. Dabei ist auch die Orthodoxie […] keine monolithische Erscheinung, sondern ein recht buntes Konglomerat von Gruppen. Gemeinsam ist allen der erklärte Wille, die Halacha auf der Basis der Schriftlichen wie Mündlichen Torah als absolut verbindliche Offenbarung Gottes möglichst umfassend weiter zu entwickeln und anzuwenden.26 In der Forschung finden sich dabei verschiedene Einteilungen. So wird auf der einen Seite zwischen liberalen und orthodoxen Juden unterschieden,27 andere sprechen vom progressiven, orthodoxen und ultraorthodoxen Judentum,28 wohingegen in anderen Übersichten alle ultraorthodoxen Strömungen unter die orthodoxen gefasst werden.29 Ursprünglich legten die Vertreter der heute orthodox genannten Strömungen den Fokus mehr auf die »religiöse Praxis als [auf] […] Fragen der Glaubenslehre« und hätten erst Ende des 19. Jahrhunderts angefangen, sich selbst als »orthodox« zu bezeichnen, wobei der Begriff durch Übersetzungstätigkeiten im 20. Jahrhundert auch in das Jiddische und Hebräische Eingang gefunden habe.30 Zwar gibt es viele verschiedene Strömungen in der Orthodoxie, allerdings verstehen sich 26 27 28 29

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Maier: Judentum, S. 165. Andreas Nachama, Walter Homolka, Hartmut Bomhoff: Basiswissen Judentum. Freiburg/Breisgau, Basel, Wien: Herder 2015, S. 33. Susanne Galley: Das Judentum. Frankfurt/Main, New York: Campus 2006, S. 179. Maier: Judentum, S. 165ff. Vgl. auch Morgenstern: »Nach heutigem Sprachgebrauch lässt sich die jüdische Orthodoxie in mehrere historisch-kulturell durchaus unterschiedliche Flügel aufteilen: den der traditionell-rabbinischen, antichassidischen Mitnaggdim (Gegner) aus Litauen, den des osteuropäischen und ungarischen Chassidismus, den der ungarischen Ultraorthodoxie und den der deutschen Neo-Orthodoxie. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trat die orientalisch-sephardische Orthodoxie […] im Staat Israel und in der westlichen Diaspora hinzu.« Matthias Morgenstern: Art. »Orthodoxie«. In: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Bd. 4. Hrsg. von Dan Diner. Stuttgart: Metzler 2013, S. 449–455, hier S. 450. Morgenstern: Orthodoxie, S. 449.

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[i]hrer Diversität ungeachtet […] diese Gruppen gegenüber den nichtorthodoxen Strömungen überwiegend als einander zugehörig. In ihrer Gesamtheit als Orthodoxie dienen sie heute allen liberalen und säkularistischen Strömungen des Judentums als Bezugspunkt zur Orientierung und Abgrenzung.31 In der Leinwand finden zwei orthodoxe Strömungen besondere Aufmerksamkeit: die Ultraorthodoxie auf der einen, die Neo-Orthodoxie, im Roman unter dem Begriff modern orthodox anzutreffen, auf der anderen Seite. Die Neo-Orthodoxie, eine im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum entstandene Strömung, unternahm »den Versuch einer Synthese von jüdisch-orthodoxer und nicht-jüdischer Kultur […]«, um auf Fragen, die sich durch die kulturelle Umwelt und moderne Veränderung ergaben, zu reagieren. In diesem Kontext entstanden auch Schulen, die »säkulare Unterrichtsinhalte mit traditionell-jüdischen Bildungsinhalten verbanden, die Absolventen zu einem orthodoxen Lebensstil er[zogen] und zugleich auf ein Berufsleben in der bürgerlichen Welt vorbereite[ten]«.32 Die ultraorthodoxe Praxis hingegen kann durch eine strikte Religionsgesetzeinhaltung, durch das Torah-Studium auch nach der Heirat anstatt der Berufstätigkeit für die Männer, ihrer Abschottung (in verschiedenen Graden) von der säkularen Gesellschaft und ihrer äußerlichen Erscheinung von den anderen orthodoxen Gruppen unterschieden werden.33 Obwohl der Roman auf die verschiedenen orthodoxen Strömungen des Judentums rekurriert, gilt auch für diese Analyse, dass es nicht darum geht, nach der historisch adäquaten Darstellung des ultraorthodoxen bzw. modern orthodoxen Judentums zu fragen, sondern nach dessen Darstellung als Religion, als Ordnungskategorie.

Das orthodoxe Leben – Israel, Schweiz und die USA In Die Leinwand berichtet Zichroni von seinem orthodoxen Leben und seiner orthodoxen Ausbildung, Wechsler von seiner Rückkehr zum observanten Leben, auch geht er auf seinen Alltag als orthodoxer Jude in München ein. Schaut man sich die Darstellung durch Zichroni an, wird deutlich, wie sehr die religiöse Ordnung in das Leben eingreift bzw. das Leben bestimmt. In Analepsen berichtet der reflektierte autodiegetische Erzähler in einem autobiografischen Stil, dass er im ultraorthodoxen Stadtteil Meah Shearim in Jerusalem als Amnon ben Yehuda geboren wurde:

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Ebd. Matthias Morgenstern: Art. »Neo-Orthodoxie«. In: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Bd. 4., S. 341–346, hier S. 341. Vgl. Yakov Ariel: Art. »Ultraorthodoxie«. In: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Bd. 6, S. 211–216. Vgl. auch Maier: Judentum, S. 165f.; Galley: Judentum, S. 180.

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In einer Gesellschaft strengster Norm genügt ein minimales Abweichen vom Erwarteten, um beargwöhnt zu werden. Und vielleicht lag es daran, dass ich oft das Gefühl hatte, meine Eltern würden immer ein wenig mehr tun, als nötig schien, immer ein wenig bereitwilliger als andere der streng vorgezeichneten Linie der Erwartungen folgen – um, wenn schon nicht anerkannt, so doch zumindest akzeptiert zu sein. (L Z 9f.) Diese Erwartungen bestimmen das Leben der Menschen im Stadtteil auf eine klare und vorgegebene Art und Weise: Männer heiraten im Alter von 18 bis 20 Jahren. Als Junge hat man vorher das »Cheder«, die religiöse Schule für Kinder, und anschließend eine »Jeschiwa«, eine religiöse Schule für Jugendliche, zu besuchen (L Z 11). Die Männer arbeiten nicht, sondern beschäftigen sich tagsüber mit den Heiligen Texten (L Z 11). Die Gruppe, als »Haredi«34 im Roman bezeichnet (L Z 21), ist klar von anderen Personen bzw. Gruppen innerhalb derselben Religionsgemeinschaft getrennt. So wird durch den Umzug der Familie nach Geula, einem benachbarten Viertel, deutlich, dass »wir nicht nur eine Sprachgrenze [überquerten] – man dort nicht Jiddisch, sondern Iwrit [sprach] – wir machten auch eine Zeitreise von etwa einhundert Jahren und luden unseren Hausrat in einem anderen Kontinent der jüdischen Welt ab« (L Z 11). Die Haredi unterscheiden sich demnach von anderen orthodoxen Gruppen durch normierte Abläufe und bestimmte Praktiken. Von den nichtorthodoxen Juden unterscheiden sie sich durch die strenge Einhaltung der religiösen Gesetze und der Kleidungsvorschriften.35 Ferner ist der Umgang sowohl mit Personen der außerjüdischen Welt unerwünscht als auch mit ihren Produkten wie bspw. der Kunst, der Literatur etc. Die europäischen Bücher von Zichronis Vater werden als »goysche[] Bücher, verbotene[] Bücher« (L Z 12) bezeichnet; Zichroni, der sie, auch in der Schule, liest, ist bereits als Kind bewusst, dass er einen Tabubruch begeht (»weltlicher Schmutz englischsprachiger Romane« L Z 20). Wie gravierend dieser Verstoß ist, zeigt sich in der Reaktion des Vaters auf die Entdeckung durch einen Lehrer: »Auf der Jeschiwa kannst du nicht bleiben« (L Z 26) – Zichroni wird ins Ausland geschickt. In der Schweiz ist der Alltag bzw. die Lebensführung in einer abgeschwächten Form religiös geprägt. So gibt es in der Gemeinschaft in Zürich zwar auch ultraorthodoxe Juden, allerdings grenzen sich diese nicht stark ab, die Kleidervorschriften sind nicht so streng und dienen dabei vor allem der Identifikation, sowohl nach außen als auch nach innen: In Geula zeichneten sie Zichroni als ultraorthodoxen Juden aus, in Zürich als Juden bzw. konkreter als einen frommen Juden. Eine weitere Abschwächung liegt in dem geänderten, nun auch europäische Sprachen und 34 35

Haredi oder »Charedi« wird bei Galley als Sammelbezeichnung für nicht-chassidische ultraorthodoxe Juden benutzt (Judentum, S. 179). In der Leinwand werden nur männliche Figuren behandelt und für Gruppen das generische Maskulinum benutzt. Dies wird für die Analyse der Romaninhalte beibehalten.

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weltliche Themen enthaltenen Unterricht. Die Lebensweise bezeichnen der Onkel wie auch der Erzähler dabei als »modern orthodox« (L Z 33 u. 150), wobei der orthodoxe Aspekt relevant bleibt, was vor allem an den Gemeinsamkeiten erkennbar ist und textintern das ›Orthodoxe‹ zu kennzeichnen scheint: das Primat und Studium der Heiligen Texte und die religiöse Erziehung, bestimmte Formen der äußeren Kleidervorschriften sowie die Einhaltung der religiösen Gesetze, aber vor allem ist es die Abgrenzung Nichtjuden gegenüber. Dabei ist diese Ausgrenzung keine neutrale, sondern eine negativ konnotierte, die sich in dem Ausdruck »Goyim Naches« zeigt (L Z 33) und besonders von Zichronis Onkel geprägt wird. Dieser Begriff kann verstanden werden als »›games goyim play‹, a sometimes ›racist‹ term of opprobrium for European Christian culture« und meint damit suspekte Formen von ›Vergnügen‹, die für Juden unangebracht und daher zweifelhaft wären.36 Während die Züricher Juden bestimmtes europäisches Wissen demnach rezipieren und für wertvoll halten, allen voran Onkel Nathan, ist der Umgang mit Europäern wie auch ihrer Lebensweise, sprich die Stadt an sich, verpönt. Dementsprechend wohnen Zichroni und sein Onkel in einem jüdischen Viertel und der Junge sieht die Stadt kaum.37 Allerdings verweist der Erzähler darauf, dass ihm trotz dieser Ähnlichkeit stets bewusst war, nicht mehr in Jerusalem, als »Gefangener« (L Z 33), zu sein. Eine Veränderung dieser Trennung tritt auch nicht ein, als Zichroni in die USA geht, um dort sein Abitur an einer weiterführenden jüdischen Schule zu machen: »Schüler und Studenten sollten vor allem eine orthodoxe Erziehung erhalten, sich intensiv mit der schriftlichen und mündlichen Überlieferung befassen, dabei jedoch auf eine Universitätsausbildung nicht verzichten müssen« (L Z 35f.). Das Leben im Internat ist ähnlich geregelt wie das in Zürich. Es gibt explizite Regeln – einen exakten Stundenplan, das Verbot von Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften (mit Ausnahmen), einen eingeschränkten Zugang zu weltlichen Büchern und der Stadt (ebd.) – und die impliziten, die die vorherigen noch zusätzlich stützen: So muss ein Ausflug in die Stadt zwar genehmigt werden, ist also per se nicht verboten, wird aber von der Schule nicht gern gesehen. Schaut man sich den Bildungsweg eines orthodoxen Jungen an, so wird deutlich, dass sein gesamtes Wissen, sein Umfeld, seine Zeit und auch seine äußere Erscheinung von diesen religiösen Normen und Inhalten geprägt sind. Religiöses Wissen erlangt man als orthodoxer Mann (und nur die männliche Perspektive ist in dem Roman dargestellt und verweist damit gleichzeitig auf die Geschlechtertrennung in der Ultraorthodoxie, wo die Frauen nicht diesen Ausbildungsweg gehen) durch einen vorgefertigten, institutionalisierten Weg. Dieser Weg ist im Ro36 37

Daniel Boyarin: Unheroic Conduct. The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man. Berkeley, Los Angeles: Unipress 1997, S. 38. »Ich ging in Zürich zur Schule, aber ich lebte nicht dort« (L Z 32).

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man deutlich erkennbar. Der strikte Lernplan mit einer immer gleichbleibenden Auswahl an Lernmaterial sorgt für ein einheitliches Wissensbild bei den Heranwachsenden, das sich nicht verändert. Abweichungen davon fallen direkt auf und werden negativ aufgenommen. Das zeigt sich an der Entwicklung, die durch den neuen Lernpartner von Zichroni, Eli Rothstein, in Gang gesetzt wird. Dieser problematisiert konkret solche Form der Erziehung und der Vermittlung von Religion als Indoktrination einer Ideologie (L Z 76) und stellt seine persönliche Überzeugung dieser entgegen, nämlich den individuellen Zugang zu Gott in Form mystischer Erfahrung. Aufgrund einer Krankheit hat sich Rothstein auf Anraten eines Rabbiners mit Texten der Mischna beschäftigt. Ausgehend von seiner Auseinandersetzung mit Mikwaot, also Tauchbädern, gelangt er zu dem Schluss, dass ein Tauchbad in einer Mikwe ihn heilen würde. Nach einem solchen ist er tatsächlich geheilt, wobei man nicht weiß, ob es der vorherigen Behandlung oder doch dem Tauchbad zu verdanken ist. Rothstein ist vom Letzteren überzeugt und teilt seine Ansichten mit Zichroni. Diese beruhen zusätzlich auf einem grundsätzlichen Zweifel an dem Wissen, das ihnen beigebracht wird, und der Überzeugung, alles hinterfragen zu müssen (L Z 76). Gerade diese Fragen, die sich daraus ergeben, sind nicht nur in der orthodoxen Schule problematisch (Die Rabbiner »hätten ihn anderenfalls als gefährlich eingestuft und womöglich sogar der Schule verwiesen«, ebd.), sondern wären es auch für einen modern orthodoxen Juden wie Nathan Bollag, da »diese Fragen an den äußersten Randbereich des religiös Sanktionierten führten« (L Z 83). Bezeichnenderweise ist Zichroni vollkommen bewusst, dass Rothsteins Einstellung sich nicht im Rahmen des Sag-Mach-Baren im Kontext der orthodoxen Ausbildung befindet, weswegen die beiden jungen Männer ihre Gespräche heimlich führen. Religiöses Wissen und religiöse Wahrheit werden in dieser Gesellschaft über das Studium der Heiligen Texte unter der Anleitung der Rabbiner erworben, ein exklusiver Zugang zum Göttlichen, sei es durch die mystische Erfahrung, die Rothstein erlebt, sei es in Form einer ›Gabe‹, die Zichroni besitzt, widersprechen diesem System. Zudem ist der Zugang zum Wissen, besonders dem Mystischen, begrenzt: Mystische Bücher sind für junge, unverheiratete und kinderlose Schüler verboten (L Z 85). Will man sich dieses Wissen dennoch aneignen, muss man sich den Zugang zu den mystischen Lehren, wie Rothstein, selbst erarbeiten. Allerdings sind diese mystischen Lehren vom orthodoxen Judentum nicht kategorisch ausgeschlossen, sondern nur der Zugang zu ihnen in der orthodoxen Ausbildung geregelt. Dementsprechend werden sie auch nicht als unwahr oder falsch angesehen, sondern als exklusiv und eine gewisse Reife voraussetzend. Ein Blick in die Mystikforschung zeigt dabei, dass auch jüdische Mystik bis heute einer genauen Definition harrt, die Gershom Scholem, der ihre Erforschung maßgeblich etabliert hatte, gerade nicht geben wollte, sondern nur nach »allgemei-

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nen Wesenszügen jüdischer Mystik« fragte.38 Für Scholem stellt sie den »Versuch dar, die religiösen Werte des Judentums selbst als mystische Werte zu verstehen. Sie versenkt sich in die Vorstellung des lebendigen Gottes, der sich in Schöpfung, Offenbarung und Erlösung manifestiert«39 , bis hin zu der Vorstellung, dass »ihr aus dem Bezirk des lebendigen Gottes eine ganze Welt göttlichen Lebens entsteht, die im geheimen in allem Seienden gegenwärtig ist und wirkt«.40 Eine besondere Bedeutung für die jüdische Mystik hat die Torah, die als ein »lebendiger Organismus« mit immer neuen Sinnschichten, als »eine lebendige Verkörperung der göttlichen Weisheit« verstanden wird.41 Ferner kennt auch die jüdische Mystik, wie andere historische mystische Ausformungen, die mystische Erfahrung (jedoch nicht unbedingt als unio mystica), deren sprachliche Wiedergabe als Unmöglichkeit häufig in Berichten zu finden ist. Eine mystische Gruppe jüdischer Ausprägung setzt sich hier allerdings explizit ab. Die Kabbalisten hätten eine »Abneigung«42 entwickelt, auf persönliche und innerliche Weise in mystischen Autobiografien von diesen Erfahrungen zu berichten; vielmehr finde man intime und private Aussagen nicht in für die öffentliche Rezeption bestimmten Texten – eine »Selbstzensur der Kabbalisten«43 also. Scholem verweist darauf, dass die jüdische Mystik neben 2.000 bis 3.000 gedruckten mystischen Texten eine noch darüber hinausgehende handschriftliche, unveröffentlichte Überlieferung aufweist,44 – die Diversität der verschiedenen Ausprägungen ist damit bereits in der Masse angezeigt. Diesen heterogenen Formen gemeinsam seien »bestimmte unwandelbare Grundvorstellungen über Gott, die Schöpfung und die Stellung und Rolle des Menschen in der Welt«45 sowie die Annahmen einer Geheimlehre im doppelten Sinn: des Inhalts nach, als geheimes Wissen, sowie der Tradierung durch einen kleinen Kreis von Personen.46 Ein weiterer Punkt, der hervorgehoben werden muss, ist die männliche Ausprägung der jüdischen Mystik, die »sowohl im Historischen wie im Metaphysischen von Männern für Männer gemacht ist.«47 Die jüdische Mystik hat nach Schäfer weder einen klaren Umriss, einen klaren Ursprung noch einen expliziten Anfang: Stattdessen versteht er die jüdische Mystik dynamisch als einen Prozess, bei dem sich Denkströmungen zu unterschiedlichen Zeiten und Orten herausbildeten, als »a polymorphic web or network of ideas that 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47

Vgl. Scholem: Die jüdische Mystik, Kapitelüberschrift. Ebd., S. 12. Ebd. Ebd., S. 15. Ebd., S. 17. Ebd. Vgl. ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 23, der letzte Punkt sei allerdings eher Theorie geblieben, so Scholem. Vgl. ebd. Ebd., S. 40. Scholem führt an, dass gerade dieses Fehlen bei den Kabbalisten dazu geführt habe, das Dämonische aus dem Weiblichen abzuleiten (vgl. ebd., S. 41).

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are not free-floating but manifest themselves in certain practices of individuals as members of certain communities.«48 Sein historischer Ansatz negiert dabei alle universalisierenden bzw. den historischen Aspekt ausblendenden Bestrebungen, mit dem Verweis, Mystik sei jeweils aus ihrem historisch-kulturellen Kontext zu erläutern.49 So sieht er die Anfänge jüdischer Mystik in verschiedenen Texten, denen gemeinsam ist, dass sie »the gap between heaven and earth, between human beings and heavenly powers, between man and God«50 zu überbrücken versuchen. Seine Quellen sind dabei zwischen dem Ezechielbuch der Hebräischen Bibel, der Hekhalot-Literatur der Merkavah-Mystik (Thronmystik: Schau von Gottes Erscheinung auf dem Thron als Ergebnis einer ›Himmelwanderung‹ der Seele durch Kammern und Paläste) »as the first unchallenged manifestation of the Jewish mysticism«51 angesiedelt. Im deutschen Sprachraum hat sich seit dem Mittelalter zudem der Chassidismus ausgeformt, der wiederum im 17. Jahrhundert von der Kabbala verändert wurde.52 Die Kabbala stellt die bedeutendste bzw. bekannteste Form jüdischer Mystik dar, wird häufig synonym für diese gebraucht und kann hier nur in Kürze dargestellt werden. Der hebräische Begriff Kabbala kann mit »Tradition«53 oder »Überlieferung, die man empfängt«,54 übersetzt werden und ist durch verschiedene geografische Regionen und historische Ausprägungen mit einigen Hauptströmungen charakterisiert.55 Das Hauptwerk der mittelalterlichen Kabbala, die im 12. und 13. Jahrhundert als Geheimlehre in Erscheinung trat,56 war das Sefer ha-Zohar (Buch des Glanzes).57 Hier wurden vorhandene Gedanken und Themen aufgegriffen und umgedeutet, so die Bedeutung von Gottesnamen in

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Schäfer: Origins, S. 23. Vgl. ebd., S. 25ff. Hier ist relevant, dass Schäfer sich gegen eine Strömung stellt, die wissenschaftliche Arbeiten zur jüdischen Mystik aufgreift, um daraus eine neue »postmodern mystical Jewish Religion« (i.S.v. New Age) zu formen, und historische Problemfelder ausschließt (vgl. ebd., S. 26): Explizit grenzt er sich gegen Moshe Idel ab, der einen phänomenologischen Zugang zur Mystik als universalem Phänomen vertritt. Vgl. Moshe Idel: Kabbalah. New Perspectives. New Haven u.a.: Yale Unipress 1988. In diesem Sinn spricht Schäfer sich gegen die Suche nach universellen »mystical patterns« innerhalb jüdischer mystischer Literatur aus, die entgegen ihrer historischen Verortung verallgemeinert werden (Schäfer: Origins, S. 24). Ebd., S. 353. Ebd., S. 27. Scholem setzte die Anfänge in das erste Jahrhundert v.u.Z. an (vgl. Die jüdische Mystik, S. 43f.). Vgl. zum Chassidismus ebd., S. 87–127. Ebd., S. 22. Johann Maier: Die Kabbalah. Einführung – Klassische Texte – Erläuterungen. 2. durchges. Aufl. München: C.H. Beck 2004, S. 12. Vgl. ebd. Vgl. hierzu Maier: Judentum, S. 144. Vgl. Maier: Die Kabbalah, S. 13.

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Verbindung mit den göttlichen Wirkungsweisen (Sefirot); damit zusammenhängend Schöpfungsspekulationen und kosmologische Ordnungen, ferner die aus der frühen Mystik bekannte Thronwagenspekulation, weiterhin die hervorgehobene Stellung der Torah als aus verschiedenen Sinnschichten bestehend sowie die Seelenwanderung (hier allerdings noch als Strafe).58 Neben zahlreichen kabbalistischen Ausprägungen nach dem Zohar ist die lurianische als meistrezipierte Strömung zu nennen, bezeichnet nach Isaak Luria (16. Jahrhundert), wobei sie in mehreren Texten durch seine Schüler bzw. Pseudoschüler vermittelt vorliegt.59 In seiner Auseinandersetzung mit vorhandenen Texten beschreibt Luria einen »kosmischen Differenzierungsprozess[] aus der unterschiedslosen und unendlichen göttlichen Einheit in die Vielheit der begrenzten Wesenheiten«60 als einen Weltentstehungsprozess, bestehend aus »Zimzum (Selbstkontraktion Gottes aus seiner eigenen Mitte), Ha’azala (Emanation des Gotteslichtes in den entstandenen Freiraum), Schevirath ha-Kelim (Bruch der Gefäße, die das Licht [die göttlichen Wirkungsweisen (Sefirot)] begrenzen sollten) und schließlich Tikkun (Neuemanation einer stabileren Lichtkonfiguration mit gleichzeitiger Läuterung der im Bruch gefallenen Lichtfunken).«61 . Scholem führt aus, dass in der lurianischen Kabbala mit dem Bruch der Gefäße die Entstehung des Bösen als »abgesonderte Identität und reale Macht« begründet wurde.62 Das Tikkun, die »Lehre von der Heilung oder Restitution«63 , würde auf die Zusammenfügung, Wiederherstellung eines idealen Urzustandes der Ganzheit verweisen, was wiederum als Erlösung des Menschen verstanden wird.64 Gerade dieser Prozess der Heilung, der Restitution – Tikkun – wird dabei als ein am Ende vom Menschen zu vollziehender verstanden, was den Bogen zur religiösen Praxis bildet: zur Einhaltung der Gebote, dem Gebet sowie dem Studium der Heiligen Schriften. Vor diesem Hintergrund unterstützt die Kabbala die traditionellen Formen und Gebote, womit sie zur Festigung der Religionspraxis beigetragen hat.65 Das Konzept des Tikkun wird aktuell breit rezipiert, es findet sich allerdings bereits Kritik an der Aufweichung des Begriffs: »[T]he term tikkun olam itself has

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59 60 61 62 63 64 65

Vgl. ebd., S. 19–37. Vgl. auch zur Seelenwanderung als Strafe im Zohar: Scholem: Die jüdische Mystik, S. 261–266. Vgl. ausführlicher zu den Vorläufern wie zum Zohar: Karl Erich Grözinger: Jüdisches Denken. Theologie, Philosophie, Mystik. Bd. 2: Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus. Frankfurt/Main, New York: Campus 2005. Vgl. zur Überlieferungsproblematik ebd., S. 618ff.; vorher schon Scholem: Die Jüdische Mystik, S. 267–282. Grözinger: Jüdisches Denken, S. 625. Ebd., S. 623. Scholem: Die jüdische Mystik, S. 293. Ebd., S. 291. Vgl. ebd., S. 294. Vgl. Maier: Kabbalah, S. 324 u. 348.

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become a cliché, used so often that it offers little real guidance for social justice efforts«.66 In der Leinwand wird die Kabbala durch Rothstein maßgeblich thematisiert, besonders im Kontext seiner Krankheit und des Rabbinerrats, er bedürfe einer ›Wiederherstellung‹, womit auf das Tikkun verwiesen wird (vgl. L Z 69f.). Fortan beschäftigt er sich ausführlich mit Mikwaot, den rituellen Tauchbädern; sein Studium und sein fast schon kontemplativer Zugang können aus seiner Perspektive als eine Form der Überbrückung der Lücke zwischen Mensch und Gott bezeichnet werden, als Wiederherstellung eines als unvollständig empfundenen Zustandes. Rothsteins Erlebnis in der Mikwe kann in diesem Kontext so auch als mystische Erfahrung gedeutet werden, die sich gerade nicht über die unio mystica herleiten muss und die ihn transformiert. Nach seiner Heilung ist Rothstein der festen Überzeugung, dass der Weg zur Wahrheit der Torah nicht in den Lehren der orthodoxen Schule zu finden ist, sondern im eigenen, individuellen Studium und der individuellen Hinwendung zu Gott. Interessant dabei ist, dass Rothstein die Wissensvermittlung der Schule nicht per se ablehnt, sondern sie nur für seine eigenen Bedürfnisse als nicht zielführend ansieht (vgl. L Z 76). Schlussendlich gelangt er zu der Einsicht, dass er zwar den orthodoxen Gesetzen treu bleiben will, sich jedoch nicht damit zufriedengibt, der orthodoxen Tradition gemäß die Schriften wortgetreu zu nehmen, sondern Aussagen anzuzweifeln und »eher einer Auslegung den Vorrang geben [will], die über das Offensichtliche hinausgeht, und vielleicht gerade dadurch die Poesie des göttlichen Handelns in der Welt am wahrhaftigsten offenbarte« (L Z 87). Der kategorische Konflikt besteht für Rothstein damit zur Wissenschaft und Lehrmeinung. Hier sieht er seine Erlebnisse und seine Heilung außerhalb dieser Wissensund Erfassungskriterien, die das Geschehene mit den ihnen eigenen Voraussetzungen, Instrumentarien und Annahmen nicht erklären können. Neben Rothstein ist es allerdings vor allem Zichroni, der diesen Konflikt des ›Übernatürlichen‹ (in Form seiner Gabe) mit dem Wissenschaftlichen durchlebt und reflektiert.

Das ›Übernatürliche‹ vs. die ›westliche‹ Wissenschaft Der Antagonismus zwischen einer übernatürlichen und einer empirisch-wissenschaftlichen Erklärung wird in der Leinwand auf zwei Ebenen thematisiert: einer wissens- und einer kulturdiskursiven Ebene. Schaut man sich die erste Ebene an, 66

Jane Kanarek: What Does Tikkun Olam Actually Mean? In: Righteous Indignation. A Jewish Call for Justice. Hrsg. von Or N. Rose, Jo Ellen Green Kaiser, Margie Klein. Woodstock: Jewish Leights Publishing 2008, S. 15–22, hier S. 15. Vgl. auch Lawrence Fine: Tikkun. A Lurianic Motif in Contemporary Jewish Thought. In: From Ancient Israel to Modern Judaism. Intellect in Quest of Understanding. Bd. 4. Hrsg. von Jacob Neusner u.a., Atlanta: Scholars Press 1989, S. 35–53; zur Verwendung von tikkun olam im Sinne eines »catch-all«-Begriffs vgl. auch Levi Cooper: The Assimilation of Tikkun Olam. In: Jewish Political Studies Review 25/3–4 (2013), S. 10–42.

V Benjamin Stein: Die Leinwand

wird deutlich, dass sich hier zwei Wissensordnungen als Oppositionen gegenüberstehen: erstens die der empirischen Wissenschaft, die von bestimmten anerkannten Lehrmeinungen ausgeht und Ergebnisse bei gleicher Anordnung reproduzieren kann, also eine objektive, rational-empirische Wissenschaftsvorstellung; zweitens eine Wissensordnung, die auf subjektiven Überzeugungen und Erlebnissen basiert, die nicht nachgeprüft werden können. Bei Rothstein ist es seine angenommene Heilung durch die Tevila, die von der Wissenschaftsordnung nicht anerkannt werden kann. Für Zichroni manifestiert sich der Konflikt in seiner Erinnerungsgabe, deren Existenz bereits nicht in das Regelsystem der Wissenschaft passt. Während er selbst seine Gabe in der Sphäre des Göttlichen, Übernatürlichen und teilweise Mystischen ansiedelt (vgl. L Z 79), sieht er sie im Widerspruch zum medizinischen und psychiatrischen Diskurs. Beide thematisiert er grundsätzlich als problematisch: den medizinischen wegen des »deterministische[n] Wissen[s] über die Funktionsweise des menschlichen Körpers« in der Biomechanik (L Z 107), den psychiatrischen, weil sich gerade hier das Menschenbild aus den Annahmen der obigen »besonders drastisch niederschlug« (L Z 118). Für Zichroni funktionieren die beiden Ordnungen nicht, weil sie in einem zentralen Punkt seinen eigenen Wissens- und Wahrheitsordnungen widersprechen: In beiden Diskursformationen ist das ›Übernatürliche‹, in dem Fall Göttliche, konstitutiv ausgeschlossen, für Zichroni hingegen ist Wissen um die Existenz eines Göttlichen ein Identitätsmarker. Dieses Fehlen des Göttlichen zeigt sich textintern auch als ein Grund für den Konflikt auf der kulturdiskursiven Ebene. Vorab ist bereits die Abgrenzung gegenüber Nichtjuden am Beispiel der Erziehung aufgezeigt worden, wobei die Nichtjuden und ihre Leistungen größtenteils negativ konnotiert werden. Dies wird im Roman mehrfach thematisiert. Zichroni hatte vorher nicht viel Erfahrung mit der nichtjüdischen Welt sammeln können und begegnet dem westlichen Lebensstil zum ersten Mal in ausführlicher Form nach seinem Abitur in New York. Die Eindrücke seiner Besuche außerhalb des »geschützten Biotop[s]« – Geula, Zürich, Campus der Jeschiwa – treffen ihn unvorbereitet und »erschüttern« ihn (L Z 107). Da ist zum einen die Vielfalt der verschiedenen Lebensstile, die von ihm als unangenehm und überfordernd (von wenig bekleideten Frauen bis hin zu homosexuellen Paaren) empfunden werden; zum anderen »die scheinbar völlige Abwesenheit des Ewigen und seiner Torah« (L Z 106f.). Das »goyische[] Big Apple« – im ›goyisch‹ ist schon die negative Wertung eingeschrieben – ist für Zichroni eine irritierende Herausforderung, es ist ihm vollkommen fremd. Die Darstellung des erzählenden Ichs ist hier bewusst wertend und es distanziert sich explizit vom erzählten Ich, das als naiv, beschützt und unvorbereitet geschildert wird. Allerdings bezieht sich die kritische Haltung auf das unwissende jüngere Ich, nicht auf dessen Wahrnehmung. Diese bleibt trotz der distanzierten Haltung des älteren Erzählers implizit ablehnend gegenüber dem westlich-modernen Lebensstil und ruft das Bild der Goyim Naches wieder in Erinnerung. Bezeichnenderweise stehen die Erfahrungen der

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tatsächlichen westlichen Welt im Kontrast zu den Wünschen des jungen Zichroni, der in seiner Kindheit nichtjüdischen Themen zugeneigt war und diese nun nicht wertfrei verarbeiten kann. Das fehlende göttliche, unerklärliche Moment steht dabei im Zentrum dieser kulturellen Konfrontation und wird sich aus Zichronis Sicht später als der Grund für seinen Misserfolg herausstellen. Neben den zahlreichen proleptischen Aussagen des Erzählers, dass die fehlende göttliche Komponente zu seinem Fall beitragen werde, funktioniert auch die metadiegetische Erzählung über Der Meister und Margarita von Michail Bulgakow als Vorausdeutung auf die kommenden Ereignisse. Der Dialog, den Zichroni und sein Onkel anschließend führen, enthält in konzentrierter und komprimierter Weise die Aussage der Leinwand zum Thema Wahrheit und Wissen und offenbart sowohl die eigene Weltanschauung sowie die auf den Westen. Bollag charakterisiert einseitig und schablonenhaft die westliche, d.h. »yevonnische« bzw. griechische, Weltanschauung als gekennzeichnet durch die wissenschaftliche Vermessung und Kategorisierung des Universums und die Ausgrenzung des »Vage[n], in keine gängige Theorie Passende[n], für das der Messbarkeit und Kategorisierung Verschlossene, kurz für das Fantastische, oder nennen wir es das Magische, das die Mystiker aller Religionen seit Jahrtausenden bewegt hat« (L Z 61). Der Kern seiner Kritik liegt dabei in dem universalen Anspruch, der daraus abgeleitet wird: Nur halten sie leider ihre ausschnitthaften Vermessungen für eine Karthographisierung des Universums und bestehen darauf, ihre Theorien als verbürgte Wahrheit zu betrachten, solange nicht eine neue Theorie daherkommt, der es gelingt, sich zur nächsten verbürgten Wahrheit aufzuschwingen. (L Z 60)   Perfide daran ist nicht, dass sie anderer Ansicht sind. Perfide ist, dass sie fortwährend den Versuch machen, ihre kleine Erkenntnis als Wahrheit in den Schaukasten zu stellen. (L Z 61) Aus der Sicht eines gläubigen und praktizierenden Juden ist der Ausschluss des Transzendenten aus den Wahrheitsansprüchen eine Identitätsverweigerung. Im hier beschriebenen Judentum als Religion bildet gerade die Annahme einer dem Menschen entzogenen Sphäre das Fundament und ist über die etablierten und tradierten, religiös-kulturellen Praktiken und Wissenspositionen identitätsstiftend. Es ist gerade dieser Universalanspruch der hier schablonenhaft gezeichneten westlichen Weltanschauung, verbunden mit einer Hierarchisierung und damit Abwertung aller ›Wahrheiten‹, die auf dem Ausgeschlossenen beruhen, vor dem Bollag seinen jungen Neffen an dieser Stelle warnen will. In diesem Kontext offenbart sich auch sein Verständnis von ›Wahrheit‹ als relational und auf Annahmen beruhend, die eine Ordnungsfunktion haben bzw. der Kontingenzbewältigung dienen:

V Benjamin Stein: Die Leinwand

Aber es gibt diese Wahrheit nicht. Sie ist in niemandes Besitz. Wir alle halten nur Bruchstücke davon in den Händen. Und weil wir nicht wissen, was wahr ist, müssen wir uns entscheiden, was für uns zählt. Und ob etwas zählt oder nicht, das hängt nicht von Messungen und Urkunden ab. Es wird auf anderen Waagen gewogen: Sinn gegen Leere beispielsweise, oder die Idee eines ewigen Willens außerhalb von uns gegen das blanke Nichts. (L Z 61) Der ›Westen‹ wird hier als eine homogene und auf Dominanz ausgerichtete Totalität skizziert und zu einer einheitlichen Gruppe verallgemeinert, der die scheinbar offenere, weil sich nicht auf eine Perspektive versteifende, des ›Judentums‹ gegenübergestellt wird. Der Roman, der in der gegenwärtigen Zeit (ca. 1970–2008)67 angesiedelt ist und bei seinem Publikum von einem marginalen Wissen zur jüdischen Kultur ausgeht, was auch die Aufnahme eines Glossars erklärt,68 zeichnet demnach beide ›Gesellschaften‹, die orthodoxe jüdische wie auch die rationalistische westliche, als antagonistische bzw. sich diametral gegenüberstehende Entitäten. Für das ›Judentum‹ in den orthodoxen Ausprägungen wird dabei die »Idee eines ewigen Willens außerhalb von uns« (ebd.), also die Existenz einer Transzendenz, a priori gesetzt. Die externen Ausschlussmechanismen zur Kontrolle des Diskurses zeigen sich deutlich in der Grenzziehung gegenüber Nichtjuden, aber auch der anderen Juden. Neben der als homogen und hermetisch dargestellten ultraorthodoxen Gruppe, der modernen Orthodoxie, den mystischen Lehren, die sich weniger auf institutionelle und gruppenordnende Momente, sondern vor allem auf den individuellen Zugang zum Göttlichen konzentrierten, gibt der Roman auch einen kurzen Blick auf die Praxis der nichtobservanten Juden, die an der Figur Minskys und teilweise Wechslers abgelesen werden kann. Minsky sieht sich selbst als Jude (»Ich bin jüdisch«, L Z 165) und stellt diese Zugehörigkeit durch öffentliche Verwendung jüdischer Symbole heraus: Er trägt einen Siegelring mit einem Davidstern und hat an seinem

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Gellner und Langenhorst, die durch Literatur das »interreligiöse Lern- und Begegnungspotenzial« erhöhen möchten, demnach keine literaturwissenschaftliche Analyse vornehmen, halten fest, dass die Verwendung eines Glossars in deutsch-jüdischen Prosatexten keine Seltenheit ist bzw. Begriffe innerhalb des Textes erläutert werden. Die beiden deuten dies als Leseverständigung für die immer noch unvertrauten jüdischen Begriffe, Feierlichkeiten etc. Vgl. Gellner, Langenhorst: Blickwinkel öffnen, S. 166f. Interessanterweise wollte Stein dem Text ursprünglich kein Glossar beilegen, hat sich aber vom Lektor und den Blogbeiträgen überzeugen lassen. Vgl. Benjamin Stein: Glossar. 15. Juli 2009. In: Ders.: Turmsegler. Literaturblog. https://turmsegler.net/20090715/glossar/#more-3012 (Zugriff: 25.07.2020). »Eine verbindliche Route durch den Text gibt es nicht. Zichroni erzählt aus der Rückschau (ca. 1970–2008). Wechslers Erzählstandpunkt folgt dem Geschehen von Januar bis August 2008 mit Rückblenden bis etwa 1985.« Benjamin Stein: Die Leinwand – Exposé. 19. November 2008. In: Ders.: Turmsegler. Literaturblog. https://turmsegler.net/20081119/die-leinwand-expose/#more-1554 (Zugriff: 25.07.2020).

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Türpfosten eine Mesusa angebracht. Allerdings trägt er keine Kippa und lebt nicht observant (vgl. L Z 162). Während in den anderen Fällen die jüdische Identität vorausgesetzt ist, da die Personen in jüdischen Gemeinschaften leben, verortet Minsky sich selbst als Jude, ohne eine Bestätigung von außen zu haben und religiöse Regeln zu befolgen. Im Roman findet sich keine Aussage über seine persönliche Einstellung zum jüdischen Glauben, nur Hinweise auf den Gebrauch von Symbolen, um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, dem Judentum, zu repräsentieren. Diese Zugehörigkeit scheint sich für ihn eher aus der Shoah und seinen Erinnerungen, ein Kind jüdischer Eltern zu sein, herzuleiten. Die Frage nach einer jüdischen Identität, aber auch nach einer ehemals vorhandenen oder erneut möglichen deutsch-jüdischen Identität wird in der Forschung über die Literatur hinaus breit diskutiert. Ausschlaggebend dafür war unter anderem Scholems Aussage, eine »deutsch-jüdische Symbiose«69 , wie sie von der Forschung für das 19. Jahrhundert und die Weimarer Republik angenommen wurde, habe es nicht gegeben: »Ich bestreite, daß es ein solches deutsch-jüdisches Gespräch in irgendeinem echten Sinne als historisches Phänomen je gegeben hat. […] Dieses Gespräch erstarb in seinen ersten Anfängen und ist nie zustande gekommen.«70 Für Dan Diner hingegen gibt es seit Auschwitz explizit eine deutsch-jüdische Symbiose, allerdings eine negative: Seit Auschwitz – welch traurige List – kann tatsächlich von einer ›deutschjüdischen Symbiose‹ gesprochen werden – freilich einer negativen: für beide, für Deutsche wie für Juden, ist das Ergebnis der Massenvernichtung zum Ausgangspunkt ihres Selbstverständnisses geworden; eine Art gegensätzlicher Gemeinsamkeit – ob sie es wollen oder nicht. Denn Deutsche wie Juden sind durch dieses Ereignis neu aufeinander bezogen worden. Solch negative Symbiose, von den Nazis konstituiert, wird auf Generationen hinaus das Verhältnis beider zu sich selbst, vor allem aber zueinander, prägen.71

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Gershom Scholem: Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch. In: Ders.: Judaica 2. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1982, S. 7–11, hier S. 8. Der Begriff stammt nicht von Scholem, er verweist auf diesen als »neuerdings beliebte Bezeichnung« (ebd.). Ebd., S. 7f. Scholem hat diese Aussage 1962 als Replik auf eine Einladung, sich an einer Festschrift für Margarete Susman zu beteiligen, geschrieben. Anstoß für seine Kritik war der Ankündigungstext, der die »Festschrift ›nicht nur als Huldigung, sondern auch als Dokument eines im Kern unzerstörbaren deutsch-jüdischen Gesprächs‹« versteht (ebd., S. 7). Dan Diner: Negative Symbiose. Zwischen Deutschen und Juden seit Auschwitz. In: Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit. Hrsg. von dems. Frankfurt/Main: Fischer 1993, S. 185–197, hier S. 185. Zur Diskussion um eine deutsch-jüdischen Symbiose vgl. auch die Beiträge aus: Deutsch-jüdische Identität. Mythos und Wirklichkeit. Ein neuer Diskurs? Hrsg. von Norbert Honsza, Przemyslaw Sznurkowski. Frankfurt/Main: Lang 2013, vor allem den Beitrag und die darin enthaltenen weiterführenden Literaturhinweise sowohl zum Thema der deutsch-jüdischen Identität als auch der deutsch-jüdischen

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Allerdings sieht Koelle diese negative Symbiose als Bezugspunkt für das eigene Selbstverständnis bei den jungen jüdischen Schriftsteller*innen nicht mehr gegeben.72 Vielmehr würden diese über »Erinnerungsfragen« den »Weg einer Identitätsfindung« gehen, bei dem nicht die Frage nach Opfer und Täter, sondern die eigene Geschichte und der individuelle Umgang mit ihr im Fokus stehen: Die Nachkommen der Überlebenden und der Kriegskinder erschreiben sich ihren Ort in der Zeit – im Widerspruch zu den vorherigen Generationen oder um – erstmals, endlich – trotz eines Lebens im freien Fall durch den Schreibprozess und in der selbstgeschaffenen Literatur einen Halt zu finden, von dem her Vergangenheit, wenn auch nicht verstanden, so integriert werden kann, Gegenwart lebbar wird ohne die permanente Last der Vergangenheit und Zukunft […], die transgenerationalen Traumata nicht mehr weitergeben zu müssen.73 In der Leinwand kann Koelle die an der Shoah ausgerichtete Selbstverortung nur bei Minsky und Wechsler erkennen.74 Für Zichroni und Rothstein, aber auch Bollag scheint die Shoah nicht den Kern der Gruppenidentität zu bilden, sondern der Bezug zu Gott. Sei es ultraorthodox, sei es modern orthodox – diesen Formen, wie

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Literatur seit den 1990er Jahren von Lydia Koelle: Identität und Konvektion – Erbe oder Eskapismus? Die Nachkommen der Überlebenden und der Kriegskinder erschreiben sich ihren Ort in der Zeit. In: Deutsch-jüdische Identität, S. 209–231, sowie Andreas B. Kilcher: Einleitung. In: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. V-XX. Dieter Lamping verweist darauf, dass jüdische Literatur nach 1945 sich entweder auf Auschwitz bezog oder ›aufgrund‹ von Auschwitz geschrieben wurde; »so oder so ist der Holocaust ihre wichtigste Referenz.« Dieter Lamping: Identität und Gedächtnis in der jüdischen Literatur nach 1945. Einleitung. In: Identität und Gedächtnis in der jüdischen Literatur nach 1945. Hrsg. von dems. Berlin: Erich Schmidt 2003, S. 7–16, hier S. 8. Gerade im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah sind die Themen Erinnerung und Gedächtnis in den Fokus gerückt. Vgl. hierzu: Das Gedächtnis der Literatur. Konstitutionsformen des Vergangenen in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Alo Allkemper, Norbert Otto Eke. Berlin: Erich Schmidt 2005 [Sonderheft 125 (2005) der ZfdPh]; Stephan Braese: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Berlin: Philo 2001. Zum Thema Shoah und Literatur siehe: Shoah in der deutschsprachigen Literatur. Hrsg. von Norbert Otto Eke, Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt 2006; Deutschjüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah. Hrsg. von Sander L. Gilman, Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt 2002 sowie zu den Publikationen der letzten Jahre: Fischer, Hammermeister, Kramer: Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Koelle: Identität und Konvektion, S. 230. Anders hierzu Hessing, der der Meinung ist, dass die jüngeren Autor*innen die negative Symbiose bestätigen würden. Vgl. Jacob Hessing: Aufbrüche. Zur deutsch-jüdischen Literatur seit 1989. In: Handbuch der deutsch-jüdischen Literatur. Hrsg. von Hans Otto Horch. Berlin, Boston: de Gruyter 2016, S. 244–269. Vgl. Koelle: Identität und Konvektion, S. 227.

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sie im Roman dargestellt sind, ist gemeinsam, dass die Existenz eines Gottes, zu dem der Mensch in Beziehung steht, durch das Studium der Heiligen Texte oder durch individuelle Erfahrung, für die Identifizierung zentral und a priori gesetzt ist. In keinem Fall wird diese angezweifelt oder bestritten. Bei Minsky hingegen scheint die Identifizierung mit dem Judentum vor allem über seine (scheinbaren) Erinnerungen an die Geburt als Jude und an die Shoah zu funktionieren – die Selbstpositionierung als ›Jude‹ basiert bei den Figuren also auf kategorial unterschiedlichen Voraussetzungen und ist nicht eindeutig festgelegt.75 Diese Abgrenzung gegenüber nichtobservant lebenden Juden zeigt sich einerseits räumlich in den ultraorthodoxen Vierteln, körperlich anhand der Kleidung der Männer, die sie deutlich als ultraorthodox ausweist, ferner in der Lebensführung der Männer, die sich nur auf die Heiligen Texte richten soll und das Weltliche soweit wie möglich ausschließt. Die Priorisierung der Heiligen Texte und der in ihnen vermittelten Regeln und Gesetze als Lebensmittelpunkt bildet dabei den Wahrheitskern dieser als Doktrin zu deutenden Gesellschaftsform, der von allen Mitgliedern als Wahrheit anerkannt werden muss. Das als Wahrheit geltende Wissen bezieht sich dabei auf die Heiligen Texte, die in der Funktion des Kommentars immer wieder gelesen werden, sowohl in der Ausbildung als auch später in den Eigenstudien. Gerade durch das immerwährende Wiederlesen von Passagen der Schriften werden diese aktualisiert und bestätigt. Eine weitere interne Kontrollfunktion findet sich in der Verknappung der sprechenden Subjekte: Wissen wird über die Schulen routinisiert vermittelt. Dabei wirken die sprechenden Subjekte, hier die Lehrer an den Schulen, im Zusammenhang mit den Regeln, Aussagen, Texten und Handlungen als »diskursive Polizei«76 , die die religiöse Ordnung kontrolliert. Bezeichnenderweise spricht Zichroni von diesen als »Angstverwalter[n]«, die jeden, der »vom vorgeschriebenen Weg« abweicht, in die Verdammung schicken (L Z 62). Das Wissen und die Wissensvermittlung scheinen so vollkommen geregelt zu sein und unterliegen einer Kontrolle, Wahrheit ist klar definiert und vorgegeben. Unterstützt wird die Produktion und Vermittlung von Wissen in diesem Fall besonders durch die institutionelle Basis. Die Subjekte werden von Beginn an auf ihre Zugehörigkeit und den Inhalt dessen, was sie lernen sollen, festgelegt, wobei diese verortenden Strukturen teilweise nicht wahrgenommen werden, denn für die Mitglieder der Gruppe sind die Lebensweise und das Wissen, das ihnen vermittelt wird, normal und selbstverständlich: »Nur 75

76

Betrachtet man zudem Wechslers Gründe für den Übergang zum orthodoxen Judentum, die er erst nach und nach erinnert, wird auch hier deutlich, dass nicht der Glaube an die Existenz eines Gottes und die Überzeugung, man müsse sein Wort in den Heiligen Texten, unantastbar und wahr, befolgen, dazu geführt haben, sondern der Wunsch, sich aus der nichtjüdischen Welt herauszuziehen. Sie stehen in Verbindung zu seiner ›eigentlichen Biografie‹ als investigativer Journalist Jan Wechsler, an die er sich nicht mehr erinnert (L W 138). Foucault: Die Ordnung des Diskurses, S. 25.

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eine kleine Weile noch würde ich ein normaler Fünfzehnjähriger in einer HarediFamilie in Geula sein« (L Z 21). Allerdings wird abweichendes Verhalten sanktioniert, sei es durch Ausschluss oder Ablehnung. Aus diesem Grund beschäftigen sich Zichroni und Rothstein mit bestimmten Fragestellungen im Geheimen, muss Zichroni Geula verlassen und seine Gabe verschweigen. So wie in der Doktringruppe die Subjekte den Diskursen ›unterworfen‹ sind, so sind diese auch durch bestimmte Aussagetypen miteinander verbunden. Gerade diese Regeln und Vorschriften, die Anerkennung der Heiligen Schrift als dem einzig relevanten Text, verbindet die Mitglieder miteinander. Und dies tut sie über räumliche und nationale Grenzen hinweg, denn es sind dieselben Regeln in Geula wie in Pikesville oder New York. Nicht nur die ultraorthodoxen, sondern auch die modern orthodoxen Juden können als Doktringruppe gelesen werden, die, so der Roman, sich in ihrem Umgang mit der sie umgebenden Welt abgrenzen. Das Wissen von Wahrheit wird im Roman demnach institutionell kontrolliert, verknappt und geregelt dargestellt. Da es sich um orthodoxe Gruppen handelt, ist das Wissen per se religiös und es bestimmt die gesamte Lebensführung. Das orthodoxe Judentum wird in diesem Roman demnach auf der einen Seite negativ konnotiert, da es den Mitgliedern jegliche Individualität entzieht, auf der anderen Seite wird es positiv besetzt, da es durch die normalisierenden und normierenden Praktiken die Menschen weltweit miteinander verbindet und identitätsstiftend ist. In der Abgrenzung zu den Nichtjuden wirkt dabei die ordnungsstiftende Funktion der Religion als Identitätsanker. Der Westen wird sowohl von den ultraorthodoxen Juden als auch vom modern orthodoxen Bollag als wissenschaftshörig und gottlos charakterisiert. Die Homogenisierung des Westens auf das Primat der exakten Wissenschaften bzw. des Rationalismus (welches wiederum ebenfalls reduziert wird auf das Bild einer dominierenden Wahrheitsinstanz) zeichnet dabei ein einseitiges Bild, das sich zudem in seinem Plädoyer für das Übernatürliche auf der Rezipient*innenebene offenbart. So ist die Argumentation, die er bezüglich der Wahrheit anführt, strukturell der des ›Westens‹ ähnlich: Wie dieser auf dem Ausschluss des Übernatürlichen konstitutiv basieren soll, ist auch die jüdische Position antagonistisch fundiert, und wie der Westen Welterklärungen, die auf dem Göttlichen fußen, belächeln würde, so ›verdammt‹ Bollag den Westen. Während er auf der einen Seite den Westen dafür kritisiert, die eigene Wahrheit als universal anzusehen, ist die Existenz Gottes für ihn ebenfalls ontologisch gegeben und er exkludiert die Nichtjuden aus seinem Leben. Die Ansicht Bollags ist demnach keine Alternative zu der des Westens, die von ihm bereits vorab abgewertet wurde, sondern stellt eine der möglichen ›Wahrheiten‹ dar. Die Kritik richtet sich hier vor allem auf den Universalisierungsanspruch des Westens: Bollag plädiert also eher für das Nebeneinander verschiedener ›Wahrheiten‹. Wobei man hier allerdings fragen könnte, inwiefern die Aussage eines Universalanspruchs seitens der Wissen-

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schaften bereits eine den Westen darauf reduzierende Verortung ist und wie Bollag zu dieser Erkenntnis kommt, wenn er seinen Alltag eigentlich nur innerhalb der jüdischen Gemeinde verbringt. Zudem würde die Konnotation von Wissenschaft und Westen in Bezug auf den Universalanspruch im Umkehrschluss bedeuten, dass nicht westliche Wissenschaften anders argumentieren und damit, so die Schlussfolgerung, als Alternative betrachtet werden könnten. Die Fragen, die sich aus Bollags Position ergeben, stellen sein stereotypes und schablonenhaftes Bild des Westens aus, von dem er sich in seiner eigenen Weltanschauung beeinträchtig fühlt. Vor dem Hintergrund einer Sozialisation im orthodoxen Umfeld und Bollags Meinungsbildung müssen Zichronis Erlebnisse mit der westlichen Weltanschauung, seine Aussagen und sein Werteverständnis als Erzähler als vorgeprägt und explizit voreingenommen gelten.

V.3

Der ›Westen‹ und die ›Orthodoxie‹ als ideologische Herrschaftsblöcke

Die Darstellung der beiden ›Gesellschaften‹ als Doktringruppen verweist zudem auf die innerhalb dieser wirkenden Machtbeziehungen als herrschaftsähnliche. Allerdings gibt es keinen personalen oder institutionellen ›Herrscher‹, sondern die Gruppe kontrolliert sich selbst durch Mittel der Herrschaft und der Regierungstechniken. Deutlich wird dies sowohl auf der mikrophysischen Ebene der Familie als auch auf der makrophysischen des Kollektivs. So haben die Eltern bzw. der Erziehungsvormund die absolute Entscheidungsgewalt über die Entwicklung der Kinder: Zichronis Vater hat für ihn automatisch den Haredi-Lebensweg vorgesehen und als der Junge mit den Regeln bricht, entscheidet er, ihn ins Ausland zu seinem Onkel zu schicken; dieser wiederum bestimmt über den Ausbildungsweg und auch über die Freizeit von Zichroni, bis dieser sich erst im Erwachsenenalter eigenen Wünschen widmen kann. Die Entscheidungen der Eltern bzw. des Onkels sind wiederum durch die Kollektivvorgaben geprägt, die auf der Priorität der Heiligen Schrift basieren. In diesem Sinn sind die Entscheidungen des Vaters immer eine Vorgabe der Gruppenerwartung oder Reaktionen auf diese, und so gerade nicht frei von Zwang. Das Leben in der Gruppe wird demnach über bekannte, tradierte und normierte Vorgaben, wie den erwarteten Lebensweg eines Haredi-Jungen: Schulen, Heirat, Eigenstudium der Heiligen Texte, geregelt. Diese sind dabei so fixiert, dass sie Herrschaftsverhältnissen nahekommen und zudem durch die Schulbildung institutionalisiert sind. Auch hier sind die Handlungsoptionen der Einzelnen stark eingeschränkt, der Lernstoff und dessen Reihenfolge soweit selektiert und reguliert. Dabei zeigt sich, wie sehr Wissen und Macht in Bezug auf Wahrheit verbunden sind. Die Rabbiner können in der Gruppe als Autoritätspersonen mit einer spre-

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chenden Subjektposition angesehen werden, jedes Anzweifeln und Hinterfragen des als ›Wahrheit‹ gesetzten Wissens wird als ein Regelverstoß geahndet, wodurch die Gruppe in der Schule durch Einzelpersonen und im Alltag durch die gemeinsamen Rituale sich selbst kotrolliert und immer wieder bestätigt (vgl. L Z 10, 34). Für Rothstein ist diese Form der Ausbildung und Weltanschauung eine Ideologie, die eine bestimmte Form von Wahrheit vermitteln will: Der eigentliche Zweck unserer Ausbildung, meinte er, bestand vielmehr darin, uns zu indoktrinieren, uns randvoll mit Ideologie zu stopfen, und zwar auf eine Art und Weise, die uns ganz natürlich vorkommen sollte, so dass wir alles, was uns beigebracht wurde, mit einem Gefühl aufnahmen, direkt aus den göttlich inspirierten Quellen zu trinken und nichts als die reine, unverfälschte Wahrheit in unsere Köpfe zu zwängen. Eli wertete das alles nicht ab. Es mochte ja tatsächlich zu irgendetwas gut sein. Nur war er nicht bereit, sich willen- und gedankenlos einer Gehirnwäsche unterziehen zu lassen. (L Z 76) Interessanterweise wird der Begriff ›Ideologie‹ von Rothstein hier im Verständnis des ›falschen Bewusstseins‹ verwendet: Ideologie als ein »auf politische, ökonomische und soziale Herrschaft rückführbare[r] Rechtfertigungsdiskurs, der sich von den ›wirklichen‹ Verhältnissen und ›wahren‹ Bedürfnissen der Menschen separieren ließe. Ideologie war bisher stets mit den komplementären Begriffen Wahrheit, Wissenschaft oder Wirklichkeit verbunden.«77 Die Kritik am Ideologiebegriff rührt denn auch genau von der Annahme eines ›richtigen‹ Bewusstseins, weswegen der Begriff in der Forschung lange Zeit keine Verwendung mehr fand. In jüngeren Diskussionen gibt es allerdings den Versuch, ihn einer Neubestimmung und Reaktualisierung zu unterziehen, wie dies bei Rahel Jaeggi in ihrem Beitrag Was ist Ideologiekritik? für gesellschaftskritische Analysen erfolgt. Für Jaeggi sind Ideologien Überzeugungssysteme, die praktische Konsequenzen haben. […] Sie wirken praktisch und sind ihrerseits Effekte einer bestimmten gesellschaftlichen Praxis. […] Ideologien konstituieren unseren Weltbezug und damit den Deutungshorizont, in dem wir uns und die gesellschaftlichen Verhältnisse verstehen und die Art und Weise, in den wir uns in diesen bewegen.78 Fruchtbar für ihren Ansatz ist der Einbezug praxeologischer Theorien, der auch den performativen Aspekt gesellschaftlicher Praxis expliziert. Vor allem ist Ideolo77

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Klaus-Michael Bogdal: Kann Interpretieren Sünde sein? Literaturwissenschaft zwischen sakraler Poetik und profaner Texttheorie. In: Ideologie nach ihrem ›Ende‹. Gesellschaftskritik zwischen Marxismus und Postmoderne. Hrsg. von Hansjörg Bay, Christopher Haman. Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 129–148, hier S. 142. Rahel Jaeggi: Was ist Ideologiekritik? In: Was ist Kritik? Hrsg. von ders., Tilo Wesche. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009, S. 266–295, hier S. 268f.

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giekritik analytisch gewinnbringend, weil sie einerseits den Widerspruch zwischen Norm und Praxis bzw. subjektiver Wahrnehmung fokussiert sowie explizit Formen von hegemonialer Macht und Herrschaft als »Mechanismen der ›Verselbstständigung‹ oder ›Selbstverständlichmachung‹«79 aufzudecken sucht. Dabei analysiert Ideologiekritik nach Jaeggi, wie Normen und Praktiken (bzw. die Widersprüche dazwischen) sowie Formen und Funktionen von Macht- und Herrschaftsinteressen beschaffen sind.80 Andererseits kritisiert sie diese auch als normative Weltauffassungen, deren ideologischer Konstruktionscharakter durch die Analyse in seiner Normativität enthüllt werde und so eine »›Verflüssigung‹ des Bestehenden« als »eine Aufhebung der […] skizzierten Mechanismen der ›Selbstverständlichmachung« folge. Damit würden allerdings »Handlungsalternativen eröffnet und die Bedingungen dafür, ›praktische Fragen‹ überhaupt erst stellen zu können«.81 Anders formuliert meint Jaeggi, dass Normen konstitutiv für bestimmte soziale Praktiken sind und gelebte Praxis dazu Widersprüche erzeugen kann, wenn bestimmte Aspekte der erfahrenen Wirklichkeit nicht diesen Normen entsprechen, was zu einer verzerrenden Wahrnehmung der Wirklichkeit führen kann. Eine solche Nichtübereinstimmung kann als subjektive bzw. kollektive Krise erfahren werden. Die Analyse und Offenlegungen der Praktiken sowie nicht realisierten Normen zielt dabei nicht darauf, die Praxis an die Norm bzw. vice versa anzupassen, sondern soll transformativen Charakter hinsichtlich Norm und Praxis, die beide als inadäquat identifiziert werden, annehmen. Führt man sich Rothsteins Position vor Augen, wird genau dieser Aspekt ausgestellt: Die ihm vermittelte ›Wahrheit‹ und Norm – und zwar sowohl aus orthodoxer wie auch westlicher Perspektive – widerspricht seiner praktischen Erfahrung der Heilung und offenbart die dahinterliegenden Herrschaftsstrukturen einer bestimmten Wahrheitskonstruktion: Wenn man an der Torah und »an Wahrheit interessiert [ist] […], [dann ist] es nicht das, was wir hier lernen« (L Z 77). Seine individuelle Lösung sieht er darin, zu einem Ritter des Ewigen [zu werden]. Nur war er der festen Überzeugung, dass das wirkliche Torah-Wissen erst dort beginnt, wo die Ideologie aufhört, wo es nicht mehr um Macht und Vorteile in Interessenkonflikten geht, sondern nur noch um den einzelnen Menschen und den Ewigen und das Stück weltlicher Wirklichkeit dazwischen. (L Z 77f.) Rothsteins Bezug zum Religiösen ist demnach nicht über den institutionellen und vorgegebenen Weg, den er als ideologisch, weil bestimmten Interessen dienend, bestimmt, sondern über seine Annäherung an die Heiligen Schriften und andere

79 80 81

Ebd., S. 269. Wobei Jaeggi nur von Herrschaftsinteressen spricht (vgl. ebd.). Ebd., S. 281.

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Texte, die sich gerade nicht aus dem gesellschaftlichen Wissen, sondern dem individuellen Zugang speist. Allerdings wird dabei explizit in seinen Äußerungen der Dualismus zwischen Religion als Kategorie sui generis und damit (scheinbar) frei von Machteinwirkungen (und so auch von Ideologie) und (Religions-)Kultur aufgestellt – die individuelle religiöse Erfahrung wird als das ›richtige‹ Bewusstsein eingeführt und damit eigentlich eine neue Form von ›Ideologie‹ implementiert, die auf den gleichen Argumentationsstrukturen basiert wie die zuvor kritisierte, damit aber diskursiv in dieser verhaftet bleibt. Fiktionsintern wird dieser Prozess allerdings nicht reflektiert, sondern zeigt sich erst auf Rezipient*innenebene, für die auch Rothsteins Position keinen ›Halt‹ bieten kann, sondern ebenfalls hinterfragt werden muss. Herrschaftsform und Ideologie werden dabei nicht nur für das orthodoxe Judentum im Roman angeführt. Vielmehr ist die bereits in ihren Wissensstrukturen homogen und stereotyp gestaltete westliche Welt mit ihrer Weltanschauung ebenfalls als rationalistische, alles Unerklärliche ausschließende, und säkularisierte Ideologie charakterisiert. Vorgeführt wird dies am medizinischen Diskurs, der bestimmte Formen von Aussagetypen, Gegenständen, Sprecherpositionen und Strategien aufweist. Hier würde der »menschliche Körper als Maschine« institutionell betrachtet und vermittelt werden, wobei gerade diese Trennung von »Bewusstsein und Sein« Zichroni als nicht umsetzbar erscheint, da »die Variable des göttlichen Funken[s] in allem Lebenden« fehle (L Z 108). Er findet Bestätigung, da einer der Professoren, also ein Subjekt auf einer anerkannten Sprecherposition, außerhalb der Universität von der eigenen Lehrpraxis abweicht: Aber hätt ich damals, Ende der Sechziger, oder würde ich selbst heute in einem Artikel oder gar einem Seminar meine Wertschätzung für die chinesische Medizin äußern, wäre ich meinen Lehrauftrag und womöglich sogar meine Approbation sehr bald los. […] Mit dem westlichen Verständnis von Medizin kollidieren diese uralten, wissenschaftlich kaum nachweisbaren Methoden noch viel mehr als mit dem Kommunistischen. (L Z 114f.) Der medizinische Diskurs kommt hier einem herrschaftsähnlichen Block nahe, da er mithilfe von institutionellen Praktiken als rationalisierend und normierend dargestellt wird. Wie sehr die Machtbeziehungen zu einem Herrschaftsverhältnis erstarrt sind, wird daran deutlich, dass der Anatomieprofessor, trotz seiner anerkannten Position, den Wahrheitsbezug im Diskurs nicht ändern kann, sondern sich vielmehr in Gefahr bring. Die Strukturen und Macht-Wissen-Beziehungen sind in diesem Feld bereits derart stabilisiert, dass nicht einmal eine einzelne autoritäre Person Einfluss hat. Also haben sich in diesem Kontext kompromissartige Formen des ›Widerstands‹ entwickelt. Der besagte Professor bleibt in der Universität den Basisaussagen seines Fachs treu, weicht in der Praxis allerdings von den Vorgaben ab. Zichroni wird Psychoanalytiker, erzählt aber niemandem etwas über seine Ga-

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be. Bei dieser Darstellung darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass Zichronis Wahrnehmung gerade keine objektive, unvorbelastete ist, sondern bereits auf einem stereotypen Bild des Westens basiert. Dementsprechend werden diese Wahrnehmung bestätigenden Erfahrungen besonders hervorgehoben; diese Meinung widerlegende bzw. differenzierende jedoch gerade verweigert bzw. ausgespart. Für Zichronis Wahrnehmung des Westens bedeutet das, dass er gar nicht eine differenzierte Sicht auf ›den Westen‹ einnehmen will/kann, weil er vom dominanten, herrschenden Diskurs seiner eigenen Gruppe bereits vorgeprägt ist und diesen wiederum gerade nicht hinterfragt.

V.4

Zwischen Verortung und ›Widerstand‹ – individuelle Positionierungen und Aushandlungen

In einer Gesellschaft wie der dargestellten (fiktiven) orthodoxen bzw. ultraorthodoxen gibt es Spielraum für Individualität nur im Rahmen der Regeln und Normen, die die Gruppe prägen. Diese Regeln und Normen sind dabei explizit benannt und jedem Gruppenmitglied bekannt. Teil der Gruppe wird man, in beiden Fällen, durch Geburt oder durch die Entscheidung, sich der orthodoxen bzw. ultraorthodoxen Tradition anzuschließen. Innerhalb der Tradition gibt es wiederum verschiedenste Ausprägungen, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Die Pluralität nicht nur der orthodoxen Ausprägungen, sondern der jüdischen allgemein wird im Roman symbolisch an den Talesim und den Zizit, die in dem Geschäft von Zichronis Vater verkauft werden, aufgezeigt: Die meisten von ihnen waren klassisch weiß mit schwarzen Streifen an den Längsseiten. Doch schon in der Anzahl, der Breite und Anordnung dieser Streifen unterschieden sie sich. Jeder folgt hier ganz bestimmten Traditionen und verbindet mit den unterschiedlichen Mustern besondere Bedeutungen. […] Direkt daneben hingen die von den Mystikern bevorzugten Stücke, in verschiedenen Schattierungen von Weiß, mit oder ohne eingewebte glänzende Seidenstreifen. Für die weniger traditionsbewusste Kundschaft führte mein Vater auch Modelle mit silbernen oder goldenen Stickereien sowie in anderen Farben, etwa in BlauWeiß für die Zionisten, mit weinroten Streifen für die heimlichen Könige oder im Regenbogenlook für die unverbesserlichen Individualisten. (L Z 44) Die kaleidoskopartige Vielfältigkeit der Gebetsschals und der Zizit, bei denen es zusätzlich darauf ankommt, aus welcher Wolle sie geknüpft sind, von wem, wo die Wolle herkommt, wie sie beschaffen ist und welche Knoten und Windungen geknüpft werden (vgl. L Z 45f.), zeugt von der potenzierten Variabilität, die nebeneinander besteht. Damit ergibt sich, abhängig von der Betrachtungsposition, einerseits ein ›homogenes‹ Bild der Orthodoxie (Tragen von Gebetsschals und Zi-

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zit) für Außenstehende, anderseits eine interne Heterogenität: Der Verweis auf die Relativität von Positionen und ihren ›Wahrheiten‹ wird auch anhand dieser religiösen Gegenstände fortgeführt und zeigt sich auch deutlich in den unterschiedlichen, individuellen Ausprägungen der Figuren, die zwar normativen und normierenden Reglementierungen zu unterliegen scheinen, intersubjektiv und individuell jedoch verschiedene Handlungsspielräume ausloten.

Zichronis Vater – der Ultraorthodoxe mit der geheimen Bibliothek Als ultraorthodoxem Juden in Geula bzw. Meah Shearim ist es Zichronis Vater, der im Roman keinen Namen hat, da der Erzähler von ihm immer als Vater spricht, nicht erlaubt, einem Gewerbe nachzugehen. Durch den durch Familienzuwachs bedingten Umzug nach Geula wird dies allerdings möglich, da dieses Viertel weniger streng als Meah Shearim ist. Aufgewachsen in der Schweiz ist er von den Normen, Traditionen und Regeln sowie dem Wissen und den Wahrheitsaussagen seiner orthodoxen Gemeinschaft geprägt. Aber anstatt in der Schweiz bei seiner Familie zu bleiben, hat er sich aufgrund einer nicht erwähnten Begebenheit entschieden, eine ultraorthodoxe Lebensweise zu führen. Er identifiziert sich mit der ultraorthodoxen Doktringruppe und übernimmt bewusst deren Regeln. Damit führt er ein Leben, das vollkommen der religiösen Sphäre zugeordnet ist, durch Ausschlussmechanismen von anderen Bereichen abgegrenzt ist und auf einer hierarchisch aufgebauten und stabilisierenden Wissens- und Wahrheitsordnung basiert. Die herrschaftsähnlichen Verhältnisse, die das Leben in Geula prägen, die diskursexternen Kontrollen bestimmter Ausgrenzungen, Verbote sowie der gesetzte Wahrheitsanspruch zusammen mit den diskursinternen Kontrollen durch die jeweiligen Subjekte, der rituelle Tagesablauf mit dem sich wiederholenden Torahstudium (bzw. im späteren Verlauf das Geschäft und anschließend die Studien) lassen individuellen Ausprägungen wenig Raum und verorten den Vater als Subjekt in der Gemeinschaft. Allerdings unterscheidet sich der Vater von der im Roman gezeigten Allgemeinheit. Auf der Metaebene ist Zichronis Vater in der diskursiven Formation Religion als Ordnungskategorie verortet, zudem in der spezifischen der jüdischen Religion, hier wiederum in der orthodoxen Ausprägung, anschließend in der ultraorthodoxen, wobei hier wiederum die einzelnen Ausdifferenzierungen noch aufgenommen werden könnten. Zichronis Vater entscheidet sich demnach, innerhalb einer bereits mehrfach unterstufig aufgegliederten diskursiven Formation des orthodoxen Judentums eine individuelle Veränderung vorzunehmen. Da die beiden Formen der Orthodoxie allerdings ähnlichen diskursexternen Kontrollmechanismen und diskursinternen Regeln unterliegen, ist der Wechsel nicht als diskursiver Bruch auf der Ebene der Religion als diskursiver Formation zu verstehen, da hier gerade nicht mit einem metaidentitätsstiftenden Bezug gebrochen wird, also zum Beispiel in

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Form einer Abkehr vom Gottespostulat. Vielmehr kann hier von einer Verschiebung gesprochen werden, die sich auf der religiös-kulturellen Ebene zeigt und alte Subjektivierungen mit neuen Positionierungen verbindet. Zichronis Vater bricht demnach nicht mit seiner Herkunft, seiner Erziehung und seinen Traditionen, sondern er entscheidet sich, und hier liegt das individuelle Handlungspotenzial seiner Taten, für eine Veränderung, bei der er einzelne Momente anderer Wissensordnungen und die damit einhergehenden Herrschaftsbeziehungen und Regeln individuell annimmt. Bezeichnenderweise sind es gerade diese neu übernommenen Momente, die zeigen, dass er als Subjekt nicht vollkommen im ultraorthodoxen Judentum verortet ist, da sie sich nicht für ihn normalisiert haben. Erkennen kann man dies an den Beschreibungen von Zichroni. So ist die zusätzliche Anstrengung der Eltern, um dazuzugehören, ein Zeichen dafür, dass sie sich nicht nur nicht angekommen und angenommen fühlen, sondern es auch evtl. selbst nicht sind. Diese Annahme wird unterstützt durch die Erleichterung des Umzugs in das neue Viertel und durch die Eröffnung des Geschäfts, die im alten Viertel niemals möglich gewesen wäre. Ein weiterer Hinweis für die fehlende Normalisierung ist die geheime Bibliothek des Vaters, die weltliche – und damit unerlaubte – Bücher enthält. Allein die Tatsache, dass der Vater die Bücher noch besitzt, zeugt von seiner vorherigen, nicht aufgegebenen Verortung. Unterstützend kann hier noch vor allem der Umgang mit dem Regelbruch seines Sohnes angeführt werden: Für den Vater besteht das Problem nicht darin, dass sein Sohn dieses Buch gelesen hat, sondern dass dies öffentlich bekannt wurde und der Rabbiner mit ihm diesbezüglich gesprochen hat. Die ›Strafe‹ ist dementsprechend keine, die sich auf den Regelbruch bezieht, sondern dient dem Schutz seines Sohnes. Die Entscheidung, seinen Sohn in die Schweiz zu den modern orthodoxen Juden zu schicken, kann als nachträgliche Rückkehr seiner selbst gelesen werden, vor allem aber auch hier wiederum für Zichroni als Verschiebung und nicht als Bruch. Damit wird deutlich, dass die externen Grenzen innerhalb der orthodoxen Doktringruppe auf der einen Seite sich nicht in einem fixierten Zustand befinden, sondern durchlässig sind, besonders im Vergleich zu den Ausschlussmechanismen, die sich auf Nichtjuden beziehen, und damit der Übergang in beide Richtungen möglich ist; auf der anderen Seite zeigt sich, dass im hier dargestellten ultraorthodoxen Judentum die diskursinternen Kontrollmechanismen umfassend sind, was an der Ausrichtung des Lebens auf die religiöse Sphäre zurückzuführen ist – ein Verstoß wird hier unmittelbar geahndet. Differenziert zeigt der Roman allerdings, wie sich einzelne Personen in diesem orthodoxen Konzept selbst positionieren. So bieten die durchlässigen Grenzen Raum für individuelle Entscheidungen im Fall von Zichronis Vater, dessen Abweichung wiederum jedoch größtenteils keine öffentliche, sondern eine individuelle ist, eine Form eines internen ›Widerstandes‹, die sein Sohn klar erkennt: »Dass mein Vater mich fortschickte, war […] der größte Liebesbeweis, den ich in meinem Leben erfahren habe. Man könnte meinen, mein

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Vater wäre über seinen Schatten gesprungen, aber ich glaube vielmehr, dass er ihn angenommen hatte, indem er beschloss, mich zu Onkel Nathan nach Zürich zu schicken« (L Z 27). Individuelle, vom dominanten Diskurs abweichende Handlungen zeigen sich hier in Form eines internen Widerstands, ohne den Anspruch, eine allgemeine öffentliche Änderung der Doktringesellschaft herbeiführen zu wollen. Zichronis Vater trifft eine mit den Diskursregeln nicht übereinstimmende Entscheidung, die er aber nur mit sich selbst aushandelt und gar nicht als ein Problempunkt der gesamten Gruppe sieht. Seine Abweichung bezieht sich hier nicht auf einen Aspekt im Kontext von Religion, sondern auf die (religiös-)kulturellen Momente des ultraorthodoxen Diskurses, mit dem er sich selbst identifiziert.

Nathan Bollag – der moderne Orthodoxe »mit einem Zug Libertinage« Auch Nathan Bollag ist in seiner orthodoxen Gruppe verortet: Er ist die institutionalisierte religiöse Ausbildung durchgegangen, er geht einem Beruf nach, was für die modern orthodoxen Juden neo-orthodoxer Prägung eine diskursinterne Regel ist, er lebt observant und abgegrenzt von den Nichtjuden, er sieht die Heiligen Schriften als göttliche Wahrheit und gibt all diese ihn prägenden Momente an seinen Neffen/Ziehsohn Zichroni weiter, auf dessen religiöser Ausbildung er bis zum Ende besteht. Gleichzeitig identifiziert er sich mit eben diesen Regeln und nimmt sie nicht nur für sich an, sondern will diese auch Zichroni vermitteln. Im Großen und Ganzen könnte man Nathan Bollag als einen durchschnittlichen Schweizer modern orthodoxer Juden betrachten, der sich mit seiner Doktringesellschaft, ihren Regeln und Normen im Reinen befindet, diese in speziellen Fällen für sich selbst sogar noch enger und fixer setzt: auf der einen Seite durch die negative Bewertung der westlichen Weltanschauung, auf der anderen durch die Aufwertung von ›Unheiligem‹, in diesem Fall den Kunstprodukten, hier besonders westlichen Ursprungs, als Ausdruck des Göttlichen. Bollag ist es, der Zichroni vor den ›Yevonnim‹, also den frevelhaften Griechen, i.e. dem Westen, warnt und er ist es auch, der Zichroni vermittelt, dass moderne europäische Städte Versuchungen seien. Er warnt seinen Neffen vor dem westlichen Weltbild, das er allerdings als ein Schreckensbild zeichnet. Begegnet man im gesamten Roman zwar überall dem Ausschluss des nicht Nichtjüdischen und dabei vor allem des Westlichen (so werden muslimische Texte oder asiatische Religionen gar nicht erwähnt), so ist Bollags abwertende und geringschätzende Haltung im gesamten Text singulär und erscheint hier als eine individuelle Abweichung von diskursinternen Aussagen. Dies fällt besonders auf, da die Einstellung westlichen Weltanschauungen gegenüber in deutlichem Kontrast steht zu seiner Lebenseinstellung, nach der

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ein Leben ganz und ausschließlich für und mit Torah, ein Leben wie das, für das mein Vater sich entschieden hatte, nicht das Beste war, was man für sich erstreben konnte. Er war fest davon überzeugt, dass man Empfinden für Heiligkeit und die Ehrfurcht vor ihr verbinden musste mit einem gehörigen Stück unheiliger Welt. Kurz: Weltliche Bildung und ein Beruf, Gewandtheit in mehreren Sprachen und intime Kenntnis von Philosophie und Kunst gehörten nach seinem Empfinden unabdingbar zu einem Leben, mit dem man den Ewigen heiligen wollte. (L Z 29) Diese Ansichten wiederum, die Verbindung des Lebens nach der Torah mit den Anforderungen des modernen Lebens in der westlichen Welt, zeichnen Bollag gerade als in der Tradition der Neo-Orthodoxie stehend aus, wie es der Roman selbst aufklärt.82 Aber es ist die Konsequenz, in der Bollag diese Ansichten auslebt, die ihn von den anderen Gruppenmitgliedern unterscheidet und sein gesamtes Leben prägt. So widmet er sich beruflich Demantoiden, Granatedelsteinen, die sich durch eine im Inneren eingeschlossene Verunreinigung in Form von »goldgelben Chrysolith-Einschlüssen« (L Z 28) auszeichnen und gerade dadurch zu »ihrer besonderen Schönheit« gelangen. Demantoide symbolisieren für Bollag Kunstwerke, wie auch die Dichtung, die er ebenfalls favorisiert: »In jedem wirklichen Kunstwerk sah er das Angesicht des Ewigen aufschimmern; und so war Kunst für ihn Gottesdienst und der Künstler Gehilfe des Ewigen im sich ständig erneuernden Werk der Vollendung der Welt« (L Z 30). Kunst, also auch westliche ›Hochkultur‹, Oper, Theater, Literatur und Malerei, wird von Bollag einer religiösen Sphäre zugerechnet bzw. erhält eine eigene Qualität in der Tradition der Kunstreligion, während die westliche Weltanschauung gerade wegen des Fehlens einer religiösen Komponente abgewertet wird. Mit dieser Einstellung, der Aufwertung von Kunst zur göttlichen Sphäre, befindet sich Bollag allerdings nicht in der diskursinternen Normalität, vielmehr hebt ihn die konsequente Ausweitung seiner Ansichten auf das gesamte Leben aus seiner Gruppe heraus und verleiht ihm »ab und an sogar einen Zug von Libertinage« (L Z 29). Vor dem Hintergrund einer strikt geregelten Gesellschaft, die die moderne Orthodoxie ebenfalls ist, erscheint diese individuelle und sich nicht an Normen richtende Denkweise tatsächlich als Freidenkertum, besonders da Bollag hier weltliche, sogar nichtjüdische Aspekte der religiösen Sphäre zurechnet – was in Geula nicht möglich gewesen wäre, wie Zichroni betont (vgl. L Z 33). Daher kann man auch hier von Verschiebungen sprechen, die sich von diskursinternen Momenten hin zu den Grenzen des Diskurses bewegen, was am Beispiel seiner individuellen Interpretation von Kunst im Kontext seiner Gruppenzugehörigkeit deutlich wird. Es handelt sich bei dieser Verschiebung nicht um eine Form des

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»Mit seinen Ansichten stand er durchaus nicht allein da. Sie hatten eine lange Tradition, insbesondere in Deutschland, woher seine Familie ursprünglich stammte.« (L Z 29)

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Widerstands, denn Bollag widersetzt sich gerade nicht einem Moment des dominanten Diskurses, sondern seine Verortung wird indirekt vielmehr durch diese sich an der diskursiven Grenze befindende Einstellung gefestigt. Eben weil seine individuelle Einstellung, so freidenkerisch sie ist, sich immer noch innerhalb der externen Diskursgrenzen befindet, bestätigt sie die Subjektivierung. Hier zeigt sich exemplarisch, wie Subjekte als Objekte von Macht-Wissen-Komplexen in diskursiven Strukturen verhüllt sind, indem sie sich mit einer Identität identifizieren, die gerade auf den Denkmustern, Handlungen, Wahrheitsbegriffen und kulturellen Schemata der sie subjektivierenden Diskurse basiert.

Eli Rothstein – der Widerständler? Wie bereits eingangs ausgeführt, ist Rothstein als Figur besonders durch seine mystische Erfahrung und die sich daraus ergebende Veränderung für sein Leben gekennzeichnet. Zunächst ist er allerdings, wie auch Zichroni, in einer orthodoxen Gemeinschaft verortet, die nicht näher erläutert wird, von der man aber aufgrund seiner Anwesenheit in Pikesville ausgehen kann, mit all den für die orthodoxen Gemeinschaften bereits erläuterten Aspekten einer Doktringesellschaft. Dabei kann Rothsteins Positionierung im religiösen Kontext als eine Verschiebung der Subjektposition hin zu den Diskursgrenzen betrachtet werden. Aufgrund seiner existenziellen Erfahrung der tödlichen Krankheit und der anschließenden mystischen Erfahrung der Reinigung bzw. Heilung beginnt er, alle anderen Lehrmeinungen zu hinterfragen, auch die der religiösen Ausbildung. Dabei muss betont werden, dass Rothsteins Kritik auf der (religiös-)kulturellen Ebene angesetzt ist: Er hinterfragt die Ausbildungsstruktur, nicht die Inhalte bzw. ihren Bezug auf Religion. Somit bleibt das widerständige Moment auch hier auf der Ebene der Struktur der Doktringruppe und geht nie darüber hinaus, vielmehr richtet es sich gegen die subjektivierenden Macht-Wissen-Beziehungen zur Wahrheitsproduktion. Ausgelöst durch die existenzielle Erfahrung des möglichen Todes und des Versagens der diskursinternen Lehrmeinung findet hier wiederum eine diskursinterne Verschiebung der eigenen Positionierung hin zu den Grenzen statt, ohne diese jedoch zu überschreiten. Diese Verschiebung wirkt sich nicht auf den Diskurs aus, da sie sich im Inneren Rothsteins abspielt und nicht im öffentlichen Diskursraum stattfindet, wo sie eine Resonanz, sei es Sanktion oder evtl. auch Zustimmung – und dadurch eine Diskurstransformation – auslösen könnte. Diskursintern erscheint Rothsteins Einstellung allerdings als radikal, so nimmt sie jedenfalls Zichroni wahr. Radikal jedoch nicht in dem Sinn, dass hier das religiöse Moment angezweifelt wird, sondern das (religiös-)kulturelle, das »religiös Sanktionierte[]« (L Z 83), das nur von Menschen und menschlichen Strukturen ausgehen kann.

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Amnon Zichroni – die Suche nach der richtigen Tradition Wie sein Vater ist Amnon Zichroni qua Geburt und Erziehung in der bereits beschriebenen Doktringesellschaft als Subjekt verortet: Er ist Regeln, Traditionen, Erwartungen, Anforderungen und Wahrheitsdispositionen unterworfen, die durchzogen von Macht- und Herrschaftsbeziehungen seine Weltanschauung, seine Wissensordnung und seine Identität bestimmen und normalisieren. Seine ultraorthodoxe Realität ist für ihn Normalität, wobei die diskursexternen Aspekte zeit seines Lebens eine große Anziehungskraft auf ihn ausüben, in diesem Kontext also die weltliche Sphäre, die in der ultraorthodoxen Gesellschaft ausgegrenzt und tabuisiert ist – ja gerade dadurch Formen des ›Widerstands‹ überhaupt erst ermöglicht werden. Zusätzlich zu den diskursinternen Produktionen von Widerstand kommt noch die individuelle Ausgestaltung der Subjektivierung, wie er sie bei seinem Vater erlebt. So sind die geheime Bibliothek des Vaters, die Bemühungen seiner Familie, sich anzupassen, sowie die Arbeit des Vaters bereits erste Signale für den Jungen, die normativ gesetzten Grenzen als flexible zu verstehen, wobei auch er stets in der Doktringruppe verhaftet bleibt. Eine Abweichung findet allerdings auf der Ebene des identitätsstiftenden Bereichs statt: Nicht eine von außen gesetzte ›Wahrheit‹ bildet die Identität, sondern das aktive Anerkennen seiner selbst – und zwar in Form des Erinnerns: »Unsere Erinnerungen sind es, die uns zu dem machen, was wir sind. Unser Gedächtnis ist der wahre Sitz unseres Ich« (L Z 7). Dabei ist es gerade nicht relevant, ob die subjektiven Erinnerungen auf empirisch nachprüfbaren Fakten gründen, vielmehr müssen sie individuell als ›wahre‹ erfahren werden. Anhand des fiktionalisierten Literaturskandals um Wilkomirski werden eben alle jene Fragen durchgespielt, die sich aus dieser Position ergeben: Wer bin ich? Was ist, wenn meine Erinnerungen nicht zu den empirisch nachprüfbaren Fakten passen? Und was passiert, wenn diese Diskrepanz öffentlich verhandelt wird? Während an Minsky die Auswirkungen der öffentlichen Ebene, besonders auch im Kontext des Shoah- und des ShoahErinnerungsdiskurses, auch in Bezug auf das »literarische Feld« (Bourdieu) problematisiert werden, ist es bei Wechsler gerade die subjektive Ebene, auf der er die Diskrepanz von Fakten und Erinnerungen mit sich selbst aushandeln muss. Das auf Erinnerung basierende Identitätsverständnis, das hier zum Tragen kommt, kann mit Birgit Neumanns Ansatz im Rahmen der kognitionspsychologischen und kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung sowie dem Bezug auf die narrative Identität verortet werden.83 Die menschliche Erinnerung wird als un83

Birgit Neumann gibt einen forschungsgeschichtlichen Überblick über die kognitionspsychologische sowie kulturwissenschaftliche Gedächtnis- bzw. Erinnerungsforschung mit dem Ziel, diese für literaturwissenschaftliche Analysen fruchtbar zu machen und dabei zu einem Begriffsverständnis zu kommen, das über »alltagssprachliches Verständnis der Konzepte ›Erinnern‹ und ›Identität‹« hinaus kommt. Ausgehend von der Verbindung des individuellen Erinnerns für die Identitätsarbeit in kognitionspsychologischen Arbeiten, kommt sie über den

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zuverlässig, episodisch, perspektivisch und mit anderen Erinnerungen vernetzt, welche sie ergänzen und sich gegenseitig bestätigen, beschrieben – sie also auf der einen Seite »flüchtig und labil« ist, auf der anderen wiederum kann sie Kohärenz stiften und gemeinschaftsbildend wirken.84 Es herrscht zudem Einigkeit darüber, dass Erinnerungen retrospektiv sind: Die Rekonstruktionstheoretiker betonen, dass das »Gedächtnis stets den Imperativen der Gegenwart unterstellt ist«; wobei sich diese »Theorie von der nachträglichen Verformung von Erinnerungen« nicht erst bei den Neuropsychologen, sondern auch schon bei Freud oder Nietzsche finden lasse.85 Das episodisch-autobiografische Gedächtnis arbeitet »rekonstruktiv und erlaubt auf diese Weise eine fortlaufende Reinterpretation vergangener persönlicher Erlebnisse«; das Abrufen gerade dieser autobiografischen Erinnerungen besitze dabei eine Schlüsselfunktion für Prozesse der individuellen wie auch kollektiven Identitätsbildung.86 Auch die Literatur hat solche individuellen und kollektiven Erinnerungsprozesse aufgegriffen und verschiedene Möglichkeiten gefunden, sie differenziert zu inszenieren: Eine Vielzahl vor allem zeitgenössischer Texte führt vor Augen, wie Einzelne und Gruppen sich qua selbstreflexiver Erinnerungsakte in einen kontinuitätsstiftenden Bezug zu ihrer Vergangenheit zu setzen versuchen, und macht damit das identitätsstabilisierende, aber auch -destabilisierende Potential der Erinnerung beobachtbar.87

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Einbezug narrativer Identitätstheorie zu Fragen des Kollektiven Erinnerns und dessen Darstellung in der Literatur. Vgl. Birgit Neumann: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hrsg. von Astrid Erll u.a. Berlin: de Gruyter 2005, S. 149–178. Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 24. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 4., durchges. Aufl. München: C.H. Beck 2009, S. 265. Martina Piefke, Hans J. Markowitsch: Grundlagen des Erinnerns. Neuroanatomische und neurofunktionale Grundlagen von Gedächtnis. In: Gedächtnis und Erinnerung. Hrsg. von Christian Gudehus, Ariane Eichenberg, Harald Welzer. Stuttgart, Weimar: Metzler 2010, S. 11–21, hier S. 17. »Erinnerungen an persönliche Erlebnisse bilden die Erfahrungsgrundlage für die Entstehung, die Kontinuität und den Wandel von Selbstkonzepten im Zeitverlauf des Lebens eines Menschen. Umgekehrt verändern aktuelle Selbstkonzepte die (Re-)Interpretation autobiographischer Erlebnisse und modifizieren dadurch auch die persönlichen Erinnerungen daran« (ebd.). Die kognitionspsychologische Forschung fokussiert demnach individuelle Erinnerungen, die kulturwissenschaftlich orientierten Arbeiten und Theorien zum Gedächtnis setzen sich hingegen vor allem mit Fragen des kollektiven Erinnerns auseinander: »Kulturen oder soziale Gruppen, so die zentrale Prämisse, nehmen in Texten, Gedenkfeiern und Riten auf Vergangenes Bezug und fundieren durch diese aktive Vergangenheitsaneignung eine Kollektividentität« (Neumann: Literatur, S. 150). Ebd., S. 164.

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Die Leinwand ist ebenfalls vor diesem Hintergrund bereits von Schuchmann gelesen worden.88 Für die Frage der religiösen subjektiven Verortung ist die erinnerungstheoretische Prämisse insoweit relevant, als dass sie im Roman das apriorische Fundament von Identitätsprozessen bildet: Wer keine Erinnerung hat, kann sich nicht verorten, da es nichts gibt, dem man sich zugehörig fühlt. Dementsprechend ist jemand vollkommen ohne Erinnerungen auch ohne Identität.89 Hinsichtlich der (fiktiv-fiktionalen) religiösen Identität von Jan Wechsler wird im nächsten Kapitel genau diese Problematik diskutiert. Für Zichroni ist die eigene Erinnerung identitätskonstitutiv, auch wenn diese von den äußeren Begebenheiten abweicht und damit einen unerklärlichen, undefinierten Moment annimmt. Allerdings ist die Annahme einer solchen Existenz des Unverfügbaren/Transzendenten grundlegend für die Religion als diskursive Formation und damit auch grundlegend für Zichronis Welt- und Identitätsverständnis, wodurch das Konfliktpotenzial zu hiervon abweichenden Positionen hoch ist: So prallen denn auch in der Leinwand zwei Weltanschauungen, zwei die Wahrnehmung der Wirklichkeit strukturierende diskursive Formationen aufeinander, die sich gegenseitig kategorisch ausschließen, weil sie den Antagonismus des anderen bilden. Damit müssen auch für Zichroni, und alle anderen Subjekte, die in der Religion-Formation verortet sind, Konflikte, die gerade auf diesem Antagonismus beruhen, grundsätzlicher Natur in ihrer Bewertung sein. Da die jeweilige Weltanschauung die Norm und das Sag-Mach-Bare darstellen, und damit den dominanten öffentlichen Diskurs, wird jede öffentlich bekanntgewordene Abweichung sanktioniert. Zentral kommt dieser Weltanschauungskonflikt allerdings in der Darstellung des Skandals um die Shoah-Erinnerung zum Tragen. Minskys öffentliche Behauptung, auch nach der Offenbarung durch Wechsler, dass seine Erinnerungen wahr seien, entgegen den zahlreich ins Feld geführten empirischen Beweisen, führt zu öffentlichen Sanktionen, deren Stärke, Vehemenz und Härte besonders im Kontext der Frage nach der angemessenen Shoah-Erinnerungsdarstellung verstanden werden müssen.90 Die Annahme der Transzendenz ist für die Figur Zichroni unhintergehbar, die westliche Weltanschauung problematisch und falsch. Er erkennt sie nicht an. Der

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Vgl. Kathrin Schuchmann: »Unser Gedächtnis ist der wahre Sitz unseres Ichs.« Erinnerung und Geschichte(n) in Benjamin Steins Die Leinwand. In: Zagreber Germanistische Beiträge 21(2012), S. 201–220. Inwiefern körperliche Praktiken hier eine andere Perspektive eröffnen würden, stellt eine weiterführende, auf praxeologische Konzepte zurückgreifende Fokussierung dar. Vgl. explizit zu diesem Konnex aus diskurstheoretischer Perspektive Stephanie Willeke: Konstruierte Wahrheiten. Benjamin Steins Die Leinwand. In: Das Radikale – gesellschafts-politische und formal-ästhetische Aspekte in der Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Stephanie Willeke, Ludmila Peters, Carsten Roth. Münster: LIT 2017, S. 147–172.

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Roman unterstützt dabei seine Position: Das religiöse Element seiner Erinnerungsgabe, das als fantastisches Moment auf seine spezifische literarische Bedeutung später noch untersucht wird, wird im gesamten Text dem narrativen Adressatenkreis als Wahrheitsreferenz vorgestellt. Außerdem bildet die Akzeptanz der Gabe die Auflösung der Frage, was an der Jerusalemer Mikwe geschehen ist: Zichroni, der seine Handschuhe absteift, ›verändert‹ Wechslers Erinnerungen, sodass sie ihm später (siehe Wechslers Erzählung) fehlen. Der ihm zugeschickte Koffer enthält Besitztümer von Zichroni, die er alle in seiner Erzählung erwähnt hat. Es scheint logisch, anzunehmen, dass Zichroni, der sich schon vorher über Wechslers Veränderung echauffiert hat, das ganze Ausmaß von dessen Identitätswechsel bei diesem Hautkontakt ›erlebt‹, dessen Erinnerung an die Ereignisse vernichtet bzw. verändert und im Anschluss den gepackten Koffer nachsendet, um Wechsler eben jene empirischen Beweise zu liefern, die seine eigene Identität in Frage stellen – erzählt wird dies im Roman allerdings nicht. Die Erinnerungsgabe wird im Text als eine reale und sich auf Menschen auswirkende Erscheinung, eine Form göttlicher Emanation in der Wirklichkeit, vorgestellt. Diese Erzählstrategie bezieht damit aber Position bezüglich der Frage, welche der Weltanschauungen ›wahr‹ sind, und plädiert für eine Öffnung im westlichweltlichen Diskurs hin zum Transzendenten, das sich in den verschiedensten Emanationen zeigt, sei es Kunst, Heilung in einer Mikwe, wenn die Wissenschaft versagt, oder in einer Gabe, die eine charakterliche Herausforderung an den Träger darstellt. Zichronis subjektive Verortung bezüglich seiner religiösen Identität steht zu keinem Zeitpunkt zur Disposition. Auch die Kritik an den religiösen Institutionen ist bei ihm keine grundlegende, sondern eher eine spielerische: »Das entsprach mir überhaupt nicht, denn ein Kämpfer bin ich nie gewesen« (L Z 87). Er bleibt innerhalb seiner Doktringesellschaft der modern-orthodoxen Juden als religiöses Subjekt verortet. Man könnte eher sagen, dass seine Gabe und Rothsteins mystische Erlebnisse seine Verortung noch weiter zementieren. Interessanterweise wird zwar auf der inhaltlichen Ebene Zichronis Position präferiert, auf der narrativen allerdings wieder relativiert, da Zichroni bei genauem Hinsehen als unzuverlässiger Erzähler erscheint. Trotz der chronologisch-autobiografischen Erzählweise werden wichtige Ereignisse (das Geschehen um Wechsler und ihn selbst nach der Mikwe-Episode) ausgespart, sein Werteverständnis durch den Missbrauch seiner ›Gabe‹ und dem Wissen um die falsche Erinnerung bei Minsky (vgl. L Z 174f.) hinterfragt – auf der Rezipient*innenebene erscheint Zichroni so als ambivalente Figur, die sich gerade durch das Wechselverhältnis von Diegese und Erzählung nicht auf eine klare Zuordnung festlegen lässt.

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Jan Wechsler – die Flucht in die Tradition Der zweite Erzählstrang des Flipbooks wird vom autodiegetischen Erzähler Jan Wechsler berichtet. Der Handlungsbogen setzt handlungsintern nach dem Ende der Zichroni-Geschichte ein und endet ca. in der Zeit, auf die der Bericht Zichronis datiert ist. Der Wechsler-Bericht ist als eine scheinbar gleichzeitige Narration angelegt, die in einzelnen Kapiteln als Erzählstationen erfolgt, wobei die Lücken dazwischen als Ellipsen zwischen den narrativen Ereignissen zu deuten wären. Auch die Datierung »München/Jerusalem // Februar – Oktober 2008« lässt einen langfristig angelegten Bericht vermuten. Allerdings finden sich demgegenüber deutliche Hinweise im Text, die eher auf eine gemischte Narration bzw. spätere Narration verweisen. Schaut man sich das erste Kapitel an, so wird deutlich, dass die Handlung, die mit der Kofferzustellung in medias res einsetzt, von einem Erzählzeitpunkt aus berichtet wird, der am nächsten Tag liegt: »Sie wäre auch gestern verschlossen geblieben […]« (L W 9). Gemeint ist hier die Tür, die Wechsler am Schabbat geöffnet hat. Auf die Datierung folgt der Bericht der Ereignisse des Tages, der wiederum mit einer anderen Zeitangabe endet: »Auch Geschenke bekamen die Kinder nicht […]. Der Koffer steht noch heute, einige Tage nach seiner Zustellung, noch immer ungeöffnet in meinem Büro« (L W 13). Einen Absatz später folgt eine Ellipse, die die erzählte Zeit um Tage bzw. Monate überspringt. Auf den nächsten Seiten wiederum findet sich ein Bericht, der als gleichzeitige Erzählung, verbunden mit Assoziationen und Analepsen, bezeichnet werden kann (vgl. L W 13–22), um dann im nächsten Absatz erneut in eine spätere Narration zu wechseln und ein paar Absätze weiter wieder in die gleichzeitige. Das Vorgehen setzt sich in der weiteren Erzählung ähnlich fort. Dieses mäandernde gleichzeitige und spätere Erzählen macht es dabei den Lesenden schwer, die Aussagen einzuordnen: Bei einer späteren Erzählung würde der Erzähler das Ende der Ereignisse kennen und könnte dementsprechend Informationen einbauen sowie die Geschichte strukturiert erzählen, bei einer gleichzeitigen Erzählung wären die Passagen weitaus länger, da man als Erzähler nicht abkürzen kann, was noch nicht passiert ist. Der Wechsel allerdings zeugt von einer Unsicherheit des Erzählers, der mal augenblicklich, mal assoziativ, ausgelöst durch unterschiedliche Gegenstände, von den verschiedensten Erinnerungen in Analepsen, mal sortiert aus einer späteren Perspektive berichtet. Ohne dass die ersten Zweifel auf inhaltlicher Ebene auftauchen können, zeigt sich der Erzähler bereits in seiner Narration als unzuverlässig. Erzählt wird, wie Wechsler zu der Erkenntnis gelangt, dass seine aktuellen Erinnerungen nicht der nachweisbaren Realität entsprechen und falsch sind. Dementsprechend sind die Themen Erinnerung und Gedächtnis zentral für die Wechsler-Passage. Problematisch sind diese Erinnerungen, weil sie bezüglich Wechslers Bericht über seine Jugend und seine Annäherung an den jüdischen Glauben auf verschiedenen Ebenen unzuverlässig sind. So findet Wechsler 2

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heraus, dass seine Erinnerungen eigentlich die fiktive Geschichte einer Familie darstellen, die Wechsler 1 (im Folgenden wird der Jan Wechsler, der vergessen wurde, mit einer »1« markiert, der Erzähler mit einer »2«) in seinem Debütroman beschrieben hatte – also doppelt fiktional sind und damit keine Wirklichkeitsreferenz innerhalb der fiktiven Welt haben. Anders formuliert: Wechsler 1 wurde in Jerusalem als Jude geboren und immigrierte später mit seiner Mutter in die Schweiz. Er war zu keinem Zeitpunkt Bürger der DDR, von der die Erinnerungen des Protagonisten aus dem Debütroman handeln. Somit gilt in der fiktiven Welt, dass Wechsler 1 sich bei der Geschichte nicht auf selbst Erlebtes berufen kann und sie damit als eigene Erinnerung keinen Wahrheitswert in der fiktiven Welt von Wechsler 2 hat. Komplizierter auf der Metaebene wird die Frage nach den Aussagen über das Judentum in der DDR vor dem Hintergrund, dass der Autor Benjamin Stein in der DDR aufgewachsen ist und die besagte Familiengeschichte sein Debütroman war, nämlich das Alphabet des Juda Liva. Hier vermischen sich also metaleptisch verschiedene Ebenen miteinander, die des realen Autors mit denen des fiktiven Erzählers, der zudem auch noch unzuverlässig ist. Zieht man hier allerdings die Erinnerungskonstruktion des Romans hinzu, so kann man festhalten, dass es für den Text nicht relevant ist, ob die Erinnerungen an die DDR und damit an die eigene religiöse Identitätsausbildung in der fiktiven Welt eine Wirklichkeitsreferenz haben. Aus Sicht der apriorischen Grundlegung, dass Erinnerungen keinen empirischen Bezug zur Wirklichkeit haben, sondern nur für einen selbst wahr sein müssen, sind die Erinnerungen Wechslers 2 an seine Kindheit in der DDR für ihn wahr, auch wenn sie eigentlich fiktiv sind. Die Darstellung der Religion in der DDR zeichnet sich durch eine Darstellung des Judentums aus, dem ein identitätsstiftender Knotenpunkt gerade fehlt. Geschildert wird eine Gruppe von Menschen, die vor dem Hintergrund des Sozialismus, der Stasi und der historischen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenkommt und vor einer schwierigen Herausforderung steht: Anders zu sein als die Mehrheit, ist in jeder Diktatur ein Problem. Jüdisch zu sein war im Kleinen Land eine Variante des ultimativen Andersseins. Als ich nach dem Ende meiner Sportlaufbahn Gott entdeckte, habe ich mit niemanden darüber gesprochen. Meine Großeltern waren eingefleischte Kommunisten. […] Eine Synagoge haben sie nie betreten. Zum einen war Religion laut Marx ›Opium des Volkes‹. Zum anderen gab es Juden im Kleinen Land nur in drei Varianten: vergast, nach Schauprozessen weggesperrt oder außer Landes geflüchtet. In keiner dieser Kategorien fand man sich gern wieder. (L W 128) Den Menschen fehlt es hier an einem kulturellen Rahmen und einem Kollektiv zur Identifizierung.91 Sind die orthodoxen Juden aus der Zichroni-Darstellung al91

Vgl. hierzu Koelle: Identität und Konvektion, S. 227f.

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le in einer festen Gemeinschaft mit Regeln und Traditionen aufgewachsen, war dies für die jüdischen Personen in der DDR, die man eigentlich kaum als Gruppe bezeichnen kann, nicht möglich. Beschrieben wird hier, wie einzelnen Individuen das identitätsstiftende Moment des dominanten politisch-ideologischen Diskurses nicht zur Identifizierung reicht und sie sich auf die Suche nach einer eigenen Identität begeben, mit der sie ihr Wissen um das eigene, wie auch immer geartete, ›Judentum‹ erweitern wollen: »Den wenigsten ging es um Religion. Die meisten suchten ehrlich und unter Mühen nach Identität« (L W 129). Als Ausgangspunkt dient den Suchenden dabei das kulturelle Gedächtnis, in das das Wissen um bestimmte Traditionen und Regeln eingegangen ist: »Kaum einer von uns wusste, was wir waren. Die einzige Verbindung zu dem, was uns hätte ausmachen können, waren die alten Gebete und die Überreste einer Tradition, von der die meisten von uns kaum etwas wussten« (L W 129). Dabei liegt der identitätsstiftende Faktor für diese Personen nicht in einem religiösen Moment, sondern in einer Vorstellung von der Zugehörigkeit zu einem ›Judentum‹. Die Personen nutzen daher die ihnen im kollektiven und kulturellen Gedächtnis verbliebenen Erinnerungen an eine bestimmte Tradition, um sich mit dieser zu identifizieren und von da aus weiter zu suchen. Es ist bezeichnend, dass es gerade die religiös-kulturellen Momente der diskursiven Formation sind, die hier eine identitätsstiftende Funktion haben, also: die noch bekannten Gebete, der Gottesdienst in der Synagoge, die religiösen Feiertage. Sie sind es, die den Suchenden, sich irgendwie zusammengehörig fühlenden Menschen eine Orientierung geben. Auch der Identitätsmarker ›Auschwitz‹, der für die BRD im Roman angeführt wurde, fehlt in der DDR: Auschwitz, weil die politische Leitlinie dort vor allem kommunistische Opfer sah, Israel wegen der »imperialistischen Barbaren« (L W 130), so Wechsler. Die Suche nach einer ›jüdischen‹ Identität in der (fiktiven) DDR geschah demnach vor einem vollkommen anderen Hintergrund, sie wird eher als vorsichtige Suchbewegung einzelner Personen, denen es weniger um Religiosität als um die religiös-kulturelle Tradition ging, beschrieben. Die identitätsstiftende Funktion der Heiligen Texte kann für diesen Kontext nicht ausgemacht werden, da den Suchenden weder die Texte noch die Kenntnisse des Hebräischen bekannt waren. In seinen Erinnerungen über die Zeit als 16-Jähriger berichtet Wechsler 2 hingegen, dass seine Suche sich auf die Religion, im Unterschied zu den anderen, ausrichtete und er hierfür auch autodidaktisch Hebräisch lernte. Über die weitere religiöse Entwicklung Wechslers 2 wird man im Dunkeln gelassen, seine scheinbaren Erinnerungen an Berufsreisen sind frei von religiösen Bezügen und Verweisen auf rituelle Vorschriften und Einschränkungen (vgl. L W 15ff.), wohingegen alle Erinnerungen, die mit seiner Frau verbunden sind bzw. sich auf Ereignisse nach den Geschehnissen um Minsky beziehen, den observanten Hintergrund als gegeben voraussetzen (vgl. L W 37). Gerade in diese Zeit, 1998 als Datum für die Publikation von Wechslers 1 Buch Maskeraden, und 1999, der Zeit vor der Bekanntschaft und Ehe

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mit seiner Frau, fällt die Erinnerungsdiskrepanz: Die Ereignisse vor 1999 werden von Wechsler 2 erinnert und entsprechen nicht den tatsächlichen Erinnerungen von Wechsler 1; alle Erinnerungen, die sich auf die Zeit nach 1999 beziehen, treffen hingegen für Wechsler allgemein zu. In diese Zeit, also vor der Bekanntschaft mit seiner Frau, fallen auch die Schritte seiner Annäherung an das Judentum, wobei die Motivation von Wechsler 1 eine andere ist als die von Wechsler 2, und spielen sich in München nach der Wiedervereinigung ab. Wechsler 2 wird auf den Weg des orthodoxen Judentums durch Ariel, einen Maschgiach, einen Aufseher für vor allem die Einhaltung der Reinheitsvorschriften in koscheren Küchen, gebracht: »Was ich über Torah, Talmud und die Kabbala weiß, habe ich von ihm gelernt« (L W 142). Neben den traditionellen Texten macht Ariel Wechsler demnach vor allem mit der jüdischen Mystik vertraut und mit den rituellen Vorschriften, an die sich Wechsler bis dato nicht gehalten hat. Nach und nach nimmt Wechsler einen observanten Lebensstil an und kleidet sich auch orthodox, wobei der Weg symbolisch und rituell im Reinigungsbad einer Mikwe gipfelt. Wie schon für Rothstein hat die Mikwe in der Erzählung von Wechsler ebenfalls eine zentrale Bedeutung, da sie für ihn den Übergang in ein neues Leben darstellt (vgl. L W.147). Die Mikwe, konkret »[d]as hebräische Wort ›Mikwe‹ ( ‫ ֶהוְ קִמ‬miqwæh bzw. ‫ֶהוְ קִמ‬ miqwāh, Plural ‫ ֶהְוִקִמ‬miqwāôt) kommt von ‫ וקמ‬qwh II ›versammeln/ansammeln‹ und bezeichnet zunächst allgemein eine Ansammlung von Wasser, im Weiteren ein Sammelbecken für Wasser, konkret ein jüdisches Ritualbad«.92 Durch ein vollständiges Untertauchen (gesamter Körper mit Haaren unter Wasser) bei diesem »Ritualbad«, »Tauchbad« oder der »Tevila« im »lebendigen« Wasser soll eine Reinigung stattfinden.93 Diese Reinigung ist dabei auf der einen Seite eine Reinigung von ritueller Unreinheit (in Zeiten des Tempels und nach dessen Zerstörung für Hohepriester vor dem Eintritt in den Tempel) oder der Unreinheit aufgrund einer Berührung eines toten Menschen oder Tieres (auch nach dem Besuch einer Beerdigung oder eines Friedhofs); heutzutage führe man eine Tevila durch, um sich auf den Gottesdienst in der Synagoge vorzubereiten und die Tevila sei ein »zentraler Bestandteil der Taharat ha-mischpacha, der Reinheit des Familien-, insbesondere des Ehelebens«.

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Antje Yael Deusel: Art. »Mikwe«. In: Bibelwissenschaften. https://www.bibelwissenschaft. de/fileadmin/buh_bibelmodul/media/wibi/pdf/Mikwe__2018-12-03_21_56.pdf (Zugriff: 25. 07.2020). »Erforderlich ist hierfür, dass das Wasser aus einer natürlichen Quelle stammt und fließendem, ›lebendigem‹ Wasser entspricht. Diesen Anforderungen genügen Quellwasser, Regenwasser, auch Grundwasser. Jedoch darf das Wasser nicht über Leitungen herbeigebracht werden, die aus Materialien bestehen, welche der Mensch gemacht hat, wie z.B. Plastik- oder Metallrohre.« (Ebd.)

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Neben diesen auf rituell-spirituelle Reinheit bezogenen Anlässen gibt es weitere Bedeutungen der Tevila: die »Reinigung von Sünde und Übertretung«, bei der das Tauchbad den »Entsühnungsvorgang« komplettiert; zudem beseitigt das »Untertauchen in der Mikwe einen trennenden Zustand«, der »Sünde von Reinheit, rituelle Unreinheit von ritueller Reinheit, Profanes von Heiligem [trennt], und er bedeutet letztlich auch die Trennung des Menschen von Gott.« Ferner ist das Tauchen auch ein Ritus des Übergangs, bspw. des Brautpaares, bevor es getraut wird oder auch bei der Konversion zum Judentum: »Hier symbolisiert das Wasser der Mikwe den Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt, ja, in ein neues Leben, im wörtlichen, physischen wie auch im übertragenen, spirituellen Sinn.«94 Im Roman ist die Mikwe ein zentrales Motiv und taucht in ihren verschiedenen Funktionen auf. Rothstein kommt während seiner Krankheit mit der Mikwe und ihrer reinigenden Funktion in Berührung. Für ihn ist der transformatorische Aspekt, bei dem »Tumah zu Tahara, Unreinheit zu Reinheit wird« (L Z 71), interessant. Dieser liege jedoch nicht am Wasser der Mikwe, sondern in einem bestimmten mentalen Zustand, bei dem das Wasser nur »als Katalysator« wirkt: »Es war von ihm selbst ausgegangen und durch sein Vertrauen in den Ewigen und durch seinen festen Willen ausgelöst worden. […] Der mentale Akt hatte die Materie bezwungen und umgeformt« (L Z 82). Die Erfahrung, die Rothstein in der Mikwe gemacht hat, zeichnet sich dabei vor allem durch zwei Aspekte aus: Sie transformiert, verändert einen Menschen, und sie kann nur durch ein individuelles Bedürfnis erreicht werden, das sich durch Willensstärke und einen absoluten Bezug zum Transzendenten auszeichnet. Es geht hier also nicht um das Erfahrungsobjekt, auch nicht um den Erfahrungsprozess, sie werden von Rothstein nicht geschildert, sondern um das Ergebnis, den Zustand nach der Tevila. Unterstützt wird diese These dadurch, dass Rothstein schließlich davon ausgeht, dass dieser Vorgang möglicherweise übertragbar sei bzw. von anderen vollzogen werden könnte: Unklar blieb Eli jedoch, ob es ihm nur durch Zufall gelungen war, seine seelischen Kräfte in einem solchen Maße zu bündeln, oder ob ein Prinzip dahintersteckte, das nur noch entdeckt und verstanden werden musste, damit man auch anderen helfen konnte, wie er sich selbst geholfen hatte […]. (L Z 82) Dafür müsste man aber in einem ersten Schritt die Lehrmeinung, auch die der schulischen Ausbildung, also bei Rothstein die Ideologie, hinter sich lassen und im Eigenstudium, denn die Heiligen Texte werden bei ihm nicht disqualifiziert, sich in einen Austausch mit »dem Ewigen« begeben – eine rein individuelle Beziehung zwischen Mensch und Gott also, die zwar auf den religiös-kulturellen Momenten basiert, schlussendlich diese jedoch auf das religiöse Moment hin übersteigen will

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Ebd (alle Zitate).

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und einen besonderen Akzent auf Eigeninitiative und individuelle Handlungsbereitschaft legt. Während Rothstein und Zichroni orthodox sozialisiert wurden und für Rothstein die Mikwe eine Erfahrung außerhalb des orthodoxen Raumes mit sich brachte, kommt Wechsler gerade durch seine Rückkehr95 zum (orthodoxen) Judentum zur Mikwe, die in seinem Fall den Übergang in sein »neues Leben auch symbolisch […] bekräftigen« (L W 147) soll. Im anschließenden Traum Wechslers zeigt sich dieser Übergang bildlich in einer Fahrt mit Ariel auf einem Fluss, die nicht beim Anlegen an einem Ufer endet, sondern im Untergang: »Im Wasser öffnete ich die Augen und staunte« (L W 147). Die Tevila, das Tauchbad, stellt dabei den Prozess des Übergangs dar, während das Wasser der Mikwe das Tor ist, das durchschritten werden muss: Die Mikwe ist hier also ein »Tor zu einem anderen Leben« (L W.171). Transformiert wird dabei allerdings der Mensch, nicht seine Umgebung, diese bleibt dieselbe: »Aus dem Wasser steige man auf als ein neuer Mensch« (L W.148), so auch in der Erklärung Ariels. Die Mikwe ist also das Tor zu einem neuen Leben und gerade nicht das »Tor in eine andere Welt«96 . Zur Prozedur der Rückkehr gehört für Wechsler auch die Auswahl eines zusätzlichen Namens, bei dem er sich für »Arieh – Löwe« entscheidet und Ariel noch »das jiddische Leiw« hinzufügt (L W 148). Genau diese beiden Löwen, auch stellvertretend für seine beiden Identitäten als Wechsler 1 und Wechsler 2, glaubt er im Wasser auf ihn lauernd zu erkennen, und als er von Zichroni unter Wasser gedrückt wird, sind es wieder die Löwen, die Wechsler wahrnimmt (vgl. L W 202). Symbolisch und explizit verweist der Roman demnach immer an der Übergangsstelle der Mikwe auf die Doppelidentität Wechslers, die ›empirische‹ und die angenommene. Dies geschieht allerdings nicht nur an der Mikwe. Wechslers Doppelidentität wird immer dann aufgerufen, wenn Räume des Übergangs, des Transfers betreten bzw. aufgerufen werden: so allgemein im Fall von Literatur, also dem Übergang vom Faktualen ins Fiktionale, die Bücher, die er glaubt besessen zu haben, das Buch Die Maskeraden, das ihn als Autor ausweist, der Bezug über den Verlag; ferner wird die Doppelidentität auch durch das Fliegen evoziert, so im letzten Flug nach Israel, wo er sich an seinen ersten Besuch erinnert (vgl. L W 158), oder auch in der Gefängniszelle, die ebenfalls ein Ort des Dazwischen ist, nicht zur Gesellschaft gehörend, aber auch nicht vollkommen ausgesondert. Man könnte diese Orte des 95

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Dass es sich bei seinem Weg nicht um eine Konversion zum Judentum, sondern um eine Rückkehr eines Juden zum orthodoxen Weg handelt, wird auch bei den Gesprächen mit Ariel, der ihn anleitet, deutlich: »Ariel hatte mir die Prozedur [Tevila] erklärt. Wenn jemand wie ich zum Ewigen zurückkehre […]« sowie »Die Weisen waren der Ansicht, dass nicht nur bei der Geburt eine auf Rückkehr in die Welt wartende Seele in einen neuen Körper übergehen kann, sondern auch während der Tevila eines Konvertiten. In gewisser Weise, meinte Ariel, gelte dies auch für einen, der zum Ewigen umkehrt« (L W 148). Horstkotte: »Ich bin, woran ich mich erinnere.«, S. 129.

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Dazwischen, der anderen Räume, an dieser Stelle als »Heterotopien«97 im Sinn von Foucault beschreiben. Der bewusste Wechsel an der Mikwe in München von einer Identität zu einer anderen im Falle Wechslers, der Figur mit dem sprechenden Namen,98 war für diesen jedoch keine einmalige und vor allem keine abgeschlossene Angelegenheit: Das Gefühl der Befreiung, das ich empfand, als ich aus der Mikwe in der Reichenbachstraße auftauchte, war stark. Aber es kam mir dennoch so vor, als sei ich noch immer nicht in der wahren mir zugedachten Existenz abgekommen. Also wollte ich weiter. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, nach einer Mikwe zu suchen, die vor Erinnerungen und Funken anderer Seelen geradezu überfließt. (L W 171) Wie bei Rothstein, so löst auch hier die Tevila etwas aus, das sich auf das eigene Handeln auswirkt. Allerdings ist hier das Verhältnis anders gelagert: Rothstein fühlte sich nach der Tevila geheilt, transformiert, und begann, nach einem Weg zu suchen, diese Erfahrungen auch anderen zugänglich zu machen – und zwar unabhängig von der Mikwe. Die Mikwe war für ihn der Übergang in ein neues, gesundes Leben, von der Unreinheit der Angst, dem menschlichen Phänomen, befreit. Seine Transformation war demnach ›vollkommen‹. Bei Wechsler hingegen scheint diese Transformation nicht vollkommen zu sein, so dessen eigenes Empfinden. Dies mag damit zusammenhängen, dass bei seiner Tevila eigentlich zwei Faktoren im Vordergrund stehen, nämlich der Übergangsritus für die Rückkehr zum (orthodoxen) Judentum, also der Abschluss des Wegs, auf dem Ariel ihn begleitet hat, und die Reinigung von Schuld, nämlich für seine Taten Minsky gegenüber. Allerdings scheint der zweite Aspekt bei der ersten Tevila keine Rolle gespielt zu haben, er war Ariel auch nicht bekannt. Erst nach seinem Tauchbad fängt Wechsler an, sich eigenständig weiter mit bestimmten Texten zu beschäftigen, und sucht nach einem Weg, das alte Leben vollkommen hinter sich zu lassen. Dass dieses aber ein mit »Scham und Schande« behaftetes ist, ist ihm vollkommen bewusst: Man kann sich nicht reinwaschen von Scham und Schande. Aber wenn die Mikwe ein Tor in ein anderes Leben ist, gibt es doch einen Ausweg – eine Möglichkeit, der Erinnerung an die eigenen Fehler zu entkommen. Das klingt nach Flucht. Aber so 97

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Michel Foucault: Von anderen Räumen. In: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hrsg. von Jörg Dünne, Stephan Günzel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007, S. 317–329. Auch Amnon Zichroni ist vom Autor mit einem sprechenden Namen versehen worden. Vgl. der Eintrag im Turmsegler: »Amnon Zichroni ist in Israel ein Name mit Gewicht. Ich hatte gemeint, ihn für die ›Leinwand‹ erfunden zu haben. Amnon sollte an Amnesie erinnern, und in Zichroni steckt die hebräische Wurzel für ›erinnern‹. Also ein ganz und gar symbolischer Name (wie auch bei Wechsler).« (Herv. im Orig. in roter Schrift.) Benjamin Stein: Zichroni vs. State of Israel. Donnerstag, den 15. Januar 2009. In: Ders.: Turmsegler. Literaturblog. https://turmsegler. net/category/die-leinwand/page/19 (Zugriff: 25.07.2020).

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sehe ich es nicht, denn das Leben, das auf einen wartet, wenn man auftaucht, ist ebenso voller Herausforderungen. Aber es sind andere, und man tappt in andere Fallen. (L W 171) Explizit taucht hier erneut Wechslers Motivation für die eigentliche Hinwendung zum observanten Judentum auf, nämlich die Flucht vor seinem Leben als Wechsler 1, ein »Ausweg«. Im Vordergrund steht demnach nicht die tiefe, individuelle Überzeugung der Hinwendung zu Gott und der Tradition des orthodoxen Judentums, ohne den Bezug abstreiten zu wollen, sondern vor allem die unreflektierte Rettungsfunktion99 vor den eigenen, früheren Fehlern, die gerade dem traditionellen Mikwenverständnis widerspricht: Wohl schließt dies auch die Reinigung von Sünde und Übertretung ein, jedoch erlangt man eine Vergebung von Sünde und Übertretung vor Gott und vor den Menschen nicht allein durch das bloße Untertauchen. Erst wenn eine entsprechende Wiedergutmachung, in den Zeiten des Tempels auch ein entsprechendes Opfer, erfolgt ist, komplettiert die Benutzung der Mikwe sozusagen den Entsühnungsvorgang.100 Die Tevila ist traditionell demnach das Ende eines Vorgangs, bei dem es darum geht, sich von seinen Vergehen zu reinigen, während Wechsler sie hier als Anfang und Ende nehmen möchte. Dass er daran scheitert, zeigt bereits seine eigene Andeutung, explizit jedoch das Ende der Leinwand: Die Mikwe in Moza ist bei seinem letzten Sprung, auf der Suche »nach seine[m] verlorene[n] Ich[]« (L W 203), buchstäblich leer. Während die Mikwe also für Rothstein als ein mystischer Übergang in ein neues Leben gedeutet werden kann, ist dies bei Wechsler nicht der Fall, da ihm eine endgültige Reinigung nicht widerfahren ist. Noch deutlicher formuliert kann man sagen, dass Rothstein romanintern eine mystisch-religiöse Erfahrung, die sich allerdings nicht mit der unio mystica vergleichen lässt, hatte, Wechsler hingegen ›nur‹ eine Erfahrung einer großen Transzendenz, die keine religiöse ist, da ihn mehr religiös-kulturelle und weniger gottbezogene Motive geleitet haben, ihm damit die endgültige Reinigung fehlt und er sich dessen auch bewusst ist. Bezeichnend und unterstützend ist in diesem Kontext zudem, dass Rothstein aus dieser Erfahrung vor allem mit einem individuellen Bewusstsein für die Beziehung zwischen Mensch und Transzendenz hervorgegangen, zum »Ritter des Ewigen« geworden ist (L W.71), Wechsler hingegen hat danach nach weiteren Mikwen gesucht,

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Weidner spricht Wechsler zu viel Reflexionsvermögen zu, wenn er feststellt, dass Wechsler seine »Bekehrung [als] ein Täuschungsmanöver« erkenne. Weidner: Jenseits, Umkehr, Heilige Schrift, S. 80. 100 Deusel: Mikwe.

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die ihm das Gefühl der Wiederherstellung, der für ihn wahren Existenz, vermitteln können, wobei Gott für ihn in diesem Kontext keine identitätsstiftende Rolle zu spielen scheint. Rothstein und Wechsler sind beide auf der Suche nach der Befriedigung eines individuellen Bedürfnisses, der eine der metaphysischen Heilung, der andere der Flucht in ein neues Leben – ihr Weg ist dabei qualitativ ein anderer: Rothstein, von der religiös-kulturellen Ebene der Heiligen Texte kommend, überschreitet diese hin zum letzten ordnungsstiftenden Punkt, nämlich der ontologischen Trennung zwischen Mensch und Transzendenz; Wechsler hingegen bleibt dieser religiös-kulturellen Ebene verhaftet; Rothstein geht von einem allgemeinen Prinzip aus, Wechsler bleibt bei seinen individuellen, teilweise der Tradition entgegengesetzten Zielen stehen – oder anders formuliert: Rothstein geht es um Transzendenz, Wechsler um Immanenz. Daran ändern auch sein mystischer Zugang zu den Bedeutungen der Mikwe und sein Glauben an die kabbalistische Seelenwanderung nichts. Durch Ariel kommt Wechsler zu den mystischen Schriften und zu der Vorstellung, eine Seelenwanderung vorzunehmen, liest kabbalistische Texte, den Zohar und die Texte von Luria, wobei dieser mystische Weg für ihn stets, überspitzt formuliert, Mittel zum Zweck bleibt, da seine Motive primär kultureller Natur sind, und gerade nicht religiös: Er sucht nach Zugehörigkeit, nicht nach Gott.101 An der Figur Wechslers wird so auf einer Metaebene erkennbar, dass der Roman zwischen einer religiösen und (religiös-)kulturellen Identität unterscheidet (und dabei Rothsteins Position aufwertet), ohne allerdings kritisch zu reflektieren, dass beide einen strukturell ähnlichen konstruktiven Charakter aufweisen. Dem religiösen Aspekt wird eine qualitativ eigenständige Sphäre zugesprochen, die frei ist vom Kulturellen. Gerade dies wird an der Figur Wechslers durchgespielt: Er beschreibt, wie schwer es ihm fiel, sich in Demut zu üben, sich für alles bei Gott zu bedanken (»Hatte ich nicht alles von meinem eigenen Geld bezahlt?«, L W 144), sich daran zu gewöhnen, Schabbat zu halten, die ersten Versuche, Zizit unter dem Hemd zu tragen (sie offen zu tragen, wäre »mir viel zu auffällig gewesen«, L W 145), die Einhaltung der Essensvorschriften sowie der Punkt, an dem er die Kippa nicht mehr absetzte. Vor allem dieser Aspekt wird dabei als der einschneidendste erfahren: Die ersten Tage waren ein ständiger Kampf mit der eigenen Unsicherheit. In Israel, London oder New York wäre ich nicht aufgefallen. Auf deutschen Straßen ist die Kippa ein Signal. Man fällt aus dem Rahmen. Man passt nicht ins Bild. Leute bleiben stehen, drehen sich um. Man wird angestarrt, mitunter auch angesprochen, meist freundlich, doch bei Weitem nicht nur freundlich. Ich kann nicht sagen, wie 101

Eine ähnliche Argumentation, dass Wechslers Identität gerade nicht in einem Gottesglauben begründet ist, sondern er allgemein auf der Suche nach einem Sinn ist, findet sich bei Costazza: Benjamin Steins Die Leinwand, S. 314.

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lange es gedauert hat, bis ich die ständigen Blicke auf der Straße nicht mehr zur Kenntnis nahm. Aber es war lange. (L W 146) Die Erlebnisse Wechslers in der deutschen Metropole München verweisen an dieser Stelle darauf, wie sehr öffentliche Darstellung jüdischer Religion in Deutschland als problematisch und fremd, nicht dazugehörig und anders aufgenommen und gewertet wird, was den jeweiligen Personen explizit bewusst ist. Dementsprechend scheint die jüdisch-orthodoxe Identität in Deutschland stets mit der Verortung als Fremde verbunden zu sein, und zwar sowohl auf der Seite, die einen als anders verortet, als auch auf der eigenen Ebene, die möglicherweise mit Unsicherheit oder auch mit dem Gefühl des Positioniertwerdens umgehen muss. Allerdings ist Wechsler als deutsch-orthodoxer Jude auch in Jerusalem Fremdverortungen, Zuschreibungen und Vorurteilen nicht nur ausgesetzt, sondern er selbst hat ebenfalls welche. So ist ihm bewusst, dass er in Jerusalem ob seiner Kleidung als ultraorthodoxer Jude gilt, obwohl er sich als modern orthodoxen Juden sieht (vgl. L W 192). Vor den Vierteln der Ultraorthodoxen fürchtet er sich hingegen und ein Besuch in einem Siedlungsgebiet löst bei ihm Vorstellungen von Kriegsgebieten aus (ebd.). Unter den Siedlern hingegen wirkt er mit seiner Kleidung »overdressed« und erkennt, dass die Regeln in München weitaus strenger sind, als in den Siedlungen praktiziert wird. Zudem stößt er dort auf Ablehnung bzw. Unverständnis, weil er als Jude in Deutschland lebt (vgl. L W 195f.). Wechslers Interaktion mit der Umwelt, das machen die Passagen deutlich, ist geprägt von Fremdzuschreibungen und Vorurteilen, und zwar auf beiden Seiten, kultureller Natur. Das jüdisch-orthodoxe Leben in Deutschland ist durch die Gemeinschaft geprägt; der vertraute Umgang schafft für Wechsler zudem eine vertrauensvolle Atmosphäre (vgl. L W 103). Die Gemeinschaft hat ihren Kontakt zur nichtjüdischen Außenwelt dabei auf das Minimum begrenzt und bleibt unter sich (vgl. L W 130). Dabei wird durch Wechslers mehrfache Erwähnung ausgestellt (vgl. L W 7f.), dass nichtjüdische Deutsche sich nicht mit den religiösen Ritualen der Juden auskennen, wie dem Schabbat-Halten, was wiederum als fehlende Normalisierung des observanten jüdischen Lebens in Deutschland gelesen werden kann. Allerdings werden die Weltanschauungen der anderen wertend den eigenen gegenübergestellt und gemessen: So seien die katholischen Nachbarn nicht konsequent genug, die Studenten gottfern und die deutschen Großstädte gottlos: »Will man hier Schabbes halten, muss man sich eine Trutzburg bauen« (L W 8). Während Wechsler also die Abgeschiedenheit der jüdischen Gemeinden und die Ausgrenzung von Nichtjuden positiv sieht, verurteilt er die Markierung als Fremder und Nichtdazugehörender auf den deutschen Straßen und wertet das religiöse Verhalten bzw. das Fehlen davon bei den Nichtjuden ab. Dieser Widerspruch, der im Roman deutlich wird, kann allerdings nicht aufgehoben werden, sondern zeugt gerade in seiner Inkonsequenz von den unterschiedlichen, sich widersprechenden und mit Wertungen

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versehenen diskursiven Einflüssen, denen die Subjekte bei ihrer Identitätsverortung ausgesetzt sind. Wechsler verortet sich demnach selbst als Jude, als deutscher Jude (da er vergessen hat, dass er Schweizer ist) und als orthodoxer Jude. Zusätzlich sieht er sich als Autor, als Informatikberater, als Ehemann und Vater u.v.m. An seiner Figur kann die Verortung in einem religiösen Kontext exemplarisch als widersprüchliche Suchbewegung charakterisiert werden, geprägt von einem Wunsch nach einer eigenen Identität und Zugehörigkeit, konfrontiert mit Fremdverortungen aus dem jeweiligen kulturellen Archiv, aber auch von eigenen Vorurteilen, die sich erst in der Begegnung mit dem Fremden zeigen und die eigenen Positionen reflektieren lassen. Die Darstellung der Religion im Erzählstrang von Wechsler stellt dabei gerade den diskursiven Charakter dieser aus: Ohne vorhandene Positionen, Texte, Praktiken etc. ist eine Selbstverortung, Identifikation nicht möglich, weil ihr gerade der Knoten- bzw. Bezugspunkt fehlt. Die exemplarische Vorführung am deutschen Beispiel macht wiederum deutlich, dass für diesen die Shoah stets mitgedacht werden muss, da sie auf verschiedenste Weise jüdische Identitätsbildung mitbeeinflusst – und sei es nur durch die Unwissenheit der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu jüdisch-religiösem Alltagsleben.

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Religion in Die Leinwand – eine Synthese

Überblickt man die Analyse der Darstellung von Religion, so wir deutlich, dass der Roman gegenwärtiges jüdisches Leben in seinen verschiedensten Varianten und vor allem individuellen Ausprägungen zeigt. Dieses Leben kann dabei, wie eingangs allgemein festgestellt, nicht mit einer bestimmten bzw. überhaupt vorhandenen Form des ›Judentums‹ identifiziert werden. Vorgestellt werden verschiedene Formen der jüdischen Tradition wie das orthodoxe Judentum in den diversen Ausprägungen, mystische Traditionen, die in die orthodoxen eingebunden sind, aber auch angedeutet nicht observantes Leben. Auffällig ist, dass die Darstellung eines liberalen bzw. säkularisierten Judentums im Roman fehlt bzw. von den Protagonisten abgelehnt wird. Der Fokus im Roman liegt auf dem orthodoxen Judentum, das hier am ultraund am modern orthodoxen Judentum exemplarisch gezeigt wird. Beide Gesellschaftsformen erscheinen im Roman als überzeichnete Doktringesellschaften, die durch Ausschlussmechanismen nach außen und interne Kontrollmechanismen gekennzeichnet sind. Wissen wird in der orthodoxen Tradition früh und vor allem institutionell vermittelt. Es ist vorgegeben, durch einen bestimmten Zugang geregelt und mit einem Wahrheitsanspruch verbunden, der es konstituiert. Da es sich aus den Heiligen Schriften ableitet, die a priori durch die diskursive Anbindung an die Transzendenz als wahre und unantastbare formuliert sind, wird der hier vor-

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liegende Wahrheitsanspruch auf das Wissen übertragen, durch Institutionalisierung gefestigt und manifestiert sich schließlich als Macht-Wissen-Komplex. Dieser zeichnet sich wiederum durch herrschaftsähnliche Machtbeziehungen und -blöcke aus, die das Leben der Subjekte sowohl auf einer mikrophysischen Ebene, in Form von allgemeiner gesellschaftlicher Kontrolle und Sanktion von Normalisierungsund Normativitätsabweichungen, bestimmen, als auch auf einer makrophysischen Ebene durch die herausragende Stellung des Bildungs- und Gelehrtenstatus, der sich in der normalisierenden Funktion der Institutionen zeigt. Die jeweiligen individuellen Positionierungen der Subjekte sind dabei in ihren Einzelheiten unterschiedlicher und widerständiger Natur, wobei sie grundsätzlich nie die Subjektivierung des Judentumsdiskurses verlassen: unabhängig davon, ob sich jemand wie Rothstein von der institutionellen Vermittlungsform ab- und sich der individuellen Form des religiösen Lernens hinwendet, ob man innerhalb der Diskursgrenzen individuelle Präferenzen stärker als üblich öffentlich auslebt, wie Bollag, oder dies nur für sich tut, wie Zichronis Vater oder Zichroni selbst. Neben den beiden orthodoxen Doktringesellschaften wird auch die westliche Gesellschaft durch die jüdisch-orthodoxe Wahrnehmung vermittelt und ebenfalls als eine auf herrschaftsähnlichen Verhältnissen basierende Doktringesellschaft beschrieben. Während für die Darstellung der jüdischen Traditionen der diskursive Knotenpunkt in der ontologischen Grenzziehung zwischen Transzendenz und Mensch liegt, wird das Übernatürliche, Unbekannte, Unerklärliche als Antagonismus des westlichen Diskurses exkludiert. Damit stehen sich die beiden Weltanschauungen im gesamten Roman antagonistisch gegenüber, bilden die beiden extremen Pole, zwischen denen sich die Subjekte positionieren. Diese zwei auf einer höheren ›Wahrheit‹ beruhenden Weltanschauungen werden im Roman ferner mit Ideologien assoziiert: die jüdisch-orthodoxe von Rothstein, die westliche von Zichroni und Bollag. Dabei wird die westliche Weltanschauung im Roman homogenisiert und über eine bereits negativ vorgeprägte Perspektive vermittelt und von der erzählenden Figur als solche nicht reflektiert. Der homogen-stereotypen, nur auf empirische Beweise und ablehnend gegenüber jeglicher transzendenten Haltung stehenden Schilderung der westlichen Gesellschaft steht die religiöse Haltung bzw. die den ›Wahrheits‹-Relativismus unterstützende Erzählstrategie des Textes entgegen. So wird zwar die orthodoxe Lebensweise als besonders starr und religiös kontrolliert dargestellt, nichtsdestotrotz bietet sie als orthodoxe Gemeinschaft einen starken identitätsstiftenden Knotenpunkt, der sogar für zum Judentum zurückkehrende Juden, die keinen anderen Bezugspunkt haben, kollektive Erinnerungen an religiös-kulturelle Rituale und Symbole als einen Anker bietet. Die Kritik, die der Text an der orthodoxen Form hat, bezieht sich demnach auch nicht auf die Orthodoxie als solche, sondern nur auf einzelne Aspekte, wie den selektiven Umgang mit dem Lernstoff oder die starre Kontrolle über die Menschen in der ultraorthodoxen Lebensweise. Weder die ob-

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servante Lebensführung noch die Konzentration auf die Heiligen Texte finden im Roman eine Ablehnung oder einen Zweifel. Es ist eher so, dass der individuelle, sich auf mystische Texte berufende Zugang zur religiösen Sphäre in Die Leinwand hervorgehoben wird, und zwar auch hier in seinen diversen Ausprägungen: sei es aufgrund einer Heilung bei Rothstein, als Erklärungsansatz für die eigene Gabe bei Zichroni oder als Möglichkeit zu einem neuen Leben bei Wechsler. Die Leinwand erscheint insgesamt als ein Gegenwartsroman, der die ›westlichsäkularisierte‹ Gegenwart kritisch hinterfragt, und zwar radikal bis an ihre ordnungsstrukturierenden Kategorien, die hier als einseitig und konstruiert aufgezeigt werden. Am Beispiel der Religion zeigt die Leinwand zudem, dass eine säkularisierte Gesellschaft Individuen keine Möglichkeiten bietet, mit übernatürlichen und unerklärlichen Ereignissen offen umzugehen, sondern diese müssen privatisiert und im Innern verhandelt werden, worin sich die eingangs erwähnte Dialektik der Säkularisierung offenbart: Die Prozesse der Individualisierung und die der Privatisierung der Religion tragen auf der einen Seite zu einer säkularisierten Gesellschaft bei, da sie die Religion aus der öffentlich-institutionellen Sphäre verdrängen, auf der anderen Seite hingegen beschränken sie damit die Individuen jedoch auf den privaten Raum, um individuelle existenzielle Probleme und Bedürfnisse, nun abseits der Kirchen, auszuhandeln. Nur auf sich allein zurückgeworfen, kann die Aushandlung der Individuen aber auch misslingen, so im Fall von Minsky. Der Roman plädiert dabei für eine Öffnung zum Irrationalen, weg vom strikten Ausschluss des Übernatürlichen, für das Aushalten des Unerklärlichen und die Möglichkeit, es als solches stehen zu lassen. Die Akzeptanz des Übernatürlichen als dem ganz Anderen, dem Fremden, kann hier auf Ansätze aus dem kulturellen Fremdheitsdiskurs bezogen werden, der eben diese Situation, das Aushalten des Fremden, prädestiniert. Ortfried Schäffter hat in seiner Arbeit über das Fremde von verschiedenen Ordnungen gesprochen, bei denen das Fremde entweder als das Eigene vereinnahmt oder als unvereinbar angesehen wird. Seine vierte Form, Fremdheit als »Konzeptionen komplementärer Ordnung«,102 versteht die einzelnen Sinnsysteme in einem partnerschaftlich-dialogischen Kontext zueinander stehend, ohne den Versuch der Vereinnahmung des einen durch das/die andere/n: Der Fremderfahrung folgt keine Zuschreibung: Aus der nicht mehr zu leugnenden Vielzahl eigenständiger Perspektiven und gleichermaßen ›möglicher‹ Interpretationen der Welt wird erkennbar, daß im Aufeinandertreffen unterschiedlicher Bezugssysteme kein unbestreitbares Fundament

102 Ortfried Schäffter: Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit der Fremde. In: Ders.: Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, S. 11–44, hier S. 24.

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und kein allem übergeordneter Bezugspunkt zur Verfügung steht, um über sie zu entscheiden.103 In einer derartigen Ordnungsstruktur sind die Verhältnisse nicht ambivalent, sondern polyvalent. Die Fremderfahrung stellt dabei ein »permanentes Oszillieren«, eine Schwankung zwischen den Positionen der Eigenheit und der Fremdheit, die sich im wechselseitigen Kontakt hervorrufen, dar. In diesem Wechselverhältnis ist das Verständnis des Fremden nicht unbedingt gegeben. Vielmehr beinhaltet diese Struktur die Folge, dass das Andere als fremd stehen bleibt, weil es nicht verstanden werden kann.104 Dabei handelt es sich nicht um eine Form der Verständnisverweigerung, sondern um die Anerkennung einer Grenzerfahrung, die aufzeigt, dass es Bereiche gibt, die in ihrer Andersartigkeit akzeptiert und für die neue Wege der Kommunikation gefunden werden müssen. Mit Blick auf den Roman bedeutet dies für die Individuen, dass sie in der jeweiligen Situation für sich selbst entscheiden sollen, wie sie mit der ontologischen Unsicherheit bzw. einem unerklärlichen, religiös anmutenden Ereignis umgehen, und dieser Entscheidung gemäß auch ihre Handlungen ausrichten sollen – die Leinwand richtet an ihre Leser*innen einen Appell zum individuellen Aushandeln, verweist aber gleichzeitig reflektiert darauf, dass dies nicht unproblematisch, sondern im Kontext des gesellschaftlich dominanten Diskurses sowie die eigene Wahrnehmung vorprägenden Wertungen und Zuschreibungen geschieht. Die Leinwand thematisiert damit zentral sowohl Religion als diskursive Formation, an die sich eine bestimmte historisch-religiöse Tradition, nämlich die jüdische, ihre internen Ausdifferenzierungen wie auch die individuellen Positionierungen der Subjekte anschließen. Dies geschieht vor allem vor dem Hintergrund einer Gegenüberstellung, nämlich der beiden antagonistischen Diskursformationen der Religion und der Empirie bzw. Rationalisierung. Religion wird dabei über die ontologische Grenzziehung zwischen Transzendenz und Mensch als eigenständiger Bereich, als Kategorie sui generis reproduziert und damit als Nicht-Kultur bestimmt; die sich darauf beziehenden Riten, Vorstellungen und Regeln sind religiös-kultureller Natur, das Leben in den orthodoxen Gesellschaften ein per se religiös-kulturelles, da es sich nach den religiös-kulturellen Gesetzen richtet und hier das Transzendente

103 Vgl. ebd., S. 25. 104 Ebd. »Die Fremde wird hierdurch als Ergebnis einer Unterscheidungspraxis in wechselseitiger Interaktion erkennbar, nie jedoch endgültig bestimmbar: Es kann nur beobachtet werden, wie der Beobachter die anderen Beobachter beim Beobachten des Beobachtens beobachtet. Gegenseitige Fremdheit als Komplementarität bezieht sich daher auf das Verhältnis zwischen einander auf fremdartige Weise fremden Positionen. In diesem Spannungsfeld überlagern sich daher die Vektoren unterschiedlicher Ordnungsstrukturen und führen zu einer wechselseitigen Bedingtheit der beschriebenen Erfahrungsmodi von Fremdheit« (ebd., S. 26f.).

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verfügbar gemacht wird; Rothsteins Mikwenerlebnis kann als religiös, da direkt auf eine Überschreitung der ontologischen Grenze bezogen, bezeichnet werden. Die mystische Tradition scheint im Roman dabei immer wieder an den Stellen auf, an denen die kulturellen bzw. religiös-kulturellen Wissensformen nicht mehr zu einer Lösung beitragen können. In einem bereits religiös geprägten Kontext wie der orthodoxen Gemeinschaft erscheint die mystische Tradition eher wie eine Form eines geheimen Wissens,105 das man erst lernen soll, wenn man erwachsen und verheiratet ist; die aber auch Antworten und Anleitung gibt für Fälle, in denen die Lehrmeinung nicht mehr greift. Die mystischen Formen gehören dabei zwar nicht zum dominanten Diskurs, sind jedoch nicht ausgeschlossen, der Zugriff zu diesen wird in der Gemeinschaft demnach nicht sanktioniert. Alle im Roman dargestellten mystischen Erfahrungen finden stets vor einem institutionalisierten und gemeinschaftlichen, teilweise angeleiteten, Hintergrund statt, also gerade nicht als eine den Institutionen und Traditionen entgegengesetzte Haltung, keine Darstellung von Religion »unter den postsäkularen Bedingungen einer alternativen und privatisierten Spiritualität«.106 In einem rationalisierten Kontext entstehen dabei andere Konflikte für die Individuen, wenn etwas aus dem Diskursiven Ausgeschlossenes plötzlich hereinbricht. Dies wird in der Leinwand am Beispiel von Minsky durchgespielt: Für seine individuellen Empfindungen bzw. kontrafaktischen Erinnerungen gibt es im Rahmen seiner Gesellschaft keinen Platz, da man sie nicht erklären kann, das Individuum daraufhin sozial ausgeschlossen wird und psychisch leidet. Mit dieser Thematik einer Opposition von Gesellschaften, die ihre gesamte Identität auf Religion, wie die Orthodoxie, oder auf Empirie bzw. Rationalität, wie die dargestellte westliche Gesellschaft, fundieren, präsentiert der Roman die zwei Antagonismen der Säkularisierung und der ›Theokratie‹. Die letzte ist beispielhaft an der ultraorthodoxen Gemeinde in Jerusalem dargestellt, dem gegenüber steht eine gleichsam von Herrschaftsstrukturen durchzogene Doktringesellschaft, die sich gerade durch die totale und abgeschlossene »Entzauberung der Welt« (Max Weber) charakterisiert (oder zumindest so von religiös affirmativen Menschen wahrgenommen wird). Man kann die Beschreibung der fiktiven westlichen Welt hier also nicht als die einer »postsäkularen Gesellschaft [bezeichnen], die sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung einstellt«, wie Habermas dies für die gegenwärtige (westliche) Gesellschaft thematisiert.107 Denn die im Roman dargestellte Gesellschaft hat religiöse Gemeinschaften gerade nicht diskursiv integriert, sondern sie existieren in Form von Parallelgesellschaften, bei denen die Übersetzungen in rationale Kommunikation ob

105 Vgl. die Kabbala als Geheimlehre bei Maier: Die Kabbalah, S. 11. 106 Horstkotte: Heilige Wirklichkeit, S. 70. 107 Habermas: Glaube und Wissen, S. 13.

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der kategorial unterschiedlichen Prämissen zum Scheitern verurteilt sind. Damit ist die bei Habermas relevante »zivilisierende Rolle eines demokratisch aufgeklärten Commonsense, der sich im kulturkämpferischen Stimmengewirr gleichsam als dritte Partei zwischen Wissenschaft und Religion einen eigenen Weg bahnt«108 , in der Leinwand nicht existent und wird so vom Roman in nuce als Bedarf angerufen. Beispielhaft zeigt sich das an Zichroni, der versucht hat, im wissenschaftlichen Feld in Verbindung mit seiner Gabe zu agieren und am Ende gerade am Rationalisierungsprimat gescheitert ist. Dabei kann das homogen gezeichnete Bild des Westens als engstirnig und andere herabsetzend im Roman als Umkehrung von homogenisierenden Praktiken seitens der westlichen Diskurse über andere gelesen werden. Vorgeführt wird, wie auf eine vereinfachende und verurteilende Weise über die identitätsstiftende Funktion des westlichen Diskurses gesprochen wird – ohne diese ›Abwertung‹ zu verstecken, da sie durch die wertenden Erzählerperspektiven den Rezipient*innen explizit vorgeführt wird. Die Darstellung des ›Westens‹ funktioniert demnach auch als kritisches Spiegelbild und Korrektiv, indem auf den ›Westen‹ die gleichen Repräsentationsstrategien angewendet werden wie dieser auf das von ihm gesetzte Andere. Die Inferiorisierung wird so umgedreht und als strategische, machtbezogene Verortung ausgestellt; gleichzeitig ermöglicht diese Umkehrung der Machtverhältnisse einen kritischen Blick auf die eigene Praxis. Die totalitären Strukturen beider Gruppen werden im Roman als negative, unterdrückende und beherrschende gezeichnet, was sich vor allem an den Handlungen der Figuren ablesen lässt: Zichroni fühlt sich in Jerusalem wie ein Gefangener, für ihn ist die modern orthodoxe Gesellschaft bereits eine Befreiung und Minsky zerbricht an dem Versuch, das Ausgegrenzte zum Teil seines Lebens zu machen. Es wird allerdings auch deutlich, dass in jeder gesellschaftlichen Formation, auch in den beiden totalitär dargestellten, eine vollkommene Beherrschung der Subjekte nicht möglich ist,109 da diese durch individuelle Formen der Identifizierung sich auch stets auf diskursexterne, sich überkreuzende, widersprüchliche Aspekte beziehen können – das Ausgeschlossene des jeweiligen Diskurses findet immer wieder über die Individualität der Subjekte Eingang in den Diskurs, der nie vollkommen fixiert werden kann und daher in dieser temporären Form Transformationspotenzial bietet. In diesem Sinn befindet sich der Roman in einem hochgradig aktuellen und seit der scheinbaren ›Wiederkehr der Religion‹ aufgeladenen Diskussionsraum des Modernisierungs- und Säkularisierungsdiskurses, aber auch des Erinnerungs-, des

108 Ebd. 109 Physische Gewalteinwirkung ist im Roman nicht thematisiert und muss hier daher als Faktor ausgeschlossen werden.

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Identitäts- und des Shoahdiskurses. Die Leinwand favorisiert dabei eine Positionierung, die gerade das Irrationale, Unerklärliche, das Religiöse, das dem Menschen nicht Zugängliche in die Gleichung hineinnimmt, anstatt es auszuschließen und die betroffenen Subjekte, für die es identitätsstiftend ist, damit zu a-sozialisieren. Dies geschieht vor allem vor dem Hintergrund der Hervorhebung der mystischen bzw. religiösen Erfahrung. Allerdings kann diese nicht direkt mit dem (westlichen) Spiritualitätsdiskurs in Verbindung gebracht werden, obwohl religiöse Erfahrung im Text einen relevanten Platz einnimmt. Der westliche Spiritualitätsdiskurs wie auch der der religiösen Erfahrung zeichnen sich besonders durch eine antiinstitutionelle, synkretische und vor allem auf die Erfahrung ausgerichtete Komponente aus, bei der die Erfahrung hochgradig individuell und nicht vermittelbar sowie weder an Ort, Zeit noch traditionelle Vorstellungen zur Heranführung gebunden ist. Die im Roman geschilderten Erlebnisse fokussieren hingegen gerade nicht das Erfahrungs-, also Transzendenzmoment – dieses wird in dem Fall, in dem eine Erfahrung, die sich auch nicht als unio mystica, sondern als Heilung und Neuwerdung zeigt, stattfindet, ausgeklammert (und bei Wechsler gerade als Kampfahnung oder Kampf der Löwen beschrieben) –, sondern im Mittelpunkt steht die Veränderung des Menschen vor dem Hintergrund eines tikkun, einer Erfahrung des Zusammenführens, die sich in einer geänderten Haltung bzw. dem veränderten Verhalten spiegelt. Diese Haltung wird im Roman allerdings nicht als Normalfall, sondern als eine eher ungewöhnliche und radikal erscheinende Form beschrieben, die ein existenzielles Bedürfnis, also das Streben nach dieser Begegnung und vor allem einen absoluten Transzendenzbezug erfordert – was sie zu etwas Seltenem, also nicht Durchschnittlichem macht. Die normalisierte Form eines mystischen Bezuges findet man bei Zichroni dargestellt. Für Zichroni, der keine Möglichkeit findet, seine Gabe zu verstehen bzw. sich zu erklären, woher sie kommt und welchen Zweck sie hat, stellen Rothsteins Erlebnisse eine Erklärungsmöglichkeit dar (vgl. L Z 87). Für seine Fähigkeit sieht er anfangs den »Zufall«, eine »Störung« oder eine »Krankheit« (L Z 88) verantwortlich, und erst durch Rothsteins Erlebnisse Gott, wobei er die Gabe zum Nutzen der Menschen, ohne eigene Vorteile, einsetzen soll (vgl. L Z 89f.). Sein Scheitern erklärt er gerade aus seiner Unfähigkeit, die ›Gabe‹ richtig einzusetzen.110 Für Wechsler hingegen, dessen Motive für die Rückkehr zum orthodoxen Judentum rückblickend auf einer Flucht vor seiner Schuld Minsky gegenüber basieren und der vorher, so der Verleger, nicht religiös gewesen ist, bietet die mystische Annäherung an das Judentum keine Befreiung, keine Vergebung und auch kein neues Leben. Der ursprünglich säkulare Charakter Wechslers kann auch dementsprechend, trotz seines observanten Lebens, den Einbruch des Unerklärlichen in sein Leben in Form des Koffers nicht bewältigen – er sucht bzw. 110

»Ich selbst habe dies immer als ein persönliches Scheitern betrachtet, als ein Versagen vor dem Ewigen, und mich dann als meiner Gabe unwürdig empfunden.« (L Z 126)

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sieht auch keine religiöse Erklärung für die Ereignisse, sondern geht analytischrational an den Gegenstand heran, bis er sich irgendwann wieder erinnern kann. Problematisch für einen Bezug zum Spiritualitätsdiskurs ist zudem die Darstellung der Gemeinschaft und der Umgang mit ihr. Zwar gibt es keine direkte kirchliche Institution, die eine bestimmte Wahrheit vertritt und diese bei allen Gläubigen einfordert, jedoch wird die Ausbildung der jungen Männer von Rothstein gerade in diesem Sinn dargestellt: als institutionell, dogmatisch, durch sich selbst höher Einstufende gelehrt, die das Wissen selektieren und indoktrinieren – als eine Ideologie. Allerdings ist seine individuelle Lösung gerade nicht die Abwendung von dieser Institution und dieser Form, er wird schließlich selbst Rabbiner, sondern sie liegt vielmehr in einem individuellen Umgang mit den kritisierten Aspekten: Anstatt sich die Texte selektieren zu lassen, folgt er seinen eigenen Interessen und hinterfragt grundsätzlich alles. Auch hier besteht ein Unterschied zu den im Spiritualitätsdiskurs geschilderten antiinstitutionellen Aspekten, die sich gerade durch eine Loslösung von den kirchlich proklamierten Ritualen, Dogmen und Vorstellungen hin zu einer eklektizistisch zusammengestellten Spiritualität absetzen. In diesem Sinn scheint der Bezug auf die beiden aktuell in den Religionswissenschaften diskutierten Diskurse hier nicht angemessen. Dies könnte daran liegen, dass die religionswissenschaftlichen Forschungsansätze evtl. doch tendenziell christlich-westlich fundiert und daher implizit bestimmte kulturelle Wissensordnungen in ihrer Prämissenbildung a priori gesetzt sind, die einer analytischen Übertragbarkeit widersprechen111 – also als zentristisch verstanden werden können.112 Denn ein analytischer, transreligiöser Vergleich ist über die Untersuchungsprämisse Religion als diskursive Formation grundsätzlich möglich. Von hier aus sollte man die geschilderten Erfahrungsformen und institutionellen Kritikpunkte weder singulär im Kontext des Spiritualitätsdiskurses bzw. der Transformation des Religionsdiskurses lesen noch in dem der religiösen Erfahrung. Statt des Versuchs einer allgemeinen Zuordnung zur Spiritualität oder Mystik oder religiösen Erfahrung müsste man eher den Roman auch im Rahmen eines jüdischen Mystikdiskurses, der Eingang finden soll in die bundesdeutsche Literatur, in der er bislang kaum vertreten ist, lesen. Die Forschung zur jüdischen Mystik zeigt, dass

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Das zeigt sich daran, dass in den eingangs zitierten wissenschaftlichen Publikationen zur Begriffsbestimmung der Spiritualität bzw. religiösen Erfahrung gerade die traditionellen westlichen Autoren wie Weber, Luckmann, James etc. thematisiert werden; in den Einzeluntersuchungen hingegen auch internationale Varianten und Texteinflüsse auftauchen. Mit zentristisch bezeichnet Matthes bestimmte Forschungsparadigmen, die auf eine besondere Weise charakterisiert sind: »[Sie] rück[en] einen historisch-kulturell bestimmten Sachverhalt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, übersetz[en] die ihm innewohnende gesellschaftliche Normativität in eine Art von logischer Geltung und setz[en] auf solcher Plattform zur Forschung an.« Matthes: Was ist anders an anderen Religionen, S. 17.

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dieser erst seit Mitte des letzten Jahrhunderts durch Gershom Scholem wieder verstärkte Aufmerksamkeit zukam und als Thema in der deutsch-jüdischen Literatur bislang vor allem dezidiert bei Stein,113 aber auch ansatzweise bei Maxim Biller in Esra114 thematisiert wurde. Im Rahmen des deutsch-jüdischen Identitätsdiskurses zeigt der Roman ferner auf, dass jüdische, vor allem orthodoxe, Identität, so der Roman, in Deutschland immer noch eine als fremd empfundene Minderheit ist, die sich allerdings explizit als jüdische versteht und so auch äußert. In der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den deutschsprachigen Texten der Zweiten Generation (Texte der 1990er Jahre) hatte Steinecke zusammenfassend folgende wesentliche Merkmale festgestellt: »Sie handelten ganz offen von Juden, stellten jüdische Themen in den Mittelpunkt und das im Deutschland der Gegenwart, also der Bundesrepublik und der DDR.«115 Norbert Otto Eke hatte zudem darauf verwiesen, dass jüdisches Leben in der BRD auch als das von »gebrauchten Juden« selbstattribuiert wurde, so durch Maxim Biller. Die Fremdmarkierung jüdischer Personen als Juden, eine »›verkehrte‹ Marranisierung«, sieht Eke auf der einen Seite als eine »von Ausschließungsmechanismen begleitete Markierung (Kennzeichnung)«, auf der anderen »eine eigentümliche, geradezu fetischistische Beziehung der Deutschen zu den ›toten Juden‹, den Opfern also«.116 Gleichzeitig könne man aber auch eine Selbstinstrumentalisierung der Zweiten Generation für die öffentliche Darstellung der BRD beobachten, eine Sehnsucht bei den Autoren, [n]icht Jude sein zu müssen – das meint durchaus dabei nicht das Ende des Judentums in Deutschland […]. Nicht Jude sein zu müssen meint, nicht mehr gebrauchter Jude sein zu müssen, und damit ein Stück nicht bloß behaupteter, sondern wirklich erreichter Normalität.117

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Vgl. hierzu den Beitrag zu Golemfiguren in der neueren Literatur: Cathy S. Gelbin: Das Monster kehrt zurück: Golemfiguren bei Autoren der jüdischen Nachkriegsgeneration. In: Textmaschinenkörper. Genderorientierte Lektüren des Androiden. Hrsg. von Eva Kormann, Anke Gilleir, Angelika Schlimmer. Amsterdam: Rodopi 2006, S. 145–159. Maxim Biller: Esra. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2003. Hartmut Steinecke: »Deutsch-jüdische« Literatur heute. Die Generation nach der Shoah. In: Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah. Hrsg. von Sander L. Gilman, dems. Berlin: Erich Schmidt 2005, S. 9–16, hier S. 9. Das Sichtbarwerden jüdischer Autoren und Autor*innen als jüdische hatte allerdings bereits 1994 Sander L. Gilman konstatiert. Vgl. Andrea Reiter: Contemporary Jewish Writing. Austria after Waldheim. New York: Routledge 2013, S. 168. Norbert Otto Eke: Gebrauchte Juden, oder: »Es müßte doch für einen Juden möglich sein, nicht Jude zu sein.« In: Heimat – Identität – Mobilität in der zeitgenössischen jüdischen Literatur. Hrsg. von Christina Olszynski, Jan Schröder, Chris W. Wilpert. Wiesbaden: Harrassowitz 2015, S. 77–95, hier S. 79f. Ebd., S. 85f. u 93.

V Benjamin Stein: Die Leinwand

Eine Normalität, die in der Leinwand für ein ultraorthodoxes Leben in Jerusalem, eine orthodoxe Ausbildung in den USA, ein modern orthodoxes Leben in Zürich möglich zu sein scheint. Nicht möglich, problematisch und mit Vorurteilen verbunden hingegen wird dieses jüdische orthodoxe Leben für die DDR und besonders für das wiedervereinigte Deutschland, hier München, dargestellt, das gerade durch die öffentlichkeitswirksame Kleidung und Rituale auf unerwünschte Aufmerksamkeit statt Normalität stößt – hier ist Normalität nur in der jüdischen, abgesonderten Gemeinschaft möglich. Dabei sei die »bewusste Rückwendung zum Judentum […] ein zeitgenössischer Weg deutsch-jüdischer Identität, die einer negativen deutsch-jüdischen Symbiose mit dem bitteren Kern Auschwitz nicht mehr bedarf«, so Koelle.118 Die Normalisierung ›jüdischer‹ Religion in der Literatur außerhalb von Shoah müsste demnach als »die Erneuerung religiöser Traditionen des Judentums teilweise unter Abschottung von der nichtjüdischen Umwelt, also Ganzhingabe und Heimkehr zum Judentum in einem gesetzestreuen Alltag statt Assimilation«119 verstanden werden. Koelle verweist dabei auf einen Aufsatz von Rabbinerin Elisa Klapheck, die sich vor allem kritisch zur vermeintlichen »negativen Symbiose« äußert. Mit der ›Erneuerung religiöser Traditionen‹ bezieht sich Klapheck allerdings eher auf eine Bewegung, die es seit den 1990er Jahren gibt und die sie als »Ansätze eines innerjüdischen religiösen Diskurses« bezeichnet, der an das Reformjudentum des 19./20. Jahrhunderts anzuschließen hofft, dabei jedoch von dem »an der Orthodoxie orientierten Zentralrat der Juden in Deutschland« als »Konkurrenzorgan« aufgefasst wird.120 In diesem Kontext könnte Koelles Aussage irreführend auf eine orthodoxe Erneuerungsbewegung, mit Klapheck als Teilhabende, bezogen werden, wovon sich diese allerdings bewusst distanziert – vor allem als Feministin. Schließlich muss zudem für die Leinwand kursorisch die Darstellung des jüdischen Lebens aus einer geschlechtstheoretischen Perspektive als problematisch herausgestellt werden, da sie rein ›männlich‹ (wie auch die westliche Darstellung) ist: Das heißt, dem Roman fehlt jeglicher ›weibliche‹ bzw. nicht heteronormative Blick auf das jüdische Leben, so bleiben fast alle Frauen namenlos, Zichronis Mutter scheint überhaupt keinen Bezug zu seinem Leben zu haben, Wechslers Mutter und auch seine Frau haben keinen Namen; die einzige namentlich genannte Frau ist Rivka, die Frau, in die Zichroni sich verliebt hatte und auch hier, weil er sie vermittelt durch einen männlichen Blick, durch Rothsteins Erinnerung, gesehen

118 Koelle: Identität und Konvektion, S. 227. 119 Ebd. 120 Elisa Klapheck: Esther und Amalek. Ein jüdisch-feministisches Selbstverständnis nach der Shoah. In: Von Gott reden im Land der Täter. Theologische Stimmen der dritten Generation seit der Shoah. Hrsg. von Katharina von Kellenbach, Björn Krondorfer, Norbert Reck. Darmstadt: WBG 2001, S. 242–256, hier S. 243.

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Religion als diskursive Formation

hatte. Homosexualität begegnet im Roman dabei als Beweis für die negative Darstellung des Westens, ›westliche‹ Frauen scheinen keine Relevanz für die beiden Erzähler gespielt zu haben, Zichroni erscheint, bis auf die Verliebtheit in Rivka als asexuell. Während die Heteronormativität ein normalisiert-konstruierter Aspekt der Gemeinschaft ist, in der man lebt, könnte die Fokussierung auf die männliche Perspektive als eine – kritisch zu hinterfragende – Abbildung der männerzentrierten Gesellschaft des ultraorthodoxen Judentums verstanden werden. Allerdings fehlt für diese Interpretation doch eine reflektierte Auseinandersetzung des Romans mit Geschlechterkonstruktionen.

V.6

Die Leinwand – ein literarischer Seismograf von Krisenerfahrung

So wie sich im Roman die beiden Weltanschauungen gegenüberstehen, so trifft dies auch für die beiden Erzählstränge des Flipbooks zu, wobei das Drehen des Buches um 180 Grad eine gesonderte Bedeutung aufweist, schließlich ist die religiöse Ordnungsstruktur der jeweiligen Seite genau konträr, auf den Kopf gestellt, zur anderen. Auch die Opposition Individuum/Gesellschaft findet formal ihren Ausdruck einerseits in der Flipbook-Gestaltung, andererseits in der autodiegetisch intern fokalisierten Erzählerdarstellung. Beide Erzähler bewegen sich dabei aufeinander zu, auch in religiöser Hinsicht, sind beide am Ende doch modern orthodoxe Juden, obwohl sie aus genau konträren Gesellschaften gekommen sind. Wechsler aus der westlichen in die modern orthodox-religiöse, Zichroni aus der antiwestlichen ebenfalls in die modern orthodox-religiöse. Als Lesende folgt man den Eindrücken, Erfahrungen, Ängsten, Sorgen und Erinnerungen des jeweiligen Erzählers, die durch die klare Sprache und schnelle Erzählweise die Lesenden immer wieder, auch nach möglichen Wendeexperimenten, in die Perspektive des jeweiligen Stranges einbeziehen. Die Sprache und der Erzählfluss ermöglichen einen empathischen Zugang zu den Figuren. So erzählt Zichroni seine Geschichte, die sich für die deutsche Mehrheitsgesellschaft auf einem eher unbekannten Terrain abspielt (allein diese Prämisse verweist auf die Kritik der fehlenden Normalisierung), ab ovo, womit die Leserschaft die Figur, ihren Hintergrund, ihre Wünsche und ihre Ziele kennenlernen kann. Bei Wechsler hingegen setzt die Geschichte in medias res ein, und man folgt einer analytischen Erzählung, in der er versucht, sich seiner Identität zu versichern. Während die sprachliche Darstellung die Leser*innen einbezieht und ihnen in einem Glossar auch die fremden Begriffe erklärt, ist es gerade die narrative Konzeption, die für Unsicherheiten und Befremdung sorgt. Die Brüchigkeit von Identitäten, vor allem, wenn sie auf Erinnerungen basieren, ist ein zentrales Thema des Romans, das auch in der Narration angelegt ist. Denn so wie Erinnerungen gerade keine objektiv abrufbaren vergangenen Ereignisse sind, also immer als unzuver-

V Benjamin Stein: Die Leinwand

lässige zu gelten haben, sind die im Roman präsentierten Erzähler, die beide aus ihrer Erinnerung heraus sprechen, schon auf Basis dieser Anlage unzuverlässig. Für Wechsler ist seine Unsicherheit bereits in der Erzählmotivation angelegt: Er kann sich an faktisch stattgefundene Ereignisse nicht erinnern, damit sind alle Erinnerungen, die er hat, per se ebenfalls fragwürdig, und es stellt sich auch heraus, dass diese gerade fiktional-fiktiver Natur sind und sich zudem mit autobiografischen Details des Autors vermengen. Die Lesenden, die eine Figur in ihren eigenen Wissenshorizont einordnen sollen, stehen vor der Schwierigkeit, dass der fiktive Erzähler Wechsler die Identität seines eigenen Protagonisten annimmt, also einer fiktiven Fiktionalisierung; gleichzeitig ist diese Identität auch das Debüt des realen Autors Stein und die Erinnerungen an die DDR sind ebenfalls autobiografischer Natur.–121 Figur, Autorenbiografie und fiktionale Texte vermischen sich hier auf neue, nicht eindeutige und nicht fixierte Weise. Auch ist es den Lesenden bis zum Schluss nicht möglich, herauszufinden, was genau mit Wechsler und mit Zichroni geschehen ist: Der Roman klärt diese nicht auf, sondern verlässt sie in der Mitte, an der Stelle, wo sich die beiden Erzählungen, zeitversetzt, treffen: Sie werden an der Mikwe zurückgelassen, die im Roman leitmotivisch als Ort des Übergangs, der Grenze, als Tor zu einem anderen Leben vorgestellt wurde – ein Ort der ›Schwellenerfahrung‹. Es ist dabei an den Rezipient*innen, den letzten Schritt zu tun und die in diesem Fall ontologische Unsicherheit durch eine rationale oder eine wunderbare Erklärung aufzuheben – oder, ein dritter Weg: stehenzulassen. Auf diesen produktiven Aspekt hat Costazza bewusst hingewiesen, und die Leser*innen als »gestaltenden Mitautor« bezeichnet, der bereits durch die Anlage als Flipbook und die paratextuelle Lesereihenfolge-Aufforderung sich den Text nach eigenem Willen erschließen kann.122 Das diegetische Thema der individuellen Entscheidungen und Zuordnungen in einem konventionalisierten Kontext spiegelt sich parallel in der formalen Umsetzung und greift metaleptisch aus der fiktionalen Ordnung in die faktuale der realen Leser*innen hinein.123 Diese Konzeption einer ontologischen Unsicherheit der Figuren in der Diegese sowie der realen Leser*innen entspricht dabei der klassischen, noch heute produktiven Fantastikdefinition von Tzvetan Todorov: In einer Welt, die durchaus die unsere ist, die wir kennen, […], geschieht ein Ereignis, das sich aus den Gesetzen eben dieser vertrauten Welt nicht erklären lässt. Der, der das Ereignis wahrnimmt, muß sich für eine der zwei möglichen Lösungen 121 122

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Vgl. hierzu auch Costazza: Benjamin Steins Die Leinwand, der die autobiografischen Aspekte in der Leinwand diskutiert. Ebd., S. 306. Vgl. hierzu auch Horstkotte, die argumentiert, dass der Roman einen »im hohen Maße mündigen und selbstständige Entscheidungen treffenden Leser« erfordert. Vgl. Horstkotte: »Ich bin, woran ich mich erinnere«, S. 129. Horstkotte weist zudem bereits Wechslers Erzählung als Metalepse aus (vgl. ebd., S. 125).

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entscheiden: entweder handelt es sich um eine Sinnestäuschung, ein Produkt der Einbildungskraft, und die Gesetze der Welt bleiben, was sie sind, oder das Ereignis hat wirklich stattgefunden, ist integrierender Bestandteil der Realität. Dann aber wird diese Realität von Gesetzen beherrscht, die uns unbekannt sind. […] Das Fantastische liegt im Moment dieser Ungewißheit; sobald man sich für die eine oder andere Antwort entscheidet, verläßt man das Fantastische und tritt in ein benachbartes Genre ein, in das des Unheimlichen oder das des Wunderbaren. Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat.124 Für Todorov macht demnach gerade der Status der ontologischen Unsicherheit das Fantastische aus, eine Entscheidung durch die Leser*innen bzw. die Figuren für die eine oder andere Erklärung würde eine neue Zuordnung aufmachen. Dies trifft auch auf Die Leinwand zu, die hier als eine fantastische Erzählung gelesen werden kann, die die ontologische Unsicherheit sowohl auf der diegetischen, also in Bezug auf Zichronis Gabe, wie auch auf der narrativen Ebene konstant beibehält, was sich in der Unklarheit über die Schicksale der Protagonisten und ihrem unzuverlässigen Erzählen zeigt.125 Gleichzeitig geht der Roman über die Partizipation und die Reproduktion am europäischen Diskurs der fantastischen Literatur hinaus, indem er metareflexiv auf dessen Historizität und Eurozentrismus verweist. Denn die Einordung des Romans in das Genre der fantastischen Literatur funktioniert nur vor dem Hintergrund einer Priorisierung der westlich-wissenschaftlichen Weltanschauung, die im Roman allerdings nur eine mögliche Option darstellt, und gerade nicht eine universale Kategorie. Die Unsicherheit über Zichronis Gabe, Wechslers Gedächtnisverlust, die Heilung Rothsteins, all das sind Aspekte, die nur aus der westlichwissenschaftlichen Perspektive als Übernatürliche daherkommen, nicht allerdings aus der Ordnungsstruktur, die Religion als identifikatorischen Knotenpunkt setzt. Hier ist sowohl die Gabe als auch die Heilung zwar ungewöhnlich, aber möglich und damit gerade kein übernatürliches, den Gesetzen der Welt widersprechendes

124 Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur [1970]. Berlin: Wagenbach 2013, S. 34. Zu aktuellen Diskussion um das Fantastische in der Literatur vgl. Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur. Hrsg. von Clemens Ruthner, Ursula Reber, Markus May. Tübingen: Franke 2006. 125 Horstkotte hat Die Leinwand ebenfalls im Kontext der fantastischen Literatur gelesen. Auch sie greift auf Todorovs Definition zurück und stellt die These auf, dass Wechslers Erzählung das Unheimliche darstelle, Zichronis hingegen das Wunderbare – und der Leser müsse sich zwischen den beiden entscheiden. Diese Lesart wirft jedoch die Frage auf, warum Wechslers Erzählung als Unheimliche, also eigentlich empirisch erklärbare, ausgewiesen wird. Vgl. Horstkotte: »Ich bin, woran ich mich erinnere.«

V Benjamin Stein: Die Leinwand

Ereignis. In diesem Kontext problematisiert der Text also metapoetisch die literaturwissenschaftlichen generischen Ordnungskategorien, die er als westlich historisch konstruierte und universalisierte kritisch aufzeigt, womit er an die aktuelle Gattungsdiskussion in den Literaturwissenschaften anschließt, in der die lange Zeit als normativ gesetzten Gattungszuordnungen hinterfragt werden.126 Die als ›Grenzgänger‹ markierten Figuren werden durch ihre ›Schwellenerfahrungen‹ wiederum transformiert, sei es Rothstein mystische und Wechslers eher spirituelle Erfahrung, sei es Zichroni durch seine Gabe. Aber nicht nur für die Figuren kann die Schwellenerfahrung festgestellt werden, sondern, wie bereits für Sunrise, ist es auch hier die produktive und innovative Wechselwirkung zwischen Diegese und Erzählung, die die Rezipient*innen in einen Reflexionsprozess versetzen (kann), bei dem normalisierte Ordnungskategorien wie das logozentristische Denken aufgebrochen und hinterfragt werden. Das Durchspielen verschiedener ›Wahrheits‹- bzw. Ideologiepositionen in der narrativen und figuralen Anlage der Leinwand kann dabei auch als eine ästhetische, ideologiekritische Praxis verstanden werden, die die ›Überzeugungssysteme‹ und ihre machtbasierte ›Selbstverständlichmachung‹ ausstellt. Denn dem ersten Eindruck, der Roman könne mithilfe einer naiven Rationalismus- und Zivilisationskritik Religion über die Hintertür wieder als ordnenden Deutungshorizont einführen, wird durch die narrative Anlage der Figur Zichronis als einem mit Vorurteilen versehenen Erzähler entgegengewirkt. Die überzeichnete Darstellung des Westens als Ideologie der Säkularisierung zeigt wiederum, dass die Erfahrungen von Kontingenz und Irrationalität nicht ›normgerecht‹ rational aufgelöst werden können, ja zu einer Krise führen, die entweder an der eigenen Normalisierungspraxis oder an der Norm zweifeln lässt. Und auch auf der Rezeptionsebene können die ethischen Fragen nach der ›richtigen‹ Erinnerung oder die präsente Unsicherheit narrativer Aussagen ebenfalls eine ›Denkkrise‹, eine Transformation der Rezipient*innen auslösen. Ein abschließender Blick auf Steins andere Texte zeigt, dass es sich hierbei um ein sein Werk durchziehendes Verfahren handelt, das die impliziten Rezipient*innen stets mitbedenkt.

V.7

Die Leinwand und das literarische Werk von Benjamin Stein

Für eine Einordnung der Leinwand in Steins Werkzusammenhang sind vor allem der Debütroman Das Alphabet des Juda Liva (1995) und Replay (2012) aufschlussreich,

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Vgl. zur Gattungsdiskussion: Handbuch Gattungstheorie. Hrsg. von Rüdiger Zymner. Stuttgart: Metzler 2010; Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Hrsg. von Marion Gymnich, Birgit Neumann. Trier: WVT 2007 und Rüdiger Zymner: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn: Mentis 2003.

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wobei auch ein Blick in die Überarbeitungen Das Alphabet des Rabbi Löw (2014) und Ein anderes Blau (2015), vor allem in Bezug auf dort vorgenommene Veränderungen, interessant ist. Das Alphabet des Juda Liva Das Alphabet des Juda Liva erzählt die verwobene Geschichte von der (ost-)deutschen Familie Rottenstein/Regensburg und ihrer Verbindung zu den Frauen der Prager Familie Marková. Dabei gewinnt die Erzählung ihren Reiz gerade aus der narrativen Konstruktion. In einer 1990 spielenden Rahmenerzählung trifft ein junger, verheirateter Schriftsteller/Student in einer Kneipe auf Jacoby, einen wunderlichen Gesellen, der dem Ich-Erzähler anbietet (gegen Bezahlung in Form einer Flasche Wodka), jeden Dienstagabend ihm und seiner geschichtssüchtigen Frau eine Geschichte zu erzählen. Nach einem halben Jahr des Erzählens verstirbt Jacoby plötzlich unter mysteriösen Umständen in einer psychiatrischen Klinik und hinterlässt dem Ehepaar in Form von Tonbändern, Zeitungsausschnitten etc. den Rest der Geschichte, die diese erfahren, aufschreiben und publizieren sollen. Die folgende Binnenhandlung präsentiert sich zunächst als diese besagte Verschriftlichung durch den Ich-Erzähler. Berichtet wird von Jacobys Freund und ehemaligen Kommilitonen Alexander Rottenstein, ein nach orthodoxen Regeln als Nichtjude geltender junger Mann, der nach seiner jüdischen Identität sucht, dabei in Prag der Wiedergeburt des bekannten, im 16./17. Jahrhundert lebenden jüdischen Mystikers Judah Löw begegnet, welcher stets von seinem Sohn, einem Golem, begleitet wird. Aufgrund verschiedener Ereignisse, die unter anderem mit seiner Familiengeschichte und den Markovás zusammenhängen, durchläuft Rottenstein eine kabbalistische Transformation, die ihn nach Meah Shearim in die Ultraorthodoxie führt und schließlich als neuen Messias präsentiert, der sich 1990, kurz vor Jacobys Tod, auf einer Berliner Sederfeier, unter seltsamen Umständen, als solcher ausgibt. Diese kurze und nur andeutungsweise mögliche Inhaltsangabe verweist bereits auf die inhaltliche wie auch erzähltechnische Komplexität des Textes. Die jüdische Mystik, hier speziell die Kabbala, bildet dabei den Hintergrund, vor dem sich Rottensteins Identitätsfindung abspielt. Expliziert wird dies durch den Gebrauch von kabbalistischer Sprach- und Zeichensymbolik, Engelsthematik, Zitaten aus kabbalistischen Büchern und der Golemsfigur.127 Der volkstümliche Golemstoff ist dabei vor allem seit Gustav Meyrinks Roman Der Golem nicht nur in der jüdischen Tradition bekannt. Auch die deutschen Romantiker hätten sich dieses Stoffs angenommen und ihn verbreitet, so Scholem in seiner Untersuchung zur

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Ausführlicher zur Darstellung der Kabbala im Alphabet siehe Nicola Bock-Lindenbeck: Letzte Welten – Neue Mythen. Der Mythos in der deutschen Gegenwartsliteratur. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1999.

V Benjamin Stein: Die Leinwand

Kabbala.128 Der Begriff komme bereits in der Bibel vor (Ps 139, 16) und werde dort im Sinne von »das Ungestaltete, Formlose« verwendet.129 Im Gegensatz zu einer sich auf Adam beziehenden Wortbedeutung verortet Scholem die andere Variante, »die Wiederholung solcher Schöpfung eines Menschen durch magische sowie künstliche, nicht näher definierte Mittel«, in talmudischen Texten des dritten und vierten Jahrhunderts. Dabei wären das Magische hier die »Buchstaben des Alphabets«, die »geheime, magische Gewalt« hätten.130 Nach einer längeren historischen Entwicklung der Golemvorstellungen habe sich im 18./19. Jahrhundert eine volkstümliche Form entwickelt, deren Beschreibung sich bei Jacob Grimm 1808 in der Zeitung für Einsiedler findet und die Scholem hier zitiert: Die polnischen Juden machen nach gewissen gesprochenen Gebeten und gehaltenen Fasttagen die Gestalt eines Menschen aus Ton oder Leimen, und wenn sie das wundertätige Schemhamphoras [den Gottesnamen] darüber sprechen, so muß er lebendig werden. Reden kann er zwar nicht, versteht aber ziemlich, was man spricht oder befiehlt. Sie heißen ihn Golem und brauchen ihn zu einem Aufwärter, allerlei Hausarbeit zu verrichten. Allein er darf nimmer aus dem Hause gehen. An seiner Stirn steht geschrieben emeth [Wahrheit], er nimmt aber täglich zu und wird leicht größer und stärker als alle Hausgenossen, so klein er anfangs gewesen ist. Daher sie aus Furcht vor ihm den ersten Buchstaben auslöschen, so daß nichts bleibt als meth [er ist tot], worauf er zusammenfällt und wieder in Ton aufgelöst wird.131 In Steins Bearbeitung der Golemfigur, in der also die kabbalistischen Elemente der Sprachmystik, des hebräischen Alphabets, des Bezugs zum Prager Judah Löw sich widerspiegeln, sieht Gelhard eine Transformation des Golemmythos zu einem »Modellfall«, zu einer »Metapher für das Kunstwerk schlechthin«,132 mit dem Stein einen Romantikdiskurs mit Fokus auf Kunsttheorie aufgreifen und fortsetzen würde – Stein rezipiert demnach bereits in seinem Debütroman romantische Literaturdiskurse, die auch den der Kunstreligion beinhalten und in der Leinwand fortgesetzt werden. Im Alphabet stünde dabei nicht die Golemerschaffung im Fokus, sondern das Mythosmachen, die »Mythopoiesis an sich«, die »auf einem ambivalenten Phantasma-Konzept beruht«,133 das sich gerade aus den nicht zu trennenden Ver-

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Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, ab S. 209. Ebd., S. 212. Ebd., S. 219. Vgl. Jacob Grimm, zit. n. ebd., S. 210f. Dorothee Gelhard: »Mit dem Gesicht nach vorne gewandt«. Erzählte Tradition in der deutschjüdischen Literatur. Wiesbaden: Harrassowitz 2008, S. 181f. Ebd., S. 187ff. Zur Analyse des Alphabets als fantastischer Erzählung siehe auch Barbara Oberwalleney: Heterogenes Schreiben. Positionen der deutschsprachigen jüdischen Literatur (1986–1998). München: iudicium 2001, S. 151.

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webungen der Rahmen- und Binnenhandlung ergibt. Denn der Ich-Erzähler der Rahmenhandlung, der Schriftstellerehemann, entpuppt sich am Ende als Rottenstein selbst, welcher, so die Andeutung im Roman, Wahnvorstellungen zu haben glaubt.134 Die Verwebung verschiedener ›analytischer‹ Ebenen, sei es innerhalb der Diegese, sei es zwischen Diegese und Erzählung oder des Faktual/Fiktionalen, stellt damit auf der einen Seite bereits seit dem ersten Roman die Konstruktion dieser Kategorien aus, setzt sich in den anderen literarischen Texten fort und wird für die weiteren fortgesetzt; kann daher als Werkkonstante bzw. als poetologisches Prinzip in Steins Schreiben verstanden werden. Die Mystik als Wegweiser zu einer neuen Erkenntnis, die der naturwissenschaftlichen Welterklärung entgegensteht,135 mystische Erfahrungen, die zu einem veränderten Leben führen und von ihm als einem homodiegetischen Erzähler berichtet werden136 – im Alphabet finden sich die Themen angesiedelt, die später in der Leinwand ausdifferenziert und in einen säkularisierten Kontext gestellt werden. Neben der Sensibilisierung für die Fragwürdigkeit einer rein rationalistischen Welterklärung, dem Einfließen einer mystisch-religiösen Gegenvorstellung, findet sich bereits im Debütroman die Umsetzung eines fantastischen Erzählens, das das Spannungsverhältnis zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen literarisch unterstützt und durch einen unzuverlässigen Erzähler die Leser*innen einbezieht. Rottenstein stellt am Schluss fest, dass er nicht die Person ist, die er zu sein glaubte, woraufhin seine Frau ihn verlässt, womit man direkt an die Wechslergeschichte anknüpfen kann. Im Kontrast zur Leinwand steht hingegen die Darstellung von Frauen im Debütroman: Im Alphabet sind die Markovás Engel, die von den Männern der Rottenstein/Regensburg-Familie stets geschwängert und verlassen werden, woraufhin alle diese Männer, einem Fluch gemäß, innerlich verbrennen und sterben. Gelbin hat bereits für das Alphabet eine »geschlechterdifferenzierte Darstellung« festgestellt, bei der das Weibliche als »destruktiv« beschrieben werde oder als Katalysator wirke, das zum männlichen Göttlichen weiterleite, an diesem aber keinen Anteil habe.137 Neben einer ausführlicheren weiblichen Präsenz in Steins erstem

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Vgl. Stein: Das Alphabet des Juda Liva, S. 318. Vgl. auch: »Der rationalen Denkform der europäischen Zivilisation stellt Stein das mythischreligiöse Bewußtsein der Kabbala entgegen.« Bock-Lindenbeck: Letzte Welten – Neue Mythen, S. 246, sowie Oberwalleney: Heterogenes Schreiben, S. 156. Dieser Punkt ist etwas komplexer, da die Binnenhandlung eigentlich vom Rahmenerzähler berichtet wird und damit Rottenstein von einem scheinbaren extradiegetischen Erzähler nur fokalisiert wird. Erst zum Schluss stellt sich heraus, dass dieser Erzähler schon immer Rottenstein gewesen ist, damit hier eigentlich doch eine autodiegetische Erzählung vorliegt. Gelbin: Das Monster kehrt zurück, S. 150. Gelbin führt dies auf die traditionelle Vorstellung im Judentum zurück, nach der das männliche Göttliche über dessen weibliche Seite vermittelt werden kann. Vgl. ebd.

V Benjamin Stein: Die Leinwand

Roman, die sich damit frappant von der Leinwand unterscheidet, kommt die der sexuellen Darstellung hinzu. Im Alphabet gibt es mehrere mehr oder weniger explizite, unprätentiös geschilderte sexuelle Intimvorgänge, von denen die Episode zwischen Miriam Marková und Jaroslav Vonka am ausführlichsten auf zweieinhalb Seiten dargestellt ist – allerdings aus der voyeuristischen Perspektive einer alten Frau, die den beiden durch ein Guckloch zusieht.138 In der Leinwand ist das Fehlen sexueller Aspekte, einer Geschlechterdifferenzierung, allgemein Figuren, die nicht heterosexuell und männlich sind, daher umso auffälliger. Replay Steins Roman Replay, der der Leinwand folgt, setzt in einer aktuell möglichen Zeit an und entwickelt von hier aus ein dystopisches Szenario. Der promovierte Informatiker Ed Rosen soll im Rahmen seiner Anstellung an einem Experiment teilnehmen, das ungeahnte Entwicklungen mit sich bringt und thematisch dem amerikanischen Bestsellerroman The Circle von Dave Eggers vorgreift.139 Ed Rosen, Kind jüdischer Eltern, selbst allerdings nicht religiös, leidet seit seiner Geburt an einer Fehlbildung eines Auges und kann daher keine räumliche Tiefe wahrnehmen. Sein Vorgesetzter, Professor Matana, eine Referenz auf den Neurobiologen und (als konstruktivistisch angesehenen) Philosophen Humberto R. Maturana, schlägt ihm vor, an einem Experiment teilzunehmen, bei dem Rosen ein von der Firma entwickeltes Augenimplantat eingesetzt werden soll, das Nervengewebe mit elektronischen Transmittern vernetzt. Aus diesem Prototypen entwickelt das Unternehmen schließlich weitere Versionen, die dazu führen, dass man das Implantat mit seinem Mobiltelefon synchronisieren kann, audiovisuelle Wahrnehmungen gespeichert werden und immer wieder abgespielt – replay –, also ›erinnert‹ werden können. Das Implantat wird ein Verkaufserfolg: Innerhalb von nicht ganz 20 Jahren ist aus der kleinen, feinen Forschungsfirma im Silicon Valley […] die größte Corporation des Landes [geworden] – ein Unternehmen, das seinen Erfolg einem einzigen

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Vgl. Stein: Alphabet, S. 97–99. Besonders interessant ist dabei auch die Tatsache, dass gerade diese Stelle in der Neubearbeitung von 2014 fast komplett gestrichen wurde. Vgl. Stein: Das Alphabet des Rabbi Löw, S. 84. Außer diesen frappanten Veränderungen finden sich, neben zahlreichen Kürzungen und typografischen Korrekturen, Überarbeitungen im Hinblick auf die Kommunikation des Erzählers mit dem Publikum. Im Debütroman wurde Jacoby als ein wertender und proleptischer Erzähler dargestellt, in der neuen Fassung sind viele Zuhöreransprachen, Wertungen und Erläuterungen, die sich vor allem auf religiöse Aspekte bezogen, gestrichen. Vgl. die Darstellung des Synagogendieners in Kapitel 10; die Tilgung der Zuhöreranrede zu Beginn von Kapitel 3 und 7; auch wurde der Magievergleich, im Debütroman S. 22 (»Das war kein Erzählen mehr. Das war Magie.«) in der Neufassung gelöscht (vgl. S. 21). Dave Eggers: The Circle. New York: Random House 2013.

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Produkt verdankt. Dieses allerdings ist zum Fundament der Gesellschaft geworden. Über 70 % der US-Bürger sind ihm wortwörtlich untrennbar verbunden.140 Tatsächlich hat sich die Gesellschaft insoweit gewandelt, als das UniCom als Zahlungsmittel, als Ausweis etc. dient und damit unersetzlich wird. Während Ed Rosen am Erfolg des Geräts profitiert hat, er ist zum Erzählzeitpunkt Minister für Kommunikation, wird Julian Assange in diesem Roman als Leitfigur des unbeachteten Widerstands dargestellt. Als der autodiegetische Erzähler sich an den Entwicklungsprozess erinnert und diesen reflektiert, ist er bereits ein hoher Amtsträger und erzählt in Analepsen von dieser Entwicklung, was jedoch nicht immer ersichtlich ist. Das narrative Konstrukt des Romans ist auch hier, den anderen Texten Steins ähnlich, stark verschachtelt, der Erzähler ist unzuverlässig, als Leser*in kann man bis zum Schluss die jeweiligen Ebenen nicht unterscheiden. Replay knüpft dabei explizit an die ›klassischen‹ bzw. ›kanonisierten‹ Dystopien an, die in der Regel mit den drei Romanen Mj (1920) von Jewgeni Samjatin, Brave New World (1932) von Aldous Huxley und Nineteen Eighty-Four (1949) von George Orwell identifiziert werden. Diese weisen grundlegende Ähnlichkeiten hinsichtlich bestimmter Inhalte auf. Sie stellen einen Staat bzw. eine politische Ordnung kritisch dar, wobei sowohl der Machtanspruch dieser Staatsform wie auch die Instrumente der Sicherstellung der Ordnung thematisiert und legitimiert werden. Der jeweilige Staats- bzw. Gesellschaftsentwurf fußt auf hierarchischen und homogenisierenden, meist gewaltsamen Strukturen, die anhand bestimmter binärer Oppositionen aufgebaut sind: Rechte des Individuum vs. Gesellschaft, Freiheit vs. Sicherheit, Freiwilligkeit vs. Zwang etc., die Transformationsprozesse – also die Frage, wie es dazu kommen konnte – werden ebenfalls angedeutet. Auch in der literarischen Gestaltung zeigen sich ebenfalls Ähnlichkeiten in der Figurenzeichnung und dem Handlungsablauf. Eingeführt werden die Lesenden direkt in die fiktive dystopische Welt, meist über die Interaktion der Protagonist*innen mit den Systemkonformen, die ersteren erreichen einen kritischen Blick auf die Gesellschaft, gegen die sie im weiteren Verlauf rebellieren, allerdings am Ende stets physisch oder psychisch am übermächtigen System scheitern.141 Bezeichnenderweise knüpft Replay intertextuell in einer Figurenreflexion explizit an Ninty Eigthy Four an, es lassen sich zudem viele der orwellschen Schreckensdarstellung ausmachen: Eine Organisation hält die gesamte Macht in den Händen, eine kleine Elite bestimmt über die Verwendung der Informationen. Im Unterschied zu Orwells Text wird diese Macht jedoch nicht als Gewalt oder Zwang

140 Stein: Replay, S. 91. 141 Vgl. Chris Ferns: Narrating Utopia. Liverpool: University Press 1999; Dark Horizons. Science Fiction and the Dystopian Imagination. Hrsg. von Tom Moylan, Raffaella Baccolini. New York, London: Routledge 2003.

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verstanden, sondern basiert, so die scheinbare Annahme, auf Freiwilligkeit der Bevölkerung. Auch ist der Protagonist kein Widerständler, sondern im Grunde jemand wie OʼBrian. Andererseits findet sich ein grundlegender Unterschied: Ist der eine Staatsentwurf als ein nie endender, gewaltsam-herrschender Übergriff des Staates auf alle Ebenen des Menschseins gestaltet, zeigt Replay vielmehr die fluiden und ungreifbaren Subjektivierungsprozesse hegemonialer Diskursformationen – oder anders formuliert, die ›Beherrschten‹ identifizieren sich mit dem, was sie beherrscht bzw. sind sich der Problematik gar nicht bewusst, weil es hier keine eindeutig auszumachende Herrschaftsinstanz gibt, die einem Freiheiten entzieht – im Roman werden daher subtile und auf bewusste affirmative Reproduktion angewiesene Machtbeziehungen im Sinne Michel Foucaults ausgestellt. Da die meisten Bürger und Politiker transparent geworden sind, werden deren Wahrnehmungen aufgezeichnet und von der Firma verwaltet, man kann seine eigenen Erinnerungen anderen zur Verfügung stellen oder sie verändern. Die Frage, die sich aus diesem Zustand ergibt und die für den Protagonisten elementar wird, ist die nach der Wahrheit, nach der richtigen Wahrnehmung, nach der Realität. Und gerade diese Frage beantwortet der Roman nicht, denn die Erzählung Rosens, der in seinen Replays gefangen ist und nicht mehr sicher sein kann, welche seiner Wahrnehmungen Erinnerungen sind und welche aktuell geschehen, ist unzuverlässig und bleibt für die Leser*innen chronologisch nicht eindeutig nachvollziehbar. Auch Rosens Halluzinationen, zu Beginn sieht er den Fuß eines Pans aus seinem Bett ragen, verweisen auf die Vermischung verschiedener Realitäten, auch der jüdisch religiösen, denn körperliche Verformungen sind für Rosen ein Hinweis auf den Sheol, auf die jüdische Vorstellung eines Totenreichs.142 Die Figur des Pan taucht dabei scheinbar nur in den veränderten Replays auf, soll also gerade das ›Unreale‹ ausstellen und wird von Rosen mit Genuss, Glückseligkeit in einem als Utopie vorgestellten Arkadien einerseits, einer Gestalt aus dem Zwischenreich von Leben und Tod andererseits identifiziert. Der Rückgriff auf diese mythische Figur kann in Replay leitmotivisch gelesen werden. Die Panrezeption seit der Antike hat dabei verschiedene Ausformungen erfahren, sei es als dionysischer Hirtengott eines idyllischen, naturbehafteten und vom Zivilisationsdruck befreiten Arkadien, sei es als Zeichen für Lebensfreude oder Wollust und ungebändigter Sexualität, Satans- bzw. Teufelsvorstellungen oder die pantheistische Idee eines Allgotts, wie sie in Goethes Faust noch aufscheint: Nymphen im Chor. Sie umschließen den großen Pan. Auch kommt er an! – Das All der Welt

142 Vgl Stein: Replay, S. 16.

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Wird vorgestellt Im großen Pan […].143 In seiner theriomorphen Form als Doppelgestalt oszilliert die Panfigur in Replay zwischen verschiedenen Ebenen: epistemologisch zwischen den Wahrnehmungs-, narrativ den Erzähl- und ontologisch den Wirklichkeitsebenen, sowie schließlich der Erzählerglaubwürdigkeit und anthropologisch in der Frage was Menschsein, menschliches Leben ausmacht. Wirft man zudem auch hier einen Blick auf die komplexe, anachronistische, elliptische und teilweise fragmentarische Erzählanlage des Textes, so zeigt sich, dass Rosen eine kritische Stellung zu entwickeln scheint: Wir haben uns für Transparenz entschieden und diesen Entschluss in Gesetze verpackt, die für alle gelten, ob sie es nun schätzen oder nicht und ob sie es wissen oder nicht. […] Eigentlich bin ich längst tot oder vegetiere nur noch ein einem Zwischenbereich vor mich hin.144 In der klassischen Dystopie würde nun die Figurenentwicklung hier ansetzen, der Protagonist dem System Widerstand leisten – und kurz scheint dies auch bei Rosen zuzutreffen: »Ich könnte einen Ausgang suchen. Ich kann nicht glauben, dass dieses Gefängnis keine Türe hat, durch die ich mich hinausschleichen könnte.«145 Doch Rosens Geschichte endet damit, dass er die Switchbox symbolhaft anschaltet, erneut abdriftet und beim Aufwachen einen Panhuf, wie auch zu Beginn des Romans, sieht. Die Erzählung ist wieder an ihrem Anfang angekommen – eine nie endende Wiederholung des Immergleichen, das innerhalb der fiktiven Welt unglaubwürdig ist. Viel spannender ist jedoch die Frage der Perspektive. Die autodiegetische Erzählung schildert Rosens Version der Ereignisse und vor allem seine Schlussfolgerungen über andere Figuren. Wirft man dabei einen Blick auf die als weiblich dargestellten Figuren, wird deutlich, dass Rosens Frauenbild ein höchst problematisches ist: Katelyn, seine Trainerin und Partnerin auf der einen Seite; Lian, eine sexuelle Partnerin der beiden auf der anderen, werden im Text immer wieder als »meine Frauen«146 bezeichnet und ausschließlich vor einem körperlichen oder sexuellen Kontext erwähnt bzw. auf ihre Funktion als Lustobjekte reduziert, ohne dass Rosen sich dessen bewusst ist und seine sexuellen Erwartungen auf sie überträgt. Umso mehr erschüttert ihn die Erkenntnis, dass die beiden ›ihn‹ verlassen 143

Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. In: Ders.: Faust. Eine Tragödie. Erster und zweiter Teil. München: dtv 12 2011, S. 139–351, hier S. 172f., V. 5871–5875. 144 Stein: Replay, S. 168. 145 Ebd. 146 Ebd., S. 112.

V Benjamin Stein: Die Leinwand

haben. Hinterfragt man hingegen die unzuverlässige, stark subjektivierte Perspektive von Rosen, zeigt sich stattdessen, dass Katelyn und Lian Rosen nicht als Person, sondern als Personifikation des UniComs bzw. des Unternehmens hinter sich gelassen haben. Sie haben dem hedonistischen, eskapistischen und im Grunde unsozialen System den Rücken gekehrt, sich dem verweigert und sind gegangen. Hinter der vordergründigen dystopischen Erzählung etabliert der Roman so über eine narrative Volte eine utopische Dimension, die das negative Schreckensbild einerseits explizit anhand der ontologischen Metalepse der sich aufhebenden Wirklichkeitsebenen und des unendlichen Kreislaufs der statischen Weltreproduktion rezeptionsästhetisch erfahrbar macht – mit Brössel gesprochen: verschiedene narrative Wirklichkeitsbrüche inszeniert147 –, gleichzeitig wird jedoch durch die Unzuverlässigkeit eine kritische Lektüre auch des dystopischen Szenarios eröffnet. Vor diesem Hintergrund kann Replay denn auch nicht genrespezifisch in die Tradition der ›klassischen‹ Dystopien eingeordnet werden, sondern scheint diese in ihrer Statik zu reflektieren. Als »critical dystopia« werden solche dystopischen Texte in der anglo-amerikanischen Forschung bezeichnet, was sich hier auf Replay als ›Kritische Dystopie‹ übertragen lässt: a non-existent society described in considerable detail and normally located in time and space that the author intended a contemporaneous reader to view as worse than contemporary society but that normally includes at least one eutopian enclave or holds out hope that the dystopia can be overcome and replaced with a eutopia […].148 Moylan und Baccolini erweitern dieses Verständnis insoweit, als dass sie den Fokus auf das Vorhandensein eines ›utopischen Impulses‹ legen: In fact, by rejecting the traditional subjugation of the individual at the end of the novel, the critical dystopia opens a space of contestation and opposition for those collective ›‹ex-centric‹ subjects whose class, gender, race, sexuality and other positions are not empowered by hegemonic rule.149 Für Moylan und Baccolini zeichnen sich kritische Dystopien damit einerseits durch eine Fokusverschiebung auf marginalisierte Gruppen und Gebiete aus, 147

Stephan Brössel: Wirklichkeitsbrüche. Theorie und Analyse mit Blick auf Texte der frühen Moderne und Postmoderne In: Studia Germanica Posnaniensia 34 (2013), S. 175–186, hier S. 185. 148 Lyman Tower Sargent: US Eutopias in the 1980s and 1990s. Self-Fashioning in a World of Multiple Identities. In: Utopianism/Literary Utopias and National Cultural Identities. A Comparative Perspective. Hrsg. von Paolo Spinozzi. Bologna: COTEPRA University of Bologna 2001, S. 221–231, hier S. 222. 149 Tom Moylan, Raffaella Baccolini: Introduction. Dystopia and Histories. In: Dark Horizons, S. 1–12, hier S. 7.

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Religion als diskursive Formation

ferner durch eine Offenheit der Genregrenzen, einer expliziten Selbstreflexivität des Erzählens und der Gattung, teilweise den Fokus auf die Transformationsprozesse sowie narrative Vielfältigkeit. Es sei gerade die Hybridität, Vielstimmigkeit, Mehrdeutigkeit, Differenz, die in den kritischen Dystopien einer vereinheitlichenden, homogenisierenden genrekonformen Textgestalt entgegensteht. Auch für Replay treffen die hier genannten Aspekte zu. So hat Brössel bereits früh in seiner Analyse der Wirklichkeitsbrüche herausgestellt, dass Replay Themen wie Konstruktivismus, Fragmentierung, Heterogenität, Technologisierung und Dehumanisierung strukturell aufgreift und metareflexiv im zirkulären Erzählen destabilisiert.150 Allerdings verweisen Moylan und Baccolini auf die spezifische Entwicklung der kritischen Dystopie im Kontext der amerikanischen Literatur, also als eine Entwicklung vor dem Hintergrund der zeitgenössischen feministischen, ökologischen und politischen Bewegungen, die den kritischen Dystopien in den kritischen Utopien der 1970er Jahre vorausgingen. Mit kritisch, auch im Sinne der Dystopie, wird ein selbstreflexives und oppositionelles Denken gemeint, das die Entschleierung und Entzauberung des Genres wie auch dessen historischer Situation vornimmt. So ist sich die kritische Utopie wie auch Dystopie der Genregrenzen bewusst, ohne sie als Ganzes zu negieren. Der Fokus rückt daher stärker auf literarische Formen der Darstellung, sei es in der Narration oder der Genrevermischung. Scheint also Replay auf den ersten Blick als kritische Dystopie eingeordnet werden zu können, steht einer Rezeption des anglo-amerikanischen Begriffs die fehlende Kontextualisierung vor dem Hintergrund der genrehistorischen Entwicklung deutschsprachiger Dystopien im Weg, die hier als Desidarat aufgerufen wird. Evident bleibt nichtsdestotrotz eine strukturelle Analogie Replays zu der critical dystopia, wobei vor allem das Moment des Transformationsprozesses und der mangelnden Andersartigkeit der alternativen Gesellschaft ausgestellt wird: So zeigt sich dies im Text an den schleichenden Anfängen der Begeisterung und späteren Abhängigkeit Rosens vom UniCom, aber auch an den ökonomischen Interessen und politischen Vorteilen, die überhaupt die Entwicklung soweit bringen konnten. Im Vordergrund findet sich so die Vorstellung, dass Dystopie heute anders, komplexer und vor allem differenzierter gedacht werden muss als im Sinne Orwells, Samjatins oder Huxleys – damit auch anders als in Juli Zehs Roman Corpus Delicti aus dem Jahr 2009, der ganz im Sinne ihrer essayistischen Publikation Angriff auf die Freiheit mit Ilija Trojanow vor Überwachung im orwellschen Sinne warnt und so einen den klassischen Formen folgenden Text vorlegt.151 Der Fokus auf die Transformati-

150 Vgl. Brössel: Wirklichkeitsbrüche. 151 Vgl. Juli Zeh: Corpus Delicti. Ein Prozess. Frankfurt/Main: Schöffling & Co. 2009; Ilija Trojanow, Juli Zeh: Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau der bürgerlichen Rechte. München: Hanser 2009.

V Benjamin Stein: Die Leinwand

onsprozesse einer fiktiven, wirklichkeitsähnlichen Gesellschaft in eine dystopische macht allerdings den intentionalen und programmatischen Aspekt utopischer Literatur evident und verwischt die gattungskonstitutive Grundlage eines (un-)zugänglichen, an keinem Ort zu positionierenden Entwurfs. Hat man sich bezüglich der älteren Dystopien noch fragen bzw. ahnen können, wie es eigentlich zu dieser Schreckensversion kommen konnte, füllt Replay diese Leerstellen aus, indem aktuelle, teilweise tagespolitische Ereignisse geradezu extrapoliert und als in naher Zukunft wahrscheinlich präsentiert werden. Umgesetzt wird dies in Replay ästhetisch durch die intertextuelle und narrative Offenlegung der historischen Bedingtheit dystopischer Konventionen und Vorstellungen, die für gegenwärtige Fragestellungen aktualisiert werden sollten. Der Fokus auf das digitale Zeitalter, vor allem aber auf die Problematik der Subjektkonstitution darin, lenkt die Aufmerksamkeit von institutionellen, unantastbar scheinenden Systemen auf fluide und unsichtbare Prozesse von Subjektivierungen – und rückt damit das utopische Potenzial in Richtung der individuellen Eigenverantwortung. Als ein Roman mit einem zeitlich nahen Horizont aktualisiert Replay das dystopische deutschsprachige Genre und ist damit gleichzeitig Ausdruck eines literarisch-künstlerischen Krisenbewusstseins, das Anteil an einer zeitkritischen, gegenwärtigen Politisierung von Literatur hat.152 Zusammenfassend kann für die Werkkontextualisierung festgestellt werden, dass in Replay die bereits für Das Alphabet und Die Leinwand festgestellten thematischen und narratologischen Leitthemen reaktualisiert werden: Sind im Alphabet und der Leinwand die Fragen nach der Wahrheit und damit Wahrnehmung der Wirklichkeit über die Themen der Religion und der Erinnerung diskutiert worden, erfolgt es hier über die körperliche Wahrnehmung und das digitale Speichern dieser audiovisuellen Erinnerungen, die sich mit dem Auftauchen religiös-mythischer Motive bis zur Unklarheit vermischen. Alle drei Texte verweisen damit auf den Konstruktionscharakter von Wahrnehmung und von der Unmöglichkeit einer eindeutigen gültigen Wahrheit. Dies scheint sich dabei vor allem aus Steins poetologischer Konzeption herzuleiten. Im Nachwort der Überarbeitung von Ein anderes Blau finden sich Überlegungen Steins, die die Frage nach der Realität und Wirklichkeit bereits in seine früheste Jugend platzieren: »In meinen Texten wollte ich die subjektive Wirklichkeit des Individuums zeigen. Am besten, dachte ich, wäre es, wenn der Leser für die Dauer der Lektüre die Welt wahrnehmen könnte wie die Figur.«153 Und später heißt es: »Ich entschied mich für eine Poetik der polyphonen Ich-Erzählung«, die gerade darauf verweisen soll, dass es keine objektive Wirklich-

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Vgl. Das Politische in der Literatur der Gegenwart. Hrsg. von Stefan Neuhaus, Immanuel Nover. Berlin, Boston: de Gruyter 2019. Benjamin Stein: Polyphones Ich. Ein Nachwort. In: Ein anderes Blau (2015), S. 97–107, hier S. 99.

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Religion als diskursive Formation

keit, sondern »ein Mosaik von Einzelerzählungen« ist.154 Die Erzählerstimme als autodiegetische verweist damit in ihrer narrativen Funktion auf die metaphysische Ebene der subjektiven Wirklichkeitskonzeption und produziert diese gleichzeitig performativ innerhalb der Diegese. Ferner hat die Kabbala in allen drei Texten eine wegweisende Funktion, die von Text zu Text abnimmt. Für die Leinwand ist bereits festgehalten worden, dass der Bezug auf die jüdische Mystik eine Einschreibung in den Religionsdiskurs impliziert. Auch Gelhard hat in ihrer Analyse des Alphabets darauf hingewiesen, dass Stein »den kabbalistischen Code emeth/meth [nutzen würde], um den gegenwärtigen jüdischen Diskurs archäologisch an sein vergessenes oder verschüttetes Erbe zu erinnern.«155 Jüdische Mystik wird so literarisch als Teil des kollektiven und möglicherweise auch des kulturellen Gedächtnisses in ihrer transformatischen Funktion aufgerufen und durch die literarischen Texte als ästhetische Schwellenerfahrung auf Rezipient*innenebene produktiv gemacht. Die narrative Inszenierung der Ich-Erzähler korrespondiert stets mit dem thematischen Leitmotiv der Wahrheits- und Wirklichkeitsdekonstruktion, alle Erzähler sind unzuverlässig. Stein kommentiert diese Übereinstimmung in seinem Blog: »Irgendwas an meinen Erzählern ist definitiv fragwürdig. Erschreckend auch, dass diese Erzähler – in jedem Buch bisher – unterwegs ihre Frauen verbummeln.«156 Allerdings fordert der Verweis, dass in dem »Verbummeln« der Frauen eine Parallele bestehe, zu einer kritischen Befragung von Steins Darstellung ›weiblicher‹ Figuren auf. Im Alphabet ist eine weibliche Darstellung, zwar dualistisch und wertend, vorhanden, diese ist in der Leinwand stark reduziert, im nachfolgenden Roman hingegen, Replay, ist sie ausführlicher behandelt, bleibt allerdings nichtsdestotrotz einer Funktion untergeordnet. Das Fehlen der Frauen in der Ultraorthodoxie und der Orthodoxie leitet zu der Frage einer Leerstelle ›weiblicher‹ Partizipation in der Religion allgemein über. Eine Untersuchung zu Steins Werk aus geschlechtstheoretischer Perspektive erscheint vor diesem Hintergrund als vielversprechend.

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Ebd., S. 101. Gelhard: »Mit dem Gesicht nach vorne gewandt«, S. 188. Vgl. Gelbin, die in Bezug auf die Golemfigur eine »breitere Wiederbelebung jüdischer Kulturen im Kontext des sich seit 1989 neu ordnenden Europa« sieht. Gelbin: Das Monster kehrt zurück, S. 145. Benjamin Stein: Blogeintrag vom 9. Mai 2012. In: Ders.: Turmsegler. Literaturblog. https:// turmsegler.net/category/das-alphabet-des-rabbi-loew (Zugriff: 25.07.2020).

VI Navid Kermani: Große Liebe

VI.1

Paratextuelle und narratologische Vorüberlegungen

Navid Kermani gehört bundesweit zu den Autor*innen und Intellektuellen, die neben einem literarischen Werk besonders durch essayistische Texte sowie öffentliche Auftritte bekannt sind. Der habilitierte Islamwissenschaftler äußert sich zu aktuellen Themen, besonders wenn Sie Aspekte wie Islam, Identität, Kultur und Gesellschaft ansprechen. Sein literarisches Œuvre besteht mittlerweile (2020) aus sieben Publikationen, wobei die generische Zuordnung bei einigen davon unklar zu sein scheint. Die seit 2002 erschienenen literarischen Texte bekommen von der Forschung mittlerweile verstärkt Aufmerksamkeit. Insgesamt gibt es vereinzelte Aufsätze sowie Beiträge in den Sammelbänden Islam in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 1 und drei Bände mit dem Haupttitel Navid Kermani.2 Diese Veröffentlichungen beschäftigen sich dabei allerdings mit der gesamten Bandbreite von Kermanis Œuvre, also auch seinen publizistischen und theologischen Texten. Das literarische Debüt stellt Das Buch der von Neil Young Getöteten3 (2002) dar, es folgte Vierzig Leben4 (2004), eine Sammlung verschiedener Geschichten im Kontext der Stadt Köln, Du sollst 5 (2005) wurde unterschiedlich aufgenommen: von der Überschreitung der »Grenze zur Peinlichkeit und zur Pornographie«6 , über einen »humanistischen […] und psychologischen« Blick auf Sex, der Vergnügen bereite,7

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Hofmann, Stosch: Islam in der deutschen und türkischen Literatur. Vgl. Navid Kermani. Hrsg. von Helga Druxes, Karolin Machtans, Alexandar Mihailovic. Bern: Lang 2016; Navid Kermani. Hrsg. von Torsten Hoffmann. München: edition text + kritik 2018; Navid Kermani. Hrsg. von Michael Hofmann, Klaus von Stosch, Swen Schulte Eickholt. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019. Navid Kermani: Das Buch der von Neil Young Getöteten. Zürich: Ammann 2002. Navid Kermani: Vierzig Leben. Zürich: Ammann 2004. Navid Kermani: Du sollst. Zürich: Ammann 2005. Andreas Kilb: Tristesse und Triebe. In: FAZ online vom 20. Mai 2005. www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/tristesse-und-triebe-1259408.html (Zugriff: 25.07.2020). Ludwig Ammann: Der Dekalog des Eros. Navid Kermanis Erzählband Du sollst. In: Neue Zürcher Zeitung vom 20. September 2005.

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Religion als diskursive Formation

bis hin zu: »auf eine den Leser quälende Art erotisch«8 . Der 2007 erschienene Text Kurzmitteilung9 trug als erster die Gattungsbezeichnung Roman; Kermanis Opus magnum Dein Name10 wurde 2011 publiziert, gefolgt von Große Liebe11 im Jahr 2014. Die bisherigen Texte (ohne Dein Name und Große Liebe) wurden zudem 2014 in dem Band Album erneut veröffentlicht und teilweise bearbeitet.12 Vier Jahre später erschien mit Sozusagen Paris der Nachfolgeroman zu Große Liebe.13 Ferner hat Kermani zahlreiche islamtheologische Arbeiten, essayistische Publikationen, Beiträge in zahlreichen überregionalen Zeitungen sowie Reportagen publiziert.14 Der Gegenstand dieser Untersuchung ist der vorletzte erschienene literarische Text Große Liebe15 , wobei Sozusagen Paris diesen Text fortsetzt und teilweise ebenfalls herangezogen wird. In Große Liebe erzählt ein 45-jähriger, namenloser Ich-Erzähler, der geschieden ist und sich die Erziehung des gemeinsamen Sohnes, 15-jährig, mit seiner ehemaligen Frau teilt, von einer kurzen Beziehung, die er als 15-jähriger Junge hatte. Die Angebetete war dabei die »Schönste des Schulhofs« und vier Jahre älter, die ›Beziehung‹, die die große Liebe darstellen soll, hielt nicht länger als eine Woche. In die Erzählung des Älteren fließen dabei immer wieder Vergleiche und Bezüge zur mystischen Liebe ein, hier des Sufismus. Ziel des Erzählers ist es, innerhalb von hundert Tagen vom Kennenlernen über die sexuelle Vereinigung bis hin zum Trennungsschmerz all diese Stationen zu beschreiben, wobei die letzte den Hauptteil einnehmen soll. Dass gerade dieses Versprechen an die Leserschaft, das bereits während des Erzählens revidiert wird, am Ende keine Erfüllung findet, sowie der hervorstechende Konstruktionscharakter der Erzählung gehören zu den

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Fridtjof Küchemann: In größter Nähe so fern. In: Hamburger Abendblatt vom 21. Mai 2005. Navid Kermani: Kurzmitteilung. Zürich: Ammann 2007. Navid Kermani: Dein Name. München: Hanser 2011. Die hier verwendete Ausgabe ist: Navid Kermani: Dein Name. Bonn: bpb 2011 (Lizenzausgabe für die bpb). Navid Kermani: Große Liebe. München: Hanser 2014. Navid Kermani: Album. Das Buch der von Neil Young Getöteten. Vierzig Leben. Du sollst. Kurzmitteilung. München: Hanser 2014 [diese Textausgabe wird im Folgenden für die hier angeführten Texte zitiert]. So wurde in Du sollst das erste Kapitel durch ein verändertes Bibelzitat von Hosea 1–14 ersetzt. Navid Kermani: Sozusagen Paris. München: Hanser 2016. Vgl. Navid Kermani: Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran. München: C.H. Beck 1999; ders.: Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte. München: C.H. Beck 2005; ders.: Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime. München: C.H. Beck 2009; ders: Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt. München: C.H. Beck 2013; ders.: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. München: C.H. Beck 2015. Navid Kermani: Große Liebe. Reinbek/Hamburg: Rowohlt 2 2016. Im Folgenden unter der Sigle »GL« und Kapitel (der Text hat keine Seitenzahlen, sondern die Kapitel sind mit Zahlen versehen, und die Seiten des Kapitels, bis zu vier, tragen jeweils die Nummer des Kapitels) zitiert. Das Cover der Taschenbuchausgabe trägt den Titel »Grosse Liebe«, die Titelei hingegen »Große Liebe«.

VI Navid Kermani: Große Liebe

narratologischen Besonderheiten dieses Textes, der von der Kritik positiv aufgenommen wurde. Durchgespielt würde die »subtile[] Soziologie der Liebe in Zeiten der grossen Gefühlsduselei«16 , wobei man »dem Zustand oder besser: den Zuständen des Liebenden«17 nachgespürt habe: Dabei habe »so schön […] selten jemand über die Liebe geschrieben, so hellsichtig das Heilige im Profanen offenbart, das Alltägliche im Übersinnlichen entdeckt.«18 Relevant für diese Untersuchung ist vor allem der religiöse Bezug, der den Text in Form der islamischen Mystik leitmotivisch durchzieht.

Islam in der Literatur Noch viel deutlicher als bei den anderen verfassten Religionen muss hier betont werden, dass es den ›Islam‹ nicht gibt – schon gar nicht als eine homogene gesellschaftlich-politische Größe, die Huntington dem ›Westen‹ gegenüberstellt oder Sarrazin als Feindbild für Deutschland zeichnet.19 Das Forschungsfeld zum Thema ›Islam‹ ist breit und hat seit 2001 eine Flut an Publikationen nach sich gezogen. Auch kann und soll der Islamdiskurs in Deutschland, der von Islamwissenschaftler*innen, Muslim*innen, der Politik und den Medien geführt wird, an dieser Stelle nicht ausgeführt werden.20 Besorgniserregend ist dabei die gewachsene Islamfeindlichkeit, die sich auch politisch in Bewegungen wie PEGIDA oder dem Erfolg der AfD äußert.21 Die Argumentationen, die gegen ›den Islam‹ geführt werden, 16

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Michael Braun: Navid Kermanis Roman Grosse Liebe. Eros als Passion. In: NZZ online vom 16. Juli 2014. www.nzz.ch/feuilleton/buecher/eros-als-passion-1.18343988 (Zugriff: 25.07.2020). Wiebke Porombka: Kermanis Große Liebe. Eine Woche für die Frau des Lebens. In: FAZ online vom 7. Februar 2014. www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/kermanis-grosse-liebe-eine-woche-fuer-die-frau-des-lebens-12788487.html (Zugriff: 25.07.2020). Shirin Sojitrawalla: Kermani, Navid: Große Liebe. In: Wiener Zeitung online vom 5. April 2014. www.wienerzeitung.at/themen_channel/literatur/buecher_aktuell/620199_KermaniNavid-Grosse-Liebe.html. Vgl. auch Wolfram Schütte: Es war einmal die erste große Liebe. Navid Kermanis autobiographisch-reflexiver Essay-Roman. In: CulturMag vom 19. März 2014. http://culturmag.de/rubriken/buecher/navid-kermani-grosse-liebe/79819; Hans-Jost Weyandt: Teenagerliebe in den Achtzigern. Die heiligen Narren der Schulhöfe. In: Spiegel online vom 28. Februar 2014. www.spiegel.de/kultur/literatur/navid-kermanis-grosse-liebe-a953029.html; kritisch zu Kermanis Große Liebe vgl. Fatma Aydemir: Battle der Stereotype. Navid Kermani lässt in Große Liebe eine Schulhofromanze und alte Mythen aufeinanderprallen. In: Die Tageszeitung vom 15. März 2014 (Zugriff alle: 25.07.2020). Vgl. Huntington: Der Kampf der Kulturen; Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. 14., durchges. Aufl. München: Deutsche Verlagsanstalt 2010. Vgl. einführend und überblickshaft: Der Islam in der Gegenwart. Hrsg. von Werner Ende, Udo Steinbach. Unter redaktioneller Mitarbeit von Renate Laut. 5., aktual. und erw. Aufl. München: C.H. Beck 2005. Zum Thema Islamfeindlichkeit siehe Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen. Hrsg. von Thorsten G. Schneiders. 2., aktual. und erw. Aufl. Wiesbaden: VS 2010.

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sind genährt von Stereotypen und Vorurteilen,22 die »Parallelen zwischen Antisemitismus beziehungsweise Antijudaismus und Islamfeindlichkeit«23 aufweisen: Man habe »in der Auseinandersetzung mit der Religion des Islam Stereotype und Konstrukte beobachtet, die seit langem als Instrumentarium bekannt sind, um gegen Juden Stimmung zu machen.«24 Diese Aussage bezieht sich vor allem auf die Forschungen von Wolfgang Benz, der wiederholt darauf verwiesen hat, dass es strukturelle Ähnlichkeiten gibt zwischen Antisemitismus und der aktuellen Islamfeindlichkeit, wobei er betont, dass die beiden Phänomene nicht gleichgesetzt werden dürfen.25 Auffällig ist vor allem, dass der Islam als eine homogene Größe gesehen und dem wahlweise christlich-jüdischen oder säkularisierten Westen entgegengesetzt wird, so bereits bei Huntington in den 1990ern und seit 2001 in den öffentlichen Debatten.26 Navid Kermani hat die Verallgemeinerung und Gegenüberstellung mehrfach kritisiert, prominent in seiner Rede zu dem ihm 2015 verliehenen Friedenspreis des deutschen Buchhandels: »Das muss man alles sagen, will man nicht dem Trugbild aufsitzen, das Islamisten und Islamkritiker wortgleich entwerfen: Dass der Islam einen Krieg gegen den Westen führt.«27 Die in diesen pauschalen Aussagen immer wieder aufkommende Frage nach der Zugehörigkeit von Muslim*innen zu Deutschland wird von mehreren, sich als Muslim*a bekennenden Autoren*innen publizistisch behandelt, so bspw. von Zafer Şenocak Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift 28 und natürlich wiederholt von Navid Kermani.29 Letzterer

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Hier vor allem die Erläuterungen zur Allensbach-Umfrage (2006) durch Heiner Bielefeld: Das Islambild in Deutschland. Zum öffentlichen Umgang mit der Angst vor dem Islam. In: Islamfeindlichkeit, S. 173–206; Yasemin Shooman: Einblick gewähren in die Welt der Muslime. ›Authentische Stimmen‹ und ›Kronzeugenschaft‹ in antimuslimischen Diskursen. In: Dominanzkultur reloaded. Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen. Hrsg. von Iman Attia, Swantje Köbsell, Nivedita Prasad. Bielefeld: transcript 2015, S. 47–58. Hierzu Iman Attia: Die »westliche Kultur« und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus. Bielefeld: transcript 2009. Thorsten G. Schneiders: Einleitung. In: Islamfeindlichkeit, S. 9–17, hier S. 10. Ebd. Vgl. Wolfgang Benz: Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Antisemitismus und ›Islamphobie‹. Eine Erörterung zum Vergleich und ein Plädoyer für das ›AntimuslimismusKonzept‹. In: Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 1 (2009/2010), S. 604–628. Vgl. auch Shooman: Einblick gewähren in die Welt der Muslime, S. 47. Navid Kermani: »Über die Grenzen – Jacques Mourad und die Liebe in Syrien«. In: Friedenspreis des deutschen Buchhandels. www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/445651/?mid=819312 (Zugriff: 25.07.2020). Zafer Şenocak: Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift. Hamburg: Körber-Stiftung 2011. Vgl. hierzu David N. Coury: Enlightenment Fundamentalism: Zafer Şenocak, Navid Kermani, and Multiculturalism in Germany Today. In: Ethical Approaches in Contemporary German

VI Navid Kermani: Große Liebe

äußert sich explizit hierzu in seinem Text Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime. So stellt er hier fest: In Westeuropa ist das andere, das man immer braucht, um sich selbst zu definieren, nicht nur, aber vor allem der Islam geworden. Es ist kein Zufall, daß die Debatte um den Multikulturalismus faktisch eine Debatte über Muslime ist – übrigens nicht mit den Muslimen, sondern hauptsächlich über sie.30 Yeșilada konstatiert hierzu, dass Künstler*innen bzw. Schriftsteller*innen auf die Islamfeindlichkeit explizit »verstärkt mit der (literarischen) Produktion islamischer Themen und Figurationen« reagierten und spricht sogar von einem »Muslim Turn«.31 Die literaturwissenschaftliche Forschung beschäftigt sich im Kontext des Themenfeldes ›Islam‹ mit Fragen interkultureller Konstellationen, »spezifisch interreligiöse Aspekte werden jedoch nach wie vor religionsscheu eher ausgeblendet« 32 , so Gellner: Dabei ist nicht wenigen Schriftstellerinnen, die sich auf ganz unterschiedliche Weise auf die öffentlich-medialen Islam-Diskurse beziehen, die bewusste Inszenierung wie die kritische Reflexion von Zugehörigkeit und religiös-kultureller Differenz, deren Verschränkungen, Widersprüche und Ambivalenzen ein zentrales Anliegen ihres Schreibens.33 Auch Kermanis Überlegungen finden dabei nicht nur Ausdruck in seinen essayistischen, sondern vor allem auch literarischen Publikationen, laut Jordan können die einen als »Ergänzungen und Gegenstück des anderen« verstanden werden.34

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Language Literature and Culture. Hrsg. von Emily Jeremiah, Frauke Matthes. Rochester, New York: Camden House 2013, S. 139–157, hier S. 139. Kermani: Wer ist Wir, S. 35. Karin E. Yeșilada: Gottes Krieger und Jungfrauen. Islam im Werk Feridun Zaimoǧlus. In: Islam in der deutschen und türkischen Literatur, S. 175–192, hier S. 176. Gellner: »Allah ist kein Ausländer«, S. 25. Als Ausnahmen gelten die Sammelbände Islam in der deutschen und türkischen Literatur (2012) und Encounters with Islam in German Literature and Culture (2009). Die Ausblendung der religiösen Themen sowie die Hervorhebung, dass die Auslandsgermanistik sich diesen bereits genähert habe, wurde bereits von Georg Langenhorst beobachtet: Vgl. Georg Langenhorst: Interreligiöses Lernen mit literarischen Texten? Theologisch-literarische Perspektiven – Beispiel Islam. In: Islam in der deutschen und türkischen Literatur, S. 109–135, hier S. 110. Gellner: »Allah ist kein Ausländer«, S. 26. Jim Jordan: Für eine kämpferische Toleranz. Der Islam in Navid Kermanis literarischen Schriften. In: Islam in der deutschen und türkischen Literatur, S. 247–257, hier S. 247.

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Große Liebe – narratologische und generische Aspekte Bereits die Frage, welcher Gattung zugehörig Große Liebe sein soll, wird in der Rezeption nicht eindeutig beantwortet. So spricht Sojitrawalla in der Wiener Zeitung von »eine[r] Art Tagebuch«35 , Gellner in seinem Aufsatz von einem »EssayRoman«36 und Hofmann und Patrut bezeichnen den Text in ihrer Einführung in die interkulturelle Literatur zurückhaltender als einen »autobiographisch inspirierte[n] Roman«37 . Wolfram Schütte kommt im CulturMag ebenfalls zu der Überzeugung, dass der Text ein »autobiographisch-reflexiver Essay-Roman« sei: »›Große Liebe‹ hat die Genrebezeichnung ›Roman‹, spielt aber mit dem Leser, indem das Buch gleich mehrfach suggeriert, eine sehr formbewusste autobiografische Reflexion zu sein.«38 Allerdings bleibt er bei dieser Aussage nicht stehen, sondern er versucht den autobiografischen Anteil mit Parallelen zur realen Person Kermanis zu belegen, die hier allerdings misslingen: »Der Erzähler teilt mit dem Autor dessen augenblickliche private Situation als alleinerziehender Vater eines fünfzehnjährigen Sohns, der bei ihm aufwächst, aber seinen Geburtstag z.B. lieber mit seinen Altersgenossen als mit dem Schriftstellervater verbringt.«39 Woher Schütte diese Information hat – Navid Kermani ist verheiratet und hat zwei Töchter40 –, ist nicht ersichtlich, er ist allerdings in der Rezeption nicht der einzige, der Kermani mit dem Ich-Erzähler gleichsetzt.41 Auf paratextueller Ebene wird dem Text die Gattung Roman zugeschrieben, wobei er, wie von mehreren Rezensent*innen und auch bereits von der Forschung ausgeführt, einen autobiografischen Anteil zu haben scheint. Allerdings bleibt die Frage, anhand welcher Kriterien diese autobiografische Nähe genauer festgemacht wird. Schütte hat dies über den familiären Stand des autodiegetischen Erzählers versucht. Betrachtet man den autodiegetischen Erzähler genauer, so steht fest, dass es sich um einen 45-jährigen, geschiedenen Mann handelt, der einen 15-jährigen Sohn hat, dessen Eltern nicht aus Deutschland kommen (vgl. GL 59), Iran das »Land seiner Lieblingslektüren« (GL 20) ist und dieser sich für islamische Mystik interessiert. Ferner hat der Ich-Erzähler als 15-jähriger Jugendlicher »im Frühjahr 1983« (GL 40) an einer Friedensdemonstration in Bonn teilgenommen (vgl. GL 20), bei

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Sojitrawalla: Kermani, Navid. Gellner: »Allah ist kein Ausländer« S. 31. Michael Hofmann, Iulia-Karin Patrut: Einführung in die interkulturelle Literatur. Darmstadt: WBG 2015, S. 129. Schütte: Es war einmal die erste große Liebe. Ebd. Vgl. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Navid Kermani. www.friedenspreis-desdeutschen-buchhandels.de/445722/?aid=970665 (Zugriff: 25.07.2020). Vgl. Sojitrawalla: Kermani, Navid, aber auch Braun: Navid Kermanis Roman Grosse Liebe. Hier wird die Motivation des Autors analog mit der des Erzählers gesetzt.

VI Navid Kermani: Große Liebe

der er von Polizisten weggetragen wurde, was laut Erzähler heute noch auf YouTube zu sehen sei (vgl. GL 27). Kermani ist zwar im Frühjahr 1983 ebenfalls 15 und interessiert sich als habilitierter Islamwissenschaftler für den Sufismus, hier hören allerdings auch schon die Gemeinsamkeiten auf. Ferner läuft die Versicherung des Erzählers, man könne seinen Protest heute noch beobachten, also eine Authentizitätsstrategie, ins Leere, da es auf YouTube unter den im Text angegebenen Stichpunkten »Hardthöhe«, »1983« und »Blockade« (ebd.) gerade kein Video gibt. Die geschiedene Ehe und der 15-jährige Sohn sind für den Erzähler hingegen besonders wichtig, immer wieder rekuriert er darauf, dass er damals im selben Alter war wie sein Sohn jetzt; er vergleicht diesen mit seinem früheren Ich, berichtet über den Geburtstag des Sohnes sowie dessen Lektüre und Meinung zum Erzählten (vgl. GL 23, 61, 96 u. 98). Der eigene Sohn ist für den Erzähler ein relevanter Bezug zum eigenen früheren Ich, dem er sich wiederum nicht mehr verbunden fühlt. Vielmehr benennt er explizit die Entfremdung gerade von diesem verliebten Jungen, die er auch literarisch umsetzt: Daß ich mich nie zuvor benommen hatte wie er, erklärt sich mit dem Alter. Aber auch seither ähnelte ich ihm nie wieder. Ich habe geliebt, wahrscheinlich tiefer, jedenfalls über einen sehr viel längeren Zeitraum hinweg geliebt, ich hab auch heftiger gekämpft, mehr verloren als er und mindestens körperlich die Verzückung umfassender erlebt. […] Dennoch erkenne ich mich in dem Jungen nicht wieder, ist er nicht ich und die Verfremdung durch die dritte Person mehr als literarischer Trick. (GL 16) Die Verbindungen zur realen Person sind also die Benennung eines Migrationshintergrundes, eine vermeintliche religiöse Zugehörigkeit und der Bezug zum Sufismus. Die hingegen zentrale textuelle Bedeutung der Familienkonstellation findet in der Realität keine Entsprechung. Somit kann von einer Identifizierung Kermanis mit dem Erzähler nicht die Rede sein, der Begriff der Autobiografie muss ebenfalls mit Feingefühl verwendet werden, da er durch die Assoziation des »autobiographischen Paktes« nach Lejeune explizit auf die Identität von Autor, Erzähler und Hauptfigur verweist.42 Lejeune definiert die Autobiografie als »rückblickender Be42

Es geht hierbei um die »nachweisbare Identität von Autor, Erzähler und Figur«. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung [1975]. Hrsg. von Günter Niggl. Darmstadt: WBG 1998, S. 214–257, hier S. 216. Zur Autobiografieforschung, die in den letzten Jahren, ausgehend von Frankreich, einen neuen Aufschwung erlebt hat, vgl. einführend Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. 2. aktual. und erw. Aufl. Stuttgart: Metzler 2005; zur aktuellen Entwicklung siehe die Bände: Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. 1: Grenzen der Identität und der Fiktionalität. Hrsg. von Ulrich Breuer, Beatrice Sandberg. München: iudicium 2006; Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. 2: Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung. Hrsg. von Christoph Parry, Edgar

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richt in Prosa, den eine wirkliche Person über ihr eigenes Dasein erstellt, wenn sie das Hauptgewicht auf ihr individuelles Leben, besonders auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt.«43 Zwar werden die einzelnen Aspekte für Autobiografien in der Forschung bei Weitem nicht so statisch verhandelt und es haben sich verschiedene Formen und Ausprägungen des autobiografischen Schreibens entwickelt,44 so ist doch offensichtlich, dass es de facto keinen referenziellen Pakt mit der Leserschaft gibt, wobei allerdings eine scheinbare Identität zwischen Autor, Figur und Erzähler aufgebaut wird, die der Erzähler mit wirklichkeitsreferenziellen ›Fakten‹, siehe YouTube-Video, zu unterlegen versucht. Es sind gerade solche Inszenierungen, das Spiel mit der Leseerwartung sowie die durchgehenden Reflexionen über die Erinnerung (welche die Wirklichkeit erst konstruiert), die diesem Text eine metafiktionale Ebene eröffnen. Mit dem Begriff des ›Autobiografischen‹ können sie allerdings nicht adäquat beschrieben werden, da der Text gerade nicht das individuelle Leben des Autors abbildet, sondern durch die autobiografische Assoziation einen Reflexionsraum über das Autobiografische als solches eröffnet – vielmehr also als eine Form der »Meta-Autobiographie« verstanden werden könnte. Der Begriff der »Meta-Autobiographie«45 stammt von Ansgar Nünning und wird von ihm synonym mit dem bekannteren, auf Serge Doubrovsky zurückgehenden Begriff der »Autofiktion«46 verwendet. MetaAutobiografien – im Gegensatz zu Autobiografien –, so Nünning, präsentieren [a]ls Folge ihrer prononcierten Selbstreflexivität […] nicht mehr eine kohärente Darstellung von Fakten und Informationen aus einem Leben, und sie schreiben auch keine konventionelle Lebensgeschichte. Vielmehr stellen sie oftmals mehrere autobiographische Geschichten einander gegenüber, die sich nicht nur zum Teil widersprechen, sondern die sich auch in hochgradig selbstreflexiver Weise

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Platen. München: iudicium 2007 sowie Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. 3: Entwicklungen, Kontexte und Grenzgänge. Hrsg. von Michael Grote, Beatrice Sandberg. München: iudicium 2009. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 215. Vgl. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Ansgar Nünning: Meta-Autobiographien. Gattungstypologische, narratologische und funktionsgeschichtliche Überlegungen zur Poetik und zum Wissen innovativer Autobiographien. In: Autobiographie. Eine interdisziplinäre Gattung zwischen Tradition und (post-)moderner Variation. Hrsg. von Uwe Baumann, Karl August Neuhausen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, S. 27–81. Autofiktion bei Doubrovsky meine »auf der einen Seite schonungslose Offenheit, aber auf der anderen Seite auch den bewussten Einsatz fiktionaler Momente, die verhindern sollen, dass das autobiographische Ich seinen Selbstimaginationen erliegt«. Martina WagnerEgelhaaf: Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie. Goethe – Barthes – Özdamar. In: Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. 1, S. 353–368, hier S. 360.

VI Navid Kermani: Große Liebe

und mit einer Vielzahl an intertextuellen und intermedialen Referenzen mit den Gattungskonventionen der Autobiographie auseinandersetzen.47 Dabei stellen meta-autobiografische Texte gerade »die Lücke zwischen Leben und Schreiben in den Vordergrund«, während Autobiographien »Leben und Schreiben bzw. Selbst (auto), Leben (bios) und Schreiben (graphia)« miteinander verbinden: »Meta-autobiographische Romane schaffen so eine Bewusstheit für eben jene Mechanismen, Schreibweisen und Techniken, mittels derer traditionelle Autobiographien das Vorhandensein dieser Lücke zu verschleiern suchen.«48 Für die Meta-Autobiografie ist also nach Nünning gerade nicht der ›autobiographische Pakt‹ charakteristisch, sondern eine Selbstreflexivität über Formen autobiografischen Schreibens, wobei die Selbstreflexivität sich auf »Identität, Selbst, Erinnerung, Erzählung, Referenz, Fiktion vs. Nicht-Fiktion und Repräsentation« beziehen kann.49 Für Große Liebe ist gerade diese Verschiebung relevant, da der Text als solcher aus der Erzählperspektive eine autobiografische Annäherung präsentiert, wobei er gerade den Konstruktionscharakter von Erinnerung herausstellt: »[M]eine Erinnerung ähnelt hier einem Film, aus dem ein Zensor die entscheidenden Szenen herausgeschnitten hat« (GL 4), »es ist das Gedächtnis, das die Zeit dehnt« (GL 7), »soweit ich mich erinnere – vielleicht dramatisiert das Gedächtnis hier wieder« (GL 8). Das Gedächtnis wird dabei personalisiert und als eigenständiger Akteur ermächtigt, der dafür verantwortlich ist, dass das Individuum keine ›richtigen‹ Erinnerungen hat.50 Der Versuch des Erzählers, seine Erinnerungen wiederzugeben, scheitert auch gerade daran, dass die gegebenen Informationen sich widersprechen. Es ist dem Erzähler zwar durchaus bewusst, dass die Erinnerung nicht der Vergangenheit entspricht, aber er bemerkt trotzdem nicht, dass das, woran er sich zu erinnern glaubt, ebenfalls unzuverlässig ist. Erkennen können dies nur die Lesenden, die stutzen, wenn ihnen der Erzähler nicht zusammenpassende Abläufe seiner Wiedergewinnungsversuche von Jutta präsentiert.51 47 48 49 50 51

Nünning: Meta-Autobiographien, S. 30f. Ebd. Ebd., S. 38. Vgl. auch GL 26, 30, 38 u. 90. So berichtet er anfangs, Jutta, die ›Schönste‹, habe ihn abrupt abgewiesen und nicht auf seine Anrufe reagiert; danach sei er lange krank gewesen und habe »die Schule versäumt[] wochenlang« (GL 8), später jedoch berichtet der Erzähler, dass der Junge »nach kurzer Krankheit wieder die Schule besuchen, keine zwei Monate später gerade noch die Klasse bestehen« sollte (GL 48). Fast wörtlich wird diese Aussage erneut auf GL 85 wiederholt. Zusätzlich erfährt man, dass der Junge auch bei ihr geklingelt habe (GL 80) und solange geblieben sein muss, bis die Hausbesetzer sogar Steine geworfen hätten (GL 86), weiter heißt es allerdings: »[S]eine Versuche, sie wiederzugewinnen, beschränkten sich nach einem einzigen Nachmittag unter ihrem Fenster darauf, in den Kneipen nach ihr Ausschau zu halten« (GL 88), am 95. Tag berichtet der Erzähler, dass einer der Hausbesetzer herunter gekommen sei, um mit ihm zu reden (GL 95) und danach sei der Junge erst gegangen (GL 98) und dies sei das Ende gewe-

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Dabei zeigt sich, dass dem Erzähler in der Wiedergabe seines Trennungsschmerzes nicht zu trauen ist, sollte dieser doch ursprünglich den Großteil des Berichts einnehmen (vgl. GL 29). Die Frage, die sich daraus ergibt, ist allerdings: Sind dies unbewusste inkorrekte Erinnerungen oder täuscht der Erzähler bewusst seine Leserschaft? Für die erste Annahme spricht, dass der Erzähler zwar versucht, die Liebesgeschichte chronologisch zu erzählen, dies allerdings nicht gelingt, immer wieder gibt es Prolepsen, Sprünge zu anderen Themen, Reflexionen über die Friedensbewegung und über die mystische Erfahrung – so weiß man von der Trennung, bevor überhaupt eine Beziehung geschildert wurde (vgl. GL 8), und am Ende berichtet der Erzähler auch nicht mehr ausführlich vom Trennungsschmerz. Diese inkonsistente Informationsvermittlung bestätigt auf narratologischer Ebene die Erinnerungsproblematisierung. Eine bewusste Täuschung der Leserschaft kann allerdings ebenfalls nicht vollkommen ausgeschlossen werden: Der Erzähler tritt in eine Kommunikation mit den fiktiven Leser*innen, wenn er diese immer wieder anspricht und sich dafür rechtfertigt, seinen eingangs formulierten Plan52 mit der Aufteilung der Seiten nicht einzuhalten oder mögliche Einwände der Leser*innen vorwegnimmt.53 So thematisiert er am 38. Tag Tagebücher, die er just wiedergefunden habe, und nimmt die impliziten Zweifel der Leser*innen vorweg, dass dies nicht stimmen könnte. Aufklären will er diese Zweifel, »weil die plötzliche Aufdeckung einer authentischen Quelle allzu konstruiert scheint, um für eine Geschichte konstruiert sein zu können« (GL 38); um dann seine Bemühungen wiederum zu negieren, da die Tagebücher keine relevanten Informationen enthielten – die Leser*innen müssen hier dem Erzähler vertrauen, da die Tagebücher nicht zitiert werden. Hier

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sen, »mit dem die Trennung, die Sehnsucht und das Verkümmern erst richtig begann« (ebd.). Aber wann genau wurden die Steine geworfen? Denn hier wird nur ein Nachmittag beschrieben und ein paar Tage vorher, am 92. Tag, hatte der Erzähler berichtet, dass der Junge sich doch mehr als ein Nachmittag um die Wiedergewinnung bemüht hatte: »Als er die Schönste am nächsten und übernächsten und ebenso am dritten Morgen vor der Schule abpaßte«, habe diese nicht reagiert und sich von den Hausbesetzern jeden Nachmittag entschuldigen lassen; woraufhin er »die Beherrschung« verlor und sich zu einer »Demütigung« hinreißen ließ: Während ihres Unterrichts ist er in ihrem Klassenzimmer auf den Tisch gestiegen und hat ihr laut seine Liebe gestanden (GL 92). Diese Darstellung passt wiederum nicht mit der Schilderung zusammen, nach der er sich nur einen Nachmittag lang um sie bemüht habe. »[I]ch habe einen Plan erstellt, der für jede Station der Liebe zehn Seiten vorsieht, zehn für die Begegnung, zehn fürs Kennenlernen, zehn für die erste Berührung, damit selbst eine so große Liebe in hundert Tagen erzählt wird; bis zur vierzigsten Seite würde ich von der Vereinigung erzählen und bis zur fünfzigsten von dem Zustand, den die Mystiker das ›Bleiben im Entwerden‹ nennen, so daß für die Verzweiflung wenigstens noch die Hälfte der Geschichte bleibt« (GL 29). Vgl. GL 3, 4, 29, 38, 48, 80, 82 u. 89.

VI Navid Kermani: Große Liebe

könnte noch zusätzlich der YouTube-Verweis angeführt werden, der auf die außerfiktionale Realität zu verweisen scheint, allerdings ins Leere läuft.54 Zuletzt der Brief von Jutta, in dem ihre Version der Ereignisse geschildert wird, der allerdings bis zum Schluss nicht mit der Leserschaft geteilt wird. Inwieweit diese Ungereimtheiten, die den gesamten Text durchziehen, bewusste Leser*innen-Täuschungsmanöver oder unbewusste Erinnerungstäuschungen sind, kann somit nicht eindeutig geklärt werden. Vielmehr scheint es sich hier um eine metatextuelle Erzählstrategie zu handeln, die ein unzuverlässiges Gedächtnis mit einem unzuverlässigen Erzählen in Beziehung setzt. Deutlich geworden ist, dass der Bericht des Erzählers weder in der Chronologie noch in seiner Planung noch in der Wiedergabe der Ereignisse stringent und linear ist. Vielmehr zeichnet er sich durch eine bewusst initiierte Konstruktion aus, den Plan, die Geschichte in 100 Tagen zu erzählen, wobei pro Tag eine Seite vorgesehen ist, die wiederum nicht physisch einer Seite entsprechen muss, sodass die paratextuelle Umsetzung bis zu vier Seiten ergibt, die dieselbe Nummer haben. Der Text reflektiert so autofiktional verschiedene Aspekte autobiografischen Schreibens: auf Figurenebene die Unzuverlässigkeit der Erinnerung und auf der Leser*innenebene, dass nicht einmal das Bewusstsein für die Unzuverlässigkeit diese verhindern kann; den textuellen Konstruktionscharakter sowie in der Lesekommunikation die Problematisierung des Erzählens selbst; die Entfremdung vom eigenen Selbst durch die Verwendung der dritten Person Singular für den Jungen, die gleichzeitig eine Metareflektion der gattungstypischen Konventionen einer Identität von Erzähler und Hauptfigur (und Autor) ist; durch die Thematisierung der mystischen Erfahrung die Unmöglichkeit der Unmittelbarkeit von sprachlicher Repräsentation; zuletzt eine Reflexion von Medialität in der Problematisierung der Bildung von Stereotypen durch Filme und Unterhaltungsliteratur, deren Erläuterung hier nicht erfolgen kann (vgl. GL 31). Bezeichnenderweise finden sich die hier aufgezählten metareflexiven Themen bei Nünning als »Formen der Selbstreflexivität« in Meta-Autobiografien, die durch eine veränderte Themenselektion, experimentelle Darstellungsweise und explizite Kommentare zu Gattungskonventionen dazu bei[tragen], herkömmliche Vorstellungen von – literarischen und wissenschaftlichen – Darstellungen eines Lebens einer Person und damit auch Annahmen, die mit dem Konzept des autobiographischen Paktes verknüpft sind, nachhaltig in Zweifel zu ziehen.55 54

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Weitere Beispiele sind die Aussage, er habe keine Drogen konsumiert und den Joint nur gepafft, während es später heißt, er habe Haschisch und Alkohol nicht vertragen (vgl. GL 90 u. 54); in der Gesellschaftsbeschreibung gibt er an, alle hätten ihre Eltern als »die Alten« bezeichnet, was er nicht getan habe, später jedoch findet sich genau diese Formulierung (vgl. GL 56 u. 62). Nünning: Meta-Autobiographien, S. 37.

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Religion als diskursive Formation

Große Liebe inszeniert und problematisiert den zweifelhaften Bericht eines Erzählers, der autobiografische Ähnlichkeiten mit dem Autor zu teilen scheint, andererseits wiederum in relevanten Themen diesem entgegengesetzt ist. Der Text bietet keine einfachen und eindeutigen Antworten an, dafür sind auf den verschiedenen Ebenen, sei es der Erinnerung, der Motivation des Erzählers, zu viele Unsicherheiten aufgezeigt worden. Zusätzlich kommt als weiterer gattungsspezifischer Aspekt die »Studie« (GL 66) über die mystische Erfahrung hinzu, zu der der Text abzudriften scheint, so der Erzähler selbst. Wie mystische Erfahrung, wie Religion in Große Liebe dargestellt wird, soll im Folgenden thematisiert werden.

VI.2

Islamische Mystik vs. westdeutsche Kleinstadt

In Große Liebe berichtet ein autodiegetischer, namenloser Erzähler im Verlauf von 100 Tagen von seiner großen Liebeserfahrung (zu einer vier Jahre älteren Schülerin). Dabei spielt der Text sowohl mit dem Wissen der Lesenden in Bezug auf den Autor als auch mit der Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Erinnerung und Autorschaft, hier über die Frage, wie viel ›Macht‹ ein Autor über den eigenen Text haben kann, wenn der eingangs formulierte Plan plötzlich nicht mehr aufzugehen scheint. Dabei wird an keiner Stelle des Textes explizit erwähnt, dass der Junge einen muslimischen Hintergrund aufweist. Die Lesenden nehmen dies (möglicherweise) automatisch an, da das erzählende Ich persische Dichtung liest, nicht aus Deutschland stammt, sich mit islamischer Mystik beschäftigt und von sich sagt: »Ich hingegen bin nicht einmal über die Straße gefahren, welche die Tradition pflastert« (GL 48). Ferner ist der Text bereits von der Kritik unter autobiografischen Aspekten gelesen worden, von daher ist die Annahme, der Junge und der Erwachsene seien Muslime, besonders als eine automatisierte Transferleistung der Leser*innen zu sehen, weniger eine explizite Aussage des Textes. Im Roman ist zwar die Rede davon, dass die Familie aus dem Iran eingewandert sei (vgl. GL 59) und Jutta, seine große Liebe, ihm zuliebe nur Rindfleisch für die Bolognesesauce kauft (vgl. GL 70) – dass die Familie muslimisch ist, ist nichtsdestotrotz ein Gedankenschluss, den die Leser*innen ziehen und nicht der Text konstatiert. Bezeichnenderweise sagt der Text auch hier nicht explizit, dass die Eltern aus dem Iran kommen, sondern er gibt den Hinweis, dass sie aus dem »Land seiner Lieblingslektüren« (GL 20 u. 56) stammen und eingewandert sind (vgl. GL 59). Dass mit diesem Land Iran gemeint ist, wird durch den Bezug zur »Revolution im Land seiner Lieblingslektüren«, die vorher stattgefunden hatte und sich auf die Revolution von 1979 bezieht, impliziert. Auch die Essensgewohnheiten werden nicht ausführlich erläutert, sondern hier heißt es, »daß es zwei Packungen Hackfleisch waren, das sie ihm zuliebe vom Rind nahm« (GL 70). Die Annahme, dass es sich bei der Familie um Muslime

VI Navid Kermani: Große Liebe

handeln müsste, wird durch diese Andeutungen evoziert, aber nie explizit ausgesprochen. Zudem scheint der mögliche muslimische Hintergrund für den Jungen keine Rolle zu spielen. Der Text verrät nicht, ob der Junge sich überhaupt als solcher sieht oder so erzogen wird. Auch erfährt man nicht, ob er institutionell in der islamischen Tradition geschult wird. Was hingegen mehrfach hervorgehoben wird, ist die moralisch-gesellschaftliche Enge, die die Kleinstadt auszeichnet, in der er aufwächst: Hinzu kam, daß die Stadt, in der wir lebten, nicht nur klein, sondern von einer besonders strikten Auslegung des Protestantismus geprägt war und daß in den meisten Elternhäusern mindestens so strenge Moralvorstellungen herrschten wie vor der sexuellen Revolution im restlichen Land. (GL 42)56 Wissen von Religion liegt in Bezug auf den Heranwachsenden marginal nur über das Christentum vor, welches hier konkret protestantisch ist und normalisiert wahrgenommen wird. Zudem muss beachtet werden, dass die Beschreibungen über die Verhaltensnormen vor allem retrospektiv vom erwachsenen Ich-Erzähler vorgenommen werden, dieser demnach die gesellschaftliche Prägung reflektiert und beurteilt, nicht der im Text als verliebt dargestellte Junge. Diesem sind zwar gesellschaftliche Normen bewusst, das zeigt die Episode zwischen ihm und Jutta, als die beiden öffentlich als Paar einkaufen gehen (vgl. GL 70), allerdings stellen die Reflexionen über die christlich-protestantische Prägung der Kleinstadt vor allem die Überlegungen des älteren Erzählers dar. Dabei beziehen sich die gesellschaftlichen Normen nicht nur auf die Sexualmoral, sondern auch auf traditionelle Geschlechterrollen: Zu Hause spülte grundsätzlich die Mutter, oder wenn, dann half die Schwester aus, niemals ein Mann. So waren die Verhältnisse nicht nur bei ihnen, die aus einem anderen Land stammten, sondern bei den Klassenkameraden ebenso, deren Mütter sämtlich den Haushalt besorgten. Ich vermag nicht zu beurteilen, ob die strikt patriarchalische Aufteilung der Aufgaben in ganz Westdeutschland üblich oder den besonderen religiösen Verhältnissen seiner Stadt geschuldet war; vielleicht hatte sie auch mit der bürgerlichen Schicht zu tun, der fast alle Gymnasiasten angehörten. (GL 59) Das erzählende Ich kann retrospektiv keinen bestimmten Grund für die strikte Zuweisung der Rollenverhältnisse festmachen, er sieht sie vor allem explizit nicht in einer religiösen bzw. kulturellen Differenz. Die Darstellung der Normalisierung, 56

Vgl. auch: »pietistisch geprägte Stadt« (GL 56 u. 78), »religiöse Verhältnisse seiner Stadt« (GL 59), Friedensbewegung trifft sich in der »Evangelischen Studentengemeinde« und »strikter Protestantismus ihrer Stadt« (GL 65).

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ja der Normativität dieser Rollenverhältnisse zeigt sich in der Reaktion des Jungen, wenn er mit einem Gegenmodell in Berührung kommt: »Nur muß man sich diesen Hintergrund dazudenken, um die Wucht zu begreifen, mit der hinterm Bahnhof die Ordnung der Geschlechter durcheinandergewirbelt wurde« (ebd.). Der Heranwachsende kommt durch Jutta in Kontakt mit einer Gruppe von Hausbesetzern, die in einer Wohnung in einem Gebäude hinter dem Bahnhof leben. Hier wohnen die »Widerständler bei Rotwein und Marihuana, alle sieben nochmal älter als die Schönste« (GL 39). Deren Leben bzw. »die menschlichen Verhältnisse« erscheinen dem Jungen in dieser WG als »ideal« (GL 71) und werden vom Heranwachsenden verklärt: So berichtet er, dass alle freundlich zueinander waren, man vermied Aussagesätze, drückte Sympathie durch körperliche Nähe aus und die eigene Meinung wurde als subjektive stets gekennzeichnet. Besonders wichtig war für den Jungen, dass die Widerständler ihn trotz seines Alters ernst nahmen, sich aber nichtsdestotrotz um ihn sorgten und ihn von den dort konsumierten Drogen fernhielten (vgl. ebd.). Zwar ist dem älteren Ich bewusst, dass die Leser*innen die Darstellung der sanftmütigen Besetzer belächeln, das nicht gesellschaftskonforme Verhalten der Gruppe wird allerdings explizit herausgestellt. Relativiert wird allerdings auch diese Darstellung dadurch, dass der Erzähler die Sanftmut am Schluss auf den Drogenkonsum zurückführt, die Umwerfung der Geschlechterverhältnisse darauf, dass auch die Frauen sich nicht an der Hausarbeit beteiligten und dass die Auslebung der Sexualität dort »weit geordneter« (GL 81) ablief, als es Juttas Eltern befürchteten.57 Der Text gibt vor allem mit der Schilderung dieser Gruppe und der Friedensbewegung aus der Perspektive des Jungen einen Einblick in die Gesellschaft der frühen 1980er Jahre und die Nostalgie, die der erwachsene Erzähler mit dieser Zeit verbindet: Eine Zeit, in der jeder, der eine andere Meinung über den sogenannten Doppelbeschluß, insgesamt über die atomare Aufrüstung oder sei es nur über die geplante Stadtautobahn vertrat, automatisch ein Faschist [war]; ja man hätte den Faschismus dadurch definieren können, daß seine Anhänger anderer Meinung waren als die jungen und nicht mehr so jungen Leute, die sich in der Evangelischen Studentengemeinde trafen oder hinterm Bahnhof ein Haus besetzten. (GL 56) In der Erinnerung des Erwachsenen wird diese Zeit im Roman wieder ins Leben gerufen, er bedauert, dass sie nicht im kollektiven Gedächtnis überdauert habe und dass die Friedensbewegung schnell ein Ende fand, als der Doppelbeschluss umgesetzt wurde. Was der Erzähler aber vor allem an dieser Zeit positiv hervorheben möchte, ist, dass »sie eines nicht war, nämlich cool und ironisch« und dass hier 57

In Große Liebe wird für Gruppen das generische Maskulinum benutzt. Dies wird für die Analyse der Romaninhalte aus Gründen der Lesbarkeit und Zitation beibehalten.

VI Navid Kermani: Große Liebe

gerade »Gutmeinen, die Sanftmut, der Altruismus und selbst die Schwäche als Tugend« galten und dass dies seitdem in Deutschland nicht mehr der Fall gewesen sei (GL 41). Indem der Erzähler diese Zeit und seine Wahrnehmung davon literarisiert, nimmt er sie in das familiäre und kollektive Gedächtnis der fiktiven Welt auf, und sie wird auch von seinem Sohn geteilt und rezipiert. Sie wird aber auch im kollektiven und (möglicherweise) kulturellen Gedächtnis der gegenwärtigen Zeit aktualisiert, indem Kermani diese Zeit der westdeutschen Friedensbewegung literarisiert und der gegenwärtigen Leseöffentlichkeit vermittelt.

Das erzählende Ich und die islamische Mystik Neben dieser westdeutschen Periode wird aber auch die islamische Mystik bzw. der Sufismus in das kollektive Gedächtnis der Leser*innen eingespeist – und zwar durch eine Assoziation mit weltlicher Liebe. Ausgehend von der Lektüre einer Anekdote des persischen Dichters Attar, hat der Erzähler seine erste große Liebe in den Kontext der islamischen Mystik gestellt. Dabei geht es ihm um die Frage, ob seine damalige jugendliche Erfahrung, der »Wunsch, sich loszuwerden«, eine Ähnlichkeit mit dem »mystischen Weg« aufweise und daher nicht banal zu nennen sei (GL 32). Der Bezug, den der Erzähler herstellt zwischen diesen beiden Erfahrungskontexten, ist der über emotionale und körperliche Liebe, welche mit mystischer Liebe zu Gott assoziiert wird.58 In der Regel wird islamische Mystik synonym als Sufismus bezeichnet,59 wobei Seesemann dies als ein Missverständnis ausweist, das »irreführend« sei, da es verschiedene Formen der Mystik gäbe. Der Begriff habe sich im Verlauf von Jahrhunderten »als dominante Richtung herauskristallisiert«, diene mittlerweile »als Sammelbegriff für eine Reihe unterschiedlicher mystischer Bewegungen innerhalb des Islams – und zwar des Islams sunnitischer Prägung. Im schiitischen Islam gibt es ebenfalls mystische Strömungen, doch diese wurden bis ins 20. Jahrhundert nicht als Sufismus bezeichnet« (bspw. der Derwischorden).60 Die etymologische Begriffsherleitung hat sich in der Forschung als ein langwieriges Streitthema erwiesen. So wurde Sufismus u.a. auf suf Wolle, tasawuff auf eigentlich griech. »Gymonsophist« (in etwa »›der nackte Weise‹«) oder as-Suffa (»Vorhalle in der Prophetenmoschee«) zurückgeführt.61 Da die Herleitung über das griechische sophia nicht haltbar gewesen ist, hat sich in der Forschung mittlerweile der Bezug auf suf 58

59 60 61

Eine Analyse der Liebesdarstellung findet sich bei Frauke Matthes: Islam in the West. Perceptions and Self-Perceptions of Muslims in Navid Kermaniʼs Kurzmitteilung. In: German Life and Letters 64/2 (2011), S. 305–316. Vgl. Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam, S. 165. Rüdiger Seesemann: Sufismus und Volksreligion. In: Islam. Einheit und Vielfalt einer Weltreligion. Hrsg. von Rainer Brunner. Stuttgart: Kohlhammer 2016, S. 294–309, hier S. 294. Driss Tabaalite: Islamische Mystik bei Barbara Frischmuth. Untersuchung zum Konzept einer »geistigen Archäologie des Gemeinsamen«. Hamburg: Dr. Kovač 2012, S. 13ff.

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etabliert.62 Wie die Wortbedeutung, so sind auch die Ursprünge des Sufismus kontrovers diskutiert worden. So hat man mögliche Einflüsse auf den Sufismus aus der indischen, persischen, griechischen und auch christlichen Umwelt vermutet und mehr oder weniger erfolgreich verteidigen können.63 Grundsätzlich geht man davon aus, dass Einflüsse aus diesen Bereichen vorhanden seien – indische mystische Formen, christliche Askese, Neuplatonismus, um nur einige zu nennen; vor allem ein griechischer Einfluss sei unbestritten. Allerdings könne man die genauen Ursprünge dieser Einflüsse heute nicht bestimmen, da der Sufismus sich über die Zeit mit den jeweiligen kulturellen Bedingungen verwoben und weiterentwickelt habe,64 die Entwicklung des Sufismus aus dem Islam heraus gilt hingegen als gesichert.65 Sufismus könne man »als eine Form der Spiritualität beschreiben, deren Anliegen es ist, den Gläubigen näher zu Gott zu bringen.«66 Um diese Gottesnähe zu erreichen, müsse man ein gottgefälliges Leben führen, die Gebote befolgen, vor allem aber eine »mystische Gotteserkenntnis« erlangen. Es handelt sich hierbei nicht um eine Form von Erkenntnis oder Wissen, das man rational erwerben könne, sondern nur durch subjektive Erfahrung:67 ʼIrfān, »das nicht-intellektuelle Wissen« bzw. »authentische Erkenntnisform« als unmittelbare Gotteserkenntnis,68 das über ein reines Erfahren, Verstehen hinausgeht: Der Erfan setzt eine besondere Art von Erkenntnis voraus, die […] durch Intuition und innere Vernunft [gewonnen werden kann]. Diese Intuition des Herzens und das innere Begreifen ist eine unmittelbare Erkenntnis, die sich in die Erfahrungswelt des Individuums ergießt.69 Diese Erkenntnis wiederum steht im Gegensatz zur Buchgelehrsamkeit und wird präferiert, andererseits haben Sufis über die Jahrhunderte eine Menge gelehrte Literatur hinterlassen, in der sie die Formen der mystischen Erfahrung kategorisierten und die Anleitung, wie man sie erleben kann, formulierten.70

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Vgl. Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam, S. 31. Vgl. hierzu zusammenfassend bei Tabaalite: Islamische Mystik, S. 26ff. Vgl. ebd., S. 39ff. Vgl. Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam, S. 25; Karl Prenner: Der Koran als einzige Botschaft Gottes an die Menschen. Der Islam zwischen der Scharia und mystischer Interpretation. In: Spiritualität im Gespräch der Religionen II. Hrsg. von Petrus Bsteh, Brigitte Proksch. Münster: LIT 2010, S. 42–53, hier S. 50; vgl. auch Homayoun Hemmati: Theoretische und praktische Grundlagen des islamischen Erfan. In: Spektrum Iran 28/1 (2015), S. 13–25, hier S. 15ff. Seesemann: Sufismus und Volksreligion, S. 295. Vgl. ebd.; auch Tabaalite: Islamische Mystik, S. 61. Ebd. Hemmati: Theoretische und praktische Grundlagen des Erfan, S. 20. Vgl. Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam, S. 36.

VI Navid Kermani: Große Liebe

Die unmittelbare Erkenntnis sei dabei »das ultimative Ziel des mystischen Pfades« und daher auch nur wenigen zugänglich: Die unio mystica, die Vereinigung des Suchenden mit Gott, setzt voraus, dass man seine Triebseele (nafs) erfolgreich bekämpft hat. Die Ausschaltung des Ego – eine andere mögliche Übersetzung des Begriffs nafs – macht den Weg frei für das Entwerden in Gott (fanāʾ). In diesem temporären Zustand nimmt man nicht mehr sich selbst und auch nicht die materielle Welt, sondern nur noch Gott wahr; so erlangt man Gotteserkenntnis.71 Diese Form der Auflösung gilt als charakteristisch für den Sufismus, wo die Suchenden eine bestimmte Stufe, nämlich die der Selbstüberwindung, erreichen und »nur mehr die absolute Wahrheit, nämlich Gott« spüren.72 Der eigene Wille löst sich im Willen des Absoluten auf, »so dass der Sufi den Zustand des Ur-Anfangs erreichen soll, in dem Gott alleine war.«73 Weitere relevante Aspekte des Wegs seien die »Liebe (zum Meister, zum Propheten, zu Gott) und Dienst für den Meister, die Ordensgemeinschaft oder den Propheten.«74 Die Gottesliebe hätten dabei ohne Ausnahme alle Sufis thematisiert, wobei der Ursprung auf die Sufistin und Asketin Rābiʿa al-ʿAdawiyya al-Qaysiyya (gest. 801) zurückgeführt wird.75 Die Gottesliebe sei dabei in Bezug auf Gott als Eigenschaft, auf den Menschen als Zustand zu verstehen, der von den Sufis gesucht wird, wobei verschiedene Stationen durchlaufen und verschiedene Stufen erreicht werden müssen, und zwar bis am Ende »die letzte Stufe der Einheit mit dem Geliebten« erreicht ist.76 War der frühe Sufismus vor allem durch eine individuelle Ausprägung gekennzeichnet, haben sich die bis heute üblichen und typischen Orden bzw. Bruderschaften »als institutionelle Ausdrucksform der islamischen Mystik«77 erst ab dem 12. Jahrhundert entwickelt. Dabei bilden die Sufi-Orden keine festen, durchstrukturierten Gemeinschaften, sondern eher verschiedenste Formen einer 71 72 73

74 75 76

77

Seesemann: Sufismus und Volksreligion, S. 295f. Vgl. auch Tabaalite Islamische Mystik, S. 61, bezüglich der Auflösung des Ichs. Ebd. Ebd. Tabaalite verweist allgemein darauf, dass es bestimmte »Anliegen und Haupteigenschaften [gibt], durch die sich alle islamischen Mystiker/innen auszeichnen […]: az-zuhd (›Askese‹), maḥabbatullā (›Gottesliebe‹), adab (›gutes Benehmen‹), al-fanāʼ fī llāh (›Auflösung in die absolute Wahrheit‹), ʼIrfān (›Erkenntnis‹), aṭ-ṭumaʼnīna wa-sa ada (›Beruhigung und Glückseligkeit)« (ebd., S. 52). Seesemann: Sufismus und Volksreligion, S. 296. Tabaalite: Islamische Mystik, S. 55. Ebd., S. 54f. Jesus von Nazareth gilt in diesem Kontext als »de[r] wahre[] Gottesliebende[] par exellence«, allerdings seien gegen die Gottesliebe vor allem von orthodoxer Perspektive Einwände erhoben worden (ebd., S. 57). Seesemann: Sufismus und Volksreligion, S. 294.

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Teilhabe bzw. Mitgliedschaft und sollten mehr als »amorphe Gebilde« verstanden werden, die sich weniger über Institutionalisierung als Lehren und Praktiken auszeichnen.78 Ferner sei Orden ein eher christlich konnotiertes Wort: »Das arabische Wort, das als ›Orden‹ übersetzt wird, ist ṭarīqa und bedeutet sowohl ›Pfad‹ als auch ›Methode‹«, womit sowohl eine »spirituelle Reise auf dem mystischen Pfad als auch die spezifischen Techniken, die den Reisenden voranbringen« bezeichnet werden.79 Dabei differenziert Seesemann, dass nicht alle, die sich im Bezugsfeld eines Ordens befinden, den gleichen Weg gehen, so gebe es auf der einen Seite eine Hierarchie innerhalb der Orden, aber auch einfach assoziierte Personen, die keine Mitglieder sind, sondern nur die Nähe zum Orden bzw. Meister suchen.80 Tabaalite konkretisiert auf der anderen Seite, dass die Gruppenidentität der Sufis auf dem Aspekt des gemeinsamen Wegs liegt, nämlich die Suche nach der Gotteserkenntnis, die von einem bereits Kennenden angeleitet wird und verschiedene Stadien aufweist. Sufismus sei daher »vor allem eine Praxis, nicht aber eine theoretische Auffassung«, ein »praxisorientierter Weg«, der mit einer bestimmten »moralischen Praxis« verbunden ist. 81 Die verschiedenen Sufi-Orden sind »komplexe soziale Gebilde«, die sich in diversen Aspekten, bspw. der Kleidung, den Rezitationstexten, verschiedenen Typen von Anhängern, aber auch Anführern unterscheiden können, was zu ihrer heterogenen Bewertung geführt habe: auf der einen Seite als Volksreligion, die dem gesetzestreuen Islam gegenüberstehe, auf der anderen als »intellektuelle Tradition«, die »fest im Boden der Orthodoxie verwurzelt« ist.82 Sufismus ist in den einzelnen muslimischen Kulturen und Gesellschaften sehr unterschiedlich ausgeprägt (arabische, persische, türkische u.a. Formen) […]. Grundsätzlich bekundet aber auch die islamische Mystik die Treue zur Scharia, sodass diese zu einem Wesenselement des mystischen Pfades werden konnte. Freilich hat es daneben auch jene heterodoxen Orden und Bruderschaften (Derwische), […], gegeben, die sich als außerhalb der Scharia stehend bezeichneten und dadurch den Sufismus in Verruf brachten, vor allem auch weil sie mit Musik und Tanz zur Ekstase gelangen wollten; beides waren daher Praktiken, die der Orthodoxie suspekt waren.83 Prenner verweist hier darauf, dass eine reine Lesart des Sufismus als orthodoxieferne Gruppierungen, was er kritisch als Missverständnis und Zuschreibung hervorhebt, den historischen Sachverhalt verdecke. Sufismus sollte nicht als losgelöst 78 79 80 81 82 83

Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 296f. Tabaalite: Islamische Mystik, S. 50 u. 59. Seesemann: Sufismus und Volksreligion, S. 297. Prenner: Der Koran als einzige Botschaft, S. 51.

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von religiösen Gesetzen des Islam, als eine Form des »›guten‹ Islam«84 , gelesen werden, sondern bekunde gerade »die Treue zum Gesetzesislam«:85 Die Geschichte des Sufismus […], der islamischen Mystik, ist nicht isoliert zu sehen von der allgemeinen politischen und ökonomischen Entwicklung sowie jener der islamischen Glaubenslehre; sie ist vielmehr eingebettet in diese und ein Teil davon. […]. Die Sufis haben sich grundsätzlich immer als der muslimischen Gemeinde zugehörig verstanden. Ihr Blick auf das Wesentliche hat sie aber ermächtigt, dass sie gegenüber gewissen Strömungen der Umma als Mahner und als Korrektive auftreten können.86 Dabei habe die Forschung vor allem die Schrifttradition betrachtet, während der Sufismus des historischen Kontextes und der gesellschaftlichen Bedingungen entleert (»›Europäisierung‹ der islamischen Mystik«87 ) und die individuellen Gottessuchenden als eremitähnliche Mystiker in den Mittelpunkt gerückt wurden – für Penner sind das »Vorstellungen, die stark christlichen Einfluss« aufweisen.88 Die neueren Forschungsergebnisse hingegen konnten zeigen, dass die Annahme einer rein auf Schrift zentrierten islamischen Mystik ein historischer Fehlschluss war, und dass gerade die Einzelnen, aber auch die Gemeinschaften gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich relevant waren: »Verantwortung (Veränderung, Verbesserung bestehender Verhältnisse) für die sichtbare Welt gehört nach islamischer Sicht genuin auch zur sufischen Spiritualität.«89 In Große Liebe werden islamische Mystik und Sufismus literarisch verarbeitet. Der Erzähler berichtet über die Auflösung des Ichs (vgl. GL 66), über die verschiedenen Stufen, die Askese, das Studium der mystischen Texte und die Übung, die es braucht, um eine mystische Erfahrung machen zu können (vgl. ebd.). Das Wissen des Erzählers über die islamische Mystik ist dabei Gelehrten- bzw. Buchwissen. Er referiert auf tradierte mystische Texte, so von Ibn ʿArabī (Muhyī d-Dīn Ibn ʿArabī) 90, den er wiederholt, prominent und zahlreich zitiert (vgl. GL 9, 13, 16, 17, 18. 20, 21 etc.). Auch zeugt die Kenntnis diverser anderer Texte, so der persischen Dichtung, über die häufig mystisches Wissen Verbreitung fand, oder religionswissenschaftlicher Texte (R.C. Zaehner; vgl. GL 82) und christlicher Mystik (GL 78 u. 81) von einer über das private Interesse hinausgehenden Beschäftigung des Erzählers

84 85 86 87 88 89 90

Seesemann: Sufismus und Volksreligion, S. 296. Tabaalite: Islamische Mystik, S. 69. Prenner: Der Koran als einzige Botschaft, S. 49. Ebd., S. 50. Ebd. Ebd. Einführend zu Ibn ʿArabī: William Chittick: Imaginal Worlds. Ibn al-ʿArabi and the Problem of Religious Diversity. Albany, NY: State University of New York Press 1994.

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mit diesem Thema, worauf auch die Selbstbezeichnung des Textes als »Studie« hindeutet: »Richtig, die Geschichte gerät immer mehr zur Studie, das sehe ich selbst und bitte den Leser um Vergebung, da ich nun einmal viel dringlicher zu begreifen suche – schließlich ist es meine Geschichte, nicht seine!« (GL 82) Auch werden etymologische Erläuterungen vorgenommen sowie Bezüge zum Begriff des Islam hergestellt (GL 66). Ferner verweisen die verschiedenen Textsorten und die unterschiedlichen Themen, über die die Mystiker sprechen, auf verschiedene Formen der islamischen Mystik, die sich über einen langen Zeitraum entwickelt haben: Die islamische Mystik als homogenes Gebilde wird also relativiert. Die hier dargestellte islamische Mystik greift dabei auf einen Wissensbestand zurück, der sich sowohl aus Dichtung als auch gelehrten Traktaten zusammensetzt, überliefert ist und als Wissen rezipiert wird, vom Erzähler zumindest. Dieser bezieht die Aussagen der Texte auf seine eigene Situation bzw. sein Vorhaben, wenn er Ibn ʿArabī zitiert, der die Heftigkeit, Kompromißlosigikeit und Kopflosigkeit der jugendlichen Verliebtheit – ausdrücklich nur diese! – als vergleichbar, als verwandt, als nicht nur den Symptomen nach übereinstimmend mit dem ›Ertrinken‹ (istighrāq) des Mystikers in der alles überflutenden Liebe des Göttlichen bezeichnete […]. (GL 13) Dabei wird im Roman eindeutig zwischen weltlichen und mystischen bzw. religiösen Erfahrungen unterschieden sowie zwischen Erfahrungen, die sich auf Gott beziehen und anderen, bei denen es um einen reinen Ich-Verlust geht: Der Himmel auf Erden ist es, wo es dem anderen, dem oder der Geliebten so ergeht, wo beide nicht mehr wollen, nur noch gewollt werden – aber: von wem? Genau hier ist die Stelle, wo in der Mystik von Gott und in neueren Literaturen von der Auflösung der Personalität gesprochen wird, […], bei Freud das ozeanische Gefühl […]. (GL 66) Deutlich wird hier eine Grenze gezogen zwischen mystischen Erfahrungen, die auch nicht näher bestimmt, sondern interreligiös geltend stehen gelassen werden, und einer Erfahrung, die sich nicht auf göttliche Transzendenz beruft. Mit neueren Literaturen wird hier implizit auf den Spiritualitätstrend angespielt. Dabei mutet der Verweis auf »neuere Literaturen« eher despektierlich an, unterstützt durch die Verwendung des Plurals und die fehlende Konkretisierung durch eine Namensbestimmung. Der Text thematisiert Religionen nicht als Institutionen bzw. den Islam nicht als eine institutionalisierte Religion: So, wie man beim Heranwachsenden nicht explizit auf eine muslimische Zugehörigkeit und praktische Ausübung schließen kann, ist dies im Fall des Erwachsenen ebenfalls nicht möglich. Die Darstellung der Mystik hingegen lässt eine teilweise ›institutionalisierte‹ Form erahnen, die neben dem bereits erwähnten, kanonischen Textbestand auch »Übung, Körperkontrol-

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le, wiederholte Praxis […], beständiges Gottesgedenken, Rituale, das Studium von Büchern unterschiedlichster Wissensgebiete, überhaupt die Erfahrung der Welt und persönliche Reife« erfordere (ebd.). Dies ist die Voraussetzung für die religiöse Erfahrung, eine »Erlösung« erreichen zu können, »eine bewußt herbeigeführte Sprengung der Urteilskraft«, die »der Sprache entzog[en]« ist, bei der der »Verstand still[gestellt]« ist, und obwohl »er den Vorgang doch in jeder Zehntelsekunde selbst steuert, nimmt er weder links noch rechts etwas wahr, wird sozusagen eins mit der Situation und vergißt sich soweit, daß er nicht mehr Ich und Du unterscheidet« (ebd.). Diese Erfahrung, ja der Weg auf dem mystischen Pfad, ist damit kontrolliert und »kategorisierbar« und die Mystiker haben »ein exaktes, auch psychologisch ausgefeiltes System der Standplätze und Zustände aufstellen können« (GL 38). Angeleitet wird man auf diesem Weg dabei von einem »Führer« (GL 46). Eine weitere Abgrenzung, auf die der Erzähler explizit eingehen möchte, ist die zwischen mystischer Erfahrung und einer durch Drogenkonsum herbeigeführten. Dabei referiert er auf Aldous Huxley, der in Pforten der Erkenntnis »den Drogenrausch zur Kommunion« erklärte (GL 82). Der Erzähler betont hier, dass die empfundene Auflösung der eigenen Subjektivität (›ozeanisches Gefühl‹), die ich nicht mehr imitieren muß, weil ich die Dröhnung längst aus eigener Anschauung kenne, […] sich grundlegend von der Erfahrung Gottes [unterscheidet], soweit sie von christlichen oder islamischen Mystikern bezeugt wird […]. (GL 82) Um seine Aussage zu belegen, zitiert der Erzähler den »Mystikforscher« (ebd.) Richard C. Zaehner, der eine Untersuchung, bezeichnenderweise mit Huxleys Behauptung als zu widerlegendem Aufhänger, über »außergewöhnliche Erfahrungen« verfasst hat.91 Er referiert Zaehners Aussagen, dass die von Huxley beschriebene Erfahrung nicht ungewöhnlich, sondern bereits für ästhetische und/oder manische Erfahrungen bezeugt sei, der Unterschied zur mystischen Erfahrung hingegen sei »die Auflösung des eigenen Ichs in einer anderen, allumfassenden Subjektivität« (ebd.).92 Anschließend nutzt der Erzähler erneut Zaehners Expertise, um die sexuelle Erfahrung als einen geeigneten Vergleich für die mystische zu bestätigen. Dieses Analogon hatte der Erzähler bereits über Ibn ʿArabī etabliert, mit Zaehner wird hier eine weitere Legitimationsquelle für das Vorhaben des Erzählers herangezogen, die weltliche Liebe mit der mystischen zu vergleichen. Interessant ist dabei die vorgenommene Argumentation, die sich in beiden Fällen auf reale, faktuale Texte und im Fall von Zaehner auf eine reale wissenschaftliche Autorität beruft, was den Text erneut eher wie eine wissenschaftliche »Studie«

91 92

Richard C. Zaehner: Mystik. Religiös und profan. Eine Untersuchung über verschiedene Arten von außergewöhnlicher Erfahrung. Stuttgart: Klett 1960. Zaehner stellt dabei eine Aufteilung auf: Naturmystik, monistische Mystik und theistische Mystik, welche als höchste gewertet wird. Vgl. Zaehner: Mystik, S. 52f.

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erscheinen lässt als einen fiktionalen Text. Gerade diese Vermischung der grundlegenden Grenzen von fiktionaler und faktualer Literatur stellt die traditionelle generische Aufteilung von Textsorten in fiktionale und faktuale infrage. Denn der Anschein der ›Studie‹, das Literaturverzeichnis am Buchende und die permanenten Bezüge auf Sekundärliteratur, um eine eigene These zu stützen – wissenschaftliche Praktiken also –, sind hier eng verwoben mit einer fiktionalen Erzählung, die wiederum bereits als autofiktionale charakterisiert wurde. Die Kategorisierung von Wissen, auch in Bezug auf Literatur, wird hier als diskursive Zuschreibung, als Wissenschaftspraxis offengelegt, die das Wissen erst generiert, von dem sie spricht. Schaut man sich die Aussagen über die islamische Mystik an, die hier in das kollektive Gedächtnis eingespeist werden, so findet sich ein eklatanter Widerspruch zwischen individueller Erfahrung und subjektivem Erlebnis auf der einen Seite, der Lesart der Mystik mit einer doktrinähnlichen Struktur auf der anderen. Auch hier stellt die Setzung einer Transzendenz den verbindenden Knotenpunkt dar, wie der Bezug auf den Koran, die Diskussion um die Namen Gottes (vgl. GL 36) und die Bedeutung von Islam als Hingabe an Gott (vgl. GL 66) aufzeigen. Verbunden mit der Anerkennung des Göttlichen ist die Anerkennung der göttlichen Liebe, die erfahren werden kann. Wissen über die islamische Mystik im Allgemeinen und die mystische Erfahrung im Besonderen kann durch mystische Texte, historische Überlieferungen, Dichtung und persönliche Erfahrung gewonnen und tradiert werden. Hierbei gibt es eine explizite Kategorisierung darüber, welche Stadien auf dem mystischen Pfad erreicht werden können und wie sich die mystische Erfahrung von anderen Formen der Erfahrung unterscheidet. Die mystischen Texte und das in ihnen vermittelte Wissen werden dabei weder kritisiert noch hinterfragt. Die Autoren dieser Texte, die Mystiker, die bereits selbst solche Erfahrungen erlebt hatten, werden im Text auch als »Heilige« (ebd.) bezeichnet und dienen als Autorität und Legitimation. Das Wissen ist frei zugänglich und kann durch Lektüre und wiederholte Übung angeeignet werden, eine praktische Anleitung durch einen Ordensführer, wie dies häufig in sufischen Orden der Fall ist, wird kurz erwähnt. Die Betonung der überlieferten Texte und der repetitiven Praxis bestimmter Rituale, die man erst kennenlernen muss, deuten jedoch zusätzlich auf eine mystische Führung. Ferner weisen diese Strukturen auf eine Form hin, die sich in Kennende und Suchende bzw. Unwissende aufteilt: die, die bereits eine Gottesbegegnung erfahren haben, und diejenigen, die sich noch auf der Suche danach befinden. Dabei wird im Text weniger der Eindruck einer physisch präsenten und institutionell ausgebauten Organisation vermittelt als vielmehr einer durch gemeinsame Verbindlichkeiten, geteilte Überlieferung, Praxis und Grundeinstellung zusammengehaltenen Formation, die die Suchenden in den alten überlieferten Texten genauso umfasst wie die gegenwärtigen Subjekte. Diese sind dabei an bestimmte Aussageformen gebunden, sei

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es die Anerkennung der göttlichen Liebe, die verschiedenen Bezeichnungen Gottes und ihre Wichtigkeit, der Gebrauch der anerkannten Aussagen zu den Stadien der Erfahrung und die Beschreibung der Erfahrung an sich; ausgeschlossen werden Erfahrungsformen, die sich nicht auf die Transzendenz beziehen, hier also spirituelle oder durch Betäubungssubstanzen herbeigeführte Wahrnehmungen. Diese Unterscheidung in ›wahre‹ und ›falsche‹ Erfahrungen ist dem Erzähler besonders wichtig, er rechtfertigt sich vor der Leserschaft für die Ausführungen und zitiert eine ›neutrale‹, ›objektive‹ Quelle, nämlich Zaehner als Wissenschaftler und diskursexterne Autorität. Das Ergebnis seiner Ausführung gibt der Erzähler explizit mit Zaehner wieder: Huxley würde »›eine offenbare Unwahrheit behaupten oder implizieren‹« (GL 82). An der mystischen Erfahrung kann dabei jeder teilhaben. Weder werden hier Herkunft, Geschlecht, sozialer Status noch andere Formen als explizit ausgeschlossen aufgeführt. Implizit kann allerdings das Abweichen vom mystischen Pfad als Verbot gedeutet werden. Nichtsdestotrotz muss man festhalten, dass der Zugang zur Mystik nicht reglementiert ist, sondern Abgrenzung nach außen in diesem Sinn mehr auf individueller Basis zu verstehen ist. Die gemeinsamen Verbindlichkeiten, die wiederholte Lektüre der mystischen Überlieferungen und des Korans sowie die repetitiven Rituale und Rezitationen können dabei als ›Zugangsvoraussetzungen‹ gesehen werden sowie die Möglichkeit und Fähigkeit, die Texte zu rezipieren und die Rituale und Gebete zu praktizieren. Die Erwähnung der kategorisierten Stadien und Zustände der mystischen Erfahrung mahnt zu Wiederholung, Nachahmung und Rezeption an – und gerade nicht zur Innovation und dem Einspeisen eines neuen Wissens. Als exemplarische Autorität wird im Text der Sufi Ibn ʿArabī angeführt, der bereits den Beinamen sch-schaich al-akbar (der größte Meister) besitzt: »Ibn Arabi ist auf dem schmalen, von Einbildungen überwucherten Pfad der Erkenntnis vielleicht tiefer ins Unbekannte vorgedrungen als je ein Sufi, der Bücher noch schrieb« (GL 48). Das Verfassen von zu überliefernden und die mystische Erfahrungen beschreibenden Texten wird als Möglichkeit der diskursiven Wissensproduktion dargestellt, zu der man nur Zugang hat, wenn man diese selbst erlebt hat – die Verknappung des Subjekts funktioniert hier demnach über die Autorität und die Legitimation von selbst erlebten Erfahrungen, die jedoch nicht besonders individuell zu sein scheinen: Schließlich sind sie »kategorisierbar und also keineswegs individualistisch, sonst hätten die Mystiker nicht ein exaktes, auch psychologisch ausgefeiltes System der Standplätze und Zustände aufstellen können, in deren Abfolge das innere Erleben zum Schauplatz einer Offenbarung wird« (GL 38). In diesem Sinn lassen sich einzelne strukturelle, doktrinähnliche Formen finden, die auf implizite Machtbeziehungen verweisen. Dabei fungieren die tradierten mystischen Überlieferungen als Primärtexte und enthalten klare Anweisungen und Kategorisierungen, sind damit analog als asymmetrische Machtinstrumente, die nicht an eine Person und vor allem nicht an eine bestimmte Zeit

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gebunden sind, ausgezeichnet. Dabei wird die Erfahrung universalisiert und als ahistorisch gesetzt, indem die Zustände als wahr, erreichbar und verfügbar kommuniziert werden. Den Texten wird zudem eine bedeutende Machtfülle zugeschrieben, die darauf beruht, dass sie von Personen verfasst wurden, die von sich behaupten, solche mystischen Erfahrungen gemacht zu haben, und zwar so, dass sie kategorisierbar sind. Die Macht dieser Texte liegt dementsprechend in der zugeschriebenen und über die Jahre überlieferten Autorität der Mystiker. Im Text wird explizit aufgeführt, dass es eine lebenslange Übung, das Studium, Gebete und Rituale braucht, um eine bzw. mehrere Erkenntnisstufen zu erreichen. Da die Texte diese Stufen explizit kategorisieren und beschreiben, nehmen sie damit einen direkten Einfluss auf das Subjekt und dessen Handeln, ja auch auf seinen Körper, wenn die Übungen und Rituale bestimmte körperliche Anforderungen aufweisen. Diese Interaktion zwischen den Kommunikationsbeziehungen als medialer Informationsübermittlung und den Regierungstechniken trägt zur Produktion und Stabilität des MachtWissen-Komplexes der (fiktiven) islamischen Mystik bei, hat aber vor allem eine individuelle Relevanz für die Einzelnen, die sich entschließen, diesen Weg zu gehen. Daher muss hinzugefügt werden, dass die Entscheidung, dem mystischen Weg zu folgen, gerade nicht auf diesen Regierungstechniken beruht. In der im Text dargestellten Form ist die islamische Mystik nicht gesellschaftlich eingebunden und normalisiert, der Junge kannte sich damit im Alter von 15 Jahren nicht aus, das gesellschaftliche Umfeld Westdeutschlands ebenfalls nicht, und auch während des erzählten Zeitpunkts kann man nicht ermitteln, ob der Erzähler islamische Mystik als normalisierte religiöse Form im Deutschland der 2010er Jahre ansieht. Auch die im Roman zitierten Stellen weisen nicht darauf hin, dass man durch die islamische Mystik von klein auf geprägt wird und sie einen starken Einfluss auf das alltägliche Leben haben könnte. Die mystische Erfahrung wird damit als eine freiwillige und vor allem bewusste Entscheidung impliziert, die man sich erst erschließen und erarbeiten muss. Als Kontrastfolie dieses auf Freiwilligkeit beruhenden Zugangs, der sich gerade nicht durch gesellschaftlichen Zwang auszeichnet, dient die Beschreibung der christlich-protestantisch geprägten Enge in der Kleinstadt, die hier als eine Doktrin aufscheint, wobei der Heranwachsende die Enge wahrnimmt, sie aber als solche nicht reflektiert. Als Herrschaftsapparat, der einen direkten Einfluss und Eingriff auf die Körper der Beherrschten ausübt, dem man sich nicht individuell entziehen kann, wird der westdeutsche Staat dargestellt, was sich besonders in der Blockade-Episode zeigt, bei der der Heranwachsende angeblich von Polizisten weggetragen werden musste und im Gefängnis festgesetzt wurde (vgl. GL 27). Somit werden im Text eine auf Freiwilligkeit und Praxis beruhende religiöse (islamische Mystik) einer repressiven Form als Protestantismus und Staat (westliche Gesellschaft) gegenübergestellt. In dieser Konstellation wird die gängige mediale Dar-

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stellung der Dichotomie, ›negativer‹ Islam vs. ›positiver‹ Westen, unterlaufen, die Vorzeichen umgekehrt und durch eine »Transcodierung«93 umgewertet, wodurch das gegenwärtige dominant präsentierte Bild eines reaktionären und repressiven Islam kritisch hinterfragt bzw. umgekehrt wird.

VI.3

Eindeutige Identitätsverortungen – eine literarische Absage

In Große Liebe wird die Frage der Selbst- und Fremdverortung, der Aushandlung eigener Identität auf eine unkonventionelle Weise aufgerufen, besonders hinsichtlich der kulturellen bzw. religiösen Zugehörigkeit. Deutlich wird dies, wenn eindeutige Positionierungen unterlaufen bzw. nur im situativen Kontext vermittelt werden. Der Heranwachsende ist Schüler, Sohn, Verliebter, Demonstrant etc. zugleich; das erzählende Ich reflektiert die verschiedenen Bezüge mit der Problematisierung von Erinnerung und der zeitlichen Differenz als Entfremdung auf der einen Seite, in der Diskussion um Mystik, religiöse Erfahrung, Spiritualität und Rauscherfahrung wird religiöse Identität auf der anderen Seite ausgehandelt. Der 45-jährige Erzähler hatte mehrere Beziehungen, war verheiratet, hat Alkohol getrunken und Drogen konsumiert, angeblich wurde er auch bei einer Blockade im Alter von 15 Jahren von der Polizei festgenommen; hat sich bei der Friedensbewegung eingesetzt, sein Abitur sowie seine ersten sexuellen und Liebeserfahrungen gemacht. Er liest persische Dichtung und kennt sich mit der islamischen, aber auch der christlichen Mystik aus. Dies sind Aspekte, die der Text bzw. der Erzähler erwähnen. Explizite Aussagen über die nationale, kulturelle oder religiöse Identität des Erzählers finden sich hingegen nicht. Die Abstammung der Eltern und der muslimische Hintergrund sind Vermutungen bzw. Zuschreibungsstrategien aufseiten der impliziten Leser*innen, die diese ausgehend von den Spuren im Text und einer Assoziation mit dem Autor vornehmen (können). Kermani hat in seinen essayistischen Arbeiten die Frage der Identität wiederholt thematisiert. So schreibt er in Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime: Identität ist per se etwas Vereinfachendes, etwas Einschränkendes, wie jede Art von Definition. Es ist eine Feststellung dessen, was in der Wirklichkeit vielfältiger, ambivalenter, durchlässiger ist. Das ist zunächst nicht schlimm, sondern ein ganz normaler Vorgang. Ich sage von mir: Ich bin Muslim. Der Satz ist wahr, und zugleich blende ich damit tausend andere Dinge aus, die ich auch bin und die meiner Religionszugehörigkeit widersprechen können – ich schreibe zum Beispiel freizügige Bücher über die körperliche Liebe oder bejahe die Freiheit zu Homosexualität. […] Nicht alles, was ich tue, steht in Bezug zu meiner Religion.94 93 94

Hall: Das Spektakel des ›Anderen‹, S. 158–165. Kermani: Wer ist Wir, S. 17.

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Für den Autor Kermani ist Identität ein komplexes Gebilde, dessen Fixierung auf einen einzelnen Aspekt eine Vereinfachung darstellt. Genau diese Vereinfachung lässt sich in Große Liebe auch nicht finden. Die Absenz jeglicher ausdrücklicher Eigenpositionierung in Bezug auf Nation, Kultur oder Religion kann auch nicht durch fehlende Reflexion erklärt werden, denn die Reflexion in Bezug auf die Liebe und die Erinnerung des Erzählers ist eines der Leitmotive dieses Textes. Ganz bewusst wird sogar eine solche Selbstfestlegung durch den Erzähler unterlaufen, wenn er im Kontext der Frage nach den Geschlechterrollen die Antwort schuldig bleibt und gerade die Ähnlichkeit der Verhältnisse hervorhebt (vgl. GL 59). Dabei werden zwar verschiedene national-kulturelle, religiöse und soziale Begründungen erwähnt, jedoch legt der Erzähler sich nicht fest – man weiß also nicht, auf welcher Grundlage die Geschlechteraufteilung seiner Familie bzw. in der BRD aus seiner Sicht basiert: Eine Abgrenzungsdifferenz wird hier nicht etabliert, sondern elliptisch ausgespart. Und so gibt es denn im Text auch keinen Hinweis darauf, dass sich der Heranwachsende als Fremder, nicht Dazugehöriger empfindet. Dass seine »Lieblingslektüren« aus dem Iran kommen, macht ihn auch nicht zum ›Nichtdeutschen‹. Das Thema der Identifizierung in Bezug auf Nation, Kultur oder Islam wird in Große Liebe nicht angesprochen, sondern gerade durch das offensichtliche Aussparen implizit auf die Ebene der Rezipient*innen übertragen. Die essayistischen Texte hingegen explizieren die Identitätsproblematik: Das Argument, daß ein Mensch mit zwei Pässen einen Identitätskonflikt hat, muß jedem abstrakt, wenn nicht absurd erscheinen, der tatsächlich mit zwei oder noch mehr Kulturen aufgewachsen ist. Nicht immer läßt sich die Frage beantworten, ob man zu jenen oder zu diesem gehört – vielleicht gehört man zu beiden. In einem inneren Konflikt geriete ich nicht, wenn ich mich zwischen zwei Identitäten bewegte […], sondern wenn ich mich auf eine Identität festzulegen hätte.95 Literatur kann nun im Gegensatz zu einem publizistischen Essay diese Entscheidung, diese Festlegung einerseits verweigern und andererseits durch literarische Verfahren einen Lektüreerfahrungsraum öffnen, in welchem die Fragen auf die Leser*innen übertragen werden, wenn sie als implizite und damit gleichzeitig auch als reale Leser*innen abseits einer eindeutigen Antwort des Textes angesprochen werden. Bei Kermani würde man bezüglich seiner Essays ein solches Vorgehen kritisch kommentieren, bei den Erzähler*innen eines fiktionalen Textes sorgen die Gattungskonventionen per se für die Differenzierung zwischen Autor*in- und Erzähler*ininstanz. Dass dies sogar einigen Kritiker*innen schwerfällt, zeugt von der Not, Eindeutigkeit und Zuordnung zu suchen. Auf genau diese Ambivalenz verweist Jordan, wenn er die Unterschiedlichkeit von Kermanis literarischen und publizistischen Arbeiten hervorhebt: 95

Ebd., S. 129.

VI Navid Kermani: Große Liebe

Das gilt auch für die Rolle der Autoren in den zwei Gattungen. Man erwartet Vernunft, Struktur und Eindeutigkeit vom Essayist, und, wenn er oder sie aus einem anderen ethnischen oder religiösen Hintergrund stammt, dass er oder sie eine repräsentative Rolle auf sich nimmt.96 Als literarischer Autor verweigert sich Kermani dieser Erwartung und will gerade kollektive Zugehörigkeiten problematisieren 97 – und auch in Große Liebe wird man als Leser*in mit dieser Frage vom Erzähler allein gelassen.

… und die islamische Mystik Auch für die Darstellung der islamischen Mystik kann man vom Erzähler nicht als einem Anhänger bzw. Vertreter sprechen. Zwar ist er sehr gut darüber informiert, allerdings referiert er sein Wissen nur, man könnte in seinem Fall von Gelehrtenwissen und nicht von Erfahrungswissen sprechen. Deutlich wird das, wenn er auf den Unterschied zwischen einer religiösen und einer durch Drogenkonsum herbeigeführten Erfahrung eingeht. Die Rauscherfahrung kenne er selbst, sie sei aber anders als das, was christliche und islamische Mystiker bezeugen (vgl. GL 82). Auffallend ist hier, dass der Erzähler keine eigene mystische Erfahrung benennt, die er wie die Drogenerfahrung hätte anführen können. Als Autorität wird also nicht die eigene unmittelbare Erfahrung, sondern die Überlieferung solcher herangezogen. Dabei dient nicht nur die islamische Mystik als Vergleichsmoment, sondern die christliche ebenfalls. Sie stellen für den Erzähler vergleichbare Formen dar (vgl. auch GL 66) und werden damit universalisiert, während die Rauscherfahrungen als kategorial unterschiedliche per se von religiösen getrennt werden. Inhaltlich anders gelagert, allerdings strukturell ähnlich argumentiert ist hingegen die Analogie zwischen körperlicher und göttlicher Liebe bzw. Hingabe, die der Erzähler mit Ibn ʿArabī und Zaehner naturalisiert hatte: Für die Legitimierung wird stets eine weitere, aus einer anderen ›Kultur‹ stammende Autorität herangezogen – eine christliche (Mystiker) im ersten, eine westlich-wissenschaftliche (Zaehner) im zweiten Fall. Diese Argumentationsstrategien scheinen dem Erzähler bei seiner ›Studie‹ einerseits als ›Thesenbeleg‹ zu dienen, anderseits für die fiktiven Leser*innen eine objektive und rational nachvollziehbare Argumentation sicherzustellen. Damit wird religiöse Erfahrung gegenüber der Rauscherfahrung mithilfe rationalkritischer Vorgehensweise aufgewertet, sodass man den Eindruck gewinnt, der Erzähler spricht als Wissenschaftler und nicht als Gläubiger – womit im säkularen Kontext eine andere diskursive Position des sprechenden Subjekts einhergeht. 96 97

Jordan: Für eine kämpferische Toleranz, S. 257. Vgl. Navid Kermani: Ich spreche nicht für den Islam. In: FAZ vom 27. November 2009. www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/hessischer-kulturpreis-ich-spreche-nicht-fuerden-islam-1887329.html (Zugriff: 25.07.2020). Vgl. hierzu explizit Jordan: Für eine kämpferische Toleranz.

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Allerdings kann der Erzähler, trotz dieser distanziert ›wissenschaftlichen‹ Herangehensweise, als ein religiöser Mensch bezeichnet werden. Denn bei all der fehlenden Zuordnung zu einer Religionstradition hinterfragt der Erzähler nie die Existenz Gottes oder die ontologisch-transzendente Dichotomie. An einer Stelle spricht er explizit gläubige wie auch nicht gläubige Leser*innen an: »Denn sie [eine Textpassage] enthält den Kern meiner und auch deiner Geschichte, wann und wo immer du jemals groß geliebt, nur daß Gott in Wirklichkeit leicht enttäuschende Namen trägt« (GL 89). Für den Erzähler ist eine Religionszugehörigkeit irrelevant, nur der Bezug auf Gott zählt; den jeweiligen historischen Religionen wird sogar ein Alleinstellungsmerkmal bzw. eine Sonderposition abgesprochen: »Für so groß ich die Liebe des Jungen auch weiterhin halte – nicht anders als Religionen ist sie dadurch schon relativiert, daß sie nicht die einzige blieb« (GL 87). Der Text besetzt damit mystische Erfahrung der göttlichen Liebe positiv als eine Erfahrung vom Transzendenten und dessen Beziehung zu den Menschen. Hier stellt sich der Erzähler in die Tradition von Zaehner, der eben die theistische vor den rein monistischen Erfahrungen präferiert hatte. Die mystische Erfahrung, die der Erzähler aufwertet, lässt sich hier direkt auf den ordnungsstiftenden Aspekt der Religion als Formation beziehen, die den einzelnen Religion(-sdiskursen) vorausgeht und universalisiert ist, da sie von verschiedenen Religionsangehörigen erlebt werden kann. Die kategorische Abgrenzung zur Rauscherfahrung und zur Spiritualität wird zudem ergänzt durch die Erfahrung der körperlichen Liebe, die zwar ähnlich der religiösen Erfahrung ist, damit also eine Vorahnung geben kann, ihr jedoch nicht entspricht – so die Berichte der mystischen Gewährspersonen. Der Text des Erzählers hat dabei gerade das Ziel, herauszufinden, ob seine große Liebe der mystischen Gottesliebe-Erfahrung ähnelt. Der Erzähler geht auch hier ›wissenschaftlich‹ bzw. rational vor, da er nicht auf eigene religiöse Erfahrungen zurückgreifen kann. Nachdem er die These aufgestellt hat, muss er zuerst die Vergleichbarkeit als solche legitimieren, was er mit Ibn ʿArabī und Zaehner tut. Anschließend wird diese große Liebe zudem mit den überlieferten Erfahrungsberichten in Beziehung gesetzt, sie muss also den von den Mystikern aufgestellten Zuständen entsprechen bzw. diesen vergleichbar sein: Die große Liebe sollte die »Station[en] der Liebe« durchlaufen haben: »Begegnung«, »Kennenlernen«, »erste Berührung«, »Vereinigung«, »Zustand, den die Mystiker ›Bleiben im Entwerden‹ nennen« sowie die »Verzweiflung«, die einen größeren Raum einnimmt (GL 29), wie auch die beiden ›Grundzustände‹: Qabḍ wa-basṭ, die ›Einschnürung und Ausdehnung‹, nennen die Sufis die beiden Grundzustände, in deren dialektischer Folge sich die mystische, wenn nicht alle Erfahrung vollzieht, bei Hegel ja auch die Geschichte. Ibn Arabi bezeichnete qabḍ wa-basṭ ausdrücklich als Vorgefühl, das die Seele von den Dingen habe, bevor diese in den Bereich der äußeren Sinne träten. Damit seien Einschnürung und

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Ausdehnung auch die Vorboten jedweder Liebe, noch bevor diese sich tatsächlich ereigne. Und Ibn Arabi ging noch weiter, indem er die Heftigkeit, Kompromißlosigkeit und Kopflosigkeit der jugendlichen Verliebtheit – ausdrücklich nur diese! – als vergleichbar, als verwandt, als nicht nur den Symptomen nach übereinstimmend mit dem ›Ertrinken‹ […] des Mystikers in der alles überflutenden Liebe des Göttlichen bezeichnete. (GL 13) Die Zustände der Einschnürung und Ausdehnung sowie die Stationen der Liebe bilden damit also das Grundgerüst, das die Liebe des Jugendlichen erfüllen muss, um als der mystischen ähnlich und mit dieser vergleichbar bezeichnet zu werden. Die Grundzustände, die ja der eigentlichen Liebe vorausgehen, müssten bei dem Jungen demnach ebenfalls zu Beginn erscheinen, und der Erzähler macht dies an einem Erlebnis fest, bei dem der Heranwachsende Jutta, an einem Fluss sitzend, beobachtet hatte, die blonden Haare wie ein Heiligenschein (vgl. GL 10): »Das Bild der Schönsten hatte ihm vor Augen gestanden, wie sie unten am Fluß gesessen, hinter ihr die Lastwagen, am gegenüberliegenden Ufer die vierspurige Straße: die Ausdehnung.« (GL 13). Der Anblick Juttas vor dieser Kulisse wird vom Erzähler als das Gefühl der Ausdehnung, seine eigene »Befangenheit, seine[] Verwirrung, sein[] Schwachmut« als die Einschnürung empfunden (ebd.). Mit Ibn ʿArabī müsste das also als Vorbote der Liebe gelten – nur: Der Erzähler selbst reflektiert, dass er sich diesen Moment, in dem »die stille, nicht auf Erfüllung rechnende Sehnsucht in nie gekanntes, allenfalls in seinen Lektüren beschriebenes Verlangen umschlug« (GL 10), dass er die Folgen dieses Moments sich einbildete. Auch sollen die Zustände »Vorboten jedweder Liebe« sein, der Junge hatte aber bereits Gefühle für Jutta. Damit werden die beiden Grundzustände vom Erzähler relativiert, bevor sie überhaupt als solche bei der Leserschaft eingeführt werden, die Beschreibung der Gefühle in Kapitel 10, die Erläuterung von Ibn ʿArabī in Kapitel 13. Schaut man sich weiter die angegebenen Stationen der Liebe an, so berichtet der Erzähler von der Begegnung, bei der er sich angeblich verliebt habe (sie bezeichnenderweise nicht), das Kennenlernen wird auf die gemeinsame Sitzung in der Evangelischen Gemeinde beschränkt (vgl. GL 20), als erste Berührung wird der erste Kuss dargestellt (vgl. GL 31), die Vereinigung wird als weniger gelungen geschildert. Hier erlebt der Junge beim Vorspiel eine Situation, den Zustand der panischen Kopflosigkeit, der eintreten mag, bevor der Liebende merkt, daß nicht Wollen das Ziel ist, sondern Gewolltsein. Die Führer beschreiben ihn durchaus als einen Anfang der Erkenntnis. Im idealen Falle folge auf den Schrecken die Ehrerbietung, dann die Verherrlichung, dann die Ehrfurcht, bevor die Wegstrecke der Entwerdung beginne […]. (GL 44)

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Allerdings beschreitet der Junge nicht den Weg der anfallenden Erkenntnis, sondern erschrickt zu sehr. Durch die Anleitung Juttas wird der Liebesakt zwar vollzogen, in der Reflexion des Erzählers war der Heranwachsende allerdings dabei weit entfernt von der Auslöschung, die, aufs Körperliche bezogen und meinetwegen beschränkt, jedem Menschen zuteil werden kann, nicht nur den Heiligen. Allenfalls hat er zum ersten Mal geahnt und vielleicht in einer Zehntelsekunde zwischen zwei Gedanken erfahren, daß man tatsächlich etwas anderes sein kann als immer nur ich […]. (GL 66) Hier zeigt sich, dass der Erzähler versucht, durch Annahmen (allenfalls, geahnt, vielleicht) den Moment der Entwerdung für den Jungen in Anspruch zu nehmen. Seine Darstellung widerspricht allerdings der eigenen Schilderung des Liebesaktes, bei dem der Junge gerade nur auf sich selbst konzentriert war und sogar einschlief, bevor Jutta ebenfalls Erfüllung finden konnte. Analog dazu hat der Erzähler bereits bezüglich des ersten Kusses zugegeben, dass dem Jungen die Öffentlichkeitswirksamkeit dieser Verbindung mit Jutta vor Augen gestanden habe, was einer derartigen Eitelkeit wiederum aus mystischer Sicht »einen der untersten Standplätze der Liebe« zuweisen würde (GL 34). Auch wird der Selbstbezug bzw. die »Ichsucht« (GL 63) des Heranwachsenden immer wieder erwähnt (vgl. GL 55 u. 59). Das Verbleiben in der Entwerdung stellt einen einzigen Nachmittag dar, bei dem Jutta ihm ein grundloses Lächeln schenkte (GL 74), an einem der nächsten Nachmittage hingegen meldet sie sich nicht mehr, sodass dieser eine Moment eigentlich dadurch grotesk und zur Karikatur des von den Mystikern beschriebenen »Zustands, der ›ohne Anfang immerfort bestehen bleibt‹« (GL 73), wird. Während der Erzähler, der vorhatte, der Trennung einen größeren Raum einzuräumen, da diese »auch die Mystiker ungleich länger beherrschte«, zu dieser am Schluss gar nicht kommt, schafft er es, noch zwei Zustände der Liebe zu schildern: den der Unruhe und Krankheit (vgl. GL 90) sowie der Demütigung (vgl. GL 92). Bezüglich des Trennungsschmerzes wird die Erwartungshaltung der Leser*innen vom Erzähler geschürt: Dieser »drang […] als Gift und auch als Lebenselixier auch in meine Seele so tief ein, daß alles Suchen seither Sehnsucht nur ist« (GL 48). Aber anstatt über diesen zu berichten, erfahren die Leser*innen , dass eine Begegnung mit den Eltern ein möglicher Trennungsgrund gewesen sein könnte (GL 80) oder seine Eifersucht (GL 83) oder Juttas Gefühl, von ihm zu sehr bedrängt zu werden (GL 85). Der Erzähler vergleicht das weitere Leben des Jungen mit dem aus einer sufistischen Anekdote, bei der dem Sufi der Kopf abgeschlagen wird, und kommt zu dem Ergebnis, dass das Leben des Jungen in normalen Bahnen weiter verlief (ebd.). Gerade dieser Vergleich baut eine große Fallhöhe für die Trennung des Jungen auf und karikiert sie. Betrachtet man nun abschließend die Darstellung der großen Liebe, deren Banalität im Vergleich zur mystischen gerade ausgeräumt werden sollte, kann man

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konstatieren, dass der Erzähler weder die Leser*innen noch sich selbst davon überzeugen konnte. Die grundlegenden Zustände werden nicht erfüllt, die Stationen der Liebe karikiert und vom Trennungsschmerz ist ebenfalls nichts zu finden. Der Erzähler selbst gibt zu, dass die Liebe aus der Sicht Zaehners – seinem Gewährsmann – »keine religionswissenschaftliche Relevanz« (GL 82) hätte und dass er den Jungen und dessen Liebe eigentlich verkläre (vgl. GL 66). Auch die anfängliche Prämisse, die Erfahrung des Ich-Verlusts des Jugendlichen sei der mystischen ähnlich, wurde widerlegt, da dessen Pubertät mehr von einer ›üblichen‹ Ichsucht und der Suche nach einem Platz in der Gemeinschaft gekennzeichnet gewesen ist.98 Führt man sich ferner erneut vor Augen, dass das Ziel die Vergleichbarkeit der mystischen Erfahrung mit einem pubertären Liebeserlebnis gewesen ist, so mag einem bereits der Versuch schwierig erscheinen, religiöse Erfahrungen mit weltlichen zu vergleichen; komisch wird dieser Versuch jedoch, wenn das Verhalten des Erzählers die Ernsthaftigkeit des Versuchs in Zweifel zieht, indem einer idealisierten Mystik die Trivialität des weltlichen Alltags ›wissenschaftlich‹ gegenübergestellt wird. Der Erzähler gibt immerfort selbst zu, dass die Erfahrung des Jungen »banal« und »oberflächlich« sei (GL 3 u. 88), keine wissenschaftliche Bedeutung hätte (GL 82) und dass er später »tiefer, jedenfalls über einen sehr viel längeren Zeitraum hinweg liebte, heftiger kämpfte, mehr verlor und mindestens körperlich die Verzückung umfassender erlebte« (GL 94): Der Erzähler revidiert demnach die aufgestellte Relevanz seiner These einerseits durch eigene Aussagen, andererseits aber auch durch die bereits dargestellten, fehlgeschlagenen Analogien der Stationen des mystischen Pfades. Anders formuliert, scheint der Erzähler, der dieses Gefühl von der großen Liebe zu haben glaubte und es teilweise immer noch hat, den Heranwachsenden zu belächeln, was die Vergleichbarkeit in Ironie umkehrt. Die mystische Liebe mit dem Ziel der Gotteserkenntnis ist demnach nicht mit der Liebeserfahrung eines Jungen in der westdeutschen Kleinstadt zu vergleichen, so der Text, wobei für die körperliche Liebe eine marginale Ausnahme eingeräumt wird (GL 48). Diese jugendliche Liebe kann folglich wie der Drogenrausch oder die spirituelle Erfahrung zu bestimmten – religiösen (i.S.v. großen Transzendenzen ohne expliziten Gottesbezug) – Geisteszuständen führen, mit der mystischen Gotteserkenntnis und dem Anspruch der Mystiker ist sie allerdings nicht vergleichbar, weil sie sich gerade in einem absoluten Selbstbezug erschöpft. Für die Frage nach der Darstellung von Religion in Große Liebe bedeutet die eigene Positionierung des Erzählers im Kontext der islamischen Mystik, dass dieser religiös ist und sich der mystischen Tradition verbunden fühlt, ohne eine mystische Erfahrung gehabt zu haben und der »nicht einmal über die Straße gefahren [ist], welche die Tradition pflastert« (GL 48). Die religiöse Erfahrung ist für ihn, 98

Hofmann und Patrut ordnen den Text als Adoleszenzroman ein. Vgl. Hofmann, Patrut: Einführung in die interkulturelle Literatur, S. 134.

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der nie eine hatte und sich auch nicht die Mühe macht, eine zu erleben, allerdings etwas, das dem Drogenrausch, der reinen Auflösung des Ichs in der spirituellen Tradition und einer pubertären Liebe hierarchisch übergeordnet ist, da sie sich auf ein Göttliches bezieht. Damit thematisiert der Text auf der einen Seite die permanent implizite Fallhöhe vom ›theoretisch‹ möglichen Ergebnis (das auf historischen Berichten, wissenschaftlichen Arbeiten etc. fußt) und dem ›praktischen‹, tatsächlichen Weg dahin, der sich sogar als Karikatur dessen erweisen kann, wie dies der Text vorgeführt hat. Allerdings ist religiöse Erfahrung, und das ist die offene Antwort auf die Frage, was denn nun von mystischer Erfahrung zu halten sei, jedoch in Ansätzen erlebbar, nämlich in der Form der körperlichen Liebe, deren Höhepunkt die Vereinigung ist. Damit kann jeder Mensch eine Form der göttlichen Liebe erfahren, die über die reine Ich-Bezogenheit hinausgeht; die mystische Erfahrung hingegen nur die Wenigen, die den mystischen Weg gehen. Eröffnet wird mit dieser Analogie eine sowohl religiöse als auch säkulare Lesart des Textes: Bei der ersten geht es um eine religiöse Transzendenzerfahrung, bei der zweiten um eine große, ›existenzielle‹.99 Allerdings kann keine davon als ›ernst‹ bzw. dogmatisch verstanden werden, werden doch beide Lesarten direkt wieder relativiert und unterlaufen: durch die Banalität auf der einen, den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis auf der anderen Seite. Auf einer anderen Ebene zeigt der Text zudem im Setting des ›rigiden‹ Protestantismus die Zwänge der institutionellen Religion, die sich auf alle Formen des gesellschaftlichen Umgangs auswirken, und als Kontrast dazu die (islamische) Mystik,100 bei der es weniger um institutionelle Eingebundenheit als um individuelle Ausübung und einen auf Liebesannahme basierenden Gottesbezug geht, bei dem gerade die körperliche Liebe, die in der institutionellen Version normiert, tabuisiert und geregelt war, aufgewertet und in eine Analogie zur mystischen Erfahrung gebracht wird.101 Dabei stellt der Erzähler die islamische Mystik nicht der christlichen gegenüber, sondern beide dienen ihm, um das Postulat der mystischen Erfahrung zu betonen. Für nicht religiöse Menschen hingegen wird die weltliche Liebe allerdings als eine Vorahnung auf die Erfahrung des Ich-Verlusts dargestellt, die sich gerade vom Ich-Bezug des Erzählers unterscheidet, der vor allem an der Darstellung Juttas erkennbar ist. 99

Hofmann spricht von einem »Oszillieren zwischen einer religiösen und einer profanen Lesart des Textes«. Michael Hofmann: Große Liebe. In: Navid Kermani, 2019, S. 151–158, hier S. 158. 100 Vgl. »Die islamische Mystik verkörpert […] das Gegenmodell zu einem religiösen Bewusstsein, das aus Angst vor der göttlichen Strafe und aus der Hoffnung auf jenseitige Belohnung gespeist wird. Indem die Liebe zum Zentrum des sufistischen Denkens wird, zeigt sich bei den radikalen Mystikern eine krasse Opposition gegen alle[] konventionellen Formen der Religion.« Hofmann, Patrut: Einführung in die interkulturelle Literatur, S. 132. 101 Ähnlich Hofmann und Patrut, die von »Distanzierung von konventioneller Religiosität« durch die Aufwertung des Körperlichen bzw. Sexuellen sprechen (vgl. ebd., S. 133).

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… und Jutta, die große Liebe Denkt man noch einmal daran zurück, wie idealerweise der (mystische) Weg nach einem panischen Zustand verlaufen sollte, so ist nicht »Wollen das Ziel […], sondern Gewolltsein« (GL 44). Die Beschreibung, wie der Sexualakt für Jutta verlaufen ist, zeugt jedoch eher vom Gegenteil. Dies mag man noch der Unerfahrenheit des Jungen zusprechen können, jedoch zeigen weitere Aussagen des Erzählers, dass tatsächlich die öffentliche Präsentation Juttas als seiner Freundin im Vordergrund stand (vgl. GL 55, 59 u. 70). Obwohl der Erzähler dieses Verhalten des Jugendlichen als typisch pubertär reflektiert und Juttas Gedanken und Beweggründe zu verstehen sucht (um sie damit nicht eindimensional als Objekt des Begehrens des Jungen darzustellen), scheitert er gerade daran, indem er Jutta die Stimme verweigert. Die gesamte Erzählung über lässt der Erzähler Jutta einige wenige, irrelevante Worte sagen: »Hallo« (GL 20), »Sei authentisch!« (GL 46), »Wach auf, wir müssen zur Schule« (GL 54); und obwohl sie sich in den Nächten laut seiner Aussage viel zu erzählen hatten, erfahren die Leser*innen nichts davon. Zwar trägt die interne Fokalisierung auf den Jungen zu einer Fokussierung auf seine Wahrnehmungen bei, allerdings hätte der ältere Erzähler nichtsdestotrotz mehr von Jutta wiedergeben können. So bleibt sie für die Leser*innen eine Schablone, auf die nicht nur der Junge, sondern auch der erwachsene Mann ihre Erinnerungen, Erwartungen und Gefühle projizieren. Auch lösen sich die vermeintlich kritisch-reflexive Darstellung des Erzählers über feststehende Geschlechterrollen, seine Ausführungen zur gesellschaftlich erzwungenen Perfektionierung des weiblichen Körpers und seiner selbst als einen ›emanzipierten‹ Mann am Ende als oberflächlich auf. Denn weder wird vom Erzähler, der doch Geschlechterrollen und protestantische Sexualmoral kritisiert, reflektiert, dass die mystische Liebe und ihre Darstellung bei den Mystikern eine größtenteils männliche ist, noch ist eine Gleichberechtigung Juttas in der Erzählung vorhanden und wahrscheinlich auch nicht gewollt. Weiterhin nennt er sie den ganzen Text über nur die »Schönste« und reduziert sie so auf ihr Äußeres, objektiviert sie damit ein zweites Mal, hier als Erwachsener. Schließlich wird am Ende den Lesenden Juttas Perspektive auf die Ereignisse verweigert, da ein von ihr stammender Brief nicht wiedergegeben wird. Jutta ist als Person und als Frau im gesamten Text ›sprachlos‹, kann sich nicht äußern, sondern wird vom männlichen Erzähler repräsentiert. Zusammenfassend findet man einen Erzähler, der eine vollkommen verschobene Selbstwahrnehmung hat und nicht einer einzigen von ihm als besonders formulierten Annahmen gerecht wird: So hält er diese jugendliche Liebe weiterhin, entgegen eigener relativierender Aussagen, für besonders, schreibt über Mystik als höchste Form der Erfahrung, ohne diese selbst zu praktizieren, und reflektiert nicht, dass sein Frauenbild noch genau den diskursiven Strukturen unterliegt, die

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er selbst kritisiert. Und gerade diese Widersprüche eines anmaßenden, im Grunde unreflektierten und voreingenommenen Menschen entlarvt der Text, indem er das gesamte Vorhaben: jugendliche Liebe, Besonderheit der Frau und mystische Argumentation, ironisiert und vorführt. Identität ist demnach nie auf einen singulären Aspekt zurückzuführen, sondern überkreuzt sich mit nationalen, kulturellen, religiösen, lokalen, sozialen und vielen anderen Aspekten, die einem selbst teilweise nicht bewusst sind, also auf der einen Seite fremdzugeschrieben, auf der anderen gar nicht erkannt werden, so wie hier der Erzähler, der sich als erwachsen, aufgeklärt und belesen versteht. Dabei nimmt er nicht wahr, dass er permanent seine Thesen zur islamischen Mystik bzw. zum Sufismus und deren Analogie zur jugendlichen Liebe mit Verweisen auf die ›Großen‹ der westlichen Wissenschaft bzw. Kultur legitimiert: Hegel, Freud, Zaehner (für die Mystikforschung). Während also auf der metatextuellen Ebene eine Identitätszuschreibung vermieden wird, positioniert sich der Erzähler im westlich wissenschaftlichen Diskurs, was ihm auch einen Anschein von Wissen und Seniorität, damit evtl. auch Autorität verleihen soll. In Anbetracht des missglückten Vorhabens ist die Fallhöhe hier besonders hoch, die Ironisierung des Erzählers mit den Händen zu greifen. Die Positionierung von Individuen als Subjekte, aber auch als individuell Handelnde wird so in Große Liebe von verschiedenen Seiten beleuchtet: als Subjekt einer Doktrin, den gesellschaftlichen Vorgaben ›unterworfen‹ (Protestantismus, Staatsmacht), diesen aber auch widerstehend; mit der Möglichkeit eigener Verortung versehen, wobei hier eine fehlende Selbstreflexion über die eigenen Beweggründe problematisiert wird (Kritik an Spiritualität); durch Fremdzuschreibungen und den Drang nach Eindeutigkeit bestimmt (Übertragung der Zugehörigkeitsbestimmung auf die Lesenden). Ferner deuten die Erinnerungskonstruktionen auf die Unzuverlässigkeit von als sicher geglaubten Aspekten und die Ironisierung auf autofiktionale Schreibweisen als Herausstellung von sich überlagernden Prozessen der Biografie, die teilweise selbst nicht erkannt bzw. reflektiert werden. Der Text zeigt durch dieses Konglomerat, dass religiöse Identität eine mögliche Positionierung von vielen ist, sie alle verschiedenen Aushandlungen und Machtbeziehungen unterliegen – die religiös-mystische Erfahrung hingegen wirkt unkritisch als machtfreie Sphäre einer Mensch-Gott-Beziehung.

VI.4

Religion in Große Liebe – eine Synthese

Religion wird in Große Liebe nicht primär in Form einer als institutionell verfassten Religion dargestellt, sondern vielmehr in der Aushandlung zwischen verschiedenen Formen von Erfahrung, sei es mystischer, spiritueller, der Liebes- oder aber auch der Rauscherfahrung. Die islamische Mystik wird dabei als ein Teildiskurs der Religion, der sich auf den identitätsstiftenden Knotenpunkt der Differenz von

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Transzendenz/Immanenz bezieht, ausgeführt. Die Annahme der Transzendenz ist im Text gesetzt und wird nicht problematisiert, die Dichotomie somit als eine ontologische verstanden. Wissen über die islamische Mystik wird vor allem über tradierte und anerkannte mystische Überlieferungen vermittelt. Diese werden als wahr verstanden, da sie von Mystiker*innen verfasst wurden, die den mystischen Weg erfolgreich bestritten haben. Damit fungieren diese Texte und die durch sie wirkende Autorität der Mystiker*innen als Regierungstechniken, die das Verhalten der Suchenden anhand bestimmter Vorgaben lenken können. Zudem wird die Mystik vor dem historischen Kontrast eines rigiden Protestantismus der westdeutschen 80er Jahre, der sich normativ auf Werte und Handlungen der Subjekte auswirkt, entfaltet und bietet so eine Alternative für institutionell verfasste Religionen an. Dabei wird zwischen islamischer und christlicher Mystik nicht hierarchisiert, die christliche andererseits nicht näher ausgeführt, sondern nur benannt. Besonderes Kennzeichen der islamischen Mystik ist hier die Konzentration auf die (Liebes-)Beziehung zu Gott und die Möglichkeit, diese zu erfahren. Dabei bietet die körperliche Liebe eine Vergleichsmöglichkeit für diese göttlich Liebe und wird so ›sakralisiert‹.102 Die mystische Erfahrung wird dabei aber auch explizit von der spirituellen, der rauschhaften und der weltlichen Erfahrung abgegrenzt und damit hervorgehoben. Die Analyse von Große Liebe zeigt, dass Religion hier als eigenständige Kategorie verstanden wird. Die Dichotomie religiös/transzendent-weltlich/kulturell/immanent wird zudem über die Hierarchisierung in Form der Hervorhebung der religiösen Erfahrung hegemonial aufgeladen und interreligiös legitimiert. Die religiöse Erfahrung, die hier vor allem eine mystische ist, nimmt einen zentralen Platz im Text ein. Sie stellt die Verbindung zwischen der Transzendenz und dem Weltlichen, dem Menschen dar. Der Text scheint hier allerdings nicht an den religionswissenschaftlichen Spiritualitätsdiskurs anzuknüpfen, sondern an den der islamischen Mystik bzw. den Mystikdiskurs. Die Unterscheidung ist hier evident. Im Gegensatz zu den Ausführungen des Spiritualitätsdiskurses haben Erfahrungen hier einen weniger individualistischen Status. Während sowohl der Spiritualitätsdiskurs als auch der der religiösen Erfahrung explizit die Ubiquität, Antiinstitutionalisierung, Antidogmatik und Individualität einer religiösen/spirituellen Erfahrung formulieren, lässt der Text das für die islamische Mystik in dieser Form nicht gelten. So kann jeder Mensch eine Vorahnung auf die mystische Erfahrung in Form der körperlichen Liebe erhalten, die Erkenntnis als solche wird aber nur Personen möglicherweise zuteil, die den mystischen Pfad bewusst und unter Einhaltung der

102 Vgl. auch Machtans, die in dieser Darstellung der sexuellen Erfahrung deren Aufwertung als heilig versteht. Vgl. Karolin Machtans: The Beauty and Terror of Love: Große Liebe and Du sollst. In: Navid Kermani, 2016, S. 87–105, hier S. 88. Ähnlich auch Hofmann, Patrut: Einführung in die interkulturelle Literatur, S. 133.

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geforderten Stationen beschritten haben. Die mystische Erfahrung ist demnach zwar anthropologisch verankert, aber nichtsdestotrotz nicht jedem zugänglich und erfordert eine bewusste Suche, die sich auf eine göttliche Transzendenz bezieht, ohne die Garantie der unio. An diesem Punkt wird auch eine bewusste und vor allem wertende Abgrenzung zu einem Teil des Spiritualitätsdiskurses gesetzt, dessen Erfahrung sich auf einen reinen Ich-Verlust bzw. eine reine Ich-Auflösung richtet. Diese Hierarchisierung bezieht sich dabei nicht auf a-theistische mystische Ausprägungen, wie den Zen-Buddhismus, sondern auf die selektive und eklektizistische Vermengung verschiedener Ansätze im besagten, kritisierten Spiritualitätsdiskurs. Nicht die außereuropäischen mystischen Ausprägungen werden hinterfragt, sondern der westlich individuelle, popularisierte und willkürliche Synkretismus, der sich selbst zum Ziel hat. Der Text baut so eine ontologische Differenz zwischen der Erfahrung des ausschließlichen Ich-Verlusts, der auch durch Drogen verursacht werden kann, und der unio mystica bzw. Entwerdung oder fanāʼ auf. Die mystische Erfahrung als religiöse Erfahrung wird hier als eine eigenständige Kategorie dargestellt und essenzialisiert, wie dies bei Berger bereits beschrieben wurde, der zwischen der Erfahrung des Heiligen und des Übernatürlichen qualitativ unterscheidet – womit spirituelle Erfahrung in Große Liebe als große Transzendenz erfahren, aber nicht als religiös verstanden wird. Der Text reproduziert demnach in einer religiösen Lesart die Setzung von Religion als Kategorie sui generis, wobei er nicht an den populären Spiritualitätsdiskurs anknüpft, ja er setzt sich gegen diesen bewusst ab; zudem partizipiert er an dem Diskurs der religiösen Erfahrung v.a. im Sinne von William James, insoweit dieser sich mit dem der Mystik überkreuzt. Zwar stellt der Text die islamische Mystik als frei zugänglich, nicht hermetisch abgegrenzt und auf das persönliche Gotteserlebnis ausgerichtet heraus, betont aber explizit, dass die mystische Erfahrung gerade keine individualistische und zudem in der islamischen Tradition verankert sei: So schreibt sie explizite Handlungsabläufe vor, die man auf dem mystischen Pfad erfüllen soll, um die kategorisierten Zustände zu erreichen. Auch gelten die tradierten mystischen Überlieferungen, der Koran und die Mystiker als Autoritäten.103 Damit partizipiert Große Liebe am islamischen Mystikdiskurs, indem dieser partiell und selektiv fiktionalisiert und reproduziert wird, gleichzeitig ist der Text auch in den Diskurs über die islamische Mystik eingebunden, da hier ein habilitierter Islamwissenschaftler, der eine sprechende Subjektposition in der Aushandlung der diskursiven Aussagen über die islamische Mystik innehat und dazu bereits publiziert hat, diese fiktionalisiert. An dieser Stelle wird Kermanis dreifache Subjektpositionierung evident. Er ist Islamwissenschaftler, also an dem Diskurs über die Mystik direkt durch Forschung und Publikation beteiligt; er ist Publizist, der mit der Legitimation des 103 Die ästhetische und emotionale Relevanz des Korans für die Sufis arbeitet Kermani in seiner Untersuchung Gott ist schön, S. 365ff., heraus.

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Experten islamische Mystik auch in die Öffentlichkeit essayistisch einspeist und drittens ist er literarischer Autor, der in seinen fiktionalen Texten islamische Mystik reproduziert und verhandelt. Die Verarbeitung der mystischen Themen in der Literatur stellt dabei gerade eine Transformation des Mystikdiskurses dar. Durch die kulturell und historisch differente Ausgangssituation im Text sowie auf der Rezipient*innenebene wird die islamische Mystik einem breiten Publikumskreis eröffnet.104 Wissen über islamische Mystik ist nun nicht mehr über Lektüre der wissenschaftlichen Texte, und damit nur für einen begrenzten Kreis, zugänglich, sondern prinzipiell für alle literarisch Interessierten. Dieses Wissen ist allerdings an sein Publikum angepasst, bestimmte Mystiker, Textpassagen und ihre Interpretation ausgewählt und erläutert. Der Text transformiert durch die partielle Reproduktion des Mystikdiskurses im neuen Medium der fiktionalen Literatur, die Orientierung an den Rezipient*innen und die Einbettung sowohl in die christliche Kleinstadt als auch in die säkularisierte Gegenwart den Mystikdiskurs und speist sich damit in den Diskurs über die Mystik ein. In der gattungsüberschreitenden Komposition des Textes garantiert die reale Autorfigur mit ihrer Biografie, dem stellenweise wissenschaftlichen Stil des literarischen Textes und dem Quellennachweis für den ›Wahrheitsgehalt‹ der Aussagen zur Mystik – und bietet damit eine ›literarische Einführung in die islamische Mystik und ihre Überlieferung‹ an. Dazu werden im Roman nicht nur die Texte zitiert, die als mystische Überlieferungen und Schriften von Mystikern gelten, sondern auch andere Textsorten, die Wissen über die islamische Mystik tradiert haben: so die bekannte Dichtung von Leila und Madschun, die als Referenztext immer wieder in Roman aufgerufen wird, um die Erlebnisse des Jungen mit den überlieferten, extraordinären des Madschun zu vergleichen, aber auch verschiedene Anekdoten oder religionswissenschaftliche Texte. Der Roman schreibt sich damit nicht nur in den islamischen Mystikdiskurs ein, sondern auch in das deutschsprachige kulturelle Gedächtnis, das um persische und arabische Dichtung sowie islamische Mystik erweitert wird. Durch die Analogie der christlichen mit der islamischen Mystik und den gemeinsamen Bezug auf die göttliche Transzendenz bei gleichzeitiger fehlender Ausführung zur christlichen Mystik wird dabei einer Inferiorisierung der islamischen Mystik entgegengewirkt, wie dies in den hegemonial besetzten Diskussionen um das Christentum und den Islam bzw. den Westen und den Islam der Fall ist. Damit ist dem literarischen Text eine Widerstandsstrategie gegenüber dem inferiorisierenden Islamdiskurs inhärent, die sich auch in der Darstellung der

104 Vgl. hierzu auch Kermanis eigene Aussage, dass die islamische Mystik und ihre Texte in den westlichen Islamwissenschaften und auch bei den Muslim*innen kaum bekannt seien: Texte von Ibn ʿArabī und Bahar Walad »are no common knowledge in the Muslim community or in Western Islamic Studies«. Helga Druxes, Karolin Machtans: Interview with Navid Kermani. In: Navid Kermani, S. 35–48, hier S. 40.

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Identität zeigt. So verzichtet der Roman auf eine nationale, kulturelle und religiöskonfessionelle Positionierung des Erzählers, was den Zuschreibungscharakter der Identität ausweist, da der Text auch ohne die Verortung des Jungen funktioniert, und bestätigt dies weiterhin in der Übertragung der Zuschreibungsfunktion auf die Rezipient*innen. Die religiöse Identität spielt für den Heranwachsenden in Bezug auf seine Einbindung in die Gesellschaft keine Rolle und für den erwachsenen Erzähler ebenfalls nicht. Der Roman begegnet mit dieser Aussage den Klischees, wonach Muslime sich grundsätzlich nicht in eine christlich-demokratische Gesellschaft einfügen könnten. Die Thematisierung der islamischen Mystik stellt eine Alternative nicht nur zu institutionellen Religionen im Allgemeinen, sondern auch zu traditionellen Formen des Islam im Besonderen dar, ohne diese jedoch als inkompatibel zu diffamieren. Ferner positioniert sich der Erzähler auch nicht als Anhänger der islamischen Mystik, sondern ausschließlich als Gottgläubiger, der sich in Beziehung zu anderen Gläubigen wie auch Atheisten stellt. Der Roman ist in diesem Kontext auch in die Diskussion um die Säkularisierung und die ›Transformation des Religiösen‹ bzw. die ›Wiederkehr der Religion‹ eingebunden. Hier plädiert er allerdings explizit für eine Unterscheidung zwischen weltlichen und religiösen Erfahrungen, setzt also für religiöse Erfahrungen als solche eine ontologischen Transzendenz an. Die ablehnende Haltung zum Protestantismus der 80er Jahre sowie die Fokussierung auf die islamische Mystik setzen den Text in Bezug zur privaten bzw. unsichtbaren Religion. Die Religionsdarstellung zielt demnach auf die subjektive Beziehung des Menschen zu Gott, die sowohl als Alternative zur religiös-kulturellen Institution als auch zur Säkularisierung verstanden wird, und in der Beibehaltung und Reproduktion der Setzung als Kategorie sui generis als Idealform einer den hegemonialen und inferiorisierenden Subjektivierungen durch andere dominante Diskurse entzogen ist. Gleichzeitig lässt der Text jedoch auch eine säkulare Lesart zu, die vor allem auf den medialen Charakter jeglicher Erfahrung, also auch der mystischen, und damit auf Religion verweist. Die im Text beschriebenen mystischen Erfahrungen sind durch überlieferte Texte bzw. aufgestellte Kategorien vermittelt – damit ist aber die Deutung der Erfahrung, wenn nicht sogar die Erfahrungspraxis als solche, diskursiv vorgeprägt. Ähnliches gilt auch für die Erwartungen und Erlebnisse des ersten Kusses, deren Trivialität bereits durch Film und Literatur seriell gegeben sei (vgl. GL 31). Sowohl in Bezug auf die mystische Erfahrung als auch auf bestimmte »Grunderfahrungen« (ebd.), die man als Jugendliche*r mache, wirft der Text so die Frage auf, ob die Medien, die diese Erfahrungen vermitteln, diese nicht eigentlich erst erzeugen. In der Anordnung zweier Lesarten – der religiösen und der säkularen– stellt der Text aber gerade beide kritisch aus, indem er auf den jeweiligen medialen Charakter zielt und so die zuvor etablierte kategoriale Unterscheidung in der Struktur relativiert. Mystische Erfahrung als unio mystica oder fanāʼ vermit-

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telt so in einer ›Botenfunktion‹ zwischen Mensch und Transzendenz, bei der das zu Vermittelnde »präsent und gegenwärtig« gemacht wird, während das Medium sich der Wahrnehmung entzieht: eine Wechselwirkung zwischen »Versinnlichung und Entsinnlichung, Materialisierung und Immaterialisierung, Verkörperung und Entkörperung«.105 Indem die Erfahrung auf das Vermittelnde verweist, hier also das Transzendente/Unverfügbare versinnlicht ist bzw. sich am Körper materialisiert, wird dieser gleichzeitig als Medium in den Hintergrund gedrängt, da diese Erfahrung als unfassbar, unbeschreibbar markiert ist. Damit würde laut Krämer die Funktion eines Mediums erfüllt, nämlich das »Wahrnehmbarmachen von etwas Nichtwahrnehmbaren«.106 Wenn nun aber das Medium der mystischen Erfahrung in Große Liebe wiederum medial (Zitat der mystischen Aufzeichnungen) vermittelt wird, um dies dann in einer ›Umkehraktion‹ erneut erlebbar zu machen anhand der körperlichen Liebe, dann zeugt dies nur von der Unmöglichkeit, ›hinter‹ das Medium zu kommen, einen ›Ursprung‹ zu erreichen. Ob es nun ein Außerhalb des Medialen gibt oder nicht107 – eine unaufhebbare Differenz bleibt bestehen, nur das Medium ist verfügbar. Für die literarische Verarbeitung der Mystik in der Moderne hatte WagnerEgelhaaf eine ähnliche Beobachtung gemacht. Hier bleibe »die unio mystica immer eine Funktion des Wunsches nach Identität und somit Ausdruck erfahrener Nicht-Identität«.108 Diese »Differenzerfahrung« bzw. der »Bruch zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt« könne im metaphysischen Skeptizismus des modernen Subjekts nicht aufgehoben werden, sodass dieses in einer – auch literarischästhetischen – Suchbewegung verbleibe.109 Mit der Gegenüberstellung einer religiösen und einer als analog präsentierten weltlichen Erfahrung als nicht hintergehbaren medialen ›Formen‹ wird in Große Liebe allerdings nicht nur die Dezentrierung des Subjekts aufgezeigt, sondern die Frontbildung von essenzialisierenden und konstruktivistischen Positionen ausgestellt und kritisch reflektiert. Hierzu werden im Text verschiedene literarische Verfahren aktiv, die im Folgenden als eine Hybridisierungspraxis charakterisiert werden. 105 Sybille Krämer: Medien, Boten, Spuren. Weniger mehr als ein Literaturbericht. In: Was ist ein Medium? Hrsg. von Stefan Münker, Alexander Roesler. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, S. 65–90, hier S. 83f. 106 Ebd., S. 84. 107 Krämer widerspricht der Annahme, dass es kein Außerhalb der Medien gibt und diese damit die Gegenstände schaffen, die sie vermitteln. Vgl. ebd., S. 82. 108 Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, S. 224 u. 216. Michael Hofmann liest Kermanis Mystikdarstellung in Große Liebe vor dem Hintergrund von Wagner-Egelhaaf und Adorno als eine Suchbewegung nach Transzendenz, eine Erfahrung des ›Andersseins‹ in einer säkularisierten Welt (vgl. West-östlicher Ideentransfer: Sufismus bei Goethe und Navid Kermani. In: Ex Oriente Lux. West-östlicher Kulturtransfer. Hrsg. von Cemile Akyildiz Ercan, Yasemin Balci, Ali Osman Öztürk. Berlin: Logos 2019, S. 65–74). 109 Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, S. 222.

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Religion als diskursive Formation

VI.5

Verortungsstörungen – Hybridität als ästhetische Praxis

Die Frage nach Identität, nach Identifizierung ist Große Liebe von Beginn an eingeschrieben – auch als literarisches Verfahren: Mit dem Kind, das ich war, verbindet mich noch vieles. […] Ich sehe den Abiturienten vor mir und zögere nicht zu sagen: ich, den Studenten und den Studierten, den Ehemann und den Geschiedenen, den Sohn und in diesen Wochen so häufig den Vater, und wüßte gar nichts anderes zu sagen als: ich. Allein der Junge […], ja wirklich schon närrisch zu nennende Verliebte – wer soll das sein? […] Dennoch erkenne ich mich in dem Jungen nicht wieder, ist er nicht ich und die Verfremdung durch die dritte Person mehr als bloß ein literarischer Trick. (GL 16) Recht früh in seiner Erzählung distanziert sich der Erzähler von seinem erlebenden Ich und stellt mit dem Verweis auf die Verfremdung den ›literarischen‹ Charakter seiner Schilderung aus. Gleichzeitig wird mit der Aufzählung verschiedener Identifizierungsmöglichkeiten auf den Bruch mit Essenzialisierungsansprüchen verwiesen, die sich nicht auf eine, sondern vielmehr auf verschiedene, sich überkreuzende Verortungsmodalitäten, sei es national, kulturell, religiös, sozial etc., beziehen und den Erzähler wie auch sein Erzählen als hybrid, damit aber als aufstörend und aushandelnd präsentieren. Diese Bedeutung von Hybridität als Praxis kultureller Subversion findet sich bereits bei Bhabha, der Formen des ›Widerstands‹ bzw. der Problematisierung essenzialisierender, homogenisierender und diskriminatorischer Praktiken der Autorität bzw. des dominanten Diskurses in den Vordergrund rückte. Noch 2007 hat Bhabha in einem Interview hervorgehoben, dass ich, als ich über Hybridisierung gesprochen habe, den Dritten Raum und die liminale Bedeutung in einem spezifischen Kontext angesprochen habe, und gerade nicht so sehr im Kontext von Identität und Ontologie. Der Begriff der Hybridisierung nimmt zwar Bezug auf die Verfasstheit des Subjekts, es geht dabei aber nicht um die Konstitution von Subjektivität als solcher, sondern um die Konstitution von Subjektivität im Spannungsfeld von Macht und Autorität […].110 Laut Bhabha kann dieser Begriff im Kontext von Fragen nach hybriden Subjekten zwar gestellt werden, vielmehr gehe es ihm jedoch darum, »wie die Teile miteinander und mit äußeren Kräften der Gemeinschaftsbildung in Verhandlung treten,

110

Homi K. Bhabha: Round-Table-Gespräch. In: Ders.: Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung. Aus dem Engl. von Kathrina Menke. Hrsg. und eingeleitet von Anna Babka und Gerald Posseit. Mit einem Nachwort von Wolfgang Müller-Funk. Wien, Berlin: Turia + Kant 2007, S. 59–76, hier S. 62.

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wie diese Interaktionen stattfinden. Hybridisierung ist für mich folglich ein Prozess, eine Bewegung und dreht sich nicht um multiple Identitäten«.111 Bhabha hat den Hybriditätsbegriff anhand seiner Analyse »archivalischer Narrative« von Bekehrungspraktiken in Indien im 19. Jahrhundert entwickelt, indem er sich Berichte über die Missionierung oder Bibelübersetzungen angeschaut hat. Hier erarbeitete er ein Verständnis von Hybridität, dessen Fokus auf einem prozessualen bzw. ›praktischen‹ Aspekt liegt: »Hybridität […] ist die Umwertung des Ausgangspunktes kolonialer Identitätsstiftung durch Wiederholung der diskriminatorischen Identitätseffekte.«112 Gemeint ist hier, dass diskriminatorische Praktiken auf einer grundsätzlichen Differenzsetzung zwischen sich und dem Anderen basieren, welche wiederum, so Bhabha, gerade für die Sichtbarmachung dieser Differenzsetzung bzw. Verleugnung produktiv genutzt und den kolonialen bzw. inferiorisierenden Blick zurückwerfen können. Diese Re-Artikulation, diese Aneignung der autoritären Position wird von derselben wiederum als Störfaktor, als Unsicherheit aufgenommen: »Hybridität repräsentiert jene ambivalente ›Verwandlung‹ des Untertanen/Subjektes in das schreckenerregende, entstellte Objekt paranoider Klassifikation – eine beunruhigende Infragestellung der Bilder und Präsenzformen der Autorität.«113 Explizit betont Bhabha auch an dieser Stelle, dass Hybridität für ihn nichts mit der Identität zwischen zwei Kulturen zu tun hat und dass sie nicht einfach verdrängte Inhalte zutage fördert: Vielmehr handelt es sich um einen Prozess bzw. ein Verfahren der Umkehrung und Verfremdung dominanter bzw. autoritärer Positionen, des Fundaments ihres Autoritätsanspruchs. Neben Kermanis essayistischen Publikationen können gerade seine literarischen Texte als Inszenierungen der Problematisierung von kultureller bzw. kollektiver Identität gelesen werden, als Verortungsstörungen, die auf Hybridität stets im Kontext von Macht und Fremdpositionierung und deren zugrundeliegender Differenzsetzung verweisen. Mit Bhabhas Blickrichtung, Hybridisierungsprozesse als performative Verunsicherungen, Störungen dominanter und damit Aushandlungen anderer Positionen in einem Dritten Raum, in einem Zwischenraum, dessen nähere Beschreibung bei ihm durch den Begriff der Schwelle geschieht, zu verstehen, kann Hybridität hier als ein literarisch-ästhetisch Verfahren, eine ›ästhetische Praxis‹ gelesen werden, bei der Symbole, Diskriminierungspraktiken, Verortungen der Autorität bzw. des dominanten Diskurses aufgegriffen, problematisiert, reartikuliert, umgedeutet oder verfremdet werden können – diesem Prozess ist in seiner performativen Ausprägung ein subversives Potenzial eingeschrieben.114

111 112 113 114

Ebd., S. 65f. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 165. Ebd., S. 168. Vgl. Reckwitz: Ästhetik und Gesellschaft, S. 44.

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Damit lassen sich die bereits getroffen Aussagen zur Hybridität im Kontext von Identität sowie die Verschiebung der Zuschreibung in den Rezeptionsprozess als Verfahren einer Problematisierung dominanter Positionen lesen. Ein anderes Beispiel findet sich in der Religionsdarstellung. Große Liebe führt die profane Erfahrung einer Jugendliebe mit der einer mystischen Vereinigung zusammen. Bezeichnend ist, dass vor dem Kontext des rigiden Protestantismus der 1980er Jahre die islamische Mystik im Text als Alternative zu institutionalisierten Ordnungsformationen aufgebaut wird und damit eine »aufklärerische Funktion«115 aufweist. In dieser Volte werden die gegenwärtigen inferiorisierenden Aussagen über einen holistisch verstandenen ›Islam‹ gewendet, ohne diesem eine Autorität zuzusprechen, da in Große Liebe die mystische Erfahrungen als solche, also auch explizit christliche, aufgerufen werden. Auch die Erwartungshaltung an Autor*innen mit Migrationshintergrund, zu ›ihrer‹ kulturellen Herkunft Position zu beziehen, wird hier über die im Text gezielt gestreuten autobiografischen Hinweise (Alter, Herkunft, Wissenshorizont) inszeniert, allerdings in eine autofiktionale, kritische Reflexion des Autobiografischen an sich, ausgedrückt durch die Narration des Erzählers, verkehrt. Diese ist jedoch nicht zuverlässig, sondern täuschend und irreführend, da er einerseits nicht alles erzählt, was er weiß, dieses aber auch gleichzeitig basierend auf der Unzuverlässigkeit von Erinnerung problematisiert. Zudem nimmt er seine eigene Erzählung nicht ernst und ironisiert sein Vorhaben, weltliche mit mystische Erfahrung zu vergleichen, wobei er hinsichtlich der mystischen Erfahrung nicht einmal eine autoritäre Position innehat, da er selbst solche Erfahrung nicht erleben konnte. Seine feministische Grundhaltung wird als eine scheinbare entlarvt, da er dem Gegenpart seiner Liebe die Stimme verweigert. Bezeichnenderweise erscheint dabei gerade der beschriebene Heranwachsende in der Darstellung mit all seinen übertriebenen Aktionen, seiner Fokussierung auf das Mädchen und seiner Ichbezogenheit authentischer als der ältere, reflektierende und belesene Erzähler selbst, der sowohl an seiner Erinnerung zweifelt als auch seinen eigenen Erzählverlauf korrigiert. Der Text nutzt das literarische Mittel der Ironisierung, um den Autobiografen, der seine Jugend kritisch und reflexiv zu schildern meint, zu inszenieren – und gleichzeitig wird auf einer metafiktionalen Ebene die Gattung der Autobiografie an sich in der autofiktionalen Ausformung ebenfalls ironisiert: Eine zweifache Ironie also, die damit auch gleichzeitig die Leserschaft in die Irre führt, die nach autobiografischen Hinweisen zum Autor Kermani sucht. Die Ironie der Ironie, die hier nicht allein als stilistische Figur funktioniert, greift auf ein philosophisch-ästhetisches Verständnis bei Friedrich Schlegel zurück, wie er es in Über die Unverständlichkeit ausgeführt hat:

115

Hofmann: West-östlicher Ideentransfer, S. 69.

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Endlich die Ironie der Ironie. Im allgemeinen ist das wohl die gründlichste Ironie der Ironie, daß man sie doch eben auch überdrüssig wird, wenn sie uns überall und immer wieder geboten wird. Was wir aber hier zunächst unter Ironie der Ironie verstanden wissen wollen, das entsteht auf mehr als einem Wege. Wenn man ohne Ironie von der Ironie redet, wie es soeben der Fall war; wenn man mit Ironie von einer Ironie redet, ohne zu merken, daß man sich zu eben der Zeit in einer andren viel auffallenderen Ironie befindet; wenn man nicht wieder aus der Ironie herauskommen kann, wie es in diesem Versuch über die Unverständlichkeit zu sein scheint; wenn die Ironie Manier wird, und so den Dichter gleichsam wieder ironiert; wenn man Ironie zu einem überflüssigen Taschenbuche versprochen hat, ohne seinen Vorrat vorher zu überschlagen und nun wider Willen Ironie machen muß, wie ein Schauspielkünstler der Leibschmerzen hat; wenn die Ironie wild wird, und sich gar nicht mehr regieren läßt.116 Im Fall von Kermani kann man von einer Ironie sprechen, die sich auf das Vorhaben des Erzählers bezieht, seine jugendliche Verliebtheit mit der mystischen unio zu vergleichen. Die Textgestalt und Ausführung in Form des ironischen Gestus des autobiografisch und erinnerungstheoretisch reflektierten Erzählers verkennt aber dabei, dass sie sich gleichzeitig selbst ironisiert und delegitimiert, sodass am Ende die Ichsucht des Jungen, die bloßgestellt werden sollte, als das eigentlich Authentische stehen bleibt; dem Schaffensprozess der Erzählung, den der Erzähler reflektiert und problematisiert, entgeht aber gerade diese Volte: Der ›Autobiograf‹ stellt sich selbst bloß – in Bezug auf den Liebesvergleich, auf die Schilderung seines jüngeren Ichs, seine (›nur‹ angelesene) Kenntnis der Mystik, sein Schreibprozess sowie sein Frauenbild. Die Ironie erster Ordnung auf der Ebene des Textes wird damit aufgehoben, indem die Ironie zweiter Ordnung die Reflexion der künstlerischen Textproduktion unterläuft. In diesem Kontext stellt sich auch die Frage, wie die Aussagen des Erzählers zur islamischen Mystik aufzunehmen sind, wenn der Erzähler als solcher als unglaubwürdig qualifiziert wird. Der Versuch des Erzählers, weltliche und mystische Liebeserfahrung gleichzusetzen, wird vom Text unterlaufen, ja er muss sogar scheitern, da dem Erzähler gerade die mystische Erfahrung fehlt. Der Erzähler kann den Lesenden demnach nur eine Vermittlung ›vermitteln‹ – Identität, ›reine Essenz‹ ist nicht verfügbar. Damit ist aber weder ein ›wahres‹ Ich noch dessen Erinnerungen, Erfahrungen oder Geschichte unmittelbar zugänglich, sondern immer medial gebrochen. Auf einer anderen Ebene sind hingegen die Texte anzusiedeln, auf die der Erzähler referiert, die er im Gegensatz zu Juttas Brief zitiert und die in einem Litera-

116

Friedrich Schlegel: Über die Unverständlichkeit. In: Ders.: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe. Bd. II. Hrsg. von Ernst Behler. Paderborn: Schöningh 1967, S. 363–373, hier S. 368.

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turverzeichnis angeführt sind. Durch das intertextuelle Einweben der mystischen Tradition und der Dichtung werden diese nicht nur in das kulturelle Gedächtnis aufgenommen und neben die christliche Religion gleichberechtigt gestellt, sondern sie dienen gleichzeitig als Wegweiser, sich der Mystik im Allgemeinen, der islamischen aber im Besonderen zu nähern. Die ›Glaubwürdigkeit‹ dieser Texte wird durch Zitation und Quellennachweis erbracht, eine Authentifizierungsstrategie, die auf die Glaubwürdigkeit von wissenschaftlichen Aussagen referiert; gleichzeitig aber wiederum ironisch unterlaufen, weil es sich auch bei diesen Argumentationsmustern und Texten um medialisierte Strategien handelt. Das autofiktionale Spielen mit den Gattungsgrenzen und -konventionen eröffnet dem Text einen semantischen Raum, in dem die gesetzte Grenze des Fiktionalen/Faktualen transgressiert, normalisierte Zuschreibungskonventionen sichtbar und als konventionalisierte Praktik der generischen Zuweisung von Textsorten in fiktionale und faktuale hinterfragt werden. Die Vereindeutigung und Zuordnung von Kategorien auf verschiedene Textsorten wird hier als literaturwissenschaftliche Zuschreibung, als Wissenschaftspraxis offengelegt, die das Wissen, von dem sie spricht, produziert. Durch die Verlagerung der Eindeutigkeitssuche auf die Rezipient*innen wird auch Religion als ambivalent aufgezeigt bzw. durch eine säkulare Lesart über die Analogie zur körperlichen Liebe kontrastiert. Dabei stellt der Text keine Wertung hinsichtlich der etablierten institutionellen Religionen auf, die Abgrenzung gegen den Protestantismus ist eine textimmanente und bezieht sich auf die Darstellung des Zeitgeistes der frühen 1980er Jahre. Gesetzt wird in Große Liebe die ontologische Grenze zwischen Transzendenz und Immanenz, der Weg dahin wird hingegen frei-, die Mystik als Alternative vorgestellt und gegen bestimmte Formen von subjektiver Erfahrung abgegrenzt. Im Zeitalter von pluralistischer Identitätsbildung, Säkularisierung und individualisierter Religiosität bleibt der Text der traditionellen Religionsvorstellung als eigenständiger, vom Kulturellen getrennter Sphäre verhaftet, stärkt allerdings entschieden die Möglichkeiten, aber auch die Verantwortung des Einzelnen. Während selbstbezogene Rauscherfahrungen oder körperliche Liebe mehrfach und jederzeit, ohne große Vorkenntnis oder Übung, herbeigeführt und erlebt werden können, ist dies bei der mystischen Erfahrung nicht der Fall. Diese ist weder einfach zu finden noch schnell herbeizuführen, sondern erfordert eine bewusste Grundeinstellung und eine dementsprechende praktische Ausübung. Die Aufwertung religiöser Erfahrung in der Verantwortung des jeweiligen Subjekts, ohne Einbindung in eine schützende bzw. stabilisierende Doktrin, soll in diesem Text daher nicht nur als Alternative zur institutionellen Religion gelesen werden, sondern auch als Alternative zum polemisch aufgegriffenen ›anything goes‹ der Postmoderne und zum Säkularisierungsparadigma bzw. -dogma, gegen das der Text mit seinem Erfahrungsprimat ebenfalls anschreibt. So wird dann formal zwar die Analogie von weltlicher und mystischer Liebe bezüglich des älteren

VI Navid Kermani: Große Liebe

Ich-Erzählers unterlaufen, erscheint aber in Bezug auf den Heranwachsenden wiederum gestärkt – als eine anthropologische Grunderfahrung, die allen Menschen möglich und u.a. auch als religiöse erfahren werden kann. Ironisiert wird in dieser Analogie also nicht der Versuch, profane und religiöse Erfahrungen zu vergleichen, sondern der Ich-Erzähler, dem dies durch seine ›rationalisierte‹ Herangehensweise und Kategorisierung nicht gelingt und diesen vielmehr als unzuverlässigen ausweist, was wiederum alle seine Aussagen infrage stellt – und damit erneut den kritischen Reflexionsprozess auf die Rezipient*innen verschiebt. Das einzelne Vorkommen bzw. Nebeneinanderstehen dieser Verfahren und Themen würde allerdings noch keine Hybridität ausmachen, sondern nur das Verständnis davon als »Obstsalat«117 . Das den Text konstituierende ästhetische hybride Verfahren liegt gerade in der Interaktion der einzelnen, oben aufgeführten ästhetischen Praktiken, bei der dominante Positionen, wie generische Zuweisungen, rationale Argumentationsstrategien, kritischer Erzählerhabitus, Umkehrung von Inferiorisierungspraktiken, Ausstellung der eigenen Medialität, aufgerufen und in ihrem Kern dezentriert, damit aufgestört, reartikuliert und neu besetzt werden. Greift man zudem die inszenierte Reflexion des Erzählens, des Erinnerns, die Unzuverlässigkeit und die formal unkonventionelle Gestaltung und Struktur, die nie das einhält, was sie verspricht, auf, dann findet sich in Große Liebe eine Interaktion verschiedener ästhetischer Praktiken, die gerade in ihrem performativen Zusammenwirken auf eine Störung ›automatisierter‹ Praktiken der Rezeption gerichtet ist und als »Entautomatisierung«118 ihr subversives Potenzial entfaltet. So kann gerade über Literatur die Kategorisierung, die Zuschreibung und Festlegung von Identität hinterfragt und kritisch ausgestellt werden, was der Meinung des Erzählers in Kermanis Dein Name entspricht: Dennoch folgt, was nur Zufall war, der Logik der Literatur, insofern es der Auftrag des Romanschreibers ist, sich kollektiven Zugehörigkeiten gerade zu entziehen, sie in Frage zu stellen, sie zu verwerfen. Auch wo ihre Motive religiös sind, ist Literatur niemals repräsentativer Ausdruck einer bestimmten Glaubensgemeinschaft, sondern notwendiges Zeugnis eines einzelnen, der sich im Glauben oder Unglauben, im Zweifel oder in der Erkenntnis mit transzendenten Erfahrungen, Texten und Traditionen auseinandersetzt – selten zur Zufriedenheit derjenigen, die qua Ausbildung und Amt diese Religion vertreten.119

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Kien Nghi Ha: Ethnizität und Migration reloaded. Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs. Berlin: Wissenschaftlicher Verlag 2004, S. 143. Vgl. zum Aspekt der Störung von Rezeptionsautomatismen Annette Brauerhoch, Norbert Otto Eke, Renate Wieser, Anke Zechner: Entautomatisierung. Zur Einleitung. In: Entautomatisierung. Hrsg. von dens. Paderborn: Wilhelm Fink 2014, S. 9–18. Kermani: Dein Name, S. 1020.

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Religion als diskursive Formation

Hinter dieser Aussage des Erzählers schwingt auch die Poetologie Kermanis mit, die darauf verweist, mit Zuschreibungen zu brechen.120 So sind auch seine literarischen Texte, die im folgenden Kapitel thematisiert werden, Versuchsanordnungen, bei denen die verschiedenen Formen der Beziehung zwischen Mensch und Gott vorgestellt und durchgespielt, hinterfragt und kritisiert werden. Die positive Hierarchisierung der mystischen vor der esoterisch-spirituellen und rauschhaften Erfahrung verweist dabei auf eine Präferenz, die seine Texte aussprechen, ohne sie dogmatisch zu setzen. Deutlich wird dies an dem ironischen Unterton, der jedem Text von Kermani eigen ist, damit aber die Texte in ihrer Aussage nicht umkehrt, sondern dem Dogmatischen den Boden unter den literarischen Füßen entzieht. Die Reproduktion der Religion als Kategorie sui generis, deren Bruch nicht den nationalen und kulturellen Identitäten gleich vollzogen wird, bleibt aber gerade vor diesem eigenen Anspruch problematisch.

VI.6

Große Liebe und das literarische Werk von Navid Kermani

Vergleicht man die Ergebnisse mit Kermanis anderen literarischen Publikationen, kann man für mehrere Themen von einer Werkkonstante sprechen. Das 2002 erschienene literarische Debüt Das Buch der von Neil Young Getöteten thematisiert die Musik von Neil Young, deren Einfluss auf das Leben des autodiegetischen Erzählers sowie besonders ihre heilende Wirkung auf die Koliken dessen neugeborener Tochter. Dabei stellt der Text eine »Verbindung zwischen westlicher Popmusik und islamischer Mystik«121 dar, bei der ästhetisches und mystisches Erleben zueinander in Beziehung gesetzt und verglichen werden.122 Dieser Text, bislang in der Forschung gattungsspezifisch nicht weiter eingegrenzt, thematisiert metafiktional sein eigenes Entstehen als Übereinstimmung eines ästhetischen Erlebnisses mit der Lektüre religiöser Texte:123 Die Assoziation, auch zum Titel, kam von der Handschrift Das Buch der vom Koran Getöteten:

120 Vgl. Kermanis poetologische Ausführungen: Navid Kermani: Über den Zufall. Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe. München: Hanser 2012. 121 Hofmann, Patrut: Einführung in die interkulturelle Literatur, S. 82. Hobus sieht in diesem Text ebenfalls eine Verbindung zur Pop- und Jugendkultur. Vgl. Jens Hobus: Down by the River: Music, Love, and Memory in Navid Kermaniʼs Work. In: Navid Kermani, 2016, S. 107–119, hier S. 119. 122 Vgl. hierzu ebd. 123 Die Problematik der Gefahr, Autor und Erzähler gleichzusetzen, wird bereits bei Kermanis erstem literarischen Text ersichtlich, dessen Erzähler von Hobus als Kermani gelesen wird, obwohl er selbst im Fall von Kermanis literarischen Texten von »autofictional works« spricht. Vgl. ebd., S. 107f.

VI Navid Kermani: Große Liebe

Noch bevor ich die Handschrift studierte, faszinierte mich ihr Titel. Ich hatte das Gefühl, genau zu wissen, was gemeint war. Zu der Zeit hörte ich oft Down by the River, und das zog mir jedesmal das Herz zusammen, bis ich für eine Zehntelsekunde meinte, ersticken zu müssen. Als ich auf Das Buch der vom Koran Getöteten aufmerksam wurde, erschien es mir daher keineswegs kurios oder unglaubwürdig, daß die Menschen durch einen Gesang getötet worden sein sollten. Was in dem Manuskript behandelt war, das mußte, so stellte ich es mir vor, die Zuspitzung oder das Extrem eben jener Erfahrung sein, die mir Neil Young bereitete.124 Der Erzähler stellt nach der Lektüre fest, dass seine Annahme »sich auf eine ästhetische Grunderfahrung bezieht, die Menschen seit jeher versucht haben zu rationalisieren.«125 Während Hofmann hervorhebt, dass hier eine »Realisation religiöser Denk- und Erfahrungsmuster«126 über die Musik umgesetzt werden, liest Breysach den Text auch als »Paralleltext zu Kermanis Studie Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, die sich der sinnlichen, rhythmisch-musikalischen Ästhetik des Korans widmet«.127 Menschliche, vor allem alltägliche Erfahrungen sind das Thema der zweiten Publikation, Vierzig Leben, aus dem Jahr 2004, die bislang so gut wie gar nicht von der Forschung besprochen wurde. Hier handelt es sich um eine Sammlung von Geschichten, die »am alltäglichen Erlebnis das Drama der menschlichen Existenz vorführen«.128 Jede der 40 Geschichten ist mit einem »Königswort« (Klappentext) als Überschrift versehen. Das Muster für die Überschriften und die Anordnung bildet der Text Erklärung der Standplätze der Reisenden, ein sufischer Text von Khadja Abdollah Ansari aus dem 11. Jahrhundert. Dabei steht in den Geschichten nicht die ausführliche Deklination von religiösen und philosophischen Begriffen im Mittelpunkt, sondern die – nicht harmlosen – Erfahrungen der Menschen. Diese Personen sind die Protagonisten der jeweiligen Erzählungen. Den roten Faden, der die Geschichten als Einheit verbindet, bilden der Erzähler, die Stadt Köln und die dort gegenwartsnah spielenden Ereignisse sowie die Textgestaltung der jeweiligen Geschichten. Diese sind nach demselben Prinzip aufgebaut: Zuerst die Überschrift, dann eine kurze, aus hypotaktischen Sätzen bestehende Geschichte, die den Inhalt nicht ausgestaltet, sondern vielmehr auf eine einzelne, für die Person bestimmende Erfahrung komprimiert. Dabei erzeugt die Verdichtung eine klare Linie, die 124 Navid Kermani: Das Buch der von Neil Young Getöteten. In: Album, S. 7–102, hier S. 68f. 125 Ebd., S. 69. 126 Michael Hofmann: ›Islam‹ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Zafer Şenocak, Navid Kermani, Sherko Fatah. In: Gegenwart schreiben, S. 49–59, hier S. 59. 127 Barbara Breysach: Zur Poetik interkultureller Literatur am Beispiel von N. Kermani, E.S. Özdamar und SAID. In: Germanistik ohne Grenzen. Studien aus dem Bereich der Germanistik. Bd. 2. Hrsg. von Szabolcs János-Szatmári. Klausenburg: Partium 2007, S. 41–53, hier S. 45. 128 Tobias Lehmkuhl: Funken auf der Glatze schlagen. Navid Kermani erzählt von Vierzig Leben und ihren Widersprüchen. In: Berliner Zeitung vom 29. April 2004, S. 28.

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auf die Überschrift referiert. Die Personen, die in den einzelnen Kurzgeschichten im Vordergrund stehen, sind unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichen Alters, Berufs und Geschlechts.129 Zumeist wird die Religionszugehörigkeit oder auch Herkunft nicht erwähnt, ausgenommen dort, wo von einem Ereignis berichtet wird, das in diesen Kontext zu stellen ist.130 Religion wird hier als zum Alltag gehörend evoziert, religiöse Begriffe werden selbstverständlich gebraucht und zum Teil in einen nicht religiösen Kontext gestellt.131 Der Erzähler ist zwar Teil der fiktiven Welt, tritt aber explizit als Vermittler dieser Geschichten auf, von denen er die meisten aus zweiter bzw. dritter Hand erfahren hat. Die Überformung, Ausgestaltung und Veränderung einer Geschichte durch Vermittlung stellt neben den alltäglichen Erfahrungen das zweite wichtige Thema dieser Sammlung dar, deren Erzähler als ein unzuverlässiger bezeichnet werden kann, der Berichte von anderen wiederholt oder teilweise nicht weiß, »welche Beschreibung auf das Gespräch am Tresen, welche auf meine Phantasie zurückgehen«.132 Mit Du sollst erschien 2005 ein Text, der bei Theologen*innen eine widersprüchliche Rezeption auslöste.133 Hier findet die Leserschaft zehn Kapitel vor, die in den Kontext der Zehn Gebote, die dem jeweiligen Kapitel vorstehen, eingebunden sind, sowie ein elftes Kapitel, das in Form eines Briefes verfasst ist. In den zehn Kapiteln, die mit jeweils einem Gebot überschrieben sind, berichtet ein Erzähler von zehn Liebesbeziehungen, die unterschiedlich geartet sind und sich vor allem auf den sexuellen Akt konzentrieren.134 Die Beziehungen sind dabei vor allem durch Gewalt, Zwang, Macht und Missverständnisse und falsche Erwartungen charakterisiert. Die Ereignisse stehen in einem Verhältnis zu den jeweiligen Geboten. Im letzten Kapitel schildert ein autodiegetischer Erzähler in einem Brief an einen Kommissar die Ereignisse, die zum Verschwinden eines Professors der Religionswissenschaften, mit dem der junge Kollege eine homoerotische und zerstörerische sexuelle Beziehung hatte, führten.135 Bei der Erzählanordnung kann ein einzelner Erzähler aller Geschichten nicht identifiziert werden, auch weiß man nicht, ob die

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Jordan verweist darauf, dass die Sammlung eine »Atmosphäre der Allgemeinheit« aufbaue und »soziale, ethnische und religiöse Vielfalt« betone. Jordan: Für eine kämpferische Toleranz, S. 251 u. 253. 130 Vgl. Kermani: Vierzig Leben, S. 199ff., 202ff., 215ff. u. 229ff. 131 Vgl. ebd. 168ff., 170ff., 183ff., 188ff. u. 208ff. 132 Ebd., S. 177; vgl. auch S. 191, 206 u. 242. 133 Vgl. die theologischen Beiträge von Hamideh Mohagheghi: Der »Islam« in Navid Kermanis literarischen Schriften. In: Islam in der deutschen und türkischen Literatur, S. 259–266, Klaus von Stosch: Mit Gott ringen. Eine theologische Auseinandersetzung mit Navid Kermani. In: ebd., S. 267–278, und Muna Tatari: Ein Plädoyer für die Klage vor Gott. In: ebd., S. 279–285. 134 Vgl. zur Darstellung der Liebe in Du sollst Machtans: The Beauty and Terror of Love. 135 Es handelt sich bei dem Professor um einen Gelehrten der Religionswissenschaft und nicht der Islamwissenschaft, wie Machtans vermutet (vgl. ebd., S. 100).

VI Navid Kermani: Große Liebe

Geschichten aus den zehn Kapiteln diejenigen sind, die der Professor dem Briefschreiber berichtet hatte. Ferner hat Kermani in der Ausgabe von 2014 das erste Kapitel ersetzt durch ein abgewandeltes und teilweise umpositioniertes Zitat von Hosea 1–14, wobei das frühere erste Kapitel gerade auf diese Bibelstelle anspielte.136 Der Bezug zu den Zehn Geboten spiegelt dabei sowohl die Liebe als auch den Schrecken Gottes, wobei Du sollst, so Machtans, eine »illustration of the terror of love« sei.137 Der 2007 erschienene Text Kurzmitteilung trug als erster die Gattungsbezeichnung Roman und wird von Hoffmann als erster Roman Kermanis bezeichnet.138 Ausgangspunkt der Erzählung ist eine unerwartete SMS über den plötzlichen Tod einer Kollegin des Eventmanagers Dariusch, des autodiegetischen Erzählers, welcher wiederum auf dem realen Tod von Claudia Fenner, einer Bekannten Kermanis, basiert. Der Roman beschäftigt sich mit der Frage des Todes und dessen Bewältigung, vor allem im Kontext eines so plötzlichen und unerwarteten Todesfalls, den Lebenden und ihrem Umgang damit.139 Ausgeführt wird dies anhand der Gedanken und Erlebnisse des Erzählers, eines erfolgreichen, deutsch-iranischen Eventmanagers, der sich weder zu Deutschland noch zum Iran zugehörig fühlt, nicht religiös ist, sich jedoch die Fähigkeit zum Glauben wünscht, da diese in Todesfällen den Gläubigen einen Rahmen vorgibt, als sexistisch und machohaft dargestellt ist, am Ende seine eigenen Charakterschwächen reflektiert und als Lösung für sich den Eintritt in eine/n amerikanische/n Kult/Sekte wählt, die Matthes als Scientology identifiziert zu haben glaubt.140 Jordan liest den Text vor dem Hintergrund einer ironischen Verdrängungsstrategie (»ironic denial«), bei der der fiktionale Text einen Raum öffne, in dem die teilweise nicht artikulierten Widersprüche, denen sich die Zweite Generation der muslimischen Migrant*innen gegenübergestellt sieht, problematisiert werden könnten, ohne dass sich Kermani gezwungen fühle, eine Position zu verteidigen oder zu erklären141 – eine Lesart, die auf die Hybridisierungspraxis verweist. Der Text artikuliert demnach die Komplexität und Wechselbeziehungen zwischen Individuum und Mehrheitsgesellschaft und den religiösen Positionen, die Individuen einnehmen können. Matthes hingegen liest den Text

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Vgl. zur Bedeutung der Textveränderung ebd., S. 99. Ebd., S. 104. Vgl. Torsten Hoffmann: Literary Cemeteries: Recalling the Dead in Kurzmitteilung und Dein Name. In: Navid Kermani, 2016, S. 121–142, hier S. 121. 139 Zur Darstellung des Todes in Kurzmitteilung und Dein Name siehe Hoffmann: Literary Cemeteries. 140 Vgl. Matthes: Islam in the West, S. 305. Jordan verweist nur darauf, dass Dariusch einem Kult beigetreten ist, vgl. Jim Jordan: Identity, Irony and Denial: Navid Kermaniʼs Kurzmitteilung: In: Aesthetics and Politics in Modern German Culture. Hrsg. von Brigid Haines, Stephen Parker, Colin Riordan. Bern: Lang 2010, S. 166–177, hier S. 171. 141 Jordan: Identity, Irony and Denial, S. 175.

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vor allem in Bezug auf dessen Darstellung des Islam als das ›Andere‹ des Westens und die gleichzeitige Ökonomisierung im Zuge des Kulturbetriebs: In Kurzmitteilung, Kermani critically explores both his narrator, a Western Muslim, and the situation that produced him, a Western Europe where religion is replaced by a collective fear and threat of, but also voyeuristic view of ›the Other‹ (namely Islam) after ›9/11‹ and ›7/7‹, and the profitable exploitation of this fear and this curiosity by the culture industry and the media.142 Für Matthes führt der Text abschließend zu der Frage, ob kulturelle Bilder und Zuschreibungen überhaupt ›einfach‹ verändert werden können und ob die Annahme, dass allen Muslim*innen bestimmte Charaktereigenschaften eigen sind, die auch aktuell zu den häufigsten Vorurteilen zählt, eine Weiterführung des Orientalismus des 19. Jahrhunderts sei.143 Dein Name, der 2011 erschienene »Mammuttext[,] vereinigt in sich die Schreibweisen u.a. von Tagebuch, Beziehungs- und Familienroman, Reisereportage, Internetblog, Brief- bzw. SMS-Roman, poetologischer und wissenschaftlicher Abhandlung, politischem Essay und – das wird als Keimzelle präsentiert – nachrufähnlichen Gedenktexten«144 und umfasst den Zeitraum der Jahre 2006 bis 2011, in denen ein Erzähler, der von sich u.a. als Navid Kermani spricht und an den realen Autor angelehnt ist, eine Aufzeichnung über ihm nahestehende, verstorbene Personen anfertigen möchte und die mit der Zeit auf Alltagsdarstellungen und Reflexionen etc. ausgeweitet wird. Dein Name hat in der Kritik beachtliche positive Resonanz erhalten und war für den Deutschen Buchpreis nominiert. In diesem Text finden auch Kermanis poetologische Überlegungen Eingang, die er bei der Frankfurter Poetikdozentur 2010 vortrug und welche später nach Erscheinen des Romans eigens publiziert wurden.145 Der Roman ist auf vier Ebenen angesiedelt: 1. die Totengedenktexte, 21 an der Zahl, die als »Gedächtnisse« bezeichnet werden und im Roman verteilt sind und dessen Ausgang bilden; 2. der familiäre und berufliche Alltag des Erzählers, der 142 Matthes: Islam in the West, S. 315. 143 Vgl. ebd., S. 316. 144 Torsten Hoffmann: Navid Kermani. In: KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. www.munzinger.de/document/16000000779 (Zugriff: 25.07.2020). 145 Vgl. Kermani: Über den Zufall. Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe. Die beiden genannten Dichter sind von Kermani auch in Dein Name als Bezugspunkte für den Roman angeführt worden. Esther Schießer geht dieser Verbindung und Intertextualität zwischen Dein Name und Jean Pauls Texten explizit nach. Vgl. Esther Schießer: Kermaniʼs Reception of Jean Paul. Reconsidering his Frankfurt Lectures Über den Zufall and his Novel Dein Name. In: Navid Kermani, 2016, S. 143–161. Vgl. auch Claudia Berger, die sich der Frage eines realistischen Erzählens in Dein Name widmet. Claudia Berger: Umsichtig und ›objektvoll‹ konstruiert. Komplexe Welt(-ab-)bildung in Navid Kermanis Dein Name. In: Neue Realismen in der Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Søren R. Fauth, Rolf Parr. Paderborn: Fink 2016, S. 85–101.

VI Navid Kermani: Große Liebe

u.a. auch den Medien- und Kulturbetrieb problematisiert; 3. die Wiedergabe der großväterlichen, und in dessen Ergänzung auch der mütterlichen, Lebensaufzeichnungen, ein »religiös-politisches Panorama Irans im 20. Jahrhundert«146 und 4. die metafiktionale Auseinandersetzung mit der Literaturproduktion an sich, die sich vom Schreiben, Überarbeiten, Lektorieren bis hin zum Verlegen erstreckt. Dabei darf der Erzähler, trotz offensichtlicher Analogien und bewusster Bezüge, nicht eins zu eins mit dem Autor gesetzt werden; dies wird schon daran deutlich, dass der Verleger romanintern auf die Verwischung der Grenze zwischen Fakt und Fiktion verweist.147 Weitere Hinweise finden sich zusätzlich im Text, der einen Erzähler präsentiert, der seinen eigenen Bearbeitungsprozess thematisiert: So liegt der fertigen, »offiziellen« Fassung eine »Urfassung« zugrunde, die überarbeitet, gekürzt wurde, in der Ereignisse verändert und Erwähnungen vorverlegt wurden (so tauchte der Großvater erst auf Seite 743 auf und wurde vom Erzähler an den Anfang verschoben, wovon er erst am Ende berichtet), auf die der Verleger Einfluss genommen hat bzw. nehmen möchte und in der der Erzähler noch in der grammatisch ersten Person Singular schreibt, was er später in bewusster Verfremdung an den meisten Stellen in die dritte Person Singular änderte und nur an bestimmten Stellen in der ersten Person beließ; auch wurde die kritische Reaktion seiner Frau auf den Text verändert und die Namen aller Personen in der Überarbeitung, abgesehen der der Toten und Dichter, gelöscht – um nur einige Beispiele zu nennen.148 Zentrales Thema des Romans, neben dem Tod und der Lebensgeschichte des Großvaters, ist somit auch die Einbindung des Erzählers in den Medien-, Kultur- und Literaturbetrieb, der hier kritisch ob einer Ökonomisierung hinterfragt wird. So untersucht Druxes den Roman in einem neoliberalistisch-kritischen, gender-orientieren und postkolonialen Kontext, der nach dem dargestellten Leben eines Intellektuellen in der neoliberalen Ökonomie und der Krise der Genderrolle fragt.149 Im Jahr 2016 erschien mit Sozusagen Paris der Nachfolgeroman zu Große Liebe. Hier berichtete ein autodiegetischer Erzähler, der sich selbst als Autor eines Romans über die große Liebe ausgibt, von der zufälligen Begegnung mit dieser Frau und der Nacht, die die beiden im Gespräch über Eheprobleme und Tantra verbrachten. Aufgegriffen werden hier zudem essayistische Ausführungen zu den französischen Romanen des 19. Jahrhunderts sowie metatextuelle Diskussionen zwischen Erzähler und Lektor über den Text. Der Roman ist von der Kritik als Nachfolge-

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Gellner, Langenhorst: Blickwinkel öffnen, S. 309. Vgl. Kermani: Dein Name, S. 1067. Vgl. ebd., S. 1017, 1007, 1217, 1062, 1108 u. 454. Vgl. Helga Druxes: The Crisis of (Re)Productivity in Dein Name. In: Navid Kermani, 2016, S. 163–179.

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roman aufgenommen, allerdings größtenteils negativ bewertet worden: »Kermani erzählt nicht, sondern schwallt«.150   Überblickt man das Werk von Kermani, wird deutlich, dass sich die meisten Themen und formalen Gestaltungsweisen in den Vorgängern zu Große Liebe bereits wiederfinden – und in Sozusagen Paris fortgeführt werden. So ist die autofiktionale Anlage seiner Texte bereits in Die von Neil Young Getöteten zu finden, scheint bei Vierzig Leben durch, kommt in Dein Name poetologisch zum Tragen und wird in Große Liebe fortgesetzt – nur Du sollst und Kurzmitteilung verzichten auf diese autofiktionale Anordnung. Auch ist Kurzmitteilung der einzige Text, der einer eindeutigen Gattungszuordnung als Roman standhalten kann, während dies für die ersten drei sowie für die folgenden Texte problematisch erscheint. Die Gattungstransgression, die für Große Liebe festgestellt werden konnte, ist in Dein Name evident, in Neil Young bereits vorhanden und auch in Sozusagen Paris umgesetzt. Auch die Verfremdung zwischen Erzähler-Ich und Handlungs-Er ist vor Große Liebe bereits in Dein Name ausgeführt und fußt auf der intertextuellen Annäherung an Jean Paul,151 wird in Große Liebe aber als eine biografisch motivierte Verfremdung proklamiert, während in Dein Name die Bewusstseinswerdung des Kindes nachgeahmt werden soll,152 die hier gerade nicht an Lacans »Spiegelbild«-These angelehnt ist, bei der Kleinkinder im Alter von sechs bis 18 Monaten sich selbst im Spiegel erkennen, ein »Aha-Erlebnis« haben,153 sondern an die Entwicklung des Kindes, »das nicht mehr nur Empfindungen und Wünsche« erkennt, sondern dass diese »seine eigenen«154 sind, so der Ich-Erzähler, der damit die Verfremdung vom ursprünglichen Ich in ein Er begründet. Angespielt wird hier auf die »Theory of Mind«, ein Konzept der Kognitionswissenschaften und der Entwicklungspsychologie, mit dem die »Fähigkeit, Bewusstseinsinhalte als Ergebnis mentaler Akte (des Denkens, des Wünschens, des Wollens) zu begreifen«, gemeint ist.155 Diese Begriffsfähigkeit bei 150 Georg Patzer: Ein genervter Erzähler und eine ehemalige große Liebe. In: literaturkritik.de. http://literaturkritik.de/kermani-sozusagen-paris-ein-genervter-erzaehler-eine-ehemaligegrosse-liebe-navid-kermani-langweilt-mit-seinem-roman-sozusagen-paris,23044.html (Zugriff: 25.07.2020). 151 Vgl. hierzu Schießer: Kermaniʼs Reception of Jean Paul, S. 146. 152 Vgl. Kermani: Dein Name, S. 1065. 153 Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. Wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In: Ders.: Schriften I. Ausgew. und hrsg. von Norbert Haas. Freiburg/Breisgau, Olten: Walter 1973, S. 61–70, hier S. 61. 154 Kermani: Dein Name, S. 1065. 155 Doris Bischof-Köhler: Empathie, Theory of Mind und die Fähigkeit, auf mentale Zeitreise zu gehen. Zur Phylogenese und Ontogenese sozial-kognitiver Kompetenzen. In: Psychologie – Kultur – Gesellschaft. Hrsg. von Boris Mayer, Hans-Joachim Konradt. Wiesbaden: VS 2010, S. 47–69, hier S. 47. Vgl. einführend Doris Bischof-Köhler: Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend. Bindung, Empathie, Theory of Mind. Stuttgart: Kohlhammer 2011, sowie Theory

VI Navid Kermani: Große Liebe

sich selbst und auch bei anderen zu erkennen, würden Kinder im Alter von drei bis vier Jahren erreichen.156 Die Frage, die durch diesen Bezug aufgeworfen wird, zielt auf das Verhältnis zwischen Ich-Erzähler und Er-Erzähler in Dein Name: Zeigt sich in der als Navid Kermani, Romanschreiber etc. bezeichneten Figur ein Vorstadium des unreflektierten Ichs und inwiefern ist das literarisch anders zu deuten als die narratologische Differenz zwischen erzählendem und erlebendem Ich, die sich hier nur grammatisch anders verhielte? Eine ausführliche Analyse des Textes müsste sich dieser Fragen annehmen. Im Vergleich von Kermanis anderen Werken mit Große Liebe zeigt sich, dass die Unzuverlässigkeit des Erzählens, Berichtens und Vermittelns seit Vierzig Leben und Du sollst konstant das Werk durchzieht. Auch der Konstruktionscharakter von Literatur und des literarischen Feldes wurde ausführlich in Dein Name, und zwar im Kontext des gesamten Produktions- und Publikationsprozesses, problematisiert, in Große Liebe erneut aufgegriffen und in Sozusagen Paris wieder an den Literaturbetrieb angebunden. Die Inkonsistenz und Konstruktion von Erinnerung wird in Große Liebe allerdings zum ersten Mal in Kermanis Werk prominent dargestellt. Die metafiktionale Auseinandersetzung mit dem Prozess des Schreibens hingegen ist in Neil Young bereits angedeutet, wird allerdings erst in Dein Name evident und in den beiden folgenden Texten wieder aufgegriffen. Auch die binäre Geschlechterwahrnehmung seiner Charaktere zieht sich durch Kermanis Werk mehr oder weniger konstant: In Neil Young ist der Erzähler der Ansicht, dass Frauen eher harmonische und seichte Musik präferieren würden: »Wer mich des Machismo bezichtigt, liegt grundsätzlich nicht falsch, möge aber, um mir im Einzelfall Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ein Konzert von Neil Young besuchen.«157 In Vierzig Leben weisen die Geschichten eine eklatante Überrepräsentation von männlichen Figuren auf, in Du Sollst sind in den erzählten Episoden eher die Frauen einer dominierten Rolle ausgesetzt, die sexistische Haltung Dariuschs aus Kurzmitteilung ist bereits thematisiert worden wie auch der Eingriff in die Sprache der Frau des Erzählers aus Dein Name,158 die Analyse von Große Liebe hat ebenfalls auf den männerdominierten Standpunkt des Erzählers hingewiesen und auch in Sozusagen Paris wird dies weitergeführt. Bezeichnenderweise wird gerade hier, wo der Erzähler sich als der Erzähler eines Buches, das Große Liebe sein könnte, bezeichnet, diese Thematik intertextuell aufgegriffen: Der Erzähler geht bei einem Gespräch davon aus, dass sein Gegenüber (die ehemals große Liebe ›Jutta‹, von der man nun weiß, dass sie nicht so heißt, Medizinerin und Bürgermeis-

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of Mind. Neurobiologie und Psychologie sozialen Verhaltens. Hrsg. von Hans Förstl. Heidelberg, Berlin: Springer 2 2012. Vgl. Beate Sodian, Hannah Perst, Jörg Meinhard: Entwicklung der Theory of Mind in der Kindheit. In: Theory of Mind, S. 61–77. Vgl. auch Kermani: Neil Young, S. 14 u. 39. Hierzu Druxes: The Crisis of (Re)Productivity, S. 173.

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terin einer Kleinstadt ist, verheiratet, mit zwei Kindern) seinen Text kritisiert, es sei »eine rein männliche Sicht auf die Liebe«. Der Erzähler antwortet darauf und liefert damit metatextuell auch gleich die Interpretation seines Romans, dass »die Liebe […] nun einmal aus der Perspektive des Jungen« erzählt sei und gerade daran scheitere, »dass er sich nicht in das Mädchen hineinversetzen kann«.159 Zwei Aspekte entlarven auch hier den Erzähler: Erstens geht er davon aus, dass Jutta sein Buch meint, als sie die Kritik übt, wobei sie tatsächlich über Stendhals Über die Liebe spricht. Dem Erzähler ist das nicht bewusst und er verteidigt seinen Text, gibt aber in einem Metakommentar an die Leser*innen zu verstehen, dass dieser natürlich »längst gemerkt habe«, dass Jutta sich über Stendhal beschwert. Dieser Metakommentar zeigt nun wiederum die Selbstverständlichkeit, mit der der Erzähler davon ausgeht, dass die Leser*innen des fiktiven Romans bzw. Jutta seinen Text nicht für den »männlichen Blick« kritisieren würden. Zweitens, sollte es sich bei diesem Buch in Sozusagen Paris um Große Liebe handeln, und darauf wird angespielt, ist dem Erzähler die Einseitigkeit seines Textes gar nicht bewusst. Denn die oben bereits ausgeführte Kritik bezieht sich gerade nicht darauf, dass die Liebe aus der Perspektive des Jungen geschildert wurde, sondern dass der bereits erwachsene und den Jungen kritisch betrachtende Erzähler bei dessen fehlender Empathie verbleibt und auch in der Reflexion Jutta eine Stimme verweigert. Die Tatsache, dass in den meisten literarischen Texten von Kermani der ›männliche Blick‹ derart präsent ist und ausformuliert wird, deutet darauf hin, dass die Werke gerade versuchen, diesen für den Lesenden auszustellen und die Darstellung von Religion bewusst als eine ›männliche‹ zu kennzeichnen. Die über diese Analyse hinausgehende Frage wäre die nach den konkreten Geschlechterdarstellungen und -konstruktionen im Werk von Kermani – auch hinsichtlich Religion. Ein weiteres zentrales Motiv von Kermanis Werken ist die Auseinandersetzung mit der Frage der Identität. In Vierzig Leben wird ein heterogenes Tableau einer Gemeinschaft präsentiert, bei der die Herkunft der Personen zwar teilweise benannt, aber nicht weiter ausgeführt wird. Vielmehr wird sie erst dann thematisiert, wenn es das erzählte Geschehen erfordert, besitzt damit also keine alltagsweltliche Relevanz sui generis. In Kurzmitteilung hingegen, einem Text, der gerade die Herkunftsbewältigung als Thema aufweist, wird an der Figur des Dariusch der Prozess der Eigen- und Fremdzuschreibungen sowie das Vorhandensein von Stereotypen und Vorurteilen durchgespielt, die Kermani auch in einem Interview kommentierte: Gehören wir, die wir hier aufgewachsen sind und uns als Europäer verstehen, dem Westen an oder dem Islam? Diese Konzepte schaffen Identifikationen, die in der Realität sehr kompliziert sind. Indem wir diese Konzepte annehmen, verfestigen

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Kermani: Sozusagen Paris, S. 53.

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wir sie. Das heißt, Leute wie wir fühlen sich dann plötzlich primär als Muslime, denn zum Westen gehören wir ja scheinbar nicht.160 Neben dieser kritischen Reflexion bezüglich kultureller und religiöser Zuschreibungen, die Kurzmitteilung anregt, spricht der Text gleichzeitig die Ökonomisierung dieser Fremdzuschreibungen innerhalb des Kulturbetriebs an. So stellt Dariusch fest, dass seine Herkunft, die sich auch in seinem Namen zeigt, ihm einen Auftrag für ein Kulturfestival, das sich dem ›Islam‹ widmen will, beschert habe, »außerdem gab es seit 9/11 derart viel Islam, daß es sich finanziell nur lohnen konnte, mich auf dem Feld zu profilieren«.161 Die Unreflektiertheit des Protagonisten zeigt sich besonders darin, dass es für ihn unproblematisch ist, Geld mit seiner Herkunft zu verdienen, er aber den Kulturbetrieb dafür kritisiert, dass man ein ›islamisches‹ Festival ausrichten möchte und die Künstler dabei auf die Religion und das Attribut ›islamisch‹ festlege.162 Die Auseinandersetzung mit dem Thema der Identität findet in Dein Name hingegen vor allem auf der formalen Ebene statt. So dient der Wechsel in die dritte Erzählperson zwar auf der einen Seite einem Verfremdungseffekt, allerdings wird der Erzähler nicht einheitlich im gesamten Text als Navid Kermani bezeichnet, sondern es wird die Bezeichnung gewählt, die für den jeweiligen Kontext relevant ist, so ist er Vater, Sohn, Nachbar, Berichterstatter, Romanschreiber, Mann, Enkel, Freund, Muslim, Bruder etc. Durch diese manchmal verwirrenden Mehrfachbezeichnungen unterläuft der Roman bereits auf formaler Ebene den Versuch, die Identität einer Person auf einen einzigen homogenen Aspekt festzulegen, wogegen Kermani auch in seinen essayistischen Texten immer wieder anschreibt.163 Das Hauptmotiv von Kermanis Arbeit stellt allerdings die Beziehung zwischen Mensch und Gott in der gegenwärtigen Zeit dar, die sich als Religion, religiöse bzw. 160 Interview zwischen Navid Kermani und Ali Fathollah-Nejad: »Den Onkel Tom, den spiele ich nicht!« Ein Gespräch mit dem deutsch-iranischen Schriftsteller und Orientalisten Navid Kermani. In: Eurozine vom 27. Juli 2007; zit. n. Matthes: Islam in the West, S. 315. 161 Kermani: Kurzmitteilung, S. 406. 162 Die Strukturen, die hier für den Kulturbetrieb kritisiert werden, kommen in Dein Name für den Medien- und Kulturbereich erneut zur Sprache, so wenn der Erzähler ironisch berichtet, dass es für einen Videobeitrag um eine »Begegnung mit dem türkischen Islam« ging, wobei er selbst den iranischen darstellte: »Weil die Kamerafrau ihren Gang nochmals drehen wollte, mußten sie die Situation nochmals nachstellen, und diesmal wurde es erst recht lustig, weil sie das Klischee orientalischer Höflichkeit mit Vergnügen bedienten.« Kermani: Dein Name, S. 102. 163 Coury kommt in seiner Analyse Kermanis publizistischer Texte zu der Feststellung, dass Kermani einen »Kulturpatriotismus« aufweise, der sich aus der europäischen Aufklärung speise und »constructs a German identity very much linked to the Kantian idea of a Europe based on cultural pluralism and cosmopolitanism that recognizes the affinities between Islam and the Western European secularism.« David N. Coury: Kafka and the Quran. Patriotism, Culture, and Post-national Identity. In: Navid Kermani, 2016, S. 49–68, hier S. 51.

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mystische Erfahrung oder als göttliche Liebe164 zeigt. Für Matthes wird dies bereits an den Titeln evident: Even the titles of his collections of short stories have religious connotations: 40 Leben (2004) is a play on the number forty, which is highly symbolic in Islam as well as in the Judaeo-Christian tradition; Du sollst (2005) is a provocative erotic interpretation of the Ten Commandments.165 Der Titel von Neil Young ist eine Anlehnung an eine sufische Handschrift und die Anzahl der Kapitel in Große Liebe kann als 99 Namen Gottes + 1 als der Versuch des Erzählers, einen neuen zu finden, gelesen werden, da auch die Liebe des Jungen wiederholt mit der Napfschüssel verglichen wird, einem der Namen Gottes (vgl. GL 48). Eine andere Form der Thematisierung findet sich bereits in Neil Young, wo er ästhetische und mystische Erfahrungen, die er miteinander vergleicht, darstellt, wobei er konstatiert, dass das Bleiben im Entwerden der Mystik vorbehalten sei. In Vierzig Leben wird in einigen Geschichten die Mystik angesprochen, in Du sollst ist die Liebe der Menschen in Beziehung zur Liebe Gottes zentral, in Kurzmitteilung wird institutionelle Religion als Halt im Leben befragt, Dein Name beschreibt den mystisch-religiösen Hintergrund des Großvaters und die Annäherungen an die Rituale des Enkels und Sozusagen Paris befragt die gegenwärtigen Spiritualitätsthemen auf ihre Brauchbarkeit. Dabei zeigt sich in allen Texten ein roter Faden: Gesetzt ist die Annahme einer ontologischen Transzendenz, die erfahren werden kann, sei es in ihrer Schreckensgestalt oder in ihrer Schönheit. Während der Islam als ›verfasste‹ Religion im gegenwärtigen Deutschland in keinem der literarischen Werke explizit thematisiert wird, stellt die Darstellung der islamischen Mystik eine Werkkonstante dar, wobei die mystische Erfahrung als individuelle Beziehung zwischen Mensch und Gott priorisiert und explizit gegen spirituelle Strömungen abgegrenzt wird. Die Absetzung beruht dabei auf der Annahme einer qualitativen 164 Machtans sieht in Kermanis Werk Variationen des Liebesthemas, die mit der Frage nach Schönheit und Terror von Liebe verbunden sind und sich in den literarischen Arbeiten zeigen: »[W]hile men are ultimately searching for an everlasting bond with another individual in order to experience a mystical union, it is precisly the self-centeredness of love that ultimately prevents transcendence.« Machtans: The Beauty and Terror of Love, S. 87. Machtans liest daher Du sollst und Große Liebe dialektisch. Vgl. ebd., S. 104f. Von Stosch verweist zudem darauf, dass die Liebesbeziehung als Gottesbeziehung auch in der christlichen und jüdischen Mystik eine zentrale Rolle einnehme. Vgl. Klaus von Stosch: Kermaniʼs Writing on Islamic Religion. In: Navid Kermani, 2016, S. 69–85. 165 Matthes: Islam in the West, S. 306: »For instance, in Islamic belief, Muhammad was forty years old when he first received the revelation delivered by an angel; the universe is supported by forty pillars. Many incidents in the Bible such as Noah’s flood last forty days, and the Jews spent forty years in the wilderness; the number forty symbolises trial or testing, thus many rituals, such as fasting during lent, cover a forty-day period or are to be repeated every forty days.«

VI Navid Kermani: Große Liebe

Differenz zwischen mystischer und ästhetischer wie auch spiritueller Erfahrung, wie das in Neil Young und Große Liebe gezeigt wird. Auch gegen esoterische und moderne Anverwandlungen der Mystik ohne ihren verbindlichen Charakter grenzen sich die Texte ab: Vierzig Leben benennt dies explizit in der Geschichte Vom Gehorsam. Kritisiert wird hier vom Erzähler die moderne Strömung, mystische Inhalte aus ihrem Kontext zu lösen und den eigenen Ansprüchen anzupassen. Er verweist dabei darauf, dass Islam als Hingabe die Unterwerfung als »Akt der freiwilligen Selbstaufgabe« und Demut gegenüber einem Höheren voraussetze, wie es sich im islamischen Ritualgebet verkörpert […], aber davon ahnen die singenden Madonnen natürlich nichts, hat doch ihr Sufismus nicht viel mit der Arbeit zu tun, die der Islam gerade in seiner mystischen Prägung vom Gläubigen verlangt […].166 Die Betonung des Erzählers liegt hier auf der Pflicht und der Arbeit, die der mystische Weg von seinen Anhängern erfordert und die man sich nicht nach Belieben aussuchen kann. Hervorgehoben werden demnach die kulturellen Ausprägungen der Religion, die sich im Ritual zeigen. Die Kritik an der Ausschlachtung religiöser Traditionen zugunsten individueller Formen wird bereits in Neil Young aufgerufen, nämlich wenn man an etwas »Echtes rühr[e], aber es handzahm mach[e], so wie derjenige, der mit der Religion ringt und hadert, auf die Weichspülung der zeitgemäßen Kirchen und des New Age als eine zu billige Antwort schimpft.«167 Der Erzähler problematisiert somit den zeitgenössischen Umgang mit existenziellen Themen, für die weder die Kirchen noch die Spiritualität eine Lösung zu haben scheinen. Die Spiritualität strebe einen vereinfachten Weg an, der sich auch, hinsichtlich der Musik, in der fehlenden Disziplin zeige. Denn für die religiös-mystische Erfahrung, die über die ästhetische hinausgeht, brauche es Disziplin, an der es Neil Young fehle: »Alle Ekstase setzt die Zügelung voraus.«168 Die gleiche Kritik findet sich implizit in Du sollst wieder, nämlich in der Gegenüberstellung des Professors, der fromm gewesen sein soll, für den »Gott eine Realität« und Selbstmord unmöglich waren, »weil Gott den Selbstmord verboten hatte«, mit dem areligiösen jüngeren Kollegen, den der »mystische Kern [der Religionen] […] doch aus der Ferne fasziniere«.169 In Kurzmitteilung wird aus Sicht der Protagonisten der Islam als zu dogmatisch kritisiert, die moderne mystische Strömung, der die Schwester Minu anhängt, ebenfalls abgetan.170 Diese Formen der Aneignung grenzt der nichtgläubige Dariusch gegen »echte Spiritualität« ab, die auf »über Generationen

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Kermani: Vierzig Leben, S. 122. Kermani: Neil Young, S. 29. Ebd., S. 49. Kermani: Du sollst, S. 334f. u. 336. Vgl. Kermani: Kurzmitteilung, S. 459.

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gewachsenen Ritualen und Gebeten« ruht.171 Zwar ist Dariusch nicht als Identifikationsfigur angelegt, bieten seine Reflexionen in diesem Kontext allerdings einen kritischen Blick auf die gegenwärtige Religionslandschaft; dies wird noch mehr evident, wenn er sich zum Schluss, auf der Suche nach einem Halt, gerade nicht der institutionell verfassten Religion oder Spiritualität zuwendet, sondern einer Sekte. Auch in Dein Name wird das Moment der Pflicht, des Rituals und der Disziplin hervorgehoben. Der Erzähler fängt nach einigen Schicksalsschlägen bewusst mit dem Beten an, dies gerade nicht, wie er ironisch feststellt, um eine Versenkung wie im »Esoterikseminar Basisstufe I«172 formuliert, zu erreichen, sondern »betet er gern, das merkt er, aber nicht, weil es guttut, beziehungsweise tut das Gebet gerade dadurch gut, daß er nicht dafür da ist gutzutun. Es ist Pflicht, endlich einmal nicht Wellness.«173 Noch deutlicher – und für den religiösen Bezug des Erzählers zentral – heißt es später: Aber der wichtigste Grund ist das Gebet selbst geworden. Der Enkel meinte es zu verrichten, weil er glaubte; jetzt merkt er, daß er glaubt, weil er es verrichtet. Es tut wohl, sich vor etwas Höherem niederzuwerfen, das kein Mensch und nicht einmal eine Vorstellung ist, anzuerkennen, daß es etwas Größeres gibt als einen selbst […].174 Diese Stelle zeigt exemplarisch auf, dass für den Erzähler die Beziehung zwischen Mensch und Gott in Mittelpunkt seiner religiösen Annahmen steht, die er vor allem im Gebet ausgedrückt findet, das er deswegen höher als die Esoterik und Spiritualität bewertet, weil man sich hier gerade nicht erhole und entspanne, sondern einer Pflicht nachkomme. Inwiefern diese individuelle Argumentation als Kritikpunkt auf alle spirituellen Ausformungen übertragbar ist, ist nicht die Fragestellung dieser Untersuchung, deutet aber an, dass auch der Erzähler eine Auswahl getroffen hat. Interessant ist vor diesem Hintergrund daher ein Blick auf gegenwärtige literarische Texte, die verschiedene Spiritualitätsformen darstellen, mit der Frage, ob sich dort eine ähnlich gelagerte kritische Perspektive oder eher eine positive Besetzung zeigen lässt. In der säkularisierten Gegenwart findet sich mit Navid Kermani ein Autor, der die islamische Mystik und die islamischen Rituale als eine Alternative zu anderen religiösen und nicht-religiösen Formen benennt, ohne dabei den Atheismus oder Agnostizismus oder andere Religionen abzuwerten, solange diese ihren Standpunkt nicht als »Wellness« ansehen. Es ist die Ernsthaftigkeit, die in seinen Texten für die Religion proklamiert wird, abseits der Vorstellung, sich nach Wohlgefallen

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Ebd., S. 460. Kermani: Dein Name, S. 709. Ebd. Ebd., S. 710.

VI Navid Kermani: Große Liebe

ohne Verpflichtung am Marktangebot der Religionen zu bedienen – ein Plädoyer für eine Frömmigkeit, die es ernst meint. Seine Texte sind demnach in das aktuelle Feld der ›Transformation des Religiösen‹ einzuordnen, aber nicht als Beispiel für die Ausformung neuer Sozialformen wie der Spiritualität – es wird vielmehr gleichzeitig eine kritische Stimme gegen den Spiritualitätsdiskurs implementiert –, sondern als eigenständige Gegenbewegung des Säkularisierungsdiskurses, die auf den institutionellen Traditionen fußt, sich aber auf einen mystischen ›Kern‹ mit all seinen rituellen Anforderungen verpflichtet. Im Zentrum von Kermanis Texten stehen die menschlichen alltäglichen Erfahrungen und die Beziehung zu Gott, die man bewusst, also gerade nicht halbherzig, und auf die Tradition bezogen gestalten soll. Die Texte bieten dabei die Mystik an, sie stellen sie vor und führen in sie ein, ohne sie zu propagieren oder dogmatisch als den einzigen Weg festzusetzen (wie in Große Liebe, sind auch alle Erzähler der anderen Texte nicht als identifikatorische Mystikvertreter gestaltet). Hier bleiben die Texte einem humanistischen und vor allem demokratischen Verständnis von individueller Freiheit verhaftet, aber auch der Verantwortung, die die Wahl mit sich bringt. Ähnlich hat dies Kermani in einem Interview formuliert: In Rom, wo mir das Christentum auf eine ganz eigene und neue Weise nahegekommen ist, habe ich noch einmal verstanden, dass mir Religion als eine Lebensform wichtig ist, als etwas, dass ein Leben bis in den Alltag hinein prägt. Es geht nicht um Wissen, um dogmatische Theologie, sondern um eine Form, das eigene Leben zu führen.175 Die Forschung hat die literarische Rezeption der islamischen Mystik bislang hingegen als einen »bewussten Kontrapunkt zum Scharia- oder Sunni-Islam der Rechtsgelehrten und Theologen mit ihrer Betonung der Gesetzestreue und intellektuellen Erkenntnis«176 interpretiert, und damit eine Dichotomie gestützt, die scheinbar zwischen einem ›dogmatischen Islam‹ und der ›individuellen, modernen Mystik‹ aufgespannt wird – wogegen sich die Mystikforschung als Vereinfachung verwahrt. Ferner wird das Universalisierungspostulat einer ahistorischen Mystik reproduziert – so auch in Kermanis Texten –, wenn man diese als »religiös universal und spirituell grenzenlos«177 versteht. Hier besteht demnach noch ein diskurstheoretisch ausgerichteter Forschungsbedarf, bedenkt man, dass zahlreiche gegenwärtige Schriftsteller*innen islamische Mystik literarisch verarbeiten: so Barbara

175

176 177

Wilhelm Graf, Navid Kermani: Religiöse und ästhetische Kommunikation. Ein Dialog. In: Der Westen und seine Religionen. Was kommt nach der Säkularisierung? Hrsg. von Christian Peters, Roland Löffler. Freiburg/Breisgau, Basel, Wien: Herder 2010, S. 197–212, hier S. 209. Gellner, Langenhorst: Blickwinkel öffnen, S. 340. Tabaalite: Islamische Mystik, S. 306.

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Religion als diskursive Formation

Frischmuth178 , Zafer Şenocak, SAID oder bspw. Ilija Trojanow, der im Der Weltensammler 179 Mystik einerseits als Grundlage für die Annäherung an den Islam und hier speziell an das Gebet zeichnet, sie aber gleichzeitig in ihrer eigentlich doch kulturellen Form offenlegt. Gellner beobachtet zudem insgesamt eine »allmählich stärker werdende literarische Präsenz des Islam« in der deutschsprachigen Literatur, die sich in den Texten »Deutsch schreibender Autoren türkischer, iranischer, irakischer, afghanischer oder arabischer Herkunft«180 zeigt, das religiöse muslimische Leben sichtbarer macht und neue, bereichernde literarische Formen hervorbringt – weswegen er für eine ausführlichere Auseinandersetzung der Literaturwissenschaft mit dem Forschungsfeld ›Islam und Literatur‹ plädiert.

178

Hierzu vgl. Selma Polat-Menke: Islam und Mystik bei Barbara Frischmuth. Werkanalyse und interreligiöses Lernen. Ostfildern: Grünewald 2013: »Der mystische Islam ist somit bei Frischmuth eine Symbiose mit der Ästhetik und der Fantastik eingegangen, weil sie z.T. gleiche Intentionen haben bzw. weil die Mystik dadurch in ihrer Wirkkraft unterstützt wird.« (Ebd., S. 415, sowie Tabaalite: Islamische Mystik.) 179 Vgl. Ilija Trojanow: Der Weltensammler. München: dtv 2007. 180 Gellner: »Allah ist kein Ausländer«, S. 34.

VII Literatur im diskursiven Feld von Religion, Säkularisierung und Moderne

Die Konjunktur religiöser Themen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – und damit auch der Literaturwissenschaft – wird an den zahlreichen Publikationen, Tagungen und Forschungsprojekten der letzten beiden Jahrzehnte ersichtlich. Mit den hier gewählten Autoren Patrick Roth und Navid Kermani finden sich zudem mindestens zwei prominente Vertreter dieser Thematik, wohingegen Stein noch nicht so breit rezipiert wird. Während letzterer seinen religiösen Weg und die damit zusammenhängenden Rituale und Praktiken in seinem Blog offen kommuniziert, nimmt Roth für sich in Anspruch, dass seine Texte nicht religiös gelesen werden sollen,1 für Kermani wiederum kann bezüglich der Frage nach kultureller – und damit nur scheinbar auch religiöser – Identität eine deutlich antiessenzialistische Haltung ausgemacht werden. Es ist daher interessant festzustellen, dass Religion als Knotenpunkt einer diskursiven Formation in allen drei Texten über die als ontologisch gesetzte Grenze zwischen Transzendenz/Unverfügbarkeit und Immanenz konstituiert wird. Religion wird damit auf der höchsten Ordnungsstufe als eigenständiger, den Menschen entzogener Bereich kommuniziert, das Religiöse vom Säkularen geschieden – oder anders formuliert: Alle Texte etablieren Religion als eine Kategorie sui generis, das Religiöse als einen Bereich, der außerhalb von Kultur steht, jedoch in bestimmter Weise für den Menschen verfügbar ist; sei es durch religiöse Praktiken, Traditionen, religiöse Personen etc. Zur Religion gehört demnach alles, was in einer bestimmten, durch die jeweiligen Diskurse geregelten Weise mit Transzendenz in Zusammenhang steht. Das sind auf der einen Seite die jeweiligen historisch institutionell verfassten Religionen – die hier explizit als Judentum und Frühchristentum bei Roth, Formen des orthodoxen Judentums bei Stein und des Protestantismus in der BRD bei Kermani thematisiert sind – und mit ihnen alle diversen, als religiös artikulierten Texte, Praktiken, Normen und Wissensannahmen. Auf der anderen Seite fällt in diesen Bereich auch das Thema der religiösen bzw. mystischen Erfahrung. Wird bei Roth das individuelle Erfahrungsmoment vom verfassten Religionsdiskurs gelöst, als qualitativ anders gesetzt und vor allem 1

Vgl. Tüpper, Roth: »Das Ästhetische muss erstmal dienen«.

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Religion als diskursive Formation

in seiner Unmittelbarkeit hierarchisch aufgewertet, bleiben die mystischen Erfahrungsdarstellungen der anderen Texte im Grunde den jeweiligen Traditionen und vor allem schriftlichen Überlieferungen verhaftet und können ohne diese nicht das mystische ›Potenzial‹ entfalten. Hier zeigt sich, dass die häufig in der Forschung postulierte Institutionsferne als Ausdruck von gegenwärtiger Religiosität sich in den Romanen von Stein und Kermani nicht wiederfindet. Die dort formulierte Kritik bezieht sich ausschließlich auf die institutionelle Ausführung bestimmter Bereiche, es wird aber weder mit der Religionsgemeinschaft noch mit dem Ausbildungssystem als solchem radikal gebrochen. Die Etablierung bzw. Reproduktion des Diskurses von Religion als eigenständiger Kategorie in allen untersuchten Texten ist dabei folgenreich: Die Wahrnehmung der Wirklichkeit ist getrennt in einen Raum, einen Bereich der menschlichen Verfügungsgewalt, und einen der Transzendenz bzw. der Unverfügbarkeit. Letzter ist qualitativ verschieden vom ersten und unterliegt damit nicht dessen Strukturen, ist frei von allem menschlich Negativen, sei es Macht, Ungleichheit etc. Davon betroffen sind dagegen die gesellschaftskulturellen Ordnungen, die in allen literarischen Texten kritisiert und problematisiert werden. Unangetastet bei Roth, zugunsten der Transzendenz aufgelöst bei Kermani und Stein bleibt die als ontologisch-konstruierte, normierte und normalisierte Trennung vom Religiösen und der Welt. Die Dichotomie ist dabei nicht als wertfrei zu betrachten, denn der Ausschluss menschlicher Einflussnahmen konstruiert eine Seite als das Positive, Unerreichbare und Anzustrebende, das über individuelle, unmittelbare, religiöse Erfahrungen am besten und ursprünglichsten verfügbar gemacht werden kann. Ihre Protagonisten stellen die Texte dabei kontrastreich als Handelnde innerhalb doktrinärer Herrschaftsverhältnisse dar, welche sich zu Blöcken ausformen, in denen als Wahrheit gesetzte Aussagen normiert und normalisiert und mithilfe von Sprecherpositionen und anderen sichernden Strategien stabilisiert werden. Je geschlossener und homogener die Gruppe, umso mehr verfestigen sich die MachtWissen-Komplexe. Allerdings hat sich die gegenteilige Vermutung – je offener die Gruppe, desto geringer die Machtverhältnisse – ebenfalls nicht bestätigen lassen. Denn auch der Aspekt der religiösen Erfahrung abseits institutionell verfasster Religionsformen basiert auf der diskurskonstitutiven Setzung einer Transzendenz. Durch diese Setzung lässt sich auf der Ebene der ›reinen‹ Erfahrung allerdings ebenfalls eine asymmetrische Dichotomie erkennen, nicht gegenüber anderen Erfahrungen, sondern gegenüber anderen Wirklichkeitskonstitutionen: Das Primat der metaphysischen Erfahrung funktioniert über das Postulat des rational nicht zu Vermittelnden und damit einer rational nicht zu verifizierenden ›Wahrheit‹, die man nur subjektiv erleben kann. Damit werden aber alle anderen Formen, dieser ›Wahrheit‹ beizukommen, als unzulängliche und damit falsche positioniert, mehr noch: weil (wissenschaftlich-/objektiv-)rationale Erklärungsansätze dies nicht zu erfassen vermögen, werden die ›Wissenden‹, die Erfahrung-Habenden, auf eine

VII Literatur im diskursiven Feld von Religion, Säkularisierung und Moderne

privilegierte Position gesetzt. Der religiöse Erfahrungsdiskurs ist folglich nicht weniger von Machtbeziehungen durchzogen als der der jeweiligen verfassten Formen, gegen die er opponiert. Damit basieren die Texte auf einem Verständnis von Religion als einer Kategorie sui generis – mithin auf einem substanzialistischen Religionsbegriff sowie auf einer ebenfalls substanzialistisch zu verstehenden Erfahrungsdimension von Religion, die qualitativ anders ist als nicht-religiöse Erfahrung. Das Interessante an der dergestalt gelagerten Reproduktion des substanzialistischen und damit essenzialistischen Religionsbegriffs ist, dass das Transzendente, dem Menschen Unverfügbare universal gedacht wird und damit eine geschlossene Totalität evoziert, die sich durch eine fixe Schließung auszeichnen würde: Transzendenz ist nicht disponibel, verändert sich nicht, unterliegt nicht historischen Signifikationsprozessen und damit keinen Machtbeziehungen – so das Verständnis dieser, sich besonders in der mystischen, unmittelbaren Erfahrung zeigenden Transzendenz, die in den Texten transportiert wird. Aus der diskurstheoretischen Position von Laclau und Mouffe ist diese Annahme jedoch problematisch, da sie explizit davon ausgehen, dass es keine vollkommen fixierten Entitäten geben kann. Bezeichnenderweise hat sich Laclau in einer späteren Arbeit, Von den Namen Gottes (On the Names of God), genau mit diesem Widerspruch, der aus dem mystischen Diskurs resultiert, beschäftigt. Hier problematisiert er die mystische Erfahrung, die angibt, sich auf ein Absolutes zu beziehen. Laclau folgert: Wenn Gott das Unaussprechbare, das Absolute der mystischen Erfahrung meint, das nicht genau bezeichnet werden kann, jedoch an allen Dingen teilhat, dann zielt diese Strategie auf eine Universalisierung des mystischen Erfahrungsbezugsobjekts bzw. eine absolute Entleerung des Signifikanten; ein ›Name‹ wie ›Gott‹ sei damit bereits eine Interpretation eines bestimmten Diskurses. Das Transzendente/Absolute, das nur negativ bestimmt werden kann und doch an allem teilhat, daher jeden beliebigen Namen tragen könnte, erscheint so als eine »Totalität alles Existenten«.2 In einer solchen Konstellation wäre die Äquivalenzkette jedoch aufgehoben, da die differenziellen, partikularen Bedeutungen nicht mehr auf einen gemeinsamen Nenner reduziert (ohne ihre jeweiligen Bedeutungen vollkommen zu verlieren), sondern ebendiese verschwinden würden, ja müssten, um universal gültig zu sein – auf diesen Aspekt hat auch Derrida verwiesen, als er vom unendlichen ›Gleiten der Signifikanten‹3 gesprochen hat. Hier liegt für Laclau nun die Crux, denn eine »undifferenzierte Identität, in der jeder beliebige Term auf die Totalität verweisen würde«,4 hätte keinen transzendenten und damit mystischen Charakter, man könn-

2

3 4

Ernesto Laclau: Von den Namen Gottes [1996]. In: Ders.: Emanzipation und Differenz. Aus dem Engl. von Oliver Marchart. Unver. Nachdruck der Ausg. von 2002. Wien: Turia + Kant 2013, S. 201–217, hier S. 209. Vgl. Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel, S. 422. Laclau: Von den Namen Gottes, S. 210.

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te nicht mehr von mystischer Erfahrung sprechen. Der Umkehrschluss ist ebenso problematisch: Wird die Logik der Äquivalenz beibehalten, d.h. nicht in Identität aufgelöst, dann muss sie »weniger als universell« sein.5 Mystische Erfahrung eines Absoluten verschleiert demnach immer einen Rest von Partikularität, der für die Äquivalenz notwendig ist. Vor diesem Hintergrund stellt Laclau fest, dass der mystische Diskurs eigentlich an einer »generellen Struktur aller möglichen Erfahrung« partizipiert, dies jedoch als »im mystischen Gewand« verschleiert.6 Die Erfahrung des Absoluten fasst Laclau mit der Erfahrung des Nicht-Repräsentierbaren, also der »Erfahrung der Endlichkeit«, die auf einen Mangel (hier ein erneuter Bezug auf Lacan) der Erfahrung einer Fülle verweist, auf ein »Jenseits« also. Die Mystiker würden nun von sich sagen, sie hätten eine Erfahrung dieses Jenseits gemacht, dem sie mit ihren jeweiligen Begrifflichkeiten einen positiven Inhalt geben. Hier zeigt sich für Laclau gerade die Strategie des mystischen Diskurses, ein Konstituens aller Formen von Endlichkeitserfahrung als einen speziell und essenziell religiösen zu benennen.7 Damit ist für Laclau jedoch kein »Jenseits von Differenzen« möglich, ohne dass diese wieder eingeführt werden könnten, was dazu führt, dass dieses Jenseits entweder als eine »›Materialisierung‹ Gottes«, also eine differenzielle Äquivalenz, wie zuvor geschildert, oder eine »Deifikation« eines partikularen Aspekts und damit Universalisierung beschrieben werden kann.8 Beide Prozesse verweisen jedoch auf das gleiche Problem: Das Absolute kann weder indirekt über eine Äquivalenzkette noch direkt über eine universal gültige Bezeichnung (die strukturell nicht möglich ist, weil jede Bezeichnung im Fall einer undifferenzierten Identität möglich wäre) erfasst werden. Für Laclau kann man dem mystischen Diskurs demnach eine »generelle Struktur von Erfahrung« entnehmen, die sich auf die »Trennung der beiden Extreme der radikalen Endlichkeit und der absoluten Fülle« sowie auf »die komplexen Sprachspiele, die sich auf Basis ihrer gegenseitigen Kontamination spielen lassen«, bezieht.9 Laclaus Ausführungen müssen im Kontext dieser Arbeit, die eine deutliche Relevanz der mystischen Erfahrung in allen drei analysierten Texten aufzeigen konnte, auf die vorliegenden Ergebnisse bezogen werden. Am Beispiel von Roths Sunrise und seiner Durcharbeitung der religiösen/transzendierenden Erfahrung ist bereits die Frage aufgeworfen worden, worauf sich diese Erfahrung beziehen würde, wenn man sie des ›schützenden‹ Gewands der institutionell verfassten Religionen und ihres religiös-kulturellen Archivs entledigen würde (was Roths Ansinnen entspricht). Eingedenk der obigen Ausführungen wären es keine als religiös kommu5 6 7 8 9

Ebd. Ebd., S. 211. Ebd. Vgl. ebd., S. 213f., Zitate: 213f. Ebd.

VII Literatur im diskursiven Feld von Religion, Säkularisierung und Moderne

nizierten Erfahrungen mehr, sondern Erfahrungen einer Endlichkeit, eines Jenseits, das anderer sprachlicher Kommunikation bedarf. Nun ist der Punkt bei Roth gerade nicht, dass er, wie in der Analyse dargestellt, nicht zwischen religiösen (großen) Transzendenzen und großen Transzendenzen unterscheidet, sondern, dass er gerade für die letzteren keine eigene Form der Kommunikation findet. Alle großen Transzendenzen wurden in Sunrise wieder auf religiöse sprachlich zurückgeführt, oder anders formuliert: Obwohl Roth den Unterschied aufzeigt, relativiert er ihn wieder, indem er auf religiöse Kommunikation zurückgreift und damit auf die Möglichkeit verzichtet, innovativ eine poetische Sprache für Endlichkeitserfahrungen zu finden, ohne Rückgriff auf den Religionsdiskurs.10 Während sich bei Stein diese Diskussion gar nicht erst ergibt, da Die Leinwand den Anspruch der Universalität nicht stellt, findet sich diese Problematik bei Kermani anders gelagert wieder, nämlich in der Reproduktion der mystischen Diskursstrategie einer Universalisierung, die als ›Deifikation der unio mystica‹ daherkommt. Das Verlangen nach der Fülle des Absoluten kann hier nur durch den mystischen Weg und schließlich die unio mystica gelöscht werden, die eine Erfahrung des Absoluten und Jenseitigen, Transzendenten ist. Kermani spielt denn auch genau die Stationen durch, die Laclau problematisiert hat: die verschiedenen Namen Gottes, von denen keiner adäquat ist, Gott doch in allen Dingen enthalten ist und damit einhergehend die mystische Teilhabe an der Welt aufgerufen wird,11 die auf einem ›besonderen‹ Zugang zum Transzendenten beruht, das im Text als universal kommuniziert wird. Mit Laclau ließe sich fragen, warum der Text auf die bereits tradierten ›Namen‹ zurückgreift, anstatt einfach neue zu setzen bzw. die dort erwähnte ›Napfschüssel‹ nur deswegen als einen der Namen Gottes erkannt werden kann, weil sie in einer religiös besetzten Äquivalenzkette steht, sprich: Ohne diese gäbe es nicht den Bezug zu Gott, womit Laclaus Kritik sich bestätigt. Ähnlich wie Roth versucht Kermani zudem verschiedene Formen von Erfahrung in Beziehung zu setzen, wobei auch er letztlich auf religiöse Kommunikation zurückgreift. Eine Antwort, wie von Endlichkeitserfahrungen außerhalb religiöser Kommunikation gesprochen werden könnte, wird bei Kermani über die körperliche Liebe aufgerufen, jedoch durch den ironischen Bruch relativiert. Allen drei Texten gemeinsam ist in diesem Kontext allerdings der Rekurs auf den romantischen Ästhetikdiskurs der Kunstreligion: Ästhetische Erfahrung wird in die Fluchtlinie der religiösen Erfahrung gestellt – als verstörende, krisenhafte ›Schwellenerfahrung‹, die zu einer Transformation des rezipierenden Individuums führen kann.

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Die Gleichwertigkeit von religiösen und großen Transzendenzen ist dabei bereits im Kunstreligion-Diskurs zu finden. Als Aussage von Roths Texten hätte man es dementsprechend mit einer Reproduktion und Re-Artikulation zu tun. Vgl. ebd., S. 201–208.

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Gleichzeitig sind die analysierten Texte diskursiv in gegenwärtige und jeweils teilweise unterschiedliche Religions-, Mystik-, Erfahrungs- und Spiritualitätsdiskurse eingebunden, die sie affirmieren (substanzialistischer Religionsbegriff), reproduzieren (Religionsbegriff, Erfahrung), revitalisieren und transformieren (Mystiken), differenzieren (Spiritualität) oder kritisch hinterfragen (Erinnerung, Säkularisierung, Moderne, Rationalismus, Szientismus, institutionell verfasste Religionen). Zusätzlich partizipieren die Texte in der Darstellung ihrer Figuren auch an Diskursen der Erinnerung, der Identität; problematisch ist die binäre Darstellung hinsichtlich gender, die für alle drei Texte konstatiert wurde und über diese Untersuchung hinausgehend aufgegriffen werden sollte, indem man diese und andere Texte auf Geschlechterkonstruktionen im Kontext von Religion hin befragt.12 Evident wird in allen drei Texten die herausragende Bedeutung, die dem unmittelbaren und individuellen Zugang des Menschen zum Transzendenten beigemessen wird. Dabei rekurrieren die Texte auf christlich-gnostische, christlichmystische, kabbalistische und sufische Quellen – und reaktivieren so einerseits den Gnostik- sowie die jeweiligen Mystikdiskurse, speisen diese andererseits affirmativ (erneut) in das kollektive und ggf. kulturelle Gedächtnis sowie die öffentliche Wahrnehmung ein. Die historischen Quellen werden dabei von den Autoren auf unterschiedliche Art und Weise eingebunden und transformiert: Bei Roths Sunrise verschmelzen Bibelreferenzen mit gnostischen Apokryphen zu einem literarischen Amalgam, in der Leinwand wird die Kabbala und die jüdische Mystik in ihrem Bezug auf das jeweilige Subjekt eingebunden, in Große Liebe werden verschiedene mystische Texte und Strömungen selektiert und zu einer neuen, heterogen bleibenden Form, verschmolzen. Damit spiegeln die Texte jedoch die jeweiligen Diskursströmungen nicht einfach unbewusst wider, sondern greifen ausgewählte Bezüge auf und setzen diese einer Öffentlichkeit aus, der diese Inhalte nicht (mehr) präsent sind. So hat der jeweilige Forschungsüberblick gezeigt, dass die Mystik bis zum Beginn des letzten Jahrhunderts, und zwar alle drei hier angesprochenen Formen, in der europäischen, aber nicht ausschließlich, Wahrnehmung negativ belastet war als Aberglaube und Obskurantismus. Diese Wahrnehmung hat sich seit dem Beginn des letzten Jahrhunderts langsam geändert, die wissenschaftlichen Forschungen zur jüdischen, muslimischen und christlichen Mystik haben stetig zugenommen und an Relevanz gewonnen – und diese Entwicklung spiegelt sich in den hier 12

Einen interessanten Versuch stellen Murtis und Marshalls Aufsätze dar, die in interreligiöser Perspektive das Zusammenwirken von Nationalität, Identität, Gender und Religion in den Blick nehmen. Vgl. Kammakshi Murti: »Was ist die Mehrzahl von Heimat?«. Nationalismus, Identität und Staatsangehörigkeit in Gertrud Kolmars Eine jüdische Mutter und Emine Sevgi Özdamars Das Leben ist eine Karawanserei. In: Der untote Gott, S. 205–224; Sheridan Marshall: Reckoning with God: Attitudes toward Religion in German-Language Womenʼs Writing in the Twenty-First Century. In: German Womenʼs Writing in the Twenty-First Century. Hrsg. von Hester Baer, Alexandra Merley Hill. Rochester (NY): Camden House 2015, S. 74–94.

VII Literatur im diskursiven Feld von Religion, Säkularisierung und Moderne

analysierten Texten nicht nur wider, sondern wird auch explizit unterstützt. Vergessenes, verdrängtes ›Wissen‹, das von subjektiven, unmittelbaren und vor allem nicht rational vermittelbaren Erfahrungen handelt, wird durch die Romane aktualisiert. Dies geschieht hier auf zweifache Weise: Während in Sunrise vor allem das Thema der Unmittelbarkeit betont wird, verweist Große Liebe zusätzlich auf die der Erfahrung vorausgehenden Praktiken und Die Leinwand thematisiert im Kontext der Mystik vor allem den ethischen Aspekt. Während in Große Liebe und Die Leinwand der Weg zu einer mystischen Erfahrung durch einen bestimmten Stufenprozess beschrieben wird (der auch nicht immer erfolgreich ist), bedarf es in Sunrise verschiedener Formen: Traum, existenzielle Erfahrung, durch Erzählen (mündlich: Neith oder schriftlich: Monoimos’ Text) ausgelöste Visionen – sie alle rücken damit die religiöse Erfahrung in eine potenziell menschliche Verfügungsgewalt. So werden denn auch die Figuren der jeweiligen (religiösen) Doktrinen nicht als ›reine‹ Subjekte gezeichnet. Vor dem Hintergrund der Frage nach Identität hat die Analyse an einzelnen Stellen immer wieder gezeigt, dass Identität sich gerade nicht auf einen Punkt, bspw. Religion, reduzieren lässt, sondern familiäre, lokale, regionale, nationale, kulturelle, künstlerische, genderspezifische, soziale u.a. Aspekte in die Identitätsbildung hineinfließen. Menschen sind demnach niemals ausschließlich auf ihre Religionsform festgelegt, obwohl sie in manchen, doktrinären Zusammenhängen als ausschließlich religiös diskursivierte Subjekte nach außen erscheinen mögen. Jedoch finden sich stets individuelle Möglichkeiten zu ›widersprechen‹, diskursive Regeln zu brechen, zu umgehen oder zu transformieren, also eigene Formen von Machtbeziehungen auf einer Mikroebene auszuüben. Besonders Sunrise und Die Leinwand führen vor, wie Individuen sich der Reglementierungen bewusst werden und dies zu kritischer Reflexion sowie individuellen, widerständigen Reaktionen führt. Das Besondere dabei ist, dass dieser ›Widerstand‹ gegen die Subjektivierung sich vor allem bei Aushandlungsprozessen hinsichtlich der Identität, hier der religiösen, zeigt. Indem die Protagonisten mit externen, sich aus den diskursiven Überkreuzungen ergebenden Momenten konfrontiert werden (Aspekte des genealogischen Diskurses geraten in einen Konflikt mit dem religiösen bei Joseph; existenzielle Krankheitserfahrung nicht-religiöser Natur ist konfliktär zur religiösen Doktrin bei Rothstein; Gleichsetzung von Rauscherfahrung mit einer religiösen Form beim Erzähler in Große Liebe), entwickeln sie eigene, ganz individuelle Reaktionen. Dabei – und das eint die Texte auch auf dieser Ebene – treten die Figuren niemals aus ihrem die religiöse Identität primär festlegenden Diskurs, nämlich dem der Religion, heraus. Die diskursive Formation sichert sich gegen Destabilisierungen ab, indem sie ›Widerstand‹ gegen die verschiedenen Machtbeziehungen in gewisser Hinsicht erst produziert und so konstitutiv ermöglicht. Von Machtbeziehungen durchwoben ist dabei die gesamte diskursive Formation Religion, und dies gerade dort, wo ein machtfreier Raum behauptet wird. So

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scheint es auf den ersten Blick, dass die Machtprozesse sich ausschließlich auf den religiös-kulturellen Bereich beziehen: In der Analyse wurde deutlich, dass Religion vor allem durch die ontologische Differenzierung von Kultur i.w.S. (bzw. Natur) getrennt wird. Sich auf die Religion beziehende schriftliche Überlieferungen, Institutionen, Riten, Praktiken etc. werden dabei zur religiös-kulturellen Sphäre gezählt, weil sie sich zwar auf das Transzendente beziehen, aber doch dem menschlichkonstruierten Bereich zugerechnet werden können. Religion im Sinne einer Ordnungskategorie ist so ein dem Menschen entzogenes Transzendentes und damit eben nicht in einer ihm zugänglichen Machtsphäre situiert – so die scheinbare Aussage dieser Konstruktion. Während die religiös-kulturellen Aspekte demnach alle machtspezifischen, weil menschlichen Beziehungen enthalten, treffe dies auf Religion nicht zu. Aber gerade diese Narration offenbart auch den Konstruktionscharakter. Gerade weil Religion im Sinne einer Ordnungskategorie als ein dem Menschen entzogenes Transzendentes gesetzt ist, wäre es durch seine Unverfügbarkeit dem Menschen entzogen, von ihm also nicht korrumpierbar, und wird damit positiv aufgeladen. Die Dichotomie transzendent/immanent wird so zu einer asymmetrischen, die das religiöse Feld von Machtbeziehungen freispricht, damit aber auch freistellt. Deutungshoheit wird so von der religiösen Sphäre abgezogen und nur der kulturellen zugestanden, womit diese als ›Verantwortliche‹ markiert wird: Wenn sich demnach Machtbeziehungen in den religiös-kulturellen Bereichen zeigen, wie in Bezug auf die religiöse Ausbildung, kann der Machtanspruch auf den kulturellen Aspekt, also den menschlichen, zurückgeführt werden, der das Religiöse für menschliche Belange ›benutzt‹: als Indoktrination einer Ideologie von jungen Menschen im Kontext ihrer religiösen Ausbildung, wie dies in Die Leinwand expliziert wird. Der ontologisch unverfügbare Raum der Transzendenz wird damit allerdings als machtfreie Utopie etabliert und vom immanenten Bereich des Säkularen abgegrenzt. Aus einer diskursanalytischen Perspektive hat bereits Timothy Fitzgerald darauf verwiesen, dass Religion als getrennte, private Sphäre im Zuge historischer Entwicklungen von einem nichtreligiösen, rationalen, öffentlichen und politischen – also säkularen – Raum getrennt wurde, wobei diese »religion-secular dichotomy« für die gegenwärtige Wahrnehmung von Religion prägend sei.13 Die Interdependenz dieser Entwicklung zeugt wiederum davon, dass Religion nicht unabhängig von anderen Kategorien, vor allem der der Säkularisierung, betrachtet werden kann, weil sie als Ordnungskategorie in einer diskursiven Interaktion mit anderen wirklichkeitsprägenden Narrativen steht. Dies gilt dementsprechend auch für die Literatur der Gegenwart, die qua Entstehungszusammenhang diskursiv in diese Narrative eingebunden ist, damit auch für die hier untersuchten Publikationen. 13

Timothy Fitzgerald: Discourse on Civility and Barbarity. A Critical History of Religion and Related Categories. Oxford: Oxford University Press 2007, S. 23, vgl. S. 232.

VII Literatur im diskursiven Feld von Religion, Säkularisierung und Moderne

Indem diese Religion als Kategorie sui generis reproduzieren, stützen sie gleichzeitig die religion-secular dichotomy und schreiben diese fort. Ähnliche, diese Dichotomie stützende Strategien lassen sich auch für die Säkularisierung beobachten, die als grand récit (Lyotard) angesehen werden muss. Koschorke konstatiert für diese eine »Grandiositätsvorstellung – des Typs, dass Vernunftgebrauch eine exklusiv abendländische Angelegenheit ist, dass sich in Preußen erst die Aufklärung und dann der Weltgeist vollenden und dass der Europäer an der Spitze der biologischen und kulturellen Evolution steht.«14 Gerade eine solche Narration brauche aber eine Einheitssemantik, die wiederum durch hegemoniale Sprechpositionen und institutionelle ›Rückendeckung‹ getragen würde. Koschorke zeichnet nach, dass solche großen Erzählungen nicht angezweifelt werden und ihre Analyse »bis zu einem gewissen Grad unentschieden und zwitterhaft« bleibt, da man ohne ein neues Paradigma die »epistemische[n] Bedingungen, die man teilt, niemals in Gänze zu durchschauen vermag.«15 Für ihn sind gerade Situationen des Übergangs geeignet, solche Narrationen, ihre Bedingungen und Strukturen zwischen »Macht und Wahrheit«16 zu analysieren. Dabei steht die Säkularisierungsthese in einer direkten Beziehung zum Modernediskurs: Als positive Version der Moderne, die eine »fortschrittsoptimistische Deutung« expliziere, oder als pessimistische Variante, das »Enteignungsmodell [als] eine verfallstheoretische Deutung der Moderne«, die diese metaphysisch obdachlos mache.17 Das fortschrittsoptimistische Modell ist dabei mit Wissenschaftlichkeit, Rationalität und Aufklärung verbunden, das andere mit Irrationalität und reaktionären Gedanken. Religion sei in diesem Kontext etwas Anachronistisches und diene den Menschen als Kompensation, die mit den Ausdifferenzierungsprozessen der Modernisierung überfordert wären. Für Koschorke stützt die Argumentation der Revitalisierung religiöser Formen in der Gegenwart – die ›Wiederkehr der Religion‹ – aber gerade das Säkularisierungsnarrativ, das sich über einen Prozess der »einschließenden Ausschließung« selbst absichert: Dieses Verfahren der einschließenden Ausschließung hat den paradoxen Effekt, dass sogar ein der Idee fortschreitender Säkularisierung widersprechender Augenschein, zu deren normativer Festigung dienen kann. Der Fanatismus der Anderen (vorzugsweise der Orientalen) stärkt dann die Modernen nur in ihrer Selbsteinschätzung, aufgeklärt und modern zu sein.18 Augenfällig ist, dass die Diskursformationen der Säkularisierung, Moderne und Religion in einer dynamischen und prozessualen Wechselwirkung stehen und bis 14 15 16 17 18

Koschorke: ›Säkularisierung‹ und ›Wiederkehr der Religion‹, S. 238. Ebd., S. 239. Ebd., S. 238. Habermas: Glauben und Wissen, S. 13. Koschorke: ›Säkularisierung‹ und ›Wiederkehr der Religion‹, S. 241.

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heute in ihrer dichotomischen Struktur in den grundlegendsten Überzeugungen der westeuropäischen Gesellschaft verankert sind: Säkularisierung und Modernität auf der einen, Religion, als damit im Grunde unvereinbar, auf der anderen Seite. Europäische Säkularisierungstheorien sind damit nicht einfach nur Beschreibungen gesellschaftlicher Prozesse, sondern »kritische Genealogien der Religion und normative Teleologien, für die der Niedergang der Religion das Ziel der Geschichte ist«.19 Es verwundere daher auch nicht, so Casanova weiter, dass die Diskussionen um den EU-Beitritt der Türkei »unerwartete ›religiöse‹ Irritationsmomente« ausgelöst haben.20 Auch die vorliegenden Texte rekurrieren auf das von Wechselwirkungen und Abhängigkeiten bestimmte Feld von Säkularisierung – Moderne – Religion, wobei sie jeweils unterschiedliche Aspekte prononcieren: sei es eine Deprivatisierung der Religion bei Roth, den dominanten Säkularisierungsdiskurs als Ideologie bei Stein oder die defizitäre Übersetzungsleistung postsäkularer Gesellschaften bei Kermani.   Mit der literarischen Revitalisierung der biblischen, gnostischen und christlichmystischen Texte und Themen in Roths Sunrise. Das Buch Joseph werden diese Traditionen wieder im kollektiven und kulturellen Gedächtnis aktualisiert. Gleichzeitig funktioniert das Primat der Erfahrung als Kritik an einer rein szientistischen Wahrnehmung der Welt. Gerade die offensichtliche kontrastierende – damit aber auch tradierte Geschlechtskonstruktionen reproduzierende – Darstellung der verfassten Religionen als männliche Doktringesellschaften, die auf starren Herrschaftsbeziehungen und objektiv-rationaler Vermittlung basieren, zur gegensätzlichen weiblichen religiösen Erfahrung setzt an diesem Punkt an.21 Die Vorstellung einer Relevanz der Religion für Kompensationszwecke wird in Sunrise allerdings radikal verneint: Zwar sind alle Figuren in den Texten religiös, aber nicht weil sie es brauchen oder müssen, sondern weil es eine für sie normalisierte Wirklichkeit ist, die demnach auf historisch-diskursiven Prozessen beruht, die sich auch ändern können. Die Historizität gesellschaftskultureller Ordnungen wird so ausgestellt und als diskursiv metatextuell aufgezeigt – damit aber auch offensichtlich die teleologische Form der Säkularisierung historisiert. Dagegen steht jedoch die religiöse Ordnung, die universal und ahistorisch ist, was sich im Primat der Erfahrung zeigt. Diese religiösen oder rein existenziellen Erfahrungen sind aber, so der Text, gerade nicht über eine ausschließlich rationale und vernunftbasierte Rezeption fassbar, womit der Roman die christlich-mystischen, gnostischen Traditionen 19 20

21

José Casanova: Die religiöse Lage in Europa. In: Säkularisierung und die Weltreligionen. Hrsg. von Hans Joas, Klaus Wiegandt. Frankfurt/Main: Fischer 2007, S. 322–351, hier S. 336. Ebd., S. 344. In diesem Kontext plädiert Habermas dafür, die Modernetheorie von der Säkularisierungsthese abzukoppeln. Vgl. Eduardo Mendieta, Jürgen Habermas: Interview. Ein neues Interesse der Philosophie an der Religion? In: DZPhil 58/1 (2010), S. 3–16. Zum Kontrast männlich/weiblich siehe auch Horstkotte: ›Den Tod nicht kosten‹.

VII Literatur im diskursiven Feld von Religion, Säkularisierung und Moderne

einer unmittelbaren, unaussprechlichen und nicht vermittelbaren Wahrnehmung aufruft – wie auch deren gesamtes semantisches Feld von der Antike über das Mittelalter, die Neuzeit mit der Romantik bis hin zur Modernerezeption der Mystik. Die Schrift-, Vernunft- und Medienkritik bezieht sich dabei auch auf die verfassten Religionen in ihrer Institutionalisierung. Zwar affirmiert der Text den institutionellen Bedeutungsverlust, widerspricht aber sowohl der Ausdifferenzierung von religiöser und weltlicher Sphäre (1. These Casanovas), dem Niedergang von religiösen Überzeugungen und Verhaltensweisen (2. These) wie auch der Beschränkung der Religion auf den Privatbereich (3. These). Casanova hatte die letzten beiden Thesen als gescheitert zurückgewiesen – sein Begriff der »deprivatization of religion« ist hier das Schlagwort –, die erste hingegen als noch gültig und in diesem Fall als Säkularisierung erklärt.22 Der grundlegenden Trennung der beiden Sphären auf einer kulturell-künstlerischen Ebene begegnet der Text literarisch, indem er neue Erzählungen, Bedeutungen, Beschreibungen aus weltlichen und religiösen Kontexten amalgamiert und daraus neue Erzählungen entstehen. Der im biblischen Stil geschriebene Action-Helden-Road-Trip Josephs ist ein markantes Beispiel dafür. Indem Roth das kulturelle Archiv, das in ganz großem Maße religiöse Artefakte enthält, wieder ins Bewusstsein ruft, macht er das diskursive und sprachliche Fundament, auf dem das gegenwärtige Wissen steht, wieder sichtbar und lehnt eine simple Dichotomisierung in weltlich und religiös ab, weil das Religiöse strukturell auch im profansten Bereich, der Trivial- und populären Kultur gefunden werden kann – es hängt von der subjektiven bzw. emphatischen Einstellung des jeweiligen Menschen ab. Die anhaltende bzw. wieder mehr sichtbare Relevanz der Religion für die Menschen der Gegenwart, die Casanova als Entschärfung der zweiten These ansieht, wird in Sunrise reproduziert und tradiert; der Verlagerung in einen privaten Raum hingegen entgegengewirkt, was sich sowohl werkübergreifend als auch paratextuell zeigt. Roth thematisiert religiöse und literarische Aspekte im selben Moment und verbindet sie miteinander, seine medialen Auftritte tragen zur Deprivatisierung der Religion bei. In diesem Kontext ist gerade die mediale ›Inszenierung‹ der Autorfigur von Bedeutung, die sich mit diesen Themen intensiv und autobiografisch beschäftig. Der Autor tritt so wieder als Autorität, Aussage- und Schöpfungsmedium in Erscheinung: als Seher und Dichter im Sinne der Kunstreligion. Diese Autorinszenierung bedarf jedoch einer differenzierteren und ausführlicheren Analyse. Die Texte Roths sind somit in verschiedene Diskurse und Narrative mit unterschiedlichen Wirkungsweisen eingebunden, wobei sie bestimmte Aspekte der Säkularisierungsdifferenzierung stützen, andere hingegen ablehnen. Interessant ist dabei, dass das säkulare Primat der Vernunft abgelehnt, aber nicht der binäre 22

Vgl. Casanova: Public Religions in the Modern World.

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Begriff Glaube aufgewertet wird: Sunrise spricht davon, dass man durch das eigene Erfahren »wissen« werde. In diesem Punkt scheint der Text, anstatt ›einfach‹ die Glaubensseite aufzuwerten, die ausschließende Logik der Dichotomie Glaube/Vernunft als solcher zu problematisieren. Jacques Derrida hat bereits 1996 in seinem auf Französisch publizierten Aufsatz Glaube und Wissen die ›naive‹ Gegenüberstellung von Religion und Vernunft kritisiert und für Religion und Vernunft dieselbe Quelle ausgemacht:23 Religion und Vernunft haben eine gemeinsame Entwicklung, die ausgeht von ihrem gemeinsamen Kräftevorrat, von der Hilfsquelle des bezeugenden Einsatzes, des Pfandes der Bezeugung, das in jeder performativen Handlung liegt und das dazu verpflichtet, dem anderen Rede und Antwort zu stehen, sowie für die wirksame Ausführung, für die Performativität der Wissenschaftstechnik sich verantwortlich zu zeigen: Antwort vor dem anderen, in seinem Angesicht, Verantwortung für ein anderes.24 Diese Bezeugung aber, der Kredit, der gegeben wird, gelte sowohl für die Religion als auch für den wissenschaftstechnischen Bereich, dessen Gefahr gerade darin bestehe, dass man immer zu wissen glaubt, »was das Wissen ist, das Wissen, das strukturell vom Glauben, vom Vertrauen – vom Treuhänderischen und der Verläßlichkeit unabhängig sein soll«. Die Erfahrung des Treuhänderischen, des Kredits sei aber sowohl für das Wissen als auch für Religion konstitutiv. Derrida sieht daher auch Religion als sich aus zwei Quellen ergebend: der Erfahrung des Glaubens, des Kredits und der Erfahrung des »Heilen, Unversehrten, Geborgenen, der Sakralität oder der Heiligkeit«; diese »zwei Quellen des Religiösen« sollte man aber »niemals vermengen oder die eine Quelle auf die andere – zu der anderen zurückführen; genau das tut man nämlich fast immer.«25 Neben Derridas Kritik an der »angloamerikanischen Latinisierung«26 der Welt, die eben auch diese Vermischung global 23 24 25

26

Vgl. Derrida: Glaube und Wissen, S. 49. Ebd. Ebd., S. 52. Derrida verdeutlicht ferner die Unterscheidung zwischen »Erfahrung des Vertrauens einerseits (Bürge, Zuverlässigkeit, Glauben, Kredit, den man in der Erfahrung des Bezeugens der Ehrlichkeit oder dem guten Glauben des ganz anderen gewährt) und der Erfahrung der Sakralität, der Heiligkeit, des geborgenen und gesunden Heilen (holy) andererseits. Es handelt sich dabei um zwei verschiedene Quellen, Brennpunkte oder Brennstätten«, deren EllipsenGestalt die Religion sei, weil sie »die beiden Stätten umfaßt und ihre irreduktible Dualität zuweilen auch durch eine geheimnisvolle, versteckte, aussparende, zurückhaltende Bewegung verschweigt« (ebd., S. 59). Ebd., S. 50: »Latinität und ihre weltumspannende Bewegung« zeugen von einer »Weltherrschaft« des Anglo-Amerikanischen, das »lateinischen Wesens« ist, wobei »schon seit Jahrhunderten […] eine hyperimperialistische Bemächtigung statt[findet], die über ihre im engeren Sinne kapitalisch-kapitalistischen und politisch-militärischen Gestalten weit hinausreicht« (ebd., S. 50f.).

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fortschreibe, ist gerade sein Ansatz, abseits der normalisierten Dichotomie Glauben/Wissen zu denken, für Roths Texte fruchtbar. Er macht deutlich, dass Roths Rationalismuskritik die Episteme der europäisch-westlichen Welt infrage stellt und damit in gewisser Hinsicht Ideologiekritik durch die Aufwertung der religiösen Erfahrung betreibt. Seine biblisch grundierten Werke, die in die Untersuchung eingegangen sind, setzen an der Kritik an, dass nur rational-szientistisch Nachgewiesenes Wissen sein kann. Eine sich aus dieser Untersuchung ergebende Frage wäre, inwiefern seine in der Gegenwart spielenden Texte diesen Aspekt aufgreifen.27   In Die Leinwand ist das Diskursfeld Religion – Moderne – Säkularität konstitutiv für die Geschichte und auch die Narration. Ausgehend von der Frage, was man wissen kann, wenn man sich nicht an seine Identität erinnert bzw. diese konträr zu den ›Fakten‹ steht, wird mit einer fantastischen Schreibweise eine Narration, deren Fundament der ontologische Zweifel ist, entwickelt.28 Gleichzeitig wird der Konflikt als solcher als eine Folge einer Wahrnehmung der Wirklichkeit offenbart, die gerade auf machtvoller und herrschaftsinteressengeleiteter Ausgrenzung religiöser und nicht erklärbarer Momente basiert. Im Roman zeigt sich das an der komplementären Konstellation der beiden ›Ideologien‹ der säkularisierten (des Westens) und der religiösen Gesellschaft (des [ultra-]orthodoxen Judentums). An den Figuren führt Die Leinwand vor, wie sich solche doktrinären Gesellschaften auf die einzelnen Individuen auswirken und wie diese sich hier positionieren können; wie sehr alle Aspekte der Normalisierung, der Wahrheit und des Wissens diskursiv in verschiedene Macht-Wissen-Komplexe eingebunden sind; vor allem wird auch deutlich, wie sehr die Positionierung in einem Diskursfeld die Wahrnehmung der anderen beeinflusst, sogar vielmehr erst konstruiert – dies zeigt sich an der Wahrnehmung des Westens durch Nathan Bollag. Den westlichen Leser*innen, die dem Moderne- und Säkularisierungsnarrativ verhaftet sind, zeigt die im Roman nicht nur inhaltlich, sondern vor allem in der formalen Umsetzung präsente Un-Eindeutigkeit und Unzuverlässigkeit – des Erzählers, der Identität, der Positionierung, der Ereignisse etc. – die Grenzen ihrer scheinbar objektiven Wahrnehmung auf. Vielmehr wird im Text die Frage nach der Wahrnehmung von Wirk-

27 28

Zu nennen wären hier: Roth: Die Nacht der Zeitlosen; Roth: Starlite Terrace. In der Fantastikforschung ist wiederholt darauf verwiesen worden, dass es »buchstäblich kein einziges Thema des Phantastischen [gibt], das nicht religiöse Bezüge verrät, die sich meist schon durch eine symbol- und mythosgeschichtliche Betrachtung ergeben«. Marco Frenschkowski: Phantastik und Religion: Anmerkungen zu ihrem Verhältnis. In: Götterwelten. Phantastik und Religion. Hrsg. von Thomas Le Blanc, Bettina Twesnick. Tagungsband 2006. Wetzlar: Phantastische Bibliothek 2006, S. 31–46, hier S. 31. Horstkotte betont zudem, dass die Literaturwissenschaft »konsequent die vielfältigen fantastischen Schreibweisen gegenwärtiger Literatur« ignoriere. Horstkotte: Heilige Wirklichkeit, S. 68.

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lichkeit und ihrer diskursiven Konstruktion herausgestellt – die Episteme stehen auch hier zur Disposition. In dieser Anlage kritisiert Die Leinwand allerdings nicht einfach naiv die Säkularisierungsthese als Enteignungsthese, mit dem Ziel, die Welt wieder zu ›verzaubern‹ und ihr ein metaphysisches ›Obdach‹ zu geben. In der Darstellung einer Gegenversion des Säkularen als ›Religionsherrschaft‹ wird auch das Antimodell abgelehnt; in einer fehlenden Thematisierung des liberalen Judentums innerhalb der säkularen Gesellschaft wird auch die übliche Forderung der Integration und Assimilation an ›moderne‹ Staaten ausgehebelt, da dies einer Fortschreibung der Säkularisierungsthese gleichen würde. Der Roman entfaltet sein ideologiekritisches Potenzial gerade dadurch, dass er keine Lösung gibt, keine utopische ›postsäkulare‹ Gesellschaft beschreibt, in der säkulare und religiöse Menschen individuell und konfliktfrei mit- und nebeneinander leben; vielmehr wird offensichtlich, dass diese Dichotomie als solche bereits zu hinterfragen ist. Durch die Zeichnung des Westens als Säkularisierungsideologie wird dabei offengelegt, dass es praktische Erfahrungen gibt, die nicht der Norm entsprechen und auch nicht normadäquat aufgelöst werden können – für das Individuum bzw. das Kollektiv bleibt ein krisenhafter Widerspruch stehen. Den Anknüpfungspunkt bildet hier der breit rezipierte und auch kritisierte Vortrag Glauben und Wissen von Jürgen Habermas, der darauf verweist, dass in ›postsäkularen‹ Gesellschaften, der liberale Staat [bisher] nur den Gläubigen unter seinen Bürgern zu[mutet], ihre Identität gleichsam in öffentliche und private Anteile aufzuspalten. Sie sind es, die ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache übersetzen müssen, bevor ihre Argumente Aussicht haben, die Mehrheiten zu finden.29 Gerade diese ›Zumutung‹ wird in der Leinwand anhand verschiedener Figuren literarisiert und durchgespielt. Während an Wechslers Konversionsprozess hervorgehoben wurde, dass die säkulare Mehrheitsgesellschaft wertend und teilweise ablehnend auf öffentlich religiöse Bezeugungen reagiert, zeigt der Text auch auf, dass es religiöse Gruppen gibt, die sich weigern, diese auferzwungene Aufspaltung anzunehmen und die Übersetzung zu leisten, wobei die Absonderung gleichzeitig der eigenen Identitätskonstruktion dient. Das Ergebnis ist eine modern-orthodoxe Parallelwelt, die sich aus der mehrheitsgesellschaftlichen Kommunikation heraushält. Die von Habermas geforderte gegenseitige Übersetzungsleistung religiöser und säkularer Mitglieder wird hier zwar aufgerufen, aber auch gleichzeitig an

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Habermas: Glauben und Wissen, S. 21. Zur Kritik an dem Begriff ›postsäkular‹ siehe Michael Reder: Religion in postsäkularer Gesellschaft. Die Überlegungen von Jürgen Habermas und fünf Einsprüche dagegen. In: Communicatio Socialis 42/2 (2009), S. 131–137, sowie Hans Joas: Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz. Freiburg/Breisgau, Basel, Wien: Herder 2 2004.

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ihre Grenzen geführt, indem die identitären Fremd- und Selbstverortungen und beidseitigen Vorurteile, die grundsätzlich hierarchisch und damit asymmetrisch fundiert sind, als eine diesen Übersetzungsprozess konstituierende Komponente offengelegt werden. Religion ist somit auch hier keine Privatsache, die institutionell-traditionelle Fundierung wird aber im Gegensatz zu Roth nicht für obsolet erklärt, sondern gerade in ihrer Bedeutung als Wissensarchiv, das die Semantiken liefert, mit denen man die individuelle Beschäftigung aufbauen kann, hervorgehoben. Der ethische Aspekt einer bestimmten Lebenshaltung und -führung, die gerade mit mystischen Erlebnissen einhergehen, betont in der Leinwand die Relevanz der Religion für den einzelnen Menschen auf einer Mikroebene der existenziellen Erfahrung von Krankheit, Tod und Identitätsverlust, die nicht als ›Kompensation‹ rational erklärt werden kann, gerade weil der normgebende, hier säkulare, Deutungshorizont in einem Widerspruch zur gelebten Praxis steht. In der Verarbeitung und Ausstellung eben dieses Widerspruchs zwischen Norm und Praxis – wie auch normalisierter Leseerwartung und praktischer Verunsicherung, wie dies an den literarischen Verfahren deutlich wurde – liegt das ideologiekritische Potenzial der Leinwand – als Seismograf von aktueller Krisenerfahrung, als Zeitkritik eben.   Die Positionierung zwischen Religion – Säkularisierung – Moderne nimmt Große Liebe mithilfe der weltlichen Liebe vor und etabliert im Text eine ambivalente – religiöse und säkulare – Leseperspektive: So kann zwar die weltliche Liebe eine Vorahnung auf die göttliche geben, ist aber mit dieser nicht identisch. Das wird im Text jedoch nicht als Manko der weltlichen Liebe oder als Vorteil der göttlichen dargestellt. An den Figuren des erzählenden und des erzählten Ichs wird dagegen vorgeführt, dass für jemanden, der die weltliche Liebe sucht, die göttliche in dem Moment nicht relevant ist; jemand, der aber über die mystische Erfahrung, die sich in einer göttlichen Liebe zeigt, nachdenkt, wird mit den Ergebnissen der weltlichen Liebe, wie nah sie auch an die mystische Vorstellung herankommt, nicht zufriedengestellt sein. Das erzählende Ich muss daher seinen Versuch, aus der Jugendliebe die mystische unio abzuleiten, ironisch aufgeben bzw. in einem aufbäumenden Gestus verteidigen. Mit einer solchen Anordnung vermeidet Große Liebe hinsichtlich des oben aufgezeigten Diskursfeldes eine wertende Positionierung, indem jede Lesart, jede individuelle Position, ausgehend vom eigenen Anspruch, ausgestaltet wird, ohne eine davon hierarchisch aufzuladen. Abqualifiziert wird hingegen die egozentrierte Spiritualität, die eher den Charakter einer Kompensation zu haben scheint, worauf bereits die im Text gesetzte Analogie zu den Rauschmitteln implizit verweist. Die »spirituellen Wanderer«, die nicht nach einem bestimmten Sinn suchen, sondern

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sich eher auf dem Weg »inspirieren« lassen,30 die »Patchwork-Religiosität«, bei der »Glaubensinhalte[] und -praktiken aus verschiedenen religiösen oder spirituellen Traditionen in das eigene Leben [integriert werden], ohne dass eine Verpflichtung gegenüber den jeweiligen Traditionen eingegangen wird«,31 werden in Große Liebe – ja vielmehr im gesamten Werk Kermanis – kritisch hinterfragt. Gleichzeitig kann auch der Ansatz des Erzählers, »reflektierend«32 über die mystische Erfahrung zu sprechen, als der Versuch einer Übersetzungsleistung im Sinne Habermasʼ gelesen werden. Der religiöse Erzähler, der selbst keine mystische Erfahrung hatte, versucht auf eine rational und wissenschaftlich anmutende Weise, den potenziell säkularen Leser*innen die (islamische) Mystik vorzustellen und setzt sie dabei in Beziehung zu etwas, was den impliziten Rezipient* innen bekannt ist – Liebe und Sexualität. Hierbei werden verschiedene Punkte deutlich: Einerseits bedient der Text sich der dominanten Sprechweise eines wissenschaftlich-rationalen Zugangs, verbindet dies mit historisch-verifizierbaren wie auch wissenschaftlichen Quellen und referiert auf der paratextuellen Ebene auf wissenschaftliche Autorität des Autors als Experten, greift also auf dessen Sprecherposition im Mystikdiskurs zurück. Allerdings führen genau diese Strategien dazu, dass der bereits als ironisch gekennzeichnete Versuch, mystische Erfahrung mit weltlicher gleichzusetzen, metatextuell erneut ironisiert wird und als Ironie der Ironie vorführt, wie eine Übersetzung religiöser Gehalte in säkulare Sprache funktioniert – nämlich nur reflexiv und vermittelt. Der Versuch einer rationalen Annäherung an ein als über das Rationale hinausgehend erklärtes Phänomen wird damit zur säkularen, einseitigen Vereinnahmung. Es ist daher auch irrelevant, dass der Erzähler nicht aus mystischer Eigenerfahrung sprechen kann, denn er zitiert die anerkannten Quellen, die genau das tun. Säkulares Sprechen über Religion ist demnach defizitär, weil die säkularen Rezipient*innen zwar wissen können, worum es geht, es evtl. erahnen können durch Analogien, es aber nichtdestotrotz nicht verstehen werden. Der Text verweigert also in seiner Positionierung im Diskursfeld Religion und Säkularisierung eine vollkommene ›Sinn‹-Erfassung – und damit die Annahme eines Kulturuniversalismus, der alle Fremdheitserscheinung grundsätzlich aufzulösen glaubt. Stattdessen führt er vor, wie eine Annäherung aussieht, aber auch, dass unaufgelöste Differenzen stehen bleiben können und als solche wertfrei anerkannt werden müssen. Habermas fordert von säkularisierten Bürgern, dass sie den religiösen Positionen weder den Wahrheitsgehalt noch das Recht der öffentlichen

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Christoph Bochinger: Multiple religiöse Identitäten im Westen zwischen Traditionsbezug und Individualisierung. In: Multiple religiöse Identitäten, S. 137–161, hier S. 154. Tanja Schnell: Religiosität und Identität. In: Multiple religiöse Identitäten, S. 163–183, hier S. 167. Swen Schulte Eickholt: Vom Unsagbaren sprechen. Literaturwissenschaftliche Zugänge zum Bereich des Religiösen. In: Kritische Ausgabe 19 (2015), S. 6–10, hier S. 9.

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religiösen Rede abstreiten sollten.33 Große Liebe zeigt jedoch auf, dass einerseits eine vollkommene Übersetzungsleistung scheitern kann, anderseits wird damit aber der Versuch als solcher nicht disqualifiziert, sondern werden nur seine Grenzen sichtbar gemacht. Hat man aber erst diese Prämissen aufgestellt und damit einem Kulturrelativismus den Wind aus den Segeln genommen, hat man den Rahmen für eine gesellschaftliche Kommunikation zwischen säkularen und religiösen Bürger*innen gesetzt. In dieser Deutung werden die Bedürfnisse beider Seiten gleich ernst genommen, ohne die eine Seite damit als kompensationsbedürftig und vormodern zu positionieren. Wie sehr man diesen wertenden Verortungen als Individuum einerseits ausgesetzt ist, sie aber gleichzeitig derartig diskursiv normalisiert sind, dass sie zu automatisierten Zuschreibungsprozessen werden, führt der Text anhand der impliziten Fremdverortung des Erzählers als Muslim vor. Die auf die impliziten Leser*innen übertragene und nur individuell reflektierbare Zuschreibung der Lesenden hinsichtlich des Protagonisten verlagert die Diskussion in das Wahrnehmungsfeld der Rezipient*innen, ohne diese moralisch-didaktisch im Text belehren zu müssen. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass es ein Bedürfnis zu geben scheint, den Erzähler einer bestimmten Religionszugehörigkeit zuzuordnen, womit Religion ein relevanter Ort im Rahmen von Ordnungs-, Strukturierungs- und Identitätsprozessen fremd-zugewiesen wird: Religiöse Identität ist demnach nicht nur für das jeweilige Individuum von Bedeutung, sondern auch für die Gesellschaft, die über die Zuweisung ein Bild des Anderen generiert und sich sowohl als anders-religiös wie auch nicht-religiös konstituieren kann.34 Die hier zugrundeliegenden asymmetrischen Beziehungen, die im Hintergrund des mit den jeweiligen Religionen verbundenen semantischen Feldes aktiv sind, bestätigen auch in diesem Werkkomplex, dass Religion nicht frei von Machtprozessen gedacht werden kann. Im Kontext der Diskussion um Religion, Moderne und Säkularisierung problematisieren Große Liebe bzw. das literarische Werk Kermanis sowohl die Säkularisierung als auch die damit einhergehende Modernisierungsnarration und machen die miteinander verwobenen diskursiven Strukturen sichtbar. Dabei partizipiert der Text sowohl in Form der Textsorte wie auch der thematischen Inhalte und ihrer literarischen Bearbeitung an verschiedenen hochgradig aktuellen Diskursen, sei es bezogen auf Religion, Spiritualität, Islam, die Mystik, Identität, Erinnerung und Säkularisierung. Deutlich wird dabei, dass die jeweiligen Diskurse keine homogenen, voneinander getrennten Entitäten darstellen, sondern sich überkreuzen und aufeinan33 34

Vgl. Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 118. Zur Relevanz von Religion und Migration im Identitätskontext siehe Melanie Eulitz: Religiöse Pluralität in der jüdischen Gemeinschaft Ostdeutschlands. In: Religiöse Gegenwartskultur. Zwischen Integration und Abgrenzung. Hrsg. von Aleksandra Lewicke u.a. Berlin: LIT 2012, S. 173–187.

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der einwirken bzw. miteinander in Verbindung stehen, wie der Identitätsdiskurs, der sowohl mit den religionsbezogenen als auch mit gesellschaftlichen Diskursen vernetzt ist und dabei einer stetigen Subjektivierung und wertenden Positionierung unterliegt, also in Machtbeziehungen eingebunden ist, die immer wieder neu verhandelt werden. Der Text bemächtigt sich dieser Machtbeziehungen, indem er versucht, Einfluss auf die Darstellung und Rezeption des Diskurses über Religion, Islam und Identität zu nehmen – er ist engagierte Literatur insoweit, als er stereotypfreies und nicht klischeebeladenes Wissen über Islam und islamische Mystik aufzeigt, sich in der Diskussion um Religion und Säkularisierung positioniert und Identitätszuschreibungen problematisiert. Auf der anderen Seite wird durch die Ironisierung des Erzählers seine Favorisierung der islamischen Mystik nicht als Exklusivität, sondern als individuelle Position gespiegelt. Damit ergänzen die literarischen Arbeiten Kermanis, die diese Themen mehr oder weniger explizit durchspielen, seine Essayistik. Als literarische Arbeiten vermögen sie aber dem moralischen Zeigefinger zu entgehen und gesellschaftsrelevante Themen zu reflektieren bzw. ›an der Wurzel zu packen‹, indem sie die Diskussionen in die fiktive Welt und in differenzierte Figuren verlagern und die implizite Leserschaft mithilfe metafiktionaler und gattungstransgressierender Strategien einbinden. Diese Verfahren ermöglichen es so, die »Ambivalenzen religiöser Erfahrung im postsäkularen Zeitalter auszudrücken«.35

Religiös-ästhetische Erfahrung als Störfall des dominanten säkularen Diskurses Überblickt man abschließend die literarische Darstellung von Religion in den drei zentral fokussierten Texten, so zeigen sich frappante Ähnlichkeiten im Einsatz literarischer Verfahren, Motive und Diskurse. Im Vordergrund steht zunächst die Einbettung der für alle untersuchten Texte zentralen religiösen bzw. transzendenten Erfahrung in den Kontext von Übergangsräumen: sei es die Mikwe in Die Leinwand, aber auch Josephs Träume, die Todeserfahrung als Übergang zwischen Leben und Sterben, die Geburt der Zwillinge von Neith, Neiths Erzählung wie auch Monoimos’ Text in Sunrise und die weltliche Liebe und Sexualität bei Kermanis Große Liebe. Literatur wird hier als virtuelle Heterotopie evoziert, die einerseits diskursive Ordnungsstrukturen reproduziert, anderseits in ihrer Fiktionalität das Potenzial hat, diese zu hinterfragen oder aufzuheben, ohne dabei in der Regel sanktioniert zu werden. Damit hat gerade Literatur bzw. Kunst im Allgemeinen die Möglichkeit, Grundüberzeugungen, normalisierte Wahrnehmungsmuster, scheinbare Wahrheiten, aber auch versteckte Strukturen und Formen von Macht- und Herr-

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Daniel Weidner: Roman. In: Handbuch Literatur und Religion. Hrsg. von dems. Stuttgart: Metzler 2016, S. 299–306, hier S. 305.

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schaftsbeziehungen, die erst auf einer Mikroebene deutlich werden, zu beleuchten und offenzulegen. Als prädestinierter Ort eines Dazwischen, des Übergangs, wie dies bereits bei Homi Bhabha als third space36 evoziert wird, können in literarischen Narrationen Dichotomien aufgebrochen, zur Disposition gestellt und neu verhandelt werden; verschiedene Stränge laufen zusammen und entwickeln Netzwerke, sei es historischer, semantischer, intertextueller oder symbolischer Art. Zwischen-, Übergangsorte sind allerdings auch als dynamisch, prozessual und vor allem nicht eindeutig festlegbar zu denken. Mit einem dualistischen Ansatz von Anfangs- und Zielpunkt oder einer Suche nach konkreten und bestimmenden Semantiken sind die ablaufenden Prozesse nicht adäquat zu analysieren. Die hier vorgelegte Untersuchung konnte zeigen, dass die Themenfelder Religion, Mystik, Spiritualität, religiöse Erfahrung, aber auch Säkularisierung und Moderne nicht als losgelöste Bereiche in den literarischen Texten vorliegen, sondern sich gerade durch ihre Verwobenheit mit- und Dependenzen voneinander auszeichnen. Dabei werden einzelne Aspekte dieser verschiedenen Diskurse aufgegriffen, in einer neuen Weise verarbeitet und fließen in der Literatur als einem Zwischenraum, zwischen den Diskursen, als »Interdiskurs«37 zusammen. Literatur als Interdiskurs zeigt sich in den hier untersuchten Texten an den verschiedenen Arten der Querbeziehungen und Verweise, die die Texte mit unterschiedlichen Diskursen – von dem der institutionell verfassten Religionen über neue Formen des Spiritualitätsdiskurses, der Mystiken bis hin zu denen der Säkularisierung, Moderne, Rationalisierung, Erinnerung, Identität sowie dem Literaturdiskurs selbst – aufgenommen und literarisch verarbeitet haben.

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37

Vgl. Bhabha: Verortung der Kultur, S. 5: »Das Treppenhaus als Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen wird zum Prozeß symbolischer Interaktion, zum Verbindungsgefüge, das den Unterschied zwischen Oben und Unten, Schwarz und Weiß konstituiert. Das Hin und Her des Treppenhauses, die Bewegung und der Übergang in der Zeit, die es gestattet, verhindern, daß sich Identitäten an seinem oberen und unteren Ende zu ursprünglichen Polaritäten festsetzen. Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene Hierarchie gibt«. Vgl. auch: Die Figur des Dritten – Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Hrsg. von Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2010. Link, Link-Heer: Diskurs/Interdiskurs, S. 92. Dabei wird zwischen weniger komplexen Interferenzen und hochgradig komplexen unterschieden: von einfachen Analogie-Kopplungen bis hin zu den Gebilden, die als Dispositiv bei Foucault bezeichnet wurden. Vgl. ebd. Eine wenig komplexe Beziehung sieht Link im »Alltagswissen« als einem »wenig institutionalisierten, relativ lockeren Gewimmel von Diskursinterferenzen und Diskursberührungen«, das aus verschiedenen »interdiskursiven Elementen« besteht. Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 288.

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Zudem sind es nicht nur die Figuren, die ›Schwellenerfahrungen‹ in Durchgangsräumen durchleben. Vielmehr ist die explizite Einbindung der fiktiven wie auch impliziten Leser*innen allen drei Texten inhärent. Dabei werden verschiedene ästhetische Praktiken aufgerufen, um den (heterogen, d.h. kulturell, sozial, politisch, religiös etc. unterschiedlich ausgeprägten) »Erwartungshorizont«38 der Leser*innen zu transgressieren und diese dabei (möglicherweise) zu transformieren. So greifen alle drei Texte auf komplexe und in Wechselwirkung mit den diegetischen Verläufen stehende narrative Verfahren zurück, die sich einer eindeutigen Lesart entziehen: sei es die dreifache bzw. vierfache (homodiegetische) Erzählkonstruktion in Sunrise, bei der die narrative Stimme immer wieder verschwimmt; die durch das Flip-Book bedingte gebrochene Erzählanlage von Die Leinwand oder aber die autofiktional durchsetzte Narration des erzählenden Ichs in Große Liebe, die immer wieder einen Abgleich mit dem realen Autor evoziert. Unterstützt werden diese Verfahren der Ver-Unsicherung und Ver-Uneindeutung durch explizit unzuverlässige Erzähler*innen, die nicht einfach auf den Einsatz homodiegetischer Erzähler*innen zurückgeführt werden können,39 sondern gerade durch Offenheit und Unsicherheit festlegende und positionierende Lesarten unterlaufen. Die ›experientiality‹40 narrativer Texte wird damit produktiv aufgegriffen und potenziert: Literatur als mehrdimensionale Erzählung ruft im Erzählen der Erfahrung die Erfahrung als solche gleichzeitig mit auf. Zudem kann man auch sehen, dass gerade epische Texte ob ihrer Erfahrungshaftigkeit die Vermittlung religiöser Erfahrung als einer subjektiven differenziert durchspielen können: mit Anleitung zum Nachmachen, als Ideal einer Transzendenzerfahrung, als lebensveränderndes Moment. Dabei korreliert die Hervorhebung der individuellen religiösen bzw. existenziellen Erfahrung mit der Aufwertung einer individuellen Rezeptionserfahrung – einer ästhetischen Erfahrung –, die durch den Bezug auf die Lesenden anvisiert wird: Für Die Leinwand wird dies bereits in der paratextuellen Anlage des Lesehinweises 38 39

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Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Ders.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970, S. 144–207, hier S. 177. Zu Ich-Erzählern als prädestinierten unzuverlässigen Erzählern vgl. Monika Fludernik: Unreliability vs. Discordance. Kritische Betrachtungen zum literaturwissenschaftlichen Konzept der erzählerischen Unzuverlässigkeit. In: Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. Hrsg. v. Fabienne Liptay, Yvonne Wolf. München: Boorberg 2005, S. 39–59, hier S. 40. Monika Fludernik: Towards a ›Natural‹ Narratology. London: Routledge 1996, S. 12. Experientiality, i.d.R. als Erfahrungshaftigkeit übersetzt, meint bei Fludernik das charakteristische Merkmal epischer Texte, die sich dadurch auszeichnen, dass vermittels des Erzählens subjektive Erfahrungen von Weltwahrnehmung bei den Rezipient*innen evoziert werden: »a quasimimetic evocation of ›real-life-experience‹«. Ebd., ausführlicher S. 20–30. Die problematische Zuordnung Fluderniks, die eine neutrale Erzwählweise ausschließt oder Lyrik als narrativ verstehen würde, ist ihr dabei selbst bewusst, allerdings versucht sie, wenig überzeugend, die neutrale Erzählweise als menschliche Erfahrung des Sehens darzustellen. Vgl. ebd., S. 130f.

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noch vor der Lektüre evident; in Große Liebe durch die ambivalente Lesart angelegt und in Sunrise über die Narrationsstrategie der performativen, unmittelbaren Redewiedergabe sowie der transgressierenden Amalgamierung verschiedener Genres und Gattungen verfolgt. Solche Grenzüberschreitungen von normierten und normalisierten Genre- und Gattungszuschreibungen sind ebenfalls allen drei Texten eigen – so auch in der Leinwand, die die Kategorisierung des Fantastischen kritisch ausstellt, oder die Problematisierung des Autobiografischen im Autofiktionalen bei gleichzeitiger Offenheit gegenüber dem Romanhaften in Große Liebe. In der produktiven Vermischung dieser verschiedenen Verfahren öffnet sich für die Rezipient*innen ein mitzugestaltender und auszufüllender, ja teilweise auszuhaltender Dritter Raum, womit die Wahrnehmung eindeutiger binärer Zuordnungen und normalisierter bzw. ›automatisierter‹ – komplexitätsreduzierender, konventionalisierender und habitualisierender –41 Leseerwartungen unterlaufen wird. Aus einer rezeptionsästhetischen Perspektive lässt sich die literarische Darstellung von Religion in den drei Texten als eine der Störung, der Unterbrechung des normalisierten Rezeptionsprozesses, als gezielte »Entautomatisierung« beschreiben, die »als Umkehr oder Sichtbarmachung von automatisierter Tätigkeit oder Wahrnehmung verstanden werden« kann.42 Sunrise, Die Leinwand und Große Liebe bedienen sich explizit ästhetischer Verfahren bzw. Praktiken, die als Strategien der Unterbrechung […] die Wahrnehmungs-, Kognitions- und Bewertungsschemata aufbrechen und Routinisiertes, nicht mehr Wahrgenommenes, wieder in die Sichtbarkeit treten lassen, indem sie auf jeweils spezifische Weise nach eigenen (Spiel-)Regeln Räume des Sichtbaren generieren.43 Dabei stellen diese Strategien der Sichtbarmachung als Verfahren der Verunsicherung und Ver-Uneindeutung gerade in ihrer Interdependenz und Synthese von religiöser und ästhetischer Erfahrung eine Unterbrechung der routinisierten Wahrnehmung des säkularen Diskurses dar: In der ästhetischen Erfahrung einer Entautomatisierung und damit auch einer möglichen Überforderung bzw. Krise zeigt sich die Analogie zur religiösen bzw. mystischen Erfahrung. So verweist Julia Kristeva auf die Mystik als unmögliches Begehren, das nicht mit den dominanten Redeweisen beschrieben werden kann und dadurch gerade Potenzial jenseits des SagMach-Baren – ja des Sichtbaren – bietet;44 und auch Laclau sieht in der mystischen Erfahrung einen Ausdruck menschlichen Endlichkeitserlebens sowie im Versuch, 41

42 43 44

Vgl. Norbert Otto Eke, Patrick Hohlweck: Zersetzung. Automatismen und Strukturauflösung. In: Zersetzung. Automatismen und Strukturauflösung. Hrsg. von dens. Paderborn: Fink 2019, S. 9–15, hier S. 10. Brauerhoch, Eke, Wieser, Zechner: Entautomatisierung, S. 9. Eke, Hohlweck: Zersetzung, S. 13. Vgl. Gabriela Wacker: Art. »Mystik«. In: Handbuch Literatur und Religion, S. 395–398, hier S. 396.

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diesen zu kommunizieren, eine sprachliche Gratwanderung.45 Dabei greifen die Texte auf das romantische Kunstreligion-Konzept nicht zurück, um ästhetische Erfahrung als eine Alternative zur religiösen vorzustellen, sondern machen durch die Verbindung von ästhetischer und religiöser Erfahrung das – so verstandene – rational und objektiv nicht beschreibbare Moment der menschlichen Erfahrung von Krise, Kontingenz und Endlichkeit in seiner Komplexität und Unauflösbarkeit wieder sichtbar, ja mehr noch: Dessen noch wirksame Nivellierung und Verdrängung wird als ein Ergebnis bestimmter diskursiver, historischer, machtbezogener Prozesse im diskursiven Feld von Religion – Säkularisierung – Moderne offengelegt. Als Störfall, »allgemeiner noch als eine Unterbrechung des transzendental, geschichtlich oder normativ stabilisierten Kontinuums empirischer Regelmäßigkeiten«,46 der das individuelle, fiktive wie implizit reale Erfahrungsmoment in den Vordergrund rückt, gehen die Texte dabei über die religiöse Thematik hinaus und hinterfragen die gültigen, wirklichkeits- und wahrheitskonstitutiven Episteme. Gerade mit der »Störfall-Kategorie« kann die Benennung von aus dem Rahmen fallenden Akteuren und Ereignissen dementsprechend einen ›parallax view‹ auf die symbolischen Grenzziehungen und sozialen Fiktionen der Gesellschaft [ermöglichen]: Die im Grenzbereich von Normalisierungsprozessen angesiedelten Störfälle erscheinen als prominente Anlässe gesellschaftlicher Selbstthematisierung, im Rahmen derer die Verhältnisse von Ordnung und Unordnung, von systemischen Ein- und Ausschlüssen, von Faktischem und Kontrafaktischem jeweils neu verhandelt werden. Störfälle irritieren dabei kulturelle Selbstbeschreibungsformeln ebenso wie sie diese stabilisieren.47 Religiös-ästhetische Erfahrungen können von hier aus als Störungen bzw. Störfälle des dominanten säkularen Diskurses gelesen werden, die dessen Gemachtheit, Historizität und Konstruktion ausstellen, ohne für eine naive ›Verzauberung‹ der Welt zu plädieren. Letzteres kann vor allem bei der Rezeption literarischer Werke auf religionspädagogischer Seite beobachtet werden, die von Kuschel bereits als Wunschdenken und »Theo-Poesie« identifiziert wurde.48 Der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung kann es daher nicht komplexitätsreduzierend genügen, in Analysen auf eine ›Wiederkehr der Religion‹ oder ›Transformation des Religiösen‹ zu verweisen, die sie laut Braun »dankbar quittiert«49 habe. Derrida formuliert in diesem Zusammenhang eine deutliche Differenzierung: 45 46 47 48 49

Vgl. Laclau: Von den Namen Gottes, S. 214. Lars Koch, Christer Petersen: Störfall – Fluchtlinien einer Wissensfigur. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaft (ZfK) 5/2 (2011), S. 7–11, hier S. 8. Ebd., S. 10. Vgl. Karl-Josef Kuschel: Im Spiegel der Dichter. Mensch, Gott und Jesus in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Düsseldorf: Patmos 1997, S. 15. Braun: Gegenwartsliteratur, Postmoderne, S. 199.

VII Literatur im diskursiven Feld von Religion, Säkularisierung und Moderne

Die fragliche ›Rückkehr des Religiösen‹, das heißt: die brandende, sich aufbäumende und überschlagende Bewegung eines komplexen und überbestimmten Phänomens ist keine einfache Rückkehr, da ihr weltumspannender Charakter und ihre (tele-techno-media-szientifischen, kapitalistischen und politisch-ökonomischen) Gestalten noch nie dagewesen und deshalb ursprünglich, originell sind.50 Damit öffnet Derrida aber das diskursive Feld hin auf globale, mediale und ökonomische Fragestellungen, die in den literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zu Religion eher marginal anzutreffen sind, wohingegen die hier analysierten Texte dieses breite Themenspektrum bereits andeuten bzw. explizit auffächern. Die Darstellung von Religion in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur bewegt sich somit nicht auf einer reinen Ebene der ›Wiederkehr der Religion‹, sondern im Kontext eines verzweigten, komplexen, sich überschneidenden Feldes von unterschiedlichen Diskursen, von denen Religion nur einer ist.

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Derrida: Glaube und Wissen, S. 69f. Körte schränkt die ›Wiederkehr‹ der Religion auf die »Wiederkehr des Interesses an ihr« ein. Vgl. Mona Körte: ›Ein bisschen Aleph‹: Jüdische Religion und religiöse Praxis zwischen Renaissance und Musealisierung. In: Religion and Identity in Germany Today, S. 7–24, hier S. 7.

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VIII Ausblick – Jenseits der Episteme?

Die noch anhaltende gesellschaftliche Relevanz von Religion ist unbestritten – und sei es nur im negativen Sinn als Feind- und Angstbild einer Überfremdung von ›europäischer‹ bzw. ›deutscher‹ Kultur. Im globalen Kontext gesehen nimmt Religion einen besonders hohen Stellenwert ein, so bspw. durch das Erstarken religiöser Bewegungen in den ehemaligen UdSSR-Ländern, den neuen Religionsbewegungen in Südamerika, einem konservativen Kurs in Polen sowie den im Religionskontext stehenden Neuen Kriegen.1 Neben diesen gesellschaftsbezogenen Aspekten gilt es aber auch, Forschungsparadigmen zu hinterfragen: Zur Disposition stehen auch zukünftig Fragen, ob es überhaupt eine ›Rückkehr der Religion‹ gibt, wie und was transformiert wurde und vor allem, wie dies global zu denken ist. Daneben muss jedoch auch ein Blick auf den Beobachtungsstandpunkt selbst im Zuge der Religionsbeschäftigung gesetzt werden: Haben verschiedene, literarische Texte und auch die Analysen der Forschung an der Säkularisierungsnarration und damit der ›Entzauberung‹ mitgeschrieben, wie sie es jetzt teilweise an der ›Wiederkehr‹ tun? Für zukünftige Untersuchungen bieten sich demnach sowohl Relektüren kanonischer Texte an, die die Spannung Säkularisierung – Moderne – Religion diskursanalytisch beleuchten und Machtinteressen herausarbeiten, als auch die Analyse und Überprüfung der Literaturgeschichtsschreibung, die das Säkularisierungsnarrativ unterstütze, wenn sie für die Zeit um 1900 von einem ›Transzendenzverlust‹ spräche;2 eine literaturwissenschaftliche Forschungsreflexion könnte hier ebenso diskursanalytisch Ergebnisse zu den Positionierungen der Wissenschaft seit 1900 liefern.3 Weitere Forschungsfelder ergeben sich aus der hier zugrundeliegenden konstruktivistischen Untersuchungsposition, die nach dem Wie der Religionsdarstellung, nach dem Konstruktionscharakter, den Ordnungsprozessen und -strukturen

1 2 3

Vgl. Herfried Münkler: Die neuen Kriege. Reinbek/Hamburg: Rowohlt 2002. Vgl. Koschorke: ›Säkularisierung‹ und ›Wiederkehr der Religion‹, S. 245. Weidner verweist darauf, dass die »Literaturwissenschaft oft auch die Vagheit der Kategorie ›Säkularisierung‹« übernommen habe. Vgl. Daniel Weidner: Religion in Theorien der Literatur. In: Handbuch Literatur und Religion, S. 9–17, hier S. 14.

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Religion als diskursive Formation

gefragt hat – nicht jedoch nach dem Was. Damit sind einige Fragestellungen ausgeklammert worden: So konnte nicht auf die jeweils historisch spezifischen Eigenarten der dargestellten Religionen eingegangen werden, Fragen intertextueller Natur sind ebenfalls nur schlaglichtartig beleuchtet worden; auch semantische Fokussierungen mussten ob der Ausrichtung der Arbeit außen vor bleiben und wurden auszugsweise an relevanten Stellen thematisiert. Die hier aufgezählten Aspekte sind dabei entweder teilweise von der Forschung für die jeweiligen Texte schon geleistet worden, was auch an entsprechender Stelle erwähnt ist, oder sie stehen noch aus, was einen möglichen Anknüpfungspunkt für weitere Arbeiten darstellt. Besonders eine Ausweitung auf außereuropäische Religionsformen thematisierende Texte dürfte eine hilfreiche Erweiterung und Kontrastfolie für einen diskurstheoretischen Zugang bieten. Auch ein Vergleich in einem globalen Kontext unter einem komparatistischen Blickwinkel würde den Blick für das gesamte Diskursfeld Religion – Moderne – Säkularisierung, und mit Derrida auch Ökonomie, Gender etc., sowohl thematisch als auch allgemein in der Breite schärfen. Schließlich steht auch ein gattungsübergreifender Fokus aus, da diese Untersuchung sich auf epische Texte konzentriert hat, es liegt jedoch eine Reihe von Religion thematisierender Dramen und Performance- bzw. Installationsarbeiten vor, sei es Der Bus von Lukas Bärfuß, verschiedene Arbeiten von Feridun Zaimoglu wie Nathan Messias, der Gebetomat von Oliver Sturm oder Elfriede Jelineks Wut mit dem Bezug auf Terrorismus und Neue Kriege.4 Eine weitere Fragestellung ergibt sich aus der Einsicht, dass allen drei untersuchten Texten eine bestimmte Haltung und Handlung appellativ eingeschrieben ist, die zu mehr individueller Verantwortlichkeit, Reflexion und Positionierung anregt. Inwiefern die Texte einer neuen Form von engagierter Literatur angehören, kann diese Arbeit nicht mehr beantworten. Hier könnten Untersuchungen im Schnittpunkt von Ethik, Politik, Zivilreligion und des ›Säkularen‹5 einerseits angeschlossen werden, anderseits wäre das gegenwärtig diskutierte Konzept des tikkun olam, der »Ausbesserung der Welt« in den zeitgenössischen Arbeiten von Judith Butler, von weiterführendem Interesse.6 Die Frage des Verhältnisses von Religion und dem ›Säkularen‹ wird auch vor dem historischen Kontext einer Gesellschaft, in der es Religion per ›Dekret‹ nicht gab, erneut evident. So verweist Mechtenberg 4

5

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Vgl. Lukas Bärfuß: Meienbergs Tod / Die sexuellen Neurosen unserer Eltern / Der Bus. Stücke. Göttingen: Wallstein 2015; Feridun Zaimoglu, Günter Senkel: Nathan Messias. Reinbek/Hamburg: Rowohlt Theater-Verlag 2009; Elfriede Jelinek: Wut. In: Theater heute 6 (2016). Zur Säkularitätsforschung siehe Christoph Bochinger: Das Verhältnis zwischen Religion und Säkularität als Gegenstand religionswissenschaftlicher Forschung. In: Säkularität in der religionswissenschaftlichen Perspektive. Hrsg. von Steffen Führding, Peter Antes. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht unipress 2013, S. 15–57. Agnes Bidmon: »Heal the world«. Das jüdische Konzept des Tikkun Olam im zeitgenössischen Denken. In: Kritische Ausgabe 19 (2015), S. 39–42.

VIII Ausblick – Jenseits der Episteme?

darauf, dass das in der DDR verbreitete Desinteresse von Kritik und Interpretation an religiösen Themen auf die Literatur als solche übertragen und stillschweigend vorausgesetzt wurde,7 womit ein eingehender Blick in die Literatur der DDR fruchtbar sein könnte. Der gesellschaftsrelevante Bezug von Religion als Störung, als Störfall bietet ebenfalls weitere Anknüpfungspunkte, so etwa der Rückgriff auf Religion bzw. Religion als Korrektiv und Impulsgeber für den gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Diskurs. Die Diskussion um ein solches Zusammenspiel lässt auch die Erinnerung an den benjaminschen Schachautomaten aufkommen: Hier ist die Theologie noch der hässliche, sich versteckende Zwerg, der, nehme man ihn in den Dienst, zu einem Sieg führen würde.8 Dieses Bild hat Slavoj Žižek aufgegriffen und ironisch gewendet: Heute, da sich die historisch-materialistische Analyse auf dem Rückweg befindet, sozusagen nur noch im verborgenen praktiziert und selten bei ihrem richtigen Namen genannt wird, während die theologische Dimension in Gestalt der ›postsäkularen‹ messianischen Wende der Dekonstruktion neuen Schwung erhält, ist es an der Zeit, Walter Benjamins erste geschichtsphilosophische These umzukehren: Gewinnen soll immer die Puppe, die man ›Theologie‹ nennt. 9 Für Žižek scheint die heutige Diskurslandschaft davon geprägt zu sein, dass der historische Materialismus bzw. die Frage auch nach der ökonomischen Bedingtheit menschlicher Verhältnisse, im weiteren Sinn nach den gesellschaftspolitischen Verhältnissen allgemein, im Namen der Theologie betrachtet wird. Dies ist keine kritische Position: Žižek positioniert sich als Materialist, der subversive Momente im Christentum sucht.10 Religion, so seine Argumentation, habe in der gegenwärtigen Moderne, die er als eine versteht, in der Religion zu einem universalen Randphänomen geworden ist, zwei Funktionen, »Rollen«: »eine therapeutische oder eine kritische. Entweder hilft sie den Menschen dabei, im Rahmen der existierenden Ordnung besser zu funktionieren, oder sie versucht, sich als kritische Institution zu etablieren.«11 In diesem Sinn finden sich zwischen Politik und Theologie Ansät7

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10 11

Vgl. Theo Mechtenberg: Christliche Religion und sozialistische Utopie: Glaube und Kirche in der neueren DDR-Prosa. In: Die DDR-Gesellschaft im Spiegel ihrer Literatur. Hrsg. von Gisela Helwig. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik 1986, S. 163–195. Vgl. Walter Benjamin: Geschichtsphilosophische Thesen. In: Ders.: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Mit einem Nachwort von Herbert Marcuse. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2 1971, S. 78–94, hier S. 78. Slavoj Žižek: Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion. Aus dem Engl. von Nikolaus G. Schneider. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 7. Zur »Gestalt der ›postsäkularen‹ messianischen Wende« vgl. Derridas Konzept vom »Messianischen ohne Messianismus«. Jacques Derrida: Marx and Sons. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004, S. 67. Vgl. Žižek: Die Puppe und der Zwerg, S. 8. Ebd., S. 7.

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ze, die die korrektive Funktion von Religion und theologischen Konzepten für gesellschaftspolitische und ökonomische Fragestellungen fruchtbar machen.12 Dabei warnt Daniel Weidner davor, dass die Theologie »scheinbar eine fast unwiderstehliche Anziehungskraft auf jene Großtheorien [hat], welche – im Bilde Benjamins gesprochen – nicht die hässliche Theologie, aber ihre prächtigen Gewänder gerne anlegen«.13 Die Wechselwirkung zwischen Theologie und Politischer Theorie wäre erst dann gewinnbringend, wenn der Bezug auf religiöse Konzepte und Denkfiguren zu einer »kritische[n] Differenz« beitrage.14 In diesem Sinn plädiert Weidner für eine kritische Überprüfung der Politischen Theologie und sieht gerade anhand der Literatur eine Möglichkeit, die religiösen Konzepte, die gegenwärtig als Korrektiv rezipiert werden, durchzudenken und neu zu denken. Dies hat sich auch in den Ergebnissen der Untersuchung gezeigt, wird doch einerseits die (Ideologie-)Kritik an bestimmten epistemischen Bedingungen evident (Glauben/Wissen), zeigt sich andererseits allerdings auch gleichzeitig eine explizite – wie auch die implizite der Säkularisierungsthese – Reproduktion bereits etablierter Diskurse. Im Kontext der Politischen Theologie wird hier noch stärker deutlich, dass die untersuchten Texte ein Plädoyer darstellen, bestimmte Konzepte – religiöse Erfahrung, Mystik, göttliche Liebe – auf die Gegenwart zu übertragen, abseits etablierter rationalistischer Weltwahrnehmungsmuster, um von dort aus das Verhältnis Mensch und Welt neu zu denken. Dass sie dabei teilweise undifferenziert Religion als Kategorie sui generis reproduzieren, und damit den Diskurs der Moderne und der Säkularisierung, zeugt gerade von der Komplexität des Feldes, in dem sich die verschiedenen Akteur*innen bewegen und aufeinander beziehen und voneinander wegbewegen. Es macht aber auch deutlich, dass das Sprechen über Religion, auch das analytische, noch epistemischen Bedingungen unterliegt, die keinen »festen Boden eines neuen Paradigmas« unter ihren Füßen haben. Ob sich dieses Fundament oder dessen erste Grundsteine in der Literatur finden lassen, ist die Frage einer anderen Arbeit.

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Vgl. etwa Giorgio Agamben: Homo Sacer. New York: Zone Books 1999 und ders.: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, sowie die Sammelbände Theology and the Political. The New Debate. Hrsg. von Creston Davis, John Milbank, Slavoj Žižek. Durham: Duke University Press 2005; Political Theologies. Public Religions in a Post-secular World. Hrsg. von Hent de Vries, Lawrence E. Sullivan. New York: Fordham University Press 2006. Vgl. auch den Ansatz bei Jan Assmann: Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel. 3., erw. Aufl. München: Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung 2006. Daniel Weidner: Religious turns, heute und damals. Giorgio Agamben liest Kafka – anders als Theodor W. Adorno, Gershom Scholem und Walter Benjamin. In: literaturkritik.de 12 (2012). http://literaturkritik.de/id/17298 (Zugriff: 25.07.2020). Vgl. ebd.

IX Literatur

IX.1

Primärliteratur

Kermani, Navid: Dein Name. Bonn: bpb 2011 (Lizenzausgabe für die bpb). Kermani, Navid: Das Buch der von Neil Young Getöteten. In: Ders.: Album: Das Buch der von Neil Young Getöteten. Vierzig Leben. Du sollst. Kurzmitteilung. München: Hanser 2014, S. 7–102. Kermani, Navid: Vierzig Leben. In: Ders.: Album: Das Buch der von Neil Young Getöteten. Vierzig Leben. Du sollst. Kurzmitteilung. München: Hanser 2014, S. 105–246. Kermani, Navid: Du sollst. In: Ders.: Album: Das Buch der von Neil Young Getöteten. Vierzig Leben. Du sollst. Kurzmitteilung. München: Hanser 2014, S. 249–377. Kermani, Navid: Kurzmitteilung. In: Ders.: Album: Das Buch der von Neil Young Getöteten. Vierzig Leben. Du sollst. Kurzmitteilung. München: Hanser 2014, S. 381–506. Kermani, Navid: Große Liebe. Reinbek/Hamburg: Rowohlt 2 2016. Kermani, Navid: Sozusagen Paris. München: Hanser 2016. Roth, Patrick: Riverside. Christusnovelle. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991. Roth, Patrick: Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993. Roth, Patrick: Corpus Christi. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996. Roth, Patrick: Sunrise. Das Buch Joseph. Göttingen: Wallstein 2 2012. Stein, Benjamin: Das Alphabet des Juda Liva. Zürich: Ammon 1995. Stein, Benjamin: Die Leinwand. München: dtv 2012. Stein, Benjamin: Replay. München: C.H. Beck 2012.

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Religion als diskursive Formation

IX.2

Forschungs- und weitere Literatur

[o.A.:] Roth, Patrick: »Christus hat eine Schwester«. Über Gott, Auferstehung, die Wut und den Autor als Grenzgänger: Gespräch mit Patrick Roth. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt vom 22. Oktober 1993. [o.A.:] Roth, Patrick: Beten, um ein neues Auto zu bekommen. Interview. In: Rheinische Post vom 22. August 2003. [o.A.,] Roth, Patrick: Das Interview mit Autor Patrick Roth. Das Geheimnis des Joseph ist – unseres. In: Taunus Nachrichten vom 4. Dezember 2013. www.taunus-nachrichten.de/koenigstein/aktuelles/koenigstein/interviewautor-patrick-roth-geheimnis-joseph-%E2%80%93-unseres-id5654.html (Zugriff: 25.07.2020). Agamben, Giorgio: Homo Sacer. New York: Zone Books 1999. Agamben, Giorgio: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006. Alexander, Philip S.: The Mystical Texts. Songs of the Sabbath Sacrifice and Related Manuscripts. London: T & T Clark 2006. Allkemper, Alo; Eke, Norbert Otto (Hrsg.): Das Gedächtnis der Literatur. Konstitutionsformen des Vergangenen in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Berlin: Erich Schmidt 2005 [Sonderheft 125 (2005) der ZfdPh]. Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung). In: Ders.: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg, Berlin: VSA 1977, S. 108–153. Althusser, Louis: Widerspruch und Überdeterminierung. Anmerkungen für eine Untersuchung. In: Ders.: Für Marx. Hrsg. und mit einem Nachwort von Frieder Otto Wolf. Aus dem Franz. von Werner Nitsch u.a. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 105–144. Ammann, Ludwig: Der Dekalog des Eros. Navid Kermanis Erzählband Du sollst. In: Neue Zürcher Zeitung vom 20. September 2005. Antoni, Klaus u.a. (Hrsg.): Heilige Texte. Literarisierung von Religion und Sakralisierung von Literatur im modernen Roman. Berlin: LIT 2013. Ariel, Yakov: Art. »Ultraorthodoxie«. In: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Bd. 6. Hrsg. von Dan Diner. Stuttgart: Metzler 2015, S. 211–216. Arnal, William E.: Definition. In: Guide to the Study of Religion. Hrsg. von Willi Braun, Russell T. McCutcheon. London: Cassel 2000, S. 21–34. Asad, Talal A.: Genealogies of Religion. Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam. Baltimore, London: Johns Hopkins University Press 1993. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C.H. Beck 2006. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 4., durchges. Aufl. München: C.H. Beck 2009.

IX Literatur

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Religion als diskursive Formation

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IX Literatur

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Religion als diskursive Formation

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Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Sascha Pöhlmann

Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3

Werner Nell, Marc Weiland (Hg.)

Kleinstadtliteratur Erkundungen eines Imaginationsraums ungleichzeitiger Moderne April 2020, 540 S., kart. 49,00 € (DE), 978-3-8376-4789-1 E-Book: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4789-5

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Literaturwissenschaft Thorsten Carstensen (Hg.)

Die tägliche Schrift Peter Handke als Leser 2019, 386 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-4055-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4055-1

Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut, Reto Rössler (Hg.)

Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne 2019, 398 S., kart., 12 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4698-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4698-0

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10. Jahrgang, 2019, Heft 2: Poetiken des Übergangs 2019, 190 S., kart., 2 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4460-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4460-3

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