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German Pages 552 [556] Year 2019
WALTHER
HOFER
GESCHICHTSCHREIBUNG UND WELTANSCHAUUNG BETRACHTUNGEN ZUM FRIEDRICH
WERK MEINECKES
V E R L A G V O N R. O L D E N B O U R G MÜNCHEN
1950
Copyright 1950 by R. Oldenbourg, Miinchen. Satz und Druck: Jos. C. Huber KG., Diessen vor Miindien. Bachbinder: R. Oldenbourg, Graphische Betriebe G.m.b.H., Miïndien.
M E I N E N LIEBEN ELTERN IN D A N K B A R K E I T
ZUGEEIGNET
V O R W O R T Die vorliegende Arbeit wurde bereits im Herbst 1946 abgeschlossen, konnte aber wegen der heute herrschenden Schwierigkeiten in der Drucklegung wissenschaftlicher Publikationen erst jetzt als Buch herauskommen. Die Arbeit verdankt ihre Entstehung Anregungen, die ich im geschichtswissenschaftlichen Kolloquium von Herrn Professor von Muralt empfangen habe. Mein verehrter Lehrer hat auch in der Folge durch lebhaftes Interesse meine Studien wesentlich gefördert. Ihm sei hier vor allem mein tief empfundener Dank ausgesprochen. Viel verdanke ich auch, besonders was die philosophischen Probleme anbetrifft, Herrn Profsssor Hans Barth. Für Mithilfe beim Lesen der Korrekturen bin ich vor allem zu Dank verpflichtet Fräulein cand oec. Waltraud Krippendorff und Herrn Dr. Franz Lamprecht. Dem Verlag Oldenbourg danke ich für seine Bereitwilligkeit, die umfangreiche Arbeit herauszubringen, trotz der großen Schwierigkeiten, denen der deutsche Verleger heute allenthalben begegnet. — Was ich Herrn Geheimrat Meinecke selbst verdanke, seinem Werk und seiner Persönlichkeit, das bedarf hier wohl kaum besonderer Erwähnung; das Buch selbst, so darf ich hoffen, erübrigt alle Dankesworte. Kappelen und Zürich, im August 1949. Walther Hofer
METHODISCHE
EINLEITUNG
Die Abhandlung verbindet zwei Fragestellungen: Erstens versucht sie eine Darstellung des geschichtlichen Denkens eines Historikers, und zweitens geht es um das methodologisch-erkenntnistheoretische Problem der historischen Begriffsbildung. Wenden wir uns zunächst der ersten Fragestellung zu. Da ergibt sich zu allererst die Frage nach der Berechtigung solcher Problemstellung. Ist es gerechtfertigt, einen Historiker als geschichtlichen Denker zu bezeichnen und als solchen erfassen zu wollen? Diese Frage darf in solch allgemeiner Fassung nicht gestellt werden, und sie kann auch nicht in allgemeiner Weise beantwortet werden. Es gilt zu differenzieren: Um was für einen Historiker oder um was für einen Typus von Historiker handelt es sich ? Und dann: Was wird unter dem Begriff des geschichtlichen Denkens verstanden ? G e s c h i c h t l i c h e s D e n k e n ist zunächst Denken über Geschichte, Nachdenken über geschichtliche Probleme. Damit haben wir aber nur etwas umschrieben, was jeder Historiker tut, insofern er Geschichtschreiber ist. Denn Geschichtschreibung bedeutet denkende Bewältigung und Ordnung der geschichtlichen Stoffmassen. Das hat die unscheinbarste Einzelstudie mit der Universalgeschichte gemeinsam. Der geschichtliche Denker geht aber weiter als bis zur Gestaltung eines bestimmten geschichtlichen Gegenstandes. Er hebt sich dadurch ab von demjenigen Historiker, der ein Stück der Vergangenheit „um seiner selbst willen" darstellt, daß er vom einzelnen ins Allgemeine aufsteigt, die 7
Gestaltung eines geschichtlichen Gegenstandes also nicht letzte Stufe seiner Arbeit bleibt. Das letzte Ziel seiner Versenkung in die Geschichte ist es, a l l g e m e i n e Erkenntnisse zu gewinnen: über das Spiel der geschichtlichen Kräfte, über das Wesen der Geschichte und der Geschichtschreibung, über ihren Sinn. Und aus der Erkenntnis des Wesens der Geschichte möchte er zu einer tieferen Erkenntnis des Lebens selbst sich aufschwingen. An seiner Geschichtschreibung zeigt sich solches Unterfangen dann so, daß sie nicht nur reine Erzählung und geschichtliche Darstellung ist, diese vielmehr immer wieder unterbrochen ist durch plötzlich emporfliegende Betrachtung, durch geistige Emporhebung und Sublimierung des geschichtlich Geschauten. Der geschichtliche Denker strebt so letztlich zu einer aus der Perspektive des geschichtlichen Lebens gesehenen Deutung von Leben und Mensch. Dieses letzte Ziel hat das geschichtliche Denken mit dem philosophischen Denken gemeinsam. Insofern ist man berechtigt, von philosophischer Betrachtung der Geschichte zu sprechen und den Typus des p h i l o s o p h i s c h e n H i s t o r i k e r s zu schaffen — wenn man sich über die Akzentverteilung in diesem Doppelbegriff klar ist. Das will nun wiederum nicht sagen, daß der geschichtliche Denker nur unter dem Typus des philosophischen Historikers zu finden ist, wohl aber, daß die Verbindung von philosophischer Besinnung und geschichtlicher Betrachtung d i e Voraussetzung ist, um geschichtliches Denken im Sinne unseres Verständnisses dieses Begriffs hervorzubringen. Die beiden Betrachtungsarten können sich aber auch unter dem Primate eines besonderen Gestaltungs- und Erkenntnistriebes vereinigen, wie Ranke für den religiösen Typus, Burckhardt für den künstlerischen und Troeltsch für den aktivistischethischen Typus der Geschichtschreibung beweist. Wenn nun hier von einer Verbindung von philosophischer und geschichtlicher Betrachtungsweise die Rede ist und unser Historiker dem philosophischen Typus der Geschichtschreibung zugezählt werden soll, dann gilt es vor allem 8
wieder zu unterscheiden: zwischen. Philosophie und Geschichte, zwischen Historiker und Philosoph. W e n n auch der philosophische Grundtrieb eines Historikers und der philosophische Grundgehalt seiner Geschichtschreibung unverkennbar sein mögen, so wäre es dennoch verfehlt, mit rein philosophischen Maßstäben an ihn herangehen zu wollen. Man muß sich ganz klar werden über das Verfahren, das oian anwenden will oder vielmehr anwenden m u ß , um das geschichtliche Denken eines Historikers überhaupt sinnentsprechend erfassen zu können. Das Verfahren im einzelnen hängt ab von dem Grad der Sättigung mit philosophischem Gehalt, den eine Geschichtschreibung aufweist. Die Intensität der Synthese (von philosophischer und geschichtlicher Betrachtungs- und Denkweise) gilt es also zunächst festzustellen. Grundsatz der Analyse muß sein: der Historiker, so philosophisch er auch immer fundiert und gerichtet sein mag, ist immer primär Historiker und erst sekundär Philosoph. Natürlich ergeben sich die mannigfachsten Abstufungen vom unphilosophischen Historiker über den philosophischen Historiker zum historisch vorgehenden Philosophen und zum unhistorischen und antihistorischen Philosophen schließlich. So verlangt jeder einzelne Forscher im Grunde die ihm allein adäquate Methode zur theoretischen Erfassung seines Denkens und Schaffens. Die Problematik einer möglichen Zwischenstellung zwischen Geschichtschreibung und Philosophie ist meistens niemandem bewußter als dem zum geschichtlichen Denker sich aufschwingenden Historiker selbst. Man denke an R a n k e und seine Auseinandersetzungen mit Hegels Logisierung der Geschichte und an seine allgemeinen Gedanken über das Verhältnis von Geschichte und Philosophie, welches für ihn im wesentlichen doch eben ein Gegensatz ist. 1 ) Oder man erinnere sich an J a c o b B u r c k h a r d t s Ablehnung der Ge0 Vgl. dazu den ersten Vortrag „Über die Epochen der neueren Geschichte" und den Aufsatz „Geschichte und Philosophie" in „Geschichte und Politik", Kröner Bd. 146.
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schichtsphilosophie nicht nur, sondern auch an seine scharfe Trennung der Bereiche von Geschichte und Philosophie. 2 ) Es ist daher nicht zu verwundern, daß gerade diese beiden Großen der Geschichtschreibung eine vernichtende Kritik jenes Denkers über sich ergehen lassen mußten, f ü r den Philosophie und Geschichtschreibung eben keinen Gegensatz bilden, sondern eine innige Synthese, ja schließlich identisch werden. Und das ist B e n e d e t t o C r o c e . Es herrscht ein notwendiger innerer Zusammenhang zwischen seiner Postulierung einer Identität von Geschichtschreibung und Philosophie und seinem Verständnis oder vielmehr Mißverständnis Rankes und Burckhardts. 3 ) Croce beurteilt die beiden Historiker mit Maßstäben, die seinem eigenen philosophischen System entnommen sind, jenen beiden geschichtlichen Denkern aber höchst unangemessen sein müssen. W e n n Croce daher in bezug auf ihr geschichtliches Denken und Schaffen von einer „Geschichtschreibung ohne h i s t o r i s c h e s Problem" spricht, so ist das eben gleichviel wie „Geschichtschreibung ohne p h i l o s o p h i s c h e s Problem". Croce sieht genau soviel historisches Problem in ihrer Geschichtschreibung, als er philosophische Durchdringung der geschichtlichen Probleme erkennt. Durch das Anlegen eines solchen Maßstabes steckt er die beiden Historiker recht eigentlich in eine Zwangsjacke. Daß sie sich aber nicht wohl fühlen in ihr, sich nicht wohl fühlen k ö n n e n , das ist einzig und allein der Fehler desjenigen, der sie ihnen aufgezwungen hat. Croce mißachtet hier die erste Grundforderung wahrhaften historischen Verstehens, die geschichtlichen Erscheinungen — und zu ihnen gehören vor allem die Persönlichkeiten und ihre geistigen Leistungen — aus sich selbst, aus ihren Intentionen, aus ihrer Zeit und Umwelt, d. h. immer in Berücksichtigung der 2
) Vgl. „Weltgeschichtliche Betrachtungen", Einleitung: Die Geschichtsphilosophie ist „eine contradictio in adjecto; denn Geschichte, d. h. das Koordinieren ist Nichtphilosophie und Philosophie, d. h. das Subordinieren ist Nichtgeschichte." 3
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) La storia come pensiero e oome azione, Bari 1938, Abschn. III.
ihnen, zukommenden Möglichkeiten, zu verstehen. Der Vorwurf unhistorischen Vorgehens, den Croce einmal gegenüber Meineckes Frage nach der vollkommenen Gestalt des Historismus erhebt, fällt hier, in seinem Verfahren gegenüber Ranke und Burckhardt, in viel stärkerem Maße auf ihn selbst zurück. Der Philosoph, und das bedeutet bei Croce zugleich immer der polemische Philosoph, triumphiert in diesen Urteilen ganz entschieden über den Historiker in ihm. Sein Urteil erscheint genau so ungerechtfertigt wie der Versuch, Hegels Geschichtsdenken mit Maßstäben der modernen Quellenkritik beurteilen und damit erledigen zu wollen. Man darf ebenso wenig den geschichtlichen Philosophen Hegel nach einem historiographischen Prinzip „beurteilen", als man die geschichtlichen Denker Ranke und Burckhardt mit rein philosophischen Kategorien verstehen kann. W i r führen diese Episode hier nicht nur deshalb an, weil sie an sich höchst interessant und aufschlußreich ist, sondern weil sie f ü r unsere Fragestellung noch ihre ganz besondere Bedeutung hat. Wenn Meinecke diese Ranke-Interpretation Croces zurückweist und mit höchstem Bedauern feststellt, daß ein so reicher Geist einmal ein solches Fehlurteil abgeben könne gegenüber einem ihm gar nicht entsprechenden Geiste, so weist dieses Urteil über den Fall Ranke hinaus. Es ist nicht nur Ranke, den Meinecke damit verteidigt, sondern es ist darüber hinaus ein bestimmter Typus von Geschichtschreibung, zu dem auch Meinecke sich zählt. Genau auf dieser Ebene spielen sich denn auch die Kontroversen zwischen Croce und Meinecke ab. Meinecke führt, und Croce weiß das und betont es auch, den Rankeschen Typus der Geschichtschreibung weiter, und so teilt er auch grundsätzlich noch Rankes Ansicht über das Verhältnis von Philosophie und Geschichtschreibung. G r u n d s ä t z l i c h sagen wir, und damit ist gemeint, daß auch Meinecke scheidet zwischen historischer und philosophischer Betrachtungsweise, zwischen geschichtlichem Verstehen und philosophischem Erkennen. Der Gedanke einer Identität von Philosophie und GeschichtII
Schreibung ist auch ihm fremd. Doch dürfen darüber die nicht unwesentlichen Veränderungen, die das geschichtliche Denken Meineckes von demjenigen seines Meisters Ranke unterscheiden, nicht übersehen werden. Zwischen Ranke und Meinecke steht D i 11 h e y . Dilthey aber bedeutet für die Theorie der Geschichtschreibung eine wesentliche Annäherung zur Philosophie, eine engere Verbindung philosophischer und historischer Interessen. M i t dem Blick auf Ranke allein ist Meineckes geschichtliches Denken und Schaffen nicht zu verstehen. Diltheys theoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften, seine Theorie des Verstehens und seine Kritik der historischen Vernunft sind aus der Geschichtschreibung unseres Historikers nicht wegzudenken. W e n n Dilthey die theoretischen Fundamente schuf für einen neuen Typus einer philosophischen Geschichtschreibung, dann ist Meinecke (bis jetzt) der größte und erfolgreichste Verwirklicher seiner Intentionen auf dem Gebiet der Geschichte. Die Durchdringung der Geschichtschreibung mit philosophischem Gehalt geht nun aber bei Meinecke, so betonten wir schon, nicht in der Richtung Croces. Die geistige Verbindung mit Ranke bleibt in vollem Umfange erhalten. Man kann es auch so sehen: Der T y p u s der r e l i g i ö s fundierten Geschichtschreibung im Sinne Rankes wird durch Dilthey in den T y p u s der p h i l o s o p h i s c h e n Geschichtschreibung im Sinne Meineckes gewandelt. W a s vor sich geht, ist recht eigentlich eine S ä k u l a r i s i e r u n g . So verstanden ist Meinecke säkularisierter Ranke. Daher ist er zugleich Ranke und doch wiederum — in bestimmter Hinsicht und auf einer gewissen Ebene — etwas ganz anderes. 4 ) An die Stelle der Religion ist die Philosophie, gleichsam als säkulari4 ) Vgl. dazu die W o r t e eines Schülers von Meinecke: „The books of Friedrich Meinecke have given. a fresh stimulus to the study of Ranke . . . he has remained both the outstandimg student and interpreter of Ranke". Hajo Holborn in dem Aufsatz „The science of history" in „The Interpretation of history'V Prrnceton 1943, 82.
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sierte Religion getreten. Für die Geschichtschreibung aber erfüllen beide genau dieselbe Aufgabe: den Aufstieg von den geschichtlichen Tatsachen ins Allgemeine überhaupt zu ermöglichen und den Grund zu geben, auf dem Geschichte zur Einheit werden und Geschichte und Leben zusammenfließen können. Die geschichtliche Betrachtung erhebt sich nicht aus eigener K r a f t zur Anschauung des Allgemeinen und schließlich des Universalen, wie Ranke gelegentlich noch meinte 5 ), sondern sie bedarf der religiösen oder philosophischen, in jedem Falle also weltanschaulichen Besinnung, um erst dadurch zum geschichtlichen D e n k e n zu werden. So ist Meineckes Verhältnis zur Philosophie zugleich begehrende Liebe und Gebärde der Abwehr. E r sieht ihre Notwendigkeit wie ihre Gefahren für die geschichtliche Betrachtung. So betont er auch, je nach Verfassung und Lage, bald mehr das eine, bald mehr das andere Moment. Nie aber lehnt er es ab, als philosophischer Historiker verstanden zu werden, wie dies etwa E r i c h M a r e k s getan hat. c ) Immerhin sind die Äußerungen unseres Historikers über das Problem des Verhältnisses von Philosophie und Geschichtschreibung so beschaffen, daß aus ihnen ein einigermaßen widerspruchsloses Bild gewonnen werden kann. Damit ist dann auch die innere Struktur dieser Geschichtschreibung näher bestimmt, und Meinecke gibt so selbst Anleitungen, wie er verstanden werden will. Aus ihnen haben wir unser methodisches Verfahren dann sinngemäß auch zu entwickeln. Meinecke stellt einander gegenüber die theoretische Beä
) Vgl. den erwähnten Aufsatz über Geschichte und Philosophie, w o Ranke über der Abwehrstellung gegen die Philosophie übersieht, daß es bei ihm gerade der religiöse Glaube ist, der ihm erlaubt, ins Allgemeine aufzusteigen. c ) Vgl. den Aufsatz von Gordon M. Stewart in dem Sammelwerk „Some historians of modern Europe", Chicago 1942, 298. „Mareks did not base nis writmgs upon a svstematic philosophy of history. He rejected the title of Geschichtsphilosoph emphatically and claimed that he was mere by a historian who interpreted the past on the basis of documents."
sinnung, die „aus der Praxis historischer Forschung geschöpft ist" und „das aus mehr logisch-abstrakten Bemühungen Entstandene". 7 ) W a s in dieser Gegenüberstellung zum Ausdruck kommt, ist nichts anderes als der für Meinecke grundwesentliche Gegensatz von G e s c h i c h t e u n d L o g i k . Aus ihm gehen alle anderen Gegensätze hervor, die das Verhältnis von Geschichtschreibung und Philosophie bestimmen: spekulative Erkenntnis gegen lebendige Anschauung, rationale Kritik gegen künstlerische Intuition, Begriff gegen Idee usw. W i r erkennen aus solchen Gegenüberstellungen, daß Meineckes Abwehr vor allem dem formalen Element der Philosophie, der Logik also, gilt. Er will seine geschichtlichen Gedanken keinesfalls als logisches System aufgefaßt wissen oder in ein solches hineingepreßt sehen. Das Einheitsband, das um seine geschichtstheoretischen Gedanken geschlungen ist, besteht nicht in einer logischen Kategorie, sondern in der geistigen Einheit der sie schaffenden Persönlichkeit. W a s f ü r Meinecke geistige Einheit schafft, ist nicht das logische Denken, sondern das Leben und sein Schicksal selbst. W i e sich das Verhältnis von Philosophie und Geschichtschreibung, von formalem und empirischem Denken auch gestalte, es wird für Meinecke immer so bleiben, daß „die Ergebnisse des reinen Logizismus durch die Erfahrung und die des bloßen Empirismus durch die logische und erkenntnistheoretische Besinnung in Zweifel gezogen werden können." Auch der Philosoph kann dem Historiker daher keine endgültige Antwort geben auf die ihn bedrängenden und sich widersprechenden logischen und metaphysischen Fragen, „denn er sieht in jeder von ihnen, auch derjenigen, die ihm am besten einleuchtet, irgendeinen schwachen Punkt, ein ungelöstes oder nur scheinbar aufgelöstes X." 8 ) Das führt zum zweiten Grundsatz in Meineckes Ein7 ) Kausalitäten und Werte in der Geschichte, Historische Zeitschrift (Zitiert H. Z.) 137,14. 8 ) Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, München und Berlin 1929, 3. Aufl., 10. (Zitiert I.d.S.).
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Stellung gegenüber der Philosophie. Der Historiker wird nicht nur kein logisches System aufstellen können oder wollen, er wird durch sein geschichtliches Denken auch keine s y s t e m a t i s c h g e s c h l o s s e n e und p h i l o s o p h i s c h e i n h e i t l i c h e Theorie aufstellen oder erreichen. Er wird sich somit auch keiner bestimmten Philosophie oder philosophischen Richtung a priori verschreiben, da Hauptkriterium für seine Denkarbeit die Anschauung des geschichtlichen Lebens selbst ist. Der Historiker bevorzugt in seinen theoretischen Bemühungen das Moment der g e s c h i c h t l i c h e n L e b e n s w i r k l i c h k e i t zum Nachteil der logischen Konsequenz und der systematischen Einheitlichkeit. „Dem modernen Historiker widerstrebt es vielleicht von Natur, einen konsequenten philosophischen Standpunkt einzunehmen. M a g man ihn deshalb eklektisch schelten, aber sein Amt ist es nun einmal, den Reichtum, ja selbst den Widerspruch der Motive die aus der denkenden Betrachtung menschlicher Dinge sich ihm aufdrängen, getreu wiederzugeben und unter der Dominante seines eigenen Wesens zu vereinigen." 9 ) Der Historiker ist als Philosoph E k l e k t i k e r . Dies wird sich uns überall in mehr oder weniger ausgesprochenem Maße zeigen, wo wir versuchen, die Gedanken unseres Historikers auf einen einheitlichen (philosophisch einheitlichen) Nenner zu bringen. Aus solcher innerer Struktur geschichtlichen Denkens ergibt sich notwendig die Methode, die angewandt werden muß, um es zu erfassen. Das methodische Vorgehen darf weder einseitig logisch orientiert sein, noch auf die Konstruktion eines geschlossenen Systems ausgehen. Gemäß dem praktischen Verfahren des Historikers gilt es zwei Wege zu beachten, um sein geschichtliches Denken zu erfassen und seine Theorie der Geschichte darzustellen. Es gibt Aussagen, die in rein theoretischer Absicht gemacht wurden und daher auch entsprechende Form aufweisen. Solche Urteile, es sind a l l g e m e i n e Urteile, können für eine Darstellung der geschichtstheoretischen Gedanken unmittelbar verwendet wer9
) I.d.S., 501. 15
den. Der weitaus größte T e i l der Gedanken abery die für eine solche Darstellung in Frage kommen, sind Aussagen, welche einen konkreten geschichtlichen Fall betreffen. Sie sind also b e s o n d e r e Urteile. Sie können nicht ohne weiteres für eine Theorie der Geschichte verarbeitet werden. Ihnen muß der theoretische, auf allgemeine Erkenntnis ausgehende Gehalt zuerst gleichsam entzogen werden. Beim ersten Typus von Gedanken handelt es sich mit anderen Worten um bew u ß t e R e f l e x i o n , bei der zweiten Art um einen i m p 1 ic i t e vorhandenen theoretischen Gehalt. 10 ) Um ein Beispiel zu geben: Zur ersten Art geschichtstheoretischer Gedanken gehört es, wenn Meinecke die Geschichte als ein Ineinander von Freiheit und Notwendigkeit bezeichnet, zum zweiten Typus, wenn er im außenpolitischen Handeln Friedrichs II. von Preußen den Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit entdeckt. Das erstemal handelt es sich um eine allgemeine Erkenntnis, die sinngemäß für alle besonderen Fälle gültig ist. Beim zweiten Urteil aber geht es um eine zunächst nur auf einen individuellen geschichtlichen Fall passende Aussage, bei welcher es erst noch näher zu untersuchen gilt, inwiefern sie ins Allgemeine erhoben werden darf. Wenn nun auch bei Meinecke mehr offen daliegende theoretische Gedanken vorkommen mögen, als dies bei manchem anderen Historiker der Fall ist, so haben doch unsere Untersuchungen gleichwohl noch in sehr hohem Maße auf die zweite Art geschichtlicher Urteile aufzubauen. Solches Herausarbeiten der Geschichtstheorie unseres Historikers aus Gedanken, die aus dem individuellen geschichtlichen Fall herausgewachsen sind, bedingt die relativ lange Darstellung unserer Abhandlung. Es ist dies eine Notwendigkeit, die auch andere Interpreten geschichtlichsn Denkens und Schaffens schon hervorgehoben haben. So etwa Johannes 10) V g l . J o h . T h y s s e n , Geschichte der OeschichtsphMosophie, Berlin 1936, Einleitung, w o zwischen expliziter und impliziter Oeschichtsphilosophie in der Geschichtsschreibung unterschieden w i r d .
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Thyssen, wenn er in, bezug auf die Geschichtstheorien Jacob Burckhardts und vor allem Auguste Comtes betont: „Je mehr es sich um Theorien handelt, die von i n d i v i d u e l l e m G e s c h i c h t s s t o f f sozusagen gesättigt sind, um so weniger kann es überhaupt gelingen, den Reichtum des Gehalts in einer kurzen Darstellung einzufangen." 11 ) Da es erster Grundsatz unseres methodischen Vorgehens ist, unserem Historiker weder ein Schema aufzuzwingen, noch ihn in ein System hineinzupressen, noch seine Gedankengänge durch logische Argumentationen ad absurdum zu führen, war es eine nicht zu umgehende Notwendigkeit, vom besonderen Fall her zur allgemeinen Erkenntnis vorzustoßen. „Vom Besonderen zum Allgemeinen aufsteigen", das ist erste Grundforderung geschichtlichen Verstehens und Denkens im Sinne Meineckes und des Historismus. Und so dürfen auch wir es mit seiner Deutung nicht anders halten. Es wäre durchaus verfehlt, Meinecke einseitig bei seinen allgemeinen Aussagen und Bestimmungen zu behaften und dann zu schauen, ob die besonderen Urteile und Umschreibungen hineinpassen. Das gilt in besonderem Maße für die Begriffsbestimmungen. Und damit sind wir beim zweiten Punkt unseres methodischen Verfahrens. Wir gehen in unseren Untersuchungen grundsätzlich nicht von Problemen, sondern von den letzten Elementen aus, die allem geschichtlichen Denken und Schaffen zugrunde liegen, und das sind die B e g r i f f e . Unsere Methode zur Darstellung des geschichtlichen Denkens Meineckes ist also die Begriffsanalyse. Es gilt demnach, zunächst einmal die historischen Grundkategorien zu ermitteln und dann durch ihre Analyse in die von ihnen umschlossenen Probleme vorzustoßen. Unsere Fragestellung ist primär s y s t e m a t i s c h , sekundär genetisch. Das Ordnungsprinzip, nach welchem Meineckes geschichtliches Denken dargestellt werden soll, ist nicht eine Einteilung nach Entwicklungsstufen, sondern eine solche nach Grundbegriffen. Das will nicht sagen, « ) a. a. O., 87. 2
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daß der entwicklungsgeschichtliche Aspekt etwa ganz vernachlässigt würde, vielmehr wird er eine wesentliche A u f g a b e zu erfüllen haben in der M e t h o d e unseres Verfahrens, w i e n o c h zu zeigen sein wird. D i e G r u n d b e g r i f f e sollen n u n nicht n u r erklärt, auf ihre i n n e r e " S t r u k t u r analysiert werden; die Untersuchung erstreckt sich auch auf ihre g e i s t e s g e s c h i c h t l i c h e H e r k u n f t und Verwurzelung. D a m i t ist erstens ein tieferes Verständnis möglich und ferner eine vorläufige Einordnung unseres Historikers in einen bestimmten geistesgeschichtlichen Zusammenhang. Erst durch Vergleiche seiner Grundkategorien mit den (formal gleichen) G r u n d b e g r i f f e n seiner geistesgeschichtlichen Vorgänger wird es möglich, seine individuelle Stellung und Leistung in den richtigen Proportionen zu sehen und damit zu würdigen. Auch Zeitgenossen Meineckes sollen vergleichsweise zu W o r t e kommen, sei es, um die Bedeutungsunterschiede der Begriffe darzulegen, die sie mit unserem Historiker gemeinsam haben, sei es, um Verwandtschaften und geistige Beziehungen aufzudecken oder aufzuhellen. Es geht also auch darum, Meineckes Geschichtstheorie in die geistigen Zusammenhänge seiner Zeit einzuordnen, soweit dies heute schon möglich ist. D e r Historiker als denkender Mensch ist ja nicht ein isoliertes Individuum, vielmehr bestimmen vielfache und mannigfache geistige Beziehungen u n d Verflechtungen das Wesen seines Denkens u n d Schaffens. W e n n wir daher o f t über Meinecke hinausgreifen und auf die Gedanken anderer Persönlichkeiten näher eintreten, so geschieht das immer nur, um das Verständnis unseres Historikers zu fördern und zu vertiefen. Es versteht sich, daß wir bei all dem nur eine Auswahl bringen können, wobei natürlich ein Moment des Subjektiven und des Zufälligen immer mitspielen kann. Prinzipiell ist aber alles herangezogen worden, worauf Meinecke selbst sich beruft. U m die Geschlossenheit der Darstellung nicht zu gefährden, werHen die zum Vergleich herangezogenen Gedanken der anderen Historiker 18
und Philosophen, sofern nicht Meinecke selbst auf sie eingeht oder von ihnen betroffen wird, grundsätzlich in die Anmerkungen verwiesen. Die ganze Begriffsanalyse erhält ihren tieferen Sinn und ihre tiefere Berechtigung erst durch einen weiteren Gedanken, welcher der methodologische Hauptgedanke unserer Abhandlung ist: die Reduktion der Geschichtsbegriffe auf ihre weltanschaulichen Voraussetzungen. Das führt uns nun hinüber zum zweiten Teil unserer Problemstellung, zur Frage der h i s t o r i s c h e n B e g r i f f s b i l d u n g . Es geht also um das Problem, wie ein historischer Begriff beschaffen sei, aus welchen Strukturelementen er aufgebaut sei. Es geht "um das Wesen des Geschichtsbegriffs und der geschichtswissenschaftlichen Begriffsbildung. Das Ziel unserer Arbeit war ursprünglich nicht so hoch gesteckt, sondern wir gingen mit der Absicht an das Studium des Geschichtswerkes unseres Historikers heran, einen theoretischen Grundriß von ihm zu geben. Es schwebte uns ungefähr das vor, was schon oft versucht wurde: die sogenannte Geschichtsauffassung eines Historikers darzustellen, d. h. seine Gedanken über das Wesen von Geschichte und Geschichtswissenschaft zusammenzutragen und systematisch zu ordnen. Immer mehr gewann dann aber eine andere Frage unser vornehmliches Interesse: das Problem des Verhältnisses von Geschichtschreibung und Weltanschauung. Dabei trat immer klarer die Erkenntnis hervor, daß es sich um das Verhältnis eines Bedingten zu einem Bedingenden handeln müsse. Das schien zunächst keine besonders neue und originelle Erkenntnis zu sein. In der T a t ist ja längst erkannt worden, daß es gerade zum Wesen der Geschichtschreibung gehört, weltanschauliche Elemente zu enthalten. Man hat immer deutlicher erkannt, daß eine voraussetzungslose geschichtliche Erkenntnis, so etwas wie eine Erkenntnis des geschichtlichen „Dinges an sich", unmöglich sei, vielmehr die mannigfachsten weltanschaulich bedingten Momente zum sogenannten s u b j e k t i v e n A p r i o r i allen geschichtlichen
Erkermens sich verdichten. Auf dieser unumstößlichen Erkenntnis aufbauend sind dann die verschiedensten Versuche unternommen worden, eine neue Wissenschaftstheorie und ein neues Objektivitätsideal der Geschichte zu begründen. In solchen Wandlungen stehen wir noch mitten drin, und sie spiegeln sich daher auch mit aller Deutlichkeit im geschichtlichen Denken und Schaffen unseres Historikers. Z u diesen Bemühungen um Erkenntnis des wahren Wesens und der wahren Aufgabe der Geschichtschreibung will auch unsere Arbeit ihr Teil beitragen. Sie geht dabei von einem bislang kaum gesehenen, jedenfalls kaum benützten Ansatzpunkt aus. Und dieser Ansatzpunkt ist eben die Analyse von den Begriffen her. Die Methode der Begriffsanalyse wurde nun nicht etwa nur deshalb gewählt zur Lösung der ersten Aufgabe unserer Untersuchungen, weil dieses methodische Verfahren von der zweiten Problemstellung allein verlangt worden wäre. Es ist nicht etwa so, daß das rein theoretische Problem der historischen Begriffsbildung so sehr in den Vordergrund gerückt würde, daß die Hauptaufgabe unserer Abhandlung, die doch in der Darstellung des geschichtlichen Denkens Meineckes besteht, als Nebensache, Meineckes Werk schließlich also als Objekt statt als Subjekt erscheinen müßte. Gewiß verlangte der Versuch, die Bedeutung der Weltanschauung für die historische Begriffsbildung zu beleuchten, eine Methode, die grundsätzlich auch von den Begriffen ausging. Hier allein konnte die These vom Zusammenhang von Weltanschauung und Geschichtschreibung wirklich demonstriert werden; durch die Frage, inwiefern die Geschichtsbegriffe im Laufe der Entwicklung des Historikers sich wandelten und in was die bedingenden Elemente f ü r solche Wandlung bestehen. W e n n es gelang, die Weltanschauung tatsächlich als das bedingende Element für die innere Struktur der historischen Kategorien und damit f ü r das geschichtliche Denken und Schaffen überhaupt zu erweisen, dann konnte wirklich ein bedeutender Einblick in das Wesen der Geschichtschreibung eröffnet 20
werden. Durch diesen Gedanken mußte sich nun aber auch ein innerer Zusammenhang zwischen den beiden Fragestellungen, die wir an Meinecke und sein Werk herantragen, ergeben. Der entscheidende Gedanke ist der, daß ein l e t z t e s V e r s t ä n d n i s des geschichtlichen Denkens und Schaffens erst durch seine Zurückführung auf die zugrundeliegenden weltanschaulichen Elemente möglich werden kann. W i r verbinden also zwei Probleme, die sich wie Frage und Antwort oder 'besser noch wie Prämisse und Schluß verhalten : W e n n die Weltanschauung tatsächlich das entscheidende, weil letztlich bedingende Moment geschichtlichen Denkens und Schaffens bildet, d a n n ist ein letztes Verständnis dieser Bereiche nur durch Reflexion und schließlich Reduktion auf jene Schicht zu erreichen. Die Doppelheit unserer Problemstellung wird damit auf einer höheren Ebene wieder zur Einheit. Von rein (geschichts)logischen Untersuchungen im Sinne R i c k e r t s unterscheidet sich unser Versuch nach zwei Seiten hin. Erstens gehen wir von einem praktischen Fall aus. Unsere These wird daher nicht nur aufgestellt und theoretisch erhärtet, sondern zugleich verifiziert. Zweitens suchen wir nicht nur die logischen Momente in der Begriffsbildung zu bestimmen, sondern vor allem die alogischen Momente, eben die Bedeutung der weltanschaulichen Substanz zu erfassen. Die theoretischen Erkenntnisse, auf welche wir unsere Hauptthese und die Methode zu ihrer Verifikation vor allem stützen, sind die in E r i c h R o t h a c k e r s „Logik und Systematik der Geisteswissenschaften" entwickelten Prinzipien. Rothacker seinerseits geht unmittelbar auf W i 1 h e 1 m D i l t h e y und seine Theorie der Hermeneutik und Typenlehre der Weltanschauungen zurück. Auf Dilthey wies uns ja auch Meinecke selbst immer mehr zurück. Seine Praxis und Theorie des Verstehens ist, so betonten wir schon, (neben Ranke) vor allem aus Dilthey herzuleiten. So stehen wir also auch hier mit dem inneren Wesen von Meineckes Denken und Schaffen in Einklang, wenn wir eine auf Dilthey 21
und Rothacker aufgebaute Methode anwenden. Die geistige und weltanschauliche Verwandtschaft zwischen Meinecke und Rothacker ist zudem unverkennbar, obschon kaum Zeugnisse f ü r einen engeren Kontakt vorhanden sind. Rothacker ist aber der einzige uns bekannte Erforscher der deutschen Geistesgeschichte, der mit Meineckes Auffassung des Historismus und seiner Entstehung und geistesgeschichtlichen' Bedeutung in allen Grundfragen übereinstimmt. 12 ) Grundgedanke dieser „Logik der Geisteswissenschaften'' ist, daß allem geisteswissenschaftlichen Gehalt eine w e l t a n s c h a u l i c h e Tendenz zugrunde liege. „Die Geisteswissenschaften sind eingespannt in die großen weltanschaulichen Gegensätze. I n ihnen liegt der Schlüssel zu sämtlichen methodologischen Problemen." Daher gibt es „kein anderes Mittel, die geisteswissenschaftlichen Begriffe und Methoden voll zu verstehen als dies: sie in ihren weltanschaulichen Ursprünge zurückzuverfolgen." 13 ) Das ist der für unser Verfahren entscheidende Grundsatz. Aber das „Verstehen" geht noch tiefer. Wie Dilthey in seiner Hermeneutik bis auf die seelische Struktur des schöpferischen Wesens zurückging, um ein letztes Verständnis des Geschaffenen zu erreichen, so führt nach Rothacker das „Verstehen" über die Schicht der Weltanschauung hinaus in d a s L e b e n s e l b s t zurück., ,Was wir »verstehen« wollen und was das eigentliche Rätsel des Verstehens darstellt, das ist die Frage: aus welchen tieferen Gründen ein produktiver Geist unter den möglichen Weltanschauungen eben die seine wählte. Das aber ist zu verstehen allein aus seinem Schicksal, und aus diesem zieht seine Leistung ihren Inhalt. Aller Inhalt einer Weltanschauung beruht auf einem Lebensbezuge, und dieser Lebensbezug muß Inhalte, d. h. Deutungen des Weltinhalts und Lebens erst schaffen . . . inhaltliche Entscheidungen wollen erkämpft v2 ) D i e s betrifft vor allem die A u f f a s s u n g G o e t h e s als Geist des Historismus. Für Rothacker vgl. L o g i k und Systematik der G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n , München-Berlin 1927.
>«) a.a.O., 36 22
sein. Erst aus der Berührung und Spannung sachlichen und persönlichen ethischen Sollens, erst aus der Verflechtung des formalen Sollens mit unserem Schicksal gehen mit einer höheren Notwendigkeit als der logischen die großen, eben um ihres Inhaltes willen fruchtbaren Schöpfungen hervor." Eine neue Kritik der Vernunft müßte daher nicht nur zeigen, „daß der Einfluß von Weltanschauungen auf das Erkennen und Schaffen ein mehr oder weniger großer, sondern daß er ein r a d i k a l e r ist." 1 4 ) So ergibt sich schließlich ein innerlich notwendiger Zusammenhang zwischen L e b e n s s c h i c k s a l und w i s s e n s c h a f t l i c h e m D e n k e n u n d S c h a f f e n . Für die Wissenschaft hat die ihr zugrunde liegende Weltanschauung konstitutive Bedeutung, die Weltanschauung aber zieht ihren Inhalt aus dem Leben selbst. Ein letztes, allerletztes (im Sinne von letztmögliches) Verständnis kann erreicht werden dadurch, daß der innere Zusammenhang zwischen geschichtlichem Denken und Schaffen und dem Erleben unseres Historikers aufgezeigt wird. Es ist dies wiederum ein Gedanke, der mit den innersten Intentionen Meineckes selbst im Einklang steht, ein Gedanke, zu dem alles Denken unseres Historikers über Geschichte und Leben letztlich hinstrebt. So hat der greise Historiker noch in einem Brief an den Verfasser betont: „ E i n h e i t v o n W i s s e n s c h a f t u n d L e b e n war mir in der T a t innerstes Bedürfnis. Zuerst mehr instinktiv, dann mit immer stärkerer Bewußtheit." Es ist dies ein Problem, das uns in unseren Untersuchungen, gerade in seiner Bedeutung für die Frage der historischen Begriffsbildung, noch ganz besonders beschäftigen wird. Dazu kommt noch ein weiteres. W i r erwähnten bereits, daß unsere Fragestellung grundsätzlich systematisch sei, innerhalb von ihr aber auch der g e n e t i s c h e A s p e k t berücksichtigt werden müsse. Tatsächlich wird eine Berücksichtigung des entwicklungsgeschichtlichen Aspektes 14
) a.a.O., 138 & 144. 2
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wiederum von beiden Problemstellungen unserer Abhandlung her gefordert, i . Das geschichtliche Denken und Schaffen Meineckes kann in seinen späteren Phasen nicht verstanden werden ohne das Verständnis der früheren Entwicklungsstufen. 2. Um eine Wandlung der Geschichtsbegriffe zeigen zu können (denn an ihr wollen wir ja den Einfluß der Weltanschauung ablesen), müssen die Wandlungen in der Entwicklung unseres Historikers selbst zugrunde gelegt werden. W i r sind also vor die Aufgabe gestellt, den Gegensatz von systematischer und genetischer Betrachtung in unserem Verfahren irgendwie auszugleichen. 15 ) Daß dies nie voll gelingen kann, steht fest. Läßt man den genetischen Aspekt dominieren, dann reißt man notwendig die sachlichen Probleme auseinander. Gibt man dem systematischen Aspekt den Vorrang, so wird man die Linie der Entwicklung immer wieder abreißen lassen müssen. W i r versuchen das Problem so zu lösen, daß Meineckes geistige Entwicklung in ihren Grundzügen zunächst hier dargelegt werden soll. Damit ist eine erste Orientierung gegeben und zugleich die Grundlage geschaffen, auf welche die in den Geschichtsbegriffen auftretenden Wandlungen bezogen werden können. Natürlich wäre es theoretisch möglich, von jedem Grundbegriff aus die ganze Problematik der weltanschaulichen Einflüsse und Wandlungen durch seine Analyse aufzurollen. Das kommt aber praktisch deshalb nicht in Frage, weil sich erstens nicht alle historischen Kategorien gleich gut eignen, um auf die in ihnen enthaltene weltanschauliche Substanz reduziert zu werden, und zweitens an verschiedenen Begriffen dieselben Symptome sich zeigen müßten, sodaß wir einfach entsprechende Wiederholungen erhielten. Wenn wir hier einige Grundzüge der Entwicklung unseres Historikers zu geben versuchen, so ist vorweg zu betonen, daß es nicht darum gehen kann, der Persönlichkeit als 15
) Diesem Problem weicht z. B. Bollnow aus in seiner Einführung in die Philosophie Diltheys, indem er nur die letzte Stufe seines Denkens berücksichtigt. 24
solcher in ihrem Wesen gerecht zu werden, vielmehr handelt es sich einfach um eine s t i l i s i e r t e Z e i c h n u n g der hauptsächlichen Entwicklungslinien. Es gilt dabei immer im Auge zu behalten, daß wir damit die Grundlage schaffen wollen für die Lösung unseres Problems der Begriffsbildung. Es geht um die Skizzierung des entwicklungsgeschichtlichen und weltanschaulichen Untergrundes, auf welchen dann die Geschichtsbegriffe in ihrem Strukturwandel projiziert werden können. Aus diesem Grunde nehmen wir den folgenden Abriß über die geistig-weltanschauliche Entwicklung unseres Historikers auch in die methodische Einleitung hinein. — Wenn wir die Entwicklung, die Meinecke in seinem geschichtlichen Denken und Schaffen durchgemacht hat, als Ganzes überblicken, so springt sogleich eine Stelle in die Augen, die als tiefer Einschnitt in der Kontinuität der Entwicklung erscheint. Diese B r u c h s t e l l e ist so augenfällig, daß sie auch von den Kritikern seiner Werke immer wieder gesehen und betont wurde. 16 ) Aber Meinecke selbst wollte auch, daß diese Umbruchsteile gesehen und gebührend gewürdigt werde, und sie war ihm selbst als die entscheidende Stelle in der Entwicklung seines Denkens und Lebens klar und voll bewußt. Das entscheidende Erlebnis, das zu solchem Umbruch führen sollte, ist der Weltkrieg und sein für Deutschland tragischer Ausgang. Durch dieses einschneidende Erlebnis wird die geistige Entwicklung Meineckes in z w e i P h a s e n aufgeteilt: in eine erste Phase, die bis zum Weltkrieg hinreicht, und in eine zweite Phase vom Ausgang des Weltkrieges an. Die Zeit des Weltkrieges selbst ist l c ) Gesamtkritiken Meineckes geben: Hermann Oncken, Forschungen und Fortschritte, VIII, 1932, 403 f. Franz Schnabel, Hochland, Jg. 34, 1937, 157 f. K. A. v. Müller, 12 Historikerprofile, 1935. Derselbe, H. Z. 162, 339 f. Heinrich von Srbik, U.Z. 162, 335 f.
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typische Übergangs- und Gärüngszeit zwischen den beiden Phasen. Welcher A r t ist nun die W a n d l u n g , die durch solches Erleben hervorgerufen wird? Die Wandlung ist gekennzeichnet durch den Umschlag der weltanschaulichen Grundhaltung von einem mehr o b j e k t i v e n I d e a l i s m u s in einen ausgesprochen d u a l i s t i s c h e n I d e a l i s m u s . Das sind die weltanschaulichen Grundkategorien, an denen wir uns zu orientieren haben. Wenn wir hier mit den Weltanschauungstypen Diltheys operieren, so darf man natürlich unsern Historiker nicht ohne weiteres als reinen Vertreter dieser Typen sich vorstellen. W a s wir herausarbeiten können, sind immer nur D o m i n a n t e n einer weltanschaulichen Verfassung, die nun aber doch die typischen Erscheinungsformen jener weltanschaulichen Grundkategorien aufweisen. Wenn wir mit diesen Typen die weltanschauliche Grundstimmung Meineckes charakterisieren, so befinden wir uns auch hier wiederum in Einklang mit seiner eigenen Auffassung, hat er doch selbst immer wieder diese oder entsprechende Begriffe angewendet, um seinen weltanschaulichen Wandel zu kennzeichnen. Es ist eine wesentliche Erleichterung unserer Aufgabe, daß Meinecke selbst klar den Umschlag von einem Typus in den andern mit der Problemstellung Monismus-Dualismus gekennzeichnet hat. W a s ist nun das Wesen des o b j e k t i v e n I d e a l i s m u s , der die weltanschauliche Dominante der ersten Phase bilden soll? Hören wir einmal Rothacker, wie er den Typus als solchen charakterisiert: „Dem subjektiven Zustande eines harmonischen und optimistischen Lebensgefühls entspricht als genauestes objektives Korrelat ein harmonischer Weltbegriff. Alle dualistischen Spannungen sind in demselben aufgehoben. Die Spannung von Gott und Welt ist pantheistisch überwunden. Gott ist der Welt immanent. Er durchdringt sie mit seinem Wesen, er west in ihr und entwickelt sich in ihr, verklärt und gestaltet sie. Und dementsprechend lösen sich die Gegensätze von Idee und Wirklichkeit, Soll 26
und Sein, Sinn und Sein, Form und Stoff, Einheit und Mannigfaltigkeit. Materie ist nie ohne Geist, Geist nie ohne Materie. Die Welt ist, mindestens im Kerne und in den treibenden Kräften, wie sie sein s o l l . . . Geist ist Leben und Leben Geist g e w o r d e n . . . Der objektive Idealismus beruht auf einem Glauben an den idealen Gehalt des Natürlichen, einem Vertrauensverhältnis zur Wirklichkeit". 1 7 )Dies ist also die weltanschauliche Grundstimmung, in welcher die Indentitätssysteme der romantischen Philosophie, die Geschichtsphilosophie eines Hegel, aber auch die Geschichtschreibung eines Ranke im wesentlichen noch, entstanden sind. Daß natürlich im Vorkriegsdenken Meineckes nicht mehr von einer Weltanschauung im Sinne eines solch r e i n e n objektiven Idealismus die Rede sein kann, versteht sich. Aber daß die „ N a c h w i r k u n g e n " und „ N a c h w e h e n " solcher weltanschaulichen Stimmung in der Vorkriegszeit im deutschen Denken noch durchaus lebendig wa ren, betont Meinecke selbst. So schreibt er einmal bei der Charakterisierung des Identitätsbedürfnisses und des Glaubens an die List der Vernunft, welche das idealistische deutsche Denken beherrscht und über die Abgründe des (geschichtlichen) Lebens beruhigt hatten: „Bis in den Vorabend und die ersten Zeiten des Weltkrieges hinein haben wir historisch Denkenden in den Nachwirkungen dieser Stimmung gelebt, obwohl schon starke Schatten auf sie zu fallen begonnen hatten." 1 8 ) Was Meinecke hier als Nachwirkungen der idealistischen Weltanschauung bezeichnet, sind nun aber nicht nur die letzten Auswirkungen einer absterbenden Philosophie, sondern es geht in der Zeit um 1900 recht eigentlich um eine Renaissance, um eine W i e d e r e r w e c k u n g des deutschen Idealismus und seiner Werte. Meinecke betont dies selbst wiederholt: „ W i r , die wir meinen, daß die idealistische Weltanschauung und das intensive Staatsgefühl des älteren ") Rothacker, a. a. O., 54 u. 64. 18 ) I. d. S., 512.
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Geschlechtes sich noch keineswegs ausgelebt haben, wollen ein Vermächtnis in Treue pflegen, ohne daß wir es deswegen epigonenhaft zum unverrückbaren Dogma erstarren lassen brauchen..." 1 9 ) Im Rahmen solcher Bestrebungen um eine idealistische Renaissance muß Meineckes Denken und Schaffen der Vorkriegszeit gesehen und beurteilt werden. Es ist ein Versuch der besten deutschen Geister, die geistigen und sittlichen Werte der idealistischen Epoche für die Probleme der Gegenwart nutzbar zu machen. In diesem N e u i d e a l i s m u s nimmt Meineckes Schaffen einen bedeutenden Platz ein, und er stellt sich ebenbürtig Ernst Troeltsch, Heinrich Rickert, Max Weber, Friedrich Naumann an die Seite. Seine Liebe und sein geschichtliches Interesse gelten in dieser Zeit ausschließlich dem Zeitalter der deutschen Geistesblüte in K l a s s i k u n d R o m a n t i k , in nationalpolitischer Hinsicht der Zeit der p r e u ß i s c h e n R e f o r m e n und der B e f r e i u n g s k r i e g e . Von hier aus erhält sein inneres Verhältnis zur historisch-politischen und geistig-kulturellen Problemwelt des nachfolgenden Jahrhunderts bis zu seiner Zeit hin das bestimmende Gepräge. Seine weltanschauliche Grundhaltung ist durch solche geistige Verwurzelung im Gedankengut des deutschen Idealismus eindeutig bestimmt. Trotz dieser geschichtlichen Perspektive ist aber Meineckes Weltanschauung alles andere als nur kontemplativ und historisierend. Sie ist vielmehr geladen mit einem starken aktivistischen Ethos. Ihr Grundgedanke war es, die Gegenwart mit idealistischem Geiste zu durchdringen. Meineckes Grundfehler war es, solche Synthese von idealistischem Geiste und Geist der Gegenwart als in hohem Maße geschichtlich verwirklicht anzusehen. Es war — wenigstens was Meinecke anbetrifft — die Tragik dieser idealistischen Renaissance, ihre Grundforderung einer idealistischen Umformung der Gegenwart einer idealistischen Verklärung ihrer Zeit zum Opfer zu bringen. 19)
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In einem Nachruf auf S y b e l , H. Z. 75, 390 f.
So erscheint uns das geschichtliche wie das politische Denken Meineckes in dieser ersten Phase durch einen bald schwächeren, bald stärkeren idealistischen Glanz verklärt. Die typische Erscheinungsform dieser objektiv-idealistisch genährten weltanschaulichen Grundstimmung ist der Gedanke einer S y n t h e s e v o n G e i s t u n d M a c h t , oft auch in andern Formen auftretend wie Verschmelzung von Autorität und Freiheit, Harmonie von Staat und Persönlichkeit, von Staat und Kultur, von Politik und Ethik. Dieser Gedanke war aber nicht immer so sehr Forderung an die Gegenwart und an den gegenwärtigen Staat als vielmehr oft Verherrlichung des Staates und seiner scheinbar innigen Synthese mit Geist und Kultur. Der „ k l a s s i s c h e L i b e r a l i s m u s " , welcher diesen Gedanken politisch verwirklichen wollte, aber weitgehend auch schon verwirklicht sah, ist die Staatsanschauung, welche auf dem Nährboden jener idealistischen Weltanschauung erwuchs. I n seinen Nachwirkungen hat sich das politische Denken Meineckes bis zum Weltkriege hin befunden. Diese ganze identitätsphilosophisch genährte Welt-, Staatsund Geschichtsanschauung bricht f ü r Meinecke zusammen durch das niederschmetternde E r l e b n i s d e s W e l t k r i e g e s , der militärischen Niederlage, der politischen Revolution und — vor allem! — der geistigen und kulturellen Isolierung und Schuldigsprechung. Das Wesen der durch solches Erleben bedingten weltanschaulichen W a n d lung bestimmten wir als Umschlag des objektiven, also monistisch fundierten, in einen dualistischen Idealismus. Diese Wandlung führt Meinecke mit vollem Bewußtsein in seinem ganzen Denken über Leben, Geschichte und Staat durch. Ein streng durchgeführter Dualismus ist das Programm, das von jetzt an das geschichtliche und weltanschauliche Denken wie das politische Wollen unseres Historikers bestimmt. Überwältigt durch die Tatsache der g e i s t i g e n I s o l i e r u n g des deutschen Denkens, wie sie sich im Laufe des Weltkrieges offenbarte, sucht Meinecke nach 29
deren Gründen in der geistesgeschichtlichen Entwicklung Deutschlands und seiner westlichen Gegner, und er versucht zugleich, eine Annäherung zwischen den beiden auseinanderklaffenden Denkweisen anzubahnen. In einer solchen Annäherung sieht er die vornehmste weil dringendste Aufgabe der Gegenwart und der nächsten Zukunft. Entschlossen richtet er sein geschichtliches Denken und Schaffen auf dieses Ziel aus, wenn er auch weiß, daß eine Arbeit von Generationen erst den Abgrund überbrücken kann. So gilt es, von den bedenklichen Nachwirkungen der Identitätsidee sich abzukehren und zu einem neuen Dualismus zu gelangen. Vom u n o r g a n i s c h e n Dualismus der w e s t l i c h e n Denkweise — sie vermischt nach Meinecke naturrechtlichrationalistische und politisch-empirische Denkweise — soll sich der neue Dualismus aber dadurch unterscheiden, daß er „eine einheitliche, prinzipiell eben dualistische Denkweise sein muß." Dem Dualismus des politischen Denkens, von dem hier die Rede ist, soll also ein weltanschaulicher Dualismus zugrunde liegen. Das ist der Grundgedanke, den Meinecke mit der mißverständlichen Wendung von der „einheitlichen, prinzipiell eben dualistischen Denkweise" aussprechen will. Was ist nun das Wesen dieses w e l t a n s c h a u l i c h e n D u a l i s m u s ? Hören wir Meinecke selbst: „Leben ist nichts anderes als die rätselhafte Gemeinschaft von Geist und Natur, die ursächlich miteinander verbunden sind und doch wesenshaft auseinanderklaffen. Das ist das dualistische Ergebnis, zu dem das moderne Denken nach einem Jahrhundert schwerster und reichster Erfahrung gelangt ist, nachdem es sowohl den idealistischen wie den naturalistischen Monismus, sowohl die Identitätsphilosophie wie den Positivismus sich vergebens hat abmühen sehen, das Weltbild zu erklären. Eine Erklärung kann auch der Dualismus nicht geben, wohl aber die Tatsachen nackter und richtiger zeigen, als es irgendein Monismus vermag. Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen und das Sittengesetz in der Brust, die Rankes 3°
Leitsterne waren, müssen auch die Leitsterne des modernen Denkens bleiben, aber der verhüllte Dualismus, mit dem er sich behalf und die Nachtseite des Lebens verdeckte, muß seiner Hülle entledigt werden." 20 ) Nachdem der unorganische Dualismus praktisch-empirischer und christlich-naturrechtlicher Prinzipien durch die deutsche I d e n t i t ä t s p h i l o s o p h i e d e r R o m a n t i k und für die Geschichte vor allem durch Hegel überwunden worden ist, gilt es nun also, von den bedenklichen Nachwirkungen dieser Identitätsphilosophie, die vor allem im politischen Denken in der eigentümlichen S a n k t i o n i e r u n g d e s M a c h t g e d a n k e n s noch lebendig blieb, sich zu befreien. „Indem wir uns der Einseitigkeit und der Gefahren dieser Sanktionierung heute bewußt werden, kommen wir unwillkürlich — fert unda nec regitur — eben zu einem neuen Dualismus, der aber vollkommener und organischer sich zu sein bemüht als der frühere. Vom monistischen Denken her übernimmt er das, was unabweisbar richtig an ihm ist, die u n t r e n n b a r e k a u s a l e E i n h e i t von Geist und Natur, aber hält fest an der ebenso u n a b w e i s b a r e n w e s e n s h a f t e n V e r s c h i e d e n h e i t von Geist und Natur. Das unbekannte X, das diese Einheit und diesen Gegensatz zugleich erklärt, lassen wir ungelöst, weil es unlösbar ist. Spätere Geschlechter mögen vielleicht wieder zu einer neuen Identitätsphilosophie zu gelangen suchen, und so mag sich die Pendelschwingung zwischen dualistischer und monistischer Weltansicht immer wiederholen." 21 ) Dies ist das Problem, das Meinecke in dieser Umbruchzeit nicht loslassen will: „Bricht der Geist aus der Natur mit einem Male hervor als eine wesensverschiedene Gewalt oder entwickelt sich die Natur selber in unmerklichen Übergängen und innerlicher Kontinuität zu dem, was wir Geist nennen ? Haben wir das Weltbild dualistisch oder monistisch aufzufassen?" 22 ) W i r sehen gerade in diesen 20)
I. d. S., 534/535. a. a. O., 536. 22) a. a. O., 9. 21 )
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aus der „Idee der Staatsräson" entnommenen Gedanken, wie für Meinecke weltanschauliches, geschichtliches und politisches Denken überall notwendig ineinandergreifen, wie der weltanschauliche Untergrund notwendig alles Denken über die Probleme von Geschichte und Staat entsprechend wandelt. So wird dieser entscheidende Wandel auch in allen Grundkategorien seines Denkens nachzuweisen sein, seien sie rein weltanschaulicher oder mehr geschichtstheoretischer und staatstheoretischer Natur. Wenn in der ersten Phase nur von einer objektiv-idealistischen Dominante gesprochen werden konnte, so verkörpert unser Historiker in der zweiten Phase sozusagen den I d e a l t y p u s des dualistischen Idealismus. Alle typischen Erscheinungsformen dieser Weltanschauung sind bei Meinecke vorhanden. Konsequent brechen alle Dualitäten und Antinomien auf, welche den Dualismus kennzeichnen. Es wimmelt geradezu von polaren Gegensätzen, und es gibt keinen Begriff, dem nicht sogleich auch sein Gegenpol erstünde. Da Meineckes weltanschauliche Wandlung somit die typischen Erscheinungsformen zeigt, die bei einem Umschlag des objektiven in den dualistischen Idealismus entstehen, wird es relativ leicht gelingen müssen, diese Wandlung in der Struktur der Geschichtsbegriffe nachzuweisen und damit die Verifikation für unsere These zu erbringen. Alle historischen Kategorien werden, in verschiedenem Maße allerdings, die aus der ersten Phase stammende harmonische Grundtendenz verlieren, und dualistische Spannung wird als Hauptkennzeichen der inneren Struktur an deren Stelle treten. Der entscheidende Wandel, der in einer vom objektiven zum dualistischen Idealismus hin sich entwickelnden Weltanschauung auftritt, ist der R ü c k z u g d e r „ I d e e " a u s d e r „ W i r k l i c h k e i t . " Diese geht ihres idealen Gehaltes immer mehr verlustig, die Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit, Geist und Natur, Sollen und Sein wird immer unheilbarer, je stärker der dualistische Grundgedanke sich 32
durchsetzt. Dieser Vorgang wirkt sich noch in einer weiteren Richtung aus. Die Wirklichkeit geht nicht nur ihres idealen Gehaltes weitgehend verlustig, sie wird dadurch auch in hohem Maße dem idealistischen Geiste überhaupt entfremdet und dadurch leicht an gegnerische Weltanschauungen ausgeliefert. So gelingen dem N a t u r a l i s m u s und P o s i t i v i s m u s als Hauptgegnern des Idealismus weite Vorstöße in das W i r k l i c h k e i t s b i l d Meineckes, und er betont selbst die Konzessionen, die an jene Welt- und Geschichtsdeutungen gemacht werden müssen. So heißt es einmal nach der Hervorhebung der „Naturseite des menschlichen Lebens":, ,So weit darf und muß, iman gehen im Zugeständnis an den naturalistischen Empirismus des späteren 19. Jahrhunderts, an alle die Tatsachen der Natur- und Nachtseite des menschlichen Lebens, der mechanischen und biologischen Kausalzusammenhänge, die der moderne Positivismus zwar einseitig, aber heuristisch fruchtbar zu betonen pflegt." 2 3 ) So wird im Staat und seiner Macht das n a t ü r l i c h e E l e m e n t jetzt betont — wie in allen geschichtlichen Gebilden überhaupt — , der S t a a t als „Amphibium" und die M a c h t „als urmenschlicher, ja vielleicht animalischer Trieb, der blind um sich greift, bis er äußere Schranken findet", bestimmt.24) Rankes tiefste Überzeugung, „in der Macht an sich erscheine ein geistiges Wesen" 2 5 ), kann der dualistisch gewordene Idealismus nicht mehr teilen. Nicht nur „moralische Energien" offenbaren sich in der Entwicklung der Völker und Staaten, wie Ranke noch glauben durfte, sondern ebenso „naturhafte Notwendigkeiten" und „kausaler Mechanismus". Die Idealisierung der Macht, der Glaube nicht nur an die Möglichkeit, sondern an die Wirklichkeit einer Synthese von Macht und Geist, wird jetzt als Täuschung, als falscher Schein, der Idealismus 23) 21)
a. a. O., 503. a. a. O., 5.
25 ) V g l . den sophie.
3
erwähnten
Aufsatz
über Geschichte und
Philo-
33
der Macht als I d e o l o g i e entlarvt.2«) Macht und Geist, Politik und Ethik, „Kratos und Ethos" (wie Meinecke auch sagt), treten als unvereinbar scharfe Gegensätze auseinander. Aber auch geschichtliche Erkenntnis und ethisches Postulat stehen sich schärfer gegenüber. Bei Hegel waren sie identisch, bei Ranke der Dualismus der Maßstäbe überdeckt durch seinen geschichtsphilosophischen Optimismus. Erst dem geschichtsphilosophischen Pessimismus Meineckes kommt die t r a g i s c h e A n t i n o m i e zum vollen Bewußtsein. Die g e s c h i c h t l i c h e E r k e n n t n i s ist unwiderleglich: „Der Staat muß, so scheint es, sündigen." Das e t h i s c h e P o s t u l a t ist nicht minder unumstößlich: „Der Staat soll sittlich werden und nach der Harmonie mit dem allgemeinen Sittengesetze streben . . ." 2 7 ) Wichtig für die weitere Charakterisierung der zweiten Phase von Meineckes Entwicklung ist nun die Tatsache seiner intensiven p o l i t i s c h e n u n d p ä d a g o g i s c h e n ( s t a a t s p ä d a g o g i s c h e n ) A k t i v i t ä t . Meineckezcg aus dem Zusammenbruch der deutschen Monarchie auch seine p o l i t i s c h e n Konsequenzen, ganz im Gegensatz zu den meisten andern Historikern und Intellektuellen überhaupt. So stellte sich der überzeugte Monarchist, der allerdings schon lange vom preußischen Konservatismus zu einer liberal-sozialen Richtung im Sinne Friedrich Naumanns hin sich entwickelt hatte, der Republik zur Verfügung, nicht aus Opportunismus, sondern weil er sie als geschichtliche Notwendigkeit erkannte. Der „Herzensmonarchist" wurde „Vernunftsrepublikaner", wie Meinecke selbst einmal betonte. 28 ) Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften 2 6 ) Für die Kritik des deutschen Machtidealismus vgl. auch Gerhard Ritter, Machtstaat und Utopie, Vom Streit um d/ie Dämonie der Macht seit Machiaveili und Morus, 2. Aufl., MünchenBerlin 1941, 168 f. 27) 2S )
I . d . S., 15 & 537.
Vgl. den Vortrag „Republik, „Die Paulskirche", 1925.
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Bürgertum
und J u g e n d " in
half er am Aufbau eines neuen demokratischen und republikanischen Staatswesens mit, und er arbeitete sogar einen (noch heute und gerade heute wieder!) bemerkenswerten Verfassungsentwurf aus. 29 ) Solche aktive Anteilnahme am politischen Leben seiner Zeit hat auch entsprechend in seiner Geschichtschreibung sich ausgewirkt. Von hier aus, von dieser ethisch betonten und in gewissem Sinne aktivistischen Welt- und Geschichtsanschauung aus, erhält die Zeit nach dem Zusammenbruch der deutschen Republik f ü r Meineckes Denken und Schaffen ein ganz bestimmtes Relief. Auch 1 9 3 3 ist noch einmal ein Einschnitt, sodaß wir eine d r i t t e P h a s e in der geistigen und weltanschaulichen Entwicklung unseres Historikers noch unterscheiden können. Auch das Erlebnis von 1 9 3 3 hat sich auf Denken und Schaffen Meineckes ausgewirkt, wenn auch nicht so grundstürzend wie dasjenige von 1 9 1 8 . Nicht daß es ihm aus der heutigen Perspektive weniger schlimm erschiene; es ist dieses Jahr f ü r ihn vielmehr das Schicksalsjahr der deutschen Geschichte überhaupt. Aber daß der entscheidende Umbruch so fließend, die geschichtliche Kontinuität scheinbar so gar nicht unterbrechend und scheinbar so legitim vor sich ging, das war eben das Gefährliche. Gleichwohl macht sich ein nicht zu übersehender w e l t a n s c h a u l i c h e r W a n d e l von der zweiten zu dieser dritten Phase hin bemerkbar. Nicht daß sich der dualistische Untergrund von Meineckes Welt- und Geschichtsanschauung etwa gewandelt hätte, im Gegenteil. Der Anblick des zeitgenössischen Geschehens und die Bemühungen einer aktivistischen Philosophie um einen neuen Monismus ließen ihn die 20
) „ V e r f a s s u n g und V e r w a l t u n g der deutschen R e p u b l i k " in „ N e u e R u n d s c h a u " XXX., 1919, 1—17. B e s o n d e r s b e d e u t e n d aus der heutigen P e r s p e k t i v e ist der G e d a n k e einer A u f t e i l u n g P r e u ß e n s in seiine Länder und Provinzen. Ein G e d a n k e , den h e u t e R ö p k e w i e d e r a u f g e n o m m e n hat. Vgl. „ D i e d e u t s c h e F r a g e " , Zürich 1945, 221 ff. Eine Kritik und W ü r d i g u n g von M e i n e c k e s Verfassungsentwurf g a b H a j o H o l b o r n , H. Z. 147, 115—128.
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dualistischen Grunderkenntnisse noch vertiefen, wenn er auch immer heißer rang um eine W i e d e r g e w i n n u n g d e s v e r l o r e n e n A b s o l u t e n . Der Wandel, der vor sich geht, ist gekennzeichnet durch ein Versiegen seines Willens zur politischen und erzieherischen Aktivität und durch ein Hinübergleiten in eine kontemplative und ä s t h et i s i e r e n d e Betrachtung der Geschichte. Es war nicht eigener, freier Entschluß, der zu solchem Erlahmen aller aktiven Anteilnahme am Leben der Gegenwart führte. Es war ein aufgezwungener Entschluß. Man brauchte den greisen Historiker nicht mehr, in welchem der junge Aktivismus „charakterliche Ermüdung und akademisches Epigonentum" verkörpert sah. 80 ) Die Ideale und höchsten Werte Meineckes wurden jetzt zu Schimpfworten, durch welche man endgültig mit einer überwundenen Zeit abzurechnen glaubte: Idealismus, Humanismus, Liberalismus, Individualismus. Meinecke hatte abzutreten als maßgebende Persönlichkeit der deutschen Geschichtswissenschaft. Ein Amt nach dem anderen legte er nieder, „der unbestritten repräsentative Historiker des republikanischen Systems", wie man jetzt mit bedeutsamem Unterton feststellte. 31 ) Meineckes Einstellung war den neuen Machthabern zur Genüge bekannt, und da er nicht zum Renegaten wurde, blieben ihm nur zwei Wege offen: den Kampf aktiv weiterzuführen oder sich zurückzuziehen und auf alle unmittelbare Einflußnahme zu verzichten. Er wählte das letztere. Er floh die Gegenwart und versenkte sich in 30
) So Gerhard Schröder, Geschichtschreibung als politische Erziehungsmacht, Ph.il. Diss., Berlin 1939.. Diese nationalsozialistische Abhandlung stellt den schärfsten uns bekannten Angriff auf Meinecke dar. Der Angriff Schröders wurde zurückgewiesen durch die angegebenen Kritiken und Würdigungen von Müllers und von Srbiks. 31
) Schröder, a . a . O . , 128. Meinecke war zur Zeit der Republik Professor an der Universität Berlin, Herausgeber der „Historischen Zeitschrift", Vorsitzender der Historischen Reichskonimission, schließlich Mitbegründer und Lehrer der Hochschule für Politik.
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die Geschichte. Das hatte er allerdings bis jetzt immer getan. Das Beste seiner Lebenskräfte hatte von jeher der V e r s e n k u n g i n d i e G e s c h i c h t e gegolten. Jetzt tat er es aber in einem viel intensiveren Sinne. Er versenkte sich •
nicht nur geistig, erkenntnismäßig in die Geschichte, sondern auch w e l t a n s c h a u l i c h . Er versenkte sich — im wörtlichsten Sinne des Wortes eines Sich-Hineinversenkens, eines Untersinkens, aber eines gewollten Versinkens — und nicht nur sich selbst, sondern auch seine Gegenwart. Er ließ seine Zeit zur Geschichte werden, bevor sie Geschichte geworden war. Er ließ den Werdestrom des Lebendigen zum Strom des geschichtlich Gewordenen werden. Er ergab sich dem Druck der geschichtlichen Gewalten und erlöste sich damit vom Drucke der lebendig - gegenwärtigen Gewalten. Sein historisches Bewußtsein betonte jetzt im Leben die Geschichte, nachdem es in der Geschichte das Leben entdeckt hatte. L e b e n a l s G e s c h i c h t e , das ist der Grundgedanke, der seinen Historismus von der Geschichtsanschauung vollends zur Weltanschauung werden ließ. Deshalb bezeichnen wir diese dritte Phase seiner seelisch-geistigen Entwicklung als die eigentliche P h a s e d e s H i s t o r i s m u s . — Soweit die Skizzierung der weltanschaulichen Entwicklung unseres Historikers. W i r sehen, daß von einer Darstellung Meineckes als Persönlichkeit nicht die Rede sein kann. W i r haben deshalb noch zu betonen, was unsere Abhandlung nicht ist und nicht sein will: Sie ist keine Biographie, keine Erfassung und Würdigung unseres Historikers als Persönlichkeit. Sie will auch keine Darstellung, aber auch keine Kritik seiner Forschungsergebnisse versuchen. Unser Interesse hat allein das, was wir als das g e s c h i c h t l i c h e D e n k e n bezeichnet haben. Durch unser methodisches Verfahren der Begriffsanalyse wollen wir versuchen, in seine inneren Bedingungen einen Einblick zu gewinnen. Die vorliegende Abhandlung soll als erster, grundlegender Teil einer umfassenderen Arbeit angesehen werden, in deren zweiten Teil es 37
dann erst möglich sein wird, die Ergebnisse unserer Begriffsanalysen und -bestimmungen voll zu verwerten. In diesem zweiten Teil soll dann die Theorie des geschichtlichen Verstehens im Zusammenhang dargestellt werden und von den Problemen (nicht von den Begriffen!) her eine Darstellung der Geschichts- und Staatsphilosophie Meineckes versucht werden. Hier aber geht es uns nicht so sehr um P h i l o s o p h i e der Geschichte als um T h e o r i e der Geschichte.
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I.
DIE G E S C H I C H T S T H E O R E T I S C H E N GRUNDPOLARITÄTEN
I n diesem ersten Teil unserer Untersuchungen geht es um das geschichtstheoretische Grundproblem schlechthin. W i r sagen bewußt d a s Problem; denn es ist ein und dasselbe Problem, das den drei Grundpolaritäten zugrunde liegt, die damit einfach zu Erscheinungsformen e i n e s Sachverhaltes werden. Das Grundproblem selbst kann eigentlich auf keine bestimmte begriffliche Formel gebracht werden, da es sich immer sogleich in Teilaspekte bricht, die dann aber sofort das Ganze umfassen und die Tiefe von verschiedenen Seiten her erreichen. So r u f t die Polarität von Individuum und Allgemeinem sogleich auch dem Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit und dieses der Antinomie von W e r t und Kausalität. Denn im Individuum ist das Prinzip der Freiheit eingeschlossen, Werte anderseits sind nicht möglich ohne Freiheit und immer individuell. Aber die Glieder können auch vertauscht werden: Das Individuum setzt Freiheit voraus, und es liegt ihm immer ein W e r t zugrunde. Die Frage, ob das individuelle Prinzip die Freiheit voraussetze oder umgekehrt, erscheint Meinecke falsch gestellt; so falsch wie jene berühmte Frage, ob das Huhn vor dem Ei da sein müsse oder das Ei vor dem Huhn. Eines ist mit dem andern und in dem andern gegeben. So verbinden sich die drei Kategorien Individuum, Freiheit und W e r t und kennzeichnen als Hauptbegriffe das geschichtliche Denken unseres Historikers. Mit ihnen sind aber auch die entsprechenden Gegenpole gegeben; so will es das Wesen der Polarität, welche d i e Ausdrucksform für das geschichtliche Leben ist. Der Begriff der P o l a r i t ä t , den wir hier anwenden, erscheint bei Meinecke nicht von Anfang an als Grundbegriff in dieser Bedeutung. Später aber bestimmt er ausdrücklich 41
das Wesen des geschichtlichen Lebens als Polarität. Er sieht dann „in dem geschichtlichen Leben eine zwar einheitliche, aber zugleich doppelpolige W e l t , . . . eine Welt, die beider Pole bedarf, um so zu sein, wie sie uns erscheint." Und weiterhin bestimmt er das Wesen der Polarität dahin, daß die Pole „sich als solche scharf und anscheinend unvereinbar gegenüberstehen. Aber das geschichtliche Leben, das zwischen ihnen liegt, wird immer gleichzeitig von beiden her, wenn auch durchaus nicht von beiden immer in gleicher Stärke bestimmt." 1 ) Als solche Pole nennt er nun ,,.. . K a u salität und Idee, Freiheit und Notwendigkeit, Generelles und I n d i v i d u e l l e s . . . " 2 ) Meinecke zählt also selbst die drei Grundpolaritäten in engstem Zusammenhang auf (Wert und Idee sind identisch). Man sieht, wir haben nicht irgend ein System an die Gedanken unseres Historikers herangetragen, sondern die systematische Fragestellung aus seinen eigenen Gedanken entnommen. Mit dieser Dreiheit sind die Erscheinungsformen f ü r das polare Grundverhältnis geschichtlichen Geschehens nicht etwa erschöpft, vielmehr gehen aus ihr eine Reihe beigeordneter und untergeordneter Polaritäten hervor, wie sich in der Darstellung selbst noch zeigen wird. Es ist allerdings die dualistische Phase, in welcher Meinecke den Begriff der Polarität in obigem Sinne bestimmt. Aber es ist nun keineswegs so, wie wir schon betonten, daß mit dem weltanschaulichen Umschlag in den Dualismus dieser als solcher erst entstanden wäre, vielmehr wurden die Dualitäten einfach verstärkt, bewußter und konsequenter betont und durchdacht und ihrer objektiv-idealistischen Einkleidung beraubt. Der Begriff der Polarität gilt auch für die erste Phase seines Cgeschichtlichen Denkens,• nur eben in einem ganz bestimmten modifizierten Sinne, gemäß dem monistischen Untergrund seiner Weltanschauung und Geschichtstheorie. Neben dem Begriffe der Polarität werden in synonymem Sinne verwendet die Begriffe „Antinomie" (wodurch I.d.S. 10. ) I.d.S., 2.
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das „Unvereinbare" besonders zum Ausdruck kommt). „Dualität", „Doppelpoligkeit, „Spannung", später auch „Dialektik" oder in ähnlichem Sinne „coincidentia oppositorum", manchmal einfach „Gegensatz" oder „Gegeneinander". W e sentlich ist, daß diese polaren Grundverhältnisse kein „entweder-oder" zum Ausdruck bringen, sondern immer ein „sowohl-als auch". Es handelt sich um „keine starren Gegensätze", so führt Meinecke in seinem letzten Buche noch aus; die Pole stehen vielmehr „in gegenseitiger Befruchtung, oder wie man nach Goethe und Hegel sagen kann, in polarer und dialektischer Spannung und Zusammengehörigkeit miteinander." 3 ) Daher ist das Verhältnis der beiden Pole ausgedrückt durch ein „und", es geht immer um eine Korrelation, Wohl tragen die Polaritäten antinomischen Charakter, aber sie sind nur logisch unvereinbar, im geschichtlichen Leben selbst aber, empirisch gesehen, herrscht Symbiose. Anders steht es dagegen mit dem Verhältnis der A u f f a s s u n g e n , denen je eines der Grundprinzipien beherrschend zugrunde liegt und den Hauptakzent verleiht. Dieses Verhältnis ist durch ein „contra" ausgedrückt. Das „contra" soll weiterhin zum Ausdruck bringen, daß die betreffenden Auffassungen mit innerer Notwendigkeit sich bekämpfen müssen und daß der Kampf um die Klärung des Wesens der Grundpolaritäten im wesentlichen zwischen den bezeichneten Theorien ausgefochten wird. Nicht daß es überall um die möglichen Extreme gegangen wäre, aber in jedem Falle gilt es für den Historiker, sich zu entscheiden: er kann nicht Individualist und Kollektivist, Determinist und Indeterminist sein. Eines der Prinzipien wird seine Theorie immer bestimmen, und danach wird der Historiker einzuordnen sein. Es wird sich zwar zeigen, wie diese Auffassungen in gewissem Sinne nur theoretische Gegensätze sind, und angesichts einer unvoreingenommenen Betrachtung ge schichtlichen Lebens zu verblassen beginnen. Besonders die •') Die deutsche
Katastrophe,
Zürich-Wiesbaden
1946, S.
172.
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erste Alternative wird Meinecke bemüht sein als falsch gestellte Frage zu entlarven. Daß diese drei Grundpolaritäten keineswegs eine besondere Erscheinung im Denken unseres Historikers sind, wird sich gerade durch die Darstellung der verschiedenen Kämpfe erweisen, indem überall immer wieder dieselben Fragen auftauchen. Um der ganzen Darstellung eine noch breitere Grundlage zu geben, werden dann gleichzeitig auch Vergleiche angestellt (und gemäß den in der Einleitung niedergelegten Grundsätzen in die Anmerkungen verwiesen), die als solche über eine Darstellung von Meineckes Denken hinausgehen, gerade aber durch die Vermehrung der Gesichtspunkte zu einem tieferen Verständnis und einer weiträumigeren Einordnung der Gedanken unseres Historikers beitragen können. —
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I. DAS I N D I V I D U U M UND DAS A L L G E M E I N E (Individualismus
contra
Kollektivismus)
Wie ein roter Faden durchzieht das Problem dieser ersten geschichtstheoretischen Grundpolarität das gesamte geschichtliche Denken unseres Historikers. Die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Allgemeinem ist immer da, sie iet immer wach, sie wird immer wieder gestellt und immer wieder beantwortet, ohne j e eine endgültige Lösung finden zu können, — und sie erweist sich gerade dadurch als eine e c h t e G r u n d f r a g e nicht nur geschichtstheoretischer sondern auch weltanschaulicher Natur. Die Tatsache der Bedeutung der Weltanschauung für die geschichtstheoretische Problematik wird Meinecke zuerst gerade an dieser Frage bewußt, und es wird unsere Aufgabe sein zu zeigen, wie weit diese Bewußtheit geht und wo die Sphäre unbewußter Einwirkung weltanschaulicher Elemente beginnt. Die Hauptschwierigkeit einer Interpretation der Gedanken Meineckes zum Problem dieser ersten Grundpolarität besteht mm gerade in der großen inhaltlichen Fülle und der entscheidenden theoretischen Bedeutung dieser Gedanken. Es handelt sich j a hier nicht um irgendein Einzelproblem unter anderen, sondern um eine Grundfrage, die zusammen mit den beiden andern Grundpolaritäten allem geschichtlichen Denken zugrundeliegt und die gesamte Problematik geschichtstheoretischer Besinnung irgendwie schon mitumfaßt. Alle weiteren Probleme geschichtlichen Denkens gehen auf irgendeine Weise auf sie zurück. So besteht also die Hauptschwierigkeit in der Kunst der Beschränkung: es muß 45
vermieden werden, daß schon in der Besprechung dieser ersten Grundpolarität die gesamte Geschichtstheorie a u f gerollt wird. Dieser Schwierigkeit steht aber ein nicht minder großer Vorteil gegenüber. D e n n dadurch, daß wir die Darstellung der entscheidenden K a r d i n a l f r a g e an den A n f a n g stellen — und wir stehen j a damit im Einklang mit dem entwicklungsgeschichtlichen Aspekt — , gelangen wir sogleich ins Z e n t r u m der geschichtstheoretischen Problematik, und wir haben die Möglichkeit, die Stellen aufzuweisen, wo die weiteren Probleme aus diesem Z e n t r u m entspringen oder mit ihm in innerm Zusammenhang stehen. Unser Verfahren gibt uns also die Möglichkeit, rasch in den belebenden Mittelpunkt der Gesamtauffassung zu gelangen und von hier aus die einzelnen Fragen anzufassen, indem wir zunächst n u r ihre Ansatzpunkte deutlich machen. Die Besprechung der G r u n d polarität von Individuum und Allgemeinem wird demnach nur zum T e i l zu Lösungen und Antworten f ü h r e n ; sie wird uns ebenso sehr die E n t f a l t u n g neuer Probleme und Fragen bringen. Es ergibt sich hier eine Situation, die wir überall bei derartigen Aufgaben einer Darstellung größerer oder kleinerer Denkzusammenhänge a n t r e f f e n ; sie besteht darin, daß, gerade durch den inneren Zusammenhang der Gedanken eines bestimmten Systems, Antworten auf bestimmte Fragen immer wieder neue Fragen hervorrufen, die mit innerer Notwendigkeit aus den gegebenen Antworten hervorgehen und zwar dadurch, daß die Antworten immer wieder Begriffe enthalten, die noch nicht geklärt und bestimmt sind und eben dadurch jene neuen Probleme entstehen lassen. Das sieht in theoretischer Formulierung sehr kompliziert aus, entspricht aber im praktischen Verfahren einem sehr einfachen Sachverhalt. Ein Beispiel mag ihn veranschaulichen. W i r versuchen hier den Begriff des Individuums und des Individuellen zu bestimmen und ziehen d a f ü r Begriffe wie Freiheit und W e r t heran, die erst später zur K l ä r u n g kommen können. W i r bestimmen also* — etwas spitz
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ausgedrückt —• eine Unbekannte mit zwei weiteten Unbekannten, die erst später bestimmt werden, sicher wieder zum T e i l mit weiteren unbekannten Größen. Das letzte Verständnis der einzelnen Begriffe kann so erst erreicht werden, wenn das ganze Gedankengebäude vor uns steht. Dieser Sachverhalt ist eine Erscheinungsform jenes logisch-erkenntnistheoretischen Z i r k e l s , der uns oft begegnen wird und der darin besteht, daß das Einzelne notwendig ist zum Verständnis des Ganzen, das Ganze aber zum Verständnis des Einzelnen. Das wirkt sich in unserer Darstellung dann dahin aus, daß wir das einzelne Problem nur vom Ganzen oder mindestens zunächst von einem umfassenderen Zusammenhang aus verständlich machen können. Den Zirkel, den der Interpretierende in seinem Prozeß des Verstehens zu durchmessen hat, muß er nun auch den Leser seiner Untersuchungen durchmachen lassen. — Die Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Allgemeinem in der Geschichte vollzieht sich im andauernden Kampf zwischen i n d i v i d u a l i s t i s c h e r u n d k o l l e k t i v i s t i s c h e r G e s c h i c h t s t h e o r i e . Dies ist, so sahen wir, der Sinn unserer doppelten Überschrift. Die beiden Begriffspaare sind also keineswegs identisch, das sei gleich hier noch einmal betont, bei allen inneren Zusammenhängen, die zwischen ihnen herrschen. Das Problem des V e r h ä l t n i s s e s individueller und allgemeiner Kräfte bringt nichts anderes zum Ausdruck, als daß das geschichtliche Leben selbst überall unlösliches und spannungsreiches Ineinander und Gegeneinander solcher Kräfte ist; daher auch der Begriff der Polarität. Das Problem wird sich deshalb in jeder Geschichtsauffassung stellen, von keiner zu umgehen sein. Jede wird in irgendeiner Form mit der Grundpolarität von Individuum und Allgemeinem sich auseinandersetzen müssen, weil durch sie j a nichts anderes aufgezeigt wird als bestimmte Formen geschichtlichen Geschehens. Dem gegenüber bezeichnet das Begriffspaar von individualistischer und kollektivistischer Geschichtsauffassung einen G e g e n s a t z und 47
zwar einen unüberbrückbaren Gegensatz insofern, als er durch ganz bestimmte sich widersprechende weltanschauliche oder spekulative Entscheidungen zustande gekommen ist und immer wieder neu hervorgerufen wird. Dieser Gegensatz bringt zum Ausdruck, daß f ü r eines der Prinzipien grundsätzlich optiert worden ist und zwar in d e m Sinne, daß das eine oder das andere als wesentlich f ü r die Geschichte bezeichnet wird. W e n n daher die Geschichtsauffassung eines Historikers als individualistisch bezeichnet wird, so bedeutet das nicht, daß f ü r ihn das Problem der Grundpolarität nicht besteht, wohl aber bedeutet es, daß die Grundpolarität durch eine Akzentuierung des individuellen Prinzips bestimmt ist. 1 ) I n solcher einseitiger Betonung eines der beiden Grundprinzi!) Dieser Sachverhalt wird unter anderen auch von. K u r t B r e y s i g betont und begrifflich klar auseinandergelegt. Er unterscheidet grundsätzlich die beiden Gegensatzpaare von Persönlichkeits* und Massengeschichte (als Formen der Geschichte im Sinne von res gestae) und von Persön'Iichkeitsgeschichtsauffassung und Massengeschichtsauffassung (als Theorien der Geschichte im Sinne von historia). Die Begriffe definiert er folgendermaßen: „Unter Massengeschichte wird man diejenige Geschehensform zu verstehen haben, der die sehr große Zahl der Beteiligten, d. h. also sei es Betroffenen, sei es Teilnehmenden, das Gepräge gibt; Massengeschichtsauffassung ist also diejenige Geschichtssicht, die diese sehr große Zahl für ihre Betrachtung in den Vordergrund stellt. Unter Persönlichkeitsgeschichte aber wird man die Form des geschichtlichen Geschehens zu verstehen haben, die auf dem Handeln des Einzelnen, vorzugsweise des starken Einzelnen beruht, und unter persönlichkeitsgeschichtlicher Auffassung diejenige Geschichtssiicht, die von solchem Handeln des Einzelnen ausgeht, es in den Vordergrund stellt und möglichst alle Entscheidunigen des geschichtlichen Geschehens auf dieses Handeln des Einzelnen zurückzuführen trachtet." Auch das notwendige Ineinander von individuellem und allgemeinem Prinzip wird betont: „Das entscheidende Merkmal für die Regelungen zwischen Massen- und Persönlichkeitsgeschichte ist nun aber, daß immer und ausnahmslos die eine in die andere übergehen muß." Das neue Geschichtsbild, Vom Sein und Erkennen geschichtlicher Dinge, Band IV, Berlin 1944, 140 ff. 48
pien durch die sich widerstreitenden Geschichtstheorien liegt es nun begründet, daß die fruchtbarsten Diskussionen immer dann entstehen, wenn diese gegnerischen Auffassungen aufeinandertreffen. Für diese Tatsache ist das geschichtliche Denken unseres Historikers ein ideales Beispiel: die Frage nach den Grundpolaritäten des geschichtlichen Lebens wird immer wieder aufgeworfen durch die Auseinandersetzungen seiner individualistischen Auffassung mit kollektivistischen Theorien der verschiedensten Prägung. Mit den-Begriffen Individualismus und Kollektivismus sind Geschichtstheorien indessen keineswegs schon eindeutig bestimmt, vielmehr geben sie nur eine allgemeine Bestimmung, innerhalb deren die mannigfachsten i n d i v i d u e l l e n A u s p r ä g u n g e n und Abtönungen möglich sind. Es ist ja gerade eine Hauptaufgabe unseres ersten Kapitels, den geschichtstheoretischen und darüber hinaus weltanschaulichen Individualismus Meineckes näher zu bestimmen, d. h. seinen individuellen Ort zwischen den beiden Polen von individuellem und allgemeinem Prinzip festzustellen. Das wird nun eben dadurch am ehesten möglich sein, daß wir auf seine Auseinandersetzungen mit gegnerischen Theorien eingehen, nicht nur weil wir dort vermehrte Vergleichsmöglichkeiten und Anhaltspunkte für die nähere Fixierung seiner eigenen Auffassung gewinnen können, sondern auch deshalb, weil nirgends die Tiefe und Weite der Probleme dem einzelnen Forscher so bewußt und klar werden als dort, wo er sich gegen entgegengesetzte Auffassungen behaupten muß. „Solange ein wissenschaftlicher Standpunkt (einschließlich der philosophischen Standpunkte) nicht auf prinzipielle Gegnerschaft stößt, hält er seine Prinzipien meist für «selbstverständlich». Erst aus dem Widerstreit im Grundsätzlichen pflegt praktisch das Bedürfnis kritischer Grundlegung zu entspringen." 2 ) Die Klärung der eigenen Prinzipien in der Form des wissenschaftlichen Streites bringt an2 ) Erich Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, 78.
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derseits ein weiteres Problem mit sich, das bei der Interpretation der Ergebnisse unbedingt berücksichtigt werden muß. Es ist beschlossen in dem, was man das G e s e t z d e r P o l e m i k nennen könnte E s handelt sich um jene bekannte Erscheinung, daß der eigene Standpunkt desto einseitiger wird, je radikaler der Gegner sich gebärdet. W e r im Kampfe die Mitte halten will, droht bekanntlich durch die Extreme erdrückt zu werden. Zum ersten Male bricht f ü r Meinecke der Gegensatz von Individualismus und Kollektivismus in seiner ganzen Schärfe im sogenannten geschichtswissenschaftlichen Prinzipienstreit auf, in welchen er auf der Seite der Individualisten eingriff; Als K ä m p f e r f ü r eine individualistische Geschichtsauffassung stellt er sich entschlossen dem Ansturm der kollektivistischen Gedanken entgegen. Meinecke war keineswegs unvorbereitet, und Lamprecht, der Hauptakteur auf der Gegenseite, fand in ihm — er war nach SybelsTod 1895 zum Herausgeber der Historischen Zeitschrift aufgerückt und hatte damit das wichtigste Organ der deutschen Geschichtswissenschaft zur Verfügung — einen gewappneten K ä m p f e r und geschickten Verteidiger der „alten" Position. Die Auffassung von Wesen und Bedeutung des i n d i v i d u e i l e n F a k t o r s in der Geschichte, wie sie Meinecke in der Auseinandersetzung mit Lamprecht äußerte und präzisierte, ist wesentlich durch zwei komplementär wirkende Faktoren zustande gekommen, durch einen mehr subjektivbestimmten und einen mehr objektiv wirkenden. Ersteren nennt Meinecke selbst einmal eine a n g e b o r e n e G r u n d n e i g u n g seines geschichtlichen Denkens, welche er für das Wesen des Individuellen gehabt habe. 3 ) Die zweite, objektive K r a f t , die ihn zum Pole des Individuellen hinführte, wird dargestellt durch die T r a d i t i o n , in welcher er aufwuchs und durch die Lehrer, welche ihn als Studenten zum geschichtlichen Denken erzogen und als jungen Historiker weiterbildeten: sind sie doch sämtliche, mit der einen 3
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) Erlebtes 1862—1901, Berlin 1941, 158.
Ausnahme R a n k e s , — den Meinecke wohl noch hörte, aber nach eigenem Zeugnis zu unreif war, um ihn ganz zu verstehen, — Historiker der n a t i o n a l - p o l i t i s c h e n S c h u l e und damit Anhänger einer ausgesprochenen, ja zum Teil ausschließlich individualistischen Geschichtsauffassung. So der alte D r o y s e n , der im jungen Meinecke blitzartig den schon schlummernden Gedanken von der Bedeutung und dem Geheimnis der Persönlichkeit weckte ; 4 ) T r e i t s c h k e , der bekanntlich seine Geschichtsauffassung in den programmatischen und schlagwortartigen Satz zusammendrängte, daß es die großen Männer sind, welche die Geschichte machen; S y b e l , von dem Meinecke im Nachruf schreibt, daß er immer den freien Willen der Menschen und nicht die Ideen als wichtigste Ursache voraussetzte. 5 ) Schließlich sei auch D i l t h e y in diesem Zusammenhang erwähnt, bei welchem Meinecke seine Diplomarbeit als Oberlehrer über „Die Vergleichung der Natur- und Geisteswissenschaften hinsichtlich ihrer Methoden" schrieb und deren Grundgedanke es war, das Problem der Willensfreiheit als entscheidend f ü r eine spezifisch geisteswissenschaftliche Methode und die Spontaneität des menschlichen Geistes als bedeutungsvoll f ü r die Geschichte überhaupt darzulegen. 6 ) Uranlage und philosophisch-wissenschaftliche Erziehung wirkten so zusammen, um in Meinecke früh den Sinn f ü r die gegeschichtliche Bedeutung dies Individuums zu wecken und zu festigen. Es ist dies der Gedanke, der geschichtstheoretisch wie weltanschaulich im Zentum seines gesamten Denkens über Geschichte und Leben steht. Gleichwohl wäre es ein Irrtum, Meinecke, wäre es auch nur für diese erste Phase, in die Reihe der spezifisch politisch-individualistischen Historiker zu stellen. Er wuchs gar nie in ihre Einseitigkeiten hinein, dank wiederum einer anderen Uranlage, die er in sich zu entdecken glaubte und die 4
) a . a . O . , 87. ) H. Z. 75, 393. «) Erlebtes, 132.
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in einem gewissen Sinne der ersten entgegenwirkte, mindestens sie aber vor extremen Auswirkungen zu bewahren vermochte: sein ursprünglicher Hang zur I d e e n - u n d G e i s t e s g e s c h i c h t e , der ihn bald überall über die einzelnen Individuen hinausgehen ließ in die Sphäre der sie leitenden und beherrschenden Ideen und Gedanken. Das zeigt sich schon in seinem ersten großen Werk, einer Biographie des preußischen Generals Boyen, das trotz aller Verpflichtungen gegenüber der national-politischen Schule gerade in diesem Punkt sie überwindet und damit neue Möglichkeiten keimhaft enthält und heraufführt. Es wird dies an einigen typischen Beispielen noch zu zeigen sein. In derselben Richtung einer Überwindung eines einseitigen Individualismus wirkt auch die bald nach Beendigung des eigentlichen Studiums einsetzende Beschäftigung mit dem Werke R a n k e s , dessen Bedeutung für das geschichtliche Denken Meineckes von da ab stets zunimmt, bis es schließlich zu einer weitgehenden Übereinstimmung der geschichtstheoretischen Grundgedanken kommt. Gleichzeitig beginnt Meinecke auch, sich immer intensiver mit dem Werke D i l t h e y s zu beschäftigen, in dessen logischer und systematischer Grundlegung der Geisteswissenschaft er, insbesondere was die Geschichte anbetrifft, ein Weiterführen und Durchdenken Rankescher Gedanken sieht. Dazu tritt bald einmal, mit sichtbaren Wirkungen im geschichtlichen Denken allerdings erst später, die Auseinandersetzung mit einem Geiste, auf den die beiden andern für Meinecke zurückweisen: G o e t h e . Das Dreigestirn Goethe-Ranke-Dilthey wird bestimmend für die Entwicklung von Meineckes geschichtlichem Denken. Doch damit haben wir schon über die von uns zunächst zu interpretierende Phase hinausgegriffen. Halten wir also fest, daß Meinecke mit einer ganz bestimmten und wohlfundierten Auffassung von der geschichtlichen Bedeutung des Individuums dem kollektivistischen Angriff Lamprechts entgegentreten konnte. W a s ist nun der G r u n d g e d a n k e L a m p r e c h t s ? „Lamprecht statuiert 52
als Objekt der Geschichtswissenschaft das A l l g e m e i n e und als ihr methodisches Ziel die Aufstellung von G e s e t z e n : daher hat es die Geschichtswissenschaft mit den sozialpsychischen Zuständen, mit der Feststellung und Einordnung von Kulturtypen zu tun. Dem widersprechen die Idealisten und Individualisten." 7 ) In diesem Sinne verwirft der i d e a l i s t i s c h e I n d i v i d u a l i s t Meinecke die Ansicht Lamprechts, daß das geschichtliche Individuum als sozialpsychisches Wesen zu definieren sei und nur der sogenannten eminenten Persönlichkeit selbständiges Handeln zukomme, während die große Masse der Individuen sich blind von generirischen Motiven leiten lasse. Er verwirft die Zerreißung der geschichtlichen Menschheit in eine aristokratische Elite und eine dumpfe Masse und wehrt sich leidenschaftlich für die jedem Individuum wesensmäßig mitgegebene Freiheit: „Ich m e i n e . . . , daß auch das unbedeutendste Glied einer sozialen Gruppe ein, wenn auch ganz minimales Fünkchen des freiheitlichen X in sich trägt." Er sieht keine scharfe Trennung zwischen frei wirkenden und blind mitgerissenen Individuen, vielmehr „eine Stufenleiter von unendlich vielen Zwischengliedern vom niedrigsten Hordenmenschen bis zum eminenten Helden emporsteigen."8) Schon in diesen ersten Sätzen wird deutlich, daß es für Meinecke keineswegs nur um eine m e t h o d i s c h e Angelegenheit geht und daß er sich grundsätzlich nicht von seinen w e l t a n s c h a u l i c h e n V o r a u s s e t z u n g e n lossagen will, auch nicht für eine Methode, welche verspricht, die bis anhin geheimnisreichsten Probleme des geschichtlichen Lebens glatt zu lösen. Er will und kann seine Auffassung vom Individuum nicht trennen in eine solche, welche für das Individuum der Geschichte gelten soll und in eine solche, welche für den lebenden Menschen Geltung hat. Für ihn ist das Individuum nicht einmal nur Gegenstand einer wissen7 ) Emil J a k o b Spiess, Die Geschichtsphilosophie Lamprecht, Phil. Diss., Erlangen 1921, 121. 8 ) H . Z . 77, 263/64
von
Karl
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schaftlichen Methode und ein andermal lebendiges Wesen; er hat nur eine Auffassung vom Wesen des Individuums, und diese gilt für das lebende wie für das geschichtliche. So ist Meinecke wohl mit Lamprecht einverstanden, unter stetiger psychologischer Analyse zu den kleinsten Lebenskreisen hinabzusteigen und überall in den geschichtlichen Erscheinungen „die seelischen Kräfte lebendiger Menschen nachzuweisen;" aber nicht um in ihnen einen erfahrungsmäßig zu erfassenden Kern aufzulösen und die Elemente für die Konstruktion der Sozialpsyche zusammenzutragen, sondern um auf den Eigenwert und die Eigenwelt des unnachahmlichen Individuums zu stoßen und vor seinem innersten Geheimnis in Ehrfurcht Halt zu machen. Denn für ihn ist der Kern des Individuums „schlechthin seiner Natur nach unauflöslich und einheitlich, ist er das innere Heiligtum, in dem auch die Weltanschauung wurzelt." Deutlich stehen sich hier zwei Weltanschauungen gegenüber, wie Meinecke selbst feststellt: „idealistische und positivistische Ansicht vom Wesen der Persönlichkeit" und daher auch zwei Methoden: individualpsychologische und sozialpsychologische Analyse. 9 ) Da Lamprecht die geschichtliche Welt in eine kollektive und eine individuelle Lebenssphäre zerreißt — dadurch daß er irrtümlicherweise den subjektiven Gegensatz von individualistischer und kollektivistischer Betrachtungsweise zur tatsächlichen Wirklichkeit objektiviert 10 ) —, wobei in der ersten Kausalität herrscht und in der zweiten Freiheit im Sinne eines inneren Determinismus, verlieren sich bei ihm die Beziehungen zwischen den beiden Sphären, und der individuelle Faktor hat für die allgemeine Sphäre (und damit schließlich für die Geschichte überhaupt) nichts zu bedeuten. Meinecke aber und sein geistig und weltanschaulich ihm nahe stehender Freund O t t o H i n t z e („ohne im übrigen seinen individuell 9
10 )
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H. Z. 77, 265. V g l Otto Hintze, U . Z . 78, 63; auch Spiess, a . a . O . , 99.
ausgeprägten idealistischen Standpunkt zu teilen" 1 1 )) betrachten f ü r alle menschlichen Verhältnisse und geschichtlichen Gebilde den individuellen Faktor als l e t z t l i c h e n t s c h e i d e n d e s M o m e n t . Alle sozialen Gruppen und kollektiven Gebilde beruhen auf den veränderlichen Impulsen der Individuen, aller Fortschritt und alle Entwicklung beruht auf Veränderung individueller Momente, schreibt Hintze in einer Auseinandersetzung mit der kollektivistischen Geschichtstheorie Lamprechts ganz im Sinne Meineckes.12) Und dieser faßt es später in die W o r t e : „In allen Neubildungen des geschichtlichen Lebens hat die historische Forschung noch immer, wenn es gelang, ihre Genesis tiefer zu erforschen, den Hauch individuellen und persönlichen Lebens gespürt." 13 ) Aus der gleichen Grundanschauung heraus sehen weder Meinecke noch Hintze — man bedenke für diesen Fall, daß sie beide auch p o l i t i s c h e Denker sind! — in der Masse und ihren Bewegungen ein bloßes Spiel gesetzmäßig wirkender Kräfte und Kausalitäten, sondern sie wissen auch in ihnen „die Leistungen vieler Tausende freiheitlicher X verborgen" 14 ). Und später schreibt Meinecke im selben Sinne, die Massen seien nie als tot anzusehen, da sie erfüllt seien „von potentiellen Persönlichkeiten, die, wenn sie auch nicht leuchten können, doch einen Schimmer werfen auf ihre Umgebung." 15 ) Hintze aber faßt denselben Sachverhalt lapidar zusammen: e m i n e n t e Individualität ist nicht möglich ohne l a t e n t e Individualität. 16 ) Meinecke und die andern individualistisch eingestellten Historiker bringen also kein Verständnis auf f ü r den von Lamprecht verfochtenen Vorrang des allgemeinen Prinzips vor dem Individuellen. Worin besteht dieses a l l g e m e i n e P r i n z i p ? In allgemeinster Bestimmung besteht es im " ) Otto Hintze, a . a . O . , 63, Anm. 1. ) a . a . O . , 63. 13 ) Staat und Persönlichkeit, Berlin 1933, 6. (Zitiert: S . u . P.) 12
H. Z.77, 264. 15
) S. u. P., 10. 10 ) H . Z . 7 8 , 65. 55
Kollektivum gegenüber dem Individuum. Dieses Kollektivum ist für Lamprecht immer ein p s y c h i s c h bestimmtes Kollektivum; denn für ihn ist alle Geschichte Kulturgeschichte, alle kulturgeschichtliche Entwicklung aber seelengeschichtliche Entwicklung. Es ist der zentrale Gedanke von Lamprechts Geschichtstheorie, daß alle geschichtliche Entwicklung durch s e e l i s c h e K r ä f t e bestimmt sei, und hierin, in diesem „Antrieb zu einer durchgreifenden Psychisierung der gesamten Geschichtsauffassung", ist auch sein Hauptverdienst für die Geschichtswissenschaft gesehen worden.17) Sein Hauptfehler war nun aber gerade die einseitige Betonung des allgemeinen Prinzips, bzw. sein zu rascher Vorstoß vom individuellen Fall zur allgemeinen Entwicklung und zum Gesetz. Sein alleiniges Interesse hat dieses allgemeine Prinzip in der Form des sozialpsychisch bestimmten Kollektivums, sei dies eine soziale Gruppe, ein geschichtliches Kollektivgebilde wie die Nation oder das seelische Leben einer bestimmten Kulturstufe. Gegenüber diesem übermächtigen Allgemeinen tritt das individuelle Moment in der Bildung geschichtlichen Lebens ganz zurück. Die a l l g e m e i n e n V e r h ä l t n i s s e u n d Z u s t ä n d e , insbesondere die wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Gegebenheiten, vermag auch das geschichtlich hervorragendste Individuum nicht oder nicht wesentlich zu verändern, vielmehr muß es sich ihnen beugen, indem es in ihnen und von ihnen lebt. Wenn daher diese allgemeinen Kräfte das geschichtliche Leben in seinen großen Zügen ausschließlich bestimmen, so argumentiert Lamprecht weiter, hat sich auch ihnen das Interesse der Geschichtswissenschaft zuzuwenden und nicht den singulären und konkreten Zwecken der einzel1 7 ) Franz Areas, Archiv für Geschichte und Politik Bd. 6, 1926, 227. Wesentlich für diese Frage ist auch Eduard Spranger, Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Berlin 1005. Spranger versucht, die Psychologie als Grundwissenschaft der Geschichtschreibung zu erweisen, indem er der Sozialpsychologie Lamprechts eine individualpsychologische Methode gegenüberstellt.
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nen großen Individuen, in welchen die ältere Geschichtschreibung vor allem die Gründe historischen Geschehens gesucht hat. Es ist nun allerdings bald nachgewiesen worden, daß bei Lamprecht von einer konsequenten Durchführung seines allgemeinen Prinzips keine Rede sein kann, daß es auch ihm nur Hilfsmittel ist zur Darstellung des Konkreten, wie z. B. seine „Deutsche Geschichte" anschaulich beweist. Spranger stellt fest, nur durch eine merkwürdige Gedankenvermischung werde Lamprecht „das logisch Allgemeine des Urteils ohne weiteres identisch mit dem Sozialpsychischen." 18 ) Dem gegenüber bedeutet für Meinecke auch das Allgemeine stets etwas Historisch-konkretes. Die Bedeutung dieses h i s t o r i s c h - k o n k r e t verstandenen Allgemeinen f ü r das geschichtliche Leben, den W i r kungsanteil seiner Kräfte am Zustandekommen geschichtlicher Bildungen, leugnet er keineswegs. Er sieht dieses allgemeine Prinzip verkörpert in der Form der sozialen Gruppe, der Massenbewegung, aber auch des geschichtlichen Kollektivgebildes wie Staat und Volk, in der Form geistiger Gebilde und gedanklicher Einheiten. Das von Meinecke so verstandene Allgemeine erhält nun allerdings in der Auseinandersetzung mit Lamprecht nicht den ihm innerhalb seiner eigenen Auffassung zukommenden Platz; aus dem ganz natürlichen Grunde, weil Meinecke in dieser Polemik gezwungen ist, das individuelle Prinzip zu betonen und in seiner Bedeutung hervorzukehren, das allgemeine Prinzip aber in seine Schranken zu verweisen und von dem Piedestal herabzustürzen, auf welchen es durch Lamprechts kollektivistische Geschichtstheorie gestellt wurde. W i r sehen uns hier einer ersten Auswirkung jenes Gesetzes der Polemik gegenüber. 19 ) Die18 ) Spranger, a . a . O . , 41. Spranger v e r w e i s t auch auf W . Freytag, Archiv für s y s t e m a t i s c h e P h i l o s o p h i e 1900, der dies zuerst h e r v o r g e h o b e n habe. IS ) G e n a u d i e s e l b e B e o b a c h t u n g macht Spiess in seiner Arbeit über Lamprecht: „ U m die R a n k e s c h e Schule zu b e k ä m p f e n , hat Lamprecht die antiindividuaiHstische Seite seiner Geschichtsauff a s s u n g übertrieben." a. a. O.. 221
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ses Bild wird aber sofort korrigiert, wenn wir über den Rahmen der rein theoretischen Gedankengänge hinausgehen und uns in der praktischen historiographischen Tätigkeit unseres Historikers umsehen. Da bietet denn seine B i o g r a p h i e B o y e n s , die gerade in diesen f ü r die geschichtstheoretische Besinnung so entscheidend wichtigen Jahren geschaffen wurde, eine Reihe typischer Beispiele, die wie praktische Anwendungen der im theoretischen Prinzipienstreit ausgesprochenen Gedanken erscheinen. So schreibt Meinecke, wo es sich darum handelt, die allmähliche Abnahme des religiösen Sinnes im Heere Friedrichs des Großen zu motivieren: W e r vermöchte zu sagen, ob dies „mehr die W i r k u n g s e i n e r P e r s ö n l i c h k e i t oder d e s a l l g e m e i n e n g e i s t i g e n U m s c h w u n g s in der Nation war." 2 0 ) Spiegelt nicht dieser eine Satz schon die ganze Problematik, um die es im geschichtstheoretischen Streite ging? W e m ist die größere geschichtliche Wirkung zuzuschreiben: der eminenten Persönlichkeit oder dem allgemeinen Leben? Es ist typisch f ü r Meinecke, daß er die Frage offen läßt. Vielsagend ist auch der weitere Satz: „ Z u r Zeit Friedrichs des Großen wirkte die I n d i v i d u a l i t ä t d e s H e r r s c h e r s und die g e i s t i g e D i s p o s i t i o n d e s Z e i t a l t e r s zusammen zu den Erfolgen des alten Systems." 21 ) Meinecke stellt wiederum ein Zusammenwirken von individuellen und allgemeinen Faktoren fest, ohne sich über den Wirkungsanteil auszusprechen. Das ist schon typisch im Sinne Rankes gedacht, während ein solcher Satz bei Treitschke kaum denkbar wäre. Gar wie eine versöhnliche Geste gegenüber Lamprecht mutet es an, wenn man den Satz liest: „Neben den M e n s c h e n kommen auch die Z u s t ä n d e zu ihrem Rechte." 22 ) „Zustände" ist ja die Haupterscheinungsform, in welcher das Allgemeine bei Lamp2
20) Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen, Bde. Berlin 1896—99, Bd. 1, 14. (Zitiert: Boyen). 2J 2
) Boyen Bd. 1, 152.
=) Boyen Bd. 2, 422.
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recht sich niederschlägt. So bemüht sich Meinecke, was auf der theoretischen Ebene nicht so deutlich zum Ausdruck kommen konnte, durch das ganze Werk hindurch einen mittleren W e g einzuhalten, allen geschichtlich wirkenden Elementen gleiche Aufmerksamkeit zu schenken, keines in seiner Bedeutung und Wirkung zu überschätzen oder zu unterschätzen, sowohl den einseitigen politischen Pragmatismus wie den kollektivistischen Positivismus ablehnend. Höchst aufschlußreich die Überschrift über eines der Hauptkapitel seines Buches: „Die I d e e n und M ä n n e r der Reform." 2 3 ) Es ist dies ein geradezu formelhafter Ausdruck f ü r die beiden von ihm selbst als Uraniagen bestimmten Tendenzen seiner Geschichtsbetrachtung: Hang zum Individuellen und Hang zur Ideengeschichte, also wiederum ein Zusammenwirken individueller und allgemeiner Faktoren. Und weiter heißt es dann in diesem Kapitel, wahrhaft große geschichtliche Leistung sei gerade deshalb entstanden, weil die e i n z e l n e n I n d i v i d u e n nicht wie in der französischen Revolution alles überwucherten und sich zu allem fähig glaubten, sondern sich „ i m D i e n s t e h ö h e r e r I d e e n " fühlten. 2i ) Ebenso war Boyen „ein von den geistigen Mächten der Zeit genährter S t a a t s m a n n . . . " 2 s) „Vereinigung von i n d i v i d u e l l e r K r a f t e n t f a l t u n g und demütiger Ehrfurcht vor den g r o ß e n g e s c h i c h t l i c h e n M ä c h t e n " , das ist die Synthese, die zu geschichtlicher Leistung führt. 2 6 ) Schon sehen wir damit, und das ist ebenso typisch f ü r das geschichtliche Denken Meineckes, über die bloße geschichtliche Erkenntnistätigkeit hinaus ins Gebiet der ethischen Forderungen. Wohl ist die gegenseitige Durchdringung von allgemeinem Leben und individueller T a t geahnt, erkannt, ja gefordert, aber sie bleibt in ihrem innersten Wesen unentreißbares Geheimnis des geschichtlichen 23
) ) 25 ) 26 )
2i
Boyen Boyen Boyen Boyen
Bd. Bd. Bd. Bd.
1, 1, 1, 1,
161. 165. 222. 165.
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Lebens. „Das ist j a das große Geheimnis der geschichtlichen Forschung, daß ein und derselbe Gedanke zugleich als d a s P r o d u k t e i n e r a l l g e m e i n e n B e w e g u n g und als d i e e i g e n s t e T a t e i n e r P e r s ö n l i c h k e i t erscheint." 27 ) Diesen ehrlichen Agnostizismus, wie es Meinecke später einmal selbst nennt, wird er immer bewahren in seiner Geschichtsbetrachtung trotz aller Fortschritte der Methode und aller Wandlungen der Weltanschauung. D a ß dem Allgemeinen des geschichtlichen Lebens das gleiche Grundelement als Agens zukommen müsse wie der individuellen Sphäre, darin waren sich Lamprecht und Meinecke einig; beiderorts handelt es sich grundsätzlich u m m e n s c h l i c h - s e e l i s c h e s L e b e n . Auch f ü r Lamprecht ist alle Geschichte Personengeschichte, auch er will ja f ü r die Erforschung allen geschichtlichen Lebens auf die seelischen Grundkräfte zurückgehen; daß aber damit die Gemeinsamkeit der Anschauungen auch erschöpft ist, und die Wege von hier aus diametral auseinandergehen, haben wir schon gezeigt. Lamprecht gelangt von seiner positivistischen Ansicht des Individuums, welches f ü r ihn sozial und kollektiv bestimmt ist, zur Betonung des Faktors des Allgemeinen; Meinecke von seiner idealistischen und individualistischen Auffassung des Menschen zur Hervorhebung der Individualsphäre. Lamprecht kann nun die offenbare geschichtliche Wirkung besonders hervorragender Persönlichkeiten nicht bestreiten. Dies führt ihn aber keinesfalls zu einer Revision seiner Ansichten, vielmehr reißt er die nicht zu verleugnende individuelle Sphäre vom allgemeinen geschichtlichen Geschehen los und erklärt es darüber hinaus als eine Frage der Vervollkommnung der Methode, allmählich auch die scheinbar individuellen Entscheidungen als durch kollektive und allgemeine Kräfte bestimmte Handlungen zu erkennen. Lamprechts Trennung des geschichtlichen Geschehens in eine Sphäre, wo noch individuelles Handeln anzuerkennen ist und in eine Sphäre des kollektiven '") Boyen Bd. 1, 125. 60
Lebens und der generischen Motive, wo der individuelle Faktor vernachlässigt werden kann, führt erstens zu einer Entindividualisierung der überindividuell-allgemeinen Verhältnisse und zweitens zu einem unorganischen Gegenüber von Individuum und allgemeinem Bereich — denn entweder ist das Individuum in den allgemeinen Zusammenhängen gefangen und durch sie bestimmt oder es r a g t (daher der Begriff der E m i n e n z ! ) als geschichtlich wirkendes Individuum über sie hinaus. Meineckes Auffassung vom Wirken des individuellen Faktors in allen geschichtlichen Bereichen dagegen führte ihn weiter zu einer Individualisierung der allgemeinen Zusammenhänge, d. h. zu einer Durchdringung des allgemeinen geschichtlichen Lebens mit individuellem Leben, welcher dann allerdings auch eine Rückwirkung des allgemeinen Lebens auf das Individuum entspricht. Daß sich Meinecke im Kampfe gegen die kollektivistische Geschichtstheorie häufig auf R a n k e beruft und ihn verteidigt, geht wohl schon aus dem Umstand hervor, daß Lamprecht die Rankesche Geschichtschreibung auf der ganzen Linie angreift, um mit ihr die in ihrem Geiste betriebene zeitgenössische Geschichtschreibung zu Fall zu bringen. Meinecke verteidigt so in den angegriffenen Prinzipien Rankes weitgehend auch eigene Grundsätze, wenn er sich auch nicht so unbedingt an den Altmeister der deutschen Geschichtswissenschaft anschließt wie eine gewisse andere Richtung innerhalb der Historikerzunft, die denn auch als Hauptgegner Lamprechts auftrat. Gleichzeitig weist aber die Bezugnahme auf Ranke über den eigentlichen geschichtswissenschaftlichen Streit hinaus in weitere Zusammenhänge, welche in gewisser Hinsicht noch ein helleres Licht auf die Dialektik der Pole innerhalb der Grundpolarität von Individuum und Allgemeinem zu werfen vermögen. Die Berufung auf Ranke stellt nämlich insofern innere Zusammenhänge her, als ja auch er in einem prinzipiell gleichen Kampfe gestanden hatte wie Meinecke. Lamprechts Lösungsversuch des geschichtstheoretischen Grundproblems auf 61
der Grundlage eines „entweder-oder" hat ein historisches Analogon in H e g e l s G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e , aber auch in der m a t e r i a l i s t i s c h e n G e s c h i c h t s t h e o r i e . 27a ) Alle drei Theorien sind kollektivistisch, oder sagen wir vielleicht besser o b j e k t i v i s t i s c h , aus Rücksicht auf den Idealismus Hegels, da dem einen oder anderen das Zusammensein der Begriffe Idealismus und Kollektivismus zunächst störend sein könnte. Für das Wesen der Grundpolarität von Individuum und Allgemeinem aber haben sie) alle drei dieselben Konsequenzen: überall wird das Individuum durch ein allgemeines Prinzip eingeengt, ja in seinem innersten Wesen ertötet, „mediatisiert" wie Ranke zu sagen pflegte. In Hegels absolutem Idealismus heißt dieses allgemeine Prinzip „List der Vernunft", im ebenso absoluten Materialismus von Karl Marx ist es die „historische Notwendigkeit", in Lämprechts kollektivistischem Positivismus schließlich wird es zur „historischen Gesetzmäßigkeit", wenn auch nicht im Sinne physikalisch-natürlicher Gesetze, so doch in der Form letzter Entwicklungsgleichmäßigkeiten. Meinecke widersetzt sich also einem entsprechenden Versuch wie Ranke als er Hegels Logik der Geschichte ablehnte, nur daß aus den logischen Vernunftgesetzen des Hegeischen Idealismus die historischen 2 7 a ) Auf die Übereinstimmungen Lamprechts mit dem historischen Materialismus ist im geschichtswissenschaftlichen Streit oft hingewiesen worden. Auf eine solche Verwandtschaft weist auch die positive Besprechung der zwei ersten Bände der „Deutschen Geschichte" Lamprechts durch F r a n z M e h r i n g hin. Mehring betont dort, daß die Geschichtstheorie Lamprechts der materialistischen Geschichtsauffassung grundsätzlich zwar noch fern stehe, doch erkenne sie wenigstens, da/ß aller Inhalt des Geisteslebens von materiellen und sozialen Voraussetzungen in höherem oder geringerem Maße abgeleitet werden müsse. Damit sei erst der Standpunkt zu wissenschaftlicher Behandlung der Geschichte gewonnen, und daher sei Lamprechts Geschichtschreibung ein bedeutender Fortschritt in der bürgerlichen Geschichtsauffassung. Vgl. „Neue Zeit", XII. Jg., 1. Bd., 1893/94, S. 443 ff. & 475 ff. Abgedruckt in „Zur deutschen Geschichte", 456 ff., Gesammelte Schriften und Aufsätze V, Berlin 1931.
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Entwicklungsgesetze des Positivismus bei Lamprecht geworden sind. In ihren weltanschaulichen Voraussetzungen stehen sich Hegel und Lamprecht sozusagen diametral gegenüber, die Konsequenzen ihrer Geschichtstheorien f ü r das Verhältnis von Individuum und Allgemeinem sind aber prinzipiell dieselben; beiderorts wird das Individuum zum unbewußten Teilnehmer an allgemeinen Entwicklungen, zum determinierten Wesen innerhalb einer höheren unverkennbar sich auswirkenden Notwendigkeit. W i r tun hier einen ersten tieferen Blick in die Dialektik der geschichtstheoretischen und damit auch weltanschaulichen Kategorien. W i e sich der Begriff einer „List der Vernunft" dort „mit absoluter Notwendigkeit einstellt, wo Idealismus und Objektivismus sich verbünden" 271 '), so entsteht ein entsprechender Begriff in allen übrigen Theorien, die ein bestimmtes allgemeines Prinzip verabsolutieren und objektivieren. W i e es in rationalistischer Wendung eine „List der Vernunft" gab, so gibt es in psychologistischer Wendung eine „List der Seele", denn nichts anderes liegt den sozialpsychischen Gesetzmäßigkeiten Lampprechts letztlich zugrunde. Die Seele ist hier genau, wie bei Hegel die Vernunft, zum objektiven, den geschichtlichen Verlauf mit absoluter Notwendigkeit bestimmenden allgemeinen Prinzip geworden. 28 ) Wohl glaubte Lamprecht, an Stelle des metaphysischen Charakters, den diese Notwendigkeit bei Hegel und auch bei Marx hatte, seiner Notwendigkeit eine rein empirische durch das Prinzip der Kausalität gesicherte Grundlage geben zu können. Er wollte es vermeiden, die psychologische und 27b
) Rothacker, a . a . O . , 74. ) Nicht anders steht es mit den verschieden bestimmten „historischen Gesetzen" der naturalistischen Theorien, wenn diese sich mit einem Objektivismus verbinden. Schließlich wäre in solchem Zusammenhang auch an Kants Geschichtsphilosophie zu erinnern, in welcher er „vom verborgenen Plan der Natur" spricht. Dieser Begriff entspricht genau den erwähnten Kategorien bei Hegel und Marx. Vgl. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1784, 19. 28
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methodologische Beweisführung in metaphysischen Gefilden sich verlaufen zu lassen; das ganze Geschichtsproblem wurde zu einer Angelegenheit der M e t h o d e . E r versuchte auch den Objektivismus des Hegeischen Systems und der Marxistischen Ideologie zu vermeiden, indem er alle geschichtlich wirkenden Kräfte in die Psyche der Menschen verlegte; das war ja auch das spezifisch Neue seines Lösungsversuches. Eine solche Auflösung der in jenen Theorien' als Objekte vorgestellten geschichtlichen Verhältnisse und Z u stände in massenpsychologische und damit subjektiv-psychologische Vorgänge gelang aber gerade deshalb nicht, weil Lamprecht viel zu rasch und zu unbegründet zu dem gesuchten Allgemeinen vorstieß; auch seine Theorie wurde dadurch objektivistisch. Das allgemeine Prinzip wurde nicht sorgfältig und induktiv aus den individuellen Fällen aufgebaut, sondern bestimmte deren Untersuchung in deduktiver Weise in weitgehendstem Maße. W i e es schon in der spekulativen Geschichtsphilosophie Hegels der Hauptirrtum gewesen war, mit der dialektischen Methode gleichsam als Psychologieersatz die Zwecke des hypothetischen objektiven Geistes zu ergründen 2 9 ), so war es nun der Hauptfehler Lamprechts, die Grenzen zwischen Psychologie und Metaphysik zu verwischen oder zu übersehen. E r rechnete noch zur positiven Wissenschaft, was längst jenseits aller wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten liegen mußte. Man denke nur an sein „seelisches Diapason", das den wenig positivistischen Glauben an eine absolute Parallelentwicklung der Kulturgebiete in sich schließt oder an seinen Begriff der Volksseele, der sicher nicht viel psychologischer ist als der Volksgeist Herders und der romantischen Historik. Es erwies sich daher im Verlaufe des geschichtswissenschaftlichen Streites aufs eindrücklichste, daß die Frage nach der geschichtlichen Bedeutung des Individuums einerseits und der überindividuellen kollektiven Körper anderseits kein geschichtswissenschaftliches Problem im engeren Sinn 2S
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) Spranger, a. a. O., 27.
sein konnte, sondern weit darüber hinaus als Lebensproblem in die Bereiche von E t h i k u n d M e t a p h y s i k , d. h. der W e l t a n s c h a u u n g überhaupt, reichen mußte — eine E r kenntnis, die Meinecke schon hier in dieser ersten geschichtstheoretischen Auseinandersetzung aufging u n d seither ein Leitgedanke seines geschichtlichen Denkens wurde. So betonte er schon jetzt gegenüber Lamprechts A u f f a s s u n g von einer voraussetzungslosen u n d weltanschauungsfreien geschichtlichen Methode leidenschaftlich die Tatsache, daß geschichtstheoretische F r a g e n letzten Endes n u r durch ein Zurückgehen auf die weltanschaulichen G r u n d l a g e n des einzelnen Forschers klar gesehen und beurteilt werden könnten. E r sieht in dem Bestreben, „reine, von allen metaphysischen Voraussetzungen freie Empirie zu treiben, n u r den wunderlichen Versuch, über den eigenen Schatten zu springen." 3 0 ) Auch Spranger deutet Lamprechts Versuch später in gleicher Weise, wenn er schreibt, man habe in dessen Ansicht von der gesetzmäßigen Entwicklung des Seelenlebens in Nationen und Kulturen mehr eine Geschichtsphilosophie im Sinne einer Antizipation der wirklichen Geschichtserkenntnis zu sehen, nicht eine neue Methode. 3 1 ) U n d an den Beginn seiner Arbeit über die Psychologie als Grundlage der Geschichtswissenschaft stellt er die allgemeine Erkenntnis: „Methode und Weltanschauung sind nicht so prinzipiell unabhängig voneinander, wie es in den geschichtswissenschaftlichen Streitigkeiten der letzten Jahre gelegentlich behauptet worden ist. 3 2 ) Zwei Dinge sind durch die Interpretation dieses geschichtstheoretischen Streites der Jahrhundertwende klar hervorgetreten und können f ü r die Bestimmung des Wesens der Grundpolarität von Individuum und Allgemeinem und von Meineckes geschichtlichem Denken überhaupt herangezogen 3
°) H. Z. 77, 265.
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) Spranger, a. a. O., 47.
32
) Spranger, a . a . O . , 1.
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werden: die Betonung des i n d i v i d u e l l e n P r i n z i p s in der geschichtstheoretischen Grundpolarität und, als Beitrag zu unserer Frage nach der Logik der historischen Begriffsbildung, die Erkenntnis von dem inneren und notwendigen Zusammenhang zwischen w e l t a n s c h a u l i c h e r Grundlage und m e t h o d i s c h e m Prinzip, d.h. das Bewußtwerden eines Vorhandenseins inhaltlich mitbestimmender weltanschaulicher Substanz im Geschichtsbegriff. Ein weiterer Schritt in der Entwicklung des Grundverhältnisses von Individuum und Allgemeinem bedeutet das zweite große nun ausgesprochen ideengeschichtliche Werk Meineckes: „Weltbürgertum und Nationalstaat." W i r treffen in diesem Werk zum ersten Mal deutlich auf jenen Vorgang, den wir eine I n d i v i d u a t i o n d e s A l l g e m e i n e n nennen. Diese besteht darin, daß das Individualitätsprinzip, das Meinecke in der idealistisch-romantischen Geschichtsauffassung entdeckt, nun auch in seiner eigenen Geschichtsbetrachtung immer konsequenter und bewußter auf die überindividuelle Sphäre des geschichtlichen Lebens angewandt wird. Das principium individuationis führt also dazu, daß überindividuelle Zusammenhänge und Erscheinungen als Einheiten erfaßt werden. Das war schon im „Boyen" für ein geschichtliches Kollektivgebilde der Fall gewesen und zwar für den Staat. In diesem zweiten Werk nun werden weitere solche Gebilde in denselben Prozeß einbezogen: neben den Staat treten das Volk, die Nation, das Land, (im Sinne des deutschen Einzelstaates vor allem), die Partei, der Stand (in der Form der sozial sich abhebenden Gruppe wie z. B. das preußische Junkertum). Aber vor allem sind es, dem Gegenstand seines Buches ensprechend, Staat und Volk und Nation, auf welche die Begriffe I n d i v i d u a l i t ä t und P e r s ö n l i c h k e i t , die Losungsworte Humboldts und Rankes, übertragen werden. So werden die Staaten „zu kräftigen, autonomen Persönlichkeiten" 33 ), die Nationen erscheinen als 33 ) Weltbürgertum und Nationalstaat, München-Berlin 1908, 8. (Zitiert: W . u . N . ) .
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„große geschichtliche, einseitig kräftige I n d i v i d u e n " 3 1 ) ; der Staat erscheint als „ M a k r o a n t h r o p o s " , ein Ausdruck, welcher von Novalis übernommen wurde 3 3 ), als „ideale, überindividuelle Gesamtpersönlichkeit" 3 0 ), die Nation als „ M a k r o a n thropos und potentiertes I n d i v i d u u m " 3 7 ) ; ferner ist die Rede von der „Autonomie der konkreten, geschichtlichen Staatspersönlichkeit" 3 8 ), von „Nationalpersönlichkeiten" 3 9 ) oder von der „geschichtlich erwachsenen Persönlichkeit der N a tion" 4 0 ). Aber darüber hinaus ist in allgemeinem Sinne auch die Rede davon, „wie alle geschichtlichen Gebilde zugleich einen in hohem G r a d e singulären C h a r a k t e r " tragen 1 1 ), oder es wird betont, daß „ j e d e inhaltsreiche geschichtliche Individualität etwas Unersetzliches ist" 4 2 ). D e r f ü r das gesamte spätere Geschichtsdenken so entscheidend wichtige Begriff der „historischen Individualität" wird g e p r ä g t ; er bezeichnet das durch das Individualitätsprinzip individuierte geschichtliche Kollektivgebilde. Es interessiert uns hier noch nicht das besondere Wesen und die besondere Form des Individualitätsgedankens; es genügt, seinen Ansatz- und Einsatzpunkt aufgezeigt zu haben. D e r Vorgang der Individuation hat unser Interesse vorläufig nur hinsichtlich unserer G r u n d p o l a r i t ä t . Der f ü r das Individuum entscheidende Vorgang im beschriebenen Prozeß besteht darin, daß dem Einzelindividuum I n d i v i d u e n h ö h e r e r P o t e n z gegenübertreten. Die Verleihung des Charakters der Individualität an überindividuelle Mächte des allgemeinen geschichtlichen Lebens von der A r t , wie sie eben bestimmt wurden, ist nichts anderes als der Ausdruck 31
) ) 3(i ) 37 ) :,s )
W. u. N., W. u. N., W.u.N., W.u.N, W.u.N, W. u. N , 40 ) W. u. N , «) W . u . N , '-) W . u . N , 36
39. 65. 10. 9. 78. 7. 34. 15. 284.
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für die erhöhte geschichtliche Bedeutung, die ihnen damit zugeschrieben wird. Diese überindividuellen Mächte erhalten. erhöhte Bedeutung nicht nur für das geschichtliche Leben im allgemeinen, sondern auch für das Einzelindividuum im besonderen. Und damit sind neue und mannigfaltige Spannungen in der Grundpolarität angelegt. Wenn diese überindividuellen Gebilde vom Individuum aus gesehen durchaus dem allgemeinen geschichtlichen Leben angehören, so treten sie nun ihrerseits, dadurch daß sie zu Individualitäten werden, aus diesem allgemeinen Leben heraus, sie heben sich von ihm ab. Das allgemeine Leben wird so durch das Individualitätsprinzip allmählich in individuelle Wesen aufgelöst, und dies führt zu einer immer weiter um sich greifenden Gestaltbesonderung, Differenzierung, Singularisierung. Wenn auch der Vorgang der Individuation zunächst noch auf geschichtliche Kollektivgebilde im Sinne einer Mehrzahl von Einzelindividuen wie Staat, Volk usw. beschränkt bleibt, so beginnt sich doch schon das abzuzeichnen, was Meinecke später einen „Stufenbau von Individualitäten" nennt, der dann schließlich den ganzen geschichtlichen Raum und "die ganze geschichtliche Zeit erfüllt, so „daß jede Individualität in eine höhere Individualität eingebettet ist." 4 3 ) Der Raum zwischen Einzeldasein und universalem Zusammenhang wird so schließlich ausgefüllt durch eine ganze Menge historischer Individualitäten verschiedenster Prägung und verschiedensten Ranges. Das Einzelindividuum wird dadurch immer enger und unmittelbarer umschlossen, kann aber gerade deshalb auch unmittelbarere und intensivere Impulse ausströmen. Alles in allem eine immer zunehmende Differenzierung aber auch Intensivierung des geschichtlichen Lebens. Für unsere Grundpolarität aber gilt bald nicht mehr das einfache Bild der zwei Pole und des dazwischen liegenden Kraftfeldes. Für jeden individuellen Fall, für jede Erscheinung im geschichtlichen Raum und in der geschichtS . u . P., 2. Aufsatz; ebenfalls H . Z . 137, 17, Anm. 1.
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liehen Zeit gibt es n u n ein ganzes System von gegeneinander und ineinander wirkenden, sich stoßenden und unterstützenden, sich überschneidenden u n d durchkreuzenden K r a f t - u n d Spannungsfeldern zu berücksichtigen und zu berechnen. Ein ganzes System von individuellen K r a f t z e n t r e n entsteht, wobei keines nur das gebende und aktive, das bedingende u n d bewirkende, jedes aber auch das nehmende und passive, bedingte u n d bewirkte ist. W e n n wir von diesem P u n k t aus die ganze Entwicklung, welche Meineckes geschichtliches Denken hinsichtlich u n seres Grundproblems durchmachte, zu überblicken versuchen, so heben sich uns schon jetzt zwei Momente heraus, die sich scheinbar widersprechen, tatsächlich aber aufs innigste verbunden sind: sein geschichtliches Denken entwickelt sich langsam und kaum merkbar vom Pol des Individuellen zum Pol des Allgemeinen hin; j e bedeutungsvoller aber dies Allgemeine wird, desto mehr wird es selbst zum Individuellen. W i r kennen schon den Schlüssel zu dieser widerspruchsvoll erscheinenden Entwicklung: es ist das P r i n z i p d e r I n d i v i d u a l i t ä t . W i r tun hier einen ersten Blick in die merkwürdige Dialektik des Individualitätsgedankens, die uns später noch eingehender beschäftigen wird. F ü r unser Problem genügt es festzuhalten, daß es gerade das individuelle Prinzip selber ist, das, über sich selbst hinauswachsend, eine immer stärkere Anziehungskraft des Gegenpols bewirkt; eben dadurch, daß es über das Einzelindividuum hinaus auf die überindividuellen geschichtlichen Gebilde des allgemeinen Lebens sich überträgt und diese damit zu Individualitäten macht. D a s W e s e n unserer G r u n d p o l a r i t ä t beginnt sich also zu komplizieren. Durch den Vorgang der Individuation erhalten wir verschiedene Stufen des Individuellen und verschiedene Stufen des Allgemeinen; was vom Individuum aus gesehen als allgemeines Wesen erscheint, kann selbst wiederum ein Individuelles sein, wenn m a n es in bezug auf noch höhere und umfassendere Zusammenhänge betrachtet. F ü r Mein69
eckes Geschichtsbetrachtung gilt daher dasselbe, was er über Rankes Denken sagt, das j a Vorbild wurde für seine individualisierende Betrachtung: das Allgemeine „bedeutet nicht etwa im alten naturrechtlichen und rationalistischen Sinne irgendwelche abstrakten Ideen und Prinzipien, sondern etwas ganz Konkretes und Lebendiges, nämlich die jeweils höheren und mächtigeren Individualitäten der Geschichte gegenüber den niederen."«) Wiederum stehen sich das konkrete und lebendige Allgemeine und das abstrakte und konstruierte Allgemeine gegenüber, ganz gemäß der grundverschiedenen Auffassung von Geschichte, die ein Ranke und ein Meinecke gegenüber allem Rationalismus haben: Geschichte ist wesensmäßig immer L e b e n , nie nur Geist oder nur Vernunft, aber auch nicht Auswirkung eines nur sinnlichen oder natürlichen Prinzips. W i e steht es nun aber mit dem V e r h ä l t n i s des also bestimmten individualisierten Allgemeinen zu dem einzelnen menschlichen Individuum, von dem doch das principium individuationis ausgegangen sein muß ? Zunächst scheint klar zu sein, daß es für die menschliche Individualität nicht bedeutungslos sein kann, wenn neben oder vielmehr über ihr Individualitäten auftauchen, die ja im Grunde höhere, größere, kräftigere Wesen sind; die trotz des Charakters der Individualität, der ihnen zugesprochen wird, Wesen anderer Art und anderer Struktur sind. Konkret gesprochen: was bedeutet es für das einzelne Individuum oder (zunächst noch) für das D e n k e n über den Einzelmenschen, wenn neben ihn und über ihn der Staat als Individuum tritt? Oder das Volk, schließlich die soziale Gruppe und Partei oder die wirtschaftliche Interessengemeinschaft ? Soll sich das einzelne Individuum freuen über das Auftauchen neuer wenn auch offenbar anders gearteter Individuen, kann es sich beruhigen beim Gedanken, daß es sich letzten Endes doch um Wesen seinesgleichen handle ? Oder muß es sich in *') I. d. S., 482. 7°
acht nehmen, sich fürchten vor diesen Lebensgefährten aus einer anderen höheren Gattung? Sollte es sich am Ende zur Wehr setzen, um seine allenfalls bedrohte Selbständigkeit zu verteidigen? W i r haben hier in Form von L e b e n s fragen Ausdruck verliehen, was zunächst Denkprobleme, Probleme geschichtlichen D e n k e n s zu sein scheinen. Aber wir haben damit in anschaulicher Weise die Situation charakterisiert, in welcher Meineckes geschichtliches Denken sich befand. Er sah wohl ein, daß die Individuation geschichtlicher Kollektivgebilde ein Prozeß ist, der sich im Rahmen des Denkens über Geschichte abspielen kann. Aber er sah mit ebenso scharfem Auge, daß es auch Lebensprobleme sind oder jederzeit werden können. Er betonte diesen Lebensbezug gerade deshalb so stark, weil er erkannt hatte, daß das, was zunächst einfach als historisches Erkenntnisprinzip, als geschichtliche Betrachtungsform erschien, primär und genuin tief w e l t a n s c h a u l i c h e r Gedanke war. Solche tiefere Erkenntnis des Wesens des Individualitätsgedankens — denn um den handelt es sich j a vor allem — erbrachten seine geistesgeschichtlichen Forschungen über Geschichts- und Lebensauffassung der Romantik. Hier entdeckte er, daß ursprünglich organischer Bestandteil einer Welt- und Lebensanschauung war, was die deutsche Geschichtschreibung seit Ranke auf die Betrachtung des geschichtlichen Lebens anzuwenden pflegte. Und dieser Prozeß einer Fruchtbarmachung weltanschaulicher Kategorien — es treten neben den Gedanken der Individualität bald noch andere Ideen — für das spezifisch geschichtliche Denken wiederholt sich nun, mit immer wacherer Bewußtheit, in Meineckes eigener Geschichtsbetrachtung. Die romantischen Betrachtungsformen von Leben, Geschichte und Staat, die j a dargestellt und interpretiert werden sollen, um zu einer geistesgeschichtlichen Aufhellung der Genesis des deutschen Nationalstaatsgedankens beizutragen, werden nun gleichzeitig auch für sein eigenes Denken rezipiert. Es scheint also zunächst, daß Meinecke 71
einfach Betrachtungsformen und Erkenntnisprinzipien, die er in einer bestimmten Epoche der deutschen Geistesgeschichte vorfindet, auf seine eigene Betrachtung von Geschichte und Staat anwendet. Die Zusammenhänge gehen aber tiefer, und sie reichen weiter. Meineckes Ergebnisse über die Bedeutung romantischer und idealistischer Gedanken für die Entwicklung deutschen Staats- und Geschichtsdenkens sind nicht nur geistesgeschichtliche Entdeckung, nicht nur historische Erkenntnis, sondern sie sind auch S e 1 b s t entdeckung, Selbsterkenntnis. Es geht nicht nur um die Darstellung einer bestimmten Epoche deutscher Geistesgeschichte, Meinecke greift auch an die Wurzeln und Fundamente der eigenen, der zeitgenössischen Geisteshaltung, insbesondere einer bestimmten Sphäre, eben derjenigen geschichtlichen und staatlichen Denkens. Nicht nur in dem selbstverständlichen Sinne greift er an die Wurzeln des zeitgenössischen Geistes, daß seine ganze Vergangenheit sein Fundament bildet, daß er ist, was er gewesen ist, um einen Gedanken Ortega y Gassets hier abzuwandeln; sondern in dem viel intensiveren Sinne, daß bestimmte Stadien der Geschichte des Geistes ausgeprägter und nachhaltiger in der Gestaltung seines gegenwärtigen Wesens nachwirken und, was für unseren Fall noch bedeutungsvoller ist, jederzeit durch unmittelbaren geistigen Kontakt ihren Einfluß verstärken oder erneuern können. Dies ist der Vorgang, um den es hier geht: Nachwirkung geschichtlichen Gehaltes und aktive Neubelebung greifen ineinander. Meinecke steht als aktiver Förderer in einem Prozeß, in welchem man nicht nur in historisierender Erkenntnis Klarheit über die wesentlichen Grundlagen der eigenen Zeit erlangen will, sondern diese geschichtlichen Grundlagen durch aktive Neubelebung für das gegenwärtige Leben und Denken fruchtbar zu machen sucht. Es ist der Versuch, die Grundgedanken der idealistischen Epoche neu zu beleben und, durch ihre stärkende Kraft gewappnet, dem um die Jahrhundertwende auftretenden Positivismus die Stirn zu bieten. Es ist darüber hinaus 72
der Versuch, dieses vornehmste geistige Erbgut der deutschen Vergangenheit für die Lösung der modernen Lebensprobleme überhaupt nutzbar zu machen. In dieser Phase eines N e u i d e a l i s m u s , in seiner geistesgeschichtlichen Begründung, in seiner weltanschaulichen Stärkung, spielten Meineckte und sein Werk eine nicht geringe Rolle. Sein Vorkriegswerk kann daher nur oberflächlicher Betrachtung als dem Willen zur reinen Kontemplation entsprungen erscheinen. Was hier an geistigen Werten der Geschichte überliefert und dargestellt wird, das sollte zugleich beitragen zu einer Neubesinnung und Neugestaltung der Gegenwart. Es ist keineswegs nur ein „ästhetisches Schwelgen im Reichtum der Jahrhunderte", was hier geboten wird; Meinecke befürchtet ja gerade solche Erschlaffung geschichtlichen Schaffens und sucht ihr daher entgegenzuwirken. Was an die Vergangenheit herangetragen wird, ist nicht nur die Sonde historischen Erkenntnisdranges, sondern eine Frage aktiver Lebensgestaltung, getragen vom Willen zur Mitarbeit und vom Verantwortungsbewußtsein des Historikers gegenüber seiner Zeit. Historia vitae magistra ist der alte Leitgedanke, der in Meinecke nachwirkt, wenn auch in verfeinerter und vergeistigter Form, und er verbindet sich zu einer lebenskräftigen Symbiose mit der Forderung nach Kontemplation und Objektivität. 45 ) Das muß klar gesehen werden, wenn man Meineckes Gedanken zum Problem der Grundpolarität von Individuum und Allgemeinem nicht nur als geschichtstheoretische Argumentationen, sondern eben als Aussagen verstehen will, die weltanschauliche Bedeutung haben und ethische Postulate werden können. Hier wie überall ist der Zusammenhang 4 5 ) Hier herrschte ein interessanter Gegensatz zwischen Troeltsch und Meinecke. Troeltsch sah bei Meinecke oft zu wenig ethischen Aktivismus und warf ihm deshalb „Neigung, zur objektiven und reinen Kontemplation auszubrechen" vor. (Der Historismus und seine Probiieme. Tübingen 1922. 696.) Meinecke seinerseits wies diesen Vorwurf zurück in H. Z. 137, 23, Anm. 2.
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zwischen geschichtslogischer Erörterung und materialer Geschichtsphilosophie (um hier mit Begriffen Troeltschs zu operieren), die j a eine ethische Frage letztlich zu beantworten sucht, ein sehr enger. Wohl ist eine l o g i s c h e Trennung möglich, aber sie darf nur vorgenommen werden, wenn man zugleich die p s y c h o l o g i s c h e Untrennbarkeit der Problemkreise im Denken unseres Historikers erkennt. Die Stelle aufzuzeigen, wo im geschichtlichen Denken methodologische Argumentation in weltanschauliche Aussage umschlägt, geschichtslogische Beweisführung in Ethik und Weltanschauung übergeht, diese Stelle durch Analyse der Hauptkategorien geschichtlichen Denkens aufzuhellen, das ist ja — in etwas anderer Formulierung — wiederum unser theoretisches Hauptproblem. Aber auch in unserem Verfahren darf die Analyse die Synthese nicht verdrängen. Der geschichtliche Denkakt darf nur zerlegt und seziert werden, wenn die Tatsache seiner synthetischen Gestalt immer bewußt bleibt; nur dann trägt die A n a l y s e der Geschichtsbegriffe zu einem wahren Verständnis des geschichtlichen Denkens bei, wenn sie die innere Notwendigkeit der S y n t h e s e zugleich zu erweisen vermag. Dieser ethisch-weltanschauliche Grundzug, der in der Übernahme romantisch-idealistischer Betrachtungsformen hier uns gegenübertritt, dringt dann vollends an die Oberfläche, wenn sich Meinecke in p ä d a g o g i s c h e r Absicht mit dem Problem von Individuum und Allgemeinem beschäftigt. Daß aber in diesen noch darzustellenden Gedanken genau dieselben Kategorien in Erscheinung treten wie in der geschichtlichen Darstellung vergangener Geschichts- und Staatsauffassungen, beweist mit aller Deutlichkeit die auch Meinecke bewußte ethisch-weltanschauliche und damit gegenwartsbezogene Bedeutung seiner geschichtlichen Betrachtungsformen. Die Identität der Kategorien, die nur einmal mehr geschichtstheoretisch-methodologischen Charakter, das andere Mal den Aspekt weltanschaulichen Bekenntnisses und pädagogischer Nutzanwendung haben, ist unzweifelhaft. 74
So verstanden erhält die Darstellung jener romantischen Geschichts- und Staatsauffässungen den Charakter w e l t a n s c h a u l i c h e r Auseinandersetzung — im Rahmen jenes Prozesses also, den wir den Versuch eines Neuidealismus nannten. Dabei ist- natürlich hier nicht etwa nur eine einseitige Einwirkung geschichtlicher Erkenntnisse auf die Formung der Weltanschauung anzunehmen; vielmehr wirkt auf die Geschichtsbetrachtung primär immer weltanschauliche Substanz ein, als Teil dessen, was man das subjektive Apriori zu nennen pflegt. Daß Meinecke immer wieder gerade in diese idealistische Gedankenflut seine Sonde der Erkenntnis eintauchte, das kommt natürlich nicht von ungefähr, sondern setzt ein bestimmtes Interesse dafür voraus, welches in diesem Falle aus der geistigen Verfassung und dem geistigen Bedürfnis der Zeit und aus einer weitgehenden, zum Teil sogar unbewußten seelischen Verwandtschaft und Kongenialität des Forschers selbst entspringt. Dieser Neuidealismus brachte nun eine ganz bestimmte objektivistische Tendenz in Meineckes geschichtliches Denken, die wir an ihren hauptsächlichsten Erscheinungsformen bereits kennenlernten. Wann kann von einer objektivistischen Tendenz überhaupt die Rede sein ? O b j e k t i v i s m u s ist dann vorhanden, wenn einem überindividuellen Verband, einem überpersönlichen Gebilde, ein selbständiges Lebenszentrum und selbsttätiges Aktzentrum zugeschrieben wird, wenn das überindividuelle Gebilde den Charakter einer Entität, einer Wesenheit erhält, die über einen von den Einzelindividuen unabhängigen „Geist" verfügt. Das objektivistische Prinzip fällt nun nicht ohne weiteres mit dem Prinzip des Allgemeinen in unserer Grundpolarität zusammen. W i r sahen, wie das Prinzip des Allgemeinen auch in einer individualistischen Geschichtstheorie berücksichtigt werden muß, daß Individualismus und Allgemeines sich nicht ausschließen, jener wohl aber eine bestimmte Auffassung des Allgemeinen mit sich bringt. Dem gegenüber schließen sich Individualismus und Objektivismus aus, wenn sie in reiner Form vorhan-
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den sind, genau wie Individualismus und Kollektivismus, wobei man den ersten Begriff als Oberbegriff, den zweiten mehr als seine spezifisch materialistische Form zu verstehen pflegt. Diesen Gegensatz versucht nun Meinecke durch sein geschichtliches Denken gerade aufzulösen. Das individualistische Prinzip und das objektivistische Prinzip schließen sich wohl in der logisch aufgebauten Theorie aus; im Wesen des geschichtlichen Denkens liegt es aber nach Meinecke, daß es versuchen muß, die Gegensätze auszugleichen und die Extreme zu verbinden. Der Historiker bevorzugt in seinen theoretischen Bemühungen das Moment der g e s c h i c h t l i c h e n L e b e n s w i r k l i c h k e i t zum Nachteil der logischen und systematischen Konsequenz, er betont die unmittelbare Anschauung gegenüber dem diskursiven Denken. D a f ü r bildet Meineckes Einstellung zum Problem dieser ersten Grundpolarität ein instruktives Beispiel. Der „ V o l k s g e i s t"-gedanke der Historischen Schulelund der Organismusgedanke etwa der Staatsauffassung Adam Müllers sind ohne Zweifel o b j e k t i v i s t i s c h e P r i n z i p i e n reinster Art. Der Volksgeist ist das überindividuelle Lebensprinzip, die geheimnisvolle Urkraft, das metaphysische Substrat, das die Entwicklung eines Kollektivgebildes, wie es das Volk darstellt, bewirkt und verständlich macht. Der Volksgeist erübrigt die individuellen Einzelgeister als aktive Teilhaber am geschichtlichen Geschehen; er wirkt über die Köpfe der Individuen hinweg oder durch ihre Seelen hindurch. Er „mediatisiert" die persönlichen Lebenszentren. Genau dieselben Konsequenzen hat die Idee des O r g a n i s m u s . Der Staat z. B. wird zum selbständigen und selbsttätigen organischen Lebewesen und entwickelt sich über den politischen Willen der Einzelnen hinweg nach eigenem, spontanem Leitgesetze. Daß Meinecke eine Theorie der überindividuellen Lebenseinheiten in solcher Form nicht übernehmen konnte, versteht sich bei seinem grundsätzlich doch immer individualistisch bleibenden Standpunkt. Es konnte ihm nur darum 76
gehen, objektivistische Elemente soweit aufzunehmen, als dadurch sein individualistischer Standpunkt nicht entwurzelt wurde. Von den beiden Wegen zur Anerkennung des objektivistischen Momentes, welche L i t t linterscheidet, ging Meinecke den ersten, während die romantische Volksgeist- und Organismuslehre dem zweiten entspricht. „Entweder man spricht dem Ganzen ein Aktzentrum zu, ohne deshalb den Einzelsubjekten, die das Ganze in sich schließt, ihre personale Zentriertheit zu entziehen — oder man läßt die letztere ganz in das erstere aufgehen und mediatisiert somit das Individuum." 46 ) Seine Auffassung hat Meinecke selbst in einem seiner letzten Aufsätze deutlich bestimmt: „In allen jenen Gemeinschaften [Meinecke sprach von den Gebilden des objektiven Geistes im allgemeinen] und ihren Institutionen entsteht sogleich ein besonderer Geist, !der u n a b h ä n g i g u n d a b h ä n g i g z u g l e i c h ist von ihren persönlichen Trägern, von diesen stetig weiter- und wohl auch umgebildet wird, auf sie aber auch wieder als objektive Lebensmacht mit ihren besonderen Tendenzen dynamisch einwirkt." 47 ) Meineckes Auffassung scheint damit den Charakter jener Theorien anzunehmen, welche Othmar Spann die „lauwarmen und schwächlichen" nennt 18 ), weil sie sich angesichts der Alternative nicht für die eine Seite entscheiden könnten. Wir wissen aber, daß geschichtstheoretische Gedanken bei 4 6 ) T h e o d o r Litt, Individuum und G e m e i n s c h a f t , Grundlegung der Kulturphilosophie, 3. A u f l a g e , Berlin-Leipzig 1926, 260. Im Lichte der „deutschen K a t a s t r o p h e " w i r d das P r o b l e m objektivistischer G e s c h i c h t s a u f f a s s u n g v o n Litt behandelt in „Geschichte und V e r a n t w o r t u n g " , W i e s b a d e n 1946 (in g e k ü r z t e r F o r m erschienen in der „Neuen Z ü r c h e r Z e i t u n g " Nr. 2 1 3 9 v o m 1 . 1 1 . 1 9 4 7 ) . Hier k o m m t auch das P r o b l e m des historischen Determinismus grundsätzlich zur Sprache, w e l c h e s ja mit dem ersten in n o t w e n digem inneren Z u s a m m e n h a n g steht. 4 7 ) A p h o r i s m e n und Skizzen zur Geschichte, Leipzig 1942, 104 (Zitiert: A p h o r i s m e n ) .
« ) G e s e l l s c h a f t s l e h r e , 2. A u f l a g e , Leipzig 1923, 78 & 182.
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Meinecke nicht vom Standpunkt systematischer Philosophie oder logisch-erkenntnistheoretischer Bemühungen aus beurteilt werden dürfen. Meineckes Bemühungen um einen Ausgleich individualistischer und objektivistischer (kollektivistischer) Geschichtstheorie bekommen indessen noch einen andern Aspekt, indem nicht nur die Möglichkeit einer Überbrückung der Gegensätze aus der unmittelbaren Anschauung des geschichtlichen Lebens heraus postuliert, sondern schließlich auch das Recht der Aufstellung einer Alternative überhaupt bezweifelt wird. So bezeichnet Meinecke jene Alternative immer betonter als eine f a l s c h g e stellte Frage. Halten wir aus unseren bisherigen Untersuchungen fest, daß das Prinzip des Allgemeinen erhöhte Bedeutung erhält durch die Individuation der überindividuellen geschichtlichen Gebilde und daß damit der Individualismus Meineckes durchsetzt wird durch objektivistische Elemente. Die D i a l e k t i k der Kategorie der Individualität bringt es zudem mit sich, daß auch zwischen diesen gegensätzlichen Theorien eine Verbindung entsteht, indem das individualistische an einer bestimmten Stelle in ein objektivistisches Prinzip umschlagen kann. Denn „der Individualismus bewegt sich zwischen den beiden Polen völliger Isolierung und völligen Verschlungenwerdens von dem Ganzen." 4 9 ) Gehen wir nun an eine nähere Bestimmung der Kategorie des A l l g e m e i n e n . Das Allgemeine, so stellten wir bereits fest, ist f ü r Meinecke ein individualisiertes und konkret-geschichtliches Allgemeines. Nie liegt ihm die Vorstellung des Massenhaften oder Sozialpsychischen zugrunde. Staat und Nation sind f ü r Meinecke gerade nicht sozialpsychisch' zu erfassende Kollektivgebilde, sie sind nicht Produkt und Funktion einer Masse von sozialpsychisch bestimmten Einzelsubjekten. Meineckes Kollektivindividualitäten sind vielmehr gerade vom Massenbewußtsein und vom Massengeschehen prinzipiell losgelöste, in sich einheitliche und zen,s
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) Rothacker, a. a. O., 75.
trierte, einer überpersönlichen Sphäre angehörende Subjekte, geleitet von einem vom einzelmenschlichen Dasein unabhängigen individuellen Lebensprinzip. Sie sind nicht Summe von Individuen, sondern selbst Individuum. Meineckes Weg zum Allgemeinen hin vollzieht sich unter dem Prinzip seiner Individuation, der Weg des Kollektivismus geht über eine Verallgemeinerung des Besonderen. Es ist „eine sehr viel feinere A r t von Kollektivismus" 50 ), um hier Worte anzuwenden, die Meinecke zur Kennzeichnung von Rankes geschichtlichem Denken verwendet hat: es sind nicht Massen, die dem Einzelnen gegenübertreten, sondern Individualitäten stehen sich auf beiden Seiten gegenüber. So wird es verständlich, daß Meinecke der Vorwurf gemacht werden konnte, er habe den K o l l e k t i v k r ä f t e n und der M a s s e n b e w e g u n g zu wenig Beachtung geschenkt und zwar gerade in dem Werke, in welchem wir eine erste entscheidende Neigung zum Allgemeinen hin und eine Aufnahme objektivistischer Elemente festgestellt haben. Meinecke umschreibt in seiner Auseinandersetzung mit Diether und dessen Buch „Ranke als Politiker", welches eine Kritik seines Verfahrens und seiner Ergebnisse in „Weltbürgertum und Nationalstaat" enthält, noch einmal sehr klar und aufschlußreich seine Auffassung vom Verhältnis von Individuum und Allgemeinem. „Kollektive und individuelle Faktoren des Geschehens gegeneinander abzugrenzen, wird in exakter Weise niemals möglich sein, wird immer nur eine Sache des historischen Taktes, der gesamten Bildung und Lebenserfahrung, der jeweiligen Entwicklungsstufe, auf der die Persönlichkeit des Forschers steht, sein. Ich bekenne gern, daß ich heute die Bedeutung der kollektiven Mächte höher zu schätzen geneigt bin als vor 20 Jahren, — insbesondere ihre kausale Bedeutung." Meinecke bestätigt also einmal mehr seine Grundeinsicht von der Unmöglichkeit, die Spannungen der Grundpolarität irgendwie in einseitiger 5 U ) Die Entstehung ( Z i t i e r t : E . d. H . )
des Historismus, München-Berlin
1936, 638.
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Weise aufzulösen. E r betont auch die Bedeutung des subjektiven Apriori, und er bestätigt darüber hinaus die von uns gemachte Beobachtung einer Entwicklung seines Denkens zum Allgemeinen hin. Einen ganz anderen Aspekt erhält unser Problem nun auf einmal, wenn Meinecke fortfährt: „Von der ungeheuren Masse des durch Ursache und Wirkung miteinander verknüpften menschheitlichen Geschehens ist aber nur ein kleiner Teil historisch wertvoll, und innerhalb dieses kleinen Ausschnittes, den wir allein zu untersuchen, zu verstehen und darzustellen bemüht sind, können die individuellen Faktoren einen verhältnismäßig hohen Erkenntniswert beanspruchen." 51 ) W a s schon durch das oben angehängte Nachsätzchen „insbesondere ihre kausale Bedeutung" berührt wurde, das wird jetzt vollends deutlich: es werden bei der Einschätzung der Bedeutung von individuellen und allgemeinen Faktoren des geschichtlichen Geschehens ihre „kausale Bedeutung" und ihr „Erkenntniswert" unterschieden. Z u m ersten Mal werden wir vom Problem unserer ersten Grundpolarität zu dem Verhältnis von W e r t u n d K a u s a l i t ä t hinüber wiesen. W i r sehen auch hier wieder, wie ein Begriff zu weiteren Begriffen, ein Problem zu andern Problemen hinüberführt, sodaß die letzten Bestimmungen immer wieder hinausgeschoben werden. Die höhere Einschätzung der Bedeutung des allgemeinen Faktors f ü r das geschichtliche Geschehen erschüttert aber keineswegs, trotz Aufnahme objektivistischer Elemente, die alte grundsätzlich individualistische Einstellung, zu der sich Meinecke auch hier wieder bekennt: „Innerster Kern alles geschichtlichen Lebens ist und bleibt, wenn man dies W o r t Rankes im Sinne moderner Erfahrungen interpretiert, «lebend Leben des Individuums»". 52 ) 51
) P r e u ß e n und Deutschland im 19. und 20. J a h r h u n d e r t , Historische und politische Aufsätze, München-Berlin 1918,364/365. (Zitiert: P. u. D.) 52
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) a. a. O., 367.
Noch in einer anderen Richtung erfuhr das Prinzip des Allgemeinen seit Meineckes Hinwendung zu spezifisch ideengeschichtlichen Problemen eine stärkere Betonung: dem Individuum treten auch geistige Gebilde gegenüber und zwar ini der Form der I d e e n . Wir sahen schon aus dem „Boyen" Beispiele, wo der geschichtlichen Persönlichkeit die Idee gegenübertritt. Die Idee entspringt wohl dem individuellen Geiste, aber sie wird dann zur objektiven geistigen Macht und schlägt damit andere Individuen in ihren Bann und Dienst. Wir haben hier die Stelle, wo das Problem der historischen Idee aus der Grundpolarität hervorgeht. Persönlichkeit und Idee ist die Erscheinungsform, die immer mehr das geschichtliche Interesse Meineckes beansprucht. Wohl gibt Meinecke gegenüber Diether, der auch die Beherrschung des geschichtlichen Geschehens durch die in der geschichtlichen Persönlichkeit wirkenden Ideen kritisiert,, noch zu, daß Ideen, insbesondere politische Ideen, durch breitere Schichten mitbestimmt sein können, doch sei „ihre geistige Klärung, ihre wirksamste Vertretung und ihre praktische Durchführung in der Regel das Werk einzelner bedeutender Individuen." 63 ) Durch die Idee vollzieht sich recht eigentlich ein innerer S p a n n u n g s a u s g l e i c h zwischen den Polen, indem sie einmal das individuelle Prinzip verkörpern kann — dadurch daß sie aus dem individuellen Geist entspringt und durch dasi geschichtliche Individuum wirkt —, das andere Mal oder vielmehr gleichzeitig aber auch das allgemeine Prinzip, indem sie der geschichtlichen Persönlichkeit als objektive Macht entgegentreten oder eine Mehrzahl von Individuen beherrschen und leiten kann. Wir erhalten damit die in Meineckes Geschichtsbetrachtung häufige Situation, daß die Idee durch ein hervorragendes geschichtliches Individuum hindurch als allgemeine Macht sich auswirkt. Durch nichts wird dieses Verhältnis einer Wechselbedingtheit von Idee und Persönlich5S
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) a. a. O., 366. 81
keit treffender ausgedrückt als durch einen Satz R a n k e s , auf den unser Historiker natürlich auch hier wieder zurückgeht: „ W e n n eine neue Bewegung die Menschen ergriffen hat, ist es immer durch großartige Persönlichkeiten, durch die hinreißende Gewalt neuer Ideen geschehen." 5 4 ) W i e hier bei Ranke, so ist auch bei Meinecke kein Widerspruch zu sehen, wenn ein geschichtliches Ereignis zugleich der W i r k u n g großer Persönlichkeiten und mächtiger Ideen zugeschrieben w i r d : Persönlichkeiten wirken durch Ideen, Ideen durch Persönlichkeiten. W i r werden später sehen, wie gerade die historische Idee den antinomischen Charakter der geschichtlichen Grundpolaritäten abzuschwächen vermag, indem sie durch ihr W e s e n die gegensätzlichen Pole innerlich verbindet, sodaß ihre K o r r e l a t i o n stärker wird als ihre Diskrepanz. W e n n wir von hier aus zurückblicken, so erkennen wir schon eine beachtliche Anzahl von E r s c h e i n u n g s f o r m e n unserer Grundpolarität, insbesondere was den Pol des Allgemeinen anbetrifft. Bis jetzt erschien uns das Allgemeine einmal in der Form des K o l l e k t i v u m s im Sinne einer M e h r z a h l v o n I n d i v i d u e n , als naheliegendstes Gegenstück zum Einzelindividuum: hierher gehören alle sozialen Kollektivgebilde wie Staat, Volk, Nation, welche zugleich als Individualitäten konstituiert wurden, sowie alle analogen Gebilde niedrigeren Grades. D a n n erschien das Allgemeine verkörpert in der Gestalt von Kollektivgebilden g e i s t i g e r , i d e e l l er A r t : dies sind die überindividuellen Ideen und allgemeinen Gedankenbewegungen, aber auch die Tendenzen, welche ebenfalls im Anschluß an Ranke in Meineckes Geschichtsbild erscheinen, in allgemeinster Formulierung schließlich die geistige Konstellation oder Disposition eines historischen Momentes, aber auch eines Zeitalters, welche dann häufig als Zeitgeist bestimmt werden. Es kann sich ebenso in einem Kollektivum von K r ä f t e n , U r s a c h e n , B e d i n g u n g e n das Allgemeine kon•>*) Sämtliche W e r k e 38, 23. (Zitiert: S . W . )
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kretisieren, und es erscheint d a n n als Umwelt, als Lebenskreis, als Milieu, welche Denken und W i r k e n des Einzelnen bedingen und mitbestimmen; in überpersönlich-geschichtlicher Schau sind es die objektiven Verhältnisse, die allgemeinen Weltverhältnisse, die allgemeine Konstellation, die allgemeine Bewegung oder die allgemeine Disposition, die großen geschichtlichen Mächte, der allgemeine G a n g der Dinge oder der allgemeine Zusammenhang, welche das geschichtliche Geschehen mitbestimmen. W i r haben mit diesen letzten Formen auch bei Meinecke jene F o r m des Allgemeinen, welche mit den Ideen und Tendenzen zusammen in Rankes Geschichtsbetrachtung die Hauptrolle spielte. Es kann sich auch das G e s c h i c h t l i c h e s e l b s t als allgemeine dem individuellen W i l l e n entgegenstehende K r a f t auswirken: so etwa in der Form der geschichtlichen Vergangenheit, der T r a d i t i o n , der Kontinuität, des geschichtlichen Bewußtseins. Schließlich kann sogar das N a t ü r l i c h e zum Prinzip des Allgemeinen werden als geographische Bedingtheit wie Klima, Lage, Boden oder als biologisches M o m e n t wie Rasse, Blut, Geschlecht, G a t t u n g , allgemeine N a t u r des Menschen. Auch der Begriff des T y p i s c h e n muß hier erwähnt werden: das Typische liegt zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen auf verschiedener Stufe, nähert sich aber dadurch dem Allgemeinen, daß es die Gemeinsamkeit der Merkmale vieler Individuen in sich schließt'; anderseits nähert es sich wieder dem Individuellen, indem es verschiedene T y p e n gibt, die unter sich wiederum individuell verschieden sind. W e n n wir das G e m e i n s a m e all dieser Begriffe, die hier das Prinzip des Allgemeinen verkörpern, zusammenziehen, dann müssen wir auf induktive Weise eine umfassende Definition des Allgemeinen erhalten. Dieses Gemeinsame besteht darin, daß der Mensch gegenüber dem durch jene Begriffe Bezeichneten in eine Situation gezwungen wird, in welcher er einfach hinzunehmen hat, was über ihn kommt, ihn bedingt, bestimmt und leitet, meist ohne
Möglichkeit des Widerstandes oder Ausweichens. Diese Definition weist zugleich hinüber zu weiteren geschichtlichen Kategorien, welche in einem inneren Verhältnis zum Prinzip des Allgemeinen stehen, j a eigentlich Analoga zu ihm bilden: Notwendigkeit, Schicksal, Kausalität, Zufall. Das innere und korrelative Verhältnis der geschiehtstheoretischen Grundpolaritäten wird deutlich sichtbar. W i r sprachen schon davon, daß das Allgemeine für Meineckes geschichtliches Denken im Laufe seiner Entwicklung immer z u n e h m e n de B e d e u t u n g erfahren habe, erkennbar eben daran, daß alle jene Geschichtsbegriffe mit der Zeit häufiger werden. Eine solche Entwicklung, wie wir sie hier im Denken eines Historikers wahrnehmen, kann natürlich, beim Charakter der Geschichtschreibung und des geschichtlichen Denkens, nicht eigentlich bewiesen, sondern nur aus der Kenntnis des ganzen Werkes herausgelesen und herausgefühlt werden. Es wird immer ein leichtes sein, durch einzelne, aus dem Gesamtzusammenhang herausgerissene Beispiele eine solche These scheinbar zu widerlegen, da sich ja schließlich auch das organischste Wachstum kleinere Sprünge und Rückschläge leistet, geschweige denn die Entwicklung des Denkens einer Persönlichkeit. Dieses Problem hat sich bei der Beurteilung Rankes gezeigt, mit welchem sich Meinecke in seiner Entwicklung zum Allgemeinen hin durchaus trifft. 5 5 ) Bei Ranke trat im Alter die Bedeutung des Individuums immer mehr zurück vor den all5 5 ) V e r s c h i e d e n e F o r s c h e r stellen in ihren Urteilen über R a n k e dessen mit dem A l t e r z u n e h m e n d e Neigung fest, „das e l e m e n t a r e M o t i v zurückzuschieben zugunsten der sachlich-rationalen, aus der «allgemeinen B e w e g u n g » stammenden M o t i v e . " S o urteilt Meinecke, I. d. S., 484. indem er seine T h e s e an den NapoleonUrteilen R a n k e s verifiziert, in gleichem Sinne urteilte M e i n e c k e schon in einer E n t g e g n u n g auf Lamprecht. H. Z. 77, 263, dann P. u. D., 209 f i . und schließlich E. d. H.. 632 ff. Ebenso urteilen S y b e l , V o r t r ä g e und A b h a n d l u n g e n 1897, 2 9 0 ff., B e l o w H. Z. 8 1 , 218. T r o t z d e m scheint H. Schmeidler, Schmollers J a h r b u c h 1903 Bd. 27 diese T h e s e an einigen Beispielen w i d e r l e g e n zu müssen.
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meinen Ideen und objektiven Weltverhältnissen. W a c h sieht in dieser zunehmenden Neigung zum Allgemeinen hin, zur Reflexion auf Kosten der reinen Erzählung, einmal die gewonnene Lebensweisheit, dann aber auch die aus philosophischer Anregung geflossene systematische Überzeugung. Jedenfalls kann das von ihm zitierte W o r t Goethes: J e älter m a n wird, umso mehr verallgemeint sich alles, vorbehaltlos auch auf Meinecke angewandt werden ; s e ) f ü h l t er sich doch wie kein zweiter deutscher Historiker im Banne Goethes und Rankes. Diese zunehmende Neigung zum Allgemeinen hin wurde schließlich auch von anderer Seite schon betont.") Eine solche Entwicklungstendenz ist also unverkennbar; man irnuß sie n u r in den richtigen Proportionen zu sehen verstehen. Es geht nicht um gänzliche W a n d l u n g oder um Bekehrung eines Saulus, sondern n u r u m Nuancen, um Neigungen, wie Meinecke selbst f ü r Ranke und f ü r sich betonte. D e r Individualist bleibt er grundsätzlich auch, trotz der zunehmenden Bedeutung des Allgemeinen, trotz der A u f n a h m e objektivistischer Elemente in seine Geschichtstheorie. Es ist wie das Suchen nach einer mittleren Linie, was sich als Grundtendenz abzeichnet. Meinecke möchte die beiden Pole wie die Schalen einer W a a g e um eine ideale Gleichgewichtslinie leise auf- und abschweben sehen, und dabei verschiebt sich sein Standort langsam und kaum merklich von einem Pol zum andern hin. Das Pendeln der Gedanken um die gesuchte ideale Mittellinie zeigt sich anschaulich daran, daß Hiebe immer nach zwei Seiten ausgeteilt werden; gegen einseitig 5,!
) Joachim Wach, Das Verstehen, G r u n d z ü g e einer Geschichte der hermeneutischen T h e o r i e im 19. J a h r h u n d e r t , Bd. III, 92. 57 ) So von K. A. von Müller, 12 Historikerprofile, 38, wo es heißt: „Im Ganzen scheint sein W e g dabei immer s t ä r k e r vom Besonderen ins Allgemeine, vom Partikularen ins Universale, von den Persönlichkeiten zu den G e d a n k e n h i n z u f ü h r e n . " Ähnlich auch die Besprechung der Idee der Staatsräson von H. Oncken, Deutsche Literaturzeitung, H e f t 27, 1926, 1304 ff.
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individualistische Theorien wird das Allgemeine, gegenüber objektivistischen und kollektivistischen Auffassungen das individuelle Prinzip betont. Dabei ist immer das Gesetz polemischer Auseinandersetzung zu berücksichtigen, das den vom Gegner angegriffenen Pol der Grundpolarität immer stärker betonen läßt, als es der eigenen Auffassung eigentlich entspricht. Das zeigt sich wohl nirgends anschaulicher als in den vielen Kontroversen, die gerade um unser Problem ausgefochten, wurden. W i r greifen zwei heraus, welche diesen Sachverhalt besonders klar zum Ausdruck bringen können, weil es sich beide Male um dasselbe geschichtliche Problem handelt. Es geht um die Beurteilung der Persönlichkeit Friedrich Wilhelms IV. Im ersten Aufsatz, der sich damit beschäftigte, wurde das allgemeine Prinzip betont. Meinecke schreibt, daß die Handlungen des preußischen Königs ohne schärfere Einsicht in die ihn bewegende Doktrin nicht zu verstehen seien. Und in allgemeine Betrachtung ausbrechend: „ W a s so oft in der wechselnden Beurteilung historischer Persönlichkeiten geschehen ist, hat sich auch bei Friedrich Wilhelm IV. wiederholt, daß nämlich die Zeitgenossen die i n d i v i d u e l l e n S c h w ä c h e n u n d F e h l e r d e r H a n d e l n d e n für vieles verantwortlich gemacht haben, dem a l l g e m e i n e r e U r s a c h e n , t r e i b e n d e I d e e n d e r Z e i t zugrunde lagen." 5 8 ) Es wird also vom Historiker verlangt, daß er über den pragmatischen Individualismus zeitgenössischer Beurteilung hinausgehe zu einer vermehrten Berücksichtigung der allgemeinen Momente im historischen Urteil. Im zweiten Aufsatz 59 ) wendet er sich gegen die sogenannten „ J u n g r a n k i a n e r " wie Delbrück, Rachfahl und Oncken, die über ihren Meister Lenz unmittelbar an Rankes Geschichtsbetrachtung anschließen. Meinecke kritisiert damit, wenn er nun hier das individuelle Prinzip für die Beurteilung der geschichtlichen Persönlichkeit betont, *») P. u. D., 259; zuerst H. Z. 70, 1893. •9) P. u. D., 209 ff; zuerst H.Z.89, 1902. 86
auch Ranke selbst und dessen Neigung, „die großen Weltverhältnisse und die eigentümlichen Lebensbedingungen, die realen Interessen der einzelnen Mächte" dominieren zu lassen, sodaß dann der einzelne Staatsmann nur wie „der Träger der ohne sein Zutun entstandenen Interessen und Tendenzen" erscheint. Meinecke ist also hier nicht geneigt, sich unbedingt der Auffassung Rankes anzuschließen, wonach man zu einem tieferen Verständnis des Staatslebens nur dadurch gelangen könne, daß man in erster Linie überall jene allgemeinen Mächte erforsche und berücksichtige, wobei dann „die Leidenschaften und Fehler der großen Persönlichkeiten" wie kleine Abirrungen von der großen Linie erscheinen oder auch ganz verschwinden. W i r bemerken, wie fast dieselben Begriffe dazu dienen, das individuelle Prinzip einmal zurückzuschieben und dann wieder zu betonen. Die Konsequenz einer Geschichtsbetrachtung im Sinne der Jungrankianer wird dann dahin zusammengefaßt: „So tritt also das Individuelle zurück vor dem Allgemeinen; das Subjekt wird . . . Ausdruck einer auch außer ihm vorhandenen allgemeinen Tendenz.'" Es ist nun allerdings nicht zu übersehen, daß das allgemeine Moment, welches Meinecke im ersten Aufsatz betont, nicht identisch ist mit demjenigen, welches er im zweiten in seine Schranken zurückweist. Im ersten Fall handelt es sich um eine allgemeine I d e e , im zweiten um allgemeine Z u s a m m e n h ä n g e des Staatslebens. Der nicht unwesentliche Unterschied besteht nun darin, daß, wenn die Idee auch als allgemeine Macht erscheint, sie doch durch die geschichtliche Persönlichkeit wirkt; und es wird nachdrücklich betont, daß die Aufnahme und Verarbeitung einer Idee durch den Einzelnen, „wie wenig eigenes er auch hinzufügen mag, immer ein schöpferischer A k t " ist. 60 ) Die Wirkung der Idee durch die Persönlichkeit wird so f ü r Meinecke, wie schon f ü r R a n k e , der typische Fall einer Koinzidenz des «») P. u. D , 259.
Individuellen und des Allgemeinen, wo Kongenialität von Persönlichkeit und Idee vorhanden sind. Auch J a c o b B u r c k h a r d t sah ja im großen Individuum, weil in ihm allgemeine Tendenzen sich auswirken, das Zusammenfallen der beiden Prinzipien. 61 ) Freilich könnte man auch im zweiten Fall von einer K o i n z i d e n z von Individuum und Allgemeinem sprechen, aber sie hat f ü r Meinecke nicht denselben Charakter. W ä h rend er die Verschmelzung von allgemeiner Idee und individuellem Geist und Willen einen schöpferischen Akt nannte, spricht er in Bezug auf das Allgemeine Rankes und seiner Schüler, das in der Form der objektiven Verhältnisse auftritt, von deren Entstehung ohne Zutun des Individuums, von seinem Hineinwachsen und Gedrängt- und Getriebenwerden, von „fert unda nec regitur." 6 2 ) Der Anteil der individuellen K r a f t ist viel geringer, die Übermacht der allgemeinen Kräfte viel zu groß, und der Staatsmann oder Herrscher kann nur versuchen, „auf dem hohen Meere der Politik angelangt, die jeweiligen Winde und Strömungen f ü r sie zu b e n u t z e n . . . " Gerade deshalb, wegen dieser zu starken Akzentuierung eines allgemeinen Prinzips, kann Meinecke ja diese Auffassung vom staatlichen Geschehen nicht teilen. W i r könnten Meineckes Stellung auch dahin bestimmen, G1
) Zahlreich sind die Gedanken, die sich mit diesem Problem beschäftigen, besonders im Kapitel über „Die historische Größe'' in den. „Weltgeschichtlichen Betrachtungen", dem ja später bezeichnenderweise der philosophischere Titel „Das Individuum und das Allgemeine" gegeben wurde. Besonders aufschlußreich sind die Gedanken Burckhardts dort, wo er über „die großen Männer der sonstigen historischen Weltbewegung" spricht, worunter er nach der Behandlung der geistigen Größen die politischen und militärischen Heroen versteht: „Diese großen Individuen sind die Koinzidenz des Allgemeinen und des Besonderen, des Verharrenden und der Bewegung in einer Persönlichkeit." Zitiert nach der Ausgabe von Werner Kaegi, Bern 1941, 340. «2) P. u. D., 210.
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daß er f ü r das Problem der Polarität von Individuum und •Allgemeinem zwischen R a n k e und T r e i t s c h k e in der M i t t e sich zu halten sucht, dabei sich aber immer deutlicher von Treitschke weg zu Ranke hin entwickelt. (Überflüssig zu betonen, daß die beiden Historiker hier nur mit ihrer rein geschichtstheoretischen Auffassung der beiden P r i n zipien zum Vergleich herangezogen werden.) W o h l bekannte sich auch Treitschke zu Rankes wissenschaftlicher Grundanschauung, „die alles historische W e r d e n aus dem Zusammenwirken der allgemeinen Weltverhältnisse und der freien persönlichen K r ä f t e erklärte." 6 3 ) Bei Ranke aber, so schreibt Meinecke hiezu, lag der T o n dabei auf den allgemeinen Weltverhältnissen, bei Treitschke auf den freien persönlichen K r ä f t e n . Die „allgemeine Bewegung", d. h. die überindividuellen Tendenzen und Ideen, fehlten zwar auch bei Treitschke nicht. Aber „nicht der Anblick des fert unda nec regitur ergreift uns, sondern der Anblick den in den W e l l e n kämpfenden Schwimmer." 0 4 ) Die G r u n d polarität geschichtlicher Bewegung ist also in jeder Geschichtsauffassung vorhanden, individuell ausgeprägt indessen ist die Bestimmung ihres Spannungsverhältnisses. Ranke betonte das eine, Treitschke das andere Prinzip, Meinecke sowohl das eine wie das andere oder einmal das eine und einmal das andere — je nach dem „ G e g n e r " , den er dabei im Auge hat. E r versucht nichts Geringeres als eine S y n t h e s e von Individualismus und subjektivem Idealismus im Sinne Treitschkes und des geistig-ideellen „ K o l lektivismus" und objektiven Idealismus im Sinne Rankes. Dahin können seine Bemühungen um das Problem des Verhältnisses von Individuum und Allgemeinem, besonders f ü r die bis anhin ausschließlich betrachtete erste Phase seines geschichtlichen Denkens, zusammengefaßt werden. Am eindrücklichsten kommt solches Bemühen zum Durchbruch in der Beurteilung g e s c h i c h t l i c h e r PersonM
) Deutsche Geschichte IV, 466. ) I. d. S., 498/499.
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l i c h k e i t e n , weil es hier immer darum geht, individuelle und allgemeine Kräfte in der Resultante ihres Werkes und ihrer Wirkung abzuwägen und zu beurteilen. Daß mit solcher Scheidung individueller und allgemeiner Kraftmomente niemals ein mechanisch zu verstehendes Schema gemeint sein kann, haben wir aus Meineckes Feder selbst schon erfahren. Da die Art und Weise der Beurteilung geschichtlicher Persönlichkeiten, d. h. geschichtstheoretisch gesprochen die Bestimmung des Spannungsverhältnisses in der Koinzidenz von Individuum und Allgemeinem, für die Geschichtsbetrachtung eines Historikers äußerst wichtig, ja schlechthin entscheidend ist, seien hier noch einmal besonders typische Beispiele aus Meineckes Geschichtschreibung angeführt. So heißt es einmal über N a p o l e o n , der den preußischen Staatsmännern der Reformzeit „schlechthin nur als eine einheitliche, ihren eigenen inneren Machttrieben folgende Naturgewalt" vorkam, daß er nicht nur dies gewesen sei, „sondern zugleich auch gebunden und bedingt durch die U m w e l t v e r h ä l t n i s s e und die K o m b i n a t i o n e n s e i n e r e i g e n e n p o l i t i s c h e n Z w e c k e , durch den W a n d e l d e r B e g e b e n h e i t e n . . . - ' 6 5 ) Offenbares aber undurchdringliches Ineinander und Gegeneinander von individueller Kraftentfaltung und allgemeinen Verhältnissen auch hier. Die Betonung des Momentes des Allgemeinen gegenüber dem Heros der Weltgeschichte ist unverkennbar. Ebenso aufschlußreich ist die Beurteilung einer anderen eminenten Persönlichkeit der neuesten Geschichte: B i s m a r c k s . Er ist nicht politischer Halbgott, der eine schöpferische Idee, aller Welt nicht achtend und allen Hinder nissen trotzend, in die Realität umsetzt. Sein Werk ist trotz aller schöpferischen Genialität, die Meinecke natürlich ebenfalls betont, auch zeitgebunden, nicht nur Produkt individueller Tat, sondern auch der allgemeinen Zeitverhält^ Das Zeitalter der deutschen Erhebung 1 7 9 5 — 1 8 1 5 . in M o n o graphien zur W e l t g e s c h i c h t e X X V . Bielefeld und Leipzig 1906, 11S.
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nisse. Überpersönliche Lebenseinheiten treten Bismarck von A n f a n g an entgegen wie jedem anderen Menschen, und sie bestimmen weitgehend seine Persönlichkeit, sein Wesen, sein Denken und H a n d e l n : so „das s o z i a l e M i l i e u [ ! ] des preußischen Adels, das monarchisch-preußische Staatswesen und die deutsche N a t i o n . " 6 6 ) So kommt es nicht von ungefähr, daß Meinecke den jungen vorpolitischen Bismarck und nicht den gereiften hochpolitischen Kanzler vor allem zum Gegenstand seiner Forschungen macht: wer den späteren Bismarck, die vollendete geschichtliche Persönlichkeit verstehen will, der muß sich in jene Phasen seiner Entwicklung versenken, wo er zur Persönlichkeit geformt wurde in Wechselwirkung mit all den überindividuellen Lebenskreisen, die ihn umgaben, wie das preußische Junkertum und der christlich-germanische Kreis. Noch .deutlicher wird das Relief seiner Bismarckbeurteilung, wenn wir eine scheinbar nur kleine und ganz versteckte Kontroverse näher analysieren, die über dieses Problem zwischen Meinecke und E r i c h M a r e k s entstanden ist. Es geht äußerlich nur um die Einzelfrage der religiösen Einstellung Bismarcks in seiner Jugend. W ä h r e n d Mareks daran zweifelt, ob andere menschliche und zeitliche Umgebung Bismarck zu anderen Ergebnissen g e f ü h r t hätte, weil er in ihm zeitlose Gewalten wirken sieht, schreibt Meinecke, die A n t w o r t auf die ewige Frage nach Sinn und W e r t der W e l t und des Lebens sei „immer zeitgeschichtlich und singulär bestimmt und ergibt sich aus der Wechselwirkung zwischen individueller Persönlichkeit und individueller Umwelt." 6 7 ) D a ß es aber f ü r Meinecke nicht nur um eine Einzelfrage hier geht, zeigt schon der Passus, wo er, in allgemeine Betrachtung ausbrechend (was wie bei Ranke immer ein Zeichen grundsätzlicher und theoretischer Bedeutung eines praktischen Problems ist), schreibt: wohl seien K r a f t n a t u r e n denkbar, „die fast ohne jede innerliche Relation zu ihrer Z e i t durch sie hindurchstürmen und W. u. N., 315. ) O d e r noch deutlicher und zugleich typischer f ü r Meineckes Denken: „ D i e Selbstbeobachtung lehrt uns, daß das eherne Kausalgesetz, in dessen Bande wir das geschichtliche Leben ausnahmslos geschlagen sehen, seine eigentliche und letzte W u r z e l doch nur hat jn den T i e f e n des menschlichen Geistes, daß aus diesen selben T i e f e n aber auch noch andere, ebenso zwangsläufige Bedürfnisse hervorgehen, die es nicht erlauben, die geschichtliche W e l t lediglich als einen Ausschnitt aus dem allgemeinen Kausalzusammenhang der N a t u r zu betrachten. Der menschliche Geist schafft und muß schaffen aus spontanem Drange und ursprünglicher Anlage eine W e l t der geistigen und sittlichen-Werte, deren Schicksale i m L e b e n wohl dem Kaus) P. u. D.. 24 & 30. ») a. a. O., 365. 239
salgesetze und dem W a n d e l der Dinge unterworfen sind, deren D a s e i n a n s i c h aber eine dem N a t u r - und Kausalzusammenhang überlegene Sphäre im Menschen beweist." 1 0 ) M i t aller Klarheit ist hier der neukantianische Gedanke ausgesprochen: das geschichtliche Leben ist ein Kausalzusammenhang. Meinecke spricht sogar von e h e r n e m K a u salzusammenhang und von Kausaig e s e t z! Er betont aber auch, daß dieses Kausalgesetz nur ein Gesetz des Denkens sei. Das ist kantisch. Noch deutlicher indessen wird der kantische Gedanke im zweiten Zitat. Kants Unterscheidung von „Erscheinung" und „ D i n g an sich" leuchtet durch; n u r daß Meinecke „im L e b e n " und „Dasein an sich" sagt. Schon dieser letzte Satz, wo der Anschluß an den kantischen Gedanken bis in die begriffliche Formulierung hinein vollzogen scheint, weist aber zugleich deutlich über diesen hinaus, wenn man ihn tiefer untersucht. K a n t hatte den Widerspruch, daß der Mensch einerseits Objekt der Erscheinungswelt, also abhängig und determiniert, anderseits sich selbst bestimmendes sittliches Subjekt sei, also frei und verantwortlich sein müsse, dadurch über wunden, daß er durch1 seine Lehre von der transzendentalen Idealität der Zeit seinen Glauben an die Freiheit theoretisch fundierte. Die Betrachtung des Menschen und seiner H a n d lungen ist daher von zwei verschiedenen Standpunkten aus möglich: Der theoretische, erkennende Geist sieht sie als E r s c h e i n u n g e n und daher dem Gesetze der Kausalität unterworfen. Dies ist der Standpunkt der objektiven exakten Wissenschaft, wo die Kausalität als apriorische Kategorie des Verstandes Denknotwendigkeit ist. Neben diesem theoretisch-kontemplativen gibt es aber den ethisch-praktischen Standpunkt. Der Standpunkt der ethisch-praktischen Betrachtung weist in die intellegible W e l t der Freiheit und sieht den Menschen als D i n g a n s i c h , seine Handlungen durch den autonomen Willen bestimmt. D e r reine Wille aber ist immer frei, nur durch den selbstgesetzten Zweck be,0
) S. u. P., 6.
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stimmt. Das Handeln ist als Erscheinung naturgesetzlich bestimmt, als Vernunftwesen, als Ding an sich, ist der Mensch frei. Für Kant sind Erfahrungsobjekte nur die Erscheinungen, die Dinge der Sinnenweit; darüber hinaus hat die Naturkausalität keine Geltung. Dank der strengen l o g i s c h e n Scheidung der beiden qualitativ verschiedenen Sphären entsteht kein Widerspruch. „Ist Naturnotwendigkeit bloß auf Erscheinungen bezogen und Freiheit bloß auf Dinge an sich selbst, so entsteht kein Widerspruch, wenn man gleich beide Arten von Kausalität annimmt oder zugibt." 11 ) Auf das Problem, der Wissenschaft angewandt bedeutet das: Die unmittelbare Gewißheit des Erlebnisses der freien T a t wird nicht widerlegt oder beeinträchtigt durch deren objektive und theoretische Erfassung und Einordnung in der Wissenschaft. Eine solche widerspruchslose Verbindung eines empirischpsychologischen Determinismus mit einem ethisch-metaphysischen Indeterminismus ist f ü r Meinecke, so deuteten wir bereits an, nicht mehr möglich. Man untersuche nur einmal die zitierten Sätze Meineckes nicht auf ihre allfälligen begrifflichen Übereinstimmungen mit dem kantischen Gedanken hin, sondern man versuche, die eigentliche innere Haltung aus Meineckes Worten herauszufühlen — und man wird seine wahre Einstellung bald erkennen. Es ist nicht das ruhige Anerkennen eines durch den logischen Geist erwiesenen Sachverhaltes, was hier zum Ausdruck kommt, sondern die Auflehnung gegen die Feststellung eines offenbar unlösbaren Widerspruches in unserem D e n k e n — und in unserem L e b e n . Es ist nicht der rein auf Erkenntnis gerichtete logische Geist, der hier ispricht, sondern es schwingt 'mehr mit. In diesem „ M e h r " aberliegt das entscheidende Problem. W a s hier durchbricht, ist der irrationalistisch-lebensphilosophische Gedanke. Überall treffen wir auf dasselbe Problem in Meineckes geschichtstheoretischen Gedanken. Er beruhigt t.ich nicht bei der Auffassung eines mehr oder weniger rationa11
) Kant, Prolegomena 128.
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listischen und erkenntnistheoretischen Dualismus; „die Ergebnisse des reinen Logizismus" bringen keine Lösungen f ü r das hier aufgeworfene Grundproblem. Meinecke sieht keine Lösung in dem kantischen Gedanken, der ja auch bei ihm durchleuchtet, daß die Kategorie der Kausalität unter der Idee der Freiheit letztlich! zu betrachten sei, daß diese jener voraufgehe, nicht nur im menschlichen Bewußtsein, sondern auch logisch. Für die logische Scheidung einer Sphäre des Erkennens unter dem Gesetz der Kausalität und einer Sphäre des Erlebens unter der Idee der Freiheit besteht für Meinecke die notwendige Voraussetzung nicht mehr: die scharfe Scheidung von theoretisch-erkennendem und praktisch-sittlichem Geiste, d. h. nichts anderes als die logische Scheidung von Wissenschaft und Leben oder — in der Formel ausgedrückt, die uns am vertrautesten ist — von Methode und Weltanschauung. Der l e b e n s p h i l o s o p h i s c h e G e d a n k e , der hier bei Meinecke sich auswirkt, bedeutet die dem neukantianischen Gedanken entgegenwirkende Tendenz. W a s bedeutet der lebensphilosophische Gedanke für eine Theorie und Logik der Geschichte und insbesondere für das von uns .hier untersuchte Problem der Kausalität? Wenn Kant und damit die Geschichtslogik Rickerts' auf einer scharfen logischen Scheidung der Sphären von Erkennen und Leben aufbauen, so geht die irrationalistische Lebensphilosophie auf eine (logische) Wiedervereinigung der beiden Bereiche. Die Idee der Lebensphilosophie „kämpft gegen die Kantische Scheidung von theoretischer und praktischer Vernunft, von Logos und Ethos an"; so hat ein Schüler Diltheys den Zentralgedanken der Lebensphilosophie umschrieben. 12 ) Betrachten wir nun die aufgeworfenen Probleme gerade am Beispiel D i l t h e y s . Der entscheidende Schritt der L e b e n s p h i l o s o p h i e D i l t h e y s gegenüber der Transzendentalphilosophie Kants 12
) Georg Misch, Die Idee der Lebensphilosophie in der Theorie der Geisteswissenschaften, 541.
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und damit auch der entscheidende Schritt von dieser weg ist die Ausweitung des Erkenntnissubjektes von der bloßen Vernunft auf das ganze Leben. An die Stelle des theoretischen Geistes tritt auch in der Haltung der Wissenschaft gegenüber „der ganze Mensch". Der Wissenschaftsbegriff Kants; wird als intellektualistisch verdünnt bezeichnet und das Leben als Ganzes, in seiner ganzen schöpferischen Leistung, zum Gegenstand der Philosophie und der Wissenschaft erhoben. Das Leben ist damit in der Philosophie des Lebens in doppelter Weise enthalten, sowohl als Erkenntnissubjekt wie als Objekt der Erkenntnis. „Neben die Erkenntnistheorie der Naturwissenschaften, wie sie Kant im Hinblick auf die klassische Mechanik Newtons ausgebildet hat, tritt die Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaft mit Bezug auf das Werk der historischen Schule." 13 ) An die Seite der „Kritik der reinen Vernunft" tritt die „Kritik der h i s t o r i s c h e n Vernunft". Dem naturwissenschaftlich-rationalen Erkennen tritt das geisteswissenschaftlich-irrationale Verstehen gegenüber. Grundprinzipien dieser lebensphilosophischen Theorie des Verstehens sind die Worte Diltheys: „Nur was der Geist ¡geschaffen hat, versteht er" und „Das Verstehen setzt ein Erleben voraus." 14 ) Erlebbarkeit und Verstehbarkeit sind also die entscheidenden Prinzipien geisteswissenschaftlichen Erkennens. Für das Problem des g e s c h i c h t l i c h e n E r k e n n e n s bedeutet das: die Kategorien, welche aus den Bedürfnissen der exakten Naturwissenschaften hervorgegangen sind, haben für das geschichtliche Erkennen keine Geltung, wie anderseits das geisteswissenschaftliche Verstehen nicht auf die Natur angewandt werden kann. Die Kausalität ist also keine Kategorie geschichtlichen Denkens und Erkennens. Die Geschichte ist somit kein Kausalzusammenhang, sondern ein W i r k u n g s z u s a m m e n h a n g . An die Stelle der ¡mechanischen Kausalität tritt hier das s c h ö p f e r i s c h e L e >3) Misch, a . a . O . , 542. '") Dilthey, Der A u f b a u der geschichtlichen Welt, 148 ft 143.
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b e n . Wenn der Kausalzusammenhang der Natur bestimmt ist durch das Prinzip von Ursache und Wirkung, so geht es im geschichtlichen Wirktagszusammenhang um „Erwirktwerden durch Wirkendes". „Dieser Wirkungszusammenhang unterscheidet sich von dem Kausalzusammenhang der Natur dadurch, daß er nach der Struktur des Seelenlebens Werte erzeugt und Zwecke realisiert. Und zwar nicht gelegentlich, nicht hier und da, sondern es ist eben die Struktur des Geistes, in seinem Wirkungszusammenhang auf der Grundlage des Auffassens Werte zu erzeugen und Zwecke zu realisieren." 1 5 ) D a es in der Idee der Lebensphilosophie liegt, daß die Kategorien des Verstehens zugleich Formen des Lebens selbst sind — da j a das Verstehen Erleben voraussetzt alle Grundkategorien Meineckes, einen unmittelbaren E r l e b n i s g e h a l t erhält und damit einen unverkennbaren w e l t a n s c h a u l i c h e n Akzent. Und hier greift nun der dualistische Umschlag von Meineckes geschichtlichem Denken ein, bzw. die Tatsache eines Einbruches von Positivismus und Naturalismus in seine idealistische Geschichtstheorie und Weltanschauung. Solcher Einbruch n a t u r a l i s t i s c h e r G e d a n k e n verstärkt noch die Tendenz, die Kausalität als objektives Gestaltungsprinzip der Wirklichkeit zu bestimmen. Meinecke empfindet die Kausalität auf dieser Ebene dadurch aber auch immer stärker als Fremdkörper, als Eindringling aus einer anderen Weltanschauung. Das wird klar bewiesen durch die vielen Gleichsetzungen von Kausalforschung und Positivismus oder von Kausalzusammenhang und N a t u r z u s a m m e n h a n g . Instinktiv überkommt Meinecke hier immer wieder das Gefühl, daß der Begriff der Kausalität mit seinem idealistischen und irrationalistischen Historismus unvereinbar ist. Daß er gleichwohl Kon Zessionen an jene Weltanschauung und damit auch an die Kategorie der Kausalität zu machen gewillt ist — weil die rein idealistischen Erkenntnismittel die wahre Wirklichkeit nicht mehr zu erfassen vermögen! —, diese durch seinen ,Erkenntniswillen aufgezwungene Überwindung oder doch Zurückdrängung seiner Ideale bringt dann das Unruhige, das Aufgewühlte und Zerrissene, schließlich Pessimistische und Tragische in seine Geschichts- und Weltanschauung. Der Umschlag zum D u a l i s m u s und der damit verbundene Einbruch des N a t u r a l i s m u s bringen es mit sich, daß das geschichtliche Leben in einen Naturzusammenhang und in eine Sphäre des Geistes auseinanderbricht — einen Vorgang, den wir schon zur Genüge kennengelernt haben. Wesentlich für das Problem der Kausalität ist es, daß «mit dem 248
verstärkten E i n f l u ß des Naturzusammenhanges auf die Geschichte weite Bereiche des geschichtlichen Lebens dem W i r kungsprinzip der Kausalität, einer naturalistisch gedeuteten Kausalität nun, unterworfen erscheinen. W i r haben hier die drei Grundtendenzen, die auf Meineckes Theorie des geschichtlichen Erkennens E i n f l u ß nehmen, herauszuarbeiten und herauszukristallisieren versucht. Es ist wirklich ein Herauspräparieren, was. wir unternommen haben, ein Bloßlegen von Nervensträngen ein und desselben Körpers. Tatsächlich sind die drei Gedanken im Denken unseres Historikers andauernd mehr oder weniger vermischt, bald dominiert der eine, bald der andere, j e nach der weltanschau lichen Verfassung und dem geschichtlichen Befund, die den erkenntnistheoretischen Gedanken zugrunde liegen. Su erhält der Kausalitätsbegriff einen merkwürdig schillernden Charakter, und es ist oft schlechthin unmöglich, zu bestim men, ob in dieser oder jener Aussage mehr der Aspekt der Denknotwendigkeit und der reinen F o r m oder die Auffassung als energetisches Prinzip vorherrsche. Daher rührt es auch, daß es Meinecke kaum gelingt, irgendwo von einem (geschichtlichen) Kausalzusammenhang als reinen Denkzusammenhang zu sprechen. Alle Kausalzusammenhänge, die er zur Erklärung geschichtlicher Verläufe konstruiert, weisen sogleich auch über ihren Charakter als Denkzusammenhänge hinaus, wie wir das an den Beispielen der Erklärungsver suche von Niederlage und Revolution bereits anschaulich de monstrieren konnten. Die Ursachenreihen und Kausalketten, die Meinecke zur Erklärung jener Ereignisse anschaulich vor uns erstehen läßt, sie sind keine reinen Denkzusammenhänge, keine bloße Befriedigung eines wissenschaftlich-rei nen Kausalbedürfnisses; sie sind ganz im Gegenteil eine höchst weltanschauliche Angelegenheit! W e n n der Kausalitätsbegriff hier „reine F o r m " wäre, dann könnten die Kau • salketten und -reihen gar keinen negativen Akzent erhalten. Ihre unverkennbare ethische W e r t u n g , die Tatsache, daß sie dem Prinzip der Freiheit in der Geschichte unmittelbar ge 249
genübertreten — all das ist n u r möglich, weil die Kausalität hier nicht reine Form, sondern weltanschaulich bedingte und bestimmte Kategorie ist. N u r wenn die Kategorie der Kausalität w e l t a n s c h a u l i c h bestimmt ist, kann der geschichtliche Kausalzusammenhang zur „bitteren Erkenntnis" werden, wie es in einem ider von uns zitierten Sätze hieß. N u r dann hat der Ausdruck vom „ e n t g ö t t e r t e n Kausalzusammenhang" 20 ) einen Sinn, wenn die Kausalität der Gegenpol eines „göttlichen" Prinzips ist, das einen höheren Z u sammenhang zu konstituieren vermag. W e n n die Kausalität als Begriff bei Meinecke äußerst schwer bestimmbar erscheint, so vereinfacht sich unser Problem doch nicht unbeträchtlich, wenn wir nun wieder den ganzen Aspekt des Verhältnisses von Kausalitäten und W e r ten ins Auge fassen. Die Dualität von Kausalitäten und Werten erscheint nämlich unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten in Meineckes Denken, die wir nach den vorläufigen Darlegungen über den Kausalitätsbegriff nun ohne weiteres verstehen können und einzuordnen vermögen. Die Dualität von W e r t und Kausalität geht einerseits zurück auf den erkenntnistheoretischen Dualismus Kants und der neukantianischen Geschichtslogik, anderseits auf den weltanschaulichen Dualismus der idealistischen Geschichtsanschauung. Während es im ersten Fall prinzipiell um einen Dualismus der B e t r a c h t u n g der Geschichte geht, handelt es sich im zweiten Fall um einen Dualismus des geschichtlichen L e b e n s s e l b s t . Wenn die Dualität von Kausalität und W e r t e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h gefaßt ist, dann geht es einfach um zwei Betrachtungsweisen der geschichtlichen W e l t : die geschichtlichen Dinge erscheinen einerseits als Glieder in einem Kausalzusammenhang, anderseits als „Werte an sich". Dieselbe geschichtliche Erscheinung kann einmal ein Stück in 20 ) K. welches möchte. hänge.
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u. W., 10. Man vergleiche dazu S p e n g l e r s Wort, die Kausalität als „entorganisiertes Schicksal" verstehen Diese Parallele öffnet den Blick auf weite ZusammenWir werden noch darauf zurückkommen,.
dem kausalen Ablauf der Geschichte sein, dann ein Selbstund Eigenwert in der Wertbetrachtung. Das Verhältnis des Historikers zur Vergangenheit kann also „kausal" oder „werth a f t " bestimmt sein, er kann Geschichte erforschen, um seinem Kausalbedürfnis zu frönen oder um seinem Bedürfnis nach Werten zu genügen. Meistens wird es so sein, ¡daß „das theoretische Bedürfnis nach kausaler Erkenntnis und das Bedürfnis nach Lebenswerten... eng, ja untrennbar miteinander verwachsen sind im historischen Interesse." Das praktische Bedürfnis nach Lebens- und Kulturwerten ist es, „was im Grunde wohl von jeher, besonders stark aber in der modernen Zeit, neben und hinter dem rein auf Kausalitäten gerichteten Erkenntnisdrange uns zur Geschichte treibt." 21 ) Dieser erkenntnistheoretisch bestimmte Dualismus von Werten und Kausalitäten, d. h. von Wertbetrachtung und Kausalbetrachtung, ist nun bei Meinecke, gemäß seiner Bestimmung und Auffassung der Kausalität, selten rein vorhanden. Fast immer spielen auch in diesen Dualismus der Betrachtungsweisen weltanschauliche Momente hinein. Immerhin ist, besonders in der dritten Phase seines Denkens, die Tendenz unverkennbar, diesen Dualismus der geschichtlichen Betrachtungsweisen gegenüber dem weltanschaulich bestimmten Gegensatz von Kausalität und W e r t wiederum mehr zu betonen. Zunächst beherrscht aber deutlich die weltanschaulich bestimmte Polarität von Kausalität und Wert das Feld, und von ihr soll deshalb zuerst ausführlicher die Rede sein. In der durch den w e l t a n s c h a u l i c h e n Dualismus bestimmten Polarität von W e r t und Kausalität geht es nicht um zwei Betrachtungsweisen, vielmehr sind die beiden Kategorien Repräsentanten der dualistisch gespaltenen Erlebniswirklichkeit. Der weltanschauliche Dualismus von Kau salitäten und Werten entspricht der in eine Sphäre der Natur und in eine Sphäre des Geistes zerspaltenen und zerrissenen geschichtlichen Wirklichkeit. Der Historiker e r 2i) K. u. W., 6. 251
l e b t hier wirklich die beiden Sphären der Polarität. Der Kausalzusammenhang ist hier nicht eine bloße kausale Verk n ü p f u n g der Dinge; er bezeichnet einen ganz bestimmten Bereich des geschichtlichen L e b e n s , nicht nur einen bestimmten Aspekt des geschichtlichen E r k e n n e n s . W e n n im erkenntnistheoretisch bestimmten Dualismus der Betrachtungsweisen der Gegensatz von Kausalität und W e r t erzeugt wird durch die A u f t e i l u n g der W e l t in Erscheinungen u n d Dinge an sich, so entsteht die weltanschaulich bestimmte Polarität von W e r t und Kausalität durch den Gegensatz der metaphysischen Urprinzipien von Geist u n d N a t u r . W e n n es im ersten Fall um den Gegensatz von E t h o s u n d L o g o s ging, um das Nebeneinander ( f ü r die Kantianer) und Gegeneinander ( f ü r die Lebensphilosophen) von praktisch-sittlichem und theoretisch-kontemplativem Geiste, so geht es in der weltanschaulich bestimmten Polarität um den Gegensatz von „ E t h o s u n d K r a t o s " (wie Meinecke sagt), von geistig-sittlicher Spontaneität und natur hafter Kausalität. Spontaneität und Freiheit bestimmen die Sphäre des Geistes, Kausalität und Notwendigkeit den Bereich des Natürlich-Triebhaften. U n t e r solchem weltanschaulichen Aspekt erscheint der Kausalzusammenhang als Naturzusammenhang, der Wertzusammenhang aber als geistig-sittliche Erlebniswirklichkeit. Der weltanschauliche Dualismus, d. h. also das Zerfallen des geschichtlichen Lebens in einen natürlich-triebhaften und einen geistig-sittlichen Bereich, bringt notwendig auch einen gewissen Dualismus der Erkenntnismittel. Der n a türlich-triebhafte Untergrund des geschieht liehen Lebens, die biologischen und mechanischen Kausalzusammenhänge, wie Meinecke oft sagt, können mit Kategorien e r f a ß t werden, die dem Naturerkennen verwandt oder ihm entnommen sind. Die Kategorie der Kausalität wäre also hier wieder in ihrem Element — auch von der lebensphilosophischen Position aus gesehen; denn die irrationale Theorie des Verstehens will ja nur das seelisch-geistige 252
Leben erfassen. So zeigt sich wiederum die lebensphilosophische Xenidenz Meineckes, wenn er den Begriff der Kausalität aus diesem Bereich des dualistisch zerspaltenen geschichtlichen Lebens und seinem Verstehen zu verbannen sucht. I m naturhaft bedingten Untergrund herrscht Kausalität, im g e i s t i g - s i t t l i c h e n Ü b e r b a u Spontaneität — damit sind auch die Erkenntnismittel gegeben, mit welchen die beiden Sphären erfaßt werden müssen. Zugleich zeigt sich aber auch der Einfluß des naturalistischen Gedankens: dadurch daß die Geschichte überhaupt einen solchen naturhaft bestimmten Untergrund erhält! Diesen Vorgang müssen wir doch noch etwas näher betrachten. W i r kennen bereits die Erlebnisse, die in Meineckes Denken über Geschichte und Welt jene entscheidende Wandlung zum Dualismus hin hervorgerufen haben. W i r erkannten ebenfalls schon, daß das Problem der Kausalität in dieser weltanschaulichen Wandlung eine entscheidende Rolle spielte; kann doch das Wesen der Wandlung dahin bestimmt werden, daß der Akzent des geschichtlichen und weltanschaulichen Denkens vom Pole der Finalität auf den Pol der Kausalität sich verlagerte, was gleichbedeutend ist mit einem Rückzug der „Idee" aus der „Wirklichkeit". Das ist höchst bedeutsam und für das dualistisch gewordene Denken Meineckes und darüber hinaus für den idealistischen Dualismus überhaupt sehr typisch: die „Wirklichkeit" nähert sich dem Pole der Natur, und sie wird dadurch in hohem Maße zur n a t u r h a f t e n „Wirklichkeit"; ihr dominierendes Erklärungsprinzip wird die Kausalität, und sie wird daher leicht zum Kausalzusammenhang. „Wirklichkeit", „ N a t u r " und „Kausalität" geraten so in einen inneren Zusammenhang und füllen den einen Bereich der dualistisch gespaltenen Welt und Geschichte aus. Die „Idee" zieht sich in die andere Sphäre zurück, wo „Geist", ^Freiheit" und „Spontaneität" herrschen — wie und ob sie überhaupt herrschen in dieser Sphäre, wird gleich noch zu zeigen sein. 253
Entscheidend f ü r unsere Problemstellung ist jedenfalls, daß die vermehrte Berücksichtigung der Kausalitäten, wie sie Meinecke nach der beschriebenen Wandlung forderte, keineswegs aus einer methodologischen Überlegung sich herleitet, sondern aus der w e l t a n s c h a u l i c h e n Rev i s i o n seiner idealistischen Anschauung. Den neuen Raum, den die Kausalitäten in seiner Geschichtsbetrachtung nun einnehmen, muß sich Meinecke daher auf Kosten der idealistischen Position beschaffen. Es ist typisch f ü r seine idealistische Haltung in der ersten Phase (und wir tun hier einen tiefen Blick in das Wesen der idealistisch bestimmten deutschen Geschichtsbetrachtung überhaupt), daß die Konzessionen an den „naturalistischen Empirismus" zugleich Konzessionen an die „ W i r k l i c h k e i t " sind! Das zeigt uns so recht die Entfremdung der idealistischen Geschichtschreibung von der tatsächlichen Wirklichkeit, und es zeigt sich uns zugleich die äußerst weitgehende weltanschauliche Bedingtheit und Gebundenheit der geschichtlichen Denkweisen. W a s früher stillschweigende und f ü r den Historiker nicht weiter zu berücksichtigende Voraussetzung idealistischer Geschichtskonzeption war, das wird jetzt ausdrücklich in der geschichtlichen Theorie und Darstellung gewürdigt : die n a t ü r l i c h - k a u s a l e und biologischt r i e b h a f t e Seite des Lebens. Sie erhält eine stark hervortretende Bedeutung f ü r die geschichtliche Betrachtung als notwendige Voraussetzung und tragender Untergrund aller höheren geistig-vernünftigen und kulturell-werthaften Entwicklung. Der Begriff der Geschichte, des geschichtlichen Lebens, der in der rein idealistischen Phase im wesentlichen auf die zweite Sphäre eingeschränkt war, erfährt eine starke Ausdehnung und umfaßt nun auch den ersten Zusammenhang. Diese dualistische Gespaltenheit der Welt und der geschichtlichen Welt darf nicht etwa die Vorstellung erwecken, als ob die beiden Sphären in s t a t i s c h e r R u h e nebeneinander liegen. „Die Aufgabe des Historikers wäre 254
leicht, wenn er sich mit jener schlichten dualistischen A u f fassung des Verhältnisses von N a t u r u n d Geist begnügen könnte, wie sie der christlichen u n d moralischen Tradition früherer Jahrhunderte entspricht. D a n n hätte er nichts weiter zu tun, als den K a m p f zwischen Licht und Finsternis, Sünde u n d Gnade, V e r n u n f t und Sinnenwelt als ein Kriegsberichterstatter, der seinen Standpunkt selbstverständlich im L a g e r der V e r n u n f t nimmt und Freund und Feind genau voneinander unterscheiden kann, darzustellen." Solchen Standpunkt nehme alle moralisierende u n d Tendenzhistorie ein, n u r daß die Tendenzen und Ansichten über das, was Licht u n d V e r n u n f t sei, dabei wechseln. „ A b e r die wissenschaftliche Historie ist über den groben Dualismus hinausgewachsen — nicht etwa über den Dualismus überhaupt, denn die Polarität von N a t u r und Geist drängt sich unabweisbar wieder auf. Gleichzeitig drängt sich ihr aber auch die unheimliche, tief erregende und o f t erschütternde E r f a h r u n g auf, daß N a t u r u n d Geist eben nicht so leicht voneinander zu unterscheiden sind, wie Freund und Feind im Kriege, sondern o f t ineinander gewachsen sind. Eben jene im Zwielicht liegenden Zwischenzonen zwischen Ele mentarem und Ideellem sind es, die das tiefe Nachdenken des Historikers erregen u n d ihn andauernd vor die Frage stellen müssen, ob er sein Weltbild dualistisch oder monistisch zu gestalten hat. Jedenfalls aber ist es seine A u f gabe, alle sichtbaren F ä d e n und Übergänge zwischen Elementarem und Ideellem zu erfassen." 2 2 ) D a s ist das Entscheidende an der dualistischen Auffassung Meineckes — u n d deshalb nennt er sie auch einen o r g a n i s c h e n Dualismus —, daß die beiden Sphären nicht in statischem Nebeneinander verharren, sondern immer in d y n a m i s c h e m , j a d ä m o n i s c h e m Ineinander und Gegeneinander begriffen sind. D a s W e s e n des Verhältnisses zwischen den 'beiden Bereichen des Lebens ist also der K a m p f . Diese Erkenntnis ist auch entscheidend f ü r ein 22
) I. d. S., 10/11. 255
Verständnis der Polarität von W e r t und Kausalität, die ja in ihrem weltanschaulich bestimmten Verhältnis unmittelbar auf die Urpolarität von Geist und Natur zurückgeht. Betrachten wir daher etwas eingehender das Wesen und das gegenseitige Verhältnis der b e i d e n m e t a p h y s i s c h e n Urprinzipien. Eine zwar einheitliche, aber zugleich doppelpolige Welt ist die Welt des dualistischen Idealismus Meineckes. Andauernd muß das geschichtliche Leben zwischen den beiden Polen G e i s t u n d N a t u r einher aber auch hin und her fließen. An allem geschichtlichen Leben haben immer beide Pole ihren Anteil, und so „zeigen sämtliche Gebilde menschlichen Schaffens die Doppelpoligkeit von Natur und Geist, und das, was in ihnen als «Kultur» bezeichnet wird, steht eigentlich in jedem Augenblicke in Gefahr zurückzusinken in das Naturhafte, in das «Reich der Sünde»." 23 ) Oder .der Begriff des h i s t o r i s c h e n L e b e n s wird auch definiert als „das Ineinander von Natur und Kultur; je intensiver dieses ist, je heißer dabei der befruchtende Kampf zwischen beiden, um so mehr historisches Leben ist da."-' 4 ) Kampf zwischen Geist und Natur, heißes Ringen zwischen Kultur und Natur, der ewig unentschiedene und immer neu begonnene fruchtbare, aber auch furchtbare Kampf — das ist das Bild des geschichtlichen Lebens, das Meinecke durch sein Lebensschicksal und seine Studien zur Geschichte der Staatsräson aufgezwungen worden ist. Und was dann das Gebiet von Macht und Politik im besonderen betrifft, so ist es eben gerade diese Sphäre menschlich-geschichtlicher Betätigung, wo Natur und Geist, Kratos und Ethos andauernd ineinander überfließen, bis zur Unentwirrbarkeit ineinander verschlungen sind. An diesem Problem einer kausal untrennbaren Verknüpfung und doch wesenhaften Verschiedenheit der sich widerstreitenden Urprinzipien kann der bohrende und zerglie23
) a.a.O., 14. 2*) K. u. W., 25. 256
dernde Erkenntnisdrang Meineckes sich kaum genug tun. Immer wieder, von den verschiedensten Seiten und den unscheinbarsten Problemen her, stößt er auf das „ d u n k l e G e h e i m n i s des Lebens", auf „das R ä t s e l , das der Historiker nicht lösen kann." Immer wieder fesselt und erschüttert ihn zugleich der Aspekt des dynamischen Kampfes; er läßt sich erheben durch den Anblick eines Sieges des geistig-sittlichen Prinzips über die triebhaft-natürlichen Kräfte, er läßt sich erschüttern und in eine tragisch-pessimistische Stimmung versetzen durch das Schauspiel eines heroischen Unterganges der Kultur gegenüber der Natur, des Ethos gegenüber dem Kratos. Meinecke kann sich nicht genug tun, den Kampf der Urprinzipien des geschichtlichen Lebens mit immer neuen Farben sich auszumalen. Typisch für die Aufgewühltheit und Zerrissenheit der seelisch-geistigen Verfassung unseres Historikers nach dem dualistischen Umbruch und dem naturalistischen Einbruch sind etwa folgende Worte: „Das Erschütterndste i s t , . . . daß große und segensreiche Kulturwerte o f t einen gemeinen und unsauberen Ursprung haben, aus Nacht und T i e f e sich emporarbeiten, so daß es gewissermaßen scheinen will, als ob Gott des Teufels bedürfe, um sich zu realisieren." 25 ) Die „ H e t e r o g o n i e d e r Z w e c k e " tritt als Erklärungsprinzip für die geschichtliche Entwicklung an die Stelle der „List der Vernunft." Oder man beachte das furchtbare W o r t : „Gott ringt sich aus der Natur empor mit .Ächzen und Stöhnen und mit Sünde beladen und darum in jedem Augenblicke in Gefahr, in die Natur zurückzusinken." 26 ) Es zeigt sich uns hier so recht, wie tief die duali'stische Gespaltenheit des Lebens für Meineckes Denken und Empfinden geht, wenn er die Kultur, das Geistige überhaupt, mit Gott gleichsetzt, die Natur aber dem Teufel vergleicht. Die Natur ist nun wohl das dem göttlichen Prinzip, dem Geiste, feindliche Element; aber sie ist nicht „an sich 26
) a.a.O., 19. > a. a. O., 20.
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böse", so wenig wie die Macht, die ja aus ider Natur hervorgeht, sondern sie befindet sich jenseits von gut und böse oder vielleicht besser diesseits, sie ist indifferent gegen gut und böse. Vor allem aber ist sie die notwendige .Voraussetzung allen Lebens, auch allen geistigen Lebens und damit aller Geschichte. Undurchdringliches Ineinander geistig-sittlicher Impulse und naturhafter Triebe, unausweichliches Gebundensein alles Geistigen an das Natürliche im menschlich-geschichtlichen Leben — „das ist f ü r den rücksichtslos und ehrlich Betrachtenden das letzte W o r t — aber es kann noch micht überhaupt das letzte W o r t sein. Nur ein Glaube, der aber immer allgemeiner in seinem Inhalte geworden ist und mit stetem Zweifel ringen muß, kann den Trost bieten, daß es eine transzendente Lösung des f ü r uns unlösbaren Lebensund Kulturproblems gibt. Aber den Glauben, daß irgendein Philosoph diese transzendente Lösung gegeben hat oder noch geben könnte, haben wir verloren." 87 ) Und an anderer Stelle heißt es : „Der Historiker, der diese Übergänge, dies Hinüberwachsen der naturhaften Triebe zu Ideen mit voller Empfindung verfolgt, — wie wenige unter uns tun das ¡freilich immer, — wird immer wieder von den dunklen Rätseln des Lebens gepackt und in merkwürdige, problematische Stimmungen gestürzt. Er fühlt sich o f t dabei wie im Schwindel und sucht nach einem Geländer seines Weges. Hier wenn irgendwo braucht er eine eigene Weltanschauung." 2 ») Sie allein vermag über die durch den grundsätzlichen Dualismus hervorgerufenen Schwierigkeiten hinwegzuhelfen. Das Geistige darf trotz seiner engen kausalen Bindung an das Natürliche, wie sie im Leben in Erscheinung tritt, nicht als eine Hervorbringung desselben verstanden und aufgefaßt werden. Das Geistige muß etwas vollständig Neues, Eigenes, Ursprüngliches und damit auch wieder Unabhängiges sein gegenüber dem Natürlichen. Das ist die These, s
') a. a. O., 20. ) I. d. S., 13/14.
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die durch nichts bewiesen werden kann. Hier hilft nur ein w e l t a n s c h a u l i c h e s C r e d o weiter. U n d so bekennt Meinecke: „ D a s Schöne und G u t e kann nicht aus dem bloß Nützlichen abgeleitet werden, sondern entspringt aus selbständigen Anlagen des Menschen, aus dem spontanen D r a n g e nach Vergeistigung des bloß N a t ü r lichen, nach Versittlichung des bloß Nützlichen. Es mag in seiner E n t f a l t u n g kausal noch so eng, j a untrennbar eng verknüpft sein mit den niederen Trieben und Anlagen des Menschen, — f ü r die innere Lebenserfahrung, die hier tiefer schaut als der die bloßen Kausalitäten beachtende Positivismus, hebt es sich doch als etwas Eigenes und Ursprüngliches von ihnen ab." U n d nun kommt das Kernstück der Schwierigkeiten solchen weltanschaulichen Dualismus: „ W i e nun doch kausale V e r k n ü p f u n g u n d wesenshafte Verschiedenheit von niederen und höheren Anlagen, von N a t u r und Geist im Menschen zugleich bestehen können, ist eben das dunkle Geheimnis des Lebens." 2 9 ) Hier verstummt die bohrende Analyse. „ E s geziemt sich ein ehrlicher Agnostizismus gegenüber dieser höchsten aller Fragen." 3 0 ) W i e d e r u m zeigt sich uns hier an einem sprechenden Beispiel, wie der Historiker ins M e t a p h y s i s c h e greifen muß, wie er an sein e t h i s c h e s Bewußtsein appellieren muß, wenn er über die aller geschichtlichen Theorie und Forschung zugrunde liegenden Probleme sprechen will. Erst dann, wenn er sich diesen Boden geschaffen hat, ist geschichtliches Erkennen u n d Verstehen gerechtfertigt, überhaupt erst möglich. „ I m m e r aber ist es der Glaube ,an eine höhere, Dienst und Hingabe des Menschen heischende Macht, an dem 'das Geistige und Sittliche sich e m p o r r a n k t . " 3 1 ) Das Christentum, das Ranke noch tragendes Fundament seiner Geschichtsbetrachtung sein konnte, — es ist verloren f ü r einen Historiker, „der mitten inne zwischen christlicher 29
) a.a.O., 14. ) Aphorismen, 157. I.d.S., 14.
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Gläubigkeit und Unglauben sich f ü h l t . " 3 2 ) Aber gleichwohl ist der Glaube an eine höhere Macht — Meinecke nennt sie später „deion" — das letzte, unbedingte, sinnhafte und sinngebende M o m e n t im menschlichen Leben und Schaffen. Genau auf dieselbe Problematik einer Suche nach dem Absoluten werden wir schließlich auch von der Polarität von W e r t e n und Kausalitäten her stoßen. I h r selbst wenden wir uns nun unmittelbar wieder zu, nachdem wir den weltanschaulichen U n t e r g r u n d und U r s p r u n g zu ihrem tieferen Verständnis ein wenig eingehender betrachtet haben. Das geschichtliche Leben ist nach der dualistischen Anschauung Meineckes wesensmäßig ein doppelter Zusammenh a n g : ein natürlicher, mehr vom Pole der N a t u r her bestimmter Kausalzusammenhang und ein geistiger, mehr vom Pol des Geistes her bestimmter W e r t z u s a m m e n h a n g ; schließlich teilt sich der Kausalzusammenhang des naturhaften Untergrundes noch in einen mechanischen und in einen biologischen Verlauf. So kommt Meinecke zur Unterscheidung von d r e i v e r s c h i e d e n e n A r t e n v o n K a u s a l i t ä t : der mechanischen, der biologischen und der geistig-sittlichen Kausalität. U n d er definiert sie folgendermaßen in dem erwähnten Aufsatz: „Die m e c h a n i s c h e beruht auf völliger Gleichartigkeit von Ursache und W i r k u n g (causa aequat effectum); die b i o l o g i s c h e läßt anscheinend die W i r k u n g über die Ursache hinauswachsen durch die volle Entfaltung von Lebenskeimen zu Lebewesen von eigener Struktur, Zweckmäßigkeit und Gesetzlichkeit; die g e i s t i g s i t t l i c h e durchbricht erst recht den rein mechanischen Kausalzusammenhang, indem spontane, auf Zwecke gerichtete Impulse der Persönlichkeiten, die weder mechanisch noch biologisch zu erklären sind, das menschliche Handeln beeinflussen und damit auch in den mechanischen Kausalzusammenhang eingreifen, der doch andererseits wieder unserem Denken sich als schlechthin allbeherrschend und kontinuierlich, jede Unterbrechung ausschließend, darstellt. W u n '-') Aphorismen, 150. 260
der über W u n d e r . Denn rätselhaft in ihren letzten T i e f e n bleibt auch jede der drei Kausalitäten. Unser Denken wird damit vor Widersprüche gestellt, die es nicht lösen oder doch nur trügerisch und scheinbar lösen kann. Unabweisbar drängt sich im geschichtlichen Leben jede der drei Kausalitäten dem unbefangenen Forscher als wirksam auf. E r hat andauernd mit allen drei Arten von Kausalität zu tun." 3 3 ) Auch wir stellen W u n d e r und Widersprüche fest — aber in Meineckes eigenen Gedanken. Die Tendenzen, die wir in seinem Denken und insbesondere in seiner Bestimmung der Kausalität festgestellt haben, treten auch hier in gegensätzlicher Weise in Erscheinung. Deutlich werden wiederum zwei Bestimmungen der Kausalität vermischt: die Kausalität als Wirkungsprinzip und als Denkkategorie. D a ß Meinecke die Kausalität in diesem Aufsatz eigentlich als energetisches, dynamisches Prinzip versteht, es also beim Suchen der Kausalitäten mithin um das Suchen der geschichtlichen K r ä f t e geht, ist unzweifelhaft. E r will eigentlich festzustellen suchen, wie groß der Anteil der natürlichen K r ä f t e und wie hoch derjenige der geistig-sittlichen K r ä f t e zu bemessen sei. Das wird sich im einzelnen noch zeigen. Gleichwohl aber taucht auf einmal der Kausalzusammenhang im Sinne des Denkzusammenhanges auf, dort, wo davon die Rede ist, daß der Kausalzusammenhang „unserem D e n k e n sich als schlechthin allbeherrschend und kontinuierlich, jede Unterbrechung ausschließend, darstellt." Dies ist genau der neukantianische Gedanke. Anderseits aber durchbrechen die geistig-sittlichen Impulse der Menschen den „rein mechanischen Kausalzusammenhang". Das hat doch wohl nur einen Sinn, wenn der Kausalzusammenhang hier als der vom Pole der N a t u r her bestimmte n a t u r h a f t e U n t e r g r u n d des geschichtlichen Lebens verstanden wird; denn einen Denkzusammenhang könnten ja die geistig-sittlichen Impulse gar nicht durchbrechen, und sie brauchten es auch gar ¡nicht! M a n beachte auch, daß in bezug auf die Kausalitäten einmal •") K. u. W., 2. 261
vom D e n k e n und einmal vom L e b e n die Rede ist. Wir treffen wieder auf die für Meinecke so typische Vermischung von D e n k z u s a m m e n h a n g und E r l e h,n i s w i r k l i c h k e i t . Wir erinnern uns, wie Meinecke in einem der 'anfangs zitierten Sätze den Kausalzusammenhang der geschichtlichen Welt als eine Konstruktion unseres Geistes, als Produkt unseres Denkens verstand und dann doch diesen Zusammenhang mit der geistig-sittlichen Welt der Freiheit in unmittelbaren Gegensatz brachte. Denselben Vorgang haben wir auch hier wieder. Einerseits werden die Wirkungsformen der Geschichte unter die drei Kausalitäten gefaßt, das geschichtliche L e b e n stellt sich also dar als ein Produkt dieser drei Arten von Kausalität. Meinecke sagt es ja selbst, daß historische Wirklichkeiten „nur zustande kommen können durch Zusammenwirken der Werte realisierenden geistig-sittlichen Kausalität mit der mechanischen und biologischen Kausalität." 3 4 ) Anderseits stellt sich der mechanische Kausalzusammenhang unserem D e n k e n als allbeherrschend und kontinuierlich dar. Die mechanische Kausalität erscheint so das eine Mal als Kategorie des Denkens, das andere Mal als eine unter anderen Wirkungsformen des Lebens und der Geschichte. Hierin wäre noch kein Widerspruch zu sehen, solange diese beiden Sphären, Leben also und Denken, logisch geschieden bleiben. Hier greift nun aber, wie wir bereits darstellten, der lebensphilosophische Gedanke ein, der ja auf eine Überwindung der Scheidung von Erkennen und Leben, Logos und Ethos, abzielt. Damit geraten Denkergebnis und Erlebniswirklichkeit durcheinander, und es entstehen die mannigfachsten Widersprüche. Auch K a n t hatte ja drei qualitativ verschiedene Gebiete des unmittelbar Gegebenen unterschieden, und Meineckes Einteilung der drei Arten von Kausalität scheint zunächst wiederum genau mit dem kantischen Standpunkt übereinzustimmen, übrigens auch mit H u m b o l d t s Ein31
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) a. a. O., 15, Anm. 2.
teilung der geschichtlichen Kräfte. Gegenüber K a n t ergeben sich zunächst nur Unterschiede in der Terminologie: M e i n ecke sagt statt „organische" „biologische" Kausalität, und statt „Kausalität durch Freiheit" wie bei Kant, heißt es bei ihm „geistig-sittliche" oder auch „individuell-persönliche" Kausalität. D a s L e b e n ist auch f ü r K a n t ein Produkt dieser drei A r t e n von Kausalität; ein objektiv-wissenschaftlicher D e n k Zusammenhang ist für ihn aber nur möglich durch die Kategorie der mechanischen Kausalität. Dank der logischen Scheidung von Leben und Denken entsteht für K a n t zwischen diesen zwei Aspekten kein Widerspruch. 3 8 ) Bei 35
) Vgl. z. B. die Zusammenfassung des kantischen S t a n d p u n k t e s bei Goldmann, a . a . O . , 144. „1. Der Mensch ist frei, und sein Wiille kann und soll ausschließlich vom intellegiiblen Zweck, von der Zukunft bestimmt werden. 2. Man kann die menschlichen Handlungen vom kontemplativtheoretischen Standpunkt als gänzlich mechanisch, von der Vergangenheit determiniert betrachten. 3. Zwischen diesen beiden Behauptungen besteht kein Widerspruch." Das Problem der Kausalität öffnet nun überhaupt den, Blick auf weite Zusammenhänge, wie wir schon andeuteten. Wenn Goldmann die Auffassung Kants auch für die Theorie der G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n zu erneuern oder überhaupt erst fruchtbar zu machen sucht, so will er damit allen irrationalistisehen und intuitionistischen, also lebensphLlosophischen Theorien der Geisteswissenschaften entgegentreten. Überall wo der lebensphiilosophische Gedanke herrscht, wird die KausaLität abgelehnt. Das zeigte sich schon bei D i 11 h e y, aber auch beim nationalsozialistischen Theoretiker K r i* e c k. Wenn Krieck das Grundgesetz der Wissenschaftstheorie folgendermaßen bestimmt: „Jedes Volk muß in jedem Zeitalter sein Leben nach seinem Eigengesetz und jeweiligen Schicksal gestalten, und diesem Eigengesetz untersteht mit allen andern Lebensgebieten auch die Wissenschaft", so ist das vollendeter p h i l o s o p h i s c h e r R e l a t i v i s m u s , also die letzte Konsequenz von Diltheys Denken. (Vgl. Krieck, Die Objektivität der Wissenschaft als Problem, in: Das nationalsozialistische Deutschland und die Wissenschaft, Schriften des Reichsinstitutes f ü r Geschichte des 263
Meinecke dagegen ist gerade das umgekehrte der Fall: der Widerspruch zwischen diesen zwei Aspekten entsteht fortwährend, weil Denken und Erleben sich dauernd vermischen. Die mechanische Kausalität tritt nicht nur als Energieprinzip natürlicher Kräfte der Freiheit und Spontaneität des Menschen entgegen, sondern auch als Denkkategorie, weil sie eben auch als solche nicht „reine Form" ist bei Meinecke. R e i n l o g i s c h e Geschichtsbegriffe, historische Kategorien als „reine Formen" kann es — so dürfen wir jetzt, ins Allgemeine greifend, wohl sagen — für Meinecke überhaupt nicht geben. Da es in der Idee des lebensphilosophischen Gedankens liegt, die Scheidung von Logos und Ethos zu ¡überwinden, Wissenschaft und Leben in einer höheren Einheit zu verbinden, nehmen alle Begriffe notwendig einen e t h i s c h e n und damit w e l t a n s c h a u l i c h e n Gehalt. Wir kommen auch von hier aus auf das Phänomen, daß der Begriff der Kausalität immer, auch dort wo er als sogenannte neuen Deutschland.) Das Problem kann hier natürlich nicht erschöpft werden, es sollte nur eben gestellt werden. Es zeigt sich schließlich auch die philosophische Nähe O s w a . l d S p e n g l e r s zum Nationalsozialismus, wenigstens was dessen Geschichtsauffassung anbetrifft, besonders dort, wo er die Idee des Schicksals gegen die Kategorie der Kausalität ausspielt. Genau dieselben Argumente kehren bei Krieck und Steding wieder. Die Verwandtschaft zwischen Meinecke und Spengrler ist auch durch den lebensphilosophischen Gedanken gegeben. Die begrifflichen Formen sind o f t genau dieselben. Etwa dort, wo Spengler die Kausalität als „Erkenntnisweise", das SehicksaJ aber als „Lebensgefühl" bestimmt. Oder noch deutlicher dort, wo er von der Schicksalsidee sagt, sie lasse sich „nicht erkennen, beschreiben, definieren", sondern „nur fühlen und innerlich erleben." Genau dieselbe antirationalistische Haltung zeigt sich hier wie bei Mein ecke, nur daß eben auf Mein ecke auch der neukantianisch-rationalistische Gedanke Einfluß hat. Auf die Unterschiede und Gegensätze der beiden Denker werden wir in anderem Zusammenhang noch zu sprechen kommen. Für Spengler vgl. Der Untergang des Abendlandes, Bd. 1, Kapitel II, „Schicksalsidee und Kausalitätsprinzip". 264
Denkkategorie verstanden ist, wesensmäßig schaulichen Akzent aufweist.
einen weltan-
Schließlich ergibt sich aus jener Bestimmung der Kausalitätsbegriffe durch Meinecke noch ein weiteres Problem. Es liegt im Begriff der dritten Kausalität, der „geistigsittlichen", beschlossen. Der Begriff der Kausalität erfährt dadurch eine entscheidende Ausweitung. E r geht auf die Auffassung Meineckes zurück (auch hier leuchtet der kantische Gedanke deutlich durch), daß alles Wirken nur unter der Form der Kausalität sich vollziehen kann. Auch die geistig-sittlichen Impulse der Persönlichkeiten können also nur Wirkungen zeitigen, wenn sie k a u s a l wirksam zu werden vermögen. Auch ein Lebenswert „verwirklicht sich in uns, wie es gar nicht anders sein kann, durch Kausalität." 315 ) Wenn daher Meinecke von „ K a u s a l z u s a m m e n h a n g " spricht, so kann er d r e i v e r s c h i e d e n e P h ä n o m e n e grundsätzlich im Auge haben: i . den Kausalzusammenhang als Denkzusammenhang im Sinne der neukantianischen Geschichtslogik; 2. den Kausalzusammenhang im Sinne des naturhaft bestimmten Untergrundes des geschichtlichen Lebens; 3. den Kausalzusammenhang des ganzen geschichtlichen Lebens selbst, wo die geistig-sittlichen Impulse als Kausalitäten eingeschlossen sind. Obschon dieser letzte Kausalzusammenhang nicht in einen Gegensatz zu geraten brauchte zur Sphäre der Freiheit, da er ihre Wirkungen in Form von Kausalitäten mitumfaßt, werden wir ihn kaum irgendwo rein antreffen. Die Aspekte zwei und drei fallen f ü r Meinecke immer mehr oder weniger zusammen. Die (negative!) weltanschauliche Belastung des Kausalitätsbegriffs ist zu groß, als daß nicht sofort immer 'der Gegenpol in der Form der Freiheit und der Spontaneität ihm erstehen müßte. Dieses Problem wird uns noch einma] zu beschäftigen haben. Jedenfalls gilt es immer, diese unterschiedliche Bestimmung des Kausalitätsbegriffs im Auge zu behalten, wenn man Meinecke dort, wo er von „Kausal,2) a.a.O., 211. 271
mus findet sich manches, was mit dem Naturalismus verwandt ist: ich erinnere an das organologische Prinzip, das im Positivismus nur strengere biologische Formen angenommen hat." 4 3 ) Diese begriffliche Unterscheidung von „organologisch" und „biologisch" gibt uns nun gerade das Instrument, um den Übergang Meineckes vom rein idealistisch-historistischen Denken zu spezifisch naturalistischen Denkformen sichtbar zu machen und zu verfolgen. Die Schwierigkeiten bestehen darin, daß Meinecke selbst die Begriffe nicht immer scharf scheidet, wie wir das in seiner plastischen Verwendung der begrifflichen Formen schon oft beobachten konnten. Tatsächlich treffen wir die Begriffe „ o r g a n i s c h " und „ O r g a n i s m u s " zu jeder Zeit in der Geschichtschreibung Meineckes. Besonders häufig werden sie, nachdem er in seinem „Weltbürgertum und Nationalstaat" den unmittelbaren Anschluß an den historischen Geist der Romantik vollzogen hat. Seit seiner Auseinandersetzung mit den romantischen Staatstheorien, insbesondere derjenigen Adam Müllers, gerät seine eigene Staatsbetrachtung immer deutlicher unter organische Formen. Diese Betrachtungsweise wi?rd dann mit der Ausdehnung des Begriffs der „histori1S
) Vgl. Hintze, a . a . O . , 198; auch Rothacker, Logik und Systematik, 117. Auf das naturalistische Element im deutschen Idealismus macht auch R ö p k e aufmerksam: „Ebenso unbestreitbar machte sich in der deutschen Geschichtswissenschaft jene mit Ranke einsetzende Neigung zu einem gewissen Naturalismus geltend . . ." Röpke schreibt auch, daß die deutsche Philosophie von Fichte und Hegel „mit einem sehr mißverständlichen Namen die «idealistische» genannt wird." Vgl., Die deutsche Frage, 79 & 165. In ganz ähnlichem Gedankengang hat schon F r . W. F o e r s t e r in seiner „politischen Ethik" die Macht- und Staatsauffassung T r e i t s c h k e s als Materialismus bezeichnet, der um so gefährlicher sei, weil er in ¡idealistischer Sprache vorgetragen werde. Von seinem christlichen Standpunkt aus kritisiert er auch Mei'necke und seine idealistische Auffassung. Die Kritik Treitschkes siehe S. 185, für Meineckes Kritik S. 309; eine Antwort gab Meinecke I. d. S., 531.
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sehen I n d i v i d u a l i t ä t " auch auf andere Gebiete des überindividuellen geschichtlichen Lebens übertragen, wovon im Z u s a m m e n h a n g mit dem Individualitätsgedanken noch die R e d e sein wird. Eine erste Auseinandersetzung mit der biologischen G e schichtsbetrachtung f i n d e t sich in einem A u f s a t z über die „ P r o b l e m e des W e l t k r i e g e s " . 1 4 ) E s h a n d e l t sich u m eine K r i t i k der g e o p o l i t i s c h e n A u f f a s s u n g , insbesondere K j e l l e n s . Meinecke b e g r ü ß t als „ H i s t o r i k e r aus der Rankeschen Schule" zunächst die A u f f a s s u n g , welche die Staaten als organische W e s e n versteht. I n der deutschen Geschichtswissenschaft sei diese Betrachtungsweise längst eine vertraute. R a n k e u n d m i t ihm die m o d e r n e deutsche Geschichtschreibung versuchten, jeden Machtkampf „ a u s organischen Ursachen, aus vitalen T r i e b e n u n d Bedürfnissen der Staaten zu verstehen." 4 5 ) Interessant f ü r unser Problem ist n u n aber die K r i t i k . Meinecke gibt wohl zu, d a ß das geschichtliche Leben in h o h e m G r a d e irrational, ein K a m p f des Lebendigen gegen das L e b e n d i g e sei. A b e r icr verwahrt sich ausdrücklich gegen die alleinige Berechtigung einer n u r „biologischen A u f f a s s u n g " , wie e r sich jetzt ausdrückt. U n d er schreibt wörtlich: „ d e n n das reine Austoben der K r ä f t e gegeneinander w ü r d e zu v i e l . . . f ü r den Staat wie f ü r die K u l t u r unersetzliche W e r t e sinnwidrig u n d zweckwidrig zerstören." H i e r sehen wir deutlich unser P r o blem aufleuchten u n d — was f ü r Meinecke besonders! typisch ist — in unverkennbar ethischer W e n d u n g : den Gegensatz oder vielmehr das polare Verhältnis von W e r t e n u n d K a u s a litäten. So verlangt Meinecke schließlich einen „ K o m p r o m i ß zwischen biologischer u n d historisch-kultureller A u f f a s s u n g . " K j e l l e n s geopolitische D a r s t e l l u n g scheint ihm doch „ein zu biologisches B i l d " zu ergeben, und „wie von N a t u r g e walten g e f ü h r t " scheinen die geopolitischen Ziele erreicht werden zu müssen. Meineckes hohe Einschätzung der geschichtlichen Persönlichkeit u n d ihrer geistig-rationalen T ä *A) Probleme des Weltkrieges, 40 ff. 46 ) Die deutsche Erhebung von 1914, 70.
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tigkeit auf politischem Gebiet bewahrt ihn hier noch vor .der Rezeption einer allzu biologischen Geschichtsbetrachtung. Er rettet die Freiheit des Individuums noch vor der biologischen und dynamischen Notwendigkeit des überindividuellen Wesens. Das spezifisch b i o l o g i s c h e Moment wird also abgelehnt. Dagegen fehlt es keineswegs an Stellen, wo das o r g a n i s c h e Prinzip herangezogen wird, wo geschichtliche Verläufe nach Analogie organischer Prozesse verstanden und dargestellt werden. So schreibt Meinecke einmal, des .Historikers Aufmerksamkeit werde sich steigern gegenüber den rein mechanischen Abläufen, „wenn in den Vorgängen ein Kristallisationsprozeß sich zu vollziehen scheint, wenn bestimmte Formen und Gestalten menschlichen Gemeinschaftslebens vor seinem Auge erscheinen, die sich eigenwüchsig entfalten, organisieren, aufblühen und wieder zerfallen." Sogleich wird dieses Moment geschichtlicher Betrachtung aber auch in seine Schranken verwiesen und, gegen den e i g e n t l i c h e n B i o l o g i s m u s gewendet, schreibt Meinecke: „Die modernste, mehr auf das Organische gerichtete Tendenz, gipfelnd in S p e n g l e r , vermaß sich, alle geschichtlichen Einzelerscheinungen aus den verschiedenen biologischen Gestaltungsgesetzen der einzelnen großen Kulturen zu erklären." 46 ) Es kann sich also bei Meinecke nicht um eine Wendung zur biologischen Geschichtsauffassung überhaupt handeln, sondern es geht immer nur um die Rezeption einzelner Elemente — getreu seinem Grundsatz, aus den verschiedenen geschichtlichen Betrachtungsweisen nur das Beste, d. h. das der wahren Wirklichkeit am meisten Entsprechende, zu übernehmen. So erscheint, im großen gesehen, in der ersten Phase seines Geschichtsdenkens der Begriff der organischen Ursache noch nirgends ersetzt oder gar verdrängt durch sein naturalistisches Pendant, die biologische Kausalität. «) K. u. W., 2 & 3. 274
Ein plötzlicher Einbruch biologischer Geschichtsbetrachtung ist wiederum — wie bei der mechanischen Kausalität — mit dem weltanschaulichen Umschlag seines geschichtlichen Denkens in den eigentlichen Dualismus innerlich verbunden. Der Einbruch naturalistischer Elemente besteht auch auf der biologischen Ebene keineswegs schon in der Anerkennung biologischer K r ä f t e als geschichtlicher Kräfte (obschon auch hier das M a ß entscheidend ist!), sondern wiederum in der Übertragung biologischer B e t r a c h t u n g s f o r m e n auf Gebiete des geschichtlichen Lebens, die bis anhin durchaus der freiheitlich-geistigen Sphäre des Lebens zugeordnet waren. Diese biologischen Elemente erhalten ihren Platz in der Geschichtsbetrachtung nur auf Kosten der geistig-sittlichen Kräfte. Neben die mechanischkausale tritt damit noch die biologisch-kausale Betrachtungsweise, und beide zusammen treten in Kampf und Rivalität gegen ihren gemeinsamen Gegner: die geistig-kulturelle Betrachtungsweise, die vom idealistischen Boden aus die einzig würdige und wertvolle Perspektive war. Dies ist der Kampf, der sich in dieser Zeit im Denken unseres Historikers abspielt; wo Meinecke das Ideal sieht, wo er ,mit dem Herzen dabei ist, kann indessen keinen Augenblick zweifelhaft sein. Aber „Vernunft" und „Wirklichkeit" fordern ihre Opfer! Solches Vordringen biologistisch-naturalistischer Betrachtungsweise auf Kosten der idealistischen Anschauung zeigt sich wiederum mit voller Klarheit in Meineckes S t a a t s b e t r a c h t u n g . W i r erwähnten schon das Eindringen des biologischen Prinzips in die Auffassung des Machtproblems und der Politik überhaupt. Diese Schwerpunktverschiebung der staatlichen Sphäre vom Pol (des Geistes zu dem der,Natur hin innerhalb der dualistisch gewordenen Geschichtsansicht mußte natürlich auch zu einer anderen Einschätzung dieses geschichtlichen Gebietes führen. Denn die (ethischen!) Maßstäbe Meineckes bleiben — und das ist entscheidend — idealistische. Nicht daß der Staat durch seine weitgehend IS*
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naturalistische D e u t u n g aus dem Mittelpunkt der historischen Forschung verdrängt worden wäre. Als wirksamste und eine der wesentlichsten Errungenschaften menschlicher K u l t u r geschichte behält er durchaus seinen Platz als zentraler Faktor des geschichtlichen Lebens und damit des geschichtlichen Interesses — aber nur mehr k a u s a l betrachtet! Denn Meinecke unterscheidet gemäß der Polarität von K a u salität und W e r t zwei Bedeutungen von „ w e s e n t l i c h " und „geschichtlich wirksam": ein geschichtliches W e s e n kann vor allem k a u s a l wesentlich sein, aber es kann auch a l s W e r t wesentlich sein. Die kausalen W i r k u n g e n des Staates auf die K u l t u r sind nicht zu leugnen, und daher f ü r jegliche Geschichtsbetrachtung wesentlich, insofern sie die ganze geschichtliche Wirklichkeit erfassen will. „Aber ist er auch der höchste mögliche K u l t u r w e r t ? " Nein, er darf nicht — oder nicht mehr! — als höchster möglicher Kulturwert gelten. Meinecke will jene Entwicklung entschieden abbrechen oder umbiegen, die im geschichtlichen und philosophischen Denken mit Hegels Staatsvergottung anhob. So f ü h r t die Katastrophe der deutschen Staats- und Kulturentwicklung und der dadurch hervorgerufene Zusammenbruch der idealistischen Staatsanschauung im deutschen (geschichtlichen) Denken hier bei Meinecke zu einer der bedeutendsten und sichtbarsten Konsequenzen: D e r Staat kann nicht mehr höchster W e r t sein, „weil er stärker als fast alle anderen historischen Individualitäten an naturhafte, biologische N o t wendigkeiten gebunden ist und von ihnen gehindert wird, sich ganz zu vergeistigen und zu versittlichen." 1 7 ) Es wird deutlich, wie trotz aller Konzessionen an den Naturalismus Meineckes eigene Position doch idealistisch bleibt; sonst hätte er diese Konsequenz gar nicht ziehen können. T r o t z aller O p f e r , die er der geschichtlichen Realität bringen mußte, hält er an seinem ethischen Ideal fest — nur daß eben die Diskrepanz zwischen Realität und Idealität immer fühlbarer und auch schmerzlicher wird. T r o t z der Kona.a.O., 24. 276
Zessionen an die biologische Deutung des politischen und des geschichtlichen Lebens überhaupt, verfällt Meinecke keineswegs einem „postliberalen Biologismus und Geopolitismus", wie das von anderen idealistischen Historikern gesagt werden kann, die dem neudeutschen Aktivismus sich anzupassen suchten. 48 ) J e mehr der Nationalsozialismus aufkam, desto mehr besann sich Meinecke wiederum auf seine idealistischen Werte, wenn seine idealistische Geschichtsbetrachtung in jener dritten Phase seines Denkens und Schaffens auch eine deutliche Wendung ins Ä s t h e t i s c h e nahm. W i r werden später noch auf die innere Notwendigkeit, d. h. weltanschauliche Bedingtheit dieses Ästhetizismus zu sprechen kommen. In diesem Sinne distanzierte sich Meinecke in seiner RankeRede vor dem Forum der deutschen Historiker des „Dritten Reiches" (gehalten in der preußischen Akademie der W i s senschaften 1 9 3 6 ! ) von der florierenden biologischen Betrachtungsweise, wenn er über R a n k e s Auffassung der Staaten sagte: „ D i e Lehre von den Staaten als individuelle Lebewesen mit eigentümlichen Lebensgesetzen sollte sich dabei, so wenig er im Augenblick mit ihr damals idurchdrang, als wissenschaftlich und politisch epochemachend erweisen. Aber den metaphysischen Abglanz, den sie bei Ranke zuletzt gewinnt, wird man in der biologischen und morphologischen Betrachtungsweise, in der sie etwa Rudolf Kjellen erneuert hat, vergebens suchen." 4 ") Wenn Meinecke hier den schwedischen Geopolitiker trifft, dann will er damit « ) V g l . K a r l T h i e m e , Das Schicksal der Deutschen, 120. D i e Kritik T h i e m e s gilt G e r h a r d R i t t e r und seinem Buche „Machtstaat und U t o p i e " ; s i e ist äußerst scharf und scheint nicht eines persönlichen U n t e r t o n e s zu entbehren. W i e d e r u m dringt der G e g e n s a t z Katholizismus-Idealismus ( w e n n bei Ritter auch eines reichlich a b g e w a n d e l t e n ) durch. Vgl. auch die Kritik R ö p k e s , der w o h l über d i e s e s Buch Ritters schreibt, es laufe „auf eine verschämte B e s c h ö n i g u n g d e s Machiavellismus und der Realpolitik hinaus", d o c h e r w e c k e die p s y c h o l o g i s c h e Analyse d i e s e s Buches den Eindruck, „daß der Verfasser im Grunde von t i e f e m S c h u l d g e f ü h l g e p l a g t wird." ( a . a . O . , 101). •19) E. d. H., 637.
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auch und vor allem die deutschen Geopolitiker treffen. Meinecke kritisiert hier seine deutsche Umgebung nach einem Verfahren, das anscheinend das einzig mögliche war, und das Wilhelm Röpke in seinem Buch über die „deutsche F r a g e " ebenfalls berührt und als „indirektes Beschießen" bezeichnet. E s ist die Form der Kritik, die in einer totalen Terrorherrschaft allein noch möglich ist. 50 ) Sie ist in allen Werken Meineckes seit 1 9 3 3 anzutreffen: hier muß man tatsächlich einmal zwischen den Zeilen lesen, um verstehen zu können, um was es geht. — Wie Meinecke alles höhere geschichtliche und d. h. geistig-sittliche Leben über einem Untergrund biologischer und mechanischer Kausalzusammenhänge sich abspielen sieht, wie es zugleich in enger kausaler Verknüpfung mit ihm "verbunden und doch wesenhaft von ihm verschieden ist, das haben wir bereits betrachtet. Der d y n a m i s c h e Charakter dieses dualistisch gesehenen geschichtlichen Lebens brachte es nun mit sich, daß eine Abgrenzung der beiden Bereiche nicht oder nur schwer gelingen konnte. Kennzeichnend sind die Eruptionen des vulkanischen Untergrundes der biologisch-mechanischen Kausalzusammenhänge bis weit hinauf in die Sphäre des einst durchaus der Domäne des Geistes zugehörenden Gebietes. Daher auch der problematische und zwiespältige Charakter der dunklen Z w i s c h e n z o n e , wo Natur und Geist sich mischen, wo Kausalitäten und Werte kaum voneinander zu scheiden sind. Diese dunkle Zwischerizone ist aber gerade das für den Historiker wichtigste Gebiet; denn ihm gehören die meisten Kausalitäten an, die er zu untersuchen hat. Hier ist wohl alles sichtbar in die Naturgebundenheit des menschlich - geschichtlichen Daseins getaucht, aber hierher weisen auch die Ursprünge von Kulturwerten zurück, die oft durch unmerkliche Steigerungen aus diesem Naturzusammenhang heraus zur geistigen Höhe empor sich entwickeln. So erhält alles geschichtliche Leben, das hier seinen Ursprung hat, eine der Natur und «ine dem so
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) Vgl. Röpke, a. a. O., 93.
Geiste zugekehrte Seite. „ N u n aber sind, wenigstens f ü r das menschliche Auge, biologische Sphäre und geistig-sittliche Wertsphäre nicht klar und unzweideutig voneinander geschieden, sondern gehen o f t unmerklich ineinander über." D a s war Meineckes entscheidende Erkenntnis über das Wesen der Staatsräson! „Diese Tatsache der Unerkennbar keit scharfer Grenzen zwischen beiden Sphären ist es eigentlich, die alle Differenzen innerhalb des modernen geisteswissenschaftlichen Denkens hervorgerufen hat. Denn jeder kann diese Grenzen anders interpretieren und ziehen, anerkennen oder nicht anerkennen. Das ist die qualvollste Frage, die sich dem Historiker aufdrängt. E r m u ß n u r zu o f t mit der Unsicherheit darüber ringen, ob dieser oder jener Tatbestand, den er untersucht, aus bloßer Lebens- und Naturnotwendigkeit oder auch aus geistig-sittlichen, werthaften Faktoren zu erklären ist. D i e Lebens- und N a t u r notwendigkeiten, die biologischen Kausalitäten, fließen auch dem nach W e r t e n Handelnden bis in die Fingerspitzen und drohen ihm die W e r t e zu verunreinigen, Scheinwerte statt wahrer W e r t e vorzuspiegeln." 5 1 ) Untersuchen wir nun jenen Begriff, der aus dem n a t u r h a f t bestimmten Lebenszusammenhang heraus in jene höhere, immer wieder bedrohte Sphäre von Geist und Freiheit hinaufzuführen vermag: die g e i s t i g - s i t t l i c h e Kausalität. Die l o g i s c h e Bedeutung des Begriffs haben wir schon angedeutet: Meinecke geht auf K a n t s Begriff der „ K a u salität durch Freiheit" zurück, welcher eine Verbindung herstellt zwischen der intellegiblen W e l t der Freiheit und der W e l t der Erscheinungen, indem menschliche Handlungen als Ursachen in den Kausalzusammenhang der Erscheinungswelt eingreifen, ihren U r s p r u n g aber im Reich von V e r n u n f t und Freiheit haben. 8 2 ) Entscheidend f ü r unseren Historiker ist 51
) K . u . W., 19.
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) V g l . d a z u e t w a die Worte K a n t s , Kritik der reinen Vernunft, 2. A u f l a g e , 566: W e n n „dasjenige, w a s in der Sinnen weit als Erscheinung a n g e s e h e n w e r d e n muß, an sich selbst auch ein
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aber auch hier nicht — wir sahen es für den Begriff der Kausalität im allgemeinen schon in der Gegenüberstellung Meinecke - Kant und - Rickert — die logische Seite des Begriffs, sondern dessen w e l t a n s c h a u l i c h e S u b s t a n z . Rein logisch verstanden würde der Begriff der individuellpersönlichen Kausalität (wie Meinecke ja auch sagt), d. h. die Tatsache der Einwirkung menschlicher Handlungen auf den geschichtlichen Ablauf, nicht das geringste darüber aussagen, ob dieser persönlich-geschichtlichen Wirkung eine idealistische oder eine positivistische Ansicht des Individuums zugrunde liege. Aus eben demselben Grunde verträgt sich eine rein geschichtslogische Gedankenführung, wie diejenige Hintzes etwa, ebenso gut mit positivistischen wie mit idealistischen Geschichtsauffassungen, sofern sie überhaupt auf das Individuum als geschichtliches Agens zurückgehen. Für Meinecke besteht aber das Hauptanliegen gerade darin, den Begriff der individuell-persönlichen Kausalität w e l t a n s c h a u l i c h zu verankern. Wenn daher der Begriff der individuell-persönlichen Kausalität, p o s i t i v i s t i s c h verstanden, noch durchaus in den Bereich der reinen Kausalforschung fällt (nach Meinecke fallen m u ß , weil der Positivismus grundsätzlich nicht darüber hinaus gehen will!), weist er, i d e a l i s t i s c h verstanden, weit über dieselbe hinaus. Daher erhält der Begriff in der spezifisch idealistischen Form der „geistig-sittlichen" Kausalität nicht in erster Linie die Bedeutung einer geschichtslogischen Kategorie (die methodologischen Konsequenzen sind sekundär!), sondern er wird zum weltanschaulichen Postulat. Das Element des S i t t l i c h e n ist das spezifisch idealistische Grundmoment, das dieser Kausalitätsbegriff enthält. Er setzt das freie, schöpferische und verantwortliche IndiviV e r i n ö g e n hat, w e l c h e s kein G e g e n s t a n d d e r sinnlichen Anschauung ist, w o d u r c h es a b e r doch die U r s a c h e von Erscheinungen sein kann, so k a n n man die K a u s a l i t ä t dieses W e s e n s auf z w e i Seiten betrachten, als intellegibel nach ihrer Handlung als eines Dinges an sich selbst, und als sensibel nach den W i r k u n g e n derselben als einer Erscheinung in d e r S i n n e n w e l t . "
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duum voraus, und daher ist er das weltanschauliche Veto gegen jede positivistische Persönlichkeitsansicht, welche das Individuum als Durchgangspunkt überiridividueller Mächte und K r ä f t e bestimmen möchte. Diese Funktion erfüllte der Begriff schon bei der ersten Abwehr des Positivismus, er erfüllt sie auch bei der zweiten Invasion positivistischer und naturalistischer Gedanken, wenn es diesen nun auch gelingen sollte, Meinecke zu einer Teilrevision seines idealistischen Geschichts- und Weltbildes zu ihren Gunsten zu veranlassen oder viel mehr zu zwingen. Die Mittelstellung und Doppelbedeutung des Begriffs der geistig-sittlichen Kausalität zeigt sich daran, daß er einerseits noch zur Kausalforschung gehört, anderseits sich aber unmittelbar mit all jenen idealistischen Begriffen verbindet, die über jene hinausweisen. Z u r Kausalitätenforschung gehört er insofern, als die menschlichen Handlungen und T a t e n , die er begreift, rein kausal nach dem Prinzip ihrer Wirksamkeit auf den geschichtlichen Ablauf untersucht werden können (soweit geht nach Meinecke der Positivismus), über sie hinaus aber weist er dadurch, daß diese Handlungen und T a t e n dem freien und schöpferischen Geiste verantwortlicher Menschen entstammen und damit einem Z u sammenhange angehören, der prinzipiell vom Kausalzusammenhang sich abhebt und etwas grundsätzlich Neues und Ursprüngliches in sich selbst ist. Dies ist der (idealistische) Aspekt des W e r t - und S i n n z u s a m m e n h a n g e s . Durch die geistig-sittliche Kausalität steigen wir somit vom naturhaft bestimmten Kausalzusammenhang zur eigentlichen geistigen W e r t s p h ä r e auf. Aber nicht n u r weltanschaulich wird der notwendige Übergang von der Kausalforschung zum Suchen nach W e r ten motiviert. Dieses Motiv liegt wohl allen anderen Argumenten zugrunde, aber solche gibt es auch mit mehr m e t h o d o l o g i s c h e m A s p e k t . So f ü h r t generelle Kausalerklärung f ü r Meinecke zur Vergewaltigung des geschichtlichen Stoffes und zur Auslöschung der einen Kausalprägung durch 281
die andere. Die Wissenschaft muß also zu anderen Erkenntnismitteln greifen, um tiefer sehen zu können. Die Wissenschaft geht daher durch die Mittel der I n t u i t i o n und der A n s c h a u u n g , der A h n u n g und des M i t g e f ü h l s in K u n s t und E t h i k über, nicht um zu ästhetisieren und zu moralisieren, sondern aus innerer Notwendigkeit. Insofern ist auch f ü r Meinecke die Geschichte nicht reine Wissenschaft, aber nicht im negativen Sinne von „weniger als Wissenschaft", sondern positiv im Sinne von „mehr als Wissenschaft". W i r erkannten diese Auffassung bereits als die Auswirkung des lebensphilosophischen Gedankens in den wissenschaftstheoretischen Bemühungen Meineckes. Das Recht zur Anwendung überwissenschaftlicher Mitte] in den historischen Wissenschaften läßt sich zweitens auch durch das schon angetönte Moment begründen, daß die Geschichtwissenschaft sich nur mit dem „ W e s e n t l i c h e n " zu beschäftigen hat, nicht mit allem Geschehen überhaupt. Wesentlich, historisch wesentlich, heißt aber nicht nur —- so wissen wir bereits — kausal wesentlich und wirksam; man versteht darunter nicht nur das, „was seinerzeit kausale W i r kungen auf das menschheitliche Leben ausgeübt hat", sondern auch das, „was nachhaltig nachwirkt und auf uns Lebende heute noch wirkt." Diese Wirkung hat aber auch überkausale Bedeutung, „indem wir für unser eigenes Leben einen besonderen Gewinn davontragen wollen"; sei dieser Gewinn praktischer oder theoretischer Art, „in beiden Fällen sind es Werte, Lebenswerte, die wir aus der Geschichte holen wollen." 53 ) 53
) K. u. W., 5/6.
Mit dem Problem der „Wirksamkeit" in der Geschichte beschäftigte sich auch M a x W e b e r ausführlich, so vor allem in dem Aufsatz „Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik" in „Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre", Tübingen 1922, 233 ff. Weber unterscheidet ganz
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D i e reine Kausalforschung erscheint so nur als M i t t e ] z u m Z w e c k , „um dem aus der T i e f e wirkenden Bedürfnisse nach Lebenswerten zu genügen", wenn auch „der W e g der Kausalitäten unbeirrt bis zum letzten erreichbaren Punkte gegangen werden muß." 5 4 ) D a s Entscheidende ist, daß jede Kausalforschung schließlich zu den W e r t e n vorstoßen muß, ob sie dies bewußt tut oder unbewußt. U n d so gelangen wir zur zweiten H a u p t f r a g e : W a s sind W e r t e ? W a s versteht Meinecke unter W e r ten? Zunächst aber gilt es, den Blick auf gewisse geistesgeschichtliche Zusammenhänge frei zu legen. C h r i s t o p h S t e d i n g — den wir hier nicht etwa deshalb heranziehen, weil wir sein dickleibiges Buch 5 5 ) für eine iihnlich wie Meinecke zwei Bedeutungen von „historisch wesentlich". Vgl. dazu auch Schütting, Max Webers Wissenschaftslehre, 241 ff., wo auf die hier dargelegten Oedanken Meineckes Bezug genommen wird. 54 ) a. a. O., 7. 55 ) Steding, Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur. Steding versucht ganz offensichtlich, sich als Kulturkritiker großen Stils ä la N i e t z s c h e , gegen den er sich allerdings sachlich wendet, aufzuspielen. Als Verkünder der nationalsozialistischen Weltanschauung predigt er das Ideal der p o i i t i s c h e n Wissenschaft. Er versucht eine Gesamtschau der demokratischen und — was für ihn mit jenem identisch ist — neutralen (im negativen Sinne von „unentschieden" gebraucht) Kultur. So wirft er Kulturgeschichte (Burckhardt, Huizinga, Meinecke, als „der repräsentative Historiker des Wilhelm Locarneser Zeitalters"), südwestdeutsche Wertphilosophie, protestantische Theologie Barthscher Richtung, die Schriftstellerei Thomas Manns, die Dichtung Stefan Georges und vieles andere zusammen mit der Politik der deutschen Republik in einen Topf und bezeichnet dies als N e u t r a l i s i e r u n g d e s R e i c h e s . Seine Hauptthese ist: „Die Neutralisierung des Reiches, die Invasion schweizerischen und niederländischen Geistes setzte fast auf den Tag genau mit Bismarcks Sturz ein." (89) Steding sieht es demnach als Hauptziel an, solche Neutralisierung abzuwehren und zu neuen, eben den kommenden Idealen des Totalitarismus sich zu erheben. Das Buch wurde vom „Institut für die Geschichte 2»3
besondere geistige Leistung halten, sondern weil einmal versucht worden ist, Meineckes Geschichtschreibung theoretisch zu erfassen und dann weil sein Standpunkt typisch ist für die Einstellung des Nationalsozialismus zur Wissenschaft der Republik — betont immer wieder in seinem Buche die Verbindung, welche Meineckes Dualismus von Natur und Kultur mit der n e u k a n t i a n i s c h e n W e r t p h i l o s o p h i e eingegangen sei. Meinecke habe diese Philosophie aufgegriffen, weil sie die Zertrümmerung aller Ganzheiten in Teile (durch den Individualitätsgedanken!) dadurch sanktioniere, daß sie diesen Werte hinzufüge, um die Welt wieder ganz zu machen. Diesem Zweck scheint nach Steding auch der Begriff der Kausalität bei Meinecke dienen zu müssen. Steding placiert Meinecke mitten in die (neukantianische und individualistische Wertlehre hinein, welche Korrelat sei zur Kulturphilosophie der Badener Schule. Auch wir betonten die Verbindung, aber auch Auseinandersetzung Meineckes mit der neukantianischen Wertphilosophie, und wir werden noch näher darauf einzugehen haben. Steding übersieht die Kritik Meineckes an Rickert, und er verbaut sich damit von vorneherein eine Quelle, die bei der Untersuchung des Wertproblems in Meineckes Denken beachtet werden muß — eine Quelle, die floß, lange bevor unser des neuen Deutschland" und dessen Leiter W a l t e r Frank propagandistisch a u f g e b a u s c h t , und der jung v e r s t o r b e n e V e r f a s s e r ( 1 9 3 5 im A l t e r v o n 28 J a h r e n ? ) als G e n i e ersten Ranges gefeiert. D a m i t k ö n n t e man höchstens einverstanden sein, wenn man es als genial bezeichnen, müßte, in einem dicken Buche neben viel k o n f u s e m und u n w a h r e m Z e u g einige t r e f f e n d e Bem e r k u n g e n ü b e r die K u l t u r k r i s e unserer Zeit anzubringen. G l e i c h e O b e r f l ä c h l i c h k e i t und Unzulänglichkeit kennzeichnet nicht nur Stedings Urteil ü b e r Meinecke, sondern auch seine Kritik J a c o b B u r c k h a r d t s . V g l . d a r ü b e r die Einleitung W e r n e r Kaegis zu den Wettgeschichtlichen Betrachtungen (in der von uns hier benutzten. A u s g a b e ) , w o er dem schiefen Urteil Stedings die „ m i t d e m klarsten, Bewußtsein d e r historiographischen S i t u a t i o n " v e r f a ß t e Kritik Meineckes gegenüberstellt.
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Historiker in engeren K o n t a k t mit den Neukantianern und ihrer Geschichtslogik kam, und diese 'Quelle heißt R a n k e . D a ß Meinecke wie kein zweiter Historiker seiner Zeit (ausgenommen vielleicht der ältere A l f r e d D o v e ) auf Ranke aufbaut, ist die Grundeinsicht, von der jede D a r stellung und Kritik seines geschichtlichen Denkens ausgehen muß. Von hier aus ergeben sich sowohl seine Übereinstimmungen wie seine (nicht unbeträchtlichen) Abweichungen gegenüber Ranke. 5 0 ) Meinecke betont seine geistige Verwandtschaft mit dem Meister selbst immer wieder, und es gibt kaum eine Abhandlung, geschweige denn ein größeres W e r k (alle drei ideengeschichtlichen Hauptwerke gipfeln in Ranke!), wo er nicht ausdrücklich, theoretisch oder praktisch, auf R a n k e zurückgreift. Dieser Gesichtspunkt ist also auch hier, in der F r a g e des Wertproblems, entscheidend. W a s solche Verbundenheit f ü r das W e r t p r o b l e m bedeutet, braucht kaum langer Ausführungen und ist dem einigermaßen Eingeweihten sofort klar vor A u g e n : D e r Gedanke der I n d i v i d u a l i t ä t , dieses G r u n d p r i n z i p Rankescher Geschichtsbetrachtung, ist untrennbar verknüpft mit dem Begriff des W e r t e s . Denn Individualität hat ein geistig-geschichtliches Wesen nicht dann, wenn es eine bestimmte formale und logische Struktur hat, sondern nur dann, wenn es einen bestimmten W e r t verkörpert, einen bestimmten S i n n enthält, einer I d e e Ausdruck verleiht. Individualität ist f ü r R a n k e keine rein formale Kategorie oder etwa rein methodologisches Prinzip, wie dies vveitge5C ) Es genügt also nicht, wie das durch die mehr oder weniger gut informierten Kritiker seiner Werke immer wieder geschehen ist, einfach den engen Anschluß Meineckes an seinen Meister Ranke zu betonen. Man kann wohl die Übereinstimmungen in der M e t h o d e hervorheben, ohne aber die entscheidenden w e l t a n s c h a u l i c h e n Unterschiede zu vernachlässigen. Daß dann der Wechsel im weltanschaulichen Bereiche schließlich auch die Methode nicht unbeträchtlich beeinflußt — dies zu erweisen, ist ja unser wissenschaftstheoretisches Hauptproblem.
2»5
hend f ü r die Geschichtslogik Rickerts u n d Hintzes der Fall ist, sie ist immer ein sinnerfülltes und werthaftes geschichtliches Wesen. Nicht kausale E r k l ä r u n g und begriffliche Definition vermögen daher der Individualität beizukommen, nur M i t g e f ü h l f ü r ihren Lebenssinn und -zweck u n d Verständnis f ü r ihren einmaligen u n d unersetzlichen W e r t vermögen tiefer in ihr Wesen einzudringen. W i r werden bei den Untersuchungen über den Individualitätsgedanken noch näher auf diese Probleme einzugehen haben. Diesen Individualitäts- und damit auch Wertgedanken Rankes hat Meinecke vor aller Berührung mit der neukantianischen Wertphilosophie in sein geschichtliches Denken aufgenommen. W i r sahen dies schon bei seiner Abwehr des P o s i t i v i s m u s L a m p r e c h t s , wo Individualität und W e r t die innerlich verbundene idealistische Grundeinheit bildeten. Durch die ganze Entwicklung von Meineckes Denken hindurch kann der W e r t g e d a n k e verfolgt werden. So erhält die Phase der Berührung mit der Wertphilosophie vielmehr den Charakter einer grundsätzlichen Besinnung auf längst eingebaute Elemente, denn jenen einer Neuaufnahme bis anhin gänzlich fremder Grundgedanken. Freilich wird, wie das bei jeder Auseinandersetzung mehr oder weniger der Fall ist, manches neue Element zu den alten Ideen hinzutreten, besonders wenn es darum geht, wie hier bei Meinecke nach dem Zusammenbruch, die eigenen Betrachtungsformen theoretisch zu klären und kritisch zu beleuchten. So ist der E i n f l u ß 'der neukantianischen Gesichichtslogik einmal daraus ersichtlich, daß die Kategorie des W e r tes f ü r Meinecke überhaupt erhöhte Bedeutung erhält. D e r neukantianische Gedanke wirkt sich ferner dahin aus, daß der Begriff des W e r t e s auch auf der methodologischen u n d erkenntnistheoretischen Ebene schon in Erscheinung tritt. Er ist nicht mehr rein weltanschaulich motiviertes Prinzip, sondern hat auch eine bestimmte geschichtslogische Funktion. Darüber dürfen aber keinesfalls die wesentlichen Unterschiede übersehen werden zwischen dem Wertgedanken Meineckes und dem Wertbegriff Rickerts. 286
Das W e r t s y s t e m R i c k e r t s war als etwas zeitlos und allgemein Gültiges gedacht, die Werte, die es enthält, sind ideale, absolute Werte. Der geschichtliche Gegenstand wurde nach Rickert dadurch zur Individualität konstituiert, „daß eine Gruppe von Tatsachen aus der unendlichen und unfaßbaren Fülle des Geschehens herausgehoben und zu einer Einheit geformt werde durch die Beziehung auf einen an sich gültigen Wert." 0 7 ) Das ist die berühmte Formel |der W e r t b e z i e h u n g . Durch sie sollte die subjektiv bedingte Auswahl des Historikers erst eine objektive Grundlage und wissenschaftlichen Charakter erhalten. Diese These von absolut gültigen Wertideen und einem transzendentalen W e r t system wurde gleicherweise von Troeltsch und von Meinecke abgelehnt. Für den Denker aus dem Geiste des Historismus war eine Begründung der historischen Individualität und ihrer individuellen Entwicklung auf zeitlos-absolute Werte undenkbar; vielmehr wurde dadurch die Individualität in ihrem Innersten getroffen und zerstört. T r o e l t s c h setzte an die Stelle der absoluten und transzendenten Werte die immanenten und relativen, das transzendentale Wertsystem wurde ersetzt durch seine Lehre von der W e r t r e l a t i v i t ä t . „Wertrelativität ist nichts anderes als Individualität im historischen Sinn", stellt Meinecke fest. Sie bedeutet, daß der W e r t nicht in irgendeinem absoluten System gesucht werden muß, sondern in der Individualität selbst. Relativität und Immanenz treten an die Stelle von Absolutem und Transzendenz. Der Wert, den der Historismus in den geschichtlichen Wesen sucht, ist nicht ein absoluter, sondern wesensmäßig individuell, dadurch wohl relativ, aber auch „jeweils eigenartige, an sich wertvolle Ausprägung eines unbekannten Absoluten". 5 «) Die Lehre von der Wertrelativität wird demnach von Meinecke in dem Sinne rezipiert, daß alles Geschichtliche als wesensmäßig relativ aufgefaßt, der Glaube an ein Absolutes dabei aber nicht verloren wird. Auch 57
) Vgl. dazu Hintze, a.a.O., 226. ) K. u. W., 21.
58
287
das ist eine typische Ausprägung des lebensphilosophischen Gedankens im Denken Meineckes: die Offenbarung des Absoluten im Geschichtlich-relativen zu suchen oder doch zu ahnen. „Der G l a u b e an ein unbekanntes A b s o l u t e s " bleibt trotz dem historischen Relativismus unverloren. „ Z u verlangen aber, daß dieses unbekannte Absolute sich enthülle, um mit Händen betastet werden zu können, ist lein Rest von anthropomorpher Gottesvorstellung." 59 ) Und an anderer Stelle heißt es: „Aber das Absolute offenbart sich dem modernen Menschen innerhalb des Horizontes, den er beherrscht, nur an zwei Punkten unverhüllt, im reinen Sittengesetz einerseits, in den höchsten Leistungen der Kunst anderseits. Wohl spürt er es auch sonst allenthalben wirksam in seiner Welt, aber 1er kann es nicht herausiwickeln aus dem Schleier des Zeitlich-Vergänglichen, in den es gehüllt ist. W i r sehen in der Geschichte nicht Gott, sondern ahnen ihn nur in der Wolke, die ihn umgibt." 60 ) Mit dieser Ersetzung des absoluten Wertsystems durch eine Theorie der W e r t r e l a t i v i t ä t ergibt sich noch ein weiterer entscheidender Unterschied zwischen der Geschichtslogik Rickerts und dem Historismus Meineckes und Troeltschs. Mit der Absolutheit und Idealität der Werte verband sich Rickert die These vom „ H a f t e n " der Kulturwerte an den historischen Wirklichkeiten. 61 ) Meinecke aber identifiziert Kulturwert und Kulturleistung und versteht die 5!)
) a.a.O., 21.
e
°) I. d. S., 542. cl ) R i c k e r t , Die Grenzen etc., 513 ff.; auch System der Philosophie, I, 147. Diese Auffassung zeigt sich auch bei W i n d e l b a n d , Einleitung in die Philosophie, 247, 254: „Den Begriff des Wertes finden wir allgemein so definiert, daß er alles bedeutet, was ein Bedürfnis befriedigt . . . Daraus folgt, daß die Werthaftigkeit . . . niemals dem Gegenstand für sich allein als Eigenschaft zukommt, sondern immer nur in der Beziehung auf ein wertendes Bewußtsein . . ." Oder besonders deutlich N. H a r t m a n n , Ethik, 136: „Werte haben kein reales Ansichsein . . . Ihr Wesen, ihre spezifische Sehweise bleibt deswegen eine bloß ideale."
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Werte als weil diese menwirken salität mit
integrierenden Faktor historischer Wirklichkeiten, nur zustande kommen können „durch Zusamder Werte realisierenden geistig-sittlichen Kauder mechanischen und biologischen Kausalität."
Der Wertbegriff Meineckes ist also ein wesentlich anderer als derjenige Rickerts; er kam nicht von dessen Geschichtslogik und Wertphilosophie in Meineckes Denken, sondern er ist geistesgeschichtlich verwurzelt im i d e a l i s t i s c h e n H i s t o r i s m u s R a n k e s . Daher kann Meinecke wohl mit Recht jenes berühmt gewordene Wort Rankes, das von der Unmittelbarkeit jeder Epoche zu Gott und yon ihrem Selbstwerte spricht und damit dem Individualitätsund Wertgedanken die letzte Sanktion erteilt, als das Leitmotiv seines ganzen geschichtlichen Denkens und Schaffens bezeichnen. So bekennt Meinecke in einem seiner letzten Aufsätze: „Ich habe diese Worte gleich nach dem Erscheinen jener Vorträge 1888 (gemeint sind die Vorträge „Über die Epochen der neueren Geschichte") in mich aufgenommen und seitdem durch ein halbes Jahrhundert mit mir herumgetragen, oft verwendet und sie eigentlich als das höchste Vermächtnis des Rankeschen Geistes an alle, die in der Geschichte mehr suchen als den Ablauf von Ursachen und Wirkungen, angesehen." 02 ) Und so erscheint es nicht nur als eine bloße Geste, wenn Meinecke auch seine Ausführungen über das Wertproblem und damit seine Auseinandersetzung mit der Wertphilosophie mit diesem Worte Rankes beschließt. Es ist das Bekenntnis, daß das Wort auch durch die Erschütterungen seiner idealistischen Geschichtsanschauung nicht berührt werden konnte. In diesem weiteren geistesgeschichtlichen Rahmen gesehen erhält der Wertgedanke erst die richtige Einordnung in Meineckes Denken: er ist ein organischer Baustein in seiner i d e a l i s t i s c h e n G r u n d k o n z e p t i o n . So verbindet sich der Wertgedanke auch unmittelbar mit all jenen Grundgedanken, die in Meineckes Dualismus um den Pol des Gei ,;2
) Aphorismen, 127.
Hl
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stes sich gruppieren und gleichsam das idealistische Réduit darstellen. D i e Verbindung, j a Identität von W e r t u n d I n d i v i d u a l i t ä t betont Meinecke wiederholt. „Jeder Kulturwert ist eigenartig, individuell, unersetzlich durch andere. W e r das Individuelle an ihm herausschmeckt, wird auch sofort ein G e f ü h l seines Wertes haben und ihn darum nicht nur als wichtiges Glied der Kausalkette, sondern auch u m s e i n e r s e l b s t w i l l e n schätzen." Jeder W e r t also ist Individualität zugleich. „ A l l e Kulturwerte . . . sind zugleich historische Individualitäten . . . " Aber auch umgekehrt gilt die Gleichung. „ W o h l gibt es auch gleichgültige und wertfreie Individualität — jeder Gegenstand hat eine solche. Historische Individualitäten aber sind nur solche Erscheinungen, die irgendeine Tendenz zum Guten, Schönen oder Wahren in sich haben und dadurch f ü r uns bedeutungs- und wertvoll werden." 6 3 ) Individualität bedeutet für Meinecke, wie schon für Ranke, immer zugleich W e r t . Auch hier ergibt sich ein bedeutender Unterschied zur Logik Rickerts, wo eben rein formal jeder Gegenstand als Individualität bestimmt wird. M i t der Identität von W e r t und historischer Individualität ist auch die Verbindung von W e r t u n d I d e e gegeben, indem die Ideen ebenfalls zu Individualitäten werden, nicht nur dort, wo sie zu realen geschichtlichen Wesen sich verwirklichen, sondern auch dort, wo sie rein geistige, ideale Gebilde bleiben. A l s solche aber sind sie „die höchsten Punkte, die der Mensch erreichen kann, in denen sein schauen der Geist und seine schaffende K r a f t sich vereinigen und zur Gesamtleistung kommen. U m i h r e r s e l b s t w i l l e n wie um ihrer W i r k u n g willen sind sie der universalhistorischen Betrachtung würdig." 0 4 } Und ganz ähnlich heißt es an anderer Stelle: Die Ideen seien nicht nur um ihrer kausalen Wirksamkeit willen erforschenswert, sondern „auch l!3) g4
290
K. u. W., 17 & 18. I.d.S., 26.
u m i h r e r s e l b s t , um ihres individuellen E i g e n w e r t e s w i l l e n . . . sind sie zu betrachten, nachzuleben und darzustellen mit soviel Lebensblut, als man ihnen wieder einzuflößen vermag." 6 5 ) D e r Ausdruck „ u m ihrer selbst willen" ist wiederum ein sicheres Kennzeichen, um was es geht. Meinecke sagt es selbst mit dem Begriff des „Eigenwertes": ein geschichtliches W e s e n soll dann nicht vom Gesichtspunkt der Kausalbetrachtung, sondern vom Aspekt der W e r t b e t r a c h t u n g aus beurteilt und dargestellt werden. W i r werden hier zum ersten M a l deutlich auf jene andere Dualität von Kausalität und W e r t hingewiesen, auf den Dualismus der Betrachtungsweisen. Doch stellen wir diese Frage noch ein wenig 'zurück. Alle die Begriffe, die durch die Kategorie des W e r t e s lebendig wurden, weisen auf einen Grundgedanken zurück, ohne den sie leere Illusionen wären, auf eine Grundidee, die sie erst zu dem macht, was sie sind, und das ist die» I d e e d e r F r e i h e i t . W i e das Individuum ohne Freiheit f ü r Meinecke undenkbar ist, so setzt auch der W e r t g e d a n k e mit der Idee der Individualität den Gedanken der Freiheit voraus. D e r W e r t ist gleichsam die empirische Erscheinung des metaphysischen Prinzips der Freiheit. Schon der Begriff der geistig-sittlichen Kausalität enthält ja den Begriff der Freiheit in sich, bestimmte doch Meinecke schon gegenüber Lamprecht die Freiheit als „geistig-sittliche" Spontaneität. W e r t e können niemals als kausale Produkte allgemeiner Verhältnisse und K r ä f t e verstanden werden (wie es nach Meinecke der Positivismus tut), sondern sie entstehen nur durch die geistig-sittlichen Impulse des freien schöpferischen individuellen Geistes. Die geistig-sittliche Kausalität ist es, welche die W e r t e realisiert. Nicht die Lebens- und N a t u r notwendigkeiten können W e r t e schaffen, wenn sie auch Antrieb und Bedürfnis dazu schaffen und wecken können, sondern nur die geistige K r a f t , die aus der Sphäre -der Freiheit stammt. Daher ist geistig-sittliche Kausalität gleichbe••'•') K. u. W., 26. in
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deutend mit Spontaneität und damit der Gegenpol zur mechanischen und biologischen Kausalität. K a u s a l ist s e ihrer W i r k u n g nach im Kausalzusammenhang, s p o n t a n ihrem Ursprünge nach im freien schöpferischen und sittlichen Geiste. Spontaneität kann nur als Kausalität zur W i r k u n g kommen. Zwischen den Polen von N a t u r und Geist, von gesetzlicher Kausalität und schöpferischer Spontaneität, spielt sich das geschichtliche Leben ab. So erhalten auch die W e r t e ¡und die K u l t u r , welche j a die Summe der W e r t e ist, den Doppelcharakter alles Geschichtlichen. „ K u l t u r auf Spontaneität, auf geistig-sittliche W e r t e erzeugender Kausalität beruhend und doch auch wieder e n g gebunden an die Kausalitäten biologischer und mechanischer A r t — das ist das R ä t sel, das der Historiker nicht lösen kann." W i r stoßen .auch hier wieder auf das, was wir die typische Schwierigkeit des idealistischen Dualismus genannt haben: das Unvereinbare zusammenzubringen, die Tatsache zu verstehen, daß das a n s i c h Gegensätzliche und Unvereinbare i m L e b e n in engster kausaler V e r k n ü p f u n g uns erscheint. 6 6 ) Der Idealist sträubt sich gegen jegliche kausale Erklärung geistiger Akte. W i e Troeltsch sieht Meinecke in den W e r ten und Ideen, in den schöpferischen Energien der Individualitäten, unerklärliche Durchbrüche des Geistes in die n a t u r h a f t bestimmte W e l t . D e r Begriff oder vielmehr das Bild des D u r c h b r u c h e s ist f ü r Meinecke wie f ü r Troeltsch typisch. Dieses Bild weist wiederum auf den dynamischen Charakter des dualistisch verstandenen geschichtlichen Lebens. „ H i n t e r allem Suchen nach Kausalitäten steht, mittelbar oder unmittelbar, das Suchen nach W e r t e n , nach dem, was man K u l t u r im höchsten Sinne nennt, d. h. Durchbrüche, O f f e n b a r u n g e n des Geistigen innerhalb des kausalen Naturzusammenhangs." O d e r auch: „ K u l t u r ist also O f f e n barung und Durchbruch eines geistigen Elementes innerhalb M
) a. a. O., 20.
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des allgemeinen Kausalzusammenhangs." 6 7 ) Auch der Begriff der O f f e n b a r u n g ist kennzeichnend f ü r die idealistische, aber auch relativistische H a l t u n g des Historismus Meineckes und Troeltschs. Es offenbart sich das Absolute im Geschichtlichen, und es offenbart sich das Geistige im Natürlichen. Durch solch ständiges Zusammenwirken aller drei Kausalitäten erhalten auch die W e r t e den Stempel des Dualismus und der Polarität von N a t u r u n d Geist aufgedrückt. So kennt Meinecke mehrere Stufen von W e r t e n , je nachdem ob der Anteil der natürlich-triebhaften oder der geistig- sittlichen K r ä f t e an ihrem Zustandekommen überwiegt. M i t Troeltsch unterscheidet er einmal niedere, rein a n i m a l i s c h e L e b e n s w e g e , die f ü r den Historiker nur als Kausalitäten f ü r höhere W e r t e in Betracht kommen und höhere g e i s t i g e L e b e n s - u n d K u l t u r w e r t e , deren Erfassung das höchste Ziel des Historikers bilden soll. Gemäß dem Janusgesicht selbst des höheren geschichtlichen Lebens, das eine der N a t u r und eine dem Geist zugekehrte Seite hat, werden auch die eigentlichen Kulturwerte noch einmal unterteilt. Die einen gehören ihrer Entstehung nach in das zwischen naturhaften und kulturhaften Bereichen gelegene Zwischengebiet, wo N a t u r und Geist, biologische und geistig-sittliche K r ä f t e andauernd sich mischen und ineinander überfließen. Meinecke nennt dieses Zwischengebiet Z i v i l i s a t i o n , um es von der höheren, im vollen Sinne geistigen K u l t u r zu scheiden. D e r auf das N ü t z liche gerichtete und vom Lebenswillen getriebene Intellekt ist hier H a u p t k r a f t . Technik und Politik sind die H a u p t lebensgebiete, die in die entsprechende Kategorie von K u l t u r werten gehören. Sie entstehen also zwischen mehr biologischer Anpassung und geistiger Leistung und werden daher je nach Standpunkt desi Historikers bald mehr aus dem leinen, bald aus dem andern Motiv erklärt. I n diesen Bereich zwischen naturhaftem und kulturhaftem Leben, zwischen C7
) a.a.O., 8 & 14. 293
Kausalzusammenhang und Wertzusammenhang, hat Meinecke das p o l i t i s c h e H a n d e l n und s t a a t l i c h e L e b e n in seiner Darstellung der Geschichte der Staatsräson verwiesen. So schreibt er einmal in diesem Sinne, daß die Politik „eine ethische und eine elementare Seite zugleich hat und daß der Staat ein Amphibium ist, das in der ethischen und in der natürlichen Welt zugleich lebt." Oder 'wir kennen jenes andere W o r t über das Handeln nach Staatsräson: „Aber der besondere Kausalzusammenhang, den es in sich bildet, ist zugleich ein Zweck- und Wertzusammenhang, ein teleologischer Zusammenhang." 68 ) Und so wurde auch die M a c h t , die ja die Voraussetzung aller Politik ist, von dem Piedestal, das ihr vom deutschen geschichtlichen Idealismus in der Welt der geistig-sittlichen Kulturwerte errichtet worden war, hinuntergestürzt — tief hinunter in das Einfluß-, ja Herrschaftsgebiet biologischer und animalischer Elemente. W a s höchste geschichtliche Errungenschaft der menschlichen Kultur geschienen hatte, das erkannte Meinecke nun als unendliche, vielleicht nie zu verwirklichende Aufgabe: die Erhebung von Macht, Politik und Staat von der Ebene des Kratos auf die Höhe des Ethos, vom biologischen Trieb zur sittlichen Verantwortung, von der Natur zum Geist. Die Werte, die in diesem Zwischenreich entstehen, sind also noch nicht eigentlich Kultur; sie sind noch seelenlose Verstandesleistung, bloße Zivilisation, nicht Kultur. „Es muß — ja, wir haben kein anderes W o r t dafür — S e e l e mitschwingen, wenn das bloß Nützliche zu etwas Schönem oder Gutem werden soll. . . Kultur tritt erst da ein, wo der Mensch mit seiner ganzen Innerlichkeit, nicht nur mit dem Willen und Verstände den Kampf mit der Natur aufnimmt, wo er wertend im höheren Sinne handelt, d. h. wo er etwas Gutes oder Schönes u m s e i n e r s e l b s t w i l l e n schafft oder sucht oder das Wahre u m s e i n e r s e l b s t w i l l e n '«) I. d. S., 20 & 3. 2
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sucht." 69 ) Wieder treffen wir auf den Begriff, der;uns sicheres Kennzeichen ist, daß es um den Wert, den Eigenwert eines historischen Gebildes geht. Aber auch der lebensphilosophisch-irrationalistische Gedanke dringt hier in voller Klarheit durch: es ist das Ausspielen der „Seele" gegen den „Geist" und dessen „Erniedrigung" zum bloßen Verstände und Intellekt. Der W e r t und die Kultur enthalten ¡also wesensmäßig ein irrationales Element, durch welches sie überhaupt erst entstehen können, da der Intellekt nur zivilisatorische Werte erzeugen kann. Durch dieses irrationale Moment erhält dann aber anderseits der Begriff des Geistes bei Meinecke überhaupt einen irrationalen Akzent, wenn er nicht ausdrücklich als rationales Prinzip der Seele gegenübergestellt wird. „ W i r verstehen unter G e i s t nicht das Psychische schlechthin, sondern im alten Sinne das höher entwickelte s e e l i s c h e Leben, eben das, welches «unterscheidet wählt und richtet» und dadurch Kultur hervorbringt." Typisch für Meinecke, wenn er die Zivilisation „seelenlose, geistlose Verstandesleistung" nennt! Der Verstand ist also geistlos! Das kann nur einen Sinn haben, wenn eben ider Geist wesentlich irrational, s e e l i s c h verstanden wird. W i r werden auf dieses Problem in der Theorie des Historismus noch näher einzutreten haben. 70 ) Die Werte der höchsten (seelischen!) Sphäre entstehen durch eine unmittelbar auf ihre Verwirklichung gerichtete Anstrengung. I n ihnen versucht der Mensch den steilsten Aufstieg aus naturhafter Gebundenheit zur Sphäre des Seelisch-Geistigen. Religion, Philosophie, Kunst, Wissenschaft und, wenn auch nicht ungetrübt, politische und soziale Ideen sind Werte, die in diese höchste und eigentliche K u l t u r s p h ä r e gehören. Wenn die Werte die in die Erscheinung tretenden Erzeugnisse der Freiheit sind, so ist die Kultur nichts anderes als die Summe dieser Werte, „Kultur bedeutet Erzeugung jeweils eigenartiger geistiger «s) K. u. W., 15. 70 ) a.a.O., 14. 295
Werte, historischer Individualitäten." Die Verwandtschaft mit J a c o b B u r c k h a r d t wird hier augenfällig. Auch er verlangte nicht nur f ü r die Persönlichkeit des Einzelnen Freiheit und Durchsetzung der individuellen Anlage, sondern auch für die Gesamtkultur. Darum tritt in seiner kulturgeschichtlichen Betrachtung der Freiheit als Antipode der äußere Zwang nicht in der Form der Notwendigkeit entgegen, sondern in der Form der Macht. Die Kulturautfassung und Bestimmung der Geschichte als Kulturgeschichte bringt Meinecke ganz in die Nähe von Burckhardt und H u i z i n g a . Aus dieser geistigen Verwandtschaft leitet Steding darin auch seine These von der „Neutralisierung" des Reiches und seiner Kultur und Wissenschaft ab. Der Bestimmung der Geschichte als Kulturgeschichte stellte der neudeutsche Aktivismus die Bestimmung der Geschichte als politische Geschichte gegenüber. Wenn Meinecke zur Erkenntnis kommt, „daß Geschichte nichts anderes ist als K u l t u r g e s c h i c h t e . . . " 7 1 ) , dann hält dem jener Aktivismus entgegen: „Eine Wissenschaft ist nur dann objektiv, wenn sie p o l i t i s c h i s t . . . " 7 2 ) Die nach langen mühsamen Irrfahrten endlich erreichte Position des deutschen geschichtlichen Denkens, wie sie hier bei Meinecke zum Ausdruck kommt, wird durch das aufkommende „dritte Reich" sogleich wieder vernichtet. W a s der deutsche Geschichtsidealismus nach langen Irrwegen durch die Macht des Lebensschicksals endlich zu erkennen gezwungen wurde, daß der höchste W e r t K u l t u r sei und nicht Macht, daß das W e s e n der Geschichte daher Erzeugung von Kultur71
) a. a. O., 23, w o auch das frühere Zitat steht. ) Steding, a. a. O., 299. Vgl. zu diesem Problem neben dem schon erwähnten Aufsatz von Krieck und der Abhandlung Schröders noch: W a l t e r F r a n k , Kämpferische Wissenschaft, 1934 und die Besprechung Meineckes, H. Z. 152, 102. Schließlich den ersten Aufsatz aus dem erwähnten Sammelhand „Das nationalsozialistische Deutschland und die Wissenschaft", der vom einstigen Erziehu'ngsmin'ister R u s t verfaßtest und ins gleiche Horn stößt wie Krieck. 72
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werten sei und nicht politischer Lebenskampf — diese ganze schwer erkämpfte Erkenntnis zerfiel, kaum daß sie aufgetaucht war in den besten Geistern, sogleich wieder in nichts, bevor sie überhaupt das deutsche Denken hatte durchdringen können. Aber Meinecke postuliert damit nicht etwa einfach wieder den alten Gegensatz von Kulturgeschichte und politischer Geschichte. „ D e r Streit der historischen Richtungen zwischen politischer Geschichte und Kulturgeschichte konnte nur deswegen entstehen, weil man sich hüben und drüben über das Verhältnis von Kausalitäten und Werten in der Geschichte nicht im klaren war." 7 3 ) Die Hauptforderung an die Geschichtschreibung geht dahin, das richtige G l e i c h g e w i c h t zwischen Kausalforschung und Wertdarstellung zu finden. Zuerst habe vielleicht H u m b o l d t die Forderung nach einer Darstellung der geistigen Werte der Menschheit, fundiert auf die Erforschung der Kausalitäten, gestellt. Die ideale Verwirklichung einer organischen Verbindung von Kausalitätenforschung und Wertdarstellung sieht Meinecke natürlich bei R a n k e . J a c o b B u r c k h a r d t aber ist derjenige unter den großen Historikern des 19. Jahrhunderts, „der am entschiedensten den Schwerpunkt von den Kausalitäten auf die Werte verschoben hat." 7 4 ) Meinecke selbst wendet sich sowohl gegen den nur die Kausalitäten berücksichtigenden Positivismus und Naturalismus wie gegen den Subjektivismus und Mystizismus und andere „Synthese"-Tendenzen. Man beachte die treffende Charakterisierung dieser Tendenzen: „Subjektivistische und mystische Empfindungen regen sich und drängen, ohne den mühseligen Weg der Detailforschung, zu unmittelbarer Vereinigung mit der Seele der Vergangenheit. Man will wie man sich gern ausdrückt, nur das «Ewige» und «Zeitlose» aus ihr herausholen und läßt ihre zeitgeschichtlichen Voraus" ) K . u . W., 23. 71
) In einer B e s p r e c h u n g Burckhardt, H. Z. 138, 82.
von
Carl
Neumanns
Werk
über
297
Setzungen verdämmern. M a n konstruiert es sich ohne viel Induktion, aus einigen frappanten Spuren in der Überlieferung und mit übermäßigem Zuschuß eigener Ideale, und umarmt dann das selbstgeschaffene Phantasiegebilde." M i t sicherem Blick erkennt Meinecke die Gefahren, die der deutschen Geschichtschreibung drohen: „ Z ü n f t i g e Verknöcherung heißt die eine, subjektivistische Verwilderung die andere der Klippen, an denen unsere Wissenschaft im Laufe des nächsten Menschenalters scheitern könnte." Daher stellt er den Grundsatz auf: „ D i e Bussole dagegen kann immer nur sein: Keine Kausalitäten ohne Werte, keine W e r t e ohne Kausalitäten." 7 5 ) Damit erscheint der alte, von Meinecke um die Jahrhundertwende selbst mit ausgefochtene und seither nie zur Ruhe gekommene geschichtswissenschaftliche K o n f l i k t in neuer Beleuchtung, die ihn auf einer höhern Ebene zu schlichten sucht. W i r haben das Problem bereits angetönt: Der S t a a t soll nicht etwa verschwinden aus der als Kulturgeschichte bestimmten Geschichtschreibimg, vielmehr bleibt er als k a u s a l w i r k s a m s t e Institution der Kultur durchaus im Mittelpunkt der historischen Forschung. Denn die Ermittlung von Kulturwerten bedarf j a immer der umfassendsten Kausalforschung. Aber der Staat ist nur noch e i n K u l t u r w e r t u n t e r a n d e r e n , von denen ihm einige unzweifelhaft überlegen sind. „Religion in ihrer reinsten Form und Kunst in ihren höchsten Leistungen, das sind die höchsten Kulturwerte. Dann dürfen dahinter Philosophie und Wissenschaft ihren Rang beanspruchen." In diesen höchsten Werten wird dann auch letztlich das Absolute offenbar, wie wir schon erkennen konnten. 76 ) Gerade aber durch diese Neueinordnung des Staates in, der H i e r a r c h i e d e r W e r t e glaubt Meinecke die zentrale Bedeutung der politischen Geschichtschreibung innerhalb der allgemeinen Geschichtswissenschaft überhaupt tiefer begrün7f>) 70)
298
K.u.W., 12. a. a. O., 24.
det zu haben. D e n n jene genannten W e r t e sind wohl die höchsten Errungenschaften des Geistes, aber sie gestalten allein nicht das schaffende Leben selbst. Der f ü r Meinecke wesentliche Unterschied von „ v i t a c o n t e m p l a t i v a " und „ v i t a a c t i v a " taucht hier auf. Diese ist viel problematischer durch ihre naturhaften Bindungen, aber gerade daher ist es höchste A u f g a b e — u n d damit erheben sich Meineckes Gedanken zur ethischen Forderung — , Kulturwerte in ihr und an ihr zu erzeugen. Dies gilt vor allem f ü r das p o 1 i t i s c h e G e b i e t . Es liegt hier das Problem unseres Zeitalters schlechthin. U n d wenn der Historiker daher seine Aufmerksamkeit diesem kausal wirksamsten F a k t o r des geschichtlichen Lebens zuwendet, dann stellt er sich mitten in das volle Leben hinein und arbeitet a m brennendsten Problem der Z e i t durch sein Denken u n d Schaffen mit. Denn „den Staat, in dem man lebt, zu vergeistigen und zu versittlichen, auch wenn man weiß, d a ß es nie ganz gelingen kann, das ist, nächst der Forderung, die eigene Persönlichkeit geistig und sittlich zu erhöhen, die höchste der Forderungen, die an ethisches Handeln gestellt werden kann." 7 7 ) M i t innerer Notwendigkeit werden auch hier Meineckes geschichtstheoretische Gedanken zum weltanschaulichen Postulat. D a m i t sind wir aus der rein geschichtstheoretischen Betrachtung in die Sphäre der E t h i k übergetreten. W i r sind damit aber nicht etwa vom W e g e abgekommen, vielmehr ist dies die schönste Bestätigung f ü r die schon o f t angedeutete Tatsache, daß Meineckes Gedanken vom methodologischerkenntnistheoretischen Gebiet nicht n u r zurückschweifen, um in metaphysischen Bereichen ihre philosophische und weltanschauliche Verankerung zu finden, sondern auch vorwärts weisen, um, zur ethischen F o r d e r u n g sich verdichtend, ins schaffende Leben selbst aktiv einzugreifen. Dieser ethische, in die vita activa eingreifende Endzweck der Geschichtschreibung darf aber keinesfalls zu f r ü h auf die Arbeit des Historikers einwirken, sonst ist der gewöhn" ) a.a.O., 26. 299
liehen Tendenzhistorie und aller moralisierenden Geschichtschreibung T ü r und T o r geöffnet. Wenn auch theoretisches Bedürfnis nach kausaler Erkenntnis und tieferes seelisches Bedürfnis nach Lebenswerten untrennbar im historischen Interesse verbunden erscheinen, so ist doch das reine Streben nach W a h r h e i t die höchste Aufgabe allen geschichtlichen Denkens und Schaffens. Das Suchen nach Werten in der Geschichte braucht nun aber keineswegs dieses reine Erkenntnisideal schon zu durchbrechen; denn „von dem Eigenwerte historischer Individualitäten ist logisch zu scheiden der Wert, den sie f ü r uns und unser Leben haben." Bei letzterem wird sich das subjektive Bedürfnis naturgemäß stärker auswirken, und aus der Wertdarstellung wird dann unmerklich die Wertung und das Werturteil. Meinecke ist sich dabei vollkommen im klaren darüber, daß auch die Darstellung der Eigenwerte nie geschehen kann ohne die eigene Stellungnahme. „Unvermeidlich wirkt ja nun bei der Erfassung dieser Eigenwerte auch das Wertsystem der eigenen Zeit als subjektives Apriori jeder neuen Generation mit. Aber wir schieben es grundsätzlich zurück, um, soweit es uns eben möglich ist, die Dinge selbst sprechen zu lassen." 78 ) Es ist im Grunde noch dasselbe Erkenntnisideal wie bei Ranke, doch der T o n ist realistischer, die Haltung skeptischer, da die Einsicht in das innere Wesen und die inneren Bedingungen der geschichtlichen Erkenntnis gewachsen ist. Damit ergibt sich wiederum ein Gegensatz zu Rickert, der wohl die „ p s y c h o l o g i s c h e Untrennbarkeit des Wertens von der Wertbeziehung" zugibt, das Wertin aber vom l o g i s c h e n Wesen der Geschichte trennen wollte. 79 ) W a s psychologisch untrennbar von der Tätigkeit des Historikers ist, so hält Meinecke dem entgegen, muß auch vom Logiker als seelisch wesenhaft mit ihr verbunden anerkannt werden. Eine Geschichtslogik, die ihr 78
) A p h o r i s m e n I, 28.
79
) Rickert, P r o b l e m e der Geschichtsphilosophie, 67; Grenzen, 245 ff.
300
Ziel erreichen will, muß „den wirklichen, voll lebendigen, nicht den logisch konstruierten Historiker analysieren — und der verhält sich in der Regel, auch wenn er es nicht will, wertend." Das ist nichts anderes als eine scharfe Ablehnung aller geschichtslogischen Bemühungen im Sinne Rickerts. Der Gegensatz von Logik und Geschichte, der sich uns hier auftut, ist wiederum eine typische, j a d i e typische Auswirkung des lebensphilosophischen Gedankens überhaupt. Er ist für das geschichtliche Denken und die Erkenntnistheorie Meineckes grundwesentlich und wird uns noch oft zu beschäftigen haben. „Von Wertungen freie Geschichtschreibung ist entweder nur Materialsammlung und Vorarbeit für eigentliche Geschichtschreibung, oder, wenn sie den Anspruch auf solche macht, wirkt sie fade . . ."») Dies ist genau der Standpunkt C r o c e s , der j a von hier aus seine scharfe aber auch ungerechte Kritik Rankes und der sogenannten „reinen" Geschichtschreibung unternimmt. Anderseits sieht Meinecke genau, daß der Geschichtschreibung hier an diesem Punkte die größten Gefahren drohen wie t e n d e n z i ö s e U m b i e g u n g , I d e a l i s i e r u n g und V e r z e r r u n g . Er anerkennt also durchaus, daß wir aus der Beschäftigung mit der Geschichte auch einen Gewinn für das Leben ziehen wollen, und er nennt dieses Bedürfnis ein nicht auszurottendes Bedürfnis aller Geschichtschreibung. Deutlich dringt hier doch wiederum das Rankesche Ideal durch: die Wissenschaft dient dem Leben dann am besten, wenn sie reine o b j e k t i v e Wissenschaft bleibt und von aller bewußten Wirkung auf das Leben absieht. In diesem Sinne bekennt denn auch Meinecke: „Die feinste und höchste der Lehren,, die die Geschichte gibt, ist ahcr Xvohl die, die aus der reinen Wertung der historischen Individualitäten an sich . . . ungesucht entspringt. Ihr Eigenwert ist dann das, was auch für uns wertvoll wird." 8 1 ) Und jn «") K . u . W . , 8, A n m . 1. a. a. O., 23. V g l . dazu R a n k e und seine A b l e h n u n g der T h e s e von G e r v i n u s „ W i s s e r s c h a f t f ü r das Leben". R a n k e ist s e h r einversl)
3°
gleichem Sinne heißt es in der Einleitung zur „Idee der Staatsräson": „Die historische Betrachtung des Problems der Staatsräson, die wir versuchen wollen, hat sich also von aller moralisierenden Absicht frei zu halten. An der moralischen Wirkung wird es dann hinterdrein schon nicht fehlen." Meinecke verfolgt damit ein entsprechendes Ideal für die Geschichtswissenschaft wie etwa Schiller für die Kunst. 82 ) Wie diese objektive und kontemplative, eben historistische Haltung an seinem Vorbild Ranke immer wieder gerügt wurde, 83 ) so wurde sie auch an ihm selbst kritisiert, ja als Schwäche ausgelegt. Hierin fanden sich die A k t i v i s t e n der verschiedensten Lager, wenigstens im Grundsätzlichen: sei es der von reinstem idealistischem und humanistischem Ethos erfüllte E r n s t T r o e l t s c h , der seinem Freunde die Neigung vorwirft, „aus der grundlegenden Korrelation zur objektiven Kontemplation auszubrechen",81) oder sei es die von einem neuen Totalitätsideal be standen,
daß
die Wissenschaft auf
das Leben, wirken
„ A b e r um zu wirken, m u ß sie vor allen Dingen
müsse.
Wissenschaft
sein; denn unmöglich kann man seinen S t a n d p u n k t in dem Leben n e h m e n und diesen auf die Wissenschaft übertragen: dann wirkt das Leben auf die Wissenschaft, nicht die Wissenschaft auf das Leben . . . Wir k ö n n e n n u r dann eine w a h r e
Wirkung
auf die G e g e n w a r t ausüben, wenn wir von derselben
zunächst
absehen und uns zu der freien, o b j e k t i v e n Wissenschaft erheben.'' S . W . 51/52, 574 f. s2
) I. d. S., 16. Wir denken f ü r S c h i l l e r vor allem an seinen Aufsatz „Über den G r u n d des Vergnügens an tragischen Gegenständen". 83
) Typisch f ü r die Einstellung der n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e n Geschichtstheorie zu R a n k e ist wiederum die Auffassung K r i e c k s , wie sie in d e r A b h a n d l u n g Schröders wiedergegeben und dann, auch breitgeschlagen wird. Vgl. auch die Kritik Troeltschs, Historismus, 696. *4) Troeltsch, a. a. O., 606. Auseinandersetzungen Meineekes mit dem Wissenschafts- und Objektivitätsideal T r o e l t s c h s finden sich K . u . W . , vor allem 23, Anm. 2; I. d. S., Schlußkapitel; am ausführlichsten im Aufsatz „Troeltsch und das Problem des H i s t o r i s m u s " in „Staat und Persönlichkeit". 302
sessene n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e Geschichtschreibung, die Meineckes geschichtlichem Schaffen typischerweise „ d e n M a n g e l an K r a f t u n d M u t " v o r w i r f t , „von der eigenen weltanschaulichen H a l t u n g als von einer Entscheidung u n d von einem Bekenntnis zu sprechen." 8 5 ) — W e n n wir von hier aus rückblickend die Problematik von W e r t e n u n d K a u s a l i t ä t e n und weiterhin auch die andern Probleme dieses ganzen Abschnittes in ihrer E n t w i c k l u n g zu überschauen suchen, d a n n sehen wir, wie sie wohl schon f r ü h sich r ü h r e n , ohne aber zunächst das stille u n d ruhige W a s s e r einer in idealistischem Geiste betriebenen Geschichtsbetrachtung e r n s t h a f t aufzuwühlen- wie d a n n aber die katastrophalen Ereignisse der vita activa auch „ d a s E i l a n d reiner Wissenschaft" 8 ®) zu überfluten drohen u n d damit auch die Probleme der vita contemplativa in die W i r b e l d e r Z e i t gO e r a t e n ;* wie alles auseinanderzufallen d r o h t : mit Reich und N a t i o n auch die idealistischen und spezifisch deutschen G r u n d p o s i t i o n e n in Staatsauffassung, W e l t a n s c h a u u n g und Geschichtsbetrachtung; wie dann in heißem Bemühen versucht wird, die lebensfähigen G r u n d g e d a n k e n der alten Anschauung hinüberzuretten und der neuen U m g e b u n g und A u f g a b e anzupassen, die auseinanderstrebenden T e i l e zu einer neuen organischen Einheit zusammenzufassen; wie diese N e u o r d n u n g von G e d a n k e n und E r f a h r u n g e n , Erkenntnissen und Idealen n u r zum T e i l gelingen k o n n t e und wie endlich durch den bald a u f k o m m e n d e n T o t a l i t a r i s m u s u n d Barbarismus der aktive Lebenswille Meineckes in Skepsis u n d Ästhetizismus verdrängt, aber auch sublimiert wurde. Wesentlich ist die Erkenntnis, d a ß die S c h a f f u n g eines neuen d u a l i s t i s c h e n W e l t - u n d Geschichtsb i l d e s nicht in der angestrebten „ h a r m o n i s c h e n " W e i s e gelingen konnte. Die W u n d e n , die das Lebensschicksal der W e l t - und Geschichtsanschauung unseres Historikers geschlagen hatte, vernarbten nicht so schnell, und durch den •S5) Schröder, a . a . O . , 127. •"•) P. u. D., 462.
3°3
gewaltsam erfolgten Dammbruch strömten die heterogensten Elemente in Meineckes Denken ein. I n keiner der geschichtstheoretisehen Grundpolaritäten aber wirkt sich das dualistische Prinzip mit solcher Vehemenz aus wie in der Polarität von Kausalität und Wert. Nirgends erscheint die Spannung so groß wie zwischen diesen beiden Polen. Ständig droht das geschichtliche Leben in die zwei Seiten von Wert und Wirklichkeit, von Sollen und Sein auseinanderzufallen. Typisch aber ist es für die weltanschauliche Haltung des dualistisch gewordenen Idealismus, daß Wirklichkeit und Kausalität auf die gleiche Seite des polaren Spannungsfeldes geraten. Dieser unaufhebbaren Spannung sich immer bewußt zu bleiben, in aller theoretischen Reflexion sie zu beachten, beide aber immer zu berücksichtigen in der Einsicht, daß nur beide zusammen, Kausalität und Spontaneität, das geschichtliche Leben in seiner Gesamtheit, in seiner „gespaltenen Einheit" ausmachen — das bleibt das tiefste Bemühen unseres Historikers. Die „typische Schwierigkeit" des dualistischen Idealismus zeigt sich auch hier: das Unvereinbare, das a n s i c h , d. h. im Wesen Unvereinbare doch zusammenzubringen, weil es eben i m L e b e n als Einheit, wenn auch als gespaltene Einheit erscheint. Meinecke ist sich dieser Schwierigkeit wohl bewußt, wie wir sehen konnten. Im Bereiche des Wissens ist sie nicht zu lösen, daher transzendiert er die „Lösung" in die Sphäre des Glaubens. Immerhin hat Meinecke, trotz der Erkenntnis, daß es sich hier um ein Rätsel handle, das der Historiker nicht lösen könne, versucht, wenigstens anzudeuten, um was es hier geht. So schreibt er noch in seinem letzten Buche über die „deutsche Katastrophe", wo es sich darum handelt, die Vermassung des modernen Lebens zu verstehen: „ W i r unterscheiden Kausalitäten und Werte in der Geschichte, suchen dabei die Gewalt auch der gröbsten und elementarsten Kausalitäten . . . voll zu verstehen, geben uns aber nur deswegen die Mühe, sie zu verstehen, weil es sich dabei letzt3°4
lieh um das Schicksal der großen geistigen Werte des Abendlandes handelt. Heute, wo diese bei uns tödlich bedroht sind durch die Auswirkungen der eben erlebten Katastrophe, haben wir auch doppelte Veranlassung, den e l e m e n t a r e n d u n k l e n U n t e r g r u n d kennenzulernen, auf dem alles Herrliche und Heilige der abendländischen und insbesondere unserer eigenen nationalen Kultur erwächst. Und wenn wir von «Ursachen» sprechen, die von den Kausalitäten zu den Werten hinüber wirken, so meinen wir damit nichts rein M e c h a n i s c h e s nur, sondern auch t i e f e und g e h e i m n i s v o l l e L e b e n s z u s a m m e n hänge."»') Auch hier also endet das Problem im Geheimnis. Immerhin gibt uns Meinecke einige Anhaltspunkte. Wenn wir ihn voll verstehen wollen, müssen wir jenes von uns zurückgestellte Problem noch einmal näher betrachten : das Verständnis des Begriffs des „K a u s a l z u s a m m e n h a n g e s " . Doch sei zunächst noch gerade jenes andere Wort über Machiavelli zitiert, wo sich Meinecke ebenfalls über das hier aufgeworfene Problem des Zusammenhanges und Zusammenwirkens von Kausalsphäre und Wertsphäre in grundsätzlicher Weise ausspricht: „Virtù und necessità verhielten sich bei ihm beinahe wie in der modernen Philosophie die Sphäre der Werte und die Sphäre des Kausalzusammenhangs, der die Mittel und Möglichkeiten gibt, die Werte zu realisieren." 88 ) Wenn der Begriff des Kausalzusammenhangs hier zu verstehen ist im Sinne des k a n t i s c h e n Gedankens, also als Denkzusammenhang, der nach dem Prinzip der m e c h a n i s c h verstandenen Kausalität gedacht wird, dann haben Meineckes Worte keinen Sinn, und sie versuchen Dinge zusammenzubringen, die schlechthin unvereinbar sind: die kausale Betrachtung der Geschichte als eines Objektes der E r k e n n t n i s (im Sinne der neukantianischen Geschichtslogik also) und die E r l e b n i s Wirklichkeit der gei«') Deutsche Katastrophe, 13. 88 ) I. d. S., 46. 20
3°5
stig-sittlichen Wertsphäre (im Sinne des weltanschaulichlebensphilosophischen Dualismus). Dann besteht die Kritik zu Recht, daß der Kausalzusammenhang keine Mittel und Möglichkeiten geben kann, Werte zu realisieren. s9 ) Diese Kritik besteht ebenfalls zu Recht, wenn der Begriff des Kausalzusammenhangs mechanistisch im Sinne der n a t u r a l i s t i s c h e n Weltanschauung zu verstehen wäre. Daß der naturalistische Gedanke in der dualistischen Auffassung Meineckes mitspielt, haben wir ja zur Genüge betont, ja vielleicht sogar überbetont — mit Absicht; ist er doch von den meisten Kritikern etwa der „Idee der Staatsräson" nicht, oder wenigstens nicht in seiner vollen Bedeutung erkannt worden. Wenn S t e d i n g davon spricht, Meinecke gehe von der Gültigkeit des Kausalgesetzes auch auf dem geschichtlichen Gebiet aus, so ist das schon sehr vieldeutig und bedarf sogleich der Präzisierung. Wenn nun aber Steding weiter argumentiert, in Meineckes Geschichtstheorie walte „der Glaube an das Prinzip der naturwissenschaftlich eng gefaßten Kausalität", dann ist das nicht nur eine sehr oberflächliche und irreführende, sondern eine falsche Darstellung. 90 ) Distinguendum est! Oder vielmehr, wir haben die nötigen Unterscheidungen schon gemacht. Der Begriff des Kausalzusammenhangs, den Meinecke hier gebraucht, muß ver89 ) Vgl. die Kritik danke, 51 ff. 90
Leonhard von Muralts, Machiavellis Staatsge-
) Steding, a. a. O., 443 & 665. Es scheint übrigens, daß Steding vom ganzen Werk Meineckes nur den Aufsatz über Kausalitäten und Werte kennt, und noch an dem hat er vollständig vorbeigelesen. Alle diese Verdrehungen haben, natürlich ihren (politisch-weltanschaulichen!) Zweck. Die Früchte der von ihm selbst propagierten p o l i t i s c h gerichteten Wissenschaft sind leicht zu erkennen. An die Erzeugnisse der n a t i o n a l s o z i a listischen Geschichtschreibung muß tatsächlich ein ganz besonderer Maßstab angelegt werden. Es gilt das ihnen zugrunde liegende Wissenschafts„ethos" kennen zu lernen, bevor man an ihre Beurteilung herangeht. Sonst läuft man tatsächlich Gefahr, zu viel dahinter zu suchen.
306
standen werden im Sinne des naturhaft bestimmten Untergrundes des geschichtlichen L e b e n s . Darauf weist deutlich das Wort vom „elementaren dunklen Untergrund" aus dem ersten Zitat. Hier, in diesem naturhaft bestimmten Untergrund, spielt die mechanische Kausalität keine geringe Rolle, wie wir gesehen haben. Aber sie bestimmt ihn nicht allein; dazu tritt j a die biologische Kausalität, treten die biologischen Kausalzusammenhänge oder Lebensnotwendigkeiten. Es hat nun gar keinen Sinn, wie schon so oft in unseren Untersuchungen, die logische Argumentation zu weit zu treiben oder sie dort anzuwenden, wo sie unser Historiker selbst gar nicht angewandt wissen wollte. W a s Meinecke unter dem Begriff des Kausalzusammenhangs hier versteht, kann nach unseren Untersuchungen und Unterscheidungen gar nicht mehr zweifelhaft sein. Es geht um den Natur- und Lebensuntergrund, der gemäß seiner dualistischen Ansicht allem höheren und eigentlichen geschichtlichen Leben notwendige Voraussetzung und Bedingung ist. Wenn also Meinecke davon spricht, daß der Kausalzusammenhang Mittel und Möglichkeiten gebe, Werte zu realisieren, so meint er nichts anderes, und kann er nichts anderes meinen, als daß das natürliche Leben da sein müsse, um das geistigsittliche Leben überhaupt zu ermöglichen, daß das triebhaftnatürliche Leben verwendet werde als Mittel und Stoff zur Schaffung geistig-sittlicher Werte. Gewiß sind Meineckes Begriffe hier irreführend und oft sehr vieldeutig und wenig geklärt. W a s wir liier als einfach verständliche Argumentation darbringen konnten, dem gingen in Wirklichkeit die mannigfachsten Versuche und Anläufe voraus, all die widersprechenden oder scheinbar sich widersprechenden Äußerungen unseres Historikers in einen inneren Zusammenhang zu bringen. Nur von seinen inneren und d. h. weltanschaulichen Bedingungen her kann eben das geschichtliche Denken eines Historikers erst voll und ganz v e r s t a n d e n werden. Diese unsere wissenschaftstheoretische Hauptthese scheint uns liier voll und ganz bestätigt. 2')»
3°7
Was Meinecke mit seinem U n t e r g r u n d-Kausalzusammenhang meint, hat Hintze besser, weil weniger irreführend bezeichnet als „das Phänomen eines kausalen Wirkungszusammenhangs", welches in der natürlich-triebhaften Sphäre, welche übrigens auch er als „Untergrund der geschichtlichgesellschaftlichen Wirklichkeit" bestimmt, entsteht. Hintze sieht übrigens ganz gleich wie Meinecke das geschichtliche Leben dualistisch aufgeteilt in einen n a t ü r l i c h - t r i e b h a f t e n U n t e r g r u n d und in einen g e i s t i g - k u l t u r e l l e n Ü b e r b a u.91) Schließlich zeigt sich dieselbe Auffassung auch bei Troeltsch, wenn er schreibt: „Es ist schon so, daß die elementaren Lebensbedürfnisse der Ernährung, des Geschlechtslebens, der Gesittung, der äußeren Lebensund Friedensordnung im großen wie im kleinen, beim einzelnen wie beim geschichtlichen Gruppenleben die Lebensform und damit sozusagen die Kadres auch des geistigen Lebens bestimmen."92) 91 ) Hintze, a. a. O., 209 ff. Es erhebt sich hier die Frage, inwiefern in diesen U n t e r b a u - Ü b e r b a u - A u f f a s s u n g e n deutscher Idealisten (allerdings ist Hintze n u r bedingt d a z u zu zählen) der h i s t o r i s c h e M a t e r i a . l i s m u s Eingang gefunden, hat. Diese F r a g e wird in b e z u g auf Troeltsch auch von H i n t z e a u f g e w o r fen und in positivem Sinne b e a n t w o r t e t . Tatsächlich ist bei T r o e l t s c h die E i n w i r k u n g des materialistischen G e d a n k e n s u n v e r k e n n b a r und wird auch von ihm selbst zugegeben. Die Konzessionen H i n t z e s an die materialistische Geschichtsauffassung sind unzweifelhaft. Auch bei M e i n e c k e zeigen sich analoge Einwirkungen, weniger hier in der Polarität von Kausalitäten und Werten, als in s e i n e n Konzessionen an die Milieutheorie. Natürlich handelt es sich überall um g e n a u a b z u w ä g e n d e Nüaneen, die nicht übertrieben werden d ü r f e n . Es w ä r e ü b e r h a u p t ein interessantes Problem, einmal zu untersuchen, inwiefern von einem „ b e r e c h t i g t e n " und allgemein anerkannten, Kern des materialistischen G e d a n k e n s gesprochen werden kann. Es scheint nämlich, d a ß er, b e w u ß t o d e r u n b e w u ß t , in allem modernen Denken ü b e r geschichtliche P r o b l e m e irgendwie Eingang g e f u n d e n hat. Erst von hier aus, von dieser allgemeinen Erkenntnis aus, erhalten dann die Konzessionen Troeltschs und Meineckes ihr wahres Relief.
Troeltsch, Historismus, 756.
308
Solche Teilung des geschichtlichen. Lebens in einen Unter- und in einen Überbau spielt nun auch in der e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h bestimmten Dualität von Kausalitäten und Werten eine Rolle. Ein D u a l i s m u s d e r B e t r a c h t u n g s w e i s e n , eine Teilung der historischen Aspekte in eine Wertbetrachtung und in eine Kausalbetrachtung, entsteht bei Meinecke insofern, als er auf den kantischen erkenntnistheoretischen Dualismus von „Ding an sich" und „Erscheinung" zurückgeht. Wenn das geschichtliche Wesen als „Erscheinung" betrachtet wird, dann wird es zum Glied im Kausalzusammenhang der Geschichte; wenn das geschichtliche Wesen als „Ding an sich" aufgefaßt wird, dann wird es als Wert, als Eigenwert, um seiner selbst willen betrachtet. Diesen D ü p p e l a s p e k t des Geschichtlichen sieht Meinecke wiederum von Ranke verlangt und ausgebildet, und so geht er von ihm aus, um das Problem für sein eigenes Geschichtsdenken zu lösen. 93 ) So hat R a n k e dem Historiker zwei verschiedene Aufgaben gestellt. Die eine der Aufgaben geht aus seinem berühmten Wort über den S e l b s t w e r t jeder geschichtlichen Epoche und ihrer Unmittelbarkeit zu Gott hervor. Nach Meinecke gilt dieses Wort nicht nur für die Epochen, sondern für die Produktionen des schöpferischen Geistes überhaupt, also für alle historischen Individualitäten. „Alles also in Leben und Geschichte, was zum Wahren, Schönen, Guten und Heiligen aufstrebt, trägt seinen Wert in sich selbst, in meiner Einmaligkeit und Individualität, ganz gleich, ob Erfolg oder Mißerfolg daraus hervorgehen. Es ist eine ungeheure Befreiungstat, die hier Ranke für die Geschichte im großen wie für jedes Menschenleben im einzelnen leistet, und dadurch leistet, daß er ihren Wert unabhängig macht von dem Erfolge und auf sich selbst — und a 3 ) Es h a n d e l t sich v o r allem um die zwei A u f s ä t z e „ D e u t u n g eines R a n k e w o r t e s " und „ O e d a n k e n ü b e r W e l t - und Universalgeschichte", in: A p h o r i s m e n und Skizzen zur Geschichte.
3°9
ihre Beziehung zum Höchsten, was der Mensch kennt, allein zurückführt. Ethik und Geschichte zugleich können nun aufatmen."!» 4 ) Dadurch erst ist eine Befreiung vom Druck der nackten Wirklichkeit möglich und eine Betrachtung und damit auch W e r t u n g , „die n u r auf das innere W e s e n und nicht auf das, was die Verkettung der Dinge aus ihm macht, sieht." W i r merken, wie Meinecke sich gegen das rein kausale Betrachten wendet., M a n muß, „das einzelne historische Phänomen losgelöst vom Vorher und N a c h h e r in seiner eigenen Individualität erkennen, und so verschieden auch Epochen und Generationen sein mögen, allen ein gleiches Recht vor G o t t und — vor dem historischen Urteil zubilligen . . . " (nach dem Satze Rankes, daß der Historiker die Sache gleich anzusehen bestrebt sein müsse wie G o t t ! ) . „ E s gilt also, einwärts, aufwärts zu G o t t und wieder abwärts auf das historische Gebilde zu schauen, mit derjenigen Gerechtigkeit, die wir G o t t zutrauen, auch dieses Gebilde zu beurteilen und so den eigentümlichen W e r t , den ein jedes hat zu erkennen. E s ist die v e r t i k a l e A u f f a s s u n g der Geschichte." Die Betrachtung der Geschichte vom Gesichtspunkt der W e r t e aus f ü h r t also zur vertikalen Geschichtsauffassung. Die zweite A u f g a b e darf aber nicht vernachlässigt werden. „ D e r Historiker würde aufhören Historiker zu sein, wenn er nicht auch dieser und damit auch den V e r k e t t u n g e n d e r D i n g e u n d den Fragen nach W i r k u n g u n d E r f o l g seine volle Aufmerksamkeit schenkte." Auch das habe Ranke schon gefordert mit dem W o r t e , „die innere Notwendigkeit der Aufeinanderfolge zu betrachten." Hier geht es demnach um die Kausalbetrachtung, d a r u m also, das Vorher und Nachher der einzelnen geschichtlichen Gebilde und ihre kausale Verkettung festzustellen, und das ist die „h o r iz o n t a l e A u f f a s s u n g " der Geschichte. 9 5 ) u
) Aphorismen, 130.
95
310
) a.a.O., 130/131.
Man könnte nun meinen, daß Meinecke Rankes historische Betrachtung zu kausalistisch deute, wenn er dessen Begriff der „inneren Notwendigkeit" für die kausale Betrachtung der Geschichte in Anspruch nimmt. Eine gewisse Tendenz dazu ist seit dem dualistischen Umbruch ohne Zweifel vorhanden. Meinecke sieht aber genau, daß bei Ranke auch der horizontal betrachtete Verlauf der Geschichte einen höheren Sinn erhielt, „indem er die Aufeinanderfolge der Zeiten für identisch erklärte mit der göttlichen Ordnung der Dinge", wenn dieser Sinn auch nur religiös geahnt werden könne (und nicht logisch gefunden, wie Hegel meinte). 96 ) Durch solche Verankerung im Transzendenten erhält dann die menschliche Kausalbetrachtung einen göttlich-finalen Glanz. Schließlich scheint Meinecke selbst den Begriff der Kausalbetrachtung in einem weiteren (als etwa dem kantischen) Sinne zu fassen. Es geht ihm in seiner horizontalen Betrachtung nicht darum, einen mechanischen Kausalzusammenhang herzustellen, vielmehr darum, das geschichtliche Leben in Seiner E n t w i c k l u n g darzustellen. Daß aber der Entwicklungsgedanke von Meinecke keineswegs kausal verstanden und bestimmt wurde (wie dies etwa Lamprecht tat), wird sich noch in seiner Besprechung zeigen. Es handelt sich vielmehr um ein g e n e t i s c h e s Verständnis der Ge schichte, um eine „ f i n a l - k a u s a l e Verknüpfung der Einzeltatsachen", wie Hintze die Kausalforschung definierte. 97 ) Und so spricht Meinecke denn auch in Bezug auf die Weltgeschichte von dem „kausalen und genetischen Verständnis ihres horizontalen Verlaufes." 98 ) In diesem Sinne erhält die Kausalbetrachtung gleichsam ihre eigene Dignität wieder zurück, wenn auch nicht mehr in der Form Rankes, wo der horizontale Ablauf der Geschichte den Charakter einer göttlichen Ordnung hatte. Dieser Charakter ist ihm endgültig geraubt in der Phase des relativistisch gewordenen Historis9G )
a.a.O.,
150.
" ) Hintze, a . a . O . , 2 1 1 . m)
A p h o r i s m e n , 173.
311
mus. Neben dem Erkenntniswert besteht aber der höhere W e r t der kausalen Erforschung darin, „ d a ß uns die K o n tinuität des schöpferischen deion in der Geschichte bewußt wird." 9 9 ) So wird schließlich das Gegenüber von vertikaler und horizontaler Geschichtsbetrachtung in einer h ö h e r e n E i n h e i t aufgehoben. „ M a n kann bei dieser Arbeit nicht eher ruhen", so heißt es über die horizontale A u f f a s s u n g und Betrachtung, „bis sich schließlich alle einzelnen Berge und Hügel zum Gesamtgebirge der Weltgeschichte vereinigt haben. Sobald aber dies geschehen ist, ist auch der Gegensatz zwischen der vertikalen und der horizontalen Aufgabe überbrückt." Denn die Weltgeschichte als Ganzes erscheint ja Meinecke dann wiederum als Einheit und als individuelles Gebilde und unmittelbar zu Gott. 1 0 0 ) W i r sind damit auch vom Problem der Polarität; von W e r t und Kausalität her bei der letzten und höchsten Frage angelangt, die der Geschichte gegenüber aufgeworfen werden kann: die Frage nach1 ihrem S i n n . Die Annahme einer Gleichberechtigung aller historischen Gebilde, die in der letzten Konsequenz der Rankeschen Geschichtsauffassung lag, war keine wissenschaftliche Erkenntnis, sondern R e l i g i o n . Es ist der christliche Glaube vom liebenden G o t t auf die Geschichtsbetrachtung übertragen. Dieser Glaube ist f ü r Meinecke verloren. „ D e r Historiker, der von dem g e s c h i c h t l i c h e n Charakter und W a n d e l aller Gottesvorstellungen weiß, wird den Zweifel nicht los, ob dieser persönliche G o t t nicht ein bloßes anthropopathisches Spiegelbild unserer Wünsche ist. Er wird nun aut die Rankesche Geschichtsphilosophie wie auf ein herrliches Gebäude sehen, das er gern bewohnen möchte, dessen verborgenes F u n d a m e n t ihm aber von zweifelhafter Beschaffenheit erscheint." 1 0 1 ) Die W e l t ist f ü r den Historiker von 39
) a.a.O., 161. ) a.a.O., 131/132. 101 ) a.a.O., 152. 100
312
heute nicht mehr gottverwandt und gottdurchhaucht. E r kann sich nicht mehr auf einen persönlichen G o t t berufen, wenn er den geschichtlichen Wesen gegenübertritt. D e r Gegensatz von Immanenz und Transzendenz ist f ü r ihn zumi bedrückenden Problem geworden. Doch bleibt noch ein W e g , ihren Gegensatz zu überwinden; denn ihre Unvereinbarkeit besteht f ü r Meinecke n u r f ü r die menschliche Logik, nicht aber f ü r die metaphysische Sphäre. Die Lösung des Gegensatzes von Immanenz und Transzendenz, von horizontaler und vertikaler Geschichtsauffassung, sieht Meinecke im G e w i s s e n . Das Gewissen ist der Urquell des G ö t t l i c h e n in uns. Es deutet auf eine schlechthin absolute letzte Instanz über uns hin. D e r Historiker braucht Gewissen, „weil eine Geschichtsauffassung ohne festes ethisches F u n d a m e n t zum Spiel der Wellen wird. I n der Stimme des Gewissens wird mit einem Male alles Fließende und Relative der F o r m nach fest und absolut." U m dieses Problem des Gewissens kreisen alle die Gedanken Meineckes aus seinen letzten geschichtsphilosophischen Aufsätzen, die sich insgesamt um eine S i n ng e b u n g d e r G e s c h i c h t e bemühen. Aber es geht nicht etwa nur um die Überwindung des historischen und weltanschaulichen Relativismus; Meinecke sucht einen festen H a l t f ü r den Menschen, der in dem furchtbaren Geschehen der Gegenwart mitten drin steht. Meineckes Gedanken zum Problem des Gewissens können n u r w a h r h a f t verstanden werden, wenn man erkennt, daß es um Gegenwart und Z u k u n f t geht, wohin j a alle echte Geschichtsphilosophie letztlich weist, um Gegenwart und Z u k u n f t vor allem des deutschen Menschen. Das zeigt sich dann mit aller Klarheit in seinem letzten Buche, wo Meinecke zum ersten Mal seit dem Aufkommen des Nationalsozialismus wiederum unverhüllt sprechen darf und seine Gedanken über Gegenwart und Z u kunft nicht mehr in geschichtlichem Kleide verhüllen muß. Aber schon in einem Aufsatz aus dem Jahre des Kriegsausbruches spricht er davon, wie das Gewissen in Konflikten zwischen Wollen des Einzelmenschen und W o l l e n der
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höheren Gemeinsamkeiten entscheiden müsse als der eigentliche m e t a p h y s i s c h e 'Quellpunkt im Menschen. W a s nun für Ranke und seine Geschichtsbetrachtung der Glaube an das persönliche Walten des lieben Gottes war, das ist 'für Meinecke der Appell an das Gewissen, „als das Gottverwandteste in u n s . . . " 1 0 2 ) „Durch das Gewissen gelangen wir zur Postulierung und Erahnung eines d e i o n in der Welt. Und vor die Aussprüche dieses Gewissens als des menschlichen Organs für das deion stellt nun auch der Historiker die Erscheinungen der geschichtlichen Welt — ganz unmittelbar und so wie es Ranke auch immer getan hat, indem er sie in ihrem eigenen Selbst zu erfassen sich verpflichtet fühlte und ihren W e r t unabhängig machte von, ihrer W i r kung und Folge. Der Rankesche Satz von dem Immediatverhältnis zwischen der Gottheit auf der einen und allen Individualitäten der Geschichte auf der andern Seite behält also auch für uns seine volle Gültigkeit und dient uns ¡als höchste Rechtfertigung f ü r unser Bemühen, in das Individuelle überall einzudringen. Geht dann der Historiker zu seiner anderen Aufgabe über, Folgen und Wirkungen der Individualitäten nachzuweisen und die Kette der großen, zu höheren Einheiten führenden Entwicklungen herzustellen, so fehlt ihm dabei der Trost der göttlichen Providenz, den Ranke hatte, und er wird durch den Anblick der H e t e r o g o n i e d e r Z w e c k e in jene dunklen Zweifel über den Gesamtsinn der Geschichte und über das Gottweltverhältnis gestürzt. . . Aber er atmet wieder auf, wenn er zurückblickt auf jenes Immediatverhältnis." 103 ) Die Heterogonie der Zwecke ist an die Stelle der göttlichen Providenz getreten. Auch das ist ein Symbol für den Weg, den das geschichtliche Denken des deutschen Idealismus von Ranke zu Meinecke hin zurückzulegen hatte. Mit der Providenz Rankes wäre es noch zu vereinigen, daß das m ) Vgl. den Aufsatz „Geschichte und Gegenwart", Sinn der Geschichte, vor allem 20 if. Aphorismen, 157/158.
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Böse dem G u t e n dient (daraus e n t s t a n d j a Hegels „ L i s t der V e r n u n f t " ! ) , „ a b e r nicht, d a ß das G u t e n u n auch in das Böse sich verwandeln k a n n o d e r d e m Bösen dient, o f t so dient, d a ß die Weltgeschichte zur H ö l l e w i r d . " TVTeinecke verweist hier auf die Geschichte des Christentums u n d die Zwiespältigkeit der Staatsräson. Aber er h ä t t e auch auf die f u r c h t b a r e n Übersteigerungen u n d mißbräuchlichen Verwendungen des nationalen G e d a n k e n s oder des romantischen Idealismus verweisen k ö n n e n ; hier m u ß t e e r in seinem I n n e r sten selbst e r f a h r e n , wie das, was er als höchste Ideale e m p f a n d , zu den f u r c h t b a r s t e n Z e r s t ö r u n g e n mit A n l a ß gab. So taucht auch hier wieder das alte Problem a u f : die H e t e r o gonie der Zwecke auf der einen Seite, „ d i e G u t e s u n d Böses zusammenwachsen l ä ß t " , u n d das menschliche Gewissen auf der a n d e r n Seite, „ d a s beides doch scharf t r e n n t " . H i e r verstummt jedes menschliche Begreifen. „ W i r können aus diesem, dem geschichtlichen Leben eingesenkten W i d e r s p r u che weder auf dualistischem,' noch auf monistischem W e goe herauskommen." 1 0 4 ) Dieser W i d e r s p r u c h m u ß in allen Bemühungen u m eine Sinngebung der Geschichte bewußt bleiben. So erscheint Meinecke das Göttliche, soweit es in seinen W i r k u n g e n in der Geschichte mit den unvollkommenen Erkenntnisorganen e r f a ß t werden kann, „zunächst als höchst widerspruchsvoll, unsterblich u n d sterblich zugleich u n d in sich selbst gespalten u n d g e f ä h r d e t . " H i n t e r diesem Göttlichen in der Geschichte die reine G o t t h e i t zu g l a u b e n , ist tiefstes seelisches B e d ü r f n i s . D a s ist Meineckes Religion, die er selbst ein „ s ä k u l a r i s i e r t e s C h r i s t e n t u m " nennt. F ü r die W e l t a n s c h a u u n g u n d das philosophische Denken überhaupt gibt diese L e h r e den G r u n d s a t z , „ d a ß es im Pessimismus nicht untergehen u n d im O p t i m i s m u s nicht aufgehen d a r f . " D a h e r wird aller G l a u b e an Providenz u n d Fortschritt, genau wie Hegels Panlogismus und Nietzsches und Schopenhauers Antihistorismus u n d Geschichtspessimis,M
) a . a . O . , 156/157. 3[ 5
mus, abgelehnt. „ T a g - und Nachtseite des Menschen und der Geschichte wollen in gleicher Strenge und in gleicher Reinheit aufgefaßt und durchdacht werden. Keine Verwischung, keine falsche Synthese, kein Vergessen der einen über der andern darf geduldet werden. Gerade aus der Energie, mit der dies geschieht, erwächst dann ein letztes hohes und gläubiges Vertrauen auf den Sinn der Geschichte und des Universums." 105 ) Meinecke warnt also vor allem Pantheismus und vor aller Identitätsphilosophie, nachdem er selbst in seinem eigenen Denken und Schaffen, wie im Lebensschicksal seines Volkes, die Irrwege erkennen und erleben mußte, die sie eröffneten. Meinecke ersetzt die h o r i z o n t a l e T e l e o l o g i e Rankes und vor allem Hegels durch eine v e r t i k a l e , und er gibt den Versuch auf, sie beide zu vereinigen. „Der Sinn der Geschichte im Ganzen des Universums ist uns unbekannt. Das Gewissen als das Gottverwandteste in uns zeigt uns gleichsam nur eine goldene Umrandung, innerhalb deren er liegen muß." N u r wenn wir vertikal in die Höhe blicken, vermögen wir jeder historischen Individualität Ewigkeitsgehalt zu geben, nur dann können wir mit Goethe sprechen: „Der Augenblick ist Ewigkeit." 100 ) Durch diesen Ewigkeitsgedanken, der kein nur transzendenter und spekulativer ist, „sondern ein im Herzen der Wirklichkeit und des Erlebnisses selbst wurzelnder", wird der absolute Sinn und W e r t der einzelnen historischen Erscheinung für Meinecke zur unverlierbaren Gewißheit. Ob aber die W e l t g e s c h i c h t e a l s G a n z e s einen Sinn hat ? Er kann ihr nur einen Sinn geben, „nämlich den, immer und immer wieder neue Werte schöpferisch hervorzubringen, die zwar zeitlich-horizontal betrachtet, auch immer wieder untergehen oder verdorben werden können, vertikal aber in ihrem Immediatverhältnis zum deion be105 106
) a . a . O . , 160.
) Sinn der Geschichte, 23 & 18, wo auch das folgende Zitat steht.
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trachtet, wie vergänglich sie auch sein mögen, die Mühe schon lohnen, die sich der rätselhafte Weltgeist mit ihrer Hervorbringung gemacht hat." Oder auch: „ F ü r uns aber kann dann W e r t und Sinn von Weltgeschichte und Universum nur darin bestehen, dem, was wir das deion nennen, in der Fülle seiner individuellen Bezeugungen so nahe zu kommen, wie es unsere begrenzte Fassungskraft erlaubt." 1 0 7 ) W a s wir schließlich durch unser Gewissen den historischen Wesen entgegenbringen, ist nichts anderes als „historisches Mitgefühl." Und dieses wiederum ist nichts anderes als „ S c h i c k s a l s g e f ü h l " . „Nicht Fortschritte oder Rückschritte festzustellen, sondern Schicksal zu ergründen, ist die höchste Aufgabe der Historie. Schicksal verstehen, heißt im Vordergrunde die Gesamtheit aller erkennbaren äußeren wie inneren U r s a c h e n und treibenden Mächte als ein Ganzes sich vor Augen zu führen, heißt weiter nach W e r t und Sinn des Geschauten zu fragen und heißt schließlich, den Rätseln menschlicher Existenz, die sich dabei jedesmal auftun, nachzusinnen. Ein solches Verstehen kommt deshalb niemals zu einem endgültigen Abschluß, weil es in die Sphäre metaphysischer Geheimnisse hineingerät." 108 ) So gelangten wir schließlich auch von der dritten Grundpolarität her zur Frage nach dem Sinn der Geschichte und zu ihrer Aufhebung in der Idee des Schicksals. Da der Sinn der Geschichte t r a g i s c h e s Schicksal ist, kann das innere seelische Bereitsein, durch welches allein man zum Verstehen gelangen kann, nur ein Schicksalsgefühl sein. I n ihm aber ist der Gegensatz von Wertbetrachtung und Kausalbetrachtung, von vertikaler und horizontaler Geschichtsauffassung aufgehoben. 107 108
) Aphorismen, 158 & 162. ) a . a . O . , 169/170.
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II DER H I S T O R I S M U S UND SEINE GRUNDGEDANKEN
Mit der Darstellung der Problematik des Historismus gelangen wir 'in den I V T i t t e l p u n k t von ]Meineckes geschichtlichem Denken und damit zum wichtigsten Teil unserer Arbeit. Es ist daher wohl nicht unangebracht, wenn wir uns einen Augenblick auf die Zielsetzung unserer Arbeit besinnen und auf den eingeschlagenen W e g zu ihrer Erfüllung. Darstellung des geschichtlichen Denkens Meineckes heißt die Aufgabe; durch das methodische Verfahren einer Analyse seiner Geschichtsbegriffe suchen wir sie zu erfüllen. An Hand einer Reihe der wichtigsten Geschichtsbegriffe, um die sich je ganz bestimmte zugehörige Problemkreise gruppieren, arbeiten wir uns systematisch in die Struktur von Meineckes Gedankenstrom ein; so reiht sich ein Fragenkomplex neben den andern, bis wir schließlich die ganze breite Fülle seiner geschichtstheoretischen Gedanken, wenn auch in konzentrierter Form, vor uns haben. Gleichzeitig aber dringen wir von verschiedenen Ansatzpunkten her konzentrisch gegen einen weltanschaulich bestimmten Kraftund 'Quellpunkt in der Tiefe vor, von dem aus dann erst ein wahrhaft ganzheitliches Verstehen der verschiedenen Teilprobleme möglich sein wird. So soll das geschichtliche Gedankengebäude Meineckes sowohl in der Breite und Weite seiner Anlage wie in der Tiefe seiner Fundamente in Erscheinung treten. Dabei soll trotz aller systematischen Fragestellung auch das genetische Moment seines Denkens nicht außer Acht bleiben, trotz aller Hervorhebung der theoretischen Reflexion die Verwurzelung des Gedankens im Ablauf von Leben und Schicksal nicht vergessen werden. Diese Methode erfährt im Prinzip auch jetzt keine Veränderung, wenn wir uns in diesem Abschnitt dem Problem des Historismus nun zuwenden. Auch hier gehen wir vom 3 2 ! 21
Begriff her in das Problem hinein. Auch hier geht es ¡um die F r a g e : was bedeutet der Begriff des Historismus f ü r Meinecke und sein geschichtliches Denken? W a s f ü r geschichtstheoretische Probleme liegen in ihm beschlossen ? U n d doch sprengen beide Fragen in bestimmter Hinsicht den Rahmen unserer bisherigen Untersuchung. W ä h r e n d bis jetzt f ü r alle Geschichtsbegriffe, die wir behandelten, eine bestimmte wenn o f t auch ganz allgemein gehaltene Vorstellung vorausgesetzt werden konnte, indem sie einen f ü r alles geschichtliche Denken allgemein gültigen Kerngehalt aufweisen, um den sich dann erst die individuell verschieden ausgeprägten Ausdeutungen kristallisieren, verhält es sich mit dem Begriff des Historismus grundsätzlich anders. E r ist keineswegs eine aller modernen Geschichtstheorie geläufige Kategorie, er ist — was hier entscheidend ist — keineswegs eine in ihrer Bedeutung irgendwie geklärte Kategorie. Der Begriff des Historismus ist neu, seine Deutungen widerspruchsvoll; er ist ein K a m p f b e g r i f f , entstanden, bejaht, verworfen, umgedeutet im Getümmel unzähliger Diskussionen und Polemiken der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart. So w i r f t die F r a g e nach der Bedeutung der Kategorie des Historismus f ü r Meineckes geschichtliches Denken eine Vorfrage a u f : was ist Historismus überhaupt? W a s wird unter Historismus verstanden ? Diese Frage muß ihre A n t w o r t finden, wenn wir mit unseren Untersuchungen nicht gleichsam im leeren R a u m schweben wollen. Eine solche Begriffserklärung aber f ü h r t notwendig über Meineckes eigene Gedanken hinaus. W i r haben j a schon o f t im L a u f e unserer Untersuchungen über die Gedanken Meineckes hinausgegriffen, aber nirgends aus willkürlichen Motiven oder zufälligen Eingebungen des Augenblicks; überall ging es nur um das wissenschaftlich legitime Ziel, diejenigen geistesgeschichtlichen Zusammenhänge aufzudecken und diejenigen geistigen Beziehungen aufzuhellen, welche f ü r ein tieferes Verständnis der geschichtstheoretischen Gedanken unseres Historikers notwendig 322
sind. In verstärktem Maße ergibt sich diese Notwendigkeit in einer Darstellung von Begriff und Wesen, schließlich der gesamten Problematik des Historismus. Obschon zum größten Teil auf eigenen Forschungen aufgebaut, entwikkelte und wandelte sich die Auffassung Meineckes vom Wesen des Historismus doch auch in ständiger Fühlungnahme mit andern Denkern, in Zustimmung zu ihren Gedanken oder in Ablehnung ihrer Ergebnisse, in Rede und Widerrede, in Angriff und Gegenangriff; ein ganzes Netz von wechselseitigen Beeinflussungen ist zu berücksichtigen. Dieser äußerst lebendige Gedankenaustausch und Gedankenkrieg nimmt umso größere Formen an, als sich ja alle diese Begriffsklärungen und geistesgeschichtlichen Forschungen um das Problem des Historismus Zunächst in einem ausgesprochenen Frühstadium befinden. Die Meinungen prallen in einem solchen Stadium wissenschaftlicher Bemühungen um ein umfassendes Problem härter aufeinander als anderswo, die Gegensätze sind noch unvermittelter; denn der strittigen Punkte sind noch viele, der gelösten Fragen, in welchen man allenfalls Übereinstimmung erzielen könnte, noch wenige. Aber umso größer sind in einem solchen Stadium die gegenseitigen Einflüsse, umso bedeutender die Befruchtungen, umso wichtiger die Rezeption fremder Gedanken für die eigene Auffassung, umso wirkungsvoller ein Klärungsversuch, — sei diese Wirkung dann vornehmlich positiv oder negativ. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn wir nun öfter über Meinecke hinausgreifen und die Auffassungen anderer geschichtlicher Theoretiker darlegen: immer und überall geht es letztlich um das Verständnis Meineckes selbst. Eine Beurteilung der Originalität seiner Lei stung ist erst möglich, wenn Vergleichsmöglichkeiten vorhanden sind. Daß wir dann aber auch, gerade durch die Sichtbarmachung der geistigen Verbindungsfäden, aber auch der Schranken zwischen verschiedenen Denkern, einen ins Allgemeine greifenden Beitrag zur Klärung des Problems 323
und vor allem des Begriffs des Historismus überhaupt zu geben vermögen, dies ist allerdings unsere Auffassung. Aber auch die zweite Frage sprengt den Rahmen unseres bisherigen Verfahrens. Denn die Frage nach den Problemen, die in der Kategorie des Historismus beschlossen liegen, weitet sich aus zu der umfassenden Frage: inwiefern ist das geschichtliche Denken Meineckes überhaupt Historismus ? Denn der Begriff des Historismus ist ja keineswegs nur eine historische Kategorie auf der Stufe der bisher behandelten Begriffe, sondern er ist ein zunächst methodologisches Prinzip, das selbst eine bestimmte Anzahl von Kategorien in sich schließt. Der Gesichtskreis weitet sich also, und wir dringen nicht mehr mit Hilfe einer einzelnen Kategorie; in die Geschichtstheorie ein, sondern wir legen auf einer bestimmten Entwicklungsstufe oder in einer bestimmten Entwicklungsphase einen 'Querschnitt an durch die ganze Ebene von Meineckes Geschichtsdenken. Die Bedeutung des Begriffs weitet sich aber noch mehr aus: der Historismus wird von der Methode zur Geschichtsauffassung, zur Weltanschauung, zur Kategorie des Lebens überhaupt. Mit dieser Wendung aber hebt sich unser Verfahren selbst auf. Das methodologische Ziel unserer Aufgabe ist erreicht, durch die Synthesis in Meineckes Denken selbst erfüllt: erkenntniskritisches Prinzip und weltanschauliches Postulat, historische Kategorie und weltanschauliches Motiv sind im selben Gehalt des unteilbaren Lebens zusammengefallen. Die beiden Momente, deren Zusammenhang im geschichtlichen Denken eines Historikers wir untersuchen, sind durch dieses Denken selbst als Einheit erwiesen. Dies aber nur ein Ausblick auf die Weite und Tiefe der Fragen, welche die Problematik des Historismus mit sich bringt. W i r gehen nun also so vor, daß wir im ersten Kapitel vor allem eine B e g r i f f s - u n d W e s e n s b e s t i m m u n g der Kategorie Historismus unternehmen, wobei die Wesensbestimmung darauf ausgeht, die Hauptprobleme klar heraus324
zustellen, ohne sie natürlich irgendwie erschöpfend behandeln zu können; bei der umfassenden Bedeutung der Kategorie Historismus würde dies ja schließlich das gesamte Geschichtsdenken einschließen müssen, was aber nicht im Zuge unserer systematischen Fragestellung liegt. Die besondere Behandlung der Einzelprobleme bleibt den spätem Kapiteln vorbehalten.
325
I.
BEGRIFF U N D WESEN DES H I S T O R I S M U S „Wie oft entwickelt nicht ein neues, aus dem Leben geborenes und anfangs sehr schillerndes Schlagwort eine ungeahnte Fruchtbarkeit, indem es dazu treibt, verstreute Einzelerscheinungen zu Zusammenhängen zu vereinigen. Die Klärung und Abgrenzung, soweit sie möglich ist, kann dann immer erst allmählich erfolgen. Humanität, Humanismus, Nationalität, Nationalismus, Historismus, Individualismus usw. —• lauter von Hause aus vieldeutige und schlüpfrige Schlagworte und Begriffe, und doch fruchtbare unentbehrliche und durch den Gebrauch allmählich, wenn auch niemals endgültig, sich klärend und vertiefend." 1 ) Mit diesen Worten Meineckes leitet Karl Heussi seine Studien über die Krisis des Historismus ein und rechtfertigt damit sein Unterfangen, zur Klärung dieses Begriffes beizutragen.2) J ) Karl Heussi, Die Krisis des Historismus, T ü b i n g e n 1932, 1. Diese von Heussi zitierten W o r t e Meineckes stehen im Aufsatz über „Kausalitäten und W e r t e in d e r Geschichte", H. Z. 137, 13. 2
) Es ist ja eine alltägliche E r f a h r u n g f ü r den Historiker, daß die Begriffe, mit welchen er in seiner Wissenschaft operieren muß, meistens nichts w e n i g e r als eindeutig g e k l ä r t und fest umrissen sind. Um dieses Phänomen, der Begriffsbildung auf dem Gebiet d e r historischen, a b e r auch der Geisteswissenschaften ü b e r h a u p t anschaulich zu machen, brauchen wir nur einen Blick in die G e g e n w a r t zu tun. Wie unklar, wie vieldeutig und a f f e k t geladen sind heute Begriffe wie „ D e m o k r a t i e " , „ I m p e r i a l i s m u s " oder auch „ R e a k t i o n " und „ F a s c i s m u s " ! Wohl erscheinen diese Begriffe zunächst nur in. den, politischen Tagesdiskussiionen.. Von hier aus a b e r g e h e n sie rasch in die eigentliche Sphäre der historischen und politischem Wissenschaften ein. Daher r ü h r t es
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Diese Begründung einer Notwendigkeit gilt auch für uns, und sie ist damit zugleich Aufforderung. Es liegt in der Natur der geisteswissenschaftlichen Begriffe, daß Klärungen immer notwendig sind, ajisonst man nicht um ein bloßes Aneinandervorbeireden herumkommen kann. So kommt auch Heussi, nachdem er die verschiedensten Deutungen des Historismus vorgeführt hat, zu dem Ergebnis, „daß ihn niemand anwenden sollte, der nicht genau sagt, was er darunter versteht." 3 ) Die Diskussion um das Wesen, die Bedeutung und die Herkunft des Begriffs Historismus gehört in dem von uns übersehenen Zeitraum in die Zeit zwischen die zwei Weltkriege. Sie erhielt einen ersten Höhepunkt durch das Werk Ernst Troeltschs, um dann nie abzubrechen bis zum zweiten Höhepunkt, der bezeichnet wird durch das Werk Meineckes. 4 ) Die Frage nach der Herkunft des Begriffs des Historismus, nach seinem ersten Erscheinen im mündlichen oder wissenschaftlichen Sprachgebrauch, ist schon oft gestellt und untersucht worden, ohne daß eine eindeutige Antwort hätte gefunden werden können. Sie ist für die Arbeit der Begriffsklärung auch nicht von entscheidender Bedeutung. Erwähnt sei nur, daß Heussi den Begriff zuerst in der Nationalökonomie angewandt sieht und zwar in Adolf ja, daß die Geisteswissenschaften, insbesondere eben Geschichte, aber auch Soziologie und Philosophie, so schwer haben, zur Universalität, d. h. zur universalen Geltung sich zu erheben und zu Mitteln der menschheitlichen Verständigung zu werden. Dieses Problem hat auch Meinecke zeitlebens beschäftigt, und er glaubte einmal, das Problem für die Geschichtschreibung durch das Wort lösen zu können, daß die wahrhaft nationale Historie auch die wahrhaft universale Historie sein müsse. Später erkannte er dies als eine in verfälschtem Rankeschem Geiste groß gewordene Illusion. 3 ) Heussi, a. a. O., 15. 4 ) Gemeint sind natürlich die Bücher Ernst Troeltschs über „Der Historismus und seine Probleme" und „Der Historismus und seine Überwindung" sowie das Werk Meilleckes über „Die Entstehung des Historismus".
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Wagners „Grundlegung der politischen Ökonomie" 1892, wo der Begriff Historismus in Sätzen gebraucht wird, die sich gegen Gustav Schmoller und seine historische Schule der Nationalökonomie richten. Meinecke selbst sieht den Begriff schon vorher angewandt in K . Werners Buch über den philosophischen Historismus Vicos. Otto Hintze glaubt, der Begriff habe sich als Schlagwort an die bekannte Abhandlung Nietzsches angehängt, wobei aber zu erwähnen ist, daß der Begriff als solcher bei Nietzsche noch nicht vorkommt. 5 ) Wichtiger als diese Mutmaßungen über Herkunft und Entstehung des Begriffs ist das Problem seiner Bedeutung. Und da stellt denn Heussi nicht wenige Bedeutungsnuaneen fest, tritt doch der Begriff dann auch auf theologischem, geschichtstheoretischem und philosophischem Gebiet auf. Häufiger wird der Begriff erst im dritten Jahrzehnt des Jahrhunderts und wird nun zu einem der geschichtstheoretischen und geschichtsphilosophischen Hauptprobleme bei Troeltsch und im Anschluß an ihn. So sind drei Bedeutungsgruppen des Wortes Historismus zu unterscheiden: Die e r s t e Gruppe versteht unter Historismus nichts anderes als den Betrieb der Geschichte u m i h r e r s e l b s t w i l l e n : l'histoire pour l'histoire, l'art pour l'art, — es ist der Standpunkt, den Nietzsche in seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung in genialer Vorwegnahme gegeißelt hatte, obschon dieser Geschichtsbetrieb erst Jahrzehnte später zur vollen Entfaltung kommen sollte. Mit dieser Wesensbestimmung des Historismus verbinden sich alsbald die Erscheinungen der reinen und ästhetischen Kontemplation der Geschichte, eines historischen Ästhetizismus also, des historischen Relativismus und Pessimismus, welche Begriffe nichts anderes zum Ausdruck bringen, als daß Geschichte und Leben, Vergangenheit und Gegenwart getrennt werden und der Historiker sich vom aktiven Leben zurückzieht oder zurückziehen sollte. 5
) Vgl. Otto Hintze, im angegebenen Aufsatz, H. Z. 135, 100
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Die z w e i t e Bedeutungsgruppe f ü h r t uns auf den Schauplatz von K ä m p f e n der philosophischen und theologischen Systematik, wo der Begriff bei jedem Denker einen andern Akzent erhält, aber doch die geheime Funktion zu haben scheint, alles das unter seinen Fittichen begraben zu müssen, was der betreffende Denker aus seinem System ausgemerzt haben will. D e r Begriff hat damit durchgehend n e g a t i v e Bedeutung im Sinne von Einseitigkeit und Übertreibungen des historischen Denkens oder von Historie, die, von philosophischer Erkenntniskritik unberührt, das O b j e k t a n s i c h wiedergeben zu können glaubt. Aber er bezeichnet anderseits auch skeptische H a l t u n g hinsichtlich der E r kenntnismöglichkeit innerhalb der Geschichtswissenschaft. Historismus bezeichnet weiterhin rein empirische und in sich abgeschlossene Forschung mit p o s i t i v i s t i s c h e m Ausschluß von Metaphysik und philosophischer T r a n s z e n denz, aber auch, im Gegensatz dazu, den Versuch, auf historischem W e g e zu philosophischen Erkenntnissen u n d Wahrheiten zu gelangen, also die a n t i p o s i t i v i s t i s c h e Haltung. Eine der häufigsten Begriffsbestimmungen indessen ist die Gleichsetzung des Historismus mit dem Positivismus im erstgenannten Sinne eines Ausschlusses metaphysischer und transzendenter Beziehungen —, wobei dann allerdings auch noch der Begriff des Positivismus eindeutig bestimmt werden müßte, da j a der Sache wenig gedient wäre, wenn ein ungeklärter Begriff mit einem nicht viel klarer bestimmten gleichgesetzt würde. Eine solche Gleichsetzung von Historismus und Positivismus unternimmt zum Beispiel H e r m a n n Bächtold. E r sagt in seiner interessanten akademischen Rede „ W i e ist Weltgeschichte möglich ?" über das Vordringen einer positivistischen T e n d e n z in der Geschichtswissenschaft: „ M a n hatte das Metaphysische aus der empirisch-historischen W e l t ausgeklammert". Diese M a ß n a h m e war legitim, solange sie sich ihres methodischen Charakters bewußt blieb. „Aber f ü r eine vorwaltende Strömung des X I X . J a h r h u n d e r t gewann sie 329
Sach- und Endgültigkeitsbedeutung im Sinne agnostizistischer und skeptischer Infragestellung, ja Leugnung des Ausgeklammerten. Der Inhalt der Klammer als Ganzes, die empirisch erfahrbare W e l t nämlich als in sich ruhende und in sich gegründete Wirklichkeit, wurde verabsolutiert, das übersinnliche Absolute (der Philosophie und cler Religion) negiert. Es entstand der Positivismus. Auch den positiven Wissenschaften, die sich zunächst nur methodisch jener Einklammerung bedienten, blickte vielfach der Positivismus über die Schulter, d. h. im Bereich der Historie der relativistische Historismus." 6 ) Noch viele andere Bedeutungen, welche sich zum Teil direkt widersprechen, werden so, bei grundsätzlich negativer Einstellung, in den Begriff hineinprojiziert. Der Begriff begegnet auch in Verkoppelung mit dem mindestens ebenso dehnbaren des P s y c h o l o g i s m u s , was natürlich einer Klärung nicht gerade förderlich sein kann. Dies war besonders der Fall im Zusammenhang mit der Konstituierung der Psychologie als Grundlage der Geschichtswissenschaft. Es könnten noch eine Reihe anderer Anwendungen des Begriffs beigebracht werden, die Heussi in seiner Analyse entweder übersehen hat oder die erst nach Erscheinen seines Werkes in der Diskussion aufgetaucht sind. Von wichtigeren Auslassungen Heussis seien erwähnt die Anwendung des Begriffes Historismus bei Eduard Spranger 7 ) und Heinrich Rickert 8 ), wo der Historismus, beiderorts allerdings als W e l t a n s c h a u u n g verstanden, abgelehnt wird. Unbegreiflich erscheint es hingegen, daß Heussi Meineckes e ) Vgl. den Aufsatz von Hermann Bächtold, zitiert nach „Schweizerische Akademiereden", herausgegeben von Fritz Strich, Bern 1945, 351/352. 7 ) Bei S p r a n g e r erscheint der Begriff des Historismus schon im zitierten W e r k über die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, also bereits im Jahre 1905. s ) Bei R i c k e r t haben wir ihn unter anderem angetroffen in den „Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" (531 ff.) und in seiner „Geschidhtsphilosophie", 329 & 401.
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Werk über die Idee der Staatsräson, als das neben Troeltsch wichtigste Werk zum Problem des Historismus in den zwanziger Jahren, übersehen konnte. Ein Beispiel sei noch erwähnt, weil es ein besonders klares Licht wirft auf die Gegensätzlichkeit der Auffassungen in der Begriffs- und Wesensbestimmung des Historismus. Bollnow lehnt in seinem Buche über D i 11 h e y den Begriff des Historismus zusammen mit Relativismus und Psychologismus f ü r eine Beurteilung dieses Philosophen als falschen Vorwurf ab. 9 ) Johannes Thyssen dagegen stellt fest: „Diltheys Gesamtauffassung ist sublimster Historismus." 10 ) So wird der gleiche Begriff Historismus einmal als Negativum abgelehnt, das andere Mal als Positivum für die Beurteilung ein und derselben Persönlichkeit in Anspruch genommen. Die Gegensätze sind also auch zehn Jahre nach Heussis Rechenschaftsbericht in aller Schärfe noch vorhanden. Einen Fortschritt brachte erst die d r i t t e der Bedeutungsgruppen, welche Heussi unterscheidet, die nun den Begriff unpolemisch und rein sachlich anwendet, um unter ihm ein bestimmtes oder vielmehr allmählich zu bestimmendes geschichtliches Phänomen zu verstehen. Es ist symptomatisch, daß es Historiker und historisch vorgehende Philosophen sind, welche die Diskussion und damit auch die Problematik des Historismus auf eine sachliche Ebene stellen, um allmählich ein objektiv gesichertes Ergebnis zu erringen; — ein Vorgehen, zu dem die Systematiker und Dogmatiker von vorneherein denkbar unfähig sind. Innerhalb dieser letzten Gruppe treten nun diejenigen Namen in den Mittelpunkt, um die es uns hier vor allem zu tun ist: Ernst Troeltsch und Friedrich Meinecke. Schon das oben Angedeutete läßt vermuten, daß es unumgänglich ist, bei jeglicher Beschäftigung mit den Problemen des Historismus mit T r o e l t s c h und seinem Werk sich auseinanderzusetzen. Daß dieses Vorgehen im vorliegenden Fall a
) Bollnow, a. a. O., Vorwort. ) Thyssen, Gesdhichte der Geschichtsphilosophie,
10
125.
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einer Untersuchung des Wesens des Historismus bei Meinecke in ganz besonderem Maße gerechtfertigt ist, ja sich geradezu aufdrängt, wird sich im Laufe der Darstellung noch erweisen. Die entscheidende Bedeutung Troeltschs f ü r die Wesens- und Begriffsbestimmung des Historismus liegt zunächst einfach darin, daß er als erster in grundsätzlich positiver Haltung in die T i e f e der aufgeworfenen Fragen! hineingeleuchtet und versucht hat, nach all diesen mehr oder weniger subjektiven Deutungen und Vermutungen, im Wesen des Historismus ein ganz bestimmtes objektives geistesgeschichtliches Phänomen zu erfassen, das sich ihm dann immer mehr offenbarte als das Problem des modernen Geistes schlechthin. Erst jetzt war es möglich, auf einer konkreten Basis die Arbeit um begriffliche Klärung und geistesgeschichtliche Bestimmung aufzunehmen. Troeltsch versucht als erster, logische Struktur und historische Genesis zugleich aufzuzeigen. Wohl war der Begriff von Troeltsch schon oft verwendet worden, aber nicht in wesentlich anderem Sinne als es die vielen anderen Gegner getan hatten; er sah in der Umbildung der Geschichte „zum reinen Historismus . . . eine solche zur völlig relativistischen Wiedererweckung beliebiger vergangener Bildungen mit dem lastenden und ermüdenden Eindruck historischer Allerweltskenntnis und skeptischer Unproduktivität f ü r die Gegenwart", indem er naturalistischen Determinismus und historischen Relativismus im selben negativen Wirkungszusammenhang vereinigt sah. 11 ) Wohl erkannte Troeltsch im Historismus recht bald einen der wichtigsten Grundzüge unseres Jahrhunderts, ohne aber zunächst den Begriff mit einem entsprechenden geschichtlichen Inhalt zu erfüllen und damit g e w i s s e r m a ß e n O
G
zu objektivieren. Dies tat er erst in dem unmittelbar vor seinem Tode erschienenen Hauptwerk und den betreffenden Vorstudien. So erklärt nun Troeltsch, daß bei der Erörterung seiner Probleme der Historismus als Begriff von seinem schlech •i) Troeltsch, Gesammelte Schriften Bd. IV, 628.
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ten Nebensinn zu lösen und darunter die grundsätzliche Historisierung unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte zu verstehen sei. 12 ) In diesem Sinne verstanden sieht er den Historismus in prinzipiellem Gegensatz zum Naturalismus, welche die beiden großen Wissenschaftsschöpfungen der modernen Welt seien. Der N a t u r a l i s m u s hat es mit rein gegebenen, letztlich unbegreiflichen Körpergrößen des Raumes zu tun, „während der H i s t o r i s m u s das Selbstverständnis des Geistes ist, sofern es sich um die eigenen Hervorbringungen seiner in der Geschichte handelt." 13 ) Durch die Rivalität dieser beiden wissenschaftlichen Richtungen wird das moderne Geistesleben bestimmt. Während der Naturalismus, schrankenlos angewandt, zu einer furchtbaren Naturalisierung und Verödung allen Lebens führt, gelangt der Historismus zu jener relativistischen Skepsis, „die nicht notwendig metaphysische, aber jedenfalls relativistische Wertskepsis und Zweifel an der Erkennbarbeit wie an dem Sinn des Historischen ist." Zwischen den beiden Polen eines phantastischen Mystizismus und eines antihistorischen Rationalismus sieht Troeltsch den modernen Geist hin und her getrieben. 14 ) Schon diese Definitionen zeigen, daß es Troeltsch keineswegs gelingt, seine selbstgestellte Forderung durchzuführen und vom schlechten Nebensinn des Historismus zu abstrahieren. Immer wieder führt bei ihm die Betrachtung des Historismus und seiner Konsequenzen an den Abgrund von Skepsis und Relativismus, immer wieder erscheint das Schreckgespenst des Historismus in seinem üblen Sinne, wird der Historismus zum Wesen mit dem Januskopf; aber es ist ja anderseits gerade der Wille Troeltschs, solchen schlechten, lebenlähmenden und unproduktiven Historismus durch einen ethisch-aktiven zu überwinden, und es ist ja der Sinn und das Ziel seiner geschichtsphilosophischen Bestre1!!
) Troeltsch, Probleme des Historismus, 102.
) a.a.O., 104.
13 14
) a . a . O . , 108
333
bungen, „Geschichte durch Geschichte zu überwinden" 15 ), gleichsam als ob die gute Seite des Historismus seine negative selbst zu überwinden hätte. Und in diesem Sinne ist auch seine nachgelassene Vortragsammlung zu verstehen, die den Titel trägt „Der Historismus und seine Überwindung": es geht nicht um eine Überwindung überhaupt, sondern um eine solche seiner negativen Momente — ein Gedanke, der später auch bei Meinecke immer wieder anklingen wird. Hier interessiert uns allerdings nicht in erster Linie die Lösung der Probleme, wie sie Troeltsch in seiner Darstellung des Historismus versucht hat (soweit von einer solchen Lösung überhaupt gesprochen werden könnte), als vielmehr seine Auffassung vom Wesen des Historismus selbst. W i e sieht Troeltsch seine logische Struktur, welches sind die konstituierenden Elemente? Mit anderen Worten: W a s macht das Wesen des Historismus überhaupt aus und welches ist schließlich der zeitliche Umfang, innerhalb welchem von Historismus als geistesgeschichtlicher Erscheinung gesprochen werden kann ? Das sind die Fragen, die uns nun zu beschäftigen haben. Zunächst die Frage nach der l o g i s c h e n Beschaffenheit der Kategorie Historismus: ist er eine bestimmte Denkweise, eine Methode, eine historische Erkenntnistheorie oder eine Geschichtsauffassung, gar eine Weltanschauung und Philosophie? Schon unsere Definitionen zeigen, daß diese Frage nicht eindeutig zu beantworten ist; spricht doch Troeltsch bei seinen Bestimmungen des Begriffes einmal von „Historisierung des Denkens", dann von „Wissenschaftsschöpfung" und „wissenschaftlicher Richtung". Diese Bestimmungen würden wohl noch nicht dazu führen, im Historismus mehr als eine wissenschaftliche Methode und Denkweise zu sehen; aber es fallen Worte, die sogleich über diese Umgrenzung hinausweisen: führt der Historismus doch zu „Wertskepsis", wobei vom Sinn des Historischen die Rede ist. W a s hier in diesen konzentrierten Sätzen sich schon zeigt, das >6) a.a.O., 772. 334
offenbart sich im ganzen Denken Troeltschs über das Problem des Historismus: Sein Wesen erschöpft sich keineswegs in seiner Bestimmung als wissenschaftliche Methode und historische Denkrichtung, vielmehr weist seine Problematik weit darüber hinaus in die Sphären von Ethik, Metaphysik, Religion und Weltanschauung. So braucht er einmal die aufschlußreiche Wendung: „der Historismus als Ganzes, die Methode als Weltanschauung." 1 6 ) Es ist nun gerade an diesem Punkt, wo Otto H i n t z e mit seiner glänzenden Studie über den Historismus Troeltschs einsetzt mit der Problemstellung: Historismus als Weltanschauung oder als Kategorialstruktur. 17 ) Hintze stellt fest, daß — nicht nur im Denken Troeltschs — der Begriff des Historismus schwanke in seiner Bedeutung „zwischen dem Begriff einer methodischen Denkrichtung im Sinne einer logischen Kategorialstruktur des Geistes und dem einer allgemeinen Welt- und Lebensanschauung, die auch wohl als Ersatz für Metaphysik betrachtet wird." 1 8 ) Hintze sieht wohl ein, daß Weltanschauung und Denkrichtung in der Wurzel zusammenhängen, doch scheint ihm eine klare Unterscheidung notwendig und ausführbar. W a s bei Troeltsch tatsächlich einer solchen Differenzierung hindernd sei, das sei die prinzipielle und unlösbare Verbindung der Werte mit den logischen Kategorien. Es zeige sich hier die Herkunft seines philosophischen Denkens aus dem deutschen Idealismus im allgemeinen und aus der Schule Windelband-Rickert und der Wertlehre des letzteren im besonderen. Durch diese Verbindung mit dem Neukantianismus sei es Troeltsch äußerst schwer, geschichtslogische und Wertprobleme auseinanderzuhalten und getrennt zu behandeln; alle geschichtslogischen Erörterungen erhalten einen ethischen oder metaphysischen Hintergrund. Die grundlegende Abstraktion, welche nach Hintze zur Konstituierung der Kategorien des historischen Denkens führt, ver 1C
) a. a. O., 530. ) Hintze, a.a.O. '*) a.a.O., 190.
17
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bindet sich Troeltsch immer sogleich mit dem W e r t - u n d Maßstabproblem. Aber nicht n u r hier weist der Historismus immer wieder über seine Bestimmung als Geschichtslogik hinaus in die Probleme der Ethik und damit der W e l t a n schauung; auch im Problem des historischen Relativismus verbinden sich immer wieder tatsächliche historische Erkenntnis u n d weltanschaulich-wertende Stellungnahme, d. h. es gelingt Troeltsch nicht, grundsätzlich auseinanderzuhalten: die Erkenntnis von der Relativität der historischen Erscheinung, also das, was man echten h i s t o r i s c h e n Relativismus nennen kann, und dessen weltanschauliche Konsequenzen im Sinne eines p h i l o s o p h i s c h e n Relativismus. Denn was Troeltsch eigentlich bekämpft, ist ja nicht der echte historische Relativismus, der vielmehr als objektiv gesicherte Erkenntnis erscheinen m u ß und einen integrierenden Bestandteil historischen Denkens bildet, sondern der Relativismus als Weltanschauung, welcher die Einsicht in die relative Bedeutung und historische Bedingtheit allen Lebens, auch unseres eigenen, umbiegt in die Auffassung, damit sei auch die eigene Aktivität und Produktivität gelähmt, die Selbstgewißheit des eigenen Bewußtseins ausgeschaltet. I n diesem Sinne verbindet sich Troeltsch das Problem einer historischen Methode sofort mit der Überwindung ihrer weltanschaulichen Konsequenzen. Die gleiche Verschmelzung von logischer Struktur und W e r t i n h a l t zeigt sich, wenn wir, in Beantwortung der Frage nach den konstituierenden, Elementen des Historismus, dessen G r u n d k a t e g o r i e n betrachten: Individualität und Entwicklung. W ä h r e n d der Individualitätsgedanke schon vor dem Hauptwerke Troeltschs als entscheidendes Moment im Wesen des als Historismus bezeichneten Denkens erkannt wurde, insbesondere auch von Meinecke, ist es die eigentliche T a t und — im Hinblick auf die Konstituierung des Wesens des Historismus — das Hauptforschungsergebnis des Werkes von Troeltsch, die I d e e d e r E n t w i c k l u n g als zweite Grundkategorie des spezifisch historischen Den-
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kens erkannt zu haben. Obschon diese beiden Grundbegriffe des historischen Denkens nach Troeltschs eigener Intention zunächst rein methodologische Kategorien, zur wissenschaftlichen Erfassung der geschichtlichen Wirklichkeit sind, erhalten sie durch ihre Beziehung auf Wert und Sinn des ¡Geschichtlichen sofort einen ethischen und metaphysischen Charakter. Auch hier sehen wir das logische Problem mit dem ethisch-weltanschaulichen verwickelt, den Historismus sowohl als logische Denkstruktur wie als (wertbezogene) Geschichtsauffassung und schließlich Weltanschauung verstanden. Während also von einem Geschichtstheoretiker wie Hintze der Historismus dank der scharfen Scheidung von Geschichtslogik und Wertbeziehung als reine Kategorialstruktur aufgefaßt werden kann, wird er bei Troeltsch durch eben diese Wertbeziehung immer an eine Weltanschauung gebunden, j a er wird in letzter Konsequenz selbst zur Weltanschauung. Es ist deshalb nur eine logische Folge dieser differenten Auffassung, wenn Hintze den eigentlichen Gegenpol zum Historismus nicht im Naturalismus, d. h. in einer naturalistischen Weltanschauung sieht, sondern im P r a g m a t i s m u s , dieser nun natürlich nicht im Sinne einer Weltanschauung verstanden, sondern als geschichtswissenschaftliche Methode und historiographisches Prinzip. 1 9 ) Im Gegensatz also zu dieser Doppelbedeutung des Historismus als Methode und als Weltanschauung oder — um eine f ü r Troeltsch übliche Formulierung zu geben — als formale Geschichtslogik und als materiale Geschichtsphilosophie bestimmt H i n t z e den Historismus „als eine neue und eigenartige K a t e g o r i a l s t r u k t u r d e s G e i s t e s zur A u f fassung der geschichtlichen Dinge, die sich seit dem 18. Jahrhundert bei den abendländischen Völkern langsam herausgebildet hat und im 19. Jahrhundert, ganz besonders in Deutschland, aber nicht in Deutschland allein, zu maßgebender Geltung gelangt ist." Charakterisiert ist diese Denkweise auch f ü r Hintze „durch die Kategorien der Individuali19
22
) a.a.O., 195. 337
tät und der Entwicklung, die eine Auffassung der geschichtlichen Wirklichkeit nach der Analogie von Lebenseinheit und Lebensprozeß begründen . . . " A n die Stelle der Idee der allgemeinen' Vernünftigkeit tritt die Idee des allgemeinen Lebens, mit welcher sich natürlich die Vorstellung von etwas Werthaftem dann verbindet, ohne daß aber die beiden Grundkategorien des Historismus notwendig durch Beziehung auf höhere Kulturwerte bestimmt würden. Hintzes theoretisches Hauptbemühen ist es demnach, geschichtslogische und geschichtsphilosophische Erörterungen auseinanderzuhalten und den Historismus als rein methodologisches Prinzip ganz in das Gebiet einer Logik der Geschichte zu verweisen. Die These vom Historismus als Weltanschauung wird also von Hintze abgelehnt. „Die prinzipielle Begründung auf Wertbeziehungen bindet den Historismus leicht an eine bestimmte Weltanschauung. Die Ausschaltung der notwendigen Beziehung auf bestimmte Kulturwerte in der Geschichtslogik erlaubt dagegen, den Historismus als eine Kategorialstruktur aufzufassen, die nicht selbst eine eigentliche Weltanschauung darstellt, sondern mit verschiedenen Weltanschauungen, wie etwa Idealismus und Positivismus, vereinbar ist". 20 ) W i r haben somit in Hintze ein typisches Beispiel einer Bestimmung des Historismus als Denkrichtung und — was das eigentliche Schaffen des Historikers betrifft — als M e t h o d e . Demgemäß sind auch die Grundbegriffe von Individualität und Entwicklung rein geschichtstheoretische Kategorien, reine Geschichtsbegriffe, wie noch an den betreffenden Stellen zu zeigen sein wird. Für Hintze werden damit alle tieferen Fragen der Historismusproblematik irrelevant. Er will das Problem des Historismus rein als geschichtslogisches behandeln und von allen weltanschaulichen Konsequenzen absehen — auf rein theoretischem Gebiet wenigstens. W i e das Problem auf dem praktischen Gebiet der Geschichtschreibung sich geben wird, wenn die logischen a.a.O., 207/208.
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Kategorien auf historische Gegebenheiten, auf geschichtliches Leben angewandt werden müssen, darauf werden die Ergebnisse unserer Untersuchungen mit eine Antwort geben können. Wichtig ist zunächst für die hier vorzunehmende Wesensbestimmung des Historismus, daß wir in Hintze den idealtypischen Fall einer Bestimmung des Historismus als Methode vor uns haben. Ein ebenso reines Beispiel für die .andere Entwicklungsmöglichkeit des Historismusproblems bildet die Auffassung von Karl M a n n h e i m : Hier ist das Wesen des Historismus Weltanschauung und "Philosophie, und er tritt als gleichwertige Kategorie dem Rationalismus, den er ablöst und überwindet, gegenüber. Für Mannheim ist der Historismus „eine geistige Macht geworden von unübersehbarer Tragweite, er ist der wirkliche Träger unserer Weltanschauung, ein Prinzip, das nicht nur mit unsichtbarer Hand die gesamte geisteswissenschaftliche Arbeit organisiert, sondern auch das alltägliche Leben durchdringt." 2 1 ) Der Historismus ist für Mannheim kein Einfall, keine Mode, keine Strömung, er ist vielmehr „das Fundament, von dem aus wir die gesellschaftlich-kulturelle Wirklichkeit betrachten", er ist „s e 1 b s t W e l t a n s c h a u u n g . " Er spricht ihm die entscheidende Bedeutung zu für die ganze philosophische Problematik unserer Zeit und Zukunft. „ W e n n man die Philosophie des Historismus zu Ende denken will, entsteht die eigentümliche Aufgabe, die Philosophie selbst historisch zu sehen, in das System der Philosophie das Faktum der Geschichtlichkeit aller Philosophie aufzunehmen." Der aufklärerische Kern, der Gedanke von der Identität, der ewigen Selbstgleichheit und Apriorität 21 ) Karl Mannheim, „ H i s t o r i s m u s " in Archiv schaft und Sozialpolitik, Bd. 52, 1924, 1 ff. In ähnlicher Weise sieht H u g o Preller im Überwindung des Rationalismus, doch ist dies M a ß e eine erst noch zu lösende A u f g a b e d e r den Aufsatz „Rationalismus und H i s t o r i s m u s " bis 241.
für SozialwissenHistorismus eine f ü r ihn in hohem Philosophie. Vgl. im H . Z. 126, 207
33')
der formalen Bestimmungen der Vernunft, dessen Fruchtboden vor allem der Kantianismus ist, dieser Gedanke m u ß vor der historischen Lehre nun zurücktreten. Statische Vernunftphilosophie und dynamisch-historische Lebensphilosophie werden konfrontiert. „ D i e Lehre von der Absolutheit der formalen W e r t e " wird überwunden durch den Historismus, der die einzige Lösung bringen kann f ü r die Aufgabe, „ f ü r eine dynamisch gewordene Weltansicht materiale inhaltlich erfüllte Maßstäbe, Normen zu f i n d e n . " Die W a h r h e i t selbst, das Absolute wird dynamisiert, als werdendes bestimmt. Mannheims Weltanschauungslehre des Historismus f ü h r t damit mitten in das Problem des Relativismus, die Konsequenz seines Historismus ist der p h i l o s o p h i s c h e R e l a t i v i s m u s . Die Wesjnsbestimmung Mannheims erhält gerade dadurch f ü r unsere späteren Untersuchungen hervorragende Bedeutung, weil sein Historismus ganz notwendig in den philosophischen Relativismus hineinführt, unter welchem diejenigen philosophischen Richtungen zu verstehen sind, „die den Begriff der W a h r h e i t relativieren in Bezug auf irgendwie geartete überindividuelle G r u p p e n innerhalb der Menschheit." 2 2 ) Auch Hans B a r t h hat das Problem des philosophischen Relativismus aus Mannheims Denken heraus entwickelt und auf der Verbindung mit dem Historismus, d. h. insofern er als Weltanschauung verstanden wird, geistesgeschichtlich aufgebaut.- 3 ) Das Beispiel M a n n heim wird f ü r uns entscheidende Bedeutung erhalten, wenn wir das Problem des Relativismus und dessen weltanschauliche und philosophische Konsequenzen im Rahmen der Historismusauffassung Meineckes besprechen werden. Gerade das Denkergebnis und der Gedankengang Mannheims werden f ü r uns Maßstab sein können, wenn wir festzustellen haben werden, inwiefern und wieweit Meinecke von seiner A u f f a s Thyssen,
Der
philosophische
Relativismus,
Barth, Wahrheit und I d e o l o g i e , 288 ff.
340
6.
sung des Historismus als Weltanschauung aus in der Richtung auf den philosophischen, Relativismus vorgestoßen i s t . u ) Ebenso wenig wie die logische Struktur des Historismus von 'Troeltsch eindeutig geklärt wurde, ist es der z e i t l i c h e U m f a n g , in dem der Begriff angewandt werden soll. Allerdings interessierte Troeltsch nicht in erster Linie die historische Genesis des Historismus, vielmehr durchdringen sich bei ihm systematische und genetische D a r stellungsweise laufend. A u f f a l l e n d ist immerhin, wie weit T r o e l t s c h den Begriff auch in dieser Hinsicht gefaßt hat, und es zeigt sich uns, wie wenig die Frage nach der geistesgeschichtlichen Umgrenzung noch geklärt ist. D e r Begriff erscheint so weit gefaßt, „ d a ß die Probleme des Historismus einfach als die Probleme der Geschichtsphilosophie überhaupt erscheinen könnten." 2 5 ) Eine engere Auffassung des Begriffs, welche sich im deutschen Geschichtsdenken dann allmählich durchsetzte und die Bezeichnung Historismus beschränkte auf das den Rationalismus der A u f k l ä r u n g überwindende Zeitalter der deutschen Romantik und der Historischen Schule bis zu Ranke hin (die Abgrenzungen der einzelnen Forscher variieren dabei immer), ist Troeltsch keineswegs f r e m d . Vielmehr hat er auf dieser Erkenntnis des Historismus als einer spezifisch deutschen Denkweise eine seiner wichtigsten Thesen aufgebaut: die A u f f a s s u n g vom prinzipiellen und historisch bedingten Unterschied zwischen deutschem und westeuropäischem Denken, zwischen deut21 ) Über das P r o b l e m d e s R e l a t i v i s m u s im Historismus M e i n e c k e s vgl. auch d i e u m f a n g r e i c h e B e s p r e c h u n g der „Ents t e h u n g des H i s t o r i s m u s " durch E r i c h S e e b e r g in H. Z. 157, 241 ff. D i e s e v e r w i c k e l t e Frage kann ( w i e schon erwähnt) in einer begrifflichen und strukturellen B e s t i m m u n g des Historism u s bei M e i n e c k e keinesfalls in ihrem g a n z e n U m f a n g und in ihrer g a n z e n B e d e u t u n g besprochen w e r d e n . Sie führt in die tiefsten P r o b l e m e der materialen Geschichtsphilosophie, deren e i n g e h e n d e r e Darstellung wir nicht im Rahmen dieser Abhandlung v o r n e h m e n konnten.. Immerhin wird auch hier Einiges darüber zu s a g e n sein. 2ä
) Hintze, a . a . O . ,
192.
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schem Historismus und westlichem Rationalismus, zwischen deutschem Idealismus u n d westlichem Positivismus. Hier interessiert uns diese These zunächst nicht ihres Inhalts und ihrer Begründung wegen, sondern weil damit die bedeutsamste geistige Verbindung zu Meinecke hergestellt wird. Aus genau derselben geistigen Situation heraus und durch dasselbe tentscheidende E r l e b n i s gedrängt sind Tn,elts:ch und Meineckte an die Erforschimg des Historismus herangegangen: Diesie Situation ist die geistige Atmosphäre des Weltkrieges, und das entscheidende Erlebnis ist die geistige Isolierung und die sittliche und kulturelle Diskreditierung Deutschlands. Es war die bedeutsame Erkenntnis dieser Männer, daß es nicht um militärische Niederlage und politischen Zusammenbruch des deutschen Volkes vor allem ging, »ondern um die geistige und ethisch-kulturelle Substanz des deutschen Wesens schlechthin. Schon die Kriegspropaganda (hatte zu einem regelrechten Kulturkampf der besten Geister hüben und drüben g e f ü h r t ; Meineckes Kriegsaufsätze !und -Vorträge bilden ein beredtes Beispiel hiefür. Schon hier werden die Thesen aufgeworfen, die später als die H a u p t f r a g e n der Historismusproblematik wieder auftauchen; ;denn der „ F e i n d " greift sehr bald und instinktsicher aus dem Z e n t r u m der deutschen Geistesverfassung die „schwachen P u n k t e " heraus. Als dann die Friedensschlüsse eine Situation heraufbeschworen, die gleichsam einer Sanktionierung der These von der geistigen und kulturellen M i n derwertigkeit und Unzulänglichkeit deutschen Wesens gleichkam, wobei politische und militärische Ohnmacht und Bevormundung nur als deren logische Konsequenzen erscheinen mochten, konnte dies auf Menschen vom T y p u s eines Ernst Troeltsch und Friedrich Meinecke nur eine W i r k u n g haben: eine totale Krisis ihrer seelisch-geistigen Verfassung; ein Irrewerden an allen politischen und sozialen, aber auch metaphysischen und religiösen, sogar wissenschaftlichen Überzeugungen. Aus dieser Totalkrisis heraus ist das wissen schaftliche Forschen, das geschichtliche, politische und philo342
sophische Denken der beiden geistig eng verwandten Freunde in der Nachkriegszeit zu verstehen; aus diesem Erlebnis heraus allein ist die F r a g e zu verstehen, mit welcher die beiden nun an die geschichtliche Vergangenheit des deutschen Geistes herantreten. Die Forschungen zu dieser Entwicklungsgeschichte des deutschen Geistes ruhen nicht eher, bis seine W u r z e l n bloßgelegt sind u n d die entscheidende W e n dung 'in ihrer historischen Notwendigkeit erkannt ist. Es geht ihnen darum, die Entwicklungen aufzuzeigen, welche zu einer solchen, das gegenseitige Verständnis behindernden K l u f t zwischen westeuropäischem und deutschem Wesen und Denken g e f ü h r t haben, wobei keiner von ihnen neues geschichtliches Gebiet betreten muß, wohl aber eine grundsätzlich neue und vorurteilsfreie Einstellung zu allem, was deutsch heißt, erfordert wird. Diese selbstkritische Haltung, welche alle bisher als fest und unumstößlich angesehenen Lebensmächte und Kulturwerte in Frage stellt, in kompromißloser Denkarbeit selbst den W e r t und Wahrheitsgehalt der eigenen Erkenntnisse immer wieder überprüft, diese Haltung kennzeichnet in gleicher Weise die beiden großen geistesgeschichtlichen W e r k e , die den eigentlichen A u f t a k t bilden in der Erkenntnis des deutschen geschichtlichen Denkens als Historismus. Dieser Ansatzpunkt ist entscheidend; er imuß gesehen werden, wenn man die Auffassung des Historismus bei Meinecke auch wirklich aus der T i e f e seines Lebensschicksals verstehen will. Solche Erkenntnis ist umso notwendiger, als es sich ja beim Problem des Historismus f ü r Meinecke um weit mehr handelt denn u m Fragen der geschichtlichen Methode, und es weit über die wissenschaftliche Ebene hinausweist in die T i e f e weltanschaulicher G r u n d legung. Aller Inhalt einer Weltanschauung aber beruht auf einem L e b e n s b e z u g e . D a m i t spannt sich der Bogen der inneren Zusammenhänge vom Leben in die Wissenschaft, vom Erlebnis über das weltanschauliche Motiv in den Erkenntnisakt. I n solcher Weite der Zusammenhänge wird auch die Kategorie des Historismus in ihrer letzten Fassung verstanden werden müssen.
W i r haben bereits auf die Besonderheit der Kategorie Historismus gegenüber den schon behandelten geschichtstheoretischen Kategorien aufmerksam gemacht: sie ist f ü r Meinecke nicht nur eine Kategorie neben anderen, sondern mindestens — um mit Hintze zu sprechen — K a t e g o r i a l s t r ü k t u r , d . h . selbst schon ein Bau von geschichtlichen Kategorien. Historismus ist aber gleichzeitig ein g e i s t e s g e s c h i c h t l i c h e s P h ä n o m e n ; sein N a m e bezeichnet eine bestimmte Epoche der Geistesgeschichte. Das hat f ü r unser Verfahren seine besonderen Konsequenzen. W i r können bei dieser Begriffsbestimmung nicht mehr einfach davon ausgehen, daß Meinecke alle die explizite und implizite gegebenen Erklärungen und Bestimmungen auf sein eigenes geschichtliches Denken und seine eigene Geschichtsauffassung bezieht. D a der Historismus nicht n u r ein geschichtstheoretisches System, sondern ebenso eine geistesgeschichtliche Epoche bezeichnet, bezieht sich ein großer T e i l der Aussagen Meineckes auf das Denken anderer, eben geschichtlicher Persönlichkeiten. Es wäre demnach zunächst immer zu unterscheiden — denn wir wollen ja letzten Endes die Frage beantworten, inwiefern das geschichtliche Denken unseres Historikers Historismus ist —, wann Meinecke von Historismus spricht in bezug auf sein eigenes Geschichtsdenken und wann in bezug auf das geschichtliche Denken der Vergangenheit, also etwa in dem Sinne, daß man nicht ein fach eine Definition, die das geschichtliche Denken Rankes oder Herders als Historismus bestimmt, ohne weiteres auf die Geschichtsauffassung Meineckes selbst bezöge. So erscheint der Begriff des Historismus einmal in einer mehr subjektiven, auf das eigene geschichtliche Denken bezogenen und dann in einer mehr objektiven, auf die Geschichtsauffassung einer bestimmten geistesgeschichtlichen Vergangenheit bezogenen Bedeutung. Dazu wandeln sich diese A u f fassungen Meineckes im L a u f e seiner Entwicklung, wie wir das f ü r alle Geschichtsbegriffe festgestellt haben. W i r wollen weder diese W a n d l u n g e n in ihrer ganzen W e i t e dar-
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stellen, noch die Forschungen Meineckes über Entstehung und Entwicklung des Historismus in ihrer ganzen Fülle zusammentragen; beides wird nur soweit geschehen, als es für das Verständnis der Auffassung unseres Historikers wesentlich ist. Fassen wir zunächst die Unterscheidung von objektiver und subjektiver Bedeutung des Historismus näher ins Auge. Was wir für Meinecke als o b j e k t i v e Bedeutung des Historismus bezeichnen, das ist die Identifizierung des Begriffs mit einer bestimmten geistesgeschichtlichen Epoche. In diesem Sinne wird als Historismus bestimmt jene neue Lebensund Geschichtsauffassung, welche vom 18. zum 19. Jahrhundert die Aufklärung als letzte Stufe des naturrechtlichen Denkens überwand, bei Goethe als Lebensauffassung und Weltanschauung in vollendeter Gestalt erscheint und seit Ranke auf die Erkenntnis der geschichtlichen Welt angewandt wird; die Entstehung des Historismus mit seinen Grundgedanken von Individualität und Entwicklung wird so als eine der größten Revolutionen der abendländischen Geistesgeschichte bezeichnet. Dies ist das Ergebnis der Forschungen Meineckes über die Entstehung des Historismus und die seelisch-geistige Struktur seines Zeitalters. Alle Gedanken, die sich mit dem Historismus als dieser geistesgeschichtlichen Entwicklungsphase des abendländischen Denkens befassen, müssen also grundsätzlich unter die objektive Bedeutung des Begriffs genommen werden. Dem gegenüber verstehen wir unter s u b j e k t i v e r Bedeutung des Historismus Meineckes eigene Geschichts- und später Lebensauffassung, wie er sie im Laufe seiner Entwicklung immer umfassender und ge schlossener unter diesem Begriffe zusammenfaßte und für die modernen Bedürfnisse der Geschichtswissenschaft als die immer noch einzig adäquate und vollendete Erkenntnisweise und Geisteshaltung betrachtet. Ist nun diese Scheidung, die wir zunächst rein l o g i s c h vorgenommen haben, auch p s y c h o l o g i s c h zu machen r Oder positiv gesprochen: wie ist der innere Zusammenhang 345
zwischen diesen beiden Bedeutungen zu sehen? Hier greift nun die Erkenntnis ein vom Charakter der geistigen Lage, von welcher die Historismusforschung bei Meinecke ausging : die Erforschung der V e r g a n g e n h e i t geschieht mit der ausdrücklichen Absicht zur Selbstbesinnung und zum Verständnis der G e g e n w a r t . Das Problem des Historismus zu lösen versuchen bedeutet keineswegs nur rein historische Erforschung einer neuen Geschichts- und Lebensauffassung, wie sie sich in der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ausgebildet hat, sondern es heißt Wesen, j a Existenzberechtigung eines spezifisch deutschen Geisteslebens überhaupt in Frage stellen. Alle Forschung über Entstehung und Entwicklung des Historismus erhält damit eminente Gegenwartsbedeutung. Es durchdringen sich fortwährend objektive Erkenntnis und subjektive Anschauung, wissenschaftliche Erfassung der geschichtlichen Wirklichkeit und leidenschaftliche Fragestellung der Gegenwart; es verknüpfen sich immer eindringlicher eine mit allen Erkenntnismitteln erstrebte Deutung der Gegenwart aus der Vergangenheit und die mit innerstem Ethos geforderte Überwindung dieser Vergangenheit durch geistige Ordnung und schöpferische Neufassung der Gegenwart. So fließen Vergangenheit und Gegenwart ineinander: Meinecke selbst fühlt sich als Glied in der Kette jener geistigen Entwicklungen, die er als historisches Phänomen erfaßt und als Historismus bezeichnet hat. Forschung über Entstehung, Formen, Struktur des Historismus ist nichts anderes als Selbstbesinnung über die eigene Position, Verstehen der eigenen Entwicklungsstufe aus dem historischen Ablauf ihrer Vorstufen. So sehen wir die unterschiedenen Bedeutungen einer mehr subjektiven und einer mehr objektiven Fassung des Begriffs Historismus im selben Strom geistiger Entwicklung zusammenfließen. Was hat das für die Analyse und die Wesensbestimmung des Historismus f ü r Folgen ? Alles, was Meinecke über das Problem des Historismus sagt, betrifft immer irgendwie zugleich sein eigenes Denken und seine eigene Theorie. Daher ist es hier durchaus notwendig, für eine Bestimmung von Begriff und Wesen des 346
Historismus auch geschichtliche Urteile aus Meineckes W e r ken heranzuziehen; immer aber gilt es dabei zu erkennen, in welchem besonderen Sinn unser Historiker sich jeweils mit dem historischen Gegenstand, d. h. genauer mit den Gedanken einer geschichtlichen Persönlichkeit, identifiziert. 2 ") Meineckes Historismusforschung ist dabei m e t h o d o l o g i s c h gesehen in dieser Hinsicht keineswegs ein prinzipiell besonderer Fall. Ohne bestimmte Fragestellungen ist j a die Vergangenheit nicht zu erkennen, vergangenes Leben nicht zu erwecken, und ohne bestimmte heuristische Mittel ist keine geschichtliche Entwicklung zu konstatieren. Auch der Naturforscher kann seine Beobachtungen nur systematisch machen, wenn er mit bestimmten Fragen an seine Forschungsobjekte herangeht. Natürlich kann er auch einfach beobachten und zusehen, was aus dem Gegenstand herauszuholen ist. Auch der Geschichtsforscher kann die Vergangenheit zunächst einfach sprechen lassen, indem er A r chive durchstöbert, Dokumente durchliest und aufnimmt, was immer ihm in die Augen fällt. Aber schließlich wird doch eine ganz bestimmte Fragestellung — bewußt oder unbewußt -•— an den geschichtlichen Stoff herangetragen werden. Die Geschichte aber wird vor allem die A n t w o r t geben, welche der Frage — positiv oder negativ — entspricht — fast wie der chemische Stoff, der nur die Reaktion zeigt, welche durch das entsprechende Reagens hervorgerufen wurde. Auch B e n e d e t t o C r o c e betont diesen Sach D a s s e l b e V e r f a h r e n w e n d e t B o l l n o w auf D i 11 h e y an. Im klaren B e w u ß t s e i n der g e s c h i c h t l i c h e n V e r b u n d e n h e i t l i e g e es b e g r ü n d e t , s o schreibt B o l l n o w , „daß D i l t h e y . . . i m m e r w i e d e r in d e r D a r s t e l l u n g eines b e s t i m m t e n g e s c h i c h t l i c h e n G e g e n s t a n des z u g l e i c h s e i n e e i g e n e , da,mit ü b e r e i n s t i m m e n d e Ü b e r z e u g u n g zum A u s d r u c k bringt. Da,nun ist es durchaus erlaubt ( u n d zuw e i l e n u n v e r m e i d l i c h ) , s o l c h e g e s c h i c h t l i c h e n U r t e i l e für die D a r s t e l l u n g D i l t h e y s mit h e r a n z u z i e h e n , s o l a n g e m a n sich nur aus der Übersicht ü b e r das G a n z e g e g e n w ä r t i g hält, in w e l c h e m bes o n d e r e n Sinn er sich j e w e i l s mit s e i n e m G e g e n s t a n d identifiziert." (5). Ähnlich auch S. 29.
347
verhalt der geschichtlichen Erkenntnistheorie, wenn er schreibt (und zwar gerade hinsichtlich des Problems einer Bestimmung des Historismusbegriffs, das wir j a hier immer im Auge haben) : „Eine geschichtliche Epoche deckt sich nicht mit dem Wesen, das ihr zugeschrieben wird, wie zwei Synonyme desselben Begriffs; denn wie das Leben eines Zeitalters menschliches Leben ist, trägt es auch alle Formen und Erscheinungsweisen menschlichen Lebens an sich . . . Das Wesen, das einer Epoche zugeschrieben wird, bezieht sich auf das geistige Interesse des Historikers, der das heraushebt, was sich mit seiner besonderen Untersuchung und seinen Problemen verbindet, und der deshalb mit besonderen ldassifikatorischen Begriffen arbeiten muß, die man kategorial oder funktional nennt; mit ihrer Hilfe unterscheidet und bestimmt er den größeren oder kleineren Wirkungskreis oder Vorrang, der in verschiedenen Epochen gewissen Handlungsweisen im Vergleich zu andern zukommt." 27 ) Diese theoretische Feststellung Croces trifft genau zu auf die praktischen Kontroversen der Historismusauffassung und insbesondere auf die Goetheauffassung Meineckes im Vergleich zu andern Forschern. Auch R o t h a c k e r betont in seiner „Logik und Systematik der Geisteswissenschaften'" dasselbe Moment: was gesucht werde in einem geistigen oder geschichtlichen Zusammenhang sei das „ W e s e n t l i c h e " . Dieses Wesentliche aber gehe letztlich auf ein weltanschau-") Croce, La, storia come pensiero e come azione, 5ó. Die von uns übersetzten Sätze lauten im italienischen Urtext: „Un'epoca storica non coincide col carattere che le si assegna nella guisa di due vocaboli sinonimi d>ii un medesimo concetto, perchè, in quanto la vita di un'epoca è vita umana, essa ha in s è tutte le forme e tutte le manifestazioni della vita umana . . . Il carattere, che le si. assegna, è in funzione dell'interesse mentale dello storico, che dà rilievo a quanto si lega alla sua particolare ricerca e ai suoi problemi, e perciò ricorre a speciali concetti classificatori, che sii chiamano categoriali o funzionali, e col lo.ro aiuto distingue e determina iil doni in,io maggiore o minore o il predominio che hanno, nelle varie epoche, certe qualità di atti rispetto a certe altre qualità."
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liches oder ethisches Postulat zurück, so daß das Wesen eines geschichtlichen Zusammenhanges oder einer geschichtlichen Persönlichkeit z. B. sich einschränkt auf das, was einem bestimmten Betrachter oder Forscher wesentlich daran erscheint. 28 ) Dieses subjektive Apriori. jeder geschichtlichen Erkenntnis, das — wenn oft auch unbewußt — immer vorhanden ist, darf bei einer Untersuchung der Wesens bestimmung des Historismus umso weniger außer Acht gelassen werden, als Meinecke hier ganz bewußt von einer bestimmten geistigen Ausgangslage der Gegenwart an die Vergangenheit herantritt. Historismusforschung ist in diesem Sinne nichts anderes als der Versuch einer Lösung eines dringenden Gegenwartsproblems durch die geschichtliche Erkenntnis der Vergangenheit. Natürlich ist das Verhältnis zwischen diesem subjektiven Moment des geschichtlichen Erkenntnisaktes und der Beschaffenheit des geschichtlichen Objekts vor allem ein solches der W e c h s e l w i r k u n g . Die durch die Fragestellung des Forschers einmal geöffnete Vergangenheit wird selbst zur geistigen Macht und wirkt fortwährend auf die Fragestellung zurück; das Netz der Fragen wird immer dich) V g l . R o t h a c k e r , a . a . O . , 137. Diesen S a c h v e r h a l t geschichtlicher Erkenntnis betonen auch a n d e r e H i s t o r i k e r und P h i l o s o p h e n . V g l . z. B. H a i n s Nabh o l z , „ D i e E n t s t e h u n g d e s B u n d e s s t a a t e s wirtschaftsgeschichtlich b e t r a c h t e t " in: M é l a n g e s d'histoire et de littérature o f f e r t s à M o n s i e u r C h a r l e s Q i l l a r d , L a u s a n n e 1944, 575: Die Art d e r Beg r ü n d u n g , die wir zur E r k l ä r u n g eines K o m p l e x e s historischer V o r g ä n g e in d e n V o r d e r g r u n d rücken, ist „nicht in erster Linie durch den zu deutenden geschichtlichen Z u s a m m e n h a n g bedingt, s o n d e r n durch u n s e r e e i g e n e Einstellung und F r a g e s t e l l u n g . Dabei wählen wir a u s der g r o ß e n F ü l l e der T a t s a c h e n , meist unbewußt, d i e j e n i g e n a u s , die der K a t e g o r i e von G r ü n d e n , die wir für entscheidend halten, a d ä q u a t s i n d . " 2S
F e r n e r auch in ähnlichem Sinne F r i t z M e d i c u s , Vom W a h r e n , G u t e n und Schönen 30 ff. (Von d e r O b j e k t i v i t ä t der geschichtlichen E r k e n n t n i s ) und L e o n h a r d v o n Muralt, Friedrich der G r o ß e als H i s t o r i k e r , S c h w e i z e r B e i t r ä g e zur Alb g e m e i n e n G e s c h i c h t e B a n d 3, A a r a u 1945, 85/86.
349
ter, die Maschen des Netzes immer enger, u n d i m m e r weniger der wesentlichen M o m e n t e der Vergangenheit fallen h i n durch. Dies ist g e n a u der V o r g a n g , der den F o r t s c h r i t t in Meineckes E r f o r s c h u n g des Historismus ausmacht. G e w i ß hat e r ein bestimmtes Schema, als er mit seinen Forschungen über E n t s t e h u n g u n d E n t w i c k l u n g des Historismus beginnt; schon die A u s w a h l der Gegenstände, hier der Persönlichkeiten der Geistesgeschichte, birgt ein wesentlich subjektives Element. Doch ist g e r a d e in dieser bewußt aus der G e g e n wartslage vorgenommenen Fragestellung an die V e r g a n g e n heit die gegenseitige B e f r u c h t i m g deutlich: es ist nicht n u r eine O r d n u n g u n d Bestimmung vergangenen Geisteslebens durch bestimmte aus der eigenen Entwicklungsstufe in der G e g e n w a r t entnommene Kategorien, sondern es ist ebenso umgekehrt E r k e n n t n i s der eigenen Position u n d deren historischer Bedingtheit durch die Entdeckimg von vergangenen W e r t e n u n d F a k t e n , F o r m e n und N o r m e n . E r s t dies f ü h r t zur B e w u ß t m a c h u n g der G r u n d l a g e n , auf welchen m a n selbst steht u n d lebt. Diesen Sachverhalt h a t Meinecke selbst t r e f f e n d charakterisiert, indem er mit leicht ironischem U n t e r t o n schreibt: „ D e r Historismus, der sich selbst analysiert u n d aus seiner Genesis zu verstehen sucht, das ist die Schlange, die sich in den Schwanz b e i ß t . " 2 9 ) Bei einer einseitigen W i r k u n g des subjektiven Elementes wäre j a ü b e r h a u p t keine w a h r h a f t geschichtliche E r k e n n t n i s möglich, sondern n u r eine Bestätigung oder A b l e h n u n g der V e r m u t u n g e n der Gegenwart durch die Vergangenheit. E i n e wesentliche Bereicherung der geschichtlichen Forschertätigkeit besteht n u n natürlich darin, d a ß der einzelne Forscher gezwungen wird, auf andere ebenfalls durch T a t s a c h e n u n d Z u s a m m e n h ä n g e der Geschichte beglaubigte Aspekte zu achten. A b e r erst der W i derspruch macht den Fortschritt in der geschichtlichen u n d geisteswissenschaftlichen Forschung ü b e r h a u p t aus. Das h a t sich positiv w i e d e r u m in den W a n d l u n g e n und Entwicklungen der H i s t o r i s m u s a u f f a s s u n g gezeigt, negativ z. B. in den !9
) Aphorismen I, 11.
35°
sturen axiomatischen T h e s e n der weitgehend gleichgeschalteten Geschichtschreibung des „ D r i t t e n Reiches". I m Sinne dieser Bemerkungen werden wir daran gehen, aus den unzähligen bald mehr objektiv und bald mehr subjektiv akzentuierten Äußerungen uns ein Bild von der Historismusauffassung Meineckes zu machen. D a ß sich dies Bild vom W e s e n des Historismus fortwährend bereichert hat, versteht sich bei der immer zunehmenden Fülle von Erkenntnissen und Forschungsergebnissen. W i r werden diese W a n d l u n g in der Darstellung soweit wie möglich zu berücksichtigen haben, gemäß unserem methodischen G r u n d satz, innerhalb der systematischen Fragestellung auch den entwicklungsgeschichtlichen Aspekt des geschichtlichen Denkens unseres Historikers nicht zu vernachlässigen. Den Ansatzpunkt der eigentlichen Historismusforschung bei Meinecke kennen w i r : die Problematik wird bewußt durch das K r i e g s - u n d N a c h k r i e g s e r l e b n i s und dessen geistige Verarbeitung; den A u f t a k t zur eigentlichen Forschung bilden die Studien Troeltschs, deren genaues Pendant Meineckes Studien zur Idee der Staatsräson bilden. I n wiefern vor diesem Z e i t p u n k t allenfalls von einer Problematik des Historismus in Meineckes Denken und Schaffen gesprochen werden kann, wird später noch zu zeigen sein. D a f ü r ihn der Ansatzpunkt zu seiner Historismusforschung grundsätzlich derselbe ist wie derjenige Troeltschs, ist damit auch die positive Bedeutung des Begriffes Historismus gegeben; er wird nun nicht mehr einfach als Historisierung des modernen Denkens bestimmt, sondern — ähnlich wie bei Troeltsch, n u r viel genauer und bestimmter — als geistesgeschichtliches Phänomen erfaßt. M i t Historismus wild demnach nicht eine Fehlentwicklung des modernen Denkens bezeichnet, sondern eine bestimmte oder vielmehr noch näher zu bestimmende seelisch-geistige Umwandlung in der geschichtlichen Vergangenheit. So wendet sich Meinecke schon im ersten Aufsatz, wo er sich ausdrücklich mit dem Wesen des Historismus beschäftigt, gegen N i e t z s c h e und dessen
351
Ablehnung des spezifisch historischen Denkens als eines Hauptsymptoms der Dekadenz. 30 ) E r geht schon hier in, jene Epoche der deutschen Geistesgeschichte zurück, die er später als das eigentliche Zeitalter des Historismus bezeichnen wird: in die Zeit des deutschen Idealismus und der deutschen Romantik. Hier sieht er die Ausbildung einer ¡neuen Geschichtsauffassung sich vollziehen, jener Geschichtsauffassung, in der auch er selbst und seine Generation noch denken und schaffen. Durch die Identifizierung des Wesens des Historismus mit einem seelisch-geistigen Umwandlungsprozeß ist zugleich ein weiteres gegeben: ebenfalls wie Troeltsch sieht Meinecke im Historismus nicht nur eine bestimmte geisteswissenschaftliche und geschichtliche Methode, sondern eine Lebens- und Weltschau überhaupt. „Historisches Schauen und politisch-soziales Schaffen des 19. Jahrhunderts" sind in ihrem Ursprung untrennbar. 31 ) Historismus ist also seinem Wesen nach, weil seiner Entstehung nach, nicht nur eine bestimmte M e t h o d e zur wissenschaftlichen Erfassung der geschichtlichen Wirklichkeit, sondern eine bestimmte seelisch - geistige Verfassung, eine bestimmte L e b e n s h a l t u n g schlechthin. Solche Bestimmung und Erkenntnis des Wesens des Historismus als Methode u n d als Welt- und Lebensauffassung ist das entscheidende Motiv in Meineckes gesamtem geschichtlichen Denken nach dem Weltkriege. Diese Erkenntnis bleibt, wie immer die geschichtliche Umreißung des Historismuszeitalters sich später im einzelnen modifizieren mag. Jede neue Persönlichkeit der Geistesgeschichte, die Meinecke im Hinblick auf die Erkenntnis und d. h. die Konstituierung des Wesens des Historismus erforscht, bestätigt diese Grundeinsicht; jedes neue Motiv, das Meinecke in die Idee des Historismus einströmen sieht, vertieft diese Auffassung. Der Historismus ist es, „der ein anderes Welt- und Lebensbild geschaffen hat als das ge30
) V g l . den Aufsatz „ P e r s ö n l i c h k e i t und geschichtliche S . u . P., I f f . n ) a . a . O . , 19.
352
Welt*,
meineuropäische Denken, in seinen vier aufeinanderfolgenden Stufen," (womit die von Troeltsch unterschiedenen drei Naturrechtsstufen und der Positivismus gemeint sind) schreibt Meinecke in einem Aufsatz über die Historismusauffassung Troeltschs. 32 ) Typisch für die Verbindung von geschichtlicher Erkenntnis und Weltanschauung heißt es in einem Aufsatz über Droysen: „Solange die tiefen weltanschaulichen Grundgedanken des deutschen Historismus nicht abgelöst sind durch bessere Erkenntnismittel", könne aus unversieglichen 'Quellen geschöpft werden. 33 ) Grundgedanke überhaupt ist die Erkenntnis vom Wesen des Historismus als Weltanschauung und Lebensauffassung im Werke über seine Entstehung. Daher ist diese Entstehungsgeschichte des Historismus nicht nur eine Darstellung geschichtlichen Denkens und Schaffens, sondern eine Entwicklungsgeschichte des historischen B e w u ß t s e i n s überhaupt. „Historismus ist eben zunächst nichts anderes als die Anwendung der in der großen deutschen Bewegung von Leibniz bis zu Goethes Tode gewonnenen neuen Lebensprinzipien auf das geschichtliche Leben." Da es um neue Lebensprizipien geht, „bedeutet auch der Historismus mehr als nur eine geistesgeschichtliche Methode". 31 ) W i r beobachten gleichzeitig die zeitliche Ausweitung des Historismuszeitalters, allerdings seine Entstehungsphasen inbegriffen, bis auf Leibniz zurück. Später heißt es ganz ähnlich, daß der Historismus „nicht nur eine neue Sehweise des Historikers, sondern eine solche des menschlichen Lebens überhaupt war." 3 5 ) Er „ergreift nach und nach das ganze Denken und Weltbild." 3 0 ) Ja, es wird als das entscheidende Moment im Historismus bezeichnet, daß er nicht nur zum Geschichtsgefühl, sondern zum Weltgefühl und Lebensverständnis wird. Gerade deswegen sieht Meinecke 32 )
33)
i.O., 59. a.a.O., 101.
a
Si)
E. d. H., Einleitung 2. a. a. O., 627. 3C) a . a . O . , 331.
353
in G o e t h e den Höhepunkt des Historismus, weil er „mehr Welt- als Geschichtsgefühl hatte, eine Gnadengabe, die dem kommenden Historismus nicht immer eigen, war und doch von ihm nicht entbehrt werden kann, wenn er nicht bloß ¡tote Buchstaben, sondern lebenerweckendes Leben der Vergangenheit erneuern will." 37 ) Ganz in diesem, Welt und Leben einschließenden Sinne, will Meinecke auch seine eigene Auffassung des Historismus verstanden wissen, wenn er, an die Leser gewendet, in der Einleitung zu seiner Entstehungsgeschichte über den Historismus schreibt: „ W i r wissen, daß wir nur bei Wenigen und nicht bei den Vielen heute Gehör für ihn finden. Aber wir sehen in ihm die höchste bisher erreichte Stufe in dem Verständnis menschlicher Dinge und trauen ihm eine echte Entwicklungsfähigkeit auch f ü r die um uns und vor uns liegenden Probleme der Menschheitsgeschichte zu." 3 8 ) Auch in seinen (bisher) letzten Aufsätzen, die wir als geistiges Vermächtnis zu betrachten haben, ist dieser Grundgedanke immer wieder hervorgehoben. So betont Meinecke gegenüber Heussi und seiner Kritik des Historismus 39 ), daß man unter diesem Begriff etwas anderes verstehen müsse als Heussi, nämlich „die aus der geistigen Revolution der Goethezeit stammenden neuen Prinzipien des Lebens- und Geschichtsverständnisses." 10 ) Und besonders gibt ihm seine Auffassung G o e t h e s , d. h. dessen Bezeichnung als Höhepunkt des Historismus, immer wieder Anlaß, sich über diesen seinen Grundgedanken auszusprechen; denn diese Auffassung bleibt keineswegs unbestritten. Immer wieder betont er, daß er deswegen seine Darstellung des Historismus in Goethe gipfeln ließ, weil es sich beim Wesen des Historismus „ j a auch nicht bloß um ein besseres w i s s e n s c h a f t l i c h e s Verstehen der Vergangen•") a. a. O., 518. a. a. O., 4/5. 39 ) Unter Historismus versteht Heussi einfach die Denkweise der deutschen Geschichtschreibung um 1900. 40 ) Von der Krisis des Historismus, Aphorismen 122.
354
heit, sondern um ein grundsätzliches Verstehen m e n s c h l i c h e n L e b e n s , ob gegenwärtig oder vergangen" handle. Da es im Historismus um „Lebensbehandlung" überhaupt geht, konnte Meinecke seine Darstellung nur in Goethe und „nicht in einem der nach ihm kommenden, enger auf das Geschichtliche gerichteten D e n k e r . . . auslaufen lassen." 41 ) Mit aller Deutlichkeit betont er noch einmal das Grundproblem, wenn er in einer Replik vor allem auf Croces Kritik schreibt: die Problematik des Historismus sei ihm seit Jahrzehnten im Sinne gelegen, „nicht bloß als eine Angelegenheit der Fachwissenschaft, sondern als ein L e b e n s p r o b l e m im höchsten Sinne — denn die Fachwissenschaft der Geschichte wendet nur an, was schon vorher im Seelenleben des modernen Menschen als Prinzip und Richtung, Erkenntnismittel und Gesinnung gewirkt hat und weiter wirkt, über den Kreis der Wissenschaft weit hinaus." 42 ) Alle Kritiker, die erstaunt waren über die Bedeutung, die Goethe im Rahmen einer Entstehungsgeschichte des Historismus zugemessen wurde, haben nicht verstanden, „daß es sich hier ja nicht nur um ein W i s s e n s c h a f t s p r i n z i p und dessen Anwendung, sondern um ein L e b e n s p r i n z i p handelt, eine neue Schau menschlichen Lebens überhaupt, aus der jenes Wissenschaftsprinzip erst entsprang." 43 ) Dies ist also die vorläufig zu machende Grundunterscheidung im Wesen des Historismus, die uns später noch beschäftigen wird. Worin besteht nun aber, das muß unsere nächste Frage sein, die umwälzende Bedeutung der Entstehung des Historismus, welche Meinecke j a bezeichnet als „eine der größten geistigen Revolutionen, die das abendländische Denken erlebt hat" ? Worin besteht das spezifisch Neue in der Lebens- und Geschichtsbetrachtung des Historisu
) A p h o r i s m e n I, 38.
V o m geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte, 95. (Zitiert: Sinn der Geschichte.) •|S) a. a. O., 96.
355
mus, der im selben Zusammenhang „als ein großes und gewaltiges Phänomen der Geistesgeschichte" erscheint? 44 ) „Die individuellen Gebilde der geschichtlichen Menschheit, gleichzeitig aber auch ihren zeitlosen Kern, das Generelle in ihren Lebensgesetzen, das Universale in ihren Zusammenhängen zu erfassen, ist Wesen und Aufgabe des modernen Historismus", heißt es in der Einleitung zur Geschichte der Idee der Staatsräson. 46 ) Und dieselbe Definition steht auch dem Werke über die Entstehung des Historismus voran: „Der Kern des Historismus besteht in der Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung geschichtlich - menschlicher Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung. Das bedeutet nicht etwa, daß der Historismus nunmehr das Suchen nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und Typen des menschlichen Lebens überhaupt ausschlösse. Er muß es selber üben und mit seinem Sinn f ü r das Individuelle verschmelzen. Es war ein neuer Sinn, den er dafür erweckte." 16 ) In einem zwischen diesen Hauptwerken erschienenen Aufsatz heißt es in ähnlicher Weise: „Das tiefere Verständnis für die Individualität, sowohl die der Einzelpersönlichkeit wie die der überpersönlichen menschlichen Gebilde, war die große Errungenschaft, die in Deutschland durch Idealismus und Romantik gemacht wurde und den modernen Historismus schuf." i7 ) Der Kern des Historismus ist also der Gedanke der I n d i v i d u a l i t ä t . Aus ihm gehen alle weiteren Strukturelemente hervor, und von ihm aus müssen sie daher auch verstanden werden. Diese Bestimmung des Individualitätsgedankens als Kern des Historismus ist ebenfalls eine Erkenntnis, die Meinecke gegenüber allen Widersprüchen von anderer Seite von Anfang an in die Wesensbestimmung des Historismus aufnahm. Der Individualitätsgedanke ist seine Grundkategorie; er ist sein Kennzeichen kat exochcn. Die erste Frage in der Er44
) E. d. H., Einleitung 1. d. S., 23.
4C
) E. d. H., Einleitung 2.
4J
) H . Z . 137, 17.
356
forschung des Historismus gilt daher immer „dem aufleuchtenden Funken individualisierender Lebensschau und -gestaltung." 1 8 ) Die Idee der Individualität wird das erste Kriterium in der Bestimmung eines geschichtlichen Denkens als Historismus oder als Nichthistorismus. „Individuum est ineffabile" ist das tiefste Bekenntnis des Historismus, und so steht dieses Wort auch als Motto vor dem Werke über seine Entstehung. Der Gedanke der Individualität ist aber nicht nur „der Sinn f ü r die schöpferische historische Persönlichkeit", sondern er ist auch und insbesondere der Sinn „ f ü r den individuellen Charakter historischer Gebilde überhaupt." 1 9 ) So wird der Historismus geradezu bestimmt als „der neue Sinn f ü r die Individualität der überindividuellen Mächte", insbesondere aber für „die Individualität der überindividuellen Wesenheit des Staates." 50 ) Und dies ist nun der zweite, unmittelbar aus dem Individualitätsgedanken sich ergebende Kerngedanke des Historismus: „Die i n n e r e V i t a l i s i e r u n g d e s S t a a t e s . " 5 1 ) Dies ist gerade der entscheidende Unterschied zwischen dem geschichtlichen Denken Herders und Goethes und dem vollentwickelten Historismus: das Unvermögen dieser Geister, auch die politische Welt des Staates historisch zu verstehen. So führte ihr Historismus nur zur Teilbeseelung des geschichtlichen Prozesses, weil er „ohne Anschauung und Gefühl des lebendigen Staates" war.5L>) Erst die Neubeseelung des Staates nach 1806 schuf die letzte Voraussetzung für den Historismus Rankes. In diesem Sinne wurde auch Hegel „zu einem der wirksamsten Wegbahner des deutschen Historismus" durch seinen Sinn „ f ü r die großen geschichtlichen Individualitäten" und insbesondere dadurch, daß er 18
) Sinn der Geschichte,
49
101.
) Diese W o r t e stehen in einer Kritik des Buches von Heussi,
H. Z. 149, 3 0 4 . 5
») I. d. S., 449.
«') E . d. H , i2
304.
) Aphorismen I, 45.
357
„den Staat durchaus als individuelle Totalität" begriff. 63 ) Aus dieser Perspektive ist der enge Zusammenhang, den Meinecke zwischen dem Handeln nach Staatsräson, zwischen der Lehre von den Interessen der Staaten und der Entstehung des Historismus sieht, zu verstehen. Diese Idee liegt dem Plan zugrunde, „den Zusammenhang zwischen Staatskunst und Geschichtsauffassung aufzuhellen und die Lehre von den Interessen der Staaten als Vorstufe des modernen Historismus nachzuweisen" 54 ), was dann aber in der Darstellung der Idee der Staatsräson nur teilweise verwirklicht wurde, da ein anderer Aspekt des Gesamtproblems in den Vordergrund trat. Das weitere Strukturelement, welches das Wesen des Historismus des näheren bestimmt, ist das Moment des R e l a t i v i s m u s . Der Relativismus ist f ü r Meinecke primär keine Entartungserscheinung eines späteren, alt und müde gewordenen Historismus, sondern schon in der Genesis mit ihm verbunden; er ist ein konstituierendes Element des Historismus selbst, weil er notwendig und organisch aus diesem, d. h. genauer aus seinem Kerngedanken der Individualisierung hervorgeht. Der Relativismus war in der Lehre von der Staatsräson, also längst vor der Entstehung des Historismus, schon vorhanden. Der neu erwachende Sinn f ü r das Individuelle aber „gab dem Relativismus erst seine tiefere Begründung." 5 5 ) So gehören Historismus und Relativismus zusammen, und Meinecke stellt dies für alle Denker aus dem Zeitalter des Historismus fest, f ü r Herder und Moser wie f ü r Goethe. Es war aber ein durchaus positiver Relativismus, der hier wirkte, „unangekränkelt von schwächlichen Zweifeln an dem W e r t des eigenen Wollens, von Ratlosigkeit oder labilem Opportunismus gegenüber den Grundgewalten der Geschichte." 50 ) Der Relativismus ist also 53
) I. d. S., 453 & 449.
51
55
) a. a. O., 27.
) E. d. H., 624. 5 «) a. a. O., 625.
zunächst gar nichts anderes als die notwendige Folge einer konsequenten Anwendung des Individualitätsgedankens. Seine geistesgeschichtliche Bedeutung besteht in der Zertrümmerung der Absolutheitstheorien des Rationalismus. Solch p o s i t i v e r historischer Relativismus ist überall dort, wo die Epochen und historischen Individualitäten sowohl als Mittel wie als Selbstzweck, als Stufe einer allgemeinen Entwicklung wie als „an sich wertvolle Ausprägung eines unbekannten Absoluten" 6 7 ) angesehen werden können. So ist es dem Historiker aus dem Geiste des Historismus aufgegeben, „relativierendes Weltverständnis zu üben, sich selbst in seiner Bedingtheit dabei zu erkennen und doch durch diese Erkenntnis nicht die dunkle Kraftquelle zu verlieren, die aus dem Glauben an letzte absolute Werte und an einen letzten absoluten Urquell des Lebens entspringt." 58 ) Relativierende Betrachtung geht also mit innerer Notwendigkeit aus individualisierender Betrachtung hervor. Aber der Relativismus „bedarf, um die Menschen angesichts der anscheinenden Gleichberechtigung aller möglichen Standpunkte nicht rat- und haltlos zu lassen, irgendwelcher Gegengewichte." 59 ) Es braucht metaphysische und religiöse oder auch ästhetische (wie bei Herder) S i c h e r u n g e n . Ästhetische allein allerdings genügten nicht, da die geschichtliche Betrachtung sonst nur in einem ästhetischen Schwelgen in der geschichtlichen Fülle der Jahrhunderte bestehen könnte. Wenn nun alle diese Sicherungen wegfallen, dann allerdings nimmt das Problem des Relativismus andere Formen an. Der Relativismus führt dann nicht mehr „in die größte Tiefe", sondern „in die flachste Ebene." M ) „Anarchie der Überzeugungen", „Anarchie der Werte", das sind häufige Formulierungen, die Meinecke im Anschluß an Diltheys bekannten Ausspruch zur Kennzeichnung der Gefahren des Relativismus benutzt. " ) H. Z. 137, 21. äS
) E.d.H., 626.
59
) a. a. O., 439.
60
) a.a.O., 625.
359
Er wird dann eigentlich zur n e g a t i v e n Seite des Historismus, er wird sein Gift. So erweist sich der Individualitätsgedanke als zweischneidiges Schwert; er wird zum Bumerang: der Anblick der Fülle der geschichtlichen Individualitäten droht K r a f t und Leben der eigenen Individualität zu untergraben und zu lähmen, statt sie durch die Berührung mit den individuellen Werten des geschichtlichen Lebens zu stärken und zu bereichern. Da das Individualitätsprinzip nur Eigenrecht und Eigenbewegung sah, heißt es einmal, „drohte es letzten Endes in einen Relativismus auszulaufen, der nichts Festes und Absolutes in der Geschichte mehr kennt, sondern tolerant und nachgiebig jeder geistigen Wesenheit, jeder individuellen Lebenstendenz ihren Spielraum zubilligt, alles versteht, alles v e r z e i h t . . . das war die Gefahr des späten, noch nicht des frühen Historismus." 61 ) R a n k e z. B. blieb dank seinem Gottesbegriff „vor dem Relativismus, zu dem das Individualitätsprinzip verleiten konnte, geschützt." 02 ) Nirgends aber wird die inner« Verflechtung von Individualitätsgedanke und Relativismus deutlicher, als in dem pathetischen Ausrufe Meineckes: „Alles ist Individualität nach eigenem Gesetze, alles hat sein Lebensrecht, alles ist relativ, alles fließt — gib mir den Punkt, wo ich stehe." 63 ) Heraklit und Archimedes stehen sich gegenüber: das ist das eigentliche Problem des Relativismus auf seine kürzeste Formel gebracht. Der Relativismus war solange kein Problem innerhalb des Historismus, als dieser als Welt- und Lebensauffassung verstanden — denn nur als Methode verstanden gibt es f ü r den Historismus kein Problem des Relativismus in diesem Sinn — mit dem Absolutum einer göttlich-transzendenten Einheit verbunden blieb. Der Relativismus wird dann aber zum dringenden Problem, wenn dem Historismus der Glaube an absolute Werte verloren geht und der seiner Verankerung 61
) I. d. S., 470. ) a. a. O., 472. C3 ) S.u. P., 61.
62
360
im Absoluten verlustig gegangene Historismus seine Position als W e l t - und Lebensanschauung weiterhin behaupten will. Damit ist der Relativismus seines Gegengewichtes beraubt, und er hat sich selbst an dessen Stelle gesetzt. Damit geht es nun nicht mehr um einen historischen, sondern um einen w e l t a n s c h a u l i c h gewordenen Relativismus. Diesen hat Meinecke im Auge, wenn er schreibt: „ M a n muß immer den Blick auf die Tatsache geheftet halten, daß in dem alles relativierenden Historismus allerdings ein korrosives G i f t steckt, dessen W i r k u n g nur durch andere starke Ingredienzien überwirkt werden kann." 6 4 ) Erst aus dieser Perspektive ist das unausgesetzte Bemühen Meineckes um dieses Problem während der ganzen dritten Phase — der eigentlichen Historismusphase — seines Denkens zu verstehen. W i e kann der Historismus selbst die W u n d e n heilen, die er sich durch das G i f t des Relativismus beigebracht hat? W i e kann ein Gegeng i f t gefunden werden ? W i e kann ein Glaube an ein Absolutes zurückgewonnen werden ? Das sind Fragen, die ihm immer wieder auf den Lippen liegen. Doch die Darstellung der Antworten gehört in einen anderen Zusammenhang. Hier galt es nur, den Relativismus als Strukturelement des Historismus in seinem Wesen zu erkennen und den O r t seiner logischen Entstehung sichtbar zu machen. Das weitere Strukturelement des Historismus, das sich unmittelbar aus dem Gedanken der Individualität ergibt, ist das Element des I r r a t i o n a l e n . Die Bedeutung des Irrationalismus f ü r die Entstehung des Historismus erwiesen zu haben, wurde als das wertvollste geistesgeschichtliche Ergebnis von Meineckes Forschungen bezeichnet. 65 ) Auch cl
) Sinn der Geschichte, 13/14.
C5
) Vgl. vor allem die zitierte Besprechung der „Entstehung des Historismus" durch E r i c h S e e b e r g , U.Z. 157, 241 ff. Wertvoll sind besonders die Gedanken Seebergs über die geistesgeschichtliche Verwurzelung des Meineckeschen Historismus im deutschen P i e t i s m u s . Leider stürzt sich Seeberg dann in einem furchtbaren Salto mortale vom Historismus Meineckes in die Geschichtsauffassung des „Dritten Reiches", und er macht
361
Benedetto Croce betont vor allem das irrationale Element in der Historismusauffassung Meineckes. Über Croce wird gerade in diesem Zusammenhang noch eingehender zu sprechen sein. 66 ) Meinecke trifft sich zudem auch hier wiederum mit Troeltsch, der das irrationale Moment des historischen Denkens aller rationalen Logik entgegenstellte. Beide gehen dabei natürlich auf R a n k e und die Historische Schule zurück, erkenntnistheoretisch schließen sie vor allem an D i 11 h e y an. Worin besteht nun dieses irrationale Moment im Wesen des Historismus ? Es besteht zunächst einfach darin, daß die historischen Individualitäten als Lebenstotalitäten und nicht als rationale oder rationalisierte Gebilde verstanden werden. In diesem Sinn bedeutet Individualität zugleich Irrationalität, der Sinn für das Individuelle zugleich Sinn für das Irrationale. Durch die Idee der Individualität erhielt das deutsche historische Denken (d. h. der Historismus) „das Irrationale und Mystische . . . , das die westlichen Völker immer wieder frappiert." 67 ) Die Individualität, die der Historismus in Geschichte und Leben entdeckt, ist nicht Vernunft oder Geist, sie ist es auch, aber sie ist zugleich mehr: sie ist Seele, Empfindung, Gemüt, Leben, lauter irrationale Kategorien, welche die Individualität in ihrem Wesen bestimmen. Das „principium individuationis" ist also kein logisches Prinzip (im Sinne einer Logik des Rationalen); der individuelle Mittelpunkt, den unmöglichen Versuch, jenen für diese fruchtbar zu machen. Wobei nicht geleugnet werden soll, daß Beziehungen vorhanden sind zwischen Historismus und „Drittem Reich"! In dieser schwierigen Frage aber gilt es äußerst vorsichtig zu sein und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. W i r kennen keine Untersuchung über die „deutsche Frage", die dieses Problem völlig zufriedenstellend löste. Dies ist aber in der heutigen geistigen Atmosphäre wohl auch gar noch nicht möglich. G6) Croce, La storia come pensiero e come azione, 52: „II Meinecke fa consistere lo storicismo nell'aimmissione di quel che d'irrazionale e nella vita umana . . ."
«') S. u. P., 60.
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der die Individualität konstituiert, ist nicht mittels einer rationalen Kategorie erfaßbar, er ist geheimnisvoll, n u r ahnbar, nicht erklärbar, eben irrational — ein Ineffabile. Das irrationale Element des Individualitätsgedankens und des Historismus ist es, was diesen zum Überwinder von Rationalismus u n d Naturrecht macht. So werden denn die irrationalen K r ä f t e f ü r die Entstehung des Historismus immer wieder betont. Daher ist nicht vor allem das spezifisch geschichtliche oder politische Denken, das sich j a lange noch in naturrechtlichen Formen abspielte, zum eigentlichen Wegbereiter des neuen historischen Sinnes geworden, sondern Dichtung und Kunst, Philosophie und Ästhetik stehen im Vordergrund. Ästhetiker wie Winckelmann und Dubos erscheinen als Vorläufer des Historismus; Pietismus, Phantasie- und Empfindungsbedürfnis der englischen Präromantik, das Wiederaufsteigen neuplatonischer Gedanken insbesondere bei Shaftesbury und Leibniz, der neue Sinn f ü r Urzeiten, der ein Reflex des Ungenügens am Intellektualismus der eigenen Z e i t ist, all das sind Hauptäußerungen der Innerlichkeit, die f ü r die Genesis des Historismus bedeutungsvoll werden. 6 8 ) Drei W e g e haben vornehmlich von Naturrecht und A u f k l ä r u n g zum Historismus hinüber gef ü h r t : ein religiös-weltanschaulicher, ein ästhetischer und ein politisch-sozialer. Allen dre» W e g e n aber „liegt ein gemeinsames neues Grunderlebnis zugrunde, die Mobilisierung der irrationalen Seelenkräfte in irgendeiner Richtung." 6 9 ) Der Historismus ist also in seinem innersten W e s e n I r rationalismus und daher auch Antirationalismus. Das f ü h r t uns einen Schritt weiter. M i t der Entwurzelung des Rationalismus als Philosophie, als Weltanschauung und Lebensauffassung, ist notwendig auch die Überwindung eines spezifisch rationalistischen Denkens und Erkennens gegeben. „Dies reichere und tiefere Weltbild, das der entcs
) Eine Skizze von seiner Auffassung der Entstehung Historismus gibt Meinecke in Aphorismen I, 14 ff. t9
des
) Aphorismen I, 19. 363
stehende deutsche Historismus schuf, erforderte ein biegsameres Denken und eine kompliziertere, phantasievollere, zu mystischem Dunkel neigende Begriffssprache." 70 ) Die geistige Umwälzung des Historismus schuf so notwendig auch eine neue T h e o r i e d e s E r k e n n e n s und, wenn seine Prinzipien einmal, auf die Erforschung der spezifisch geschichtlichen Welt angewandt wurden, eine neue Theorie des geschichtlichen Erkennens. So erscheint der Historismus als neue „Denkweise", „Betrachtungsweise", „Erkenntnisweise", wobei bald mehr nur die geschichtliche Welt, bald Leben und Welt überhaupt darunter begriffen werden, ganz entsprechend der Doppelbedeutung des Historismus als Weltanschauung und geschichtliche Methode. Analog erscheinen dessen Grundgedanken als neue „Erkenntnismittel", „Erkenntnisprinzipien", „Prinzipien des Verstehens", als „Lebensprinzipien" schließlich. Das Korrelat zum irrationalen Individulitätsgedanken ist eine i r r a t i o n a l e T h e o r i e d e s g e s c h i c h t l i c h e n V e r s t e h e n s . Das irrationa'e Element des Verstehens ist eine Reaktion gegen die Vernunft als alleiniges Erkenntnisorgan und ihr Zurückdrängen auf den Platz, der ihr in der Totalität des menschlichen Erkenntnisapparates und der Persönlichkeit überhaupt zukommt. Während die irrationalen Tatsachen des geschichtlichen Lebens in der Aufklärung und im Empirismus immer noch mit intellektualistischen Denkmitteln untersucht wurden, sprengten sie schließlich die Decke und fanden den Zugang „zu den irrationalen Fähigkeiten des betrachtenden Geistes selbst: zu Gemüt, Gefühl, Phantasie, tieferem religiösen Bedürfnis usw." 71 ) W i r beachten schon jetzt die weite, überrationale, d. h. die irrationalen Seelenkräfte einschließende Fassung des Begriffs des G e i s t e s . Dieser Bestimmung entspricht auch diejenige der Vernunft. Soweit sie> nicht als die einseitig intellektualistisch verstandene Vernunft des Rationalismus abgelehnt wird, erscheint sie bei Meinecke •o) I. d. S., 452. ) Aphorismen I, 32.
71
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als rationale und zugleich überrationale Kraft, als „Herr scherin und Freundin aller übrigen Seelenkräfte", als rationale Kraft, die „auch von den irrationalen Kräften sich nähren muß." 7 2 ) Ein harmonisches Gleichgewicht aller Erkenntnisorgane kennzeichnet den Forscher aus dem Geiste des Historismus. Denn die neue Theorie des geschichtlichen Verstehens verlangt Verbindung von seelischer Einfühlung mit genauer Einzelerforschung, von vernunftgeleiteter Kritik und intuitiver Versenkung in das geschichtliche Leben. Es ist eine „Reaktion der irrationalen Seelenkräfte gegen den auskältenden Rationalismus", was hier vor sich geht. Aus dieser Perspektive gesehen versteht man erst die tiefere Bedeutung all der Formen des geschichtlichen Verstehens, denen nun in mannigfachen begrifflichen Abwandlungen Ausdruck verliehen wird. So wird der Akt des historischen „Erkennens" und „Verstehens" über das bloße „Erklären" und „Begreifen" hinaus zu einem historischen „Sehen" und „Anschauen", zu einem „Fühlen" und „Empfinden", zu einem „Erleben" und „Nacherleben", zu einem „Glauben" und „Ahnen" schließlich. Nicht bloße begriffliche Variationen dürfen wir also hierin sehen, sondern Formen des V e r s t e h e n s s e l b s t , Ausdruck des Reichtums der E r k e n n t n i s o r g a n e . Auch dieses fünfte Grundelement im Wesen des Historismus, die neue Erkenntnisweise, geht notwendig aus dem zentralen Gedanken der Individualität hervor. Dies zeigt sich mit aller Deutlichkeit — und dies nur ein Beispiel unter vielen —, wenn Meinecke den Individualitätsgedanken umschreibt als „die Idee der unnachahmlichen, eigenartigen, nach eigenstem organischen Lebensgesetze sich entwickelnden Individualität,' die mit den Mitteln G des logischen Denkens, geschweige denn des mechanischen Kausalgesetzes allein nicht zu begreifen ist, sondern mit der Totalität aller geistigen Kräfte aufgefaßt, angeschaut und erlebt oder nacherlebt sein will." 73 ) Da die Individualität 72
) Deutsche Katastrophe, 61 & 56.
73
) S. u. P„ 60.
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Leben ist, kann nur Leben sie verstehen: das ist die Grundposition der neuen Erkenntnistheorie des Historismus. Noch fehlt ein letztes Strukturelement zur Konstituierung des Historismus: der Gedanke der E n t w i c k l u n g . Er steht hier an letzter Stelle, weil er von Meinecke zeitlich als letztes Element in die Wesensbestimmung des Historismus aufgenommen wurde. Nicht daß er die Kategorie der Entwicklung vorher überhaupt nicht gekannt hätte, aber sie war für ihn keine spezifisch historische Kategorie aus Gründen, die wir bei der Besprechung des "Entwicklungsgedankens selbst noch zu untersuchen haben werden. Obschon T r o e l t s c h in seiner Definition der logischen Struktur des Historismus den Entwicklungsgedanken als dessen erste Kategorie bestimmt hatte, nahm Meinecke diesen Gedanken zunächst nicht auf. Wohl gibt er gegenüber Troeltsch zu, daß der Entwicklungsgedanke „auch einen wesentlichen Bestandteil des modernen Historismus" bildet, doch sei das eigentlich Neue nicht die Einführung dieses Gedankens, sondern die Idee der Individualität. 74 ) Meinecke weist zunächst die Auffassung entschieden zurück, welche den Entwicklungsbegriff als Hauptkriterium des modernen Historismus bezeichnen möchte. Um dieses zu bilden, ist er „viel zu versatil und vieldeutig." 75 ) Immerhin teilt auch er die Auffassung von der engen und inneren Verbindung von Individualität und Entwicklung, wie wir sie bei Troeltsch finden, ohne aber dieser Kategorie zunächst besondere Bedeutung für die Wesensbestimmung des Historismus zuzuweisen. „Was sich historisch «entwickelt» sind immer nur Individualitäten, und nur durch Entwicklung offenbaren sie sich" 70 ), sagt auch Meinecke; aber es ist symptomatisch, daß der Terminus „entwickelt" in diesem Zusammenhang in Anführungszeichen steht. Immerhin wird schon deutlich, wie für Meinecke auch der Entwicklungsgedanke aus der Idee der Individuali71)
a.a.O., 59. H.Z. 137, 17. 7C) a.a.O., 18. 7»)
366
tat hervorgehen muß. Als eigentliche Kategorie des Historismus erscheint der Entwicklungsbegriff erst im W e r k e über dessen Entstehung, also fast zwanzig J a h r e nach den betreffenden Studien Troeltschs. I n diesem W e r k wird der Entwicklungsgedanke nun als zweite Grundkategorie des Historismus anerkannt. „Individualitätsbegriff und Entwicklungsbegriff hängen im historischen Denken eng zusammen". 7 7 ) I n einer Rede über Rankes Geschichtsbetrachtung heißt es: „Individualität und individuelle Entwicklung sind . . . die beiden polar . . . zusammengehörenden Grundbeg r i f f e der Geschichtsbehandlung, die man Historismus im guten Sinne nennt und die in Rankes Leistung gipfelt." 7 8 ) I n einem seiner letzten Aufsätze schreibt Meinecke: „ E s ist nun überflüssig, abzuwägen, ob der Entwicklungsgedanke wichtiger ist als der Individualitätsgedanke. Ich selber sehe zwar in diesem. . . das eigentliche Herzstück des Historismus, in jenem aber sein schlechthin unentbehrliches Komplement. Denn nur in ihrer vollkommenen gegenseitigen Durchdringung erschließt sich uns das geschichtliche Leben, bis zur heutigen Stufe unseres Geschichtsverständnisses h i n . . ." 7 9 ) Damit ist also in der letzten Phase von Meineckes geschichtlichem Denken das Wesen des Historismus durch die zwei eleichbeo
rechtigten Grundkategorien der Individualität und der Entwicklung eindeutig bestimmt. D e r Kreis unserer Betrachtung ist damit vorläufig geschlossen, die D e u t u n g der Auffassung vom Wesen des Historismus von seinem Z e n t r u m , dem Individualitätsgedanken her, in ihren wesentlichen Punkten vollzogen. D a m i t wäre die erste der eingangs gestellten H a u p t f r a g e n beantwortet: die Frage nach der Bestimmung des B e g r i f f s und nach der A u f f a s s u n g des W e s e n s des Historismus bei Meinecke. I n systematischer Sicht liegen nun die H a u p t gedanken und die mit ihnen verbundenen geschichtstheore77
) E. d. H., 171.
7S
) a . a . O . , 642.
T9
) Aphorismen, 124.
tischen Hauptprobleme vor. W i r entwickelten sie dabei im wesentlichen aus den geistesgeschichtlichen Forschungen u n d deren Ergebnissen, also aus Gedankengängen heraus, die auf andere Denker, nicht auf Meinecke selbst primär sich beziehen, während doch sein eigenes Geschichtsdenken unser alleiniges Interesse h a t und nicht das, was e r ausi anderen Gedankensystemen darstellt. W i r stehen damit wiederum vor der zweiten H a u p t f r a g e : inwiefern bezieht sich nun die oben entwickelte A u f f a s s u n g des Historismus auf Meineckes eigenes Denken, inwiefern — methodologisch gesprochen — läßt sich die oben skizzierte Wesensbestimmung des Historismus f ü r die Erkenntnis von Meineckes eigener Geschichtsauffassung fruchtbar machen ? Hier werden noch einmal die von uns gemachten Feststellungen zur T h e o r i e des geschichtlichen Erkennens bedeutsam: wir erkennen dort, daß das Frageschema, die Folie, mit welcher Meinecke an die E r f o r schung von Entstehung und Entwicklung des Historismus herangegangen ist, aus der Problematik seiner eigenen Geschichtsauffassung hervorgegangen sein müsse und leiteten daraus das Recht ab, die geschichtlichen Urteile unseres H i storikers auch auf sein eigenes Geschichtsdenken zu übertragen; dabei gelte es im Auge zu behalten, inwiefern er in solchen geschichtlichen Urteilen sich jeweils mit seinem historischen Gegenüber identifiziere. Zunächst wird unsere theoretische Erkenntnis bestätigt durch den praktischen Nachweis, daß alle geschichtstheoretischen Elemente, die in die Struktur des Historismus eingegangen sind, schon vor der eigentlichen Beschäftigung mit dessen Wesen in Meineckes Denken vorhanden waren. Es gab also eine P r o b l e m a t i k des Historismus im Denken unseres Historikers, längst bevor die eigentliche Erforschung dieses Problemkreises begann, ja bevor überhaupt der Begriff des Historismus in seinem Denken auftauchte. W i r haben hier ein interessantes Beispiel f ü r das theoretische Problem der Entstehung und K l ä r u n g eines neuen Begriffs. K l ä r u n g des Begriffs bedeutet ja immer Bestimmung des Inhalts, den er unter sich begreifen soll. So war bei Meinecke der Inhalt, 368
d. h. der Fragenkomplex, der später unter den Begriff des Historismus g e f a ß t wurde, schon mit seinen ersten W e r k e n vorhanden: nämlich das Problem der Entstehung und Entwicklung, Bedeutung und Anwendung einer neuen Geschichtsbetrachtung in und seit Romantik u n d Idealismus; der Begriff, der diesen Problemkreis zur geschichtlichen Einheit faßte, fehlte aber zunächst noch, tauchte dann in der Form „historischer Realismus" oder „historisch-politischer Realismus" auf, während der Begriff des Historismus anfangs noch in üblicher Weise die Historisierung des modernen Denkens bezeichnete. Begriff und Sache sind also beide f r ü h vorhanden, doch decken sie sich nicht. Diese Inkongruenz f a n d erst ein E n d e durch die umfassende Begriffs- und W e sensbestimmung, die Troeltsch als erster vornahm. Jetzt erst wurde die Sache dem Begriff zugeordnet. So sind also die Probleme, welche in späterer Fassung das Wesen des H i storismus ausmachen sollten, auch in der ersten Phase von Meineckes Geschichtsbetrachtung durchaus schon vorhanden; doch fehlt ihnen noch weithin die begriffliche Klarheit und die theoretische Formulierung, die sie dann in den Forschungen zum Historismus in bewußter Herausstellung erhielten. Die Grundgedanken des Historismus waren in der ersten Phase von Meineckes Entwicklung noch nicht eigentlich bewußte, weil nicht dringende und drängende Fragen, sondern sie wurden noch in nicht reflektierender Weise angewandt als selbstverständliche m e t h o d i s c h e P r i n z i p i e n . Meinecke betont selbst einmal, daß das eigentliche Bewußtwerden der Problematik des Historismus nichts anderes sei als der Ausdruck f ü r die Tatsache, „ d a ß das Stadium seiner naiven Selbstverständlichkeit, wie ich es noch in meiner Jugend erlebte, vorüber ist, daß Zweifel und Probleme auftauchen, daß eine Krisis da ist, vielleicht sein Ende nahe ist. In dieser Stimmung schrieb ich mein Buch über die Entstehung des Historismus." so) D e r A u f t a k t zur Entstehung eines eigentlichen Historismusproblems war ja — wie wir aus8(l
) a.a.O., I, 11.
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führten •—• das Erlebnis des Weltkrieges und seines f ü r Deutschland tragischen Ausgangs. Aber schon vorher, im ersten ideengeschichtlichen Werk, werden verschiedene der (später) historischen Grundgedanken vom selbstverständlichen methodischen Prinzip zum Problem, leicht erkennbar an der Zunahme der theoretischen Reflexion. Alle später in das Wesen des Historismus eingehenden Grundgedanken sind so auf die eine oder die andere Weise, mehr oder weniger deutlich wahrnehmbar, von Anfang an in Meineckes geschichtlichem Denken vorhanden. Der Gedanke der I n d i v i d u a l i t ä t ist von jeher grundlegendes methodologisches und weltanschauliches Prinzip und tritt als erster durch die ideengeschichtlichen Forschungen in die Ebene der theoretischen Reflexion. Der E n t w i c k l u n g s g e d a n k e ist begrifflich kaum klar formuliert, nichtsdestoweniger aber methodisch fruchtbar gemacht: denn was Meinecke darstellt, sind nichts anderes als Entwicklungen von Staatswesen, Institutionen, Ideen, die sieb — nach einem späteren Worte — als Individualitäten ja nur durch Entwicklung offenbaren können. Das Prinzip der V i t a l i s i e r u n g d e s S t a a t e s , der Anwendung des Individualitätsgedankens auf den Staat also, findet seinen begrifflichen Niederschlag schon in den ersten Werken. Das i r r a t i o n a l e Element erscheint mit der Idee der Individualität verbunden und tritt schon gegen Lamprechts naturalistischen Rationalismus als Grundposition in Erscheinung. Damit ist zugleich die a n t i r a t i o n a l i s t i s c h e Stellung der geschichtlichen E r k e n n t n i s t h e o r i e gegeben, erkennbar etwa in der Ablehnung des Prinzips der Kausalität und später eines einseitigen Intellektualismus. Nur das letzte Problem tritt nirgends klar und eindeutig zu Tage, wenn es auch überall im Untergrunde spürbar wird: das Moment des R e l a t i v i s m u s . Es ist zwar zugleich mit der individualisierenden Betrachtung notwendig gegeben, aber es wird erst zum drohenden Problem, wenn ihm die Gegengewichte fehlen. Und die fehlten nun keineswegs in der ge37°
schichtsphilosophisch und politisch optimistischen Stimmung bis zum Weltkrieg hin. Wenn auch ein schlechthin absolutes Moment nicht mehr vorhanden war in Meineckes geschichtlichem Denken, so gab es doch genug Werte, die es vertraten und den aus aller historischen Erkenntnis fließenden Relativismus dämmten und dämpften: der unerschütterte Staatsglaube, die unbedingte Liebe zum Vaterland, der Glaube an eine gewisse Vernunft der geschichtlichen Entwicklung und an einen gewissen Fortschritt auch in sittlicher Beziehung, Restbestände christlicher Religiosität schließlich. Dies alles brach im „Zusammenbruch" zusammen, und aus den zertrümmerten Absolutheiten brach das unbezwingliche Gespenst des Relativismus — eines weltanschaulich werdenden Relativismus jetzt — auf. Unsere Erkenntnis vom inneren Zusammenhang zwischen Meineckes Auffassung des Historismus und der Problematik seines eigenen Geschichtsdenkens bestätigt sich, mußte sich bestätigen; denn das Wesen des Historismus und das Wesen des eigenen geschichtlichen Denkens sind f ü r Meinecke in ihren Grundelementen i d e n t i s c h , müssen es sein, dürfen wir wiederum sagen. Denn es ist dieselbe geistesgeschichtliche Entwicklung, die von Goethe her über Ranke und Dilthey in die Gegenwart führt und als deren (vielleicht letztes) Glied Meinecke selbst sich fühlt und verstanden wissen möchte. Es scheint dies ein Zirkel zu sein: Schließen aus der Gegenwart auf die Vergangenheit und Zurückschließen aus der Vergangenheit auf die Gegenwart; Erkenntnis der Vergangenheit aus der Gegenwart und tieferes Verstehen der Gegenwart durch die Vergangenheit. Aber dies ist ja gerade das Wesen jenes Erkenntnisprozesses, den wir Verstehen nennen: der Kraftaustausch, die lebendige Berührung zwischen erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt; das Bewußtsein, in e i n e m Lebenszusammenhang mit dem Objekt zu stehen, macht das Verstehen erst möglich. Um mit Dilthey zu sprechen: „Das Verstehen setzt ein Erleben voraus" 31 ). 81
) Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Oesammelte Schriften VII, 143.
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Wohl ist damit unsere Frage, ob Meineckes Denken selbst Historismus sei, vorläufig beantwortet. Aber nur indem die weitere Frage auf den Plan gerufen wird: i n w i e f e r n ist sein Denken Historismus ? Welche Stellung nimmt Meinecke ein als Glied In jener geistesgeschichtlichen. Reihe, die den Historismus repräsentiert ? Welche Wandlungen hat das Wesen der Historismus durchgemacht im Wandel der Zeit? Und welches ist schließlich die spezifisch individuelle Prägung, die ihm Meineckes geschichtliches Denken gegeben hat? Wenn nun auch feststeht, daß das geschichtliche Denken unseres Historikers als Historismus bezeichnet werden muß, so gilt diese Bestimmung zunächst nur deshalb, weil er selbst sein Denken mit diesem Begriff definiert hat. Es müßte also des näheren so bestimmt werden, daß sein geschichtliches Denken als Historismus zu bezeichnen ist im Sinne seines e i g e n e n Verständnisses dieses Begriffs. Eine solche Einschränkung des Begriffs bringt die noch heute herrschende Unklarheit und Vielheit seiner Deutung notwendig mit sich. So würde ein Benedetto Croce z. B. das geschichtliche Denken Meineckes nur mit ganz bestimmten, zum Teil sehr bedeutenden Einschränkungen als Historismus bezeichnen, genau wie dies umgekehrt für Meinecke gegenüber Croce gilt. Darüber werden wir noch eingehender zu handeln haben. Dieser Hinweis auf den Gegensatz Meinecke-Croce soll hier nur eines deutlich machen: die Frage, inwiefern das geschichtliche Denken unseres Historikers als Historismus zu bestimmen sei, könnte in ihrer weitesten Fassung nun so ausgelegt werden, als ob es darum ginge, von x-beliebig verschiedenen Standpunkten her das Geschichtsdenken Meineckes zu beleuchten, um je nach der betreffenden Auffassung seine Übereinstimmung mit dem Wesen des Historismus als totale oder als partielle zu erkennen. Das kann nicht unsere Aufgabe sein. W i r betonten zwar, zu einer allgemeinen Klärung des Begriffes beitragen zu wollen und nicht einfach die Auffassung unseres Historikers in einen leeren Raum zu stellen. 372
Die von uns als wichtig erachteten Wesensbestimmungen des Historismus stehen aber da und sind jederzeit mit Meineckes Auffassung zu vergleichen; eine letzte hier mögliche K l ä r u n g werden wir zudem durch eine Gegenüberstellung der A u f fassungen Meineckes und C r o c e s zu erreichen suchen. W e n n wir daher die gestellte Frage jetzt beantworten, so haben wir nicht die verschiedenen Kontroversen vor allem im Auge, sondern wir suchen festzustellen, ob sich der Historismus Meineckes nicht doch irgendwie abhebt vom Historismus jener Denker, die er als die vornehmsten T r ä g e r und Vollender dieser seelisch-geistigen W a n d l u n g bezeichnet hat. Es geht also um die Frage nach den W a n d l u n g e n , die das W e sen des Historismus im L a u f e der geistesgeschichtlichen Entwicklung durchgemacht haben muß. D a m i t greifen wir dann auch hier auf die allen unseren Untersuchungen letztlich zugrunde liegende theoretische Frage zurück: auf das Problem des Zusammenhangs von Weltanschauung und historischer Begriffsbildung, bezw. der Bedeutung der ersteren f ü r die letztere. So wird es dann auch hier schließlich darum gehen, den W a n d e l der im Wesen des Historismus als Strukturelemente eingeschlossenen Geschichtsbegriffe aus den notwendigen Bedingungen der wechselnden weltanschaulichen Grundströmungen zu verstehen. W e n n wir zunächst an die letzte der vier aufgestellten Fragen über die spezifisch individuelle P r ä g u n g des Historismus bei Meinecke anknüpfen, so ist zu betonen, daß die jeweils i n d i v i d u e l l e P r ä g u n g zum Wesen des Hist;> rismus überhaupt gehört. E r bedeutet nicht ein bestimmtes Schema oder festes System, in das die Gedanken eines bestimmten Denkers hineingepreßt werden müssen wie in ein Prokrustes-Bett. Es handelt sich immer nur darum, die prinzipielle Festigkeit der konstituierenden Grundgedanken durch ihre jeweils ganz individuellen Prägungen bei den einzelnen Denkern hindurchleuchten zu sehen. So betont Mein ecke selbst einmal: „Auch das gehört zum Wesen des neuen historischen Denkens, daß es zwar ganz bestimmte einheitliche Prinzipien zur Erfassung der geschichtlichen W e l t
37.?
schuf, aber von einer Mannigfaltigkeit individuellster Motive und Veranlagungen gespeist wurde und noch heute gespeist werden muß, um nicht zur bloßen Routine einer wissenschaftlichen Technik zu entarten." 82 ) Es gibt also keine Theorie des Historismus, die für alle seine Vertreter gleich verbindlich wäre, es sei denn eben die Bescheidung auf eine bestimmte Anzahl typischer Grundgedanken. Diese Grundgedanken selbst aber haben ihre Entwicklungsgeschichte und machten ihre ganz bestimmten Wandlungen durch. Dies wird für die beiden Grundkategorien in den betreffenden Abschnitten zu zeigen sein. Beobachten wir hier nun einmal das Wesen des Historismus als Ganzes in bezug auf seine Wandlungen und Prägungen. Schon aus unserem summarischen Überblick werden immer wieder gemachte Differenzierungen deutlich: zwischen frühem, reifem und spätem Historismus, wobei der frühe noch als unvollendeter, der späte aber nicht nur als ausgereifter, sondern auch als „applanierter und routinierter", als „weltanschaulich schwächer werdender" Historismus erscheint oder als Erkenntnisweise bestimmt wird, die „relativistisch zu verflachen" droht oder als „reife, vielleicht überreife Frucht" bald zerfallen kann. 83 ) Auch die Unterscheidung von posi tivem und negativem Historismus ist häufig, und es ist symptomatisch, daß Meinecke immer dann, wenn er sich an nicht unmittelbar in seine Auffassung eingeweihte Leser oder Zuhörer wendet, das Wort vom „Historismus im guten, positiven Sinne" gebraucht. 84 ) Meinecke ist s'ch also durchaus bewußt, dtß der Historismus, den er selbst vertritt, nicht mehr die Stufe eines Ranke oder gar Goethe und 92) E. d. H., 383. 83) 84)
a . a . O . , 568 & A p h o r i s m e n I, 1 1 .
S o in dem V o r t r a g „Klassizismus, Romantizismus und historisches D e n k e n im 18. J a h r h u n d e r t " , g e h a l t e n an der 300J a h r f e i e r der H a r v a r d - U n i v e r s i t ä t 1936 (Sinn der Geschichte, 48) und in der R a n k e - R e d e , gehalten in der Preußischen A k a d e m i e der W i s s e n s c h a f t e n 1936 ( a b g e d r u c k t in d e r „Entstehung d e s Historismus", 632 f f . )
37+
Herder sein kann. Dem Positivum einer noch exakteren Methode, noch feinerer Erkenntnismittel und noch größerer wissenschaftlicher Erfahrung als sie etwa zur Zeit Rankes möglich waren, steht das nicht minder gewichtige Negativum des modernen Historismus gegenüber, das in sich mannigfache Probleme enthält, aber doch mit einem Wort schlaglichtartig beleuchtet wird: R e l a t i v i s m u s . Er ist die Crux des modernen und damit des Historismus Meineckes. W i r haben seine Hauptpunkte schon beleuchtet. Er ist mit geschichtlicher und damit für Meinecke mit schicksalsmäßiger Notwendigkeit aus dem Wesen des Historismus hervorgegangen. W i r haben auch den Grund zu solcher Entwicklung kennengelernt: der Verlust der den Relativismus bannenden Gegengewichte. Konkret gesprochen: der Verlust einer den Historismus fundierenden positiven Weltanschauung. Meinecke erkennt und bestimmt seinen Historismus selbst als eine Spätform dieser Denkweise. Er weiß sich am Ende einer langen und stolzen Reihe geistiger Hervorbringungen, nicht nur an einem zeitlichen Ende (das bildet j a die gegenwärtige Position immer gegenüber ihren geschichtlichcn Stufen), sondern auch an einem sachlichen. Dieses sachliche Ende ist aber kein unbedingtes: es ist nur das Ende des Historismus in dieser Form, d. h. in der zur Weltanschauung gewordenen Geschichtserfahrung. Als Verständnisweise der menschlich-geschichtlichen Dinge hingegen traut ihm Meinecke unbegrenzte Entwicklungsfähigkeiten auch für die Zukunft zu. Als Methode, als Verstehensprinzip, als Denkweise also, ist der Historismus keineswegs am Ende; er ist durch nichts Besseres zu ersetzen. Als Lebensauffassung überhaupt aber, als Weltanschauung und als Weltdeutung, hat er sich in unlösbare Probleme verstrickt. W i e konnte es aber zu solcher Entwicklung kommen ? Zu solcher Auseinanderentwicklung der beiden ursprünglich innerlich doch zusammenhängenden Seiten des Historismus? Hat Meinecke nicht ausdrücklich den Historismus als Methode u n d als Weltanschauung, als Einheit von Methode und W e l t 375
anschauung in dem Sinne bestimmt, daß Lebensprinzipien zugleich Verstehensprinzipien des geschichtlichen Lebens sind ? Wir verfolgen anhand dieser Fragen noch einmal die Wandlungen im Wesen des Historismus und untersuchen damit zugleich unser erkenntnistheoretisches Problem über die Bedeutung der Weltanschauung für die Begriffsbildung. Das Wort vom Historismus als Methode u n d als Weltanschauung darf nicht falsch ausgelegt werden. Seiner Genesis nach ist der Historismus für Meinecke nicht Methode, sondern Weltanschauung, Lebensbetrachtung. Dies muß ge sehen werden, wenn man die Gipfelung der Historismusdarstellung in Gcethe verstehen will. Für die Stufe G o e t h e H e r d e r besteht demnach das Problem Methode oder Weltanschauung insofern nicht, als die Grundgedanken, die nach Meinecke den Historismus konstituieren, auf dieser Stufe Lebensprinzipien sind. Der Historismus ist also keineswegs schon eine spezifisch geschichtliche Betrachtungsweise, und Meinecke denkt gar nicht daran, bei Goethe primär von einer neuen Geschichtsbetrachtung im eigentlich wissenschaftlich kritischen Sinne zu sprechen. Das entscheidende Moment für die Weiterentwicklung des Historismus ist nun darin zu sehen, daß bei Goethe Lebensgefühl und Geschichtsgefühl, Weltanschauung und Geschichtsanschauung zusammenfallen, und zwar dadurch, daß vergangenes geschichtliches Leben und lebendiges gegenwärtiges lieben zusammenfließen. Idealtypischen Ausdruck findet diese Leben und Geschichte (statt „Geschichte" sagt Meinecke oft „vergangenes Leben", um für Goethe nicht durchwegs den Anschein eines spezifisch historischen Denkens zu erwecken) umfassende Anschauung in Goethes Wort von der „Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins". 85 ) Meinecke nennt es in seiner Entstehungsgeschichte des Historismus „das für unsere Aufgabe 85 ) Dieses W o r t stammt aus „Dichtung und Wahrheit", Buch 14. Vgl. den Aufsatz „Geschichte und Gegenwart", Sinn der Geschichte lff., w o dieses W o r t Goethes als Auftakt eines eigentlichen Bewußtwerdens historischer Denkformen erscheint.
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inhaltsreichste W o r t . . . , eine Anschauung, die etwas Gespenstermäßiges in die Gegenwart brachte." 86 ) Er ist ganz erschüttert von diesem W o r t ; denn es „führt nun überhaupt in die tiefsten Probleme des Historismus h i n e i n . . . Es transzendierte... sowohl die Vergangenheit wie die Gegenwart und entrückte den Dichter in eine höhere Sphäre, in der er nun, tief ergriffen, über den Zeiten schwebend, weilte." 87 ) Dieses Gefühl erlaubte es ihm, „jedes zeitliche Erlebnis, das ihn bewegte, seiner nur zeitlichen Hülle zu entkleiden, den Augenblick zur Ewigkeit zu erheben." Dies ist aber genau die seelisch-geistige Haltung, welche Meinecke dann vom Geschichtschreiber im Geiste des Historismus verlangt: „das Konkrete sub specie aeterni zu zeigen." 88 ) Ein Gedanke, den er immer wieder aufgreift und der das eigent liehe Herzstück seines historischen Bewußtseins bildet. Die Grundlage und Voraussetzung solcher Haltung gegenüber dem geschichtlichen Leben ist jenes Einsgefühl von Vergangenheit und Gegenwart. Leben und Geschichte sind durch dieses Goethewort zum einheitlichen Werdestrom geworden, und e i n e Betrachtungsweise, e i n e Form der Anschauung ist f ü r beide gültig geworden. Hier ist der logische, Ort, wo die Lebensanschauung zur Geschichtsbetrachtung wird, wo der Funke der neuen Betrachtungsweise vom Leben auf die Geschichte überspringt. Die Ausdrucksformen des Lebens sind zu methodologischen Prinzipien der Geschichtsbetrachtung geworden. Die Geschichte wird als Leben verstanden. Das ist die Stufe R a n k e . Der Historismus ist damit also vom Lebensprinzip auch zum Wissenschaftsprinzip, von der „Lebensbehandlung" auch zur geschichtlichen Methode geworden. Goethes Historismus ist eine neue Form der Lebensbetrachtung, Rankes Historismus ist dieselbe neue Form nun auch als Geschichtsbetrachtung. Goethe ist der Höhepunkt des Historismus, insofern darunter ein neues LebensE. d. H , 499.
*7) a.a.O., 500/501. s8 ) I.d.S., 10. 377
Verständnis gesehen wird, in Ranke bewundert Meinecke „den Geist des Historismus selber in seiner vollendetsten Gestalt", 8 9 ) insofern diese Erkenntnisweise nun auch zur Geschichtsbetrachtung geworden ist. Bei Ranke ist der Historismus nicht mehr verstanden als „eine neue Schau menschlichen Lebens überhaupt" 9 0 ) sondern „als die Anwendung der neuen Lebensprinzipien auf das geschichtliche Leben." 01 ) Bei G o e t h e lag der Akzent auf dem Welt- und Lebensverständnis, das bei ihm noch nicht zum volbn Geschichtsverständnis werden konnte, bei R a n k e fallen Lebens- und Geschichtsverständnis im Prinzip zusammen, wobei naturgemäß der Akzent auf dem letzteren liegt. Dank solch innigem Zusammenhang von Weltgefühl und Geschichtsgefühl wurde bei beiden ein zugleich historisches und überhistorisches Verhältnis zur Geschichte möglich. Das unterscheidet diese Stufen geschichtlichen Denkens vom späteren Historismus, dem es „nur in seinen höchsten Vertretern gelungen" ist, „das geschichtliche Leben in jedem Augenblicke sowohl zeitlich-individuell, als auch überzeitlich sub specie aeterni anzuschauen." 92 ) Für Ranke fallen also Lebensauffassung und Geschichtsbetrachtung unter den Begriff des Historismus zusammen. Gleichwohl ist aber damit, daß die Prinzipien des Historismus zu spezifisch methodologischen Kategorien der Geschichtsbetrachtung geworden sind, grundsätzlich das Problem des Verhältnisses von geschichtlicher Erkenntnis und Weltanschauung innerhalb der historischen Auffassung aufgerollt. Die beiden Seiten des Historismus, methodologische und weltanschauliche Bedeutung, müssen von jetzt ab logisch geschieden werden, wenn auch noch nicht psychologisch für den geschichtlich Denkenden selbst; denn der W e g ist nun offen f ü r e ne Entwicklung, welche die Grundgedanken des Historismus auf der rein 89 ) Croce, a . a . O . , 53: „. . . il genio stesso dello storicismo, lo storicismo nella sua manifestazione piü perfetta . . ." •>°) Sinn der Geschichte, 96. •») E. d. H., Einleitung 2. a . a . O . , 631.
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methodologischen Ebene (scheinbar) immer selbständiger werden sieht, indem diese sich von der ursprünglich gegebenen weltanschaulichen Substanz in ihnen emanzipieren, aber nicht um frei von aller weltanschaulichen Bedingtheit werden zu können, sondern um mit anderen weltanschaulichen Substanzen Verbindungen eingehen zu müssen. Die geschichtstheoretischen Grundbegriffe haben j a nie nur m e t h o d o l o g i s c h e Bedeutung, sondern sie enthalten notwendig ein w e l t a n s c h a u l i c h e s Element. So läuft der Prozeß gleichsam von außen gesehen ab. W i r müssen ihn aber auch von innen her, von der Tiefe her betrachten, d. h. von den bedingenden Elementen her, als welche« wir die weltanschaulichen Voraussetzungen erkannt haben. Sie sind es, die sich wandeln im Laufe der Entwicklung, und sie sind es demnach, welche die Strukturelemente des Historismus in ihrer qualitativen Zusammensetzung ändern. Welches ist nun die w e l t a n s c h a u l i c h e S u b s t a n z , die dem Historismus und seinen Grundgedanken genuin zukommt? Der Historismus, so wie ihn Meinecke in dem nach ihm benannten geistesgeschichtlichen Zeitalter entstehen und blühen sieht, ist durchaus objektiv-idealistischer Prägung, — um hier wiederum mit Diltheys T y c u s zu operieren und wiederum nur im Sinne einer allgemeinen Dominante weltanschaulicher Grundstimmung verstanden. Er verbindet sich in der Romantik und der von ihr hervorgebrachten „Historischen Schule" zusehends mit irrationalen Motiven. Diese Position eines „ i r r a t i o n a l i s t i s c h e n o b j e k t i v - i d e a l i s t i s c h e n Historismus" ist bei Ranke erreicht. 93 ) Der Historismus verbindet sich also mit einem bestimmten Typus von Weltanschauung, d. h. er entsteht und wächst in ihm und wird selbst zum integrierenden Teil der Weltanschauung. Aber diese läßt in jedem bestimmten Falle für individuelle Ausprägungen genügend Raum. Wenn der Historismus als geisteswissenschaftliche Methode 9S ) Vgl. Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, 108.
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auch allmählich Schule macht und feste Formen annimmt, die weltanschauliche Substanz wird immer — neben allgemeinen Gedanken — in bestimmtem G r a d e individuell geprägt erscheinen. Diese individuell geprägte weltanschauliche Unterlage ist es, welche jedem geschichtlichen Denken, das die allgemeinen Gedanken des Historismus aufgenommen hat, zugleich einen ganz individuellen, einmaligen und unnachahmlichen Charakter verleiht. Das hat Meinecke immer wieder, insbesondere f ü r Ranke betont. „ D e r religiöse Untergrund seines zugleich enthusiastischen und kritischen Historismus" 9 1 ) macht seine Leistung „ganz individuell und unnachahmlich", und sie kann nicht „zum allgemein verbind lichen K a n o n erhoben werden." 9 5 ) Das entscheidende M o m e n t f ü r das jeweilige besondere W e s e n des Historismus ist also die ihm zugrundeliegende W e l t a n s c h a u u n g . Diese Weltanschauung kann aber nicht eine beliebige sein; eine Geschichtsbetrachtung ist f ü r Meinecke nur solange Historismus, als sie mit einem weltanschaulichen Idealismus verbunden bleibt. W ä h r e n d also f ü r Hintze, dank der Bestimmung des Historismus als reiner Kategorialstruktur, auch eine unidealistische, ja eine dem Idealismus entgegengesetzte Weltanschauung wie der Positivismus, sich mit dem Historismus als geisteswissenschaftlicher Methode verbinden kann, ist das f ü r Meinecke undenkbar. Der Individualitätsgedanke des Positivismus oder der Entwicklungsbegriff in naturalistischer D e u t u n g haben f ü r ihn nichts mit Historismus zu tun. F ü r Meinecke ist eben die idealistische Substanz f ü r das Wesen des Historismus konstitutiv. Innerhalb dieser idealistischen P r ä g u n g aber gibt es die verschiedensten Abtönungen. Die Entwicklung geht nun so vor sich, daß der idealistische Grundgehalt immer mehr zersetzt wird, je stärker sich die Erkenntnisse der gegnerischen Weltanschauungen dem unvoreingenommenen Historiker aufdrängen. Als Zersetzungsmittel wirkt aber nicht nur die naturalistische I. d. S., 471. ,Ji
) E. d. H., 646.
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W e l t a n s i c h t , sondern ebensosehr das Gegenwartserlebnis, aus welchem j e n e schließlich j a hervorging. D a s entscheidende M o m e n t in d e m Prozeß, durch welchen der idealistische G r u n d g e h a l t des Historismus zersetzt werden sollte, ist dies, d a ß die W e l t a n s c h a u u n g , welche die G e schichtsbetrachtung u r s p r ü n g l i c h t r u g , selbst i m m e r mehr durch h i s t o r i s c h e A n s c h a u u n g e n gesättigt wird. Die Erkenntnisse eines historischen Relativismus fließen in den weltanschaulichen Sektor ein u n d werden selbst zu w e l t a n s c h a u l i c h e n P o s t u l a t e n . J e kraftvoller die geschichtlichen Erkenntnisse, welche j a n o t w e n d i g einen historischen Relativismus hervorbringen m u ß t e n , auf die weit anschauliche Position einwirken, desto schwächer werden die ursprünglichen weltanschaulichen Gegengewichte; sie werden schließlich g a n z v e r d r ä n g t , u n d an ihre Stelle treten die relativistischen Konsequenzen der Geschichtsbetrachtung selbst. W e n n Meinecke das gegen den modernen relativistischen Historismus geschleuderte W o r t zitiert, d a ß dieser „ z w a r alle W e l t a n s c h a u u n g e n verstehe, aber keine mehr habe," 9 6 ) so m u ß das dahin interpretiert werden, d a ß e r s i c h s e l b s t z u r W e l t a n s c h a u u n g g e w o r d e n i s t . Dies ist genau der W e g des späten H i s t o r i s m u s : der in ihm angelegte historische Relativismus zerstört die autonome weltanschauliche Substanz, t r i t t selbst an ihre Stelle u n d wird daher selbst zur W e l t a n s c h a u u n g . D e r Historismus ist jetzt also wiederum als W e l t a n s c h a u u n g zu bestimmen, u n d wir haben damit scheinbar wiederum die S t u f e Goethe erreicht. Aber welche g r u n d s t ü r z e n d e E n t w i c k l u n g ist seither vor sich g e g a n g e n ! Schon der A k z e n t ist verschoben: während Goethes Historismus Lebensprinzip w a r und als solches auf das Verständnis der geschichtlichen W e l t angewandt wurde, ist der Historismus jetzt insofern Lebensprinzip, als die aus der Geschichte gewonnenen Erkenntnisse N o r m e n der aktiven Lebensgestaltung zu sein beanspruchen. A n Stelle eines Verstehens der Geschichte durch das L e b e n ist die D e u t u n g fl6
) a . a . O . , 623; ähnlich auch an andern Stellen. 38I
des Lebens aus der G e s c h i c h t e getreten. Das ist aber mehr als eine bloße Umkehrung eines Vorganges; denn die Geschichte hat sich unterdessen vom leben- und kräftespendenden unversieglichen Strom des W e r d e n d e n zum alles höher Strebende verschlingenden Strom des G e w o r d e n e n gewandelt. Dem lebenschöpfenden Hinaustreten aus dem Leben in die Geschichte durch den schöpferischen Historismus Herders und Goethes entspricht ein lebenlähmendes Emportauchen aus der Geschichte in das Leben durch den relativistischen Historismus der Gegenwart. Genau so stellt sich uns die Entwicklung des Historismus dar aus der Perspektive des Zerfalls des christlichen Weltbildes. Dem zurückweichenden Glauben an die Beziehung alles Seins auf eine t r a n s z e n d e n t e E i n h e i t folgt die vordrängende Lehre einer r a d i k a l e n I m m a n e n z und damit Faktizität und Relativität alles geschichtlieh Gewordenen. Die Übertragung solcher geschichtlicher Erkenntnis auf die Deutung des Lebens selbst ist der letzte unvermeidliche Schritt. Dies ist das Endresultat des durch den Historismus eröffneten Verschmelzungsprozesses im Denken, welchen Meinecke charakterisiert als „die coincidentia oppositorum, das dynamische Hinüberwirken des Geschichtlichen in das gegenwärtige Leben und vice versa." 97 ) Damit wurde der Historismus zu einem das ganze Weltbild umgestaltenden Prinzip. Dies ist die geistige Situation, in der sich Meinecke als geschichtlicher Denker befindet; seinen Kampf zu ihrer Meisterung werden wir später darzustellen haben. Es sollte hier nur die Wandlung des Wesens des Historismus durch die Veränderungen der geist gen Einstellung gegenüber einer bestimmten Weltanschauungsfrage entwickelt werden. Aber auch der weltanschauliche Wandel im allgemeinen mußte das Wesen des Historismus entsprechend verändern. So schreibt Meinecke selbst über dieses Problem bei einer Besprechung von Alfred Doves Welt- und Geschichtsauffas97
) Sinn der Geschichte, 9.
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s u n g : „ D o v e s Bekenntnis w a r vielleicht der feinste A u s d r u c k d e r j e n i g e n W e l t a n s c h a u u n g , die aus der damaligen E n t wicklungsstufe des deutschen Historismus ungesucht hervorging, — u m eine N u a n c e realistischer u n d naturalistischer als die Rankes, dessen Realismus noch f ü r einen positiveren Gottesglauben R a u m ließ, aber auch noch nicht so beunruhigt u n d zerwühlt, wie es der moderne H i s t o r i k e r sein m u ß , wenn er die E r g e b n i s s e d e s N a t u r a l i s m u s u n d die E r f a h r u n g e n d e r Z e i t ganz auf sich wirken l ä ß t . D e n n diese zwingen ihn, den Dualismus von Geist u n d N a t u r als immer evidenter, aber auch als immer r ä t s e l h a f t e r anzuerkennen, während sein monistisches H e r z e n s b e d ü r f n i s immer kleinlauter wird, ohne je zu ersterben." 9 8 ) Meinecke sieht hier also deutlich den W a n d e l des W e l t a n s c h a u u n g s typus, wie er f ü r seine eigene E n t w i c k l u n g maßgebend w u r d e : die Z u r ü c k d r ä n g u n g der m o n i s t i s c h e n Überzeugungen und Bedürfnisse durch die immer zwingender a u f t r e t e n d e n d u a l i s t i s c h e n Erkenntnisse, die Ablösung eines objektiven Idealismus also (oder genauer seiner Restbestände) durch einen Idealismus dualistischer P r ä g u n g . Solche W a n d l u n g m u ß t e natürlich entsprechende V e r ä n d e r u n g e n in der S t r u k t u r des Historismus (der dabei j a immer über seine Bes t i m m u n g als Geschichtsbetrachtung hinaus seinem W e s e n g e m ä ß ein Stück W e l t a n s c h a u u n g mitumschließ: bezw. r e p r ä sentiert) h e r v o r r u f e n . W e n n auch der Historismus auf dem N ä h r b o d e n objektiv-idealistischer W e l t a n s c h a u u n g erblühte, so waren doch, j e nach dem individuellen Falle, auch dualistische M o t i v e von A n f a n g an hineinvermischt. D a s dualistische P r i n z i p erschöpft sich dabei nicht in der A n t i n o m i e von Geist u n d N a t u r , welche bei R a n k e die spezifische F o r m einer dualistischen U n t e r s c h e i d u n g von real-geistiger G o t t n a t u r — als welche er die Geschichte bestimmte — u n d von rein geistiger G o t t h e i t a n n a h m ; aus dem dualistischen U r g e g e n satz von I d e e u n d Wirklichkeit geht ebenso ein D u a l i s m u s d e r M a ß s t ä b e hervor. „ D e r erkennende Mensch 's) Preußisch-deutsche Gestalten und Probleme, 168/169. 3§S
und der sittlich empfindende und urteilende Mensch treten der Geschichte gegenüber eben etwas auseinander . . . Der erkennende Mensch blickt auf das Fließende in der Geschichte, der sittlich Urteilende auf das Feste und Absolute." 99 ) „Der Dualismus der Maßstäbe des Wandelbaren und Unwandelbaren in Rankes geschichtlichem Denken" 100 ) ist nun gerade das zweite dualistische Motiv, das ihn in entscheidender Weise von Hegels Auffassung abhebt, neben dem ersten, damit natürlich innerlich zusammenhängenden Prinzip der Gegenüberstellung von Gott und Geschichte (statt ihrer Verschmelzung wie 'bei Hegel). So erscheinen »in R a n k e s Auffassung Identitätsbedürfnis (die „Gottnatur", das „Real-Geistige") und dualistische Motive (das Gegenüber von Gottnatur und Gott, von wissenschaftlicher Erkenntnis und sittlichem Urteil) in originaler Weise verschmolzen. Diese beiden dualistischen Motive weist auch Meineckes geschichtliches Denken von Anfang an auf, wenn zunächst auch noch — doch in viel geringerem Maße als bei Ranke — durch Reste objektiv-idealistischer Weltanschauung überdeckt. Trotz aller Verstärkung der dualistischen Momente ist sein geschichtliches Denken zunächst doch noch mitgetragen von jener weltanschaulichen Substanz, die mit dem Historismus g e n u i n verbunden war. Daher fühlt er sich in der ersten Phase seines Denkens noch durchaus in der unmittelbaren Nähe Rankes. Dies alles ändert sich in entscheidendem Maße durch den Umschlag seiner Weltanschauung in einen spezifisch dualistischen Idealismus. Alle Wandlungen, die für einen Übergang von einem objektiven in einein dualistischen Idealismus typisch sind, treten in entsprechendem Maße bei diesem Problem auf. Alle dualistischen Motive verstärken sich und durchbrechen die Decke, welche das monistische Bedürfnis noch gebildet hatte. Die latenten Antinomien werden eminent. Der weltanschauliche Bruch reißt eine tiefe Kluft auf zwischen Meinecke und Ranke. aa)
,0°)
384
A p h o r i s m e n II, 62.
I. d. S., 477.
Das noch leidlich tragende weltanschauliche Fundament der ersten Phase stürzt zusammen, und der Historismus sucht mit neuen weltanschaulichen Elementen Verbindungen einzugehen. So haben sich vor allem die schon bei Ranke vorhandenen dualistischen Grundmotive in Meineckes Auffassung nun endgültig durchgesetzt: der m e t a p h y s i s c h e Dualismus von Geist und Natur und der e t h i s c h e Dualismus von Erkenntnis und Ethos, geschichtlicher Realität und sittlicher Forderung. „Keine der beiden Sphären läßt sich ihr Eigenrecht nehmen" stellt Meinecke fest, und, indem er auf Ranke zurückschaut und von ihm aus wiederum die eigene Situation überblickt, fährt er fort: „Nur eine mehr oder minder religiös bestimmte Weltanschauung kann dann das Fließende und das Feste in einer höheren unsichtbaren Einheit miteinander verbinden. Ranke vermochte das. Wir Späteren müssen uns einen neuen Weg zu ihr suchen."101) So sind wir auch hier 10) ) Aphorismen II, 63. Interessant ist in diesem Z u s a m m e n h a n g , was H u i z i n g a ü b e r das Problem des Historismus denkt. Er nimmt bezug auf den V o r t r a g C r o c e s „Antihistorismus" (gehalten auf dem internationalen P h i l o s o p h e n k o n g r e ß in O x f o r d 1930, auch in deutscher Übersetzung in H. Z. 143, 457 ff.) und f ü h r t dann a u s : „Man kann, wie mir scheint, die G e f a h r e n eines konsequenten Historismus durchaus zugeben, o h n e deshalb in die Cbarybdis eines ausg e s p r o c h e n e n Antihistorismus zu fallen. Die ausschließliche Anw e n d u n g historischer M a ß s t ä b e ist sicherlich ein Grundsatz, der für d a s g e i s t i g e Leben tödlich ist." Huizinga ist nun aber nicht geneigt, die A u f f a s s u n g anzuerkennen, wonach die historische Tätigkeit ü b e r h a u p t den Relativismus f ö r d e r e . Das sei weder bei den g r o ß e n Historikern der V e r g a n g e n h e i t der Fäll gewesen, noch h a b e er selbst „die unsicher machende und destruktive W i r k u n g d e r geschichtlichen T ä t i g k e i t " an sich einmal erfahren. Vielmehr heile die Geschichtswissenschaft wie die Naturwissenschaft den Menschen von egozentrischer Einstellung und vor Uberschätzung dessen, was ihn unmittelbar u m g e b e .
„Nichts ist besser f ü r den Menschen als zu sehen, wie die G r e n z e n seiner eigenen begrenzten Persönlichkeit zeitlich und räumlich weichen und er an das g e b u n d e n ist, was vorher war und was einmal sein wird. W a s ist f ü r d e n Menschen heilsamer als d e r Anblick der ewigen Unvoldkommenheit und des ewigen
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auf den Relativismus gestoßen und auf die Erkenntnis Meineckes, daß er irgendwie überwunden werden muß. Die Veränderungen, die solcher weltanschaulicher Wandel im Wesen des Historismus hervorrufen mußte, wollen wir hier nur rasch beleuchten; die Hauptuntersuchung wird bei der Behandlung seiner Grundkategorien zu machen sein. I n seiner Einführung zum „Principe" schreibt Meinecke angesichts der Tatsache, daß in Machiavellis Begriff der virtù idealistische und naturalistische Motive untrennbar verknüpft erscheinen: „Aber kann nicht vielleicht die Machiavellische Denkweise eben deswegen von dem m o d e r n e n H i s t o r i s m u s besser verstanden werden, weil auch dieser mehr und mehr gelernt hat, die elementaren und dunklen Gewalten der Geschichte i l l u s i o n s l o s anzuschauen und i h r e u n t r e n n b a r e L e b e n s g e m e i n s c h a f t mit den ideellen Gewalten, w e n n a u c h m i t i n n e r e m W i d e r s t r e b e n , anzuerkennen?" 10 -) Leuchtet durch diese Wesensbestimmung des Historismus nicht mit aller Deutlichkeit der weltanschauliche Dualismus hindurch, wie wir ihn kennengelernt haben: illusionslose Anerkennung der natürlich-triebhaften Gewalten in der Geschichte und ihrer untrennbaren Verbundenheit mit den geistigen Elementen in der ErscheiStrebens, der Begrenztheit al Ies menschlichen Könnens und dei Abhängigkeit auch des Genies und des Heldentums von höherer Macht? Wer die Geschichte aus spontaner Liebe zur Vergangenheit treibt, braucht den Schaden des Historiismus nicht zu fürchten. Er erlebt in der Geschichte eine Form geistiger Freiheit, die das höchste ist, was ihm gegeben wurde." Im Bann der Geschichte, 77/78. W a l t e r G o e t z , Propyläen-Weltgeschichte Bd. VIII, 474 (Ausgabe 1931), betont die Bedeutung des Historismus für das deutsche Denken. Kein Land wurde „so stark das Land geschichtlichen Denkens und einer Oberschätzung der Geschichte für das Leben" wie Deutschland; „deshalb war die künftige Reaktion gegen den Historismus auch nirgends so groß wie in Deutschland." 102
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) Klassiker der Politik Bd. 8, Einführung zum Principe, 26.
n u n g des Geschichtlichen? Selbst der typische Vorbehalt des dualistisch gewordenen Idealismus ist d a : das innere Widerstreben, das geistige Prinzip durch seine Symbiose mit den natürlich-elementaren K r ä f t e n hinabziehen und verunreinigen zu lassen. M a n denke dagegen an die Haltung, die der Historismus eines Ranke und eines Treltschke dem Problem der Macht gegenüber einnahm. O d e r gar der eines H e g e l , den Meinecke allerdings nur sehr bedingt zum Historismus rechnet. Ranke erschien in der „ M a c h t an sich" ein geistiges Wesen. Treitschke versuchte, „die W e l t der Macht und die W e l t der Ideen zu vereinigen unter dem Primate der Ideen." 1 0 3 ) O d e r man denke gar an die Konsequenzen der Identität des Vernünftigen und des Wirklichen f ü r das M a c h t p r o b l e m ! So erkennt nun Meinecke von seiner neuen dualistischen Basis aus den tiefen Mangel des reifen deutschen Historismus darin, daß er zu beschönigender Idealisierung der Machtpolitik führte, trotz aller religiösen .und idealistischen Vorbehalte, durch die Lehre, d a ß sie einer höheren Sittlichkeit entspräche. 1 0 1 ) Diese Folgerungen des Historismus aber waren nur möglich dank einer ihn tragenden und mit ihm wesenhaft verbundenen W e l t a n schauung, die in objektiv-idealistischem Sinne geistige und sinnliche Elemente in der geschichtlichen Erscheinung zu versöhnen suchte. Es ist diese Stufe des Historismus, die Meinecke charakterisiert als optimistische W e l t s t i m m u n g mit einem Identitätsbedürfnis, „das auch die K r a f t , die stets das Böse will und stets das Gute schafft, an ihrem O r t e wirken ließ. Die Lehre Von der List der V e r n u n f t beruhigte über die Abgründe des geschichtlichen L e b e n s . " " 5 ) U n d da er seibst in der ersten Phase seiner geistigen Entwicklung in den Nachwirkungen eines solchen Historismus Geschichte schrieb und daher auch seine Irrungen durchmachte, erhebt er jetzt mit umso größerer Eindringlichkeit von seiner neuen weltan1M
) I. d. S., 494. ) a. a. O., 533. 105 ) a. a. O., 512. 101
25
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schaulichen Position aus auch neue Forderungen an den modernen Historismus. Seine weltanschauliche Substanz, die sich verändert hat, wandelt in entsprechendem Maße auch sein Wesen als Betrachtungsweise der Geschichte. Wieder zeigt sich uns an einem klaren Beispiel die weltanschauliche Bedingtheit einer historischen Grundkategorie und damit der Geschichtsbetrachtung überhaupt. Aber auch das andere dualistische Hauptmotiv dringt in seiner spezifisch ethischen Form deutlich in die neue Wesensbestimmung des Historismus ein. So wird die Aufgabe und das Wesen des „ m o d e r n e n H i s t o r i s m u s " einmal folgendermaßen umschrieben: „Dieser will die W e l t d e r s i t t l i c h e n W e r t e und die W e l t d e r W i r k l i c h k e i t immer gleichzeitig umfassen, will weder einseitig moralisieren, noch einseitig naturalisieren und sucht nun . . . nach einer inneren Brücke, nach einer irgendwelchen inneren Lösung des Zwiespalts." 106 ) Auch hier ist es wiederum der innere Zwiespalt, den der Dualismus in das historische Bewußtsein bringt und der von nun an das Wesen des Historismus kennzeichnet. Oder man denke schließlich an den Begriff des „R e a 1 G e i s t i g e n", der f ü r Rankes Historismus so kennzeichnend ist und die typische Erscheinungsform seiner objektiv-idealistischen Grundhaltung bildet. 107 ) Auch Meinecke übernimmt den Begriff zur Kennzeichnung geschichtlicher Wesenheiten. Aber welch tiefgreifender Unterschied in dem inneren Gehalt der äußerlich gleichen Begriffe! Bei Ranke wird das RealGeistige zur Einheit des „Lebendigen" verschmolzen; der dualistische Urgegensatz von Idee und Wirklichkeit scheint aufgehoben in der Synthese der geschichtlichen Erscheinung. Bei Meinecke dagegen ist der Begriff nun Ausdruck f ü r den dynamischen Kampf feindlicher Urprinzipien, geladen mit dem antinomischen und ewigen Spannungszustand der 10C
) a.a.O., 112.
107
) Über die philosophischen und historischen G r u n d b e g r i f f e mit objektiv-idealistischen Affinitäten vgl. Rothacker, a.a.O., 56 ff.
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Grundpolarität von Geist und Natur. Zwei Weltanschauungen, zwei Geschichtsanschauungen, zwei Stufen des Historismus könnten so aus e i n e m Begriff heraus in ihrem Wesen entwickelt werden, weil sie in konzentriertester Form in ihm enthalten sind. Bevor wir diese Wandlungen im Wesen des Historismus an weiteren Begriffen demonstrieren können, gilt es noch, auf eine Auseinandersetzung näher einzugehen, in welcher Meinecke zu einer letzten Klärung seines Historismusbegriffes kommen sollte, und das geschah in der Kontroverse mit B e n e d e t t o C r o c e . Versuchen wir daher zunächst, von der Auffassung des italienischen Philosophen uns ein Bild — wenn natürlich auch nur in Grundzügen — zu machen. — Der Begriff des Historismus hat für Croce allumfassende Bedeutung, nennt er doch seine „filosofia dello spirito" einen „storicismo assoluto". A b s o l u t e r H i s t o r i s m u s ist seine Philosophie des Geistes insofern, als es für ihn nur eine wahre Wirklichkeit gibt, nämlich die Geschichte und nur eine menschliche Realität, nämlich den Geist, der Freiheit, Aktivität, immerdauernde Lebensschöpfung ist. Da die Philosophie es mit der Betrachtung der Wirklichkeit zu tun hat und die Geschichte einzige wahre, weil einzige erkennbare Wirklichkeit ist, fallen Philosophie und Geschichtschreibung für Croce zusammen. 108 ) Das vichianische Prinzip von der Konvergenz des Wahren mit dem Geschaffenen zur letzten Konsequenz führend, kommt Croce zur Aufstellung des erio8) Vgl. u . a . den Aufsatz C r o c e s „II concetto della filosofia oome storicismo assoluto" in Critica 37, 253 ff. Er will hier zeigen, „che la risoluzione della filosofia nella storiografia, lo «storicismo assoluto», sia . . . il maturo prodotto della storia del pensiero nel suo svolgimento fino a noi". Er teilt die These in zwei Teile: „la prima, che la filosofia non possa essere altro, nè in realtà sia mai stata altro, che filosofia deilo spirito; la seconda, che la filosofia dello spirito non possa essere in concreto, o non sia mai stata in effetto se non pensiero storico o storiografia . . . "
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kenntnistheoretischen Grundsatzes, daß der Mensch nur das erkennen könne, was er selbst geschaffen habe. Einziges Objekt der menschlichen Erkenntnis ist somit die Geschichte und wirkliche Erkenntnis nur die geschichtliche, während jeglicher naturalistischen oder transzendentalen Philosophie die Zuständigkeit der Erkenntnis abgesprochen wird. Der Historismus ist für Croce primär nicht historisch individuelle Erscheinung, sondern logisches Prinzip, Kategorie des Geistes und als solche konstant und unwandelbar; 109 ) denn was sich wandelt und bereichert, sind nicht die Kategorien, sondern unsere Begriffe von den Kategoii n. SJ Lt der Historismus oder das historische Moment, das heißt das Bewußtsein, daß das Leben und die Wirklichkeit nichts anderes als Geschichte sind, als logisches Prinzip im Menschen jedes Zeitalters mehr oder weniger bewußt vorhanden und somit auch in der Geschichtschreibung aller Zeiten, welche ja Ausdruck und Niederschlag des Denkens über Geschichte ist. Somit ist das Problem der Genesis des Historismus primär nicht ein h i s t o r i s c h e s , sondern e'n l o g i s c h e s , da sie im Geiste sich vollzieht. Logisch erwächst der Hi;torismus aus dem Gegensatz zur aufklärerisch-tranzendenten Lösung des Geschichtsproblems. Die logische Genesis ist daher für Croce kein Problem der Geschichtschreibung, wohl aber die historische, um deren Darstellung es Meinecke geht. Damit ist aber zugleich auch gesagt, daß unter historischer Genesis des Historismus nicht seine Entstehung in der geistigen Entwicklung des menschlichen Lebens überhaupt gemeint sein kann, sondern nur seine spezifische Ausbildung in jenem Zeitalter, das seinen Namen trägt. Der Gegensatz, der sich hinsichtlich dieses geistesgeschichtlichen Problems zwischen den beiden Denkern auftut, geht notwendig hervor aus der logischen und strukturellen Bestimmung, welche Croce der Kategorie des Historismus gegeben hat. I 0 9 ) Croce, La storia come pensiero e conie azione, 65: „Lo storicismo è un principio logico, ed è anzi la categoria stessa délia logica, la logicità i/ntesa in modo adeguato, quella dell'universale concreto . . . "
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So sieht er als Hauptbegründer des Historismus und seiner logisch-erkenntnistheoretischen Weiterentwicklung V i c o und H e g e l an, insofern sie schon vor ihm am Aufbau einer Philosophie des Geistes gearbeitet haben, welche ja mit jenem identisch ist. 110 ) Sie sind die beiden Denker, die vornehmlich die Aufklärung, gegen welche der Historismus in polemischem Gegensatz sich entwickelt, kritisiert, in sich aufgenommen und damit überwunden haben: Vicos Denken entwickelte sich in bewußtem Gegensatz vor allem zum Cartesianismus und hob alles Irrationale, das der aufklärerische Rationalismus verabscheut hatte, zu besonderen Formen der Rationalität; Hegel überwand die Aufklärung, indem er sie in seinen tieferen und reicheren geschichtlichen Rationalismus aufnahm durch seine revolutionären Gedanken von der Identität des Wirklichen und Vernünftigen und der dialektischen Entwicklung des Geistes. Während aber Hegel und Vico noch in den grundsätzlichen Widerspruch verwickelt waren, eine Philosophie der Immanenz durch eine Theologie der Transzendenz zu überbauen, verwirft der Historismus Croces jeglichen transzendenten Lösungsversuch des Geschichtsproblems und alle metaphysischen Voraussetzungen und Konsequenzen. Keine übergeschichtlichen W e r t e und Ideen werden aus der Wirklichkeit transzendiert, sondern die wahren Ideen und die wahren Werte von allgemeingültigem Charakter als reine Begriffe bestimmt; der Historismus Croces braucht nicht mit dem irrationalen Element inj geschichtlichen Leben zu paktieren, da. er es rationalisiert und uo ) Vgl. den, Aufsatz Croces „Differenza dello storicismo Hegeliano dallo storicismo nuovo" im Critica 40, 65 ff. „II nuovo storicismo, pur accogliendo, estendendo, approfondendo e mettendo in opera, il principio vichiano della conoscibilità di quello soùo che sii fa e perciò dell'uomo che conosce soltanto quello che è la sua storia perchè egli l'ha fatta e il principio hegeliano dello svolgimento dialettico per conservazione e superamento, tiene salda mon meno, e approfondisce, estende e fa frutteficare la teoria kantiana del giudicare, integrandola con le due precedenti."
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unter einem erweiterten Begriff des Logischen begreift.'-11) Croces Historismus erhält so den Charakter eines k o n k r e t e n R a t i o n a l i s m u s , der an Stelle der transzendenten Ideen der Aufklärung die absoluten Kategorien und die apriorische Synthese der Erfahrung setzt. 112 ) U1 ) Was der r a t i o n a l i s t i s c h e Historismus Croces hier unternimmt, das Irrationale in Geschichte und Leben zu rationalisieren, indem er es unter eine erweiterte Form des Logischen begreift, ist auch vom i r r a t i o n a l i s t i s c h eingestellten Historismus und von, der historisch gerichteten Lebensphilosophie gefordert worden. Man vergleiche hierzu aus der zahlreichen Literatur: E r n s t T r o e l t s c h , Die Bedeutung der Geschichte für die Weltanschauung, a . a . O . , 27: Geschichte geht auf unerrechenbare Neuheit und Tatsächlichkeit der Produktion; wenn der Begriff der Rationalität auf die Naturwissenschaft eingeschränkt bleibt, dann ist Geschichte irrational. Andernfalls muß der Begriff des Logischen erweitert werden, um auch das zweite aufnehmen zu können. Hier liegen die Hauptschwierigkeiten der heutigen Logik. Es ist eine unzweifelhafte Tatsache, „daß jede Versenkung in historische Tatbestände zu dieser irrationalistischen Logik des Neuen und Schöpferischen führt."
G e o r g M i s c h , Die Idee der Lebensphilosophie etc., a. a. O., 544: Misch stellt hier fest, „daß aus der Idee der Lebensphilosophie die Aufgabe einer Erweiiterung der logischen Fundamente entspringt . . . " ; ähnlich auch 548. R o t h a c k e r , a . a . O . , 120 ff. (Über das Verstehen). H a n s F r e y e r , Theorie des objektiven Geistes, 134 ff. Die Schaffung einer „Logik des Typus und der Individualität" wird als „die dringendste Forderung der Geisteswissenschaften" bezeichnet. Auf die Theorie Freyers werden wir bei der Besprechung des Individualitätsgedankens noch zurückkommen. Alle diese modernen Bemühungen um eine Logik der Geschichte und der Geisteswissenschaften überhaupt gehen im wesentlichen natürlich auf D i l t h e y zurück, auf seine Kritik der historischen Vernunft und seiine Theorie des Verstehens. Vgl. dazu Bollnow, Dilthey 145 ff. Meineckes Bemühungen um dieses Problem werden später darzustellen sein. I12 ) Croce, La storia etc., 53: Nachdem er den irrationalen Charakter des Historismus Rankes und Meineckes festgestellt 392
Von dieser r a t i o n a l i s t i s c h e n P o s i t i o n aus ist die Kritik zu verstehen, welche Croce an Meineckes Darstellung des Wesens und der Entstehung des Historismus übt. Nicht im Dreigestirn M o s e r , H e r d e r , G o e t h e sieht er die eigentlichen Bahnbrecher des neuen historischen Sinnes, sondern insofern Deutschland ein Verdienst an dieser geistigen Revolution hat, kommt es der großen deutschen Philosophie von K a n t b i s H e g e l und eben vor allem diesem zu. Deshalb bewege sich, so argumentiert Croce, die Darstellung Meineckes tatsächlich nur unter den Vorläufern, während die wahre Umwälzung, ihr eigentlicher Höhepunkt und ihre eigentliche Durchbruchstelle, außerhalb der Darstellung bleibe. So berühren sich eigentlich die beiden Auffassungen über das Entstehungsproblem des Historismus nur in einem Durchgangspunkt : in V i c o , mit welchem sich keine andere Vorwegnahme des Historismus vergleichen lasse. 113 ) Das Kriterium, mit dem Croce arbeitet, ist die Einverleibung und Konkretisierung der Aufklärung, was für ihn den Kern des Historismus ausmacht. So ergibt sich hier auch eine Divergenz hinsichtlich der Auffassung der Indivihat, schreibt Croce: „Ma lo storicismo vero, in tanto critica e vince il razionalismo astratto dell'illuminismo, i n quanto è più p r o f o n d a m e n t e r a z i o n a l i s t a di e s s o (von Croce gesperrt) e, correggendone l'astrattezza, ne accoglie e attua l'esigenza col sostituire alle idee pseudoassolute dell'illuminismo le assolute categorie e la sintesi a priori dell'esperienza." 113 ) a . a . O . , 61, „Nessun altro dei precorrimenti storicistici che il Meinecke passa in rassegna può reggere al confronto di questo del Vico, perchè o s o n o lumi! deboli e fuggevoli, che si combinano ecletticamente con idee diverse e opposte; o sono espressioni di vario conservatismo e talora di sentimentalismo politico e siociaLe, il che non è genuino storicismo; ovvero consistono in avvedimenti di¡ realistico governo e di ragion di stato, il che neppure è storicismo genuino." Dieser letzte Passus richtet sich gegen Meineckes Auffassung von dem engen Zusammenhang zwischen der Lehre von den. Interessen der Staaten und dem Historismus. Diese Auffassung wurde von Croce schon beim Erscheinen der „Idee der Staatsräson" abgelehnt. Vgl. Critica 23, 118—122.
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dualität, was später darzustellen sein wird. Croce kann sich ferner nicht einverstanden erklären mit der Methode, alles das als Historismus aufzufassen, was in seinem Wesen schließlich zusammenströme, welches Vorgehen Meinecke dazu verleite, platonische und neuplatonische Gedanken als Vorläufer des Historismus zu bezeichnen oder ihn dazu führe, den Höhepunkt der Entwicklung in G o e t h e zu sehen, der nach übereinstimmender Auffassung nicht als Historist angesehen werden könne. Meinecke habe also nur in einem allgemeinen Sinne recht, wenn er uns eindrücklich in Erinnerung rufe, was auch der moderne Historiker Goethe schulde, nicht aber in dem besonderen Sinne des Problems der Entstehung des Historismus. Croce sieht in der Projektion der Anschauung des Individuellen auf die Grundlage des Glaubens und des religiösen Geheimnisses die Weiterführung der Rankeschen Geschichtsauffassung durch Meinecke. Von seinem rationalistischen Standpunkt aus aber kann er dem unphilosophischen Geiste eines Leopold von Ranke nichts abgewinnen, und es ist Croce unbegreiflich und schlechthin unvorstellbar, „daß ein Gedanke, der im machtvollen Geist eines Vico entsprang und durch den beherrschenden Geisteines Hegel ging, vollkommene Gestalt im viel geringeren, philosophisch so sehr gleichgültigen und unerfahrenen Geist eines Leopold von Ranke angenommen haben soll." 1 1 4 ) Wie stellt sich nun Meinecke zu dieser Auffassung des Historismus ? Wir kennen bereits die Antwort, die er Croce erteilt und in welcher er der Bestimmung des Historismus als Wissenschaftsprinzip seine Auffassung des Historismus als Lebensprinzip gegenüberstellt. Die grundsätzliche Divergenz besteht darin, daß für Meinecke der Historismus ein Lebensproblem, ein L e b e n s p r i n z i p seiner h i s t o r i s c h e n ) Croce, a . a . O . , 65: „ . . . e non diremo quanto sia poco persuasiva l'asserzione che un penaiero, ini-ziato attraverso la poderosa mente di un Vico, e passato attraverso La mente sovrana di uno Hegel, abbia preso la forma perfetta in quella tanta minore, tanto filosoficamente indifferente e inesperta, di un Leopoldo von Ranke . . . " U4
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Genesis nach ist, f ü r Croce aber ein Problem der Philosophie des Geistes, ein W i s s e n s c h a f t s p r i n z i p seiner l o g i s c h e n Entstehung nach. Diesen Gegensatz der Auffassungen erkennt und anerkennt auch Croce in seiner „Antwort auf die Antwort". Er stellt dort fast, daß von beiden der Unterschied in der Auffassung klar gesehen werde, weil eben beide klar dachten und formulierten. 116 ) Croce erkennt, daß Meinecke im Historismus ein , principio di vita" sehe, weshalb seine Darstellung in Goethe gipfle, während er im Historismus ein „principio di scienza" sehe. Er kann aber Meinecke deshalb nicht zustimmen, weil nach dessen Auffassung schließlich alle Menschen als „stcrlcisti"' zu bezeichnen wären, weil sie ja in der Geschichte lebten. Ein Gedanke, der allerdings in Meineckes Auffassung beschlossen liegt und bei konsequentem Durchdenken zum Ausdruck gelangen müßte. Di:ser fundamentale Gegensatz is: der Angelpunkt des ganzen Vergleiches: wie Croce bei seiner Auffassung des Historismus als wissenschaftliches Prinzip mit dem Kriterium des logischen Geistes operiert und es bei den Philosophen und wissenschaftlichen Denkern formuliert findet, so arbeitet Meinecke bei seiner Auffassung des Historismus als Lebensprinzip mit dem Kennzeichen der seelischen Struktur und findet seine Ausprägung beim Geschichtsphilosophen und Geschichtschreiber, beim Ästhetiker und beim Dichter. Anschaul'cher kann der Gegensatz weh1 ni:ht dargestellt werden als durch die Gegenüberstellung der Worte, mit welchen Meinecke H e g e l und seinen Rationalismus kritisiert und der radikalen Kritik, die Croce an R a n k e übt. Meinecke schreibt über Hegel: „Seine grandiose Geschichtsphilosophie ermangelt der seelischen Wärme. Und ohne vollen Einsatz von Seele und Gemüt verliert der Histo1,ä ) „ D i e A n t w o r t auf die Antwort", erteilt, befindet sich in La Crjtica Bd. dort, daß es nützlich sei, in P o l e m i k e n Seine e i g e n e A u f f a s s u n g und diejenige klar zum Ausdruck g e k o m m e n , „che reciproche congratulazioni."
welche Croce Meinecke 38, 41 ff. C r o c e betont sich klar auszudrücken. M e i n e c k e s s e i e n nun s o p o s s i a m o presentarci Ie
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rismus an Wurzelboden und wird ein f r a g w ü r d i g Ding." 1 1 6 ) Croces W o r t e über Ranke kennen wir bereits. Hegel also fehlt die s e e l i s c h e W ä r m e , Ranke der philosophische G e i s t ! Hier wird es formelhaft deutlich, mit wie verschiedenen Kriterien die beiden geschichtlichen Denker und Deuter des Historismus operieren und wie unvereinbar schon ihre Voraussetzungen, geschweige denn ihre Folgerungen sind. Aber die oben zitierten W o r t e erhalten noch eine viel tiefere Bedeutung und offenbaren eine Problematik von säkularem Ausmaß, wenn man sie in ihren geistesgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen versteht. Es ist nicht n u r Hegel, der getroffen wird, dessen „auskältender Rationalismus" durch „seelische W ä r m e " geschmolzen werden soll, sondern Meinecke will damit das ganze Gebäude der rationalistischen Philosophie des Geistes, als dessen Vollender Croce erscheint, erschüttern und damit das System eines rationalistischen H i storismus aus den Angeln heben; und es ist nicht nur Ranke, den Croce so vernichtend kritisiert, sondern es ist die ganze mystische, irrationale deutsche Philosophie der Seele, welcher er die Berechtigung als Philosophie absprechen möchte, und als deren einer Sproß der irrationalistische Historismus Meineckes erscheint. Diesen Vorgang, daß Croce versucht, Meineckes Stellung durch die vernichtende Kritik seines Meisters Ranke zu erschüttern und Meinecke pariert, indem er durch seine Ablehnung Hegels Croce im Innersten zu treffen sucht, — dieses symptomatische Schauspiel hat Meinecke selbst in die vielsagenden W o r t e gekleidet: „So setzt sich zwischen uns Nachfahren der Gegensatz jener beiden Großen heute fort." 1 1 7 ) Meinecke hat damit selbst den W e g freigelegt zu einer letzten Bestimmung und Einordnung seines historischen Denkens, dadurch daß er selbst das T o r in die T i e f e der geistesgeschichtlichen Zusammenhänge aufgestoßen hat. Erst ihre Aufdeckung ermöglicht ein letztes Verständnis des GeU6
) Sinn der Geschichte, 99.
117
396
) a. a. O., 97.
gensatzes Croce-Meinecke und damit der Historismusauf fassung unseres Historikers selbst. D i e beiden Geschichtstheoretiker erscheinen als die modernen Repräsentanten zweier in ihrem W e s e n gegensätzlichen Richtungen, die aus dem historistischen Gedanken, d. h. aus dem Gedanken einer historischen A u f f a s s u n g der Wirklichkeit selbst erwachsen sind. D i e Ansatzpunkte oder vielmehr die entscheidenden Durchgangspunkte zu dieser historischen A u f f a s s u n g der Wirklichkeit bilden die Hegeische Dialektik einerseits, die Historische Schule der Romantik anderseits. 1 1 8 ) „ A u f eine us ) Der fundamentale Gegensatz innerhalb der Auffassung des Historismus, der Gegensatz rational-irrational, darf nicht übersehen werden, sonst wird man Gegensätze wie die von uns besprochenen nie verstehen, überhaupt nicht entdecken. So kam man beim Versuch, R a n k e geistesgeschichtlich einzuordnen, sowohl auf enge Verbindung mit H e g e l wie mit der „Historischen Schule" der Romantik. So überschätzte z. B. Ernst T r o e l t s c h den Einfluß Hegelscher Gedanken auf Ranke, welche These dann mehrfach zurückgewiesen und korrigiert wurde. So von S i m o n in seinem Buch über Ranke und Hegel, Beiheft 15 der H. Z. 1928, und von R o t h a c k e r in dem Aufsatz „Savigny, Grimm und Ranke. Ein Beitrag zur Frage nach dem Zusammenhang der Historischen Schule" in H. Z. 128, 415 ff.; auch Logik und Systematik etc. 114 ff. Rothacker wie auch Meinecke betonten dann den Zusammenhang Rankes mil dem Denken der irrationales tischen Romantik, ohne indessen die Einflüsse Hegeis zu übersehen. Daß aber Hegel und „Historische Schule" selbst durcheinander geworfen werden, ist schon weniger verständlich, da der Begriff der Historischen Schule durch die Forschungen Meineckes, Rothackers, u. a. eindeutig geklärt ist. Wenn daher L. G o l d m a n n behauptet, Hegel sei „gleichzeitig der Ursprung der historischen Schule, der Junghegelianer und des Marxismus" geworden, so ist er über die betreffenden geistesgeschicht'lichen Zusammenhänge schlecht orientiert. (Vgl. a. a. O., 219 Anm. 7) Die „Historiische Schule" iist keineswegs aus Hegel entstanden. Wie sich das Go'ldmann vorstellt, ist nicht leicht einzusehen. Savigny, dais Haupt der „Historischen Schule", war gleichzeitig und schon vor Hegel Professor an der Berliner Universität, wo sich dann mit dem Zuzug Hegels die beiden Schulen gegenüberstanden. Die Gemeinsamkeit der beiden Richtungen ist sicher
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Formel gebracht, drückt sich der Unterschied zwischen den beiden Richtungen darin aus, daß die einen das letzte metaphysische Substrat des Weltgeschehens >;Leben«, die andern »Geist« nennen. Geist und Leben deuten auf zwei grundverschiedene Arten der Welterfahrung hin, auf zwei grundlegend verschiedene Einstellungen zum letzten Geheimnis . . . " U 9 ) Aus diesem Urgegensatz der metaphysischen Prinzipien entspringt der für die Kontroverse von Meinecke und Croce wesentliche Gegensatz von R a t i o n a l i s m u s und I r r a t i o n a l i s m u s , erkenntnistheoretisch de jenige von Konstruktion und Intuition, von Begriff und Anschauung. Mit dieser Unterscheidung zweier Richtungen innerhalb der als Historismus bezeichneten Welterfassung trifft sich der eben zitierte Mannheim genau mit der von Troeltsch gemachten Differenzierung der historischen Lebensauffassungen in eine Reihe der „Formdenker" und in eine solche der „Lebensschauer". 120 ) Gerade hinsichtlich des kennzeichnenden Gegensatzes von B e g r i f f und A n s c h a u u n g (oder Idee) besteht eine höchst aufschlußreiche kritische Auseinandersetzung Crcces mit einem Aufsatze Meineckes, in welchem dieser grundsätzlich auf das Problem der Begriffsbildung in den Geisteswissenschaften zu sprechen kommt. 121 ) Me'necire schreibt dort zum Versuch, die Begriffe Klassizismus und Romantizismus zu bestimmen, welchen er unternommen hat: „Die nicht zu übersehen und besteht ¡11 der Hinwendung zur Geschichte und ihrer philosophischen Durchdringung. Der grundsätzliche Unterschied aber ist gegeben durch die Positionen Rationalismus und Irrationalismus. 110
) Mannheim, Historismus, a . a . O . , 27.
120
) Auf den Gegensatz von „Formdenkern" und „Lebensschauern" weist auch H i n t z e hin, und er findet ihn schon deutlich ausgeprägt in dem späteren Verhältnis Herders zu Kant, von w o er in mancherlei Schwankunigen und Mischungen bis zur Gegenwart sich hinziehe. Vgl. den angegebenen Aufsatz, H. Z. 135, 208. 121 ) Es handelt sich um den erwähnten Aufsatz über Klassizismus und Romantizismus, Sinn der Geschichte, 46.
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Geisteswissenschaften können es nun einmal nicht zu der Exaktheit der Naturwissenschaften bringen. Sie dürfen es aber, so wage ich zu sagen, auch nicht. Denn das Feinste und Wertvollste des geistigen Lebens würde dabei in Gefahr stehen, verlorenzugehen im caput mortuum einer Definition. Ich lehne darum die Bemühungen, geistige Phänomene auf Begriffe zu bringen, nicht etwa ab. Denn das würde heißen, die Geisteswissenschaften in ein formloses Chaos zu stürzen. Aber nur einen annähernden, nur einen vorläufigen W e r t dürfen solche Definitionen beanspruchen. Denn das Leben des Geistes und der von ihm hervorgebrachten geschichtlichen Gebilde ist derart fließend und beinah proteusartig wandlungsfähig, daß es nur in immer neuen Aspekten und Anläufen erkannt werden kann." Und wenn möglich noch deutlicher erhellt Meineckes Auffassung aus einem Wort über R a n k e , von welchem er sagt, er habe die romantische Schwärmerei von der Individualität „einer straffen wissenschaftlichen Zucht" unterworfen, aber sich dabei gehütet, „die strenge wissenschaftliche Begriffsbildung auszudehnen auf Dinge, die sich nur anschauen und letzten Endes oft nur ahnen ließen." i 22 ) Diese Auffassung bekämpft nun Croce, und er betont, daß auch geistesgeschichtliche Begriffe als reine Begriffe streng und genau definiert werden können und müssen, andernfalls es besser sei, sie gar nicht auszusprechen. Croce unterscheidet scharf zwischen den r e i n e n , n i c h t - e m p i r i s c h e n und den k l a s s i f i z i e r e n d e n , e m p i r i s c h e n Begriffen; diese darstellenden Begriffe habjn wohl keinen andern Gehalt als das Bild, das sie vertreten, jene aber beziehen sich auf die Dialektik der geistigen Formen oder Kategorien und haben ihren Inhalt im Gedanken. Daher sind sie für sich selbst nie nur provisorisch und approximativ, sie werden es erst, wenn sie wie die gewöhnlichen empirischen Begriffe zur Klassifikation verwendet werden. Diesem 1 2 2 ) a. a. O., 33, iin einer Gespräch."
Einführung- zu R a n k e s
„Politischem
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Zweck können sie aber nur dienen, wenn sie vorher genau definiert sind. Croce unterscheidet also scharf zwischen dem reinen Gedanken an sich, der begrifflich in einer präzisen Definition sich niederschlägt und dessen einordnender Anwendung auf den individuellen historischen Fall. Diese Unterscheidung macht Meinecke nicht. Der h i s t o r i s c h e Begriff ist f ü r ihn nicht reine Form, nicht reine Abstraktion, sondern er enthält wesensgemäß immer den Gehalt einer i n d i v i d u e l l e n h i s t o r i s c h e n E r s c h e i n u n g . Das geschichtliche Verstehen „darf keine Begriffe entwerfen, in denen kein Leben mehr ist." 123 ) Daher versuchen seine Begriffe nicht reine Definitionen zu geben, sondern Anschauungen, die sich der historischen Wirklichkeit individuell anpassen. Nicht das Urteil mittels einer a l l g e m e i n e n K a t e g o r i e schafft den historischen Begriff, sondern die Anschauung der i n d i v i d u e l l e n E r s c h e i n u n g . Es mag sich vielleicht erübrigen, wie Croce meint, eine solche naive Logik und Erkenntnistheorie zu widerlegen i 2 i ); es würde wohl auch wenig fruchten. Denn rationalistische Erkenntnistheorie und irrationalistische Theorie des Verste123) Vgl. Dietrich Bise hoff, Lebensphtlosophie, 29. 124
Wilhelm
Diltheys
geschichtliche
) „ . . . a oonfutare una cosi ingenua teoria logica e gnoseologica." Vgl. Croce, a . a . O . , 130ff. Dieses Kapitel Croces über die historische Begrtffsbildung ist vom Übersetzer François Bondy besonders oberflächlich ins Deutsche übertragen worden. Obschon Croce Meinecke hier wörtlich ins Italienische übersetzt, hielt es Bondy nicht für nötig, den deutschen Originaltext bei seiner Übertragung heranzuziehen, und er gibt eine Rückübersetzung ins Deutsche, die denn auch dementsprechend herauskommt. Ein solches Unterfangen ist schon an sich nicht erlaubt, bei solch differenzierter Auseinandersetzung aber, wie sie hier zwischen Croce und Meinecke stattfindet, wirkt es sich umso schlimmer aus. Die Übertragung Bondys weist auch bessere Partien auf, doch müßte das Ganze noch einmal gründlich durchgearbeitet werden, sonst ist das Buch in seiner deutschen Ausgabe für wissenschaftliche Zwecke jedenfalls nicht zu gebrauchen. 400
hens stehen sich gegenüber. Und die Maßstäbe der einen vermögen nicht das Wesen der andern zu erfassen. Auch auf der erkenntnistheoretischen Ebene wird der Gegensatz Formdenker-Lebensschauer deutlich. Croce verkörpert in idealtypischer Form die Position des F o r m d e n k e r s ; sein Historismus ist in Fortführung des hegelianischen Grundgedankens absoluter Spiritualismus im Sinne eines konkreten und das bedeutet f ü r ihn historischen Rationalismus. 125 ) Diese Bestimmung des Rationalismus Croces als historischen ist wesentlich. Wenn Meinecke dem Historismus Croces „einen eigensinnigen rationalistischen Z u g " vorgeworfen hat, 126 ) so sieht sich dieser veranlaßt, seinen Begriff des Rationalismus zu präzisieren: sein Rationalismus sei nicht Cartesianismus oder Intellektualismus des 18. Jahrhunderts, sondern Rationalismus, der durch solche geistige und historische Erfahrungen gegangen sei, daß er imstande sei, auch denjenigen Formen Bürgerrecht im Reiche des Geistes zu geben, welche eine frühere Zeit irrational nannte, wie die Dichtung und wie die „passione d'amore", ohne welche selbst die Vernunft nicht wäre. 127 ) Der Gegensatz wäre demnach näher und genauer zu bestimmen als das Gegenüber von k o n k r e t e m u n d h i s t o r i s c h e m Rationalismus und k o n k r e t e m u n d h i s t o r i s c h e m Irrationalismus. Dieser Gegenüberstellung entspricht genau die Verbindung, schließlich Identität von Geschichte und Philosophie bei Croce, bezw. das Zusammenfließen, die Identifizierung schließlich von Geschichte und Leben hei Meinecke. Die Geschichte wird bei Croce zur Verwirklichung des logischen Geistes, die Kategorien 126 ) Croce, a . a . O . , 301/302: „ . . . e se storia non si dà se non dello spirito nella dialettica delle sue forme e non mai della materia, che è un'astrazione, la conseguenza è che i cosiidetti «fatti della natura» sono atti spirituali, e sola concezione coerente della realtà è lo spiritualismo assoluto'" 12G 127
26
) Sinn der Geschichte, 98.
) Vgl. Critica Bd. 38, 41 ff. 401
der Geschichte entsprechen Formen des Geistes. Bei Meinecke aber werden die geschichtlichen Kategorien zu Formen des Lebens selbst. V o n hier aus erklärt sich auch die Einstellung der beiden Geschichtstheoretiker zum Problem der Wissenschaftlichkeit der Geschichte. Für Croce ist die G e schichtschreibung in ihrer synthetischen Verbindung mit der Philosophie die Wissenschaft kat exochen, weil sie die Logik selber ist. Für Meinecke wird die Geschichtschreibung durch ihre schöpferische Synthese mit dem Leben mehr als Wissenschaft, nicht mehr n u r Wissenschaft, sondern Weltanschauung und Lebenserfassung. Die Gemeinsamkeit der Historismusbestimmungen Croces und Meineckes besteht zunächst in einer N e g a t i o n : der Ablehnung jedes A n t i h i s t o r i s m u s , sei es im Sinne von abstraktem Rationalismus oder von unhistorischem Irrationalismus oder aktivistischem Futurismus. 128 ) Dieser Negation entspricht eine P o s i t i o n : die Auffassung der Wirklichkeit als Geschichte. D a ß G e s c h i c h t l i c h k e i t des Menschen unentrinnbares Schicksal ist, sein Wesen überhaupt ausmacht, das ist die Grundposition alles modernen Historismus; sie gilt für eine rationalistische wie für eine irrationalistische Richtung in genau demselben Maße. W i r haben damit die begrifflichen Elemente freigelegt für eine grundsätzliche, allgemeine, d. h. alle besonderen Prägungen umschließende Definition des Historismus. Aber wie schon in der Negation verschiedene Richtungen auftauchten, die grundsätzlich zum Feind des Historismus werden können, so treten auch in seinem Wesen selbst die zwei von uns hier besprochenen Richtungen sogleich hervor, wenn es um die nähere Bestimmung der Wirklichkeit und damit der G e schichte geht. Je nachdem nun die Wirklichkeit und die Geschichte, d. h. ihr l e t z t e s g e s t a l t e n d e s P r i n z i p als Geist oder als Leben bestimmt werden, erhalten wir die beiden Grundtypen, welche die beiden hier sich gegenüberstehenden geschichtlichen Denker verkörpern. Diese beiden 128) V g l . den erwähnten Vortrag Croces über „Antihistorismus'*.
402
Richtungen innerhalb des Historismus sind nicht immer auf den ersten Anhieb zu unterscheiden, gerade weil sie insofern ein gemeinsames Ziel haben, als es durch ihren gemeinsamen Gregner bestimmt ist. Aber nur durch die zu geringe Beachtung der Dualität rational-irrational konnte es — wie schon erwähnt — zu einer viel zu weit gehenden und die fundamentalen Unterschiede im Ansatz und in der Durchführung verwischenden Durcheinanderwerfung von Hege] und „Historischer Schule" oder Hegel und Ranke kommen. Obschon nun Meinecke selbst seine Gegnerschaft zu Croce auf dem Grunde dieser geistesgeschichtlichen Zusammenhänge und Gegensätze verstanden wissen wollte, gibt es doch ein anderes modernes Beispiel, das in viel genauerem Sinne, weil philosophisch ausgeprägter und konsequenter, das Gegenstück zu Croce verkörpert: das geschichtliche Denken O r t e g a y G a s s e t s . In diesen beiden geschichtlich denkenden Philosophen erscheinen uns die beiden Richtungen innerhalb des modernen Historismus in reinster Form. Auch bei ihnen könnte der gemeinsam bekämpfte Feind und das Gemeinsame in der Zielsetzung über die Gegensätzlichkeit der tragenden Grundgedanken zunächst hinwegtäuschen. Ortega y Gasset geht es wie Croce um die Inthronisierung der historischen Vernunft und die Entthronung der physikalisch-mathematischen Vernunft, um die Ersetzung eines naturwissenschaftlich-abstrakten durch ein historisch-konkretes Denken und Erkennen. Das letzte gestaltende Prinzip des als Geschichte erkannten menschheitlichen Geschehens ist aber bei Ortega y Gasset nicht Geist, sondern Leben. Wenn bei Croce der Geist die einzige Realität ist, so hat der Geist des Menschen für den spanischen Philosophen keine gesonderte unabhängige Realität — darin sieht er vielmehr den Irrtum jedes Spiritualismus —, sondern eine ganz bestimmte F u n k t i o n im menschlichen Leben. Das Leben aber ist die G r u n d r e a l i t ä t ü b e r h a u p t . 1 2 9 ) W i e Ortega y Gasset gegen den 120) Vgl. Ortega y Oasset, Historia como sistema y del imperio romano. 4 0 3 26 •
Spiritualismus polemisiert (daher auch seine Ablehnung Hegels!), sei er nun abstrakter oder konkret-historischer A r t , so bekämpft Croce den Irrationalismus in jeder Form, trete er nun außerhalb oder innerhalb des Historismus auf. W i r sehen also in O r t e g a y Gasset das genaue l e b e n s p h i l o s o p h i s c h e Gegenstück zum g e i s t e s p h i l o s o p h i s c h e n Historismus Croces. Jener erscheint j a auch als der unmittelbare Fortsetzer Diltheys, in welchem wir doch die reinste Verkörperung eines irrationalen und lebensphilosophischen Historismus zu sehen haben. N u n ist allerdings auch f ü r Meinecke die geistesgeschichtliche Linie GoetheRanke-Dilthey von entscheidender Bedeutung. Aber Meinecke legt sich in seinem geschichtlichen Denken nie so eindeutig und einseitig fest wie sein Gegenüber Croce. W i r stoßen auch bei diesem Problem wieder auf den grundsätzlichen Unterschied geschichtlichen und philosophischen Denkens. Die radikale Einseitigkeit Croces ist unbestreitbar. Hier ist sowohl die Stärke wie die Schwäche seiner Stellung. D e r Absolutheitsanspruch des Geistes f ü h r t zu einem lückenlosen und logisch einwandfreien System seines Historismus, aber dieser ist doch insofern Selbsttäuschung, als die Lebens- u n d Existenzverwurzelung von Wissenschaft, Kunst, Ethik und Ökonomik übersehen werden. So kann denn durch die Philosophie Croces nicht jener Geschehensbegriff erschlossen werden, „welcher es ermöglicht, dem Leben u n d dem Geist, j e an seinem O r t ohne Vergewaltigung weder von oben noch von unten, gerecht zu werden." 13 ' 1 ) Solche Einseitigkeit findet sich nirgends bei Meinecke; dies widerstrebt nicht nur dem Wesen geschichtlichen Denkens, sondern ebenso seinem innersten persönlichen Wesen. Sein Denken geht überall auf Überbrückung und D ä m p f u n g der Gegensätze, insbesondere seit der dualistischen Phase. So ist auch sein Standort innerhalb der Historismusauffassung nicht als reines Gegenstück zu Croce zu bestimmen, vielmehr geht er aus auf gleich13
°) Vgl. Carlo Sganzini in einer Besprechung Croces, Logos
XXI,
404
1932, 191 f f .
mäßige Berücksichtigung von Geist und Leben oder Seele, wie er meistens sagt. Dieser W i l l e zur i d e a l e n M i t t e l l i n i e zeigt sich auch wieder in seinem letzten Buche, wo er das Gleichgewicht der rationalen und irrationalen Seelenkräfte als Hauptbedingung einer Gesundung des modernen Menschen erkennt. Immerhin ist es äußerst symptomatisch f ü r seine Grundauffassung, daß er die S e e l e als Sitz auch der r a t i o n a l e n K r ä f t e a n s i e h t . m ) Die Seele ist indessen nur insofern das gestaltende G r u n d p r i n z i p im lebendigen Geschehen, als sie den Geist mitumschließt. Die Seele erscheint nicht so sehr dem Geist entgegengesetzt, als vielmehr ihm vorausgesetzt; sie ist das Urerlebnis, das alle anderen Lebensfunktionen umschließende und bedingende Moment, I n diesem Sinne sind ihm „Innerlichkeit und Individualität der menschlichen S e e l e . . . die letzte T i e f e des geschichtlichen Lebens". 1 8 2 ) Dies wird sich noch mit aller Deutlichkeit zeigen in der Bestimmung des Individualitätsgedankens, wo die Seele als der gestaltende M i t t e l p u n k t erscheint, während f ü r Croce die Individualität nur eine solche des Geistes und der T a t und damit eine rationalisierte Individualität ist. I n der Bestimmung der Seele als letztes metaphysisches Substrat des Geschehens offenbart sich die Verwurzelung unseres Historikers im Gedankengut des Protestantismus und insbesondere des Pietismus, dessen Bedeutung f ü r das eigene Leben und Denken er selbst immer wieder hervorhebt. W e n n nun aber der Auffassung Meineckes ein ausgeprägter und einseitiger Rationalismus entgegentritt, dann kommt er ganz von selbst — nach der bekannten Gesetzlichkeit der polemischen Auseinandersetzung — zu einer besonderen Akzentuierung seiner irrationalen Grundhaltung. Das zeigte sich uns schon in seiner Begegnung ,mit dem n a t u r a l i s t i 13
>) D e u t s c h e Katastrophe, 56 ff. D i e Gleichsetzung- von S e e l e und Leben, w i e sie für M e i n e c k e typisch ist, finden wir bei den meisten L e b e n s p h i l o s o p h e n . Für Dilthey vgl. Bollnow, a. a. O., 138. l12 ) E. d. H., 390.
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s e h e n Rationalismus L a m p r e c h t s und dem i d e a l i s t i s c h e n Rationalismus H e g e l s , es tritt diese Gesetzlichkeit wieder in Erscheinung im Kampfe mit dem h i s t o r i s t i s c h e n Rationalismus C r o c e s . Gegenüber der Überbetonung, ja Verabsolutierung des Momentes G e i s t im Wesen des Historismus vermag sich Meinecke nur zu behaupten durch eine entsprechende Betonung des ihm wichtiger und wesentlicher erscheinenden Prinzips S e e l e . Die Position des Feindes bestimmt in hohem Maße die Art und Weise des eigenen Angriffs, ein Angriff ruft die entsprechenden Gegenmaßnahmen in der Verteidigung. Dieses Gesetz der Polemik wirkt mit aller Sicherheit sich aus, und man muß es erkennen, um die Dinge trotzdem in den richtigen Dimensionen zu sehen. W e n n Meinecke in seiner Grundlegung einer dualistischen Geschichts- und Weltanschauung immer wieder das Prinzip Geist betonte, um es dem Faktor Natur entgegenzustellen, so betont er jetzt das Prinzip Seele, um damit dem Absolutheitsanspruch des Geistes entgegenzutreten. Die Negation bestimmt eben in einem gewissen Grade die Position, aber jene erhält ihre Rechtfertigung erst durch diese. Erst jetzt kann uns Meineckes Auffassung in ihren wahren Proportionen erscheinen. Die richtige Akzentverteilung erhalten wir erst, wenn wir die Positionen betrachten, die noch jenseits von Meineckes Standort vorhanden sind: jene Abarten eines h i s t o r i s i e r e n d e n I r r a t i o n a l i s m u s , welche wir früher schon kennenlernten und gegen welche unser Historiker sich ebenso wappnete wie gegen die Vertreter eines ausgesprochenen Rationalismus. Wenn wir somit den Gegensatz in der Auffassung vom Wesen des Historismus zwischen Meinecke und Croce auf die Formel irrational-rational bringen, dann verstehen wir jetzt die Differenzierung: bei Croce treffen wir damit in unbedingter Form Kern und Wesen der Sache, bei Meinecke treffen wir sie nur bedingt, denn das Irrationale seines Historismus erhält sein wahres Relief immer nur durch einen Bezug auf den Gegenpol des Rationalen. 406
Die Einreihung von Meineckes geschichtlichem Denken in die irrationalistische und lebensphilosophische Richtung des Historismus darf schließlich nicht die anderen Dualitäten übersehen lassen, die es hier zu berücksichtigen gilt. W i r denken neben dem Gegensatz transzendent-immanent vor allem an den Gegensatz monistisch-dualistisch. D e r Begriff des L e b e n s ist vieldeutig; er hat wohl grundsätzlich objektiv-idealistische, also monistische Affinitäten. Die prinzipiell dualistische G r u n d h a l t u n g Meineckes in der zweiten Phase seines geschichtlichen Denkens aber gibt seinem Begriff des Lebens einen anderen Charakter, als ihn derjenige Rankes und Diltheys noch aufwies. Das Leben und damit auch die Seele sind nach jener W a n d l u n g Meineckes immer dualistisch als K a m p f p l a t z feindlicher Prinzipien zu verstehen. Es gilt also, innerhalb der Richtung eines lebensphilosophisch fundierten Historismus den G e g e n s a t z DualismusM o n i s m u s zu berücksichtigen. Durch ihn wird Meinecke von den voraufgehenden Stufen in der Entwicklung des Historismus in entscheidender Weise abgehoben. I n ähnlicher Weise gilt es den Gegensatz von Immanenz und Transzendenz im geschichtlichen Denken zu berücksichtigen, auf welchen wir bei der Besprechung des Individualitätsgedankens eingehender zurückkommen werden. — Das Zusammenfallen von Geschichts- und Lebensbetrachtung im Wesen des Historismus hat nun f ü r unser Problem der B e g r i f f s b i l d u n g ganz bestimmte Konsequenzen, die wir im einzelnen wohl schon angedeutet haben, die es aber hier abschließend noch einmal im Zusammenhang darzustellen gilt. Das entscheidende M o m e n t besteht darin, daß die auf die Geschichte angewandten Verstehensprinzip en beanspruchen, auch Prinzipien des Lebens und seiner Deutung zu sein. Auf die Begriffsbildung übertragen hat das die Konsequenz, daß die Geschichtsbegriffe nicht mehr spezifisch geschichtliche Kategorien sind, sondern Formen aus dem Leben selbst. Das Zusammenfließen von Leben und Geschichte zum einheitlichen W e r d e s t r o m ist damit — wie bei Goethe, nur diesmal von der Geschichte her — zur letzten Konsequenz 407
des Historismus geworden. Der Kreislauf ist vollendet: der Historismus ist aus dem Leben entstanden und in das Leben zurückgekehrt. Diese letzte Phase von Meineckes Geschichtsdenken bedeutet dabei keineswegs eine plötzliche, unmotivierte Wandlung, sondern sie ist vielmehr aus den vorhergehenden Denkstufen organisch herausgewachsen. W a s wir schon für die früheren Entwicklungsphasen feststellten, nämlich die b e w u ß t e innere Verbindung von Methode und Weltanschauung ( u n b e w u ß t ist sie ja immer und überall da) und die daraus hervorgehenden Folgerungen f ü r die Struktur der Geschichtsbegriffe, das erscheint nun einfach bis zum letzten möglichen Punkt durchgeführt. Kategorien des Historismus sind nicht mehr nur Formen, unter denen die geschichtliche Wirklichkeit w i s s e n s c h a f t l i c h erfaßt wird, sondern sie sind Kategorien des L e b e n s , Formen, aus dem Leben selbst entsprungen, die nun auf die Geschichte, die ja als Leben bestimmt ist, angewandt werden. Das letzte Ziel des Historismus Meineckes ist nicht die b e g r i f f l i c h e F o r m u l i e r u n g und w i s s e n s c h a f t l i c h e O r d n u n g der geschichtlichen Geschehnisse, sondern die W i e d e r e r w e c k u n g v e r g a n g e n e n L e b e n s und seine Fruchtbarmachung für das Gegenwärtige und zukünftige L e b e n . Sein letztes Ziel ist nicht bestimmt durch die Kategorie Wissenschaft, sondern durch die Kategorie Leben. „ W e r Geschichte schreibt, muß auch neue Geschichte schaffen, muß das Stück des allge meinen Werdestromes, das er spiegeln will, auch s c h a f f e n d s p i e g e l n , muß selbst eine neue sichtbare Welle im Werdestrom werden. Alles Wissen und alles kritische Forschen darf nicht Selbstzweck und letzter Abschluß der Arbeit bleiben, sondern empfängt nur höheren und dauernden Wert, wenn es sich als ein neues Glied in der unendlichen Kette menschlicher Versuche erweist, Persönlichstes, Umwelt und vom Weltganzen, was nur erreichbar ist, d. h. Subjekt und Objekt in e i n geistiges Gebilde zu verschmel zen, — wo das Subjekt dann wohl die Kraftquelle dieses Ge408
bildes bleibt, aber auf- und eingeht in das Objektive, das es darstellt, — und sich dadurch selbst überwindet." 1 3 3 ) Solche Bestimmung der Kategorien des Historismus nicht als f o r m a l e K a t e g o r i e n d e s G e i s t e s , sondern als r e a l e K a t e g o r i e n d e s L e b e n s , bedeutet eine ganz bestimmte Überwindung des Kantischen Standpunktes in den Spuren Diltheys. Es ist dies die Folge der lebensphilosophischen W e n d u n g Diltheys gegenüber ' dem transzendentalphilosophischen Ansatz K a n t s : die Kategorien, unter welchen Wirklichkeit e r f a ß t wird, erscheinen bei Dilthey nicht mehr nur als subjektive Formen des Verstandes, sondern als objektive Formen des Lebens selbst. Entsprechend ist an die Stelle der V e r n u n f t das Leben überhaupt als Erkenntnissubjekt getreten. D a m i t ist das Leben sowohl O b j e k t wie Subjekt des Erkennens geworden. D e r Prozeß des Verstehens ist Austausch von Leben zwischen Subjekt und Objekt. Von dieser letzten in der eigentlichen Historismusphase erreichten Position aus fällt nun noch einmal ein klärendes Licht auf die von uns f r ü h e r gemachten Beobachtungen hinBegriffssichtlich des Problems der h i s t o r i s c h e n b i l d u n g . Bei einer jeden Analyse erkannten wir immer wieder, daß es f ü r Meinecke keine rein formalen Geschichtsbegriffe gibt, daß er sich immer mehr der in ihnen enthaltenen und sie letztlich bestimmenden weltanschaulichen Substanz bewußt wird. W i r fanden also nicht n u r das allgemeine Gesetz bestätigt, daß jegliche Begriffsbildung auf weltanschauliche Postulate zu reduzieren sei — ob dem Historiker bewußt oder unbewußt —, sondern wir beobachteten ebenso den nicht minder entscheidenden Vorgang, daß Meinecke 1SS
) Aphorismen, 49.
Auch H i n t z e braucht für das Verhältnis des schöpferischen Geistes zu W e l t und Geschichte das G o e t h e s c h e Bild v o m „schaff e n d e n S p i e g e l " . V g l . den zitierten Aufsatz, H . Z . 135, 233. Unter d e m Titel „Schaffender S p i e g e l " hat der Verlag Koehler und A m e l a n g in Leipzig w ä h r e n d des Krieges die H e r a u s g a b e einer S a m m l u n g von Aufsätzen M e i n e c k e s vorbereitet, die aber erst 1948 h e r a u s k o m m e n konnte.
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die wesentliche und notwendige Funktion dieser weltanschaulichen Momente immer deutlicher erkennt. Daraus ergab sich ein ganz bestimmtes Verhältnis zu den Problemen M e thode-Weltanschauung, Geschichtslogik-Geschichtsphilosophie, Wissenschaft-Leben. Aus all dem wird klar erkennbar die immer deutlichere Abwendung vom k a n t i s c h - n e u k a n t i a n i s c h e n Standpunkt, der sich immer weniger als f ü r eine historische Erkenntnistheorie im Sinne des Historismus angemessen erweist. W e n n Meinecke den Versuchen, von K a n t her eine Lösung des Erkenntnisproblems der Geschichte zu gewinnen, zunächst noch durchaus positiv gegenüberstand, so waren doch auch schon gerade gegenüber dem N e u k a n t i a n i s m u s die Widersprüche und Bedenken nicht zu übersehen. Der Dualismus einer Weltanschauung in Freiheit und einer Wissenschaft und Geschichtstheorie in Determination erwies sich immer unfähiger, das Problem des historischen E r kennens irgendwie einer Lösung näher zu bringen. D e r W i derspruch Meineckes gegen solche Geschichtslogik zeigte sich uns besonders deutlich anhand der Begriffe Kausalität und Freiheit. E r konnte die Logik nicht mitmachen, die eine H a n d l u n g im Leben unter dem Bewußt ein der Freiheit und in der Wissenschaft unter dem Gesetz oder Prinzip der K a u salität sich abwickeln läßt. Der Dualismus von subjektivem Idealismus der Freiheit und kausaler Betrachtung aller Erfahrung, das Nebeneinander von freiheitlicher Weltanschauung und determinierter Geisteswissenschaft wird von M e ' n ecke immer mehr verlassen, ganz entsprechend dem iaimer innigeren Zusammenfließen von Vergangenheit und Gegenwart in Eins, der immer unlöslicheren Verbindung von Geschichte und Leben zum einheitlichen Werdestrom, von Verstehen und Erleben in seinem historischen Bewußtsein. W i r sahen, wie besonders in der dualistischen Phase s incs Denkens die beiden Betrachtungsweisen der geschichtlichen W e l t , gemäß der Zwischenstellung unseres Historikers zwischen Neukantianismus und Lebensphilosophie, zunächst noch durcheinanderflossen und die mannigfachsten Widersprüche 410
hervorriefen. Die aus einer irrationalen Theorie des Verstehens fließenden Anschauungen, welche in ihrem erkenntniskritischen Ansatz auf D i 11 h e y zurückgehen, in ihrer allgemeinphilosophischen Bedeutung aber an G o e t h e anknüpfen, läutern sich immer mehr, bis sie auf der letzten Denkstufe, der eigentlichen Historismusphase, in voller Klarheit vor uns liegen und jenen Stand erreichen, den wir in der Kontroverse mit Croce kennenlernten. D e r wesentliche Vorgang ist also der, daß die aus Leben, Schicksal, W e l t a n schauung in die Geschichtsbetrachtung einfließenden M o mente nicht mehr als T r ü b u n g e n irgendwelcher ,,reiner" geschichtlicher Erkenntnis verstanden werden (eine Erkenntnis von so etwas wie eines „geschichtlichen Dinges an sich" wurde ja von Meinecke, natürlich im Anschluß an Rankes Objektivitätsstreben, tatsächlich o f t gesucht!), sondern ihre notwendigen Funktionen erhalten im Gesamtvorgang des geschichtlichen Erkenntnisaktes. D a es Leben zu erkennen und zu verstehen gilt in der Geschichte, reichen die Erkenntnismittel von Ratio und Geist nicht hin; die T o t a l i t ä t aller Lebensfunktionen, das Leben in der Ganzheit seiner schöpferischen Leistung muß eingesetzt werden. W i r stehen damit wieder auf jener Stufe der geschichtlichen Erkenntnistheorie, welche bestimmt ist durch die Formel: L e b e n v e r s t e h t L e b e n . Die Theorie des historischen Verstehens hat damit in langer Eigenentwicklung jenen P u n k t erreicht, der den genauen Gegenpol zur naturwissenschaftlich-mathematisch fundierten Erkenntnistheorie bildet: Subjekt und O b j e k t stehen sich nicht mehr beziehungslos gegenüber, sondern sie verschmelzen in Eins im Prozeß des geschichtlichen Verstehens. Die Tatsache, daß Subjekt und Objekt in denselben W e r d e strom des geschichtlichen Lebens getaucht sind, wird zur logischen Voraussetzung der Möglichkeit geschichtlichen Verstehens überhaupt. Die L e b e n s prinzipien des Subjekts werden zu V e r s t e h e n s prinzipien des Objekts, die Formen des L e b e n s zu Kategorien der G e s c h i c h t e . Dies an den zwei Hauptkategorien des Historismus zu erweisen, wird unsere nächste Aufgabe sein. 411
2.
DER
INDIVIDUALITÄTSGEDANKE
Mit dem Gedanken der Individualität gelangen wir in das Zentrum von Meineckes Denken über Geschichte und Leben. W i r betreten mit ihm gleichsam den „heiligen Hain" seiner geschichtlichen Weltanschauung. An den Gedanken der Individualität knüpft sich alles, was Meinecke lieb und teuer ist in seiner Betrachtung der geschichtlichen Welt. Es ist für uns nüchterne Menschen eines rationalisierten und technisierten Zeitalters äußerst schwer, j a unmöglich, nachzuerleben, was dieser Gedanke für ein in idealistischem Geiste verwurzeltes Denken und Schaffen bedeuten mußte. Und wenn man dieses Urelebnis eines idealistischen Individualismus noch nachzuerleben und nachzufühlen vermöchte oder vermeinte, dann würden einem die Worte fehlen, um es auszusprechen. Denn „individuum est ineffabile" hat Meinecke immer wieder als Kern des Erlebnisses der Individualität bestimmt. Wenn schon dieser zutiefst im Gedankengute eines idealistischen Individualismus verwurzelte Historiker nach Worten ringen mußte — wie sollte es uns denn möglich sein, in angemessene begriffliche Formen zu gießen, was sich ja — nach einem weiteren Worte Meineckes — letztlich nur anschauen und ahnen ließ? Was wir immer wieder empfunden haben im Laufe unserer Untersuchungen, die Schwierigkeit, j a Unmöglichkeit, das Tiefste und Innerste, was Meineckes weltanschauliches und geschichtliches Denken in sich schließt, in adäquater Form wiedergeben zu können, das kommt uns hier, da wir an eine Darstellung des Individualitätsgedankens herangehen sollen, umso eindringlicher zum 412
Bewußtsein. W i r maßen uns deshalb nicht an, mit unseren beschränkten Erkenntnismitteln die Tiefe der Gedanken unseres Historikers über Idee und Wesen der Individualität irgendwie auszuschöpfen, wir stellen uns nur die Aufgabe, den Individualitätsgedanken als Hauptkategorie seines Historismus strukturell zu bestimmen und ihn in seiner weltanschaulichen Begründung und geistesgeschichtlichen Verwurzelung tiefer zu verstehen. Dabei werden die Zusammenhänge von Weltanschauung und Geschichtschreibung, gemäß der im vorigen Kapitel aufgestellten Grundsätze, in diesem Grundgedanken des Historismus aufzuhellen und damit zugleich das erkenntnistheoretische Problem der historischen Begriffsbildung zu erläutern sein. — Von den verschiedensten Seiten her sind wir in unseren bisherigen Untersuchungen auf den zentralen Gedanken der Individualität gestoßen — trotz unserer grundsätzlich systematischen Fragestellung —, weil eben alle übrigen geschichtlichen Kategorien notwendig zu diesem Mittelpunkt hintendieren. So werden wir, insbesondere was die früheren Stufen in Meineckes Denken anbetrifft, kaum mehr grundsätzlich Neues zur Darstellung des Individualitätsgedankens hier bringen können; es geht vielmehr um eine an diesem Ort noch vorzunehmende systematische Zusammenstellung und Einordnung der schon gezeitigten Resultate. W a s uns aber hier vor allem interessiert, das sind die späteren Stufen in Meineckes Geschichtsdenken; denn um die Darstellung des Gedankens der Individualität a l s G r u n d k a t e g o r i e d e s H i s t o r i s m u s ist es uns vor allem zu tun. So kommen also Meineckes Gedanken zu diesem Problem vor allem von dem Zeitpunkt an in Betracht, wo von einer bewußten Herausarbeitung des Wesens des Historismus und einer bewußten Erfassung der eigenen Geschichtstheorie als Historismus gesprochen werden kann. Alles Wesentliche, was Meinecke vor diesem Zeitpunkt, also bis zum Weltkriege hin, zum Gedanken der Individualität geäußert hat, ist schon bei der Besprechung der Grund413
polarität von Individuellem ,und Allgemeinem dargestellt worden. W i r sahen dort, wie schon sein erstes Auftreten in einer geschichtstheoretischen Diskussion die zentrale Position seines Individualitätsgedankens erwies. D a es aber im K a m p f e gegen Lamprecht vor allem u m die Alternative Einzelindividuum-Kollektivum ging, konnte das Hauptkennzeichen des Individualitätsgedankens noch nicht in Erscheinung treten, nämlich seine Anwendung auf die überindividuelle Sphäre des geschichtlichen Lebens. Immerhin w u r d e doch die Kategorie der Individualität auf das wichtigste überindividuelle geschichtliche Gebilde schon zu Beginn angewandt: auf den S t a a t . Individualisierung des Staates ist nun aber das Hauptkennzeichen des Individualitätsgedankens als Kategorie des Historismus im Sinne Rankes und seiner Schule. M a n kann also sagen, daß der Gedanke der I n d i vidualität von allem A n f a n g an von Meinecke im Sinne des Historisimus methodisch verwendet wurde. Nicht minder wichtig f ü r unsere Wesensbestimmung ist die sogleich zutage tretende w e l t a n s c h a u l i c h e V e r w u r z e l u n g des Gedankens der Individualität. Einen positivistisch verstandenen Individualitätsgedanken lehnt Meinecke in aller F o r m a b ; denn hinter ihm verbirgt sich die Auffassung, „ d a ß alles anscheinend Individuelle nur Schnittpunkt verschiedener Kausalreihen sei." 1 ) Neben die Frontstellung gegenüber Positivismus und Abarten tritt bald deutlich diejenige gegen den Rationalismus, der f ü r Meinecke nur der feindliche Bruder des ersteren ist. D a m i t offenbart sich die so entscheidende irrationalistische Position in seiner Auffassung der Individualität. Diese antirationalistische Einstellung wird zum ersten M a l deutlich in der schon erwähnten Auseinandersetzung mit Brandenburg, wo Meinecke die Methode verwirft, beim Versuch, menschliches Leben zu erfassen, das S. u. P., 61. Daß Meinecke hiermit den Positivismus im Sinne Lamprechts sehr richtig beurteilt, zeigt auch Spiess, a . a . O . , 229, wo er über Lamprecht schreibt, daß seine Geschichtstheorie „die Individuen, nur als Durchgangs- und Kreuzungspunkt psychischer Kräfte" ansehe.
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Irrationale durch Vernünftiges zu eliminieren; denn dadurch entstehe die Gefahr, „den echten historischen Sinn f ü r das Individuelle durch einen rationalisierten Individualismus zu ersetzen." 2 ) Diese Alternative: rationalisierte — nicht zu. rationalisierende, weil ehen in ihrem innersten K e r n irrationale Individualität, dieser Gegensatz wird immer wieder auftauchen, wenn es um die tiefere Bestimmung der Individualität geht. E r wird sich wiederum zeigen in den Kontroversen mit Hegel und seinem größten J ü n g e r der Gegenwart, Benedetto Croce. I n dieser i r r a t i o n a l i s t i s c h e n Auffassung der I n dividualität wurde Meinecke dann bestärkt durch seine U n tersuchungen zur deutschen Geistesgeschichte, indem er im Dichten und Denken der Romantiker und Idealisten den I n dividualitätsgedanken als Z e n t r u m der neu entstehenden Lebens- und Geschichtsauffassung erkannte. Der Individualitätsgedanke wurde, gerade durch den Kampfcharakter der ersten Historiker jähre Meineckes, rasch zu einem bewußten Prinzip in seinem geschichtlichen Denken, das damit rasch aus der Phase naiver Selbstverständlichkeit heraustrat in die Phase theoretischer Reflexion. Dazu traten die historischen Forschungen selbst, wodurch die Position seines geschichtlichen Denkens noch einmal erheblich verstärkt wurde. Meinecke wußte ja von A n f a n g an, daß er mit seiner Versenkung in die Geschichte des deutschen Geistes die Genesis und damit die historischen Grundlagen seiner eigenen historischen Methode und Anschauung immer miterforschte. Selbstverständnis und Selbstklärung waren immer mit ein Ziel seiner Erforschung der geistesgeschichtlichen Vergangenheit. Diese ganze Konzeption wurde dann in der zweiten Phase, mit der „Idee der Staatsräson" als Hauptwerk, in das nun allmählich bestimmtere Formen annehmende Wesen des H i storismus übernommen, und der Individualitätsgedanke als dessen konstituierendes und ihn erst hervorbringendes M o 2
) P. u. D., 215. 4'5
ment schlechthin erkannt. „Das tiefere Verständnis f ü r die Individualität, sowohl die der Einzelpersönlichkeit wie die der überpersönlichen menschlichen Gebilde, war die große Errungenschaft, die in Deutschland durch Idealismus und Romantik gemacht wurde und den modernen Historismus schuf." s) W i e bestimmt nun Meinecke das W e s e n dieser als Hauptkategorie des Historismus erkannten Individualitätsidee ? Es ist „die Idee der unnachahmlichen eigenartigen, nach eigenstem organischen Lebensgesetze sich entwickelnden Individualität, die mit den Mitteln des logischen Denkens, geschweige denn des mechanischen Kausalgesetzes allein nicht zu begreifen ist, sondern mit der Totalität aller geistigen Kräfte aufgefaßt, angeschaut und erlebt oder nacherlebt sein will." 4 ) W i r kennen diese Definition schon und haben ihre weitreichenden, besonders das Problem des Verstehens berührenden Hinweise schon interpretiert. Hier interessiert uns vor allem die Wesensbestimmung der Individualität: sie ist „ u n n a c h a h m l i c h " , „ e i g e n a r t i g " . Diese und ähnliche Attribute erhält die Individualität in unzähligen anderen Äußerungen. So erscheint etwa häufig die Variation „der u n v e r g l e i c h b a r e n , s c h ö p f e r i s c he n Individualität", das Griechentum wird einmal bestimmt als „eine ganz e i n m a l i g e , ganz s i n g u l ä r e , gewiß wundervolle, aber auch unvergleichliche und unnachahmliche Individualität." 5 ) Die Individualität ist — mit dem Ausdruck Troeltschs — „ W e r t r e 1 a t i v i t ä t " , d.h. „jeweils eigenartige, an sich wertvolle Ausprägung eines unbekannten Absoluten"; sie ist ein Kulturwert und als solcher „eigenartig, individuell, u n e r s e t z l i c h durch andere." 6 ) Gegen Hegels Weltgeisttheorie richtet sich einmal das Wort, daß „jede 3
) V g l den Aufsatz über Kausalitäten und Werte, a. a. O., 17.
*) S. u. P., 60. 6
) Aphorismen, I, 17; Sinn der Geschichte, 54.
«) Kausalitäten und Werte, a. a. O., 21 & 17.
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inhaltsreiche geschichtliche Individualität etwas Unersetzliches ist."') Solche Einzigartigkeit, Unersetzlichkeit und Unnachahmlichkeit führt aber nicht zu einem Chaos.von Individualitäten; denn der unvergleichlichen, wahrhaft individuellen Seite steht eine vergleichbare, mehr generelle und typische gegenüber. „ I n d i v i d u a l i t ä t e n aber, so u n v e r g l e i c h l i c h jede im Grunde ist, haben auch immer eine v e r g l e i c h b a r e Seite und ordnen sich untereinander in Gruppen und wiederkehrende T y p e n . . . mit verwandter, wenn auch niemals ganz identischer Struktur." 8 ) So sieht der Individualitätsgedanke des Historismus, „ausgehend von der Individualität der menschlichen Seele, auch die von ihr geschaffenen menschlichen Gebilde und Gemeinschaften, soviel Typisches sie auch immer haben mögen, als gleichzeitig auch immer individuelle Gebilde an und sieht auch den Einzelmenschen immer umgeben und umwachsen von diesen Gebilden und höheren Gemeinschaften und in Wechselwirkung mit ihnen." 9 ) Es ist also die schon bekannte Verschmelzung der individualisierenden mit einer typisierenden Geschichtsbetrachtung, die der Historismus sucht und die nun auch bei der Bestimmung der Struktur der Individualität betont wird. Solche Verschmelzung individueller und typischer Formen ist aber ewiges Problem. Meinecke nennt das Verhältnis von Typus und Individualität „das geheimnisvollste und logisch niemals ganz zu lösende Problem des geschichtlichen Lebens." 10 ) Die Individualität ist auch, so hörten wir bereits heraus, wertvoll, sie verkörpert einen bestimmten W e r t . Dieser Wert, dieser Eigenwert der Individualität ist gerade das wesentliche Moment, welches erst die historische Individualität ausmacht, die Individualität zur h i s t o r i s c h e n macht. So hatten die 7)
W.u.N., 284.
") Schiller und der Individualitätsgedanke, 45. 9)
E. d. H., 52. "') a. a. O., 69. 4[7
A u f k l ä r e r wie Voltaire, Montesquieu, auch Hume, wohl „Interesse f ü r die äußerlich, erscheinende individuelle M a n n i g faltigkeit des geschichtlichen Lebens . . . , aber den Eigenwert des Individuellen konnten sie noch nicht voll empfinden." U m diesen Eigenwert zu entdecken, „ m u ß t e auch die Innenseite der individuellen Erscheinungen erschlossen werden." 1 1 ) Diese Entdeckung des Eigenwertes der Individualität war die große Leistung des vollendeten Historismus und die entscheidende T a t zur Überwindung aller naturrechtlichen und teleologischen Geschichtstheorien. Diesen entscheidenden Gedanken formulierte Goethe in seiner „philosophischen Studie" von 1784/85: daß jedes Ding seinen eigenen M s ß i t a b habe, und er fand seinen f ü r die Geschichtschreibung verpflichtenden Ausdruck in Rankes zentralem Bekenntnis vom Eigenwert der Epoche in sich selbst. Das W e r t h a f t e ist also das e n t s c h e i d e n d e Element der Individualität. „ W o h l gibt es auch gleichgültige und wertfreie Individualität — jeder Gegenstand hat eine solche. Historische Individualitäten aber sind nur solche Erscheinungen, die irgendeine T e n d e n z zum Guten, Schönen oder W a h r e n in sich haben und dadurch f ü r uns bedeutungs- und wertvoll werden." 1 2 ) Hier bricht der idealistische Grundcharakter der Individual.'tätsidee mit voller Klarheit durch. Meinecke distanziert sich also ganz bewüßt von jeder rein logischen Bestimmung des historischen Gegenstandes als Individualität, wie es etwa die Geschichtslogik Rickerts tat, die ja jeden G e g e n s t a n d als Individuum bezeichnete. Den Charakter historischer Individualität erhält also nur diejenige individuelle oder übcrindividuelle historische Erscheinung, die einen bestimmten W e r t im oben definierten Sinne verkörpert. D a m i t ist der Individualitätsgedankc von Meinecke selbst als in entscheidendem M a ß e vom Wertsystem des Historikers abhängig bestimmt. Auch hier tritt die Tatsache klar hervor, daß die Kategorie der Individualität neben ihrer geschichtstheoretischen Be " ) a.a.O., 326. 12
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) Kausalitäten und Werte, a . a . O . , 17.
deutung eine ganz bestimmte weltanschauliche Substanz als konstitutives Element erhält. M a n darf das W o r t vom E i g e n w e r t der Individualität nun allerdings nicht mißverstehen; dies ist um so leichter möglich, als Meinecke auch den Ausdruck „ W e r t an sich" gebraucht. W e n n er die feinste und höchste der Lehren, welche die Geschichte gibt, „aus der reinen Wertung der historischen Individualitäten an sich" entspringen sieht 1 3 ), so ist er damit nicht etwa auf den Gedanken einer Erkenntnis des historischen „Dinges an sich" verfallen. Schon Ranke wußte, daß dies unmöglich sei; aber er sah zeitweise ein 'unerreichbares Ideal hierin und forderte gerade deshalb immer wieder in dieser Richtung auf. Meinecke weiß, daß mit dem Akt des geschichtlichen Verstehens ein subjektives Apriori untrennbar verbunden ist, und er betont gegenüber Rickert, daß wohl eine logische, niemals aber eine psychologische Trennung von Werturteil und Wertbeziehung, d. h. von Wertung und Erkenntnisakt im Prozeß des geschichtlichen Verstehens möglich sei. Das W o r t von der Erkenntnis des „Wertes an sich" einer historischen Individualität erhält daher seinen spezifischen Sinn nicht durch seinen Bezug auf die formale Struktur des Erkenntnisaktes, sondern durch einen solchen auf die inhaltlich bestimmte Entscheidung, die mit diesem verbunden ist. Die Forderung auf Erkenntnis des „Wertes an sich" ist also nicht eine Leugnung der subjektiven Bedingtheit des Verstchcnsprozcsses, wohl aber kämpft sie für den Gedanken, daß die historische Individualität nicht nur als Glied in einer bestimmten Entwicklung, nicht nur als Stufe zu einem bestimmten Endziel hin zu betrachten sei, sondern als eine historische Erscheinung „für sich" und „an sich". Das „an sich" heißt nichts anderes, als daß der W e r t nur aus der Individualität selbst hervorgeht, daß der Maßstab ihres Wertes die Individualität selbst sei. Das ist der Sinn „der reinen Wertung der historischen Individualität an sich". Genau wie bei Ranke: 1!