Grundrechte im deutschen Frühkonstitutionalismus [1 ed.] 9783428518012, 9783428118014

Von 1818 bis 1848 wurden vor allem in den süddeutschen Landesverfassungen erstmals individuelle Rechte der Staatsbürger

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German Pages 408 Year 2005

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Grundrechte im deutschen Frühkonstitutionalismus [1 ed.]
 9783428518012, 9783428118014

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Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 73

Grundrechte im deutschen Frühkonstitutionalismus Von

Judith Hilker

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

JUDITH HILKER

Grundrechte im deutschen Frühkonstitutionalismus

Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 73

Grundrechte im deutschen Frühkonstitutionalismus

Von

Judith Hilker

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Osnabrück hat diese Arbeit im Wintersemester 2004 / 2005 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0553 ISBN 3-428-11801-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2004/2005 vom Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Osnabrück als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung konnte die Literatur bis einschließlich Februar 2005 berücksichtigt werden. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. Jörn Ipsen, der die Arbeit betreut und auf vielfältige Weise gefördert hat. Ich habe jederzeit die erforderliche Unterstützung, vor allem aber auch die Ermutigung zur eigenverantwortlichen Bearbeitung meines verfassungsgeschichtlichen Themas erfahren. Das Zweitgutachen hat Herr Professor Dr. Albrecht Weber erstellt, dem ebenfalls herzlich gedankt sei. Der Studienstiftung des deutschen Volkes gebührt Dank für die finanzielle und ideelle Förderung, die ich während meines Studiums und meiner Promotion erfahren habe. Bedanken möchte ich mich auch bei der Universitätsgesellschaft Osnabrück für den großzügigen Druckkostenzuschuss. Den Mitarbeitern im Institut für Kommunalrecht der Universität Osnabrück möchte ich für die kollegialen Gespräche und die angenehme Arbeitsatmosphäre danken. Besonders zu nennen ist Frau Dr. Katrin Stein, die mir hilfreiche Anregungen gegeben hat. Vor allem gilt mein Dank aber meinem Freund Benjamin Schirmer und meinen Eltern für den Rückhalt und die liebevolle Bestätigung, die ich während der Bearbeitungszeit erfahren habe. Leider konnte mein Vater die Fertigstellung der Arbeit nicht mehr miterleben. Ihm soll sie deshalb gewidmet sein. Osnabrück, im Februar 2005

Judith Hilker

Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Kapitel: Der deutsche Frühkonstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil 1 Entstehungsvoraussetzungen 3. Kapitel: Der Einfluss des frühen deutschen Naturrechts der Neuzeit . . . . . I. Samuel von Pufendorf (1632–1694) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Naturrechtliche Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wirkungsweise der Lehren Pufendorfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Revolutionäre Menschenrechtsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Einfluss auf die nordamerikanischen Menschenrechtserklärungen bb) Sittliche Bindung der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Fortbestand der natürlichen Freiheit im Staat und Überlagerung durch das Allgemeinwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Mangelnde Absicherung durch fehlendes Widerstandsrecht . . . b) Gemäßigter Konstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Umfang der Bindung der Herrschaftsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die wirklichkeitsfremde Idee vom Herrschaftsvertrag . . . . . . . . c) Aufgeklärter Absolutismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bedeutung für den Frühkonstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Christian Thomasius (1655–1728) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Naturrechtliche Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Betonung der Individualrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Trennung zwischen Recht und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die individuelle Freiheitssphäre und deren Bedeutung für den Frühkonstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Christian Wolff (1679–1754) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die ambivalenten Aussagen über und von Christan Wolff . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung für den Frühkonstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rolle der natürlichen Freiheit im Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Determinierung der Freiheit durch natürliche Verbindlichkeit bb) Erste Katalogisierung von Freiheitsrechten und Einfluss auf Nordamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26 26 28 28 30 30 31 32 32 33 34 34 35 36 36 37 37 37 38 38 40 40 41 41 42 42

8

Inhaltsverzeichnis cc) Absicherung der Freiheitssphäre durch Konkretisierung des Gemeinwohlbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die politische Dynamik hinter der Darstellung der unterschiedlichen Staatsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Akkommodation zum Absolutismus und zur Monarchie . . . . . bb) Aufzeigen der Möglichkeit einer Konstitutionalisierung . . . . . . cc) Vorteil politischer Mitwirkungsrechte für die individuelle Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Widerstand gegen den absoluten Herrscher . . . . . . . . . . . . . (2) Widerstand in der gemischten Republik . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Konsequenz aus dem Vergleich beider Staatsformen und die daraus resultierende politische Bedeutung Wolffs . . . . IV. Zusammenfassung: Bedeutung des deutschen Naturrechts für die Grundrechtsentwicklung im Frühkonstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4. Kapitel: Die Virginia Bill of Rights als erste positivierte Menschenrechtserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Entstehungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tradition der englischen Freiheitsverbürgungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtfertigung und Unterstützung des Unabhängigkeitsstrebens . . . . . . 3. Rezeption des europäischen Naturrechts, insbesondere der Lehren Lockes a) Inhaltliche Reichweite der natürlichen Rechte, insbesondere des Eigentumsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Friedlicher Naturzustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zurückdrängung und Kontrolle der staatlichen Macht . . . . . . . . . . . . II. Inhalt und Absicherung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anerkennung angeborener und unveräußerlicher Menschenrechte . . . . 2. Politische Mitwirkung des Volkes zur Absicherung der Freiheitsrechte 3. Der Vorrang der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Verfassung als höherrangiges Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Durchsetzung des Verfassungsvorrangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fehlender Universalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Auswirkungen auf den deutschen Frühkonstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Verhältnis der Freiheit zum Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Modellcharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Konkrete Vorbildfunktion für Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fortbestand des fehlenden Universalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kapitel: Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und ihre revolutionäre Ausstrahlungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der revolutionäre Charakter der Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Inhaltliche Reichweite und Zusammenhang von Freiheit und Gleichheit 2. Funktion als Programm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43 44 45 45 46 47 47 48 49 53 54 54 56 57 58 59 60 61 61 62 63 63 65 66 68 69 69 70 71 71 73 73 74 75

Inhaltsverzeichnis

9

II. Schwachstellen der Menschen- und Bürgerrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gefahren bei der Umsetzung des Programms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine Freiheit vor dem Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Relativität politischer Mitwirkungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Auswirkungen auf Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vergleich der Situation Deutschlands und Frankreichs vor 1789 . . . . . . 2. Ausstrahlungswirkung der französischen Menschenrechtserklärung . . . 3. Politische Stoßkraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Beurteilung der französischen Entwicklung in Deutschland . . . . . . . . . . a) Die Verfassung von 1791 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Jakobinerherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Verfassung des Jahres III und die Konsulatsverfassung Napoleons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Charte Constitutionnelle von 1814 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Kapitel: Freiheitsrechte in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts I. Freiheitsstrebende Kräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entwicklung des Bürgertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wandel des Freiheitsverständnisses in der Staatsrechtslehre und in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das „Allgemeine Staatsrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Präzisierung des Staatszwecks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Physiokraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Theorie der Freiheit im aufgeklärten Absolutismus . . . . . . dd) Die Verteidiger ständischer Freiheiten und deren Bedeutung für die Grundrechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Freiheitsverständnis Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenstellung konkreter Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Funktion der theoretischen Freiheitsrechte als Ersatzverfassung . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Freiheitsrechte im Preußischen Allgemeinen Landrecht . . . . . . . . . . . . . 1. Der Plan des Allgemeinen Gesetzbuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Freiheitsrechte im suspendierten AGB und dessen konstitutionelle Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die natürliche Freiheit im Lichte des Staatszwecks, §§ 77–79 Einl. AGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Machtspruchverbot, § 6 Einl. AGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Gesetzeskommission, § 12 Einl. AGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Allgemeine Landrecht von 1794 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die natürliche Freiheit zwischen uneingeschränkter Souveränität und patriarchalischer Ständeordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis b) Die natürliche Gleichheit innerhalb einer funktionalisierten Ständeordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Festhalten an einer funktionalisierten Ständeordnung . . . . bb) Funktionalisierung und Entpolitisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Dynamisierende Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Doppelfunktion des Eigentumsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der ständische Eigentumsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Entschädigungspflicht gemäß § 75 Einl. ALR . . . . . . . . . . cc) Das Eigentum als Ausdruck freier Entfaltung . . . . . . . . . . . . . . . dd) Konsequenzen eines Konfliktes beider Eigentumsbegriffe . . . . ee) Das Eigentum als Grenze der Herrschaftsmacht . . . . . . . . . . . . . d) Die Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ursachen der Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das individuelle Maß an Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die anerkannten Religionsgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die Duldung nicht aufgenommener Religionsgemeinschaften ee) Bedeutung der Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Auswanderungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Rechtsstaatliche Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Bewertung der Freiheitsrechte im ALR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grenzcharakter der natürlichen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gesellschaftsverändernde Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Abhängigkeit der Freiheit von der monarchischen Politik . . . . h) Reformen in Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Politische Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gleichheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Gewerbefreiheit, Freizügigkeit, Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . ee) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7. Kapitel: Die Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge I. Der Rheinbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Rheinbundverfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Egalisierung der Gesellschaft durch Verfassungs- und Privatrecht . . . . 3. Ableitung grundrechtsähnlicher Rechtspositionen aus dem neuen Gesellschaftsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Grundrechtsforderung in der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Pauperisierung durch den Wegfall schützender Standes- und Zunftgrenzen – Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Politisches Erwachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Deutsche Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

IV.

V.

VI. VII.

1. Interessenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Grundrechte in der Deutschen Bundesakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wiederherstellung der Privilegien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundrechte zur Betonung der Einheit des Bundes . . . . . . . . . . . . . . c) Pressefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rechtsschutzmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Landständische Verfassung gemäß Art. 13 DBA . . . . . . . . . . . . . . . . a) Restaurative Interpretation durch die Großmächte Preußen und Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Repräsentative Interpretation durch die ehemaligen Rheinbundstaaten c) Anerkennung der süddeutschen Repräsentativverfassungen unter Verkündung des monarchischen Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verpflichtung zur Einhaltung des Bundeszwecks . . . . . . . . . . . . . . . . Beweggründe hinter den frühkonstitutionellen Verfassungen . . . . . . . . . . . . 1. Sicherung der Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einigung des Staatsgebiets durch einen allgemeinen Staatsbürgerstand 3. Finanzbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusätzliche Legitimation der Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die verfassungsrechtliche Einbettung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das monarchische Prinzip nach der konservativen Staatslehre . . . . . . . . 2. Der Freiheitsschutz durch die Ständevertretungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Mitwirkungsrechte in der Gesetzgebung, Freiheits- und Eigentumsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mitspracherechte im Finanzwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ministerverantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Einbringung von Gesetzesvorlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Dualismus zwischen Ständevertretung und Monarch . . . . . . . . . . . . . 3. Historische Kontinuität, Mischzustand feudaler Vorrechte und allgemeiner Staatsbürgerrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Instabilität der Grundrechtsbarrieren und Unvereinbarkeit mit dem liberalen Staatsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewertung der unterschiedlichen Entstehungsvoraussetzungen . . . . . . . . . .

11 152 154 156 157 158 158 159 160 160 161 161 163 164 164 165 166 167 167 167 168 171 171 172 172 174 174 176 178 181 182

Teil 2 Die unterschiedlichen Grundrechte und ihre Funktion

186

8. Kapitel: Die frühkonstitutionellen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 I. Die staatsbürgerliche Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 1. Entstehungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

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Inhaltsverzeichnis 2. Verfassungsrechtliche Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eingeschränkte Geltungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die neuständische Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Fortbestand adeliger Privilegien, Art. 14 DBA . . . . . . . . . . . . . . bb) Bevorzugte und benachteiligte Staatsbürger, Einwohner . . . . . . b) Die Ungleichheit der politischen Mitwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Differenzierungen nach Geburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Differenzierungen nach Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Repräsentativer Charakter der Volksvertretungen unter dem Aspekt der ungleichen Mitwirkungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . 4. Zukunftsweisende Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gleichheit als verbindliches Programm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Innere Dynamik der neuständischen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Politische Bedeutung der Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Freiheit der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entstehungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsrechtliche Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eingeschränkte Geltungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Mangelnde gesetzliche Konkretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mangelnder Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unabhängigkeit der Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Verwaltungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die Ministeranklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zukunftsweisende Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Freiheitsschutz als Aufgabe des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Forderung nach weiteren justiziellen Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Naturrechtliche Begründung der persönlichen Freiheit in der frühkonstitutionellen Staatsrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Entwicklungsmöglichkeiten der Freiheit im Spannungsfeld des frühkonstitutionellen Dualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassungsrechtliche Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entstehungsbedingungen: Der Wandel vom ständischen zum freien Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eingeschränkte Geltungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ständische Überlagerung des freien Eigentums . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesetzgeberische Eingriffe in das Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Administrativenteignungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zukunftsweisende Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Freies Eigentum als Voraussetzung der freien Entfaltung . . . . . . . . .

188 190 190 191 193 194 194 196 197 198 198 200 202 203 203 204 206 206 206 207 208 211 212 213 213 213 214 215 217 217 218 218 222 222 223 225 228 229 229

Inhaltsverzeichnis b) Forderung nach weiteren Freiheiten und nach einer rechtsstaatlichen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bedeutung der Rechtfertigung von Freiheitseingriffen durch die Zustimmung der Stände für die Entwicklung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Eigentum und politische Mitwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Religions- und Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entstehungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Individualisierung der Religionsfrage durch die Reformation b) Nordamerika: Gewissensfreiheit als Ursprung der Menschenrechte? c) Religionsfreiheit nach der Französischen Revolution . . . . . . . . . . . . . d) Religion und Gewissen im aufgeklärten Absolutismus . . . . . . . . . . . e) Das Ende der reichsrechtlichen Vorgaben und der Rheinbund . . . . . 2. Verfassungsrechtliche Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eingeschränkte Geltungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Umfang der individuellen Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ungleichbehandlung der Glaubensgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . c) Religion unter dem monarchischen Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zukunftsweisende Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Staatsfreie Sphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die neue Begründung und Ausdehnung der Gewissensfreiheit . . . . c) Ableitung weiterer Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Politisierende Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Pressefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entstehungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Kirche als Wegbereiterin der Zensur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Presse und Zensur im Absolutismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) England als Geburtsland der Pressefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Pressefreiheit in Nordamerika und Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . e) Entstehung der öffentlichen Meinung im Gegensatz zum deutschen Absolutismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Pressefreiheit als Mittel der Auflehnung gegen Napoleon . . . . . . . . 2. Verfassungsrechtliche Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) In den Landesverfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) In der Deutschen Bundesakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eingeschränkte Geltungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Gesetzesvorbehalt in den Landesverfassungen . . . . . . . . . . . . . . b) Bundesrechtliche Überlagerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Pflicht zum Vollzug der Karlsbader Beschlüsse . . . . . . . . . . . . . bb) Inhalt der Karlsbader Beschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Vorzensur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Sicherstellung der Umsetzung durch die Länder . . . . . . . . . (3) Keine Erfüllung des Versprechens aus Art. 18d DBA . . . .

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231 232 235 235 235 238 241 242 242 244 244 245 246 248 250 250 250 252 253 254 254 255 255 257 258 259 260 262 262 264 265 265 266 267 269 269 270 271

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Inhaltsverzeichnis c) Konflikte zwischen Bundeszensur und Landesverfassung . . . . . . . . . aa) Die Unterdrückung des „Teutschen Beobachters“ . . . . . . . . . . . bb) Das Badische Pressegesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Schwäche der Landesverfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zukunftsweisende Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schaffung und Ausnutzung von Freiräumen für die Presse . . . . . . . aa) Großzügige Zensurpraxis in den Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Lücken im Zensursystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Umgehung der Zensur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorbereitung des Verfassungsvorrangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verfassungsverändernde Funktion in der liberalen Staatsrechtlehre aa) Theoretische Begründung der Pressefreiheit als individuelles Menschenrecht und objektiver Staatszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ablehnung der Verfassungsstruktur des Deutschen Bundes . . . cc) Fehlende verfassungsrechtliche Voraussetzungen und Folgen der Pressefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ersatzfunktion der Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Politische Brisanz und Scheinfunktion der Pressefreiheit . . . . . . . . . e) Erinnerungsfunktion und politisierende Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die Assoziationsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entstehungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Assoziation im frühen deutschen Naturrecht der Neuzeit . . . . . . . . . b) Versammlungen und Vereinigungen in England und Nordamerika . . c) Versammlungen und Vereine nach der Französischen Revolution . . d) Assoziation und Absolutismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Assoziation im Vormärz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eingeschränkte Geltungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unterdrückungsmaßnahmen des Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Verbot der Burschenschaften durch die Karlsbader Beschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verbot aller politischen Vereine durch die Zehn Artikel . . . . . . b) Restriktives Landesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Mangelnde verfassungsrechtliche Verankerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Festhalten der Romantik an ständestaatliche Grenzen . . . . . . . . . . . . e) Skepsis gegenüber Teilverbänden im Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zukunftsweisende Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesellschaftliche Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Assoziationsfreiheit in der liberalen Staatsrechtslehre . . . . . . . . aa) Assoziation als individuelle, persönliche Freiheitsausübung . . (1) Ableitung aus der naturrechtlichen Freiheit der Person . . . (2) Ableitung aus dem positivem Verfassungsrecht . . . . . . . . . . bb) Vorteile für den Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Politische Bedeutung der Assoziation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

271 271 273 275 276 277 277 278 279 281 282 282 283 285 286 287 290 290 291 292 292 293 294 296 297 298 298 298 299 301 302 304 304 304 305 305 305 306 306 307

Inhaltsverzeichnis (1) Als subjektives, individuelles Freiheitsrecht, das in die Sphäre des Politischen hineinreicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Als objektives Element, das die Repräsentativverfassung voraussetzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Als politisch postulierte Kompensation, Ersatzfunktion . . . dd) Praktische Bedeutung für die bestehende Ordnung . . . . . . . . . . c) Politisierende Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Beurteilung der Funktion der Assoziationsfreiheit vor dem Hintergrund der mangelnden verfassungsrechtlichen Verankerung . . . . . . . 9. Kapitel: Geltungskraft und Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte I. Stützfunktion für die Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Abwehrfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechtsschutz als Aufgabe der Volksvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gegenüber der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gegenüber der Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorkonstitutionelle Eingriffsermächtigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bundesbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bedeutung und Reichweite der Freiheits- und Eigentumsklausel . . d) Das landesherrliche Verordnungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Das Verhältnis zwischen Verfassung und einfachem Gesetz . . . . . . . aa) Das monarchische Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Dualistische Staatsstruktur, Widersprüchlichkeit der Verfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Grundrechtsschutz durch das Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Entwicklung zugunsten des Verfassungsvorrangs . . . . . . . . . . . . f) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Programmfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abbau der wohlerworbenen Rechte als Grundrechtshindernisse . . . . . . a) Theoretische Überwindung der Unverletzlichkeit der wohlerworbenen Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsschutz der wohlerworbenen Rechte und Rückwirkungen auf den Grundrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Interesse des Gesetzgebers am Abbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Umsetzung und Konkretisierung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Freiheitsgünstiges Klima durch die Umsetzung des Programms . . . . . . 4. Mittelbare Auswirkungen der Programmfunktion auf die Verwaltung . . IV. Subjektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anlehnung an die wohlerworbenen Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Probleme der Subjektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bedeutung für die Entwicklung des subjektiven öffentlichen Rechts . . a) Die Staatsrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Subjektive Erwartungen in der Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Politische Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis 1. Politisierung der Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Legitimationsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verschärfung der Legitimationsfrage durch die liberale Staatsrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Verfassungsverändernde Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Grundrechte als Auslöser des Kampfes zwischen dem monarchischen und dem demokratischen Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die verschiedenen Grundrechtsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10. Kapitel: Ausblick auf die weitere Grundrechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . I. Die Paulskirchengrundrechte als Reaktion auf die eingeschränkte Geltungskraft der Grundrechte im Frühkonstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiheit der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Glaubens- und Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Pressefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Assoziationsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Vorgesehene Wirkungskraft der Paulskirchengrundrechte . . . . . . . . . . . . II. Bedeutung der Paulskirchengrundrechte und der frühkonstitutionellen Grundrechte in der deutschen Grundrechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Eingeschränkte Geltungskraft der Grundrechte im Spätkonstitutionalismus und deren Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Entstehungsbedingungen und Funktion der Grundrechte in ihrer Abhängigkeit von den bestehenden Machtverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26. 5. 1818 . . . . . . . . . . . . B. Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden vom 22. 8. 1818 . . . . . . . . . C. Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg vom 25. 9. 1819 . . . . . . . D. Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Hessen vom 17. 12. 1820 . . . . . . .

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Literatur- und Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Quellensammlungen und nachgedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesetzes- und Verordnungsblätter (chronologisch sortiert) . . . . . . . . . . . . . .

378 378 383 399 399 401

353 354 355 356 357 358 360 361 362 363

Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402

Abkürzungsverzeichnis Die Abkürzungen folgen grundsätzlich Hildebert Kirchner/Cornelie Butz, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 5. Auflage, Berlin/New York 2003. Darüber hinaus werden folgende Abkürzungen verwendet: AcP AGB ALR

BayGBl. BGBl. NDB DBA Einl. FRV FS GS HZ I. P. O.

J. N. VIII JNG Kap. Preuß. GS RDH U.S. VU WRV WSA

Archiv für die civilistische Praxis Allgemeines Gesetzbuch für die Preußischen Staaten von 1791 (Nachdruck Frankfurt a. M., 1985) Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, (zitiert nach dem Nachdruck von Hattenhauer, Hans/Bernert, Günther, 3. Auflage, Neuwied 1996) Gesetzblatt für das Königreich Bayern, 1818–1873 Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes, 1867 ff. Deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815, abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 84 Einleitung Verfassung des Deutschen Reichs vom 28. März 1849 (RGBl. 101 ff.) Festschrift Gedächtnisschrift Historische Zeitschrift Instrumentum Pacis Osnabrugense vom 14. Oktober 1648, abgedruckt bei A. Buschmann (Hrsg.), Kaiser und Reich, Teil II, S. 15 ff. Jus Naturae – Pars octave (von Christian Wolff, 1748, Nachdruck hrsg. von Marcel Thomann, Hildesheim 1968) De jure naturae et gentium (von Samuel von Pufendorf, 1672, Nachdruck hrsg. von Frank Böhling, Berlin 1998) Kapitel Gesetzessammlung für die Königlich-Preußischen Staaten, 1810– 1906 Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803, abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 1 ff. United States Verfassungsurkunde Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (RGBl. S. 1383) Schlussakte der Wiener Ministerkonferenzen vom 15. Mai 1820, abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 91

18 ZbLG ZHF ZNR ZRG Germ. Abt. ZVglRWiss

Abkürzungsverzeichnis Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte Zeitschrift für historische Forschung Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft

1. Kapitel

Einleitung Der Frühkonstitutionalismus ist in der deutschen Verfassungsgeschichte eine Etappe voller Widersprüche und Veränderungen, die in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden darf. Eine besondere Errungenschaft sind die sogenannten „Staatsbürgerrechte“, die sich in katalogisierter Aufstellung in den modernen Repräsentativverfassungen fanden. In der rechtshistorischen Literatur erfahren diese Rechte oftmals eine widersprüchliche Behandlung: Einerseits werden sie durch ihre Titulierung als Grundrechte geadelt1, andrerseits wird ihnen nur eine geringe Bedeutung zugemessen. Die Rechtekataloge werden als juristisch „wirkungslose Proklamation“ und als bloße „Teilreform“2 bezeichnet, die allenfalls „Signalwirkung“3 habe und eigentlich „keine Grundrechte des Volkes“ begründe.4 Damit werden den Staatsbürgerrechten wichtige Wesensmerkmale, die Grundrechte nach unserem heutigen Verständnis haben sollten, gerade abgesprochen. Betrachtungen zur deutschen Grundrechtsgeschichte beginnen deshalb bisweilen erst im Jahre 1848 und nehmen die Grundrechte der Paulskirchenverfassung als Ausgangspunkt.5 Für eine Qualifizierung der Staatsbürgerrechte als Grundrechte spricht aber, dass sie als allgemeine, individuelle Freiheitsrechte in den Verfassungen verankert waren und somit eine konstitutionelle Schranke der Staatsgewalt darstellten. Dabei ist näher zu untersuchen, inwiefern sich die Staatsbürgerrechte dadurch von den einfachgesetzlichen Freiheitsrechten im Preußischen Allgemeinen Landrecht unterschieden, denen vereinzelt ebenfalls Grundrechtscharakter zugemessen wird.6 1 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 350; D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 132; K. Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland, S. 12; A. Voigt, Geschichte der Grundrechte, S. 56; D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 283; C. Starck, in: GS Sasse, S. 777 (782); B. Pieroth, Jura 1984, S. 568 (574); G. LübbeWolff, ZRG Germ. Abt. 103 (1986), S. 104; kritisch K. Stern, Staatsrecht III/1, S. 107. 2 D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 133, 135. 3 K. Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland, S. 17. 4 So B. Pieroth, Jura 1984, S. 568 (574). 5 O. Dann, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 515; R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 343; K. Löw, Die Grundrechte, S. 71. 6 H. Conrad, Das ALR als Grundgesetz des friderizianischen Staates, S. 14; ders., Die geistigen Grundlagen des ALR, S. 36; D. Merten, in: Ebel, Gemeinwohl – Freiheit – Vernunft – Rechtsstaat, S. 131.

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1. Kap.: Einleitung

Der Begriff der „Grundrechte“ bleibt in den frühkonstitutionellen Verfassungen selbst ungenannt. Vielmehr werden die Staatsbürgerrechte aus der Retrospektive mit dieser unhistorischen Bezeichnung versehen, die sich erst bei den Beratungen der Paulskirchenverfassung endgültig herausbildete.7 Auch in der nachfolgenden Untersuchung soll der Begriff der Grundrechte zumindest solange benutzt werden, bis die Prüfung seiner Adäquanz abgeschlossen ist. Gegen eine Charakterisierung der Staatsbürgerrechte als Grundrechte könnte dabei eingewandt werden, dass die Staatsbürgerrechte eben nicht – wie es bei den Menschenrechten klassischerweise der Fall ist8 – in einer revolutionären Bewegung erkämpft, sondern an die Staatsform der Monarchie, die mit reformerischen Absichten konstitutionalisiert worden war, angepasst wurden. Darin besteht ein entscheidender Unterschied zu den Menschenrechtserklärungen in Nordamerika und Frankreich, die daher allenfalls in modifizierter Version für die frühkonstitutionellen Grundrechte Modell gestanden haben konnten. Demnach wären dann tatsächlich die Grundrechte der Paulskirchenverfassung9 die ersten in Deutschland, die aber seit Dezember 1848 nur als einfaches Reichsgesetz galten10 und nach dem Scheitern der Verfassung im Jahre 1851 durch Bundesbeschluss aufgehoben wurden.11 Danach war ein ausgedehnter Grundrechtskatalog erst wieder in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 enthalten.12 Es herrscht also Unklarheit darüber, wie die frühkonstitutionellen Staatsbürgerrechte, die zum Zeitpunkt der Revolution von 1848 schon fast dreißig Jahre in Kraft waren, in die deutsche Grundrechtsgeschichte einzuordnen sind. Deshalb ist zu prüfen, ob sie in ihrer konstitutionalisierten Form bereits eine neue Epoche in der Geschichte der deutschen Freiheitsrechte, die zu wirklichen Grundrechten geworden waren, einleiteten. Dann nämlich hätten sie nicht nur die Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums innerhalb des Staates verfassungsrechtlich abgesichert, sondern gleichzeitig auch das Staatsverständnis selbst grundsätzlich im Sinne des modernen Verfassungsstaates gewandelt. Die Klärung dieser Fragen vermag letztlich zu zeigen, ob die Grundrechte des Bonner Grundgesetzes, die zugleich als objektives Wertsystem ein Fundament für alle Bereiche des Rechts bilden13, ihren Ausgangspunkt schon im deutschen Frühkonstitutionalismus haben. 7

G. Kleinheyer, Grundrechte – zur Geschichte eines Begriffs, S. 20. J. Ipsen, Staatsrecht II, Rdnr. 1. 9 RGBl. 1849, S. 101; ebenfalls abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 375. 10 RGBl. 1849, S. 49. 11 Bundesbeschluss über die Aufhebung der Grundrechte des deutschen Volkes vom 23. August 1851, abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente II, S. 2. 12 RGBl. 1919, S. 1383 (1404 ff.); ebenfalls abgedruckt bei Willoweit/Seif (Hrsg.), Europäische Verfassungsgeschichte, S. 637 (651 ff.). 13 BVerfGE 7, 198 (205). 8

1. Kap.: Einleitung

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Eine Untersuchung der historischen Wurzeln unserer heutigen Grundrechte vermag zwar nicht eine aktuelle, strittige Rechtsfrage zu lösen. Die Grundrechte sind nämlich im Grundgesetz als subjektive Rechte anerkannt sowie unstrittig mit einer unmittelbaren Rechtsverbindlichkeit ausgestattet worden und fungieren als grundlegende Ordnung für Staat und Gesellschaft.14 Aber gerade deshalb ist eine verfassungsgeschichtliche Betrachtung von besonderem Interesse. Die entscheidende Frage ist, wie es zur Anerkennung und Absicherung der Grundrechte kommen konnte. Denn obwohl – oder gerade weil – der Kampf um die Grundrechte letztlich erfolgreich war, dürfen wir uns nicht in einer „geschichtslosen Selbstsicherheit“15 wiegen. Es ist nicht nur so, dass wir die Grundrechte erst richtig schätzen können, wenn wir die Widerstände betrachten, denen sie sich in ihrer historischen Entwicklung ausgesetzt sahen. Vielmehr können wir sie auch erst dann wirksam schützen, wenn wir die Gefahren kennen, die sie in ihrer Wirkungskraft einschränken können – eine Erkenntnis, die uns eine Betrachtung der Geschichte hervorragend zu liefern geeignet ist. Dabei zeigt schon ein Blick auf die europäische Ebene, dass die Fragen der Entwicklung, Durchsetzbarkeit und Absicherung von Grundrechten auch von gegenwärtiger Relevanz sind. Um den Wert der Konstitutionalisierung der Grundrechte für deren Geltungskraft zu beurteilen, ist eine Untersuchung des deutschen Frühkonstitutionalismus besonders geeignet. Gerade in dieser Epoche wird deutlich, dass die bloße Niederschrift in einer Verfassung nicht ausreichte und dass die tatsächliche Wirkung der Grundrechte von weiteren Voraussetzungen abhängig blieb, die im frühen 19. Jahrhundert noch nicht erfüllt waren. Deshalb vermögen vor allem die frühkonstitutionellen Staatsbürgerrechte, wenn man ihre Entstehung vergangenheitsorientiert und ihre Funktion zukunftsgerichtet betrachtet, Auskunft über die Besonderheiten zu geben, welche die deutsche Grundrechtsgeschichte aufweist.16 Außerdem verdeutlicht die Zeit des Vormärz in besonderer Weise, dass die Grundrechte, wenn sie dem Staat „abgerungen“ werden sollen, nicht nur von weiten Kreisen der Wissenschaft, sondern auch von der Bevölkerung aktiv eingefordert werden müssen. So entstand damals in der gesamten Gesellschaft ein erhöhtes Grundrechtsbewusstsein, das die heutige Zeit der Politikverdrossenheit, in der die Grundrechte zwar nicht mehr als Veränderung gefordert werden müssen, aber dennoch als Errungenschaft geschätzt und bewahrt werden sollten, vermissen lässt. Nun ist zu beachten, dass der deutsche Frühkonstitutionalismus unterschiedliche Verfassungstypen kannte, die bisweilen lediglich an alte Traditionen an14 Dazu ausführlich P. Badura, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 20; H. Hofmann, NJW 1989, S. 3177 (3183 ff.); U. Scheuner, in: FS Huber, S. 139. 15 C. Starck, in: GS Sasse, S. 777 (778). 16 H. Dreier, in: ders., Grundgesetz – Kommentar, Vorb. Art. 1, Rdnr. 13.

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1. Kap.: Einleitung

knüpften und altständischen Inhalts waren.17 Staatsbürgerrechte enthielten lediglich die modernen Repräsentativverfassungen. Dabei waren die Länder Bayern, Baden, Württemberg und Hessen nicht nur die ersten, in denen die Staatsbürgerrechte überhaupt verfassungsrechtlich berücksichtigt wurden, sondern dort fanden sie auch ihre stärkste Ausprägung.18 Zwar folgten andere Länder diesem Beispiel und verbürgten Untertanenrechte in ihren Verfassungen, es lässt sich jedoch kaum eine Aussage über die frühkonstitutionellen Staatsbürgerrechte machen, die sich nicht auch aus den Verfassungen der genannten süddeutschen Länder ableiten ließe. Für die nachfolgende Untersuchung wird deshalb eine exemplarische Behandlung eben dieser Verfassungen bis auf kleine Ausnahmen ausreichen. Dabei soll zunächst die Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechte näher untersucht werden, wozu es einer Aufschlüsselung verschiedener Entwicklungslinien bedarf. Eine isolierte Betrachtung der natur- und staatsrechtlichen Einflüsse, der Auswirkungen der Menschenrechtserklärungen Nordamerikas und Frankreichs sowie der gesellschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Voraussetzungen allein genügt jedoch nicht. Gewinnbringend kann die Entstehung der Grundrechtskataloge erst dann erklärt werden, wenn die verschiedenen Einflüsse miteinander verknüpft und gewichtet werden. Monokausale Erklärungsansätze vermögen schließlich immer nur Teilaspekte zu erläutern.19 Um die Grundrechte in ihrem gesamten Bedeutungsgehalt zu erfassen, bedarf es der Aufdeckung des hinter ihnen stehenden komplexen Ursachengeflechts. Diese Untersuchung kann aber nicht nur pauschal für „die Grundrechte“ vorgenommen werden. Stattdessen ist im Anschluss eine zusätzliche Differenzierung nach unterschiedlichen Freiheitsrechten vorzunehmen, deren Wurzeln in Tiefe und Struktur variierten. Die Freiheitsrechte waren teils die Fortführung reichsrechtlicher Traditionen, aber auch die Befriedigung der Erwartungen nach den Befreiungskriegen und teils sogar nur eine bloße Denkfigur der Staatsrechtslehre, die von den Verfassungstexten losgelöst war. Doch genau wie in ihren Entstehungsvoraussetzungen, so unterschieden sich die Grundrechte quasi spiegelbildlich dazu auch in ihrer Funktion. Die Entstehungsgeschichte der Grundrechte dient daher bereits als erste Grundlage, um ihre rechtliche Tragweite zu ermitteln. Darüber hinaus müssen die einzelnen Grundrechte zur Ermittlung ihrer Funktion zum einen juristisch, aber auch unter Berücksichtigung der (real-)historischen Einflüsse analysiert werden. Dabei ist 17 Vgl. die Übersicht bei E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 656 f.; einen Überblick gibt auch H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. II, S. 109 ff. 18 Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 319 ff.; D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 72; W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 1 ff.; A. Voigt, Geschichte der Grundrechte, S. 54 ff. 19 So auch K. Stern, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 1, Rdnr. 13.

1. Kap.: Einleitung

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nicht nur der Zeitpunkt der Konstitutionalisierung, sondern auch die weitere Entwicklung bis 1848 zu betrachten. Denn die Staatsbürgerrechte lagen in einem Spannungsfeld staatsorganisationsrechtlicher Kompetenzen und entgegengesetzter politischer Interessen, das seinerseits keineswegs statisch war. Erst die Entwicklung der verschiedenen Grundrechte innerhalb dieses Spannungsfeldes kann Auskunft über ihre tatsächliche Funktion geben. Fügt man die durch die Funktionsanalyse der Einzelgrundrechte gewonnenen Erkenntnisse zusammen, so entsteht ein Gesamtbild, das Auskunft über die Bedeutung der frühkonstitutionellen Grundrechte geben kann. Dieses Gesamtbild verdeutlicht uns die tatsächliche Rechtssphäre gegenüber der Staatsgewalt, die für das Individuum durch die Staatsbürgerrechte geschaffen wurde. Es zeigt die Bedeutung der Staatsbürgerrechte für den Gesellschaftswandel und für die Entwicklung des modernen Verfassungsstaates. Vor allem aber gibt es Auskunft über die Relevanz der Staatsbürgerrechte nicht nur in der deutschen Grundrechtsgeschichte, sondern auch für eben diese. Die historischen Wurzeln der Grundrechte statisch in einzelnen Etappen zu betrachten, hieße, die Wirklichkeit zu verzerren. Um die Frage zu klären, ob es sich bei den Staatsbürgerrechten des Frühkonstitutionalismus, die ohne Frage die ersten verfassungsrechtlich verankerten Freiheitsrechte Deutschlands waren, schon um Grundrechte handelte, ist daher auch auf ihre Bedeutung für die weitere verfassungsgeschichtliche Entwicklung abzustellen.

2. Kapitel

Der deutsche Frühkonstitutionalismus Die verfassungsrechtliche Verankerung von Grundrechten setzt den Übergang zum konstitutionellen Staat voraus. Dabei meinte der Konstitutionalismus nicht die Einführung einer Verfassung überhaupt, schließlich ist jeder Staat auf irgendeine Art verfasst. Der Konstitutionalismus war mit bestimmten inhaltlichen Vorstellungen verbunden und forderte einen bestimmten Verfassungstypus, der sich vom Absolutismus einerseits und von der altständischen Tradition des Alten Reiches andrerseits abheben sollte.1 Die Verfassung wurde zum Mittel, die Macht des Herrschers gegenüber dem gesamten Untertanenverband grundsätzlich einzuschränken. Anders als die ständischen Herrschaftsverträge und Fundamentalgesetze wirkte sie damit umfassend und universal.2 Der Konstitutionalismus verlangte ein abgesichertes System von allgemeinen Normen, durch welches der Monarch bei der Ausübung seiner hoheitlichen Machtbefugnisse, insbesondere bei der Gesetzgebung, an eine Volksrepräsentation gebunden wurde. Die Verfassung war aber nicht herrschaftsbegründend, sondern lediglich herrschaftsmodifizierend. Trotz konstitutioneller Fesseln blieb der Monarch höchstes Symbol des Staates und Inhaber der Staatsgewalt.3 Er war pouvoir constituant, nicht pouvoir constitué. Der Unterschied des konstitutionellen zum parlamentarischen System ist darin zu sehen, dass die Regierung von der Volksvertretung unabhängig blieb.4 In Deutschland lassen sich erste konstitutionelle Ansätze in Form theoretischer Entwürfe bereits am Ende des 18. Jahrhunderts ausmachen.5 Zur Zeit des Rheinbundes wurden zwar erste Verfassungen eingeführt, deren konstitutioneller Charakter war allerdings nur Schein.6 Der Frühkonstitutionalismus begann nach der Gründung des Deutschen Bundes in den deutschen Einzelstaaten. Nachdem mitteldeutsche Kleinstaaten bereits 1816 erste Verfassungen eingeführt hatten, 1 O. Kimminich, Verfassungsgeschichte, S. 327; vgl. auch E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 3 ff.; vgl. auch E. Schmidt-Jortzig, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 10, Rdnr. 21. 2 D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 12; C. Schulze, Frühkonstitutionalismus in Deutschland, S. 16 f. 3 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 6. 4 Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 5 f. 5 Dazu ausführlich H. Dippel, Die Anfänge des Konstitutionalismus in Deutschland. 6 Vgl. dazu unten 7. Kapitel, I.

2. Kap.: Der deutsche Frühkonstitutionalismus

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setzte ab 1818 die erste deutsche Verfassungswelle ein. Dabei waren es vor allem die süddeutschen Verfassungen, die das Bild der frühkonstitutionellen Monarchie prägten und eine besondere Bedeutung erlangten. An das süddeutsche Muster knüpfte auch die zweite deutsche Verfassungswelle an, die 1830 durch die französische Julirevolution losgetreten wurde und vor allem mitteldeutsche Kleinstaaten erfasste.7 Die frühkonstitutionellen Verfassungen entstanden in einer Zeit, in der bereits modernere, herrschaftsbegründende Verfassungen bekannt waren: Das Konzept der Gewaltenteilung, das parlamentarische System und die Volkssouveränität waren nicht nur in der Theorie angedacht, sondern in den Verfassungen Frankreichs und Nordamerikas umgesetzt worden. In Deutschland entwickelte sich eine liberale, vom Bürgertum getragene Bewegung, deren Ziel der Ausbau des konstitutionellen Systems war. Die Stellung der Volksvertretung gegenüber dem Monarchen sollte gestärkt und einem parlamentarischen System angeglichen werden.8 Der Konservatismus dagegen wollte die Machtposition des Monarchen wahren. Die unterschiedlichen Vorstellungen über Interpretation und Entwicklung der frühkonstitutionellen Verfassungen prägten den deutschen Vormärz. In den drei Jahrzehnten vor der Revolution von 1848, deren Ziel die Volksherrschaft in Form einer Parlamentsherrschaft war9, gewannen verfassungspolitische Diskussionen eine besondere Brisanz. Allein als Diskussionsobjekt entwickeln die Verfassungen daher eine politische Sprengkraft, die sich nach der Revolution entschärfte. Die konstitutionellen Verfassungen verloren nach 1848 dieses wichtige Merkmal und die Epoche des Frühkonstitutionalismus endete.10

7 Vgl. die Zeittafel bei C. Schulze, Frühkonstitutionalismus in Deutschland, S. 48 f.; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 656 f. 8 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 6 ff. 9 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, S. 8. 10 So auch D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 286; H.-J. Böhme, Politische Rechte, S. 67.

Teil 1

Entstehungsvoraussetzungen 3. Kapitel

Der Einfluss des frühen deutschen Naturrechts der Neuzeit Die besonderen Wesensmerkmale und Voraussetzungen des deutschen Frühkonstitutionalismus haben sich auch auf die Grundrechte ausgewirkt. Der Übergang zum konstitutionellen Verfassungsstaat wurde durch das Naturrecht theoretisch vorbereitet. Dabei sollte nach den naturrechtlichen Vorstellungen der Zweck der Staatsgründung gerade im Freiheitsschutz des Einzelnen liegen. Allerdings wurde der Begriff der Freiheit in verschiedenen Zeiten mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt: Die ideengeschichtlichen Wurzeln der Grund- und Freiheitsrechte sind umfangreich und gehen zurück bis in die Antike.1 Von besonderer Bedeutung für die zu betrachtende Epoche des Frühkonstitutionalismus ist das frühe deutsche Naturrecht der Neuzeit, das immer wieder für die zögerliche Entwicklung der deutschen Grundrechte verantwortlich gemacht wird.2 Im Folgenden ist daher zu untersuchen, inwieweit die Freiheitsvorstellung des frühen deutschen Naturrechts eingeschränkt war und welchen tatsächlichen Einfluss eben dies auf die Grundrechtsentwicklung gehabt haben könnte. Ausgangspunkt des Naturrechts sind überpositive Gerechtigkeitskriterien, d. h. überzeitliche und allgültige Normen, an denen das positive Recht zu messen ist.3 Das neuzeitliche Naturrecht wird oft als „profanisiert“ oder „Vernunftrecht“ bezeichnet und wurde ab dem 17. Jahrhundert zum entscheidenden Faktor der Rechtsentwicklung. Es ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet: Zum 1 Vgl. K. Stern, Staatsrecht III/1, S. 56; ausführliche Darstellung bei G. Oestreich, Die Idee der Menschenrechte in ihrer geschichtlichen Entwicklung; ders., Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß; J. Punt, Die Idee der Menschenrechte. 2 So C. Schott, ZVglRWiss 75 (1976), S. 45 (47); U. Scheuner, in: FS Huber, S. 139 (144); ders., in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 376 (383); vgl. auch F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 277. 3 H. Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht, S. 1; H. Mitteis, Über das Naturrecht, S. 7; G. Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 3.

3. Kap.: Der Einfluss des frühen deutschen Naturrechts der Neuzeit

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einen wird von einer „Säkularisierung“ des Naturrechts gesprochen.4 Methodisch gelingt dieser Schritt durch eine Begrenzung des Naturrechts auf das diesseitige Leben.5 Dadurch unterscheidet sich die naturrechtliche Ethik grundsätzlich von der Religion und tritt daher unabhängig neben die Moraltheologie. Ein praktischer Grund für diese Entwicklung liegt in der Reformation. Nachdem das Naturrecht in konfessionellen Auseinandersetzungen, die sich zu blutigen Religionskriegen steigerten, oftmals für die eine oder andere Seite missbraucht worden war, bedurfte es einer friedenstiftenden Lösung. Diese konnte nur darin liegen, das Naturrecht als gemeinsame Grundlage aller Menschen unabhängig von der Konfession oder Religion zu verstehen.6 Letztlich wurde damit die Allgemeingültigkeit des Naturrechts begründet7, ohne die allgemeine Freiheitsrechte undenkbar wären. Zum anderen war es die methodische Vorgehensweise, die das neuzeitliche Naturrecht auszeichnete. Grundlegendes Prinzip war der Rationalismus. Nachdem in den Naturwissenschaften die analytischen und synthetischen Methoden Descartes und Galileis erfolgreich Einzug gehalten hatten, dehnten sie sich über naturwissenschaftliche Phänomene hinaus auch auf das menschliche Zusammenleben aus.8 Dazu gehörte es, den Staat in seine Teile zu zerlegen und seine innere Beschaffenheit zu ergründen. Erstmals wurde der Mensch aus der Gesellschaft herausgedacht und es stellte sich die Frage, was ihn zur Staatsgründung bewegte. Das führte dazu, dass das Wesen des Staates auf eine ganz andere Weise durchleuchtet wurde.9 Das Individuum wurde dabei zum Teil des Staates mit eigenen Rechten und Pflichten. Dadurch nahm das 4 Vgl. Th. Behme, Samuel von Pufendorf, S. 25; ausführlicher Nachweis bei H. Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht, S. 3, S. 266 ff.; N. Hammerstein, Samuel Pufendorf, in: Stolleis, Staatsdenker, S. 172 (176); H. Mitteis, Über das Naturrecht, S. 18; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, S. 273; D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 201; kritisch zum Begriff, inhaltlich aber übereinstimmend F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 266, Fn. 72; E. Wolf, Große Rechtsdenker, Christian Thomasius, S. 377. 5 Vgl. H. Welzel, Naturrecht und materielle Gerechtigkeit, S. 137; S. Pufendorf, De Officio, 1. Buch, Kap. 4, § 3, Kap. 3, § 13. 6 F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 266; H. Welzel, Naturrecht und materielle Gerechtigkeit, S. 110 f.; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, S. 273. 7 Vgl. nur S. Pufendorf, der in „De Officio“ im 1. Buch, Kap. 3, § 8 und 9 die Allgemeingültigkeit des Naturrechts voraussetzt. 8 H. Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht, S. 3; ders., Samuel Pufendorf, in: Maier/Rausch/Denzer, Klassiker des politischen Denkens, 2. Band, S. 27 (28); M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, S. 271 ff.; H. Welzel, Naturrecht und materielle Gerechtigkeit, S. 112; F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 254 ff.; E. Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, S. 341; kritisch H. Mitteis, Über das Naturrecht, S. 25, der annimmt, dass durch die ausnahmslos mathematische Methode luftleere Räume konstruiert werden und das Recht seine eigentliche Grundlage verliert. Gerade darin sieht er den Ansatz für die Kritik der historischen Rechtsschule am Naturrecht. 9 H. Welzel, Naturrecht und materielle Gerechtigkeit, S. 113.

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3. Kap.: Der Einfluss des frühen deutschen Naturrechts der Neuzeit

Naturrecht einen Blickwinkel ein, der revolutionäre, vom bisherigen Staatsverständnis des Gottesgnadentums abweichende Annahmen ermöglichte. Die Frage, die sich im Folgenden stellen wird, ist nun, inwieweit die deutschen Naturrechtler von dieser Möglichkeit Gebrauch machten. Es kommt darauf an, mit welcher Konsequenz sie tatsächlich das Individuum mit seinen Rechten als Ausgangspunkt nahmen und welche Bedeutung sie dessen Rechtsposition zumaßen. Dabei bestand die Gefahr, dass sie vor den neuen Schlüssen, die sich aus der rationalistischen Vorgehensweise ergaben, zurückschreckten. Denn wenn sie dem gesicherten Bestehen des Staates größere Bedeutung zumaßen, war es ebenso möglich, die rationalen Schlüsse dahin zu führen, dass sie stets den bestehenden Staat rechtfertigten und stützten. Und genau hier zeigt sich die Ambiguität des Naturrechts, das auf das positive Recht auf zwei Arten wirken kann: Entweder es steht im Einklang mit der positiven Rechtsordnung und stützt sie, oder es entwickelt sich konträr zu dieser.10 Dann beinhaltet es, die Gerechtigkeitsvorstellungen des positiven Rechts kritisierend, eine revolutionäre Kraft. Das Naturrecht ist also nur eine Methode, aus der sich inhaltlich unterschiedliche, sogar konträre Forderungen ableiten lassen.11 Es kann tragender Pfeiler des Staates sein oder aber die Axt, welche die Säulen, auf denen der Staat steht, zu zerschmettern versucht. Das Naturrecht kann stützen, aber auch stürzen. Im Vergleich zu den westlichen Lehren Rousseaus und Lockes war das frühe deutsche Naturrecht der Neuzeit zunächst eher staatsstützend, was sich auch auf das eingeschränkte Freiheitsverständnis im Frühkonstitutionalismus auswirkte.

I. Samuel von Pufendorf (1632–1694) Die Idee einer natürlichen Freiheit des Menschen wurde im deutschen Naturrecht erstmals von Samuel Pufendorf herausgearbeitet. 1. Naturrechtliche Lehren Ausgangspunkt Pufendorfs war der Mensch im so genannten Naturzustand, in den er vom Schöpfer gestellt worden war. Im sog. status naturalis war er noch frei von gesellschaftlichen Bindungen.12 Von zentraler Bedeutung ist, dass Pu10 Vgl. zur revolutionären Kraft des Naturrechts H. Mitteis, Über das Naturrecht, S. 40 ff.; F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 257 ff. 11 Vgl. F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 257 ff.; zur Vielseitigkeit des Naturrechts auch E. Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, S. 195; G. Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 5. 12 Vgl. ausführlich zum status naturalis: De Officio, 2. Buch, Kap. 1, insbes. § 3; De jure naturae et gentium (JNG), 2. Buch, Kap. 1, 2.

I. Samuel von Pufendorf (1632–1694)

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fendorf dem Menschen schon in dieser Situation eine unveräußerliche Würde zuerkannte, die sich allein aus der Natur des Menschen ergeben sollte.13 Der Grund für die menschliche Würde lag darin, dass der Mensch im Vergleich zu anderen Lebewesen die Gabe der Vernunft und des freien Willens besaß.14 Er konnte sich ein Urteil zwischen Gut und Böse bilden und zwischen beidem entscheiden. Dies führte dazu, dass er zur eigenverantwortlichen Ausrichtung seines Handelns am Gesetz fähig war. Das Befolgen des Gesetzes entsprach dem Willen Gottes und begründete eine Wesensverwandtschaft des Menschen zu diesem. Letztlich sah Pufendorf genau darin den Ursprung der menschlichen Würde verborgen.15 Aus der menschlichen Würde leiteten sich dann die natürliche Freiheit und Gleichheit des Menschen ab. Wegen der ihm angeborenen Vernunft konnte der Mensch sich nach seinem Willen frei entscheiden. Dazu hatte er aber nur im Naturzustand, wo er noch keiner Befehlsgewalt unterworfen war, die uneingeschränkte Möglichkeit. Im status naturalis bestand also eine natürliche Freiheit.16 Außerdem resultierte aus der gleichen Natur der Menschen, dass jeder den anderen in gleicher Weise ansehen und behandeln sollte.17 Trotz dieser Freiheit und Gleichheit war es für den Menschen nicht gut, im Naturzustand zu verharren, denn allein war er vollkommen hilflos. Wie kein anderes Lebewesen war der Mensch seit seiner Geburt von der Hilfe und Unterstützung seiner Artgenossen abhängig. Folglich musste er durch Gesellschaftsbildung den Zustand unerträglicher Hilflosigkeit (imbecillitas) überwinden.18 Hinzu kam, dass die Menschen sich gegenseitig erheblichen Schaden zuzufügen in der Lage waren. Deswegen war der Staat erforderlich, um einen Schutz gegen das Böse zu schaffen, das dem Menschen vom Menschen drohte.19 Denn aufgrund der Präventivfunktion der Strafe war es innerhalb eines Staates möglich, die Einhaltung der Gesetze sicherzustellen.20 Somit schaffte erst der Staat die Ordnung, in der sich der Mensch durch Befolgung der Gesetze vervollkommnen und somit seiner Würde gerecht werden konnte.21 13 Vgl. nur De Officio, 1. Buch, Kap. 7, § 1, wo Pufendorf schon in dem Wort „Mensch“ eine gewisse Würde ausgedrückt sieht. 14 JNG, 2. Buch, Kap. 1, § 3, § 5. 15 JNG, 2. Buch, Kap. 1, § 5; zum Menschen als göttliches Geschöpf auch De officio, 1. Buch, Kap. 3, § 11; vgl. H. Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht, S. 91; N. Hammerstein, Samuel Pufendorf, in: Stolleis, Staatsdenker, S. 177; Th. Behme, Samuel von Pufendorf, S. 39 ff.; C. Starck, in: GS Sasse, S. 777 (781). 16 De Officio, 2. Buch, Kap. 1, § 8. 17 De Officio, 1. Buch, Kap. 7, § 1 ff.; A. Randelzhofer, Die Pflichtenlehre bei Samuel von Pufendorf, S. 18. 18 Zur imbecillitas: De Officio, 1. Buch, Kap. 3, § 3; 2. Buch, Kap. 1, § 4, § 9; JNG, 2. Buch, Kap. 1, § 8. 19 JNG, 7. Buch, Kap. 1, insbesondere § 2; De Officio, 2. Buch, Kap. 5, § 7. 20 De Officio, 2. Buch, Kap. 5, § 8.

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3. Kap.: Der Einfluss des frühen deutschen Naturrechts der Neuzeit

Die Staatsgründung erfolgte durch den Übergang vom status naturalis in den status civilis und vollzog sich in drei Schritten: Im Gemeinschaftsvertrag schlossen sich die im Zustand natürlicher Freiheit lebenden Menschen für immer zusammen.22 Danach wurde ein vertraglicher Beschluss über die Regierungsform gefasst.23 Den Abschluss bildete der Unterwerfungsvertrag, durch welchen dem Herrscher die Leitung des Staates und die Pflicht zur Sorge für die gemeinsame Sicherheit und Wohlfahrt übertragen wurden. In diesem Unterwerfungsvertrag wurden die sog. leges fundamentales festgelegt, die den Herrscher banden.24 Der Herrscher wurde aber auch mit Rechten über die übrigen Gemeinschaftsmitglieder ausgestattet, die sich ihm unterwarfen.25 Indem die Menschen Staatsbürger wurden, büßten sie die natürliche Freiheit ein. Die Herrschaft, der sie sich unterwarfen, ging dabei so weit, dass sie das Recht auf Leben und Tod umfasste.26 In der von Pufendorf bevorzugten Monarchie entschied der König allein und sein Wille wurde mit dem Willen des Volkes gleichgesetzt.27 Wichtig ist jedoch, dass auch andere Herrschaftsformen vertraglich vereinbart werden konnten und somit Alternativen zur Monarchie denkbar wurden. 2. Wirkungsweise der Lehren Pufendorfs Die Wirkungen, die von den Lehren Pufendorfs ausgingen, sind gekennzeichnet durch ihre Heterogenität.28 a) Revolutionäre Menschenrechtsidee Zum einen sollen seine Ideen dazu gedient haben, die revolutionäre Menschenrechtsbewegung des 18. Jahrhunderts theoretisch zu untermauern.

21 De Officio, 1. Buch, Kap. 3, § 11; H. Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht, S. 91. 22 JNG, 7. Buch, Kap. 2, § 7; De Officio, 2. Buch, Kap. 6, § 7. 23 JNG, 7. Buch, Kap. 2, § 7; De Officio, 2. Buch, Kap. 6, § 8. 24 JNG, 7. Buch, Kap. 6, § 10; vgl. auch Th. Behme, Samuel von Pufendorf, S. 146 ff. 25 JNG, 7. Buch, Kap. 2, § 8; De Officio, 2. Buch, Kap. 6, § 9. 26 De Officio, 2. Buch, Kap. 5, § 4. 27 JNG, 7. Buch, Kap. 2, § 14. 28 So auch Th. Behme, Samuel von Pufendorf, S. 187; H. Denzer, Samuel Pufendorf, in: Maier/Rausch/Denzer, Klassiker des politischen Denkens, 2. Band, S. 27 (51).

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aa) Einfluss auf die nordamerikanischen Menschenrechtserklärungen Insbesondere auf die amerikanischen Menschenrechtserklärungen wird Pufendorf ein großer Einfluss zugebilligt.29 Dieser soll sich über den Ipswicher Pfarrer John Wise entfaltet haben. John Wise kämpfte zu Beginn des 18. Jahrhunderts für eine demokratische Kirchenverfassung. Dabei berief er sich auf naturrechtliche Argumente und übernahm Pufendorfs Lehre über die verschiedenen Regierungsformen, indem er sie für kirchliche Verhältnisse prüfte.30 Außerdem betonte er die Würde der menschlichen Natur sowie die Rechtsgleichheit der Menschen. Dabei sah er in Pufendorf seinen „chief guide and spokesman“31. Nach Ansicht Welzels wurden Pufendorfs Ideen in den Worten von Wise zur „Fanfare der Freiheit“32. Wenn das Naturrecht Pufendorfs zur Entstehung der nordamerikanischen Menschenrechtserklärungen beigetragen hat, müsste es im deutschen Frühkonstitutionalismus eine ähnliche Wirkung gehabt haben. Was in Nordamerika die Menschenrechtserklärungen bewirkt hat, konnte in Deutschland nicht anders wirken, als der Forderung nach revolutionären Grundrechten Nachdruck zu verleihen. Diese Sichtweise ist allerdings zu einseitig und die Wirkung Pufendorfs auf die nordamerikanischen Menschenrechtserklärungen darf nicht überschätzt werden. So wird sein Einfluss maßgeblich an der Einzelperson Wise festgemacht und konnte nur mittelbar erfolgen. Aber Wise selbst wirkte nicht an den viel später erfolgenden Menschenrechtserklärungen mit. Seine auf das Kirchenrecht beschränkten Schriften konnten allenfalls bewirkt haben, dass die darin enthaltenen demokratischen Ideen von Dritten weiterentwickelt wurden.33 Aber genau dieser demokratische Einfluss war nicht auf Pufendorf zurückzuführen. Dieser hatte zwar die Möglichkeit einer Demokratie herausgearbeitet34, er sprach sich aber ausdrücklich für die Monarchie aus.35 Zwar nannte Wise 29 Vgl. ausführlich H. Welzel, in: Schnur, Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. 238 ff.; ders., Naturrecht und materielle Gerechtigkeit, S. 131, S. 142; ders., Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, S. 3; K. Stern, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 1, Rdnr. 10; P. Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten, S. 279 ff.; H. Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht, S. 28; G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 47. 30 H. Welzel, in: Schnur, Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. 238 (243); J. Punt, Die Idee der Menschenrechte, S. 131; P. Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten, S. 296 f. 31 A Vindication of the Government of New-England churches, I. 2., abgedruckt in: Schnur, Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. 246. 32 So in: Schnur, ebd., S. 238 (244). 33 Den wohl eher nur mittelbaren Einfluss von Wise gesteht auch H. Welzel, in: Schnur, Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. 238 (244) ein; kritisch zum Einfluss Pufendorfs auf die amerikanische Menschenrechtserklärung auch F. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte, S. 79. 34 De Officio, 2. Buch, Kap. 8, § 3.

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Pufendorf den „Vater der Demokratie“, den Vorteil dieser Regierungsform hatte aber er allein herausgearbeitet.36 Der Einfluss Pufendorfs wird außerdem dadurch gemindert, dass sich die amerikanischen Universitäten eher der moralischen als der politischen Seite Pufendorfs widmeten.37 bb) Sittliche Bindung der Freiheit Es bleibt aber Pufendorfs Idee von der Menschenwürde38, die als Grundlage revolutionärer Menschenrechtsideen gesehen werden könnte. Schließlich leitete Pufendorf daraus die natürliche Freiheit und Rechtsgleichheit des Menschen ab. Hier ist aber zu beachten, dass Pufendorf dem Menschen die Würde nur deswegen zusprach, weil er in der Lage war, sich an freiheitseinschränkende Gesetze zu halten. Die Würde des Menschen verlangte also eine „sittlich gebundene Freiheit“39, was letztlich darauf hinauslief, dass der Mensch seine Würde nur deswegen hatte, weil er weniger frei war. Die Ursache der Würde lag damit im Freiheitsverzicht, denn die Befolgung der freiheitseinschränkenden Gesetze setzte den Übergang in den status civilis voraus. Angewandt auf den Frühkonstitutionalismus, bedeutet dieser Ansatz, dass der Einzelne erst unter der freiheitseinschränkenden Gesetzgebung des Monarchen seine Würde erhielt. cc) Fortbestand der natürlichen Freiheit im Staat und Überlagerung durch das Allgemeinwohl Entscheidend ist nun die Frage, was von der natürlichen Freiheit nach Eintritt in den Staat noch übrig blieb. Einerseits wird Pufendorf so gedeutet, dass es beim Übergang zum status civilis zu einer völligen Aufgabe der natürlichen Freiheit komme.40 Demnach bliebe den Menschen im Staat von ihrer natürlichen Freiheit nichts erhalten und sie würde funktionslos. Andrerseits wird der 35 De Officio, 2. Buch, Kap. 8, § 4; in § 8 kritisiert er sogar die Demokratie; vgl. auch N. Hammerstein, Samuel Pufendorf, in: Stolleis, Staatsdenker, S. 172 (183), der Pufendorf als Anhänger des Absolutismus sieht. 36 Vgl. die Auszüge aus A Vindication of the New Government of New-England churches, abgedruckt in: Schnur, Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. 245 ff., insbesondere S. 254 ff. 37 Vgl. A. Haddow, Political Science in American Colleges and Universities, S. 30. 38 JNG, 2. Buch, Kap. 1, § 3, § 5. 39 Vgl. H. Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht, S. 91; dass die Freiheit Pufendorfs sittlich gebunden ist, sieht auch H. Welzel, in: Schnur, Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. 238 (243). 40 So U. Scheuner, in: FS Huber, S. 139 (141); ders., in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 376 (379); selbst Pufendorf spricht in De Officio, 2. Buch, Kap. 5, § 4 von der Einbuße, nicht Einschränkung der natürlichen Freiheit.

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Fortbestand gewisser Rechte und Freiheiten im Staat betont, der sich daraus ergebe, dass das Volk als rechtlicher Vertragspartner fest bestehen bleibe und eine vertragliche Rechtsposition erhalte.41 Zwar unterwerfe es sich der Herrschaft, diese sei aber durch die leges fundamentales begrenzt. Daraus folge, dass die natürliche Freiheit insoweit geopfert werden müsse, wie sie dem „allgemeinen Wohl“ entgegenstehe, an dem sich die Herrschaft orientiere. Demnach behielt das Volk also die Rechte, deren Übertragung zur Errichtung des Staates nicht notwendig waren. Somit erfolgte eine indirekte Bindung des Herrschers an Recht und Gesetz, die als stillschweigend vereinbarte Vertragsklausel gesehen werden könne. Selbst nach der zweiten Ansicht ist fraglich, in welchem Ausmaß die natürlichen Rechte und Freiheiten innerhalb des Staates weiterexistieren konnten. Wenn die Herrschaft das Recht über Leben und Tod mitumfasste42, konnten alle Freiheiten und Rechte des getöteten Individuums komplett ausgelöscht werden. Insgesamt war Pufendorf darauf bedacht, eine starke Herrschaft zu konstruieren, die er mit weitgehenden, freiheitseinschränkenden Befugnissen ausstattete.43 Hinzu kam, dass sich die in den leges fundamentales begründeten Verpflichtungen des Herrschers letztlich in dem von ihm selbst zu bestimmenden „Gemeinwohl“ erschöpften.44 Hierbei handelte es sich um einen sehr dehnbaren Begriff. Durch geschickte, nicht näher kontrollierte Auslegung ließen sich fast alle Freiheitseinschränkungen als gemeinwohlorientiert rechtfertigen und der Umfang der im Staat verbleibenden Rechte war minimal. dd) Mangelnde Absicherung durch fehlendes Widerstandsrecht Außerdem war das mögliche Residuum natürlicher Rechte im Staat nicht wirksam geschützt. Zwar beging der Herrscher einen Vertragsbruch, wenn er ein solches Recht missachtete und dadurch die ihm auferlegte Pflicht verletzte, dieser blieb aber folgenlos. Ein Widerstandsrecht erkannte Pufendorf nur in Ausnahmefällen an, um innere Unruhen zu vermeiden. Hierfür war ein „abscheuliches Unrecht des Fürsten in feindlicher Gesinnung“ erforderlich. Selbst in einem solchen Fall sollte zunächst nur passiver Widerstand z. B. durch Auswanderung erlaubt sein. Am Ende hielt Pufendorf es sogar für besser, dass der in seinen Rechten verletzte Untertan starb, als dass der Fürst im Wege des Widerstands getötet wurde.45 Somit waren die individuellen Rechte, falls sie über41 Vgl. H. Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht, S. 166; Th. Behme, Samuel von Pufendorf, S. 152; Ch. Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, S. 105. 42 Vgl. De Officio, 2. Buch, Kap. 5, § 4. 43 Vgl. nur De Officio, 2. Buch, Kap. 9, insbes. § 2. 44 Vgl. dazu De Officio, 2. Buch, Kap. 11. 45 De Officio, 2. Buch, Kap. 9, § 4; zum eingeschränkten Widerstandsrecht vgl. auch Th. Behme, Samuel von Pufendorf, S. 152 ff.

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3. Kap.: Der Einfluss des frühen deutschen Naturrechts der Neuzeit

haupt im Staat verblieben, ungesichert. Während also der dehnbare Begriff des Allgemeinwohls die rechtliche Grenze der Herrschaft (leges fundamentales), durch welche bestimmte Rechte der Staatsbürger auch im Staat fortbestehen sollten, aufweichte, wurde sie durch die fehlenden Widerstandsmöglichkeiten faktisch aufgelöst. Dadurch war die Begrenzung der Herrschaftsmacht nur eine theoretische. Dem entspricht Pufendorfs Auffassung vom Staatsbürger als unpolitisches Wesen. Von einem Menschenrechtsverständnis, das auf politische Mitsprache abzielte und als revolutionär hätte gelten können, war er weit entfernt.46 Deswegen können allenfalls die Begrifflichkeiten Pufendorfs, d. h. die Menschenwürde sowie die natürliche Freiheit und Gleichheit, den revolutionären Kampf um die Freiheitsrechte beflügelt haben und zur „Fanfare der Freiheit“ geworden sein, nicht aber die Inhalte, mit denen Pufendorf diese Begriffe füllte. b) Gemäßigter Konstitutionalismus Pufendorfs Ideen werden aber auch als Vorbereitung des gemäßigten Konstitutionalismus gesehen. Das gilt insbesondere für seine Lehre von der Wechselseitigkeit der Rechte und Pflichten zwischen Herrscher und Untertan.47 Demnach unterwarf sich mit dem Vertrag der Untertan zwar der Herrschaft, gleichzeitig wurde aber auch der Herrscher an den Vertrag gebunden. Folglich könnte Pufendorf auch auf die verfassungsrechtliche Bindung des frühkonstitutionellen Monarchen, die durch die Staatsbürgerrechte erfolgte, Einfluss gehabt haben. aa) Umfang der Bindung der Herrschaftsgewalt Für die theoretische Vorbereitung des Konstitutionalismus durch Pufendorf spricht, dass in seiner Vorstellung der leges fundamentales eine vertragliche Bindung der Herrschaftsgewalt angelegt war, die dem Vertragscharakter einzelner frühkonstitutioneller Verfassungen ähnelt. Es muss jedoch beachtet werden, dass in seiner Lehre nie Staatsbürger- oder gar Grundrechte Inhalte der leges fundamentales waren. Die frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge können daher allenfalls eine inhaltlich veränderte Weiterentwicklung der Pufendorf ’schen leges fundamentales gewesen sein. Außerdem sah Pufendorf in den leges fundamentales immer nur eine Schranke des Herrschers, welche die uneingeschränkte 46 Zum gleichen Ergebnis kommen U. Scheuner, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 376 (379); F. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte, S. 48 ff.; Ch. Link, in: FS Geiger, S. 277 (279 ff.); K. Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland, S. 4; K. Stern, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 1, Rdnr. 10. 47 Th. Behme, Samuel von Pufendorf, S. 188; H. Denzer, Samuel Pufendorf, in: Maier/Rausch/Denzer, Klassiker des politischen Denkens, 2. Band, S. 27 (52).

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Souveränität des Monarchen nicht tangierte.48 Eine wirkliche Begrenzung oder gar Minderung der obrigkeitsstaatlichen Macht erfolgte also nicht. Dieser Widerspruch einer scheinbaren Schranke, die aber keine einschränkende Wirkung hatte, findet sich in der frühkonstitutionellen Idee des monarchischen Prinzips und der einseitig gewährten Verfassungen wieder.49 bb) Die wirklichkeitsfremde Idee vom Herrschaftsvertrag Es könnte jedoch die Vertragsidee Pufendorfs Einfluss auf die frühkonstitutionellen Verfassungen gehabt haben. Dabei ist zu beachten, dass sich der Gedanke der vertraglichen Herrschaftsbegründung nur in den frühkonstitutionellen Verfassungen niedergeschlagen haben konnte, die auf einer vertraglichen Vereinbarung beruhten. Dies war bei der Württembergischen Verfassung vom 25.09.1819 der Fall50, wobei allerdings nicht jeder einzelne Untertan, sondern nur die Stände ihre Zustimmung gegeben hatten. Die Mehrheit der frühkonstitutionellen Verfassungen war jedoch einseitig oktroyiert und konnte daher nicht auf der Vertragsidee beruhen. Außerdem zeigte auch die Konstruktion der vertraglichen Herrschaftsbegründung bei Pufendorf Schwächen. Denn eins war unabänderbar: Den Urzustand, den status naturalis, hatte es nie gegeben und die Vorstellung vom freien Vertragsschluss war eine Fiktion. Letztlich ging es eher darum, durch das Vertragsmodell eine säkularisierte Legitimationsgrundlage für die Herrschaft zu konstruieren. Die Ausstattung des Untertans mit Vertragsrechten war demgegenüber sekundär.51 Da jeder wusste, dass es den Vertragsschluss in Wirklichkeit nie gegeben hatte, sah die Wirklichkeit auch keine Möglichkeiten vor, die vertraglich vereinbarten Rechte einzufordern. Der Naturzustand war letztlich eine „Lehrfabel“.52 Die natürliche Freiheit gab es daher nur in einem fingierten vorstaatlichen Zustand und sie verkam zur reinen Gedankenfigur. Wie schwach die Position des vertragsschließenden Untertans selbst in dieser „Lehrfabel“ war, kann man schon daran erkennen, dass der Vertragsschluss nicht immer freiwillig war. Pufendorf hielt es für selbstverständlich, dass die Zustimmung auch mit

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Vgl. JNG, 7. Buch, Kap. 6, § 10. Vgl. dazu unten 7. Kapitel, V. 50 D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 279; H. Fenske, Der liberale Südwesten, S. 37 ff.; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 333; ausführlich J. Gerner, Vorgeschichte und Entstehung der Württembergischen Verfassung im Spiegel der Quellen. 51 Vgl. F. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte, S. 43 ff.; F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 268. 52 So F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 268; vgl. auch H. Denzer, Samuel Pufendorf, in: Maier/Rausch/Denzer, Klassiker des politischen Denkens, 2. Band, S. 27 (44). 49

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Waffengewalt erzwungen werden konnte53, was auf nichts anderes als eine gewaltsame Unterwerfung hinauslief. c) Aufgeklärter Absolutismus Es bleibt zu klären, ob nicht vielleicht sogar das Programm des aufgeklärten Absolutismus durch die Lehre Pufendorfs gefördert wurde.54 Absolutistische Züge wies die umfassende Souveränität auf, die der Monarch nach Pufendorf haben sollte. Außerdem war seine Staatszwecklehre in der Lage, umfassende Freiheitseinschränkungen zu rechtfertigen. Im Vergleich zu Hobbes, dessen Lehren unstreitig die theoretische Grundlage für den Absolutismus bilden55, besteht aber ein wesentlicher Unterschied: Pufendorf versah den Souverän trotz allem mit einer rechtlichen Bindung durch die leges fundamentales. Der Untertan wurde als Rechtspersönlichkeit anerkannt und theoretisch kamen ihm auch im Staat gewisse Rechtspositionen zu. Zumindest ein Anknüpfungspunkt für die Grundrechte war damit herausgearbeitet. Folglich kann man nicht von einem losgelösten Monarchen im absolutistischen Sinne ausgehen.56 Stattdessen schuf Pufendorf durch die leges fundamentales einen Anker für Freiheitsrechte innerhalb des Staates, der im Frühkonstitutionalismus genutzt werden konnte. d) Bedeutung für den Frühkonstitutionalismus Im Ergebnis bleibt damit festzuhalten, dass die Ideen Pufendorfs vielschichtig waren und auf die Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechte aus unterschiedlichen Richtungen gewirkt haben. Einerseits sind Pufendorf die Begrifflichkeiten der natürlichen Freiheit und Gleichheit zu verdanken, die er aus der menschlichen Würde ableitete. Die Idee des Herrschaftsvertrages, die die Untertanen mit Vertragsrechten ausstattete, konnte in den frühkonstitutionellen Verfassungen zum Anknüpfungspunkt für die Grundrechte werden. Zwar mochte die frühkonstitutionelle Staatsform nicht dem Idealbild Pufendorfs entsprechen, ihre Möglichkeit hatte er jedoch selbst herausgearbeitet und somit gezeigt, dass der Übergang zu einer konstitutionellen Bindung des Herrschers denkbar war. Allerdings befürwortete Pufendorf eine Staatsform, in der die individuelle Frei53

De Officio, 2. Buch, Kap. 10, § 2. Zu dieser Wirkung Pufendorfs Th. Behme, Samuel von Pufendorf, S. 187; H. Denzer, Samuel Pufendorf, in: Maier/Rausch/Denzer, Klassiker des politischen Denkens, 2. Band, S. 27 (52); N. Hammerstein sieht Pufendorf als Anhänger des Absolutismus, in: Stolleis, Staatsdenker, S. 172 (175). 55 Vgl. sein Werk Leviathan; zu Hobbes H. Welzel, Naturrecht und materielle Gerechtigkeit, S. 114 ff. 56 So auch G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 48. 54

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heit der Untertanen entweder sofort geopfert oder durch die uneingeschränkte Souveränität des Herrschers, dessen Begrenzung letztlich halbherzig war und nicht sichergestellt werden konnte, überlagert und ausgehöhlt wurde. Hier spielte nun die historische Bedingtheit Pufendorfs hinein, der nach den Wirren des dreißigjährigen Krieges ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis hatte.57 Die Rechtsposition des Untertanen, die er anerkannte, war aber geradezu darauf angelegt, in Zeiten innerer Sicherheit und Ordnung ausgebaut zu werden. Eine notwendige Vorbedingung dafür war die internationale Verbreitung seiner Lehren58 sowie die Weiterführung seiner Theorien durch seine Schüler.

II. Christian Thomasius (1655–1728) Christian Thomasius nutzte die Schriften Pufendorfs als Grundlage für sein eigenes Naturrecht. Sein Staatsverständnis war vor allem darauf angelegt, die Souveränität des Landesfürsten zu stärken. 1. Naturrechtliche Lehren Nach Thomasius sollte im Staat die alleinige Macht und uneingeschränkte Souveränität in den Händen eines einzigen Herrschers liegen. Denn nur so sei im Gegensatz zu gemischten Regierungsformen die Handlungsfähigkeit sichergestellt.59 Zwar gebe es natürliche Rechte und Freiheiten des Individuums, mit Eintritt in den Staat würden diese jedoch durch die vom Herrscher allein zu bestimmende Glückseligkeit ersetzt.60 a) Betonung der Individualrechte Bei der Glückseligkeit ist von entscheidender Bedeutung, dass sie nach Thomasius nicht allgemein, sondern unter Berücksichtigung der Interessen des Einzelnen bestimmt werden sollte. Da sich die Gemeinschaft aus Individuen zusammensetzte, konnte sie nicht glücklich sein, wenn es den Individuen nicht gut ging. Deren Wünsche mussten daher neben den gesamtgesellschaftlichen Vorteilen die Bestimmung des Gemeinwohls beeinflussen, indem die individuel57

G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 49. Th. Behme, Samuel von Pufendorf, S. 183; H. Denzer, Samuel Pufendorf, in: Maier/Rausch/Denzer, Klassiker des politischen Denkens, 2. Band, S. 27 (51). 59 Vgl. Göttliche Rechtsgelahrtheit, 3. Buch, Kap. 6, § 115; P. Schröder, Naturrecht und absolutistisches Staatsrecht, S. 149. 60 Vgl. Göttliche Rechtsgelahrtheit, 3. Buch, Kap. 6, § 23; K. Luig, Christian Thomasius, in: Stolleis, Staatsdenker, S. 227 (241); P. Schröder, Naturrecht und absolutistisches Staatsrecht, S. 142, 144. 58

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len und die gesellschaftlichen Interessen in einen Ausgleich gebracht wurden.61 Folglich konnte Thomasius vermeiden, dass die Individualrechte konturenlos im Gemeinwohl untergingen. Allerdings war eine Abwägung zwischen gesellschaftlichen und individuellen Interessen kaum nachvollzieh- und überprüfbar, solange Letztere keine Konkretisierung erfuhren. Die bloße Individualisierung des Gemeinwohls genügte daher nicht, um Eingriffe des Herrschers in eine individuelle Freiheitssphäre abzuwehren. b) Trennung zwischen Recht und Moral Letztlich war die einzige Grenze, die Thomasius dem Herrscher setzte, nämlich das Naturrecht selbst, ohne Bindungskraft. Thomasius stand vor dem Problem, seine Auffassung von der uneingeschränkten Souveränität des Herrschers mit dem naturrechtlichen Modell der säkularisierten Herrschaftsbegründung in Einklang bringen zu müssen. Einerseits bot sich die Berufung auf das Naturrecht geradezu an, um eine säkularisierte Herrschaft zu begründen. Andrerseits konnte aber schon die zwingende Verbindlichkeit der naturrechtlichen Vorgaben die Souveränität des Herrschers, die Thomasius unangetastet sehen wollte, zumindest berühren. Er löste diesen Widerspruch, indem er zwischen der Gattung des natürlichen, angeborenen Rechts und des durch Gesetz angenommenen, positiven Rechts differenzierte und ihnen jeweils einen unterschiedlichen Verpflichtungscharakter zuwies. Das Naturrecht wurde zur Frage der inneren Vernunft. Während das positive Recht bindend war und äußerliche Verpflichtungen begründete, galt das natürliche Recht nur als eine innere Gewissensverpflichtung, die lediglich selbstbindend war.62 Damit blieb es dem Herrscher selbst überlassen, ob und inwieweit seine Handlungsmöglichkeiten durch Vorgaben des Naturrechts beschränkt wurden. Seine Souveränität war faktisch unangetastet. Thomasius hüllte damit den Kern des Naturrechts aus und schwächte seine Bindungskraft.63 2. Die individuelle Freiheitssphäre und deren Bedeutung für den Frühkonstitutionalismus Durch den fehlenden Verpflichtungscharakter des Naturrechts relativierte sich auch der Einfluss, den die natürlichen, vorpositiven Rechte nach Thomasius auf den Frühkonstitutionalismus gehabt haben konnten. Was im Staat blieb, war die uneingeschränkte Souveränität des absolutistischen Herrschers, die auch Hobbes 61

Fundamenta iuris naturae et gentium, 1. Buch, Kap. 6, § 26. Göttliche Rechtsgelahrtheit, 1. Buch, Kap. 1, §§ 55 f.; vgl. auch P. Schröder, Naturrecht und absolutistisches Staatsrecht, S. 144. 63 F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 271. 62

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schon konstruiert hatte.64 Folglich waren auch individuelle Freiheitsrechte keine bindende Grenze für den Herrscher. Insgesamt deutet daher vieles daraufhin, dass sich die Lehren von Thomasius für die frühkonstitutionellen Grundrechte nicht als förderlich erwiesen und dass die Idee der vorpositiven Rechte und Freiheiten lediglich missbraucht wurde, um eine säkularisierte Legitimationsgrundlage für die Herrschaft zu konstruieren. Dem entspricht die These, dass Thomasius den absolutistischen Staat stützen wollte.65 Doch andrerseits wird Thomasius als Geist der Frühaufklärung bezeichnet, der die Begrenzung der Staatsgewalt entscheidend vorantrieb.66 Das ist insoweit richtig, als dass er eine Individualisierung des Gemeinwohls bewirkte, die zwingende Voraussetzung für individuelle Grundrechte war.67 Noch wichtiger ist, dass Thomasius erstmals eine Sphäre individueller Freiheit schuf, indem er den moralischen Bereich dem herrschaftlichen Eingriff entzog. Wenn es für den Herrscher einen Bereich nur moralisch verpflichtender Gewissensentscheidungen gab, musste das auch für seine Untertanen gelten. Durch die strikte Trennung von Recht und Moral wurde die innere Überzeugung, das Gewissen, emanzipiert und stand frei neben dem durch das positive Recht äußerlich Erzwingbarem.68 Folglich war auch das Individuum im moralischen Bereich frei. Deshalb durfte der Herrscher in religiösen Angelegenheiten sein „ius sacra“ nur insoweit ausüben, wie der äußere Friede es erforderte. Die innere Haltung des Bürgers war keinem Zwang unterworfen. Hier betrat Thomasius neues Terrain und insoweit ist die Bezeichnung als „Revolutionär“69 angemessen. Zwar wurden keine revolutionären Menschenrechtsideen formuliert, aber zumindest defensiv verbarg sich in der Moral die Gewissensfreiheit70 und es wurde ein erster individueller Freiraum gedanklich herausgearbeitet. Von diesem ging zwar keine politische Wirkung aus und die staatsstützende Funktion des Naturrechts blieb erhalten. Dafür konnte der von Thomasius entwickelte Freiraum aber im aufgeklärten Absolutismus die Gestalt einer einfachgesetzlich abgesicherten 64 P. Schröder, Naturrecht und absolutistisches Staatsrecht, S. 161; D. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte, S. 52. 65 So D. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte, S. 92; R. Hoke, in: FS Demelius, S. 111 (125); P. Schröder, Naturrecht und absolutistisches Staatsrecht, S. 131 ff.; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, S. 285. 66 E. Wolf, Große Rechtsdenker, Christian Thomasius, S. 374; H. Mitteis, Über das Naturrecht, S. 24; E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 66. 67 Vgl. H. Mitteis, Über das Naturrecht, S. 24; E. Wolf, Große Rechtsdenker, Christian Thomasius, S. 381. 68 E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 67. 69 So E. Wolf, Große Rechtsdenker, Christian Thomasius, S. 386. 70 E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 67; zum noch bestehenden Unterschied vom Individualgrundrecht Ch. Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, S. 289.

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Glaubensfreiheit gewinnen.71 Die Vorstellung einer Sphäre, die dem staatlichen Eingriff gänzlich entzogen sein sollte, war aber auch eine Grundvoraussetzung für die Abwehrfunktion der frühkonstitutionellen Grundrechte.72

III. Christian Wolff (1679–1754) Kurz darauf betrat der große Systematiker Christian Wolff die Bühne der europäischen Rechtsphilosophie. Aus seinen Lehren können gegenteilige Standpunkte abgeleitet werden und somit besteht auch über seine Bedeutung für die Grundrechtsentwicklung große Uneinigkeit. 1. Die ambivalenten Aussagen über und von Christan Wolff Einerseits wird Wolff als „frühester Verfechter des modernen freiheitlichen Rechtsstaats“ gesehen.73 In diese Richtung gehen auch Äußerungen von Wolff selbst, mit denen er sein Staatsideal der „freyen Republik“ beschreibt: Eine Interessenvertretung der verständigsten und tugendhaftesten Mitglieder eines Standes schränke die Freiheit im Vergleich zu allen anderen Staatsformen am wenigsten ein und sei daher für die gemeine Wohlfahrt am Besten.74 Die politische Brisanz dieser Aussage verstärkte Wolff durch seinen Satz „Ich bin also vergnügt, diesen Winck gegeben zu haben.“75 Letztlich handelte es sich bei diesem „Winck“ nämlich um nichts anderes als eine versteckte Absolutismuskritik. Dennoch würde es zu weit gehen, Wolffs Aussagen als ein Eintreten für ein System zu werten, dass unserer heutigen Demokratie entspricht.76 Er wollte zwar, dass die Verständigsten und Tugendhaftesten „im Nahmen aller“ beschlossen, das bedeutete aber nicht, dass sie auch von allen durch Wahlen demokratisch legitimiert sein sollten. „Der ganze Pöbel“ und der gemeine Mann hatten nämlich seiner Meinung nach nicht genügend Verstand, um politische Entscheidungen zu treffen.77 Damit erteilte Wolff dem revolutionären Gedanken der Volkssouveränität und somit politischen Mitwirkungsrechten, wie sie in einer Demokratie vorzufinden sind, eine deutliche Absage.

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Vgl. unten 6. Kapitel, II. 3. d). Vgl. dazu unten 9. Kapitel, II. 73 So M. Thomann in seinem als Herausgeber formulierten Vorwort zu Ch. Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, S. VI. 74 Vgl. Vernünftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen insonderheit der gemeinen Wesen (Deutsche Politik), § 252, § 262. 75 Vgl. Deutsche Politik, § 254. 76 So aber M. Thomann, ZNR 1985, S. 243. 77 Vgl. Deutsche Politik, § 253. 72

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Dennoch führten die freiheitlichen Lehren Wolffs dazu, dass er vorübergehend „bei Strafe des Stranges“ aus Halle verbannt wurde.78 Schon deswegen erscheint fraglich, ob Wolffs Lehren Stütze des Absolutismus waren, was ebenfalls vertreten wird.79 Doch auch diese Position lässt sich mit Aussagen von Wolff selbst untermauern: So übergab er seine „Grundsätze des Natur- und Völckerrechts“ dem damaligen Kronprinzen August Wilhelm von Preußen und brachte „in tiefster Unterthänigkeit“ seine Überzeugung zum Ausdruck, dass sein Werk dem absolutistischen Thronfolger „nicht missfallen werde“80. Es wird deutlich, dass Wolffs Lehren zunächst nicht zwingend in einem Widerspruch zum Absolutismus standen und dass es kein radikaler Umsturz war, auf den sie angelegt waren. 2. Bedeutung für den Frühkonstitutionalismus Um nun trotz der Gegensätzlichkeit dieser Ansichten die Bedeutung Wolffs für die Grundrechtsentwicklung im Frühkonstitutionalismus zu erarbeiten, ist zunächst die Frage nach dem Fortbestand der angeborenen Menschenrechte im Staat zu stellen. Danach ist die politische Dynamik Wolffs zu ermitteln, die hinter seiner Darstellung der verschiedenen Staatsformen stand und sich am Entwurf von Alternativen zum absolutistischen Staatsmodell entzündete, die sich durch einen verbesserten Freiheitsschutz auszeichneten. a) Rolle der natürlichen Freiheit im Staat Die natürliche Freiheit des Menschen hatte nach Wolff ihren Ursprung in der Natur, die dem Menschen vorschrieb, seine Vollkommenheit zu befördern. Hierbei handelte es sich um eine unveräußerliche, verbindliche Pflicht, von der der Mensch nicht befreit werden konnte.81 Gleichzeitig entstand genau aus dieser Pflicht das ebenfalls unveräußerliche Recht, zu tun, was zur Vollkommenheitsförderung erforderlich war. Dieses Recht war dem Menschen angeboren und machte seine Freiheit aus.82 Es stand prinzipiell jedem frei, auch Handlungen vorzunehmen, die in keinem Zusammenhang zur Erfüllung der natürlichen Verbindlichkeit standen. Allerdings war diese Freiheit schwach ausgeprägt und fand 78 Vgl. M. Thomann, ZNR 1985, S. 241; M. Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, S. 233 ff. 79 Vgl. E. Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 65 f.; G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 62 f.; Ch. Link, in: Schneiders, Christian Wolff, S. 171 (184); C. Schott, ZVglRWiss 75 (1976), S. 45 (49). 80 Vgl. den Abdruck des Briefes in den von M. Thomann herausgegebenen Grundsätzen des Natur- und Völckerrechts, S. 5 f. 81 Vgl. Grundsätze, §§ 36 ff., 42. 82 Vgl. Grundsätze, § 46.

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schon dort ihre Grenze, wo die natürliche Verbindlichkeit eine bestimmte Handlungsweise erforderte.83 Dadurch wurde das Recht, zu tun und zu lassen, was man wollte, durch die viel stärker formulierte erste Ausprägung der natürlichen Freiheit, nämlich das Recht und die gleichzeitige Pflicht, seine Vollkommenheit zu fördern, eingeschränkt und überlagert. aa) Determinierung der Freiheit durch natürliche Verbindlichkeit Und genau hier zeigt sich die Unfreiheit der Wolff ’schen Freiheitsrechte: Sie waren schon in ihrer Existenz abhängig von den natürlichen Pflichten des Menschen. Am Anfang stand die Verbindlichkeit, die gewisse Handlungsmöglichkeiten vorschrieb. Die Freiheit des Menschen bestand lediglich im Befolgen dieser Handlungsweisen, wobei der vorgegebene Weg nicht verlassen werden durfte. Die Freiheit war also durch die Pflicht determiniert.84 Die Verbindung zwischen Freiheit und Pflicht wirkte in den frühkonstitutionellen Verfassungen fort, in denen die Staatsbürgerrechte mit sog. Staatsbürgerpflichten in einen unmittelbaren Zusammenhang gesetzt wurden.85 bb) Erste Katalogisierung von Freiheitsrechten und Einfluss auf Nordamerika Auf der anderen Seite darf man aber nicht unberücksichtigt lassen, dass dem Systematiker Wolff erstmals eine ausführliche und nahtlos ineinandergreifende Darstellung der Freiheitsrechte gelang. Was bei Pufendorf an natürlichen Rechten ganz allgemein formuliert wurde und bei Thomasius eine Individualisierung erfuhr, konkretisierte Wolff in systematischen Zusammenstellungen. Er erarbeitete einen ersten Katalog der natürlichen Freiheiten im Staat, womit er den Gedanken einer unverstaatlichten Freiheitssphäre schärfer als seine Vorgänger im deutschen Naturrecht formulierte.86 Die prinzipielle Darlegung von Menschenrechten in katalogisierter und somit konkret greifbarer Form wurde in den nordamerikanischen Menschenrechtserklärungen erstmals mit tatsächlicher Geltungs83

Vgl. Grundsätze, § 45. Vgl. H.-M. Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs, S. 106; E. Cassirer, Freiheit und Form, S. 98; zur Pflichtenethik des deutschen Naturrechts allgemein U. Scheuner, in: FS Huber, S. 139 (144 ff.); ders., in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 376 (381). 85 Vgl. unten 7. Kapitel, V. 1. 86 Vgl. nur Grundsätze, § 95; zur Bewertung Ch. Link, in: Schneiders, Christian Wolff, S. 171 (183); O. v. Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, S. 347; E. Cassirer erweitert in Freiheit und Form, S. 493, diese Annahme sogar auf die westlichen Naturrechtler Locke und Rousseau. Dem ist insoweit zuzustimmen, als die Schärfe der präzisen Formulierung, nicht jedoch die politische Brisanz gemeint ist. 84

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kraft umgesetzt.87 Dabei ist es nicht einmal von entscheidender Bedeutung, inwieweit sich Einzelpersonen bei der Diskussion um die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte auf die Ideen Wolffs beriefen.88 Von seinem Einfluss zeugt schon seine Technik, das systematische Katalogisieren, die bei der verfassungsrechtlichen Verankerung der nordamerikanischen Grundrechte nur noch kopiert werden musste. cc) Absicherung der Freiheitssphäre durch Konkretisierung des Gemeinwohlbegriffs Die Präzision Wolffs ermöglichte es außerdem, der staatlichen Herrschaft die Freiheitsrechte als konkretisierte Schranke entgegenzuhalten. Zunächst ging Wolff davon aus, dass die sog. iura connata im Staat fortbestanden.89 Dadurch gelang es ihm, eine theoretische Grundlage für die konstruktive Durchführung der Freiheitsrechte im Staat selbst zu legen.90 Dieser Fortbestand an natürlichen Freiheitsrechten konnte von der Herrschaft nicht entzogen, wohl aber beschränkt werden, wenn es die Staatsabsicht erforderte. Nun lag es nahe, dass sich in Zeiten absolutistischer Willkür, in denen der Herrscher allein über die Staatsabsicht und das Gemeinwohl entschied, auch der Fortbestand an natürlichen Rechten im Staat verflüchtigte91 – eine Gefahr, die auch Christian Wolff erkannt hatte. Deshalb vermied er es, einen allumfassenden und vom Herrscher willkürlich auszufüllenden Begriff des Gemeinwohls in das Zentrum des Herrschaftsvertrages zu stellen. Stattdessen versuchte er, die gemeine Wohlfahrt mit konkreten Inhalten zu füllen.92 Dazu gehörten z. B. neben allgemeinen Bequem87 H.-M. Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs, S. 102; E. Cassirer, Freiheit und Form, S. 493. 88 Ähnlich wie bei John Wise und Pufendorf hatte Wolff eine starke Wirkung auf den Schweizer Naturrechtslehrer Vattel. An dessen Lehren wiederum sollen sich die Väter der amerikanischen Verfassung orientiert haben (vgl. H. Thieme, Das Naturrecht und die europäische Privatrechtsgeschichte, S. 31). Etwas weit hergeleitet erscheint stattdessen die Annahme, Wolff habe über Blackstone auf die Virginia Bill of Rights gewirkt. Zwar mag es sein, dass Blackstones „Commentaries on the Laws of England“ die amerikanischen Menschenrechtserklärungen gedanklich untermauerten. Inwieweit er sich dabei auf Wolff stützte, müsste näher untersucht werden. (Nach O. v. Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung naturrechtlicher Theorien, S. 347, ist der Beweis in H. Rehm, Allgemeine Staatslehre, S. 243 ff. erbracht. Dies erscheint fraglich, da Rehm einen mittelbaren Einfluss Wolffs über Blackstone nicht einmal anspricht. Kritisch auch F. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte, S. 79.) 89 Grundsätze, § 980. 90 So H. Rehm, Allgemeine Staatslehre, S. 242. 91 So E. Stipperger, Freiheit und Institution, S. 45; H. Planitz, Zur Ideengeschichte der Grundrechte, in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, S. 608; D. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte, S. 75 ff. 92 Jus Naturae (J. N.) VIII, §§ 13, 23 ff.; vgl. auch M. Stolleis, Staatsraison, Recht und Moral in philosophischen Texten des späten 18. Jahrhunderts, S. 53.

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lichkeiten93 die Sicherheit auf Geh- und Fahrwegen sowie Ärzte und Krankenhäuser.94 Durch diese Konkretisierung wurde letztlich eine Begrenzung der Herrschaftsgewalt vorgenommen, da sich der Herrscher nicht mehr bei allen Handlungen auf seine vertragliche Pflicht der Gemeinwohlförderung berufen konnte. Eine solche Schutzbehauptung wurde durch die Konkretisierung des Allgemeinwohls überprüfbar. Freiheitseingriffe, die nicht vom konkretisierten Allgemeinwohl gefordert waren, konnten daher erstmals als Vertragsverletzungen entlarvt werden. Somit konnte Wolff die fortbestehenden Freiheitsrechte gegenüber der Staatsgewalt abgrenzen.95 Für den Frühkonstitutionalismus bedeutete dies, dass die Grundrechte als angeborene iura connata verstanden werden konnten, die unter der frühkonstitutionellen Verfassung eingeschränkt fortbestanden. Vom Ansatz eines „subjektiven“ Rechts zu sprechen96, ginge jedoch zu weit: Die fortbestehenden Freiheitsrechte fungierten als objektive Grenze der Herrschaftsmacht und nicht als Anspruchsgrundlage des Individuums gegenüber dem Staat. Folglich hatten die Freiheitsrechte nach Wolff lediglich die Funktion, den Staat aus einer bestimmten Sphäre des privaten Bereichs objektiv auszugrenzen – eine Aufgabe, in der viele auch den Zweck der frühkonstitutionellen Grundrechte erschöpft sahen.97 b) Die politische Dynamik hinter der Darstellung der unterschiedlichen Staatsformen Die Freiheitsrechte in den Lehren Wolffs hatten aber zumindest einen mittelbaren politischen Bezug. Wie bereits einleitend erwähnt, ging er vom Ideal der freien Republik aus und übte damit eine versteckte Absolutismuskritik. Ausdrücklich sagte er, dass „die Freiheit nirgendwo weniger eingeschräncket“98 sei. Dies bedeutete allerdings nicht, dass die freie Republik zwingend die einzige Staatsform war, mit der seine Lehren in Einklang standen.

93

Deutsche Politik, § 210. Deutsche Politik, § 383. 95 M. Thomann, Christian Wolff, in: Stolleis, Staatsdenker, S. 257 (270); ders., ZNR 1985, S. 242; H.-M. Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs, S. 109, 138 ff.; E. Cassirer, Freiheit und Form, S. 498; G. Oestreich, Die Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 51 f. 96 So H.-M. Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs, S. 106. 97 Vgl. dazu ausführlich unten 9. Kapitel. 98 Deutsche Politik, § 262. 94

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aa) Akkommodation zum Absolutismus und zur Monarchie Stattdessen ging Wolff auch ausführlich auf die Möglichkeit anderer Staatsformen, unter anderem auch auf die Monarchie ein.99 Es war seiner Ansicht nach durchaus möglich, dass das Volk durch Herrschaftsvertrag einem Monarchen unwiderruflich und zeitlich unbegrenzt die völlige, uneingeschränkte Herrschaft übertrug.100 Dies galt auch, obwohl Wolff die Gefahr vom „Mißbrauch der Macht“, durch welchen „der gemeinen Wohlfahrt und Sicherheit Eintrag geschehe“101, durchaus erkannt hatte. Seine Lehre konnte sich daher mit dem omnipotenten absolutistischen Herrscher abfinden und war somit nicht staatsstürzend. Eine politische Energie war daher in den Ausführungen Wolffs auf den ersten Blick nicht enthalten.102 Seine „Freye Republik“ musste wie eine abstrakte Ideologie wirken, die gegenüber der Wirklichkeit des Absolutismus verblasste. In der Realität war es dem Volk gerade nicht möglich, einen neuen „Herrschaftsvertrag“ mit einer anderen Staatsform zu schließen. Zwar gab es vereinzelte Staatsgrundgesetze und Vereinbarungen mit den Ständen, diese wirkten jedoch nur partiell und nicht für alle Untertanen. Außerdem konnte sich der Herrscher nach Wolff, solange er sich die leges fundamentales selbst gesetzt hatte, ohne weiteres über diese selbstgesetzte Schranke auch wieder hinwegsetzen.103 Die einseitig oktroyierten Verfassungen des Frühkonstitutionalismus hätten demnach keine verbindliche Wirkung gehabt – eine Auffassung, die nicht einmal die restaurative Staatstheorie des deutschen Vormärz geteilt hätte, nach der die Verfassung dem Monarchen zumindest in der Ausübung der Staatsgewalt verbindliche Grenzen setzte.104 bb) Aufzeigen der Möglichkeit einer Konstitutionalisierung Wolff kannte aber auch die mit dem Volk vertraglich vereinbarten Grundgesetze, die den Monarchen zwingend banden.105 Diese Auffassung entsprach den liberalen Verfassungstheorien des Frühkonstitutionalismus. Dadurch wurde deutlich, dass die von Wolff herausgearbeiteten „möglichen“ Staatsformen zwar ohne umstürzende politische Energie waren, aber dennoch einen Wandel vorbereiteten. Wolff zeigte, dass das Volk mit dem Herrschaftsvertrag nicht zwingend 99

Vgl. Grundsätze, §§ 990 ff. Vgl. Grundsätze, §§ 984, 991, 1002. 101 Deutsche Politik, § 262. 102 Vgl. Ch. Link, in: Schneiders, Christian Wolff, S. 171 (186); H. Coing, in: Zur Geschichte des Privatrechtssystems, S. 61. 103 Vgl. J. N. VIII, § 80. 104 Vgl. dazu unten 7. Kapitel, V. 1. 105 Vgl. Grundsätze, § 1004. 100

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die gesamte Gewalt übertragen musste. Es konnte sich in der gemischten Regierungsform, zu der auch Wolffs Ideal der freyen Republik gehörte, unterschiedliche Teile vorbehalten und so die Macht des Herrschers oder des Herrschaftsgremiums beschränken. Dadurch konnte zum einen die Freiheitsrechte des Individuums eine Ausdehnung erfahren. Der besondere Schutz der bürgerlichen Freiheit des Volkes wurde dabei von Wolff selbst hervorgehoben.106 Zum anderen konnte das Volk im Vertrag nur einen Teil der politischen Macht übertragen und sich dadurch politische Mitspracherechte zurückbehalten. In der gemischten Regierungsform konnte eine Einschränkung der Herrschaftsgewalt erfolgen, die die Herrschaft an die Befolgung bestimmter Gesetze oder an die Zustimmung des Volkes oder eines Vertretungsgremiums band.107 So entstanden politische Rechte, die zwar keine naturrechtliche, aber durch den Vertragsschluss eine verfassungsrechtliche Absicherung erfuhren. Es ist jedoch zu beachten, dass demokratische Mitwirkungsrechte von Wolff abgelehnt wurden.108 Dennoch lag die Souveränität nicht mehr beim Herrscher allein, stattdessen konnte das Volk aufgrund der Rechte aus dem Grundvertrag einen Anspruch auf Teilhabe an dieser erheben. Folglich löste sich Wolffs Naturrecht aus der geltenden Staatsform des Absolutismus und entwarf ein Alternativmodell zu diesem. Die Möglichkeit einer Weiterentwicklung des aufgeklärten Absolutismus zur konstitutionellen Monarchie war im Naturrecht dargelegt.109 cc) Vorteil politischer Mitwirkungsrechte für die individuelle Freiheit Zwar legte Wolff die Möglichkeit verschiedener Staatsformen dar, dabei ging er jedoch äußerst neutral vor und enthielt sich ausdrücklicher Stellungnahmen. Seine Systematik zeigte aber, dass das Ausmaß der Freiheit immer vom politischen System abhing und dass hier ein entscheidender Vorteil politischer Mitwirkungsrechte verborgen lag. Deutlich wird dies vor allem an der Ausgestaltung des Rechts zum Widerstand gegen die Staatsgewalt, die ihre Rechte missbrauchte. Wenn der Herrscher sich grob über seine vertraglichen Pflichten hinweggesetzt hatte, sollte das Individuum nicht mehr zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet sein und passive bzw. aktive Widerstandshandlungen waren gerechtfertigt.

106 107 108 109

Deutsche Politik, § 254; J. N. VIII, § 149. J. N. VIII, § 74. Deutsche Politik, § 253. Vgl. Ch. Link, in: Schneiders, Christian Wolff, S. 171 (177).

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(1) Widerstand gegen den absoluten Herrscher Gegen den absoluten Herrscher kannte Wolff nur ein schwaches Widerstandsrecht: Im Wesentlichen erschöpfte es sich darin, naturrechtswidrige Befehle nicht befolgen zu müssen.110 Der Nutzen dieses Widerstandsrechts im absolutistischen Staat war gering. Zunächst bestand große Unsicherheit darüber, wann ein Naturrechtsverstoß vorlag. Zwar hatte Wolff durch sein systematisches und konkretes Naturrecht die Möglichkeit geschaffen, die Herrschaftshandlungen bis ins Detail zu überprüfen, das bedeutete aber noch nicht, dass der einzelne Untertan auch die Fähigkeit dazu besaß. Problematischer waren zudem die Konsequenzen, die eine Gehorsamsverweigerung in der Realität des absolutistischen Staates haben konnte. Die daran angeknüpften Strafen waren zwar ebenfalls naturrechtswidrig, mussten jedoch geduldig ertragen werden. Ein Recht zum aktiven Widerstand bestand nicht.111 Es durfte ausnahmsweise nur dann aktiv gegen den Herrscher vorgegangen werden, wenn dieser das ganze Volk verderben wollte.112 Zwar mochte dadurch ein kollektives Recht zum Widerstand begründet sein, dessen Voraussetzungen waren jedoch schwer vorstellbar und der Rechtsschutz des Individuums gegen alltägliche, individuelle naturrechtswidrige Beeinträchtigungen wurde nicht erweitert. Außerdem gab es ein Widerstandsrecht, wenn der Herrscher gegen die in den Grundgesetzen festgelegte Verfassungsordnung verstieß.113 Im Absolutismus, wo eine solche Beschränkung der Herrschaftsgewalt aber gerade nicht bestand, war diese Regelung irrelevant. Letztlich waren die Untertanen also mit keinem wirksamen Widerstandsrecht ausgestattet, durch welches die im Staat fortbestehenden iura connata geschützt werden konnten. (2) Widerstand in der gemischten Republik Sobald jedoch im Herrschaftsvertrag eine grundgesetzliche Herrschaftsbindung vorgenommen wurde, gewann das Widerstandsrecht an Relevanz. Die dogmatische Begründung lag darin, dass die Gewalt ursprünglich beim Volk war und dieses dem Herrscher die Gewalt nur vorbehaltlich seines eigenen Widerstandsrechts übertragen hatte.114 Verletzte der Herrscher nun den Grundvertrag, konnte das Volk von seinem vorbehaltenen Widerstandsrecht Gebrauch machen und sich gegen die konkrete Handlung des Herrschers zur Wehr setzen. 110

Deutsche Politik, § 434; Grundsätze, § 1079. Vgl. dazu D. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte, S. 54; zur Schwäche des Rechtsschutzes ebenfalls H. Planitz, Juristische Blätter 70 (1948), S. 112. 112 J. N. VIII, § 1060. 113 Grundsätze, § 1079 am Ende. 114 Vgl. dazu H.-M. Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs, S. 190. 111

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3. Kap.: Der Einfluss des frühen deutschen Naturrechts der Neuzeit

In gemischten Regierungsformen bestand daher das Recht, grundgesetzwidrige Befehle zu verweigern und bei Verletzung eines grundgesetzlich abgesicherten Rechts auch aktiven Widerstand zu leisten.115 Darin lag eine wichtige Veränderung gegenüber dem Absolutismus, die in der gemischten Republik einen besseren Freiheitsschutz ermöglichte. Auch bei einer Verletzung des Staatszwecks, der in der gemischten Republik nicht vom Herrscher allein zu bestimmen war, durfte das Volk aktiven Widerstand üben.116 Die Intention Wolffs war es, die Beschränkung der obrigkeitsstaatlichen Gewalt zu effektuieren und Verletzungen des Grundvertrages wirksam entgegenzuwirken. Gleichzeitig schuf er damit die Möglichkeit, Freiheitsverletzungen durch den Herrscher zu sanktionieren und die iura connata zu schützen. (3) Konsequenz aus dem Vergleich beider Staatsformen und die daraus resultierende politische Bedeutung Wolffs Mit dem aktiven Widerstandsrecht in der gemischten Republik ging Wolff weiter als seine Vorgänger117 und sein Naturrecht entwickelte eine politische Dynamik. Er entlarvte den Zusammenhang zwischen Freiheitsrechten und deren verfassungsrechtlicher Absicherung durch politische Mitspracherechte. Sein Naturrecht war gegenüber politischen Freiheiten zunächst neutral und erzwang diese nicht, denn nach seiner Vorstellung war die Einhaltung der Naturgesetze in allen aufgezeigten Staatsformen, also auch in einer uneingeschränkten Monarchie, zumindest möglich. Er zeigte aber auch, dass die praktische Absicherung der natürlichen Freiheit je nach Staatsform variierte und dass darin eindeutig ein Vorteil der gemischten Republik lag. Politische Rechte waren daher zwar nicht Bestandteil der natürlichen Freiheit, aber als deren Sicherungsmittel nicht minder erstrebenswert. Die Lehren Wolffs können daher nicht mehr nur als staatsstützend bezeichnet werden. Denn mit ihm begann sich ein Konzept naturrechtlicher Vorstellungen zu entwickeln, dass auch außerhalb der bestehenden staatlichen Ordnung möglich war und versteckte Kritik beinhaltete. Wolff war dabei so zaghaft, dass ihm keine staatsstürzende Wirkung zukam. Die von ihm aufgezeigten Zusammenhänge konnten jedoch für die Begründung einer langsam einsetzenden Konstitutionalisierung genutzt werden. Und hier gibt Wolff nun für die Zukunft vor, dass es nicht nur die natürliche Pflicht des Monarchen war, die natürlichen Rechte der Untertanen zu beachten, sondern dass es auch eine vertragliche Pflicht sein konnte, die das Volk einzufordern berechtigt war.118

115

Grundsätze, § 1079 am Ende; J. N. VIII, §§ 1046, 1047. J. N. VIII, § 1054. 117 So auch H.-M. Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs, S. 190, 194. 116

IV. Zusammenfassung

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Vor diesem Hintergrund erklärt sich die scheinbare Gegensätzlichkeit Christian Wolffs, die zu so unterschiedlichen Bewertungen seiner Lehren für die Grundrechtsentwicklung führte: Einerseits waren seine naturrechtlichen Vorgaben durchaus mit dem seinerzeit bestehenden System des Absolutismus vereinbar. Andrerseits zeigte er nicht nur die Möglichkeit anderer Staatsformen auf, in denen die Herrschaft beschränkt wurde und das Volk Mitwirkungsrechte besaß, sondern arbeitete in großer Präzision deren Vorteile für die natürlichen Freiheiten heraus. Deshalb überzeugt die Auffassung nicht, nach der sich im Vergleich zu den westlichen Lehren im deutschen Naturrecht der Gedanke politischer Freiheiten nicht entwickelt haben soll.119 Der Unterschied liegt darin, dass im frühen, neuzeitlichen Naturrecht Deutschlands die politischen Rechte nicht als natürliche erkannt wurden und daher nicht zwingend waren, sondern lediglich der Absicherung des Naturrechts dienen konnten. Folglich konnte sich auch keine revolutionäre Energie entwickeln, die auf eine Einforderung dieser Rechte abzielte. Auch waren die politischen Rechte zunächst nur für einen exklusiven Kreis vorgesehen und sollten keineswegs dem gesamten Volk zustehen. Dennoch zeigte Wolff einen wichtigen Vorteil politischer Mitwirkungsrechte und brachte damit eine Diskussion ins Rollen, die auf einen langsamen Wandel ausgerichtet war.120 Das Naturrecht war nicht mehr staatsstützend, sondern drängte auf Veränderungen. Der Übergang zum Konstitutionalismus, in dem sich erste Mitwirkungsrechte der gemischten Regierungsform realisierten, war damit vorbereitet.

IV. Zusammenfassung: Bedeutung des deutschen Naturrechts für die Grundrechtsentwicklung im Frühkonstitutionalismus Um die Bedeutung des deutschen Naturrechts für die frühkonstitutionelle Grundrechtsentwicklung bewerten zu können, ist auf die anfangs gestellte Frage nach der staatsstürzenden bzw. staatsstützenden Wirkungsweise einzugehen, 118 Dies verkennt E. Stipperger, Freiheit und Institution, S. 157, der davon ausgeht, dass Wolff „beim Widerstandsrecht lediglich geschichtliche Fakten a posteriori rationalisiert, dies allerdings ohne Rücksicht auf den historischen Kontext.“ 119 So C. Schott, ZVglRWiss 75 (1976), S. 45 (47); U. Scheuner, in: FS Huber, S. 139 (144); ders., in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 376 (383); vgl. auch F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 277, der dem deutschen Naturrecht im Vergleich zu den westlichen Lehren den politischen Freiheitsethos abspricht. Dies ist zwar richtig, bedeutet aber nicht, dass ein Naturrecht, das nicht auf eine Revolution ausgerichtet ist, keine politische Bedeutung hat. 120 Diese Diskussion fand u. a. in den Geheimbünden der „Aletophilen“, der „Illuminaten“ und der „Philantropen“ statt, die von der Philosophie Wolffs inspiriert waren und staatsrechtliche Reformen anstrebten, vgl. dazu ausführlich M. Thomann, Christian Wolff, in: Stolleis, Staatsdenker, S. 257 (272 ff.).

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3. Kap.: Der Einfluss des frühen deutschen Naturrechts der Neuzeit

wobei es den Entwicklungsprozess des Naturrechts, das keineswegs statisch verstanden werden darf, zu berücksichtigen gilt. 1. Im frühen deutschen Naturrecht der Neuzeit war die Vorstellung von Freiheitsrechten im Staat, die gegenüber Eingriffen des Herrschers praktisch abgesichert waren, schwach ausgeprägt und keineswegs zwingend. Die Vorgaben des deutschen Naturrechts waren mit dem absolutistischen Staatsverständnis durchaus vereinbar. Die natürlichen Freiheiten wurden mit Eintritt in den Staat entweder ganz geopfert oder, sofern sie fortbestanden, durch die Gemeinwohlklausel überlagert. Außerdem war jegliche Freiheit durch die Pflichtenethik determiniert und aufgrund des schwachen Widerstandsrechts nicht abgesichert. Eine praktisch durchsetzbare Beschränkung der Souveränität des Herrschers forderte das deutsche Naturrecht also nicht und die vertragliche Verpflichtung des Herrschers war fingiert, wodurch die Rechtspositionen der Untertanen noch schwächer wurden. Das frühe deutsche Naturrecht fand sich auch mit dem Modell der einseitigen Verfassung, über die sich der Herrscher hinwegsetzen konnte, durchaus ab. 2. Im Naturrecht bildete sich langsam eine vom Staat abzuschirmende, unpolitische Freiheitssphäre heraus. Betrachtet man die freiheitlichen Errungenschaften der Naturrechtler in ihrer Gesamtheit, so entsteht eine vom Staat abzuschirmende Freiheitssphäre, an die im Frühkonstitutionalismus angeknüpft werden konnte. Die von Pufendorf herausgearbeitete Menschenwürde erfuhr bei Thomasius eine Umsetzung in individuelle Rechte und der Gedanke einer individuellen, inneren Freiheitssphäre entstand. Wolff war dann derjenige, der den Fortbestand der individuellen Freiheitsrechte im Staat stärker betonte und durch die systematische Katalogisierung der Menschenrechte und die Präzisierung des Gemeinwohls die Schranke der Herrschaftsgewalt konkretisierte und somit undurchlässiger machte. Dabei gab es immer wieder gemeinwohlorientierte Einbrüche in diese Freiheitssphäre, in ihrer theoretischen Konzeption kann sie jedoch als geschlossen betrachtet werden. Als die frühkonstitutionellen Verfassungen entstanden, war deshalb eine private Sphäre des Individuums, welche die Grundrechte gegen staatliche Eingriffe abschirmten und die in sich geschlossen war, durchaus bekannt. 3. Das Naturrecht war auf einen langsamen Wandel der Regierungsform, nicht aber auf eine Revolution angelegt und bereitete den Übergang zum Frühkonstitutionalismus vor. Insgesamt mochte sich das Naturrecht zwar in Akkommodation zur bestehenden Ordnung entwickelt haben, durch die rationalisierte Durchleuchtung des Staates wurden aber auch andere Regierungsformen denkbar. Während zunächst aus einem erhöhten Sicherheitsbedürfnis heraus eine starke Souveränität bevor-

IV. Zusammenfassung

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zugt wurde, war bei einem Wandel der politischen Umstände eine andere Regierungsform vernünftiger und eine Anpassung wurde erforderlich. Deshalb darf das frühe deutsche Naturrecht keineswegs statisch verstanden werden, stattdessen war es auf einen Wandel angelegt. 4. Politische Rechte ließen sich aus dem deutschen Naturrecht durchaus ableiten, allerdings galten sie als Sicherungsmittel der natürlichen Freiheit und waren nicht Ausdruck eben dieser. Die Forderung nach weitergehenden politischen Mitspracherechten ergab sich zumindest mittelbar aus der Philosophie Wolffs: Zwar begriff er diese nicht als Ausdruck oder Bestandteil der individuellen Freiheit, er entlarvte aber ihren Vorteil zur Absicherung der Freiheitsrechte. Für den Frühkonstitutionalismus ergaben sich daraus zwei Forderungen: Zunächst musste die Idee der einseitigen Gewährung der Grundrechte abgelehnt und durch die vertragliche Bindung des Herrschers an die Verfassung ersetzt werden.121 Zweitens mussten die Mitwirkungsrechte des Volkes über die Vertretungsorgane ausgedehnt werden. Und genau diese Forderungen sind es, die dann auch – die Vorarbeiten Wolffs nutzend – vom späteren liberalen Staats- und Naturrecht formuliert wurden122 und die politische Stimmung im Frühkonstitutionalismus kennzeichneten. Das deutsche Naturrecht war somit nicht revolutionär, aber staatswandelnd. Insgesamt bleibt somit festzuhalten, dass die Feststellung, das deutsche Naturrecht habe sich in Akkommodation zur bestehenden Ordnung entwickelt, durchaus richtig ist. Gleichzeitig zeichnete aber bereits das eben dargestellte Naturrecht den Weg für freiheitsschaffende Veränderungen vor: Vom Absolutismus zur erst schwach ausgeprägten, sich dann verstärkenden konstitutionellen Bindung des Herrschers. Bei der Umsetzung dieser Veränderungen zeigt sich nun, dass die Vereinbarkeit mit der bestehenden Ordnung nicht nur Nachteile hatte: Es war keine Revolution erforderlich, bevor Veränderungen umgesetzt werden konnten. Stattdessen konnten die Veränderungen von oben im Wege staatlicher Reformen vollzogen werden.123 Dies führte dazu, dass der Einfluss auf die Realität oftmals viel stärker war.124

121 Diese Forderung ergibt sich aus dem Vorteil der stärkeren Absicherung der natürlichen Freiheiten durch ein aktives Widerstandsrecht, vgl. oben 3. Kapitel, III. 2. b) cc). 122 Vgl. unten 6. Kapitel, I. 2., 8. Kapitel, V. 4. c), VI. 3. b), 9. Kapitel, V. 3. 123 Vgl. dazu G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 51, der die Entwicklung fundamentaler Bürgerrechte trotz Anerkennung der absoluten Gewalt für möglich hält. Für politische Grundrechte gilt diese Annahme aber nicht. 124 Trotz aller Kritik am deutschen Naturrecht wird der große Einfluss auf die rechtsstaatliche Praxis weitgehend anerkannt, vgl. C. Schott, ZVglRWiss 75 (1976), S. 45 (49); K. Stern, Staatsrecht III/1, S. 101; F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der

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3. Kap.: Der Einfluss des frühen deutschen Naturrechts der Neuzeit

Gegenüber den westlichen Lehren Lockes und Rousseaus hatte das staatswandelnde Naturrecht den Nachteil, dass die Grundrechte und -freiheiten in Umfang und Absicherung begrenzt waren. Der entscheidende Vorteil aber war, dass die Veränderungen unmittelbar umgesetzt werden konnten und dass in der Praxis tatsächliche Freiräume entstanden. Zwar wären die theoretischen Freiräume bei einem staatsstürzenden Naturrecht weiter gewesen, ihre praktische Umsetzung wäre aber von einer erfolgreichen Revolution, der Konstituierung einer neuen Ordnung und von der einfachgesetzlichen Umsetzung abhängig gewesen. Diese drei Bedingungen lassen es mehr als fraglich erscheinen, ob ein staatsstürzendes, revolutionäres Naturrecht in Deutschland dem einzelnen Individuum in der Praxis wirklich mehr Freiheiten geschaffen hätte.

Neuzeit, S. 271; zum Einfluss des Naturrechts auf die Freiheitsrechte im Preußischen Allgemeinen Landrecht vgl. unten 6. Kapitel, II.

4. Kapitel

Die Virginia Bill of Rights als erste positivierte Menschenrechtserklärung Die Untersuchung des Naturrechts hat gezeigt, dass die Entwicklung von Grundrechten stets von den speziellen Voraussetzungen innerhalb eines Landes abhängt. Aber gerade deshalb genügt eine auf Deutschland beschränkte Untersuchung der Entstehungsbedingungen für die Grundrechte nicht. Vielmehr müssen die Menschenrechtserklärungen anderer Nationen ins Blickfeld genommen werden. Nur so wird deutlich, inwieweit Voraussetzungen, die in Deutschland gerade nicht gegeben waren, die Entwicklung der Grundrechte gefördert haben – eine Erkenntnis, die gleichzeitig Auskunft über die besonderen Entstehungsschwierigkeiten in Deutschland gibt. Außerdem ist zu prüfen, welchen Impuls die internationalen Vorbilder der deutschen Grundrechtsentwicklung gaben. Am 12. Juni 1776 wurde die „Virginia Bill of Rights“ verabschiedet, die erste katalogisierte Aufstellung von Menschenrechten. Sie war die feierliche Einleitung der Verfassung Virginias und wurde als „Grundlage und Fundament“ der öffentlichen Herrschaft verstanden.1 Kurze Zeit später wurden in fast allen anderen Einzelstaaten Nordamerikas ebenfalls Verfassungen mit Menschenrechtserklärungen formuliert. Die Unionsverfassung von 1787 wurde erst durch nachträgliche Zusatzartikel im Jahre 1791 um eine Menschenrechtserklärung erweitert.2 Die besondere Bedeutung der Virginia Bill of Rights liegt darin, dass erstmals überhaupt ein Menschenrechtskatalog in die verbindliche Form des positiven Rechts gegossen wurde. Dass dieser wichtige Schritt in der Geschichte der Grundrechte in Nordamerika erfolgte, war keineswegs zufällig.

1 Vgl. Abdruck und Übersetzung der Erklärung bei G. Franz (Hrsg.), Staatsverfassungen, S. 6; ein Abdruck befindet sich auch bei Hartung/Commichau/Murphy (Hrsg.), Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 70. 2 Vgl. die Verfassung und die Zusatzartikel 1–10, G. Franz (Hrsg.), Staatsverfassungen, S. 11 (37 ff.).

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4. Kap.: Virginia Bill of Rights als erste Menschenrechtserklärung

I. Entstehungsvoraussetzungen Die Entstehungsvoraussetzungen der Grundrechte waren in Nordamerika so günstig wie wohl in keinem anderen Land der westlichen Rechtskultur. 1. Tradition der englischen Freiheitsverbürgungen Zunächst ist aus rechtshistorisch-formengeschichtlicher Sicht der Einfluss der englischen Rechtstradition zu sehen.3 In England wurden dem Monarchen schon früh Rechtspositionen der Untertanen als Grenze seiner Herrschaftsmacht entgegengehalten. Zunächst handelte es sich um ständische Rechte. Anders als auf dem Kontinent war es in England aber bereits zu einer Vermischung der Stände gekommen. Die Konsequenz daraus war, dass an die Stelle ständischer Sonderrechte die „Rechte der Engländer“ traten4, die über die Jahre hinweg nicht ohne nationalen Stolz und nationales Pathos proklamiert wurden. Ihre Grundlage hatten diese Rechte einerseits im Common Law, aber vor allem in spezifischen Gesetzestexten: Von grundlegender Bedeutung ist die Magna Charta von 1215. Im Vorfeld der Virginia Bill of Rights sind die Petition of Rights von 1628, die Habeas Corpus Akte von 1679 und die Bill of Rights von 1689 zu nennen.5 Gerade letzteres Dokument weist bezüglich des Namens und des Inhalts eine Ähnlichkeit zu der Virginia Bill of Rights auf, denn die dort niedergelegten Rechte des freien Engländers wurden als klare Schranke der Staatsgewalt verstanden.6 Als nun die ersten Engländer nordamerikanische Kolonien gründeten, wollten sie sich auch dort auf ihre Rechte berufen können und zunächst waren es allein die englischen Verfassungsdokumente, in denen sie ihre Freiheit begründet sahen. So wundert es nicht, dass ein Engländer, nämlich Blackstone, zur wichtigen juristischen Autorität der Amerikaner wurde. Da sich in den Kolonien eine eigene Rechtsliteratur zunächst noch nicht entwickelt hatte, fanden Blackstones „Commentaries on the Laws of England“ hohen Absatz.7 In diesem Werk er3

Vgl. H. Hofmann, JuS 1988, S. 841 (844). G. Stourzh, JZ 1976, S. 397; zur Einebnung der Stände O. Hintze, in: Staat und Verfassung, S. 120 (127); D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 33. 5 G. Stourzh, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 59 (71 ff.); K. Stern, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 1, Rdnr. 11; vgl. auch G. Franz, Einführung zu Großbritannien, in: Staatsverfassungen, S. 495 ff.; hier sind die Dokumente auch nacheinander übersetzt und abgedruckt, vgl. S. 498 ff.; ebenso bei Willoweit/Seif (Hrsg.), Europäische Verfassungsgeschichte, S. 3 ff. (Magna Charta), S. 40 ff. (Petition of Rights), S. 215 ff. (HabeasCorpus-Akte), S. 235 ff. (Bill of Rights); vgl. auch J. Ipsen, Staatsrecht II, Rdnr. 3 ff. 6 E. Hellmuth, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 117 (120); J. Ipsen, Staatsrecht II, Rdnr. 10. 7 Noch vor der Revolution waren mehr als 2500 Exemplare in den Kolonien verkauft worden, vgl. D. Grimm, Ius Commune III, S. 121 (128). 4

I. Entstehungsvoraussetzungen

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reichte die Idee der freien Rechte des Engländers ihren Höhepunkt. Zu den „principal absolute rights“ gehörten das Recht auf Sicherheit und Freiheit der Person.8 Zur Sicherung dieser „principal and absolute rights“ arbeitete Blackstone Hilfsrechte heraus, die durchaus eine politische Bedeutung hatten: Er stellte ausdrücklich fest, dass z. B. die Einschränkung der königlichen Gewalt, das Petitionsrecht oder der Rechtsschutz durch die Gerichte die Rechte des Engländers absicherten.9 Während also bei Wolff die Sicherungsfunktion politischer Mitwirkungsrechte nur zwischen den Zeilen angedeutet war, erfuhr sie bei Blackstone eine direkte Präzisierung in Form konkreter Rechtspositionen. Einen politischen Bezug gewannen die Rechte des „freien Engländers“ dadurch, dass sie auch die fiktive Präsenz im Parlament und somit Mitwirkungsbefugnisse bei der Gesetzgebung und Steuerbewilligung umfassten.10 Allerdings lag hier auch der Grund für die Beschränktheit der Rechte des Engländers verborgen. Über allem stand die unbegrenzte Souveränität des britischen Parlaments. Ein praktisches Widerstandsrecht kannte Blackstone nicht und der „freie Engländer“ blieb letztlich Untertan.11 Die Rechte, die Blackstone dem Engländer zuwies, waren von den Ständen erkämpfte Selbstbeschränkungen des Staates, die grundsätzliche Freiheit des Individuums an sich nahm er aber nicht als Ausgangspunkt. Aufgrund der Mitwirkungsbefugnisse des britischen Parlaments mochten die Rechte zwar politisch nicht unbedeutend sein, aber gegen einen möglichen Machtmissbrauch des Parlaments selbst waren sie nicht abgesichert. Erschwerend kam hinzu, dass das Parlament noch stark unter dem Einfluss des Königs stand.12 Folglich waren die englischen Freiheitsverbriefungen geprägt durch das dualistisch vertragliche Grundmuster und können nicht als Menschenrechtserklärungen gesehen werden.13 Die Rechte der Virginia Bill of Rights hatten demgegenüber einen ganz anderen Ausgangspunkt und beruhten auf der Vorstellung angeborener, unveräußerlicher Menschenrechte. Damit gingen sie über die englische Rechtstradition hinaus. Dennoch lässt sich eine wichtige Gemeinsamkeit zu den englischen Rechtsverbürgungen nicht leugnen: Der Ausdruck des politischen Protests ge8

W. Blackstone, Commentaries, Bd. I, S. 125. W. Blackstone, Commentaries, Bd. I, S. 136 ff. 10 Vgl. G. Stourzh, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 59 (65). 11 Vgl. D. Grimm, Ius Commune III, S. 121 (128); G. Stourzh, in: Birtsch, Grundund Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 59 (61). 12 Das kritisiert auch Th. Paine in seiner politischen Flugschrift „Common Sense“ vom 9.1.1776, abgedruckt bei Adams (Hrsg.), Die Amerikanische Revolution, S. 163 (166). 13 D. Grimm, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 359 (362 f.); H. Hofmann, JuS 1988, S. 841 (845); G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 35 ff. 9

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4. Kap.: Virginia Bill of Rights als erste Menschenrechtserklärung

gen den Machtmissbrauch der Herrschaftsgewalt, die eine rechtliche Bindung erfahren sollte. Insofern dienten die englischen Rechtsverbürgungen als Vorbild für die Menschenrechtserklärung in Virginia14, deren Stoßrichtung allerdings weiter war und die in einem grundsätzlich anderen Staatsverständnis wurzelte. 2. Rechtfertigung und Unterstützung des Unabhängigkeitsstrebens Die Virginia Bill of Rights hatte daher zwar eine Wurzel in der englischen Rechtstradition, ironischerweise richtete sie sich aber gegen den Mutterstaat England selbst.15 Es galt, sich mit der Menschenrechtserklärung vom Mutterland loszulösen und die Eigenständigkeit zu betonen. Dies kann man schon am Zeitpunkt der Erklärung unmittelbar nach dem Unabhängigkeitskrieg, noch vor der eigentlichen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 erkennen. Der Grund, weshalb man sich mit den oben skizzierten „Rechten eines Engländers“ nicht mehr zufrieden gab, war vor allem ökonomischer Natur. Das nach dem Siebenjährigen Krieg finanzschwache England erhoffte sich von den Kolonien in Nordamerika einen finanziellen Zugewinn. Mit einer Reihe von Gesetzen, u. a. dem Sugar Act von 1764 und dem Tea Act von 1773, wurden daher die Abgabenpflichten der Kolonien erhöht.16 Für die Nordamerikaner waren damit Freiheitsbeschränkungen verbunden, die ihre Ursache im weit entfernten englischen Parlament hatten und dadurch um so fragwürdiger wurden.17 Zunächst wehrten sie sich dagegen, indem sie sich auf das Recht eines Engländers beriefen, jeder Steuererhöhung zuzustimmen. Da keine Repräsentanten der Kolonien im englischen Parlament saßen, konnten sie nicht einwilligen und die Besteuerungsgesetze wurden als unrechtmäßig kritisiert. Dahinter lag aber nicht der Wunsch nach einem Sitz im englischen Parlament, sondern ein tieferes Streben nach Unabhängigkeit: Denn selbst wenn Nordamerika im englischen Parlament vertreten wäre, so wurde die Distanz zwischen beiden Ländern schon aufgrund der räumlichen Entfernung als so groß empfunden, dass keine wirkliche „representation“ vorliegen konnte. Aber ohne „representation“ sollte das Parlament auch keine „taxation“ vornehmen dürfen.18 14

B. Pieroth, Jura 1984, S. 568 (572); R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 338. So auch J. Ipsen, Staatsrecht II, Rdnr. 13. 16 Vgl. dazu die Dokumente bei Adams (Hrsg.), Die Amerikanische Revolution, S. 25 ff.; D. Grimm, Ius Commune III, S. 121; G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 58 ff.; F. Hartung, Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte, Einführung, S. 16. 17 H.-C. Schröder, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 75 (88). 18 D. Grimm, Ius Commune III, S. 121; W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rdnr. 21; G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 58; in der räumlichen Entfernung sieht auch Th. Paine einen Grund für die 15

I. Entstehungsvoraussetzungen

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Die Kolonien drängten also auf ein Ende der Parlamentsherrschaft und verlangten Selbstbestimmung. Ein Mittel dazu war die Erklärung von Menschenrechten, denn die Virginia Bill of Rights positivierte die naturrechtliche Vorstellung angeborener, unveräußerlicher Individualrechte, an denen auch das britische Parlament eine feste Grenze finden sollte.19 Der einzelne Amerikaner galt als von Geburt an frei und seine angeborenen Rechte blieben auch nach dem Eintritt in den Staat in Form eines Gesellschaftsvertrages bestehen. England dagegen, mit dem nie ein Gesellschaftsvertrag geschlossen worden war, durfte die Freiheit des einzelnen Amerikaners nicht beschränken.20 Folglich durfte es auch nicht in die Politik Nordamerikas eingreifen. Somit erfolgte die Menschenrechtserklärung nicht nur im Interesse einer abgabenfreien Wirtschafts- und Handelsfreiheit, sondern wurde gleichzeitig als Waffe im Kampf um die Unabhängigkeit genutzt. Außerdem war das Modell des Gesellschaftsvertrages in der Lage, die Trennung von England auch international zu rechtfertigen.21 Die Souveränität leitete sich nicht von der Monarchie Englands ab, sondern lag beim Volk, das sich vertraglich in den nordamerikanischen Staaten zusammengeschlossen hatte. 3. Rezeption des europäischen Naturrechts, insbesondere der Lehren Lockes Die angeborenen, unveräußerlichen Menschenrechte ließen sich aus der englischen Rechtstradition allein nicht herleiten. Stattdessen musste auf das Naturrecht zurückgegriffen werden.22 Zwar hatte sich in Nordamerika bis zu diesem Zeitpunkt kein eigenes Naturrecht entwickelt, das europäische Vernunftrecht wurde jedoch aufmerksam verfolgt und rezipiert.23 Allerdings waren es weniger die Ideen des deutschen Naturrechts, die sich zur Unterstreichung des nordameUnabhängigkeit, vgl. die politische Flugschrift „Common Sense“, abgedruckt bei Adams (Hrsg.), Die Amerikanische Revolution, S. 163 (172). 19 G. Ritter, in: Schnur, Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. 202 (215). 20 Vgl. G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 67; vgl. auch Th. Paine, der in „Common Sense“ feststellt, dass die Natur keinen Unterschied zwischen König und Untertan kennt, abgedruckt bei Adams (Hrsg.), Die Amerikanische Revolution, S. 163 (168). 21 H. Hofmann, NJW 1989, S. 3177 (3178); O. Vosseler, in: Schnur, Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. 166 (190 ff.); J. Hashagen, in: Schnur, Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. 129 (144 ff.). 22 D. Grimm, Ius Commune III, S. 121 (145); E. Hellmuth, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 117 (131); vgl. auch H. Rehm, Allgemeine Staatslehre, S. 248, der feststellt, dass die Lehren Blackstones erst mit denen von Locke verbunden werden mussten. 23 Vgl. D. Grimm, Ius Commune III, S. 121 (123); vgl. auch den oben bereits dargestellten Einfluss Pufendorfs 3. Kapitel, I. 2. a) aa); und Wolffs 3. Kapitel, II. 2. a) bb).

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4. Kap.: Virginia Bill of Rights als erste Menschenrechtserklärung

rikanischen Unabhängigkeitsstrebens eigneten. Wie bereits dargestellt, waren Widerstandsrechte im deutschen Naturrecht nur schwach ausgeprägt, Freiheiten waren durch Pflichten überlagert und konnten über die Gemeinwohldoktrin nahezu beliebig eingeschränkt werden. Politische Rechte waren lediglich mittelbar angedeutet und der Wandel, auf den das Naturrecht angelegt war, konnte nur langsam erfolgen. Nordamerika wollte aber der englischen Krone sofort effektiven Widerstand leisten und es wollte überhaupt keine Freiheitseinschränkungen durch England mehr hinnehmen, seien sie noch so gemeinwohlorientiert. Außerdem drängte Nordamerika zur Betonung der eigenen Unabhängigkeit auch auf politische Selbstbestimmung und auf politische Freiheiten. Es waren die Lehren von John Locke, die sich zur theoretischen Untermauerung dieser politischen Forderungen aus mehreren Gründen geradezu anboten. a) Inhaltliche Reichweite der natürlichen Rechte, insbesondere des Eigentumsrechts Nach Locke befand sich der Mensch von Natur aus in einem Zustand vollkommener Freiheit und war nicht vom Willen eines anderen abhängig. Diese Erkenntnis wurde zum Ausgangspunkt seiner weiteren Lehren, die primär auf den Schutz der Freiheit abstellten und sich dadurch vom frühen deutschen Naturrecht unterschieden. Da alle Menschen von Natur aus gleich waren, gab es weder Unterordnung noch Unterwerfung.24 Folglich konnten die Menschen über ihre Handlungen und über ihre Persönlichkeit frei entscheiden. Besonders starke Ausprägung fand das Eigentumsrecht: Dies folgte daraus, dass der Mensch die Möglichkeit haben müsse, sich die Güter der Erde anzueignen, um sein Leben zu erhalten.25 Außerdem war der Mensch Eigentümer seines eigenen Körpers und somit auch seiner Arbeitskraft. Wendete er diese auf, um frei verfügbare Schätze der Natur zu bergen, so mussten sie in sein Eigentum übergehen.26 Gleichzeitig hob sich das Land, das ein Mensch bepflügte, vom Gemeingut ab und wurde sein Eigentum.27 Schon die inhaltliche Reichweite der natürlichen Rechte Lockes eignete sich besonders für die Bestrebungen Nordamerikas: Zunächst waren da die natürliche Freiheit und Gleichheit des Einzelnen, um derentwillen er Herr seiner selbst war und die eine Unterordnung ausschlossen – dies entsprach genau dem Interesse der nordamerikanischen Staaten. Diese wollten auch Herren ihrer selbst und nicht mehr dem Willen des englischen Parlaments untertan sein. Da nun die nordamerikanischen Staaten als Zusammenschlüsse der Individuen ge24 25 26 27

Zwei Abhandlungen über die Regierung, II, § 4, S. 201 f. Ebd., II, § 26, S. 216. Ebd., II, § 27, S. 216 f. Ebd., II, § 32, S. 219.

I. Entstehungsvoraussetzungen

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sehen wurde, folgte aus den Lehren Lockes, dass sie genau wie die Individuen selbst eigenständig sein mussten. Außerdem wurde das Eigentumsrecht Lockes als schlagkräftiges Argument gegen die Besteuerungspolitik Großbritanniens genutzt, konnte diese doch als naturrechtswidrig gebrandmarkt werden. Denn letztlich machten die Siedler in Nordamerika nichts anderes, als ihre Arbeitskraft einzusetzen und sich durch die Kultivierung des Landes anzueignen, was die Natur hergab. Ihre Situation stimmte also mit der überein, die Locke zur Entstehung und Begründung des Eigentums beschrieb. Hatten die Siedler nun Eigentum am Land und dessen Früchten erworben, war nicht ersichtlich, weshalb sie Großbritannien davon etwas abgeben sollten. Folglich standen hinter der Menschenrechtserklärung auch handfeste wirtschaftliche Interessen.28 b) Friedlicher Naturzustand Besonders passend war außerdem Lockes Verständnis vom Naturzustand: Er ging nicht von einem Kampf aller gegen alle oder von der völligen Hilflosigkeit des Menschen aus. Stattdessen glaubte er, dass die Menschen vernünftig genug sind, die Rechte ihrer Mitmenschen zu erkennen, zu achten und dementsprechend zu handeln.29 Folglich war der Naturzustand im Grunde harmonisch und friedvoll. Es bedurfte daher keiner starken Staatsgewalt in Form eines omnipotenten Fürsten, wie z. B. Hobbes sie gefordert hatte. Die Staatsgewalt sollte lediglich die Rahmenbedingungen zum Genuss der natürlichen Rechte sicherstellen. Da die natürlichen Rechte der Mitmenschen nicht verletzt werden durften, konnte der Mensch seine Freiheit nicht unkontrolliert ausüben und war insoweit einem Naturgesetz verpflichtet.30 Nun bestand aber die Gefahr, dass sich der Mensch aufgrund seines Eigennutzes nicht an das natürliche Gesetz hielt und die Rechte anderer verletzte. Daran konnte im Naturzustand keine Sanktion geknüpft werden.31 Deshalb war es Aufgabe der Staatsgewalt und Voraussetzung der Freiheit, die Einhaltung der Naturgesetze zu überwachen. Von Anfang an gab Locke zu, dass die Staatsgründung mit Freiheitseinschränkungen verbunden war, diese versuchte er aber so klein wie möglich zu halten.32 Denn primäres Ziel der politischen Gesellschaft war die Sicherung der natürlichen Rechte, vor allem des Eigentums. Die Staatsgewalt war somit keineswegs absolut, sondern 28

W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rdnr. 27. Zwei Abhandlungen über die Regierung, II, §§ 5, 6, S. 202 f. 30 Ebd., II, § 6, S. 202. 31 Ebd., II, § 8, S. 204. 32 Ebd., II, § 95, S. 260, wo er vor den „Fesseln der bürgerlichen Gesellschaft“ warnt. 29

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4. Kap.: Virginia Bill of Rights als erste Menschenrechtserklärung

relativ schwach ausgeprägt und ihre Kompetenzen waren streng abgegrenzt. In den natürlichen Rechten des Individuums fand sie eine unüberwindbare Schranke.33 Auffällig ist, dass die fiktive Konzeption Lockes vom Naturzustand eine erstaunliche Ähnlichkeit zu dem Zustand aufweist, in dem sich Nordamerika seit Besiedlung der Kolonien real befand.34 Die Siedler kultivierten die Wildnis und lebten vergleichsweise friedlich nebeneinander, um sich aus dem Land das zu nehmen, was sie zum Überleben brauchten. Einen Krieg aller gegen alle gab es nicht und problematisch waren allein Rechtsübertretungen durch Einzeltäter und Randgruppen. Oftmals erschöpfte sich daher das, was von hoheitlicher Gewalt an der „frontier“ wahrnehmbar war, in der Anwesenheit des „sheriffs“, der gegen Rechtsbrecher vorging. Der Nordamerikaner konnte sich also den Naturzustand besser vorstellen, erlebte er doch selbst, dass ein relativ friedliches Zusammenleben ohne starke staatliche Macht möglich war. Außerdem sah er sich nach der Loslösung von England mit der realen Situation einer Staatsgründung konfrontiert, so dass die Idee vom Gesellschaftsvertrag nicht einmal fingiert erschien.35 c) Zurückdrängung und Kontrolle der staatlichen Macht Von besonderer Bedeutung war außerdem die politische Theorie Lockes. Das Widerstandsrecht war bei ihm stark ausgeprägt36 und außerdem erfuhr jede Ausübung staatlicher Macht durch eine strikte Gewaltenteilung eine effiziente Kontrolle.37 Folglich bot seine Lehre effektive Schutzmechanismen gegen einen Machtmissbrauch, was den Interessen Nordamerikas entsprach. Nachdem die Siedler die englische Besteuerungspolitik erfahren hatten, standen sie – genau wie Locke38 – jeglicher Regierungsform, also auch der parlamentarischen, skeptisch gegenüber.39 Folglich wollten sie alle Macht des Staates möglichst begrenzt sehen und nahmen Lockes Lehre, die schon aufgrund der klaren Defini-

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Zwei Abhandlungen über die Regierung, II, § 137, S. 286 ff. G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 49 f.; D. Grimm, Ius Commune III, S. 121 (131); G. Stourzh, JZ 1976, S. 397 (398); G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 59. 35 O. Vosseler, in: Schnur, Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. 166 (180); J. Hashagen, in: Schnur, ebd., S. 129 (158); B. Pieroth, Jura 1984, S. 568 (570). 36 Zwei Abhandlungen über die Regierung, II, § 203 ff., S. 327 ff. 37 Ebd., II, § 91, S. 255 ff. 38 Ebd., II, § 201, S. 326 f. 39 Eindrucksvoll zum Verhältnis Naturzustand/Staat Th. Paine, Common Sense, in: Adams (Hrsg.), Die Amerikanische Revolution, S. 163 (164): „Die Paläste der Könige sind auf den Trümmern der Lusthütten des Paradieses gebaut.“ 34

II. Inhalt und Absicherung der Menschenrechte

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tion und Umgrenzung der Legislativen40 ein wirksames Mittel gegen parlamentarische Freiheitsbeschränkungen war, dankbar an. Die Ideen von Locke waren in Nordamerika keine politische Theorie mehr, sondern sie wurden zum „Common Sense“41 vieler Amerikaner. Sie konnten zur Grundlage des neu zu gründenden Staates werden, dessen Zweck vor allem die Sicherung der Rechte des Individuums war.42 Insgesamt war daher das Klima für die Entstehung von Menschenrechten in Nordamerika besonders günstig. Die Freiheit des Individuums war der Ausgangspunkt, um den es eine funktionierende Form des Zusammenlebens zu organisieren galt. Daher stand die staatliche Gewalt der individuellen Freiheit nach und war so konstruiert, dass sie möglichst wenig freiheitseinschränkend, sondern vielmehr freiheitsschützend wirkte.

II. Inhalt und Absicherung der Menschenrechte Die politischen und gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen der nordamerikanischen Menschenrechtserklärungen wirkten sich auch auf deren Inhalt aus. Zudem bestätigte sich die Abhängigkeit der Absicherung der Menschenrechte von der Staatsform, in die sie verfassungsrechtlich eingebettet waren. 1. Anerkennung angeborener und unveräußerlicher Menschenrechte Art. 1 der Virginia Bill of Rights erklärte, dass jeder Mensch das natürliche, angeborene und unentziehbare Recht der Freiheit und Gleichheit habe. Die Konkretisierung dieser Rechte in der Erklärung selbst war relativ schwach ausgeprägt. Neben dem aus verständlichen Gründen explizit genannten Eigentumsrecht fand sich noch eine allgemeine Formulierung des Rechts, „Glück und Sicherheit“ zu erstreben und zu erlangen. Die präzise Ausarbeitung der Glaubensfreiheit am Ende der Erklärung in Art. 16 musste daher auffallen.43 Die sog. Justizgrundrechte fanden in Art. 8–10 der Virginia Bill of Rights eine starke Ausprägung.44 Hier wird aus heutiger Sicht vertreten, dass es der Schutz vor willkürlicher Verhaftung (habeas corpus) sei, in dem der Ursprung 40

Zwei Abhandlungen über die Regierung, II, §§ 134 ff., S. 283 f. Vgl. W. Euchner, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Einleitung, S. 10; zur Anspielung auf Thomas Paine, der die Ideen Lockes als „Common Sense“ formulierte, D. Grimm, Ius Commune III, S. 121 (135). 42 Vgl. G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 59. 43 Vgl. dazu ausführlich unten 8. Kapitel, IV. 1. b). 44 Vgl. das Recht, den Grund der Anklage zu erfahren (Art. 8); das Recht auf Untersuchung durch einen unparteiischen Gerichtshof (Art. 8); das Verbot übermäßiger Geldbußen und Bürgschaften sowie grausamer und ungewöhnlicher Strafen (Art. 9); 41

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4. Kap.: Virginia Bill of Rights als erste Menschenrechtserklärung

aller weiteren Menschenrechte liege. Daraus resultiere eine Freiheit, beliebige Handlungen vorzunehmen, ohne Sanktionen zu fürchten. Darin wird die Grundlage für alle weiteren Grundrechte gesehen.45 Für diese Auffassung spricht, dass in einigen Einzelstaaten Nordamerikas zwar keine Menschenrechtskataloge, wohl aber Verfassungen mit verfahrensrechtlichen Garantien beschlossen wurden.46 Allerdings gaben die Verfahrensrechte schon inhaltlich keine Begründung für die natürliche Freiheit und Gleichheit aller Menschen.47 Vielmehr entfalteten sie ihre eigentliche Bedeutung auf einer anderen Ebene: Sie waren nicht Ursprung der Grundrechte, sondern ein technisches Hilfsmittel, um die Grundrechte abzusichern. Ihre starke Ausprägung in der Virginia Bill of Rights ist deshalb auch im Zusammenhang zu Locke zu sehen: Am Anfang stand die natürliche Freiheit und Gleichheit, zu deren Sicherung der Staat die Strafverfolgung übernehmen sollte.48 Vor dem Hintergrund der oben dargestellten Staatsskepsis49 wundert es nicht, dass die Virginia Bill of Rights Ausführungsregeln für diese Aufgabe bestimmte. Außerdem bestand eine erhöhte Sensibilität für die Verfahrensrechte, waren sie doch in der Auseinandersetzung mit England, z. B. bei Hausdurchsuchungen nach zu besteuernden Gütern, oftmals verletzt worden.50 Es gab in der Virginia Bill of Rights noch ein weiteres Einzelgrundrecht, das eine starke Formulierung fand: In Art. 12 wurde die Pressefreiheit zum „starken Bollwerk der Freiheit“ erklärt. Die Idee, die hinter diesem politischen Grundrecht stand, wurzelte im demokratischen Staatsverständnis.51 Die Bedeutung der über die Presse artikulierten Meinung des Volkes für die Absicherung der Grundrechte war damit nicht nur bekannt, sondern verfassungsrechtlich verkündet worden. 2. Politische Mitwirkung des Volkes zur Absicherung der Freiheitsrechte Unmittelbar nach der Anerkennung angeborener Menschenrechte wurde in Art. 2 der Bill das Prinzip der Volkssouveränität verankert. Beamte wurden als das Verbot, ohne ausreichenden Verdacht Durchsuchungen vorzunehmen oder eine Person festzunehmen (Art. 10). 45 Vgl. M. Kriele, in: FS Scupin, S. 186 (202, 204 ff.). 46 Vgl. G. Stourzh, JZ 1976, S. 397 (400). 47 Kritisch auch Ch. Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, S. 140 (Fn. 32); W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rdnr. 26. 48 Vgl. dazu oben 4. Kapitel, I. 3. a). 49 Vgl. dazu 4. Kapitel, I. 3. c). 50 Vgl. G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 62. 51 Vgl. dazu ausführlich 8. Kapitel, V. 4. c).

II. Inhalt und Absicherung der Menschenrechte

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Diener des Volkes verstanden und waren diesem auch verantwortlich. Folglich waren Freiheitseinschränkungen rechtfertigungsbedürftig. Art. 3 normierte ausdrücklich, dass die Regierung allein im Interesse des Volkes eingesetzt war und für das Allgemeinwohl zu sorgen hatte. Aufgrund des Gedankens der Volkssouveränität bestand hier nun ein entscheidender Unterschied zur Gemeinwohldoktrin des absolutistischen Staates. Denn da sich alle Macht vom Volk ableitete, konnte das Volk eine Regierung, die ihren Zweck nicht erfüllte, abändern oder gar absetzen. Der Staat war allein dem Willen des Volkes verpflichtet, der sich durch freie Wahlen artikulierte (vgl. Art. 6) und jegliche Ausübung staatlicher Gewalt wurde an die Einwilligung durch die Volksvertreter gebunden (Art. 7). Somit schuf die Volkssouveränität die Möglichkeit, die staatliche Macht zu kontrollieren und die Einhaltung der Grundrechte zu überprüfen. Außerdem wurde in Art. 5 der Erklärung das Prinzip der Gewaltenteilung verankert52, wodurch die Gefahr des menschenrechtsverletzenden Machtmissbrauchs abgeschwächt wurde. Die Bedeutung der theoretischen Gewaltenteilung für die praktische Absicherung der Grundrechte sollte aber nicht überschätzt werden53, solange keine praktische Umsetzung erfolgte. Zunächst blieb nämlich unklar, wie eine gegenseitige Kontrolle der Gewalten ausgestaltet sein sollte. Insbesondere bedurfte es der Klärung, ob die Judikative Maßnahmen der Legislativen beanstanden oder gar als verfassungswidrig anprangern konnte. Dahinter lag die Frage des Rangverhältnisses zwischen der Verfassung und dem einfachem Gesetz. 3. Der Vorrang der Verfassung Aufgrund der besonderen Voraussetzungen in Nordamerika konnte die Verfassung und somit auch die darin enthaltene Menschenrechtserklärung einen Vorrang gegenüber dem einfachen Gesetz entwickeln, der aus heutiger Sicht für den modernen Verfassungsstaat unverzichtbar ist. Dabei ist bemerkenswert, dass sowohl die Denkfigur der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen als auch die Absicherung des Verfassungsvorrangs erhebliche Schwierigkeiten bereiteten. a) Die Verfassung als höherrangiges Recht Schon in England waren in den Folgejahren der Glorreichen Revolution Stimmen laut geworden, die sich gegen bestimmte Gesetze richteten. Insbesondere die Selbstverlängerung der Wahlperiode des britischen Parlaments von 52 Hier ist ebenfalls der Zusammenhang zu den Lehren Lockes zu sehen, vgl. H. Rehm, Allgemeine Staatslehre, S. 226 ff. 53 Vgl. M. Kriele, in: Menschenrechte zwischen Ost und West, S. 9 (14), der die Gewaltenteilung wichtiger als die Grundrechtskataloge selbst einstuft.

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4. Kap.: Virginia Bill of Rights als erste Menschenrechtserklärung

1716 auf sieben Jahre wurde aufgrund der Unvereinbarkeit mit der britischen Grundordnung stark kritisiert.54 Gegenüber dem britischen Parlament, dessen Souveränität immer wieder betont wurde, konnte sich aber die Vorstellung von verfassungswidrigen und daher nichtigen Gesetzen nicht entwickeln. In den Kolonien war die Situation weitaus günstiger: Die Verfassungen der Einzelstaaten waren geschriebene, übersichtliche Dokumente. Anstatt sich über Jahrhunderte zu entwickeln, standen sie am Anfang der Staatsgründung und konnten zur Grundlage des öffentlichen Zusammenlebens werden.55 Mit der Anerkennung der angeborenen Menschenrechte positivierten sie naturrechtliche Vorgaben, die über dem positiv gesetzten Recht standen56 und nicht durch dieses verletzt werden durften. Gleiches musste daher auch für die Verfassungen selbst gelten. Außerdem bestand in Nordamerika ein direkter Zusammenhang zwischen der real stattfindenden Staatsgründung und der Verfassungsgebung. Genau wie der vertragliche Zusammenschluss zum Staat wurde auch die Verfassung als Ausdruck des Willens aller Einwohner angesehen. Während also die Verfassung unmittelbar den Willen des Volkes verkörperte, war das bei einem einfachen Gesetz anders: Hier schlug sich der Wille des Parlaments nieder, der den repräsentierten Volkswillen darstellen sollte.57 Folglich unterschied sich die gesetzgebende Gewalt von der verfassungsgebenden, was für die Nordamerikaner von grundsätzlicher Bedeutung war: Schließlich hatten sie am eigenen Leibe erfahren, dass ein Missbrauch parlamentarischer Macht stattfinden konnte, indem der Volkswille missachtet und gerade nicht repräsentiert wurde. Daher lag es nahe, alle Akte des Parlaments auf die Vereinbarkeit mit dem in der Verfassung festgelegten Volkswillen zu überprüfen.58 Der Vorrang der Verfassung war daher vor allem durch die klare Unterscheidung der Volkssouveränität von der Parlamentssouveränität motiviert.

54 So wurde auf die Gefahr hingewiesen, dass bei weiterer Verlängerung der Legislaturperiode die politische Mitwirkung des dritten Standes vollkommen aufgehoben und somit die Grundordnung des Königreichs verändert würde, vgl. G. Stourzh, in: Wege zur Grundrechtsdemokratie, S. 37 (47). 55 G. Stourzh, in: Wege zur Grundrechtsdemokratie, S. 37 (55). 56 Vgl. dazu oben 4. Kapitel, II. 1.; J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, II, § 135, S. 284 f.; zum Verhältnis des Naturrechts zum einfachen Recht auch F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 134. 57 G. Stourzh, in: Wege zur Grundrechtsdemokratie, S. 37 (66). 58 H. Dippel, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 135 (139).

II. Inhalt und Absicherung der Menschenrechte

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b) Durchsetzung des Verfassungsvorrangs Um die Durchsetzung und Absicherung des Verfassungsvorrangs wurden theoretische Diskussionen und praktische politische Auseinandersetzungen geführt, welche das Verhältnis der Gewalten zueinander grundsätzlich berührten.59 Die umstrittene Frage war, wie und vor allem von wem die Übereinstimmung mit der Verfassung überprüft werden sollte. In der Praxis stellte sich heraus, dass vor verfassungswidrigen Gesetzen am wirksamsten dort geschützt werden konnte, wo diese ihre Bedeutung entfalteten, nämlich in den Gerichten. Es war der Richter, der verhindern konnte, dass einem verfassungswidrigen Gesetz Leben eingehaucht und der Bürger durch dessen negative Folgen getroffen wurde. Theoretisch untermauert wurde die Prüfungskompetenz des Richters, indem der Verfassung Normcharakter zugewiesen wurde. Sie wurde als geltendes Recht verstanden, über das zu entscheiden nun einmal ureigenste Angelegenheit des Richters sei.60 Endgültig konnte sich die Verfassungsgerichtsbarkeit durch den Fall Marbury vs. Madison61 durchsetzen, dem folgender Sachverhalt zugrunde lag: Im Jahre 1800 hatte der Präsident John Adams die Kongresswahlen gegen die Föderalisten verloren. Bevor er abtrat, übertrug er verschiedene Staatsämter an Personen, die seine bundesstaatliche Orientierung teilten. Am letzten Tag seiner Amtsperiode unterzeichnete er für William Marbury die Ernennungsurkunde zum Friedensrichter, die vom geschäftsführenden Secretary of State, John Marshall, mit dem Amtssiegel versehen wurde. Allerdings konnte die Ernennungsurkunde Marbury nicht mehr rechtzeitig zugestellt werden, bevor der neugewählte Präsident Jefferson sein Amt antrat. Auf dessen Anweisung verweigerte der neue Secretary of State, James Madison, die Aushändigung der Urkunde. Daraufhin klagte Marbury gegen Madison auf Übergabe der Ernennungsurkunde. Die Entscheidung des Supreme Courts in dieser Angelegenheit wurde von John Marshall abgefasst, der inzwischen zum Chief Justice ernannt worden war. Bei der Frage der erstinstanzlichen Zuständigkeit des Supreme Courts konstatierte er einen Widerspruch des einfachgesetzlichen Judiciary Act von 1789 zur Verfassung. Daraufhin berief er sich auf den Vorrang der Verfassung und nahm für den Supreme Court die Kompetenz in Anspruch, Akte der Bundesgewalt auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung zu überprüfen.62

59 Vgl. dazu ausführlich G. Stourzh, in: Wege zur Grundrechtsdemokratie, S. 37 (51 ff.); H. Dippel, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 135 (137 ff.). 60 G. Stourzh, in: Wege zur Grundrechtsdemokratie, S. 37 (68). 61 5 U.S. Reports, 1 Cranch 137 (1803). 62 Vgl. dazu die Darstellung des Falles bei W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rdnr. 42 ff.; W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 5 ff.

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4. Kap.: Virginia Bill of Rights als erste Menschenrechtserklärung

Diese Entscheidung war nicht nur aufgrund der vorherigen Beteiligung Marshalls am Sachverhalt umstritten. Gegner empörten sich, dass sich die richterliche Gewalt unbefugterweise über die Legislative stelle und es kam zu handfesten Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Gerichten und Parlamenten.63 Es wurde im sog. Judicial Review ein Widerspruch zur Volkssouveränität gesehen, da eine oft konservative Gruppe elitärer Richter aburteile, was das Parlament, also die Repräsentation des Volkswillens, demokratisch beschlossen habe.64 Diese Kritik überzeugt allenfalls auf den ersten Blick. Es stellte sich durch die Verfassungsgerichtsbarkeit keine Gewalt über eine andere, sondern es wurden die Trennung und gegenseitige Kontrolle der Gewalten konsequent zu Ende gedacht. Schließlich entschieden die Richter nicht willkürlich, sondern sie legten lediglich die Verfassung, also den unmittelbaren Willen des Volkes aus, dem sie somit zur Geltung verhalfen. Außerdem stand hinter der richterlichen Entscheidung immer das Volk selbst, das durch seine Klage Schutz vor Rechtsbeeinträchtigungen durch die Legislative suchte. So konnte es durchaus sein, dass eine Minderheit vor unzulässiger Benachteiligung durch einen parlamentarischen Mehrheitsbeschluss geschützt werden musste – ein Schutz, der wohl von Richtern, nicht aber vom Parlament gewährt werden konnte. Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit war eine wichtige Voraussetzung für den modernen Verfassungsstaat und vor allem für einen effizienten Grundrechtsschutz, stellte sie doch die Bindung der staatlichen Gewalt, insbesondere des Gesetzgebers, an die Grundrechte sicher. Da zudem besondere Voraussetzungen an die Abänderung der Verfassung gestellt wurden65, konnten die verfassungsrechtlich verankerten Menschenrechte des Individuums auch einem schlichten Mehrheitsbeschluss des Parlaments nicht zum Opfer fallen. 4. Fehlender Universalismus Kritisch anzumerken ist jedoch der fehlende Universalismus der nordamerikanischen Menschenrechtserklärungen. „Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig“ heißt es in Art. 1 der Virginia Bill of Rights. Dennoch gab es in der Realität die Sklaverei und es wurden nur die Menschenrechte der Weißen geschützt. Dieses Widerspruches war man sich 63 Vgl. dazu G. Stourzh, in: Wege zur Grundrechtsdemokratie, S. 37 (60 ff.); H. Dippel, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 135 (146 ff., 150). 64 H. Dippel, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 135 (136 ff.); vgl. dazu auch W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 4; B.-O. Bryde, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 17, Rdnr. 14. 65 Verfassungsänderungen durften nur von einem institutionalisierten Verfassungskonvent vorgenommen werden, vgl. R. Wahl, Staat 20 (1981), S. 485 (489 ff.).

II. Inhalt und Absicherung der Menschenrechte

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durchaus bewusst und genau deswegen hatte man von einer ursprünglich geplanten stärkeren Betonung der natürlichen Rechte abgesehen. Gegner der Menschenrechtserklärung wendeten sich gegen eine naturrechtliche Argumentation überhaupt, da sie Sklavenunruhen fürchteten.66 Man löste das Problem, indem man zwar die naturrechtliche Idee angeborener Menschenrechte positivierte, sie in der Praxis aber nur auf einen Teil der Bevölkerung anwendete. Die Grundrechtsidee wurde daher nicht konsequent zu Ende gedacht und ausgeführt, stattdessen wurde nur von ihr Gebrauch gemacht, wenn es für die wirtschaftliche und politische Situation förderlich erschien.67 Dies kann man auch an der Ausgestaltung des aktiven Wahlrechts erkennen: Zwar bekannte sich die Virginia Bill of Rights in Art. 2 ausdrücklich zur Volkssouveränität, gemäß Art. 6 durften aber nur diejenigen wählen, „die ihr dauerndes Interesse und ihre Anhänglichkeit an die Allgemeinheit erwiesen haben“, was letztlich eine Koppelung des Wahlrechts an das (Grund-)Eigentum bedeutete.68 Der Grund, weshalb der Widerspruch zwischen dem in den Menschenrechtserklärungen formulierten Naturrecht und der selektiven Geltung der Grundrechte in der Realität nicht auf stärkere Empörung stieß, mag in der englischen Rechtstradition liegen.69 Man war es gewöhnt, dass Freiheitsrechte national beschränkte Geburtsrechte waren, die nur einem gebürtigen Engländer zustanden. Insofern erschien es gerade Konservativen selbstverständlich, dass die Sklaven von Grundrechten ausgeschlossen blieben. Zwar beriefen sich die Gegner der Sklaverei auf die Verletzung der Menschenrechte70, der entscheidende Beitrag zur Abschaffung der Sklaverei wird aber in anderen Umständen gesehen.71 Der fehlende Universalismus der nordamerikanischen Menschenrechtserklärungen ergibt sich daher aus den konkreten politischen Umständen, die zwar einerseits Entstehungsvoraussetzung für die Menschenrechtserklärungen waren, gleichzeitig aber auch die Geltungskraft der Grundrechte und die Realisierung der naturrechtlichen Idee von vorneherein einschränkten. Hier wird deutlich, dass die politischen Umstände für eine Bewertung der Grundrechtsgeltung unbedingt berücksichtigt werden müssen. Ansonsten wäre es nicht erklärbar, dass in den Südstaaten, obwohl es für eine „ausgemachte Wahrheit“ gehalten wurde,

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Vgl. G. Stourzh, JZ 1976, S. 397 (399). Vgl. F. Hartung, Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte, Einführung, S. 17 f. 68 B. Pieroth, Jura 1984, S. 568 (572); kritisch dazu schon J. A. Bergk, Untersuchungen aus dem Natur-, Staats- und Völkerrechte, S. 100. 69 So G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 60. 70 So wurde in Massachusetts im Jahre 1783 die Sklaverei vom Obersten Richter Cushing als verfassungswidrig angesehen, vgl. G. Stourzh, JZ 1976, S. 397 (401). 71 Z. B. wirtschaftliche Überlegungen im Hinblick auf eine Arbeitsplatzerhaltung für die Weißen, vgl. W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 144 ff.; G. Stourzh, JZ 1976, S. 397 (401). 67

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4. Kap.: Virginia Bill of Rights als erste Menschenrechtserklärung

dass „alle Menschen gleich erschaffen worden sind“72, ein Drittel der Bevölkerung bis 1865 versklavt wurde.73

III. Zusammenfassung Insgesamt kann man eine klare Linie zwischen den Entstehungsvoraussetzungen und dem Inhalt der nordamerikanischen Menschenrechtserklärungen ausmachen, die sich wie folgt skizzieren lässt: 1. In Nordamerika wurde zuerst die natürliche Freiheit betont, die durch die Staatsgründung geschützt werden sollte. Nach der Besiedlung und Unabhängigkeit Nordamerikas wurde eine Staatsgründung notwendig. Dabei war die natürliche Freiheit der Ausgangspunkt, um den es eine funktionierende Form des staatlichen Lebens zu organisieren galt. Die staatliche Macht wurde daher so weit wie möglich zurückgedrängt und in den Dienst der Freiheit gestellt. 2. Der bei der Festlegung der Staatsform bestehende Gestaltungsspielraum wurde dahingehend genutzt, eine optimale Absicherung der natürlichen Freiheit zu erreichen. Aufgrund der Erinnerungen an die Freiheitseinschränkungen durch das englische Parlament war die Absicherung der Grundrechte schon bei der Verfassungsgebung ein dringendes Bedürfnis der Nordamerikaner. Deshalb wurden als konkrete Kontrollmechanismen die Volkssouveränität und die Gewaltenteilung verankert. Der Verfassungsvorrang wurde durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit praktisch umgesetzt, die auch die Einhaltung der Grundrechte überwachte. 3. Die Realisierung der naturrechtlichen Menschenrechtsidee wurde vor allem durch deren Übereinstimmung mit dem „Common Sense“ und den politischen Interessen Nordamerikas bewirkt. Die verfassungsrechtlich verbrieften Menschenrechtserklärungen waren ein Mittel, die Unabhängigkeit Nordamerikas zu betonen und die Loslösung von England zu rechtfertigen. Insbesondere hinter dem Eigentumsschutz standen handfeste wirtschaftliche Interessen. Die Menschenrechte wurden damit zum politischen Anliegen, zu dessen theoretischer Untermauerung die Ideen Lockes genutzt werden konnten. Das Naturrecht allein vermochte jedoch die Positivierung der Menschenrechte nicht zu bewirken, vielmehr war sie durch den „Common Sense“ motiviert.

72 Vgl. die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776, abgedruckt und übersetzt bei Adams (Hrsg.), Die Amerikanische Revolution, S. 213 ff. 73 Zur Zahl G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 61.

IV. Auswirkungen auf den deutschen Frühkonstitutionalismus

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4. Andrerseits schränkte die politische Motivation hinter den Menschenrechten deren Geltungskraft von Anfang an ein. Die naturrechtliche Idee angeborener, allgemeiner Menschenrechte wurde nicht konsequent umgesetzt, sobald sie aus politischen Gründen inopportun erschien. Dies war bei der Sklaverei der Fall. Die Menschenrechte waren daher durch einen fehlenden Universalismus gekennzeichnet und erfuhren nur eine relative Geltung, die politisch bedingt war.

IV. Auswirkungen auf den deutschen Frühkonstitutionalismus Vergleicht man nun die oben herausgearbeiteten Voraussetzungen der nordamerikanischen Menschenrechtserklärungen mit der Situation in Deutschland, treten grundsätzlich unterschiedliche Ausgangsbedingungen zu Tage. Aufgrund dieser Differenzen wurde die Wirkung der nordamerikanischen Grundrechtskataloge in Deutschland eingeschränkt und modifiziert, keineswegs aber aufgehoben. 1. Das Verhältnis der Freiheit zum Staat Zu These 1: In Deutschland ging die natürliche Freiheit dem Staat nicht vor, sondern es gab eine bestehende Staatsform, mit der die natürliche Freiheit vereinbart werden musste. Während Nordamerika der Schutz der natürlichen Freiheiten zum Zentralanliegen des neu zu gründenden Staates werden konnte, stieß die Idee angeborener Menschenrechte in Deutschland auf die lange Tradition der uneingeschränkten Souveränität des Monarchen, der unabänderlich als die personifizierte Einheit des Staates über allem stand.74 Die Effektuierung des Grundrechtsschutzes durch Volkssouveränität, Gewaltenteilung und den Vorrang einer Verfassung war nicht umsetzbar. Die Einführung von Menschen- und Bürgerrechten wie in Nordamerika auf deutschem Boden war daher wirklichkeitsfremd. Deshalb wurden sie in liberalen Kreisen zwar begrüßt, für Deutschland wurden aber andere, modifizierte Lösungen angestrebt, die der bestehenden Ordnung entgegenkamen.75 Ein solcher Lösungsansatz ist auch in den frühkonstitutionellen Grundrechtskatalogen zu sehen, die durch den Versuch geprägt waren, den Gegensatz zwischen angeborenen, unveräußerlichen Menschenrechten und der monarchischen Herrschaftsmacht zu überbrücken. Der Unterschied in den Ausgangsbedingungen war also so groß, dass die nordamerikanischen Menschenrechte in Deutschland keine revolutionäre Sprengkraft entwickelten. 74 H. Dippel, Die amerikanische Verfassung in Deutschland im 19. Jahrhundert, S. 18. 75 H. Dippel, ebd., S. 23.

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4. Kap.: Virginia Bill of Rights als erste Menschenrechtserklärung

2. Modellcharakter Zu These 2: Die in Nordamerika präzisierten verfassungsrechtlichen Schutzmechanismen der Grundrechte konnten in Deutschland nicht mehr als ein abstraktes Modell sein. Vor diesem Hintergrund konnten die nordamerikanischen Menschenrechtserklärungen ihre eigentliche Bedeutung nur als abstraktes Modell entfalten, dessen Übernahme allerdings nicht zur Debatte stand. Sie zeigten die Möglichkeit, das Naturrecht zu positivieren und zu vorrangigem Gesetzesrecht zu machen.76 Damit hoben sie die angeborenen Menschenrechte auf eine ganz andere Wirkungsebene – eine Ebene, auf der sie praktisch umgesetzt und lebendig wurden. Es wurde gezeigt, dass die naturrechtliche Grundrechtsidee tatsächlich funktionierte, wodurch sie in ganz Europa eine Aufwertung erfuhr. Noch wichtiger war, dass Möglichkeiten einer effektiven Absicherung der Grundrechte erkannt und genutzt wurden. Während im deutschen Naturrecht nur eine realitätsferne Vorstellung des Zusammenhangs zwischen Freiheitsschutz und Staatsform bestand, wurden in Nordamerika die Volkssouveränität und Gewaltenteilung als optimale Voraussetzungen der Menschenrechte präzise herausgearbeitet und verfassungsrechtlich verankert. Außerdem konnte die Entwicklung des Verfassungsvorrangs und einer Verfassungsgerichtsbarkeit in ihrer Bedeutung für einen effektiven Grundrechtsschutz gar nicht überschätzt werden, zumal die Ausarbeitung und Umsetzung dieser Denkfigur erhebliche Schwierigkeiten bereitete. Auch in Deutschland stieß der Verfassungsvorrang daher auf große Aufmerksamkeit und fand im frühkonstitutionellen Staatsrecht Anhänger.77 Somit zeigte Nordamerika nicht nur, in welchem Umfang Grundrechte als Verfassungsrecht proklamiert werden konnten, es lieferte gleichzeitig die Instrumentarien zur praktischen Umsetzung und Absicherung dieser Rechte und Freiheiten. Dennoch beschäftigte sich die deutsche Staatsrechtlehre zunächst eher mit Einzelaspekten der amerikanischen Verfassungen, ohne sie in ihrer Gesamtheit zu erfassen und die verfassungsrechtliche Konstruktion zu durchdringen.78

76 G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 16; G. Stourzh, JZ 1976, S. 397 (401); K. Stern, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 1, Rdnr. 25. 77 Dazu ausführlich J. Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, S. 24 ff.; vgl. auch R. Wahl, Staat 20 (1981), S. 485 (491). 78 H. Dippel, Die amerikanische Verfassung in Deutschland im 19. Jahrhundert, S. 24 ff.

IV. Auswirkungen auf den deutschen Frühkonstitutionalismus

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3. Konkrete Vorbildfunktion für Frankreich Zu These 3: Erst in Frankreich konnte sich ein politischer Wille hinter der Grundrechtsidee formieren, der deren Umsetzung ermöglichte. Bei der Rezeption der nordamerikanischen Menschenrechtserklärungen ging das revolutionäre Frankreich einen Schritt weiter, als es das spätabsolutistische und frühkonstitutionelle Deutschland tat: Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass solche Menschenrechtskataloge mit der bestehenden Ordnung nicht vereinbar waren, standen doch handfeste Hindernisse der absolutistischen Staatspraxis Frankreichs entgegen. Anstatt aber das Konzept der Menschenrechte so abzuändern und abzumildern, dass es sich in die bestehende Ordnung einfügte, hielt Frankreich an der Idee angeborener und unveräußerlicher Menschenrechte in verfassungsrechtlich verbriefter Form fest und strebte eine unmittelbare Übernahme des nordamerikanischen Konzepts an. Dann allerdings war eine Veränderung der bestehenden Ordnung erforderlich. Da in Frankreich ohnehin schon eine große Unzufriedenheit über die wirtschaftliche und politische Unterdrückung des dritten Standes herrschte, sah man es nicht als Hindernis an, dass die Menschenrechtserklärungen wie eine Antithese zu den bestehenden rechtlichen und sozialen Verhältnissen wirken mussten.79 Mit den politischen Interessen der Revolutionäre stimmten sie durchaus überein. Die französische Menschenrechtserklärung von 1789 war daher durch die nordamerikanischen Vorbilder beeinflusst. Zwar war die Forderung nach bestimmten Freiheitsrechten in Frankreich schon vorher bekannt, ihre Positivierung in einer Verfassung wurde aber erst nach dem nordamerikanischen Beispiel von 1776 gefordert.80 Somit wurden die revolutionäre Sprengkraft und umstürzende Energie der Menschenrechtserklärungen erst mit der Übernahme des nordamerikanischen Modells in Frankreich deutlich. 4. Fortbestand des fehlenden Universalismus Zu These 4: Von einer politisch motivierten Relativität der Grundrechte konnte auch im deutschen Frühkonstitutionalismus Gebrauch gemacht werden. Insgesamt wurde durch den fehlenden Universalismus auch der Wert der nordamerikanischen Menschenrechtserklärungen als Vorbild für die Grundrechtsentwicklung in Europa geschmälert: Denn Nordamerika zeigte nicht nur, wie man das Naturrecht positivierte, sondern auch, dass es in der Praxis durchaus möglich war, aus politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gründen von 79 80

H. Hattenhauer, Grundlagen, Rdnr. 70. Vgl. G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 16 f.

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4. Kap.: Virginia Bill of Rights als erste Menschenrechtserklärung

der naturrechtlichen Menschenrechtsidee abzuweichen. In Europa musste das zwei Auswirkungen haben: Einerseits nahm es den Herrschern die Angst vor der Positivierung von Grundrechten, wusste man doch, dass ihre Geltung in der Wirklichkeit relativiert werden konnte. Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, weshalb sich die frühkonstitutionellen Landesfürsten überhaupt auf die einseitige Oktroyierung von Grundrechten einließen. Andrerseits wurde aber auch die Wirkungsmöglichkeit der Grundrechte stark eingeschränkt. So war es z. B. völlig unproblematisch, trotz der naturrechtlichen Gleichheit aller von einem Frauenwahlrecht abzusehen.81 Von der Möglichkeit, die Geltung der Grundrechte einzuschränken, wurde dann auch im deutschen Frühkonstitutionalismus Gebrauch gemacht.

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Vgl. zum fehlenden Frauenwahlrecht H. Hofmann, NJW 1989, S. 3177 (3182).

5. Kapitel

Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und ihre revolutionäre Ausstrahlungskraft Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte – die „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ – vom 26. August 1789 leitete die moderne europäische Grundrechtsentwicklung ein.1 Die Gegner des königlichen Despotismus und der absolutistischen Willkür waren so stark geworden, dass sich eine revolutionäre Stimmung entzündete.2 Unterstützt wurde diese Entwicklung durch die Staatsvorstellungen der französischen Philosophen, die vor allem mit dem volonté générale Rousseaus und der Gewaltenteilung Montesquieus neue Maßstäbe setzten.3 Hinzu kam ein wirtschaftsrevolutionäres Potential, da das langsam erstarkende Bürgertum auf Mitsprache drängte und die erfolglose Wirtschaftspolitik des absolutistischen Herrschers nicht mehr zu erdulden bereit war.4 Vor diesem Hintergrund war die Ständeversammlung, die sich am 6. Juli 1789 zur verfassungsgebenden Nationalversammlung erklärt hatte, bereit, die bisherige Ordnung grundsätzlich umzugestalten.

I. Der revolutionäre Charakter der Erklärung Bislang hatte es in Frankreich große Standesunterschiede gegeben. Aufgrund der Feudalordnung und des Lehenwesens waren die Lebensbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen sehr unterschiedlich. Dazu stand der Art. 1 der Menschrechtserklärung in einem großen Gegensatz, der bestimmte, dass alle Menschen frei und gleich an Rechten geboren werden sollten. Von dieser naturrechtlichen Vorstellung der Gleichheit war – anders als in Nordamerika – die französische Realität weit entfernt. Die Menschenrechtserklärung war revolutionär, denn sie forderte einen grundlegenden Gesellschaftswandel. Feudale Privilegien sollten aufgehoben und Standesunterschiede eingeebnet werden.5 1

Vgl. J. Ipsen, Staatsrecht II, Rdnr. 21. Vgl. dazu R. Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte, S. 309 ff. 3 Vgl. dazu W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rdnr. 60; vgl. ausführlich R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, S. 106 ff. (Rousseau), S. 122 ff. (Montesquieu). 4 G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 65; B. Pieroth, Jura 1984, S. 568 (573). 2

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5. Kap.: Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte

Doch nicht nur die gesellschaftlichen, sondern vor allem die staatsrechtlichen Auswirkungen zielten auf eine radikale Veränderung ab.6 Die absolute Souveränität des Monarchen musste den angeborenen Menschenrechten weichen. Schon die Einleitung der Erklärung besagte, dass „die Unkenntnis, das Vergessen oder die Verachtung der Menschenrechte die alleinigen Ursachen des öffentlichen Unglücks und der Verderbtheit der Regierungen“ waren.7 Daraus ging hervor, dass die Menschen- und Bürgerrechte für künftige Regierungen bindend sein sollten und ihr Schutz war gemäß Art. 2 „Ziel jeder politischen Vereinigung“. Danach wurde die künftige Organisation des Staates näher umrissen: Art. 3 forderte die „Souveränität der Nation“ und gemäß Art. 6 sollte jedes Gesetz „Ausdruck des allgemeinen Willens“ sein. Dahinter verbarg sich das Recht aller Bürger, an der Gesetzgebung mitzuwirken, sei es direkt oder durch Repräsentanten.8 Insgesamt wurde damit dem Ancien Régime und der alten Ordnung eine „revolutionäre Kampfansage“9 erteilt. 1. Inhaltliche Reichweite und Zusammenhang von Freiheit und Gleichheit Zentrales Anliegen der Menschen- und Bürgerrechtserklärung war die prinzipielle Gleichberechtigung aller Bürger, weshalb zunächst alle Privilegien und Standesunterschiede abgeschafft werden mussten.10 Dadurch erfuhr auch der Freiheitsbegriff einen grundsätzlichen Wandel. Während es in der ständischen Feudalgesellschaft nur einzelne, partielle Freiheiten gab, die z. B. durch vertragliche Vereinbarung gegenüber dem König behauptet werden konnten, hatte sich die Situation grundsätzlich gewandelt: Das Gleichheitsrecht bewirkte eine Freiheit von Privilegien und eine allgemeine, für alle geltende Gesetzgebung. Dadurch wurde für jeden der gleiche Ausgangspunkt geschaffen, seine Freiheit innerhalb des gesetzlich abgesteckten Rahmens zu entfalten.11 Folglich bewirkte das Bekenntnis zur Gleichheit ein umfassendes, allgemeines Freiheitsverständnis.

5 Vgl. H. Hofmann, NJW 1989, S. 3177 (3180); F. Hartung, Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte, Einführung, S. 18. 6 Vgl. Th. Würtenberger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 10; H. Hofmann, NJW 1989, S. 3177 (3180). 7 Abgedruckt und übersetzt bei Willoweit/Seif (Hrsg.), Europäische Verfassungsgeschichte, S. 250 ff.; Hartung/Commichau/Murphy (Hrsg.), Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 72 f. 8 H. Hofmann, NJW 1989, S. 3177 (3180). 9 F. Hartung, Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte, Einführung, S. 18. 10 Vgl. M. Kriele, in: FS Scupin, S. 187 (191); B. Pieroth, Jura 1984, S. 568 (574). 11 Vgl. H. Hofmann, NJW 1989, S. 3177 (3181).

II. Schwachstellen der Menschen- und Bürgerrechte

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2. Funktion als Programm Die beabsichtigten gesellschaftlichen und staatsrechtlichen Veränderungen konnten allerdings allein durch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte nicht vollzogen werden. Stattdessen war es Aufgabe des Gesetzgebers, die Freiheits- und Gleichheitssätze umzusetzen und damit zum Leben zu erwecken. Die Menschenrechte fungierten dabei als Programmsätze, sie waren abstrakt deklaratorisch und mussten durch das Gesetz realisiert werden.12 Ein erster Schritt zur Umsetzung der Gleichheit war bereits am 4.8.1789 mit der Abschaffung aller Privilegien und am 11.8.1789 mit dem Dekret zur Abschaffung des Feudalwesens getan worden. Bezeichnend war auch die Einleitung der französischen Verfassung von 1791: „Es gibt keinen Adel mehr, keine Pairs, keine erblichen Unterschiede, keine Standesunterschiede, keine Lehensherrschaft, keine Patrimonialgerichtsbarkeiten, keine daraus abgeleiteten Titel, Benennungen und Vorrechte, keine Ritterorden, keine Körperschaften oder Auszeichnungen, die Nachweise adeliger Abstammung erforderten oder die auf Unterschieden der Geburt beruhten, und keinen anderen Vorzug als den der öffentlichen Beamten in Ausübung ihres Dienstes.“13

In der Realität war dadurch eine egalitäre Staatsbürgerschaft aber noch nicht geschaffen und die Menschenrechte sollten Erinnerung und Ansporn für den Gesetzgeber sein. Sie wurden als philosophische Wahrheiten verkündet, die das Ziel vorgaben, das es zu erreichen galt und an dem alle künftigen Handlungen der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt zu messen waren.14

II. Schwachstellen der Menschen- und Bürgerrechte Mit der programmatischen Verkündung einer neuen Ordnung hatte die französische Nationalversammlung eine schwierige Aufgabe für den künftigen Gesetzgeber formuliert, dem die Umsetzung des Programms oblag. Der Schutz der Menschen- und Bürgerrechte war aber davon abhängig, inwieweit diese Aufgabe bewältigt werden konnte.

12 B.-O. Bryde, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 17, Rdnr. 5; D. Grimm, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 359 (365 f.); B. Pieroth, Jura 1984, S. 568 (574); H. Hofmann, NJW 1989, S. 3177 (3182); D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 40 f. 13 Vgl. Abdruck und Übersetzung bei Willoweit/Seif (Hrsg.), Europäische Verfassungsgeschichte, S. 292 (293). 14 So die Einleitung der Erklärung, vgl. Willoweit/Seif (Hrsg.), Europäische Verfassungsgeschichte, S. 250 f.; Hartung/Commichau/Murphy (Hrsg.), Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 73.

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5. Kap.: Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte

1. Gefahren bei der Umsetzung des Programms Entscheidend für die Geltungskraft der Grundrechte war die Umsetzung des mit der Déclaration formulierten Programms. Einerseits ist positiv hervorzuheben, dass z. B. in der Verfassung von 1791 mit der Einführung der Freizügigkeit sowie des Versammlungs- und Petitionsrechts der Versuch zur Konkretisierung durchaus unternommen wurde.15 Andrerseits aber war keineswegs sichergestellt, dass sich künftige gesetzliche Regelungen tatsächlich an den „unbestreitbaren Grundrechten“ orientierten. Durch das Konkretisierungserfordernis wurde für verschiedene Interessengruppen eine große Einflussmöglichkeit auf den Gesetzgeber geschaffen, die letztlich die korrekte Umsetzung der Grundrechte zu verzerren drohte. Es war aber erst die Umsetzung, die für den Bürger eine Veränderung schuf. Die pathetische Formulierung der Menschenrechtserklärung allein vermochte einen Wandel seiner Situation nicht zu bewirken. Allenfalls drohte das deklaratorische Bekenntnis einen Schein der Menschenrechtssicherungen zu bewirken, der über die Abwesenheit oder die verfälsche Umsetzung der Menschenrechte in der Realität hinwegtäuschte.16 2. Keine Freiheit vor dem Gesetz Durch den programmatischen Charakter der Menschenrechtserklärung war auch ihr Verhältnis zum einfachen Gesetz geprägt. Anders als in Nordamerika konnte sich das Institut des Verfassungsvorrangs zur Absicherung der individuellen Freiheiten nicht entwickeln. Es ging nicht darum, die Tätigkeit des Gesetzgebers einzuschränken und auf ihre Übereinstimmung mit der Verfassung zu überwachen. Die französische Menschenrechtserklärung war geradezu eine zukunftsgerichtete Aufforderung an den Gesetzgeber, aktiv zu werden und eine neue Ordnung zu erschaffen – eine Aufforderung, die später auch die frühkonstitutionellen Grundrechte enthielten.17 Eine konsequente Verfassungsgerichtsbarkeit hätte zur konkreten Umsetzung der Grundrechte nicht viel beitragen können: Zwar hätte sie einen Großteil der alten Gesetze für nichtig erklären, aber keine neue Ordnung gesetzlich aufbauen und absichern können. In Frankreich suchte man daher keine Freiheit vor dem Gesetz, sondern gerade durch das Gesetz. Die Erfahrung freiheitseinschränkender parlamentarischer Maßnah15 Vgl. F. Hartung, Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte, Einführung, S. 19. 16 Das hat schon der preußische Landrechtsautor E. F. Klein, erkannt, der sich in Freyheit und Eigenthum, S. 71 f., in Dialogform zur französischen Menschenrechtserklärung äußert. Ariomachus: „Bestimmt sagen sie? Ja, wenn sie nur etwas bestimmt hätten! Stattdessen haben sie uns Sätze geliefert, die man drehen und wenden kann, wie man will.“; vgl. auch M. Kriele, in: FS Scupin, S. 192; K. Stern, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 1 Rdnr. 29. 17 Vgl. unten 9. Kapitel, III.

II. Schwachstellen der Menschen- und Bürgerrechte

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men hatte man nicht gemacht. Stattdessen war die Nationalversammlung als Verkörperung der „Souveränität der Nation“ gerade eine Errungenschaft der Revolution, welche zur Konkretisierung der Freiheitsrechte prädestiniert zu sein schien. Die von dieser Nationalversammlung verabschiedeten Gesetze wurden gemäß Art. 6 der Erklärung als Ausdruck des „allgemeinen Willens“ gesehen. Dahinter verbarg sich Rousseaus Lehre vom volonté générale. Hierbei handelte es sich um den vernunftgetragenen, wahren Willen der Gesellschaft, der automatisch die Interessen der einzelnen Mitglieder widerspiegelte, ohne die bloße Summe der Individualwillen zu sein.18 Dieser volonté générale umfasste auch die angeborenen Menschenrechte, deren Genuss letztlich Ziel des Staates war. Folglich musste auch das Gesetz Ausdruck der Menschenrechte und der grundlegenden Prinzipien sein, auf denen der Staat beruhte. Eine Verfassungswidrigkeit wurde somit denkunmöglich.19 Dieses Gesetzesverständnis hatte den Vorteil, dass das Gesetz zum Motor einer neuen Ordnung werden konnte. Denn die Konkretheit des Gesetzes war erforderlich, um die alte Ordnung der Standesunterschiede und Privilegien abzubauen; allein ein abstrakt formuliertes Menschenrecht genügte dazu nicht. Andrerseits konnte nicht garantiert werden, dass sich im Gesetz wirklich der volonté générale ausdrückte. Die Mitwirkung des Volkes an der Gesetzgebung war nur repräsentativ und schloss keineswegs aus, dass das Repräsentativorgan in Einzelfragen nicht mit dem allgemeinen Willen übereinstimmte. In dem Moment aber, wo das Gesetz vom allgemeinen Willen abwich, konnte es auch von der Vorstellung angeborener Menschenrechte abweichen und diese sogar verletzten. Einen Schutzmechanismus gegen solche Verletzungen gab es erst bei den nächsten Wahlen und die Menschenrechte blieben vorerst ungesichert. 3. Relativität politischer Mitwirkungsrechte Die Repräsentation des volonté générale in der gesetzgebenden Nationalversammlung war außerdem durch die Relativität der politischen Mitwirkungsrechte verzerrt. Denn obwohl alle Menschen „gleich“ sein sollten und die Souveränität bei der Nation lag, bedeutete dies nicht, dass von jedem Einzelnen die Souveränität in gleicher Weise ausging: Bei den ersten Wahlen, die nach der Revolution im Jahre 1791 stattfanden, waren Frauen vom Wahlrecht ganz ausgeschlossen.20 Insgesamt waren die Mitwirkungsbefugnisse von der Steuerleistung abhängig und ca. drei Millionen Männern wurde ebenfalls das Wahlrecht 18

J.-J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, II. Buch, Kap. 1 ff. Vgl. Th. Würtenberger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 8; B. Pieroth, Jura 1984, S. 568 (574). 20 Zum geforderten Frauenwahlrecht vgl. H. Hofmann, NJW 1989, S. 3177 (3182). 19

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5. Kap.: Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte

verwehrt.21 Diese Regelung trug die Handschrift des wirtschaftlich erstarkenden Bürgertums und verdrängte universelle naturrechtliche Menschenrechtsvorstellungen. Gleichheit wurde nicht als unentziehbares, individuelles Recht verstanden, sondern zum bloßen Staatsorganisationsprinzip abgeschwächt, das die dargestellten Abstufungen erlaubte.22 Es wird deutlich, dass die Grundrechte das Produkt unterschiedlicher Kräfte waren, deren Vorstellungen aber nicht immer kongruent waren. In Frankreich setzten sich sowohl die Philosophen als auch das wirtschaftlich erstarkende Bürgertum für liberale Freiheitsrechte ein. Problematisch war nun, dass beide Einflüsse bei der konkreten Umsetzung zu Widersprüchen führten. Ohne den Einfluss des besitzenden und gebildeten Bürgertums, dass seit 1770 unter dem Begriff „droit fondamtaux“ vor allem wirtschaftliche Freiheit gefordert hatte23, wäre es vielleicht nicht zur Menschenrechtserklärung von 1789 gekommen. Gleichzeitig wurde aber 1789 der Gedanke angeborener Gleichheit und Freiheit gerade von diesen bürgerlichen Interessen überlagert.24 Letztlich zeigte schon der Name der Erklärung, dass nicht allein die Natur des Menschen, sondern auch der Status als Bürger Anknüpfungspunkt für die Menschen- und Bürgerrechte war. Insgesamt wird deutlich, dass die rechtliche Geltungskraft von Grundrechten immer nur dann beurteilt werden kann, wenn das komplexe Ursachengeflecht aufgedeckt ist. Dies gilt insbesondere für die frühkonstitutionellen Grundrechte, die in einem Spannungsfeld unterschiedlicher, z. T. gegenläufiger Ursachen lagen.

III. Auswirkungen auf Deutschland Der Bruch mit der alten Ordnung, der in Frankreich durch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte erfolgte, begann auch am deutschen Staatsverständnis zu rütteln. Einen revolutionären Umsturz gab es in Deutschland allerdings nicht und somit waren die Entfaltungsmöglichkeiten der Menschenrechtserklärung begrenzt.

21 Vgl. H. Hofmann, NJW 1989, S. 3177 (3182); vgl. zum Wahlrecht Titel III der Verfassung, Kap. I, Abschnitt II, Art. 2 ff., wonach aktiv wahlberechtigte Bürger Steuern zahlen mussten, die einem Wert von drei Arbeitstagen gleichkamen, Zahlungsunfähige durften überhaupt nicht wählen (Art. 5); abgedruckt bei Willoweit/Seif (Hrsg.), Europäische Verfassungsgeschichte, S. 292 ff. 22 W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rdnr. 64 f. 23 Vgl. G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 65. 24 W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rdnr. 65.

III. Auswirkungen auf Deutschland

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1. Vergleich der Situation Deutschlands und Frankreichs vor 1789 Zunächst zeigt ein Vergleich der Zeit vor der Revolution, dass die Ausgangsbedingungen in Deutschland anders waren als in Frankreich. Eine grundsätzliche Gemeinsamkeit bestand in den Hindernissen für die Grundrechtsentwicklung: Auch in Deutschland gab es eine alte Ordnung von Standesunterschieden, Feudalordnungen und Privilegien25, mit der es zu brechen galt, bevor der Gedanke angeborener Menschenrechte umgesetzt werden konnte. Anders als in Frankreich entzündete sich der revolutionäre Funke allerdings nicht. Das deutsche Naturrecht kannte zwar Freiheitsrechte, denen später auch eine gewisse politische Bedeutung beigemessen werden konnte, diese zielten aber nicht auf einen revolutionären Umsturz ab.26 Und auch die politische Stimmung war in Deutschland eine andere: Zwar gab es in den Einzelstaaten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation einen mehr oder weniger stark ausgeprägten Absolutismus, nirgends aber war er von solch übersteigerter Willkür wie in Frankreich. Es gab keine Zentralgestalt wie den französischen König Ludwig XVI., gegen die sich als Symbol absolutistischer Willkür der Argwohn der gesamten Nation richten konnte.27 Die politische Unzufriedenheit, die auch im Reich zweifelsohne bestand, vermochte sich also in Deutschland nicht zu einer revolutionären Stimmung der Nation zu steigern.28 Diese wäre jedoch für einen Bruch mit der alten Ordnung und für die Annahme revolutionärer Menschenrechte erforderlich gewesen. Grund- und Menschenrechte waren weder eine verbreitete politische Forderung noch wurden sie vom Naturrecht mit dem notwendigen Nachdruck theoretisch untermauert. 2. Ausstrahlungswirkung der französischen Menschenrechtserklärung Die Verkündung der Menschenrechte in Frankreich strahlte aber auch auf Deutschland aus. Hier hatte der beschriebene Charakter der französischen Menschenrechtserklärung als abstraktes, philosophisches Programm einen entscheidenden Vorteil: Als allgemein formulierte Leitsätze konnten die Grundrechte theoretisch auch für Deutschland gelten, sie waren ohne weiteres übertragbar 25 Vgl. dazu ausführlich O. Hintze, in: Staat und Verfassung, S. 84 ff.; K. Huber, in: FS Huber, S. 17 f. 26 Vgl. dazu auch U. Scheuner, in: FS Huber, S. 139 (141), der in Deutschland vor 1789 keinen Ansatz menschlicher Freiheitsrechte nach angelsächsischen Vorbild erkennen kann. Dem ist bezüglich revolutionärer Grundrechte zuzustimmen. 27 Vgl. dazu A. von Knigge, Über die Ursachen, warum wir vorerst in Deutschland wohl keine gefährliche politische Haupt-Revolution zu erwarten haben, abgedruckt in: Stammen/Eberle (Hrsg.), Deutschland und die Französische Revolution, S. 254; F. Hartung, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staats, S. 152 (167). 28 Vgl. A. Voigt, Geschichte der Grundrechte, S. 38.

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5. Kap.: Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte

und mussten nicht angepasst werden. So konnten die französischen Revolutionäre ein Sendungsbewusstsein entwickeln und gingen davon aus, „Wahrheiten zu sagen für alle Zeiten und für alle Länder“.29 Sobald die Menschenrechtsidee daher in Frankreich als „richtig“ erkannt war, forderte sie auch in Deutschland ihre Geltung.30 3. Politische Stoßkraft Es war aber nicht nur abstraktes Gedankengut, das von der die französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte nach Deutschland gebracht wurde, sondern diese gewann in Verbindung mit der Revolution eine politische Funktion: Frankreich hatte gezeigt, dass die alte Ordnung der Stände und Feudalprivilegien die Menschenrechtsidee nicht aufhalten musste, sondern dass es möglich war, im Interesse der Menschenrechte die alte Ordnung umzustoßen. Folglich war auch in Deutschland eine solche Veränderung nicht ausgeschlossen. Es zeigte sich, dass die naturrechtlichen Menschenrechtsvorstellungen umsetzbar waren und dass die Distanz zwischen der naturrechtlichen Wissenschaft und der konkreten historischen Situation überwunden werden konnte.31 Daraufhin wurden auch für Deutschland bereits am Ende des 18. Jahrhunderts einzelne Verfassungen entworfen, die von unveräußerlichen Menschenrechten ausgingen32, der unmittelbare Einfluss auf die tatsächliche deutsche Verfassungsentwicklung war jedoch unbedeutend. In Deutschland waren die Lager gespalten: Während nämlich die einen – angefeuert durch die revolutionäre Stimmung33 – auf einen plötzlichen Umsturz wie in Frankreich hofften, setzten die anderen auf den Erfolg einer langfristigen Reformpolitik. Deshalb entfachte sich in Deutschland zunächst nur eine theoretische Diskussion34, die in ihrer politischen Stoßkraft aber nicht zu unterschätzen ist. 29 So der feurige Aufruf Duports in der Nationalversammlung, zitiert nach A. Voigt, Die Geschichte der Grundrechte, S. 29; vgl. zum Sendungsbewusstsein auch E. Boutmy, in: Schnur, Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. 78 (88 f.). 30 J. A. Bergk, Untersuchungen aus dem Natur-, Staats- und Völkerrechte, S. 239 ff.; G. Wedekind, Einleitung und Kommentar zu den Rechten des Menschen und Bürgers, abgedruckt bei J. Garber (Hrsg.), Revolutionäre Vernunft, S. 37 ff.; J. G. Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution. 31 Vgl. D. Klippel, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 313 (332). 32 Vgl. den anonymen Verfassungsentwurf von 1799, abgedruckt bei Stammen/ Eberle (Hrsg.), Deutschland und die Französische Revolution, S. 427; sowie die Dokumente bei H. Dippel (Hrsg.), Die Anfänge des Konstitutionalismus in Deutschland, S. 32, 45 ff. 33 G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 68. 34 Vgl. D. Henrich, Einleitung zu Edmund Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution, S. 11; vgl. zur Verdichtung des Freiheitsbegriffes nach der Französischen Revolution vgl. unten 6. Kapitel, I. 2.

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Außerdem hatten die in Frankreich durchgeführten Veränderungen auch unmittelbare Auswirkungen auf den deutschen Nachbarstaat. Von der Abschaffung der feudalen Rechte durch die französische Nationalversammlung war auch das komplizierte Geflecht deutscher und französischer Rechte im Elsaß und in Lothringen betroffen, so dass auch deutsche Rechte, z. B. die der rheinischen Bistümer, der Revolution zum Opfer fielen.35 Die räumliche Nähe des linken Rheinufers bewirkte, dass die Revolution dort verstärkt Anhänger finden konnte.36 Folglich war es schon wegen dieser tatsächlichen Auswirkungen in Deutschland unmöglich, die Augen vor den Geschehnissen in Frankreich zu verschließen. 4. Beurteilung der französischen Entwicklung in Deutschland Die Idee der angeborenen Menschenrechte in verfassungsrechtlich verbriefter Form war in Europa ein absolutes Novum. Keineswegs war das Meinungsbild über eine solche Erneuerung abgeschlossen, solange es keinerlei Erfahrung über die praktischen Auswirkungen gab. Deshalb behielt man die Entwicklung der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte genau im Auge.37 Eine Beobachtung der weiteren französischen Geschehnisse war außerdem wichtig für Frage, ob auch in Deutschland Menschenrechte wie in Frankreich eingeführt werden sollten. a) Die Verfassung von 1791 Zunächst richtete sich die Aufmerksamkeit auf die Arbeit der verfassungsgebenden Nationalversammlung. Nach gründlichen Debatten von hohem intellektuellen Anspruch wurde am 3. September 1791 eine Verfassung verabschiedet, die eine konstitutionelle Monarchie vorsah.38 Das Prinzip der „Souveränität . . . der Nation“, das Art. 3 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung begründet hatte, fand nur begrenzte Umsetzung. Der König verkörperte noch immer die exekutive Gewalt39, auch wenn die Minister aus dem vom Volk gewählten Par35

Vgl. D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 255 f. Vgl. nur M. Metternich, Neun Gründe für einen Anschluß an das revolutionäre Frankreich, in: J. Garber (Hrsg.), Revolutionäre Vernunft, S. 152 ff. 37 Vgl. zur Aufmerksamkeit, die der Französischen Revolution gewidmet wurde A. Voigt, Geschichte der Grundrechte, S. 29 ff. 38 Vgl. W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rdnr. 69 ff. 39 Vgl. nur Titel III, Kap. IV, Art. 1 der Verfassung: „Die oberste vollziehende Gewalt ruht ausschließlich in der Hand des Königs.“, abgedruckt bei Willoweit/Seif (Hrsg.), Europäische Verfassungsgeschichte, S. 292 (330). Wie sehr man noch der Monarchie verbunden war, wird daran deutlich, dass ein Bild des Königs in alle Münzen des Königreichs eingeprägt werden musste, vgl. Titel III, Kapitel IV, Abschnitt 1, Art. 2. 36

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5. Kap.: Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte

lament ausgewählt werden mussten. Sobald nämlich der König seine Minister ernannt hatte, waren sie nur ihm verantwortlich und jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Kontrolle durch das Volk entzogen.40 Folglich mussten sie auch Grundrechtsverletzungen allenfalls gegenüber dem König verantworten. Zudem war das Wahlrecht durch eine Einteilung nach Steuerklassen eingeschränkt41 und es wirkte keineswegs die gesamte Nation an der Zusammensetzung des Parlaments mit. Selbst der verfassungsgebenden Nationalversammlung des revolutionären Frankreichs gelang es daher nicht, die abstrakten Programmsätze der Menschenrechtserklärung in letzter Konsequenz zu verwirklichen, stattdessen waren bei den politischen Mitspracherechten die Interessen des besitzenden und gebildeten Bürgertums ausschlaggebend.42 Vor diesem Hintergrund mussten die Geltungsmöglichkeiten der Menschenrechte in einem Land wie Deutschland, wo es eben keine Revolution gegeben hatte, erst recht relativiert werden. Der Gedanke der Souveränität der Nation kam in Frankreich jedoch bei der Ausgestaltung der Judikativen zum Tragen, denn die Richter wurden vom Volk gewählt.43 Außerdem hob sich die Verfassung durch eine erschwerte Abänderbarkeit klar vom einfachen Gesetz ab, obwohl ein Vorrang der Verfassung aus bereits dargestellten Gründen denkunmöglich war.44 Verfassungsänderungen konnten nämlich erst nach zehn Jahren praktische Wirkung entfalten.45 Da nun die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte Teil der Verfassung war, kann in dieser Regelung ein Mechanismus zum Schutze der individuellen Menschenrechte gesehen werden. Interessant ist, dass eine erschwerte Abänderbarkeit der Verfassung gar nicht erforderlich gewesen wäre, wenn das einfache Gesetz wirklich gemäß Art. 6 der Menschenrechtserklärung Ausdruck des volonté générale gewesen wäre. Aber genau daran schienen selbst die französischen Verfassungsgeber zu zweifeln, weshalb sie eine zusätzliche Absicherung bezweckten. Dabei handelte es sich aber nur um einen vorübergehenden Schutz, der nicht mit einer Verfassungsgerichtsbarkeit verglichen werden konnte. 40 Zwar war im Titel III, Kap. II, Abschnitt IV, Art. 5 der Verfassung bestimmt, dass die Minister für alle Angriffe auf Freiheit und Eigentum verantwortlich waren. Damit war eigentlich nicht nur eine Verantwortung gegenüber dem König gemeint, denn auch ein Befehl des Königs vermochte von dieser Verantwortung nicht zu entbinden. Da aber Minister allein vom König entlassen werden konnten (Art. 1), hatte letztlich niemand sonst die Möglichkeit, sie ernsthaft zur Verantwortung zu ziehen. 41 Vgl. dazu oben 5. Kapitel, II. 3. 42 F. Hartung, Die Entwicklung der der Menschen- und Bürgerrechte, Einführung, S. 19; G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 71. 43 So Titel III, Kapitel V, Art. 2. 44 Vgl. oben 5. Kapitel, II. 2. 45 Vgl. Titel VII, Art. 1 ff., wonach zunächst drei aufeinanderfolgende Nationalversammlungen den Wunsch einer Verfassungsänderung äußern mussten und dann eine Revisionsversammlung, deren Mitgliederanzahl die Nationalversammlung um 249 überstieg, über die Abänderung beschließen musste.

III. Auswirkungen auf Deutschland

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Mit dem Ausbrechen der Revolutionskriege zeigte sich dann, dass die Verfassung von 1791 nicht praxistauglich war. Schnelle Entscheidungen, die damals dringend benötigt wurden, konnten bei Meinungsverschiedenheiten zwischen König und Parlament nicht getroffen werden.46 Dieses schnelle Scheitern der Verfassung des Nachbarlandes konnte in Deutschland hervorragend dazu genutzt werden, Verfassungen insgesamt zu kritisieren und ihnen Funktionsunfähigkeit nachzusagen. In Frankreich wurde daraufhin ein Konvent mit der Ausarbeitung einer Verfassung beauftragt, an dessen Wahlen aber nur zehn Prozent der Bevölkerung teilnahmen.47 Das konnte im Reich als ein Scheitern des Gedankens der „Souveränität der Nation“ gesehen werden und bestätigte die Argumente der Revolutionsgegner. b) Die Jakobinerherrschaft Aufgrund der Zusammensetzung des verfassungsgebenden Konvents lebte in Frankreich der Gedanke der Demokratie erst richtig auf und die Revolution ging weiter. Am 24. Juni 1793 wurde die egalitär-demokratische Verfassung des Jahres I verabschiedet, an der vor allem die radikalen Jakobiner unter dem Einfluss Robespierres mitgewirkten. Die Monarchie wurde abgeschafft und aus der Souveränität der Nation wurde Volkssouveränität, die in allgemeinen Wahlen zum Ausdruck kam.48 Vorangestellt war der Verfassung eine erweiterte Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die erstmals eine konsequente Umsetzung hätten erfahren können. Gemäß Art. 2 stand die Gleichheit vor der Freiheit49, wodurch deutlich wurde, dass die Gleichheit Voraussetzung eines allgemeinen Freiheitsverständnisses war.50 Außerdem waren erstmals überhaupt soziale Grundrechte enthalten.51 Allerdings trat diese Verfassung, die durch eine weitere Egalisierung der Staatsbürgerschaft und die Volkssouveränität neue Perspektiven für die Grundrechtsgeltung bot, nie in Kraft, sondern wurde von Anfang an suspendiert. Aufgrund der schwach ausgestalteten Exekutive fürchtete man, die Revolutions46 Ein Gesetz, dem der König nicht zustimmte, trat erst in Kraft, wenn in den beiden darauffolgenden Legislaturperioden der gleiche Gesetzesbeschluss gefasst wurde, Titel III, Kap. III, Abschnitt III, Art. 2; zur Widersprüchlichkeit der Verfassung auch K. T. Richter, Staats- und Gesellschaftsrecht I, S. 286. 47 W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rdnr. 74. 48 G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 71 f. 49 Vgl. Abdruck und Übersetzung bei G. Franz (Hrsg.), Staatsverfassungen, S. 373. 50 Vgl. zu dem Zusammenhang oben 5. Kapitel, I. 1. 51 Vgl. z. B. Art. 17, der das Recht auf Arbeit nennt, Art. 21, der die öffentliche Unterstützung zur heiligen Pflicht macht und Art. 22, der den Unterricht sicherstellen soll; abgedruckt bei G. Franz (Hrsg.), Staatsverfassungen, S. 373 (377).

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5. Kap.: Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte

kriege, für die man eine starke Hand benötigte, nicht gewinnen zu können.52 In Deutschland entstand der Eindruck, dass die konsequente verfassungsrechtliche Verankerung von Grundrechten letztlich nur eine theoretische Möglichkeit war, deren praktisches Funktionieren die französischen Revolutionäre nicht zu beweisen in der Lage waren. Nach der Suspension der Verfassung von 1793 folgte in Frankreich die Schreckensherrschaft der Jakobiner.53 Ihr ursprüngliches Ziel war die Durchsetzung der Gleichheit aller. Da sie dabei von einer Besitzgleichheit ausgingen, mussten alle Güter neu verteilt werden. Das sowohl im Naturrecht als auch im Verständnis der Bevölkerung anerkannte Eigentumsrecht fiel diesen Bestrebungen zum Opfer. Angeführt von Robespierre gelang es dem Wohlfahrtsausschuss, Frankreich einer fürchterlichen Diktatur zu unterwerfen, in der willkürliche Hinrichtungen auf der Tagesordnung standen und die Guillotine zum wichtigsten Herrschaftsinstrument wurde.54 Die Menschenrechte wurden dabei vollkommen missachtet. Das Eigentumsrecht gab es schlichtweg nicht mehr und es drohten täglich Angriffe auf Freiheit und Leben, die vor der Revolution noch unvorstellbar gewesen waren. In Deutschland wurde dieses Schreckenszenario (la Tereur) als abschreckendes Argument gegen revolutionäre Menschenrechte genutzt. In Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution entstand der Konservativismus als politische Denkrichtigung, der den überzogenen Individualismus und Rationalismus der Revolutionäre ablehnte.55 Wenn das Ergebnis der Menschenrechte in der Praxis ein solch chaotischer Zustand sein sollte, verzichtete man gerne darauf und hielt an der alten Ordnung fest.56 Eine theoretische Basis für diese Argumentation fand man bei Edmund Burke, der in seinen „Betrachtungen über die Französische Revolution“ schon vor der Jakobinerherrschaft auf die Gefahren der Freiheit hingewiesen und den Terror prophezeit hatte. Das eigentliche Ziel des keineswegs antiliberalen Burke57 war es, die Einflüsse der Französischen Revolution von Großbritannien abzuschirmen. Durch eine sehr konservative Rezeption wurde sein Werk zur Rechtfertigung der deutschen Restaurationspolitik.58 Doch nicht nur auf konservativer Seite, sondern auch bei den ursprünglichen Anhängern der Revolution machte die Ja52

Vgl. W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rdnr. 80. Vgl. K. T. Richter, Staats- und Gesellschaftsrecht I, S. 357. 54 So K. T. Richter, Staats- und Gesellschaftsrecht I, S. 360; vgl. auch den anonymen Beitrag „Robespierres Herrschafts-System, Tyranney. Verwüstung Frankreichs.“, Politisches Journal 1794, S. 744. 55 O. Depenheuer, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 11, Rdnr. 5 f. 56 Vgl. nur die Argumentation bei J. J. Willemer, Besitzen denn die Franzosen die Freiheit, welche sie uns anbieten?, S. 1 ff.; vgl. auch Th. Würtenberger, in: Merten/ Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 15. 57 So verteidigte er in engl. Konstitutions- bzw. Revolutionsgesellschaften die Errungenschaften der Glorreichen Revolution, Betrachtungen über die Französische Revolution, S. 28 ff. 53

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kobinerherrschaft einen nachhaltigen, abschreckenden Eindruck und es trat eine zunehmende Desillusionierung der deutschen Revolutions- und Menschenrechtsbefürworter ein.59 c) Die Verfassung des Jahres III und die Konsulatsverfassung Napoleons In Frankreich folgte als Reaktion auf die Jakobinerdiktatur die Verfassung des Jahres III vom 22. August 1795.60 Sie hatte die Funktion, die bürgerliche Ordnung zu legitimieren, die sich nach der Entfeudalisierung herausgebildet hatte.61 Die Menschenrechte wurden dabei auf Rechte innerhalb der Gesellschaft beschränkt und durch Pflichten überlagert. Nach dem Staatsstreich Napoleons im Jahre VIII am 25. Dezember 1799 wurde die sog. Konsulatsverfassung verabschiedet, die auf einen Menschenrechtskatalog ganz verzichtete.62 Lediglich im Schlussteil waren rudimentäre Ansätze von Freiheitsrechten zu finden. Die Menschenrechte, die „ständig gegenwärtig“ und „Ziel einer jeden politischen Vereinigung“63 sein sollten, waren folglich selbst in ihrem Geburtsland innerhalb von zehn Jahren nicht nur in der Realität durch die Schreckensherrschaft der Jakobiner grob missachtet worden, sondern auch in der Verfassung selbst in Vergessenheit geraten. In Deutschland wurde die Grundrechtsidee daher nur als eine vorübergehende abgetan, deren funktionierende verfassungsrechtliche Umsetzung nicht möglich war. Als sich Napoleon im Jahre 1804 auch noch zum Kaiser krönen ließ, schien die Idee der Volkssouveränität ein endgültiges Ende zu nehmen und man war zum Modell eines einzelnen Herrschers, der alle Macht in seinen Händen vereinigte, zurückgekehrt. Spätestens damit endete die konkrete Vorbildfunktion der Französischen Revolution auf die deutsche Verfassungsgeschichte.64

58 F. Gentz, Betrachtungen über die Französische Revolution, mit einer Einleitung, Anmerkungen und politischen Abhandlungen; vgl. auch D. Henrich, Einleitung, S. 21. 59 H. Fenske, Der liberale Südwesten, S. 28 f. 60 Abgedruckt und übersetzt bei Willoweit/Seif (Hrsg.), Europäische Verfassungsgeschichte, S. 351 ff. 61 Vgl. K. T. Richter, Staats- und Gesellschaftsrecht I, S. 360; B. Pieroth, Jura 1984, S. 568 (574). 62 K. T. Richter, Staats- und Gesellschaftsrecht I, S. 420; F. Hartung, Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte, Einführung, S. 22; Abdruck und Übersetzung der Verfassung finden sich bei Willoweit/Seif (Hrsg.), Europäische Verfassungsgeschichte, S. 392 ff. 63 Vgl. die Einleitung der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. 64 W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rdnr. 85.

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5. Kap.: Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte

d) Die Charte Constitutionnelle von 1814 Nach Napoleons Sturz wurde Ludwig XVIII. König und am 4. Juni 1814 trat als Verfassung die „Charte Constitutionnelle“ in Kraft. In dieser Verfassung kam es im Vergleich zu den Konstitutionen der Revolution zu einem Vorzeichenwechsel und es bestand ein grundsätzlicher Unterschied: Es war nicht Ziel der Verfassung, an unveräußerliche Menschenrechte zu erinnern, sondern es ging darum, die Herrschaftsgewalt des Monarchen in eine verfassungsrechtliche Form zu gießen und seine Stellung nach den bewegten Zeiten der Revolution zu festigen.65 Zugrunde lagen der Charte die Gedanken von Benjamin Constant. Dieser sah eine Verfassung nicht als Folge einer Revolution, sondern brachte sie mit der Monarchie in Einklang. Dadurch wurde er zum Theoretiker des Konstitutionalismus. Nach Vorstellung Constants gab es – abgesehen von einer bedeutungslosen Munizipalgewalt – vier relevante Gewalten. Zunächst waren da die drei Gewalten der Judikative, Exekutive und Legislative, die schon Montesquieu herausgearbeitet hatte. Darüber thronte die vierte, königliche Gewalt (le pouvoir royal), die das Zusammenspiel der anderen drei Gewalten überwachte.66 Folglich stand der konstitutionelle Monarch über den anderen Gewalten und durch seine Einflussmöglichkeiten auf diese war eine konsequente Gewaltenteilung ausgeschlossen. Deshalb war auch der Monarch Inhaber der staatlichen Gewalt, an der das Volk keinen Anteil hatte. In der Charte Constitutionnelle waren die ursprünglich revolutionären Grundrechte nur noch rudimentär enthalten und zu „Staatsrechten der Franzosen“67 zurechtgestutzt. Sie umfassten die Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 1), die individuelle Freiheit (Art. 4) sowie die Religionsfreiheit (Art. 5). Politische Rechte gab es nicht. Dafür wurde aber – nach den Erfahrungen unter der Jakobinerherrschaft durchaus verständlich – das Eigentum in Art. 9 geschützt und gemäß Art. 10 war die Aufopferung entschädigungspflichtig. Somit wurden zwar gegenüber der ursprünglichen Grundrechtsidee der Revolution Abstriche gemacht und die politische Dimension der Grundrechte missachtet. Es wurde jedoch die bürgerliche Sozialordnung gesichert und eine Form gefunden, in der die Rechte der französischen Bürger die Restaurationszeit überdauern konnten.68 Für Deutschland war die Charte Constitutionnelle ein ideales Modell, zwei sich eigentlich widersprechende Interessen zu vereinen, nämlich das Streben 65

O. Kimminich, Verfassungsgeschichte, S. 328. B. Constant, Cours de politique constitutionnelle, S. 57 ff.; vgl. auch Grundprinzipien der Politik, in: Werke IV: Politische Schriften, S. 31 f. 67 Vgl. den Abdruck und die Übersetzung der Staatsrechte aus Art. 1–12 bei Willoweit/Seif (Hrsg.), Europäische Verfassungsgeschichte, S. 481 (485). 68 Vgl. F. Hartung, Die Entwicklung der Menschenrecht- und Bürgerrechte, Einführung, S. 23. 66

IV. Zusammenfassung

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nach einer Verfassung einerseits und das Festhalten an der Monarchie andrerseits. Da sich die Charte zudem im Gegensatz zu den Revolutionsverfassungen als überaus funktionsfähig und dauerhaft erwies, vergrößerte sich auch in Deutschland die Anhängerschaft dieses Modells.69 Nachdem Frankreich die Nachteile des Absolutismus und der republikanischen Staatsform aktiv vorgelebt hatte, schien die konstitutionelle Monarchie der goldene Mittelweg70, durch den das Volk in der Realität ein größeres Maß an Freiheit erreichen konnte.

IV. Zusammenfassung Durch die Französische Revolution gewann die Menschenrechtsidee in Deutschland an Aktualität. Erstmals war gezeigt worden, dass Menschenrechte der bestehenden Ordnung vorgehen und diese umstürzen konnten. Somit schien die Positivierung von Freiheitsrechten auch in Deutschland möglich und die politische Forderung nach Grundrechten entstand. Es gelang in Frankreich jedoch nicht, die Funktionsfähigkeit der angeborenen, revolutionären Menschenrechte in der Praxis sicherzustellen. Von Dauer erwiesen sich erst die Staatsbürgerrechte in der Charte Constitutionnelle, deren Vorbildcharakter für Deutschland daher bedeutender war und auch im Frühkonstitutionalismus prägend sein sollte.

69 Zur Modellfunktion der Charte Constitutionelle G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 81; Th. Würtenberger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 15; F. Hartung, Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte, Einführung, S. 23; W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rdnr. 89. 70 O. Kimminich, Verfassungsgeschichte, S. 327.

6. Kapitel

Freiheitsrechte in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts In Deutschland war die Situation am Ende des 18. Jahrhunderts dadurch gekennzeichnet, dass es keiner Revolution bedurfte, um Freiheitsrechte zu schaffen. Diese unterschieden sich allerdings grundsätzlich von angeborenen Menschenrechten. Anders als in Frankreich hatte schon vor 1789 eine Phase der Umgestaltung eingesetzt und durch Reformen wurde der Revolution der Wind aus den Segeln genommen. Gerade nach der Französischen Revolution wurde immer wieder auf das kluge Vorgehen des Staates hingewiesen, „der den Ring selbst erweitert, ehe die Kraft des Baums ihn gewaltsam auseinander reißt.“1 Die Folge war, dass die revolutionäre Grundrechtsidee auf weniger nahrhaften Boden fiel. Die angestrebten Veränderungen sollten nicht grundsätzlicher Natur sein und aus der Herrschaftssphäre wurde immer nur ein solches Maß an Freiheit einfachgesetzlich geschaffen, wie es mit den Interessen der Herrschaft selbst vereinbar war.2 Hier waren die Auswirkungen der deutschen Naturrechtslehre zu spüren, nach der sich Freiheitsrechte durchaus mit der bisherigen Staatsordnung in Einklang bringen ließen. Von aufgeklärten Monarchen wie z. B. Friedrich dem Großen wurde sogar das Herrschersamt als auf einem naturrechtlichen Gesellschaftsvertrag beruhend verstanden.3 Die Aufklärung trug in Deutschland auch in der Herrschaftssphäre ihre Früchte und der revolutionäre Druck von unten wurde abgeschwächt. Die einfachgesetzlichen Freiheitsrechte waren vor allem ein Produkt des aufgeklärten Absolutismus, der besonders in Preußen und in Österreich ausgeprägt war. Erst im modernen, souveränen Staat gewann das Verhältnis des Individuums zum Staat selbst an Aktualität und die Frage nach der individuellen Freiheit verschärfte sich.4 In den kleineren Staaten Süd- und Mitteldeutschlands dagegen gab es noch althergebrachte ständische Ordnungen und eine omnipotente, 1 So K. F. von dem Knesebeck, abgedruckt in: Stammen/Eberle (Hrsg.), Deutschland und die Französische Revolution, S. 293; vgl. auch C. Clauer, Berlinische Monatsschrift 1790, S. 441 (457), der glaubt, dass die preußischen Gesetze auch ohne Revolution „meistentheils auf Recht der Menschheit beruhen“. 2 D. Grimm, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 359 (368); K. Stern, Staatsrecht III/1, S. 103. 3 Vgl. D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 249. 4 B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 38.

6. Kap.: Freiheitsrechte in Deutschland am Ende des 18. Jh.

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aufgeklärte Obrigkeit hatte sich nicht herausgebildet. Da aber gerade in diesen Staaten später die ersten frühkonstitutionellen Verfassungen entstanden, liegt der Verdacht nahe, dass die einfachgesetzlichen Freiheitsrechte des aufgeklärten Absolutismus auf die Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechte keinen maßgeblichen Einfluss gehabt haben können. Eine Untersuchung der einfachgesetzlichen Freiheitsrechte am Ende des 18. Jahrhunderts ist aber schon deshalb erforderlich, um den „Wert“ der Konstitutionalisierung der Freiheitsrechte zu erfassen, die in Süddeutschland im frühen 19. Jahrhundert erstmals erfolgte. Außerdem wiesen die Ausgangsbedingungen in einem absolutistischen Staat wie Preußen und in einem späteren, frühkonstitutionellen süd- oder mitteldeutschen Staat auch Gemeinsamkeiten auf: Beide Staaten waren gleichermaßen freiheitsstrebenden Kräften ausgesetzt, die im Eindruck der Französischen Revolution, in den gesellschaftlichen Veränderungen und im Wandel des Rechts- und Staatsdenkens bestanden. Der entscheidende Unterschied lag darin, wie mit diesen Kräften umgegangen wurde: In Preußen blieb zwar die Verfassung ein Versprechen, während in den späteren frühkonstitutionellen Monarchien verfassungsrechtlich verankerte Grundrechte entstanden. Dafür wurde in Preußen die einfachgesetzliche Kodifizierung zur realen Selbstverständlichkeit. Und dennoch ist auch dieser Unterschied nicht grundlegend, denn genau wie die preußischen Kodifikationen und Reformen „von oben“ erfolgten, wurden später auch die frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge überwiegend einseitig vom Staat verliehen.5 Eine Untersuchung der einfachgesetzlichen Freiheitsrechte des aufgeklärten Absolutismus zeigt die Unterschiede zwischen dem einfachgesetzlichen Freiheitsschutz und den verfassungsrechtlichen Staatsbürgerrechten. Erst das Ergebnis dieser Betrachtung kann Auskunft über die rechtliche Tragweite der Grundrechte im Frühkonstitutionalismus geben. Außerdem blieben die Freiheitsrechte des aufgeklärten Absolutismus trotz ihrer regionalen Begrenzung nicht ohne Einfluss auf den späteren deutschen Frühkonstitutionalismus: Sicher ist es richtig, dass die preußischen Freiheitsrechte zunächst auf das Staatsgebiet beschränkt waren. Der einfache Bauer oder Bürger in Süddeutschland gewann dadurch nicht an Freiheit hinzu und eine unmittelbare Auswirkung mag man verneinen können. Entscheidend war jedoch, dass der Einwohner Preußens und der Einwohner eines süd- oder mitteldeutschen Staates letztlich derselben Nation angehörten. Die Publizistik und Rechtswissenschaften waren größtenteils auf das gesamte Reich bezogen und die Diskussion um die individuelle Freiheit wurde daher in ganz Deutschland geführt.6 Selbst wenn die Aufklärungs- und Reformideen besonders in Preußen umgesetzt wurden, so beeinflussten sie die geistigen Strömungen im gesamten Reich.7 Sie 5 Auf diesen Zusammenhang weist auch D. Grimm, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 359 (368) hin. 6 Vgl. nur D. Klippel, in: Mohnhaupt, Rechtsgeschichte, S. 348 ff.

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6. Kap.: Freiheitsrechte in Deutschland am Ende des 18. Jh.

mussten nicht übersetzt werden und waren keine Schriften eines Ausländers, deren Anwendbarkeit auf Deutschland überprüft werden musste. Folglich musste das freiheitliche Gedankengut des aufgeklärten Absolutismus auf die anderen deutschen Staaten übergreifen. Es bewirkte, dass auch in diesen Staaten die Forderung nach Freiheitsrechten wuchs und liberale Strömungen gestärkt wurden, die später in den frühkonstitutionellen Monarchien und vor allem unter dem gemeinsamen Dach des Deutschen Bundes eine entscheidende Rolle spielen sollten. Eine Betrachtung des geistigen Klimas und der freiheitsstrebenden Kräfte, die am Ende des 18. Jahrhunderts bestanden, beleuchtet damit gleichzeitig die ersten Anknüpfungspunke des frühkonstitutionellen Liberalismus.

I. Freiheitsstrebende Kräfte Den freiheitsstrebenden Kräften kam zwar in den jeweiligen Einzelstaaten zu verschiedenen Zeiten eine abgestufte Intensität zu, sie prägten aber die Entwicklung im gesamten Reich. 1. Entwicklung des Bürgertums Der Wunsch nach Freiheit war bedingt durch die Entwicklung eines wirtschaftlich starken Bürgertums sowie durch ein verändertes Verständnis von Staat und Gesellschaft, das sich zunächst vor allem in den absolutistischen Staaten herausbildete. In der Theorie hatte Bodin den Absolutismus vorbereitet, indem er die Souveränität als Wesenmerkmal des Staates herausgearbeitet hatte.8 Hobbes lieferte die naturrechtliche Begründung des Absolutismus, indem er den „Leviathan“ mit einer uneingeschränkten Herrschaftsmacht ausstattete.9 Machtbewusste Herrscher orientierten sich daran und legten es auf eine Entpolitisierung der Gesellschaft an. Die Stände wurden ihrer politischen Mitspracherechte enthoben und die Macht konzentrierte sich allein in den Händen des Landesfürsten. Dieser war aber nicht gleichbedeutend mit dem Staat selbst und er war nicht mehr Herrscher von Gottes Gnaden. Stattdessen handelte es sich um eine säkularisierte Staatsgewalt und der Landesfürst galt als „erster Diener des Staates“.10 Dadurch bildete sich erstmals die abstrakte Idee vom „Staat“ heraus, der von der Person des Herrschers losgelöst war. Die Gesellschaft wurde in den apolitischen Raum entlassen und vom Staat getrennt.11 Durch die Zurückdrän-

7 Vgl. H. Gangl, in: Probleme des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert, Der Staat, Beiheft 1 (1975), S. 23 (37); F. Hartung, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 152 (164). 8 J. Bodin, Sechs Bücher über den Staat, I. Buch, Kap. 1, S. 98 ff. 9 Vgl. oben 3. Kapitel, I. 2. c). 10 So Friedrich der Große, Testamente, abgedruckt in: Volz (Hrsg.), Bd. 7, S. 133.

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gung der Stände wurde der Blick frei für das Individuum als selbstbestimmte Persönlichkeit, das herausgelöst aus korporativen Zwängen zum Ausgangspunkt einer neuen Ordnung werden konnte. In Süddeutschland vollzog sich die Entwicklung langsamer und die Stände sowie alte Rechte korporativen Daseins blieben zunächst bestehen. Zu grundsätzlichen Veränderungen kam es erst unter Napoleon. Unter seiner Herrschaft wurde der Staat zur zentralistisch bürokratisierten Organisationsform, die von der Gesellschaft getrennt war.12 Damit war auch hier die Idee des abstrakten Staates geboren. Die Kluft zwischen Staat und Gesellschaft wurde dadurch verfestigt.13 Losgelöst vom Staat, entwickelte die Gesellschaft eine rege wirtschaftliche Tätigkeit und ein starkes Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum entstand.14 Vor allem in den absolutistischen Staaten, die auf hohe Staatseinnahmen angewiesen waren, wurde diese gesellschaftliche Veränderung durch eine neu konzipierte Wirtschaftspolitik noch vorangetrieben. Handel und Gewerbe wurden bewusst gefördert und eine lebendige Wirtschaft wurde zum innenpolitischen Entwicklungsziel. Dabei handelte der Herrscher oftmals dem Grundsatz einer allgemeinen Freiheit widersprechend: Er gewährte partikulare Freiheiten im Handel und im Gewerbe als Privilegien und griff durch eine gezielte Preispolitik in den wirtschaftlichen Freiraum seiner Untertanen ein.15 Langfristig wurde jedoch erkannt, dass es das „freie Spiel der Kräfte“16 war, das die Wirtschaft belebte. Ein gewisses Maß an Freiheit wurde zur Voraussetzung einer funktionierenden Nationalökonomie – angefangen bei der Wissenschaftsfreiheit zur Entwicklung neuer Technologien über die wirtschaftlichen Freiheiten wie die des Gewerbes bis hin zur Freizügigkeit. Deshalb wirkten nicht nur die abgeschotteten Verbände und Korporationen veraltet, sondern es wurden auch staatliche Einschränkungen als Hindernis des freien Spiels empfunden.17 Die liberale Wirtschaftsauffassung gewann an Boden und die Forderung nach vollkommener Gewerbe- und Handelsfreiheit kam auf.

11 E. Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, S. 161 ff.; W. Conze, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 297 (299 ff.); O. Brunner, ebd., S. 115 (130); O. Kimminich, Verfassungsgeschichte, S. 299; B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 126 ff. 12 Vgl. dazu unten 7. Kapitel, I. 2. 13 W. Conze, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 297 (303 f.). 14 Vgl. D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 13 ff.; K. von Raumer, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 173 (199). 15 Vgl. D. Klippel, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 313. 16 So E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 98.

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Zunächst handelte es sich um apolitische Freiheiten, aber je stärker das Bürgertum wurde, desto weiter dehnte sich der Gedanke des Staates als Störenfried über den wirtschaftlichen Bereich hinaus aus.18 Die Bürger gewannen ein ganz anderes Selbstbewusstsein, seit sie im wirtschaftlichen Bereich unabhängig waren. Hier erfuhren sie eine gleiche Behandlung und konnten selbstbestimmt auftreten.19 Sie erkannten, dass der Staat aus Interesse an einer funktionierenden Wirtschaft sogar darauf angewiesen war, dass sie diese Rolle ausübten. Deshalb reagierten sie empfindlich auf die staatliche Bevormundung auch in anderen Bereichen und betonten die Freiheit des Individuums. In Lesegesellschaften und Geheimbünden setzten sie sich mit politischen Schriften auseinander und fühlten sich zum „Räsonnieren“ ermutigt.20 Trotz dieser Entwicklung war das deutsche Bürgertum im Vergleich zu England und Frankreich jedoch eher schwach ausgeprägt. Eine wirtschaftliche Oberschicht entstand vergleichsweise langsam und war landsmannschaftlich zersplittert.21 Das Interesse an politischen Zusammenhängen war oft nicht grundsätzlicher Art, sondern durch ökonomischen Eigennutz motiviert.22 Doch langsam begannen die Bürger auch in Deutschland politische Mitspracherechte zu fordern, die ihrer neuen Rolle als stützenden Säule des Staates gerecht werden sollten. Außerdem hatte sich das freie Spiel der Kräfte als so erfolgreich bewährt, dass eine Anwendung dieses Prinzips auch im politischen Bereich gefordert wurde. 2. Wandel des Freiheitsverständnisses in der Staatsrechtslehre und in der Philosophie Die politische Stoßkraft der Französischen Revolution und die gesellschaftlichen Veränderungen blieben nicht ohne Auswirkung auf die deutsche Staatsrechtslehre und die deutsche Philosophie. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erfuhr der eingeschränkte Freiheitsbegriff des frühen deutschen Naturrechts der Neuzeit23 eine Verdichtung und z. T. einen grundsätzlichen Vorzeichenwechsel.

17 Vgl. R. von Mohl, Polizei-Wissenschaft, Bd. 2, S. 387 ff.; vgl. auch K. Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland, S. 2; F. Hartung, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 152 (164). 18 Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 99; D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 27. 19 Vgl. dazu U. Eisenhardt, Rechtsgeschichte, Rdnr. 417. 20 Th. Würtenberger, in: Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte, Der Staat, Beiheft 10 (1993), S. 85 (100); zur Bedeutung der Kultur als Mittel der bürgerlichen Selbstreflexion vgl. auch D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 15. 21 K. Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland, S. 5. 22 Vgl. H. Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz, S. 35. 23 Vgl. oben 3. Kapitel.

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a) Das „Allgemeine Staatsrecht“ Angeregt durch die Methoden des Vernunftrechts entwickelte sich im gesamten Reich das „Allgemeine Staatsrecht“, das durch empirisches und logisches Denken die Wesensmerkmale des Staates analysierte.24 Dabei wurden die Erkenntnisse allein mit dem Mittel der Vernunft gewonnen und standen in einem Gegensatz zur Verfassungswirklichkeit des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, das bekanntlich schon von Pufendorf als irreguläres Monstrum eigener Art („monstrum simile“) bezeichnet worden war.25 Die Konsequenz daraus war, dass das Allgemeine Staatsrecht auf Erneuerungen drängte. Das vernunftorientierte Staatsdenken gab keinen Anlass, an den historisch bedingten Unregelmäßigkeiten des Reiches festzuhalten.26 Die Frage nach den Grund- und Freiheitsrechten wurde zu einem wichtigen Gegenstand des Allgemeinen Staatsrechts und es bildeten sich kontroverse Auffassungen heraus. aa) Präzisierung des Staatszwecks In der Diskussion um die Menschenrechte machte sich zunächst ein gesteigertes Gefährdungsbewusstsein gegenüber staatlichen Eingriffen bemerkbar.27 Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verdichtete sich die Auffassung, dass die angeborenen Menschenrechte im Staat fortbestanden und vom Herrscher im Interesse des Staatszweckes lediglich eingeschränkt werden konnten.28 Selbst eine solche Einschränkung wurde aber – vor allem vom Bürgertum – als bedrückende Bedrohung empfunden. Die bis in kleinste Bereiche des privaten Lebens vordringende Fürsorglichkeit des absolutistischen Wohlfahrtsstaates vertrug sich ebenso wenig mit dem neuen Selbstbewusstsein des Bürgertums wie die ständischen Beschränkungen und Privilegien. Der Begriff der „bürgerlichen 24

Dazu ausführlich R. Schelp, Das Allgemeine Staatsrecht. Vgl. Die Verfassung des deutschen Reiches, Kap. 6, § 109. 26 Vgl. D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 236; Th. Würtenberger, in: Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte, Der Staat, Beiheft 10 (1993), S. 85 (89). 27 Vgl. nur H. G. Scheidemantel, Das allgemeine Staatsrecht, § 42 (S. 47), § 255 Nr. 4 (S. 253); J. G. Schlosser, Briefe über die Gesetzgebung, S. 114, 191; J. A. Bergk, Untersuchungen aus dem Natur-, Staats- und Völkerrechte, S. 27 ff., 104; vgl. auch M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, S. 50. 28 J. A. Bergk, Untersuchungen aus dem Natur-, Staats- und Völkerrechte, S. 7 ff.; J. A. Schlettwein, Die Rechte der Menschheit, § 204 (S. 352 f.); vgl. H. E. Bödeker, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 392 (394); ausführlich D. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte, S. 113 ff.; B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 45 ff.; Th. Würtenberger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 27 ff. 25

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Freiheit“ innerhalb des Staates wurde immer stärker mit der vorstaatlichen, natürlichen Freiheit in Bezug gesetzt und löste breite Diskussionen aus. Das Allgemeine Staatsrecht widmete sich zunächst einer Präzisierung des „Staatszwecks“, der in der Vergangenheit zu oft eine Art Generalermächtigung des absolutistischen Herrschers zu Eingriffen in die Freiheitsrechte seiner Untertanen gewesen war.29 Es wurde betont, dass die Rechte des Individuums in den Staatszweck mit einzubeziehen und vom Herrscher bei der Ausübung seiner Macht zu beachten seien. Nach Scheidemantel mussten die Grenzen der höchsten Gewalt durch die „Absicht der Gesellschaft“ bestimmt werden.30 Diese bestand im „gemeinschaftlichen Vorteil, welchen die bürgerliche Gesellschaft mit vereinigten Kräften ordnungsgemäß erreichen soll.“31 Aufgabe der von Scheidemantel bevorzugten gesellschaftlichen Regierung war es daher, „das Wolsein aller Bürger den Absichten der Gesellschaft gemäs zu bewirken.“32 Wichtig ist nun, wie Scheidemantel die Absicht der Gesellschaft ermittelte: Nicht der Wille des Staatsoberhauptes war entscheidend, sondern er nahm den Zweck der Staatsgründung als Ausgangspunkt und fragte nach dem Motiv der Menschen, den Naturzustand zu verlassen.33 Folglich war auch im Staat auf die einzelnen Untertanen und Bürger abzustellen, denen der ursprünglich bezweckte Vorteil des status civilis erhalten bleiben musste. Der Staatszweck wurde somit individuell bestimmt und vor allem konkretisiert: Er umfasste die Sicherheit, Bequemlichkeit und den Nahrungsstand, wobei alle drei Bereiche eine nähre Definition erfuhren.34 Durch diese Konkretisierung der Herrschaftsgrenze wurde sie für den Monarchen spürbarer, konnte ein Überschreiten doch im Einzelfall viel leichter bewiesen werden. Außerdem passte Scheidemantel sein Staatsverständnis an die gesellschaftlichen Veränderungen an, indem er bei der Bestimmung des Staatszwecks die moderne bürgerliche Gesellschaft berücksichtigte. Denn innerhalb der Gesellschaft sah er – obwohl „in besonderm Verstand“ Unterschiede zwischen den Ständen bestanden – jeden Bürger als grundsätzlich freien Menschen.35 Außerdem legte das Allgemeine Staatsrecht einen grundsätzlich gewandelten Gesetzesbegriff zugrunde. Nicht mehr der wie auch immer geartete Wille des Herrschers bestimmte das Gesetz, sondern es war Ausdruck gemeinwohlge-

29 Vgl. J. Garber, in: Brandt, Rechtsphilosophie der Aufklärung, S. 107 (117); D. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte, S. 132 ff.; R. Schelp, Das Allgemeine Staatsrecht, S. 162 ff. 30 Das allgemeine Staatsrecht, § 20 (S. 28). 31 Ebd., § 23 (S. 30). 32 Ebd., § 43 (S. 49). 33 Ebd., § 24 (S. 31). 34 Ebd., § 25 (S. 31). 35 Ebd., § 21 (S. 28 f.).

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bundener, am Staatszweck orientierter Politik.36 Durch die Konkretisierung des Staatszweckes wurden somit auch die Gesetze auf ihre Konformität mit diesem überprüfbar. Trotz aller Bestrebungen, der staatlichen Gewalt eine stärkere Grenze zu ziehen, musste die individuelle, natürliche Freiheit noch immer an die bestehende staatliche Ordnung angepasst werden und nicht umgekehrt. Auch nach Scheidemantel ging die Freiheit verloren, „soweit es die Staatsverfassung verlangt.“37 Da aber aufgrund der Eingrenzung der Staatsmacht das Ausmaß der zu opfernden Freiheiten immer geringer wurde, erfuhr die bürgerliche Freiheit des Individuums im Staat zumindest eine indirekte Stärkung.38 Einen Schritt weiter ging Johann Adam Bergk, der den Staatszweck weder in der Glückseligkeit noch in der Vervollkommnung des Menschen, sondern allein im Schutz der Menschenrechte begründet sah.39 Dazu forderte er die Einführung einer Konstitution mit bürgerlichen und politischen Freiheiten und sprach sich für die Gewaltenteilung und Volkssouveränität aus.40 Gleichzeitig arbeitete er heraus, dass der von ihm definierte Staatszweck am besten in der demokratischen Republik zu verwirklichen sei.41 Damit entwickelte er zum Schutz der Freiheitsrechte eine Lehre, die durchaus an die Theorien heranreicht, die den Menschenrechtserklärungen in Frankreich und Nordamerika zugrunde lagen. Die individuelle Freiheit wurde nicht mehr dem Staatszweck geopfert, sondern ihr Schutz wurde selbst zum Staatszweck. bb) Physiokraten Zu einem grundlegend veränderten Menschenrechtsverständnis kamen die physiokratischen Theorien, die schon vor 1789 radikal veränderte Prinzipien zugrunde legten. Sie gingen davon aus, dass die Freiheit des Menschen im Staat nicht geringer sei als im Naturzustand und dass der Zweck des Staates gerade darin liege, den uneingeschränkten Genuss der Menschenrechte zu ermöglichen.42 Folglich wurde die individuelle Freiheit des Einzelnen nicht mehr vom Staatszweck überlagert.43 Im Vordergrund stand bei den Physiokraten die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit und der Zusammenhang zum erstarkenden Bür-

36 37 38 39 40 41 42 43

Vgl. D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 238 f. Das allgemeine Staatsrecht, § 31 (S. 37). D. Klippel, in: Mohnhaupt, Rechtsgeschichte, S. 348 (360). Untersuchungen aus dem Natur-, Staats- und Völkerrechte, S. 16 ff., 30. Untersuchungen aus dem Natur-, Staats- und Völkerrechte, S. 45, 46, 43, 108. Ebd., S. 87 ff. J. A. Schlettwein, Die Rechte der Menschheit, § 262 (S. 451), § 267 (S. 457). Vgl. J. Garber, in: Brandt, Rechtsphilosophie der Aufklärung, S. 107 (119).

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gertum wird deutlich. Doch der grundsätzlich gewandelte Ausgangspunkt der physiokratischen Theorie erforderte auch soziale und politische Veränderungen, die allerdings nicht konsequent durchleuchtet wurden.44 Nur vereinzelt wurde das Konzept einer bürgerlichen Gesellschaft entworfen, welches eine neue Kompetenzverteilung zwischen Staat, Individuum und Gesellschaft erforderlich machte.45 Dadurch wurde die bestehende staatliche Ordnung insgesamt in Frage gestellt und die Forderung nach politischen Grundrechten wurde offen gelegt.46 cc) Die Theorie der Freiheit im aufgeklärten Absolutismus Im Bewusstsein des physiokratischen Ansatzes und der Ereignisse in Frankreich erkannten die Anhänger des aufgeklärten Absolutismus, dass die Freiheitsforderungen an den Grundfesten der bisherigen Staatsform zu rütteln begannen. Deswegen trug die aufgeklärte Staatspraxis Friedrichs des Großen seine Früchte und es wurde vorausschauend versucht, das Konzept bürgerlicher Freiheit mit dem absolutistischen Staat zu verbinden. Die staatsstützende Funktion des Naturrechts sollte voll ausgeschöpft werden. Maßgeblich wirkte hier Carl Gottlieb Svarez, der seine Anschauungen in den Kronprinzenvorträgen Friedrich Wilhelm III. darlegte und später zum Schöpfer des Preußischen Allgemeinen Landrechts wurde.47 Er ging davon aus, dass es der Zweck jeder menschlichen Handlung sei, die individuelle Glückseligkeit zu fördern.48 Im Naturzustand könne der Mensch dieses Ziel allerdings nicht erreichen, da er sich eher seinen Trieben als seiner Vernunft hingebe.49 Außerdem führten widerstreitende Interessen der Individuen zu gewaltsamen Angriffen und Störungen. Deswegen sei eine Staatsgründung erforderlich, in der sich alle Kräfte zur gegenseitigen Förderung der Glückseligkeit verpflichteten. Somit wurde nicht die individuelle, sondern die gemeinschaftliche Glückseligkeit zum Staatszweck50, die letztlich vom Herrscher zu bestimmen war und die individuelle Vorstellungen verdrängte. Von der natürlichen Freiheit der Menschen wurde 44

Vgl. dazu D. Klippel, Staat 23 (1984), S. 205 ff. So weit ging S. S. Witte, der schon 1782 in seiner nur scheinbar thematisch beschränkten Schrift „Über die Schicklichkeit der Aufwandsgesetze“, S. 14 ff., der bürgerlichen Gesellschaft eine neue Rolle im Staat zuweisen wollte. 46 Vgl. D. Klippel, in: Mohnhaupt, Rechtsgeschichte, S. 348 (363 f.); ders., in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 313 (328 f.); E. Hellmuth, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 63 (88); Th. Würtenberger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 40. 47 Zum Einfluss von Svarez auf die preußische Gesetzgebung T. Karst, ZRG Germ. Abt. 120 (2003), S. 180 ff. 48 C. G. Svarez, Kronprinzenvorträge, abgedruckt in: Conrad/Kleinheyer, S. 454 f. 49 Ebd., S. 455 ff. 50 Ebd., S. 464. 45

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dabei soviel aufgeopfert, wie es erforderlich war, um den – letztlich sehr weitgefassten – Staatszweck zu erreichen.51 Allerdings machte Svarez gegenüber dem frühen Naturrecht einen wichtigen Fortschritt, indem er drei unverzichtbare Rechte als unüberwindbare Grenze des Staates ansah: Das Recht des Menschen auf seine Existenz, die moralische Freiheit und das Recht zur Vervollkommnung, welches in der Naturrechtslehre Wolffs wurzelte.52 Vor diesen Rechten musste selbst die absolutistische Macht Halt machen und sie waren als unentbehrliche Voraussetzung der Glückseligkeit unumstößlich. Dennoch war damit nur ein begrenzter Freiheitsgehalt verbunden, denn die individuelle Vervollkommnung war gleichzeitig eine Verpflichtung53, deren nähere Ausgestaltung letztlich dem Regenten oblag.54 Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass Svarez in der uneingeschränkten Monarchie diejenige Staatsform sah, unter der die bürgerliche Freiheit am besten geschützt sei.55 Ein Abweichen von dieser Staatsform sei daher weder wünschenswert noch möglich, da sie in einem Gesellschaftsvertrag vereinbart worden sein sollte. Auf diese Weise ließ sich das Naturrecht auch zur Rechtfertigung des absolutistischen Staates auslegen. Dennoch erkannte Svarez den Menschen als vernunftbegabtes Wesen an, das frei sein sollte, sich seine eigene Meinung zu bilden und sich für seine eigene Religion zu entscheiden. Meinung und Gesinnung gehörten als innere Handlung zur Seele des Menschen und seien daher staatlicher Reglementierung entzogen.56 In Anknüpfung an Thomasius erkannte Svarez eine innere Freiheitssphäre an, mit der er gleichzeitig der bürgerlichen Freiheitsforderung entgegenkommen wollte. Dabei meinte Svarez keineswegs politische Meinungsäußerungen. Er ging davon aus, dass alle politische Macht beim absoluten Herrscher ruhe und sah die Staatsbürger von vorneherein als unpolitische Figuren. Zwar mochten einzelne Untertanen vernunftbegabt sein, niemand konnte aber bessere politische Entscheidungen treffen als der Herrscher selbst.57 Hier zeigte sich eine Widersprüchlichkeit, die letztlich durch den Versuch, den absolutistischen Staat zu stützen, bedingt war. Denn geistige Freiheit beschränkte sich auf einen apolitischen, für den absolutistischen Herrscher ungefährlichen Bereich der in51

Kronprinzenvorträge, abgedruckt in: Conrad/Kleinheyer, S. 467. C. G. Svarez, ebd., S. 455; vgl. R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 27; E. Hellmuth, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 63 (69). 53 C. G. Svarez, Kronprinzenvorträge, abgedruckt in: Conrad/Kleinheyer, S. 455. 54 Vgl. dazu E. Hellmuth, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 63 (71). 55 C. G. Svarez, Kronprinzenvorträge, abgedruckt in: Conrad/Kleinheyer, S. 475. 56 Ebd., S. 14. 57 C. G. Svarez, Über das Privatrecht der deutschen Fürsten, abgedruckt in: Conrad/ Kleinheyer, S. 219. 52

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neren Gesinnung.58 Sobald aber die staatliche Ordnung bedroht war, konnte das Recht zur offenen Urteilsbildung und Kritik beschränkt werden. Den rationalen Schluss einer vollkommenen Meinungsfreiheit zog Svarez schon deshalb nicht, weil dadurch die staatsstützende Funktion seiner Vorstellungen verlorengegangen wäre. Dennoch waren die Theorien Svarez nicht unbedeutend. In Akkommodation zum Absolutismus stehend, drängten sie gleichzeitig auf langsame, schonende Veränderung. Sie gaben dem Allgemeinem Landrecht einen zukunftsgerichteten Charakter und entwickelten so eine gesellschaftsverändernde Kraft. dd) Die Verteidiger ständischer Freiheiten und deren Bedeutung für die Grundrechtsentwicklung Die Verteidiger ständischer Rechte hielten am historischen Freiheitsverständnis fest und lehnten die Vorstellung natürlicher Freiheiten im Staat vollständig ab. Sie kannten nur partikulare Freiheiten und wohlerworbene Rechte, die der Herrscher kraft Vertrag, als Privileg, als Gegenstand des Eigentums oder aufgrund eines besonderen Rechtstitels an die Stände und Korporationen oder an ausgewählte Einzelpersonen abgegeben hatte.59 Naturrechtlich wurden diese Freiheiten in die Form der leges fundamentales gegossen, die als dualistische Abmachungen zwischen Herrscher und Ständen galten. Am Ende des 18. Jahrhunderts waren die historischen Freiheiten und althergebrachten Rechte von zwei Seiten bedroht: Einerseits drängte der absolutistische Herrscher auf ihre Aufhebung, soweit sie eine Beschränkung seiner Herrschaftsmacht darstellten.60 Von der anderen Seite war es das liberale Freiheitsverständnis, das eine Beseitigung der ständischen Freiheiten anstrebte.61 Spätestens die Französische Revolution hatte gezeigt, dass für eine umfassende

58 E. Hellmuth, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 63 (70). 59 Vgl. dazu ausführlich B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 40 ff.; H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. II, S. 91 ff.; G. Lübbe-Wolff, ZRG Germ. Abt. 103 (1986), S. 104 (108 ff.); J. J. Moser, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen, 4. Buch, Kap. 1, § 2 ff. (S. 942 ff.). 60 Vgl. nur D. Klippel, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 313 (320); ders./L. Pahlow, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 215 (227); ausführlich zur Haltung Kleins und Svarez gegenüber ständischen Freiheiten E. Hellmuth, in: Birtsch/ Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 63 (80 ff.). 61 Vgl. D. Klippel, in: Mohnhaupt, Rechtsgeschichte, S. 348 (365); ders., in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 215 (227); H. E. Bödeker, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 392 (403); J. Garber, in: Brandt, Rechtsphilosophie der Aufklärung, S. 107 (128).

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Freiheit die Gleichheit aller und somit die Aufhebung der ständischen Vorrechte eine unentbehrliche Voraussetzung war. Dennoch waren die historischen Rechte für die Grundrechtsentwicklung nicht unbedeutend. Sie schufen als erste Einschränkung der Herrschaftsmacht wichtige Freiräume und werden insofern oft als Vorläufer der Grundrechte gesehen.62 Dies gilt insbesondere in England für die Vorrechte und Privilegien, die seit der Magna Charta im Jahre 1215 dem König abgerungen wurden und letztlich in den „Rechten des Engländers“ mündeten.63 Auch in Deutschland waren die althergebrachten Rechte vor allem in Süd- und Mitteldeutschland gegenüber dem Herrscher mit Bestandskraft ausgestattet und wurden als wirksames Gegenmittel zu absolutistischer Willkür gesehen. Im Naturrecht hatte sich die Auffassung herausgebildet, dass es sich bei den sogenannten „iura quasita“ um echte Rechtstitel handelte, in die der Herrscher nur unter strengen Voraussetzungen eingreifen konnte und die justiziabel waren.64 Ihr Vorteil war, dass ihnen im Gegensatz zum dehnbaren Gemeinwohlbegriff konkrete Inhalte entnommen werden konnten, die den Herrscher banden.65 Es waren zudem erste Ansätze individualrechtlichen Denkens auszumachen, das sogar alle mittelbaren Untertanen, die neben dem Kaiser und dem Landesherren noch einer weiteren Herrschaft unterlagen, berücksichtigte.66 Somit konnten dem Staat von jedem Individuum unterschiedlich ausgestaltete Rechtspositionen entgegengehalten werden. Dabei war es hilfreich, dass sich im Reich seit den Reformen am Ende des 15. Jahrhunderts und durch die praktische Rezeption des römischen Rechts die Rechtsschutzmöglichkeiten verbessert hatten.67 Allerdings bestand die Gefahr, dass diese Rechte durch Willkür und Machtmissbrauch vom Herrscher ignoriert wurden. Gerade dann, wenn das Individuum gegenüber einer solchen Willkürherrschaft seine Rechte benötigt hätte, waren sie in der Realität nicht durchsetzbar. Zwar achteten Stände und Korporationen auf die Wahrung der althergebrachten Rechte68, erzwingbar waren sie allerdings nicht und es gab keine wirksamen verfassungsrechtlichen Kontroll62 Vgl. dazu ausführlich B. Sutter, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 17. 63 Vgl. dazu oben 4. Kapitel, I. 1. 64 Vgl. nur J. J. Moser, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen, 4. Buch, Kap. 8 (S. 1151 ff.); B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 41, 63; Ch. Link, in: FS Geiger, S. 277 (284 ff.). 65 J. G. Schlosser, Briefe über die Gesetzgebung, S. 11, 180 ff., 190. 66 Vgl. dazu die Aufzählung individueller Rechte der mittelbaren Untertanen bei J. J. Moser, Von der Teutschen Reichs-Stände Landen, 3. Buch, Kap. 8 (S. 937 ff.). 67 W. Schulze, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 161 (179); vgl. J. J. Moser, Von der Teutschen ReichsStände Landen, 3. Buch, Kap. 8, §§ 5 ff. (S. 937), der das Appellationsrecht vor dem höchsten Reichsgericht anspricht, vor dem auch der Landesherr selbst angeklagt werden konnte.

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mechanismen. Das sog. ius eminens ermöglichte es dem Landesherren, unter dem Vorwand des Allgemeinwohls wohlerworbene Rechte zu entziehen.69 Außerdem handelte es sich bei den althergebrachten Rechten immer nur um Einzelrechte, die nicht systematisch katalogisiert wurden. Die Grenze, die sie der Herrschaftsmacht zogen, war letztlich nur punktuell und zufällig. Sie war vom Herrscher selbst veranlasst, war doch die Begründung eines wohlerworbenen Rechtes ihm allein überlassen und einen durchsetzbaren Anspruch auf die Schaffung von iura quasita gab es nicht. Eine grundsätzliche Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft wurde nicht getroffen. Außerdem stärkten die althergebrachten Rechte vor allem die Stände und Korporationen, so dass sie den Gesellschaftswandel bremsten. Erst die spätere Privilegienerteilung in Form der merkantilistischen Wirtschaftspolitik trug faktisch zur Entwicklung des modernen Staates bei, auch wenn sie ihm im Grundsatz entgegenstand.70 Eine wichtige Funktion entwickelten die Verteidiger ständischer Rechte jedoch durch ihre Absolutismuskritik. Hier zogen sie mit dem liberalen Freiheitsverständnis an einem Strang. Indem sie herausarbeiteten, dass für einen unbestimmten Staatszweck letztlich jedes Freiheitsrecht geopfert werden konnte, entlarvten sie den begrenzten Gehalt der Freiheitsrechte absolutistischer Staatstheorie, der sie den ständischen Freiheitsbegriff entgegensetzten.71 Sie bedienten sich der modernen Methoden des Vernunftrechts und forderten eine landständische Verfassung. Dadurch wurde die konstitutionalisierte Bindung der Herrschaftsmacht vorangetrieben. Gleichzeitig wurde aber die landständische Verfassung als Rückbesinnung auf die alte Ordnung verstanden, die als eine Alternative zur demokratischen, aber funktionsunfähigen Verfassung Frankreichs gesehen wurde.72 Die althergebrachten Rechte sollten dabei als Ersatz revolutionärer Grundrechte die Bevölkerung beruhigen.

68 Vgl. B. Sutter, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 17 (34). 69 B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 65 ff.; vgl. auch G. Lübbe-Wolff, ZRG Germ. Abt. 103 (1986), S. 104 (105 f.). 70 Ch. Link, in: FS Geiger, S. 277 (285); speziell zur Steuerpolitik W. Schulze, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 161 (173 f.). Dabei ist zu beachten, dass es sich bei den ökonomischen Freiheiten des Merkantilismus nicht um prinzipiell unantastbare Freiheitsrechte im liberalen Sinne handelt, vgl. dazu D. Klippel, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 313 (316 ff.). 71 J. G. Schlosser, Briefe über die Gesetzgebung, S. 14 ff.; vgl. auch D. Klippel/L. Pahlow, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 215 (229). 72 P. Krause, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 131 (135); G. Kleinheyer, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 273 (276).

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Eine Verbindungslinie zwischen den althergebrachten, historischen Rechten und allgemeinen Menschenrechten ist daher nicht nur sehr dünn, sondern auch kurz: Sie kann allein in der angestrebten Bindung der Herrschaft, d. h. in der eingrenzenden Wirkung gegenüber der staatlichen Macht gesehen werden.73 Denn innerhalb der Gesellschaft wirkten sie gerade konträr. Eine Ausweitung der althergebrachten Rechte auf die gesamte Bevölkerung war nicht möglich: Die Privilegien widersprachen der Vorstellung der natürlichen Gleichheit aller, denn was sie dem einen an Freiheit und Vorrechten gaben, nahmen sie dem anderen. Die Rechte eines Fronherren bewirkten, dass die Freiheit seiner Bauern durch die Verpflichtung zum Frondienst eingeschränkt wurde. Folglich handelte es sich bei den wohlerworbenen Rechten und den allgemeinen Menschenrechten um zwei Denkformen, die in einem unüberbrückbaren Gegensatz zueinander standen und sich gegenseitig ausschlossen. Hier zeigt sich, dass letztlich auch das frühe deutsche Naturrecht den liberalen Menschenrechten entgegenstand. Da die Idee der leges fundamentales die ständischen Freiheiten naturrechtlich absicherte, musste eine Aufhebung eben dieser im Interesse allgemeiner Freiheitsrechte als naturrechtswidrig gelten – ein Problem, dass vor allem die praktische Durchsetzbarkeit der allgemeinen Freiheitsrechte oftmals einschränkte.74 Langfristig sollten sich daher die ständischen Freiheiten als Hindernis für die Entwicklung allgemeiner Grundrechte erweisen. Dies galt vor allem im Frühkonstitutionalismus, als es zu einem widersprüchlichen Mischzustand ständischer Vorrechte und allgemeiner Staatsbürgerrechte kam, der nach Auflösung verlangte. Es bleibt festzuhalten, dass das Freiheitsverständnis in der deutschen Staatsrechtslehre am Ende des 18. Jahrhunderts sehr unterschiedlich ausgestaltet war. Gemeinsam ist allen Auffassungen, dass hinter ihnen politische Interessen stehen, seien es die des Bürgertums, des aufgeklärten Monarchen und seiner treuen Staatsdiener oder die des Adels und der Stände. Die Tendenz geht dahin, zugunsten der allgemeinen Freiheit die Macht des Monarchen weiter einzuschränken. b) Das Freiheitsverständnis Kants Die Philosophie Immanuel Kants bewirkte, dass die Vorstellung von der Freiheit des Individuums immer mehr Anhänger fand.75 Für das moderne Staatsund Naturrecht gab er am Ende des 18. Jahrhunderts wichtige Impulse, die zu 73

Vgl. auch G. Dilcher, Staat 27 (1988), S. 161 (190). Zum Spezialfall des § 75 Einl. ALR vgl. unten 6. Kapitel, II. 3. c) bb); vgl. auch B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 43. 75 Vgl. D. Klippel, in: Mohnhaupt, Rechtsgeschichte, S. 348 (366 ff.); ders., Politische Freiheit und Freiheitsrechte, S. 113 ff.; Th. Würtenberger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 41. 74

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einem umfassenden Freiheitsschutz weiterverarbeitet werden konnten.76 Kants negative Definition der Freiheit bestand darin, dass die menschliche Willkür unabhängig von sinnlichen, fremdbestimmten Antrieben war. Demnach war eine menschliche Handlung unfrei, sobald sie ihren Grund allein in der sinnlichen Neigung und Lust des Menschen hatte. Eine freie Handlung aber beruhte zwar auch auf der menschlichen Willkür, diese war jedoch allein durch die Vernunft bestimmt.77 Nach dem kategorischen Imperativ lag eine vernünftige und daher freie Handlung nur dann vor, wenn ihre Maxime zugleich als allgemeines Gesetz gelten konnte.78 Damit war für die Freiheit des einen die Freiheit des anderen als eindeutige Grenze bestimmt. Die größtmögliche Freiheitssphäre der Individuen wurde zum Ziel des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Gleichzeitig stellte Kant den Menschen als vernünftiges Wesen in den Mittelpunkt. Den Grund seiner Freiheit sah er darin, dass ihm als vernünftiges Wesen die Sittlichkeit als Gesetz diente. Aufgrund seiner Vernunft konnte der Mensch Subjekt des moralischen Gesetzes sein. Als solches war er keiner Absicht unterworfen, die nicht seinem eigenen Willen entstammte. Das Individuum durfte von keinem anderen als Mittel missbraucht werden und war „Zweck an sich selbst“.79 Dadurch wurde die individuelle Freiheit im Staat erweitert. Als vernunftbegabtes Wesen konnte der Einzelne nach Kant am besten für sich selbst bestimmen, wie er glücklich wurde. Deshalb sollte jedes Individuum die Freiheit haben, sein privates Leben selbst zu gestalten. Der Staat hatte demnach nicht den Zweck, für die Glückseligkeit seiner Bürger zu sorgen, denn die Glückseligkeit sah Kant allein als einen Bestimmungsgrund der individuellen Willkür.80 Aufgabe des Staates sei es dagegen, die Bedingungen zu schaffen, unter denen das Individuum seine eigene Freiheit so ausüben konnte, dass sie mit jedermanns Freiheit vereinbar war.81 Dieses eingeschränkte Staatsverständnis erforderte keine Verbannung der Freiheit in denn vorstaatlichen Zustand, zumal Anknüpfungspunkt für die Freiheit des Menschen seine Vernunft war, die im Staat unverändert blieb.82 Zwar gab der Mensch vor der Staatsgründung die wilde, gesetzeslose Freiheit auf, fand sie jedoch als Staatsbürger unvermindert in einem rechtlichen Zustand wieder.83 76 So vor allem bei J. A. Bergk, Untersuchungen aus dem Natur-, Staats-, und Völkerrechte. 77 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 75 f.; Kritik der praktischen Vernunft, S. 37 f.; Metaphysik der Sitten I, S. 18. 78 Metaphysik der Sitten I, S. 23. 79 Kritik der praktischen Vernunft, S. 118. 80 Kritik der praktischen Vernunft, S. 27 f.; zur nur individuellen Bestimmbarkeit vgl. auch J. A. Bergk, Untersuchungen aus dem Natur-, Staats-, und Völkerrecht, S. 38. 81 Metaphysik der Sitten I, S. 40 ff.; vgl. N. Hinske, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 375 (382). 82 K. Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland, S. 8. 83 Metaphysik der Sitten I, S. 135.

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Gegenüber dem Freiheitsverständnis des Absolutismus entwickelte Kant einen neuen Ansatz, indem er den Staatszweck neu definierte. Durch seine Vorstellung, dass das Individuum am besten selbst über sein Glück entscheiden könne, entzog er der absolutistischen Gemeinwohldoktrin den Boden. Hier hatte sich der Staat herauszuhalten und musste durch seine Politik nur die Rahmenbedingungen schaffen. Dennoch war die Funktion der Freiheitsrechte im Staat beschränkt. Die innerstaatliche, „gesetzliche“ Freiheit bestand nämlich darin, keinem Gesetz gehorchen müssen, zu dem die Menschen als Glieder des Staates nicht selbst ihre Zustimmung gegeben hatten.84 Der übereinstimmende und vereinigte Wille aller konnte kein Unrecht tun („volenti non fit iniuria“)85 und war gesetzgebend. Das Maß der individuellen Freiheit hing letztlich davon ab, was unter dem „volenti“ verstanden wurde. Dabei ist zu beachten, dass der übereinstimmende und vereinigte Wille nur von den so genannten Staatsbürgern gebildet wurde. Diejenigen, die zur Bestreitung ihrer Existenz in einem unmittelbaren Abhängigkeitsverhältnis zu anderen standen, waren nicht mitstimmungsbefugt: „Der Geselle bei einem Kaufmann oder bei einem Handwerker; der Dienstbote (. . .); der Unmündige (. . .); alles Frauenzimmer . . .“ durften nicht an der Bildung des volenti mitwirken.86 Die Freiheit im Staat war daher von der Eigenschaft als Staatsbürger abhängig und ein Großteil der Bevölkerung blieb ausgeschlossen.87 Doch auch die Bildung des „volenti“ durch die Staatsbürger erfolgte keineswegs demokratisch: Insgesamt arbeitete Kant zwar heraus, dass die „höchste Gewalt“ in Form eines allgemeinen Oberhauptes, das über den drei Gewalten stand, nur das Volk selbst sein konnte, letztlich blieb diese Erkenntnis aber ohne praktische Auswirkung. Er sah im allgemeinen Oberhaupt ein bloßes „Gedankending“88, da es keine physische Person gebe, die es verkörpern konnte. Den Gedanken der Volkssouveränität formulierte er nicht, stattdessen war für ihn die Staatsform der Monarchie durchaus mit der Vorstellung des vereinigten Volkswillens vereinbar.89 Die Gedankenfigur des vereinigten Willens aller verblasste daher in der politischen Realität vor der spürbaren Macht des Monarchen. Dort machte es kaum einen Unterschied, ob die Freiheit des Einzelnen durch den vom Herrscher festgestellten „volenti“ oder durch das Gemeinwohl begrenzt wurde und die von Kant herausgearbeitete menschliche Freiheit blieb vorerst in den Zwängen der politischen Unfreiheit gefangen.

84 85 86 87 88 89

Metaphysik der Sitten I, S. 130, 135. Ebd., S. 130. Ebd., S. 131. Vgl. T. Pinkard, in: Höffe, S. 155 (165 ff.). Metaphysik der Sitten I, S. 135. Ebd., S. 135 f.

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Außerdem war die durch Kant begründete Freiheit schwer greifbar: Sie hatte ihre Ursache nicht in der Natur des Menschen, sondern war ein reiner Vernunftbegriff, der für die theoretische Philosophie transzendent war. Die Freiheit war somit ein theoretisches Konstrukt, dessen Existenz in der Realität nicht durch Beispiele oder Gegenstände möglicher Erfahrung bewiesen werden konnte. Stattdessen offenbarte sie sich in den praktischen Grundsätzen, die den Menschen zur vernünftigen Bestimmung seiner Willkür entsprechend dem Sittengesetz veranlassten.90 Hierbei handelte es sich um einen der Allgemeinheit nur schwer vermittelbaren Begründungsansatz, der von der politischen Freiheitsforderung im Frühkonstitutionalismus schwer aufgegriffen und genutzt werden konnte. Außerdem schien auch bei Kant die Pflichtenlehre des deutschen Naturrechts fortzuwirken, setzte doch die Freiheit die Befolgung des Imperativs der Vernunft voraus. Allerdings beabsichtigte Kant mit den Gesetzen der Moral und dem kategorischem Imperativ, die wechselseitigen Freiheiten aller Menschen so miteinander zu vereinbaren, dass sie in möglichst großem Umfang erhalten blieben. Zwar dachte Kant selbst dieses Prinzip der größtmöglichen Freiheit vor allem im politischen Bereich nicht konsequent zu Ende, erstmals war es aber als grundsätzliches Ziel des Zusammenlebens formuliert. Einen wichtigen Beitrag für die Freiheitsentwicklung leistete Kant durch seine Kritik der reinen Vernunft. Die Bestimmung dessen, was sein soll, d. h. eine Metaphysik der Sitten, konnte seiner Meinung nach nicht durch monarchische Willkür, sondern nur durch die gesetzgebende menschliche Vernunft erfolgen.91 Die Vernunft war aber keineswegs eine Eigenschaft, die nur dem Monarchen zukam, vielmehr handelte es sich dabei um eine Disziplin. Probierstein vernünftiger Entscheidungen war nicht die Wahrheit, sondern es waren die Interessen, die hinter der Entscheidung standen.92 Dadurch verdeutlichte Kant, dass auch Politik keine Frage von richtig oder falsch, sondern eine Wertentscheidung war.93 Die Entscheidungen des Staatsoberhauptes konnten deshalb, waren sie erst als Wertentscheidung entlarvt, eher Gegenstand der Kritik sein als rational zwingende Schlüsse.94 Wichtig ist nun, dass die menschliche Freiheit gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine stärkere Gewichtung erfuhr und an Wert gewann, was der Herrscher als Ausdruck des volenti berücksichtigen musste. Die Ideen Kants förderten ein Freiheitsbewusstsein in der Herrschaftssphäre und beeinflussten z. B. die Verwirklichung der Freiheitsrechte in den Preußischen Re90 Metaphysik der Sitten I, S. 19; anders bei dem von Kant beeinflussten J. A. Bergk, der sich in seinen Untersuchungen aus dem Natur-, Staats- und Völkerrechte deutlich für eine demokratische Republik ausspricht, vgl. S. 87 ff. 91 Kritik der reinen Vernunft, S. 867. 92 Ebd., S. 567. 93 D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 241 f. 94 Die kritische Haltung gegenüber Entscheidungen des Staatsoberhauptes wird besonders deutlich bei J. A. Bergk, Untersuchungen aus dem Natur-, Staats- und Völkerrechte, S. 107 f.

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formen.95 Hier waren erste Ansätze davon zu spüren, dass der vereinigte Wille aller teilweise auch in einer Monarchie Beachtung finden konnte, sofern der Monarch ein Interesse daran hatte. c) Zusammenstellung konkreter Freiheitsrechte Insgesamt arbeitete das Natur- und Staatsrecht konkrete Menschenrechte heraus, die zukunftsweisend waren und durch ihre inhaltliche Reichweite überraschen. Man verabschiedete sich von der Verbannung der Freiheit in den vorstaatlichen Naturzustand. Nachdem Kant den Selbstzweck des Menschen ermittelt hatte, musste die menschliche Freiheit gerade auch im Staat verwirklicht werden können. Deshalb wurde das Recht des Menschen auf seine eigene Persönlichkeit betont.96 Die Konsequenz war, dass zumindest aus theoretischer Sicht die in der Realität noch existierende Leibeigenschaft untragbar geworden war. Außerdem war eine Privatsphäre des Einzelnen angedacht, in der er – ganz nach Kant – vor staatlichen Eingriffen geschützt sein Glück suchen konnte. Folglich war es unerwünscht, dass die Staatsgewalt wie im Absolutismus unter dem Vorwand, die Glückseligkeit zu fördern, auch den privaten Bereich durch detaillierte Regelungen bestimmte. Als staatsfreie Sphäre wurde auch die Religions- und Gewissensfreiheit herausgearbeitet97, wodurch die Entscheidungsfreiheit des einzelnen Individuums eine indirekte Aufwertung erfuhr. Die ökonomischen Freiheiten waren nicht nur Ergebnis der naturrechtlichen Theorie und der gesellschaftlichen Veränderungen, sondern standen aufgrund ihrer Vorteile für die Wirtschaft im unmittelbaren Interesse des Staates selbst. Mit der Stärke des Bürgertums wuchs die Forderung nach weiteren Freiheiten. Von besonderer Wichtigkeit ist die Presse- und Meinungsfreiheit. Dabei wurde die Meinung zunächst auf den privaten Bereich begrenzt und die Entscheidungsbildung in öffentlichen, politischen Fragen galt als klares Monopol der Staatsgewalt.98 Bald schon entwickelte sich aber die Idee einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die dem vernunftbegabten Individuum die Möglichkeit geben sollte, durch Kritik und Stellungnahmen zu politischen Fragen auf die Staatssphäre einzuwirken.99 Da95 Vgl. P. Burg, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 287 ff. 96 Vgl. nur E. F. Klein, Freyheit und Eigenthum, S. 116 f., der die persönliche Freiheit höher bewertet als das Eigentum; vgl. dazu auch D. Klippel, in: Mohnhaupt, Rechtsgeschichte, S. 348 (370). 97 Vgl. die Ausführungen Svarez, 6. Kapitel, I. 2. a) cc); vgl. auch H. G. Scheidemantel, Das allgemeine Staatsrecht, § 234 (S. 231); H. E. Bödeker, in: Birtsch, Grundund Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 392 (414). 98 Vgl. auch H. G. Scheidemantel, Das allgemeine Staatsrecht, § 218 (S. 215). 99 Vgl. H. E. Bödeker, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 392 (417); D. Klippel, in: Mohnhaupt, Rechtsge-

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mit waren zumindest theoretisch die Grundlagen des liberalen Verfassungsdenkens gelegt100 und die Unvereinbarkeit der naturrechtlichen Freiheitsrechte mit der bestehenden politischen Ordnung deutete sich an. d) Funktion der theoretischen Freiheitsrechte als Ersatzverfassung Vor dem Hintergrund der bestehenden politischen Ordnung gewannen die Freiheitsrechte eine weitere, grundlegende Bedeutung. Es wurde deutlich, dass die naturrechtlichen Vorstellungen über das Maß an Freiheit hinausgingen, das der Staat in seiner damaligen Form gewähren konnte. Das Staats- und Naturrecht drängte also auf politische Veränderung und das Bürgertum schloss sich langsam der Forderung nach Freiheitsrechten an. Damit war die naturrechtliche Menschenrechtsvorstellung nicht mehr auf die Wissenschaft beschränkt, sondern sie gewann an Aktualität. Insgesamt begann eine Zeit des grundrechtsbewussten Denkens: Die Grundrechtsidee wurde nicht allein in philosophischen, nur den Gelehrten zugänglichen Büchern vermittelt. Stattdessen entwickelten sich die Zeitschriften zum Medium der liberalen Idee. Der Wunsch nach Freiheiten wurde knapp und verständlich formuliert, so dass er dem Bürgertum zugänglich war und so in die Gesellschaft hineingetragen werden konnte.101 In Gestalt konkret geforderter Freiheitsrechte begann die theoretische Menschenrechtsidee auf die Gesellschaft überzugreifen. Das breite Streben nach Veränderung der staatlichen Ordnung bewirkte, dass der Wunsch nach einer Verfassung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stärker wurde.102 Diese sollte die politischen Ausgangsbedingungen für die Freiheit der Bürger schaffen und gleichzeitig zur Absicherung der geschaffenen Freiheitssphäre beitragen. Die in der Wissenschaft herausgearbeiteten Freiheitsrechte fanden eine solche Anerkennung, dass ihre tatsächliche Umsetzung angestrebt wurde. Solange das nicht geschehen war, wurde das Naturrecht als Ersatz für die geforderte Verfassung angesehen.103 Interessant ist hierbei die Rolle der z. T. sehr freiheitlichen Rechtsprechung: Diese sah in den unverletzlichen Menschenrechten einen in Philosophie und Rechtswissenschaft anerkannten Grundsatz, der allerdings auf die verfassungsrechtliche Realität des Reiches noch keischichte, S. 348 (371); J. Garber, in: Brandt, Rechtsphilosophie der Aufklärung, S. 107 (117); Th. Würtenberger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 31, 42. 100 So auch M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, S. 50. 101 H. E. Bödeker, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 392 (417). 102 Vgl. Th. Würtenberger, in: Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte, Der Staat, Beiheft 10 (1993), S. 85 ff. 103 Vgl. dazu D. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte, S. 184 ff.; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, S. 291.

II. Die Freiheitsrechte im Preußischen Allgemeinen Landrecht

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nen Einfluss genommen hatte. Deshalb erkannte sie in Urteilen die „naturrechtliche Ersatzverfassung“ an und wehrte staatliche Eingriffe in die Freiheitssphäre des Einzelnen ab.104 Zwar mag es sich hierbei um Einzelfälle gehandelt haben, dennoch wird deutlich, dass die verdichteten Freiheitsrechte in der staatsrechtlichen Theorie durchaus auch praktische Auswirkungen hatten: Neben die Bedeutung, die sie durch die Aufnahme in der Gesellschaft gewannen, tritt eine rechtsbegründende, die Praxis unmittelbar beeinflussende Funktion, die sie in den Gerichtssälen gewannen. 3. Zusammenfassung Am Ende des 18. Jahrhunderts verdichtete sich das Verlangen nach fortbestehenden Freiheitsrechten innerhalb des Staates. Dabei wurde der Freiheitsbegriff keineswegs einheitlich ausgelegt, sondern war von den jeweils verfolgten politischen oder ökonomischen Interessen abhängig. Die inhaltliche Reichweite der geforderten Freiheit variierte. Sie ging über das Freiheitsverständnis des frühen deutschen Naturrechts hinaus und erreicht bisweilen das Ausmaß der revolutionären Menschenrechte Nordamerikas und Frankreichs. Auch in Deutschland entwickelte sich ein Freiheitsbegriff, dessen Verwirklichung eine Anpassung der politischen Ordnung erforderte.

II. Die Freiheitsrechte im Preußischen Allgemeinen Landrecht Für den aufgeklärten Absolutismus Preußens stellte sich das Problem, dass die diskutierten Freiheitsrechte einen Umfang erreichten, der mit der uneingeschränkten Souveränität des absoluten Monarchen unvereinbar war. Diesen Widerspruch versuchte man aufzulösen, indem man sich darauf berief, dass der Monarch in den Dienst der Freiheit des Einzelnen gestellt sei.105 Es wurde dabei als gesichert angesehen, dass er die Freiheit und die Rechte des Einzelnen ausreichend beachtete und schützte, schrieb es ihm die Vernunft doch vor. Eine mögliche Überforderung oder Fehleinschätzung des Souveräns wurde ausgeschlossen, damit keine Forderungen nach Alternativmodellen zum Absolutismus, z. B. in Form einer Konstitutionalisierung, ausgelöst wurden. Den Konflikt zwischen diesem Dienst des Monarchen für die Freiheit des Einzelnen und der 104 Vgl. Th. Würtenberger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 70; ders.; in: Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte, Der Staat, Beiheft 10 (1993), S. 85 (93 f.); D. Klippel, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 313 (331); speziell zum Reichskammergericht J. Weitzel, in: Diestelkamp, Die politische Funktion des Reichskammergerichts, S. 157 ff. 105 Vgl. P. Krause, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 131.

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6. Kap.: Freiheitsrechte in Deutschland am Ende des 18. Jh.

Absicherung seiner uneingeschränkten Souveränität zeigen auch der Entstehungsprozess und der Inhalt des Preußischen Allgemeinen Landrechts. 1. Der Plan des Allgemeinen Gesetzbuches Als Friedrich der Große die Notwendigkeit einer Rechtsreform erkannte, war es der ursprüngliche Plan, ein Allgemeines Gesetzbuch für Preußen zu schaffen. In diesem sollten das Staatsverständnis des aufgeklärten Herrschers sowie vernunftrechtliche Gestaltungsprinzipien und naturrechtliche Elemente verankert werden.106 Durch das AGB wären auch die Nachfolger Friedrichs an diese Grundsätze gebunden worden. Gleichzeitig verfolgte Friedrich mit dem Gesetzgebungsvorhaben das Ziel, das gemeine Recht zu verdeutschen, systematisch zusammenzufassen und dem Laien verständlich zu machen.107 Dabei sollte dem Gesetzbuch durch die Ausfüllung der Lücken im partikularen Recht nur subsidiäre Geltung und somit eine Art Hilfsfunktion zukommen. Trotz dieser untergeordneten Bedeutung brachte das AGB aber eine wichtige Erneuerung: Wenn das Recht für den einzelnen Untertanen verständlich und nachvollziehbar war, konnte er die Handlungen des Monarchen auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen. Rechtsverletzungen konnten eher als solche erkannt und gerichtlich beanstandet werden. Gleichzeitig bewirkte die Diskussion um das AGB, an der zumindest die obere Bildungsschicht der Gesellschaft beteiligt war, dass sich ein erhöhtes Interesse am Staatsgeschehen bildete und die Möglichkeit der Einschränkung des omnipotenten Staates zumindest in Betracht gezogen wurde.108 2. Die Freiheitsrechte im suspendierten AGB und dessen konstitutionelle Deutung Das Allgemeine Gesetzbuch wurde durch Kabinettsorder von Friedrich Wilhelm II. am 1. Juni 1792 suspendiert und zwei Jahre später durch das um wesentliche, grundsätzliche Regelungen beschnittene Allgemeine Landrecht ersetzt. Als Hauptgrund dafür wurde immer wieder der Eindruck der Französischen Revolution genannt.109 Genauer lässt sich das Motiv hinter dem Kabinettsorder

106 Vgl. D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 249; G. Birtsch, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 47 (58). 107 Vgl. P. Krause, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 131 (151); vgl. auch W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rdnr. 140. 108 B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 71. 109 So D. Merten, DVBl. 1981, S. 701 f.; H. Conrad, Die geistigen Grundlagen des ALR, S. 41; C. Schott, ZVglRWiss 75 (1976), S. 45 (50); D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 249; B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 49.

II. Die Freiheitsrechte im Preußischen Allgemeinen Landrecht

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anhand der gestrichenen Vorschriften ermitteln, wodurch auch die Konsequenzen der Suspension für den Freiheitsschutz in Preußen deutlich werden. a) Die natürliche Freiheit im Lichte des Staatszwecks, §§ 77–79 Einl. AGB Mit den §§ 77 bis 79 Einl. AGB fielen der reaktionären Revision Vorschriften zum Opfer, die für den Freiheitsschutz des Einzelnen von großer Bedeutung waren. Gemäß § 79 Einl. AGB durften Gesetze und Verordnungen „die natürliche Freiheit und Rechte der Bürger nicht weiter einschränken, als es der gemeinschaftliche Endzweck erfordert“. Damit war erstmals positivrechtlich das Fortbestehen der natürlichen Freiheit im Staat anerkannt. Diese erhielt zudem in § 90 Einl. AGB einen erstaunlichen Umfang: Sie bestand für jeden Einzelnen darin, „sein eigenes Wohl, ohne Kränkung der Rechte eines Anderen, suchen und befördern zu können.“ Erst die Rechte anderer schienen also die natürliche Freiheit begrenzen zu können – ein Gedanke, der in der Rechtsphilosophie Kants wurzelte und auch dem heutigen Art. 2 Abs. 1 GG zugrunde liegt. Bevor man aber die natürlichen Freiheiten in den Kodifikationen Preußens als „Grundrechte“110 tituliert, muss untersucht werden, inwieweit sie sich in der Staatsform des Absolutismus entfalten konnten. Zunächst fehlte es an einer konkreten Auflistung einzelner Rechte und Grundrechte in katalogisierter Form lagen nicht vor.111 Es blieb lediglich die allgemein formulierte „natürliche Freiheit“, deren Ausmaß allerdings vom „Endzweck“ abhing, der in § 77 Einl. AGB auf das „Wohl des Staates überhaupt, und seiner Einwohner insbesondere“ festgelegt wurde. Über das Wohl des Staates durfte nun gemäß § 78 Einl. AGB das Staatsoberhaupt allein entscheiden und war dabei ermächtigt, die äußeren Handlungen der Untertanen zu bestimmen und in diese einzugreifen. Die Gefahr der Aushöhlung aller Freiheit unter der Berufung auf das Gemeinwohl bestand damit nach wie vor.112 Außerdem musste – gerade nachdem man sich mit der Philosophie Kants auseinandergesetzt hatte – ins Auge springen, dass durch die Festlegung des Staatszwecks allein durch den Herrscher die Gefahr einer Zwangsbeglückung des Individuums bestand.113 Dennoch brachte die gesetzliche Verpflichtung des Herrschers auf den Staatszweck einen wichtigen Vorteil: In §§ 77 bis 79 Einl. AGB war trotz des dehnba110 111

So H. Conrad, Die geistigen Grundlagen des ALR, S. 35. So auch G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten,

S. 55. 112 Dazu ausführlich D. Klippel/L. Pahlow, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 215 (240 ff.). 113 Vgl. A. Schwennicke, Die Entstehung der Einleitung des Preußischen ALR, S. 313.

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6. Kap.: Freiheitsrechte in Deutschland am Ende des 18. Jh.

ren Begriffs des Staatswohls eine inhaltliche Begrenzung der Herrschaftsmacht enthalten, die erstmals zum positiven Recht gehörte. Hierbei handelte es sich nicht um bloße Moralvorschriften, deren Einhaltung – wie nach der Theorie von Thomasius114 – letztlich eine innere Gewissensfrage des Herrschers sein sollte. Vielmehr führte die positivrechtliche Verpflichtung des Herrschers dazu, dass die Konsequenzen ihrer Nichteinhaltung zum Gegenstand der juristischen Diskussion werden konnten.115 Verletzte der Herrscher die natürliche Freiheit des Einzelnen, so verletze er gleichzeitig das Recht. Dieses entstammte zwar seiner alleinigen Souveränität, sollte aber letztlich auch für ihn verbindlich sein. Folglich enthielten §§ 77 bis 79 Einl. AGB eine Begrenzung der Handlungsmöglichkeiten des Herrschers, der sich durch Eingriffe in die natürliche Freiheit seiner Untertanen selbst ins Unrecht setzte. Zwar wurden daran keine Konsequenzen geknüpft und eine Antastung der Souveränität war von den Schöpfern des AGB auch nicht intendiert116, aufgrund des grundrechtsbewussten Denkens in Wissenschaft und Gesellschaft bestand jedoch die Gefahr der konstitutionellen Deutung – Grund genug für die konservativen Kritiker, auf die Streichung dieser Vorschriften hinzuwirken. b) Das Machtspruchverbot, § 6 Einl. AGB Eine Ausdehnung der individuellen Freiheit hätte die positivrechtliche Bindung des Herrschers an den Staatszweck allerdings nur bedeutet, wenn das AGB Mechanismen enthalten hätte, den Untertanen vor unrechtmäßigen Freiheitseingriffen zu schützen. Hier wird § 6 Einl. AGB relevant, wonach „Machtsprüche oder solche Verfügungen der obersten Gewalt, welche in streitigen Fällen, ohne rechtliche Erkenntnis, ertheilt worden sind“, keine Rechte und Verbindlichkeiten bewirken sollten. Fraglich ist, inwieweit mit dieser Vorschrift eine Absicherung der Freiheitsrechte über die Gerichte verbunden war. Das sog. Machspruchverbot kam bereits in der Staatsauffassung Friedrich des Großen zum Ausdruck: „Ich habe mich entschlossen, niemals in den Lauf eines gerichtlichen Verfahrens einzugreifen, denn in den Gerichtshöfen sollen die Gesetze sprechen, und der Herrscher soll schweigen.“117 Die strikte Befolgung dieses Vorsatzes hätte die Unabhängigkeit der Justiz gestärkt und damit zum Schutz der Untertanenrechte beitragen können. Selbst Svarez erkannte, dass die Sicherheit des Eigentums der Untertanen gefährdet sei, solange sich der Herrscher 114

Vgl. oben 3. Kapitel, II. 1. b). P. Krause, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 131 (187); A. Schwennicke, Die Entstehung der Einleitung des Preußischen ALR, S. 59. 116 Vgl. A. Schwennicke, Die Entstehung der Einleitung des Preußischen ALR, S. 314 ff. 117 Friedrich der Große, Testament, abgedruckt in: Volz (Hrsg.), Bd. 7, S. 118. 115

II. Die Freiheitsrechte im Preußischen Allgemeinen Landrecht

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über die Urteile seiner Gerichte hinwegsetzen konnte.118 Doch schon Friedrich der Große war nicht bereit, die Gerichte gänzlich aus seiner Kontrolle zu entlassen: Im Müller-Arnold-Prozess hob er das Urteil des Kammergerichts auf und verhängte über die beteiligten Richter sogar eine Festungshaft.119 Auch unter dem AGB sollte ein solches persönliches Eingreifen trotz des sog. Machtspruchverbots weiterhin möglich sein. Dies zeigt schon der Wortlaut des § 6 Einl. AGB, der Machsprüchen nur dann die Verbindlichkeit absprach, wenn es vorher keine „rechtliche Erkenntnis“ gegeben hatte. Rechtliche Erkenntnis lag aber am Ende des gerichtlichen Verfahren vor. Die strafverschärfende Bestätigung eines Urteils durch den Monarchen war somit weiterhin zulässig. § 6 Einl. AGB sollte daher lediglich Eingriffen in die Rechtspflege noch während des Verfahrens die Wirkung absprechen.120 Folglich war die Unabhängigkeit der Justiz nur für den begrenzten Zeitraum der Urteilsfindung gegeben. Für den Freiheitsschutz kam es aber gerade auf das abschließende Urteil im konkreten Fall an, welches dem Zugriff des Herrschers uneingeschränkt offen stand. Die freiheitssichernden Auswirkungen des § 6 Einl. AGB wären daher gering gewesen, zumal unklar war, was es im absolutistischen Staat bedeutete, dass unzulässige Machtsprüche „keine Rechte und Verbindlichkeiten“ bewirkten. Dem Individuum, dessen Rechte verletzt waren, blieb lediglich die passive Möglichkeit, auf eine Aufhebung des Machtspruchs nach einem Thronwechsel zu hoffen. Allein der Richter konnte versuchen, den Monarchen durch eine Gegenvorstellung umzustimmen. Machte er aus opportunistischen Gründen von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch oder blieb sie erfolglos, musste das Individuum machtspruchbedingte Rechtsverletzungen hinnehmen.121 Vor dem Hintergrund, dass die in § 6 Einl. AGB nur schwach angedeutete Gewaltenteilung in Frankreich bereits die verfassungsrechtliche Realität beeinflusste und in der Staatsrechtslehre immer mehr Anhänger fand, entwickelte sich jedoch ein neues richterliches Selbstverständnis. Fortschrittliche Richter konnten sich befugt fühlen, sich über vorzeitige Machtsprüche des Monarchen hinwegzusetzen und ein eigenes Urteil zu fällen.122 Zwar ist fraglich, inwieweit sie diese selbst angenommene Befugnis hätten ausüben können, ohne entlassen oder gar bestraft zu werden. Dennoch sah man in § 6 Einl. AGB die Gefahr

118

C. G. Svarez, Kronprinzenvorträge, abgedruckt in: Conrad/Kleinheyer, S. 484. Vgl. W. Frotscher/P. Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rdnr. 131 ff. 120 P. Krause, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 131 (193). 121 C. G. Svarez, Kronprinzenvorträge, abgedruckt in: Conrad/Kleinheyer, S. 617 f. 122 P. Krause, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 131 (193 f.); vgl. auch A. Schwennicke, Die Entstehung der Einleitung des Preußischen ALR, S. 54. 119

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verborgen, dass sich die Richter dem Einfluss des Herrschers entzogen und sich selbst zu den Herren des Rechts aufwarfen – Anlass für die reaktionäre Revision, die Streichung der Vorschrift zu veranlassen. Es ließ sich aber nicht leugnen, dass mit § 6 Einl. ABG zumindest gedanklich ein erster Einbruch in die Souveränität des Herrschers erfolgte. Dahinter standen Überlegungen, die das Staatsverständnis grundsätzlich tangierten. Denn begründet wurde die Zurückhaltung des Monarchen in der Rechtsprechung damit, dass es ihm dazu an „Zeit, Kenntnis und Übung“ fehle.123 An „Zeit, Kenntnis und Übung“ fehlte es dem Monarchen aber auch bei Streitigkeiten mit vorheriger „rechtlicher Erkenntnis“, so dass eigentlich ein umfassenderes Machtspruchverbot erforderlich gewesen wäre. Außerdem muss man sich die Frage stellen, warum der Monarch als Einzelperson zwar nicht für die Rechtsprechung, aber doch für die mindestens ebenso komplexe Gesetzgebung genügend „Zeit, Kenntnis und Übung“ haben sollte. c) Die Gesetzeskommission, § 12 Einl. AGB Gemäß §§ 10, 11 Einl. AGB sollte eine Gesetzeskommission bei der Gesetzgebung mitwirken. Hierbei handelte es sich um ein Sachverständigengremium aus Ministerialbeamten und Fachjuristen124, das die Gesetze auch auf ihre Billigkeit und Nutzbarkeit überprüfen sollte. Vom Monarchen berufen und nicht durch Wahlen legitimiert, hat es die Bezeichnung „quasiparlamentarisch“ nicht verdient.125 Eine erste Gesetzeskommission hatte schon Friedrich der Große durch Kabinettsorder im Jahr 1781 eingesetzt. Diese sollte den Monarchen aber nicht in seiner Gesetzgebungsbefugnis beschränken, sondern in seiner alleinigen Gesetzgebung unterstützen. Da selbst „das größte und weitumfassenste Genie“126 nicht die umfassenden Kenntnisse haben konnte, die zur Gesetzgebung erforderlich waren, musste man auch dem Monarchen zur Hand gehen, indem man ihn mit Informationen versorgte und ihn von voreiligen Schlüssen abhielt. Der Gedanke, einem Vernunftgremium die Gesetzgebung zu überlassen, der sich schon bei Christian Wolff fand127, wurde an den Absolutismus angepasst. Es sollte vermieden werden, dass einzelne Staatsminister eigennützig den Herrscher zu Gesetzen verleiteten, deren Konsequenzen sie allein überblickten und die allein in ihrem Interesse waren.128 Folglich sollte die Freiheit des Einzelnen vor allem vor einem Ministerialdespotismus geschützt werden. Sie gegen unzu123 C. G. Svarez, Kronprinzenvorträge, abgedruckt in: Conrad/Kleinheyer, S. 484; auf den Zeitmangel wies schon Friedrich der Große, Testament, abgedruckt in: Volz (Hrsg.), Bd. 7, S. 118 hin. 124 D. Willoweit, in: FS Mikat, S. 451 (458). 125 So aber H. Hattenhauer, Das nachfriderizianische Preußen, S. 37 (51). 126 C. G. Svarez, Kronprinzenvorträge, abgedruckt in: Conrad/Kleinheyer, S. 479. 127 Zum Rat der „Verständigsten und Tugendhaftesten“ vgl. oben 3. Kapitel, III. 1.

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lässige Eingriffe durch Gesetze des Herrschers selbst abzusichern, sahen die Theoretiker des aufgeklärten Absolutismus kein Bedürfnis, denn der vernünftige Herrscher wurde gerade als Garant der Freiheit gesehen. Durch das gewachsene Gefährdungsbewusstsein gegenüber gemeinwohlorientierten Herrschaftshandlungen in der Staatsrechtslehre und Gesellschaft gerieten diese Vorstellungen ins Wanken.129 Der Zusammenhang zwischen Mitwirkungsrechten bei der Gesetzgebung und der Sicherung individueller Freiheiten war außerdem nicht nur im Naturrecht theoretisch aufgezeigt, sondern auch in der verfassungsrechtlichen Realität Frankreichs umgesetzt worden war. Folglich bestand die Gefahr, dass § 12 Einl. AGB, der Gesetze, die ohne die Mitwirkung der Gesetzeskommission entstanden waren, für unverbindlich erklärte, als Einschränkung der Gesetzgebungsbefugnis des Monarchen gedeutet wurde.130 Es war möglich, dass Richter und Staatsdiener einem Gesetz die Verbindlichkeit absprachen, obwohl es Ausdruck des Herrscherwillens war. Die natürliche Freiheit wäre somit durch § 12 Einl. AGB vor unzulässigen gesetzlichen Einschränkungen geschützt gewesen, solange die Kommission diese ablehnte. Da aber auch § 12 Einl. AGB der reaktionären Revision zum Opfer fiel, konnte die Umsetzung dieser Schutzmöglichkeit in der Praxis nicht erprobt werden. d) Bewertung Insgesamt weisen die gestrichenen Vorschriften des AGB eine Gemeinsamkeit auf: Sie bargen die Gefahr in sich, als konstitutionelle Bindung der Herrschaftsmacht gedeutet zu werden.131 Zwar waren sie ursprünglich darauf angelegt, die absolute Monarchie zu stützen, vor dem Hintergrund der Verfassungsgebung in Frankreich sowie aufgrund des verdichteten Freiheitsverständnisses in Staatsrecht und Gesellschaft lag aber eine Umdeutung nahe. Außerdem ließ es die schwache Autorität vom Nachfolger des „großen Friedrichs“, Friedrich Wilhelm II, fraglich erscheinen, einer einzelnen Person die absolute Souveränität zu übertragen. Die von Christian Wolff in der Theorie angedeutete Konstitutionalisierungsmöglichkeit132 hätte durch eine Auslegung des AGB, die von der Intention des Gesetzgebers abwich, Wirklichkeit werden können. Für die Unter128 C. G. Svarez, Kronprinzenvorträge, abgedruckt in: Conrad/Kleinheyer, S. 479; H. Conrad, Die geistigen Grundlagen des ALR, S. 40; G. Birtsch, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 47 (59); P. Landau, AöR 118 (1993), S. 447 (457). 129 Vgl. zum erhöhten Gefährdungsbewusstsein S. 78 ff. 130 T. Karst, ZRG Germ. Abt. 120 (2003), S. 180 (191); P. Krause, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 131 (196). 131 Vgl. P. Krause, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 131 (183 ff.); H. Conrad, Die geistigen Grundlagen des ALR, S. 35 ff. 132 Vgl. oben 3. Kapitel, III. 2. b) bb).

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tanen hätte das eine Ausdehnung und Absicherung der natürlichen Freiheit bedeutet, die zur konstitutionellen Schranke der Herrschaftsmacht geworden wäre – Auswirkungen, die man durch die Suspension des AGB zu verhindern gewusst hat. Am Entwurf des Preußischen AGB wird deutlich, dass für das Ausmaß der Freiheit unter einem bestimmten Gesetz nicht allein der Wille des Gesetzgebers ausschlaggebend ist. Entscheidend ist außerdem die Aufnahme und Interpretation der Freiheit in der Staatsrechtslehre und in der Gesellschaft sowie durch die Rechtsprechung und Verwaltung. Da das AGB in der Praxis den Absolutismusanhängern zu entgleiten und entgegen seinem ursprünglichen Zweck im Wege einer liberalen Auslegung die uneingeschränkte Souveränität zu mindern drohte, wurde es suspendiert. Damit wurde verhindert, dass die gewährten Freiheiten ein Eigenleben entwickelten und ihr Ausmaß das vom ursprünglichen Gesetzgeber vorgesehene überstieg – eine Entwicklungsmöglichkeit, die auch den einseitig gewährten frühkonstitutionellen Grundrechten innewohnte. 3. Das Allgemeine Landrecht von 1794 Das Allgemeine Landrecht von 1794 war daher ganz dem absolutistischen Staatsverständnis verpflichtet. Aufklärerische Elemente waren nur enthalten, soweit sie die Souveränität des Monarchen nicht in Frage stellten – ein Erfordernis, an das sich auch die Ausgestaltung der Freiheitsrechte anpassen musste. a) Die natürliche Freiheit zwischen uneingeschränkter Souveränität und patriarchalischer Ständeordnung Als Ansatzpunkt für den rechtlichen Fortbestand der natürlichen Freiheit im Staat konnte § 83 Einl. ALR genommen werden.133 Diese Vorschrift sicherte – genau wie zuvor § 90 Einl. AGB – jedem die Freiheit zu, das eigene Wohl zu suchen und zu befördern, solange die Rechte eines anderen nicht gekränkt wurden. Rechte, die der Ausübung der natürlichen Freiheit entgegenstanden, konnten allerdings gemäß § 85 Einl. ALR durch Gesetze ohne weiteres geschaffen werden. Das Ausmaß der natürlichen Freiheit war damit vom einfachen Gesetz abhängig: Gemäß § 86 Einl. ALR war die natürliche Freiheit, wenn sie nicht durch Gesetz „unterstützt“ wurde, unvollkommen und im gerichtlichen Verfahren nicht einklagbar.134 Dabei war das Gesetzessystem, in welches die natürliche Freiheit eingebettet war, geprägt durch die uneingeschränkte Souveränität des Monarchen, durch die tradierte geburtsständische Gesellschaftsordnung und 133 134

Th. Würtenberger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 12. B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 54.

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durch das paternalistische, wohlfahrtsstaatliche Denken – drei Tendenzen, deren freiheitsbeschränkende Wirkungen zu zeigen sind: Die uneingeschränkte Souveränität des Herrschers war durch die Streichung der §§ 77 bis 79 Einl. AGB noch einmal bestätigt worden.135 Die Konsequenz daraus war, dass die natürliche Freiheit aus § 83 Einl. ALR vom gesetzgebenden Herrscher eingeschränkt und gänzlich reduziert werden konnte, ohne dass es einen Verstoß gegen das positive Recht bedeutet hätte. Insoweit blieben die Freiheitsrechte im ALR hinter den altständischen Rechtsverbürgungen zurück.136 Zwar galten gemäß § 87 Einl. ALR Handlungen, die nicht durch Gesetz verboten wurden, als erlaubt. Da es aber dem Herrscher möglich blieb, durch Gesetz unbegrenzte Verbote zu formulieren, war damit kein eigenständiger Freiheitsgehalt verbunden. Zwar sollten Gesetze künftig der Gesetzeskommission zur Prüfung vorgelegt werden (§§ 7 ff. Einl. ALR), ihre Verbindlichkeit hing aber ganz bewusst nicht von der Mitwirkung der Kommission ab. Im Vergleich zu § 90 Einl. AGB kann die natürliche Freiheit im ALR deshalb erst recht nicht als Vorform der allgemeinen Handlungsfreiheit gedeutet werden137 und an Rechte, die auf politische Mitwirkung abzielten, war schlichtweg nicht zu denken. Außerdem hatte die Beförderung des eigenen Wohls gegenüber dem allgemeinen und dehnbaren Staatswohl zurückzustehen138, denn mit § 77 Einl. AGB war auch die Konkretisierung des Staatswohls auf das Wohl „seiner Einwohner insbesondere“ weggefallen. § 73 Einl. ALR sprach zudem die Verpflichtung jedes Einzelnen aus, „das Wohl und die Sicherheit des gemeinen Wesens“ zu unterstützen. Folglich band im ALR der Staatszweck nicht mehr den Herrscher, sondern er wurde zur individuellen Verpflichtung des Untertans, die seine Freiheit überlagerte. Außerdem waren gemäß § 82 Einl. ALR die Rechte eines Menschen neben der Geburt an den Stand geknüpft. Die natürliche Freiheit erfuhr durch die im ALR bestätigten ständischen Vorrechte sowie durch die Pflichten der niedrigeren Stände eine weitere Einschränkung.139 Besonders deutlich wird dies am Beispiel der untertänigen Landbewohner, die dem Gutsherren unterstanden und somit eigentlich im doppelten Sinne Untertanen waren.140 Von einem Reform135

R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 31. G. Dilcher, Staat 27 (1988), S. 161 (176). 137 So aber B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 73; D. Merten, in: Ebel, Gemeinwohl – Freiheit – Vernunft – Rechtsstaat, S. 109 (131). 138 A. Schwennicke, Die Entstehung der Einleitung des Preußischen ALR, S. 296. 139 Vgl. E. Hellmuth, Naturrechtsphilosophie und bürokratischer Werthorizont, S. 210; D. Willoweit, in: Ebel, Gemeinwohl – Freiheit – Vernunft – Rechtsstaat, S. 1 (9); R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 43; F. Hartung, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 152 (161 f.). 140 G. Birtsch, in: Wolff, Das Preußische Allgemeine Landrecht, S. 133 (143). 136

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willen zeugte zwar § 147 II 7 ALR, wonach die untertänigen Bauern als „freye Bürger des Landes“ anzusehen waren. Dies galt allerdings nur „außer der Beziehung auf das Gut, zu welchem sie geschlagen sind.“ Ihre Freiheit erschöpfte sich darin, dass sie gemäß § 148 II 7 ALR nicht der Leibeigenschaft unterworfen waren und ihr eigenes Eigentum erwerben konnten (§ 149 II 7 ALR). Damit hatte zumindest die „persönliche Sklaverei“141 ein Ende – was allerdings nichts daran änderte, dass der Gutsherr seine Landbewohner im Falle der Flucht jederzeit zur Rückkehr auf das Gut nötigen konnte (§ 155 II 7 ALR). In einem umfangreichen Katalog der „Dinglichen Rechte der Herrschaft“ auf die Untertanen wurde deren Freiheit auf ein Minimum reduziert: Sie durften das Gut nicht verlassen (§ 150 ff. II 7 ALR) und konnten vom Gutsherren durch „mäßige Züchtigung“ zur Erfüllung ihrer Pflichten angehalten werden (§ 227 ff. II 7 ALR). Selbst in privaten Entscheidungen waren sie von der Gunst des Gutsherren abhängig und konnten z. B. nur mit seiner Genehmigung heiraten (§ 161 II 7 ALR). Ihre Kinder durften nicht fortziehen, ohne dem Herren zuvor ihre Dienste zumindest angeboten zu haben (§ 185 II 7 ALR), ein bürgerliches Gewerbe konnten sie nur mit dessen ausdrücklicher Erlaubnis erlernen (§ 172 II 7 ALR). Diese Regelungen über die untertänigen Landbewohner verdeutlichen, dass durch die Eingliederung in die ständische Pflichtenordnung die natürliche Freiheit erheblich relativiert wurde.142 Bei der Freiheit aus § 147 II 7 ALR handelte es sich nur um ein geringes Überbleibsel, das mit einer allgemeinen Handlungsfreiheit nicht zu vergleichen ist. Dennoch bestand die Gefahr, dass § 147 II 7 ALR vom Untertan als Verbesserung seiner sozialen Stellung missverstanden und zu extensiv ausgelegt wurde.143 Deshalb regte sich gerade in Adelskreisen selbst noch Widerstand gegen die rechtliche Positivierung dieses Überbleibsels der Freiheit. Die dargestellten Vorschriften zeigen gleichzeitig die dritte freiheitseinschränkende Tendenz der absolutistischen Staatsauffassung, nämlich das patriarchisch wohlfahrtsstaatliche Denken, das den Untertan zu seinem vermeintlich Besten der Fremdbestimmung unterwarf.144 Zwar mochte dabei das Wohl des Staates und der Untertanen das Ziel gewesen sein145, faktisch wirkten sich die Bestimmungen aber bevormundend und freiheitseinschränkend aus. Im gesamten ALR lassen sich dafür zahlreiche Belege finden, sei es, dass der Meister seinen Lehrling zu „guten Sitten“ anhalten sollte (§ 293 II 8 ALR), dass mit Vollziehung 141

So der Wortlaut des § 148 II 7 ALR. Dazu auch U. Scheuner, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 376 (386). 143 G. Birtsch, HZ 208 (1969), S. 265 (287 f.). 144 Vgl. dazu H. Hattenhauer, in: Wolff, Das Preußische Allgemeine Landrecht, S. 49 (58). 145 Das betont D. Willoweit, in: Ebel, Gemeinwohl – Freiheit – Vernunft – Rechtsstaat, S. 1 (13). 142

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der Ehe das Vermögen der Frau allein in die Verwaltung des Mannes überging (§ 205 II 1 ALR), oder dass der Vater allein zu bestimmen hatte, wie lange die Mutter das Kind stillen sollte (§ 68 II 2 ALR). Die Entfaltungsmöglichkeiten der natürlichen Freiheit aus § 83 Einl. ALR waren daher aufgrund der absolutistischen Staatsauffassung von Anfang an eingeschränkt. Dass sie aber keineswegs aufgehoben waren, zeigt die folgende Analyse der konkreten Freiheitsrechte, die das ALR enthielt. b) Die natürliche Gleichheit innerhalb einer funktionalisierten Ständeordnung Neben der natürlichen Freiheit kam es darauf an, inwieweit die naturrechtliche Vorstellung der Gleichheit im ALR berücksichtigt werden konnte. Da das ALR an die geburtsständische Ordnung anknüpfte, konnte von einer prinzipiellen Gleichbehandlung keine Rede sein. Anstatt die Standesunterschiede aufzuheben, hielt das ALR an den Abstufungen der herkömmlichen Sozialverfassung fest. aa) Das Festhalten an einer funktionalisierten Ständeordnung Die strenge Unterscheidung zwischen dem Bauern-, Bürger- und Adelsstand wurde im zweiten Teil des Gesetzbuches in den Titeln 7 bis 9 durch detaillierte Regelungen wiedergegeben. Dies geschah nicht unbeabsichtigt und es ist verfehlt, – wie Tocqueville – davon auszugehen, dass man in Preußen lediglich keine Zeit gefunden hätte, um die Trümmer der verachteten, alten Verfassung zu beseitigen.146 Stattdessen war das Gesetzbuch keineswegs privilegienfeindlich ausgerichtet, sondern man sah deren Schutz sogar als Bestandteil des Staatszwecks an.147 Voraussetzung war jedoch, dass die Privilegien positivrechtlich begründet waren, denn die Schöpfer des ALR gingen davon aus, das von Natur aus keine Unterschiede zwischen den Menschen bestanden.148 Somit verlor die Ständeordnung ihre verfassungsrechtliche Bedeutung. Zwar wurde sie vom ALR noch aufrechterhalten, sie stand aber zur Disposition des Gesetzgebers, der die Möglichkeit hatte, alle ständischen Ungleichheiten abzubauen.149 Der Grund, weshalb der absolute Monarch trotz dieser Möglichkeit die ständi146

A. Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, S. 223. E. F. Klein, Freyheit und Eigenthum, S. 42; C. G. Svarez, Kronprinzenvorträge, abgedruckt in: Conrad/Kleinheyer, S. 454; A. Schwennicke, Die Entstehung der Einleitung des Preußischen ALR, S. 237 ff.; vgl. auch R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 24 f. 148 C. G. Svarez, Kronprinzenvorträge, abgedruckt in: Conrad/Kleinheyer, S. 261 ff. 149 Vgl. G. Kleinheyer, in: Von der ständischen Gesellschaft zur bürgerlichen Gleichheit, Der Staat, Beiheft 4 (1980), S. 7 (10). 147

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schen Vorrechte duldete, war letztlich ein eigennütziger: Die Arbeitsteilung und Organisation zwischen den Ständen entsprach – zumindest solange sie nicht mit politischer Macht verbunden war – genau den Bedürfnissen des preußischen Militärstaates.150 Während der Adel sich im Militär hervortat und das Land verteidigte, sorgte das wirtschaftliche Potential des Bürgertums für die Finanzmittel und die Bauern waren als Erzeuger von Nahrungsmitteln, als Steuerzahler und als Rekrutenreservoir unentbehrlich. bb) Funktionalisierung und Entpolitisierung Im Interesse der Staatsraison wurde die Ständeordnung funktionalisiert und es war nicht mehr primär die Geburt, sondern der Dienst und die Aufgabenerfüllung innerhalb des Staates, die einen Stand ausmachten.151 Dabei zog das ALR unsaubere Grenzen, indem z. B. auch Bürgerliche zu Staatsdienern werden konnten und ähnliche Aufgaben wie die Adeligen übernahmen. Als Unteroffiziere, Oberoffiziere bürgerlicher Herkunft oder als Staatsbeamte sollten sie genau wie der Adel „die Sicherheit, die gute Ordnung und den Wohlstand des Staates unterhalten und befördern“ (§ 1 II 10 ALR). Die Konsequenz war, dass sich neben den geburtsständischen die sog. funktionsständischen Prinzipien herausbildeten. Es entwickelten sich die „persönlichen Stände“ zu Nebenklassen, in denen zwischen dem geistlichen, dem Militär- und dem Zivildienst unterschieden wurde. Die Vermischung des geburts- und funktionsständischen Prinzips war allerdings nur schwer vermittelbar und bewirkte, dass die Ständeordnung nicht mehr als tradierte Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden konnte. Von großer Bedeutung ist, dass dem Adel keine Privilegien geblieben waren, die auf eine aktive politische Mitwirkung abzielten. Das ALR sah nicht vor, ihn an der Gesetzgebung zu beteiligen und die Forderung nach einer herkömmlichen Ständeversammlung, in der das ALR beraten werden sollte, wurde trotz des vielversprechenden Kabinettsorders Friedrichs Wilhelm II. von 1786152 schlichtweg ignoriert. Als politische Kraft war der Adel also entmachtet153 und stand insoweit mit den anderen Ständen auf gleicher Stufe. Mit den politischen Mitspracherechten war aber ein wichtiger Ast der geburtständischen Ordnung 150 G. Birtsch, in: Wolff, Das Preußische Allgemeine Landrecht, S. 133 ff.; ders., in: FS Schieder, S. 59 (64); vgl. auch F. Hartung, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 152 (162 f.). 151 U. Frevert, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 291 (295 ff.); R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 144. 152 Vgl. A. Schwennicke, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 112 ff.; T. Karst, ZRG German. Abt. 120 (2003), S. 180 (189). 153 So auch G. Birtsch, in: Wolff, Das Preußische Allgemeine Landrecht, S. 133 (144); ders., in: FS Schieder, S. 59 (68); R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 144.

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gewaltsam abgebrochen worden, wodurch eben diese nur geschwächt werden konnte. Wenn nämlich der König die Stände in politischen Fragen ignorierte, war es schwer zu begründen, weshalb das gesellschaftliche Zusammenleben in ständischen Grenzen verharren sollte. cc) Dynamisierende Elemente Im ALR waren zudem dynamisierende Elemente enthalten, die ein vereinzeltes Durchdringen der Standesgrenzen ermöglichten, auch wenn grundsätzlich an der Trennung der Stände festgehalten werden sollte. Eine Annäherung der Stände erfolgte im Staatsdienst: Zwar sollten die „Ehrenstellen“ dem Adel vorbehalten bleiben (§ 35 II 9 ALR), dies galt jedoch nur bei ausreichender Qualifikation. Folglich bestand die Möglichkeit, dass besser ausgebildete Bürger dem Adel vorgezogen wurden. Im Militär konnten es die Bürger zu „Oberoffiziers von bürgerlicher Herkunft“ (§ 6 II 10 ALR) bringen, ihre Aufstiegschancen waren aber beschränkt und es waren immer Adelige, die vorzugsweise die Offizierstellen erhielten.154 Somit ermöglichte das Leistungsprinzip den Bürgern zwar, im Militär- oder Zivilstand tätig zu sein, ihr weiterer Aufstieg war dann aber vom geburtsständischen Prinzip abhängig. Die Trennung zwischen Adel und Bürgertum wurde dadurch aufrechterhalten, sie musste aber ungerecht und fragwürdig erscheinen.155 Ein Durchdringen der geburtsständischen Grenzen erfolgte durch § 30 II 1 ALR, der es Adeligen erlaubte, Töchter des höheren Bürgertums zu heiraten. Die Söhne aus solchen Ehen galten dann als adelig (§ 3 II 8 ALR) und wurden als ehrenhaft genug angesehen, die höhere Militärlaufbahn einzuschlagen. Dabei wurde das höhere Bürgertum genau definiert, was aufgrund der Heterogenität dieses Standes auch erforderlich war: Auf der einen Seite standen gebildete, sehr wohlhabende Bürger. Diese waren oft eximiert, d. h. sie unterstanden dem Adel ähnlich der städtischen Gerichtsbarkeit nicht. Zudem waren sie erfolgreich in den Staatsdienst integriert – die Bearbeiter des ALR, Svarez und Klein, sind dafür klassische Beispiele. Ihre Standesgenossen waren in einfachen Verhältnissen lebende, ungebildete Handwerker, Gastwirte etc., die ebenfalls als Bürger galten, obwohl sie oftmals eher mit dem Bauernstand vergleichbar waren. Folglich konnte das Bürgertum nicht mehr ohne weiteres in die geburtsständische Ordnung gepresst werden und übte daher einen dynamisierenden Druck auf eben diese aus.156 154 G. Birtsch, in: Wolff, Das Preußische Allgemeine Landrecht, S. 137 (139); U. Frevert, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 291 (297 f.). 155 Vgl. auch K. von Raumer, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 171 (188 f.).

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Anstatt also eine grundsätzlich neue Ordnung anzukündigen, hielt das ALR an einer funktionalisierten Ständeordnung fest. Doch mit der politischen Funktion der Stände war ein wichtiger Rechtfertigungsgrund für ihre Existenz verloren gegangen. Außerdem enthielt das Gesetzeswerk dynamisierende Elemente, die eine Absicherung des status quo der funktionalisierten Ständeordnung verhinderten und unmittelbar gesellschaftsverändernd wirkten. Folglich nahm das ALR Einfluss auf die bestehende Sozialverfassung, deren Veränderungen die Anknüpfung an das geburtsständische Prinzip insgesamt fragwürdig erschienenen ließen. Die Durchbrechungen der Standesgrenzen wurden zum Selbstläufer – eine Wirkung, die allerdings mit den Interessen des absoluten Herrschers nicht konform ging. c) Die Doppelfunktion des Eigentumsschutzes Auch die Ausgestaltung des Eigentumsrechts im ALR war durch die Ständeordnung gekennzeichnet und Privilegien sowie wohlerworbene Rechte waren geschützte Rechtspositionen. Andrerseits kannte das ALR auch das allgemeine Eigentum, das der freien Entfaltung dienen sollte und als Voraussetzung und Ausdruck natürlicher Freiheit gesehen werden konnte. Diese Zweigleisigkeit des Eigentumsschutzes deutete sich schon bei Christian Wolff an, der sowohl die allgemeinen, natürlichen Rechte als auch die wohlerworbenen Rechtspositionen geschützt sehen wollte.157 aa) Der ständische Eigentumsbegriff Der ausgeprägte Schutz des ständischen Eigentums im ALR wird schon daran deutlich, dass wohlerworbene Rechte eine Schranke des allgemeinen Eigentumsrechts bilden konnten. Zwar durfte gemäß § 6 I 8 ALR zunächst prinzipiell jeder Eigentum erwerben und es gemäß § 26 I 8 ALR so gebrauchen, wie es ihm beliebte. Es durften dabei jedoch weder „die wohlerworbenen Rechte eines anderen gekränkt, noch die in den Gesetzen des Staates vorgeschriebenen Schranken überschritten werden.“ Dahinter lag der auf Rechtsbewahrung ausgerichtete Gedanke, jedem das Seine zu sichern.158 Der absolutistische Staat war aber nicht nur aufgrund einer tradierten Gerechtigkeitsvorstellung auf den Schutz der wohlerworbenen Rechte ausgerichtet, sondern schon aus Gründen 156 U. Frevert, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 291 (298). 157 Grundsätze, § 100. 158 C. G. Svarez, Kronprinzenvorträge, abgedruckt in: Conrad/Kleinheyer, S. 458, 464; der Begriff war schon Ch. Wolff, Grundsätze, § 269, geläufig; vgl. auch G. Birtsch, in: FS Schieder, S. 59; D. Willoweit, in: Ebel, Gemeinwohl – Freiheit – Vernunft – Rechtsstaat, S. 1 (7 ff.).

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der Staatsräson. Da er in der rational organisierten Arbeitsteilung des Ständestaates fußte, war es notwendig, dass die ständischen Vorrechte erhalten blieben.159 Konkrete Ausgestaltung fand das ständische Eigentum u. a. in § 37 II 9 ALR, wonach das Eigentum am Gutsbesitz eben nicht von jedem erworben werden konnte, sondern dem Adel vorbehalten war. Das Privileg der Eximierten wurde gemäß § 59 II 8 ALR abgesichert und die Patrimonialgerichtsbarkeit sowie das Recht, an Land- oder Kreistagen teilzunehmen, erfuhren durch § 42 II 9 bzw. § 46 II 9 ALR gesetzlichen Schutz. Diese Vorrechte wurden als vermögenswerte Positionen angesehen160, die unter das ständische Eigentumsrecht fielen. Sie waren politisch neutralisiert worden, um mit der uneingeschränkten Souveränität des Monarchen in Einklang zu stehen. Es war selbstverständlich, dass der Adel trotz seiner Landtagsfähigkeit auf die Gesetzgebung im Staate allenfalls einen beratenden Einfluss nehmen konnte. Die ständischen Vorrechte, die früher aus der gewachsenen Staatsverfassung abgeleitet wurden und daher öffentlich-rechtlich waren, enthielten immer mehr den Charakter von Privatrechten, die der absolute Herrscher aus funktionalen Gründen bewahrte.161 bb) Die Entschädigungspflicht gemäß § 75 Einl. ALR Gemäß § 75 Einl. ALR waren gemeinwohlorientierte Eingriffe des Staates in die „besonderen Rechte und Vortheile“ entschädigungspflichtig. Damit waren zunächst nur die wohlerworbenen Rechte gemeint, deren Schutz im Staats- und Naturrecht und auch in der Rechtspraxis eine lange Tradition hatte. Schon durch die Rezeption des römischen und kanonischen Rechts war es möglich, in den wohlerworbenen Rechten eine Grenze der Handlungsbefugnisse des Herrschers zu sehen.162 Allerdings konnte sich der Herrscher durch das dominium eminens, das einen publizistischen Rechtstitel zur Aufhebung von Individualrechten darstellte, über die wohlerworbenen Rechte hinwegsetzen.163 Der Umfang dieses Herrschaftsrechts war bereits im ausgehenden 17. Jahrhundert Ge159 Vgl. oben 6. Kapitel, II. 3. b) aa); ausführlich dazu G. Birtsch, in: Wolff, Das Preußische Allgemeine Landrecht, S. 133 ff.; vgl. auch R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 74. 160 Vgl. E. Hellmuth, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 63 (87). 161 G. Birtsch, in: FS Schieder, S. 59 (61); zum Einfluss der Stände auf das ALR, der sich vor allem im apolitischen Bereich auswirkte vgl. auch A. Schwennicke, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 113 (120 f.). 162 A. Schwennicke, Die Entstehung der Einleitung des Preußischen ALR, S. 322 f.; H. Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem, S. 219. 163 Ch. Link, in: FS Geiger, S. 277 (292); ders., Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, S. 167 ff.; H. Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem, S. 219; D. Grimm, in: Recht und Staat in der bürgerlichen Gesellschaft, S. 264 f.

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genstand der naturrechtlichen Diskussion.164 Zur Zeit der Entstehung des ALR wurde es vor allem von den Vertretern der Stände geleugnet, die ihre Rechte erhalten wollten.165 Vor diesem Hintergrund fand das dominium eminens in § 74 Einl. ALR eine erstaunlich weitgefasste gesetzliche Grundlage. Einzelne Rechte und Vorteile mussten gemäß dieser Vorschrift im Kollisionsfall mit dem gemeinschaftlichen Wohl zurücktreten. Nur auf den ersten Blick schien dem Herrscher dadurch die Möglichkeit geschaffen, durch gemeinwohlorientierte Eingriffe in ständische Rechtspositionen auf eine Einebnung der Ständegesellschaft hinzuwirken. Denn gemäß § 75 Einl. ALR wurde eine umfassende Entschädigungspflicht des Staates ausgelöst, die sich als Hemmnis der Entwicklung der modernen Gesellschaft auswirkte.166 Es lag nahe, dass der Herrscher aus Angst vor einer Entschädigung vor Eingriffen in ständische Vorrechte zurückschreckte. Selbst wenn er dies nicht tat, blieben die Vorrechte zumindest wertmäßig erhalten. Gleichzeitig bedeutete aber die gesetzliche Festlegung der Entschädigungspflicht, die zwar auch zuvor anerkannt, aber in ihrer tatsächlichen Gewährung oftmals vom Belieben des Herrschers abhängig blieb, eine feste Grenze der Herrschaftsmacht und einen wichtigen Schritt zur Entwicklung des Rechtsstaats. cc) Das Eigentum als Ausdruck freier Entfaltung Andrerseits war das Eigentum als Ausdruck der natürlichen Freiheit anerkannt167 und das ALR stellte auch das allgemeine Eigentum unter seinen Schutz, was § 26 I 8 belegt. Da es sich als Voraussetzung für das wirtschaftliche Wachstum des Bürgertums erwies, entsprach dieses Recht ebenfalls dem Staatsinteresse. Gleichzeitig kam man physiokratischen Postulaten entgegen168 und hoffte, das Freiheitsbedürfnis zumindest teilweise stillen zu können. Damit sollte verhindert werden, dass auf breiter Ebene Freiheitsforderungen aufkamen, die konträr zum bestehenden Staat standen. Außer durch die wohlerworbenen Rechte konnte das allgemeine Eigentum nur durch ein Gesetz eingeschränkt werden (§ 32 I 8 ALR). In dieser Vorschrift findet sich die Figur des Gesetzesvorbehalts bereits angedeutet169, ihre Funktion als Freiheitsgarantie war allerdings gering: Zum einen war das Gesetz letztlich auch nur Ausdruck des mo164

Vgl. Ch. Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, S. 170 ff. Zum Monitum des Grafen von Finckenstein vgl. A. Schwennicke, Die Entstehung der Einleitung des Preußischen ALR, S. 325 f. 166 R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 32. 167 Vgl. schon Ch. Wolff, Grundsätze, § 255; C. G. Svarez, Kronprinzenvorträge, abgedruckt in: Conrad/Kleinheyer, S. 150 ff.; E. F. Klein, Freyheit und Eigenthum, S. 116. 168 Vgl. oben 6. Kapitel, I. 2. a) bb). 169 Vgl. D. Merten, in: Ebel, Gemeinwohl – Freiheit – Vernunft – Rechtsstaat, S. 109 (134). 165

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narchischen Willens, zum anderen konnte für eine Vielzahl von Eingriffen in das Eigentum die weite Schranke der wohlerworbenen Rechte nutzbar gemacht werden, so dass es einer gesetzlichen Grundlage nicht bedurfte. dd) Konsequenzen eines Konfliktes beider Eigentumsbegriffe Die Zweigleisigkeit des Eigentums im ALR wurde als gute Alternative zum Eigentumsschutz der französischen Menschenrechtserklärung aufgenommen, der die völlige Aufhebung aller Privilegien vorangegangen war. Darin wurde nach damaligem Verständnis eine klassische Verletzung des (wohlerworbenen) Eigentums gesehen, welche die tradierte Ständeordnung abzuwehren in der Lage gewesen wäre.170 Problematisch an der Zweigleisigkeit des im ALR konzipierten Eigentumsschutzes war allerdings, dass er letztlich in einem Widerspruch wurzelte und dass Konflikte zwischen dem ständischen und dem allgemeinen Eigentumsbegriff unvermeidbar waren. Nach der Gesetzeslage musste eigentlich das wohlerworbene Eigentumsrecht vorgehen, denn gemäß § 26 I 8 ALR war es als eine Schranke des allgemeinen Eigentums vorgesehen. Nun ermöglichte § 75 Einl. ALR eine Aufhebung des wohlerworbenen Rechts zugunsten des allgemeinen Eigentums, die allerdings dem Gemeinwohl entsprechen musste und zudem entschädigungspflichtig war. Ob von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wurde, hing ganz davon ab, wie der Landesfürst das Gemeinwohl beurteilte.171 Letztlich konnte er aber aufgrund der Bedeutung, die das allgemeine Eigentum mittlerweile nicht nur im Staats- und Naturrecht, sondern auch für die wirtschaftliche Entwicklung und für die politische Befriedigung des Bürgertums erlangt hatte, dessen Vorrang vor den wohlerworbenen Rechten nicht schlichtweg ausschließen. Die ständischen Sonderrechte mussten wie Relikte aus der Zeit wirken, in der noch politische Mitwirkungsbefugnisse mit ihnen verbunden waren. Auf ihren privatrechtlichen Vermögenswert beschnitten, wirkten sie überholt und an allgemeinen Gerechtigkeitskriterien orientiert waren sie schwer zu rechtfertigen.172 Selbst der Landrechtsautor Klein ging davon aus, dass alles Eigentum letztlich der natürlichen Freiheit des Einzelnen diene.173 170 Vgl. nur E. Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution, S. 85: „In Frankreich ist die Regierung nicht in den Händen der Eigentümer.“ – Damit waren die Eigentümer ständischer Privilegien gemeint, die in England als Erbeigentümer oder Erbadel das Oberhaus bildeten. – „Mithin ist die Vernichtung des Eigentums unvermeidlich, und jede vernünftige Freiheit ist verschwunden.“; vgl. auch E. F. Klein, Freyheit und Eigenthum, S. 41; zur abschreckenden Wirkung der französischen Revolution vgl. oben 5. Kapitel, III. 4. b). 171 R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 33. 172 Vgl. E. Hellmuth, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 63 (85); Th. Würtenberger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 44; vgl. Ch. Link, in: FS Geiger, S. 277 (287); vgl. auch F. Hartung, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 152 (156 ff.). 173 Freyheit und Eigenthum, S. 116 f.

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Wenn nun das Eigentum der natürlichen Freiheit entgegenstünde – was hauptsächlich beim ständischen Eigentumsbegriff der Fall sein konnte – so müsse es aufgeopfert werden.174 Die Konsequenz war, dass beim zweigleisigen Eigentumsschutz eine Verschiebung zugunsten des allgemeinen Eigentums eintrat. Diese Verschiebung trug wiederum als dynamisierendes Element zur Einebnung der Ständeordnung bei.175 Die Ausdehnung des allgemeinen Eigentumsbegriffs wirkte sich somit auch positiv auf die Gleichheit in der Gesellschaft aus. Folglich war das allgemeine Eigentum genau wie die natürlichen Freiheit aus § 83 Einl. ALR durch die wohlerworbenen Rechte überlagert, gleichzeitig wurde es aber zum Ansatzpunkt einer Entwicklung, die auf eine Zurückdrängung der wohlerworbenen Rechte ausgerichtet war. ee) Das Eigentum als Grenze der Herrschaftsmacht Beim Eigentum war schon vor dem ALR die Gefahr, dass der Herrscher durch gemeinwohlorientierte Eingriffe die Rechte der Untertanen auf ein Minimum reduzierte, geringer als bei anderen Freiheitsrechten. Enteignungen wurden nur dann als dem Staatszweck entsprechend angesehen, wenn die öffentliche Sicherheit und Ordnung sie erforderten und sie zudem verhältnismäßig waren.176 Mit diesem Grundsatz, der Gegenstand der akademischen Lehre war, kamen alle höheren preußischen Beamten in Berührung. Er wurde in der Staatspraxis berücksichtigt177 und auch die Gerichte trugen maßgeblich zum Eigentumsschutz bei.178 Problematisch war allerdings, dass der absolute Monarch nicht durch seine eigenen Gerichte kontrolliert werden konnte, galten doch Regierungssachen nicht als Justizsachen. Der Zugang zu den Reichsgerichten war oftmals durch das privilegium de non appellando versperrt. Erst über die sog. Fiskustheorie179 konnte gerichtlicher Eigentumsschutz gegenüber dem Staat erreicht werden: Zwar konnte nicht der Monarch als Träger der staatlichen Ge174 Freyheit und Eigenthum, S.116 f., 138 f.; vgl. auch Th. Würtenberger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 33. 175 Dazu R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 33. 176 H. G. Scheidemantel, Das allgemeine Staatsrecht, § 175 (S. 175 f.); weitere Nachweise bei Th. Würtenberger, in: Gose/Würtenberger, Zur Ideen- und Rezeptionsgeschichte des Preußischen ALR, S. 55 ff.; Ch. Link, in: FS Geiger, S. 277 (286 f., 293). 177 Th. Würtenberger, in: Gose/Würtenberger, Zur Ideen- und Rezeptionsgeschichte des Preußischen ALR, S. 55 (62); zur philosophischen Schulung der Staatsdiener auch E. Hellmuth, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 63 f. 178 Ausführlich dazu Th. Würtenberger, in: Gose/Würtenberger, Zur Ideen- und Rezeptionsgeschichte des Preußischen ALR, S. 55 (66 ff.). 179 Grundlegend O. Mayer, Verwaltungsrecht I, S. 48 ff.; R. von Mohl, Staatsrecht, S. 393 f.; B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 86 ff.

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walt, wohl aber der Fiskus als Träger des staatlichen Vermögens verklagt und zur Erfüllung zivilrechtlicher Ansprüche verurteilt werden. Deutete man nun die Enteignung als Zwangskauf, so konnte der Enteignete den Fiskus bzgl. des Kaufpreises in Anspruch nehmen, auch wenn er sich gegen die Enteignung selbst nicht wehren konnte. Es stellt sich nun die Frage, weshalb die Präzisierung des Staatszwecks und die damit verbundene Eingrenzung der Herrschaftsmacht gerade beim Eigentum so gut funktionierte. Zum einen hatte der absolute Monarch aus wirtschaftlichen Gründen und als Entgegenkommen an das Bürgertum ein Eigeninteresse am allgemeinen Eigentumsrecht. Zum anderen ist zu beachten, dass der Eigentumsschutz eine Tradition im ständischen Deutschland hatte, die seit langem auf eine Begrenzung der Herrschaftsmacht ausgerichtet war. So war schon vor der Französischen Revolution anerkannt, dass Enteignungen eine Entschädigungspflicht des Herrschers nach sich zogen, wobei es allerdings nur die ständischen Eigentumsrechte waren, die diesen Schutz erfuhren.180 Nachdem nun der allgemeine Eigentumsbegriff als Ausdruck natürlicher Freiheit neben die ständischen Eigentumsrechte gestellt worden war, lag es nahe, die überkommenen Schutzmechanismen auch für den allgemeinen Eigentumsbegriff nutzbar zu machen. Besonders deutlich wird dies an § 75 Einl. ALR, der auch Eingriffe in das allgemeine Eigentumsrecht entschädigungspflichtig machte. Somit hatte diese Vorschrift genau wie das Eigentum selbst eine Doppelfunktion: Einerseits war sie Ausdruck eines tradierten Rechtsgedankens, der auf den Erhalt der Ständeordnung ausgerichtet war und dessen Wurzeln sogar schon im usus modernus lagen.181 Andrerseits schützte § 75 Einl. ALR aber auch die aus dem neuzeitlichen Naturrecht abgeleitete natürliche Freiheit. Erstmals waren Eingriffe in das Eigentum als Ausdruck freier Entfaltung nicht nur der Gemeinwohlkontrolle unterworfen, sondern die Zulässigkeit des Eingriffs wurde an eine weitere Voraussetzung geknüpft, nämlich an die Entschädigung entsprechend der Zwangskauftheorie.182 Faktisch bedeutete diese Entschädigungspflicht, auch wenn sie sich scheinbar zunächst nur gegen den Fiskus richtete, eine unumgängliche Einschränkung der Herrschaftsmacht. Während dem Herrscher bei der Frage, ob das Gemeinwohl die Enteignung erforderte, noch ein politisches Ermessen zustand, war die Entschädigung eine gesetzlich zwingende Konsequenz. Zwar stand der Vollzug der Enteignung allein im Ermessen des Herrschers, sobald dieser sich jedoch für eine Enteignung in Form eines Zwangskaufes entschied, schuldete er den Kaufpreis. Dahinter stand der Gedanke „Dulde und liquidiere“, 180 Ch. Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, S. 167; ders., in: FS Geiger, S. 277 (295); H. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, Rdnr. 1618. 181 Vgl. oben 6. Kapitel, II. 3. c) bb). 182 Vgl. D. Grimm, in: Recht und Staat in der bürgerlichen Gesellschaft, S. 264 (265).

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der zwar auf keinen bestandsmäßigen, aber doch auf einen wertmäßigen Erhalt des Eigentums als Ausdruck der natürlichen Freiheit abzielte. Die freien Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums, die mit dem Eigentum verbunden waren, waren daher gemeinwohlorientierten Eingriffen des Landesfürsten nur insoweit ausgesetzt, wie sie an ein konkretes Eigentumsobjekt gebunden waren. Sofern sie aber im materiellen Wert des Eigentums wurzelten, blieben sie – je nach Höhe der Entschädigung – zumindest teilweise erhalten. d) Die Gewissensfreiheit Von besonderer Bedeutung war der aufgeklärte Absolutismus Preußens für die Gewissensfreiheit. Die Toleranz gegenüber Andersgläubigen war gängige Staatspraxis und fand im ALR einen gesetzlichen Niederschlag, der in Europa zur damaligen Zeit einmalig war.183 aa) Ursachen der Toleranz Eine wichtige Ursache der preußischen Toleranz waren die Ideen der Aufklärung und des Vernunftrechts, denen insbesondere Friedrich der Große offen gegenüberstand.184 Die Anerkennung der Gewissensfreiheit war nun einerseits eine Möglichkeit zu zeigen, dass man die Ideen des modernen Natur- und Staatsrechts aufgenommen hatte und den Menschen im Bereich des Glaubens als frei entscheidendes Individuum anerkannte.185 Andrerseits aber ermöglichte die Eingrenzung dieser Entscheidungsfreiheit auf die innere Sphäre des Gewissens, dass eine Ausdehnung auf politische Freiheiten ausgeschlossen war und die absolute Souveränität unangetastet blieb. Schon Thomasius hatte gezeigt, dass eine innere Freiheit im moralischen Bereich, die letztlich einer Gewissensfreiheit sehr nahe kam, der Souveränität des Herrschers keinen Abbruch tat.186 An den Festen des absoluten Staates rüttelte die Gewissensfreiheit an sich daher nicht, vielmehr stand sie gerade in dessen Dienst. Vor allem politische Gründe sprachen in Preußen für ein Gebot der Toleranz. Während das Herrschaftshaus calvinistisch und das Land insgesamt lutherisch geprägt war, gab es nicht unbedeutende katholische Minderheiten, deren Territorien z. T. im Wege der Erbfolge erworben worden waren.187 Das Nebeneinander der verschiedenen Konfessionen war im Ansatz vergleichbar mit der Situa183 A. von Campenhausen, in: HdStR, Bd. VI, § 136, Rdnr. 18, 22; G. Anschütz, Verfassungsurkunde, S. 183. 184 H. J. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, S. 55 f.; A. von Campenhausen, in: HdStR, Bd. VI, § 136, Rdnr. 18; E.-W. Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), S. 38. 185 Vgl. dazu E.-W. Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), S. 40. 186 Vgl. oben 3. Kapitel, II. 2.

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tion in Nordamerika und konnte nur dann friedlich fortgeführt werden, wenn ein Mindestmaß an Toleranz herrschte. Die Alternative zur konfessionellen Pluralität, die in einer strikten Ausübung des ius reformandi bestanden hätte, widersprach der aufgeklärten Staatsauffassung der preußischen Landesfürsten188 und wäre ohne kriegerische Auseinandersetzungen kaum durchzuführen gewesen. Außerdem war der Militär- und Beamtenstaat auch auf die willige Mitarbeit der katholischen Minderheit angewiesen. Hinter den Worten Friedrich des Großen, dass jeder nach seiner Façon selig werden solle189, stand daher auch das praktische Bedürfnis nach einem friedlichen, funktionierendem Zusammenleben im Staat. Letztlich war die Anerkennung der Gewissensfreiheit schon für Friedrich den Großen eine Möglichkeit, als besonders fortschrittlich in Europa zu gelten. Damit hob sich Preußen insbesondere vom katholischen Österreich ab, dessen Religionspolitik überholt wirken musste.190 Die Toleranz wurde somit gängige Staatspraxis und erfuhr am 9. Juli 1788 durch das Wöllner’sche Religionsedikt nur eine Bestätigung. Die drei christlichen Religionen, die reformierte, lutherische und die römisch-katholische, sollten gleichbehandelt und geschützt werden, während die anderen Religionsgemeinschaften und Sekten lediglich geduldet wurden.191 bb) Das individuelle Maß an Freiheit Sechs Jahre später wurde die Gewissensfreiheit dann im ALR gesetzlich positiviert und noch einmal ausgeweitet. Dem Individuum wurde in § 2 II 11 ALR die „vollkommene Glaubens- und Gewissensfreiheit“ gestattet. Gemäß § 1 II 11 konnte weder der Glaube noch der innere Gottesdienst Gegenstand von Zwangsgesetzen sein. Bekräftigt und konkretisiert wurde dieses Bekenntnis zur Gewissensfreiheit in den Vorschriften §§ 3 bis 6 II 11 ALR, die neben der negativen Bekenntnisfreiheit u. a. ein Verspottungsverbot enthielten. Obwohl „jedem Einwohner“ eine „vollkommene“ Freiheit zukommen sollte, war der Freiraum, der dem Individuum geschaffen wurde, relativ klein. Neben dem inneren Glauben war als Form der Religionsausübung lediglich der „innere Gottesdienst“ frei von gesetzlichen Eingriffen. Mit dem „inneren Gottesdienst“ 187 W. Kahl, Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik I, S. 318; H. J. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, S. 55. 188 Das ius reformandi war in Preußen schon seit dem frühen 17. Jahrhundert nicht mehr ausgeübt worden, H. J. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, S. 55; W. Kahl, Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik I, S. 318. 189 Vgl. dazu H J. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, S. 56; vgl. auch D. Willoweit, in: FS Mikat, S. 451 (456). 190 G. Heinrich, in: Schlenke, Preußen, S. 61 (79). 191 H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 76 f.; G. Anschütz, Verfassungsurkunde, S. 184.

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war aber nur der Hausgottesdienst gemeint.192 Dabei ist zu beachten, dass ein staatliches Verbot dieser Form der Religionsausübung ohnehin kaum kontrollierbar gewesen wäre. Der Hausgottesdienst fand abgeschottet von der Öffentlichkeit im engen Familienkreis hinter verschlossenen Türen statt. Gesellschaftliche oder politische Bewegungen, die den Absolutismus in Frage zu stellen drohten, konnten durch eine so eng interpretierte „vollkommene“ Freiheit nicht entstehen. Eine grundsätzliche Entscheidungsfreiheit, die über den Bereich des Religiösen hinausging, wurde von den Schöpfern des ALR nicht anerkannt. Dies kann man schon daran erkennen, dass die Zensur nicht in Frage gestellt wurde.193 Die Freiheit des Individuums war in eine innere Sphäre abgeschirmt, in der sie für den absoluten Monarchen ungefährlich war. cc) Die anerkannten Religionsgemeinschaften Die korporative Seite der Gewissensfreiheit erfuhr durch das ALR für die drei anerkannten Religionsgemeinschaften eine Ausdehnung. Die sog. öffentlich aufgenommenen Religionsgemeinschaften hatten gemäß § 17 II 11 ALR die Rechte privilegierter Korporationen. Das bedeutete, dass sie ihren Glauben z. B. durch den Bau von Kirchen oder durch Glockengeläut öffentlich ausüben durften (exertium religionis publicum).194 Gegenüber den allgemeinen Vereinen hatten die anerkannten Religionsgemeinschaften den Vorteil, dass auch ihre Betätigungsmöglichkeiten rechtlich abgesichert waren.195 Diese Regelung machte eine Ausübung des ius reformandi unmöglich und sicherte die konfessionelle Pluralität Preußens. Das reichsrechtliche Paritätsgebot196 war damit erstmals innerhalb eines Einzelstaates voll verwirklicht, weshalb sich Preußen in ganz Europa durch seine fortschrittliche Toleranz abheben konnte. Die Gefahr, dass die religiösen Zusammenkünfte dazu missbraucht werden könnten, über Politik zu diskutieren oder gar den Landesfürsten zu kritisieren, konnte bei den anerkannten Religionsgemeinschaften kontolliert und so gut wie ausgeschlossen werden. Das exertium religionis publicum ließ daher die Souveränität des Monarchen unangetastet.

192 C. J. Bergius, Preußen in staatsrechtlicher Beziehung, § 36 (S. 103); H. J. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, S. 58. 193 Dazu ausführlich E. Hellmuth, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 205 (218 ff.). 194 H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 78 f.; W. Kahl, Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik I, S. 318 f. 195 Vgl. zur Vereins- und Versammlungsfreiheit unter dem ALR unten 8. Kapitel, VI. 1. d). 196 I. P. O., Art. VII, § 1, abgedruckt in: A. Buschmann (Hrsg.), Kaiser und Reich, Teil II, S. 62.

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dd) Die Duldung nicht aufgenommener Religionsgemeinschaften Zurückhaltender zeigte man sich den übrigen Religionsgemeinschaften gegenüber, die lediglich geduldet wurden. Gemäß § 10 II 11 ALR bedurfte es der Genehmigung des Staates, bevor man sich zu „Religionsübungen“ verbinden durfte. Die Erteilung dieser Genehmigung stand im Ermessen des absoluten Herrschers, der die Grundsätze der Religionsgemeinschaften prüfte.197 Dabei kam es zum einen darauf an, dass die Religionsgemeinschaften den Mitgliedern „Ehrfurcht gegen die Gottheit“ einflößten, es sollten aber auch „Gehorsam gegen die Gesetze“ und „Treue gegen den Staat“ gefördert werden (§ 13 II 11 ALR).198 Letztlich prüfte also der Landesfürst, was seine Untertanen glauben durften und die patriarchisch bevormundende Seite des absoluten Staates wurde erneut offenbart.199 Vor allem aber bezweckte die Regelung, dass Religionsgemeinschaften, die sich gegen den absoluten Staat richteten, gar nicht erst genehmigt und somit im Keim erstickt werden sollten. Und selbst die genehmigten Religionsgemeinschaften hatten lediglich das Recht zur Hausandacht, wodurch sie keine gesellschaftliche Außenwirkung entfalten konnten. Außerdem bestand immer noch die Möglichkeit, heimliche Zusammenkünfte i. S. d. § 9 II 11 ALR, „welche der Ordnung und Sicherheit des Staates gefährlich werden könnten, auch unter dem Vorwand des häuslichen Gottesdienstes . . .“, zu untersagen. Trotz dieser Einschränkungen waren aber die Regelungen zu den nicht anerkannten Religionsgemeinschaften vor dem Hintergrund der damaligen Zeit fortschrittlich. Allein schon das Toleranzgebot stand eigentlich im Widerspruch zu dem seit dem westfälischen Frieden geltenden reichsrechtlichen Gebot, nach dem das Sektenwesen nicht zu dulden war.200 Zwischen den drei anerkannten und den lediglich geduldeten Religionsgemeinschaften standen die konzessionierten, aber nicht aufgenommenen Kirchengesellschaften. Diese waren zwar nicht privilegiert, ihre Rechte gingen jedoch über die bloße Hausandacht hinaus.201 Das ALR berücksichtigte diese Gruppe nicht, dennoch war sie in der Staatspraxis anerkannt. Daran wird deutlich, dass die preußische Toleranz auch unabhängig von der gesetzlichen Verankerung der Gewissensfreiheit im ALR bestand und nicht durch diese bedingt wurde.

197 H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 79 f.; W. Kahl, Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik I, S. 318 f. 198 Dazu auch C. J. Bergius, Preußen in staatsrechtlicher Beziehung, § 38 (S. 106). 199 Vgl. oben 6. Kapitel, II. 3. a). 200 I. P. O., Art. VII, § 2: „. . . Außer den zuvor erwähnten Bekenntnissen soll jedoch im Heiligen Römischen Reich kein anderes angenommen oder geduldet werden.“, abgedruckt in: A. Buschmann (Hrsg.), Kaiser und Reich, Teil II, S. 64. 201 H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 80.

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ee) Bedeutung der Gewissensfreiheit Insgesamt gelang es durch das ALR, einen ersten Bereich des inneren Gewissens abzustecken, in dem Eingriffe des Herrschers ausnahmslos unzulässig waren. Zwar war dieser Freiraum klein, wichtig ist jedoch, dass erstmals die Idee einer Freiheitssphäre, die dem staatlichen Zugriff vollständig entzogen sein sollte, für eine gesetzliche Regelung Modell stand. Im Bereich des Gewissens war außerdem die Überlagerung des individuellen Freiraums durch patriarchalische Elemente, die in bevormundender Weise zwischen den Staat und das Individuum traten202, zurückgeschraubt: Gemäß § 8 II 11 ALR konnte der Hausvater Mitglieder seines Hausstandes nicht zur Beiwohnung des Hausgottesdienstes zwingen und gemäß § 40 II 11 ALR war es den Religionsgesellschaften nicht möglich, ihre Mitglieder zum Verbleib in dieser anzuhalten. Außerdem schuf die Gewissensfreiheit eine Atmosphäre der grundsätzlichen Toleranz, die für weitere Freiheiten förderlich war. Mit der Anerkennung der individuellen Entscheidung im religiösen Bereich wurden individuelle Fähigkeiten attestiert, die weitere Freiheiten forderten. Allerdings wurde die Entscheidung des Einzelnen nur dann ohne weiteres respektiert, wenn er sich zu einer anerkannten Religionsgemeinschaft bekannte. Bei einer nicht aufgenommenen Religionsgemeinschaft wurde die Individualentscheidung lediglich unter der Voraussetzung geduldet, dass diese zuvor der landesfürstlichen Prüfung standgehalten hatte. Sobald die Macht des Landesfürsten berührt werden könnte, wirkte die absolute Staatsauffassung zu Lasten der individuellen Freiheit. Zwar mag daher die Gewährung der Gewissensfreiheit in Preußen als deutsche Wurzel dieses Grundrechts zu betrachten sein203, der Grund dafür lag aber allein in dem Umstand, dass sich diese Freiheit so hervorragend mit dem Absolutismus vereinbaren ließ. e) Die Auswanderungsfreiheit In einem engen Zusammenhang zur Gewissensfreiheit stand die Auswanderungsfreiheit, deren Wurzeln in den religiösen Kämpfen des 16. und 17. Jahrhunderts lagen.204 Oftmals bestand die einzige Möglichkeit, seinen Glauben offen ausleben zu können, im Verlassen des Landes. Außerdem bot die Auswanderung für die Untertanen nach den Menschenrechtserklärungen in Frankreich und Nordamerika eine Möglichkeit, den Schutz ihrer Grundrechte in anderen Ländern zu suchen.205 Die Herrscher hingegen hatten ein berechtigtes Interesse 202

Vgl. oben 6. Kapitel, II. 3. a). So auch A. Campenhausen, in: HdStR, Bd. VI, § 136 Rdnr. 21 f.; vgl. auch Ch. Link, in: FS Geiger, S. 277 (280). 204 U. Scheuner, in: FS Thoma, S. 199 (203); K. Gerteis, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 162 (168 f.). 203

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daran, der Abwanderung wirtschaftlicher und finanzieller Ressourcen ins Ausland entgegenzutreten.206 Zur Zeit der Entstehung des ALR hatte sich in Preußen der Grundsatz herausgebildet, dass nur der begüterte Adel und zum Militärdienst verpflichtete Kantonisten zur Auswanderung einer Genehmigung bedurften, ansonsten war die Auswanderung frei. Daher stieß das zunächst geplante allgemeine Auswanderungsverbot mit Erlaubnisvorbehalt in § 55 Einl. Entwurf AGB auf heftigen Widerstand, der sich zur Begründung des Naturrechts bediente.207 Schon Pufendorf kannte die Möglichkeit, dass der Einzelne aus der Gesellschaft austrat208, und Wolff ließ die Auswanderung zu, wenn das Gemeinwohl dadurch keinen Nachteil erlitt.209 Daraufhin normierte § 127 II 17 ALR letztlich eine Auswanderungsfreiheit, die lediglich eine Anzeigepflicht nach sich zog. Die Positivierung dieses Freiraums konnte dabei als Produkt des Zusammenspiels der bisherigen Staatspraxis und des Naturrechts gesehen werden.210 Ob das ius emigrandi aus § 127 II 17 ALR allerdings schon zu den modernen Grundrechten gehört211, erscheint zweifelhaft. Zwar mochte jedem die Auswanderungsfreiheit zugesichert worden sein, aber schon gemäß § 130 II 17 ALR war es möglich, durch Provinzialgesetze die Auswanderung von einer Erlaubnis abhängig zu machen. Da das ALR keine besonderen Anforderungen an diese Gesetze stellte und zudem nur subsidiär galt, konnte die Auswanderungsfreiheit des ALR durch territoriale Sonderregelungen letztlich gegenstandslos werden. Ob die Erlaubnis zur Auswanderung erteilt wurde, war eine nicht überprüfbare Ermessensfrage. Dabei wurde nicht nur bevormundend das Wohl des Individuums beurteilt, oftmals musste das individuelle Wohl dem der Gemeinschaft nachstehen. Dies war vor allem der Fall, wenn man wohlhabende Bürger aufgrund ihrer Steuerleistung im Land halten wollte oder wenn die Kenntnisse bestimmter Handwerker für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes von Bedeutung waren.212 Eine faktische Beschränkung der Freiheit zum Verlassen des Landes stellte § 141 II 17 ALR dar. Demnach musste jeder Auswanderer ein Abfahrtsgeld zahlen, das zehn Prozent seines gesamten Vermögens betrug.213 Die damit ver205

U. Scheuner, in: FS Thoma, S. 199 (201, 210). K. Gerteis, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 162 (170). 207 A. Schwennicke, Die Entstehung der Einleitung des Preußischen ALR, S. 357 ff. 208 JNG, 8. Buch, Kap. 11, § 2. 209 Grundsätze, § 1019. 210 A. Schwennicke, Die Entstehung der Einleitung des Preußischen ALR, S. 357; U. Scheuner, in: FS Thoma, S. 199 (210). 211 So P. Landau, AöR 118 (1993), S. 447 (461). 212 Vgl. dazu K. Gerteis, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 162 (171). 206

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bundene Vermögensminderung war besonders schmerzlich, da zum Aufbau der neuen Existenz im Einwanderungsland oft jeder Groschen benötigt wurde. Außerdem wurde auch die Auswanderungsfreiheit durch ständische Rechte blockiert. Es war von vorneherein ausgeschlossen, dass untertänige Landbewohner, die gemäß § 150 II 7 ALR nicht einmal das Gut verlassen durften, zu Auswanderern wurden. Die Auswanderung von Waisenkindern war ebenfalls nicht frei, sondern wurde gemäß § 129 II 17 ALR an eine Genehmigung geknüpft. Folglich war das Maß an Freiheit, das § 127 II 17 ALR gewährte, für bestimmte Gruppen der Bevölkerung unzugänglich. Dennoch ist zu beachten, dass sich bei der Auswanderungsfreiheit eine überlieferte Rechtstradition und die naturrechtliche Menschenrechtsvorstellung vereinigten und gemeinsam in den Dienst der individuellen Freiheit stellten. f) Rechtsstaatliche Elemente An der Schwelle von ständischer Rechtstradition zum modernen Grundrechtsschutz standen im ALR auch die rechtsstaatlichen Elemente. Sie waren für die Absicherung der gewährten Freiheiten erforderlich und z. T. werden sie sogar als Vorläufer der Justizgrundrechte gesehen.214 Zurückzuführen waren die rechtsstaatlichen Elemente im ALR überwiegend auf die ständischen Monita, für deren Einfluss § 62 Einl. ALR ein typisches Beispiel ist. Die dort positivierte Anhörungspflicht bei der Aufhebung von Statuten, Provinzialgesetzen und vor allem Privilegien leitete sich aus dem alten Grundsatz ab, dass partikulare Rechte nicht ohne Zustimmung der Stände aufgehoben werden durften.215 Die Vorschrift förderte den Erhalt der Privilegien und stand damit der Entstehung einer modernen Gesellschaft gerade entgegen. Außerdem war die Anhörungspflicht, wie sie in § 62 Einl. ALR gegenüber den Inhabern partikularer Rechte normiert war, immer eine einseitige: Diejenigen, die dem partikularen Recht unterlagen, waren von diesem zwar genauso betroffen, blieben aber ungehört. Eine rechtsstaatliche Errungenschaft für alle Staatsbürger gleichermaßen war dagegen das Rückwirkungsverbot aus § 14 Einl. ALR. Eigentlich hatten die Kodifikatoren geplant, die Rückwirkung von Gesetzen dann zuzulassen, wenn sie dem Gemeinwohl entsprach216 – eine Regelung, unter der jegliche Rechtssicherheit durch den Herrscher aufgehoben werden konnte. Das ausnahmslose 213

A. Schwennicke, Die Entstehung der Einleitung des Preußischen ALR, S. 359. G. Kleinheyer, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 273 (278). 215 A. Schwennicke, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 113 (116). 214

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Rückwirkungsverbot im ALR bewirkte demgegenüber eine Bindung des Herrschers, weil dieser gezwungen war, das Gemeinwohl innerhalb des geltenden Rechts zu suchen. Als Vorform eines Justizgrundrechts wurde vor allem die Gewährung des gesetzlichen Richters gesehen, der auch bei Streitigkeiten mit dem Staatsoberhaupt zuständig sein sollte (§§ 79, 80 Einl. ALR). Durch einen funktionierenden Rechtsapparat sollten administrative Willkürakte abwehrbar sein.217 Zwar deutete diese Regelung auf den ersten Blick die Gewaltenteilung an, sie ist jedoch vor dem Hintergrund der absolutistischen Staatspraxis zu sehen. Die Streichung des Machtspruchverbots aus § 6 Einl. AGB hatte gezeigt, dass letztlich auch die Gerichtshöfe der Kontrolle des Herrschers unterlagen. Stand man nun in einem Prozess dem Staatsoberhaupt gegenüber, so nützte die Garantie eines Richters wenig, wenn das Staatsoberhaupt ohne weiteres in das Verfahren eingreifen und das Urteil abändern konnte. Auch wenn der Machtspruch selten ausgeübt wurde, so genügte doch dessen grundsätzliche Möglichkeit, die Richter beim Fällen eines Urteils zu beeinflussen. Deshalb kann man, auch wenn die Richter zumindest laut Gesetz in §§ 103 II 10, 99 II 17 ALR vor willkürlichen Entlassungen durch den Landesfürsten geschützt wurden, noch nicht von richterlicher Unabhängigkeit sprechen218, zumal die höchste Gerichtsbarkeit gemäß § 18 II 17 ALR als Hoheitsrecht des Landesfürsten galt. Außerdem ist zu beachten, dass es sich bei den „durch die Gesetze angewiesenen Gerichten“ i. S. d. § 79 Einl. ALR oftmals um nichts anderes als einen privilegierten Adeligen handelte, der von seiner gutsherrlichen Gerichtsbarkeit Gebrauch machte.219 Um dieses Vorrecht zu sichern und um die örtliche Macht zu erhalten, hatte sich der Adelsstand massiv für die Einführung der §§ 79, 80 Einl. ALR eingesetzt. Folglich waren die Vorschriften eher Ausdruck der ständischen Tradition als Vorläufer eines modernen, im Lichte der Gewaltenteilung stehenden Grundrechtsschutzes. Dennoch darf nicht verkannt werden, dass es sich bei dem gesetzlichen Richter um eine institutionelle Garantie handelte, die Rechtssicherheit brachte und dem ALR insgesamt einen rechtsstaatlichen Zug gab. Die rechtsstaatlichen Elemente im ALR deuten den Übergang vom Herrschafts- zum Rechtsverhältnis an.220 Betrachtet man diese Rechtsstaatlichkeit zukunftsgerichtet, so konnte sie 216 A. Schwennicke, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 113 (117); zum Rückwirkungsverbot auch R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 31. 217 D. Willoweit, in: FS Mikat, S. 451 (458). 218 So aber D. Merten, in: Ebel, Gemeinwohl – Freiheit – Vernunft – Rechtsstaat, S. 109 (135); B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 72. 219 A. Schwennicke, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 113 (119); ders., Die Entstehung der Einleitung des ALR, S. 353 f.

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– fest verankert im Gesetz – mit fortschreitendem Abbau der ständischen Vorrechte durchaus in den Dienst der bürgerlichen Freiheit gestellt werden. g) Bewertung der Freiheitsrechte im ALR Die Bedeutung der Freiheitsrechte im ALR für die deutsche Grundrechtsentwicklung wird unterschiedlich bewertet. Während ihnen einerseits bereits Grundrechtscharakter zugemessen wird221, betont eine Gegenauffassung die großen Unterschiede zur Grundrechtsidee.222 Zwar mochten dem Individuum faktisch in einzelnen, eng abgegrenzten Bereichen grundrechtsähnliche Freiheiten geschaffen worden sein, die Ursache dafür war aber allein das politische Interesse des Landesfürsten, der ein grundsätzliches Bekenntnis zu unveräußerlichen und unabänderlichen Grundrechten bewusst unterließ. aa) Grenzcharakter der natürlichen Freiheit Durch das ALR wurde die natürliche Freiheit des Einzelnen erstmals auf deutschem Boden gesetzlich anerkannt. Dadurch sollte die Herrschaftsmacht eine Grenze erfahren und das Individuum vor monarchischer Willkür geschützt werden.223 Doch insbesondere nach der Streichung von §§ 79, 80 Einl. AGB blieb eine Überschreitung der dem Monarchen gesetzten Grenzen ohne Konsequenz. Den individuellen Freiraum steckte letztlich die im Gesetz verkörperte Gemeinwohlbestimmung des Monarchen ab, der sich somit seine Grenzen selbst setzte.224 Dabei war es zwar zunächst ein Gebot politischer Klugheit, in bestimmten Bereichen Freiräume zu gewähren, was besonders am Beispiel der Gewissensfreiheit deutlich wird. Bei einer Änderung der politischen Ausgangsbedingungen konnten diese Freiräume aber ohne weiteres auf ein Minimum reduziert oder gar ganz aufgehoben werden. Zwar knüpften die Freiheitsrechte im ALR an wenigen Punkten die Ausübung der Herrschaftsmacht an bestimmte Voraussetzungen, wirklichen Grenzcharakter hatten sie allerdings nicht: Die „vollkommene“ Freiheit des Gewis220 So B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 119. 221 H. Conrad, Das ALR als Grundgesetz des friderizianischen Staates, S. 14; ders., Die geistigen Grundlagen des ALR, S. 36; D. Merten, in: Ebel, Gemeinwohl – Freiheit – Vernunft – Rechtsstaat, S. 109 (131). 222 D. Klippel/L. Pahlow, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 241; A. Schwennicke, Die Entstehung der Einleitung des Preußischen ALR, S. 374; P. Landau, AöR 118 (1993), S. 447 (462); G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 55. 223 R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 34. 224 Vgl. dazu H. Schlosser, Briefe über die Gesetzgebung, S. 191: „. . . da kann der Unterthan nur auf die Gerechtigkeit des Regenten, nicht auf dem Gesetz ruhen . . .“.

II. Die Freiheitsrechte im Preußischen Allgemeinen Landrecht

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sens bezog sich auf einen ohnehin der staatlichen Kontrolle entzogenen Bereich der inneren Hausandacht, nicht anerkannten Religionsgemeinschaften konnte der Landesfürst nach Belieben die Genehmigung versagen oder ihre Zusammenkünfte unter Berufung auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung verhindern (§ 9 II 11 ALR). Zwar bewirkte § 75 Einl. ALR, dass Enteignungen vom Herrscher nicht beliebig vorgenommen werden konnten, sondern zwingend eine Entschädigung erforderten. Da aber letztlich die Höhe der Entschädigung im Ermessen des Herrschers stand, war auch diese Grenze sehr dehnbar. Das Rückwirkungsverbot band den Monarchen, sich bei der Ausübung der Macht an das geltende Recht zu halten. Dieses war aber auch nur Ausdruck seines eigenen Willens. Unter Berufung auf das Gemeinwohl ließ es einen weiten Interpretationsspielraum, so dass eine wirklich freiheitsfördernde Eingrenzung der Herrschaftsmacht nicht entstand. Gleiches galt für die Auswanderungsfreiheit, die durch Provinzialgesetze beliebig ausgehöhlt werden konnte. Die im ALR angelegte Verpflichtung des Herrschers auf die natürliche Freiheit war daher eher eine nur begriffliche und konnte aufgrund der subsidiären Geltung des ALR durch Provinzialgesetze sogar ganz aufgehoben werden. bb) Gesellschaftsverändernde Dynamik Die natürliche Freiheit wurde im ALR zunächst dem ständischen Freiheitsbegriff untergeordnet und somit eingeschränkt. Doch hatte das zweigleisige Freiheitsverständnis auch einen entscheidenden Vorteil: Wenn es um die Begrenzung der Herrschaftsmacht ging, zogen beide Freiheitsbegriffe am gleichen Strang. Hier gab es einen Berührungspunkt beider Freiheitsbegriffe, an dem die individuellen Freiräume durch die doppelte Begründung eine Stärkung erfuhren und wo sich die ständische Tradition letztlich auch zugunsten der allgemeinen Freiheit auswirkte.225 Besonders deutlich wird das beim Eigentum: Der ursprünglich ständische Schutzmechanismus gegen unzulässige Eingriffe des Herrschers wurde in § 75 Einl. ALR auf den allgemeinen Eigentumsbegriff ausgedehnt. Folglich machte sich der allgemeine Eigentumsbegriff die ständische Rechtstradition zunutze, um sich aus der Überlagerung durch eben diese zu lösen. Die ständischen Sicherungsmechanismen konnten für die natürliche Freiheit instrumentalisiert werden, was wiederum eine Zurückdrängung des ständischen Freiheitsbegriffs bewirkte. Außerdem war das ALR darauf angelegt, dass es zu Kollisionen beider Freiheitsbegriffe kam. Aus politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gründen lag es dann oftmals nahe, dass der Monarch zugunsten der allgemeinen Freiheit die ständischen Rechte aufopferte. Zudem stellte das Gesetzbuch 225 Vgl. auch Th. Würtenberger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 70.

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6. Kap.: Freiheitsrechte in Deutschland am Ende des 18. Jh.

die geburtsständische Ordnung immer mehr in Frage. Das ALR enthielt somit eine innere Dynamik, die einen langsamen Schritt zu einer allgemeinen Staatsbürgergesellschaft ermöglichte. Insofern können die Freiheitsrechte im ALR durchaus als potentielles226 oder prophetisches227 Recht bezeichnet werden, das seine eigentliche Bedeutung durch seine künftige Entwickelung erfahren konnte. Die Entwicklung zugunsten der allgemeinen Freiheit war aber wiederum eine Frage der monarchischen Politik und daher keineswegs abgesichert. cc) Abhängigkeit der Freiheit von der monarchischen Politik Kennzeichnend für die Freiheitsrechte blieb ihre Eingliederung in die bestehende Ordnung. Sie stellten den Versuch dar, die liberale Bürgergesellschaft mit dem absoluten Staat zu vereinigen.228 Deshalb stand über allem die uneingeschränkte Souveränität des Monarchen und das Ausmaß der Freiheit war eine Frage monarchischer Politik, deren primäres Ziel die monarchische Machterhaltung war. Politische Freiheiten waren ausgeschlossen und die im ALR enthaltenen unpolitischen Rechte konnten ausgehöhlt oder gar ignoriert werden. Zwar mochte das politisch unklug sein, rechtliche Konsequenzen waren daran nicht geknüpft. Aufkeimende politische Kritik wurde mit dem Hinweis abgetan, dass der Monarch allen an Einsicht voraus sei229 oder sie konnte aufgrund der fehlenden gesetzlichen Regelung der Meinungsfreiheit durch Zensur unterlaufen werden.230 Die Anpassung der Freiheitsrechte an den Absolutismus hatte aber auch einen wichtigen Vorteil, denn sie waren in der Staatspraxis sofort anwendbar und konnten eine praktische Relevanz entwickeln, indem sie vor willkürlicher Verwaltung schützten.231 Gegen monarchische Willkür allerdings stellten sie keinen wirksamen Schutzschild dar.

226 227

So R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 43. So H. Hattenhauer, in: Wolff, Das Preußische Allgemeine Landrecht, S. 49

(67). 228 D. Willoweit, in: Ebel, Gemeinwohl – Freiheit – Vernunft – Rechtsstaat, S. 1 (15); R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 29; H. Hattenhauer, in: Wolff, Das Preußische Allgemeine Landrecht, S. 49 (66). 229 Vgl. C. G. Svarez, Kronprinzenvorträge, abgedruckt in: Conrad/Kleinheyer, S. 491; E. Hellmuth, in: Birtsch/Willoweit, Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft, S. 63 (76 ff.); ders., in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 205 (210 ff.). 230 Zur späteren Zensurpraxis E. Klein, Von der Reform zur Restauration, S. 208 ff.; C. J. Bergius, Preußen in staatsrechtlicher Beziehung, § 41 (S. 112 ff.). 231 Th. Würtenberger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 57 ff.; ders.; Gose/Würtenberger, Zur Ideen- und Rezeptionsgeschichte des Preußischen ALR, S. 55 (62); R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 32.

II. Die Freiheitsrechte im Preußischen Allgemeinen Landrecht

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Insgesamt war zwar mit der grundsätzlichen Anerkennung und Positivierung der natürlichen Freiheit ein wichtiger Beitrag für die deutsche Grundrechtsentwicklung geleistet.232 Dennoch kann man bezüglich der individuellen Rechtspositionen im ALR nur von Freiheitsrechten, die in ihrer Entwicklung vom politischen Klima abhängig waren, und nicht von Grundrechten sprechen. Zwar haben auch Grundrechte im modernen Sinne ihre Grenzen und insofern mag eine Nähe zu den einfachgesetzlichen Freiheitsrechten in Preußen bestehen233, die Grenzen Letzterer waren jedoch anders gestaltet und konnten vom Monarchen nahezu beliebig gezogen werden. Wesentliche Voraussetzungen der Grundrechte und ihrer Entfaltung, nämlich die politische Mitwirkung des Volkes, die verfassungsrechtliche Verankerung und die damit verbundene Sicherung der Freiheit waren in Preußen nicht gesetzliche Realität, sondern sie wurden in der Zeit des Vormärz zum gesellschaftlichem Desiderat.234 Sie stellten den Teil dar, um den man die ursprüngliche Grundrechtsidee beschnitten hatte, um sie mit dem absoluten Staat zu vereinbaren. Da aber im Natur- und Staatsrecht sowie im Nachbarstaat Frankreich bereits die volle Grundrechtsform bekannt war, musste die preußische Alternative die liberalen Hoffnungen enttäuschen und halbherzig sowie unbefriedigend erscheinen. h) Reformen in Preußen Die Preußischen Reformen boten eine ausgezeichnete Gelegenheit, aufgrund des freiheitsgünstigen politischen Klimas die „prophetischen“ oder „potentiellen“ Elemente im ALR, das als eine Art „Zauberformel“235 fungierte, zu verwirklichen. Außerdem musste die ständestaatliche Ordnung angepasst werden, die nicht zuletzt aufgrund der gesellschaftsverändernden Dynamik im ALR mittlerweile überkommen war. aa) Politische Motivation Die Reformbedürftigkeit zeigte sich nach dem Zusammenbruch Preußens durch den Frieden von Tilsit am 9. Juli 1807, durch den Preußen mehr als die Hälfte seines Territoriums verloren hatte. Die Anhänger der Reformpartei, die eine Veränderung durch Evolution anstrebten, erhielten dadurch einen Auftrieb gegenüber der Restaurationspartei, der sich günstig auf die Freiheitsentwicklung 232 So auch B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 52. 233 Darauf weist Th. Würtenberger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 12 hin. 234 Dazu D. Willoweit, in: FS Mikat, S. 451 (459, 462); zum Kampf um die Nationalrepräsentation E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 290 ff. 235 P. Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten, S. 170.

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6. Kap.: Freiheitsrechte in Deutschland am Ende des 18. Jh.

auswirkte.236 Ihr Ziel war es, eine gesellschaftlich und ökonomisch veraltete Struktur durch einfachgesetzliche Veränderungen umzugestalten. Das ALR hatte vor allem aus Gründen der Zweckmäßigkeit an der Ständeordnung festgehalten, ohne ihr einen tieferen Geltungsgrund beizumessen. Nach der Niederlage Preußens schien es aber zweckmäßiger, durch die Aufhebung ständischer Beschränkungen wirtschaftliche Ressourcen freizusetzen. Nachdem in Preußen der Wohlstand in den letzten Jahren gesunken war, galt es, „dessen baldigste Wiederherstellung und möglichste Erhöhung“237 zu veranlassen. Dass dazu der positive Effekt der Freiheit auf die Ökonomie genutzt werden konnte, hatte nicht zuletzt das siegreiche Frankreich gezeigt.238 Ein Eingriff in ständische Rechtspositionen erschien daher in der Situation, in der sich Preußen 1807 befand, durchaus gerechtfertigt.239 Gleichzeitig sollte durch die Reformen eine enge Verbindung zwischen Volk und Monarch hergestellt werden, um so einen neuen, nach den militärischen Niederlagen dringend erforderlichen Patriotismus zu wecken.240 bb) Eigentum Die ständischen Begrenzungen des Eigentumsrechts im ALR standen einer funktionierenden, am Leistungsprinzip orientierten Erwerbswirtschaft entgegen. Daher wurde durch Edikt vom 9. Oktober 1807 der Grundstücksverkehr aus den ständischen Begrenzungen gelöst. „Jeder Einwohner“ war zum „eigenthümlichen und Pfandbesitz unbeweglicher Grundstücke aller Art berechtigt“.241 Das Finanzedikt aus dem Jahre 1810 wollte das Eigentum „dem Theile unserer Unterthanen, welcher sich bisher keines Eigenthums seiner Besitzungen erfreute, . . . ertheilen und sichern“.242 Bäuerliche Besitzungen wurden durch das Regulierungsedikt in Eigentum verwandelt.243 Als Entschädigung für den Eingriff in die Rechtsposition des Gutsherren musste dabei ein Ablösegeld oder ein 236 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 121 ff.; W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rdnr. 189 f.; O. Kimminich, Verfassungsgeschichte, S. 301. 237 Einleitung vom „Edikt den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums so wie die persönlichen Verhältnisse der Land-Bewohner betreffend“ vom 9.10.1807 (Bauernbefreiungsedikt), Preuß. GS 1806–1810, S. 170; ebenfalls abgedruckt in E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 41–43; vgl. zur wirtschaftlichen Motivation auch M. Botzenhart, in: Von der ständischen Gesellschaft zur bürgerlichen Gleichheit, Der Staat, Beiheft 4 (1980), S. 55 (59 ff.). 238 G. E. Krug, Entwicklung ökonomischer Freiheitsrechte, S. 204; R. Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem, S. 198. 239 Vgl. dazu R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 144. 240 P. Burg, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 286 (297). 241 § 1 des Bauernbefreiungsedikts vom 9.10.1807. 242 „Edikt über die Finanzen des Staates und die neuen Einrichtungen wegen der Abgaben usw.“ vom 27.10.1810 (Finanzedikt), Preuß. GS 1810, S. 25 (27); ebenfalls abgedruckt in E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 44 (45).

II. Die Freiheitsrechte im Preußischen Allgemeinen Landrecht

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Teil des Pachtlandes abgetreten werden. Insgesamt aber wurde das Eigentum Ausdruck der freien Verfügung und der Erwerb war eine Frage der Kapitalkraft geworden. Das allgemeine Eigentum hatte sich endgültig durchgesetzt. cc) Gleichheitsrechte Schon mit dem allgemeinen Eigentumsrecht wurden die Abstufungen zwischen den einzelnen Bevölkerungsschichten langsam eingeebnet. Ein wichtiger Schritt für die Entwicklung einer modernen Gesellschaft wurde mit der Abschaffung der Gutsuntertänigkeit durch das Bauernbefreiungsedikt vom 9. Oktober 1807 getan. Durch das ALR, welches die geburtsständische Ordnung immer stärker in Frage gestellt hatte, war dieser Schritt bereits vorbereitet worden. Die natürliche Freiheit der Landbewohner wurde aus der massiven Einschränkung des Untertänigkeitsverhältnisses gelöst. Dahinter stand ein wirtschaftliches Motiv, hatte sich doch die Lohnarbeit im Vergleich zu den mit Widerwillen durchgeführten Diensten des Leibeigenen als ertragreicher erwiesen.244 Allerdings wurde das sog. Gesinde noch lange nicht im heutigen Sinne frei, denn freiheitseinschränkende Pflichten wurden nun aus einem in der Gesindeordnung ausgedrückten Vertragsverhältnis zum Gutsherren abgeleitet: „Ohne gesetzmäßige Ursache“ konnte es den Dienst noch immer nicht verlassen und durfte „durch Zwangsmittel zu dessen Fortsetzung“ angehalten werden.245 Der Gleichheitsgrundsatz äußerte sich auch in der steuerlichen Belastung, die nach „gleichen Grundsätzen“ erfolgen sollte und keine Exemtion mehr zuließ.246 Vor allem im militärischen Bereich erfolgte mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und mit der Beseitigung adeliger Vorrechte eine Gleichstellung. Nach den militärischen Niederlagen in Jena und Auerstedt entsprach es dem Staatsinteresse, dass jeder „ohne Unterschied des Standes und Vermögens nach seinen Fähigkeiten und nach seinem Betragen zum Offizier oder Unteroffizier befördert werden soll“.247 Damit gelang es im aufgeklärten, absolutisti243 „Edikt die Regulierung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse betreffend“ vom 14.11.1811, Preuß. GS 1811, S. 281. 244 H. Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem, S. 198. 245 Vgl. § 167 der „Gesindeordnung für sämmtliche Provinzen der preußischen Monarchie“ vom 8.11.1810, Preuß. GS 1810, S. 101 ff.; ebenfalls abgedruckt in G. Franz (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes in der Neuzeit, S. 359 f. 246 Finanzedikt vom 27.10.1810, Preuß. GS 1810, S. 25 (26); ebenfalls abgedruckt in E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 44 (45). 247 „Verordnung über die Aufhebung der bisherigen Exemtion von der Kantonpflichtigkeit für die Dauer des Krieges“ vom 9.2.1813, Preuß. GS 1813, S. 13 (14); ebenfalls abgedruckt in E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 52 (53 f.); vgl. auch M. Botzenhart, in: Von der ständischen Gesellschaft zur bürgerlichen Gleichheit, Der Staat, Beiheft 4 (1980), S. 55 (70).

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6. Kap.: Freiheitsrechte in Deutschland am Ende des 18. Jh.

schen Preußen zum einen, das Militär an Mitgliedern und vor allem Leistungsträgern zu bereichern. Zum anderen wurde der einzelne Soldat eingebunden und die Anerkennung seiner Leistung durch eine mögliche Beförderung hatte die Identifizierung mit dem Staat zur Folge. dd) Gewerbefreiheit, Freizügigkeit, Wissenschaftsfreiheit Ein zentrales Anliegen zur Ankurbelung der Wirtschaft war die Erwerbsfreiheit. Dazu gehörte zunächst die Einführung der Gewerbefreiheit.248 Außerdem sollte es dem Einzelnen durch die freie Wahl des Berufes und des Arbeitsplatzes ermöglicht werden, einen größtmöglichen Wohlstand zu erlangen. Damit wurde die soziale und horizontale Mobilität der Bevölkerung erhöht und die bürgerliche Gesellschaft in ihrer Entwicklung vorangetrieben.249 Die von Humboldt zu Beginn des 19. Jahrhunderts angeregte Bildungsreform bewirkte ebenfalls Änderungen von verfassungspolitischer Bedeutung: Die allgemeine Schulpflicht, die bereits durch das ALR eingeführt worden war, konnte erstmals tatsächlich umgesetzt werden. Somit war allen Schichten der Zugang zu einer Grundbildung eröffnet und es war zumindest die Grundlage gleicher Aufstiegschancen gelegt. Außerdem gründete man Universitäten als Stätten freier Forschung und Lehre, die aufgrund ihrer Bedeutung für den Staat zu festen Institutionen werden sollten.250 In diesen wurde nicht nur der technische Fortschritt vorangetrieben, sondern es wurde nach neuen Erklärungsansätzen für Staat und Gesellschaft gesucht. Vor allem im Vormärz wurden die Universitäten dabei zur Brutstätte freiheitlichen Gedankenguts.251 ee) Bewertung Die Preußischen Reformen stellten einen Einschnitt dar, durch den der Monarch die im ALR enthaltenen Widersprüche auflösen und der gesellschaftlichen und politischen Interessenlage anpassen konnte. Dabei wurde die natürliche Freiheit des Einzelnen aus der Überlagerung durch die geburtsständische Ordnung befreit, ohne dass jedoch ständische Unterschiede ganz aufgehoben wurden. Faktisch bestanden Ungleichheiten fort, da die Bauernbefreiung zugunsten 248 „Edikt über die Einführung einer allgemeinen Gewerbe-Steuer“ vom 28.10. 1810, Preuß. GS 1810, S. 79; ebenfalls abgedruckt in E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 47. 249 U. Scheuner, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 376 (391). 250 Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 261 ff.; M. Botzenhart, in: Von der ständischen Gesellschaft zur bürgerlichen Gleichheit, Der Staat, Beiheft 4 (1980), S. 55 (67). 251 Zur Rolle der Universitäten vgl. unten 8. Kapitel, V. 3. c) bb), VI. 2. a) aa), 9. Kapitel, V. 3.

III. Zusammenfassung

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der Großgrundbesitzer wirkte. Mit dem Wegfall des Bauernschutzes wurde zudem eine negative Seite der Freiheit offenbar. Gleichzeitig zeigen die Preußischen Reformen die Abhängigkeit der Freiheitsrechte von den politischen Umständen, die sich nach der Niederlage Preußens von 1807 für die Freiheitsrechte als äußerst günstig erwiesen hatten. Letztlich waren die Freiheitsrechte aber keineswegs dauerhaft garantiert, sondern unterlagen – wie der Umschwung zur Restauration ab 1815 zeigt – dem politischen Wandel.

III. Zusammenfassung Die Entwicklung der Freiheitsrechte in Deutschland gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts lässt sich wie folgt zusammenfassen: 1. Angeregt durch die politische Stoßkraft der Französischen Revolution verdichteten sich in Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Freiheitsforderungen im Staatsrecht, in der Philosophie und vor allem in der Gesellschaft. Die naturrechtlichen Freiheiten gewannen an Bedeutung, eine revolutionäre Energie entfachten sie jedoch nicht. 2. In Deutschland war daher nicht die natürliche, vorstaatliche Freiheit der Ausgangspunkt. Die Freiheiten wurden nicht von unten erkämpft, sondern durch den Herrscher von oben gegeben. Den Machthabern ging es dabei darum, die bestehende staatliche Ordnung weitestgehend zu erhalten und den Freiheitsforderungen nur insoweit entgegenzukommen, wie es zur Vermeidung einer Revolution erforderlich war. 3. In Preußen hatte sich spätestens mit der Suspension des AGB gezeigt, dass eine verfassungsähnliche Verpflichtung der Herrschaftsmacht zur Wahrung der natürlichen Freiheit nicht beabsichtigt war. Sicherungsmöglichkeiten für die individuellen Freiheitsrechte, die eine Gewaltenteilung andeuteten oder die Gesetzgebungskompetenz des Monarchen in Frage stellen konnten, waren Eingeständnisse, die man nach dem absolutistischen Staatsverständnis nicht zu machen bereit war. Freiheitsrechte wurden nur gewährt, soweit sie mit dem Herrschaftsinteresse vereinbar waren. 4. Die Freiheitsrechte im ALR waren unpolitisch und hatten keinen wirklichen Grenzcharakter gegenüber dem Monarchen. Ihr faktisches Ausmaß war eher eine Konsequenz der monarchischen Politik als ihrer Positivierung. Zwar konnten die individuellen Freiheiten aufgrund des günstigen politischen Klimas durch die Preußischen Reformen eine Ausdehnung erfahren, sie unterlagen jedoch dem politischen Wandel und eine freiheitsgünstige Entwicklung war nicht dauerhaft garantiert.

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6. Kap.: Freiheitsrechte in Deutschland am Ende des 18. Jh.

5. Die Widersprüchlichkeit im ALR zwischen dem ständischen und dem allgemeinen Freiheitsbegriff verlangte nach Auflösung. Aufgrund der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen konnte das ALR dabei eine gesellschaftsverändernde Dynamik zugunsten des allgemeinen Freiheitsbegriffs entwickeln, die sich auch in den Preußischen Reformen niederschlug. 6. Bedingt durch die Anpassung an den Absolutismus waren die gesellschaftlichen und staatsrechtlichen Freiheitsforderungen bei ihrer Umsetzung im ALR um einen erheblichen Teil beschnitten worden. Die verfassungsrechtliche Bindung des Monarchen, die politische Mitwirkung des Volkes und die Gewaltenteilung blieben aber in ganz Deutschland als politisches Desiderat erhalten, das zum Anknüpfungspunkt für den Frühkonstitutionalismus werden konnte. Aufgrund der fehlenden verfassungsrechtlichen Anerkennung der natürlichen Freiheit wurde bisweilen sogar das Naturrecht als Ersatzverfassung gesehen.

7. Kapitel

Die Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge In der Epoche des Frühkonstitutionalismus wurden in den meisten deutschen Einzelstaaten zu unterschiedlichen Zeiten verschieden ausgestaltete Verfassungen erlassen. Eine besondere Stellung nehmen die Repräsentativverfassungen Süddeutschlands ein, die aufgrund ihrer Fortschrittlichkeit die Weichen für den deutschen Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert stellten. Ausdruck dieser Fortschrittlichkeit waren die Grundrechtskataloge, an die der Herrscher konstitutionell gebunden war. Dabei wurden diese Verfassungen bereits durch die Reformen des Rheinbunds vorbereitet und ihre Entstehung offenbarte die konträren Interessen innerhalb des Deutschen Bundes. Beide Aspekte haben die Entwicklung der frühkonstitutionellen Grundrechte beeinflusst.

I. Der Rheinbund Die Gründung des Rheinbundes am 12.7.1806 bedeutete nicht nur das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation1, sondern bewirkte in den südwestdeutschen Staaten einen gesellschaftlichen und politischen Wandel, durch den bereits erste Rahmenbedingungen einer künftigen Verfassungsentwicklung abgesteckt wurden. 1. Die Rheinbundverfassungen Durch den Austritt aus dem Alten Reich2 lösten sich die Rheinbundstaaten auch aus ihrer Untertänigkeit zum deutschen Kaiser und wurden zu souveränen Territorialstaaten.3 Somit entstand erstmals die Möglichkeit, die volle Staatsgewalt durch eine Verfassung zu konstituieren. Die erste Verfassung erhielt das 1 Vgl. dazu W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rdnr. 180 f.; D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 262. 2 Vgl. die Austrittserklärung der Rheinbundstaaten, die am 1.8.1806 dem Reichstag übergeben wurde, abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 35 ff. 3 J. L. Klüber, Oeffentliches Recht des Teutschen Bundes, § 47, S. 52; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, S. 65; E. Hölzle, in: Hofmann, Die Entstehung des modernem souveränen Staates, S. 262 (269).

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7. Kap.: Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge

Königreich Westfalen am 15.11.1807.4 Diese war jedoch fremdbestimmt und wurde von Napoleon oktroyiert, der zeigen wollte, dass das französische Konzept des modernen Staates auch auf Deutschland anwendbar war. Die Befriedigung des deutschen Verlangens nach einer Konstitution sowie umfassende Verwaltungsreformen sollten gleichzeitig seine Herrschaft festigen und erleichtern. Die Verfassung Westfalens kann aber nicht als Errungenschaft des deutschen Bürgertums, sondern nur als französischer Import gesehen werden. Anders war das in den süddeutschen Staaten. Hier hatten die Landesfürsten ein Interesse an der Ausarbeitung einer eigenen Verfassung, weil sie damit ihre durch das Ende des Reiches gerade erlangte Souveränität gegenüber dem Rheinbund verteidigen wollten. Außerdem war eine Verfassung ein geeignetes Mittel, das durch territoriale Zugewinne stark vergrößerte Landesgebiet zu einigen und durch eine einheitliche Verwaltung regierbar zu machen.5 Eine verfassungsrechtliche Bindung, welche die eigene Souveränität beschränkte, planten die Landesfürsten allerdings nicht. Sie zielten nicht auf eine Begrenzung ihrer Herrschaftsmacht zugunsten individueller Freiheitsrechte, sondern auf einen weiteren Ausbau ihrer eigenen Machtposition durch die Aufhebung adeliger Vorrechte und Privilegien als ab. Letztlich war es ihre Absicht, durch die Verfassung eine Verwaltungsmodernisierung durchzusetzen, die ein Regieren ermöglichen sollte, das faktisch eher an den Absolutismus erinnerte. Eine gemeinsame Verfassung des gesamten Rheinbundes hätte die Souveränität der Einzelstaaten gemindert. Deshalb kam Bayern diesem Vorhaben am 1.5.1808 mit einer eigenen Verfassung6 zuvor, die eng an das westfälische Modell angelehnt war. Auch in Baden gab es zahlreiche Konstitutionsentwürfe, die zwar nicht umgesetzt, aber von einer reformerischen Gesetzgebung in Form des Badischen Landrechts begleitet wurden. Die Verfassungswirklichkeit in den Rheinbundstaaten war geprägt von den Beweggründen, die hinter den Verfassungen standen: Die Souveränität blieb ganz klar beim König. Obwohl in Westfalen dem Staatsrat kompliziert formulierte Mitwirkungsbefugnisse bei der Gesetzgebung eingeräumt wurden7, lag die legislative Kompetenz faktisch beim Monarchen allein.8 Den Volksvertretungen lag zwar ein gewandeltes, nicht mehr altständisch geprägtes Repräsentationsverständnis zu Grunde9, im politischen Alltag waren sie jedoch als Gegenpol zur 4 Abgedruckt bei K. Rob (Hrsg.), Regierungsakten des Königreichs Westphalen, S. 41 ff. 5 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 316 f. 6 Königlich Bayerisches Regierungsblatt 1808, Sp. 985; zur Entstehung F. Zimmermann, Vorgeschichte und Entstehung der Konstitution von 1808; vgl. auch M. Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, S. 240; E. Hölzle, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 262 (265). 7 Art. 22 ff., abgedruckt bei K. Rob (Hrsg.), Regierungsakten des Königreichs Westphalen, S. 41 ff.

I. Der Rheinbund

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monarchischen Macht bedeutungslos: Während sich das westfälische Parlament nur zweimal traf, trat das bayerische überhaupt nicht zusammen10, obwohl es laut Verfassung vom König zumindest einmal im Jahr hätte einberufen werden müssen.11 Zwar mochten daher die urkundliche Fixierung sowie die Regelhaftigkeit und Berechenbarkeit der an die Staatsgewalt gerichteten Verfassungsnormen die konstitutionelle Epoche andeuten und zaghaft einleiten12, die Souveränität des Königs blieb aber trotz Einflechtung in ein repräsentatives Verfassungssystem unangetastet. In Bezug auf die tatsächlich umgesetzte verfassungsrechtliche Einfriedung der Herrschaftsmacht kann man daher durchaus von einem Scheinkonstitutionalismus13 sprechen, der durch den Vorrang pragmatischer politischer Überlegungen vor tiefen theoretischen Überzeugungen geprägt war. Der Herrscher wurde durch die Verfassungen mit einer Rechtsposition ausgestattet, die in ihrem faktischen Umfang an das Gottesgnadentum erinnerte. 2. Egalisierung der Gesellschaft durch Verfassungs- und Privatrecht Schon die französische Konsulatsverfassung von 1799, die keinen Grundrechtskatalog enthielt14, hatte gezeigt, dass Napoleon nicht auf eine herrschaftsbegrenzende Funktion von Grundrechten abzielte. Um so erstaunlicher ist es, dass im Verfassungsmodell Westfalens grundrechtsähnliche Bestimmungen enthalten waren. Damit bezweckte Napoleon aber lediglich eine Umgestaltung der Gesellschaft in seinem Interesse. Und auch den einzelnen Rheinbundfürsten war an einem Abbau souveränitätseinschränkender Vorrechte gelegen. 8 Die Mitwirkungsbefugnisse des Staatsrats waren nur beratend (Art. 28) und das Repräsentativorgan konnte zwar Gesetze ablehnen, der König war daran allerdings nicht gebunden (Art. 29). 9 §§ I ff., Titel IV VU Bayern; vgl. auch M. Schimke, Regierungsakten des Kurfürstentums und Königreichs Bayern, S. 39; Art. 29 VU Westphalen; D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 59; R. Pfeffer, Die Verfassungen der Rheinbundstaaten, S. 39; L. Doeberl, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 273 (289). 10 R. Pfeffer, Die Verfassungen der Rheinbundstaaten, S. 39, 84; M. Schimke, Regierungsakten des Kurfürstentums und Königreichs Bayern, S. 39; W. Quint, Souveränitätsbegriff und Souveränitätspolitik, S. 256; vgl. auch M. Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, S. 274, der in der ausbleibenden Zusammenkunft der Ständeversammlung in Westfalen das Ende der konstitutionellen Regierungsweise sieht. 11 § IV, Titel IV VU Bayern. 12 Das betont D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 277; vgl. auch H. Brandt, Der lange Weg in die demokratische Moderne, S. 25; M. Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, S. 241. 13 So E. Fehrenbach, Traditionelle Gesellschaft und revolutionäres Recht, S. 65; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 88 ff.; F. Hartung, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 152 (172); ausführlich dazu M. Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert, S. 243 ff., insbesondere S. 274 f. 14 Vgl. oben 5. Kapitel, III. 4. c).

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7. Kap.: Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge

Eine zentrale Bedeutung nahmen hierbei die Gleichheitsrechte ein. Die Verfassungen hoben alle Landstände, Korporationen sowie Privilegien jeglicher Art auf (Art. 11, 12 VU Westfalen, § II, Titel I VU Bayern).15 Dabei sollte die tatsächliche Realisierung einer egalitären Staatsbürgergesellschaft nicht allein durch die beiden Verfassungen, sondern auch durch den Code Napoleon erfolgen, der in allen Rheinbundstaaten eingeführt werden sollte. Tatsächlich hatte in den Rheinbundstaaten schon vor der napoleonischen Ära ein Egalisierungsprozess eingesetzt, der auf die Entmachtung der Stände, die Integration der Territorialgewinne sowie auf die Freisetzung der bürgerlichen Wirtschaftskraft abzielte.16 Dennoch stieß die uneingeschränkte, unmodifizierte Übernahme des französischen Gesetzbuches auf den Widerstand der adeligen Opposition17 sowie auf praktische und rechtstechnische Probleme. Die völlige Beseitigung der feudalen Vorrechte war schon deshalb nicht möglich, weil die Privilegien der Mediatisierten in der Rheinbundakte selbst geschützt wurden.18 Außerdem war die absolute Gleichheit aller Menschen mit der herausragenden, gottgewollten Stellung des Landesfürsten nicht vereinbar. Im Badischen Landrecht wurde daher der Code Civil durch die Einflechtung der Feudalverfassung modifiziert und der Geheime Rat Brauer entwickelte ein Stufensystem, das orientiert an der Beziehung zum Landesfürsten zwischen Fremden, Schutzpatronen und Staatsbürgern unterschied.19 Dadurch wurde der Vorstellung, Landesfürst und Untertanen könnten an sich gleich sein und sich auf einer Ebene befinden, entschieden entgegengewirkt. In Bayern blieben adelige Vorrechte wie die Patrimonialgerichtsbarkeit bestehen, sie wurden allerdings unter staatliche Aufsicht gestellt.20 In Württemberg dagegen forderte der rücksichtslose Macht15 Vgl. auch L. Doeberl, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 273 (288). 16 In Bayern setzte unter Montgelas schon 1796 ein Reformprozess ein, ausführlich dokumentiert bei M. Schimke (Hrsg.), Regierungsakten des Kurfürstentums und Königreichs Bayern; vgl. auch D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 60; W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 18 ff.; L. Doeberl, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 273 ff.; in Baden hatte Markgraf Carl Friedrich durch eine milde Politik des aufgeklärten Absolutismus die Landstände schon lange außer Wirksamkeit gesetzt und einen straff organisierten Einheitsstaat geschaffen, R. Pfeffer, Die Verfassungen der Rheinbundstaaten, S. 10; F. Hartung, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 152 (159); und in Württemberg hatte der machtorientierte König Friedrich bereits 1798 die Privilegien des Adels aufgehoben, R. Pfeffer, ebd., S. 13. 17 E. Fehrenbach, Traditionelle Gesellschaft und revolutionäres Recht, S. 133 ff. 18 So Art. 27 der Rheinbundakte, abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 28 (32); vgl. H. Brandt, Der lange Weg in die demokratische Moderne, S. 23. 19 Zum Stufensystem Brauers vgl. R. Pfeffer, Die Verfassungen der Rheinbundstaaten, S. 99 f.; vgl. auch W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 50. 20 Ausführlich E. Fehrenbach, Traditionelle Gesellschaft und revolutionäres Recht, S. 137; M. Stolleis, in: Konstitution und Intervention, S. 47 (51).

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wille des Königs Friedrich eine radikale Zurückdrängung der Stände, die auch ohne Verfassung erfolgte. Eine gleiche Wehr-21 und Steuerpflicht22 war in den Rheinbundstaaten oftmals schon ein Gebot der Staatsräson, allerdings gab es zahlreiche Ausnahmeregelungen zugunsten des Adels. Letztlich war die Intensität, mit der die Umsetzung der Gleichheitsrechte verfolgt wurde, abhängig von der politischen Interessenlage.23 3. Ableitung grundrechtsähnlicher Rechtspositionen aus dem neuen Gesellschaftsverständnis Obwohl nur in Bayern und Westfalen Gleichheitsrechte verfassungsrechtlich verankert waren, wurden in den gesamten Rheinbundstaaten durch den langsamen Übergang in die bürgerliche Gesellschaft die Weichen für eine künftige Grundrechtsentwicklung gestellt. Zwar erfolgte die soziale Umgestaltung vor allem durch die privatrechtliche Rezeption des Code Napoleon; dieses Gesetzbuch war aber in seiner Wirkung auf eine konstitutionelle Bewegung angelegt.24 Nach der Beseitigung privatrechtlicher Ungleichheiten wurden wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten geschaffen und wichtige Freiräume entstanden. Schon Feuerbach stellte einen Katalog grundrechtlicher Rechtspositionen zusammen, die er im Code Napoleon begründet sah und die in ähnlicher Formulierung in den Rheinbundverfassungen enthalten waren.25 Die Freiheit der Person erfuhr durch die Aufhebung der Leibeigenschaft eine verfassungsrechtliche Absicherung (§ III, Titel I VU Bayern, Art. 13 VU Westfalen), die vor allem wirtschaftlich motiviert war. Da aber die aus dem Grundeigentum resultierenden Abgaben- und Dienstrechte bestätigt wurden, blieben faktische Ungleichheiten zwischen Grundbesitzern und einfachen Bauern bestehen.26 Der Übergang in die bürgerliche Gesellschaft wurde durch den Schutz des allgemeinen Eigentums bestätigt (§ VII, Titel I VU Bayern), zumal die 21 Titel VI VU Bayern; die allgemeine Wehrpflicht ist näher ausgeführt im Konskriptionsgesetz vom 29.3.1812, abgedruckt bei M. Schimke (Hrsg.), Regierungsakten des Kürfürstentums und Königreichs Bayern, S. 725. 22 § II, Titel I VU Bayern; Art. 16 VU Westfalen; vgl. auch K. Rob, Regierungsakten des Königreichs Westphalen, S. 34 ff. 23 Vgl. dazu auch E. Hölzle, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 262 (269 ff.). 24 Dazu ausführlich E. Fehrenbach, Traditionelle Gesellschaft und revolutionäres Recht, S. 55 ff.; vgl. auch D. Grimm, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 359 (371), der im Code Napoleon einen Grundrechtsersatz sieht. 25 Vgl. G. Radbruch, Paul Johann Anselm Feuerbach, S. 77 f. 26 Vgl. § V, Titel I VU Bayern; M. Botzenhart, in: Von der ständischen Gesellschaft zur bürgerlichen Gleichheit, Der Staat, Beiheft 4 (1980), S. 55 (71); O. Kimminich, Verfassungsgeschichte, S. 310.

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Aufhebung wohlerworbener Rechte, sofern sie im Wege der Säkularisierung erfolgte, nicht entschädigungspflichtig war.27 Die Entfeudalisierung wurde jedoch insgesamt durch Entschädigungspflichten gebremst.28 Wirtschaftliche Freiheiten, die vom Code Napoleon vorausgesetzt wurden, fanden zwar keinen Einzug in die Verfassungen, wurden aber durch die Beschränkung der Zünfte und die Befreiung des Handwerks und Handels einfachgesetzlich geschaffen.29 Verfassungsrechtliche Anerkennung erfuhr die „vollkommene Gewissensfreiheit“ (Art. VII, Titel I VU Bayern), die allerdings auf die Angehörigen der drei christlichen Konfessionen beschränkt blieb. In Art. 10 der Verfassung Westfalens wurde nur für diese die freie Ausübung des Gottesdienstes zugesichert. Die Parität der Konfessionen war durch die prinzipielle Trennung von Kirche und Staat bedingt, die im säkularisierten Eherecht oder in der staatlichen Aufsicht über das Schulwesen zum Ausdruck kam.30 Dahinter stand die Absicht, mit der Entmachtung der Kirchen den Monarchen zu stärken. Der Umstand, dass die Gleichstellung der Juden in Westfalen durch den erhöhten Kreditbedarf des Staates begünstigt wurde31, zeigt erneut die pragmatischen Motive hinter dem Reformprozess. In Bayern wurde den Juden die vollkommene Gewissenfreiheit nur mit Einschränkungen zugesichert, so dass gewisse Nachteile, die ihnen aufgrund ihrer Religion widerfuhren, erhalten blieben. Im gleichen Satz wie die Gewissensfreiheit wurde in Bayern die „Sicherheit der Person und des Eigenthums“ gewährt. Damit sollte dem Untertan die Möglichkeit gegeben werden, in einer unpolitischen Sphäre unter dem Schutz der Obrigkeit frei zu agieren. Sobald er aber unerlaubterweise auswanderte und sich bewusst dem Schutz der Obrigkeit entzog, verlor er seine Staatsbürgerrechte.32 Diese setzten damit die Untertänigkeit zum Landesherren voraus. Ihre unpolitische Richtung kann man schon daran erkennen, dass die in § VII Titel 1 der Bayerischen Verfassung gewährte Pressefreiheit nur im Rahmen der bereits erlassenen Zensur-Edikte zugesichert wurde, die für politische Zeitschriften verschärfte Regelungen vorsahen.33

27 O. Kimminich, Verfassungsgeschichte, S. 311; ausführlich zur Herstellung des frei verfügbaren Grundeigentums in Bayern M. Stolleis, in: Konstitution und Intervention, S. 47 ff. 28 H. Brandt, Der lange Weg in die demokratische Moderne, S. 23 f. 29 Für Bayern ausführlich dokumentiert bei M. Schimke (Hrsg.), Regierungsakten des Kurfürstentums und Königreichs Bayern, S. 579 ff.; vgl. auch R. Pfeffer, Die Verfassungen in den Rheinbundstaaten, S. 11. 30 Vgl. E. Fehrenbach, Revolutionäres Recht und traditionelle Gesellschaft, S. 112; R. Pfeffer, Die Verfassungen in den Rheinbundstaaten, S. 88. 31 R. Pfeffer, Die Verfassungen in den Rheinbundstaaten, S. 50. 32 § VIII, Titel I VU Bayern. 33 Vgl. dazu ausführlich unten 8. Kapitel, V. 2. a).

I. Der Rheinbund

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4. Bewertung Im Vergleich zum revolutionären Frankreich vollzogen sich die weniger weitreichenden Veränderungen im Rheinbund in umgekehrter Reihenfolge: Die Verfassungen standen erst am Ende der sozialen Umgestaltung, die zuvor durch die einfachgesetzlichen Reformmaßnahmen erfolgte und nicht erst durch ein abstrakt deklaratorisches Verfassungsprogramm ausgelöst wurde. Dadurch wurden sofortige gesellschaftliche Veränderungen möglich, die unmittelbar spürbar wurden. Der für den Übergang vom Patrimonialstaat zum modernen Verwaltungsstaat erforderliche Gesellschaftswandel erfolgte somit im Wesentlichen durch einfaches Gesetz. Die individuelle Freiheit wurde dadurch aus der ständischen Überlagerung gelöst und erste inhaltliche Ansätze grundrechtsähnlicher Rechtspositionen wurden bereits durch die Rheinbundreformen geschaffen.34 Das Ausmaß der Veränderungen blieb jedoch von der politischen Interessenlage des Landesfürsten abhängig, dessen Souveränitätsanspruch unangetastet bleiben sollte. Zwar wurde das Individuum später in den Verfassungen Westfalens und Bayerns mit Staatsbürgerrechten ausgestattet, diese waren aber inhaltlich eingeschränkt und keine wirkliche Grenze der Herrschaftsmacht. Grundrechtliche Rechtspositionen waren daher in den Rheinbundverfassungen nur enthalten, soweit sie dem Souveränitätsinteresse der Monarchen dienten. Sie galten als durch den Staat geschaffen, anstatt diesem vorausgesetzt zu sein. Folglich mussten sie der beim Monarchen konzentrierten Staatsgewalt unterliegen. Die Rechtspositionen der Untertanen waren zwar urkundlich fixiert und publiziert, letztlich aber nicht durch eine unabhängige Instanz abgesichert und daher der monarchischen Willkür ausgesetzt.35 Nun verliefen die monarchischen Machtinteressen mit den Voraussetzungen der Grundrechtsentwicklung insoweit parallel, als durch die Umgestaltung der Sozialordnung der Weg in die bürgerliche Gesellschaft geebnet wurde. Die praktischen Beweggründe hinter den grundrechtlichen Rechtspositionen führten dazu, dass nur einzelne, thematisch beschränkte Freiheiten eingeführt wurden. Sie waren nicht dauerhaft abgesichert, sondern von der weiteren Entwicklung der politischen Interessenlage abhängig. Das Fehlen einer tieferen theoretischen Überzeugung von der Grundrechtsidee ließ es zu, dass Widerständen des Adels gegen die Aufhebung von Privilegien zu schnell nachgegeben wurde. Die Vision der egalitären Staatsbürgerschaft wurde dadurch z. T. bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Die repräsentativen Parlamente waren zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Eine politische Dimension der Freiheitsrechte, welche die Souveränität der Monarchen berührt hätte, war von vorneherein ausgeschlossen und Ansätze dazu wurden z. B. durch die strenge Zensurpraxis im Keim erstickt.36 34 35

So auch W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 76. Vgl. dazu B. Wunder, ZHF 5 (1978), S. 139 (151 ff.).

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Im Vergleich zu Preußen fällt auf, dass mit dem alleinigen Souveränitätsanspruch des Monarchen und der Wirtschaftsförderung hinter den Rheinbundverfassungen dieselben Motive standen wie hinter dem Allgemeinen Landrecht.37 Auch die inhaltliche Ausgestaltung der apolitischen Freiheitsrechte, insbesondere der Freiheit des Gewissens, weist erstaunliche Ähnlichkeiten auf. Ein Unterschied bestand jedoch darin, dass die Souveränität der Rheinbundfürsten keineswegs auf einer langen Tradition beruhte. Die Macht hatte sich nicht langsam in den Händen der Fürsten konzentriert, sondern war ihnen nach kriegerischen Auseinandersetzungen nicht zuletzt auch von Napoleon „großzügig“ gegeben worden. Um die gerade gewonnene Souveränität zu stützen und auch international zu rechtfertigen, bedurften die Rheinbundfürsten der staatseinigenden Wirkung einer Konstitution. Die Gefahr einer herrschaftseinschränkenden Wirkung, die in Preußen noch zur Suspendierung des AGB geführt hatte, mussten sie dabei in Kauf nehmen. Während in Preußen mit dem Allgemeinen Landrecht ein theoretisch fundiertes, langfristig geplantes Gesetz geschaffen wurde, das den Schein einer Konstitution in sich barg, kam es im Rheinbund zu kurzlebigen Konstitutionen, deren herrschaftseinschränkende Wirkung nur Schein war. Trotz aller Schwächen, die individuelle Freiheitsrechte dabei aufwiesen, waren wichtige Schritte getan: Zum einen wurde das Prinzip der Staatssouveränität verankert, das den Staat autonom und losgelöst von der Person des Monarchen dachte.38 Zum anderen war auch der Übergang vom Absolutismus zum Konstitutionalismus eingeleitet und die verfassungsrechtliche Verankerung individueller Rechtspositionen war tatsächlich möglich geworden.

II. Die Grundrechtsforderung in der Gesellschaft Die weitgehenden Veränderungen durch die Preußischen und rheinbündischen Reformen blieben nicht ohne Auswirkung auf das gesellschaftliche Selbstverständnis und Freiheitspostulat. 1. Pauperisierung durch den Wegfall schützender Standes- und Zunftgrenzen – Folgen Die Veränderung und Dekorporierung der Gesellschaft zeigten zunächst vor allem die negativen Seiten der Freiheit. Die in ständischer Verfassung noch begrenzte Unterschicht begann, zum verwahrlosten Proletariat heranzuwachsen.39 36 Vgl. auch H. Fenske, Der liberale Südwesten, S. 34; ausführlich dazu unten 8. Kapitel, V. 1. f). 37 Vgl. dazu auch E. Hölzle, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 262 (270 f.). 38 So auch L. Doeberl, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 272 ff.

II. Die Grundrechtsforderung in der Gesellschaft

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Diese Disproportionalisierung der Gesellschaft verursachte erhebliche soziale Probleme, weshalb selbst auf liberaler Seite der Ruf nach staatlicher Reglementierung laut wurde.40 Einerseits drohte die abstrakte Idee der Freiheit an Glanz zu verlieren, wenn das „freie Spiel der Kräfte“ dazu führte, dass große Bevölkerungsgruppen in entwürdigenden Umständen lebten. Andrerseits aber entstand eine revolutionäre Energie, wurde doch als Ursache des Übels die politische Unfreiheit ausgemacht. Diese Energie zielte auf umstürzende politische Veränderungen wie in Frankreich ab, um so die Voraussetzungen für revolutionäre Menschenrechte zu schaffen. Insgesamt bewirkte der Wandel der Gesellschaft somit ein revolutionäres Potential, das von den unteren Bevölkerungsschichten ausging und für die Grundrechtsforderung genutzt werden konnte. Das Machterhaltungsinteresse in der Herrschaftssphäre ließ darauf nur zwei Reaktionen zu: Entweder wurde ein Mindestmaß an Freiheit zur vorübergehenden Befriedigung der Bevölkerung großmütig gewährt oder es mussten – die Gefahr des politischen Umsturzes vor Augen – jegliche Versuche zur Ausübung oder Ausdehnung individueller und vor allem politischer Freiheiten im Keim erstickt werden. 2. Politisches Erwachen Die Bemühungen der Herrschaft zur Kontrolle der aus den ständischen Schranken entlassenen Gesellschaft wurden dadurch erschwert, dass sich diese in einem Zustand des politischen Erwachens befand. In den Befreiungskriegen war die Bevölkerung von den Landesfürsten selbst mobilisiert worden und der Sieg über Napoleon war nicht das Verdienst der Dynastien, sondern der bürgerlichen Begeisterung.41 Dadurch wurde sich das Bürgertum seiner politischen Bedeutung bewusst und das einmal geweckte Interesse am politischen Zeitgeschehen bestand fort. In den ehemaligen Rheinbundstaaten wurde dieses Interesse auf der Gemeindeebene zusätzlich genährt. Nachdem auch die kommunale Ebene von ständi39 Vgl. W. Conze, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 297 (312 ff.); M. Botzenhart, in: Von der ständischen Gesellschaft zur bürgerlichen Gleichheit, Der Staat, Beiheft 4 (1980), S. 55 (58 ff.). 40 So war z. B. Karl von Rotteck ein Verteidiger der Zünfte, vgl. nur seine Aussage im badischen Landtag: „Fast sollte man dabei glauben, es hätten der verehrte Redner der letzten Sitzung und ich ihre Rollen gewechselt. Ich, dem schon wiederholt der Vorwurf gemacht wurde, das hemmende und erhaltende Prinzip . . . verleugnet zu haben, scheine es heute in Anspruch zu nehmen zu Gunsten der Erhaltung einiger bestehender Gewerbeeinrichtungen . . .“, zitiert nach. R. Goldmann, Die rechtlichen Grundlagen der badischen Gewerbegesetzgebung, S. 22; vgl. auch die Ausnahmen zur Gewerbefreiheit, die der an sich liberale R. von Mohl für erforderlich hält: „Kräftige Thätigkeit der Gesetzgebung und der Verwaltung ist daher wünschenswerth“, PolizeiWissenschaft, Bd. 2, S. 307 ff. 41 A. Voigt, Geschichte der Grundrechte, S. 51.

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schen Herrschaftsformen befreit worden war, konnte eine funktionierende Verwaltung nur durch repräsentative Gemeindeparlamente sichergestellt sein. Das Wahlrecht bezog – wenn auch abgestuft – eine relativ große Einwohnergruppe mit ein, die am politischen Geschehen teilnahm.42 So kam es, dass die Autonomie der Gemeinden, die ursprünglich lediglich ein Wiederaufleben ständischer Herrschaftsrechte ausschließen sollte, das politische Bewusstsein der Bevölkerung förderte und die Gemeindeeinwohner in der Teilhabe am politischen Willensbildungsprozess schulte.43 Die Gesellschaft wurde sich ihrer Fähigkeit zur politischen Mitsprache auch bewusst und wollte bezogen auf das gesamte Land durch eine Verfassung die Möglichkeit dazu erlangen.

III. Der Deutsche Bund Nach den erfolgreichen Befreiungskriegen gegen Napoleon war der Wunsch nach einer Verfassung besonders groß. Die Teilnehmer des Wiener Kongresses einigten sich darauf, dass die deutschen Einzelstaaten künftig im Deutschen Bund, einem völkerrechtlichen Verein, fortbestehen sollten. Die Deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815 zeigt die schwache Ausprägung des Bundes, dem es bereits an einem eigenen Staatsoberhaupt, einem Verwaltungsapparat, einem Gerichtswesen und einer Regierung mangelte.44 Die Idee einer Staatsverfassung mit ausführlichem Grundrechtskatalog wurde in der Bundesakte nicht umgesetzt, was auf die unterschiedlichen Interessen der deutschen Einzelstaaten zurückzuführen ist. Schließlich war die Bundesakte der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Mitglieder einigen konnten. Dennoch enthielt sie Möglichkeiten, auf die Grundrechtsgeltung in den einzelnen Mitgliedstaaten einzuwirken. 1. Interessenlage Die Rheinbundstaaten hatten nach dem Sieg über Napoleon ein grundlegendes Interesse daran, dass die Souveränität, die sie von ihm erhalten hatten, bestehen blieb. Vorausschauend hatten sie sich deshalb ihre künftige Souveränität vertraglich zusichern lassen, bevor sie sich mit den übrigen deutschen Staaten gegen Napoleon verbündeten. Vorbehaltlos wurde aber lediglich Bayern im Ver42 E. Fehrenbach, in: FS Morsey, S. 47 (56); M. Hettling, Reform ohne Revolution, S. 39 f.; P. Nolte, in: Kirsch, S. 109 (122 f.); R. Schulze, in: Dilcher u. a., Grundrechte im 19. Jahrhundert, S. 85 (87). 43 R. von Mohl, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1846, S. 451 (489 f.). 44 Ein Abdruck der Deutschen Bundesakte befindet sich bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 84 ff.; vgl. auch E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 494 ff.; C. Schulze, Frühkonstitutionalismus in Deutschland, S. 55.

III. Der Deutsche Bund

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trag von Ried (8.10.1813) die Souveränität versprochen.45 Auch im Pariser Frieden (30.5.1814) wurde die künftige Unabhängigkeit der deutschen Einzelstaaten betont, jedoch durch die Verpflichtung überlagert, an einem künftigen „Föderativband“ mitzuwirken.46 Die vertraglichen Beziehungen gaben daher keineswegs eine Garantie für die künftige Souveränität der Rheinbundstaaten. Vielmehr handelte es sich hierbei um eine machtpolitische Frage, in der sich die Rheinbundstaaten mit großem Einsatz gegen einen ständisch geprägten Bundesstaat mit weitgehenden Kompetenzen zur Wehr setzen.47 Anstatt diesem ihre Souveränität zu opfern, wollten sie die Reformen der Rheinbundzeit zu Ende führen. Damit wäre der Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft und somit eine grundsätzliche Voraussetzung der Grundrechtsentwicklung verfestigt worden. Die Großmächte sowie die Kleinstaaten Deutschlands betrachteten die Souveränität der rheinbündischen Landesherren und den reformbedingten Gesellschaftswandel allerdings als eine ungewollte Folge der überwundenen napoleonischen Fremdherrschaft. Allen vertraglichen Zusicherungen zum Trotz standen sie der starken Machtposition der Rheinbundfürsten ablehnend gegenüber. Ihr Hauptkritikpunkt war die mangelnde Rechtsstaatlichkeit im despotischen Rheinbund, wo ihrer Auffassung nach mit Abschaffung der Stände auch die Begrenzung der Herrschaftsmacht weggefallen war.48 Angestrebt wurde die Rückkehr zu einer ständischen Ordnung und die Herstellung eines deutschen Reiches, in dem Preußen und Österreich ihre Vormachtstellung gegenüber den mitteldeutschen Staaten auszubauen gedachten.49 Zur Begründung dieser Interessen eignete sich das Legitimitätsprinzip. Man berief sich darauf, dass nur die alte Ordnung in Deutschland selbst gewachsen und daher künstlichen Konstrukten abstrakter Theorie oder ausländischen Importen wie den trügerischen Rheinbundverfassungen vorzuziehen sei. Nur durch das Festhalten am historisch Ge45 Vgl. Art. 4 sowie Geheimartikel 1, abgedruckt in H. Hofmann (Hrsg.), Quellen zum Verfassungsorganismus des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, S. 401 f. 46 Vgl. Art. 6 Abs. 2: „Deutschlands Staaten werden unabhängig und durch ein Bündnis (Lien Fédératif) vereinigt sein“, abgedruckt bei K. Müller (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses, S. 61. 47 Vgl. nur die Kritik des badischen Bevollmächtigten Hacke an den 41 Artikeln Hardenbergs, abgedruckt bei K. Müller (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses, S. 343 ff.; vgl. auch J. L. Klüber, Wichtige Urkunden – Geschichtliche und staatsrechtliche Einführung, S. 53 f.; ausführlich W. Quint, Souveränitätsbegriff und Souveränitätspolitik, S. 275 ff. 48 So F. Solms Laubach, Denkschrift über das Verhältnis Preußens und Österreichs zum Deutschen Bund, abgedruckt bei K. Müller (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses, S. 341 f.; vgl. J. L. Klüber, Oeffentliches Recht des Teutschen Bundes, §§ 48 ff., S. 54 ff.; B. Wunder, ZHF 5 (1978), S. 139 (167); vgl. auch W. Quint, Souveränitätsbegriff und Souveränitätspolitik, S. 292 ff. 49 Vgl. nur Hardenbergs 41 Artikel und das Schreiben Hardenbergs an Metternich vom 3. September 1814, abgedruckt bei K. Müller (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses, S. 315 ff., S. 337.

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wachsenen konnten nach dieser Ansicht Unruhen, wie sie durch Frankreich und Napoleon gestiftet worden waren, vermieden und die europäische Friedensordnung langfristig gesichert werden.50 Eine vollständige Rückkehr zur alten Ordnung wäre aber in den Rheinbundstaaten nicht durchführbar gewesen und schon durch die Souveränitätszusicherungen an die Rheinbundstaaten war eine Unterwerfung eben dieser unter eine gemeinsame Kaiserkrone wie im Alten Reich ausgeschlossen. Um gemeinsam mit den Rheinbundstaaten den Sieg gegen Napoleon zu erreichen, hatten die Großmächte Preußen und Österreich in diesen Verträgen das Legitimitätsprinzip bereitwillig geopfert. Folglich musste die Heraufbeschwörung dieses Prinzips als einzig wahre Wurzel des deutschen Staates unglaubwürdig erscheinen. Die machtpolitische Motivation dahinter offenbarte sich.51 Für die Grundrechtsentwicklung wäre eine Rückkehr zum ständischen Kaiserreich von Nachteil gewesen. Von der Schwelle zum bürgerlichen Staat, an der sich die Rheinbundstaaten befanden52, hätten diese deutlich zurücktreten müssen. Andrerseits aber hätte eine Wiederherstellung der alten Ordnung eine partikulare, ständische Bindung der Herrschaftsmacht bedeutet, die dem Landesherren engere Grenzen zu ziehen vermochte als der rheinbündische Scheinkonstitutionalismus. Allerdings wären es keine allgemeinen Grundrechte, sondern einzelne, historisch gewachsene Vorrechte, die durch diese Grenzen Schutz erfahren hätten.53 2. Die Grundrechte in der Deutschen Bundesakte Die Grundrechte, die schließlich in der Deutschen Bundesakte enthalten waren, zeugen von der unterschiedlichen Interessenlage der Mitgliedsstaaten und von der Schwierigkeit, sich auf ein Minimum individueller Rechtspositionen zu einigen. Der Zeitgeist zwang aber den Deutschen Bund, bezüglich der Grundrechtsfrage zu einem Ergebnis zu kommen. Dabei war unbestritten, dass der Geltungsgrund für neue Rechtspositionen des Individuums allein die Gewährung durch die Staatsgewalt sein konnte.54 Nur solange die Staatsgewalt als Ursprung der Grundrechte galt, konnte sie unbeschadet fortbestehen. Auf der Ebene des Bundes bestand nun das Problem, dass es kein Staatsoberhaupt gab 50

Vgl. dazu ausführlich B. Wunder, ZHF 5 (1978), S. 139 (142 ff.). Vgl. dazu auch O. Brunner, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 115 (132). 52 Vgl. oben 7. Kapitel, I. 2. 53 Zum Beitrag der ständischen Rechtspositionen zur Grundrechtsentwicklung vgl. oben 6. Kapitel, I. 2. a) dd). 54 J. L. Klüber, Oeffentliches Recht des Teutschen Bundes, § 184, S. 239, § 227, S. 301; vgl. W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 46; K. Stern, Staatsrecht III/1, S. 109. 51

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und dass die staatliche Organisation sehr schwach ausgeprägt war. Es fehlte somit eine starke Staatsgewalt als Quelle der Grundrechte und folglich konnte auch das Ausmaß der individuellen Rechtspositionen, die vom Bund selbst abstammten, nur sehr gering sein. Die Freiheit des Individuums war zudem zunächst weniger durch die lose Organisation des Deutschen Bundes, sondern vielmehr durch Zugriffe der Einzelstaaten bedroht.55 Hier kam es zu einer Konkurrenz der Grundrechte auf Bundes- und Landesebene, denn auch die Landesfürsten begriffen sich als Quelle der individuellen Rechtspositionen, die sie den Untertanen gewähren konnten. Somit betrafen die Grundrechte ebenfalls die Frage der Souveränität, womit sie mitten in das Spannungsfeld der unterschiedlichen politischen Interessen innerhalb des Deutschen Bundes gerückt wurden. Die Rheinbundstaaten, vor allem Bayern und Württemberg, kämpften dafür, die Gewährung von Bundesgrundrechten auf Bundesebene auf ein Minimum zu beschränken.56 Dabei standen sie keineswegs den Grundrechten selbst ablehnend gegenüber, hatte doch gerade Bayern bereits 1808 einen ersten, eigenen Grundrechtskatalog verabschiedet. Vielmehr ging es den Rheinbundstaaten darum, Vorgaben der Grundrechte auf Bundesebene an ihre eigene Landespolitik und somit mögliche Souveränitätsverluste einzudämmen. Von restaurativer Seite wurde dagegen Wert auf die ständische Rechtsstaatlichkeit gelegt, die ursprünglich in der Bundesakte als Zweck des Bundes deklariert werden sollte57 und auf eine ständische Prägung individueller Rechtspositionen drängte. Die ehemaligen Rheinbundstaaten setzten sich dagegen erfolgreich zur Wehr, wollten sie doch ihre als „Despotismus“ kritisierte, aus den ständischen Bindungen gelöste Machtposition gerade behalten. Deshalb wurden lediglich die „Besonderen Bestimmungen“ des zweiten Teils der Bundesakte, zu denen auch die Bundesgrundrechte gehörten, vom Ziel der ständischen Rechtsstaatlichkeit beeinflusst. Aus diesem Grund ergibt sich die starke inhaltliche Abweichung von den Grundrechten in den Rheinbundverfassungen, die gerade eine Aufhebung der Ständeordnung bewirken sollten:

55 J. L. Klüber, Wichtige Urkunden – Geschichtliche und staatsrechtliche Einführung, S. 45. 56 Vgl. J. L. Klüber, Wichtige Urkunden – Geschichtliche und staatsrechtliche Einführung, S. 64; B. Wunder, ZHF 5 (1978), S. 139 (168). 57 Vgl. nur den gemeinsamen Verfassungsentwurf Preußens und Österreichs in Form der Zwölf Artikel, Art. 2: „Der Zweck dieses Bundes ist . . . die innere Sicherung der verfassungsmäßigen Rechte jeder Klasse der Nation“, abgedruckt bei K. Müller (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses, S. 350 (351); vgl. auch J. L. Klüber, Wichtige Urkunden – Geschichtliche und staatsrechtliche Einführung, S. 57.

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a) Wiederherstellung der Privilegien Zunächst wurden in Art. 14 der Deutschen Bundesakte die Vorrechte und Privilegien des Adels und der Mediatisierten58 wiederhergestellt und konserviert. Mit dem ständischen Eigentumsbegriff wurden Vorrechte wie der privilegierte Gerichtsstand, die Befreiung von der Militärpflichtigkeit und die Patrimonialgerichtsbarkeit unter den bundesstaatlichen Schutz gestellt (Art. 14 c Nr. 3 DBA). Anknüpfungspunkt für die Grundrechte war damit die alte Ständeordnung, welche die natürliche Freiheit des Einzelnen zusätzlich zu überlagern drohte. Art. 14 DBA wohnte dabei eindeutig die Tendenz inne, die vereinheitlichte Gesellschaft des Rheinbundes in ein restauratives Staatensystem zurückzuführen. Erstaunlich ist, dass sich die grundrechtlichen Bestimmungen der Deutschen Bundesakte dadurch in einen genauen Gegensatz zu denen des Rheinbunds setzten: Während die Verfassung Bayerns von 1808 alle „besonderen Verfassungen, Privilegien, Erbämter und Landschaftliche Korporationen“59 aufhob, stellte Art. 14 b DBA die „privilegirteste Klasse“ gerade unter seinen Schutz. Die allgemeine Wehrpflicht, die in der Rheinbundverfassung Bayerns als Ausdruck der allgemeinen Gleichheit garantiert worden war60, wurde vom Deutschen Bund durch die Befreiung des Adels von dieser wieder aufgehoben. Außerdem schützte die Deutsche Bundesakte die adeligen Vorrechte „insbesondere in Ansehung der Besteuerung“ (Art. 14 b), wodurch „ein und dasselbe Steuersystem für das ganze Königreich“, das die Bayerische Verfassung von 1808 gefordert hatte61, unmöglich wurde. Die Grundrechte des Deutschen Bundes wurden daher dazu genutzt, die grundrechtlichen Errungenschaften des Rheinbundes wieder rückgängig zu machen. Insoweit wurden die Bundesgrundrechte als wohlerworbene Rechte verstanden, die durch ihre schriftliche Fixierung in der Bundesakte lediglich eine Bestätigung erfuhren.62 Nicht nur die Gegensätzlichkeit des damaligen Grundrechtsverständnisses wird daran deutlich, sondern es zeigt sich auch, dass diese Gegensätzlichkeit nicht zuletzt durch handfeste politische Interessen bedingt war. Allerdings beschränkte sich Art. 14 DBA auf die gesellschaftliche Wiederherstellung der Adelsprivilegien, während die politische Entmachtung erhalten 58 Hierbei handelte es sich um ehemals reichsunmittelbare Reichsstände, Reichsstädte oder Angehörige der Reichsritterschaft, deren Reichsunmittelbarkeit aufgehoben und deren Territorialbesitz in das weltliche Reichsfürstentum einverleibt wurde, vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 43. 59 § II, Titel I VU Bayern. 60 Titel VI VU Bayern. 61 § II, Titel I VU Bayern. 62 J. L. Klüber, Wichtige Urkunden – Geschichtliche und staatsrechtliche Einführung, S. 64.

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blieb.63 Dies lag auch daran, dass in den zusammengewachsenen, neugebildeten Rheinbundstaaten gar kein historisch gewachsener Adel vorhanden war, der bezüglich des gesamten Staates Anspruch auf politische Mitspracherechte erheben konnte. Vor allem aber war die politische Entmachtung des Adels auch in Preußen und Österreich bereits im Absolutismus vollzogen worden und die dortigen Landesherren waren kaum gewillt, ihre so gewonnene politische Macht wieder einzuschränken, zumal die Ständeordnung mittlerweile schon aus wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gründen überkommen war.64 Folglich war es ein reformierter Ständebegriff, zu dem man zurückkehren wollte und mit dem man gleichzeitig – quasi als Tribut an die Französische Revolution und den Zeitgeist – eine gewisse Fortschrittlichkeit zum Ausdruck zu bringen gedachte. Problematisch war allerdings, dass diese neuständische Ordnung und vor allem die politische Entmachtung des Adels nicht historisch gewachsen und schwer zu legitimieren war. Letztlich war auch die von der Restauration angestrebte Ordnung ein künstliches Konstrukt, das durch die Machtinteressen der restaurativen Einzelstaaten begründet wurde. b) Grundrechte zur Betonung der Einheit des Bundes Neben den Privilegien wurden aber auch allgemeine Untertanenrechte unter die Grundrechte der Deutschen Bundesakte gefasst. Das allgemeine Eigentum erfuhr in Art. 18 a DBA einen Schutz, der allerdings schwach ausgeprägt war. Er erschöpfte sich darin, dass Grundeigentum außerhalb des Staates, in dem der Eigentümer wohnte, keiner doppelten Besteuerung unterliegen durfte. Dahinter standen vor allem die wirtschaftlichen Interessen, die durch eine zweifache Besteuerung beeinträchtigt worden wären. Außerdem hätte eine andere Regelung den ohnehin schon schwachen Einheitscharakter des Staatenbundes gänzlich in Frage gestellt.65 Aus dem gleichen Grund wurde die Freizügigkeit innerhalb des Deutschen Bundes sowie die Freiheit der Nachsteuer normiert. Wirtschaftliche Regelungen bzgl. des Handels, Verkehrs und der Schifffahrt wurden in Art. 19 DBA lediglich in Aussicht gestellt. Die Parität der christlichen Konfessionen aus Art. 16 DBA war erforderlich, um ein friedliches Nebeneinander katholischer und protestantischer Staaten innerhalb des Bundes zu ermöglichen. Es war aber kein neues Klima grundsätzlicher Toleranz entstanden, was schon daran deutlich wird, dass Regeln zur 63 W. Mager, HZ 217 (1974), S. 296 (342); J. L. Klüber, Oeffentliches Recht des Teutschen Bundes, § 264, S. 376 f. 64 Vgl. oben 6. Kapitel, II. 3. b). 65 Auf die Bedeutung der Grundrechte für die Einheit des deutschen Bundes weisen auch W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 46 sowie J. L. Klüber, Wichtige Urkunden – Geschichtliche und staatsrechtliche Einführung, S. 66 und C. Schulze, Frühkonstitutionalismus in Deutschland, S. 59 hin.

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Besserstellung der Juden lediglich geplant waren (Art. 16 DBA). Die bestehende Benachteiligung wurde damit zunächst einmal akzeptiert. Eine Sphäre individueller Freiheit kannte die Deutsche Bundesakte nicht und blieb damit hinter der „vollkommenen Gewissensfreiheit“ in den Rheinbundverfassungen und im Preußischen Allgemeinen Landrecht zurück.66 Außerdem sollte jeder Untertan die Möglichkeit haben, im Militär- oder Staatsdienst tätig zu sein. Diese Regelung – die eine bevorzugte Behandlung Adeliger nicht ausschloss – sollte eine Bereicherung von Militär und Verwaltung um Leistungsträger aus dem Volke erreichen. Damit wurden auch von restaurativer Seite Eingeständnisse an die Reformen der Rheinbundzeit gemacht, wenn es für die Staatsräson nützlich war. Ein grundsätzlicher Gesellschaftswandel sollte jedoch nicht zugelassen werden. c) Pressefreiheit Die „Preßfreyheit“ wurde in Art. 18d DBA gewährt. Gerade während der Befreiungskriege hatte die Presse eine wichtige öffentliche Funktion übernommen, indem sie die deutsche Bevölkerung gegen Napoleon mobilisiert hatte.67 Die frühere Beschränkung der Presse durch die napoleonische Zensur entsprach deshalb nicht den Interessen der Siegermächte. Auf dem Wiener Kongress war man sich aber durchaus der Gefahr bewusst, dass sich eine freie Presse auch gegen den Deutschen Bund richten konnte. Deshalb stellte man die Pressefreiheit unter den Vorbehalt der Verfügungen, welche die Bundesversammlung auf ihrer ersten Zusammenkunft treffen sollte. Damit wurde es möglich, durch einfachgesetzliche Regelungen jegliche Freiräume für die Presse zu unterbinden. So wundert es nicht, dass die Pressefreiheit der Bundesakte in den folgenden Zeiten restaurativer Politik zur Bedeutungslosigkeit verurteilt war.68 d) Rechtsschutzmöglichkeiten An dem ursprünglich für den Deutschen Bund formulierten Zweck der Rechtstaatlichkeit, in der die Restauration den entscheidenden Vorzug gegenüber dem Rheinbund sah, knüpfte Art. 12 DBA an. Durch diese Vorschrift 66 Vgl. oben 6. Kapitel, II. 3. d), 7. Kapitel, I. 3.; W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 47; vgl. auch J. L. Klüber, Oeffentliches Recht des Teuschen Bundes, § 525, S. 793 f., der die „politische Toleranz dem Grad nach“ von der Rechtsungleichheit der Glaubensparteien abhängig machen will. 67 Vgl. nur die zahlreichen Zeitungsartikel bei H.-B. Spies (Hrsg.), Die Erhebung gegen Napoleon. 68 Vgl. J. L. Klüber, Das Oeffentliche Recht des Teutschen Bundes, § 504, S. 741 ff., der betont, dass die Regelung der Pressefreiheit bislang ohne sichtbaren Erfolg geblieben sei; vgl. auch W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 47; ausführlich dazu 8. Kapitel, V.

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wurde allen Untertanen der deutschen Einzelstaaten der Rechtsweg bis zur dritten Instanz zugesichert. Bei einer Verletzung dieser Rechtsweggarantie hatte das Individuum die Möglichkeit, den Bund anzurufen. Dadurch wurde auf Kosten der Souveränität der Einzelstaaten ein Mindestmaß an Rechtssicherheit geschaffen.69 In den Dienst eines effektiven Grundrechtsschutzes wurde diese Rechtsschutzmöglichkeit allerdings nicht gestellt. Schließlich forderte Art. 12 DBA nur, dass überhaupt ein Gericht entschied, ohne Vorgaben bezüglich des Inhalts der Entscheidung zu machen. Außerdem waren die Handlungsmöglichkeiten des Bundes begrenzt: Im Falle von Grundrechtsverletzungen konnte der Deutsche Bund lediglich gemäß Art. 53 WSA „Verbindlichkeiten“ festsetzen, deren „Anordnung auf die einzelnen Fälle . . . jedoch den Regierungen allein überlassen“ blieb.70 Und selbst von dieser Möglichkeit machte der Bund nur selten Gebrauch.71 In den Zeiten des Vormärz gewann die Grundrechtsfrage eine solche revolutionäre Brisanz, dass der Bund davon absah, durch die Wahrnehmung seiner Kompetenz aus Art. 53 WSA der Grundrechtsforderung Wind in die Segel zu geben. Somit zählte die Deutsche Bundesakte zwar ständische Grundrechte auf, der Schutz eben dieser blieb aber hauptsächlich den Ländern überlassen. Schließlich war die Sicherung der Untertanenrechte als Ausprägung der Rechtstaatlichkeit aufgrund des rheinbündischen Widerstands nicht zum Bundeszweck geworden, so dass bzgl. der „Besonderen Regelungen“ keine starke Bundeskompetenz begründet werden konnte.72 Hierbei handelte es sich um einen Kompromiss, auf den sich auch die Rheinbundfürsten einlassen konnten und der sich aus der oben dargestellten Interessenlage ergab. e) Bewertung Neben der Fixierung überkommener ständischer Vorrechte enthielt die Deutsche Bundesakte lediglich ein Minimum an Grundrechten, das notwendig war, um das unitarische Element der Staatsverfassung zu betonen. Die Regelungen zielten eher auf das Verhältnis der einzelnen Staaten untereinander als auf das des Individuums zum Staat ab.73 Die Ausgestaltung des individuellen Verhältnisses zur Staatsgewalt und der Ausbau grundrechtlicher Rechtspositionen blieb im Wesentlichen den Ländern überlassen. Entscheidend für die deutsche Grund69 D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 293; zur Justizverweigerung vgl. auch J. L. Klüber, Das Oeffentliche Recht des Teutschen Bundes, § 169, S. 202 ff. 70 Abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 91 (98). 71 B. Wunder, ZHF 5 (1978), S. 139 (151). 72 Vgl. oben 7. Kapitel, III. 2.; R. Maurenbrecher betont, dass die Staatsgewalt ihre Grenze im Bundeszweck findet, vgl. Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, § 113, S. 173. 73 Vgl. dazu J. L. Klüber, Wichtige Urkunden – Geschichtliche und staatsrechtliche Einführung, S. 63, der auf den völkerrechtlichen Charakter einiger Grundrechtsbestimmungen hinweist.

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rechtsentwicklung waren daher weniger die Grundrechte in der DBA selbst, sondern die Vorgaben an die Landesverfassungen, die mit der Bundesakte gemacht wurden. 3. Die Landständische Verfassung gemäß Art. 13 DBA Eine Bestimmung darüber, wie die Verfassungen in den Einzelstaaten aussehen sollte, enthielt Art. 13 DBA: „In allen Bundesstaaten wird eine Landständische Verfassung stattfinden.“ Somit war nicht zuletzt aufgrund der Erwartung innerhalb der Bevölkerung zaghaft eine Verpflichtung an alle Bundesmitglieder ausgesprochen, Verfassungen einzuführen.74 Es war aber unklar, wie die künftigen Verfassungen ausgestaltet sein sollten. Dabei war die unpräzise Formulierung der Bundesakte keineswegs Ausdruck einer gesetzgeberischen Fehlleistung, sondern Folge der bestehenden Interessengegensätze. Sowohl die ehemaligen Rheinbundstaaten als auch die Großmächte Preußen und Österreich ließen sich nur auf Art. 13 DBA ein, weil die offen formulierte Vorschrift Interpretationsspielräume für ihre eigenen Verfassungsvorstellungen enthielt, die sich jedoch gegenseitig ausschlossen. a) Restaurative Interpretation durch die Großmächte Preußen und Österreich Nach restaurativer Ansicht musste mit der landständischen Verfassung schon deshalb eine ständische gemeint sein, weil nach ihrer Auffassung nur so die Rechtsstaatlichkeit in den Einzelstaaten gewährleistet werden konnte. Während die Regenten im Alten Reich an die Fundamentalgesetze und Privilegien gebunden waren75, barg die uneingeschränkte Souveränität der Rheinbundfürsten insbesondere nach Auffassung Preußens und Österreichs die Gefahr des Despotismus in sich, die durch eine Wiederherstellung der Stände gebannt werden sollte.76 Dabei widersprach der Art. 13 DBA eigentlich dem losen Gefüge des Deutschen Bundes, denn er enthielt Vorgaben an die innerstaatliche Verfassungslage der Bundesmitglieder. Die Formulierung dieses Artikels in den „Besonderen Bestimmungen“ der Bundesakte zeugt noch von dem ursprünglich geplanten Bundeszweck der Rechtsstaatlichkeit.77 Diese sollte wiederhergestellt werden, indem Vorgaben an die Landesverfassungen gemacht wurden. 74 W. Mager, HZ 217 (1974), S. 296 (297); J. Görres, Deutschland und die Revolution, S. 22. 75 Vgl. dazu den Überblick bei J. L. Klüber, Oeffentliches Recht des Teutschen Bundes, §§ 35 ff., S. 42 ff. 76 So F. Solms Laubach, Denkschrift über das Verhältnis Preußens und Österreichs zum Deutschen Bund, abgedruckt bei K. Müller (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses, S. 341 f.; vgl. auch B. Wunder, ZHF 5 (1978), S. 139 (141 ff.); E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 517 f.

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Preußen und Österreich sahen im Erlass einer ständischen Verfassung außerdem die Möglichkeit, die Souveränität der Rheinbundfürsten durch weitgehende Mitwirkungsbefugnisse einer ständischen Vertretungskörperschaft zu schwächen. Sie formulierten daher als Verfassungsentwurf die sog. „Zwölf Artikel“, wonach dem Bund die Kompetenz zur Sicherung der landständischen Verfassung zukommen sollte.78 Dabei sollten die Bundesorgane letztlich unter dem Einfluss der beiden Hegemonialmächte stehen. Faktisch drohte daher eine Quasimediatisierung der Rheinbundstaaten unter die Großmächte, die im entmachteten Rheinbundadel einen Verbündeten gegenüber den souveränen Landesfürsten sahen.79 Das Ziel war daher nicht die Begrenzung der monarchischen Macht zugunsten der Freiheitsrechte der Untertanen, sondern zugunsten der Machtinteressen Preußens und Österreichs. Zwar bestand die Möglichkeit, durch Landstände die ständischen Untertanenrechte vor willkürlichen Eingriffen des Regenten zu schützen, in den Dienst der natürlichen Freiheit gleichberechtigter Individuen sollten sich die Landstände nach restaurativer Ansicht allerdings nicht stellen. b) Repräsentative Interpretation durch die ehemaligen Rheinbundstaaten Die ehemaligen Rheinbundstaaten erkannten das Bedürfnis nach Rechtsstaatlichkeit an und wehrten sich nicht gegen Landstände an sich, solange diese ihre Machtposition nicht berührten. Die von der Restauration geplante Wiederbelebung der adeligen Rechte hätte jedoch die Rheinbundreformen insgesamt und somit auch die neu gewonnene Souveränität der Rheinbundfürsten in Frage gestellt.80 Deshalb interpretierte man die landständische Verfassung fortschrittlich im Sinne einer vom Monarchen gegebenen Repräsentativverfassung, die an das moderne Gesellschaftsverständnis des Rheinbunds anknüpfte. c) Anerkennung der süddeutschen Repräsentativverfassungen unter Verkündung des monarchischen Prinzips Obwohl sich die eher restaurative Bundesversammlung dieser unterschiedlichen Auslegungen des Art. 13 DBA bewusst war, unterließ sie trotz mehrerer Anfragen81 eine nähere Interpretation der landständischen Verfassung. Der Grund dafür mag zum einen darin gelegen haben, dass sie keinen offenen 77

Vgl. oben 7. Kapitel, III. 2. Abgedruckt bei K. Müller (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses, S. 350; vgl. auch H. Brandt, Der lange Weg in die demokratische Moderne, S. 52 ff.; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 545. 79 W. Mager, HZ 217 (1974), S. 296 (305). 80 Vgl. dazu B. Wunder, ZHF 5 (1978), S. 139 (161 ff.); D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 144. 78

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Bruch mit den ehemaligen Rheinbundstaaten riskieren wollte. Ausschlaggebender war aber wohl die eigene Unsicherheit über den Begriff des „Landständischen“. Preußen und Österreich mochten zwar eine ständische Bindung der Rheinbundfürsten anstreben, keineswegs aber entsprach es ihrem Interesse, die politische Entmachtung des Adels in ihrem eigenen Land rückgängig zu machen. Außerdem war die einfache Wiederherstellung der altständischen Ordnung vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen kaum möglich, weshalb man sich in den ebenso unklaren reformierten Ständebegriff flüchtete.82 Dieser besaß allerdings kein überzeugendes theoretisches Fundament, sondern war nur Ausdruck der eigenen Machtinteressen. Um diese Schwäche nicht unnötig zu offenbaren und um eine eigene Bindung an Landstände zu vermeiden83, blieb eine Interpretation des Art. 13 DBA vorerst aus. Sie erfolgte erst, als in Süddeutschland erste Repräsentativverfassungen erlassen wurden, die nicht zuletzt die durch die Deutsche Bundesakte enttäuschten Erwartungen ersatzweise befriedigen sollten.84 Im Interesse der Landesfürsten wirkten in diesen Verfassungen die Rheinbundreformen fort. Insbesondere die Bayerische Verfassung von 1818 knüpfte unmittelbar an die Rheinbundverfassung von 1808 an. Daraufhin wurde von Friedrich von Gentz auf dem Karlsbader Kongress eine restaurative, altständische Interpretation des Art. 13 DBA unternommen.85 Von den süddeutschen Verfassungen ging eine solche „Schockwirkung“ aus, dass Gentz und andere Anhänger der Restauration die Gefahr der Parlamentarisierung überbewerteten und irrtümlich Repräsentation mit Volkssouveränität gleichsetzten. Die Restauration setzte nun alles daran, die vermeintlich drohende Volkssouveränität aufzuhalten und die Monarchie sowie den Deutschen Bund zu erhalten.86 Keineswegs sollte der Art. 13 DBA die Legitimität der Monarchie in Frage stellen. Stattdessen sollte der Monarch allein „höchster Gesetzgeber und Haupt der gesamten Staatsverwaltung“ sowie das einzig „anerkannte Organ seines Staates“ sein.87 Deshalb betont Art. 57 WSA, dass alle Staatsgewalt im Oberhaupte des Staates vereinigt war. Dieser Festschreibung des sog. monarchischen Prinzips88 wohnte damit von Anfang an 81 Vgl. zu den Anfragen Sachsen-Weimars im Oktober 1816, des Fürstentums Lippe Detmold zu Beginn des Jahres 1817 und Württembergs im Herbst 1817 H. Brandt, Der lange Weg in die demokratische Moderne, S. 60 sowie W. Mößle, Staat 33 (1994), S. 373 (375). 82 Vgl. dazu oben 6. Kapitel, II. 3. b). 83 Vgl. nur zum nichteingelösten Verfassungsversprechen Preußens E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 304 ff. 84 J. Görres, Deutschland und die Revolution, S. 18. 85 Ueber den Unterschied zwischen den landständischen und Repräsentativverfassungen, abgedruckt bei J. L. Klüber (Hrsg.), Wichtige Urkunden, S. 213. 86 Dazu ausführlich H. O. Meisner, Die Lehre vom monarchischen Prinzip im Zeitalter der Restauration und des Deutschen Bundes, S. 194 ff.; W. Mößle, Staat 33 (1994), S. 373 (381 ff.); C. Schulze, Frühkonstitutionalismus in Deutschland, S. 59; O. Hintze, in: Staat und Verfassung, S. 349 (356 f.).

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eine defensive Tendenz zur Behauptung der alten Kronrechte inne.89 Einerseits sollte es die Monarchie retten, indem es den Stand der Konstitutionalisierung quasi einfror und zum Gegenbegriff des demokratischen Prinzips wurde. Andrerseits entsprach das monarchische Prinzip jedoch genau den Interessen der Rheinbundfürsten, ließ es doch deren uneingeschränkte Souveränität zu. Die Befugnisse der Landstände wurden damit soweit zurückgeschraubt, dass der Monarch weiterhin als alleiniger Inhaber der Staatsgewalt gelten konnte. Die Repräsentativverfassungen Süddeutschlands erfuhren dadurch eine Anerkennung und wurden mit Art. 13 DBA vereinbar.90 Damit wurde das ursprüngliche Ziel der ständischen Rechtsstaatlichkeit aufgeopfert, um die Monarchie am Leben zu erhalten. Für die Grundrechtsentwicklung bedeutete dies zunächst den Vorteil, dass mit den Repräsentativverfassungen das moderne Gesellschaftsverständnis Anerkennung erfuhr. Der Nachteil war allerdings, dass mit dem Überschreiten der Schwelle zum modernen Staat die mit der ständischen Begrenzung der Herrschaftsmacht verbundene Rechtsstaatlichkeit zunächst verloren ging. d) Verpflichtung zur Einhaltung des Bundeszwecks Die einzig verpflichtende Vorgabe der Deutschen Bundesakte, die an die Landesverfassungen gestellt wurde, war die Einhaltung des Bundeszwecks gemäß Art. 2 DBA, der die Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands vorschrieb. Hierbei handelt es sich um eine Anforderung, deren Erfüllung auf den ersten Blick unproblematisch erschien. Die allgemeine Formulierung ließ jedoch Interpretationsspielräume zu, die bei der konkreten Verfassungsauslegung zu Konflikten führen sollten.91 Durch die Deutsche Bundesakte war der Wunsch nach einer einheitlichen Verfassung mit darin verbrieften Freiheitsrechten nicht erfüllt worden. Daher richtete sich die Aufmerksamkeit darauf, wie Art. 13 DBA in den Einzelstaaten umgesetzt wurde. Das gesellschaftliche Interesse an der verfassungsrechtlichen Entwicklung war dabei so groß wie noch nie.

87 F. Gentz, Ueber den Unterschied zwischen den landständischen und Repräsentativverfassungen, abgedruckt bei J. L. Klüber (Hrsg.), Wichtige Urkunden, S. 213 (220). 88 Vgl. dazu ausführlich unten 7. Kapitel, V. 1. 89 H. O. Meisner, Die Lehre vom monarchischen Prinzip im Zeitalter der Restauration und des Deutschen Bundes, S. 198; vgl. auch H. Boldt, in: Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte, Der Staat, Beiheft 10 (1993), S. 151 (157). 90 So auch E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 337. 91 Vgl. unten 8. Kapitel, V. 3. c).

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7. Kap.: Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge

IV. Beweggründe hinter den frühkonstitutionellen Verfassungen Die modernen Repräsentativverfassungen Süddeutschlands waren nicht durch die Gesellschaft von unten erkämpft worden, sondern sie stellten die Antwort der souveränitätsbewussten Landesfürsten auf Art. 13 DBA dar und wurden in den meisten Fällen einseitig oktroyiert. In Hessen wurde die Verfassung zwar zuvor einverständlich mit der Ständeversammlung beraten, in Kraft gesetzt wurde sie aber in Form eines einseitigen landesherrlichen Erlasses.92 Lediglich die Verfassung Württembergs beruhte auf einer vertraglichen Vereinbarung zwischen Ständen und König. Zuvor hatte es heftige Verfassungskämpfe gegeben, aus denen der König als Sieger hervorging. Der Umstand der vertraglichen Vereinbarung war daher eher ein psychologisches Entgegenkommen an die Stände, das den Inhalt der Verfassung im Wesentlichen unberührt ließ.93 Maßgebliche Unterschiede der Grundrechte zu den oktroyierten Verfassungen Bayerns und Badens lassen sich nicht ausmachen. Letztlich waren daher die Verfassungen und somit die konstitutionelle Bindung des Monarchen an die Grundrechte durch diesen selbst veranlasst worden. Dies wird schon an den Einleitungen deutlich: Die Bayerische Verfassung wurde als Werk des „ebenso freyen als festen Willens“ des Königs Maximilian angekündigt94, in Baden „haben Wir (gemeint ist der Großherzog Carl) nachstehende Verfassung gegeben . . .“95 und in Hessen hatte Herzog Ludwig den Entschluss gefasst, die Verfassung zu „verordnen“96. Aufschluss über die konkrete Ausgestaltung und die Wirkungsmöglichkeiten der Grundrechte geben daher schon die Beweggründe der Monarchen, die hinter den Verfassungen standen und deren Inhalt maßgeblich prägten. 1. Sicherung der Souveränität Große Sorgen machten sich die Landesfürsten um den Erhalt ihrer Souveränität, die auf zwei Ebenen bedroht war. Innerstaatlich wollte man den Adel zäh92

Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 335 f. H. Brandt, in: Kirsch/Schiera, Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus, S. 99 (102); H. Fenske, Der liberale Südwesten, S. 37 ff.; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 333; G. Dilcher, Staat 27 (1988), S. 161 ff.; ausführlich J. Gerner, Vorgeschichte und Entstehung der Württembergischen Verfassung im Spiegel der Quellen; die Verfassung findet sich im Königlich Württembergischen Staats- und Regierungsblatt 1819, S. 634 ff.; ebenfalls abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 187 ff. 94 BayGBl. 1818, S. 101; ebenfalls abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 155 ff. 95 Großherzoglich-Badisches Staats- und Regierungsblatt 1818, S. 101 ff.; ebenfalls abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 172 ff. 96 Hessisches Regierungsblatt 1820, S. 535 ff.; ebenfalls abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 221 ff. 93

IV. Beweggründe hinter den frühkonstitutionellen Verfassungen

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men, der auf eine Wiederbelebung seiner politischen Mitspracherechte hinarbeitete. Innerhalb des Deutschen Bundes galt es, Souveränitätsverluste an den Bund und insbesondere an die Großmächte Preußen und Österreich zu vermeiden.97 Die frühe Verkündung einer eigenen Repräsentativverfassung betonte nun die Eigenständigkeit des Landes. Gleichzeitig wurde verhindert, dass durch eine aus Wien als verbindlich vorgegebene altständische Interpretation des Art. 13 DBA die Souveränität der Landesfürsten durch die Wiederbelebung der Stände von innen geschwächt wurde. Mit den Grundrechtskatalogen bezweckten die Landesfürsten, den für ihre Souveränität günstigen gesellschaftlichen Veränderungen des Rheinbunds dauerhaften Bestand zu verleihen und somit ihre eigene Machtposition zu stabilisieren. 2. Einigung des Staatsgebiets durch einen allgemeinen Staatsbürgerstand Die verfassungsgebenden Monarchen standen vor der Herausforderung, die territorialen Zugewinne der Rheinbundzeit mit ihren bisherigen Staatsgebieten zu einer staatlichen Einheit verschmelzen zu müssen. Die Verfassungen waren dabei zunächst für den Aufbau einer einheitlichen Verwaltung nützlich. Gleichzeitig sollten aber auch die Einwohner der unterschiedlichen Gebiete ein Zusammengehörigkeitsgefühl und ein gemeinsames Staatsbewusstsein entwickeln.98 Deswegen erhielten sie alle den gemeinsamen Status des „Staatsbürgers“ und wurden in ein direktes Verhältnis zum Staat gesetzt.99 Dabei wurden sie mit den sog. Staatsbürgerrechten ausgestattet. Der Begriff der Grundrechte wurde bewusst umgangen, um Assoziationen mit revolutionären Menschenrechten zu vermeiden.100 Grundvoraussetzung für den vollen Genuss der Rechtspositionen war somit die Eigenschaft als Staatsbürger, die durch das Indigenat erworben wurde. Besonders deutlich wird dies in § 2 des bayerischen Grundrechtskatalogs: „Das Bayerische Staats-Bürgerrecht wird durch das Indigenat bedingt, und geht mit demselben verloren.“ Hierbei handelte es sich um eine klare Absage an die naturrechtliche Vorstellung vorstaatlicher Freiheiten. Wer die Staatsbürgereigenschaft nicht besaß, konnte nur auf eine eingeschränkte und vereinzelte Teilhabe an den Grundrechten hoffen.101 Nur als Staatsbürger, nicht in seiner natürlichen Eigenschaft als Mensch war man frei. Die Abhängigkeit 97 H. Brandt, in: Kirsch/Schiera, Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus, S. 99 (100); C. Schulze, Frühkonstitutionalismus in Deutschland, S. 61. 98 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 316 f.; E. Weis, ZbLG 39 (1976), S. 413 (414). 99 R. von Mohl, Staatsrecht, S. 313; H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. I, S. 395; vgl. auch G. Dilcher, Der Staat 27 (1988), S. 161 (183). 100 Th. Würtenberger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 19. 101 H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 105 ff.

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7. Kap.: Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge

der Freiheitsrechte von der Staatsbürgereigenschaft verdeutlicht § 33 der Verfassung Württembergs: Wer nämlich auswanderte, verlor alle bürgerlichen Rechte.102 Das Indigenat wurde nach dem Abstammungsprinzip bestimmt, es war aber auch möglich, durch Einbürgerung (Naturalisierung) zum Staatsbürger zu werden.103 Dies geschah entweder in gesetzlich vorgesehen Fällen oder durch eine von der Verwaltung zu erteilende Erlaubnis.104 Es war daher oftmals die willkürliche Entscheidung des Landesfürsten oder der Verwaltung, von der die Anerkennung der Rechte abhing. Das Indigenat selbst sagte jedoch noch nichts über die konkrete Ausgestaltung der individuellen Rechtspositionen aus, die durchaus unterschiedlich sein konnte. Folglich diente es nur dazu, die Staatsbürger gegenüber Fremden in einen allgemeinen Status als Glieder des Staates zu erheben, dessen Konkretisierung aber noch Differenzierungen kannte.105 Diese Verknüpfung von Staatsbürgereigenschaft und Freiheitsrechten war ein geschickter Schachzug des Monarchen, den Einzelnen in seiner Eigenschaft als Untertan aufzuwerten. Es entstand eine Integrationswirkung, die durch Maßnahmen wie einen „Huldigungseid“, den die Staatsbürger ablegen mussten106, noch verstärkt wurde. Man fühlte sich als Bayer, Badener, Württemberger oder Hesse, weil man auch nur als solcher in gewissem Umfang frei war.107 3. Finanzbedarf Zur Einberufung einer Ständeversammlung sahen sich die Landesfürsten außerdem aufgrund der andauernden Finanzkrise gezwungen. Die kriegerischen Auseinandersetzungen der Vergangenheit sowie der steigende Finanzbedarf für den Verwaltungsausbau hatten ein Loch in die Staatskasse gerissen. Umfassende Steuererhöhungen waren erforderlich. Diese hofften die Landesfürsten mit Zustimmung einer verfassungsrechtlich verankerten Ständeversammlung in der Bevölkerung besser durchsetzen zu können.108 Das altständische Recht der sog. Steuerverwilligung wurde dadurch in eine konstitutionelle Form gegossen und zu einem allgemeinen Zustimmungsrecht der Ständeversammlungen ausge102 Vgl. dazu auch H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionellmonarchischen Staatsrechts, S. 112. 103 Vgl. § 1 IV VU Bayern; § 9 VU Baden; § 19 VU Württemberg; Art. 13 der VU Hessen. 104 Vgl. R. von Mohl, Staatsrecht, S. 318 f. 105 R. Schulze, in: Dilcher u. a., Grundrechte im 19. Jahrhundert, S. 85 (96); vgl. zur staatsbürgerlichen Gleichheit unten 8. Kapitel, I. 106 § 3 X VU Bayern; § 20 VU Württemberg; Art. 108 VU Hessen. 107 Zur Bedeutung des Huldigungseids als Anerkennung der Staatsgewalt J. L. Klüber, Oeffentliches Recht des Teutschen Bundes, § 272, S. 386. 108 C. Schulze, Frühkonstitutionalismus in Deutschland, S. 61.

V. Die verfassungsrechtliche Einbettung der Grundrechte

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dehnt.109 Die Abhängigkeit von der Ständeversammlung, in die sich die Landesfürsten damit begaben, nahmen sie dabei in Kauf. 4. Zusätzliche Legitimation der Herrschaft Die Herrschaft des Monarchen sollte zwar nicht erst durch die Verfassung begründet werden, die Verfassung stellte aber eine zusätzliche Herrschaftslegitimation dar.110 Die Grundrechts- und Verfassungsforderungen in der Staatswissenschaft sowie in der Gesellschaft wurden immer lauter und drohten ein revolutionäres Potential zu entwickeln. Die Landesfürsten versuchten deshalb, diesen Forderungen entgegenzukommen und die Gefahr einer Revolution zu bannen.111 Gleichzeitig wollten sie aber ihre eigene Machtposition so weit wie möglich erhalten. Das Ergebnis waren Verfassungen, die als Produkt einer evolutionären Entwicklung die Machtposition der Monarchen weitestgehend unangetastet lassen und gleichzeitig verfassungsrechtlich legitimieren sollten. Ein Mindestmaß an konstitutioneller Bindung wurde dabei als Preis für die Legitimation hingenommen. 5. Bewertung Vor allem die beiden letzten Beweggründe zeigen, dass es keineswegs nur monarchische Willkür und Beliebigkeit waren, die hinter den Verfassungen und Grundrechtskatalogen standen. Stattdessen hatten die Landesfürsten erkannt, dass sie Zugeständnisse machen und dem Zeitgeist nachgeben mussten.112 Um ihre Herrschaft langfristig zu erhalten, nahmen sie eine konstitutionelle Bindung in Kauf.

V. Die verfassungsrechtliche Einbettung der Grundrechte Um die Funktionsmöglichkeiten der frühkonstitutionellen Grundrechte zu erfassen, bedarf es einer Betrachtung des verfassungsrechtlichen Systems, in das sie eingebettet waren. Dieses sollte mit den Beweggründen des Monarchen hinter der Verfassung in Einklang stehen und seine Machtposition bewahren. Als Gegenstand juristischer und gesellschaftlicher Diskussionen entwickelte das 109

E.-W. Böckenförde, in: Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, S. 146 (155 f.). D. Grimm, in: Simon, Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages, Ius Commune, Sonderheft 30, S. 45 (69); G. Dilcher, Staat 27 (1988), S. 161 (183); vgl. auch W. Heun, in: FS Rauschning, S. 41 (43). 111 So auch B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 123, 126 ff.; vgl. auch M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, S. 114. 112 Th. Würtenberger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 24. 110

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7. Kap.: Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge

Verfassungssystem jedoch eine Eigendynamik, die sich zugunsten des Freiheitsschutzes auswirkte. 1. Das monarchische Prinzip nach der konservativen Staatslehre Ausgangspunkt der frühkonstitutionellen Verfassungen war das ausdrücklich formulierte monarchische Prinzip: „Der König ist das Oberhaupt des Staats, vereinigt in sich alle Rechte der Staatsgewalt, und übt sie unter den von Ihm gegebenen in der gegenwärtigen VerfassungsUrkunde festgesetzten Bestimmungen aus.“113

Nach dieser Bestimmung sollte der König alleiniger Inhaber der Staatsgewalt bleiben, auch wenn er bei der Ausübung dieser Staatsgewalt an die Verfassung gebunden wurde. Die Monarchen versuchten mit der ausdrücklichen Formulierung dieses Prinzips, ihre eigene Souveränität trotz konstitutioneller Bindung unangetastet zu erhalten. Als Modell lag diesem Versuch die französische Charte Constitutionelle von 1814 zugrunde.114 Allerdings ging das Motiv, die monarchische Souveränität zu stützen, schon auf die Rheinbundverfassungen zurück, in denen die monarchische Macht aber nur mit einer scheinbaren konstitutionellen Bindung vereinbart werden musste.115 In den frühkonstitutionellen Verfassungen zeugen neben der ausdrücklichen Formulierung des monarchischen Prinzips zahlreiche andere Vorschriften davon, dass die Verfassung zumindest dem äußeren Schein nach der Souveränität des Monarchen keinen Abbruch tun sollte: Die Kompetenz zur Ausübung der Staatsgewalt wurde grundsätzlich beim Staatsoberhaupt vermutet, weshalb die Mitwirkungsbefugnisse der Ständeversammlungen ausdrücklich in der Verfassung selbst festgelegt werden mussten.116 Obwohl die Verfassungen für das Staatsoberhaupt verbindlich vorschrieben, dass ein Teil der Domänen oder ihrer Einkünfte zur Schuldentilgung verwendet werden musste, wurde betont, dass es sich dabei um „unstreitiges Patrimonialeigentum des Regenten und seiner Familie“ handelte.117 Vom Fortbestand des monarchischen Geistes zeugt auch der Umstand, dass die Staatsdiener und Abgeordneten einen Eid auf den König zu schwören hatten. Dabei fällt auf, dass lediglich die Abgeordneten Württembergs erst auf die Verfassung und dann auf das „unzertrennliche Wohl des Königs“118 schwören mussten, in allen 113 Vgl. § 1 II VU Bayern; ähnlich ist das monarchische Prinzip in § 5 VU Baden, § 4 VU Württemberg und Art. 4 VU Hessen formuliert. 114 Vgl. dazu oben 5. Kapitel, III. 4. d); abgedruckt bei Willoweit/Seif (Hrsg.), Europäische Verfassungsgeschichte, S. 481 ff.; vgl. auch O. Brunner, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 115 (133); E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 317. 115 Vgl. oben 7. Kapitel, I. 116 §§ 1 VII VU Bayern; §§ 85, 124 VU Württemberg; Art. 66 VU Hessen. 117 § 59 VU Baden; vgl. auch Art. 7 VU Hessen.

V. Die verfassungsrechtliche Einbettung der Grundrechte

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anderen Konstitutionen ging der Eid auf den Monarchen vor.119 Dieser Huldigungseid war eine althergebrachte Figur, mit der eine Unterwerfung und Selbstbindung schon zu Zeiten der Leibeigenschaft artikuliert worden war.120 Außerdem wurde betont, dass die Gerichtsbarkeit weiterhin vom König ausgehen und in seinem Namen erfolgen sollte, auch wenn die Richter in der Ausübung ihrer Tätigkeit unabhängig waren.121 Das monarchische Prinzip verdeutlicht die historische Kontinuität und zeigt, dass im deutschen Frühkonstitutionalismus lediglich die bestehendenden Verhältnisse neu geordnet und die monarchische Macht langfristig stabilisiert werden sollten. Einen Bruch, der einen kompletten Neuanfang wie in Frankreich 1789 ermöglichte, hatte es nicht gegeben. Im Grunde bestand die Monarchie fort und zu ihrem Schutz zog das monarchische Prinzip auch in Art. 57 der Wiener Schlussakte ein.122 Es kam lediglich zur „Aufpfropfung konstitutioneller Institutionen“123, soweit dies dem Landesfürsten sinnvoll erschien. Die Idee des monarchischen Prinzips entsprach auch dem konservativen Flügel der Staatsrechtslehre. Dieser sah die Staatsgewalt in den Händen des Monarchen vereinigt und verlieh der konstitutionellen Monarchie einen monistischen Charakter.124 Die fürstliche Gewalt sollte auch weiterhin unangetastet über der Verfassung stehen und die rechtliche und faktische Macht innerhalb des Staates besitzen. Das naturrechtliche Vertragsmodell wurde abgelehnt, da der Staat allein auf göttlichem Gebot beruhe.125 Die monarchische Machtposition galt als von Gott geschaffen und wurde daher auch durch eine Verfassung nicht in Frage gestellt. Folglich konnten ihr auch keine allgemeinen, angeborenen Grundrechte entgegengehalten werden.

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§ 163 VU Württemberg. § 25 VII VU Bayern; § 69 VU Baden; Art. 88 VU Hessen; vgl. zur Möglichkeit eines Eideskonfliktes E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 344. 120 P. Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten, S. 191. 121 § 1, 3 VIII VU Bayern; § 92 VU Württemberg; vgl. auch O. Meisner, Das monarchische Prinzip im Zeitalter der Restauration und des Deutschen Bundes, S. 257 f.; W. Heun, in: FS Rauschning, S. 41 (47 f.); zur Unabhängigkeit der Justiz vgl. unten 8. Kapitel, II. 3. b) aa). 122 Vgl. oben 7. Kapitel, III. 3. c). 123 O. Hintze, in: Staat und Verfassung, S. 359 (365). 124 F. J. Stahl, Philosophie des Rechts, Bd. 2, 2. Abtheilung, S. 321 ff.; C. L. von Haller, Restauration der Staatswissenschaften, Bd. 1, S. 478; den monistischen Charakter betonen auch H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und den constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 115, 127 ff.; F. Schmitthenner, Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts, S. 581; vgl. auch E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 337. 125 F. J. Stahl, Philosophie des Rechts, Bd. 2, 2. Abtheilung, S. 144 ff.; C. L. von Haller, Restauration der Staatswissenschaft, Bd. 1, S. 448; vgl. auch E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 337. 119

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7. Kap.: Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge

Für die Grundrechte bedeutete das monarchische Prinzip zunächst, dass sie großzügige einseitige Gewährungen des Staatsoberhauptes waren, die seine Macht nicht minderten. Ihre Existenz hing folglich davon ab, dass sie dem politischen Kalkül des machthabenden Landesfürsten entsprachen. Schon die Überschrift des Badener Grundrechtskatalog nannte die folgenden Rechte „Zusicherungen“.126 In Bayern „gewährt“ der Staat dem Staatsbürger die „Sicherheit seiner Person, seines Eigentums und seiner Rechte“.127 Als vorstaatliche Freiheiten, die ihren Ursprung im Individuum selbst hatten, wurden die Rechte also nicht anerkannt; vielmehr galten sie als eingeschränkte bürgerliche Rechte, deren Ursache die Güte des Landesfürsten war.128 Hier wirkt auch das frühe deutsche Naturrecht nach, das im Staat nur die von der monarchischen Gemeinwohlbestimmung abhängigen bürgerlichen Freiheiten kannte.129 Außerdem waren die Staatsbürgerrechte – entsprechend der naturrechtlichen Pflichtenlehre – mit sog. Staatsbürgerpflichten synallagmatisch verbunden.130 Dies zeigen schon die Überschriften der Rechtekataloge, in denen von „allgemeinen Rechten und Pflichten“ (Titel IV VU Bayern, Titel III VU Hessen) die Rede war. Neben den Staatsbürgerrechten wurden die Verpflichtungen ausgesprochen, Steuern zu zahlen131 oder am Kriegsdienst teilzunehmen.132 Die Verbindung zwischen Staatsbürgerrechten und -pflichten entsprach der konservativen Vorstellung, die weniger durch individualistische Denkformen geprägt war, sondern von der Einbindung der Freiheit in die staatliche, verpflichtende Ordnung ausging, die mit Pflichten verbunden war.133 Festzuhalten bleibt jedoch, dass diese Pflichten ihrem Umfang nach vergleichsweise gering ausfielen und die Rechte des Staatsbürgers nicht unterliefen. Die Landesfürsten konnten nach dem monarchischen Prinzip durch die einseitig gewährten Grundrechte nicht gebunden werden. Selbst wenn sich ein Monarch nicht an die Grundrechte hielt, stand doch außer Frage, dass er der alleinige Inhaber der Staatsgewalt war, die nicht durch die Verfassung begründet wurde. Nach der ursprünglichen Konzeption des monarchischen Prinzips konnte das Staatsoberhaupt also die konstitutionellen Grundrechte verletzen, ohne dass die vorkonstitutionelle Legitimität seiner Herrschaft gemindert wurde. 126

Abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 172 (173). Vgl. § 8 IV VU Bayern. 128 B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 138. 129 Vgl. dazu oben 3. Kapitel. 130 B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 147 ff. 131 § 13 IV VU Bayern; § 8 VU Baden; § 21 VU Württemberg; Art. 30 VU Hessen. 132 § 12 IV VU Bayern; § 10 VU Baden; § 23 VU Württemberg; Art. 28 VU Hessen. 133 Vgl. O. Depenheuer, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 11, Rdnr. 32 ff.; U. Scheuner, in: FS Huber, S. 139 (144 f.). 127

V. Die verfassungsrechtliche Einbettung der Grundrechte

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2. Der Freiheitsschutz durch die Ständevertretungen Die süddeutschen Verfassungen enthielten Vorschriften über neu zu formierende Ständevertretungen, durch die sie repräsentative Züge gewannen. Zwar erfolgte die Wahl noch überwiegend nach Ständen getrennt134, die Ausübung des Mandats durch die Abgeordneten entsprach aber einer modernen Repräsentativverfassung: Einmal gewählt, galten die Abgeordneten nicht als Vertreter eines bestimmten Standes, sondern des gesamten Volkes. Sie entschieden nach dem eigenen Gewissen und waren keinen Weisungen unterworfen.135 Eine wichtige Aufgabe dieser neuen Volksvertretungen wurde im Schutz der Freiheitsrechte gegenüber der Regierung und dem Monarchen gesehen.136 Die Möglichkeiten dazu waren allerdings begrenzt. a) Mitwirkungsrechte in der Gesetzgebung, Freiheits- und Eigentumsklausel Zunächst ist die so genannte „Freiheits- und Eigentumsklausel“ zu nennen. Danach bedurfte jedes „Gesetz, welches die Freiheit der Person oder das Eigentum des Staats-Angehörigen betrifft“137, der Zustimmung der Stände. Einen Eingriff in diese klassischen Grundrechtspositionen durfte der Monarch also nur vornehmen, wenn er durch Gesetz erfolgte. Zuvor mussten also die frei entscheidenden und die gesamte Bevölkerung vertretenden Abgeordneten die möglichen Grundrechtseingriffe durch den Monarchen in Gesetzesform abgesegnet haben. Insoweit begründeten Freiheit und Eigentum eine unentziehbare Kompetenz der Volksvertretung und setzten den monarchischen Handlungsmöglichkeiten eine neuartige Schranke. In den Verfassungen Württembergs und Hessens war sogar zu jedem Gesetz die Zustimmung der Stände erforderlich.138 Zwar war der Eigentumsschutz schon nach altständischer Tradition eine wichtige Aufgabe der Landstände, diese war jedoch traditionsgemäß auf die eigennützige Wahrung partikularer Rechte beschränkt. Die frühkonstitutionellen, repräsentativen Ständeversammlungen dagegen sollten im Dienst eines allgemeinen Freiheitsschutzes stehen und an der Gesetzgebung beteiligt sein. Die ausdrückliche Normierung dieser Funktion war eine wichtige Neuerung, die das konstitutionelle System mit sich brachte.139 134 § 11 VI VU Bayern; §§ 136 ff. VU Württemberg; Art. 53 VU Hessen; lediglich in Baden erfolgt die Bestellung aller Abgeordneten unabhängig von ihrem Stand über gewählte Wahlmänner, vgl. § 34 VU Baden. 135 § 48 VU Baden; § 155 VU Württemberg; Art. 61 VU Hessen. 136 R. von Mohl, Staatsrecht, S. 445; H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 115 ff.; vgl. auch Th. Würtenberger, Staat 37 (1998), S. 165 (173). 137 § 2 VII VU Bayern; eine ähnliche Formulierung findet sich in § 65 VU Baden. 138 § 88 VU Württemberg; Art. 72 VU Hessen.

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7. Kap.: Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge

b) Mitspracherechte im Finanzwesen Ein wichtiger Grund, weshalb sich die Regenten überhaupt auf eine konstitutionelle Bindung eingelassen hatten, war die Finanzkrise gewesen, die sie mit Unterstützung der Landstände zu bewältigen hofften. Ohne ständische Bewilligung war dem Monarchen jede Erhebung von Steuern grundsätzlich unmöglich.140 An die Steuerbewilligung durften die Stände jedoch keine Bedingungen knüpfen141, so dass sie keine Gegenleistungen vom Monarchen zugunsten eines besseren Grundrechtsschutzes verlangen durften. Auf die Ausgaben des Staates hatten die Stände außerdem einen direkten Einfluss, da das Budget in der Regel ihrer Zustimmung bedurfte.142 Damit blieb dem Parlament die eher defensive Möglichkeit, Grundrechtsverletzungen durch eine Versagung der Steuer- oder Haushaltsbewilligung zu sanktionieren. Allein schon die zeitliche Distanz zwischen Steuerbewilligung und Regierungshandlung machte eine solche Instrumentalisierung des Zustimmungsrechts unmöglich143, zumal dies oftmals eine nicht zu verantwortende Gefährdung des ohnehin schon instabilen Finanzwesens bedeutet hätte. Die Mitspracherechte bezüglich der Staatsfinanzen boten den frühkonstitutionellen Volksvertretungen dennoch eine wichtige Möglichkeit, die Handlungen der Exekutive zu beeinflussen. Durch das allgemeine Budgetrecht konnte die Volksvertretung bereits im frühkonstitutionellen Staat in Einzelfällen eine Abhängigkeit der Regierung bewirken, wie sie für die parlamentarische Staatsform kennzeichnend ist. c) Ministerverantwortlichkeit Es entsprach der ursprünglichen Konzeption des monarchischen Prinzips, dass den Landständen kein direktes Recht zur Bestellung und Abberufung der Minister eingeräumt wurde, sondern dass diese nur vom Regenten eingesetzt werden konnten.144 Daran wurde allerdings kritisiert, dass die Minister Ausdruck des persönlichen Willens des Monarchen waren und nicht vom Parlament getragen wurden.145 Sobald die Minister jedoch ernannt waren, mussten sie sich 139

Dazu ausführlich unten 9. Kapitel, II. § 3 VII VU Bayern; § 53 VU Baden; § 109 VU Württemberg; Art. 67 VU Hessen. 141 § 9 VII VU Bayern; § 56 VU Baden; § 113 VU Württemberg; Art. 68 VU Hessen. 142 § 5 VII VU Bayern; § 54 f. VU Baden; § 112 VU Württemberg. 143 In Bayern mussten die Steuern der ordentlichen Staatsausgaben auf sechs Jahre bewilligt werden, § 5 VII VU Bayern. 144 § 43 VU Württemberg; vgl. auch R. von Mohl, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1846, S. 451 (466 ff.); H. Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz, S. 45. 140

V. Die verfassungsrechtliche Einbettung der Grundrechte

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auch vor dem Parlament verantworten. Entscheidend ist nun, dass Regierungshandlungen des Monarchen der Gegenzeichnung eines Ministers bedurften, um Wirksamkeit zu erlangen.146 Unterzeichnete ein Minister eine grundrechtsverletzende Maßnahme, so konnte das Parlament ihn dafür zur Verantwortung zu ziehen. Die Verfassungen kannten nämlich eine förmliche Anklage von Ministern und Staatsdienern wegen Verfassungsverletzungen.147 Dabei konnte von einem unabhängigen Gericht148 die Entlassung des Ministers oder Staatsdieners bewirkt werden und erste Ansätze einer Verfassungsgerichtsbarkeit traten hervor. Der Ständevertretung wurden durch die Ministeranklage Kontrollmöglichkeiten eröffnet, die bereits parlamentarische Züge trugen.149 Das Recht zur Ministeranklage stand jedoch nicht primär im Dienst der individuellen Freiheit, vielmehr bezweckte es, die Kompetenzen der Landstände zu wahren.150 Es ging darum, die Regierung in eine Beziehung zur Volksvertretung zu setzen und damit ein Gegengewicht zur monarchischen Macht zu bilden. Da nun aber der Freiheitsschutz eine der grundlegenden Aufgaben der Ständevertretung war, konnten Grundrechtsverletzungen zumindest mittelbar über das Institut der Ministeranklage sanktioniert werden. Griff die Regierung ohne Gesetz und somit ohne ständische Zustimmung in Freiheit oder Eigentum der Bürger ein, so konnte der gegenzeichnende Minister seines Amtes enthoben werden. Der Regent blieb – ganz dem monarchischen Prinzip entsprechend – in seiner Person unangetastet. Allerdings erfuhr seine Handlung eine indirekte Kritik und Abstrafung. Außerdem wurden die Regierungsgeschäfte durch Anklage und Entlassung eines Ministers erschwert. Folglich konnten die Landstände einen 145 R. von Mohl, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1846, S. 451 (466 ff.). 146 Ausdrücklich normiert in § 51 VU Württemberg, aber auch in Bayern, Baden und Hessen setzte sich das Prinzip der Gegenzeichnung durch; vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 339; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, S. 105 f. 147 §§ 4, 6 X VU Bayern; §§ 67a–g VU Baden; §§ 51, 195 ff. VU Württemberg; Art. 109 VU Hessen; vgl. auch das Hessische Gesetz über die Verantwortlichkeit der Minister und der obersten Staatsbeamten, abgedruckt in E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 236; vgl. auch H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 168. 148 In Bayern entschied die oberste „Justiz-Stelle“ (§ 6 X), die wie alle anderen Gerichte zwar unter der Oberaufsicht des Königs stand (§ 1 VIII), aber „innerhalb der Grenzen ihrer amtlichen Befugniß unabhängig“ war (§ 3 VIII). In Baden urteilte der Staatsgerichtshof, der sich aus der ersten Kammer, dem Präsidenten des obersten Gerichtshofs und acht weiteren Richtern zusammensetzte, die durch das Los ermittelt wurden (§ 67 b). In Württemberg bestand der Staatsgerichtshof aus zwölf Richtern, von denen die eine Hälfte vom König ernannt und die andere Hälfte von der Ständeversammlung gewählt wurde (§ 196). 149 E.-W. Böckenförde, in: Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, S. 146 (152). 150 Vgl. dazu P. G. Hoffmann, Monarchisches Prinzip und Ministerverantwortlichkeit, S. 66.

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7. Kap.: Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge

Eingriff in Freiheit und Eigentum, den sie nicht zuvor abgesegnet hatten, mit einem für den Monarchen empfindlichen Nachteil sanktionieren. d) Einbringung von Gesetzesvorlagen Die Machtposition des frühkonstitutionellen Monarchen wurde dadurch betont, dass nur diesem das Gesetzesinitiativrecht zustand. Eine ausdrückliche Kompetenz der Stände, für die Sache der Grundrechte aktiv zu werden und freiheitsschützende sowie freiheitsfördernde Gesetze anzustoßen, gab es nicht. Es blieb lediglich die Möglichkeit, den König durch Ausübung des Petitionsrechts um die Einbringung einer Gesetzesvorlage zu bitten.151 In Bayern hatten die Stände ein allgemeines Recht, dem König gegenüber ihre Wünsche bezüglich aller „zu ihrem Wirkungskreis gehörigen Gegenstände“152 vorzubringen, weshalb sie auch direkt um Gesetzesvorlagen bitten konnten. Letztlich blieb das Gesetz aber auch dort von der Gunst des Regenten abhängig, der allerdings eine zu starke Bindung seiner Herrschaftsmacht an die Grundrechte gerade verhindern wollte. Dem entspricht es, dass der formelle Erlass der Gesetze durch die Erteilung des Gesetzesbefehls und durch Ausfertigung und Verkündung die alleinige Kompetenz des Landesfürsten blieb.153 Die Mitwirkungsbefugnisse der Ständeversammlungen an der Legislativen erschöpften sich demgegenüber in beschränkten Zustimmungsrechten. e) Dualismus zwischen Ständevertretung und Monarch Ursprünglich sollten die Landstände entsprechend dem monarchischen Prinzip zwar an der Ausübung der Staatsgewalt, nicht aber an der Inhaberschaft eben dieser beteiligt sein. Sie sollten sich daher auf einer anderen Ebene als der Monarch bewegen, dessen Machtposition unangefochten über der Verfassung stehen sollte.154 Die frühkonstitutionellen Ständevertretungen allerdings sahen sich von Anfang an auf ein und derselben Stufe mit dem Monarchen und verstanden sich als Gegenpol zu diesem. Sie „hielten die Opposition für ihre natur151 § 67 VU Baden; § 172 VU Württemberg; Art. 76 VU Hessen; H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 161; H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. II, S. 114; vgl. auch H. O. Meisner, Die Lehre vom monarchischen Prinzip im Zeitalter der Restauration und des Deutschen Bundes, S. 265 ff.; R. Grawert, in: Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung, Der Staat, Beiheft 7 (1984), S. 113 (122); E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 347. 152 § 19 VII VU Bayern. 153 Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 347; H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. II, S. 125. 154 F. J. Stahl, Philosophie des Rechts, Bd. 2, 2. Abtheilung, S. 321 ff.; vgl. H. Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz, S. 44.

V. Die verfassungsrechtliche Einbettung der Grundrechte

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gemäße Stellung“155, auch wenn sie nach der zugrunde liegenden Verfassung nicht an der Inhaberschaft der Staatsgewalt teilhaben sollten. Zurückzuführen ist dieses Selbstverständnis nicht zuletzt auf die neuartige Legitimation der Parlamente: Sie wurden gewählt und somit in einen direkten Bezug zur Bevölkerung gesetzt. Deshalb leiteten sie ihre Befugnisse nicht deriativ vom Monarchen ab, sondern sie wurzelten in dem durch Wahlen artikulierten Vertrauen und Willen des Volkes. Folglich kannten die frühkonstitutionellen Verfassungen schon eine demokratische Legitimation, die aber möglichst zurückgedrängt und lediglich zur Ausübung der Staatsgewalt berechtigen sollte. Das demokratische Prinzip sollte somit im monarchischen Prinzip seine klare Grenze finden. Mit diesem war es vereinbar, solange es sich nicht auf die Inhaberschaft der Staatsgewalt bezog.156 In der Staatsrechtslehre wurde aber das demokratische Prinzip nach und nach als herrschaftsbegründende Legitimation anerkannt. Nach Rotteck war der sog. Gesamtwille „oberste und allein mit unbedingter Rechtskraft waltende Macht.“157 Folglich konnte es nicht mehr der Monarch allein sein, der die Staatsgewalt innehatte. Hier lag ein entscheidender Widerspruch der frühkonstitutionellen Verfassungen verborgen: Obwohl die Einheit der Staatsgewalt beim Landesfürsten durch das monarchische Prinzip fingiert wurde, kannten die Verfassungen selbst zwei unterschiedliche Quellen für die Herrschaftsgewalt: Neben die monarchische Abstammung trat die Legitimation durch Wahlen, in denen sich der Volkswille ausdrückte. Die Ständevertretungen wurden somit zur Nahtstelle zwischen Staat und Gesellschaft.158 Faktisch wurden sie mit ihrer demokratischen Legitimation zum Gegenpol der monarchischen Macht, wodurch die konstitutionelle Monarchie ihren dualistischen Charakter erhielt.159 Die konservative Auffassung vom monarchischen Prinzip in einer monistischen Staatsstruktur verlor dadurch an Überzeugungskraft. Trotz des dualistischen Charakters war man in der frühkonstitutionellen Monarchie von einem parlamentarischen Freiheitsschutz im modernen Sinne weit entfernt: Weder war der Regent der Ständeversammlung grundsätzlich verantwortlich, noch konnten diese aktiv gestaltend auf eine Umsetzung und Absicherung des Grundrechtskataloges hinarbeiten. Es war allein der Monarch, der allen Staatshandlungen die entscheidende Richtung gab und maßgeblichen Einfluss ausübte. Die Ständevertretung übte demgegenüber eine eher abwehrende Funktion aus und versuchte, aus der Defensive unzulässige Verletzungen von Freiheit und Eigentum zu verhindern. 155

O. Hintze, in: Staat und Verfassung, S. 359 (367). Vgl. H. Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, S. 18 ff. 157 Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, Bd. 2, S. 103; vgl. auch C. von Rotteck, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. III (Constitution), S. 762. 158 B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 132. 159 Vgl. auch R. von Mohl, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1846, S. 451 (465). 156

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7. Kap.: Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge

3. Historische Kontinuität, Mischzustand feudaler Vorrechte und allgemeiner Staatsbürgerrechte Die historische Kontinuität und das Fehlen eines revolutionären Bruches führten dazu, dass auch die frühkonstitutionellen Repräsentativverfassungen Elemente enthielten, die zur altständischen Feudalordnung in einer Traditionslinie standen.160 Dies offenbarte schon die Zusammensetzung der frühkonstitutionellen Ständevertretungen.161 Dem Adel kam eine bevorzugte Stellung zu, die ihre Wurzeln schon in der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung hatte. Die restaurative Lehre vom monarchischen Prinzip hielt an den wohlerworbenen Rechten fest. Diese galten lediglich als Ausfluss der monarchischen Macht, die der Monarch vereinzelt „weitergegeben hatte“. Anders als die allgemeinen Grundrechte sollten die wohlerworbenen Rechte sich „nicht ihrer Natur, sondern nur dem Grade nach“162 von den Rechten des Landesfürsten unterscheiden. In den frühkonstitutionellen Verfassungen waren die übrig gebliebenen Vorrechte aber gleichzeitig auch eine Art „Abfindung“163 seitens des Monarchen, der die politischen Rechte des Adels nicht unerheblich beschnitten hatte. Auch die Aufhebung der wohlerworbenen und altständischen Rechte fand nur dann statt, wenn sie den Machtinteressen des Monarchen entsprach. Daher bestand das vorkonstitutionelle Recht mit all seinen Standesunterschieden und Privilegien zunächst fort und die allgemeinen Grundrechte wurden durch die wohlerworbenen Rechte überlagert.164 Der Schutz bestimmter Freiheitsrechte wurde daher nicht nur als neue Errungenschaft aufgefasst. Er wurde von den Vertretern eines „organischen Liberalismus“ in einer Traditionslinie mit historischen und ständischen Freiheitsrechten gesehen.165 Um sich von der vernunftgetragenen und zweckhaften Staatsvorstellung der Französischen Revolution zu distanzieren, wurde der Staat als lebendiger Organismus gesehen, der im geistig-religiösen und kulturellen Lebenszusammenhang verwurzelt sein sollte.166 Anders als im revolutionären Frankreich wurde die Freiheit daher nicht zum Ausgangspunkt des neu zu organisierenden 160 H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 137; vgl. auch E.-W. Böckenförde, in: Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, S. 146 (154); H. Brandt, in: Birtsch, Grund- und Menschenrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 460 (463). 161 Vgl. dazu unten 8. Kapitel, I. 3. b); H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 140. 162 C. L. Haller, Restauration der Staatswissenschaften, Bd. 2, S. 417. 163 H. Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz, S. 41. 164 Vgl. auch F. Schmitthenner, Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts, S. 561. 165 Vgl. dazu Th. Würtenberger, Staat 37 (1998), S. 165 (177); M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, S. 176 ff. 166 E.-W. Böckenförde, in: Recht, Staat, Freiheit, S. 263 (268 f.).

V. Die verfassungsrechtliche Einbettung der Grundrechte

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staatlichen Zusammenlebens. Stattdessen bestand die bisherige Ordnung fort. Die Freiheit des Einzelnen konnte sich daher nicht im revolutionären Sinne gegen die Ordnung durchsetzen, sondern im konservativen Sinne als „wahre“ Freiheit in der staatlichen Ordnung beruhen.167 Es liegt der Schluss nahe, dass durch den Fortbestand von Elementen der altständischen Ordnung eine gewisse Rechtsstaatlichkeit in den Frühkonstitutionalismus transportiert wurde. Von restaurativer Seite wurde immer wieder der Vorteil betont, den Monarchen mit historischen Rechten in seine Schranken zu weisen. Auch der Einfluss der Stände auf das Preußische Allgemeine Landrecht hatte Rechtsschutzmöglichkeiten herbeigeführt. In der Rheinbundzeit dagegen wurde die Gefahr offenbar, dass mit den ständischen Vorrechten auch die Einfriedung der monarchischen Macht und die rechtstaatlichen Elemente verloren gingen. Im Frühkonstitutionalismus ist die Situation jedoch anders: Die Verfassungen enthielten Beschwerde- und Klagemöglichkeiten, in denen die Stände eine besondere Funktion übernahmen.168 Dabei wurde keineswegs an das historische Ständeverständnis angeknüpft, sondern die Rechtsschutzmöglichkeiten meinten die in der Verfassung normierte Ständeversammlung. Diese hätte ihre rechtsschützende Funktion genauso gut wahrnehmen können, wenn sie in ihrer Zusammensetzung nicht durch ständische Vorrechte geprägt gewesen wäre. Der entscheidende Unterschied zur Rheinbundzeit bestand darin, dass es sich eben nicht um einen Scheinkonstitutionalismus handelte. Da die Verfassungen in der Lage waren, die Herrschaftsmacht des Regenten zugunsten einer gewissen Rechtsstaatlichkeit einzuschränken, bedurfte es der altständischen Ordnung dazu nicht mehr. Diese hatte nur einen partikularen Schutz einzelner Rechte bewirkt, während die neuen Repräsentativverfassungen auf eine durchgehende Grenze gegenüber dem Regenten angelegt waren – eine Grenze, die innergesellschaftlich durch den Fortbestand der feudalen Rechte unterbrochen wurde. Erst, wenn die altständischen Schutzmechanismen abstrahiert und auf den allgemeinen Freiheitsbegriff ausgedehnt wurden, wirkten sie sich zugunsten der Grundrechtsentwicklung aus. Insgesamt stellen die frühkonstitutionellen Verfassungen einen Kompromiss zwischen altständischer, aristokratischer Tradition und modernem Liberalismus unter dem Dach des monarchischen Prinzips dar, wobei die uneingeschränkte Souveränität des Monarchen an und für sich weder mit dem einen noch mit dem anderen vereinbar war.

167

O. Depenheuer, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 11, Rdnr.

29 ff. 168

Vgl. dazu ausführlich unten 8. Kapitel, II. 3. b).

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7. Kap.: Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge

4. Instabilität der Grundrechtsbarrieren und Unvereinbarkeit mit dem liberalen Staatsbild Die vom Monarchen einseitig gewährten Grundrechte waren so in die Verfassungen eingebettet worden, dass sie auf zwei Barrieren prallten: Neben ihnen bestanden Feudalrechte und Privilegien fort und über ihnen stand das monarchische Prinzip, das den Monarchen auf eine andere Ebene hob und seine Bindung an die Grundrechte relativierte bzw. ganz aufhob. Beide Barrieren waren keineswegs unüberwindbar: Dem monarchischen Prinzip fehlte es zu Beginn des 19. Jahrhunderts an einer tieferen theoretischen Grundlage. Das Gottesgnadentum war schon durch die französischen Geschehnisse des Jahres 1789 erschüttert und durch das Ende der religiös sakralen Weltordnung zur Zeit der Entstehung des modernen Staates überholt worden.169 Die Vereinigung der gesamten Staatsgewalt in den Händen des Monarchen musste wie eine künstliche Fiktion wirken, zumal die Verfassungen selbst durch die Wahl der Ständevertretungen eine andere Quelle von staatlicher Gewalt faktisch anerkannten. Die Parlamente waren in den frühkonstitutionellen Verfassungen mit einer Machtposition ausgestattet worden, die einen alleinigen Herrschaftsanspruch des Souveräns nicht zuließ. Es war eine Illusion, dass die Volksvertretung eine wirksame Schranke gegen den Missbrauch der Staatsgewalt zum Schutze der Grundrechte sein konnte, ohne an der Staatsgewalt teilzuhaben.170 Außerdem stellt sich die Frage, warum der Monarch, wenn er entsprechend dem monarchischem Prinzip alleiniger Inhaber der Staatsgewalt sein sollte, die Verfassung nicht einseitig abändern oder aufheben konnte.171 Die den Volksvertretungen übertragenen, die Ausübung der Staatsgewalt betreffenden Befugnisse konnten vom Monarchen nicht zurückgefordert werden. Folglich war es praktisch unerheblich, dass er alleiniger Inhaber der Staatsgewalt sein sollte, denn es war ihm trotzdem nicht möglich, sich aus der verfassungsrechtlichen Bindung zu lösen. Das künstliche Konstrukt des monarchischen Prinzips war deshalb auch in der Staatsrechtslehre keineswegs eindeutig. Als „Leerformel“ war es für abgewandelte Auslegungen offen.172 169 O. Brunner, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 115 (133); F. Hartung, in: Hofmann, ebd., S. 162 (170 f.); E.-W. Böckenförde, in: Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, S. 146 (159); vgl. auch D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 115. 170 Ausdrücklich formuliert bei H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 132 ff. 171 Vgl. § 7 X VU Bayern; § 64 VU Baden; § 176 VU Württemberg; Art. 110 VU Hessen; E.-W. Böckenförde, in: Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, S. 146 (155); E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 348; H. O. Meisner, Die Lehre vom monarchischen Prinzip im Zeitalter der Restauration und des Deutschen Bundes, S. 209; F.-J. Peine, Staat 22 (1983), S. 521 (542); vgl. zum Konflikt um die einseitige Aufhebung der hannoverschen Verfassung E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 92 f.

V. Die verfassungsrechtliche Einbettung der Grundrechte

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Mit der liberalen Staatsrechtslehre war die Vorstellung vom monarchischen Prinzip nicht vereinbar und sie begann, an dieser Grundrechtsbarriere zu rütteln. Der Liberalismus stellte auf die im Naturrecht hergeleitete Freiheit des Menschen ab und machte ihre Wahrung und Förderung zum Ausgangspunkt für alle gesellschaftlichen Formierungen.173 Deshalb wurde die monarchische Macht restriktiv gedeutet und die konstitutionelle Bindung stärker hervorgehoben. Es wurde der Kompromisscharakter der Verfassungen als Ausdruck des Zusammenwirkens aller im Staat organisierten Kräfte betont.174 Die Verfassungen wurden trotz ihrer einseitigen Gewährung immer mehr als vertragliche Vereinbarungen zwischen Monarch und Volk verstanden, wobei die vertragliche Bindung die Macht des Monarchen minderte.175 Carl von Rotteck reduziert die „bis zum Überdruß wiederholten, Phrasen von dem sogenannten monarchischen Prinzip“ auf einen bloßen „Wortstreit“. Denn obwohl die Einheit der Staatsgewalt beim Monarchen betont werde, ordneten die Verfassungen durch die Teilnahmerechte der Stände eine Teilung an. „Nach dem Princip der Repräsentativverfassung theilen sich König und Landtag in die allgemeine Staatsgewalt und derselben Zweige, d. h. sie üben dieselben theils ausschließlich theils gemeinschaftlich, nach der durch die Verfassung dafür gezeichneten Norm und Begrenzung aus.“176 Somit wurde nicht nur die Ausübung, sondern auch die Inhaberschaft der staatlichen Gewalt als durch die Verfassung bedingt angesehen. Der Monarch sollte in allen wichtigen Fragen „an die Verfassung, an die Stimme dieses Volkes und seiner Vertreter gebunden sein.“ Denn darin wurde „das Wesen wahrer constitutioneller Freiheit und wahrer constitutioneller Monarchie“ gesehen.177 Nach Zachariä waren in „der konstitutionellen Monarchie die Einherrschaft (des Monarchen) und die Volksherrschaft miteinander gepaart“178. Neben das monarchische sollte daher das demokratische Prinzip treten. Welches Prinzip herrschend sein sollte, hing dabei von der Auffassung des Volkes ab. Denn der Monarch und seine Minister sollten „mit dem Volke und in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung regieren“179. 172 So H. Boldt, in: Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte, Der Staat, Beiheft 10 (1993), S. 151 (155); vgl. auch S. Korioth, Staat 37 (1998), S. 27 (29); auf die fehlende „deutliche und vollständige Erörterung, was unter dem monarchischen Prinzip zu verstehen sei“, weist sogar F. J. Stahl, Philosophie des Rechts, Bd. 2, 2. Abtheilung, S. 321 hin. 173 Vgl. E. Schmidt-Jortzig, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 10, Rdnr. 2 ff. 174 Vgl. C. Gusy, Richterliches Prüfungsrecht, S. 52. 175 Vgl. U. Scheuner, in: Bosl, Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlage in der ständischen Repräsentation, S. 297 (328). 176 Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, Bd. 2, S. 244. 177 Beck, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. XIV (Staatsanstalten, Staatsorganisation), S. 680. 178 K. S. Zachariä, Vierzig Bücher vom Staate, Bd. III, abgedruckt in: H. Brandt (Hrsg.), Restauration und Frühliberalismus, S. 343.

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7. Kap.: Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge

Interessant ist, dass die theoretische Vorarbeit für die Teilung zwischen dem demokratischen und monarchischem Prinzip gerade von den Anhängern des restaurativen Staatsbildes geleistet wurde. So zeigte schon Gentz in seiner präzisen Gegenüberstellung „Ueber den Unterschied zwischen den landständischen und Repräsentativ-Verfassungen“ deutlich auf, dass in der von ihm abgelehnten Repräsentativverfassung die Staatsgewalt „zerspalten, . . . zerstückelt und gebrochen“ sei.180 Damit lieferte er ein Argument, das von der liberalen Staatsrechtslehre nur noch aufgegriffen und gerade als Vorteil der frühkonstitutionellen Verfassungen formuliert werden musste. Gleiches gilt für Stahl, dessen Beschreibung des gegenüber dem monarchischen Prinzip abzulehnenden parlamentarischen Prinzip eine solche Qualität aufwies, dass es sich isoliert betrachtet als hervorragende theoretische Grundlage der Anhänger des Parlamentarismus eignete.181 Die frühkonstitutionellen Verfassungen konnten auch so interpretiert werden, dass die Macht des Monarchen keineswegs uneingeschränkt war und dass die Grundrechte auch für ihn bindend sein sollten. Diese liberale Deutung der frühkonstitutionellen Verfassungen stimmte zwar nicht mehr mit dem Zweck des monarchischen Prinzips überein, konnte sich aber dennoch auf Bestimmungen der Verfassung selbst berufen, die das monarchische Prinzip in Frage stellten und ihm im Kern widersprachen. Letztlich war damit schon in den frühkonstitutionellen Verfassungen selbst eine Instabilität begründet. Bei dem Versuch, die Widersprüche der frühkonstitutionellen Verfassung nach Zachariä entsprechend der öffentlichen Meinung und dem Volkswillen aufzulösen, musste das monarchische Prinzip gegenüber dem demokratischen zurücktreten. Deshalb wird der Konstitutionalismus oftmals nur als Übergangsstadium von der Monarchie zum modernen Parlamentarismus gesehen.182 Neben den Staatsbürgerrechten gab es die fortbestehenden Privilegien und Feudalrechte, die ihre gesellschaftsverändernde Kraft hemmten und ihre allgemeine Geltung behinderten. Die altständische Ordnung mit ihren partikularen, historischen Freiheiten war aber überkommen. Sie konnte nicht mehr damit begründet werden, für eine Rechtsstaatlichkeit erforderlich zu sein, wurde diese Aufgabe doch schon von den Repräsentativverfassungen selbst viel besser über-

179 K. S. Zachariä, Vierzig Bücher vom Staate, Bd. III, abgedruckt in: H. Brandt (Hrsg.), Restauration und Frühliberalismus, S. 344. 180 Abgedruckt bei J. L. Klüber (Hrsg.), Wichtige Urkunden, S. 213 (S. 218). 181 W. Füßl, Friedrich Julius Stahl, S. 49. 182 E.-W. Böckenförde, in: Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, S. 146 ff.; vgl. dazu U. Scheuner, in: Bosl, Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlage in der ständischen Repräsentation, S. 297 (302) m. w. N.; W. Heun, in: FS Rauschning, S. 41 (52 ff.); O. Brunner, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 115 (133 ff.); a. A. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 9 ff.; dazu unten 9. Kapitel, VI.

VI. Zusammenfassung

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nommen. Die mit ihr verbundenen Vorrechte wurden als „widerspänstige Ruinen des frühern in seinem Wesen verlassenen Zustandes“ kritisiert.183 Damit waren beide Barrieren, die sich den Grundrechten stellten, weder fest noch unüberwindbar, sondern instabil. Deshalb war es an der Ständevertretung, sich für die Entfaltung der Grundrechte einzusetzen. Deren defensive Stellung mit eher abwehrenden Kompetenzen ließ aber keine sofortige Überwindung zu, vielmehr konnte sie nur auf eine langsame Zurückdrängung der Barrieren hinwirken.

VI. Zusammenfassung 1. Die frühkonstitutionellen Verfassungen knüpften an das moderne Gesellschaftsverständnis an, auch wenn aufgrund der historischen Kontinuität althergebrachte Rechte fortbestanden. Ähnlich wie im aufgeklärten Absolutismus Preußens wurde im Rheinbund die Gesellschaft aus den Schranken der überkommenen Ständeordnung entlassen. Der Gesellschaftswandel vollzog sich jedoch schneller, was nicht allein auf die Aufhebung der Vorrechte und Privilegien durch die Rheinbundverfassungen, sondern vielmehr auf die konsequente Umsetzung durch das einfache Gesetz zurückzuführen ist. Später wurden in der Deutschen Bundesakte mit den Bundesgrundrechten gerade die ständischen Rechtspositionen geschützt, die durch die Rheinbundverfassungen zuvor aufgehoben worden waren. Die frühkonstitutionellen Repräsentativverfassungen Süddeutschlands knüpften aber an das moderne Gesellschaftsverständnis des Rheinbundes an. Aufgrund der historischen Kontinuität und der Vorgaben des Bundes kam es somit zu einem widersprüchlichen Mischzustand adeliger Vorrechte und allgemeiner Staatsbürgerrechte, dessen Auflösung zugunsten der Letzteren jedoch möglich erschien. 2. Der Deutsche Bund überließ die Einführung der geforderten Verfassung mit Freiheitsrechten den einzelnen Mitgliedstaaten, wobei jedoch der Bundeszweck aus Art. 2 DBA einzuhalten war. Mit Art. 13 DBA überließ der durch Interessengegensätze geprägte Deutsche Bund die Umsetzung der gesellschaftlichen Verfassungs- und Freiheitsforderung den Einzelstaaten. Dabei war das Ziel der restaurativen Großmächte, dass – wenn auch nicht im eigenen Land, so doch zumindest in den Rheinbundstaaten – in der Verfassung die ständische Ordnung wiederbelebt wurde. Um aber eine weitere Parlamentarisierung und Demokratisierung unter völliger Preisgabe der Monarchie zu verhindern, wurden unter Verkündung des monarchischen Prinzips auch die süddeutschen Repräsentativverfassungen anerkannt. Verbindliche Vorgaben wurden an die Landesverfassungen insoweit gemacht, als dass diese 183

R. von Mohl, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1846, S. 451 (475).

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7. Kap.: Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge

die äußere und innere Sicherheit Deutschlands nicht verletzen durften. Die Auslegung dieser Pflicht sollte künftig durch die innerhalb des Deutschen Bundes herrschende restaurative Auffassung geprägt sein. 3. Die frühkonstitutionellen Verfassungen wurden durch die Landesfürsten veranlasst, die aus machtpolitischen Motiven eine konstitutionelle Bindung in Kauf nehmen mussten. Im Wesentlichen beruhten die frühkonstitutionellen Verfassungen auf den Entscheidungen der Landesfürsten, deren entscheidendes Ziel die weitestgehende Absicherung ihrer Souveränität im eigenen Land und innerhalb des Deutschen Bundes war. Anders als im Rheinbund reichte dazu ein nur scheinbarer Konstitutionalismus nicht mehr aus und sie ließen sich auf eine konstitutionelle Bindung ein. 4. Schon in den frühkonstitutionellen Verfassungen selbst war ein Widerspruch zwischen monarchischem und demokratischem Prinzip angelegt, der vor allem an den Staatsbürgerrechten offenbar wurde. Auch wenn die verfassungsrechtliche Verkündung der Staatsbürgerrechte durch die Interessen und Motive des Landesfürsten veranlasst war, waren sie nach ihrer Verkündigung der alleinigen Disposition den Landesfürsten entzogen. Denn innerhalb der Verfassung standen sich mit den Landesfürsten und den Ständeversammlungen das monarchische und demokratische Prinzip gegenüber. Die Staatsbürgerrechte, zu deren Schutz die Ständevertretungen defensive Kompetenzen besaßen, wurden damit zum Angelpunkt, an dem sich der mit dem Dualismus innerhalb der frühkonstitutionellen Verfassungen verbundene Machtkampf entzünden konnte.

VII. Bewertung der unterschiedlichen Entstehungsvoraussetzungen Es sind verschiedene Linien zu erkennen, die sich durch die Entstehungsgeschichte der frühkonstitutionellen Grundrechte ziehen: Die ideengeschichtlichen Grundlagen des Staats- und Naturrechts, die internationalen Vorbilder, die gesellschaftlichen Einflüsse sowie die verfassungsrechtliche Einbettung der sog. Staatsbürgerrechte, die vom monarchischen Prinzip und der historischen Kontinuität eingezwängt waren. Diese Linien führten nicht immer zum inhaltlich gleichen Ziel, sie verfolgten unterschiedliche Absichten und beruhten auf unterschiedlichen Begründungsansätzen, insgesamt wirkten sie sich jedoch alle zugunsten der Freiheitsentwicklung aus. Erst das Zusammenwirken dieser Linien vermag die Entstehung der Grundrechte vollständig zu erklären. Neben diese Linien tritt ein grundlegender Faktor, der oftmals den entscheidenden Impuls zugunsten einer freiheitsfördernden Veränderung und für den Umfang der Freiheitsrechte gab: das politische Interesse der Machthabenden.

VII. Bewertung der unterschiedlichen Entstehungsvoraussetzungen

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Deutlich wird das schon an der ersten positivierten Menschenrechtserklärung, der Virginia Bill of Rights, deren Entstehung und inhaltliche Ausgestaltung durch die handfesten wirtschaftlichen Interessen der nordamerikanischen Siedler motiviert waren. Dass sie aus den verschiedenen naturrechtlichen Theorien, die sie alle vom Kontinent importiert hatten, Locke aussuchten, ist nicht auf eine tiefgehende Überzeugung, sondern auf den wirtschaftlichen Eigennutz zurückzuführen. In Deutschland war der politische Eigennutz des Landesfürsten maßgebend und führte in Preußen nicht nur zur Zurückdrängung der dem allgemeinem Freiheitsverständnis widersprechenden Feudalrechten und Privilegien, sondern auch zur einfachgesetzlichen Kodifizierung erster allgemeiner Freiheitsrechte. Hinter dem Spagat zwischen einer Freiheitsgewährung einerseits, die für die wirtschaftliche Entwicklung des Staates und die Befriedigung der Bürger günstig schien, und der unangetasteten Souveränität des Herrschers andrerseits stand ein rationales Machtkalkül. Erst dieses Machtkalkül bewirkte, dass die Theorie vom aufgeklärten Absolutismus zur Regierungsphilosophie wurde. Im Frühkonstitutionalismus erwies es sich für die Machterhaltung des Herrschers als unumgänglich, sich auf eine konstitutionelle Bindung einzulassen. Damit war zwar eine Machteinschränkung verbunden, diese sollte aber unter der Fiktion des monarchischen Prinzips möglichst gering gehalten werden und wurde augrund des langfristigen Ziels der Souveränitätsabsicherung als geringeres Übel in Kauf genommen. Die Eingrenzung der monarchischen Macht war gleichzeitig Ausdruck des altständischen Freiheitsdenkens. Dieses betonte zwar einerseits den Grenzcharakter gegenüber dem Monarchen, andrerseits war es auf partikulare Freiheiten beschränkt, die die Entwicklung allgemeiner Menschenrechte aufhielten. Die große Bedeutung der politischen Machtinteressen relativiert den Einfluss des Naturrechts auf die Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechte. Das Natur- und Staatsrecht zeigte lediglich verschiedene Möglichkeiten, wie die Freiheitsrechte ausgestaltet sein konnten. Welche dieser Möglichkeiten in der verfassungsrechtlichen Realität umgesetzt werden sollten, war abhängig von der Entscheidung derjenigen, die die staatliche Macht für sich in Anspruch nehmen konnten. Deshalb können die begrenzten Wirkungsmöglichkeiten der frühkonstitutionellen Grundrechte nicht allein auf den eingeschränkten Freiheitsbegriff des frühen deutschen Naturrechts der Neuzeit zurückgeführt werden.184 Zur Zeit der Entstehung der Verfassungen waren modernere Theorien in Deutschland durchaus bekannt und auch im deutschen Staats- und Naturrecht wurde ein demokratisches Freiheitsverständnis diskutiert.185 Hätten diese Theorien in 184

Nachweise dazu oben 3. Kapitel, Fn. 119. Deutlich wird der westliche Einfluss vor allem bei J. A. Bergk, Untersuchungen aus dem Natur-, Staats- und Völkerrechte; vgl. auch G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 87; zum Bekanntheitsgrad Lockes W. Euchner, Zwei Abhandlungen über die Regierung, Einleitung, S. 11. 185

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7. Kap.: Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge

Deutschland nicht in einem Widerspruch zum Machterhaltungsinteresse der Herrschenden gestanden, so hätten sie – genau wie in Nordamerika – durchaus eine größere Bedeutung für die Realität gewinnen können. Von den internationalen Einflüssen war es vor allem die politische Stoßkraft der Französischen Revolution, die eine herausragende Bedeutung für die Freiheitsentwicklung in Deutschland gewann. In Vereinigung mit der naturrechtlichen und gesellschaftlichen Entwicklungslinie bewirkte sie eine verdichtete Freiheitsforderung. Das Freiheitspostulat wurde dadurch so stark, dass es das Machtinteresse der Landesfürsten beeinflussen konnte: Um seine Macht zu erhalten, musste er ihm entgegenkommen. Kennzeichnend für den gesellschaftlichen Einfluss auf die Grundrechtsentwicklung war, dass mit der Entwicklung des Bürgertums eine wirtschaftliche Macht entstand, die sich neben die politische Macht des auf sie angewiesenen Landesfürsten stellte. Dass wirtschaftliche Freiheiten zur Befriedung des Bürgertums gewährt wurden, war daher durch den machterhaltenden Eigennutz des Landesfürsten einerseits und durch die politischen Interessen der an Macht gewinnenden Bürger andrerseits begründet. Die Entwicklung einer gesellschaftlichen Macht in Form des Bürgertums bewirkte, dass die Impulse zugunsten einer Grundrechtsentwicklung nicht mehr allein vom Monarchen ausgingen. Allerdings sah es die verfassungsrechtliche Situation im Absolutismus noch vor, dass allein der Monarch über die Freiheitsrechte bestimmte – was dem Interesse des Bürgertums widersprach. Deshalb entwickelte nun das Natur- und Staatsrecht seine eigentliche Bedeutung: Bereits am Ende des 18. Jahrhunderts musste das Naturrecht bisweilen als Ersatzverfassung herhalten und die gesellschaftlichen Forderungen nähren. Hier ist nun der Zusammenhang zur vierten Entstehungsbedingung, der verfassungsrechtlichen Einbettung der Grund- bzw. Freiheitsrechte zu sehen. Die Idee der allgemeinen Menschenrechte stieß in Deutschland auf eine verfassungsrechtliche Situation, in der unmöglich die Freiheit selbst zum Ausgangspunkt gemacht werden konnte. Die allgemeinen Freiheitsrechte mussten der Macht weichen, die sowohl im aufgeklärten Absolutismus Preußens als auch später in den frühkonstitutionellen Verfassungen durch das monarchische Prinzip dem Monarchen zugewiesen war. Allerdings war diese verfassungsrechtliche Machtverteilung keineswegs statisch. Schon bei der Entstehung der frühkonstitutionellen Verfassungen wurde dem Monarchen eine konstitutionelle Bindung abgerungen, deren souveränitätseinschränkende Wirkung allerdings zunächst geleugnet wurde. Die liberale Staatstheorie und das neue Selbstverständnis der Gesellschaft führten jedoch dazu, dass der Monarch letztlich nicht mehr als alleinige Quelle der Staatsgewalt gesehen werden konnte. Dadurch war auch der Schutz der Freiheitsrechte nicht mehr von ihm allein abhängig und konnte im dualistischen Machtkampf zwischen Monarch und Ständevertretung nur verbessert werden.

VII. Bewertung der unterschiedlichen Entstehungsvoraussetzungen

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Insgesamt wird deutlich, dass sich die herausgearbeiteten Einflüsse der Grundrechtsentwicklung einerseits gegenseitig bedingten und vorantrieben. Andrerseits waren die inhaltlichen Vorstellungen der Entwicklungslinien unterschiedlich und manchmal sogar gegensätzlich. Die gesellschaftlichen Freiheitsforderungen entwickelten sich oftmals nicht bis zu den allgemeinen, angeborenen Menschenrechten, die das Staats- und Naturrecht am Ende des 18. Jahrhunderts forderte und der Entwicklungsprozess der Grundrechte blieb auf Kompromissstufen stehen. Nur so lässt sich der fehlende Universalismus der nordamerikanischen Menschenrechtserklärung, die Relativität politischer Mitwirkungsrechte im revolutionären Frankreich und im Frühkonstitutionalismus sowie die Überlagerung durch feudale Elemente erklären. Festzuhalten bleibt, dass auch Grundrechtsfragen letztlich Machtfragen waren. Den entscheidenden Ausschlag über die konkrete Ausgestaltung der Grundund Freiheitsrechte gaben jeweils diejenigen, die die Macht inne hatten – sei es staatliche Macht, die auf dem Gottesgnadentum oder einer Verfassung beruhte oder gesellschaftliche Macht, deren Quelle nicht zuletzt in der Wirtschaftskraft lag.

Teil 2

Die unterschiedlichen Grundrechte und ihre Funktion 8. Kapitel

Die frühkonstitutionellen Grundrechte Die Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechte war durch verschiedene Einflüsse bedingt, die von Freiheitsrecht zu Freiheitsrecht variierten: Während die Gewissensfreiheit schon im aufgeklärten Absolutismus ihre Wurzeln hatte, hatten politische Rechte keine Tradition und die einzelnen Grundrechte litten unterschiedlich stark unter der historischen Kontinuität sowie der ständischen Überlagerung. Deshalb sollen nun die verschiedenen Grundrechte, die in den frühkonstitutionellen Verfassungen gewährt wurden, Gegenstand der Untersuchung sein. Dabei muss dem grundsätzlichen Aussagegehalt der verfassungsrechtlichen Rechtsverbürgungen die tatsächliche Geltungskraft gegenübergestellt werden, die schon aufgrund der Entstehungsbedingungen eingeschränkt sein musste. Erst die Durchsetzbarkeit und der Schutz der Grundrechte in der Verfassungswirklichkeit zeigen, welcher Freiheitsgewinn für das Individuum in der Realität mit den Grundrechten verbunden war. Gleichzeitig ist aber auch die zukunftsweisende Funktion der Grundrechte zu sehen, welche zur vollen Entfaltung nicht im konstitutionellen, sondern erst im parlamentarischen System kommen konnten. Dadurch wohnte den Grundrechten eine indirekte Stellungnahme für eine weitergehende Konstitutionalisierung inne. Sie gingen über ihre Zeit hinaus und gewannen an politischer Brisanz.

I. Die staatsbürgerliche Gleichheit Damit die sog. Staatsbürgerrechte der frühkonstitutionellen Verfassungen die gewünschte Integrationswirkung entfalten und das Volk zu einem gemeinschaftlich verbundenen Untertanenverband zusammenschweißen konnten, mussten sie für alle Untertanen gleichermaßen gelten. Zunächst waren deshalb die Voraussetzungen, die an die Staatsbürgereigenschaft geknüpft wurden, für jeden Einwohner des Landes dieselben.1 Doch auch die Rechte und Pflichten, die mit dem Status des Staatsbürgers einhergingen, mussten zumindest prinzipiell gleich sein.2

I. Die staatsbürgerliche Gleichheit

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1. Entstehungsbedingungen Im Vergleich zur französischen Déclaration von 1789 erfolgte durch den frühkonstitutionellen Gleichheitsgrundsatz allerdings kein revolutionärer Bruch und keine völlige Einstampfung der altständischen Ordnung. Aus rechtshistorisch-formengeschichtlicher Perspektive scheint daher eher die Charte Constitutionnelle von 18143 Pate für den Gleichheitsgrundsatz in den frühkonstitutionellen Verfassungen gestanden zu haben. Denn trotz des in § 1 dieser französischen Verfassung normierten Gleichheitssatzes blieben genau wie in Süddeutschland ständische Elemente erhalten. Letztlich war es der Selbsterhaltungstrieb der Monarchie, in dem die Distanz zum radikalen Gleichheitssatz der Französischen Revolution begründet war. Zwar bewirkte die Menschenrechtserklärung von 1789, dass auch in Deutschland erstmals konkrete Rechtsforderungen aus dem naturrechtlichen Gleichheitsprinzip abgeleitet wurden.4 Abschreckende Wirkung5 hatte jedoch die Jakobinerherrschaft gehabt, die den Gleichheitssatz ins Zentrum der Verfassung rückte und auf einen Ausgleich der sozialen Positionen abzielte – ein Ansatz, von dem sich später Frankreich selbst in der Charte Constitutionnelle deutlich distanzierte: Es beschränkte sich auf jene staatsbürgerliche Gleichheit, die für den deutschen Frühkonstitutionalismus eine Vorbildfunktion übernehmen sollte. Der Einfluss der Charte Constitutionnelle darf aber nicht überbewertet werden. Der frühkonstitutionelle Gleichheitssatz war durch den Gesellschaftswandel, der in Deutschland schon viel früher eingesetzt hatte, vorbereitet worden. Bereits im aufgeklärten Absolutismus waren durch die Aufhebung vor allem der politischen Vorrechte die Standesunterschiede eingeebnet und durch eine funktionsständische Ordnung ersetzt worden.6 Das Ausmaß der Gleichheit blieb jedoch von der willkürlichen Entscheidung des Landesfürsten abhängig. In Süddeutschland wurde die Gesellschaftsreform am Ende des 18. Jahrhunderts und vor allem während der Rheinbundzeit durch einfachgesetzliche Kodifikationen und die Rheinbundverfassungen vorangetrieben. Dabei fällt auf, dass die früh1 Vgl. §§ 1–3 IV VU Bayern, § 19 VU Württemberg und Art. 12–17 VU Hessen, durch welche die Grundrechtskataloge mit detaillierten Regelungen zur Staatsbürgereigenschaft eröffnet werden. 2 Vgl. zu den Staatsbürgerpflichten oben 7. Kapitel, V. 1. 3 Abgedruckt bei Willoweit/Seif (Hrsg.), Europäische Verfassungsgeschichte, S. 481 ff. 4 G. Wedekind, in: Stammen/Eberle (Hrsg.), Deutschland und die Französische Revolution, S. 250 ff.; vgl. auch die anonyme Flugschrift „Über Deutschland und die verlorene Freiheit“, in: Stammen/Eberle (Hrsg.), S. 414 (417); vgl. O. Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 132 ff. 5 Vgl. die anonyme Flugschrift „Das Resultat der Gleichheit“ von 1795, abgedruckt bei Stammen/Eberle (Hrsg.), S. 335 ff.; F. Gentz, Historisches Journal 1800, S. 3 ff. 6 Vgl. oben 6. Kapitel, II. 3. b).

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

konstitutionellen Verfassungen keine wesentlichen Gleichheitsrechte enthielten, die nicht auch schon in der Bayerischen Verfassung von 1808 formuliert gewesen wären.7 Das Ausmaß der verfassungsrechtlich konkretisierten und verankerten Gleichheit hatte sich also kaum vergrößert. Während die Nivellierung der Gesellschaft im Rheinbund aber mit einer streng zentralisierten Staatsmacht einherging8, hatten sich die Machtverhältnisse im Frühkonstitutionalismus verschoben: Die Volksvertretungen hatten gegenüber den Rheinbundverfassungen an Bedeutung gewonnen, denn der Monarch musste mit ihnen das politische Interesse des Bürgertums abfangen und die bundesrechtlichen Vorgaben des Art. 13 DBA erfüllen. Eine weitere einfachgesetzliche Konkretisierung der Gleichheitsrechte war damit nicht allein in die Hände des Monarchen gelegt. 2. Verfassungsrechtliche Ausgestaltung Die frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge beruhten auf dem Prinzip der staatsbürgerlichen Gleichheit, das in folgenden Formulierungen Ausdruck fand: „Die staatsbürgerlichen Rechte der Badener sind gleich in jeder Hinsicht, wo nicht die Verfassung namentlich und ausdrücklich eine Ausnahme begründet.“ (§ 7 VU Baden) „Alle Württemberger haben gleiche staatsbürgerliche Rechte, und eben so sind sie zu gleichen staatsbürgerlichen Pflichten und gleicher Teilnahme an den Staats-Lasten verbunden, . . .“ (§ 21 VU Württemberg) „Alle Hessen sind vor dem Gesetz gleich.“ (Art. 18 VU Hessen)

Hierbei handelte es sich jedoch keineswegs um eine allgemeine Anerkennung der angeborenen Gleichheit aller. Nur in ihrer Eigenschaft als Staatsbürger, als „Württemberger“ oder als einer der „Hessen“ wurde den Einwohnern eine gleiche Rechtsanwendung gewährt.9 Von der Gleichheit vor dem Gesetz ist die Gleichheit der Gesetze selbst zu unterscheiden. Diese wurde als abstrakter Grundsatz allein in der Präambel der Bayerischen Verfassung („Gleichheit der Gesetze und vor dem Gesetz“) vorangestellt. Konkretisierte Anforderungen an den Inhalt der anzuwendenden Rechtsregeln waren in den Verfassungen aber nur schwach ausgeprägt: Die Nivellierung der Gesellschaft wurde durch die endgültige Aufhebung der als überholt geltenden Leibeigenschaft betont.10 Damit wurde nur ein Rechtszustand konserviert, der spätestens seit der Rheinbundzeit Bestand gehabt hatte. 7 Vgl. oben 7. Kapitel, I.; so auch W. von Rimscha, Die Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 79. 8 So auch U. Scheuner, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 376 (392). 9 G. Kleinheyer, in: Von der ständischen Gesellschaft zur bürgerlichen Gleichheit, Der Staat, Beiheft 4 (1980), S. 7 (19).

I. Die staatsbürgerliche Gleichheit

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Die verhassten Frondienste existierten fort, denn sie ergaben sich nicht aus der Leibeigenschaft, sondern lasteten als Verpflichtung auf dem Grundstück.11 Zwar sahen die frühkonstitutionellen Verfassungen vor, dass Frondienste gegen angemessene Entschädigungen ablösbar seien.12 Allerdings bedeutete das noch kein Ende der wirtschaftlichen Abhängigkeit des Bauern, solange das, was als „angemessen“ gelten sollte, nicht näher konkretisiert wurde. Auch die Grundlasten wurden von der Verfassung nicht aufgehoben, stattdessen überließ man den langwierigen Abbau der Grundherrschaft dem Gesetzgeber. Die Verfassungen drängten jedoch auf eine Beseitigung der ständischen Berufsbeschränkungen, indem jeder das Recht erhielt, seinen Beruf allein nach „eigener Neigung“13 zu wählen. Die Loslösung des Individuums aus den ständischen Zwängen und der persönlichen Abhängigkeit zum Gutsherren war vor allem ein nationalökonomisches Erfordernis. Genau wie bei den Reformen in Preußen kam es dem Landesfürsten eher auf die Stärkung der Wirtschaft als auf die Anerkennung der individuellen Gleichheit an. Im Verhältnis des Individuums zum Staat sollten ebenfalls für jeden Staatsbürger die gleichen Ausgangsbedingungen herrschen. Deshalb stand der Zugang zu öffentlichen Ämtern jedem in gleicher Weise offen.14 Die Steuerfreiheit bestimmter Adelsgruppen15 wurde endgültig aufgehoben und jeder solle in gleicher Weise an den Staatslasten teilhaben.16 Auch die Verpflichtung zum Wehrdienst sollte grundsätzlich alle Staatsbürger treffen.17 Konkretisierende Bestimmungen zum allgemeinen Gleichheitssatz enthielten die Verfassungen damit vor allem in Bezug auf die Pflichten der Staatsbürger.18 Gerade nach den Befreiungskriegen war eine allgemeine Wehrpflicht zur Notwendigkeit geworden und auch die Steuergleichheit war aufgrund der belasteten Staatskassen erforderlich. Dass die öffentlichen Ämter künftig jedem zugänglich sein sollten, brachte dem Landesfürsten gleich zwei Vorteile: Zum einen wurde der Adel durch die Aufhebung des Rechts zum bevorzugten Zugang zu öffentlichen Ämtern geschwächt, wodurch die Machtposition des Monarchen indirekt gestärkt wurde. Zum anderen wurde allein die Qualifikation zum ent10 § 6 IV VU Bayern; § 11 VU Baden; § 25 VU Württemberg; Art. 25 VU Hessen; vgl. dazu ausführlich P. Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten, S. 170 ff. 11 Vgl. M. Stolleis, in: Konstitution und Intervention, S. 47 (62 f.). 12 § 7 IV VU Bayern; § 11 VU Baden; Art. 26 VU Hessen. 13 § 29 VU Württemberg; Art. 36 VU Hessen. 14 § 5 IV VU Bayern; § 9 VU Baden; § 22 VU Württemberg; Art. 19 VU Hessen. 15 Vgl. dazu W. Peters, Späte Reichspublizistik und Frühkonstitutionalismus, S. 128 f. 16 § 13 IV VU Bayern; § 8 VU Baden; § 21 VU Württemberg; Art. 30 VU Hessen. 17 § 12 IV VU Bayern; § 10 V U Baden; § 23 VU Württemberg; Art. 28 f. VU Hessen. 18 Vgl. dazu M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, S. 114.

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

scheidenden Kriterium, was auf eine Bereicherung an Leistungsträgern im Staatsdienst hoffen ließ. Hinter der Ausgestaltung der allgemein formulierten Gleichheitsrechte standen daher vor allem die Interessen des Monarchen: Der Gleichheitssatz war für ihn eine willkommene Rechtfertigung zur Aufhebung von adeligen Privilegien.19 Außerdem erfolgte die Proklamation gleicher Pflichten im Interesse der Staatsräson, profitierte davon doch die Einheit und Leistungsfähigkeit des Staates.20 3. Eingeschränkte Geltungskraft Eingebettet in die frühkonstitutionellen Verfassungen, konnte die tatsächliche Geltungskraft des Gleichheitssatzes aber zunächst nur eingeschränkt sein: Zwar gab es keine altständische Ordnung mehr, in der kraft eines Standes bestimmte Hoheitsrechte ausgeübt werden konnten. Doch stand über allem immer noch das Gebot aus Wien, wonach eine „landständische Verfassung“ zu schaffen sei, die an den alten Differenzierungen nach Stand und Geburt anknüpfte. Außerdem trug die in Württemberg mit den Ständen vertraglich vereinbarte Verfassung in Teilbereichen die Handschrift der Stände, die sich in den Verfassungen wiederfinden wollten.21 Schon aufgrund der historischen Kontinuität war es von vorneherein ausgeschlossen, alle ständischen Elemente zu streichen.22 Um sich vom radikalen Gleichheitssatz der Französischen Revolution abzugrenzen, wurden von konservativer Seite zudem die natürlichen Ungleichheiten der Menschen betont.23 Folglich mussten diese in eine Form gegossen werden, die mit dem Souveränitätsanspruch des Landesfürsten an der Schwelle zum modernen Staat vereinbar war. Das Ergebnis waren Differenzierungen nach Geburt, Besitz und Religion, die schon in den Verfassungen selbst vorgenommen wurden und somit eine neuständische Ordnung begründeten. a) Die neuständische Ordnung Die neuständische Ordnung knüpfte zunächst an den althergebrachten Differenzierungen nach Geburt an: Besonders zum Ausdruck kam das fortdauernde feudalständische Element gerade in dem Land, das sich noch in der Präambel 19 Vgl. B. Wunder, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 435 (439). 20 So auch D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 130. 21 Dazu ausführlich J. Gerner, Vorgeschichte und Entstehung der Württembergischen Verfassung im Spiegel der Quellen. 22 Vgl. oben 7. Kapitel, V. 3.; D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 130. 23 Vgl. O. Depenheuer, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 11, Rdnr. 23.

I. Die staatsbürgerliche Gleichheit

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die „Gleichheit der Gesetze“ vorgenommen hatte: In Bayern erfolgte im direkten Anschluss an den Grundrechtskatalog im darauf folgenden Titel V der Verfassung eine systematische und ausführliche Zusammenstellung von „besonderen Rechten und Vorzügen“. Allein durch die Stellung und den Raum, den die Vorrechte dadurch in der Verfassung gewannen, wurden die Gleichheitsrechte, kaum dass sie im Titel IV verkündet waren, erheblich relativiert. Die Zuteilung der Privilegien erfolgte zunächst entsprechend der altständischen Untergliederung: Abstufungen wurden zwischen den Mitgliedern der regierenden Häuser, den Standesherren, dem ritterschaftlichen Adel und dem unbegüterten Adel vorgenommen.24 Der Begriff der neuständischen Ordnung25 rechtfertigt sich trotz der eher traditionellen Untergliederung, wenn man den weitestgehend entpolitisierten Inhalt der Privilegien und die Voraussetzungen für die Trägerschaft näher betrachtet: aa) Fortbestand adeliger Privilegien, Art. 14 DBA Die adeligen Vorrechte waren überwiegend hoheitsrechtlich unbeachtlich, dafür aber von materieller oder symbolischer Wichtigkeit: Das Recht, Familienfideikommisse zu errichten26, statuierte Verfügungsbeschränkungen über das in seinem Bestand zu erhaltende Familiengut und wurde als wirtschaftliche Basis des Adels gesehen. Der Fortbestand dieses Rechtes konnte als Abfindung für die vorherige politische Entmachtung gelten und zog eine Grenze zwischen dem Adel und dem Bürgertum.27 Eigentlich war dieses Privileg während des Rheinbunds z. B. in Bayern durch die reformerische Gesetzgebung von Maximilian von Montgelas zunächst ganz aufgehoben, aber schon 1811 durch ein ähnlich ausgestaltetes Majoratsrecht ersetzt worden.28 Seine uneingeschränkte Wiedereinführung 1818 entsprach der adelsfreundlicheren Atmosphäre nach dem Sieg über Napoleon und trug wesentlich zum Erhalt der wirtschaftlichen Vorrangstellung des Adels bei.29 Die hervorgehobene Stellung des Adels betonten auch das Recht der Siegelmäßigkeit unter den Beschränkungen der Gesetze über das 24 Vgl. nur §§ 2 ff. V VU Bayern; umfassend katalogisiert sind die abgestuften Vorrechte bei R. von Mohl, Staatsrecht, S. 433 ff.; J. L. Klüber, Oeffentliches Recht des Teutschen Bundes, §§ 261 ff., S. 370 ff.; H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. I, S. 445 ff.; Die Verfassung des Königreichs Bayern, StaatsbürgerBibliothek 20, S. 14 ff.; W. Rimscha, Die Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 127. 25 Der Begriff wurde geprägt durch H. Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz, S. 165 ff; vgl. auch F. Schmitthenner, Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts, S. 577. 26 § 4 Nr. 2 V VU Bayern. 27 Vgl. K. Welcker, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Supplemente, Bd. I (Adel), S. 134; H. Brandt, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 460 (465). 28 Vgl. M. Stolleis, in: Konstitution und Intervention, S. 47 (89 ff.).

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Hypothekenwesen30 sowie für den Fortbestand bestimmter Titel und Ehrenauszeichnungen.31 Der besondere Schutz der Ehre des Adels zeugt zwar in Bezug auf die Würde der Person von einem altständischen Denken, änderte aber an der politischen Machtverteilung nichts. In einem Widerspruch zum Gleichheitssatz wurden die besonderen Ehrenrechte auch von Robert von Mohl nicht gesehen, obwohl er an anderer Stelle betont, dass „ein Unterschied in der Form der Behandlung, so nämlich, dass der Eine seines geringeren Standes oder Ranges wegen auf minder schonende und ehrenhafte Weise behandelt würde (. . .) eine dem Sinne der Verfassung zuwiderlaufende Unbilligkeit“ wäre.32 Daran wird die Selbstverständlichkeit deutlich, mit der die bevorzugte Stellung des Adels hingenommen wurde. Eine konsequente Prüfung der Vereinbarkeit mit dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz wurde dadurch verschleiert und erschwert. In einem nicht unerheblichen Ausmaß wurde der Fortbestand adeliger Privilegien durch Art. 14 DBA begründet. Diese bundesrechtliche Vorschrift vermochte die in den Landesverfassungen proklamierten Gleichheitsrechte ohne weiteres zu durchbrechen und fungierte als Schranke der Landesgesetzgebung.33 Dabei konservierte sie auch hoheitliche Privilegien, die mit dem Souveränitätsinteresse des Landesfürsten eigentlich nicht vereinbar waren. Das gilt vor allem für den Fortbestand der gutsherrlichen Gerichtsbarkeit34, wodurch das Individuum neben dem Landesfürsten auch dem Gutsherren unterworfen wurde. Der Landesfürst behielt sich durch eine verstärkte staatliche Aufsicht zwar einen mittelbaren Einfluss vor35, dennoch wurde ihm mit der gutsherrlichen Gerichtsbarkeit ein Teil seiner Herrschaftsmacht durch Bundesrecht entrissen. Schon daran kann man erkennen, dass auch das Bundesrecht die Geltungsmöglichkeiten der Grundrechte beeinflusste. Obwohl die Grundrechtskataloge der Länder die allgemeine Wehrpflicht vorschrieben, bestimmte die Bundesakte Befreiungen zugunsten des Adels und es wurden ihm im Militärwesen bestimmte Vorzugsrechte gewährt.36 Auch bei der Steuerpflichtigkeit wurden Ausnahmen gemacht.37 Rechtstechnisch wurden die

29 Vgl. E. Weis, ZbLG 39 (1976), S. 414 (421); M. Stolleis, in: Konstitution und Intervention, S. 47 (95). 30 § 4 Nr. 4 V VU Bayern. 31 Vgl. nur R. von Mohl, Staatsrecht, S. 438, 514; vgl. auch Die Verfassung des Königreichs Bayern, Staatsbürger-Bibliothek 20, S. 15. 32 R. von Mohl, Staatsrecht, S. 337. 33 H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. II, S. 89, 94. 34 Vgl. Art. 14 c Nr. 3 DBA; § 4 Nr. 1 V VU Bayern; R. von Mohl, Staatsrecht, S. 485, S. 509. 35 E. Weis, ZbLG 39 (1976), S. 413 (424). 36 Art. 14 c Nr. 3 DBA; § 4 Nr. 5 V VU Bayern. 37 Art. 14 b DBA; R. von Mohl, Staatsrecht, S. 507; F. Schmitthenner, Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts, S. 569.

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bundesrechtlichen Privilegien anerkannt, indem die Landesverfassungen direkt auf diese verwiesen.38 Adelige Vorrechte wurden aber auch durch das Landesrecht selbst konserviert. Zwar wurden nicht in allen Landesverfassungen die Vorrechte des Adels ausdrücklich genannt, es finden sich aber deutliche Hinweise auf bestimmte Edikte, mit denen Ausnahmen von den Gleichheitsrechten verfassungsrechtlich zugesichert wurden.39 Folglich war der Gleichheitsgrundsatz überlagert durch zahlreiche Vorrechte und Privilegien, die ebenfalls unter den Schutz der Verfassung fielen. Trotz allem sollte der Adel – mit Ausnahme der regierenden Häuser – keinen besonderen Stand ausmachen, sondern zur Staatsbürgerschaft gehören.40 Die Intention dahinter war, die Herrschaftsmacht des Landesfürsten für den Adel unerreichbar werden zu lassen. Außerdem konnte die Staatsbürgerschaft ihre Integrationswirkung nur dann entfalten und die Bevölkerung einigen, wenn auch die Adelsschicht dazugehörte. In der Praxis aber musste es eher als Fiktion gelten, den Adel mit Bürgern und Bauern auf eine Stufe zu stellen und aufgrund seiner bevorzugten Stellung wurde er weiterhin als eigener Stand gesehen. Dazu trugen auch faktische Hürden bei der Umsetzung der gewährten Gleichheitsrechte bei: Aufgrund der besseren Bildungssituation des Adels nahm dieser in Administration und Militär immer noch bevorzugte Positionen ein. Auch mit der endgültigen Abschaffung der Leibeigenschaft war der Gleichheitssatz noch nicht umgesetzt: Es hatte nur die persönliche Abhängigkeit vom Gutsherren ein Ende. Entscheidend war jedoch die wirtschaftliche Abhängigkeit, die aufgrund der fortbestehenden bäuerlichen Bindungen zunächst erhalten blieb.41 Die konkrete Situation des Bauern wurde durch den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz allein nicht geändert. Somit entstand ein Widerspruch zwischen der verfassungsrechtlich verkündeten Gleichheit und der Wirklichkeit, der nur über eine Durchsetzung der Gleichheit durch das einfache Gesetz gelöst werden konnte. bb) Bevorzugte und benachteiligte Staatsbürger, Einwohner Eine bevorzugte Stellung erhielten in der neuständischen Ordnung auch die Beamten, indem sie z. B. gemäß § 5 V VU Bayern mit dem Adel die besseren Aufstiegschancen im Militär teilten. Gebildete junge Männer sollten nicht mit 38 Vgl. §§ 23, 42 VU Württemberg, wo Ausnahmen von der Wehrpflicht gemäß Art. 14 DBA sowie die Vorrechte des ritterschaftlichen Adels verfassungsrechtliche Anerkennung erfahren; vgl. auch R. von Mohl, Staatsrecht, S. 460. 39 Vgl. § 23 VU Baden; Art. 37, 38 VU Hessen. 40 R. von Mohl, Staatsrecht, S. 477; R. Schulze, in: Dilcher u. a., Grundrechte im 19. Jahrhundert, S. 85 (97). 41 U. Scheuner, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 376 (395).

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

„rohen“ Bauern auf einer Stufe stehen.42 Dahinter stand das Bestreben der an der Verfassungsgebung beteiligten Köpfe, etwas für den eigenen Stand zu tun und es wird deutlich, dass eine Vorstellung von allgemeiner Gleichheit nicht der Ausgangspunkt war. Die neuständische Ordnung ließ eine neue Führungsschicht zu, die sich zwar nicht durch eine adelige Geburt, dafür aber durch Bildung und Qualifikation auszeichnete und so in den Genuss bestimmter Vorrechte kam. Während sich also auf der einen Seite bestimmte Bevölkerungsgruppen durch zusätzliche Rechte von den Staatsbürgern abhoben, standen auf der anderen Seite diejenigen, die von den staatsbürgerlichen Rechten ausgeschlossen blieben. Unter den Staatsbürgern standen nämlich die „rechtlich benachteiligten Staatsbürger“43, die eigentlich keine waren und daher als schlichte Einwohner nur in engen Grenzen an den Staatsbürgerrechten teilhatten. Dies galt für alle, die sich nicht zu einer der drei anerkannten christlichen Konfessionen bekannten.44 Der einheitliche Staatsbürgerstand, in dem sich der gesamte Untertanenverband befinden sollte, erwies sich damit als reine Fiktion. b) Die Ungleichheit der politischen Mitwirkung Ungleich ausgestaltet waren vor allem die politischen Mitwirkungsmöglichkeiten der einzelnen Staatsbürger. Dies wird durch das aktive und passive Wahlrecht zu den Volksvertretungen verdeutlicht: aa) Differenzierungen nach Geburt Das altständische Denken spiegelte sich schon in der Zusammensetzung der ersten Kammer wider, die hauptsächlich aus einer festgelegten Zahl von Vertretern des Adels und des Klerus bestand.45 Diese hatten gegenüber den Mitgliedern der zweiten Kammer den Vorteil, dass sie dem Vertretungsorgan auf Lebenszeit angehörten. Entweder erbten sie ihren Sitz, so dass sie als Mitglieder in der Kammer „geboren“ wurden, oder sie wurden vom König ernannt. Dieser hatte somit die Möglichkeit, durch die Benennung loyaler Anhänger die Zusammensetzung der Kammer in seinem Interesse mitzugestalten.46 42 E. Weis, ZbLG 39 (1976), S. 413 (422); vgl. zum Einfluss der bürgerlichen Beamtengruppen auch G. Dilcher, Staat 27 (1988), S. 161 (177). 43 Vgl. R. von Mohl, Staatsrecht, S. 516 ff.; vgl. auch H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. I, S. 508; H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 105 ff. 44 § 9 IV VU Bayern; § 9 VU Baden; § 27 VU Württemberg. 45 § 2 VI VU Bayern; § 27 VU Baden; § 129 VU Württemberg; Art. 52 VU Hessen. 46 Vgl. R. von Mohl, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1846, S. 451 (468, 472).

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Auch in der zweiten Kammer waren Adel und Klerus überrepräsentiert: Die Zahl der Sitze, die ihnen die Verfassungen zuteilten, stand außer Verhältnis zu ihrem Anteil an der Bevölkerung. Anders als die Mitglieder der ersten Kammer mussten sie für die jeweilige Legislaturperiode gewählt werden. Dabei mussten sie in Hessen das 30. Lebensjahr beendet haben, während den Mitgliedern der ersten Kammer schon mit 25 Jahren die Stimmfähigkeit zugesprochen wurde.47 Wer dagegen das Glück hatte, in Bayern als Prinz des königlichen Hauses geboren zu werden, galt schon mit 21 – vier Jahre früher als die übrigen Mitglieder – als stimmfähig.48 Folglich waren auch die Abgeordnetenrechte von der Geburt abhängig. Die Wahl erfolgte nach Ständen getrennt. Bei der Ausübung des aktiven Wahlrechts hatten die Adeligen einen weiteren Vorteil gegenüber der einfachen Bevölkerung: Sie konnten ihre Stimme direkt abgeben, während ein Bauer oder einfacher Bürger nur mittelbar über einen Wahlmann Einfluss auf das Wahlergebnis nehmen konnte.49 Der Grund dahinter war vor allem ein praktischer: Da es noch keine Parteien gab, fehlte es an einer Kandidatenaufstellung und anders als über Wahlmänner konnte eine Wahl der städtischen oder bürgerlichen Deputierten nicht durchgeführt werden.50 Frauen und diejenigen, die z. B. aufgrund ihrer Religion als benachteiligte bzw. überhaupt nicht als Staatsbürger galten, waren von den politischen Mitwirkungsrechten ganz ausgeschlossen. Nun stellt sich die Frage, weshalb die auf ihre Souveränität bedachten Landesfürsten dem Adel überhaupt eine Vorrangstellung bezüglich der politischen Mitwirkung gewährten, wollten sie ihn doch eigentlich politisch entmachtet sehen. Sie waren aber durch Art. 13 DBA zur Einführung einer landständischen Verfassung gezwungen. Dabei hatten sie die Möglichkeit einer vom althergebrachten Ständeverständnis abweichenden Ständeversammlung völlig ausgereizt und ein weiterer Abbau der Vorrechte war ausgeschlossen. Außerdem war ein Motiv hinter der Verfassungsgebung die Finanzkrise gewesen, die die Landesfürsten mit Mitwirkung der althergebrachten Stände zu bewältigen hofften. Folglich konnte innerhalb der Verfassung nicht auf geburtsständische Züge verzichtet werden.

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Art. 54, 55 VU Hessen; vgl. auch § 134 VU Württemberg. § 5 IV VU Bayern. 49 Vgl. § 34 VU Baden; §§ 137 ff. VU Württemberg; W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 134. 50 E. Kleinheyer, in: Von der ständischen Gesellschaft zur bürgerlichen Gleichheit, Der Staat, Beiheft 4 (1980), S. 7 (26). 48

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

bb) Differenzierungen nach Eigentum Neben der Geburt wurde das Eigentum zum Kriterium, das für das Ausmaß der politischen Mitwirkung ausschlaggebend war: Die Mitglieder der ersten Kammer konnten ihren Sitz nur dann erben, wenn sie eine bestimmte Steuerleistung erbrachten.51 Das passive Wahlrecht war mit hohen Anforderungen an das Vermögen verbunden.52 Das Eigentum galt als Zeichen politischer Urteilsfähigkeit.53 Diesem Gedanken entsprach es, dass der Verlust des vorausgesetzten Eigentums das sofortige Ende der Mitgliedschaft in der Volksvertretung nach sich zog.54 Auch die Wahlmänner mussten sich durch ihr Vermögen auszeichnen, was besonders in Württemberg deutlich wurde: Nur ein Drittel der Wählmänner wurde gewählt, die Übrigen wurden nach Steuerleistung bestimmt.55 Vertrauen gebührte nach der Verfassung also eher denjenigen, die sich durch wirtschaftlichen Erfolg und Vermögen auszeichneten, als den demokratisch Legitimierten. Auch das aktive Wahlrecht wurde von der Steuerleistung abhängig gemacht, wobei die nähere Ausgestaltung von Land zu Land variierte. Baden und Württemberg, wo ca. 15% der Bevölkerung wahlberechtigt waren, zählten schon zu den Ländern mit den geringeren materiellen Anforderungen.56 Besonders deutlich wird die Verbindung zwischen Eigentum und Wahlberechtigung an § 145 VU Württemberg: Wer in mehreren Kreisen ein Rittergut besaß, durfte auch mehrmals wählen. Den Ausschlag für das Wahlrecht gab demnach nicht die individuelle Person, sondern deren materielle Ausstattung. Daneben war das Wahlrecht mit Blick auf die Leistungsfähigkeit des Staates z. T. auch Folge der beruflichen Qualifikation. Einen Vorteil kraft Amtes hatten die Vertreter der Landesuniversitäten, denen Sitze in der Volksvertretung zugesichert wurden.57 In Hessen gab es in der zweiten Kammer zudem zehn Abgeordnete, die von bestimmten Städten gestellt werden durften, um die „Interessen des Handels“ zu vertreten.58 Insgesamt spiegeln die Ungleichheiten bei der politischen Mitwirkung die neuständische Ordnung wider, die nicht nur nach Geburt, sondern auch nach Eigentum und in ersten Ansätzen nach Qualifikation differenzierte. 51

§ 3 VI VU Bayern; § 28 VU Baden; § 130 VU Württemberg. § 12 VI VU Bayern; § 37 VU Baden; § 135 VU Württemberg; Art. 55 VU Hessen; vgl. ausführlich H. J. Böhme, Politische Rechte, S. 74 ff. 53 Vgl. C. von Rotteck, in: Rotteck/Welcker, in: Staatslexikon, Bd. III (Census), S. 370; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 345. 54 § 14 Nr. 2 VI VU Bayern. 55 §§ 139, 140 VU Württemberg. 56 Vgl. H. Brandt, in: Kirsch/Schiera, Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus, S. 99 (104). 57 § 27 Nr. 5 VU Baden; § 133 Nr. 4 VU Württemberg; Art. 52 Nr. 6 VU Hessen. 58 Art. 53 Nr. 2 VU Hessen. 52

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cc) Repräsentativer Charakter der Volksvertretungen unter dem Aspekt der ungleichen Mitwirkungsmöglichkeiten Es stellt sich die Frage, ob in Anbetracht der unterschiedlichen Mitwirkungsmöglichkeiten an der Volksvertretung überhaupt noch von einem repräsentativen Charakter eben dieser gesprochen werden kann. Hier ist nun von entscheidender Bedeutung, dass die Stände nur bei der Bestellung der Volksvertreter eine wichtige Rolle spielten. War der einzelne Abgeordnete aber erst einmal in die jeweilige Kammer eingezogen, so musste er allein „nach eigener Überzeugung“ abstimmen und durfte „keine Instructionen“ mehr annehmen.59 Damit war das imperative Mandat verboten und die herkömmlichen Stände hatten keine Möglichkeit, auf den einmal gewählten Abgeordneten einzuwirken. Rechtstechnisch verloren sie damit ihre verfassungsrechtliche Handlungsfähigkeit.60 Dies entsprach dem Interesse des Monarchen, der die althergebrachten Stände entmachtet sehen wollte. Faktisch blieb ihnen jedoch eine Machtposition erhalten, denn die Abgeordneten sahen sich weiterhin als Standesvertreter und orientierten sich in ihrem Stimmverhalten – schon aufgrund der angestrebten Wiederwahl – an den Standesinteressen.61 Die Verfassungen sahen jedoch vor, dass der einzelne Abgeordnete das gesamte Volk zu vertreten hatte. Das Volk als Ganzes wurde damit Quelle der verschiedenen politischen Meinungen und erfuhr erstmals Anerkennung als Verfassungsrechtssubjekt. Den Individuen, aus denen sich das Volk zusammensetzte, wurde aber keineswegs immer die volle Handlungsfähigkeit zugebilligt, was schon die ungleichen politischen Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Bestellung der Abgeordneten zeigen. Diese Abstufungen waren vom federführenden Monarchen ganz bewusst gezeichnet worden, der aus einem dynastischen Selbsterhaltungstrieb heraus die Interessen des Bürgertums gegen die des Adels ausbalancierte: Durch die Bevorzugungen aufgrund des Eigentums wurde das wirtschaftlich starke Bürgertum in seinen liberalen Forderungen beschwichtigt und konnte sich weiterhin von der ungebildeten, vermögenslosen Masse abheben.62 Eine Annäherung in der politischen Mitwirkung vollzog sich daher nur zwischen dem Bürgertum und dem Adel, wobei sich Letzterer durch unpolitische Privilegien weiterhin vom Bürgertum abhob. Die unteren Bevölkerungsschichten wurden ganz bewusst außen vor gelassen. Die Staatsbürger 59 § 48 VU Baden; ähnliche Bestimmungen finden sich in § 155 VU Württemberg und Art. 61 VU Hessen. 60 G. Kleinheyer, in: Von der ständischen Gesellschaft zur bürgerlichen Gleichheit, Der Staat, Beiheft 4 (1980), S. 7 (29). 61 Vgl. nur H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 149 ff.; H. Brandt, in: Kirsch/Schiera, Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus, S. 99 (105). 62 H. J. Böhme, Politische Rechte, S. 112 f.; vgl. auch O. Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 147.

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waren damit weder gleich noch wurden sie in ihrer Selbstständigkeit anerkannt, denn das hätte eine repräsentative Vertretung des Volkes nach Kopfzahl erfordert. Das Dazwischenschalten der ständischen Elemente diente dazu, ein rein repräsentatives Vertretungsorgan zu verhindern. Hier sah man das Bedürfnis, sich vom radikalen, antimonarchischen Gleichheitssatz des nachrevolutionären Frankreichs abzugrenzen und sich gegen alle „etwaigen demokratischen Gelüste“ abzusichern.63 Deshalb zerstückelte der Monarch das Volk in mehrere neue Stände, um es als einheitlichen Träger, von dem die Souveränität ausgehen könnte, auszuschließen. Er setzte den bürgerlich-fortschrittlichen Tendenzen eine „beharrende, retardierende Kraft“64 entgegen, entsprach doch eine egalitäre Gesellschaft nicht seiner Absicht. 4. Zukunftsweisende Funktion Obwohl von der bürgerlichen Gleichheit zahlreiche Ausnahmen gemacht wurden und eine politische Gleichheit schon aufgrund des Ausschlusses der unteren Bevölkerungsschichten nicht bestand, war mit dem frühkonstitutionellen Gleichheitssatz ein zukunftsweisender Schritt getan. a) Gleichheit als verbindliches Programm Mit der staatsbürgerlichen Gleichheit hatte der Monarch einen objektiven Grundsatz formuliert, der Leitlinie für die künftige Gesetzgebung sein sollte. Diese Grundsätzlichkeit verlangte, dass der Widerspruch zwischen der verfassungsrechtlichen Gleichheit und der durch fortbestehende Ungleichheiten geprägten Realität zugunsten der Gleichheit gelöst werden musste. Die Gleichheit wurde zum „unumstößlichen Grundsatz“65, den der Staat „zuvörderst . . . anerkennen und schirmen“66 musste. Tatsächlich war man noch weit von dieser Zielvorstellung entfernt: Die Verfassungen selbst enthielten nur wenige Rechte, die die staatsbürgerliche Gleichheit konkretisierten. Aufgrund der historischen Kontinuität bestanden noch zahlreiche ständische Elemente, die abgebaut werden mussten. Die Durchsetzung der staatsbürgerlichen Gleichheit war somit ein langwieriger Prozess. Deshalb hatte der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz die Wirkung eines Programms, dessen Umsetzung dem Staat überlassen blieb 63 R. von Mohl, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1846, S. 451 (472); vgl. auch H. Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz, S. 190. 64 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 341. 65 C. von Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, Bd. 2, S. 149. 66 C. von Rotteck, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. VII (Gleichheit), S. 68.

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und einfachgesetzlich erfolgen sollte. Fraglich bleibt jedoch, welche Anforderungen der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz an die künftige Gesetzgebung stellte und wie „bindend“ die Gleichheit als Programm sein sollte. Die Geltungskraft des Gleichheitssatzes war schon in den Verfassungen selbst eingeschränkt und die Herstellung eines Zustandes, in dem alle gleich waren, konnte nicht mehr als Ziel gelten. Daraus wird abgeleitet, dass der frühkonstitutionelle Gleichheitssatz nicht auf eine Gleichheit durch das Gesetz, sondern letztlich nur auf eine Gleichheit vor dem Gesetz abzielte.67 Eine solche Trennung zwischen formaler und materialer Gleichheit war sowohl für den Monarchen als auch für den Adel und das wohlhabende Bürgertum aus politischen Gründen erstrebenswert: Solange nur die formale Gleichheit als Verfassungserfordernis galt, mussten die Gesetze für die Staatsbürger nur die gleiche Verbindlichkeit haben; Anforderungen an ihren Inhalt wurden jedoch nicht gestellt. Folglich konnte die neuständische Ordnung mit all ihren Vorteilen für die privilegierten Schichten bestehen bleiben und eine Demokratisierung wurde durch den Ausschluss der vermögenslosen Volksmasse vom Wahlrecht verhindert. Auch die Staatsrechtslehre des Frühkonstitutionalismus ließ inhaltliche Ungleichheiten der Gesetze zu: Nach Friedrich Julius Stahl schloss das Gleichheitsrecht der Menschen die „Ungleichheit der wirklichen Rechte“68 nicht aus und keineswegs war die „abstrakte und unbedingte Gleichheit“ ein Urrecht des Menschen.69 Das Ausmaß der Ungleichheiten, die trotz des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes möglich waren, war aber begrenzt. Die frühkonstitutionellen Gleichheitsrechte gehen deshalb in ihrer Bedeutung über die rein formale Gleichheit hinaus. Denn die Gleichheit war zum Grundsatz geworden und Ausnahmen wurden rechtfertigungsbedürftig. Stahl mahnte an, dass trotz aller Ungleichheiten „die wesentliche Gleichheit des Rechts als ihre Grundlage“ bewahrt werden müsse.70 Besonders deutlich lehnte Rotteck die rein formale Deutung der Gleichheit ab. Er betonte, dass es auch „auf die Beschaffenheit oder den Inhalt der Gesetze ankommt“71 und ließ Ungleichheiten nur dann zu, wenn sie „auf vernünftigen Gründen“72 beruhten und dem „wahren Gesamtwillen entflossen“.73 Die Ungleichheiten, die in den frühkonstitutionellen Verfassungen selbst enthalten waren, hielt Rotteck größtenteils für gerechtfertigt: Sowohl die Befrei67 Vgl. W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 124; Th. Würtenberger, Staat 37 (1998), S. 165 (172); U. Scheuner, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 376 (394). 68 Philosophie des Rechts, Bd. 2, 1. Abtheilung, S. 266. 69 Philosophie des Rechts, Bd. 2, 1. Abtheilung, S. 263. 70 Philosophie des Rechts, Bd. 2, 1. Abtheilung, S. 334. 71 In: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. VII (Gleichheit), S. 72. 72 Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, Bd. 2, S. 149. 73 In: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. VII (Gleichheit), S. 66.

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ung bestimmter Personen von der Militärpflicht, die dann auf andere Weise im Sinne des Staates wirken können, als auch der Ausschluss der unteren Klassen vom Wahlrecht hätten einen vernünftigen Grund, denn letztlich zielten diese Ungleichheiten auf den Vorteil des gemeinen Wesens ab. Die einfachgesetzlichen Ungleichheiten mussten aber einer strengen Prüfung unterzogen werden und waren keineswegs per se zulässig.74 Rotteck leitete damit aus dem Gleichheitssatz sehr wohl eine inhaltliche Verbindlichkeit für den Gesetzgeber ab, der nur aus vernünftigen Gründen von der materialen Gleichheit abweichen durfte. Robert von Mohl ging noch einen Schritt weiter und hielt Ausnahmen vom Gleichheitssatz nur aus „objectiven Gründen“ für gerechtfertigt, wenn sie in der Verfassung ausdrücklich genannt waren.75 Ohne verfassungsrechtliche Erlaubnis durfte eine Ungleichheit weder durch ein Gesetz begründet noch beibehalten werden. Die in der Verfassung konkretisierten Ungleichheiten, z. B. die Ausnahmen von der allgemeinen Wehrpflicht oder die Abstufung in der politischen Mitwirkung, mussten aber als abschließend gelten. Das, was nach diesen Ausnahmen an Gleichheitsrechten übrig blieb, durfte nach Mohl vom einfachen Gesetzgeber nicht angetastet werden. Alle übrigen Gesetze und Gewohnheiten, die den Gleichheitssatz durchbrachen, waren nach Mohl durch die Verfassung aufgehoben und nicht mehr zu dulden. Da allerdings der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz nicht konkretisiert war, bestand Unklarheit darüber, wann eine Durchbrechung von eben diesem vorlag. Außerdem wäre eine sofortige Beseitigung der Durchbrechungen unmöglich gewesen. Es wird deutlich, dass der frühkonstitutionelle Gleichheitssatz nicht nur auf eine Gleichheit vor dem Gesetz abzielte. Wie schon die Präambel der Verfassung Bayerns verhieß, wurden mit der „Gleichheit der Gesetze“ tatsächlich auch materiale Anforderungen an den Gesetzgeber gestellt.76 In diesem Rahmen war das „Programm“ der Gleichheit für den Gesetzgeber verbindlich und hing nicht allein von den politischen Stimmungen ab. b) Innere Dynamik der neuständischen Ordnung Die Rechtfertigung der Ausnahmen vom Gleichheitsgrundsatz wurden dadurch erschwert, dass die neuständische Ordnung keine theoretische Unterfütterung besaß. Sie war nicht historisch gewachsen, sondern beruhte auf Zweckmäßigkeitsüberlegungen des Monarchen bei der Verfassungsgebung und auf den ständischen Vorgaben des Deutschen Bundes. Besonders wird das an den zwar politisch stark beschnittenen, dafür aber wirtschaftlich konservierten Vorrechten 74 75 76

In: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. VII (Gleichheit), S. 68. Staatsrecht, S. 336 f. So auch E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 352.

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des Adels deutlich. Welcker stellte fest, dass die adeligen Vorrechte nicht dem natürlichen Recht entsprachen. Im Frühkonstitutionalismus würden sie „aller wahren historischen und rechtlichen Begründungen ermangeln“.77 Letztlich sei der „Rechtsgrund ausschließlicher Vorzugsrechte . . . mit dem Feudalismus gefallen.“78 Folglich konnten die Adelsvorrechte künftig nicht mehr mit der bloßen Zugehörigkeit zum Stand des Verdienst- und Tugendadels gerechtfertigt werden. Entscheidend sollten die „natürlichen Adelsvorzüge“79 sein, die Vorrechte nur dann begründen konnten, wenn sie dem Staatszweck entsprachen. Ausschlaggebend für eine bevorzugte Behandlung war daher nicht mehr die adelige Geburt, sondern die natürliche Ungleichheit des Menschen, die durch seine Fähigkeit und Entwicklung sowie bestimmte Tatsachen begründet war.80 Eine solche Tatsache, durch die sich der Adel abhob, konnte im Eigentum gesehen werden. Allerdings hätte er dann auch nur entsprechend seinem Eigentum an der Volksvertretung teilnehmen und gegenüber dem vermögenden Bürgertum nicht überrepräsentiert sein dürfen. Gerade die politischen, hoheitlichen Rechte des Adels, wie z. B. die gutsherrliche Gerichtsbarkeit, wurzelten in der überkommenen altständischen Ordnung und konnten keineswegs als „dem Gesamtwillen“ entsprechende, „vernünftige“ Ungleichheit abgetan werden. Folglich wurden die in den Verfassungen aufrechterhaltenen Adelsvorrechte Gegenstand der Kritik, die Welcker besonders scharf formulierte: Durch die ungerechtfertigten Adelsvorrechte sah er die verhältnismäßige Gleichheit auf eine „die öffentliche Meinung beleidigende, den Frieden unter den verschiedenen Ständen, das Staatswohl und das Vertrauen zu der Verfassung und der Gesetzgebung störende Weise“81 verletzt. Die neuständische Ordnung wurde somit skeptisch aufgenommen und vor allem die Differenzierungen nach Geburt wurden immer fragwürdiger. Ein weiteres Differenzierungskriterium der neuständischen Ordnung war das Eigentum. Dadurch wurde die Gesellschaft aber nicht statisch untergliedert und die Grenzen zwischen den Ständen waren keineswegs undurchlässig.82 Stattdessen hatte jeder zumindest die theoretische Möglichkeit, durch den Erwerb von Eigentum bestimmte Rechte zu erlangen und sah sich ebenso der Gefahr ausgesetzt, dieser wieder verlustig zu werden. Die durch das Eigentum begründete Vorzugsstellung war also keineswegs auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe begrenzt, sondern stand zumindest prinzipiell allen offen. 77

In: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Supplemente, Bd. I (Adel), S. 134. Ebd., S. 135. 79 Ebd., S. 135. 80 Vgl. H. Schmitt, Das vormärzliche Staatsdenken, S. 49. 81 In: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Supplemente, Bd. I (Adel), S. 135. 82 U. Scheuner, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 376 (395). 78

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Somit hatte das Gleichheitsprinzip in den Verfassungen eine feste Grundlage erhalten. Zwar war es von der neuständischen Ordnung überlagert, dieser wohnte jedoch eine doppelte Dynamik inne: Zum einen begründet durch die Tendenz zum Abbau der nicht mehr zu rechtfertigenden Geburtsprivilegien und zum anderen durch die Flexibilität des Staatsbürgers in dem am Eigentum orientierten Stufensystem. c) Politische Bedeutung der Gleichheit Obwohl gerade die politische Mitwirkung in den frühkonstitutionellen Verfassungen ungleich ausgestaltet war, kann man dem Gleichheitssatz eine politische Bedeutung nicht absprechen. Erst durch die grundsätzliche Ausschaltung der Stände wurde das Individuum in ein direktes Verhältnis zum Staat gesetzt.83 Anknüpfungspunkt für konkrete Rechtspositionen wurde damit erstmals das Individuum selbst und nicht der Stand, zu dem es gehörte. Trotz aller Ausnahmen bewirkte der im Grundsatz anerkannte Gleichheitssatz daher, dass es bei der Ausstattung mit Rechten und Pflichten erstmals allein auf das Individuum ankam. Dadurch gewann automatisch der Freiheitsgedanke eine andere Bedeutung: Partikulare Freiheiten, die dem auserwählten Einzelnen in seiner Eigenschaft als Standesmitglied zukamen, wurden ersetzt durch grundsätzliche Freiheiten, die für alle gleichermaßen gelten sollten und die dem Individuum direkt vom Staat verliehen wurden. Eine Freiheitssphäre, auf die sich jeder Staatsbürger dem Staat gegenüber berufen konnte, wurde daher erst nach Anerkennung grundsätzlicher Gleichheit möglich. Doch die Gleichheit verdient nicht nur als Voraussetzung der Freiheit84, sondern auch als Wegbereiter der Demokratie Beachtung. In der altständischen Ordnung hatten nie die Individuen selbst, wohl aber die Stände politische Mitwirkungsrechte ausgeübt. Mit der Aufhebung der Stände war nun der Blick des Individuums auf den Staat als Ganzes frei geworden. Erst jetzt konnte es sein Interesse am gesamten politischen Geschehen voll entfalten und frei von Standesschranken an politischen Entscheidungen teilhaben. Dies galt insbesondere deshalb, da mit dem Repräsentativcharakter der Volksvertretungen das Volk als Verfassungsrechtssubjekt anerkannt worden war.85 Denn dieses Subjekt setzte sich aus den einzelnen Individuen zusammen, die somit politische Handlungs83 Vgl. R. Schulze, in: Dilcher u. a., Grundrechte im 19. Jahrhundert, S. 85 (102 f.); H. Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz, S. 232. 84 Vgl. dazu J. A. Bergk, Untersuchungen aus dem Natur-, Staats- und Völkerrechte, S. 41; C. von Rotteck, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. VI (Freiheit), S. 65; H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 116 ff., 130, der in der Gleichheit ein formelles Volksrecht zur Absicherung der materiellen Volksrechte sieht. 85 Vgl. oben 8. Kapitel, I. 3. b) cc).

II. Die Freiheit der Person

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möglichkeiten gewannen. Die ungleiche Ausgestaltung des Wahlrechts wurde dabei als Ausnahme vom Gleichheitsgrundsatz insbesondere von der demokratischen Bewegung nicht mehr akzeptiert.86 Die Stimme eines jeden sollte – unabhängig von seinem Eigentum – den gleichen Einfluss haben; eine Forderung, die letztlich in der Revolution vom 1848 mündete.87 Die Konsequenzen aus dieser Forderung für die Staatsform werden besonders bei Pfizer deutlich: Das Recht jedes Einzelnen, auf die Bildung des Gesamtwillens den gleichen Einfluss zu haben, sei „gleichbedeutend mit dem Recht, keiner anderen Macht im Staate unterworfen zu sein, als dem Willen der Mehrheit“88. Nur dann würden die Auffassungen jedes Einzelnen in gleicher Weise berücksichtigt. Vertrat der Einzelne die Auffassung der Minderheit, so hatte er zumindest die gleiche Einflussmöglichkeit auf den Gesamtwillen gehabt, dem er sich unterwerfen musste. Wenn die staatsbürgerliche Gleichheit die Herrschaft der Stimmenmehrheit forderte, so forderte sie gleichzeitig, dass die Staatsgewalt bei einem Organ lag, dass die Stimmenmehrheit und den Gesamtwillen repräsentierte. Die staatsbürgerliche Gleichheit wurde damit eine Grundlage der Forderung nach Demokratie und Volkssouveränität. Insgesamt gab damit der frühkonstitutionelle Gleichheitssatz Anlass, den Übergang aus der älteren gesellschaftlichen Gliederung in die bürgerliche Gesellschaft weiter voranzutreiben. Dadurch wurde nicht nur der Entfaltungsraum für weitere Freiheitsrechte geschaffen, sondern auch die Forderung nach Demokratie genährt.

II. Die Freiheit der Person Neben der Gleichheit war die Freiheit ein zentrales Thema des Grundrechtsdenkens. Folglich musste sie auch in den frühkonstitutionellen Grundrechtskatalogen Berücksichtigung finden. 1. Entstehungsbedingungen Nach der westlichen und der späteren deutschen naturrechtlichen Theorie war die Freiheit des Individuums unveräußerlich und galt auch nach Abschluss des Gesellschaftsvertrages im Staat fort. Verfassungsrechtlich umgesetzt wurde dieser Gedanke der unveräußerlichen Freiheit besonders deutlich in der französi86 P. Pfizer, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. XV (Urrechte und unveräußerliche Rechte), S. 627; K. Welcker, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Supplemente, Bd. I (Adel), S. 135; R. von Mohl, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1846, S. 451 (468 ff.). 87 Vgl. O. Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 192 ff. 88 P. Pfizer, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. XV (Urrechte und unveräußerliche Rechte), S. 627.

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

schen Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789, die in Art. 4 die Freiheit eines jeden anerkannte, „alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet. Also hat die Ausübung der natürlichen Rechte jedes Menschen keine Grenzen als jene, die den übrigen Gliedern der Gesellschaft den Genuß dieser nämlichen Rechte sichern.“89 Als Konsequenz der natürlichen Rechte des Menschen wurde daher eine umfassende Handlungsfreiheit innerhalb des Staates positiviert. Die frühkonstitutionellen Verfassungsgeber leugneten die naturrechtliche Begründung der Grundrechte, die weder angeboren noch unveräußerlich sein sollten. Stattdessen galten sie als positive Gewährungen des Landesfürsten. Dieser gewährte allerdings nur dort vereinzelte Freiheiten, wenn es mit seinen praktischen, politischen Interessen vereinbar war; an die Zubilligung einer allgemeinen Handlungsfreiheit dachte er nicht. 2. Verfassungsrechtliche Ausgestaltung Auf den ersten Blick erstaunt es, dass allgemeine, grundsätzliche Formulierungen zur Freiheit der Person Einzug in die frühkonstitutionellen Verfassungen hielten. Neben dem Eigentum unterlag die Freiheit der Person gemäß Art. 23 der VU Hessen nur durch „Recht und Gesetz“ bestimmten Beschränkungen und in Württemberg wurde sie gemäß § 24 vom Staat gesichert. In Baden wurde die „persönliche Freyheit“ in § 13 unter den Schutz der Verfassung gestellt. Nur in der Bayerischen Verfassung blieb die Freiheit der Person ungenannt. Zwar gewährte dort § 8 IV genau wie Art. 23 VU Hessen, § 24 VU Württemberg und § 13 VU Baden das Eigentum, daneben war aber nicht wie in den anderen Ländern von der Freiheit, sondern nur von der Sicherheit der Person die Rede. Doch letztlich sagte damit die Bayerische Verfassung genau das, was in den anderen Verfassungen mit der Freiheit der Person gemeint war: Der Untertan sollte keine allgemeine Handlungsfreiheit erhalten90, sondern es ging allein um den verfassungsrechtlichen Schutz „gegen ungebührliche Verletzung seiner persönlichen Rechte“91. Es wurden somit keine zusätzlichen Freiheiten gewährt, vielmehr sollten nur die einzelnen, in der Verfassung ausdrücklich genannten Freiheitsrechte abgesichert werden.92 Dies kann man schon am Wortlaut der Verfassungen erkennen: Nicht von einer umfangreichen, unbeschränkten Ge89 Abgedruckt und übersetzt bei Hartung/Commichau/Murphy (Hrsg.), Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 73 (74). 90 So aber H. Kube, AöR 125 (2000), S. 341 (366). 91 R. von Mohl, Staatsrecht, S. 339. 92 W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 136 ff.; D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 130; G. Oestreich, Die Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 89; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 355; vgl. auch W. Peters, Späte Reichspublizistik und Frühkonstitutionalismus, S. 124; F. Fremuth, Der Vorbehalt des Gesetzes in der Bayerischen Verfassungsurkunde, S. 218.

II. Die Freiheit der Person

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währung der Freiheit ist die Rede, sondern betont wird deren Schutz und Sicherung. Wie genau dieser Schutz aussehen sollte, wurde bereits in den Verfassungen selbst durch justizielle Rechte konkretisiert: Niemand durfte seinem gesetzlichen Richter entzogen werden93, dessen Unabhängigkeit zudem garantiert wurde.94 Verhaftungen durften nur aufgrund einer gesetzlichen Grundlage erfolgen und nach Ablauf einer bestimmten Zeit war dem Verhafteten der Grund seiner Inhaftierung mitzuteilen.95 Die Freiheitsrechte des Individuums sollten daher durch die verfassungsrechtliche Verbriefung der Freiheit der Person nicht in eine allgemeine Handlungsfreiheit ausgedehnt, sondern lediglich in ihrem status quo abgesichert werden. Dadurch erklärt sich, dass die „Freiheit der Person“ aus § 24 der Württembergischen Verfassung in Mohls Lehrbuch als solche nur in einer anfänglichen Aufzählung aller Staatsbürgerrechte genannt wurde. In der anschließenden, ausführlichen Bearbeitung der einzelnen Rechte wurde sie dann aber als „Schutz der Person“ in einem eigenständigen Kapitel abgehandelt, in welchem er die bereits genannten justiziellen Rechte näher erläuterte.96 Einen eigenständigen Freiheitsgehalt enthielt die „Freiheit der Person“ daher nicht und es ging nur um die Absicherung bereits gewährter persönlicher Rechte.97 Dies verdeutlichte Jordan, der „in dem Rechte auf gesetzlichen Schutz der in der Freiheit der Person enthaltenen Rechte“ die Sicherheit der Person begründet sah, die sich in justiziellen Rechten erschöpfte.98 Auch nach Zachariä bestand die in den frühkonstitutionellen Verfassungen gewährte Freiheit der Person darin, dass Einschränkungen der genannten Freiheitsrechte vom Gesetz bestimmt werden mussten und dass „insbesondere Niemand verfolgt und verhaftet werden dürfe, als in den durch das Gesetz bestimmten Fällen und in der gesetzlichen Form.“99 Insgesamt gebührte beim Schutz der persönlichen Freiheit die Aufmerksamkeit nicht dem Ausmaß der Freiheit, denn dieses wurde mit den in den Verfassungen ausdrücklich gewährten Einzelfreiheiten gleichgesetzt. Vielmehr ging es um den Schutz und die Absicherung der einzelnen Freiheitsrechte. Die Geltungskraft der so verstandenen Freiheit der Person kann daher nur anhand der Ausgestaltung und Tragweite der konkreten Schutzmöglichkeiten beurteilt werden.

93 94

§ 8 IV VU Bayern; § 15 VU Baden; § 26 VU Württemberg; Art. 31 VU Hessen. § 3 VIII VU Bayern; § 14 VU Baden; § 93 VU Württemberg; Art. 32 VU Hes-

sen. 95

§ 8 IV VU Bayern; § 15 VU Baden; § 26 VU Württemberg; Art. 33 VU Hessen. Staatsrecht, S. 339 ff. 97 Vgl. auch F. Schmitthenner, Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts, S. 566 f. 98 Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 414. 99 Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. I, S. 421 f. 96

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

3. Eingeschränkte Geltungskraft Zwar enthielten die Verfassungen konkretisierende justizielle Rechte, die jedoch allein den Schutz der Person nicht zu gewährleisten vermochten. a) Mangelnde gesetzliche Konkretisierung Um die persönlichen Rechte des Staatsbürgers vor willkürlichen Eingriffen des Staates zu schützen, genügte die verfassungsrechtliche Normierung einzelner Rechte nicht. Stattdessen hätte es einer Reform des gesamten Straf- und Strafprozessrechts entsprechend der verfassungsrechtlichen Grundsätze bedurft.100 Es nützte wenig, dass eine Verhaftung nur in den vom Gesetz vorgesehenen Fällen erlaubt sein sollte, solange das Gesetz geringe Voraussetzungen an diese stellte: Auch untere Polizeibeamte durften Personen festnehmen und an das individuelle Ermessen des Richters wurden kaum überprüfbare Anforderungen gestellt. Es half dem Verhafteten nicht, dass er nach Ablauf einer bestimmten Zeitspanne den Grund seiner Verhaftung erfuhr, solange keine Frist bestimmt war, in der ein Richter, der die gegebenenfalls unrechtmäßige Verhaftung wieder aufheben konnte, Kenntnis von dieser erlangen musste.101 Der Schutz der Person wurde also durch das einfache Recht unterlaufen und war lediglich ein „frommer Wunsch“.102 Dieser Wunsch beinhaltete jedoch einen Auftrag an den Gesetzgeber, einen „Sporn zu künftigen Verbesserungen“.103 Von der Bewältigung dieses Auftrags hing es ab, inwieweit der Schutz der Person vor willkürlichen staatlichen Eingriffen sichergestellt werden konnte. Die Verfassungen allein vermochten diesen Schutz nicht zu gewährleisten. b) Mangelnder Rechtsschutz Die Geltungskraft des Schutzes der Person hing wesentlich von den Rechtsschutzmöglichkeiten des Individuums ab. Selbst wenn mit dem Schutz der Person ein Schutz vor dem Staat gemeint war, so konnte dieser Schutz nur durch den Staat erfolgen. Letztlich konnte allein dieser sicherstellen, dass Verhaftungen tatsächlich nur mit gesetzlicher Grundlage erfolgten und dass der Einzelne rechtzeitig über den Grund seiner Festnahme informiert wurde. Für den Schutz der Person war es damit von grundlegender Bedeutung, ob das Individuum den Schutz durch den Staat einfordern konnte. 100 So auch R. Wahl, Staat 18 (1979), S. 321 (328); M. Terwiesche, JR 1997, S. 227 (229); vgl. auch S. Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 414. 101 R. von Mohl, Staatsrecht, S. 345 f.; vgl. auch H. A. Zachariä, Deutsches Staatsund Bundesrecht, Bd. I, S. 422. 102 So R. von Mohl, Staatsrecht, S. 345. 103 R. von Mohl, Staatsrecht, S. 345.

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aa) Unabhängigkeit der Justiz Ein Fortschritt in der Entwicklung des individuellen Rechtsschutzes war die Unabhängigkeit der Justiz, die im Frühkonstitutionalismus verfassungsrechtlich verbrieft war.104 Erst dadurch konnten die Richter einen Freiheitsschutz bewirken, ohne Machtsprüche oder Eingriffe des Monarchen in das laufende Verfahren fürchten zu müssen.105 Zwar entstand ein scheinbarer Widerspruch zur unabhängigen Justiz, indem die Verfassungen formulierten, dass alle Gerichtsbarkeit vom Monarchen ausgehen sollte.106 Dabei handelte es sich aber um eine Fiktion, die den Schein des monarchischen Prinzips wahrte. Dieses verlangte, dass der Monarch auch Inhaber der judikativen Gewalt sein musste. Seine Befugnisse beschränkten sich jedoch darauf, die Aufsicht über Organisation und Verwaltung der Justiz zu führen sowie bei der Ernennung von Richtern mitzuwirken.107 Die Ausübung der rechtsprechenden Gewalt blieb Sache der Gerichte und die einzelnen Richter waren verfassungsrechtlich vor willkürlichen Entlassungen oder Versetzungen geschützt.108 Zu beachten ist jedoch, dass die Richter nur „innerhalb der Grenzen ihrer Competenz“109 unabhängig waren. Damit blieben sie vom geltendenden Recht abhängig, das in weiten Teilen veraltet und vorkonstitutionell war. Denn ein förmliches Verfahren, durch welches sie ein Gesetz als verfassungswidrig verwerfen konnten, gab es im Frühkonstitutionalismus nicht. Die Umsetzung der Grundrechte galt allein als Aufgabe des Gesetzgebers und die Richter hatten sich bei ihren Urteilen im Rahmen des geltenden Rechts zu bewegen. Um den Richter aber aus dem Dilemma zu befreien, ein offensichtlich verfassungswidriges Gesetz anwenden zu müssen, bediente sich die herrschende Auffassung im frühkonstitutionellen Staatsrecht eines Kunstgriffes: Wenn Gesetze gegen den Inhalt der Verfassung verstießen, galten sie nicht mehr als solche und durften daher vom Richter auch nicht wie Gesetze behandelt werden.110 Hauptanwendungsfall für diesen Grundsatz waren als Gesetz bezeichnete Anordnungen der Exekutive, die ohne die eigentlich erforderliche Zustimmung der Stände erfolgten. Demnach durften die Gerichte einem Gesetz, das in Freiheit oder Eigentum 104 § 3 VIII VU Bayern; § 14 VU Baden; § 93 VU Württemberg; Art. 32 VU Hessen; vgl. auch Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 2, S. 224. 105 Zum Machtspruchverbot in Preußen vgl. oben 6. Kapitel, II. 2. b). 106 Vgl. § 1 VIII VU Bayern; Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 2, S. 216; vgl. auch M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, S. 116. 107 § 1 VIII Bayern; § 43 VU Württemberg. 108 § 3 VIII VU Bayern; § 46 VU Württemberg; Art. 34 VU Hessen. 109 § 14 VU Baden; die Verfassungen Bayerns, Württembergs und Hessens enthalten ähnliche Einschränkungen. 110 Dazu ausführlich J. Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, S. 24 ff.; vgl. auch F. Fremuth, Der Vorbehalt des Gesetzes in der Bayerischen Verfassungsurkunde, S. 194.

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

des Individuums eingriff, aber nicht von den Ständen genehmigt worden war, die Gesetzeseigenschaft absprechen und es als solches unangewendet lassen. Somit war der Richter zumindest in der Theorie aus seiner Abhängigkeit von einem eindeutig verfassungswidrigen Gesetz gelöst. Problematisch war jedoch, dass die Abhängigkeit von der Umsetzung des Grundrechtsprogramms durch den Gesetzgeber blieb.111 Solange ein abstrakt formuliertes Grundrecht nicht vom einfachen Gesetz konkretisiert war, konnte ihm auch durch den Richter kein Leben eingehaucht werden. Und um fehlende einfachgesetzliche Regelungen zu ersetzen, mangelte es den Richtern an der erforderlichen Kompetenz. Der individuelle Freiheitsschutz auf breiter Ebene litt zudem darunter, dass sich eine Verwaltungsgerichtsbarkeit noch nicht herausgebildet hatte.112 Der Weg zu den Gerichten war nach der sog. Fiskustheorie nur offen, wenn der Staat privatrechtlich betroffen war. Dann nämlich konnte sich die Klage gegen die Staatskasse richten, so dass die Person des Monarchen unbeschadet blieb.113 Die Unabhängigkeit der Gerichte nützte aber für den Rechtschutz gegen administrative Freiheitsverletzungen wenig, wenn vom Untertan keine gerichtlichen Verfahren gegen den Staat als solchen angestrebt werden konnten. bb) Die Verfassungsbeschwerde Die frühkonstitutionellen Verfassungen kannten jedoch spezielle Verfahren, die bei Verletzung von Grundrechten einschlägig waren. Zunächst bestand für das Individuum die Möglichkeit, eine Verfassungsbeschwerde zu veranlassen. Wenn es sich in einem seiner „constitutionellen Rechte“114 oder in den „verfassungsmäßigen Gerechtsamen“115 verletzt sah, musste sich das Individuum mittels eines schriftlichen Antrages an die Stände wenden.116 Die Beschwerdeberechtigung wurde jedoch eng ausgelegt. Überwiegend ging man davon aus, dass die Rechte ausdrücklich in der Verfassung selbst genannt sein mussten.117 Die Begründung dafür war, dass die Stände nur die Kompetenz hatten, auf den 111

Vgl. dazu unten 9. Kapitel, III. Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 2, S. 234 ff.; W. Rüfner, DÖV 1963, S. 719 ff.; M. Sellmann, in: Staatsbürger und Staatsgewalt, Bd. I, S. 25 ff. 113 Vgl. oben 6. Kapitel, II. 3. c) ee); vgl. auch § 5 VIII VU Bayern, wonach nur der Königliche Fiskus bei streitigen Privatrechtsverhältnissen bei den Königlichen Gerichtshöfen Recht nehmen konnte. 114 § 21 VII VU Bayern. 115 § 67 VU Baden. 116 Vgl. § 21 VII i. V. m. Art. 5 X VU Bayern; § 67 VU Baden; §§ 36 ff. VU Württemberg; Art. 81 i. V. m. Art. 79 VU Hessen; vgl. auch H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. I, S. 428 f.; ausführlich O. Müller, Die Verfassungsbeschwerde nach der Bayerischen Verfassung von 1818. 117 Vgl. dazu M. von Seydel, Staatsrecht, S. 52; vgl. auch O. Müller, Die Verfassungsbeschwerde nach der Bayerischen Verfassung von 1818, S. 104 ff. m. w. N. 112

II. Die Freiheit der Person

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Schutz der Verfassung hinzuwirken, aber nicht zur allgemeinen Aufsicht über die gesamte Verwaltung befähigt waren.118 Die Verfassungsbeschwerde sollte nicht als Substitut für die fehlende Verwaltungsgerichtsbarkeit fungieren und auch nicht im Dienste eines Freiheitsschutzes stehen, der über die begrenzten, ausdrücklichen Freiheitsrechte hinausging. Folglich konnte das Individuum über die Verfassungsbeschwerde nur punktuellen Rechtsschutz erlangen, eine geschlossene Sphäre der freien Entfaltung wurde nicht geschützt. Als Beschwerdegegenstand kamen nur reine Verwaltungsakte in Betracht. Gerichtliche Urteile und behördliche Entscheidungen mit Rechtskraft schieden von vorne herein aus, denn aufgrund der Unabhängigkeit der Justiz sollten sie keiner Kontrolle durch die Stände unterworfen sein.119 Der Gedanke der Gewaltenteilung, der eigentlich gerade zum Schutz der individuellen Freiheit führen sollte120, hatte durch diese Interpretation genau die gegenteilige Wirkung: Da auch eine gegenseitige Kontrolle der Gewalten ausgeschlossen sein sollte, wirkte er sich gerade zu Lasten der individuellen Freiheit aus. Die Anrufung der Stände war nur dann zulässig, wenn stufenweise auszuführende, vorherige Beschwerden bei den nächsthöheren Behörden erfolglos geblieben waren.121 Problematisch war daran, dass oftmals schon die Kenntnis dieser Rechtsschutzmöglichkeiten fehlte. Ein Großteil der Bevölkerung, der nicht einmal des Schreibens mächtig war122, konnte ohne fremde Hilfe von dieser Form des Rechtsschutzes nicht profitieren. Oft fehlten die Mittel, um die langwierigen behördlichen Verfahren zu bestreiten. Dabei wurde der Rechtsschutzsuchende häufig als lästiger Störenfried und Querulant gesehen, was schon der Wortlaut der Württembergischen Verfassung zeigt: Nur derjenige, der „sich auch bei Entscheidung der obersten Staatsbehörde nicht beruhigen zu können“123 glaubte, durfte den Ständen seine Beschwerde vortragen. Die nächste Hürde war die erforderliche Annahme der Beschwerde durch die Stände.124 Im parlamentarischen Alltag fehlte diesen jedoch für eine umfassende Auseinandersetzung mit jedem Einzelfall die Zeit.125 Wenn sie die Be118

Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 2, S. 236. M. von Seydel, Staatsrecht, S. 52; O. Müller, Die Verfassungsbeschwerde nach der Bayerischen Verfassung von 1818, S. 118 f.; W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 189 f. 120 Vgl. dazu oben 4. Kapitel, II. 2. 121 Vgl. dazu R. von Mohl, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1847, S. 137 ff.; vgl. auch O. Müller, Die Verfassungsbeschwerde nach der Bayerischen Verfassung von 1818, S. 124 ff. 122 Zum Analphabetentum im 19. Jahrhundert vgl. R. Engelsing, Analphabetentum und Lektüre, S. 96 ff. 123 § 38 VU Württemberg. 124 Vgl. dazu O. Müller, Die Verfassungsbeschwerde nach der Bayerischen Verfassung von 1818, S. 102 f. 119

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

schwerden annahmen, waren ihre Mittel auf das allgemeine ständische Beschwerderecht begrenzt: In Baden und in Hessen wurde die Verfassungsverletzung dem Monarchen lediglich angezeigt, eine Verbindlichkeit für diesen erwuchs daraus nicht. Folglich bestand die Gefahr, dass die Beschwerde schon aus mangelndem Interesse des Monarchen wirkungslos blieb. Im dualistischen Machtstreit mit der Ständevertretung war es zudem nicht unwahrscheinlich, dass der Landesfürst „seine“ Staatsdiener gegenüber der Ständevertretung verteidigte. Das Beschwerderecht der Stände war Ausdruck ihres Kontrollrechts und ihrer Machtposition, die den frühkonstitutionellen Dualismus begründete. Jede Konsequenz, die der Monarch an eine solche Beschwerde der Stände geknüpft hätte, hätte zumindest indirekt zu einer Stärkung der Volksvertretung zu seinen eigenen Lasten geführt. Allerdings konnten sich die Monarchen nicht überall ohne weiteres über die Beschwerde hinwegsetzen. In Bayern durfte der König ihr nur abhelfen. Tat er das nicht, musste er die Beschwerde dem obersten Landgericht oder dem Staatsrat zur Entscheidung überlassen126, wobei in der Praxis nur Letzterer von Bedeutung war.127 In Württemberg wurde schon die Anzeige der Beschwerde durch die Stände an den Staatsrat und nicht an den König gerichtet.128 Damit war die Entscheidungsbefugnis des Monarchen aufgehoben, denn der Staatsrat entschied unabhängig vom König. Insoweit übte dieses Gremium die Funktion eines erkennenden Gerichts aus und war nicht mehr nur beratend tätig. Letztlich stand aber auch der Staatsrat unter dem Einfluss des Königs, setzte er sich doch aus vom König ernannten Ministern und Staatsräten zusammen.129 Die Staatsräte galten als „Indikatoren der Macht und Funktion der Monarchen“130 und waren ebenfalls Teil der Verwaltung. Die Verfassungsbeschwerde lief somit auf eine Selbstkontrolle der Verwaltung hinaus. Deshalb erstaunt es nicht, dass die wenigen Beschwerden, die überhaupt bis zum Staatsrat gelangten, fast vollständig abgewiesen wurden.131 Eine unabhängige Instanz, durch die das Individuum gegenüber dem Staat rechtlichen Schutz seiner Grundrechte erfuhr, gab es nicht. Dieser Umstand war auch Ausdruck des monarchischen Prinzips: Wenn alle 125 Zum parlamentarischen Alltag vgl. H. Brandt, in: Kirsch/Schiera, Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus, S. 99 (105 ff.). 126 § 5 X VU Bayern; vgl. O. Müller, Die Verfassungsbeschwerde nach der Bayerischen Verfassung von 1818, S. 102 f. 127 M. von Seydel, Staatsrecht, S. 53. 128 § 38 VU Württemberg. 129 Vgl. dazu ausführlich H.-U. Hansen, Der Staatsrat im 19. Jahrhundert; M. von Seydel, Staatsrecht, S. 68. 130 So H.-U. Hansen, Der Staatsrat im 19. Jahrhundert, S. 416; zur fehlenden Unabhängigkeit des Staatsrats auch W. Rüfner, DÖV 1963, S. 719 (724); M. Sellmann, in: Staatsbürger und Staatsgewalt, Bd. I, S. 25 (57). 131 Vgl. dazu die Übersicht bei O. Müller, Die Verfassungsbeschwerde nach der Bayerischen Verfassungsurkunde von 1818, S. 130.

II. Die Freiheit der Person

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Staatsgewalt auf den Monarchen zurückzuführen sein sollte, konnte durch den Staat kein Schutz vor dem Staat erfolgen. Denn man konnte vom Monarchen nicht erwarten, dass er seine Untertanen vor sich selbst schützte. cc) Die Verwaltungsbeschwerde Einen Grundrechtschutz durch unabhängige Verwaltungsgerichte gab es im Frühkonstitutionalismus nicht. Dahinter stand die einseitige Interpretation der Gewaltenteilung, nach der die Administration frei von richterlicher Einwirkung bleiben sollte.132 Stattdessen entschieden im Rahmen der sogenannten Verwaltungsbeschwerde die Verwaltungsbehörden selbst, galten sie doch als „kunstverständig und zuverlässig“133. Einem Richter sollte es demgegenüber an Sachverstand fehlen. Außerdem hätte eine gerichtliche Kontrolle über die Verwaltung bedeutet, „die Richter zugleich mit Regierungsgewalt zu bekleiden oder die eigentliche Regierung herabzuwürdigen“134. In Süddeutschland übernahm der Staatsrat eine besondere, verwaltungsgerichtsähnliche Funktion.135 Die Verfassungen sahen zunächst nur vor, dass er vor allem bei Eigentumsverletzungen angerufen werden konnte.136 Nach und nach erfuhr sein Zuständigkeitsbereich eine einfachgesetzliche Erweiterung auf alle Fälle, in denen die individuelle Freiheit der Staatsbürger betroffen war.137 Damit war ein Rechtsbehelf geschaffen, der über den punktuellen Schutz der Verfassungsbeschwerde hinausging und eine geschlossene Freiheitssphäre abzuschirmen begann. Doch auch hier entschied der Staatsrat und keine unabhängige Instanz, so dass auch die Verwaltungsbeschwerde kein effektives Rechtsschutzmittel war und letztlich auf eine administrative Selbstkontrolle hinauslief.138

132 Vgl. dazu auch B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 407. 133 Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 2, S. 236. 134 Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 2, S. 236; vgl. auch R. von Mohl, Staatsrecht, S. 394. 135 C. J. A. Mittermaier, AcP 4 (1821), S. 305 (350); H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. II, S. 177 ff.; B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 411. 136 § 8 IV VU Bayern; § 60 Nr. 3 i. V. m. § 30 VU Württemberg. 137 W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 196; H.U. Hansen, Der Staatsrat im 19. Jahrhundert, S. 118 ff., 176 ff., 240 ff.; vgl. auch W. Rüfner, DÖV 1963, S. 719 (723 ff.). 138 Vgl. oben 8. Kapitel, II. 3. b) bb).

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

dd) Die Ministeranklage Es blieb die Möglichkeit der Ministeranklage. Bei Verletzung „anerkannter verfassungsmäßiger Rechte“139 durch einen Minister oder einen höheren Staatsbeamten konnten die Stände eine förmliche Anklage gegen diesen erheben.140 Die Anforderungen an die Klageberechtigung waren jedoch hoch. Die Klage musste nämlich von beiden Kammern gemeinsam beschlossen worden sein141, so dass ein Einigungszwang für die in ihren Interessen oftmals unterschiedlich ausgerichteten Kammern bestand. Nur in Baden vermochte die zweite Kammer die Anklage allein zu erheben, bedurfte dazu aber einer Zweidrittelmehrheit. 142 Die Ministeranklage zeichnete sich dadurch aus, dass am Ende des Verfahrens die Entscheidung einer unabhängigen Instanz stand: In Bayern entschied das oberste Landesgericht, in Hessen das Oberappellationsgericht.143 In Baden wurde ein Gremium aus der ersten Kammer und acht ausgelosten Richtern gebildet, dem der Präsident des obersten Gerichtshofes angehörte.144 Interessant ist vor allem die Zusammensetzung des Staatsgerichtshofs in Württemberg: Den sechs vom König ernannten Richtern standen gemäß Art. 196 sechs von der Ständeversammlung gewählte Richter gegenüber. Ihnen saß ein Präsident vor, der gemäß Art. 202 nicht stimmberechtigt war. Bei jedem Beschluss war darauf zu achten, dass eine gleiche Anzahl königlicher und ständischer Richter anwesend war. Württemberg war gleichzeitig das einzige Land, in dem nicht nur die Stände die Minister und höheren Staatsbeamten, sondern gemäß Art. 199 umgekehrt auch die Regierung die Stände anklagen konnten. Das förmliche Anklageverfahren war damit klarer Ausdruck des Dualismus zwischen König und Ständevertretung. Folglich wurde die Ministeranklage eher dazu genutzt, die Rechte der Stände zu wahren und war weniger auf einen individuellen Rechtschutz angelegt: Zunächst war das Individuum selbst nicht antragsberechtigt. Es konnte daher nur darauf hoffen, dass die Ständeversammlung in seinem Interesse eine Ministeranklage anstrebte. Die Volksvertretungen konnten jedoch nicht bei jeder individuellen Verletzung das förmliche Anklageverfahren anstreben. Schließlich mussten sie sich auch noch ihren übrigen, nicht minder bedeutsamen parlamentarischen Aufgaben, zu denen auch die einfachgesetzliche Umsetzung der Grundrechte gehörte, widmen können. Außerdem bot die Ministeranklage kei139

§ 67a VU Baden. Vgl. § 6 X VU Bayern; §§ 67a ff. VU Baden; § 199 i. V. m. § 195 VU Württemberg; Art. 109 VU Hessen i. V. m. dem Hessischen Gesetz über die Verantwortlichkeit der Minister und der obersten Staatsbeamten vom 5. Juli 1821 (Ministerverantwortlichkeitsgesetz), abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 236; vgl. auch D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 137; F.-J. Peine, Staat 22 (1983); S. 521 (522). 141 § 6 X VU Bayern; Art. 4 Ministerverantwortlichkeitsgesetz Hessen. 142 § 67a VU Baden. 143 § 6 X VU Bayern; Art. 3 Ministerverantwortlichkeitsgesetz Hessen. 144 § 67b VU Baden. 140

II. Die Freiheit der Person

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nen Schutz vor alltäglichen Grundrechtsverletzungen durch die einfachen Behörden.145 Somit entschied zwar bei der Ministeranklage anders als bei der Verfassungsbeschwerde eine unabhängige Instanz, für den individuellen Rechtsschutz brachte dieses Instrument im dualistischen Machtkampf zwischen Monarch und Ständevertretung aber nur einen geringen Gewinn. Da jedoch mit der Ministeranklage eine Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten der Ständevertretung eingetreten war, wirkte sie sich zumindest mittelbar zugunsten des Freiheitsschutzes aus. ee) Bewertung Insgesamt stellte der Staat keine ausreichenden Rechtsschutzmöglichkeiten bereit, um den verfassungsrechtlich zugesicherten Schutz der Person einzufordern.146 Nicht einmal der Schutz der bestehenden individuellen Freiheitsrechte, auf den sich die „Freiheit der Person“ beschränkte, war sichergestellt. Mit der Freiheit der Person litten deshalb gleichzeitig die übrigen Staatsbürgerrechte an einer Durchsetzungsschwäche. Zwar war der frühkonstitutionelle Staatsbürger in eine direkte Beziehung zum Staat getreten und erstmals überhaupt waren individuelle Rechtsschutzmöglichkeiten verfassungsrechtlich vorgesehen. Dennoch blieb der Staatsbürger von der Mitwirkung der Stände abhängig und hatte keine Möglichkeit, die Staatsbürgerrechte, mit denen er vom Staat selbst ausgestattet worden war, von diesem unmittelbar zu erzwingen. Der Schutz der Person, der durch den Staat erfolgen sollte, war damit nicht Bestandteil der individuellen Rechtsposition, sondern wurde in das dualistische Spannungsfeld zwischen Monarch und Ständen gerückt. 4. Zukunftsweisende Funktion Die verfassungsrechtlich garantierte „Freiheit der Person“ gab Anstoß zu politischen und juristischen Diskussionen, die für die künftige Grundrechtsentwicklung bedeutsam sein sollten: a) Freiheitsschutz als Aufgabe des Staates Der mit der Freiheit der Person verbundene Schutz bewirkte, dass nicht nur der Freiheitsschutz vor, sondern auch der Freiheitsschutz durch den Staat an Bedeutung gewann. Nach den modernen naturrechtlichen Ansichten war die 145 D. Grimm, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 234 (244). 146 So auch H. Brandt, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 460 (467); C. Schulze, Frühkonstitutionalismus in Deutschland, S. 77; W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rdnr. 269.

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

Gründung des Staates vor allem zum Schutz der individuellen Freiheit erforderlich. Der Freiheitsschutz wurde somit zur ersten Aufgabe des Staates.147 Die frühkonstitutionelle Staatsrechtslehre übernahm diesen Ansatz. Da die frühkonstitutionellen Monarchien gerade aus dem Bedürfnis heraus entstanden seien, die Freiheiten der Staatsbürger zu schützen, sei die Anerkennung und der Schutz eben dieser ein Hauptanliegen dieser Staatsform.148 Davon unterschied sich die tatsächliche Ambition hinter den einseitig gewährten frühkonstitutionellen Verfassungen grundlegend: Demnach konnte der Freiheitsschutz schon deswegen nicht primärer Staatszweck sein, da die Freiheit dem Staat nicht voranging, sondern überhaupt erst durch diesen geschaffen wurde. Dennoch entstand auch nach diesem Ansatz eine Verbindlichkeit des Staates zum Freiheitsschutz: Mit den verfassungsrechtlich verankerten justiziellen Rechten, die dem Schutz der Person dienen sollten, hatte der Staat versprochen, auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln. Zunächst hatten diese Versprechen eher abwehrenden Charakter: Das Verbot willkürlicher Verhaftungen z. B. stellte eine Möglichkeit dar, staatliche Eingriffe in die Individualsphäre abzuwehren. Anders sah es bei der Unabhängigkeit der Justiz aus: Um dieses Versprechen zu halten, musste der Staat selbst aktiv tätig werden und unabhängig richten. Damit enthielt der Freiheitsschutz eine neue Richtung: Er war zur Aufgabe des Staates geworden und musste durch diesen erfolgen. In der Staatsrechtslehre wurde daher der Schutz der Person auch als ein Recht des Individuums verstanden, welches den Staat nicht nur abwehren, sondern zum Handeln veranlassen konnte.149 Der Freiheitsschutz war damit zur positiven Aufgabe des Staates geworden. Auch wenn die Erfüllung dieser Aufgabe vom Individuum nicht erzwingbar war, bewirkte allein die Forderung danach einen enormen Legitimationsdruck. Denn ein Staat, der seine Aufgaben nicht erfüllte, war immer schwerer zu rechtfertigen. b) Forderung nach weiteren justiziellen Rechten Der in der Verfassung konkretisierte Schutz der Person wurde aber nicht nur verstärkt eingefordert, sondern auch ausgedehnt: Die frühkonstitutionelle Staatsrechtslehre stellte bald fest, dass für einen effektiven Schutz der Person die in der Verfassung explizit genannten justiziellen Rechte nicht ausreichten. Mohl verstand die prinzipielle Anerkennung des Schutzes der Person so, dass damit zu noch wichtigeren Rechten, die in der Strafgesetzgebung noch zu entwickeln seien, „wenigstens die Keime gelegt“ seien.150 Es wurden weitere Rechte abge147

Vgl. oben 4. Kapitel, I. 3., 6. Kapiltel, I. 2. a). So H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 128 f. 149 Vgl. dazu ausführlich G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 101 ff. 148

II. Die Freiheit der Person

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leitet und gefordert: Die Verfahren sollten künftig öffentlich und mündlich sein, Justiz und Verwaltung sollten getrennt sein und sowohl eine Staatsanwaltschaft als auch Geschworenengerichte sollten eingeführt werden.151 Außerdem sollte jede Verhaftung innerhalb einer bestimmten Frist einem Richter vorgelegt werden müssen.152 Die Umsetzung dieser Forderungen war nach dem direkten Wortlaut der Verfassung eigentlich nicht vorgesehen und ging über die dort gewährten justiziellen Rechte klar hinaus. Sie galt jedoch als erforderlich, um den Schutz der Person zu realisieren. Da nun der Monarch in den Verfassungen den grundsätzlichen Schutz – so eingeschränkt er ihn auch gemeint haben mag – ausdrücklich versprochen hatte, musste die künftige Gesetzgebung auf die Umsetzung der gestellten Forderungen hinwirken. Folglich wurden aus dem Schutz der Person indirekte Anforderungen an die Gesetzgebung abgeleitet, die erfüllt werden mussten, damit der Monarch sein Versprechen hielt. c) Naturrechtliche Begründung der persönlichen Freiheit in der frühkonstitutionellen Staatsrechtslehre Die Staatsrechtsrechtslehre begnügte sich nicht mit der oben dargestellten eingeschränkten Vorstellung der vom Staat positiv gewährten persönlichen Freiheit im Sinne der Sicherheit der Person. Stattdessen griff sie bei der Deutung der Freiheitsrechte auf die naturrechtlichen Grundlagen zurück, wodurch die Freiheit der Person einen ganz anderen, grundlegenden Umfang erhielt. Selbst der konservative Friedrich Julius Stahl sah die persönliche Freiheit nicht als großzügiges Geschenk des Monarchen. In Wahrheit sei die Freiheit „nicht trennbar vom sittlichen Wesen des Menschen“153, womit er die Natur des Menschen als Ursprung der Freiheit anerkannte. Die Freiheit galt somit zwar als Urrecht, gleichzeitig war sie aber sittlich gebunden. Anstatt willkürlich aus den verschiedenen Handlungsmöglichkeiten zu wählen, sollte der Mensch nur tun, was sein „verständiger Lebenszweck“ ihm gebiete. Die beste Möglichkeit dazu bestand nach Stahl in der Befolgung der Regierungsanordnungen, denn „in diesem Fall und nur in diesem gehorche ich, indem ich der Obrigkeit gehorche, nur mir selbst, bleibe also so frei als zuvor“154. Diese sittliche Gebundenheit der individuellen Freiheit hatte ihre Wurzel in der naturrechtlichen Theorie Christian Wolffs.155 Sie bewirkte, dass die Freiheit des Menschen, obwohl sie als vorstaatliches Urrecht anerkannt war, in ihrem Ausmaß innerhalb des Staates zusammenschrumpfte. Eine persönliche Freiheit, die über die einzelnen 150 151 152 153 154 155

Staatsrecht, S. 342. C. Cucumus, Staatsrecht, S. 223 ff.; Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 2, S. 240 ff. R. von Mohl, Staatsrecht, S. 344. Philosophie des Rechts, Bd. 2, 1. Abteilung, S. 330. Ebd., S. 330. Vgl. oben 3. Kapitel, III. 2. a) aa).

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

Staatsbürgerrechte der frühkonstitutionellen Verfassungen hinausging, konnte nach Stahl nicht gefordert werden. Anderer Auffassung war Robert von Mohl, der die in der Verfassung aufgezählten Staatsbürgerrechte keineswegs als abschließend betrachtete. Vielmehr ging er davon aus, dass „ein Recht, welches aus den obersten Sätzen der württembergischen Verfassung mit logischer Nothwendigkeit für jeden Staatsteilnehmer, schon als solchen, abgeleitet werden kann, als gültig ebenfalls anerkannt werden muß.“156 Folglich war eine Ausdehnung der Freiheitsrechte möglich, solange sie sich im Rahmen der Verfassungsgrundsätze bewegte. Weiter ging die Ansicht Carl von Rottecks. Er ging in Anlehnung an Kant vom Prinzip größtmöglicher Freiheit aus, die ihre Grenzen erst im äußeren Freiheitsanspruch der anderen finde.157 Wichtig ist aber, dass sich die Freiheit der Person keineswegs in diesem exklusiven Schutz erschöpfte. Denn die Freiheit galt dem Menschen als angeboren und sollte jeder Person schlechthin zukommen. Der Staat könne die Freiheit gar nicht ganz „oder gar nur einzelne Bruchstücke derselben“158 verleihen, auch wenn die frühkonstitutionellen Verfassungen genau das zu tun vorgaben. Folglich konnten nach Rotteck die persönlichen Rechte der frühkonstitutionellen Staatsbürger nicht vom Staat geschaffen sein. Vielmehr war es die Pflicht des Staates, die dem Menschen von Natur aus zustehende Freiheit anzuerkennen.159 Rotteck versah somit das positive Recht mit einer naturrechtlichen Interpretation. Die Konsequenz war, dass die Freiheit der Person über die einzelnen Staatsbürgerrechte hinausging und zu einer Sphäre der freien, individuellen Entfaltung wurde, die weitere Freiheitsrechte in sich barg. Dazu gehörten „die Gedanken- und Gewissensfreiheit, die Rede- und Preßfreiheit, die Gewerbe- und Handelsfreiheit, die Studien-, überhaupt die Lern- und Lehrfreiheit, die Auswanderungsfreiheit usw.“.160 Die Abkehr vom eingeschränkten, nur auf einen Schutz ausgerichteten Verständnis der Freiheit der Person wird besonders in dem von Aretin begründeten und von Rotteck fortgeführten Lehrbuch zum „Staatsrecht der constitutionellen Monarchie“ deutlich. Zwar sah man in Freiheit und Sicherheit „im Allgemeinen 156

Staatsrecht, S. 313. In: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. VI (Freiheit), S. 65; vgl. auch P. Pfizer, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. XV (Urrechte und unveräußerliche Rechte), S. 621 ff. 158 In: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. VI (Freiheit), S. 67. 159 Ebd., S. 67; vgl. auch H, Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 38, 113 f. 160 In: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. VI (Freiheit), S. 68; vgl. auch Lehrbuch des Vernunftrechts, Bd. 2, S. 136 f.; eine ähnliche Aufzählung der Rechte, die unter die „Personalfreiheit“ fallen, findet sich bei H. Zoepf, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 117. 157

III. Das Eigentum

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genommen identische Begriffe“161, später wurde jedoch explizit gesagt, dass es sich um verschiedene Rechte handelte. Während die Sicherheit der Person auf bestimmte Rechte im Haft- und Strafverfahren beschränkt blieb, umfasste die Freiheit der Person „ueberhaupt das Recht zu thun, was nicht durch ein Gesetz verboten ist“162. Das weite Freiheitsverständnis Rottecks stand somit offensichtlich in einer Diskrepanz zur verfassungsrechtlichen Realität und wurzelte eher im Naturrecht.163 Doch auch dafür lieferte Rotteck eine Erklärung: Die nach seiner Lehre ungerechtfertigten Freiheitsbeschränkungen sah er als ungerecht und „vor dem Forum des Vernunftrechts ungültig“ an, auch wenn „die Gewalt sie factisch geltend machen und die Autorität ihnen die äußere Rechtsform verleihen mag“164. Indirekt machte Rotteck dadurch deutlich, dass die mangelnde Anerkennung einer umfassenden Freiheitssphäre allein auf staatlicher Gewalt und Macht beruhte, einer vernünftigen Begründung jedoch entbehrte und gegen das Naturrecht verstieß. Die Ursache von Freiheitsverletzungen wurde somit in der monarchischen Staatsgewalt gesehen. Die Konsequenz war, dass Forderungen nach Ausdehnung der Freiheitsrechte automatisch gegen die Machtposition des Monarchen gerichtet waren. d) Entwicklungsmöglichkeiten der Freiheit im Spannungsfeld des frühkonstitutionellen Dualismus Es wird deutlich, dass die Rechtsschutzmöglichkeiten bezüglich der gewährten Freiheitsrechte sowie deren Ausdehnung im machtpolitischen Spannungsfeld zwischen dem Monarchen einerseits und den Ständen andererseits lagen. Dieser Zustand war jedoch keineswegs statisch: Der frühkonstitutionelle Dualismus begründete eine Widersprüchlichkeit, die nach Auflösung verlangte. Dabei musste jede Auflösung zugunsten der Ständevertretung positiv auf den Freiheitsschutz wirken. Der frühkonstitutionelle Dualismus versprach daher in seiner Widersprüchlichkeit zum Motor der Freiheitsentwicklung zu werden.

III. Das Eigentum Die Ausgestaltung des Eigentumsrechts ist für jede Gesellschaftsordnung von entscheidender Bedeutung und somit stets eine zentrale Verfassungsfrage.165 Im Frühkonstitutionalismus entsprach das neue Gleichheits- und Freiheitsverständ161

Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 2, S. 1. Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 2, S. 3. 163 Vgl. Th. Würtenberger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 49. 164 In: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. VI (Freiheit), S. 66. 162

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

nis dem gewandelten Eigentumsbegriff. In Zeiten der staatsbürgerlichen Gleichheit war nämlich das allgemeine, für alle gleichermaßen zu erwerbende Eigentum die Regel geworden und als Eigentum verstandene Vorrechte galten als Ausnahmen. Außerdem war das Eigentum eines der ausdrücklich gewährten Freiheitsrechte, die als solche geschützt werden sollten. 1. Verfassungsrechtliche Ausgestaltung Den engen Zusammenhang zwischen dem Freiheits- und Eigentumsverständnis zeigt schon der Wortlaut der Verfassungen: Das Eigentum wurde in den gleichen Sätzen wie die Freiheit gesichert und unter den „Schutz“ der Verfassung gestellt.166 Schon daran kann man die besondere Bedeutung des Eigentums erkennen. Fraglich ist jedoch, ob die Verfassungen nur den „Schutz“ und die Sicherheit bestimmter Eigentumsrechte garantierten, oder ob das Eigentum als eine eigenständige individuelle Sphäre freier Entfaltung verstanden werden sollte. Die Sicherheit des Eigentums wurde in den Grundrechtskatalogen durch den Schutz vor Enteignungen näher konkretisiert. Eine zulässige Expropriation musste vom Staatsrat oder dem Staatsministerium beschlossen worden sein, dem öffentlichen Zweck dienen und mit einer vorherigen Entschädigung verknüpft werden.167 Außerdem wurde die Vermögenskonfiskation abgeschafft168, die bislang die Entziehung des Eigentums zu Strafzwecken ermöglicht hatte. Verstärkt wurde der Eigentumsschutz vor allem durch die Freiheits- und Eigentumsklausel, die in den Bestimmungen zur Ständeversammlung zu finden war. Gesetzgeberische Eingriffe in das Eigentum erforderten demnach die Zustimmung der Ständeversammlung.169 2. Entstehungsbedingungen: Der Wandel vom ständischen zum freien Eigentum Die Wurzeln dieses Eigentumsschutzes gehen zurück bis in die ständische Gesellschaft, wobei hier noch ein ganz anderes Eigentumsverständnis zugrunde lag. Bei den Liegenschaften gab es nicht einen einzigen Eigentümer, sondern 165 E.-W. Böckenförde, in: Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 318; H. J. Wipfelder, in: FS Küchenhoff, S. 747 (750). 166 § 8 IV VU Bayern; vgl. auch § 13 VU Baden; § 24 VU Württemberg; Art. 23 VU Hessen. 167 § 8 IV VU Bayern; § 14 VU Baden; § 30 VU Württemberg; Art. 27 VU Hessen. 168 § 16 VU Baden. 169 § 2 VII VU Bayern; § 65 VU Baden; § 88 VU Württemberg; Art. 72 VU Hessen.

III. Das Eigentum

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eine Vielzahl an Nutzungs- und Bestimmungsrechten, die sich im Ober- oder Untereigentum niederschlugen. Gleichzeitig war das Eigentum mit der Ausübung bestimmter politischer und sozialer Pflichten verbunden. Da der Adel vom Monarchen das Untereigentum an bestimmten Ländereien erhalten hatte, deren Obereigentümer stets der Monarch selbst blieb, musste er im Gegenzug z. B. militärische Dienste leisten.170 Neben dem Grundeigentum wurden vermögenswerte Privilegien verliehen, welche z. B. die Ausübung eines Gewerbes nach der strengen Zunftordnung ermöglichten.171 Das Eigentum sollte der Sicherung der wirtschaftlichen Existenz dienen, indem es geschützt und in seinem Bestand erhalten wurde.172 Gegenstand freier Verfügung war das ständische Eigentum daher nicht, sondern es war mit freiheitseinschränkenden Pflichten verbunden. In den Städten bildete sich aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung schon bald ein „freies Eigentum“173 heraus, das als Sachherrschaft in Form der freien Verfügbarkeit verstanden wurde. In die gleiche Richtung zielte das Naturrecht, welches das Eigentum mit dem Freiheitsgedanken verbunden hatte. Nach Locke hatte jeder Mensch von Natur aus das Recht, sich Gegenstände durch den Einsatz seiner Arbeitskraft anzueignen und frei über diese zu verfügen.174 Es entstand somit ein moderner Eigentumsbegriff, der in den Dienst der individuellen Freiheit gestellt wurde. In den nordamerikanischen Menschenrechtserklärungen konnte das freie, allgemeine Eigentum eine herausragende Bedeutung einnehmen, denn eine ständische Eigentumsordnung hatte es in der „neuen Welt“ nie gegeben.175 Ganz anders sah das in Frankreich aus: Hier wurde die bisherige Eigentumsdogmatik durch die Rezeption des revolutionären Freiheitsgedankens radikal verändert: Der naturrechtliche Eigentumsbegriff, der in Art. 2 der Menschenrechtserklärung als unabdingbares Recht proklamiert wurde, stand im schroffen Gegensatz zu der noch bestehenden ständischen Ordnung und gab der Menschenrechtserklärung ihren revolutionären Charakter. Der moderne Eigentumsbegriff setzte die Ablösung der feudalen und ständischen Vorrechte voraus, die allerdings nach altständischem Verständnis ebenfalls als Eigentum galten. Revolutionskriti170 U. Scheuner, in: Scheuner/Küng, Der Schutz des Eigentums, S. 7 (10 ff.); D. Willoweit, in: Schwartländer/Willoweit, Das Recht des Menschen auf Eigentum, S. 7 ff.; M. Stolleis, in: Konvention und Intervention, S. 47 (50). 171 D. Willoweit, in: Schwartländer/Willoweit, Das Recht des Menschen auf Eigentum, S. 7 (9). 172 Vgl. auch O. Depenheuer, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 11, Rdnr. 39 ff. 173 Zu diesem Begriff J. Schwartländer, in: Das Recht des Menschen auf Eigentum, S. 83 (84). 174 Zwei Abhandlungen über die Regierung, II, § 26 f., S. 216 f. 175 Vgl. oben 4. Kapitel, I.

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

ker kamen daher zu dem Schluss, dass die Menschenrechte in Frankreich letztlich dazu geführt hätten, das Eigentum aufs Gröbste zu missachten.176 Nicht zuletzt aufgrund der abschreckenden Wirkung dieser Kritik vollzog sich in Deutschland der Wandel vom ständischen zum modernen Eigentumsbegriff langsamer, auch wenn der revolutionäre französische Eigentumsbegriff nachwirkte.177 Vor allem waren es aber wirtschaftliche Gründe, durch welche die Landesherren dazu veranlasst wurden, das Eigentum aus den ständischen Zwängen zu lösen. Die Erhaltung und der Bestand des Eigentums reichten zur Sicherung der ökonomischen Existenzgrundlage nicht mehr aus. Im Handel und Gewerbe wurden die wirtschaftlichen Gewinne entdeckt, die sich durch eine unbeschränkte Verfügung über ein freies Eigentum ergaben. Schon deshalb begannen die Physiokraten, sich massiv für ein allgemeines Eigentumsrecht einzusetzen. Dabei vereinigte sich die naturrechtliche Idee mit der wirtschaftspolitischen Forderung, die schon aufgrund der Bedeutung für die ökonomische Existenz mit besonderer Vehemenz vorgetragen wurde. Ein politischer Druck auf die Landesfürsten entstand, dem zuerst das Preußische ALR ansatzweise nachgegeben hatte. Hier kam es zu einem Mischzustand ständischen und allgemeinen Eigentums, wobei für den Schutz des Letzteren auf die tradierten Sicherungsmöglichkeiten des ständischen Eigentums zurückgegriffen werden konnte.178 Zudem wurde eine zusätzliche Untermauerung des allgemeinen Eigentumsbegriffs entdeckt: Wer wie die Rechtspositivisten die naturrechtliche Herleitung ablehnte, konnte sich auf das römische Recht berufen, das ebenfalls von einem allgemeinen Begriff des in der Verfügung nicht beschränkten Eigentums ausging.179 In Rom konnte man erst in seiner Eigenschaft als Eigentümer zur „Person“ werden, die sich von den unfreien Sklaven unterschied. Die Person zeichnete sich durch ihre Selbständigkeit aus, die ihr aufgrund ihres Herrschaftsrechts und ihrer Autonomie über körperliche Gegenstände zukam.180 176 Vgl. nur E. Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution, S. 212 ff.; F. Gentz, Betrachtungen über die Französische Revolution, Anmerkungen, S. 504; vgl. auch E. F. Klein, Freyheit und Eigenthum, S. 41; zurückhaltender J. A. Reuß, in: Stammen/Eberle (Hrsg.), Deutschland und die Französische Revolution, S. 72 (73). 177 Vgl. nur C. Garve, Berlinische Monatsschrift 1791, S. 429 (445 ff.); Th. Würtenberger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 38. 178 Vgl. oben 6. Kapitel, II. 3. c) bb). 179 Dazu ausführlich J. Schwartländer, in: Schwartländer/Willoweit, Das Recht des Menschen auf Eigentum, S. 83 (84); H. Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem, S. 205; U. Scheuner, in: Scheuner/Küng, Der Schutz des Eigentums, S. 7 (12, 16); D. Willoweit, in: Schwartländer/Willoweit, Das Recht des Menschen auf Eigentum, S. 7 (10). 180 Vgl. dazu auch P. Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten, S. 259 ff., 277 f., der darlegt, dass die Leibeigenen gerade aufgrund der bestehenden Verfügungsmöglichkeiten über ihr Eigentum überwiegend als Freie im Sinne des römischen Rechts und nicht als Sklaven galten.

III. Das Eigentum

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Folglich entstand nach römischem Recht ein Ansehen gegenüber der Person, das durch das Eigentum begründet war. Erst durch dieses Ansehen ergaben sich – ähnlich wie durch die naturrechtliche Vorstellung der Menschenwürde – individuelle Entfaltungsmöglichkeiten. Beim Eigentum kamen damit die sonst so konträren Rechtspositivisten und Naturrechtler zum gleichen Ergebnis, das zudem den wirtschaftlichen Interessen entsprach. Nicht nur der Eigentumsbegriff, sondern auch das Verhältnis des Eigentums zum Herrscher hatte sich verändert. Während die wohlerworbenen Rechte in der altständischen Ordnung dem Herrschaftsrecht des Monarchen gleichwertig entgegengehalten werden konnten, trat im Absolutismus mit der vollen, uneingeschränkten Souveränität des Monarchen eine Verschiebung zu dessen Gunsten ein. Dieser konnte bei der Ausübung seines Gesetzgebungsrechts im Namen der Glückseligkeit auch allgemeinverbindlich über vermögenswerte Rechtspositionen seiner Untertanen befinden.181 Dabei sollte jede Rechtsbeeinträchtigung des Individuums zwar durch den Staatszweck des öffentlichen Wohls gerechtfertigt sein, eine Überprüfung des Monarchen fand jedoch nicht statt. Daher führte die absolutistische Staatspraxis zu einem verschärften Gefährdungsbewusstsein gegenüber willkürlichen Eigentumseingriffen und rief vor allem physiokratische Kritik hervor.182 Als durch den Übergang zum Konstitutionalismus der unbeschränkten Herrschaftsmacht Grenzen gesetzt wurden, war es ein zentrales Anliegen, das Eigentum durch diese Grenze zu schützen. Die herausragende Position, die dem Eigentum in den frühkonstitutionellen Verfassungen als gleichwertig neben der Freiheit formuliertes Recht zukam, erklärt sich nicht zuletzt aus den besonders vorteilhaften Entstehungsbedingungen: Die Übernahme ständischer Schutzmöglichkeiten, die rechtspositivistische und naturrechtliche Begründungsmöglichkeit und vor allem die wirtschaftliche Erforderlichkeit, über die ein politischer Druck auf den Landesfürsten langsam zu entstehen begann. Daher eignete sich das Eigentum ganz besonders dazu, als individuelles Freiheitsrecht verstanden zu werden und es übernahm eine Vorreiterfunktion. Die Aufschlüsselung der Entstehungsbedingungen des Staatsbürgerrechts auf Eigentum zeigt, dass unter „Freiheit und Eigentum“ in den frühkonstitutionellen Verfassungen mehr zu verstehen ist als die Verkörperung der aufgehobenen Leibeigenschaft.183 Es ging nicht um die bloße Abwehr einer erfahrenen Unterdrückung, sondern um die positive Anerkennung der Freiheitsrechte. Diese Freiheitsrechte sollten ihren Ursprung nicht in der bloßen Abwesenheit von frei181 C. G. Svarez, Kronprinzenvorträge, in: Conrad/Kleinheyer, S. 464 f.; H. Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem, S. 207 ff.; U. Scheuner, in: Scheuner/Küng, Der Schutz des Eigentums, S. 7 (20 ff.). 182 Vgl. dazu oben 6. Kapitel, I. 2. a) bb). 183 So aber P. Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten, S. 171.

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

heitseinschränkenden Rechten des Leibherren haben, sondern im Individuum selbst. Schon dadurch gewannen sie einen Umfang, der über die bloße Abwesenheit der Leibeigenschaft hinausging. 3. Eingeschränkte Geltungskraft In der liberalen frühkonstitutionellen Staatsrechtslehre wurde das Eigentum dem umfassenden Freiheitsverständnis entsprechend weit ausgelegt und naturrechtlich hergeleitet. Nach Jordan sollte der Eigentümer berechtigt sein, „nach eigenem Ermessen ungehindert zu verfügen, also dieses Rechtsgebiet nicht nur zu seinen individuellen Zwecken beliebig zu gebrauchen, sondern es auch nach Gutdünken zu verändern, zu erweitern oder zu beschränken.“184 Er verstand das Eigentum als Voraussetzung der individuellen Freiheit und stellte es ganz in den Dienst eben dieser. Als „Inbegriff der äußeren Mittel zur Verfolgung der menschlichen Bestimmung“185 musste das Eigentum so unbeschränkt wie möglich sein. Die Konsequenz daraus war, dass dem Individuum kraft des Eigentums ein eigenständiger Bereich der freien Entfaltung entstehen müsse, in dem der Staat sogar „die dem freien Gebrauchs- und Verfügungsrechte entgegenstehenden Hindernisse zu beseitigen verpflichtet sei.“186 Fraglich ist aber, ob dem Eigentumsrecht, welches dem Staatsbürger in den frühkonstitutionellen Verfassungen gewährt wurde, eine solche Geltungskraft zukam. a) Ständische Überlagerung des freien Eigentums Zwar wurde das Staatsbürgerrecht auf Eigentum im Sinne des modernen, freien Eigentumsbegriffs verstanden, gleichzeitig schützten die Verfassungen aber Relikte des ständischen Eigentumsbegriffs. Die Hindernisse, die den freien Verfügungsmöglichkeiten über das Eigentum noch entgegenstanden, wurden nicht vollständig abgebaut, sondern sogar noch geschützt.187 Beispiele dafür sind die innerhalb des Gleichheitsrechts erläuterten vermögensrechtlichen Privilegien, welche die Verfassungen als „besondere“ Rechte anerkannten. Die Erteilung von „Handels- und Gewerbs-Privilegien“ ließ die Württembergische Verfassung gemäß § 31 zu, solange sie durch ein Gesetz erfolgte. § 95 der Württembergischen Verfassung nahm sogar ausdrücklich auf die wohlerworbenen Rechte Bezug und eröffnete dem ständischen Eigentumsverständnis entsprechend demjenigen den Privatrechtsweg, der sich „in seinem auf einem besonde184 185

Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 423. Ebd., S. 423; ähnlich äußert sich Rotteck, in: Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 2,

S. 24. 186 187

Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 423. D. Grimm, in: Recht und Staat in der bürgerlichen Gesellschaft, S. 264 (268).

III. Das Eigentum

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ren Rechtstitel beruhenden Privatrechte verletzt“ glaubte.188 Die Überlagerung des modernen Eigentumsbegriffs wurde besonders deutlich am Fortbestand des Adelsprivilegs zur Errichtung von Familienfideikommissen189, welche die Verfügungsmöglichkeiten über das Eigentum gerade beschränkten. Bei diesen kam es – genau wie im Mittelalter – nicht auf die freien Verfügungsmöglichkeiten an, die das Eigentum in sich barg, sondern allein auf dessen Bestand. Trotz der verfassungsrechtlichen Proklamation des modernen Eigentumsbegriffs war Eigentum noch nicht gleichbedeutend mit freien, individuellen Entfaltungsmöglichkeiten, sondern an bestimmten Punkten noch immer in die Zwänge der altständischen Ordnung eingebunden. b) Gesetzgeberische Eingriffe in das Eigentum Zum Schutz des Eigentums trug unter den frühkonstitutionellen Verfassungen vor allem die ständische Mitwirkung bei der Gesetzgebung bei. Sobald eine Regelung neben der Freiheit das Eigentum der Staatsbürger betraf, konnte sie nur mit Zustimmung der Stände zum Gesetz werden.190 Damit wurde das Eigentum für die Volksvertretung kompetenzbegründend.191 Die Absicherung gegen willkürliche hoheitliche Eingriffe wirkte sich somit auch staatsorganisationsrechtlich aus, indem sie dem Dualismus zwischen Monarch und Ständevertretung zu seiner vollen Entfaltung verhalf. Fraglich ist jedoch, inwieweit überhaupt der individuelle Eigentumsschutz vom Zustimmungserfordernis der Stände profitierte. Abgewendet war lediglich die Gefahr, dass das Eigentumsrecht des Individuums durch den Monarchen oder die Verwaltung ohne Genehmigung der Ständevertretung beeinträchtigt wurde. Eingriffen durch den Gesetzgeber war das Eigentum aber noch immer schutzlos ausgeliefert. Denn eine Möglichkeit, den Inhalt der Gesetze auf ihre Übereinstimmung mit dem verfassungsrechtlich gewährten Eigentumsrecht zu überprüfen, gab es nicht.192 Die Konsequenz daraus wurde besonders treffend von Mohl formuliert: „Wenn es einleuchtet, daß über der gesetzgebenden Gewalt eines selbständigen Staates keine höhere zwingende Macht stehen kann, so kann freilich gegen eine von ihr ausgehende ungerechte Verletzung eines Privatrechtes eine abändernde Zwangsverfügung nicht ertheilt werden.“193 Zwar 188 Vgl. dazu auch W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 142. 189 § 4 Nr. 2 VU Bayern. 190 § 2 VII VU Bayern; § 65 VU Baden; § 88 VU Württemberg; Art. 72 VU Hessen. 191 Vgl. D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 133; W. Heun, in: FS Rauschning, S. 41 (46). 192 H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. II, S. 90; vgl. auch U. Scheuner, in: Scheuner/Küng, Der Schutz des Eigentums, S. 7 (22).

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

nannte Mohl trotzdem zwei Rechtsschutzmöglichkeiten gegen gesetzgeberische Eingriffe in das Eigentum194, diese waren aber nicht effektiv: Zum einen könne sich das verletzte Individuum an die Bundesversammlung wenden. Von dieser konnte es aber allenfalls den eingeschränkten Schutz des ständisch überlagerten Eigentums entsprechend Art. 18 a DBA erwarten. Dabei war es schon aus politischen Gründen unwahrscheinlich, dass sich die Bundesversammlung überhaupt aktiv für einen Grundrechtsschutz einsetzte.195 Zum anderen schuldete der Untertan nach Mohl der Staatsgewalt nur verfassungsmäßigen Gehorsam, weshalb er im Falle eines unrechtmäßigen Eigentumseingriffs zur Gehorsamsverweigerung ermächtigt sein sollte.196 Fraglich ist schon, inwieweit dieses naturrechtlich aus dem Vertragsverhältnis zwischen Herrscher und Untertan abgeleitete Recht überhaupt unter der positiv gesetzten Verfassung Geltung entfalten konnte. Aber selbst wenn man von einem umfassenden Gehorsamsverweigerungsrecht des Staatsbürgers ausging, so stellten sich in der Praxis maßgebliche Probleme: Der Staatsbürger war wohl kaum in der Lage, die Verfassungswidrigkeit des gesetzgeberischen Eigentumseingriffs sicher zu beurteilen und musste daher im Zweifel immer davon ausgehen, dass er Gehorsam zu leisten habe. Wenn er sich aber trotzdem rechtmäßig zur Gehorsamsverweigerung entschloss und dabei evtl. sogar zum aktiven Widerstand überging, war mehr als fraglich, ob er stärker war als die Staatsgewalt und die Beeinträchtigungen seines Eigentums überhaupt abwehren und verhindern konnte. Das Recht zur Verweigerung eines verfassungswidrigen Gehorsams war daher schlichtweg nicht praxistauglich und erhöhte den Rechtsschutz des Individuums nicht. Das Eigentumsrecht konnte somit vom Gesetzgeber nach Belieben ausgestaltet werden. Diese unbeschränkte Dispositionsbefugnis hatte zwar den Vorteil, dass der Übergang von der ständischen zur staatsbürgerlichen Ordnung durch Gesetze vorangetrieben werden konnte. Gleichzeitig wurde aber das individuelle Staatsbürgerrecht auf Eigentum, obwohl es in den Verfassungen vielsagend proklamiert wurde, eines festen Kerns beraubt und den gegebenenfalls kurzfristigen Überlegungen und Stimmungen des Gesetzgebers preisgegeben. Was sich hinter dem Eigentumsrecht verbarg, war somit keine juristische Frage mehr, sondern eine politische, die maßgebend durch die Zusammensetzung der Ständeversammlung beeinflusst wurde. Folglich war es möglich, durch ein Gesetz das Eigentum des Staatsbürgers zu entziehen, ohne eine wertmäßig entsprechende oder überhaupt eine Entschädigung zu gewähren.197 Trotz verfassungsrechtlicher Verkündung bedeutete der frühkonstitutionelle Eigentumsschutz damit gegenüber der Rechtspraxis des aus193 194 195 196

Staatsrecht, S. 392. Staatsrecht, S. 393. Vgl. zu Art. 53 WSA oben 7. Kapitel, III. 2. d). Vgl. dazu ausführlich Staatsrecht, S. 323 ff.

III. Das Eigentum

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gehenden Kaiserreichs einen Rückschritt.198 Dies erkennend versuchte Mohl, den Rechtsschutz gegen gesetzliche Enteignungen zu verdichten. Wenn bei einer solchen die Höhe der gesetzlichen Entschädigung streitig war, konnten seiner Auffassung nach analog der Vorschrift zur Administrativenteignung die Gerichte angerufen werden.199 Allerdings konnten die Richter nichts anderes tun, als das enteignende Gesetz auszulegen und anzuwenden. Wenn das Gesetz keine oder nur eine niedrige Entschädigung vorsah, war auch der Richter daran gebunden und konnte keinen angemessenen Ausgleich zusprechen. Trotz der Lücken im Schutz des Eigentums gegenüber dem Gesetzgeber wurde dieser als noch höher angesehen als der Schutz gegenüber Administrativenteignungen.200 Dafür spricht, dass sich die Stände von Anfang an als Verteidiger von Freiheit und Eigentum verstanden und darum bemüht waren, gesetzgeberische Eingriffe in die Rechtssphäre des Individuums abzuschirmen. Außerdem wirkte sich im beginnenden Liberalismus die politische Stimmung zugunsten des individuellen Eigentums aus: Schon aus wirtschaftlichen Gründen war der Schutz des allgemeinen Eigentums geboten.201 Das „freie“ Eigentum wurde als Voraussetzung der Wirtschaftsordnung und der bürgerlichen Gesellschaft nach und nach zum zentralen Baustein in der Privatrechtsordnung.202 Diesen Baustein anzutasten, widersprach den politischen Interessen. Letztlich entstand somit aus machtpolitischen und wirtschaftlichen Überlegungen ein faktischer Eigentumsschutz gegenüber dem Gesetzgeber, der den verfassungsrechtlichen Schutz bei Weitem übertraf. c) Administrativenteignungen Ganz anders wurde die Administrativenteignung bewertet: Hier wurde nicht durch den Gesetzgeber bestimmt, welche Rechtspositionen überhaupt zum Eigentum gehörten, sondern das Eigentum des Einzelnen musste im Einzelfall den Interessen der Gemeinschaft geopfert werden. Gegenstand der Administrativenteignung war somit anerkanntes Eigentum, das zwar entzogen, aber eben

197 H. Zoepfl, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, Bd. 2, S. 509; M. von Seydel, Staatsrecht, S. 129; vgl. auch D. Grimm, in: Recht und Staat in der bürgerlichen Gesellschaft, S. 264 (282). 198 Vgl. oben 6. Kapitel, II. 3. c) aa). 199 Staatsrecht, S. 396; vgl. auch H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. II, S. 175. 200 R. von Mohl, Staatsrecht, S. 398. 201 Vgl. nur Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 2, S. 25: „Die Mobilisierung des Grundeigenthums wird von den Staatswirthschaftskundigen als ein Beförderungsmittel des Wohlstandes, und von den Publicisten als ein Beförderungsmittel der Nationalfreiheit erläutert.“ 202 U. Scheuner, in: Scheuner/Küng, Der Schutz des Eigentums, S. 7 (23 f.).

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

nicht verletzt werden sollte. Deshalb wurden bestimmte Voraussetzungen an diese Form der Enteignung geknüpft.203 Zunächst war jede Enteignung nur bei vorheriger Entschädigung zulässig. Diese zumindest auf einen wertmäßigen Bestand des Eigentums hinauslaufende Regelung entsprach der Praxis im Alten Reich sowie unter dem Preußischen Allgemeinen Landrecht. In Fällen besonderer Not und Eile konnte es allerdings vorkommen, dass der Geschädigte erst im Nachhinein entschädigt wurde204, wobei eine exakte Bestimmung einer Frist fehlte, innerhalb welcher der Enteignete sein Geld erhalten sollte. Bei Streitigkeiten über die Höhe der Entschädigung stand entsprechend der Fiskustheorie der Weg zu den ordentlichen Gerichten offen, worauf aber lediglich die Verfassung Württembergs in § 30 hinwies. Problematisch für den Enteigneten war, dass er sich nicht auf die Verfassung selbst als Anspruchsgrundlage für seine Entschädigung berufen konnte.205 Es war eine einfachgesetzliche Konkretisierung erforderlich, die allerdings in Württemberg schon „an der Nichtübereinstimmung der beiden Kammern“206 gescheitert war. Des Weiteren war eine Administrativenteignung nur nach vorheriger Entscheidung des „Staatsraths“207, des „Staatsministeriums“208 oder „nachdem der Geheime Rath über die Nothwendigkeit entschieden“209 hatte, zulässig. Anders als im Absolutismus entschied daher nicht mehr der unkontrollierte Monarch allein, wann der Untertan zur Abtretung seines Eigentums gezwungen werden sollte, sondern es wurde ein förmliches Verfahren erforderlich. Willkürliche Einzelmaßnahmen des Monarchen waren daher nicht mehr zu fürchten und die Interessen der zu Enteignenden sollten dadurch, dass eine höhere Verwaltungsbehörde entschied, ausreichend geschützt sein.210 Aufgrund der Abhängigkeit der Verwaltung vom Monarchen blieb der daraus resultierende Rechtsschutz begrenzt und ist mit dem unabhängiger Gerichte nicht zu vergleichen.211 Insgesamt schlug sich damit auch im Eigentum der Grundsatz nieder, dass Rechts203

§ 8 IV VU Bayern; § 14 VU Baden; § 30 VU Württemberg; Art. 27 VU Hessen; vgl. auch H. Zoepfl, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, Bd. 2, S. 503; H. Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem, S. 221. 204 M. von Seydel, Staatsrecht, S. 133. 205 W. Böhmer, Staat 24 (1985), S. 165 (174); vgl. auch C. von Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, Bd. 2, S. 146 f. 206 R. von Mohl, Staatsrecht, S. 397. 207 § 8 IV VU Bayern. 208 § 14 VU Baden. 209 § 30 VU Württemberg. 210 Vgl. D. Grimm, in: Recht und Staat in der bürgerlichen Gesellschaft, S. 264 (276). 211 Zur Abhängigkeit des Staatsrats vom Monarchen vgl. oben 8. Kapitel, II. 3. b) bb).

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schutz vor Verwaltungsmaßnahmen nur bei den Verwaltungsbehörden selbst zu suchen sei und das Enteignungsverfahren stellte lediglich einen Spezialfall dar. Außerdem war die Rolle des Staatsrats bzw. des Staatsministeriums im Enteignungsverfahren keineswegs so bedeutend, wie es die Verfassungen auf den ersten Blick verhießen. Die Entscheidung des jeweiligen Organs wurde ganz zu Beginn des Verfahrens, unmittelbar nach der Antragstellung eingeholt und die Zustimmung zur Enteignung konnte auch dann erteilt werden, wenn nicht sicher war, ob alle Voraussetzungen der Enteignung vorlagen.212 Der Staatsrat bzw. das Staatsministerium urteilten nämlich nur über die Notwendigkeit der Enteignung, die schon vorlag, wenn sie der vollständigen Erreichung eines bestimmten Staatszwecks diente. Die zulässigen Enteignungszwecke waren meist generalklauselartig formuliert und eine detaillierte Katalogisierung, wie sie in Bayern vorgenommen wurde, blieb die Ausnahme.213 Im Regelfall kam es daher auf den konkreten Inhalt des Enteignungszwecks nicht an. Die Verfassungen forderten nur das Vorliegen eines öffentlichen Zwecks; darüber zu urteilen, ob seine Bedeutung den zwangsweisen Entzug des Eigentums wirklich rechtfertigte, wurde zumindest dem Staatsrat die Kompetenz abgesprochen.214 Schließlich sei es unzulässig, dass eine „wesentlich beratende Behörde“ durch ein solches Urteil „tief in die Verwaltung eingreifen würde.“215 Um die Unabhängigkeit der Verwaltung zu wahren, wurde sie im Spezialfall der Enteignung nicht nur der Kontrolle der Gerichte, sondern sogar schon der Kontrolle durch den Staatsrat als höherer Behörde, die ebenfalls zur Verwaltung gehörte, entzogen. Der Preis dafür war, dass der Zweck der Enteignung nicht überprüft werden konnte und dass somit der Rechtsschutz des Individuums erheblich beschnitten wurde. So wie im Absolutismus der Monarch willkürlich über den Staatszweck entschied, bestimmte im Frühkonstitutionalismus die Verwaltung, die letztlich vom Monarchen ausging. Der öffentliche Zweck und somit der eigentliche Grund, weshalb enteignet wurde, konnte von unteren Verwaltungsbehörden bestimmt werden und war der Kontrolle des Staatsrats entzogen. Trotz des Übergangs zum Verfassungsstaat war es dem Bürger damit immer noch unmöglich, sich im Gerichtswege effektiv gegen Eigentumsverletzungen durch die Staatsgewalt zu wehren.216 Die verfassungsrechtlich verbürgte förmliche Entscheidungsbefugnis des Staatsrats lief auf eine reine Nützlichkeitsüberprüfung der Enteignung hinaus, welche die Verhältnismäßigkeit der Eigentumsbeeinträchtigung außer Acht ließ. 212 213 214 215 216

M. von Seydel, Staatsrecht, S. 133. D. Grimm, in: Recht und Staat in der bürgerlichen Gesellschaft, S. 264 (275 f.). D. Grimm, ebd., S. 264 (277). R. von Mohl, Staatsrecht, S. 401. So auch W. Böhmer, Staat 24 (1985), S. 165 (170).

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

Die Verwaltung hatte damit umfassende Möglichkeiten zur Enteignung, deren Gebrauch von den gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen abhing. Zunächst wurde das Enteignungsrecht zur vereinzelten Aufhebung ständischer Rechtspositionen genutzt, wodurch es „die wirksamste jener Waffen“ wurde, „mittels welcher der Staat die bürgerliche Gesellschaft von den Fesseln veralteter Rechtszustände befreite“217. Die Enteignung, die eine große Gefahr für das Grundrecht des Eigentums darstellte, konnte somit sogar zur Umsetzung des frühkonstitutionellen Grundrechtsprogramms beitragen. Im Zu-ge der wirtschaftlichen Entwicklung und insbesondere im Zusammenhang mit dem Eisenbahnbau wurde dann verstärkt vom Enteignungsrecht Gebrauch gemacht.218 Der zwangsweise Entzug des Eigentums, der aus individueller Sicht eine Rechtsverletzung durch die Staatsgewalt darstellte, wurde damit zum wirtschaftspolitischen Instrument des liberalen Rechtsstaats. d) Zusammenfassung Die Bestimmungen der frühkonstitutionellen Verfassungen bewirkten damit nur einen schwachen, punktuellen Schutz des Eigentums, ohne die Freiheit des Eigentums als Sphäre der individuellen Entfaltung zu garantieren.219 Zwar mochte die liberale Staatsrechtslehre davon ausgehen, dass der Eigentümer zur freien, unbeschränkten Verfügung berechtigt war, die Verfassungstexte trugen diese Vorstellung jedoch nicht. Das Recht auf Eigentum konnte der individuellen Entfaltung des einzelnen Staatsbürgers nicht dienen, wenn es an einer Sphäre individueller Freiheit fehlte. Solange der Staatsbürger nicht das Recht zu einer bestimmten Handlung hatte, konnte er auch sein Eigentum nicht dazu einsetzen. Von besonderer Bedeutung waren hier die Handels-, Gewerbe- und Berufsfreiheit, die den freien Gebrauch des Eigentums überhaupt erst ermöglichten. Lediglich in Württemberg wurde in Art. 36 die freie Wahl des Berufs und des Gewerbes verfassungsrechtlich zugesichert, ansonsten blieben die Verfügungsmöglichkeiten über das Eigentum zunächst in den ständischen Zwängen gefangen. Das Eigentum war somit zwar eine Voraussetzung der individuellen Entfaltung, es konnte jedoch nicht allein eine Sphäre der freien Entfaltung schaffen, solange es an weiteren Freiheitsrechten fehlte. Dies galt vor allem, da sich das Eigentumsrecht in den frühkonstitutionellen Verfassungen auf den – schwer durchsetzbaren – Schutz vor willkürlichen, entschädigungslosen Ad217

M. von Seydel, Staatsrecht, S. 129. H. Zoepfl, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, Bd. 2, S. 504; D. Grimm, in: Recht und Staat in der bürgerlichen Gesellschaft, S. 264 (270 ff.); M. Bullinger, Staat 1 (1962), S. 449 (461); U. Scheuner, in: Scheuner/Küng, Der Schutz des Eigentums, S. 7 (24). 219 Vgl. dazu auch H. Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem, S. 174; D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 131. 218

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ministrativenteignungen und vor gesetzgeberischen Eigentumsverletzungen ohne Zustimmung der Stände beschränkte. Auch wenn man darin erstmals ein „gesichertes, juristisches Fundament“220 einer Eigentumsgarantie erblicken möchte, ist doch auf die geringe Tragfähigkeit dieses kleinflächigen Fundaments hinzuweisen. Die Freiheit des Eigentums, die freie, beliebige und unbeschränkte Verfügungsmöglichkeiten beinhaltete und dem Menschen zur Verfolgung seiner eigentlichen Bestimmung dienen sollte, blieb eine Illusion der Staatsrechtslehre. 4. Zukunftsweisende Funktion Mit dem Eigentum wurde aber auch eine individuelle Rechtsposition in den frühkonstitutionellen Verfassungen fest verankert, die – so eingeschränkt ihre Geltungskraft auch sein mochte – der Herrschaftsgewalt feste Grenzen setzte. Die Vorreiterfunktion, die das Eigentum bei der Entstehung der Grund- und Freiheitsrechte hatte, wirkte auch nach der Konstitutionalisierung fort. a) Freies Eigentum als Voraussetzung der freien Entfaltung Wie bereits dargestellt, waren durch das frühkonstitutionelle Eigentumsrecht unbegrenzte Verfügungsmöglichkeiten des Individuums nicht ad hoc geschaffen worden. Dennoch wurde mit dem freien Eigentum eine zwar noch nicht hinreichende, aber eben doch notwendige Voraussetzung der individuellen Entfaltung verfassungsrechtlich verbürgt. Der freie Eigentumsbegriff war grundsätzlich anerkannt, woran auch ständische Relikte nichts ändern konnten, die aufgrund der historischen Kontinuität in die Verfassung hineintransportiert wurden. Der Eigentumsschutz gewann eine neue Richtung: Es kam nicht mehr allein auf die Erhaltung des Eigentums an, sondern auch auf die Verfügungsmöglichkeiten über dieses, mochten sie aufgrund des geltenden Rechts auch noch so eingeschränkt sein. Folglich war es allgemein anerkannt, dass der Einzelne zumindest prinzipiell die freie Sachherrschaft über sein Eigentum hatte. In den wenigen Bereichen, die ihm die frühkonstitutionelle Rechtsordnung eröffnete, konnte er über seine Sachen nach Belieben verfügen und diese in den Dienst seiner individuellen Entfaltung stellen. Dadurch musste der Eigentümer an Autonomie und Selbständigkeit gewinnen.221 Das Eigentum war oftmals die faktische Voraussetzung, um von weiteren Freiheiten, welche der frühkonstitutionelle Staat offenbarte, Gebrauch machen zu können. Daher bewirkte das Eigentumsgrund220

So W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 141. Zu diesem Zusammenhang E. Bödeker, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 392 (405); J. Schwartländer, in: Schwartländer/Willoweit, Das Recht des Menschen auf Eigentum, S. 83 (98); vgl. auch P. Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten, S. 181. 221

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

recht, auch wenn es sich auf einen bloßen Schutz des Eigentums beschränkte, zwangsläufig eine Ausdehnung der tatsächlich ausgeübten individuellen Freiheitsrechte. b) Forderung nach weiteren Freiheiten und nach einer rechtsstaatlichen Entwicklung Gleichzeitig trug das allgemeine Eigentumsrecht, das von der liberalen Staatsrechtslehre im Lichte einer grundsätzlichen Freiheitssphäre interpretiert wurde222, die Forderung nach weiteren Freiheiten in sich. Wessen Eigentum schon prinzipiell als freies anerkannt ist, der möchte es auch als solches gebrauchen können. Folglich wurde vom Staat verlangt, „die dem freien Gebrauchsund Verfügungsrechte entgegenstehenden Hindernisse zu beseitigen “223. Jordan ging sogar davon aus, dass der Staat dazu „verpflichtet sei“, obwohl sich eine solche Verpflichtung aus dem Eigentumsrecht in den frühkonstitutionellen Verfassungen gerade nicht ableiten ließ. Vielmehr handelte es sich bei der Schaffung von weiteren Freiheiten um eine Erwartung, die die Eigentümer an den Staat stellten. Der Schutz des verfassungsrechtlich verbrieften Eigentums wurde nicht nur als Abwehrrecht des Individuums, sondern auch als positive Aufgabe des Staates verstanden.224 Dieser sollte nämlich von unzulässigen Eingriffen in die geschützte Sphäre absehen und diese gleichzeitig aktiv abschirmen. Der Staat musste positiv dazu beitragen, dass Eigentumsverletzungen unterblieben. Dazu gehörte die Einführung einer unabhängigen Zivilrechtspflege, durch welche der Eigentümer sein Recht gegenüber Dritten und auch gegenüber dem Fiskus behaupten konnte. Der bisherige Rechtsschutz wurde dabei von Rotteck als unzureichend angesehen, denn seiner Meinung nach trugen die fiskalischen Prozesse oft dazu bei, das Eigentum gerade „unsicher zu machen“225. Nach Jordan erforderte es der Eigentumsschutz, dass Zulässigkeit und Form von Hausdurchsuchungen im Voraus abstrakt bestimmt werden mussten.226 Der Schutz des Eigentums verpflichtete den Staat damit zur Umsetzung bestimmter rechtsstaatlicher Mindeststandards, die sich auch auf die Entwicklung anderer Grund- und Freiheitsrechte positiv auswirkten.

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Vgl. oben 8. Kapitel, II. 4. c). S. Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 423. 224 S. Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 424; Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 2, S. 27. 225 Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 2, S. 27. 226 Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 424. 223

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c) Bedeutung der Rechtfertigung von Freiheitseingriffen durch die Zustimmung der Stände für die Entwicklung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung Zukunftsweisend war der Gedanke, der hinter der Freiheits- und Eigentumsklausel stand. Wenn Gesetze, die Freiheit und Eigentum der Staatsbürger betrafen, nur mit Zustimmung der Stände erlassen werden durften, so kamen damit zwei Überlegungen zum Ausdruck: Zunächst die Erkenntnis, dass das Eigentum des Einzelnen im Staat selbst keine absolute Geltung haben konnte und dass rechtliche Einschränkungen unvermeidbar waren. Wichtiger aber noch ist der Umstand, dass diese Eigentumseinschränkungen durch die Zustimmung der Ständevertretung gerechtfertigt werden konnten. Was die gewählten Volksvertreter und die ernannten Mitglieder der ersten Kammern erlaubt hatten, das konnte nicht als Unrecht gelten. Die Anlehnung an die Theorie vom Staatsvertrag wird deutlich: Der Inhalt des vereinbarten Vertrages wird im Gesetz konkretisiert, welches die Ständeversammlung, stellvertretend für die Bevölkerung und den gemeinsamen Willen aller artikulierend227, mit dem Herrscher ausgehandelt hatte. Im Frühkonstitutionalismus wirkte allerdings verzerrend, dass die Ständeversammlung schon aufgrund ihrer Zusammensetzung nicht den gemeinsamen Willen aller vertrat, sondern aufgrund ihrer Zusammensetzung besondere Interessen bestimmter Bevölkerungsgruppen überbewertete. Fraglich ist nun, ob der Gedanke, Eigentumsverletzungen nur mit der Zustimmung der Stände zu rechtfertigen, zum allgemeinen Grundsatz erhoben werden konnte. Dann hätte er nicht nur für Gesetze, sondern auch für Einzelakte gelten müssen. Die Konsequenz wäre, dass sich jede rechtsbeeinträchtigende Verwaltungshandlung auf ein unter Mitwirkung der Ständeversammlung entstandenes Gesetz stützen müsste. Faktisch hätte das die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bedeutet.228 Im Frühkonstitutionalismus war es jedoch gängige Praxis, Administrativenteignungen ohne Expropriationsgesetz vorzunehmen. Zwar gab es gesetzliche Regelungen zu den Folgen einer solchen Enteignung und insbesondere zu den entstehenden Entschädigungspflichten, für die Voraussetzungen des Enteignungsfalls mangelte es aber an einer gesetzlichen Grundlage.229 Diese Praxis war mit der Freiheits- und Eigentumsklausel durchaus vereinbar. Schon der Wortlaut verdeutlicht, dass das Zustimmungserfordernis der Stände nur bei Gesetzen gelten soll, Einzelakte der Verwaltung bleiben ungenannt. Dafür spricht zudem die systematische Stellung der Klausel innerhalb des Verfassungsabschnittes über die Ständeversammlung. Regelungsgegenstand war nur die Gesetzgebung, die künftig nicht mehr allein Ausdruck des monarchischen Willens, 227

Vgl. zu Kant 6. Kapitel, I. 2. b). In diese Richtung W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 145. 229 Vgl. R. von Mohl, Staatsrecht, S. 398; W. Böhmer, Staat 24 (1985), S. 165 (169). 228

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

sondern auch von den Ständen beeinflusst sein sollte.230 Es war aber nicht beabsichtigt, die gesamte hoheitliche Tätigkeit an den im Gesetz ausgedrückten Willen der Ständeversammlung zu binden. Die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung wäre auch schon aus praktischen Gründen nicht möglich gewesen, denn es fehlte an gesetzlichen Bestimmungen, welche die Vielzahl der administrativen Eigentumseingriffe regeln konnten. Deshalb muss man mit Zoepfl zu dem Ergebnis kommen, dass die frühkonstitutionellen Verfassungen Administrativenteignungen ohne gesetzliche Grundlage „nicht nur zuliessen, sondern unverkennbar sogar als das Regelmässige voraussetzten“231. Selbst wenn der Frühkonstitutionalismus von einer gesetzmäßigen Verwaltung noch weit entfernt war232, hatte aber die Freiheits- und Eigentumsklausel die gedankliche Voraussetzung eben dieser geschaffen: Genau wie die ständische Zustimmung gesetzliche Eigentumsverletzungen zu verhindern half, wäre das Individuum auch vor administrativen Eigentumsverletzungen geschützt, wenn dazu ein Gesetz mit ständischer Zustimmung erforderlich gewesen wäre. Diese Erkenntnis bildete – auch wenn sie die frühkonstitutionelle Praxis zunächst nicht änderte – eine erste Grundlage für die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung für die Zukunft. d) Eigentum und politische Mitwirkung Das Eigentumsrecht, welches die Landesfürsten in den frühkonstitutionellen Verfassungen gewährt hatten, sollte auf den privaten Bereich beschränkt bleiben. Politische Freiheiten sollten mit dem Eigentum schon deshalb nicht verbunden werden, weil sie den alleinigen Souveränitätsanspruch des Monarchen gefährdet hätten. Doch schon die Anerkennung eines rein privatrechtlichen freien Eigentums konnte auch im öffentlichen Bereich nicht folgenlos bleiben: Das geschützte Eigentum war nämlich dem Zugriff des Herrschers entzogen und wurde damit zum individuellen Gegenpol obrigkeitlicher Gewalt. Der Eigentümer befand sich in einer – wenn auch beschränkten – privaten Sphäre, in der er frei agieren konnte. Dadurch gewann er an Selbstständigkeit und Autonomie, was für die Ausübung politischer Mitwirkungsrechte unerlässlich ist. Wer schon im privaten Bereich als „Politiker im kleinen“233 auftrat, konnte sich umso schwerer mit den wenigen politischen Mitspracherechten im Staat abfinden.

230 F. Fremuth, Der Vorbehalt des Gesetzes in der Bayerischen Verfassungsurkunde, S. 221. 231 Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, Bd. 2, S. 503. 232 Das verkennt Th. Würtenberger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 80.

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Die Verknüpfung von Eigentum mit politischen Funktionen lag auch aus traditionellen Gründen nahe. In der altständischen Ordnung hatte das Eigentum immer einen politischen Bezug gehabt und war mit bestimmten öffentlichen Rechten und Pflichten verbunden gewesen.234 Diese Verbindung konnte aufgrund der historischen Kontinuität der frühkonstitutionellen Verfassungen nicht gekappt werden. Zumindest gedanklich bestand sie fort, so sehr sich der Landesfürst auch um eine rein privatrechtliche Auslegung des Eigentums bemühte. Außerdem hatte der Eigentümer schon aus wirtschaftlichen Gründen ein gesteigertes Interesse an politischen Zusammenhängen.235 Das Eigentum hing nämlich sowohl in seinem Bestand als auch bzgl. seiner Nutzungsmöglichkeiten vom Gesetzgeber ab, der in der modernen Marktgesellschaft die Rahmenbedingungen schuf. Damit war es der Gesetzgebung ausgeliefert und es lag nahe, dass das Interesse der Eigentümer an dieser größer wurde. Um das Eigentum vor Eingriffen durch den Staat zu schützen und so den status negativus abzusichern, wurde als Sicherungsmittel der status activus in Form politischer Mitspracherechte gefordert.236 Da die Landesfürsten von der Steuerleistung des erstarkenden Bürgertums abhängig waren, hatten sie dessen Streben nach politischer Mitwirkung in den frühkonstitutionellen Verfassungen zumindest teilweise nachgegeben. Wie bereits dargestellt, war das Ausmaß der politischen Mitwirkungsrechte vom Eigentum abhängig. Dabei ist zunächst positiv zu bewerten, dass überhaupt politische Rechte verfassungsrechtlich verankert wurden, auch wenn sie die Gleichheitsrechte modifizierten.237 Die Rechtfertigungen, die für die Abstufungen gefunden wurden, zeugen jedoch von einem grundrechtsfeindlichen Menschenbild. Justus Möser verglich den Staat mit einer Aktiengesellschaft. Wer als Eigentümer viel in das Gesamtgut einbrachte, sollte dementsprechende Mitspracherechte haben und mit einem höheren Stimmgewicht auftreten. Ehrenfähig war demnach nur „der Bürger und Eigenthümer einer gewissen Ware“, nicht aber der Mensch an sich.238 Was danach im Staat zählte, war nicht der Mensch selbst, nicht seine Würde und Persönlichkeit, sondern einzig und allein sein Eigentum. Der naturrechtliche Anknüpfungspunkt der Menschenrechte war demnach bedeutungslos. Aus diesem Grund lehnten auch Rotteck und Welcker das 233 So D. Willoweit, in: Schwartländer/Willoweit, Das Recht des Menschen auf Eigentum, S. 7 (16); vgl. auch J. Schwartländer, in: Schwartländer/Willoweit, Das Recht des Menschen auf Eigentum, S. 83 (87). 234 Vgl. oben 8. Kapitel, III. 2. 235 Vgl. dazu H. Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem, S. 227. 236 Zu diesem Zusammenhang E. Schmidt-Jortzig, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 10, Rdnr. 26. 237 Vgl. dazu oben 8. Kapitel, I. 3. b) bb). 238 J. Möser, Berlinische Monatsschrift 1790, S. 499 (500); vgl. auch J. Schröder, Justus Möser, in: Stolleis, Staatsdenker, S. 294 (296 f.); eine ähnliche Auffassung vertritt F. Gentz, Betrachtungen über die Französische Revolution, Anmerkungen, S. 73 f.

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

Modell der Aktiengesellschaft ab und betonten, dass die Persönlichkeit, die „bei jedem einzelnen als gleich groß angenommen werden muß“, für den Staat ein „höchst kostbarer Faktor“ sei.239 Dennoch ließen auch sie die Abstufung der politischen Mitwirkung nach dem Eigentum zu. Den Vermögenslosen sollte es nämlich an der notwendigen Einsicht fehlen und sie würden durch eine „immer zu dictirende gleiche Gütherverteilung oder Gemeinschaftlichkeit des Güterbesitzes innerhalb der kürzesten Frist eine allgemeine Armut erzeugen.“240 Damit kam dem Vermögenslosen auch nach dieser Vorstellung eine geringere Würde zu, er wurde pauschal benachteiligt und in seinen Freiheiten von Anfang an eingeschränkt. Hinter dem Zensuswahlrecht standen dabei die politischen und wirtschaftlichen Interessen des Monarchen und auch des wohlhabenden Bürgertums, die lediglich in fadenscheinige theoretische Rechtfertigungen gekleidet wurden. Dem Eigentumsrecht kam damit zwar einerseits dadurch eine besondere Bedeutung zu, dass es zum Anknüpfungspunkt politischer Mitwirkungsrechte wurde und somit als Staatsbürgerrecht zumindest indirekt auch einen politischen Charakter erhielt. Andrerseits wurden die anderen Grundrechte durch die eigentumsbedingten Differenzierungen überlagert und es wurde erneut offenbar, dass Staatsbürgerrechte eben keine unveräußerlichen Rechte waren, die jedem Menschen schon von Natur aus gleichermaßen zukommen sollten. Zu beachten ist jedoch, dass diejenigen Bevölkerungsgruppen, die von den frühkonstitutionellen Verfassungen aufgrund ihres geringen Vermögens von der politischen Mitwirkung ausgeschlossen blieben, ebenfalls ein besonderes Interesse an eben dieser hatten. Aufgrund des Bevölkerungswachstums entstand im Vormärz eine strukturell bedingte Massenarmut.241 Die Besitzlosen spürten am schnellsten den negativen Aspekt der neuen Freiheit. Kleine Handwerker und Gewerbebetreibende oder Bauern, die in der Ständeordnung abgesichert waren, konnten in der freien Staatsbürgergesellschaft Opfer der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit werden und ihre Existenzgrundlage verlieren.242 Folglich wurde mit ganz besonderem Nachdruck eine Ausdehnung der politischen Mitwirkungsrechte gefordert und die Lösung des Wahlrechts aus seiner Abhängigkeit zum Eigentum war ein zentrales Anliegen der Revolution von 1848. Letztlich baute das Eigentum damit eine Brücke, die den Übergang der politischen Rechte vom Monarchen zum Volk ermöglichte.

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In: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. III (Census), S. 370. In: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. III (Census), S. 372; vgl. auch H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 141; F. Ancillon, Ueber Souveränität und Staatsverfassungen, S. 29. 241 Vgl. dazu H. Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen, S. 80 ff.; D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 175 ff. 242 H. Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem, S. 232; E.-W. Böckenförde, in: Recht, Staat, Freiheit, S. 244 (259). 240

IV. Religions- und Gewissensfreiheit

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IV. Religions- und Gewissensfreiheit Die Gewissensfreiheit wurde in den frühkonstitutionellen Verfassungen nicht nur jedem Staatsbürger, sondern allen Einwohnern zugesichert. Die zumindest im Ansatz freie Entscheidung des Individuums in Religionsfragen hatte in Deutschland allerdings schon eine längere Tradition. 1. Entstehungsbedingungen a) Die Individualisierung der Religionsfrage durch die Reformation Vor der Reformation bildeten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation Kirche und Staat eine Einheit. Sowohl der Papst als auch der Kaiser galten als Oberhäupter der Christenheit. Folglich konnte es nur die eine christliche Religion im Reich geben, die gleichzeitig ein konstitutives Element der öffentlichen Ordnung war.243 Mit der Eigenschaft als Untertan des deutschen Kaisers war daher automatisch das Bekenntnis zum christlichen Glauben verbunden. Erst mit der Reformation entstand die Möglichkeit, sich anders als der Kaiser zur protestantischen Konfession zu bekennen. Dabei war die Entscheidung in Glaubensfragen seit dem Reichstag in Speyer von 1526 Aufgabe der Reichsstände. Es kam zu einem Nebeneinander unterschiedlicher Glaubensauffassungen, welches das Bedürfnis nach Toleranz und Religionsfreiheit überhaupt erst entstehen ließ. Nachdem sich abgezeichnet hatte, dass eine Vereinigung der unterschiedlichen Glaubensrichtungen nicht möglich war, wurde ihr Nebeneinander im Augsburger Religionsfrieden von 1555 erstmals anerkannt.244 Im Augsburger Religionsfrieden wurde den Reichsständen das Recht zugesprochen, entweder den Katholizismus oder eine protestantische Religion des Augsburger Bekenntnisses zu wählen, so dass eine Entscheidungsfreiheit bzgl. der Religion zunächst nur für die Landesfürsten entstand. Die Freiheit der geistlichen Fürsten wurde dadurch überlagert, dass sie aufgrund des sog. geistlichen Vorbehalts beim Wechsel vom katholischen zum lutherischen Glauben all ihrer Besitztümer verlustig wurden. Es galt das Prinzip „cuius regio, eius religio“, wonach der mit dem ius reformandi ausgestattete Landesfürst seine Untertanen zur Annahme seiner eigenen Religion zwingen konnte. Weigerten sie sich, so wurde ihnen lediglich das Recht zur Auswanderung gewährt. Diese war jedoch

243 H. Conrad, in: Lutz, Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, S. 155 (158); vgl. auch D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 67 ff.; O. Kimminich, Verfassungsgeschichte, S. 134 ff.; U. Eisenhardt, Rechtsgeschichte, Rdnr. 39 ff. 244 Vgl. W.-F. Schäufele, in: Frank/Haustein/Lange, Asyl, Toleranz und Religionsfreiheit, S. 121 (125); ein Abdruck befindet sich bei A. Buschmann (Hrsg.), Kaiser und Reich, Teil I, S. 215 ff.

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

mit einer Nachsteuer verbunden und bei Leibeigenen blieb die Möglichkeit zur Emigration von der Gunst ihres Herren abhängig.245 Lediglich in den Städten und Ritterschaften sowie in den Gebieten einer geistlichen Obrigkeit wurde den andersgläubigen Untertanen durch eine zusätzliche Erklärung des stellvertretend für den Kaiser agierenden Königs Ferdinand das Recht zur Beibehaltung ihres Glaubens zugesprochen.246 Allerdings war die Declaratio Ferdinandea sehr umstritten und konnte keine rechte Geltungskraft entwickeln.247 Die Rechtsstellung des Individuums blieb daher darauf beschränkt, günstigstenfalls die Möglichkeit zur Auswanderung zu haben. Dabei war im Vorfeld des Augsburger Religionsfriedens die Forderung nach einer individuellen Ausprägung der Religionsfreiheit sehr wohl laut geworden. Erstaunlicherweise wurde die individuelle Religionswahl schon 1530 durch den Kaiser selbst indirekt bekräftigt, als er in einem Reichsabschied den katholischen Untertanen der evangelischen Reichsstände einen besonderen Schutz versprach.248 Dahinter stand das Bestreben, ein Ausbreiten des protestantischen Glaubens zu verhindern und den eigenen Besitzstand zu sichern. Die individuelle Entscheidung wurde nur akzeptiert, wenn sie zugunsten der vermeintlich „richtigen“ Religion ausfiel. Umgekehrt hatten sich die protestantischen Reichsstände massiv für eine individuelle Religionsfreiheit eingesetzt, um den katholischen Untertanen unabhängig vom Landesfürsten die Konvertierung und somit den Siegeszug des Luthertums zu ermöglichen.249 Im Vordergrund stand beim Augsburger Religionsfrieden das Motiv, eine Lösung zu finden, die das friedliche Zusammenleben ermöglichte. Die Friedensregelungen waren jedoch auf die Katholiken und auf die Protestanten des sog. Augsburger Bekenntnisses begrenzt, womit nur die Lutheraner gemeint waren. Die Anhänger Zwinglis und Calvins sowie andere Religionen blieben so rechtlos wie zuvor.250 Mit dem Augsburger Religionsfrieden wurde daher allein für die Reichsstände eine freie Auswahl aus bestimmten Religionen geschaffen. Dabei standen machtpolitische Erwägungen im Vordergrund. Auf ein Klima der Toleranz unter Anerkennung der individuellen Glaubensentscheidung kam es den beteiligten Parteien nicht an. 245 H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 42; vgl. auch E. W. Wilda, Zeitschrift für deutsches Recht 11 (1847), S. 161 (186); vgl. auch P. Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten, S. 211. 246 Vgl. O. Kimminich, Verfassungsgeschichte, S. 178; D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 170. 247 Vgl. zum Streit um die Rechtswirksamkeit D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 172. 248 Vgl. H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 19. 249 N. Paulus, in: Lutz, Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, S. 17 (18 ff.); D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 169. 250 H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 35 f.; D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 168.

IV. Religions- und Gewissensfreiheit

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Erst mit dem Westfälischen Frieden von 1648 wurde die Parität zwischen Katholiken und dem Augsburgerischem Bekenntnis, dem nun auch die Calvinisten gleichgestellt waren251, zum allgemeinen Grundsatz.252 Alle anderen, reichsrechtlich nicht anerkannten Religionen und Glaubensanschauungen durften vom Landesfürsten nicht einmal geduldet werden.253 In Bezug auf die anerkannten Religionsgemeinschaften wurde das ius reformandi des Landesfürsten bestätigt. An einigen Punkten erfuhr es allerdings zugunsten der individuellen Entscheidung des Untertans eine Einschränkung: Zunächst war der Landesfürst gezwungen, Andersgläubige der reichsrechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften in dem Umfang zu dulden, wie sie im Jahre 1624 zur öffentlichen oder privaten Religionsausübung berechtigt waren.254 Wer allerdings erst danach andersgläubig wurde, konnte noch immer zur Auswanderung genötigt werden. Neu war, dass dabei das auswandernde Individuum durch präzise Vorschriften, die den Ablauf und das Verfahren der Auswanderung betrafen, geschützt wurde.255 Der Landesfürst konnte sich aber auch zur freiwilligen Duldung dieser Unteranen entscheiden. Zwar lagen die näheren Umstände der Duldung in seinem Ermessen, zumindest musste er aber das Recht zur sog. Hausandacht (devotio domestica simplex) gewähren.256 Außerdem sollten auch die bürgerlichen Rechte der geduldeten Untertanen vom Grundsatz der Parität erfasst und daher gleich sein.257 Der individuelle Rechtsgewinn des zwangsweise oder freiwillig geduldeten Andersgläubigen bestand also zumindest im Recht der freien Hausandacht. Damit erfuhr seine individuelle Entscheidung bei der Auswahl aus den drei anerkannten Religionsgemeinschaften eine Bestätigung und erstmals wurde eine Sphäre abgegrenzt, die dem Zugriff des Landesfürsten entzogen sein sollte. Wem der Landesfürst diese Sphäre aber nicht bewilligen wollte, den konnte er des Landes verweisen, gegenüber den Anhängern der nicht anerkannten Religionsgemeinschaften musste er sogar so verfahren. Auch wenn man von einer allgemeinen Gewissensfreiheit noch weit entfernt war, wurde mit dem Westfälischen Frieden die Entscheidung in Glaubensfragen im begrenzten Umfang individualisiert.258 Es waren reichsrechtliche Vorgaben geschaffen, die bis zum Ende des Reiches die Grundlage des deutschen Religionsrechts bilden sollten.259 251 I. P. O., Art. VII, abgedruckt bei A. Buschmann (Hrsg.), Kaiser und Reich, Teil II, S. 15 (62). 252 I. P. O., Art. V § 1. 253 I. P. O., Art. VII § 2: „. . . Außer den zuvor erwähnten Bekenntnissen soll jedoch im Heiligen Römischen Reich kein anderes angenommen oder geduldet werden.“ 254 I. P. O., Art. V § 34. 255 H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 64. 256 I. P. O., Art. V § 34. 257 I. P. O., Art. V § 35; vgl. auch H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. I, S. 408.

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

Eine wichtige Folge der Reformation war, dass die Entscheidung in Religionsdingen immer mehr als individuelle Gewissensfrage, als Ergebnis der individuellen Wahrheitssuche gesehen wurde. Der weltliche Herrscher sollte die Religion nicht befehlen dürfen und im geistlichen, ihm übergeordneten Bereich ohne Autorität bleiben.260 Dieses Argument wurde vor allem im protestantischen England benutzt, wo es trotz der liberalen Staatsauffassung nicht auf fruchtbaren Boden fiel. Ein Mehr an Toleranz hätte nämlich mehr Raum für den päpstlichen Suprematsanspruch bedeutet und somit die Macht des englischen Königs geschwächt.261 Das an sich liberale England stand damit bei der Entwicklung der Gewissensfreiheit weit hinter dem absolutistischen Preußen, woran die Abhängigkeit der Freiheitsrechte von pragmatischen, machtorientierten Überlegungen erneut deutlich wird. b) Nordamerika: Gewissensfreiheit als Ursprung der Menschenrechte? Ganz anders war die Situation in Nordamerika. Hier wurde die Gewissensfreiheit in der Virginia Bill of Rights von 1776 erstmals in die Form eines verfassungsrechtlich verankerten Grundrechts gegossen. Sie erhielt eine hervorgehobene Stellung am Ende des Grundrechtskataloges, wo Art. 16 bestimmte, dass alle Menschen zur freien Ausübung der Religion gemäß des Gewissens berechtigt seien.262 Doch keineswegs handelte es sich dabei inhaltlich um eine absolute Neuheit. Schon zuvor hatte es einfachgesetzliche Regelungen zur Gewissensfreiheit gegeben, die allerdings zurückhaltender formuliert waren. Aussagekräftig ist die Vorschrift im Gesetzbuch der Kolonie Rhode Island von 1647. Niemand sollte aufgrund seiner Religion einen Nachteil in Form einer Belästigung, Bestrafung oder Anklage erfahren, solange er bei der Ausübung seiner Religion bestimmte Grenzen, zu denen u. a. die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe gehörte, beachtete.263 Aber schon an dem Umstand, dass die Regelung 1663 in die vom englischen König verliehene Kolonialcharte über258 So auch H. Zoepfl, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, Bd. 2, S. 847. 259 So auch H. Conrad, in: Lutz, Zur Geschichte der Toleranz- und Religionsfreiheit, S. 155 (164 ff.); W.-F. Schäufele, in: Frank/Haustein/Lange, Asyl, Toleranz und Religionsfreiheit, S. 121 (122). 260 Vgl. G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 45 ff.; L. Moore, in: Lutz, Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, S. 276. 261 Vgl. G. Birtsch, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 88 (90 ff.). 262 Vgl. den Abdruck bei Hartung/Commichau/Murphy (Hrsg.), Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 70 (73). 263 Vgl. G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 50 f., Fn. 2; vgl. auch H. Hofmann, JuS 1988, S. 841 (845).

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nommen wurde, kann man erkennen, dass kein Grundrecht im revolutionären Sinne begründet werden sollte. Dafür spricht auch der Wortlaut, denn der Begriff der Gewissensfreiheit wird nicht genannt. Stattdessen war die einfachgesetzliche Regelung zur Religionsausübung aus pragmatischen Gründen erlassen worden: Zum einen trafen im Einwandererland Nordamerika viele unterschiedliche Religionen zusammen. Ein friedliches Zusammenleben der unterschiedlichen Gruppen erforderte daher zwingend ein Mindestmaß an Toleranz und Rücksichtnahme. Zum anderen hatten viele Einwanderer gerade aus religiösen Gründen ihr Heimatland verlassen, wo sie am eigenen Leib erfahren hatten, was religiöse Verfolgung bedeutete.264 In der neuen Welt sollte nun die Religion frei vom staatlichen Zwang sein und gegenüber Intoleranz und religionsbedingten Diskriminierungen bestand eine erhöhte Sensibilität. Große Aufmerksamkeit265 erregte nun folgende These Georg Jellineks: Die Religionsfreiheit in den angloamerikanischen Kolonien sei der Ursprung der Idee, ein allgemeines Menschenrecht durch Gesetz festzustellen.266 Die Bedingtheit der Menschenrechte durch die Religion zeige sich schon darin, dass die naturrechtliche Vorstellung von der Menschenwürde mit der Wesensverwandtschaft zu Gott begründet sei und dass die naturrechtliche Gleichheitslehre auf der gleichen Gotteskindschaft aller beruhe.267 Relativierend ist dagegen jedoch anzumerken, dass die Begründung der Menschenwürdevorstellung im Wesentlichen das Verdienst des neueren Naturrechts und nicht der Religion war. Denn die christliche Religion hatte schon sechzehn Jahrhunderte existiert, ohne dass die Menschwürde in einer solchen Präzision herausgearbeitet worden wäre. Erst die Ideen Pufendorfs machten den Menschen zum würdevollen Wesen, wobei sie sich der religiösen Anschauungen lediglich bedienten. Später war das Naturrecht in der Lage, die Würde des Menschen auch unabhängig von Gott zu begründen. Folglich stehen bei der Herleitung der Menschenwürde rationale Erwägungen im Vordergrund und theokratische Überlegungen haben allenfalls eine mittelbare Bedeutung.268 Des Weiteren betont Jellinek die Bedeutung der Kirche für die Entwicklung politischer, demokratischer Ideen. Nach der Trennung vom Staat werde die Kir264 A. Voigt, Geschichte der Grundrechte, S. 16; E. Boutmy, in: Schnur, Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. 78 (105); J. Hashagen, in: Schnur, Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. 129 (130). 265 Vgl. nur die Beiträge in R. Schnur, Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte; vgl. auch M. Stolleis, in: Paulson/Schulte, Georg Jellinek, S. 103 ff. 266 Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 43. 267 Ebd., S. 60; vgl. zur Rolle Gottes bei der Begründung der Menschenwürde bei Pufendorf oben 3. Kapitel, I. 1. 268 So auch L. Moore, in: Lutz, Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, S. 276 (298); zur Säkularisierung des Naturrechts durch Thomasius vgl. oben 3. Kapitel, II. 1. b).

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che als Verband betrachtet, der auf einem vertraglichen Zusammenschluss beruhe. Übertragen auf das politische Gemeinwesen entstünde somit die Idee vom Staatsvertrag, die bisher „in den verstaubten Schriften der Gelehrten geschlummert hatte,“ nun aber innerhalb der Kirche „zu einer gewaltigen, das Leben bestimmenden Bewegung“ geworden sei.269 Dagegen ist einzuwenden, dass die Idee des Staatsvertrages unabhängig von der kirchlichen Entwicklung gerade im neueren Naturrecht keineswegs „verstaubte“, sondern aufzuleben begann und zum zentralen Thema mit politischer Brisanz wurde. Vor allem im hierarchisch geprägten Katholizismus konnten dagegen die Vorstellung vom Staatsvertrag sowie Demokratisierungs- und Menschenrechtsideen keine Durchschlagskraft entwickeln.270 Und auch der Protestantismus hatte bis ins 20. Jahrhundert hinein Schwierigkeiten mit der Betrachtung der Freiheit als individuelles Menschenrecht.271 Letztlich kommt Jellinek zu dem Schluss, dass die verfassungsrechtliche Anerkennung der Grundrechte insgesamt auf eine religiös politische Bewegung zurückzuführen und kein Produkt der Revolution, sondern vielmehr der Reformation sei.272 Dazu ist zu sagen, dass die Anerkennung der Religionsfreiheit in Nordamerika ein Anliegen war, an dem ein hohes politisches Interesse bestand. Gleiches galt aber auch für das Eigentumsrecht. Die Religionsfreiheit wurde damit lediglich zum politischen Moment, dass die Konstitutionalisierung der Grundrechte begünstigte. Es ist aber zu beachten, dass das politische Interesse an der Religionsfreiheit auch mit einer einfachgesetzlichen Kodifizierung hätte befriedigt werden können. Die rechtstechnische Konstruktion eines unentziehbaren, aber beschränkbaren Menschenrechts, wie sie der Bill of Rights zu Grunde liegt, wäre nicht zwingend erforderlich gewesen. Die verfassungsrechtliche Verankerung der Grundrechte wurde dagegen vielmehr durch die Loslösung vom Mutterland England und die damit verbundenen Vorteile für das Eigentumsrecht sowie durch die rationalen Erwägungen des Naturrechts erzwungen.273 Außerdem ist entgegen der Auffassung Jellineks zu betonen, dass die Religionsfreiheit allein die Konstitutionalisierung eines umfassenden Grundrechtskataloges nicht erfordert hätte. Zwar mag eine freie Religionsausübung immer auch mit Elementen der Versammlung oder der Presse274 verbunden sein, diese wären 269

Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 44. E. W. Wilda, Zeitschrift für deutsches Recht 11 (1847), S. 161 (248); vgl. auch H. Maier, in: Odersky, Menschenrechte, Herkunft – Geltung – Gefährdung, S. 49 (56 ff.); J. Isensee, in: Böckenförde/Spaemann, Menschenrechte und Menschenwürde, S. 138 ff. 271 P. Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten, S. 246 ff. 272 Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 58. 273 Vgl. dazu oben 4. Kapitel, I.; O. Vosseler, in: Schnur, Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. 166 (189). 274 Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 60 ff. 270

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jedoch nur Bestandteil der Religionsausübung und keine Grundrechte mit eigenständigem Gehalt. Wenn aber in der Virginia Bill of Rights die Pressefreiheit im Art. 12 zu einem „der großen Bollwerke der Freiheit“ erklärt wurde, so war damit eine umfassende Freiheit und keineswegs nur die des Gewissens gemeint.275 Außerdem ist zu beachten, dass die Konstitutionalisierung von Grundrechten, wenn sie tatsächlich ein Produkt der Reformation gewesen wäre, erstmals in Europa und vor allem in Deutschland hätte stattfinden müssen, wo die Reformation ihren Ausgang genommen hatte. Dort jedoch begnügte man sich mit dem einfachgesetzlich kodifizierten Recht zur Hausandacht und notfalls mit der Möglichkeit zur Auswanderung, eine Konstitutionalisierung der individuellen Gewissensfreiheit erzwang die Reformation nicht. Folglich kann der entscheidende Anstoß für die Positivierung der Menschenrechte in Nordamerika nicht in der Religionsfreiheit gesehen werden. c) Religionsfreiheit nach der Französischen Revolution In der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 fand die Religionsfreiheit eine zurückhaltendere Formulierung und es wurde nur die freie Meinungsäußerung in Religionssachen verkündet.276 Während der Beratung der Erklärung gab es Vorschläge für eine umfassende Religionsfreiheit und eine Gleichstellung aller Religionen, diese konnten sich allerdings nicht durchsetzen.277 Die noch immer einflussreiche Geistlichkeit wollte nämlich die Vormachtstellung der katholischen Religion erhalten sehen278 – ein weiteres Hindernis, das in Nordamerika niemals einen solchen Bestand gehabt hatte. Obwohl die Gewissensfreiheit in der Menschenrechtserklärung von 1789 sehr gering ausfiel, leistete die Französische Revolution einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung dieses Grundrechts. Mit der Säkularisation nahm nämlich die Verbindung zwischen Kirche und Staat ein Ende.279 Damit war zumindest ein machtpolitisches Hindernis der Religionsfreiheit und einer grundsätzlichen Toleranz aus dem Weg geräumt.

275 Kritisch dazu auch E. Boutmy, in: Schnur, Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. 78 (111). 276 Vgl. Art. 10 der Erklärung, abgedruckt bei Hartung/Commichau/Murphy (Hrsg.), Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 73 (76). 277 R. Staps, Bekenntnisfreiheit – ein Unterfall der Meinungsfreiheit?, S. 28 ff.; G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 29 ff.; B. Baczko, in: Bökkenförde/Spaemann, Menschenrechte und Menschenwürde, S. 31 (34). 278 J. Isensee, in: Böckenförde/Spaemann, Menschenrechte und Menschenwürde, S. 138 (139 f.). 279 Vgl. ausführlich zur französischen Entwicklung K. T. Richter, Staats- und Gesellschaftsrecht I, S. 176 ff.; W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rdnr. 70.

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d) Religion und Gewissen im aufgeklärten Absolutismus In Preußen erfuhr die Toleranz zwar auch als Frucht der Aufklärung, aber vor allem aus politisch-wirtschaftlicher Utilität eine besondere Ausprägung. Zwar wurde im ALR die „vollkommene Glaubens- und Gewissensfreiheit“280 gewährt, gleichzeitig aber – dem Souveränitätsanspruch des absoluten Fürsten entsprechend – unter eine strenge Staatsaufsicht gestellt. In Österreich erfolgte eine ähnliche, wenn auch weniger weitgehende Entwicklung, als Joseph II. in seinem Toleranz-Patent die bürgerliche Parität bestimmter Bekenntnisse anordnete.281 e) Das Ende der reichsrechtlichen Vorgaben und der Rheinbund Auf reichsrechtlicher Ebene erfuhr die Religionsfreiheit erst durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 eine Ausweitung. Die Landesfürsten, die durch die Mediatisierung der Reichsstädte und durch die Säkularisierung der reichsunmittelbaren geistlichen Güter einen Nachteil erlitten hatten, wurden mit neu zu verteilenden Gebieten des linken Rheinufers entschädigt. Dabei sollte am bisherigen Religionsstand festgehalten werden, so dass die „neuen“ Landesfürsten kein ius reformandi mehr hatten.282 Wenn ein protestantischer Landesfürst ein katholisches Gebiet erhielt, so blieb das Gebiet katholisch und der Landesfürst sowie alle anderen Protestanten sollten dort künftig gleichberechtigt sein. Gleiches galt für die umgekehrte Konstellation. Gemäß § 63 RDH stand es dem Landesfürsten aber nicht nur frei, die reichsrechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften, sondern sogar ganz „andere Religionsverwandte zu dulden, und ihnen den vollen Genuß bürgerlicher Rechte zu gestatten.“283 Damit war das Sektenduldungsverbot des Westfälischen Friedens, das in Preußen schon im ALR ignoriert worden war, in weiten Gebieten Deutschlands endgültig aufgehoben. Als mit dem Ende des Alten Reiches die Landesfürsten ihre volle Souveränität erhielten, fielen auch die übrigen reichsrechtlichen Schranken ihres ius reformandi. Für die Toleranz der individuellen Gewissensentscheidung, die seit dem Westfälischen Frieden zumindest im Ansatz reichsrechtlich gefordert worden war, bedeutete das aber vor allem im Rheinbund keinen Rückschritt. Denn hier spürten die Bevölkerung und die Landesfürsten den Wind der Aufklärung, der 280

§ 2 II 11 ALR; vgl. dazu oben 6. Kapitel, II. 3. d). Abgedruckt bei H. Klueting (Hrsg.), Der Josephinismus, S. 252 ff.; vgl. auch H. Conrad, in: Lutz, Zur Geschichte der Toleranz- und Religionsfreiheit, S. 155 (171 ff.). 282 Vgl. A. Langner, Säkularisation und Säkularisierung im 19. Jahrhundert, S. 48; H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. I, S. 409; E. W. Wilda, Zeitschrift für deutsches Recht 11 (1847), S. 161 (183); E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 398. 283 Abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 1 (22). 281

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aus Frankreich herüberwehte und ein toleranzfreundliches Klima bewirkte. Außerdem war aufgrund der territorialen Veränderung ein Nebeneinander der drei anerkannten Religionen entstanden, weshalb deren Gleichstellung schon erforderlich wurde, um den inneren Zusammenhalt des Landes zu stärken.284 Daneben bestand der Wunsch, zur Belebung der Wirtschaft „gewerbsame Einwohner ins Land zu ziehen“, auch wenn sie andersgläubig waren.285 Gleichzeitig waren die Landesfürsten darauf bedacht, sich selbst als über der Kirche stehend darzustellen. Aus dieser Position ließen sie wohlwollend unterschiedliche Glaubensrichtungen zu, die allerdings einer staatlichen Aufsicht unterliegen sollten.286 Die Gründe, welche die souverän gewordenen Landesfürsten im Rheinbund zur gesetzlichen Absicherung der Gewissensfreiheit bewegten, waren damit dieselben, die schon in Preußen zur Missachtung des reichsrechtlichen Dudlungsverbots geführt und von der Ausübung des ius reformandi abgehalten hatten. Außerdem wurde vertreten, dass die Landesfürsten zur Duldung der individuellen Gewissensentscheidungen trotz des Zerfalls des Alten Reiches im vom Westfälischen Frieden reichsrechtlich vorgesehenen Umfang auch weiterhin rechtlich gebunden waren. Die individuellen Rechte zur Religionsausübung wurden von dieser Ansicht als wohlerworbene verstanden, die dem Landesfürsten auch ohne reichsrechtliche Geltung entgegen gehalten werden konnten.287 Damit ist ein weiterer Punkt erreicht, an dem sich das veraltete Freiheitsverständnis, die Ideen der Aufklärung sowie die gesellschaftspolitische Entwicklung vereinigten und sich gemeinsam zugunsten der Grundrechtsentwicklung auswirkten. In Württemberg erfolgte durch das Religionsedikt vom 15. Oktober 1806 die Gleichstellung der drei anerkannten christlichen Religionen in Bezug auf alle bürgerlichen Rechte und den Zugang zu öffentlichen Ämtern, so dass hier ebenfalls der Paritätsgrundsatz des Westfälischen Friedens landesrechtliche Anerkennung erfuhr.288 Die Religionsausübung wurde einer Gemeinde jedoch nur mit Genehmigung des Königs im Inneren des Kirchengebäudes gewährt. Im Konstitutionsedikt Badens zur kirchlichen Staatsverfassung vom 14. Mai 1807 war die individuelle Rechtsposition noch weiter eingeschränkt. Die vollen Staatsbürgerrechte besaß nur derjenige, dessen Glauben u. a. der „Unterwürfigkeit unter den Regenten“289 keinen Abbruch tat. Dies zu beurteilen, fiel in die Macht des 284 Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 397 ff.; A. Langner, Säkularisation und Säkularisierung im 19. Jahrhundert, S. 49; vgl. auch W. Kahl, Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik I, S. 188 f. 285 E. W. Wilda, Zeitschrift für deutsches Recht 11 (1847), S. 161 (181). 286 Vgl. M. Schimke, Regierungsakten des Kurfürstentums und Königreichs Bayern, S. 495. 287 H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 85. 288 W. Kahl, Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik I, S. 213; R. von Mohl, Staatsrecht, S. 372; H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 89 f.

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Großherzogs, dem noch immer die Möglichkeit offen stand, Andersgläubige zur Auswanderung zu nötigen.290 In Bayern dagegen ging die Toleranzgesetzgebung weiter und das Religionsedikt von 1809 war eng an die Regelungen des Preußischen Allgemeinen Landrechts angelehnt. Es konkretisierte die in der Verfassung von 1808 zugesicherte Gewissensfreiheit und bildete die Grundlage für die verfassungsrechtliche Regelung von 1818. 2. Verfassungsrechtliche Ausgestaltung In den frühkonstitutionellen Verfassungen wurde jedem Einwohner die „vollkommene Gewissens-Freyheit“ zugesichert.291 Damit wurde die individuelle Entscheidung in Religionsangelegenheiten akzeptiert und das ius reformandi blieb aufgehoben. Außerdem wurde die volle Parität der drei anerkannten christlichen Konfessionen, die schon Art. 16 DBA vorschrieb, zum verfassungsrechtlichen Grundsatz.292 Staatsbürgerliche und politische Rechte sollten demnach den Angehörigen dieser Konfessionen gleichermaßen zukommen. In Art. 21 der Verfassung Hessens wurde ihnen außerdem die „freie und öffentliche Religionsausübung“ gestattet. Zusätzlich stellten die Verfassungen das Vermögen der anerkannten Kirchen, das zu Unterrichts- oder Wohltätigkeitszwecken genutzt wurde, unter ihren Schutz.293 Dies entsprach dem Interesse der Landesherren, von der Bildung und Versorgung durch die Kirche zu profitieren.294 Außerdem wurde in Bayern (§ 9 IV VU) und in Württemberg (§ 71 VU) die Freiheit der kirchlichen Selbstverwaltung gewährt. 3. Eingeschränkte Geltungskraft Auf den ersten Blick wirken die verfassungsrechtlichen Vorschriften zur Gewissensfreiheit vielversprechend, ist doch von vollkommener Freiheit, Gleich289

Vgl. H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 93. Vgl. H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 92 ff.; W. Kahl, Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik I, S. 320. 291 § 9 IV VU Bayern; vgl. § 18 VU Baden; § 27 VU Württemberg; Art. 22 VU Hessen; vgl. auch § 1 des Bayerischen Religionsedikts von 1809, abgedruckt bei M. Schimke (Hrsg.), Regierungsakten des Kurfürstentums und Königreichs Bayern, S. 527 (528). 292 § 9 IV VU Bayern; § 27 VU Württemberg; § 19 VU Baden; Art. 20 VU Hessen; vgl. auch § 2 des Bayerischen Religionsedikts von 1809. 293 § 10 IV VU Bayern; § 20 VU Baden. 294 Vgl. M. Schimke, Regierungsakten des Kurfürstentums und Königreichs Bayern, S. 497. 290

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heit und einem besonderen Schutz durch den Staat die Rede. Die nähere Untersuchung zeigt jedoch, dass die frühkonstitutionelle Gewissensfreiheit eher in überkommenen Traditionen wurzelte als an das westliche Vorbild Nordamerika anzuknüpfen. a) Umfang der individuellen Gewissensfreiheit Schon der Umfang der individuellen Gewissensfreiheit erinnert stärker an die Regelung des Westfälischen Friedens als an das moderne Grundrechtsverständnis. Das einzige Recht, was durch die Zusage der Gewissensfreiheit als von selbst gegeben angesehen wurde, war das der einfachen Hausandacht.295 Besonders deutlich wird das am Wortlaut des § 9 der Bayerischen Verfassung. Die einzige Konsequenz der Gewissensfreiheit für das Individuum war, dass „die einfache Haus-Andacht . . . daher Niemanden, zu welcher Religion er sich bekennen mag, untersagt werden . . .“ könne.296 Im gleichzeitig mit der Verfassung verabschiedeten Religionsedikt von 1818 wurde die Gewissensfreiheit aus § 1 in § 2 allein dahingehend konkretisiert, dass „demnach“297 die freie Hausandacht für alle erlaubt sein müsse. Die Betätigung des Glaubens außerhalb der häuslichen Gemeinschaft war dagegen durch die verfassungsrechtliche Proklamation der Gewissensfreiheit nicht gestattet worden.298 Dieses sich aus der grammatikalischen Auslegung ergebende eingeschränkte Verständnis der Gewissensfreiheit wurde später auch von der Rechtsprechung übernommen. Nicht einmal die Abhaltung von Bibelstunden sollte unter die Hausandacht und somit auch nicht unter die Gewissensfreiheit fallen299, woran die engen Grenzen des verfassungsrechtlich zugebilligten Freiheitsbereichs offenbar werden. Nun stellt sich die Frage, weshalb die Gewissensfreiheit in den Verfassungen als „vollkommen“ tituliert wurde, sollte doch ein unumschränkter Freiraum offensichtlich nicht geschaffen werden. Als vollkommen im damaligen Sinne konnte allenfalls die Entscheidungsfreiheit bei der Religionswahl angesehen werden. Der entscheidende Fortschritt gegenüber dem Westfälischen Frieden war, dass das Individuum nicht nur zwischen den drei anerkannten christlichen Religionen auswählen, sondern frei entscheiden durfte, was es glauben 295

Vgl. H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 122. § 9 VU Bayern, Hervorhebung durch die Verfasserin. 297 Vgl. den Abdruck bei H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 306; Hervorhebung durch die Verfasserin. 298 M. von Seydel, Staatsrecht, S. 306; Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 2, S. 83 f.; vgl. auch F. Schmitthenner, Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts, S. 563. 299 Entscheidung des kgl. Bayer. VGH vom 16.10.1885, Entscheidungssammlung XVII, S. 72; vgl. auch E. W. Wilda, Zeitschrift für deutsches Recht 11 (1847), S. 161 (201). 296

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wollte.300 Eine Weltanschauungsfreiheit im modernen Sinne war damit jedoch nicht geschaffen. Wenn Gewissensfreiheit mit dem Recht zur Hausandacht gleichgesetzt wurde, war damit automatisch eine Form der Gottesverehrung vorausgesetzt. Der Atheismus gehörte also nicht zu den frei wählbaren Überzeugungen und der Austritt aus einer Religionsgemeinschaft war nur bei gleichzeitigem Übertritt in eine andere erlaubt.301 Die vollkommene Gewissensfreiheit erschöpfte sich also darin, ein frei gewähltes religiöses Bekenntnis in den eigenen vier Wänden und nur im Familienkreis ausüben zu dürfen. Im Vergleich zum Westfälischen Frieden hatten zwar alle religiösen Bekenntnisse an diesem Recht zur Hausandacht teil, der Umfang der gestatteten individuellen Freiheit hatte sich aber seit 1648 nicht vergrößert. Somit ließ der Staat zwar „. . . jeden glauben, was er will; aber nicht jeden handeln, wie er will.“302 Der bloße Gedanke und die innere Gewissensfreiheit – eben das, was jeder glauben durfte – konnte jedoch vom Staat ohnehin nicht erfasst werden und war „demnach schon an und für sich ganz unbeschränkt . . .“303. Und auch die Ausübung der bloßen Hausandacht hätte vom Staat zwar verboten, aber nicht wirksam unterbunden werden können. b) Ungleichbehandlung der Glaubensgemeinschaften Die Freiheit der Religionswahl wurde zudem durch die negativen Konsequenzen überlagert, die aus der Entscheidung für eine nicht anerkannte Religionsgemeinschaft folgten. Die ungleichen Rechtspositionen der unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften werden vor allem an der Ausübung der Religion deutlich. Nur die drei anerkannten christlichen Religionen durften ihren Glauben öffentlich ausüben.304 Dabei handelte es sich um eine besondere Rechtsposition, in der die Beschränkung des Westfälischen Friedens auf die katholischen, lutherischen und reformierten Glaubensgemeinschaften fortwirkte. Die nicht anerkannten Religionsgemeinschaften hatten in Bayern die Chance, den Status einer „aufgenommenen“ Religionsgemeinschaft zu erhalten.305 Dann 300

E. W. Wilda, Zeitschrift für deutsches Recht 11 (1847), S. 161 (212). J. L. Klüber, Oeffentliches Recht des Teutschen Bundes, § 518, S. 777; Aretin/ Rotteck, Staatsrecht, Bd. 2, S. 81, 83; H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 126; H. J. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, S. 66; vgl. auch W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 23. 302 M. von Seydel, Staatsrecht, S. 306. 303 S. Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 439. 304 Art. 21 VU Hessen; §§ 25 ff. des Bayerischen Religionsedikt von 1818, abgedruckt bei H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 306 ff. 305 §§ 25 ff. des Bayerischen Religionsedikts von 1818; M. von Seydel, Staatsrecht, S. 308 f.; vgl. auch H. Zoepfl, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, Bd. 2, S. 84 f. 301

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konnten sie, wenn sie als öffentliche Religionsgemeinschaft klassifiziert wurden, ihren Glauben öffentlich ausüben. Im Regelfall wurden sie aber sog. Privatglaubensgesellschaften, deren Berechtigung zur Ausübung des Privatgottesdienstes in besonderen Vorschriften bestimmt wurde. Dabei durfte der Privatgottesdienst zwar von einem Prediger abgehalten werden, er sollte jedoch in einem nichtkirchenförmigen Gebäude abgeschottet von der Öffentlichkeit stattfinden.306 Diese Regelung entsprach dem Preußischen Allgemeinen Landrecht.307 Erst wenn eine Glaubensgemeinschaft im Aufnahmeverfahren überprüft worden war, durfte sie nach außen tätig werden. Dazu musste sie ihre Glaubensformeln und die innere kirchliche Verfassung zur Einsicht und Prüfung dem Staatsministerium des Inneren vorlegen.308 Vor allem kam es dabei auf die Einstellung zum Staat an und die Entscheidung, ob und in welchen Umfang eine Aufnahme erfolgen sollte, stand allein im Ermessen des Königs.309 Ungleich ausgestaltet waren auch die staatsbürgerlichen und politischen Rechte, deren voller Genuss nur den Angehörigen der drei anerkannten christlichen Glaubensauffassungen zugesagt wurde. Die anderen Glaubensauffassungen sollten nur in dem Umfang an den Staatsbürgerrechten teilhaben, „als sie durch die Grundsätze ihrer Religion an der Erfüllung der bürgerlichen Pflichten nicht gehindert . . .“310 wurden. Wenn dem Landesfürsten die Staatsloyalität einer Religionsgemeinschaft nicht ausreichend erschien, stand es daher in seinem Belieben, die Staatsbürgerrechte zu mindern oder ganz aufzuheben. Auch wenn die Versagung der vollen Staatsbürgerrechte nicht als Sanktion für die falsche Glaubensentscheidung gesehen wurde311, musste sie faktisch als solche wirken. Denn konkretisierende Bestimmungen über die bürgerlichen Pflichten fehlten312, so dass es letztlich im Belieben des Landesfürsten stand, welches Ausmaß an Staatsbürgerrechten die nicht anerkannten Religionsgemeinschaften erhielten. Dieser hatte die Möglichkeit, konkrete, ihm persönlich missfallende Glaubensinhalte zu sanktionieren. Er konnte nämlich Staatsbürgerpflichten formulieren, welche die eigentlich anerkannte individuelle Glaubensentscheidung komplett unterliefen. In Bayern z. B. wurden im Militär auch Protestanten dazu verpflichtet, genau wie die Katholiken vor dem Empfang der Hostie das Knie 306

E. W. Wilda, Zeitschrift für deutsches Recht 11 (1847), S. 161 (201, 207 f.). § 22 II 11 ALR. 308 § 27 des Bayerischen Religionsedikts von 1818. 309 Vgl. § 26 des Bayerischen Religionsedikts von 1818, wonach ohne Genehmigung des Königs keine neuen Religionsgemeinschaften aufgenommen werden dürfen; vgl. auch M. von Seydel, Staatsrecht, S. 309. 310 Vgl. § 27 VU Württemberg; vgl. auch § 25 des Bayerischen Religionsedikts von 1818; gemäß Art. 22 VU Hessen soll sich niemand unter dem Vorwand der Gewissensfreiheit seinen bürgerlichen Verbindlichkeiten entziehen. 311 So zumindest H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 125. 312 R. von Mohl, Staatsrecht, S. 373; E. W. Wilda, Zeitschrift für deutsches Recht 11 (1847), S. 161 (224). 307

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

zu beugen.313 Faktisch wurden die Protestanten damit, wenn sie ihre Staatsbürgerpflichten erfüllen und so ihre Staatsbürgerrechte behalten wollten, zur „Gewissensläugnung“ gezwungen.314 An die Stelle des landesherrlichen ius reformandi traten damit die Staatsbürgerpflichten, deren volle Erfüllung nur beim Bekenntnis zur Religion des Landesfürsten möglich war. Da die Nichterfüllung dieser Staatsbürgerpflichten mit einem Abzug an Staatsbürgerrechten sanktioniert wurde, entstand ein mittelbarer Zwang, der faktisch dem ius reformandi sehr ähnlich war. Die Ungleichbehandlung der unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften überlagerte die individuelle Gewissensentscheidung. Der Entzug von Rechten war aber nicht nur ein spürbarer Nachteil, der das Individuum vor der Entscheidung für eine nicht anerkannte Glaubensgemeinschaft zurückschrecken ließ, sondern er brachte auch eine Zurücksetzung und Verachtung der benachteiligten Glaubensgemeinschaft zum Ausdruck.315 Außerdem trug die Ungleichbehandlung zum Entstehen der neuständischen Ordnung bei. Auf die Grundrechtsentwicklung wirkte sie sich somit in doppelter Weise nachteilig aus. c) Religion unter dem monarchischen Prinzip Dem monarchischen Prinzip entsprechend waren die Landesfürsten von Anfang an darauf bedacht, auch den religiösen Bereich ihrer eigenen Hoheit zu unterstellen. Zwar hatten sie aus praktischen und politischen Gründen mit dem ius reformandi eine Rechtsposition aufgeben müssen, die in der Vergangenheit wesentlich zu der Entstehung ihrer Souveränität gegenüber dem Kaiser beigetragen hatte. Genau wie beim Eingehen der konstitutionellen Bindung war dies jedoch nur geschehen, um ihre Souveränität langfristig zu erhalten. Um so mehr waren sie deshalb darum bemüht, die Souveränitätsminderung, die mit der Opferung des ius reformandi verbunden war, so gering wie möglich zu halten. Die verschiedenen Religionen sollten grundsätzlich dem Staat unterstellt sein und wurden nur dann akzeptiert, wenn sie ihren Mitgliedern eine positive Staatseinstellung vermittelten. Deshalb standen auch die Kirchen unter einer strengen staatlichen Aufsicht. Lediglich in den inneren Angelegenheiten waren die anerkannten Kirchen autonom, denn vom Bereich des sog. ius in sacra ging für den Landesfürsten keine Souveränitätsgefährdung aus. In äußeren Angelegenheiten besaß jedoch der Staat das sog. ius circa sacra, welches sich in umfassenden Schutz- und Aufsichtsrechten konkretisierte.316 313 Vgl. zum „Kniebeugungserlaß“ vom 14. August 1838 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 437; F. J. Stahl, Rechtsgutachten über die Beschwerden wegen Verletzung verfassungsmäßiger Rechte der Protestanten im Königreiche Bayern, S. 4 ff. 314 F. J. Stahl, ebd., S. 4, 91 ff. 315 E. W. Wilda, Zeitschrift für deutsches Recht 11 (1847), S. 161 (188).

IV. Religions- und Gewissensfreiheit

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Somit befanden sich alle Religionsgemeinschaften und folglich auch die Gläubigen gegenüber dem Staat in einem Subordinationsverhältnis, was der individuellen Gewissensfreiheit auf den ersten Blick abträglich zu sein schien. Es ist aber zu beachten, dass damals Eingriffe in die Gewissensfreiheit nicht nur vom Staat, sondern vor allem von den Kirchen selbst befürchtet wurden.317 Die staatliche Kirchenhoheit stellte deshalb einen Schutz gegenüber solchen Eingriffen dar und wirkte sich somit auch zugunsten der individuellen Gewissensfreiheit aus. Es wird deutlich, dass die Gewissensfreiheit ihre Wurzeln primär in der deutschen verfassungsrechtlichen Tradition hatte. Wenn die Toleranz aus meist machtpolitischen Zwängen nicht mehr aufzuhalten war, wurde sie in einem geringstmöglichen Ausmaß gewährt. Dabei wurde bei der Formulierung und Auslegung der Gesetze eine erstaunliche Kreativität an den Tag gelegt, um die Bereiche des Glaubens, auf die der Herrscher keinen Zugriff haben sollte, in der Praxis auf ein Minimum zu reduzieren. Die Gewissensfreiheit war daher zunächst keine Frucht der Idee angeborener Menschenrechte, sondern sie war auf dem Boden überkommener Religionsherrschaft unter Beschränkung des von der Kirche und dem Staat ausgeübten Religionszwanges erwachsen.318 In den frühkonstitutionellen Verfassungen war damit zwar von einer „vollkommenen Gewissensfreiheit“ die Rede, diese ging aber über die schon zuvor einfachgesetzlich kodifizierten Religionsrechte nicht hinaus. Besonders deutlich wird das am Bayerischen Religionsedikt von 1818, welches die Verfassung konkretisierte. Der Umfang der Staatsbürgerrechte einer nicht anerkannten Religionsgemeinschaft hing demnach nicht nur von der Einstellung zum Staat, sondern auch von den rein religiösen Glaubensinhalten ab.319 Gegenüber dem Religionsedikt vom 1809, nach dem die „Religions-Eigenschaft an und für sich“ niemanden von den Staatsbürgerrechten ausschloss, bedeutete das einen Rückschritt.320 316 Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 2, S. 73 ff., S. 95 ff.; J. L. Klüber, Oeffentliches Recht des Teutschen Bundes, § 518, S. 777; S. Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 450 f.; F. J. Stahl, Rechtsgutachten über die Beschwerden wegen Verletzung verfassungsmäßiger Rechte der Protestanten im Königreiche Bayern, S. 54; W. Kahl, Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik I, S. 204 ff.; S. 28; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 393 ff. 317 E. W. Wilda, Zeitschrift für deutsches Recht 11 (1847), S. 161 (244); J. L. Klüber, Oeffentliches Recht des Teutschen Bundes, § 518, S. 777; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 392; H. Maier, in: Odersky, Menschenrechte, Herkunft – Geltung – Gefährdung, S. 49 (56 ff.). 318 E. W. Wilda, Zeitschrift für deutsches Recht 11 (1847), S. 161 (185). 319 § 27 des Bayerischen Religionsedikts von 1818, abgedruckt bei H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 306 (307). 320 Vgl. § 2 Religionsedikt von 1809, abgedruckt bei M. Schimke (Hrsg.), Regierungsakten des Kurfürstentums und Königreichs Bayern, S. 528 ff.; E. W. Wilda, Zeitschrift für deutsches Recht 11 (1847), S. 161 (226); W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 148 f.

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

4. Zukunftsweisende Funktion Dennoch war die Konstitutionalisierung der Gewissensfreiheit ein wichtiger Schritt, denn die Zurückhaltung des Herrschers gegenüber der individuellen Gewissensentscheidung wurde als verfassungsmäßiger Grundsatz anerkannt. Außerdem zeigt schon die Stellung der Gewissensfreiheit innerhalb der frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge, dass es sich zumindest dem äußeren Schein nach nicht um eine reine Fortführung der deutschen Rechtstradition handeln sollte.321 Nur so lässt sich erklären, dass etwa die „Freiheit der Person, Gewissens- und Denkfreyheit, Freiheit des Eigentums und Auswanderungs-Freiheit“ in § 24 der Württembergischen Verfassung in einem Atemzug gewährt wurden. Damit wurde die Gewissensfreiheit auf eine neue Ebene gehoben, auf der zu ihrer Begründung die allgemeine Menschenrechtsidee genutzt werden konnte. a) Staatsfreie Sphäre Zunächst sind die Auswirkungen auf die Gewissensfreiheit als staatsfreie, dem Zugriff des Herrschers entzogene Sphäre zu betrachten.322 Die Verfassungen bestätigten endgültig, dass diese Sphäre nicht nur für die anerkannten, sondern für alle Religionsgemeinschaften eröffnet sein sollte. Zwar war der individuelle Freiraum klein, es handelte sich aber nicht um ein partikulares Vorrecht. Der Herrscher hatte sich, mochte er nach dem monarchischen Prinzip auch noch so sehr als Inhaber jeglicher Staatsgewalt konstruiert werden, immer und gegenüber jedem aus der individuellen Gewissensentscheidung herauszuhalten. Die Freiheitssphäre wurde universal. Es handelte sich bei ihr nicht mehr nur um einen Grundsatz, dessen Befolgung wie im Absolutismus im Belieben des Herrschers stand, sondern um eine verfassungsrechtlich verankerte Schranke der Herrschaftsmacht.323 Die Gewissensfreiheit wurde damit zum wirksamen Mittel, um unzulässige Eingriffe des Landesfürsten abzuwehren. Es war also eine erste universale, verfassungsrechtlich geschützte staatsfreie Sphäre entstanden, die zwar nicht bezüglich ihrer Größe, wohl aber bzgl. ihres Charakters und ihrer Struktur mit der durch die Gewissensfreiheit in Nordamerika geschaffenen Sphäre mithalten konnte. b) Die neue Begründung und Ausdehnung der Gewissensfreiheit Innerhalb der entstandenen staatsfreien Sphäre durften die Einwohner nicht mehr nur aus den drei anerkannten Bekenntnissen auswählen, sondern frei ent-

321 322 323

H. J. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, S. 68. E. W. Wilda, Zeitschrift für deutsches Recht 11 (1847), S. 161 (211). H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. I, S. 413.

IV. Religions- und Gewissensfreiheit

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scheiden, was sie glauben wollten. Ausschlaggebend war allein die Auffassung des Einzelnen und nicht die bevormundende Weisung eines Landesfürsten, der die Religion des Staates bestimmte. Dabei wurde die Entscheidung des Individuums für eine bestimmte Religion nicht nur akzeptiert, sondern das Ausleben dieser Entscheidung in Form der Hausandacht sollte vom Staat auch aktiven Schutz erfahren. Das Individuum wurde dadurch als Entscheidungsträger anerkannt und somit des mündigen und vernünftigen Denkens als fähig angesehen.324 Die Gewissensfreiheit gewann neben der deutschen verfassungsrechtlichen Tradition eine zweite, zeitgemäßere und tiefere Begründung: Ihr eigentlicher Grund wurde in der Persönlichkeit und Würde des Menschen gesehen.325 Die Konsequenz war, dass die Gewissensfreiheit in ihrem bisherigen Umfang unzureichend wurde. Nach Mohl sollte jeder Einwohner trotz Zugehörigkeit zu einem nicht anerkannten Bekenntnis „seine Religion ausüben und die Gebräuche derselben beobachten“ können, anstatt auf die reine Hausandacht beschränkt zu sein. Außerdem sollte niemand wegen seiner Religion mit einem „positiven Nachtheile belegt werden“.326 Darin sah Mohl aber keinen Widerspruch zur verfassungsrechtlich verbrieften, religionsbedingten Ungleichheit. Er betonte, dass die „positiven Vortheile“ des Staatsbürgerrechts nicht unabhängig von der Religionszugehörigkeit in Anspruch genommen werden könnten.327 Während demnach niemand aufgrund seiner Religion einen Nachteil erfahren durfte, hingen mögliche Vorteile von der Religion ab. Da dadurch der religionsbedingte Nachteil entsteht, von einem Vorteil ausgeschlossen zu werden, sind die Ausführungen Mohls unschlüssig. Mit dem geltenden Verfassungsrecht stimmten die religionsbedingten Unterschiede jedoch überein. Die willkürliche Entscheidungsbefugnis des Landesfürsten über den Umfang der Staatsbürgerrechte nicht anerkannter Religionsgemeinschaften wurde ebenfalls zum Gegenstand der Kritik. Jordan betonte, dass eine Kirche, wenn sie dem Staatszweck widerspreche, nicht einmal geduldet werden dürfe. Sofern sie aber mit dem Staatszweck vereinbar sei, müsse sie gegenüber den anderen Kirchen rechtlich vollkommen gleichgestellt sein. Aus machtpolitischen Überlegungen des Landesfürsten dürften ihre Staatsbürgerrechte nicht verkürzt werden, da „die politische Zweckmäßigkeit niemals ein Grund sein darf, einem Theile der Bürger die Verfolgung ihrer Selbstbestimmung zu erschweren oder gar unmöglich zu machen.“328 Die religionsbedingten Ungleichheiten lehnte auch Wilda 324 H. J. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, S. 69; E. W. Wilda, Zeitschrift für deutsches Recht 11 (1847), S. 161 (169). 325 S. Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 439 f.; E. W. Wilda; Zeitschrift für deutsches Recht 11 (1847), S. 161 (163); C. von Rotteck, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. IV (Duldung), S. 533. 326 Staatsrecht, S. 373. 327 Staatsrecht, S. 373.

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

ab. Er machte deutlich, dass es für die Abstufung der Staatsbürgerrechte je nach Religionszugehörigkeit an einem vernünftigen Grund fehle.329 Wegen der verfassungsrechtlichen Formulierung der vollkommenen Gewissensfreiheit bedürfe es des Einschlagens neuer Bahnen, selbst wenn das nicht in der ursprünglichen Absicht der Verfassungsgeber gelegen habe.330 Zur Gewissensfreiheit sollten daher neben der Bekenntnisfreiheit und der vollen Rechtsfähigkeit vor allem auch die Kultusfreiheit, d. h. das über die einfache Hausandacht hinausgehende Recht zur Religionsausübung gehören. Die bisherige Freiheit der Religionswahl, die sich in der Berechtigung zur einfachen Hausandacht erschöpfte, wurde „als eine Paraphe des Gewissenszwangs“ abgetan.331 Der innere Bereich des Gewissens sei ohnehin für den Staat nicht greifbar. Gewähre der Staat nun Gewissensfreiheit, müsse sich diese zwangsläufig immer auf den äußeren Bereich der Gottesverehrung beziehen. Solange dies nicht der Fall sei, werde mit der Gewissensfreiheit tituliert, „was wesentlich Beschränkung der Freiheit involviert.“332 Die Gewissensfreiheit wurde daher nur dann als vollkommen angesehen, wenn sie die freie Religionsausübung umfasste. Ein verfassungsrechtlicher Ansatz für diese Auslegung war in Baden gegeben. Hier sollte gemäß § 18 jeder Einwohner „in Ansehung der Art seiner Gottesverehrung des gleichen Schutzes“ würdig sein. Diese zu schützende Gottesverehrung setzte aber die Gemeinschaft mit anderen und eine Form der Religionsausübung voraus, die über die einfache Hausandacht hinausging.333 Nachdem die Gewissensfreiheit vom tradierten Rechtsgrundsatz in die Form eines verfassungsrechtlich verankerten Grundrechts erhoben wurde, wohnte ihr damit die Tendenz zur Ausdehnung inne. c) Ableitung weiterer Freiheitsrechte Außerdem wurden aus der Freiheit des Gewissens weitere Freiheitsrechte abgeleitet. Das Assoziationsrecht sollte es den Gläubigen ermöglichen, sich jederzeit zu versammeln und ihre Religion öffentlich auszuüben.334 Die Kirchen wurden daher als einer der „verschiedenen möglichen Vereine“335 im Staate an328

Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 449. Zeitschrift für deutsches Recht 11 (1847), S. 161 (194). 330 E. W. Wilda, Zeitschrift für deutsches Recht 11 (1847), S. 161 (249). 331 Abt, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. VI (Glaubensfreiheit), 3. Auflage 1862, S. 635. 332 Abt, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. VI (Glaubensfreiheit), 3. Auflage 1862, S. 637. 333 So auch H. J. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, S. 68 f. 334 E. W. Wilda, Zeitschrift für deutsches Recht 11 (1847), S. 161 (229 f.); G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 65. 335 S. Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 445 f. 329

IV. Religions- und Gewissensfreiheit

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gesehen, dessen Zusammentreten aber schon deswegen ermöglicht werden musste, weil er ein Mittel zur Verfolgung der menschlichen Selbstbestimmung war. Eine Assoziationsfreiheit im allgemeinen Sinne erforderte die von der Gewissensfreiheit als umfasst angesehene Kultusfreiheit jedoch nicht. Die abgeleiteten Versammlungsrechte sind lediglich als Bestandteil der Gewissensfreiheit ohne eigenständigen Gehalt zu verstehen. Weitergehend war die Bedeutung der Gewissensfreiheit für die Meinungsfreiheit. Im Bereich der Religion wurde erstmals die individuelle Entscheidung anerkannt und gegenüber der Entscheidung des Landesfürsten als vorrangig angesehen. Damit wurde die Fähigkeit des Einzelnen vorausgesetzt, sich eine Meinung zu bilden und eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Es war ein erster Bereich geschaffen, in dem das freie Denken der Bürger vorausgesetzt und anerkannt wurde. Wenn nun dem Individuum die Fähigkeit zur souveränen Entscheidung zugesprochen wurde, so musste es sich fragen, weshalb seine Denkfreiheit auf die kleine Sphäre der Religion beschränkt war. Wer sich in religiösen Fragen eine Meinung bilden konnte, war auch bei politischen Fragestellungen dazu in der Lage. Die dem Individuum mit der Gewissensfreiheit attestierten Fähigkeiten verleiteten gerade dazu, eine umfassende Meinungsfreiheit zu fordern. Zwar kann schon aufgrund der unterschiedlichen Entstehungsgeschichten die Gewissensfreiheit kein bloßer Unterfall der Meinungsfreiheit sein. Die Meinungsfreiheit setzte jedoch das „Mündig werden“ des Bürgers voraus, welches im Wesentlichen durch die Aufklärung vorangetrieben wurde.336 In der Gewissensfreiheit, die von der mündigen Entscheidung des Gläubigen ausging, fand nun genau diese Voraussetzung eine erste verfassungsrechtliche Anerkennung. d) Politisierende Funktion Der Bereich des freien Denkens, der mit der Gewissensfreiheit gewährt wurde, zog die Forderung nach sich, auf den politischen Bereich ausgedehnt zu werden. Wer nämlich „in Sachen des Glaubens und der Kirche zu denken anfängt, der wird auch in politischer Beziehung nicht mehr blindlings glauben und gehorchen.“337 Die Gründe, die gegen religiöse Intoleranz sprachen, begründeten gleichzeitig eine Kritik an politischer Intoleranz.338 Die Glaubensfreiheit, die ursprünglich als reines Abwehrrecht konzipiert war, barg damit die Forderung nach einem status activus, einer aktiven Beteiligung des Bürgers am Staat in sich. Dabei war eine vollkommen apolitische Auslegung der Gewissensfreiheit in einer Zeit, in der die Trennung zwischen Kirche und Staat noch 336

R. Staps, Bekenntnisfreiheit – ein Unterfall der Meinungsfreiheit?, S. 182 f. Abt, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. VI (Glaubensfreiheit), 3. Auflage 1862, S. 641. 338 C. von Rotteck, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. IV (Duldung), S. 548. 337

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

frisch war, nicht möglich. Schon mit der Entscheidung für eine andere Religion als die des Landesfürsten konnte man eine Abkehr von diesem und somit eine indirekte politische Kritik zum Ausdruck bringen. Außerdem stellten die Verfassungen selbst einen politischen Bezug der Gewissensfreiheit her. Wenn nämlich die drei anerkannten christlichen Religionsgemeinschaften „gleiche . . . politische Rechte“339 erhielten, wurden ihnen zumindest die wenigen in der Verfassung vorgesehenen Mitspracherechte gewährt. Für die benachteiligten Andersgläubigen bedeutete das, dass hinter der Forderung nach Ausdehnung der Gewissensfreiheit und Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften immer auch das Streben nach politischen Rechten stand. Gerade in Zeiten, wo ein „politischer Sinn im Volke rege wird, und die Theilnahme an Ausübung der öffentlichen Gewalt eine höhere Bedeutung erhält“340, musste die religionsbedingte Ungleichheit der politischen Rechte als Verletzung der Gewissensfreiheit zum Gegenstand der Kritik werden. Letztlich wurden jedem Individuum mit der Gewissensfreiheit Fähigkeiten zugesprochen, die eine Bevormundung im politischen Bereich eigentlich nicht zuließen. Die extensive Interpretation der Gewissensfreiheit zog damit gleichzeitig eine Politisierung der Bevölkerung nach sich.

V. Die Pressefreiheit Die Freiheit des Denkens, die in der Glaubensfreiheit vorausgesetzt wurde, verlangte nach Verallgemeinerung und mündete im Kampf um die Pressefreiheit. Dabei war zur Zeit des Frühkonstitutionalismus die Pressefreiheit ein Synonym zur Meinungsfreiheit. Da Gedanken und Meinungen ohnehin nicht kontrolliert werden konnten, stellte sich die Frage ihrer Freiheit erst, sobald sie über die Presse in öffentlichen Publikationen verbreitet wurden.341 Erst dann war ein Ansatzpunkt für eine staatliche Einwirkung gegeben, die meistens in Form der Zensur erfolgte und als Gegenpol zur Pressefreiheit die Entwicklung eben dieser bestimmte. 1. Entstehungsbedingungen Eine zwingende Voraussetzung der Pressefreiheit war die Erfindung des Buchdrucks im Jahre 1450 durch Johannes Gutenberg. Damit wurde die Grundlage für die Presse als Kommunikationsform für Meinungen gelegt. Die sich 339

§ 9 IV VU Bayern; vgl. auch § 18 VU Baden. E. W. Wilda, Zeitschrift für deutsches Recht 11 (1847), S. 161 (187). 341 S. Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 425 ff.; Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 3, S. 228; vgl. auch W. Sielmann, in: Schwartländer/Willoweit, Meinungsfreiheit, S. 173; U. Eisenhardt, in: FS Kroeschell, S. 75 (77). 340

V. Die Pressefreiheit

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eröffnenden technischen Möglichkeiten der Meinungskundgabe sahen sich aber schon bald Beschränkungen ausgesetzt: a) Die Kirche als Wegbereiterin der Zensur Bereits gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurde dem Buchdruck eine Zensur gegenübergestellt, als deren Wegbereiterin zunächst die Kirche auftrat. Besonders zur Zeit der Reformation, in der sich die konfessionellen Meinungsunterschiede in zahlreichen Flug- und Streitschriften niederschlugen342, gewann die Zensur an Aktualität. Dabei war die sog. Vorzensur die Regel, d. h. Druckwerke wurden noch vor ihrem Erscheinen kontrolliert. Das Ziel war es, durch eine vorherige Kontrolle der Presseerzeugnisse die „Glaubenswahrheit“ zu schützen.343 Da im konfessionellen Staat alle kirchlichen Angelegenheiten auch unmittelbar den Staat selbst betrafen, übernahm dieser als verlängerter Arm der Kirche die technische Abwicklung der Zensur. Bereits im Jahre 1550 kam es zum Kaiserlichen Mandat Karls V., wonach „. . . niemands wes stands oder wirde er sey, sol wider drucke noch schreibe, auch nicht auffschreibe, copieren, noch, . . . bey sich haben, entpfangen, tragen, bewaren, . . . keinerley Bücher oder Schriffte gemacht von Martin Luther, Johannes Ecolampadius, Uldalricus Zwinglius, Martin Bucerus, Johannes Calvinus oder anderer Ketzer und Scribenten solcher Secten, . . .“344. Vornehmlich wurde also durch die Zensur versucht, die Glaubenseinheit zu bewahren, die schließlich Voraussetzung des Gottesgnadentums war. Die Aufsicht über das Presse- und Bücherwesen im Reich wurde dabei vom Reichshofrat und der Frankfurter Bücherkommission geführt.345 b) Presse und Zensur im Absolutismus Mit zunehmender Souveränität der Territorialherren sowie in Folge der Säkularisierung ging die Zensur auch gegenständlich auf den Staat über. Dies entsprach den Themen der Presse und den Interessen des lesenden Bürgertums, die mit Einsetzen der Aufklärung eher diesseitsgewandt und politisch wurden. Ent342 Vgl. die zahlreichen Nachweise bei A. Laube (Hrsg.), Flugschriften der frühen Reformationsbewegung (1518–1524), Bd. 1 und 2; vgl. auch ders. (Hrsg.), Flugschriften gegen die Reformation (1518–1525). 343 F. Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, S. 16 ff., 26; J. Wilke, Pressefreiheit, Einleitung, S. 4; G. Stegmaier, in: Von der Preßfreiheit zur Pressefreiheit, S.129 (130 ff.) 344 Zitiert nach F. Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, S. 32 f. 345 H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. II, S. 290 f.; vgl. auch U. Eisenhardt, Die kaiserliche Aufsicht über Buchdruck, Buchhandel und Presse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (1496–1806), S. 63 ff.

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

scheidend dafür, ob eine Schrift veröffentlicht werden durfte, waren die so genannten „Staatsrücksichten“, d. h. es kam auf die Vereinbarkeit mit dem Souveränitätsanspruch des absolutistischen Fürsten an.346 Dabei wurden von Territorialstaat zu Territorialstaat unterschiedliche Maßstäbe angesetzt. Während nach Friedrich dem Großen „Gazetten, wenn sie interessant seyn sollten nicht geniret werden müssten“347, wollte Herzog Ernst August von Weimar ausdrücklich „keine Raisoneurs zu Untertanen haben“348. So unterschiedlich beide Aussagen auch klingen mögen, sie liefen am Ende doch auf dasselbe hinaus: Da ein politisches Räsonnement der Untertanen den alleinigen Machtanspruch der Landesfürsten zu gefährden drohte, schirmten sie diesen Bereich in Form der arcana imperii349 von der bürgerlichen Öffentlichkeit ab. Kernstück des Arkanbereich waren dabei politische Erwägungen und Entscheidungen. Eine Einmischung in diesem Bereich empfanden die Landesherren, die sich auf das Denkprivileg des Gottesgnadentums beriefen, ungebührlich und beleidigend. Der Herrscher wurde als der einzige angesehen, der das Gemeinwohl kannte und genau darin gründete sich seine Herrschaftsmacht.350 Aus diesem Verständnis heraus konnten Versuche der Bevölkerung, sich eine Meinung zu bilden, nur auf Irrwege führen. Im aufgeklärten Absolutismus sollte zwar jeder Untertan als vernünftiger Mensch behandelt werden und seine Meinung und Gesinnung sollten keinem staatlichen Zwang unterliegen. Deshalb erkannte Svarez auch die Denkfreiheit an. Die Äußerung der Gedanken war jedoch nur solange zulässig, wie diese „auf die Ruhe des Staats keinen nachteiligen Einfluß haben“ konnten. Kritische Bemerkungen über die Regierung waren deshalb nur erlaubt, wenn sie „weder Geringschätzung noch Ungehorsam gegen die Regierung“351 zur Folge hatten. Insgesamt sollten die Gedanken der Bevölkerung ohne Einfluss auf die Politik bleiben und allenfalls als „Freizeitvergnügen“ gelten. Das Räsonnement des Pöbels wurde als unzweckmäßig und – später vor allem mit Blick auf die Französische Revolution – gefährlich abgetan. Dem patrimonial-elitären Aufklärungsverständnis entsprach es dagegen, die Lesegewohnheiten der breiten Masse zu beaufsichtigen und zu reglementieren.352 Selbst die unpolitische geistige Auseinandersetzung wurde als Privileg der aufgeklärten Elite verstanden. Das Er346 F. Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, S. 49 ff.; G. Stegmaier, in: Von der Preßfreiheit zur Pressefreiheit, S. 129 (132 ff.). 347 Zitiert nach E. Consentius, Preußische Jahrbücher 115 (1904), S. 220. 348 Zitiert nach O. Groth, Die Zeitung, Bd. 1, S. 193. 349 Vgl. zur Einführung und Definition dieses Begriffes A. Clapmarius, De arcanis rerum publicarum libri sex; vgl. auch M. Stolleis, Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, S. 37 ff. 350 C. G. Svarez, Kronprinzenvorträge, abgedruckt in: Conrad/Kleinheyer, S. 587. 351 C. G. Svarez, ebd., S. 611. 352 E. Hellmuth, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 205 (211); ders., ZHF 9 (1982), S. 315 (319 ff.).

V. Die Pressefreiheit

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gebnis dieser Zensurpolitik war ein rein referierender Journalismus, der Nachrichten unreflektiert sammelte, ohne diese in irgendeiner Weise zu bewerten.353 Allein in diesem Bereich durfte die Presse „nicht geniret“ sein, die arcana imperii dagegen sollte auch nach Friedrich dem Großen allein dem Landesfürsten offen stehen.354 c) England als Geburtsland der Pressefreiheit Setzt man die Pressefreiheit mit der Abwesenheit einer Vorzensur gleich355, so ist England als Geburtsland dieses Freiheitsrechts anzusehen. Unter den Tudors hatte es eine scharfe Kontrolle des Druckereiwesens durch die so genannten Sternenkammern gegeben, die später in Zensurdekreten des Parlaments fortgeführt wurde. Die Kritikwürdigkeit dieser Kontrolle wurde bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts aufgedeckt.356 Unter immer größeren Rechtfertigungsdruck geriet die Vorzensur nach der Glorreichen Revolution, auch wenn in der Bill of Rights von 1689 die Pressefreiheit noch nicht erwähnt wurde. Erst im Jahre 1695 kam es zur Aufhebung der Vorzensur, indem das Parlament die Verlängerung des „Licensing Act“ von 1662 ablehnte.357 Zwar bestand die Nachzensur fort und sowohl Verleger als auch Schriftsteller mussten weiterhin mit gerichtlichen Repressivmaßnahmen oder steuerlichen Nachteilen rechnen. Vor der Veröffentlichung aber erfolgte keine Kontrolle mehr und es entstand ein erster freier Raum für die Presse, der in Deutschland zur Zeit des Frühkonstitutionalismus noch fortschrittlich und vorbildlich erschien.358

353 G. Stegmaier, in: Von der Preßfreiheit zur Pressefreiheit, S. 129 (136); F. Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, S. 67 ff.; E. Hellmuth, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 205 (212). 354 Dazu ausführlich E. Consentius, Preußische Jahrbücher 115 (1904), S. 243 ff. 355 Dies war in den klassischen juristischen Texten der damaligen Zeit der Fall, vgl. E. Hellmuth, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 205 f.; G. Stourzh, in: Wege zur Grundrechtsdemokratie, S. 175 (180). 356 Vgl. J. Milton, Areopagitica, in: Wilke, Pressefreiheit, S. 57 ff. 357 Vgl. A. Voigt, Geschichte der Grundrechte, S. 61 f.; J. Wilke, Pressefreiheit, Einleitung, S. 5 ff.; E. Hellmuth, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 205 (208 f.); G. Stourzh, in: Wege zur Grundrechtsdemokratie, S. 175 (179). 358 So setzte sich Bayerns Kronprinz Ludwig bei den Verfassungsberatungen für eine Pressefreiheit ein, die „auf ähnliche Weise wie in Großbritannien bestehen“ möge, zitiert nach W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 34.

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

d) Die Pressefreiheit in Nordamerika und Frankreich In die Form eines verfassungsrechtlich verankerten Grundrechts wurde die Pressefreiheit erstmals in Nordamerika gegossen. Zuvor war das Medium der Presse als Mittel entdeckt worden, sich gegen die englische Fremdbestimmung aufzulehnen, die am stärksten in der Besteuerungspolitik spürbar geworden war.359 Als in der Virginia Bill of Rights die Presse zum „Bollwerk der Freiheit“360 erklärt wurde, erfuhr dadurch gleichzeitig die öffentliche Diskussion als konstitutives politisches Prinzip Anerkennung. Die institutionelle Bedeutung der Presse wird in den zeitlich nachfolgenden Verfassungen der Einzelstaaten noch deutlicher: Die Pressefreiheit wurde als „wesentlich für die Sicherheit der Freiheit in einem Staat“361 bezeichnet. Ihre Aufgabe wurde darin gesehen, die Vorgänge in der gesetzgebenden Versammlung zu kontrollieren.362 Die öffentliche Auseinandersetzung über politische Themen, die im Absolutismus in den Arkanbereich abgeschirmt waren, wurde damit nicht nur von der Zensur befreit, sondern als konstitutives Element der verfassungsrechtlichen Ordnung besonders geschützt. Dieser Bedeutungsgewinn der Pressefreiheit blieb auch in Deutschland nicht folgenlos und im Naturrecht erhielt die Meinungs- und Pressefreiheit immer mehr den Rang eines unveräußerlichen, im Staat fortgeltenden Menschenrechts.363 In Frankreich führte die Déclaration von 1789 die Pressefreiheit ein.364 Sie sollte der Aktualisierung des nach der Revolution maßgeblichen Volkswillens dienen und musste somit auch eine politische Bedeutung haben.365 Für die Revolution war dieses Grundrecht schon deshalb von großer Bedeutung, weil es als wirksames Mittel gegen tyrannischen Machtmissbrauch galt. Den Schranken dieses Grundrechts wurde daher wenig Aufmerksamkeit geschenkt und der Weg 359 Vgl. nur Thomas Paines Flugschrift „Common Sense“, abgedruckt bei Adams (Hrsg.), Die Amerikanische Revolution, S. 166; G. Stourzh, in: Wege zur Grundrechtsdemokratie, S. 175 (189). 360 Vgl. Art. 12, abgedruckt bei Hartung/Commichau/Murphy (Hrsg.), Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 71. 361 Vgl. Art. 16 des 1. Teils der Verfassung Massachusetts vom 2. März 1780, abgedruckt bei W. Altmann (Hrsg.), Ausgewählte Urkunden zur außerdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776, S. 21 (25). 362 Vgl. Sect. 35 der Verfassung Pennsylvanias vom 28. September 1776, abgedruckt bei W. Altmann (Hrsg.), Ausgewählte Urkunden zur außerdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776, S. 3 (13). 363 Vgl. D. Klippel, Politische Freiheit, S. 143; H. E. Bödeker, in: Birtsch, Grundund Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 392 (416); D. Grimm, in: Schwartländer/Willoweit, Meinungsfreiheit, S. 145 (152). 364 Vgl. Art. 11, abgedruckt Hartung/Commichau/Murphy (Hrsg.), Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 76. 365 E. Hellmuth, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 205 (223 f.).

V. Die Pressefreiheit

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zur Entstehung politischer Hetzblätter war frei.366 Allerdings gab es bereits 1792 ein Gesetz, welches Versuche der Presse zur Wiedereinführung der Monarchie mit dem Tode bestrafte. Unter der Schreckensherrschaft der Jakobiner wurden dann unerwünschte Meinungen durch die Guillotine im Keim erstickt.367 Napoleon verzichtete später auf eine verfassungsrechtlich verbürgte Pressefreiheit, stattdessen wurde durch Beschluss über das Zeitungswesen vom 17. Januar 1800 ein umfassendes Zensursystem eingeführt.368 e) Entstehung der öffentlichen Meinung im Gegensatz zum deutschen Absolutismus Die Auswirkungen der Französischen Revolution auf das Pressewesen in Deutschland waren ambivalent. Zum Teil kam es aus Angst vor revolutionären Unruhen zu einer Verschärfung der Zensur.369 Andrerseits ging aber von der Französischen Revolution auch ein politischer Impuls aus, der von der bürgerlichen Öffentlichkeit, die sich in Deutschland langsam bildete, begeistert aufgenommen wurde. Das durch die wirtschaftliche Entwicklung gestärkte Bürgertum sah sich in der überkommenen Ständeordnung nicht repräsentiert. Es suchte seinen Selbstwert daher nicht in veralteten Konventionen, sondern in der geistigen Auseinandersetzung. Somit gewann die Presse im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts an Bedeutung.370 Es entstanden Lesegesellschaften und die Zahl der Zeitungen stieg. Neben Informationen, die aus wirtschaftlichen Gründen wertvoll waren, wuchs das allgemeine Interesse an politischen Geschehnissen. Es kam erstmals zu gesellschaftlichen Formen der kommunikativen Gruppenbildung und das Räsonnement der Untertanen gewann durch die Institution der Presse die Merkmale einer Organisation. Eine öffentliche Meinung bildete sich heraus.

366 A. Voigt, Geschichte der Grundrechte, S. 61; vgl. auch K. T. Richter, Staats- und Gesellschaftsrecht I, S. 156 f. 367 K. T. Richter, Staats- und Gesellschaftsrecht I, S. 157 ff.; H. Luden, Vom freien Geistesverkehr, S. 221; R. Staps, Bekenntnisfreiheit – ein Unterfall der Meinungsfreiheit?, S. 129 ff. 368 Zur Zensurpraxis Napoleons ausführlich R. Busch, Die Aufsicht über das Bücher- und Pressewesen in den Rheinbundstaaten Berg, Westfalen und Frankfurt; vgl. auch M. Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts II, S. 64. 369 So wurde in Württemberg bereits am 13. Juli 1791 ein Zensurgesetz erlassen, vgl. G. Stegmaier, in: Von der Preßfreiheit zur Pressefreiheit, S. 129 (137); vgl. auch J. Wilke, Pressefreiheit, Einleitung, S. 21 f. 370 D. Grimm, in: Schwartländer/Willoweit, Meinungsfreiheit, S. 145 (147); U. Eisenhardt, Staat 10 (1971), S. 339 (341); Th. Würtenberger, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 2, Rdnr. 42; F. Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, S. 73 ff.; H. E. Bödeker, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 392 (397).

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Das öffentliche Diskutieren politischer Angelegenheiten in der Presse stand jedoch in einem Gegensatz zur absolutistischen Staatsauffassung.371 Zwar war der Herrscher nicht unmittelbar vom Urteil des Volkes abhängig, wohl aber sah sich die Presse einer Bewertung durch ihre Leser ausgesetzt. Wich deren politische Meinung von der in einer Zeitung vertretenen Auffassung ab, so konnten sie ihre Missbilligung durch Leserbriefe oder den künftigen Kauf einer anderen Zeitung zum Ausdruck bringen. Die sich herausbildende öffentliche Meinung war damit keineswegs unverbindlich, sondern es wohnte ihr die richtende Kraft eines Urteils inne, das den Landesfürsten zumindest mittelbar betraf. Einem solchen Urteilsspruch wollte und konnte sich ein absolutistischer Landesherr aber gerade nicht unterwerfen. Der Kampf um die Pressefreiheit war damit immer auch ein Kampf um die Etablierung der öffentlichen Meinung im Staat372, durch den der Absolutismus in Wanken geriet. f) Pressefreiheit als Mittel der Auflehnung gegen Napoleon Besonders starke Unterdrückung erlitt die bürgerliche Öffentlichkeit unter der Fremdherrschaft Napoleons. Dieser hatte die Presse als Mittel der politischen Machterhaltung erkannt und nutzte sie zur Beeinflussung der Bevölkerung. Deshalb durfte die Presse nicht frei sein, sondern musste seinem Einfluss unterliegen. Es entstand ein strenges Überwachungs- und Zensursystem und die politische Berichterstattung war bei zentralen Zeitungen monopolisiert. Diese hatte Napoleon gegründet und sie gaben nur seinen Willen wieder. Ein Beispiel dafür war die Großherzoglich Badische Staats-Zeitung. Dass der Großherzog 1810 zur Einführung dieses Zentralblattes gezwungen wurde, stellte gleichzeitig einen Angriff auf die Souveränität Badens dar.373 Die Fremdherrschaft Napoleons spiegelte sich daher auch in der Zeitungslandschaft wider. Sowohl die Presse als auch die Landesfürsten wurden also gleichermaßen von Napoleon unterdrückt, wodurch eine bis dahin einzigartige Situation entstand: Erstmals standen Presse und Landesfürsten nicht mehr in einem Gegensatz zueinander, sondern hatten in Napoleon einen gemeinsamen Gegner. Mittlerweile hatten auch die Landesfürsten die Macht der Presse erkannt und nutzten sie als Mittel, die Bevölkerung gegen die Fremdherrschaft zu mobilisieren.374 So kam es zur Zeit der Befreiungskriege zu einer quantitativen und qua371 E. Hellmuth, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 205 (217); F. Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, S. 87. 372 So F. Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, S. 96. 373 F. Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, S. 174 ff.; G. Stegmaier, in: Von der Preßfreiheit zur Pressefreiheit, S. 129 (140). 374 Vgl. dazu die zahlreichen Quellen bei H.-B. Spies (Hrsg.), Die Erhebung gegen Napoleon.

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litativen Zunahme der Zeitungen.375 Die Zensur wurde extrem gelockert, denn die Napoleon-feindliche Stimmung der Presse entsprach den politischen Interessen der Landesfürsten. Der Preußische König Friedrich Wilhelm III. nutzte die „Schlesische privilegierte Zeitung“ zu einem Aufruf „An mein Volk“ zur Erhebung gegen Napoleon.376 In diesem Aufruf wurde die Bevölkerung nicht mehr als in politischen Dingen unfähiger Pöbel abgetan, stattdessen suchte der König die Kommunikation mit dem Volk, um es von seiner politischen Entscheidung zum Krieg zu überzeugen. Damit erkannten die Landesfürsten die politische Mündigkeit der Untertanen, auf deren Mitwirkung sie schließlich angewiesen waren, zumindest solange an, bis sie sich aus der Fremdherrschaft Napoleons befreit hatten. Trotz dieses vorübergehenden Aufblühens der Presse kann man noch nicht von einer Pressefreiheit sprechen, denn dazu fehlte es an der notwendigen gesetzlichen Absicherung. Die öffentliche Meinung war jedoch in einem solchen Maße gestärkt worden, dass der Ruf nach Pressefreiheit immer lauter wurde und nach grundsätzlicher Anerkennung verlangte. Joseph Görres, der als Herausgeber des Rheinischen Merkurs die Presselandschaft mitprägte, ging davon aus, dass Deutschland, „da es in ihm zu einem Volk gekommen, zu einem Willen und zur öffentlichen Meinung“ künftig auch „Zeitungen erhält, die mehr sind als der magere geist- und kraftlose Index dessen, was geschehen.“ Denn wenn „ein Volk teilnimmt am gemeinen Wohle; . . . dann verlangt es nach solchen Blättern, . . .“377. Nach dem Sieg über Napoleon waren allerdings die souveränitätsbewussten Landesfürsten nicht mehr darauf bedacht, das Volk „am gemeinsamen Wohle“ teilhaben zu lassen. Das Problem war, dass die Landesfürsten und die bürgerliche Öffentlichkeit zwar gemeinsam gegen Napoleon gekämpft hatten, aber dabei grundsätzlich unterschiedliche Ziele verfolgten: Für die Öffentlichkeit war der Kampf gegen Napoleon vor allem auch ein Kampf gegen die Zensur. Von dem Ende der Fremdherrschaft erhoffte man sich daher die Befreiung der Presse und die Anerkennung der politischen Mündigkeit. Die Höfe waren sich zwar bewusst, dass die Bevölkerung für Freiheit und Unabhängigkeit schwärmten, jedoch hatten sie „keineswegs diesen Rausch geteilt“378. Stattdessen wollten die Landesfürsten durch den Kampf gegen Napoleon ihre eigene Souveränität weitestgehend zurückgewinnen. Dazu gehörte auch ihre Alleinentscheidungsbefugnis in politischen Angelegenheiten, die den Absolutismus geprägt hatte und an der die Öffentlichkeit nicht teilhaben sollte. Anders als der 375 F. Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, S. 190; vgl. auch M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, S. 64 f. 376 Abgedruckt bei H.-B. Spies (Hrsg.), Die Erhebung gegen Napoleon, S. 254 f. 377 Die teutschen Zeitungen, in: Rheinischer Merkur, 1. Jg., Nr. 80/81, 1./3.7.1814, abgedruckt bei H. Brandt (Hrsg.), Restauration und Frühliberalismus, S. 111; vgl. auch F. Ancillon, Ueber Souveränität und Staatsverfassungen, S. 75. 378 J. Görres, Deutschland und die Revolution, S. 9.

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Kampf Frankreichs im Jahre 1789, der einen völligen Bruch mit der bisherigen Ordnung und somit eine Freiheit vom bisherigen Staat bewirkt hatte, mündeten die Befreiungskriege Deutschlands in dem reaktionären Versuch, unter Berufung auf das monarchische Prinzip zur bisherigen Ordnung zurückzukehren. Vor diesem Hintergrund musste ein Wiederaufleben der landesrechtlichen Zensur von der bürgerlichen Öffentlichkeit als das ungerechte Streitigmachen eines Verdienstes empfunden werden. Wenn die Fürsten die öffentliche Meinung nicht durch die Pressefreiheit anerkannten, musste es so wirken, als hätten sie „die Kraft ihrer Völker“ in den Befreiungskriegen nur zu ihrem eigenen Nutzen missbraucht.379 Folglich wurde versucht, unter größtmöglichem Schutz der monarchischen Souveränität gerade das Maß an Pressefreiheit zu gewähren, das ausreichte, um die Öffentlichkeit zufrieden zu stellen. 2. Verfassungsrechtliche Ausgestaltung Die an Macht erstarkende öffentliche Meinung sollte mit der bestehenden Ordnung in Einklang gebracht werden. Deshalb sahen sich die Landesfürsten genötigt, die Pressefreiheit trotz Kenntnis ihrer politischen Bedeutung zu gewähren. Bestimmungen über die Pressefreiheit waren daher sowohl in den Landesverfassungen als auch in der Deutschen Bundesakte enthalten. Es wurde jedoch versucht, die politischen Wirkungsmöglichkeiten der öffentlichen Meinung weitestgehend einzuschränken. a) In den Landesverfassungen Mit den Landesverfassungen verfolgten die Monarchen das Ziel, eine Einheit der Bevölkerung und eine Identifikation eben dieser mit dem Staat zu erreichen.380 Um diese Aufgabe zu erfüllen, war kein anderes Grundrecht so erforderlich wie die heiß ersehnte Pressefreiheit, deren Fehlen eine zu große Enttäuschung der Bevölkerung hervorgerufen hätte. Allerdings wurde die Presse durchgängig einem Gesetzesvorbehalt unterstellt: Die Bayerische Verfassung garantierte die „Freyheit der Presse und des Buchhandels“381 nur nach den Bestimmungen des Presseedikts vom 26. Mai 1818382, das inhaltlich im Wesentlichen an das bereits im Jahre 1803 unter Montgelas erlassene Presseedikt anknüpfte. Für unpolitische Schriften wurde die Vorzensur aufgehoben und die Zensurkommission aufgelöst.383 Damit war zumindest teil379 380 381 382

H. Luden, Vom freien Geistesverkehr, S. 222. Vgl. oben 7. Kapitel, IV. 1. § 11 IV VU Bayern. BayGBl. 1818, S. 181.

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weise der Übergang von der Vorzensur, die im Polizeisystem erfolgte, zur Nachzensur, die nach englischem Vorbild von der Justiz übernommen wurde, vollzogen. Es war also schon eine wichtige Liberalisierung erfolgt, auch wenn politische Schriften noch immer der Vorzensur unterlagen. Die Verfassung von 1818 brachte damit keine Ausweitung der Pressefreiheit, diente aber der Absicherung des status quo. In Art. 35 der Hessischen und § 28 der Württembergischen Verfassung wurde die Pressefreiheit nicht nur vorbehaltlich der bestehenden, sondern auch vorbehaltlich der gegen den Missbrauch der Presse künftig zu erlassenden Gesetze gewährleistet. Dabei ließ die bestehende Rechtslage in Württemberg der Presse einen weiten Freiraum: Das Gesetz über die Preß-Freyheit vom 30. Januar 1817384 hob in § 1 jegliche Vorzensur auf und führte ein repressives Justizsystem zur Kontrolle der Presseerzeugnisse ein (§ 27). Außerdem waren in den §§ 3 bis 9 die presserechtlichen Verstöße klar und detailliert normiert. Somit entstand eine Rechtssicherheit, die willkürliche Zensurmaßnahmen erschwerte.385 In Baden verkündete zwar § 17 der Verfassung die „Preßfreyheit“, die allerdings nur nach den künftigen Bestimmungen der Bundesversammlung stattfinden sollte. Trotz dieser verfassungsrechtlichen Verankerung behielt aber das restriktive Zensuredikt von 1810 in Baden seine Gültigkeit, das noch unter dem Einfluss Napoleons stand und die politische Berichterstattung monopolisiert hatte.386 Es fällt auf, dass in allen Verfassungen neben der Pressefreiheit ausdrücklich die Freiheit des Buchhandels garantiert wurde. Schriften, deren Veröffentlichung erlaubt war, sollten auch verkauft und dem Leser zugänglich gemacht werden dürfen.387 Dies ist darauf zurückzuführen, dass die finanziellen Risiken des Buchhandels, der zum wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden war, gemindert werden sollten.388

383 Vgl. auch W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 27, 34; H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. II, S. 296. 384 Königlich Württembergisches Staats- und Regierungsblatt 1817, S. 41 ff. 385 Vgl. dazu R. von Mohl, Staatsrecht, S. 360. 386 Vgl. oben 8. Kapitel, V. 1. f); W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 55. 387 R. von Mohl, Staatsrecht, S. 363. 388 Schon während des Wiener Kongresses versuchten die Buchhändler ihre Situation mit einem „Vorschlag . . . in Absicht auf zweckmäßige Bestimmungen, betreffend die Preßfreiheit, den Büchernachdruck und den Buchhandel“ vom 1.11.1814 zu verbessern, abgedruckt bei J. L. Klüber (Hrsg.), Acten des Wiener Congresses, Bd. IV, S. 26 f. (Hervorhebung durch die Verfasserin).

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b) In der Deutschen Bundesakte Auf der Ebene des Deutschen Bundes versprach Art. 18d DBA die Abfassung gleichförmiger Verfügungen über die Pressefreiheit.389 Diese Regelung war zur Vereinheitlichung der landesunterschiedlichen Zensurgesetze getroffen worden und stellte ein Entgegenkommen an die Pressefreiheitsforderung in der bürgerlichen Öffentlichkeit dar. Dabei war es vor allem dem Einfluss Preußens zu verdanken, dass der Begriff der Pressefreiheit überhaupt in die Bundesakte einzog.390 Österreich dagegen stand diesem Vorhaben ablehnend gegenüber und erreichte durch die unverbindliche Formulierung einen zeitlichen Aufschub, der es ermöglichte, den konkreten Inhalt der Pressefreiheit später nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Zunächst wurde jedoch durch Art. 18d DBA eine Reihe von überwiegend liberalen Konkretisierungsvorschlägen zur Pressefreiheit ausgelöst.391 Um Zeit zu gewinnen, wurde der Gesandte für Holstein-Oldenburg, von Berg, damit beauftragt, eine Übersicht über die Pressefreiheit in den einzelnen Bundesstaaten zu erarbeiten.392 Seine Ergebnisse präsentierte er der Bundesversammlung anderthalb Jahre später am 12. Oktober 1818. Dabei stellte er das Polizeisystem der Vorzensur dem Justizsystem der Nachzensur nach englischem Vorbild gegenüber. Letzteres war mittlerweile in einem Drittel der Bundesstaaten eingeführt worden.393 Obwohl sein Auftrag eigentlich rein deskriptiver Natur war, konnte er sich einer Stellungnahme nicht enthalten: „Da es mir aber unmöglich erscheint, Meinungen darzustellen, ohne selbst eine Meinung zu haben; so habe ich über die Haupt-Grundsätze die meinige weder verschweigen können noch wollen.“394 Von Berg sprach sich ausdrücklich für die bundesweite Einführung eines Justizsystems aus, in dem der „Gebrauch der Presse überhaupt wie jede andere Handlung“ den Staat erst dann angehe, „wenn sie in das Rechtsgebiet der Gesamtheit oder des einzelnen eingreift.“395 In einem Polizeisystem dagegen müsse zumindest die Frage gestellt werden, ob nicht „ein Unterdrückungssystem entstehe, welches den Geistesverkehr auf eine gemeinschädliche Weise gefährdet?“396

389

Abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 84 (90). U. Eisenhardt, Staat 10 (1971), S. 339 (344). 391 Vgl. nur W. von Humboldt, Über Preßfreiheit, in: Wilke, Pressefreiheit, S. 134 ff.; vgl. auch F. Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, S. 209. 392 Vgl. J. A. Collmann (Hrsg.), Quellen, Materialien und Commentar des gemeinen deutschen Pressrechts, S. 161. 393 Abgedruckt bei J. A. Collmann (Hrsg.), Quellen, Materialien und Commentar des gemeinen deutschen Pressrechts, S. 175 ff., S. 223. 394 Ebd., S. 177. 395 Ebd., S. 184. 396 Ebd., S. 225. 390

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Die Bundesversammlung sah trotz dieser eindeutigen Stellungnahme erneut von der Einführung der Nachzensur ab. Mittlerweile waren die Kräfte der Restauration mobilisiert worden und nach dem Wartburgfest im Oktober 1817 hatten sich die reaktionären Stimmungen verstärkt. Um aber die Forderung nach Pressefreiheit nicht gänzlich zu enttäuschen, wurde vorerst eine fünfköpfige Kommission gegründet, die sich mit der nähren Ausgestaltung dieses Grundrechts beschäftigen sollte.397 Der reaktionären Seite kam es dabei stärker auf den Zeitgewinn und auf ein weiteres Hinhalten der Öffentlichkeit als auf die konkreten Ergebnisse der Kommission an. Dies kann man schon daran erkennen, dass erste Vorbereitungen zu den Karlsbader Beschlüssen, die die Arbeit der Kommission hinfällig werden ließen, bereits zu Beginn des Jahres 1818 getroffen worden waren.398 Letztlich kommt es auf die Beantwortung der Frage, ob es sich bei Art. 18d DBA um einen bloßen Programmsatz in Form eines Versprechens399 oder um die Garantie eines eigenständigen Rechts400 handelte, nicht an. Denn solange die Pressfreiheit als garantiertes Recht nicht mit konkreten Inhalten gefüllt wurde, sondern reaktionären und illiberalen Interpretationen offen stand, war damit kein eigenständiger Freiheitsgehalt gewonnen. 3. Eingeschränkte Geltungskraft Die Pressefreiheit war somit zwar Bestandteil der Verfassungen, ihre tatsächliche Geltungskraft war jedoch abhängig vom Kräfteverhältnis zwischen dem bürgerlichen Liberalismus und der Restauration. a) Der Gesetzesvorbehalt in den Landesverfassungen Im Vergleich zu den Menschenrechtserklärungen in Nordamerika und Frankreich wurden in den frühkonstitutionellen Verfassungen durch den Gesetzesvorbehalt vor allem die Schranken der Pressefreiheit betont.401 Die Ausgestaltung der Pressefreiheit wurde damit allein dem Gesetzgeber überlassen, ohne inhaltliche Vorgaben an diesen zu richten. Es bestand somit die Gefahr, dass die Pressefreiheit durch einfache Gesetze unterlaufen wurde. In Bayern wurde diese Ge397

J. Wilke, Pressefreiheit, Einleitung, S. 23; U. Eisenhardt, Staat 10 (1971), S. 339

(349). 398

U. Eisenhardt, Staat 10 (1971), S. 339 (354). E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 742. 400 J. L. Klüber, Wichtige Urkunden – Geschichtliche und staatsrechtliche Einführung, S. 67; H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. I, S. 416; U. Eisenhardt, Staat 10 (1971), S. 339 (347). 401 So auch D. Grimm, in: Schwartländer/Willoweit, Meinungsfreiheit, S. 145 (157). 399

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fahr schon bei der Ausarbeitung der Verfassung kritisiert und es wurde vergeblich eine zusätzliche institutionelle Sicherung gefordert.402 Die Pressefreiheit blieb damit vom einfachen Gesetz abhängig. Wie kein anderes Grundrecht war die Pressefreiheit damit einem Missbrauchsvorbehalt ausgesetzt403, ein Schicksal als leer laufende Garantie war aber keineswegs zwingend. Mit dem Übergang zum Konstitutionalismus waren dem Landesfürsten Schranken gesetzt worden, die es ihm nicht mehr erlaubten, ohne Zustimmung der Stände gesetzliche Zensurmaßnahmen zu ergreifen. Ein Sonderfall war der Gesetzesvorbehalt in Bayern, der nicht allgemein formuliert war, sondern direkt auf das bereits bestehende Presseedikt verwies.404 Damit war die dort vorgesehene Befreiung von der Vorzensur für unpolitische Schriften verfassungsrechtlich abgesichert. Die „Freyheit der Presse“ war in Bayern also keineswegs leer laufend, sondern mit einer inhaltlichen Garantie verbunden. In der Verfassungswirklichkeit erfuhr diese inhaltliche Garantie sogar eine extensive Auslegung: Als politische Schriften, die vorzensiert werden mussten, wurden nur solche mit außenpolitischem Bezug verstanden. Deshalb konnte eine Zensurverordnung des Innenministers Schenk abgewehrt werden, welche die Vorzensur auch für die innenpolitische Berichterstattung vorsah.405 Die anderen Verfassungen dagegen ließen Eingriffe in die Pressefreiheit auch nach künftigen Gesetzen zu, an welche keine inhaltlichen Anforderungen gestellt wurden. Das Ausmaß der Pressefreiheit war damit von der politischen Stimmung im Dualismus zwischen Landesfürst und Ständevertretung abhängig. Als Anwalt der Presse trat dabei die liberale Opposition in den Ständeversammlungen auf. Die Landesfürsten dagegen mussten – bisweilen widerwillig – als verlängerter Arm des Deutschen Bundes dessen restriktive Zensurpolitik umsetzen. b) Bundesrechtliche Überlagerung Die Geltungsmöglichkeiten der landesverfassungsrechtlichen Pressefreiheit wurden bereits am 20. September 1819 durch die Karlsbader Beschlüsse erheblich relativiert. Diese bestanden aus vier Bundesgesetzen, zu denen auch das Bundes-Preßgesetz gehörte. Es war getragen von der Vorstellung, „daß die Presse in Deutschland beinahe ausschließlich einer alle bestehende Ordnung und Institute untergrabenden Partei“406 diene. Das Ziel der Reaktion war die 402 Vgl. zum Vorschlag Arcos, eine Kommission der Stände als letzte Instanz in Fragen der Pressefreiheit einzuführen E. Weis, ZbLG 39 (1976), S. 413 (426). 403 So auch D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 132. 404 § 11 IV VU Bayern sowie das Presseedict vom 26.5.1818, BayGBl. 1818, S. 181. 405 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 32; W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 156 f.

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Rückkehr zur absolutistischen Arkanhaltung, in der die politische Information der bürgerlichen Öffentlichkeit verhindert werden sollte. Deshalb ging der Deutsche Bund zu einer restriktiven Zensurpolitik über, die der konstitutionellen Staatsauffassung, die eine gewisse Beteiligung und Information des Volkes schon über die Ständeversammlungen vorsah, eigentlich widersprach. Dennoch ergab sich auch für die konstitutionellen Mitgliedstaaten eine Pflicht zum Vollzug der bundesrechtlichen Zensurvorschriften: aa) Pflicht zum Vollzug der Karlsbader Beschlüsse Zweck der Karlsbader Beschlüsse sollte es sein, „revolutionäre Umtriebe und demagogische Verbindungen“407 zu verhindern und dem Schutz „der Würde des Bundes, der Sicherheit einzelner Bundesstaaten oder der Erhaltung des Friedens und der Ruhe“408 zu dienen. Die Kompetenz des Bundes für die Beschlüsse wurde daher aus Art. 2 DBA abgeleitet, wonach ihm die Aufgabe der „Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands“ ausdrücklich zugewiesen wurde.409 Da die Karlsbader Beschlüsse außerdem trotz einiger verfahrensrechtlicher Bedenken einstimmig gefasst wurden, galten sie als Ergänzung der Bundes-Grundgesetze i. S. des Art. 7 DBA.410 Um in den einzelnen Ländern Geltungskraft zu erlangen, bedurfte es zwar noch der Verkündung durch die jeweilige Landesregierung. Hierbei handelte es sich jedoch um eine Verbindlichkeit, deren Erfüllung der Bund notfalls im Wege der Bundesexekution erzwingen konnte. Denn gemäß Art. 31 WSA durfte der Bund „die Vollziehung der Bundes-Acte und übrigen Grundgesetze des Bundes“ notfalls mit den „erforderlichen Executions-Maßregeln“, d. h. mit militärischen Mitteln sicherstellen.411 In Bayern regte sich sofort Widerstand gegen die bundesrechtlichen Zensurmaßnahmen, die der Pressefreiheit der eigenen Verfassung widersprachen.412 406 Vgl. K. W. Fürst von Metternich, Aufstellung des Standpunktes, aus welchem eine im deutschen Bunde zu ergreifende Maaßregel gegen den Unfug der Presse beurtheilt werden muß, Beilagen zu den Carlsbader Protokollen, abgedruckt bei J. L. Klüber (Hrsg.), Wichtige Urkunden, S. 185 (186). 407 Vgl. Art. 2 des Bundes-Untersuchungsgesetzes, abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 104. 408 § 6 Bundes-Preßgesetz, abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 102 (103). 409 Vgl. K. W. Fürst von Metternich, Punctuation für die Hauptgegenstände dieser Verhandlung, Beilagen zu den Carlsbader Protokollen, abgedruckt bei J. L. Klüber (Hrsg.), Wichtige Urkunden, S. 183 f. 410 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 736. 411 Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 636 f.; H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 302; vgl. auch die Bundesexekutionsordnung vom 3. August 1820, abgedruckt bei E. Dross (Hrsg.), Quellen zur Ära Metternich, S. 100; E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 116 ff.

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Die bundesrechtliche Bevormundung in Zensurangelegenheiten musste dabei als Angriff auf die eigene Souveränität empfunden werden, die in der neuen Landesverfassung zum Ausdruck kommen sollte.413 Deshalb war Bayern nicht bereit, die Inhalte der eigenen Verfassung ohne weiteres aufzugeben und verkündete die Karlsbader Beschlüsse daher nur „mit Rücksicht auf die Uns . . . zustehende Souveränetät, nach der von Uns unserem treuen Volke erteilten Verfassung und nach den Gesetzen unseres Königreichs“414. Dieser Vorbehalt bewirkte, dass der Geltungsbereich der Karlbader Beschlüsse erheblich eingeschränkt wurde: Die Befreiung von der Vorzensur für unpolitische Schriften, die durch die Bayerische Landesverfassung und das Presseedikt vom 26. Mai 1818 zugesichert worden war, blieb erhalten. Auch in Württemberg stellte sich die Frage, welcher Geltungsbereich der landesverfassungsrechtlichen Pressefreiheit überhaupt noch blieb. König Wilhelm hatte die Karlsbader Beschlüsse zwar verkündet, berief sich aber ohne großen Erfolg darauf, dass in Württemberg die Verfassung mit den Ständen vereinbart worden war. Deshalb könne er die Karlsbader Beschlüsse allein gar nicht umsetzen, da er ohne Zustimmung der Stände gegen die vereinbarte Verfassung verstoßen würde.415 Dieses Argument war allerdings nur schwer mit § 3 der gleichen Verfassung vereinbar: Danach sollten „alle organischen Beschlüsse der Bundesversammlung . . .“ – also auch die Karlsbader Beschlüsse – „nachdem sie von dem Könige verkündet sind, auch für Württemberg verbindende Kraft“ haben. Freiheitsbeschränkende Bundesbeschlüsse bedurften daher anders als die Landesgesetze keiner Zustimmung der Stände. Juristisch überzeugender ist der Ansatz Robert von Mohls. Er betonte, dass es der Sinn der bundesrechtlichen Zensur sei, Angriffe auf die Sicherheit des Bundes zu verhindern. Sobald sich daher Presseerzeugnisse nicht im Entferntesten auf den Bund bezogen, sollten nicht die Karlsbader Beschlüsse, sondern das liberale Landesrecht einschlägig sein.416 Damit lieferte Mohl die theoretische Grundlage für die im Vormärz gängige Zensurpraxis liberaler Landesregierungen, die zwischen streng zu zensierenden außenpolitischen und großzügig zu regelnden innenpolitischen Themen unterschied.417 Daneben gab es die Auffassung, die der landesverfassungsrechtlichen Pressefreiheit generell den Vorrang gegenüber den Karlsbader Beschlüssen einräumte. 412 Vgl. das Schreiben des bayerischen Finanzministers Lerchenfeld an den württembergischen Bundestagsgesandten Wangenheim vom 21. Oktober 1819, abgedruckt bei E. Dross (Hrsg.), Quellen zur Ära Metternich, S. 84 ff. 413 Vgl. oben 7. Kapitel, III. 1. 414 Zitiert nach E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 738. 415 Vgl. G. Stegmaier, Von der Preßfreiheit zur Pressefreiheit, S. 129 (143). 416 Staatsrecht, S. 362. 417 Vgl. dazu unten 8. Kapitel, V. 4. a) aa).

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Die Argumentation ähnelte der des Württembergischen Königs: Zur Aufhebung der Pressefreiheit bedürfe es einer Verfassungsänderung, die auf verfassungsmäßigem Wege erfolgen müsse und allein durch ein Bundesgesetz nicht bewirkt werden könne.418 Allerdings war diese Begründung eher vom politischen Wunsch nach Pressefreiheit als von juristischer Überzeugungskraft gekennzeichnet. Denn mit Ausnahme Bayerns garantierten die Verfassungen die Pressefreiheit nur vorbehaltlich künftiger Gesetze419, zu denen auch die im eigenen Land verkündeten Karlsbader Beschlüsse gehörten. Einer Verfassungsänderung hätte es daher zur Umsetzung eben dieser gar nicht bedurft. Die bundesrechtlichen Zensurmaßnahmen widersprachen nur der bisherigen einfachgesetzlichen Ausgestaltung der Pressefreiheit, nicht aber der landesverfassungsrechtlichen Garantie, die nur unter Vorbehalt erfolgte. Außerdem war an hervorgehobener Stelle zu Beginn der Landesverfassungen ausdrücklich geregelt, dass die im Land verkündeten Bundesbeschlüsse verbindlich sein sollten.420 Einen Verstoß gegen Landesverfassungsrecht hätte es daher bedeutet, wenn man die Umsetzung der Karlsbader Beschlüsse verweigert hätte. Der Grundsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht“ ergab sich damit nicht nur aus den bundesrechtlichen Verpflichtungen, sondern auch aus den eigenen Landesverfassungen. Folglich waren die Länder zur Umsetzung der Karlsbader Beschlüsse verpflichtet. bb) Inhalt der Karlsbader Beschlüsse Inhaltlich sahen die Karlsbader Beschlüsse restriktive Zensurmaßnahmen vor: (1) Vorzensur Gemäß § 1 des Bundes-Preßgesetzes wurde für alle täglich erscheinenden Schriften sowie für solche Schriften, die nicht länger als zwanzig Bögen waren, d. h. einen Umfang von 320 Seiten nicht überschritten, die Vorzensur verordnet. Einer Nachzensur im gerichtlichen Repressivsystem wurde damit eine eindeutige Absage erteilt. Gemäß § 3 konnten landesrechtliche gerichtliche Repressivmaßnahmen lediglich dann erfolgen, wenn sie neben der bundesrechtlichen Vorzensur anwendbar waren. Eine gerichtliche Verurteilung aufgrund einer Schrift, die schon vor ihrem Erscheinen zensiert worden war, bedeutete aber lediglich einen zusätz418

J. L. Klüber, Oeffentliches Recht des Teutschen Bundes, § 594, S. 743, 746. Vgl. § 28 VU Württemberg; Art. 35 VU Hessen und § 17 VU Baden, der sogar ausdrücklich auf die künftigen Bestimmungen der Bundesversammlung Bezug nimmt. 420 § 2 VU Baden; § 3 VU Württemberg; Art. 2 VU Hessen; vgl. auch R. von Mohl, Staatsrecht, S. 365 f. 419

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lichen Nachteil. Der landesrechtlichen Nachzensur allein waren nur Schriften mit einem Umfang von mehr als 320 Seiten unterworfen. Bei diesen wäre eine Vorzensur aber ohnehin kaum zu bewältigen gewesen. Tagespolitische oder aktuelle Themen konnten so umfangreiche Bücher nicht aufgreifen und ein breites Publikum war schon wegen der hohen Herstellungskosten nicht erreichbar.421 (2) Sicherstellung der Umsetzung durch die Länder Gemäß § 2 des Bundes-Preßgesetzes blieb die Durchführung der neuen Zensurvorschriften grundsätzlich den Landesregierungen überlassen. Dabei wurde auf eine tatsächliche landesrechtliche Umsetzung gedrängt: In den §§ 4 und 5 wurde die „feierliche Verpflichtung“ eines jeden Bundesstaates sowie seine Verantwortung gegenüber der „Gesamtheit des Bundes“ besonders hervorgehoben. Darüber hinaus sah § 6 ein Beschwerderecht für Bundesstaaten vor, die sich durch die Zensurpraxis eines anderen Staates verletzt fühlten. Diese Gefahr bestand vor allem bei einer zu großzügigen Zensur, da eine Schrift, die in einem Bundesstaat frei veröffentlicht werden konnte, auch in allen anderen in Umlauf geriet.422 Außerdem gab § 6 der Bundesversammlung die Möglichkeit, selbst gegen Schriften vorzugehen, welche die Würde und Sicherheit der Bundesstaaten sowie die „Erhaltung des Friedens und der Ruhe“ unmittelbar bedrohten – eine allgemein gehaltene Formulierung, die bundesrechtliche Zensurmaßnahmen bei fast allen bundespolitischen Themen rechtfertigen konnte.423 Gegen die Redakteure der vom Bund zensierten Schriften sollte gemäß § 7 ein fünfjähriges Berufsverbot verhängt werden. Damit drohte neben der Zensur der Verlust der wirtschaftlichen Existenzgrundlage. § 8 bestimmte, dass die Länder der Bundesversammlung innerhalb von zwei Monaten nach Verabschiedung der Karlsbader Beschlüsse von ihren Maßnahmen zur Umsetzung eben dieser berichten müssten. Dadurch wurde ein faktischer Druck auf die Landesregierungen ausgeübt, der sie daran hinderte, die Einführung der neuen Zensurmaßnahmen auf die lange Bank zu schieben. Anders als bei der Umsetzung der versprochenen Pressefreiheit kam es dem Bund damit bei der Zensur sehr wohl auf ein rasches Vorgehen an. Nach Metternich war es durchaus legitim, diejenigen Staaten, die bis dahin zur Nachzensur übergegangen waren, zur sofortigen Rückkehr zum präventiven Polizeisystem zu bewegen. Bezogen auf ganz Deutschland sei dieser Schritt für die Erhaltung der inneren Sicherheit und der bestehenden Ordnung erforderlich. 421 Vgl. K. W. Fürst von Metternich, Grundlinien eines Beschlusses zu Verhütung des Mißbrauchs der Presse in den deutschen Bundesstaaten, Beilagen zu den Carlsbader Protokollen, abgedruckt in J. L. Klüber (Hrsg.), Wichtige Urkunden, S. 189 (198); A. Schielinsky, Zensur im Vormärz, S. 58. 422 Vgl. K. W. Fürst von Metternich, ebd., S. 189 (194). 423 So auch E. Blumenauer, Journalismus zwischen Pressefreiheit und Zensur, S. 22.

V. Die Pressefreiheit

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Eine Minderheit könne daher durch die Verweigerung gemeinsamer Maßregeln nicht den ganzen Bund ins Verderben stürzen.424 Hinter dieser Argumentation lag die Absicht, die konstitutionellen Staaten insgesamt dem politischen Willen der Reaktion zu unterwerfen. Die konstitutionellen Staaten wurden deshalb in der Folgezeit scharf kontrolliert und mussten auswärtige Beschwerden sowie Zensurmaßnahmen erdulden – ein Versuch der Reaktion, den gefürchteten Parlamentarismus aufzuhalten.425 (3) Keine Erfüllung des Versprechens aus Art. 18d DBA Metternich versuchte zudem, die neue Zensurregelung als Einführung eines „gleichförmigen“ Systems im Sinne des Art. 18d DBA darzustellen. Unter Pressefreiheit wurde nach dem damaligen Sprachgebrauch aber die Abwesenheit der Vorzensur verstanden, die der Deutsche Bund jedoch gerade eingeführt hatte. Deshalb wurde schon bei der Entstehung der Karlsbader Beschlüsse kritisiert, dass diese gerade das Gegenteil des Versprochenen bewirkten, indem die Zensur an die Stelle der Pressefreiheit gesetzt worden sei.426 Daraufhin sollte das Bundes-Preßgesetz zunächst nur vorübergehend sein und am 24. September 1824 außer Kraft treten. Die Hoffnung auf Pressefreiheit blieb weiterhin bestehen. c) Konflikte zwischen Bundeszensur und Landesverfassung Die Handhabung der Presseüberwachung durch den Bund wurde einer fünfköpfigen Zensurkommission überlassen, die sich zunächst erstaunlich zurückhaltend verhielt.427 Allerdings stand die in den Karlsbader Beschlüssen verkörperte reaktionäre Haltung in einem Widerspruch zur bürgerlichen Öffentlichkeit, die in einem gewissen Maße auch von den frühkonstitutionellen Verfassungen vorausgesetzt wurde. Konflikte waren somit unausweichlich. aa) Die Unterdrückung des „Teutschen Beobachters“ Von ihrer Möglichkeit, gemäß §§ 6, 7 Bundes-Preßgesetz eine Zeitung ohne Mitwirkung der jeweiligen Landesregierung zu verbieten, machte die Bundes424 Vgl. K. W. Fürst von Metternich, Grundlinien eines Beschlusses zu Verhütung des Mißbrauchs der Presse in den deutschen Bundesstaaten, Beilagen zu den Carlsbader Protokollen, abgedruckt in J. L. Klüber (Hrsg.), Wichtige Urkunden, S. 189 (190). 425 Vgl. oben 7. Kapitel, III. 3. c). 426 J. A. Collmann (Hrsg.), Quellen, Materialien und Commentar des gemeinen deutschen Pressrechts, S. 502; F. Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, S. 252 f.; U. Eisenhardt, in: FS Kroeschell, S. 75 (81). 427 F. Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, S. 254.

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

versammlung im Falle des „Teutschen Beobachters“ Gebrauch. Hierbei handelte es sich um ein Blatt der liberalen Opposition aus Württemberg. Auch wenn sich seine Redakteure oft mit ausländischen Themen beschäftigten, ließen sie stets ihre innenpolitische Auffassung durchblicken und argumentierten zudem polemisch gegen die Zensur.428 Selbst in Württemberg war diese Zeitung schon der Zensur zum Opfer gefallen. Zwar hielt König Wilhelm im Grundsatz am liberalen Pressegesetz und der Pressefreiheit aus § 28 der Verfassung fest, er achtete aber darauf, zumindest in dem Maße eine Zensur zu institutionalisieren, dass den übrigen Bundesstaaten kein Anlass zur Beschwerde gegeben wurde.429 Als die Bundesversammlung im Mai 1823 den Teutschen Beobachter verbot, hatte das mehrere Hintergründe. Zum einen galt es, auf die unbedingte Notwendigkeit des Bundes-Preßgesetzes hinzuweisen, um so dessen Verlängerung über das Jahr 1824 hinaus durchsetzen zu können. Deshalb wurde in der Bundesversammlung bei den Beratungen über das Verbot des Teutschen Beobachters ganz nebenbei darauf hingewiesen, dass das „Hauptmotiv des Beschlusses vom 20. Sept. 1819“ auch dann noch bestehe, „wenn die Zeit abgelaufen ist, für welche er gefasst wurde“430. Außerdem stand hinter dem Verbot die Absicht, das liberale Württemberg, dessen Haltung von der reaktionären Auffassung Preußens und Österreichs abwich, in seine Schranken zu weisen. Mahnend wies die Bundesversammlung darauf hin, dass in allen Bundesstaaten zur Vermeidung einer Revolution eine reaktionäre Gesinnung erforderlich sei. Das System des Bundes „kann kein anderes sein als das der Mächte, und wenn demnach einzelne Bundesglieder sich mit dem System der Letzteren (gemeint sind Preußen, Österreich und Russland) in Opposition setzen könnten, würden sie sich eben dadurch einer Abweichung von den Grundgesetzen des Bundes schuldig machen.“431 Vor allem aber ging es darum, am Beispiel des Teutschen Beobachters ein Exempel zu statuieren. Der Anlass, der zur Untersuchung durch die Bundespressekommission führte, war ein vergleichsweise harmloser Artikel über die Zentral-Untersuchungskommission. Diese soll sich nur aufgrund eines Hinweises durch den Wiener Hof an die Bundesversammlung gewandt haben432, woran man schon das Inszenierte des Konfliktes erkennen kann. Da der fragliche Artikel aber nicht genügend Stoff für ein überzeugendes Verbot enthielt,

428 Vgl. die Prüfung des Teutschen Beobachters, Protocolle der Bundesversammlung von 1823, Beilage 6, abgedruckt bei J. A. Collmann (Hrsg.), Quellen, Materialen und Commantar des gemeinen deutschen Pressrechts, S. 582 ff. 429 Vgl. H. Fenske, Der liberale Südwesten, S. 58. 430 Abgedruckt bei J. A. Collmann (Hrsg.), Quellen, Materialien und Commentar des gemeinen deutschen Pressrechts, S. 538 ff. 431 Ebd., S. 555. 432 Vgl. W. Sielmann, in: Schwartländer/Willoweit, Meinungsfreiheit, S. 173 (176).

V. Die Pressefreiheit

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wurde eine genaue Untersuchung aller bislang erschienenen Ausgaben des Teutschen Beobachters veranlasst.433 In der Bundesversammlung wurde immer wieder betont, dass ein abschreckendes Beispiel auch für alle anderen Zeitschriften erforderlich sei: „Die hohe Bundesversammlung ist es ihrer eigenen Würde und der Würde ihrer Regierungen schuldig ein warnendes Beispiel zu geben, daß der Bundestags-Beschluss vom 20. Sept. 1819 kein toter Buchstabe, sondern ein Gesetz sei, welches in vorkommenden Fällen den frevelhaften Uebertreter desselben zu bestrafen wisse.“434 Das Ergebnis war ein klares Verbot des Teutschen Beobachters, das von der Bundesversammlung verhängt wurde. Verschiedene Vorschläge, Württemberg solle erst die Möglichkeit haben, eigenständige Zensurmaßnahmen zu treffen435, wurden abgelehnt. Für Württemberg verdeutlichte das Verbot des Teutschen Beobachters schmerzlich, dass mit Unterzeichnung der Deutschen Bundesakte und der Karlsbader Beschlüsse eben doch Teile der eigenen Souveränität auf den Bund übergegangen waren. In Fragen der Pressefreiheit waren die Bundesglieder fremdbestimmt und mussten sich der reaktionären Haltung der Großmächte fügen. bb) Das Badische Pressegesetz „Der stärkste Schlag“ des reaktionären Bundes gegen die Pressefreiheit wurde von den liberalen Befürwortern in der erzwungenen Aufhebung des Badischen Pressgesetzes gesehen.436 Nach der französischen Julirevolution hatte in Baden eine liberale Wende stattgefunden, die durch den vorherigen Thronwechsel begünstigt wurde. Der neue Großherzog Leopold veranlasste Neuwahlen, nach denen die zweite Kammer fast ausschließlich mit liberalen Abgeordneten besetzt war. Zentrales Anliegen der erstarkten Liberalen war die Pressefreiheit. Schon im November 1830 hatte Welcker in einer Petition an die Bundesversammlung an das Versprechen der Pressefreiheit in Art. 18d DBA erinnert und eine völlige Aufhebung der Vorzensur gefordert.437 Als Mitglied der zweiten Kammer stand er nun vor dem Problem, kein Initiativrecht für ein neues Pressegesetz zu haben. Eine Petition Welckers an die badische Regierung, einen Gesetzesentwurf vorzulegen, blieb zunächst ohne Erfolg. Schließlich instrumenta433

Vgl. F. Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, S. 255. Abgedruckt bei J. A. Collmann (Hrsg.), Quellen, Materialien und Commentar des gemeinen deutschen Pressrechts, S. 564. 435 So der Vorschlag der hessischen und sächsischen Gesandten, ebd., S. 572 f. bzw. S. 575 f. 436 So R. Biedermann, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, 3. Auflage 1864, Bd. XI (Presse), S. 708 (730). 437 K. T. Welcker, Die vollkommene und ganze Preßfreiheit nach ihrer sittlichen, rechtlichen und politischen Nothwendigkeit, und ihrer Uebereinstimmung mit deutschem Fürstenwort und nach ihrer völligen Zeitgemäßheit, abgedruckt bei Fischer/ Schöttle, Kampf um publizistische Libertät, S. 3 ff. 434

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

lisierte die zweite Kammer ihr Budgetrecht: Mit der Drohung, ansonsten den Landeshaushalt nicht zu bewilligen, konnte sie die Regierung zum Entwurf eines liberalen Pressegesetz veranlassen.438 Daraufhin wurde am 28. Dezember 1831 ein Gesetz verabschiedet, das in § 1 die Zensur für alle im Großherzogtum herauskommenden oder verbreiteten Druckschriften aufhob. Lediglich § 12 bestimmte, dass die Vorzensur für „Zeitungen und Zeitschriften, soweit sie die Verfassung oder Verwaltung des deutschen Bundes, oder einzelner deutscher Bundesstaaten, außer Baden, zum Gegenstand haben“ weiterhin der Vorzensur unterlagen und „nur mit Vorwissen und auf vorgängige Genehmigung der Staatsbehörde . . . zum Drucke befördert werden“ durften.439 Trotz dieser Einschränkung handelte es sich um das liberalste Pressegesetz, das es im Vormärz gegeben hat. Das Pressegesetz, das mit den Karlsbader Beschlüssen unvereinbar war, trat am 1. März 1832 in Kraft. Obwohl zumindest die Bundespressekommission den Verstoß gegen das Bundesrecht kennen musste, unternahm die Bundesversammlung zunächst nichts. Es erfolgten lediglich informelle „Anmuthungen von Frankfurt an unsere (gemeint ist die badische) Regierung, dieses Gesetz zu unterdrücken“440. Erst nachdem eine Reihe neuer Zeitschriften den gerade entstandenen Freiraum rücksichtslos ausreizte, sah sich die Bundesversammlung zum Handeln veranlasst.441 Außerdem hatte das Hambacher Fest im Mai 1832 die drohenden Gefahren des politischen Radikalismus offenbart, so dass reaktionäre Maßnahmen leichter zu rechtfertigen waren. Am 5. Juli beschloss die Bundesversammlung bei Enthaltung des badischen Gesandten, dass der Badische Großherzog das Pressegesetz zu suspendieren und stattdessen auf einen Vollzug der Karlsbader Beschlüsse hinzuwirken habe. Hierbei handelte es sich nicht um eine unverbindliche Aufforderung, sondern es wurde ausdrücklich betont, dass es eine Bundespflicht sei, die innerhalb von 14 Tagen erfüllt werden müsse.442 Der Badische Großherzog musste sich nun einerseits der Bundesversammlung beugen, da diese ihn ansonsten im Wege der Bundexekution zur Erfüllung seiner Bundespflichten hätte zwingen können – eine Möglichkeit, die Metternich durchaus ins Auge gefasst hatte.443 Andrerseits ließ es die Badische Landesver438

W. Sielmann, in: Schwartländer/Willoweit, Meinungsfreiheit, S. 173 (179). Ein Abdruck des Gesetzes befindet sich bei E. Dross (Hrsg.), Quellen zur Ära Metternich, S. 165 ff.; Fischer/Schöttle, Kampf um publizistische Libertät, S. 510 ff. 440 So der Abgeordnete Schaaf in der 2. Kammer nach Zurücknahme des Pressegesetzes, Abdruck des Protokolls bei J. A. Collmann (Hrsg.), Quellen, Materialien und Commentar des gemeinen deutschen Pressrechts, S. 689. 441 G. Stegmaier, in: Von der Preßfreiheit zur Pressefreiheit, S. 129 (147 f.); U. Eisenhardt, in: GS Conrad, S. 103 (114 f.). 442 Abgedruckt bei J. A. Collmann (Hrsg.), Quellen, Materialien und Commentar des gemeinen deutschen Pressrechts, S. 678 f. 443 U. Eisenhardt, in: GS Conrad, S. 103 (117). 439

V. Die Pressefreiheit

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fassung aufgrund der Freiheits- und Eigentumsklausel aus § 65 eigentlich nicht zu, dass er das Pressegesetz ohne Zustimmung der Ständeversammlung aufhob – insbesondere von der zweiten Kammer konnte er aber keine Zustimmung erwarten. Bei völliger Ausreizung der ihm gesetzten Frist nahm er am 28. Juli das Badische Pressgesetz durch eine einfache Verordnung zurück. Er bestimmte, „daß vermöge § 17 der Verfassungs-Urkunde die Pressfreiheit nach den Bestimmungen der Bundesversammlung gehandhabt werden soll.“444 Um seine Bundespflichten zu erfüllen, musste der Großherzog also die Landesverfassung brechen. Die Beschränkungen der Pressefreiheit, die durch die Karlsbader Beschlüsse bewirkt wurden, fanden dadurch in Baden unabhängig vom Landesrecht eine unmittelbare Geltung. Die Landesverfassungen waren damit nicht in der Lage, die bundesrechtlichen Beschränkungen der Pressefreiheit abzuwehren. Die landesverfassungsrechtlich verbürgte Pressefreiheit verlor damit jeglichen eigenständigen Garantiegehalt und war dem Bund schutzlos ausgeliefert. Damit hatte in Baden die kurze Phase, in der ein liberales Zeitungswesen wachsen und gedeihen konnte, ein rasches Ende gefunden. Die neuen liberalen Blätter wurden verboten und vorübergehend wurde sogar die Freiburger Universität geschlossen. Dort waren die liberalen Professoren Rotteck und Welcker tätig, die in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurden.445 Die Forderung nach Pressefreiheit sollte in Baden aber künftig eine andere Gestalt annehmen: Sie war konkretisiert in einem bereits ausformulierten Gesetz, das bei Missachtung der eigenen Verfassung suspendiert worden war. Dieser Verfassungsbruch bot immer wieder Anlass, die Wiederbelebung des liberalen Pressegesetzes zu fordern.446 d) Schwäche der Landesverfassungen Die verschiedenen Konflikte um die Pressefreiheit offenbarten die Schwäche der Landesverfassungen, deren Schutzmechanismen die verbürgte Pressefreiheit nicht vor Angriffen des Bundes abschirmen konnten. Zwar setzten sich die liberaleren Ständeversammlungen unermüdlich für die Pressefreiheit ein447, ihre Erfolge waren aber nur vorübergehend. Der Kampf für die Pressefreiheit war daher nicht nur von gesellschaftlichen Gruppierungen getragen, sondern auch von einer ständischen Opposition, die den Anspruch auf Teilhabe an der staatlichen Gewalt erhob. Vor allem gegenüber der Reaktion des Deutschen Bundes war 444 Abgedruckt bei J. A. Collmann (Hrsg.), Quellen, Materialien und Commentar des gemeinen deutschen Pressrechts, S. 680. 445 Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 163 f.; H.-D. Fischer/R. Schöttle, Kampf um publizistische Libertät, Einleitung, S. XIII. 446 N. Deuchert, Vom Hambacher Fest zur badischen Revolution, S. 42. 447 Vgl. nur N. Deuchert, Vom Hambacher Fest zur badischen Revolution, S. 78 ff.; R. von Mohl, Staatsrecht, S. 365.

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

diese Opposition jedoch vollkommen machtlos und konnte die Pressefreiheit nicht wirksam schützen: Zwar hätte die Freiheits- und Eigentumsklausel bei jedem Gesetz, dass die Pressefreiheit beeinträchtigte, die Zustimmung der Ständevertretung erfordert. Die bundesrechtliche Pflicht zum Vollzug der Karlsbader Beschlüsse bestand jedoch unabhängig davon, ob die Stände zugestimmt hatten. Außerdem wurde die als Schutzmechanismus konzipierte Mitwirkungsbefugnis der Stände umgangen, indem Einschränkungen der Pressefreiheit auf dem Verordnungswege vorgenommen wurden.448 Die Aufhebung des Badischen Pressegesetzes ist nur ein Beispiel dafür. Ihre Mitspracherechte im Finanzwesen konnten die Stände in Baden zwar in einem Einzelfall zugunsten des Freiheitsschutzes instrumentalisieren und ein liberales Pressegesetz auf den Weg bringen, sie waren aber nicht in der Lage, dieses in seinem Bestand abzusichern. Auch die Ministerverantwortlichkeit konnte die Pressefreiheit nicht wirksam schützen. Denn obwohl seine Handlungen gegenzeichnungspflichtig waren449, unterzeichnete der Bayerische König Ludwig I. die in den Sechs Artikeln von 1832 vom Bund beschlossenen Restriktionen gegen den Willen seiner Minister.450 Unter Berufung auf das monarchische Prinzip wurde die konstitutionelle Bindung faktisch missachtet. Der verfassungsrechtliche Schutz, welcher der Pressefreiheit zukam, war somit nicht ausreichend. Der schwache Freiheitsschutz der frühkonstitutionellen Verfassungen wurde daher anhand der Pressefreiheit mit besonderer Deutlichkeit offenbart. 4. Zukunftsweisende Funktion Bei der Pressefreiheit prallten Reaktion und Liberalismus aufeinander wie bei keinem anderen Grundrecht. Aus den vorherigen Ausführungen ergibt sich, dass die reaktionären Bemühungen des Bundes die liberalen Strömungen zunächst erfolgreich unterdrückten. Unterdrückt werden kann aber nur, was weiterhin existiert. Je stärker die Repressionen der Presse wurden, desto größer wurde der Wunsch nach dem Ende der Zensur. Letztlich war das Streben nach Pressefreiheit so tief in der Bevölkerung verwurzelt, dass eine lückenlose Unterdrückung nicht mehr möglich war.

448 Das kritisiert R. von Mohl, Staatsrecht, S. 366; vgl. auch E. Blumenauer, Journalismus zwischen Pressefreiheit und Zensur, S. 57, 60. 449 Vgl. oben 7. Kapitel, V. 2. c). 450 Vgl. E. Blumenauer, Journalismus zwischen Pressefreiheit und Zensur, S. 56.

V. Die Pressefreiheit

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a) Schaffung und Ausnutzung von Freiräumen für die Presse Trotz aller Restriktionen konnten immer wieder kleine Freiräume gefunden werden, in denen sich die Presse zumindest bedingt entfalten konnte. aa) Großzügige Zensurpraxis in den Ländern Die Zensurpraxis der einzelnen Länder war weniger scharf, als es sich der reaktionäre Flügel des Deutschen Bundes gewünscht hätte. Dies galt insbesondere für die konstitutionellen Staaten Süddeutschlands, die die bundesrechtlichen Vorgaben zur Zensur als Angriff auf ihre eigene Souveränität empfanden. Sie waren daher darum bemüht, die Zensur nur in einem solchen Umfang einzuführen, dass dem Bund kein Anlass zur Beschwerde gegeben wurde; im Übrigen aber wollten sie der Presse die größtmöglichen Freiräume gewähren. Das Ergebnis war, dass in vielen Staaten eine strenge Zensur nur für außenpolitische Themen bestand, während über Innenpolitisches relativ frei diskutiert werden durfte.451 Allerdings unterlag die Zensur in den einzelnen Bundesstaaten Schwankungen, die von der Person des Landesfürsten abhingen und oft durch einen Thronwechsel bedingt wurden. Bereits im Jahre 1817 kam es in Württemberg mit dem neuen König Wilhelm I. zu einem liberalen Pressegesetz.452 Die Liberalisierung der Zensur in Baden war nicht zuletzt auf die Thronbesteigung des Großherzogs Leopold zurückzuführen.453 In Bayern hatte sich Ludwig I. bereits als Kronprinz für die Pressefreiheit eingesetzt454 und lockerte zunächst die Zensur, als er 1825 zum König wurde. Schon bald kam es jedoch zu einem Kurswechsel seiner Politik und er wurde zum Befürworter eines Zensursystems nach den Vorstellungen Metternichs.455 In Preußen, neben Österreich die zweite Hochburg der Reaktion, kam es erst nach dem Thronwechsel von 1840 mit Friedrich Wilhelm IV. zu einer entschärften Kontrolle der Presseerzeugnisse.456 Somit war es also nicht allein die verfassungsrechtlich verbürgte Pressefreiheit, die vor einer scharfen Zensurausübung schützte. Stattdessen war die Presse 451 W. Sielmann, in: Schwartländer/Willoweit, Meinungsfreiheit, S. 173 (182); F. Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, S. 271; besonders für Bayern D. Grimm, in: Schwartländer/Willoweit, Meinungsfreiheit, S. 145 (159); für Württemberg A. Schielinsky, Zensur im Vormärz, S. 59; für Sachsen D. Westerkamp, Pressefreiheit und Zensur im Sachsen des Vormärz, S. 47 f.; für Baden N. Deuchert, Vom Hambacher Fest zur badischen Revolution, S. 71 ff. 452 Vgl. G. Stegmaier, in: Von der Preßfreiheit zur Pressefreiheit, S. 129 (142). 453 Vgl. oben 8. Kapitel, V. 3. c) bb). 454 Vgl. W. von Rimscha, Grundrechte im süddeutschen Konstitutionalismus, S. 34. 455 Vgl. E. Blumenauer, Journalismus zwischen Pressefreiheit und Zensur, S. 53 ff. 456 Vgl. E. Blumenauer, ebd., S. 33 f.

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

in besonderem Maß von der Person des Monarchen abhängig. Freiräume für die Presse konnten deshalb – genau wie die oktroyierten Verfassungen – nur entstehen, wenn sie für die Regierungsinteressen nützlich waren. Anders als im Absolutismus war sich der Monarch aber bewusst, dass er den alleinigen Anspruch auf Wahrheit nicht mehr erheben konnte, denn mittlerweile hatte sich die öffentliche Meinung in der Gesellschaft etabliert. Nun konnte er versuchen, aus Revolutionsfurcht nach Anleitung der Reaktion die öffentliche Meinung zu unterdrücken. Er konnte sich ihr aber auch stellen, soweit das Bundesrecht es zuließ. Da liberale Landesfürsten insbesondere der konstitutionellen Staaten sich für letztere Möglichkeit entschieden, konnte die Presse zumindest im innenpolitischen Bereich weiterhin gedeihen. Dabei war es nicht die Gunst des Monarchen allein, die solche Freiräume für die Presse schuf. Zum liberalen Umgang mit der Presse wurde er durch die Erkenntnis veranlasst, dass eine andere Entscheidung vor dem Hintergrund, dass die öffentliche Meinung in der Gesellschaft an Kraft und Macht gewann, nicht mehr zeitgemäß gewesen wäre. So konnte trotz aller Zensur eine politische Presse entstehen, die zwar Schwankungen unterlag und auf bestimmte, überwiegend innenpolitische Themen beschränkt war. Dennoch war sie geeignet, das politische Räsonnement des Volkes anzuregen und sich für eine Ausdehnung der Pressefreiheit einzusetzen.457 Waren die Gedanken des Bürgers aber erst einmal angeregt, konnte in diesen keine strikte Begrenzung auf un- oder innenpolitische Themen mehr sichergestellt werden. bb) Lücken im Zensursystem Vor allem nach der Wiener Ministerialkonferenz von 1834 sollte die Zensur im Deutschen Bund besonders strikt ausgeübt werden. Aus Revolutionsfurcht unterzeichneten selbst konstitutionelle Staaten in den Wiener Beschlüssen458, was wie ein Bekenntnis der Reaktion anmutete. Gemäß Art. 29 waren sie „von den Nachtheilen einer übermäßigen Anzahl politischer Tageblätter überzeugt“, weshalb sie auf eine Reduzierung der Tageszeitungen hinzuwirken beschlossen. Eine lückenlose Unterdrückung der politischen Presse war jedoch nicht möglich. Die Zensoren, die ihr Amt nebenberuflich ausübten, waren nämlich maßlos überfordert und erkannten die politische Brisanz des Geschriebenen nicht auf den ersten Blick. Sie waren nicht in der Lage, versteckte Anspielungen sofort zu entdecken. Mit den Zensurgebühren wurden sie außerdem relativ schlecht bezahlt und zogen zudem den Hass der Bevölkerung auf sich. Deshalb 457 Vgl. die Nachweise bei N. Deuchert, Vom Hambacher Fest zur badischen Revolution, S. 42 ff.; E. Blumenauer, Journalismus zwischen Pressefreiheit und Zensur, S. 16. 458 Abgedruckt bei E. Dross (Hrsg.), Quellen zur Ära Metternich, S. 221 ff.; E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 136 ff.

V. Die Pressefreiheit

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hatten die Staaten Schwierigkeiten, überhaupt eine ausreichende Zahl für das unbeliebte Amt des Zensors zu gewinnen. Schlechte Zensoren konnten nicht ausgetauscht werden und das Drohmittel der Entlassung wurde unwirksam.459 Da half es auch wenig, dass gemäß Art. 28 Nr. 1 der Wiener Beschlüsse nur noch „Männern von erprobter Gesinnung und Fähigkeit“ die Zensur übertragen werden sollte. Es bestand somit keine Gewähr, dass die Zensur fehlerfrei und lückenlos ausgeübt wurde. Außerdem machten die modernen Verfahren der Vervielfältigung eine rechtzeitige Kontrolle der Presseerzeugnisse immer schwieriger.460 Anonyme Flugschriften zum aktuellen Tagesgeschehen konnten unter Verstoß gegen die Zensurvorschriften in kürzester Zeit und in hoher Auflage hergestellt werden – eine Möglichkeit, von der insbesondere unmittelbar vor der Revolution von 1848 reger Gebrauch gemacht wurde.461 Das umständliche und zeitkostende Verfahren der Zensur war demgegenüber nicht mehr zeitgemäß. Außerdem war es möglich, durch einen doppelten Bücherboden oder einen falschen Umschlag verbotene Bücher zu schmuggeln und sie auf diesem Wege für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen.462 Die Missachtung der vorgeschriebenen Zensur konnte also nicht verhindert werden. Ein weiteres Problem waren die Zensurlücken, die nach dem Streichen eines beanstandeten Textes blieben. Zunächst zeigten sie das Ausmaß der Zensur und machten dem Leser die Unterdrückung schmerzlich bewusst, wodurch die Forderung nach Pressefreiheit wiederum geschürt wurde. Außerdem konnte aufgrund des Zusammenhangs der Inhalt des Gestrichenen oftmals erahnt werden, so dass die Zensur ihren Zweck verfehlte.463 Deshalb wurde auf der Wiener Ministerialkonferenz im Jahre 1834 mit Art. 28 Nr. 3 eine allgemein verbindliche Beseitigung der Zensurlücken beschlossen. Die Zensur wurde dadurch undurchsichtiger und unkontrollierbar. Dennoch konnte mit der Zensur, so restriktiv sie auch gehandhabt wurde, nicht jede politische Stellungnahme der Presse unterdrückt werden. cc) Umgehung der Zensur Zudem blieb immer noch die Möglichkeit, die Zensur zu umgehen, indem die Form des politisch wertenden Druckerzeugnisses gemieden wurde. Wichtig 459 Vgl. N. Deuchert, Vom Hambacher Fest zur badischen Revolution, S. 82 ff.; vgl. auch D. Westerkamp, Pressefreiheit und Zensur im Sachsen des Vormärz, S. 92 ff. 460 Vgl. W. Sielmann, in: Schwartländer/Willoweit, Meinungsfreiheit, S. 173 (182). 461 Vgl. nur die Bildnachweise bei N. Deuchert, Vom Hambacher Fest zur badischen Revolution, Nr. 2–5, Nr. 17–24. 462 Vgl. D. Westerkamp, Pressefreiheit und Zensur im Sachsen des Vormärz, S. 89. 463 F. Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, S. 298 f.; E. Blumenauer, Journalismus zwischen Pressefreiheit und Zensur, S. 25.

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

waren hier vor allem die Protokolle der Ständeversammlungen, die nicht der Zensur unterlagen und daher als Medium eifrig genutzt werden konnten.464 Was also nach außen als rein objektive Schilderung wirkte, konnte inhaltlich bedeutende politische Stellungnahmen in sich bergen. Allerdings wurde diese Form der öffentlichen politischen Kommunikation durch die Sechs Artikel von 1832465 erschwert: Gemäß Art. 5 sollte das landesverfassungsrechtlich verbürgte Recht zur freien Äußerung in den landständischen Verhandlungen dann eingeschränkt werden, wenn die Öffentlichkeit zugegen war und Unruhen entstehen konnten. Überwacht wurde die Umsetzung dieses Beschlusses durch eine Bundeskommission, die gemäß Art. 4 künftig von den Ständeversammlungen „fortdauernd Kenntniß zu nehmen“ hatte. Mit den Wiener Beschlüssen von 1834 wurden dann durch Art. 33 selbst die Protokolle der Ständeversammlungen einer Zensur unterworfen. Die Oppositionsblätter gingen trotzdem dazu über, die Landtagsprotokolle ohne vorherige Zensur abzudrucken. Die darauf ausgesetzte Strafe wurde selten verhängt und in Baden war 1842 der unzensierte Abdruck der Landtagsprotokolle zum Gewohnheitsrecht geworden.466 Auch die Staatsrechtlehre betonte, dass die Öffentlichkeit der Kammersitzungen „durch den offiziell zu veranstaltenden Druck der Protokolle“ erforderlich sei.467 Schließlich enthielt die konstitutionelle Monarchie durch die Wahlen der Ständevertretung politische Mitwirkungsbefugnisse, die in einem gewissen Umfang eine öffentliche Meinung voraussetzten. Zu deren korrekter Bildung waren aber die öffentlichen Berichte über die Ständevertretung unerlässlich. Eine hervorragende Gelegenheit zur Umgehung der Zensur boten Volksfeste, auf denen sich Tausende von Menschen als Zuhörer politischer Redner zusammenfanden. Dabei waren die Versammelten in einer gemeinsamen Idee verbunden und waren Ausdruck einer verfassungsoppositionellen Repräsentation.468 Den Höhepunkt dieser Entwicklung stellt das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832 dar. An diesem nahmen zwanzig- bis dreißigtausend Menschen teil und in antimonarchischen, republikanischen Reden wurde auch die Pressefreiheit gefordert. Außerdem konnte durch die Petition unter Umgehung der Zensur die Unzufriedenheit über die bestehende Ordnung kundgetan und die öffentliche Meinung aktiviert werden.469 Berühmtestes Beispiel ist Welckers Forderung nach 464 H. Brandt, in: Kirsch/Schiera, Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus, S. 99 (105); N. Deuchert, Vom Hambacher Fest zur badischen Revolution, S. 78 ff. 465 Abgedruckt bei E. Dross (Hrsg.), Quellen zur Ära Metternich, S. 184; E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 132 ff. 466 N. Deuchert, Vom Hambacher Fest zur badischen Revolution, S. 81; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 344. 467 H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 157 f. 468 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 134.

V. Die Pressefreiheit

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vollkommener Pressefreiheit, die er 1830 „in ehrerbietigster Petition an die Hohe Deutsche Bundesversammlung“470 richtete. Zwar war kaum auf positive Bescheidung zu hoffen und auch die Petition Welckers bleib letztlich unbehandelt.471 Wichtig war aber die Ausstrahlungswirkung auf die Öffentlichkeit, die von einer solchen Petition ausging. Trotz aller Zensur entstanden für die Presse somit beachtliche Freiräume, die kräftig ausgenutzt wurden. Zwar sind sie eher auf den Mut, das Geschick und Organisationstalent der Kämpfer für die Pressefreiheit zurückzuführen als auf die verfassungsrechtliche Verankerung. Das Grundrecht der Pressefreiheit, das in einigen Landesverfassungen verkündet und vom Bund versprochen war, gab jedoch Rückhalt. Es war eine Quelle, aus der die liberalen Kämpfer ihre Argumente und auch einen Teil ihrer Hoffnung und Kraft schöpfen konnten. Und je stärker die Restriktionen gegenüber der Presse wurden, desto mehr sah sich die liberale Opposition in ihrer begründeten Hoffnung auf Pressefreiheit enttäuscht und desto größer wurde das Potential zur Auflehnung gegen den Bund. Die landesverfassungsrechtliche Garantie der Pressefreiheit, deren bundesrechtliche Aushöhlung juristisch zwar möglich sein mochte, wurde dadurch zum Anliegen, das die Unzufriedenheit mit dem gesamten politischen System ausdrückte. b) Vorbereitung des Verfassungsvorrangs Die Pressefreiheit trug zudem dazu bei, das Verhältnis zwischen der Verfassung und dem einfachen Gesetz zu analysieren. Solange das einfache Gesetz dazu diente, dass „Programm“ der Grundrechte umzusetzen, entstand die Freiheit gerade durch das Gesetz und das Bedürfnis eines Verfassungsvorrangs, um Freiheit vor dem Gesetz zu schaffen, bestand nicht. Bei der Pressefreiheit stand aber das einfache Gesetz nicht im Einklang mit dem verfassungsrechtlich Versprochenen. Die Pressefreiheit wurde durch das Bundes-Preßgesetz nicht konkretisiert und umgesetzt, sondern gerade verhindert.472 Wenn aber das einfache Gesetz nicht mehr der Umsetzung der verfassungsrechtlichen Grundsätze diente, sondern gerade gegenteilig wirkte, stellte sich die Frage, in welchem Verhältnis dieses Gesetz zur Verfassung stand und ob es überhaupt wirksam sein konnte.

469 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 349; zum Petitionsrecht vgl. auch H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 184; vgl. auch R. von Mohl, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1847, S. 137 (140 ff.). 470 K. T. Welcker, Die vollkommene und ganze Preßfreiheit nach ihrer sittlichen, rechtlichen und politischen Nothwendigkeit, und ihrer Uebereinstimmung mit deutschem Fürstenwort und nach ihrer völligen Zeitgemäßheit, abgedruckt bei Fischer/ Schöttle, Kampf um publizistische Libertät, S. 3 ff. 471 F. Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, S. 294. 472 Vgl. oben 8. Kapitel, V. 3. b) bb).

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

Da das einfache Gesetz nicht dazu diente, Pressefreiheit zu erlangen, lag es nahe, auf die Verfassung selbst zurückzugreifen und das einfache Gesetz zu ignorieren. Das Frankfurter Appellationsgericht ging in einem Urteil, dem ein Gutachten der Göttinger Juristenfakultät zugrunde lag, vom Vorrang der verfassungsrechtlich garantierten Pressefreiheit gegenüber einfachen Gesetzen aus, die die Pressefreiheit zu sehr einschränkten. Mit dem „Regulieren der Preßfreiheit“ im Sinne des Art. 18d DBA könne „nicht etwa das gänzliche oder theilweise Aufheben derselben“ gemeint sein und Regelungen, welche die Zensur allein dem Ermessen des Zensors überließen und so die Pressefreiheit aufhoben, könnten „sich rechtlich nicht vertheidigen lassen.“473 Zwar mag es sich dabei um einen Einzelfall handeln und es gab keinen grundsätzlich anerkannten Verfassungsvorrang, der zum lückenlosen Grundrechtsschutz beitrug. Über die Pressefreiheit gelang es nun, den Verfassungsvorrang nicht nur als theoretische Idee, sondern auch als durch die Gerichtsbarkeit konkretisiertes, praktisches Schutzinstrument erste Wurzeln schlagen zu lassen. c) Verfassungsverändernde Funktion in der liberalen Staatsrechtlehre Die liberale Staatsrechtslehre lieferte dem gesellschaftlichen Kampf um die Pressefreiheit die theoretische Begründung. Sie wies auf die Nichterfüllung des Art. 18d DBA hin und arbeitete die Vorteile der Pressefreiheit heraus. Außerdem stellte sie den untrennbaren Zusammenhang zwischen der repräsentativen Verfassung und der Pressefreiheit heraus und wies Letzterer somit eine institutionelle Bedeutung zu. aa) Theoretische Begründung der Pressefreiheit als individuelles Menschenrecht und objektiver Staatszweck Dem weiten Freiheitsverständnis der liberalen Staatsrechtslehre entsprechend wurde auch die Pressefreiheit als angeborenes Menschenrecht gesehen, das im Staat fortgalt und von diesem nicht angetastet werden durfte.474 Da die Natur den Menschen mit geistigen Kräften ausgestattet habe, sei es sein natürliches Recht, diese zu gebrauchen und so seine Selbstvervollkommnung zu fördern. Die dabei entstehenden Gedanken stünden automatisch im geistigen Eigentum des Menschen. Folglich müsse ihm auch das Medium der Presse zum Austausch der Gedanken offen stehen und dem natürlichen Streben nach Freiheit 473 Urteil des Appellationsgerichts Frankfurt vom 13. Mai 1833, Abdruck der wichtigsten Actenstücke die gegen den Verfasser und die Unterzeichner der Druckschrift „Protestation deutscher Bürger für Pressfreiheit in Deutschland“ verfügte Untersuchung entsprechend, S. 51 (55, 57 f.). 474 C. von Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, Bd. 2, S. 137; Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 3, S. 228 f.

V. Die Pressefreiheit

283

und Bildung dienen.475 Würde man dagegen den freien Austausch der Gedanken beschränken, so sei ein „dumpfes Hinbrüten“ und eine „allmälige Verkrüppelung des Geistes“ zu befürchten.476 Der Staat sollte demnach die Pflicht haben, die Pressefreiheit als individuelles Menschenrecht zu schützen.477 Doch auch für die Vervollkommnung des Gemeinwesens und somit für den Staat selbst wurde die Pressefreiheit als erforderlich angesehen. Denn der freie Gebrauch der geistigen Kräfte lasse den Staat gedeihen und blühen, während ihre Unterdrückung den „physischen Untergang des Volkes“ bewirke.478 Die öffentliche Meinung als die „wahre Seele des Volkslebens“ setzte die geistige Bildung des Volkes voraus, für die der freie Gedankenaustausch in der Presse unentbehrlich sei.479 Gerade für die Durchführung von Wahlen, die auch in der konstitutionellen Monarchie stattfanden, sei eine Presse erforderlich. An der Zusammensetzung der Repräsentantenkörper konnte das Volk nur dann sinnvoll mitwirken, wenn es sich zuvor „über die der Repräsentation vorgelegten Gesetzesentwürfe, über deren Mängel und Fehler und möglichen Verbesserungen und über den Werth der ständischen Discussionen“ ein Bild machen konnte.480 Die öffentliche Meinung wurde als „Lebensluft des constitutionellen Staates“ gesehen.481 Die konstitutionelle Monarchie provoziere daher „fortwährend die öffentliche Kritik“, deren Artikulation über die Presse erfolgen müsse.482 Folglich wurde die Pressefreiheit auch als objektiver Staatszweck anerkannt und galt als unentbehrliche Institution in der konstitutionellen Monarchie. bb) Ablehnung der Verfassungsstruktur des Deutschen Bundes Nachdem die Erforderlichkeit der Pressefreiheit theoretisch begründetet worden war, musste die bestehende Ordnung mit ihren umfassenden Zensurmaß475 S. Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 428; H. Luden, Vom freien Geistesverkehr, S. 218; K. Welcker, Die vollkommene und ganze Preßfreiheit, in: Fischer/Schöttle, Kampf um publizistische Libertät, S. 3 (12, 37). 476 S. Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 429. 477 S. Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 426; Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 3, S. 228; K. Welcker, Die vollkommene und ganze Preßfreiheit, in: Fischer/ Schöttle, Kampf um publizistische Libertät, S. 3 (22). 478 So S. Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 429; vgl. auch K. Welcker, Die vollkommene und ganze Preßfreiheit, in: Fischer/Schöttle, Kampf um publizistische Libertät, S. 3 (12 f.). 479 Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 3, S. 228. 480 H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 183; vgl. auch R. von Mohl, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1846, S. 451 (475). 481 R. von Mohl, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1846, S. 451 (487). 482 H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 132 f., vgl. auch S. 152.

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

nahmen zum Gegenstand der Kritik werden. In einem Staat ohne freien Geistesverkehr werde „Aberglauben und Willkürherrschaft“483 der Weg geebnet und die Lüge und Korruption würden durch die Zensur gefördert.484 Die Verfassung selbst sei allein dem guten Willen der Regierung anheim gestellt.485 Regierungen, die zur Zensur griffen, wurden in Verdacht gebracht, die Wahrheit nicht ertragen zu können. Sie galten als schlechte Regierungen, die berechtigte Kritik fürchteten. Das Volk würde durch die Zensur unter „eine geistige Vormundschaft, die entehrenste, die es geben kann“486 gestellt. Gegenstand der Kritik war damit jene Arkanhaltung, die den Absolutismus geprägt hatte und zu der die politisch herrschende Reaktion auch im Deutschen Bund zurückkehren wollte. Die Struktur des Deutschen Bundes musste daher immer fragwürdiger erscheinen. Besonders am Beispiel des Badischen Pressgesetzes wird deutlich, dass der Kampf um die Pressefreiheit eine kritische Haltung gegenüber dem Deutschen Bund bewirkte. Schon vor der Suspendierung des Gesetzes kritisierte Welcker, dass die konstitutionellen Staaten im Deutschen Bund immer wieder von den nichtkonstitutionellen Staaten zur Preisgabe ihrer verfassungsrechtlichen Grundsätze gezwungen wurden.487 Deshalb schlug er eine organische Entwicklung des Bundes nach den Grundsätzen der konstitutionellen Monarchie vor. Dazu gehörte, dass eine deutsche Nationalrepräsentation eingeführt werden sollte.488 Wenn sich diese ebenso liberal zusammensetzte wie die zweite Kammer in Baden, war in der Zensurpolitik des Bundes ein Kurswechsel zu erwarten. Die beabsichtigte Konstitutionalisierung bezweckte, dass die Pressefreiheit auch im Deutschen Bund das „allerunentbehrlichste Lebensprinzip“ werden sollte.489 Nach dem Scheitern des Badischen Pressgesetzes gewannen solche Ansätze immer mehr Anhänger und die Unzufriedenheit über den Deutschen Bund wuchs. Solange dort mit Preußen und Österreich die Reaktion die Macht besaß, war eine monarchische Herrschaft das Ziel, deren Legitimität unangefochten über einer öffentlichen Meinung stehen musste. Unerwünschte politische Auf-

483

S. Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 429. Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 3, S. 234; K. Welcker, Die vollkommene und ganze Preßfreiheit, in: Fischer/Schöttle, Kampf um publizistische Libertät, S. 3 (28). 485 Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 3, S. 234. 486 Ebd., S. 436. 487 K. Welcker, Die Vervollkommnung der organischen Entwickelung des deutschen Bundes zur bestmöglichen Förderung deutscher Nationaleinheit und deutscher staatsbürgerlicher Freiheit, S. 10. 488 Ebd., S. 14. 489 K. Welcker, Die Vervollkommnung der organischen Entwickelung des deutschen Bundes zur bestmöglichen Förderung deutscher Nationaleinheit und deutscher staatsbürgerlicher Freiheit, S. 13. 484

V. Die Pressefreiheit

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fassungen mussten in einem solchen Staatsverständnis zwingend unterdrückt werden. Die liberale Opposition hatte deshalb resigniert erkannt, dass die Pressefreiheit in der bestehenden Form des Deutschen Bundes eine Illusion bleiben musste.490 Folglich wurde gefordert, die Verfassungsstrukturen des Bundes aufzubrechen. So war auf dem Hambacher Fest der Ruf nach mehr Freiheit ausdrücklich mit der Forderung einer Republik verbunden worden.491 In Baden hatte der Deutsche Bund schon dadurch eine feindliche Haltung gegenüber sich selbst erzeugt, dass er den Badischen Großherzog faktisch zum Verfassungsbruch gezwungen hatte. „Die Pressfreiheit ist uns aber genommen, und durch die Art der Entziehung zugleich unser Gesetzgebungsrecht, ja ich bin der festen Ueberzeugung, selbst die Suveränetät unseres Staates angegriffen worden . . .“492 äußerte Welcker im Badischen Landtag. Beim Kampf um die Pressefreiheit hatte der Bund die konstitutionellen Verfassungen und damit die Souveränität seiner Mitglieder missachtet. An die Stelle der Landesverfassungen drohte „ein Gaukelspiel“ zu treten.493 Dennoch waren die Länder nicht bereit, das konstitutionelle Staatsmodell aufzugeben. Die Folge des rücksichtslosen Bundesvorgehens war vielmehr, dass seine eigene Verfassungsstruktur als überholt und untragbar gelten musste. Folglich lag es nahe, auch für den Bund den längst überfälligen Übergang zum Konstitutionalismus zu fordern, der ein gewisses Maß an Pressefreiheit voraussetzte.494 cc) Fehlende verfassungsrechtliche Voraussetzungen und Folgen der Pressefreiheit Die liberale Staatsrechtslehre ging sogar noch einen Schritt weiter und leitete aus der Pressefreiheit die Erforderlichkeit einer Fortentwicklung der frühkonstitutionellen Verfassungen ab. Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass wahre Pressefreiheit nur derjenige haben könne, dessen Meinung mit dem Zustand des Staates übereinstimme. Solange die Herrschenden befürchteten, dass grundsätzlich abweichende Staatsauffassungen laut werden, könne keine wahre Pressefreiheit bestehen.495 Das ganze Volk könne demnach nur dann in den Genuss der Pressefreiheit kommen, wenn der Wille des Staates und der Regierung mit dem Willen des Volkes übereinstimme. 490

R. von Mohl, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1846, S. 451 (476 f.). Zu den Reden des Hambacher Festes E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 144 ff. 492 Abgedruckt bei J. A. Collmann (Hrsg.), Quellen, Materialien und Commentar des gemeinen deutschen Pressrechts, S. 684. 493 Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 3, S. 233. 494 Aretin/Rotteck, ebd., S. 232. 495 H. Luden, Vom freien Geistesverkehr, S. 224. 491

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

Der Wille der Regierung stimmte aber am ehesten mit dem des Volkes überein, wenn er aus dem Volkswillen gebildet wurde, der sich über die öffentliche Meinung artikulierte. Voraussetzung einer umfassenden Pressefreiheit war somit, dass die öffentliche Meinung Einfluss auf die Regierung nehmen konnte. Deshalb wurde gefordert, dass die öffentliche Meinung als Kontroll- und Leitmittel der Verwaltung dienen und den Willen des Volkes repräsentieren sollte.496 Nur durch die Pressefreiheit könne ein wirklich freier Staat entstehen. Umfassende Freiheit fordere die Entlassung auch aus der politischen und geistigen Sklaverei und Leibeigenschaft.497 Hinter diesen Forderungen verbarg sich das Recht auf politische Mitwirkung. Wenn nämlich jeder durch seine Meinungsäußerung die öffentliche Meinung beeinflussen konnte, beeinflusste er auch gleichzeitig die Politik, die sich an der öffentlichen Meinung orientierten sollte. Mit der Pressefreiheit war deshalb nicht nur die Anerkennung der öffentlichen Meinung, sondern auch die Forderung nach Volkssouveränität verbunden.498 Die bestehenden Landesverfassungen waren insofern widersprüchlich: Zwar enthielten sie die Pressefreiheit, die Souveränität des Volkes sahen sie jedoch nicht vor. Die liberale Staatsrechtslehre löste diesen Widerspruch zukunftsweisend: Sie entschied sich für die in der politischen Praxis missachtete Pressefreiheit, auch wenn sie damit die Grundsatzentscheidung der frühkonstitutionellen Verfassungen für das monarchische Prinzip langfristig opferte. Dabei forderte sie aber keineswegs einen radikaldemokratischen Umsturz, sondern hoffte auf die Weiterentwicklung und volle Entfaltung der Repräsentativverfassungen.499 dd) Ersatzfunktion der Presse Die liberale Staatsrechtslehre legte damit ein Verfassungsverständnis zugrunde, das weit von der bestehenden Ordnung abwich. In der Realität gab es zwar Ständeversammlungen, diese fungierten jedoch nicht als Repräsentativorgane, über welche die öffentliche Meinung das politische Geschehen bestimmen konnte. Sie waren ungleich zusammengesetzt und ihre politischen Wirkungsmöglichkeiten waren begrenzt. 496 Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 3, S. 229 ff.; K. Welcker, Die vollkommene und ganze Preßfreiheit, in: Fischer/Schöttle, Kampf um publizistische Libertät, S. 3 (46 ff.); J. L. Klüber, Oeffentliches Recht des Teutschen Bundes, § 504, S. 741; H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 132, 135. 497 K. Welcker, Die vollkommene und ganze Preßfreiheit, in: Fischer/Schöttle, Kampf um publizistische Libertät, S. 3 (18). 498 Selbst F. Schmitthenner gesteht ein, dass die Freiheit der Presse dann sinnvoll ist, wenn der Staat „auf der Souveränetät des Volkes ruht“, Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts, S. 564. 499 R. von Mohl, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1846, S. 451 (464 ff.); vgl. auch M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, S. 185.

V. Die Pressefreiheit

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Die Presse übernahm deshalb eine Ersatzfunktion und trat an die Stelle noch fehlender, aber ersehnter Verfassungselemente: Sie wurde als unbestechliches, stets tagendes Parlament verstanden und genutzt.500 Aufgrund dieser Vorzüge wurde der freien Presse eine größere Bedeutung zugemessen als dem wirklichen Parlament, welches im Zweifel eher preiszugeben sei.501 Als Komplementäreinrichtung zu den bestehenden Volksvertretungen solle die freie Presse die öffentliche Meinung täglich und unverfälscht widerspiegeln. Die Presse wurde damit vor allem in der Bundespolitik der „unentbehrlichste Repräsentant“502 des Volkes. Während die Deutsche Bundesakte nach den Befreiungskriegen den Wunsch nach nationaler Einheit enttäuschte, konnte die Presse zumindest eine vereinigte deutsche Leserschaft bewirken. Außerdem wurde ihr aufgrund ihrer Kontrollfunktion die Bedeutung eines Verfassungsgerichts zugemessen, das die in der Verfassung zugebilligten Rechte absicherte.503 Damit wurde die Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach politischer Mitwirkung in der Bevölkerung und den beschränkten Möglichkeiten der Verfassungen durch die Presse aufgefangen. Der Presse wurde als Abbild der öffentlichen Meinung Verfassungsrang beigemessen und sie wurde als „wesentlicher Bestandteil der Verfassung“504 gesehen – eine Auslegung, die eher an der Wunschvorstellung der liberalen Staatsrechtslehre als an der Verfassungswirklichkeit orientiert war. Letztlich war aber Voraussetzung der vollkommenen Pressefreiheit die Volkssouveränität. Solange diese von der Verfassung nicht geschaffen wurde, war die Presse selbst das Mittel, mit dem der politische Einfluss der öffentlichen Meinung hergestellt werden sollte. Der Kampf für die Pressefreiheit war somit gleichzeitig ein Kampf für politische Mitwirkung und die Veränderung der Staatsform. Es war ein Kampf für die allgemeine Freiheit, die nicht nur stärker abgesichert, sondern eine Ausdehnung erfahren sollte, die über die Möglichkeiten der frühkonstitutionellen Monarchie hinausging. d) Politische Brisanz und Scheinfunktion der Pressefreiheit Der Kampf um die Pressefreiheit führte somit auch zum Kampf gegen die Reaktion und für die Volkssouveränität. Daran wird vor allem die politische

500

Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 3, S. 235. K. Welcker, Die vollkommene und ganze Preßfreiheit, in: Fischer/Schöttle, Kampf um publizistische Libertät, S. 3 (51); Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 3, S. 236. 502 K. Welcker, Die vollkommene und ganze Preßfreiheit, in: Fischer/Schöttle, Kampf um publizistische Libertät, S. 3 (85). 503 Ebd., S. 3 (162); vgl. auch H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 182. 504 J. L. Klüber, Oeffentliches Recht des Teutschen Bundes, § 504, S. 741. 501

288

8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

Brisanz deutlich, die dieses Grundrecht im Vormärz gehabt hat. Erst vor diesem Hintergrund wird die Heftigkeit der damaligen Diskussionen und Argumente nachvollziehbar: Auf der reaktionären Seite wurden übertriebene Gefahren der Pressefreiheit heraufbeschworen, mit der „jeder Staat zu Grunde gehen“ musste.505 Andrerseits wurden schwärmerisch die Vorteile der Pressefreiheit idealisiert, die als „sittlich heilig, als wirksamstes Mittel und als Pflicht und Recht der Förderung der Vervollkommnung und des Wohls unserer Mitmenschen, und zugleich als edelstes Glück . . .“ gesehen wurde.506 Solch divergierende Stellungnahmen wurden nicht durch die Pressefreiheit allein ausgelöst, denn dahinter stand immer die Frage nach der Staatsform. Es ging nicht nur um die Pressefreiheit als solche, sondern vor allem um ihre Bedeutung für die Ausbreitung liberaler und demokratischer Ideen. Dabei war sowohl den Befürworten als auch den Gegnern der Zusammenhang zwischen Pressefreiheit und Staatsform bewusst.507 Wenn der Deutsche Bund also die Gefahren der Pressefreiheit für die innere Sicherheit heraufbeschwor, war das auch ein Vorwand, um das eigene Staatsmodell zu festigen. Der Zweck der Karlsbader Beschlüsse war letztlich die Umsetzung bzw. Verteidigung des monarchischen Prinzips.508 Die vollkommene Beseitigung der Pressefreiheit, wie die Reaktion sie am liebsten vorgenommen hätte, war jedoch nach dem Übergang vom Absolutismus zum Konstitutionalismus nicht mehr möglich. Außerdem drohte eine immer größere Ablehnung der bestehenden Ordnung. Es entluden sich an der Pressefreiheit somit Spannungen, von denen man durchaus befürchtete, dass sie bundesfeindliche, revolutionäre Energien freisetzen konnten. Nur so kann man erklären, dass mit Art. 18d DBA selbst in Zeiten schlimmster Zensur der Schein aufrechterhalten wurde, eine Pressefreiheit regeln zu wollen. Noch im April 1832 wurde eine neue Kommission mit der Einführung gleichförmiger Verfügungen über die Presse beauftragt, die schon bald wieder in Vergessenheit geriet.509 Im gesamten Vormärz stand die Mehrheit der Bevölkerung hinter der Presse, so dass bei einem zu radikalen Vorgehen gegen diese Aufstände des Volkes befürchtet wurden.510 Die Angst vor der revolutionären Kraft, die sich an der Pressefreiheit entzünden und die Machtstrukturen des Bundes hätte aufbrechen können, bewirkte, dass die Reaktion trotz aller Ent505 So Metternich in einem Brief an Fürst von Wittgenstein, abgedruckt bei E. Dross (Hrsg.), Quellen zur Ära Metternich, S. 177. 506 K. T. Welcker, Die vollkommene und ganze Preßfreiheit, in: Fischer/Schöttle, Kampf um publizistische Libertät, S. 3 (12). 507 E. Blumenauer, Journalismus zwischen Pressefreiheit und Zensur, S. 13. 508 H. O. Meisner, Die Lehre vom monarchischen Prinzip im Zeitalter der Restauration und des Deutschen Bundes, S. 210 f. 509 F. Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, S. 263. 510 Vgl. E. Blumenauer, Journalismus zwischen Pressefreiheit und Zensur, S. 36.

V. Die Pressefreiheit

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schiedenheit und Schärfe vorsichtig, wenn nicht sogar zögerlich gegen die Pressefreiheit vorging. Es wurde immer nach einem Vorwand gesucht, der die Beschränkungen der Pressfreiheit rechtfertigen konnte. Erstes Beispiel dafür sind schon die Karlsbader Beschlüsse selbst: Die Ermordung des konservativen Schriftstellers Kotzebues war für die Reaktion ein willkommener Anlass und wurde von Gentz sogar als „nützlich und wohltätig“511 bezeichnet, da endlich die Einführung scharfer Zensurmaßnahmen möglich wurde. Auch nach Verabschiedung des Badischen Pressgesetzes zögerte der Bund immerhin noch über sieben Monate, bevor er dessen Abschaffung verlangte. Gegen Welcker, der zuvor in einer Petitionsschrift an die Bundesversammlung die Pressefreiheit eingefordert hatte, war man nur deswegen nicht schon vorher eingeschritten, weil man eine unnötige öffentliche Aufmerksamkeit vermeiden wollte.512 Außerdem wurde zugelassen, dass Bayern die Karlsbader Beschlüsse nur unter Vorbehalt verkündete und unpolitische Schriften nicht zensierte. Zwar mochte diese Zensurpraxis ein Ärgernis in den Augen Metternichs darstellen513, aus Angst vor politischen Eskalationen unterband er sie jedoch nicht. Noch deutlicher wird die politische Vorsicht des Bundes an den Wiener Beschlüssen nach der Ministerialkonferenz von 1834. Mit ihrer Unterzeichnung hatten die Staaten, die eine eigene Pressefreiheit gewährten, die Grundsätze ihrer eigenen Verfassung preisgegeben. Da ein solches Vorgehen innenpolitisch nur schwer zu rechtfertigen war, beschloss man die Geheimhaltung der Sechzig Artikel.514 Aus dem gleichen Grund wurden in Bayern, das seit der Julirevolution eine reaktionäre Zensurpolitik verfolgte, Beschränkungen der Pressefreiheit durch nichtöffentliche Verwaltungsverordnungen und selbst initiierte ausländische Beanstandungen verschleiert.515 Folglich war zumindest die Furcht vor der liberalen Opposition in der Lage, die Handlungen der Reaktion und des Bundes zu beeinflussen. Obwohl die Pressefreiheit in seinem Staatsmodell der Reaktion eigentlich keinen Platz hatte, war er darum bemüht, zumindest den Schein der Pressefreiheit zu wahren. Schließlich war man sich bewusst, dass mit der wachsenden Unzufriedenheit über die fehlende Pressefreiheit gleichzeitig die Opposition zum reaktionären Bund selbst zunahm.

511 Schreiben Gentz an Metternich vom 1. April 1819, abgedruckt in E. Dross (Hrsg.), Quellen zur Ära Metternich, S. 72 ff. 512 H.-D. Fischer/R. Schöttle, Kampf um publizistische Libertät, Einleitung, S. XI. 513 Vgl. D. Grimm, in: Schwartländer/Willoweit, Meinungsfreiheit, S. 145 (158). 514 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 177 f. 515 E. Blumenauer, Journalismus zwischen Pressefreiheit und Zensur, S. 57, 60.

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

e) Erinnerungsfunktion und politisierende Wirkung Der Schein der Pressefreiheit übte aber gegenüber der liberalen Opposition gerade keine Befriedungsfunktion, sondern eine Erinnerungsfunktion aus: Solange das Wort „Pressefreiheit“ in den Verfassungen existent war, konnte es auch aus den Köpfen der Bevölkerung nicht gestrichen werden. Seit den Befreiungskriegen bestand ein tieferes Bedürfnis nach freiem politischen Räsonnement in der Öffentlichkeit. Mit den Karlsbader Beschlüssen hatte der Bund aber gerade das Gegenteil bewirkt. Nach Görres waren es daher eigentlich die Fürsten, die aufgrund der Missachtung ihrer Versprechen von 1813 und 1814 als Demagogen hätten verfolgt werden müssen.516 Der Deutsche Bund war in den Augen der Untertanen die Erfüllung des Versprechens der Pressefreiheit noch immer schuldig geblieben. Der Wunsch nach Pressefreiheit war daher tief in der Bevölkerung verankert und der Kampf für die Pressefreiheit war von breiten Schichten der Gesellschaft getragen. Dies zeigt allein das Hambacher Fest, an dem zwanzig- bis dreißigtausend Menschen teilnahmen, um sich für die Pressefreiheit einzusetzen. Urheber des Festes war der deutsche Preß- und Vaterlandsverein, durch den der Wunsch nach Pressefreiheit die Form einer gesellschaftlichen Institution erhielt.517 Gleichzeitig transportierte die von der Bevölkerung getragene Forderung nach Pressefreiheit auch die grundsätzliche Kritik an der politischen Ordnung. Die Enttäuschung über die Pressefreiheit bot den Anlass, der die Bevölkerung zu grundsätzlichen politischen Überlegungen bewegte und die Unzufriedenheit mit dem bestehenden System schürte. Sie politisierte die Bevölkerung und wurde damit zum Wegbereiter für die Revolution von 1848.

VI. Die Assoziationsfreiheit Im Kampf um die Pressefreiheit gewann gleichzeitig die Freiheit der Assoziation an Aktualität. Assoziationen waren freie Vereinigungen, in denen sich einzelne Individuen zur Befolgung unterschiedlichster Zwecke zusammenschlossen.518 Zur Freiheit der Assoziation gehörten neben der freien Vereinsbildung auch das Recht, als Verein tätig zu werden. Dazu waren Versammlungen erforderlich, die ebenfalls geschützt sein sollten.519 Als verfassungsrechtlich verbürgtes Grundrecht fand die Assoziationsfreiheit allerdings in den frühkon516

Deutschland und die Revolution, S. 95. Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 133 ff.; W. Sielmann, in: Schwartländer/Willoweit, Meinungsfreiheit, S. 173 (180). 518 Vgl. R. von Mohl, Staatsrecht, S. 377; K. Welcker, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon Bd. I (Association), S. 723; F. J. Stahl, Philosophie des Rechts, Bd. 2, 2. Abtheilung, S. 65; F. Müller, Korporation und Assoziation, S. 15 f. 519 Vgl. nur S. Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 442. 517

VI. Die Assoziationsfreiheit

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stitutionellen Verfassungen keinen Platz. Nur die Verfassung Sachsen-Meiningens aus dem Jahre 1829 gewährte in § 28 das Recht, zu nicht gesetzeswidrigen Zwecken Gesellschaften zu bilden.520 Doch auch wenn die Assoziationsfreiheit im Wortlaut der frühkonstitutionellen Verfassungen die Ausnahme blieb, wurde ihr in der damaligen Staatsrechtslehre Grundrechtscharakter beigemessen. Außerdem gewann sie durch die Politisierung der Bevölkerung an Bedeutung. Sobald nämlich die Ziele der Menschen über Einzelinteressen hinausgingen, wurden Vereine und Versammlungen als Erscheinungsformen im staatlichen Leben unentbehrlich.521 Der deutsche Vormärz war nun geprägt vom Streben nach Freiheit und der Einheit der Nation. Hierbei handelt es sich um Ziele, die zwar im Gegensatz zur bestehenden Staatsform standen, aber von weiten Bevölkerungsgruppen gemeinsam verfolgt wurden. Zur Artikulierung dieser Ziele blieb die Assoziation. Im Folgenden gilt es daher, den Freiraum zu erfassen, den das einfache Gesetz für Vereine und Versammlungen ließ. Genau wie die verfassungsrechtlich verbürgten Grundrechte war dieser Freiraum nicht nur geprägt durch seine Entstehungsbedingungen, sondern von besonderer Bedeutung ist seine Funktion: Obwohl es der Assoziationsfreiheit an der verfassungsrechtlichen Verbürgung mangelte, sollte gerade sie eine besondere Schutzfunktion für die tatsächlich gewährten Staatsbürgerrechte entwickeln. 1. Entstehungsbedingungen Der mittelalterliche Staat kannte zwar Teilverbände, mit den modernen Assoziationen des 19. und 20. Jahrhunderts waren diese jedoch nicht zu vergleichen. Vielmehr waren Innungen, Gilden und Zünfte als Zwangsverbände organisiert, denen das Individuum angehören musste. Ein Fernbleiben aufgrund freier Entscheidung war ausgeschlossen. Die sog. Korporation umfasste den gesamten Lebensbereich ihrer Mitglieder und war nicht auf einen bestimmten Zweck begrenzt.522 Zwar gab es auch freie private Zusammenschlüsse, diese blieben jedoch in den Grenzen des Ständestaates gefangen. Es war beispielsweise undenkbar, dass sich ein Bauer einer ritterschaftlichen Vereinigung anschloss. Politische Vereinigungen waren reichsrechtlich schon deshalb verboten, weil sie das Gottesgnadentum in Frage stellten.523 Freie Assoziationen konnten sich da-

520 Vgl. H. Zoepfl, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, Bd. 2, S. 621; F. Müller, Korporation und Assoziation, S. 252 f. 521 K. Küchenhoff, in: Küchenhoff/Schrötter, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, S. 7. 522 Vgl. F. Müller, Korporation und Assoziation, S. 18 ff.; H. Brandt, in: Gesellschaftliche Strukturen als Verfassungsproblem, Der Staat, Beiheft 2 (1978), S. 51 (52 f.).

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

her nicht im ständestaatlichen Kaiserreich, sondern erst in einer veränderten Staats- und Gesellschaftsform entwickeln. a) Assoziation im frühen deutschen Naturrecht der Neuzeit Das frühe neuzeitliche Naturrecht kannte das Recht zur freien Assoziation nicht. Die Vertragsmodelle ließen zwar eine Vereinigung der Menschen zum Staat selbst zu, nach dem Eintritt in diesen blieben aber nur persönliche, individuelle Freiheiten. Die Gesellschaft als solche wurde nicht in den Blick genommen und die Assoziation wurde weder als Voraussetzung noch als Folge der Ausübung individueller Freiheiten erkannt. Stattdessen wurde in Vereinen eine Gefahr für den Staat gesehen, weshalb ihre Rechtmäßigkeit von Pufendorf von einer staatlichen Genehmigung abhängig gemacht wurde.524 Erst Wolff stellte den Bezug zur natürlichen Freiheit her, zu der es auch gehöre, dass der Mensch sich zu erlaubten Zwecken mit anderen zusammenschließe.525 Allerdings hielt auch er im Interesse des Gemeinwohls am Genehmigungserfordernis fest. b) Versammlungen und Vereinigungen in England und Nordamerika Eine politische Bedeutung erhielten Vereine und Versammlungen erstmals in England gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Es entstanden zahlreiche Geselligkeits- und Debattierklubs, die vor allem politische Zwecke verfolgten. Ihre Treffen nutzten sie zur Formulierung von Petitionen an das Parlament und zielten somit zumindest auf einen mittelbaren politischen Einfluss ab. Als die Regierung jedoch den politischen Anspruch der Clubs erkannt hatte und eine Verschiebung der Machtverhältnisse fürchtete, beschränkte sie deren Wirkungsmöglichkeiten weitgehend.526 In den ersten Menschenrechtserklärungen Nordamerikas wurde die Versammlung dagegen gerade als Instrument der politischen Einflussnahme geschützt. Dabei wurde die politische Funktion der Versammlung besonders hervorgehoben: Sie bestand nicht nur darin, bittend Petitionen zu formulieren, sondern über allgemeine öffentliche Belange zu beraten und die Abgeordneten zu instru523 Goldene Bulle, IV Kap. XV, abgedruckt in A. Buschmann (Hrsg.), Kaiser und Reich, Teil I, S. 108 (136); §§ 1–4, 34 ff. des Augsburger Reichsabschieds von 1555, abgedruckt in A. Buschmann (Hrsg.), ebd., S. 215 (231). 524 S. Pufendorf, JNG, 7. Buch, Kap. 2, §§ 21 ff.; vgl. auch F. Müller, Korporation und Assoziation, S. 34 ff. 525 J. N. VIII, § 153. 526 A. Voigt, Geschichte der Grundrechte, S. 66 f.; K. Küchenhoff, in: Küchenhoff/ Schrötter, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, S. 7 (18); vgl. zur positiven Rezeption der Französischen Revolution in den englischen Clubs E. Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution, S. 51 ff.

VI. Die Assoziationsfreiheit

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ieren.527 Im ersten Amendment zur Verfassung der Vereinigten Staaten von 1791 wurde die Versammlungsfreiheit dann aufgrund ihrer Bedeutung für die Äußerung politischer Auffassungen in einen unmittelbaren Zusammenhang zur Meinungs- und Pressefreiheit gestellt.528 In Nordamerika galt die politische Versammlung damit nicht als Störfaktor, dem allenfalls ein bittender Einfluss auf die Politik eingeräumt wurde. Stattdessen wurde sie von der Verfassung vorausgesetzt und besonders geschützt, damit gerade durch sie individuelle politische Standpunkte artikuliert werden konnten.529 Anders als auf dem europäischen Kontinent sollte die politische Aktivität gesellschaftlicher Versammlungen daher nicht abgewehrt, sondern gerade gefördert werden. Eine individualrechtliche Begründung der Assoziationsfreiheit erfolgte durch die naturrechtliche Vorstellung vorstaatlicher und unveräußerlicher Menschenrechte. Begünstigt wurde die Entwicklung dieses Freiheitsrechts durch die religiöse Toleranz Nordamerikas, die unterschiedlichen Religionsgemeinschaften den Raum für regelmäßige Zusammenkünfte ließ. Säkularisiert man diesen Freiheitsbereich, so bildet sich das allgemeine Versammlungs- und Vereinigungsrecht heraus. Dennoch ginge es zu weit, die Religionsfreiheit als Ursprung der Assoziationsfreiheit anzusehen.530 c) Versammlungen und Vereine nach der Französischen Revolution In Frankreich entstand ein Raum für freie Assoziationen erst, nachdem die Revolution die alte Staats- und Gesellschaftsordnung entfernt hatte. Da aber im Ständestaat der Vergangenheit die Korporationen die individuelle Freiheit gerade eingeschränkt hatten, bestand eine grundsätzliche Skepsis gegenüber allen Vereinigungen und Verbänden innerhalb des Staates. Eine Vereinsfeindlichkeit wurde zudem durch die Lehren Rousseaus begründet. Nach Rousseau soll die Souveränität gleichbedeutend mit der Ausübung des Allgemeinwillens, des volonté générale sein, der Gesetzeskraft habe. In diesem Allgemeinwillen finde sich der Wille eines jeden Individuums wieder, das somit in ein direktes Verhältnis zum Staat gesetzt werde. Um den Allgemeinwillen genau zu bestimmen, sei es wichtig, dass jedes Individuum selbst seinen Willen artikuliere. Nach

527 Art. 16 der Verfassung von Pennsylvania vom 28. September 1776, abgedruckt bei W. Altmann (Hrsg.), Ausgewählte Urkunden zur außerdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776, S. 3 (6); Art. 19 der Verfassung von Massachusetts vom 2. März 1780, abgedruckt bei W. Altmann (Hrsg.), ebd., S. 21 (25). 528 Abgedruckt bei W. Altmann (Hrsg.), ebd., S. 45 (55). 529 Vgl. U. Schwäbele, Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, S. 20; M. Linnemeyer, Techno-Paraden, Skater-Läufe, Chaos-Tage – neue Handlungsformen im Schutzbereich der Versammlungsfreiheit?, S. 20. 530 So aber G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, S. 65, vgl. oben 8. Kapitel, IV. 1. b).

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

Rousseaus Idealvorstellung sollte das in einer Versammlung des gesamten Volkes geschehen.531 Vereine dagegen drohten die Abbildung des Allgemeinwillens zu verfälschen, indem sie als Störfaktoren zwischen das Individuum und den Staat traten und die Einzelwillen ihrer Mitglieder nicht genau wiedergäben.532 So ist es nicht erstaunlich, dass die Déclaration von 1789 zur Assoziationsfreiheit schweigt. Lediglich einfachgesetzlich wurde das Recht gewährleistet, sich zur Formulierung von Petitionen an die Behörden zu versammeln.533 Grundsätzliche Anerkennung erfuhr die Versammlungsfreiheit erst in den Verfassungen von 1791534 und von 1793535. In Art. 8 der Letzteren war sie gemeinsam mit der Presse- und Meinungsfreiheit genannt. Damit wurde sie als individuelles Recht anerkannt, das die Äußerung politischer Auffassungen ermöglichen sollte. Von der neu entstandenen Freiheit machten vor allem radikale politische Vereinigungen wie die Jakobiner Gebrauch. Gerade die politische Bedeutung der Assoziation wurde dazu missbraucht, immer mehr staatliche Befugnisse an sich zu reißen und eine Schreckensherrschaft aufzubauen.536 Diese negative Erfahrung führte dazu, dass in den nachfolgenden Verfassungen Frankreichs die Versammlungsfreiheit fehlte.537 Die Grundrechte in diesen Verfassungen waren eher individuelle Abwehrrechte, die allein auf den Schutz des Individuums abzielten. Positive Mitwirkungsrechte, die im Kollektiv ausgeübt werden konnten, wurden als zu gefährlich angesehen. d) Assoziation und Absolutismus Im absolutistischen Staat war mit der politischen Entmachtung der Stände und Korporationen538 ein Hindernis freier Assoziationen zumindest abgesenkt worden. Der absolute Machtanspruch des Landesfürsten aber, der sich über den gesamten Staat erstreckte und auf bevormundende Weise bis in privateste Ange531

J.-J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, III. Buch, 12. Kapitel, S. 98 f. J.-J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, II. Buch, 3. Kapitel, S. 31; ausführlich zur Vereinsfeindlichkeit F. Müller, Korporation und Assoziation, S. 42 ff. 533 Vgl. den Nachweis bei M. Quilisch, Die demokratische Versammlung, S. 41. 534 Vgl. Titel I, Art. 3, abgedruckt bei Willoweit/Seif (Hrsg.), Europäische Verfassungsgeschichte, S. 292 (295). 535 Vgl. Art. 8, abgedruckt bei G. Franz (Hrsg.), Staatsverfassungen, S. 373 (375). 536 M. Linnemeyer, Techno-Paraden, Skater-Läufe, Chaos-Tage – neue Handlungsformen im Schutzbereich der Versammlungsfreiheit?, S. 22; A. Voigt, Geschichte der Grundrechte, S. 67; K. Küchenhoff, in: Küchenhoff/Schrötter, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, S. 7 (16 f.). 537 Zu den nachfolgenden Verfassungen vgl. oben 5. Kapitel, III. 4.; zur abschreckenden Wirkung vgl. H. A. Stöcker, DÖV 1983, S. 993; die Begründetheit der abschreckenden Wirkung in Deutschland relativiert K. Welcker, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. I (Association), S. 723. 538 Vgl. dazu oben 6. Kapitel, II. 3. b). 532

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legenheiten der Untertanen vordrang, erlaubte die Entwicklung freier Vereine und Versammlungen nur in einem ganz begrenzten Umfang: Einer Assoziation wurde nur dann Raum zur Entfaltung gegeben, wenn sie sich für den Staat als nützlich erwies. Im älteren Polizeistaat bedurften private Vereinigungen einer staatlichen Genehmigung, wobei die wirtschaftlichen Vereinigungen deutlich bevorzugt wurden. Dahinter lag die Erkenntnis, dass aufgrund der Entwicklung der Wirtschaft, der Wissenschaft und des Bevölkerungswachstums die freie Assoziation zur Förderung des öffentlichen Wohlstandes unentbehrlich geworden war.539 Der moderne Vereinigungsbegriff lag auch dem Preußischen ALR zugrunde, das gemäß § 1 II 6 unter Gesellschaften überhaupt „Verbindungen mehrerer Mitglieder des Staates zu einem gemeinschaftlichen Endzwecke“ verstand. Gemäß § 2 II 6 waren solche Assoziationen jedoch nur erlaubt, wenn ihr Zweck mit dem gemeinen Wohl in Einklang stand. Sobald sie der Ruhe, Sicherheit und Ordnung zuwiderliefen oder sobald der Staat befand, dass sie andere gemeinnützige Anstalten störten, konnten sie verboten werden (§§ 3, 4 II 6 ALR). Somit war zwar die Gründung von Assoziationen frei, ihr Bestand war aber keineswegs abgesichert. Durch die weit formulierte Verbotsmöglichkeit war es dem Staat vorbehalten, jegliche Betätigung der Assoziation zu unterdrücken, sobald es ihm beliebte.540 Gerade gegen Ende des 18. Jahrhunderts kam es zu einer Belebung des Vereinswesens, das zu der Zeit noch mit dem absolutistischen Staatswohl in Einklang stand.541 Neben landwirtschaftlichen Vereinigungen gab es zahlreiche Lesezirkel, in denen sich vor allem die obere Beamtenschicht traf. Die Staatsnähe der Mitglieder verhinderte, dass die Lesezirkel, obwohl sie die Denk- und Kritikfähigkeit der Individuen anerkannten, in Opposition zum absoluten Staat standen.542 Die negative Vereinigungsfreiheit wurde zudem durch die Preußischen Reformen gefördert. Die Aufhebung des Zunftzwangs im Gewerbesteueredikt von 1810543 erlaubte es dem Individuum, dieser Zwangskorporation künftig fernzubleiben. Allerdings war es die wirtschaftliche Notwendigkeit, die die539 K. Küchenhoff, in: Küchenhoff/Schrötter, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, S. 7 (19); L. Waldecker, in: Anschütz/Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, S. 638. 540 W. Hardtwig, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 336 (344); L. Waldecker, in: Anschütz/Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, S. 639. 541 Vgl. W. Hardtwig, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 336 (338); H. Brandt, in: Gesellschaftliche Strukturen als Verfassungsproblem, Der Staat, Beiheft 2 (1978), S. 51 (56). 542 W. Hardtwig, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 336 (345 f.). 543 Gewerbesteuer-Edikt vom 28.10.1810, abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 47.

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sen Freiraum schuf; eine grundsätzliche Anerkennung der individuellen Freiheitssphäre unterblieb. Politische Vereinigungen dagegen erfuhren Ablehnung und Unterdrückung, drohten sie doch die Souveränität des Herrschers zu berühren. Nach der Schreckensherrschaft der Jakobiner, die als Folge freier Vereinigungen und Versammlungen gesehen wurde, spitzte sich die restriktive Behandlung der Assoziationen zu. Durch das Preußische Edikt vom 20. Oktober 1798 wurden alle Gesellschaften verboten, deren Haupt- oder Nebenzweck es war, Veränderungen in der Verfassung oder in der Verwaltung des Staates auch nur zu beratschlagen (§ 1). Die Teilnahme an einer verbotenen Gesellschaft wurde mit unverhältnismäßig hohen Festungs- oder Zuchthausstrafen bedroht (§ 8). Dabei kam in dem Edikt die bevormundend partriarchische Staatsauffassung das Absolutismus besonders deutlich zum Ausdruck: Friedrich Wilhem wollte „unsere geliebten Unterthanen landesväterlich vor jenen Verführern warnen, welche mit der Sprache und Tugend im Munde, Laster im Herzen führen, Glückseligkeit versprechen und, so bald sie können, unabsehliches Elend über die Getäuschten verbreiten.“544 Im Jahre 1816 wurde das Edikt erneuert und auf das gesamte Gebiet der Monarchie ausgedehnt. Damit war klargestellt, dass in Preußen trotz der vorübergehenden Mobilisierung der Bevölkerung während der Befreiungskriege politische Bewegungen innerhalb der Gesellschaft nicht geduldet werden sollten. Mit dem versprochenen Übergang zum Verfassungsstaat545, der ein gewisses Maß an politischer Aktivität der Bevölkerung voraussetzte, war das Verbot politischer Vereinigungen aber eigentlich nicht vereinbar. e) Assoziation im Vormärz Auch im Vormärz verfolgten die sich bildenden Vereine, deren Versammlungen und der Staat nicht nur konträre Ziele. Vor allem die karitativen Vereine sowie landwirtschaftliche und handwerkliche Gesellschaften standen zum Staat in enger Verbindung und erfuhren dessen Förderung.546 Gerade als sich in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts die soziale Frage zu stellen begann547, wurde ein Lösungsansatz im Vereinswesen gesehen, dass z. B. zur „Sittigung“ der Fabrikarbeiter beitragen sollte.548 Allerdings haftete den Assoziationen seit

544 Vgl. die Einleitung des Vereins-Edikts vom 20. Oktober 1798, abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 63 f. 545 Zu Art. 13 DBA oben 7. Kapitel, III. 3.; zum Verfassungsversprechen in Preußen E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 290 ff. 546 H. Brandt, in: Gesellschaftliche Strukturen als Verfassungsproblem, Der Staat, Beiheft 2 (1978), S. 51 (53 ff.). 547 E.-W. Böckenförde, in: Recht, Staat, Freiheit, S. 244 (256). 548 J. Fallati, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1844, S. 737 ff.

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den Befreiungskriegen ein Hang zum Politischen an, der sich im Frühkonstitutionalismus noch verstärken sollte. Nachdem die Vereine im Kampf gegen Napoleon so erfolgreich mit der Erfüllung öffentlicher Aufgaben betraut worden waren, blieb der Sinn für das politische Gemeinwesen bestehen. Außerdem blühte das Vereinswesen durch das politisch erwachte Bürgertum auf, das weder in der alten Gesellschaftsordnung noch in den frühkonstitutionellen Verfassungen ausreichende Anerkennung gefunden hatte.549 Die Konsequenz war die Flucht in die freien Gesellschaften und Vereine, deren beschränkte Öffentlichkeit zunehmend zur Kundgabe auch kritischer politischer Stellungnahmen genutzt wurde.550 Die Vereine und Versammlungen dienten dazu, die Diskrepanz zwischen der sozialökonomischen Realität und der Verfassungs- und Gesellschaftsordnung aufzufangen. Beispiele sind der Tugendbund, die Burschenschaften, der Press- und Vaterlandsverein sowie die in großer Zahl entstehenden Turnvereine, in denen sich große Bevölkerungsgruppen über ihr vordergründiges Ziel (z. B. der körperlichen Ertüchtigung) hinaus zur Einheit und Freiheit bekannten.551 Nach der Julirevolution verdichtete sich die Organisation der Vereine mit politischer Interessensetzung und trotz verschiedener Repressionsmaßnahmen wirkten sie als sog. Wahlvereine an der Bestellung der Abgeordneten mit.552 Somit richtete sich das Vereins- und Versammlungswesen immer mehr gegen den Staat und wurde zum Instrument der politischen Opposition, deren verfassungsrechtliche Wirkungsmöglichkeiten begrenzt waren. Einen Höhepunkt dieser Entwicklung stellt das Hambacher Fest von 1832 mit seiner antimonarchischen republikanischen Zielsetzung dar.553 2. Eingeschränkte Geltungskraft Die Entfaltungsmöglichkeiten der Assoziationsfreiheit waren nicht nur durch die Unterdrückungsmaßnahmen der Reaktion auf Bundes- und Landesebene, sondern schon aufgrund des mangelnden verfassungsrechtlichen Schutzes begrenzt.

549

Zu den Differenzierungen nach Geburt vgl. oben 8. Kapitel, I. 3. b) aa). W. Hardtwig, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 336; H. Brandt, in: Gesellschaftliche Strukturen als Verfassungsproblem, Der Staat, Beiheft 2 (1978), S. 51 (55 ff.). 551 H. Brandt, in: Gesellschaftliche Strukturen als Verfassungsproblem, Der Staat, Beiheft 2 (1978), S. 51 (58 f.); vgl. insbesondere zum Tugendbund und zu den Burschenschaften J. Görres, Deutschland und die Revolution, S. 25 ff., 81 ff. 552 H. Brandt, in: Gesellschaftliche Strukturen als Verfassungsproblem, Der Staat, Beiheft 2 (1978), S. 51 (58 f.). 553 Vgl. dazu E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 133 ff. 550

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a) Unterdrückungsmaßnahmen des Bundes Der mächtige reaktionäre Flügel des Deutschen Bundes stand einem freien Assoziationswesen genau wie einer freien Presse skeptisch gegenüber. Nach dem reaktionären Staatsmodell sollte eine apolitische Gesellschaft die volle Entfaltung der monarchischen Macht ermöglichen. Freie Vereine und Versammlungen, die einen Anreiz zu politischer Diskussion und Organisation geben konnten, wurden daher abgelehnt und als gefährlich betrachtet. aa) Das Verbot der Burschenschaften durch die Karlsbader Beschlüsse Die Realisierung des reaktionären Staatsmodells wurde bald vor allem durch die Burschenschaften gefährdet. Die dort vereinigten Studenten setzen sich besonders für die Verwirklichung der Nationaleinheit Deutschlands und den Ausbau der Konstitutionalisierung, insbesondere der Freiheitsrechte ein.554 Damit verfolgten sie politische Ziele, die an den Grundfesten des Deutschen Bundes rüttelten. Die Ermordung Kotzebues bot der Reaktion Anlass, in § 3 des Bundes-Universitätsgesetzes nicht nur die geheimen und nichtautorisierten Verbindungen, sondern schlichtweg alle allgemeinen Burschenschaften zu verbieten. Dabei kam es vor allem darauf an, die „fortdauernde Gemeinschaft und Correspondenz zwischen den verschiedenen Universitäten“ zu unterdrücken.555 § 1 führte einen landesherrlichen Bevollmächtigten ein, dem dabei die strenge Überwachung der Universitäten oblag. Außerdem sollten Mitglieder verbotener Verbindungen künftig kein öffentliches Amt bekleiden dürfen und mussten gemäß § 4 von der Universität verwiesen werden. Unter Androhung folgenschwerer Sanktionen und durch strenge Überwachung sollte damit die Entstehung eines oppositionellen, sich über das gesamte Gebiet des Deutschen Bundes erstreckenden Netzwerkes verhindert werden. In der Folgezeit kam jedoch das freie Assoziationswesen nicht zum Erliegen, sondern wich auf außeruniversitäre Bereiche aus. Deutlich wird diese Tendenz am Hambacher Fest, das anders als das Wartburgfest nicht von den Burschenschaften, sondern vom Press- und Vaterlandsverein initiiert worden war. bb) Verbot aller politischen Vereine durch die Zehn Artikel Die Mobilisierung der Bevölkerung zur politischen Opposition, die durch das Hambacher Fest erfolgte, veranlasste den Bund zu weiteren Repressionsmaßnahmen gegenüber Vereinen und Versammlungen. Zur „Aufrechterhaltung der 554

Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 722 ff. § 3 des Bundes-Universitätsgesetzes, abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 101. 555

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gesetzlichen Ordnung und Ruhe im Deutschen Bunde“ wurden am 5. Juli 1832 die Zehn Artikel erlassen.556 § 2 bestimmte das Verbot aller politischen Vereine und gemäß § 3 durften keine außerordentlichen Volksfeste stattfinden, die es bislang noch nicht gegeben hatte. Auf erlaubten Volksfesten war die politische Rede strikt verboten. Außerdem wurde das öffentliche Tragen von Abzeichen und Ähnlichem untersagt (§ 4) und das Universitätsgesetz von 1819 wurde bestätigt (§ 5). Das Ziel der Zehn Artikel war es, jegliche politische Aktivität, die über das Individuum hinausging und in gesellschaftlicher Verbundenheit vollzogen wurde, im Keim zu ersticken. Problematisch war jedoch, dass die praktische Umsetzung der Artikel unlösbare Schwierigkeiten bereitete. Auch in Vereinen mit einer vordergründig unpolitischen Zwecksetzung konnte es – ob beabsichtigt oder nicht – zu politischer Aktivität kommen, sei es auch nur, dass Gespräche in Kleingruppen politische Inhalte hatten. Außerdem war die Klassifizierung eines Volksfestes als „außerordentlich“ unklar. Das Verbot wurde umgangen, indem sich viele Liberale zwar zu privaten, aber doch relativ großen Festen in ihren eigenen Räumlichkeiten trafen.557 Zudem blieb die Möglichkeit, auf die ordentlichen Volksfeste auszuweichen. Die Grenzen, wann eine dort öffentlich vorgetragene Rede als politisch galt, waren ebenfalls fließend.558 Zwar mochten die Wirkungsmöglichkeiten politischer Assoziationen illegal sein, sie waren jedoch vielfältig. Daher konnte auch das unbedingte Verbot aller politischen Vereine die Entwicklung von gesellschaftlichen Verbindungen mit politischem Bezug allenfalls vorübergehend einschränken, aber nicht dauerhaft unterdrücken. Vielmehr bewirkte die Repression, dass in der Bevölkerung die Ablehnung des Bundes immer größer wurde. b) Restriktives Landesrecht Ein freies Vereins- und Versammlungswesen war aber auch aufgrund landesrechtlicher Vorschriften nicht möglich. Bereits im Februar 1832, also noch vor dem Hambacher Fest, wurden in Württemberg die sog. Wahlvereine, welche „die Berathung landständischer Angelegenheiten, so wie die Belehrung der Abgeordneten oder Rücksprache mit denselben zum Zweck“ hatten, durch königliche Verordnung verboten.559 In diesem Verbot artikulierte sich die Auffassung, dass sich die Mitwirkungsbefugnisse der Bevölkerung im konstitutionellen Staat im bloßen Wahlvorgang erschöpfen sollten. Politische Vereine würden als stö556 Abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 134; E. Dross (Hrsg.), Quellen zur Ära Metternich, S. 184. 557 E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 135; N. Deuchert, Vom Hambacher Fest zur badischen Revolution, S. 191. 558 Vgl. dazu K. Welcker, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. I (Association), S. 733; H. Fenske, Der liberale Südwesten, S. 63.

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rendes, in der Verfassung nicht vorgesehenes Glied die Unabhängigkeit der Stände behindern.560 Dass es gerade der Zweck der Wahl sein könnte, die Mitglieder der Ständevertretungen in ein dauerhaftes Abhängigkeitsverhältnis zum Volk zu setzen, wurde ausgeschlossen. § 149 des Württembergischen Strafgesetzbuches stellte nicht nur die Mitgliedschaft in gesetzeswidrigen, sondern auch in solchen Verbindungen unter Strafe, welche die Sicherheit des Staates und die Ordnung gefährdeten.561 Letzteres wurde bereits bei einer Störung oder Gefährdung der öffentlichen Ruhe bejaht – Tatbestände, die bei der Zusammenkunft einer größeren Anzahl von Menschen leicht zu begründen waren.562 Das Landesrecht bot damit weit auszulegende Gründe für das Verbot von politischen Assoziationen. Trotzdem waren politische Vereine im Vergleich zum Bundesrecht zumindest nicht grundsätzlich verboten. Allerdings schuf das Landesrecht gegenüber den provisorischen Zehn Artikeln, die nur aufgrund „der gegenwärtigen Zeitverhältnisse und für die Dauer derselben“563 erlassen worden waren, eine dauerhafte Grundlage für das Verbot missliebiger Vereinigungen.564 Zur gleichen Zeit, in der das liberale Baden so leidenschaftlich um sein Pressegesetz kämpfte, wurde dort als Reaktion auf das Hambacher Fest das Verbot aller Vereine ausgesprochen, sofern sie nicht vom Staat genehmigt worden waren.565 Die liberale Opposition der zweiten Kammer setzte sich 1833 erfolgreich dafür ein, dass nur Vereine, die „die Sicherheit des Staats oder das allgemeine Wohl“ gefährdeten, aufgelöst werden konnten. Ein Genehmigungserfordernis sollte nur für politische Vereinigungen bestehen.566 Im Vergleich zum Bundesrecht hatten damit politische Vereine zumindest grundsätzlich ein Existenzrecht. Tatsächlich jedoch ermöglichte die weite Formulierung des Gesetzes – ähnlich wie in Württemberg – eine Unterdrückung fast aller Vereine mit politischem Bezug. Außerdem wurde durch das Genehmigungserfordernis die Grün559 Vgl. die Königliche Verordnung betreffend der Constituirung von Vereinen zu Berathung landständischer Angelegenheiten vom 21. Februar 1832, Königlich Württembergisches Staats- und Regierungsblatt, S. 39 f. 560 So König Wilhelm in der Einleitung der Verordnung, ebd., S. 39 f. 561 Vgl. dazu C.F. Hufnagel, Commentar über das Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg, Bd. 1, S. 359 ff. 562 R. von Mohl, Staatsrecht, S. 381. 563 Vgl. die Einleitung der Zehn Artikel, abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 134; E. Dross (Hrsg.), Quellen zur Ära Metternich, S. 184. 564 C. F. Hufnagel, Commentar über das Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg, Bd. 1, S. 363. 565 Großherzoglich-Badisches Staats- und Regierungsblatt 1832, S. 287 ff. 566 Großherzoglich-Badisches Staats- und Regierungsblatt 1832, S. 209 ff.; vgl. W. Hardtwig, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 336 (348); H. Brandt, in: Gesellschaftliche Strukturen als Verfassungsproblem, Der Staat, Beiheft 2 (1978), S. 51 (65).

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dungsfreiheit der Vereine aufgehoben, die sogar schon das Preußische ALR garantiert hatte. Damit waren die Freiräume im Assoziationsrecht, die das Landesrecht gegenüber dem Bundesrecht zusätzlich gewährte, unwesentlich. Auch in den Ländern wurde die Unterdrückung politischer und staatsgefährdender Verbindungen mit Argumenten untermauert, die an die absolutistische Staatsauffassung erinnerten: Das restriktive Assoziationsrecht wurde durch die öffentliche Sicherheit und das allgemeine Wohl gerechtfertigt. Die Tätigkeit politischer Vereine wurde als Usurpation der Staatsgewalt kritisiert, die in „unauflöslichen Verwickelungen und Gefahren“567 münde und sich nachteilig auf die ökonomischen und bürgerlichen Verhältnisse auswirke. Im Anspruch der gesellschaftlichen Verbindungen auf politische Mitsprache wurde außerdem eine Gefahr für die „Verfassung, der darin gegründeten Freiheit, der Sicherheit des Eigenthums, der Ruhe und Ordnung“ gesehen.568 Auch unter der frühkonstitutionellen Verfassung sollte die Bevölkerung daher soweit wie möglich in den Bereich des Unpolitischen gedrängt und ein Ausbau politischer Mitspracherechte verhindert werden. Daher stimmten Bund und Land in der Grundrichtung ihres Assoziationsrechts überein. c) Mangelnde verfassungsrechtliche Verankerung Anders als bei der Pressefreiheit kam es in Bezug auf die Assoziationsfreiheit nicht zu liberalen Landesgesetzen, die den Grundsätzen des Bundesrechts widersprachen. Es gab auch keine handfesten politischen Konflikte, die auf diesen Widersprüchen beruhten. Nun stellt sich die Frage, weshalb die Pressefreiheit bewirkte, dass liberale Bevölkerungsgruppen, Kammern und Länder in die offene Opposition zum Deutschen Bund traten, während die Freiheit der Assoziation nur selten problematisiert wurde. Anders als die Pressefreiheit war die Assoziationsfreiheit nicht zum zentralen Anliegen der Liberalen geworden, zum heiß diskutierten Schlagwort, das die gesamte Bevölkerung bewegte. Dabei war die freie Assoziation letztlich nichts anderes als ein Medium, das genau wie die Presse zur Artikulation der öffentlichen Meinung genutzt werden konnte. Spätestens nach dem Wartburgfest und dem Hambacher Fest war diese Funktion der Assoziation offen zu Tage getreten: So hatte der Großherzog Badens, Leopold, öffentliche Reden auf Versammlungen mit der Begründung verboten, dass die Wortführer „durch den Mißbrauch der Rede auf diejenigen einwirken möchten, welche für das geschriebene Wort weniger empfänglich sind“569. Dennoch spielte die Asso567

Großherzoglich-Badisches Staats- und Regierungsblatt 1832, S. 291. So der Großherzog Leopold, Großherzoglich-Badisches Staats- und Regierungsblatt 1832, S. 289. 568

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ziationsfreiheit in der Auseinandersetzung zwischen Liberalismus und Reaktion nur eine Nebenrolle: Die zweite Kammer Württembergs kritisierte zwar an einem restriktiven Entwurf der Regierung zum Assoziationsrecht vorsichtig, dass die Bevormundung des Bürgers als unvereinbar mit dem konstitutionellen Staat angesehen werden könnte, eine menschenrechtliche Argumentation mit der Assoziationsfreiheit erfolgte aber nicht.570 Stattdessen wurde in Baden das Verbot aller nicht genehmigten Vereine vom 1832 damit begründet, dass es nach der Badischen Verfassung eben keine verfassungsrechtlich verbürgte Vereins- und Versammlungsfreiheit gebe, die dem Verbot entgegenstehen könnte.571 Schon dem Begriff der Assoziationsfreiheit, der ohnehin nur selten benutzt wurde, fehlte es an der politisierenden Brisanz, die der Pressefreiheit innewohnte. Eine Forderung nach Assoziationsfreiheit, die von weiten Kreisen der Gesellschaft getragen war, kam nicht zustande. Das mangelnde Bewusstsein für die Assoziationsfreiheit kann auf die fehlende verfassungsrechtliche Verankerung zurückgeführt werden. Anders als die Pressefreiheit war sie der Bevölkerung nie versprochen worden. Der Begriff der Assoziationsfreiheit wurde dem Volk nicht durch die Verfassung vor Augen gehalten. Auch bot die Verfassung der Staatsrechtslehre keinen unmittelbaren Anknüpfungspunkt, die Assoziationsfreiheit als angeborenes, unveräußerliches Menschenrecht auszulegen. Für die liberale Opposition war sie, solange sie in den Verfassungstexten fehlte, nur ein unscharfes Argument. Folglich blieben für die Assoziationsfreiheit wichtige Wirkungsmöglichkeiten schon dadurch verschlossen, dass sie nicht als Staatsbürgerrecht in die Verfassungen eingezogen war. d) Festhalten der Romantik an ständestaatliche Grenzen In der Verbandslehre der Romantik blieb die freie Assoziation zudem in den Grenzen ständestaatlicher Relikte gefangen. Die Romantiker hielten in modifiziertem Umfang an den herkömmlichen Korporationen fest und glaubten, dass das Individuum nur innerhalb dieser seine wahre Freiheit finden könne. Dabei sollten die fixen Teilverbände ein Mittel gegen die Übermacht des Staates darstellen und einer Bevormundung seitens des Deutschen Bundes entgegenwirken. Die Freiheit der modernen Assoziation wurde aber weder in positiver noch in negativer Hinsicht geschützt.572

569

Großherzoglich-Badisches Staats- und Regierungsblatt 1832, S. 288. Vgl. C. F. Hufnagel, Commentar über das Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg, Bd. 1, S. 361. 571 Großherzoglich-Badisches Staats- und Regierungsblatt 1832, S. 290. 572 Vgl. dazu ausführlich F. Müller, Korporation und Assoziation, S. 130 ff., 140. 570

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Friedrich Julius Stahl erkannte zwar neben der Korporation die freie Assoziation, die der beliebigen Verfolgung eines selbstgewählten Zweckes dienen soll, grundsätzlich an.573 Größere Bedeutung maß er aber der fixen Korporation zu, deren Macht sich auf den gesamten Lebensbereich ihrer Mitglieder erstreckte. Stahl hielt insoweit am Ständestaat fest und glaubte, dass die Korporation für den Wohlstand, die politische Bedeutsamkeit und die Ehrenhaftigkeit eines jeden Standes unentbehrlich sei.574 Allerdings nahm er eine Modifizierung der überkommenen Stände- und Zunftordnung vor, hatte er doch in den Zeiten der Revolution erkannt, dass „die frühere Macht der Genossenschaften über die Glieder der Lockerung bedurfte“575. Deshalb sollten die Verbände nicht mehr monarchisch patrimonial oder geburtsaristokratisch sein, sondern in den „Banden der Gemeindlichkeit“ begründet sein. Trotzdem blieb eine korporative Verbandsordnung erhalten, der das Individuum unterlag und durch die es in seiner freien Assoziation gehindert wurde. Es kam Stahl gerade darauf an, dass nicht „im Sinne der Revolution alle innere Gliederung“576 des Staates abgeworfen werde. Letztlich bedeuteten die Gliederungen aber Grenzen, die bei der Bildung freier Vereine und Versammlungen nicht überschritten werden konnten. Das Festhalten am korporativen Ständestaat war aber aufgrund der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen überholt und nicht mehr zeitgemäß.577 Hier vermochte auch die Modifizierung und versuchte Anpassung der herkömmlichen Ordnung nicht zu helfen. Schon theoretisch war schwer zu ermitteln, was z. B. mit Zusammenschlüssen zu „in gewissem Sinne republikanischen“ Sozialverbänden gemeint sein sollte, die zugleich auf dem Land „an den großen Großgrundbesitzern“ und in der Stadt „sowohl an den städtischen Magistraten als an den Begüterten und den Hervorragenden in jedem Gewerbe“ einen Schwerpunkt haben und daher „vielleicht die ächte Staatskunst“578 darstellen sollten. Die praktische Umsetzbarkeit solcher Vorstellungen musste unmöglich erscheinen. Dennoch waren die von der Romantik konservierten ständestaatlichen Elemente der Entwicklung eines freien Assoziationswesens zunächst ein Hindernis.

573 574 575 576 577 578

Philosophie des Rechts, Bd. 2, 2. Abtheilung, S. 65. Ebd., S. 66. Ebd., S. 65. Ebd., S. 67. So auch F. Müller, Korporation und Assoziation, S. 141. F. J. Stahl, Philosophie des Rechts, Bd. 2, 2. Abtheilung, S. 68.

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

e) Skepsis gegenüber Teilverbänden im Staat Die gleichen Gründe, aus denen die Romantik am Ständestaat mit seinen Korporationen und Genossenschaften festhalten wollte, veranlassten quasi spiegelbildlich zur Skepsis gegenüber jeglichen Teilverbänden im Staat. Die Landesfürsten wollten eine Wiederbelebung des Ständestaats auf Kosten der monarchischen Souveränität verhindern und waren gegen alle Vereinigungen, die an ihrer Stelle etwa eine Gerichtsbarkeit oder Strafgewalt über ihre Mitglieder ausübten.579 Ebenso standen die Anhänger der Französischen Revolution auch in Deutschland allen Teilverbänden ablehnend gegenüber, war doch die alte Ordnung mit all ihren als ungerecht empfundenen Untergliederungen gerade erst überwunden worden. Zunächst ging es darum, die staatsbürgerliche Gleichheit zu verwirklichen und Abstufungen innerhalb der Bevölkerung zu egalisieren.580 Dass ein freies Assoziationswesen die Realisierung dieser Ziele voraussetzte und für die individuelle Freiheit eher förderlich als hemmend wirkte, wurde auch in Deutschland nicht sofort erkannt. 3. Zukunftsweisende Funktion Auch wenn die Assoziationsfreiheit noch nicht in die frühkonstitutionellen Verfassungstexte vorgedrungen war, so entwickelte diese im deutschen Vormärz eine Funktion, die für die weitere Grundrechtsentwicklung zukunftsweisend war. a) Gesellschaftliche Dynamik Zunächst boten auch die einfachgesetzlichen Freiräume für Assoziationen eine hervorragende Möglichkeit, die Schranken der veralteten Ständeordnung aufzubrechen. Es entstand eine gesellschaftliche Dynamik, wenn sich zur Verfolgung eines bestimmten, partiellen Zweckes Bevölkerungsgruppen zusammenfanden, die zuvor durch Standesgrenzen und Korporationen voneinander getrennt gewesen waren. Diese Dynamik entsprach zudem den wirtschaftspolitischen Erfordernissen. Allerdings führte das „freie Spiel der Kräfte“ innerhalb der Gesellschaft und Wirtschaft insgesamt auch zu einer langsam einsetzenden Pauperisierung unterer Bevölkerungsschichten, die zuvor in den schützenden Fängen der alten Ständeordnung aufgefangen worden waren.581 Deshalb kam es dem Staat entgegen, dass sich insbesondere kirchliche Vereine dieses Problems

579 Vgl. zur Auffassung des Großherzogs Leopold, Großherzoglich-Badisches Staatsund Regierungsblatt 1832, S. 290. 580 Vgl. F. Müller, Korporation und Assoziation, S. 84 f.; zur Vereinsfeindlichkeit Rousseaus vgl. oben 8. Kapitel, VI. 1. c). 581 Vgl. oben 7. Kapitel, II. 1.

VI. Die Assoziationsfreiheit

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annahmen und wohltätige Zwecke verfolgten.582 Insoweit nutzte die Bildung freier Vereine auch dem Staat. b) Die Assoziationsfreiheit in der liberalen Staatsrechtslehre Obwohl sie in den Verfassungen nicht ausdrücklich genannt war, wurde die Assoziationsfreiheit zum festen Bestandteil der Grundrechtskataloge in der liberalen Staatsrechtslehre, die sich verschiedener Ableitungsmöglichkeiten bediente. aa) Assoziation als individuelle, persönliche Freiheitsausübung Zunächst wurde die Assoziationsfreiheit als individuelles Freiheitsrecht verstanden. (1) Ableitung aus der naturrechtlichen Freiheit der Person Als Ausgangspunkt wurde das liberale Verständnis der Freiheit der Person genommen.583 Wie bereits dargestellt584, wurde diese umfassend verstanden und zu einer geschlossenen Freiheitssphäre ausgedehnt. Wenn aber alles, was nicht verboten war, zur Freiheit der Person gehörte, so musste es auch die Freiheit geben, sich mit anderen zu vereinigen und zu versammeln. Deshalb sah Jordan die Freiheit der Einigung als „Ausfluß der Freiheit der Person und des in dieser enthaltenen Rechtes des freien Gebrauchs der physischen und geistigen Kräfte zur Realisierung der Selbstzwecke“ an, die sich auch ohne verfassungsrechtliche Zusicherung von selbst verstehe.585 Außerdem wurde argumentiert, dass die Ausübung bestimmter Tätigkeiten, die grundsätzlich erlaubt seien, nicht dadurch rechtswidrig würden, dass sie in Vereinigung mit anderen erfolgten.586 Die Staatsrechtslehre leitete damit eine nur auf das Individuum bezogene, eher naturrechtlich als verfassungsrechtlich begründete Assoziationsfreiheit ab. Unterstützt wurde diese Argumentation mit dem Hinweis darauf, dass es gerade in der Natur des Menschen liege, sich mit anderen zu vereinigen und zu verbinden.587 Unter den denkmöglichen Tätigkeiten, die die naturrechtlich ausgelegte persönliche Freiheit dem Einzelnen eröffnete, musste demnach ge582

F. Müller, Korporation und Assoziation, S. 255. S. Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 441 f.; K. Welcker, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. I (Association), S. 733 f.; vgl. auch F. Müller, Korporation und Assoziation, S. 260 m. w. N. 584 Vgl. oben 8. Kapitel, II. 4. c). 585 Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 441. 586 K. Welcker, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. I (Association), S. 732 f.; S. Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 442. 583

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

rade die Assoziation geschützt sein. Problematisch war nur, dass es gerade nicht die naturrechtliche Vorstellung vorstaatlicher Freiheiten war, die als Konzept hinter der verfassungsrechtlichen Gewährung der frühkonstitutionellen Grundrechte stand. (2) Ableitung aus dem positivem Verfassungsrecht Die Verfassung selbst nahm zur Begründung der Assoziationsfreiheit lediglich Robert von Mohl als Ausgangspunkt: Zur in § 24 der Württembergischen Verfassung zugesicherten Denkfreiheit gehöre auch das Recht, „seine Gedanken über jeden beliebigen Gegenstand mündlich gegen jeden, der freiwillig zuhören will, zu äußern; . . .“588. Folglich müsse dem Individuum das Recht zustehen, seine Gedanken auch vor Zuhörern im Rahmen einer Versammlung kund zu tun. Denn es könne „dem Redner deswegen, weil der Zuhörer viele sind, dass Wort nicht untersagt werden.“589 Somit falle unter den Schutz der Denkfreiheit auch das Recht, sich zumindest als Zuhörerschaft frei zu versammeln. Die Versammlung erfuhr dadurch als Ort der Kommunikation immerhin mittelbaren Schutz. Es stand dabei jedoch eher die passive Funktion der Versammlung als Zuhörerschaft im Vordergrund und der eigenständige Wert der Versammlung selbst wurde nicht erkannt. Es konnte Mohl daher nicht gelingen, eine umfassende Assoziationsfreiheit aus dem positiven Verfassungsrecht abzuleiten. Wenn es eine solche hätte geben sollen, hätte sie in der Verfassung selbst ausdrücklich neben den übrigen Staatsbürgerrechten gewährt werden müssen. Im Ergebnis bleibt jedoch festzuhalten, dass in der liberalen Staatsrechtslehre das Recht der freien Vereinigung und Versammlung als Grundrecht anerkennt wurde, das aus der individuellen Ausübung der naturrechtlich gedeuteten persönlichen Freiheit oder aus der positiv gewährten Denkfreiheit resultierte. bb) Vorteile für den Staat Außerdem versuchte die Staatsrechtslehre, von der Annahme einer nicht verfassungsrechtlich verbrieften, aber politisch gewünschten Assoziationsfreiheit zu überzeugen, indem sie auf die Vorteile der Assoziation für den Staat hinwies. Nach Jordan war die Freiheit der Einigung nicht nur Ausprägung der individuellen Freiheit, sie war auch für den Staat „sehr zweckmäßig und rathsam“590. 587 K. Welcker, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. I (Association), S. 732; vgl. auch W. Hardtwig, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 336 (352). 588 Staatsrecht, S. 352. 589 Ebd., S. 353. 590 Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 441.

VI. Die Assoziationsfreiheit

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Deshalb solle der Staat, „weil durch Vereinigung in geistiger und physischer Hinsicht mehr und nachdrücklicher gewirkt werden kann, als durch vereinzeltes Handeln, [. . .], die Vereine, als ein vorzügliches Mittel zur Vermehrung des Wohlstandes und der Volksbildung, sohin auch als Mittel zur eigenen Vervollkommnung, nach Kräften befördern.“591 Auch Welcker war von den positiven Auswirkungen der Vereinsbildung auf Religion, Moral, Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft überzeugt. Deshalb versuchte er, die Assoziationsfreiheit auf eine besondere Ebene zu heben: Seiner Meinung nach gab es „kein wichtigeres und heiligeres“ Recht, das der persönlichen Freiheit entspringe.592 cc) Politische Bedeutung der Assoziation Darüber hinaus erhielt die Freiheit der Assoziation eine politische Bedeutung. (1) Als subjektives, individuelles Freiheitsrecht, das in die Sphäre des Politischen hineinreicht Die besondere Hervorhebung der Assoziationsfreiheit bei Welcker hatte einen weiteren Grund: In die bereits genannten positiven Auswirkungen der Assoziationsfreiheit reihte Welcker auch die Förderlichkeit für die „politische Ausbildung“ ein.593 Damit dienten freie Vereinigungen und Versammlungen auch dazu, dass sich die Teilnehmer mit politischen Themen befassten, diese diskutierten und eigene Positionen dazu herausbildeten. Die Ausübung der natürlichen Freiheit, für die dem Staat zunächst nur Schranken gesetzt werden sollten, begann damit in die Sphäre des Staates hineinzuwirken und den Sinn für das öffentliche Leben zu wecken.594 Besonders deutlich wird das bei Mohl, der betonte, dass Vereinen „namentlich die Beschäftigung mit Staatsangelegenheiten“ keineswegs untersagt sein solle.595 Vereine durften demnach auch politische Zwecke verfolgen, denn ein wünschenswertes „kräftiges politisches Leben“596 sei nur in Übereinstimmung mit dem Bürger möglich. Voraussetzung für die Übereinstimmung aber war, dass der Bürger die Möglichkeit hatte, sich politisch zu informieren und sich so eine eigene Auffassung zu bilden. Dazu waren Vereinigungen unentbehrlich. Auch nach Welckers Idealbild vom Staat sollte der Bürger nicht vom öffentlichen und politischen Leben abgeschirmt 591

Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 442. K. Welcker, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. I (Association), S. 734. 593 K. Welcker, ebd., S. 733. 594 J. Fallati, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1844, S. 737 (745); F. Müller, Korporation und Assoziation, S. 258. 595 Staatsrecht, S. 380. 596 Ebd., S. 378; vgl. auch H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 184. 592

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

sein, sondern „allein und in Vereinen aller Art mit dem Fürsten und den Ständen des Landes zu dem gemeinschaftlichen Gesamtzweck, . . . frei und wetteifernd zusammenwirken“597. Politik sollte künftig nicht mehr allein von der Regierung ausgehen, sondern das Ergebnis einer Wechselbeziehung zwischen Bürgern und Regierung sein. Die Bürger nahmen somit am Staat teil, der so ein „lebendiges Ganzes“ werden sollte.598 Die frühkonstitutionelle Staatsrechtslehre kannte daher nicht nur Abwehrrechte im status negativus, sondern arbeitete – losgelöst von den Verfassungstexten – individuelle Freiheitsrechte heraus, die auf politische Mitwirkung abzielten. (2) Als objektives Element, das die Repräsentativverfassung voraussetzt Sobald aber die freie Assoziation auf die politische Ebene gehoben worden war, trat ihre konstituierende Bedeutung für die politische und geistige Kommunikation im konstitutionellen Staat hervor. Neben die individualrechtliche Begründung trat daher die Herleitung als objektives Rechtsprinzip.599 Dabei konnte sich die Staatsrechtslehre zwar nicht auf den Wortlaut einer einzelnen Norm, wohl aber auf das System der frühkonstitutionellen Verfassungen als Ganzes berufen. Letztlich setze die Repräsentativverfassung freie Vereinigungen voraus, die auch politische Zwecke verfolgten.600 Allein die Mitwirkungsbefugnisse, die dem Volk durch die Wahlen der Ständevertretung eingeräumt worden waren, erforderten ein gewisses Maß an politischer Assoziation. Schon die Formulierung gemeinschaftlicher Petitionen war ohne Assoziation nicht möglich.601 Vor allem aber die Bestellung der Abgeordneten und die Durchführung der mittelbaren Wahl konnte nicht ohne Versammlungen mit politischem Bezug erfolgen. Außerdem waren die Abgeordneten durch ihre Wahl vom politischen Willen des Volkes abhängig. Die Erfassung dieses Willens, z. B. bei einem Besuch des Abgeordneten, konnte ohne zumindest kurzzeitige Vereine und Versammlungen mit politischem Bezug nicht erfolgen. Letztlich waren auch die Ständevertretungen nichts anderes als politische Versammlungen „in verkleinertem 597

K. Welcker, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. I (Association), S. 734. Ebd., S. 734. 599 Vgl. U. Schwäbele, Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, S. 30; W. Hardtwig, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 336 (354). 600 K. Welcker, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. I (Association), S. 734; H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 130. 601 H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 184; R. von Mohl, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1846, S. 451 (487 f.). 598

VI. Die Assoziationsfreiheit

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Maßstabe“602. Da ihre Öffentlichkeit in den Verfassungen vorgeschrieben war603, konnte jeder Bürger zumindest passiv daran teilnehmen.604 Folglich stand eine völlige Unterdrückung der Assoziationsfreiheit aufgrund ihrer objektiven Funktion in einem Widerspruch zu den frühkonstitutionellen Verfassungen selbst. (3) Als politisch postulierte Kompensation, Ersatzfunktion In der liberalen Staatsrechtrechtslehre wurde die objektiv politische Funktion der Assoziationsfreiheit großzügig ausgelegt und genau wie die Pressefreiheit auf ein Maß ausgeweitet, das über die Verfassungsform der frühkonstitutionellen Monarchie hinausging. Zunächst wurde den freien Vereinigungen und Versammlungen eine Kontrollfunktion gegenüber der Regierung zugestanden, wobei sie den Schutz der staatsbürgerlichen Rechte besonders fördern sollten.605 Vor allem Mohl sah in der Vereinigung eine kollektive Rechtsschutzmöglichkeit: Innerhalb eines Rechtsstaates müssten die privaten und staatsbürgerlichen Rechte geschützt werden. Wenn nun die Kräfte des Einzelnen dazu nicht ausreichten, sei es zwar eine wichtige, aber keineswegs exklusive Aufgabe des Staates, sich schützend vor diese Rechte zu stellen.606 Es könnten auch freie Vereine an seiner Stelle tätig werden. Folglich kompensierte die Assoziationsfreiheit den mangelnden Rechtsschutz der frühkonstitutionellen Verfassungen und übernahm somit genau wie die Pressefreiheit eine Ersatzfunktion. Die Landesfürsten lehnten zwar eine solche Funktion der Assoziation mit der Begründung ab, dass die Rechtsschutzmöglichkeiten über die Stände ausreichten607, die Mehrheit der Staatsbürger jedoch, deren Rechte täglich gefährdet waren, konnte das nicht überzeugen. Außerdem waren die Assoziationen, sobald sie politisch waren, ein Mittel zur Bildung der öffentlichen Meinung. An dieser sollte sich die Ausübung der Staatsgewalt grundsätzlich orientieren608 – eine Annahme, die nicht nur zu dem Staatsmodell der Reaktion im Widerspruch stand, sondern auch bei neutraler Betrachtung der frühkonstitutionellen Verfassungen wohl kaum mit dem dort proklamierten monarchischen Prinzip vereinbar war. Die Begründung der Asso602

F. Schmitthenner, Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts, S. 578. Vgl. § 167 VU Württemberg; Art. 100 VU Hessen. 604 Vgl. dazu E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 344. 605 K. Welcker, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. I (Association), S. 734; R. von Mohl, Staatsrecht, S. 378; vgl. auch W. Hardtwig, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte S. 336 (354). 606 Staatsrecht, S. 377. 607 So Großherzog Leopold, Großherzoglich-Badisches Staats- und Regierungsblatt 1832, S. 291. 608 Vgl. oben 8. Kapitel, V. 4. c) cc). 603

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

ziationsfreiheit wies damit bereits Argumente auf, die den demokratischen Staat vorbereiteten, in dem die öffentliche Meinung der politischen Willensbildung zu Grunde liegt und als mächtige Kontrollinstanz fungiert. dd) Praktische Bedeutung für die bestehende Ordnung Die liberale Staatsrechtslehre hatte somit die Erforderlichkeit und Nützlichkeit einer Assoziationsfreiheit nachgewiesen, die bislang eher politisches Postulat und in der bestehenden Ordnung nicht zu realisieren war. Die Konsequenz war – genau wie bei der Pressefreiheit – eine kritische Haltung gegenüber dem derzeitigen System. Zurückhaltend war sie bei Jordan formuliert, der die verfassungsmäßige Festsetzung der Assoziationsfreiheit als „sehr zweckmäßig und rathsam“609 anmahnte. Welcker ging einen Schritt weiter und führte das Verbot von Assoziationen auf „eine kleinliche Angst, bedauernswerte Regierungsunfähigkeit oder Argwohn und Willkür des Despotismus“ zurück.610 Zwar handelte es sich hierbei um eine allgemein formulierte Aussage, aber in dem Wissen um das Verbot aller politischen Vereine durch den Deutschen Bund im Jahre 1832 wird deutlich, dass genau dieser sowie in ihrer restaurativen Haltung mit dem Bund übereinstimmende Länder Objekt der Kritik sein sollten. c) Politisierende Funktion Die politisierende Funktion der Assoziationsfreiheit beruhte nicht nur darauf, dass ihre Behandlung in der Staatsrechtslehre eine versteckte Kritik an der bestehenden Ordnung transportierte. Entscheidender noch waren die Auswirkungen der Assoziationen in der Realität: Die freien Vereine boten nicht nur dem kritischen, selbst denkenden Bürgertum einen Wirkungsort. Gleichzeitig waren sie eine Stätte, wo der Einzelne sich informieren und mit politischen Denkprozessen vertraut machen konnte. Die Kommunikation innerhalb der Assoziation bildete zum eigenständigen politischen Denken aus – eine Fähigkeit, die gleichzeitig als Voraussetzung der repräsentativen Verfassungen gesehen wurde.611 Anders als im Absolutismus waren die Vereine nicht mehr verlängerter Arm des Staates, sondern sie wurden zur oppositionellen Kraft.612 Besonders deutlich wird das am Hambacher Fest, das der Preß- und Vaterlandverein organisiert hatte. Aber auch darüber hinaus gab es zahlreiche kleinere Volksfeste mit politischem Bezug.613 In Baden bildeten sich zudem ab 1842 zahlreiche Ver609

Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 441. K. Welcker, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. I (Association), S. 733. 611 Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 3, S. 258. 612 Vgl. dazu ausführlich W. Hardtwig, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 336 ff. 610

VI. Die Assoziationsfreiheit

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sammlungen, die in Form von Adressen ihre Sympathie zur oppositionellen zweiten Kammer betonten.614 Dabei wurde auch die Möglichkeit, an den öffentlichen Landtagssitzungen teilzunehmen, weitestgehend ausgenutzt. Vor allem das Bürgertum, dessen Anspruch auf politische Mitwirkung in der Verfassung nicht berücksichtigt worden war, suchte in den Vereinen eine Wirkungsmöglichkeit. Zu Zusammenkünften im neuen Stil kam es am Vorabend der Märzrevolution durch die Offenburger und Heppenheimer Versammlungen, die der Formulierung politischer Programme dienten.615 Mit Erstarken der Opposition hatte sich diese in einen radikalen und einen gemäßigten Flügel gespalten. Während Letzterer sich im Heppenheimer Programm zur Pressefreiheit und zu den Grundsätzen des Rechtsstaats bekannte, nahmen die Radikalen in das Offenburger Programm neben anderen Freiheitsrechten auch die Vereins- und Versammlungsfreiheit auf. Trotz dieser inhaltlichen Unterschiede wurde die Assoziation von beiden Flügeln der Opposition dazu genutzt, als Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft die politische Auffassung der Gesellschaft mit größtmöglicher Wirkung auf den Staat zu artikulieren. d) Beurteilung der Funktion der Assoziationsfreiheit vor dem Hintergrund der mangelnden verfassungsrechtlichen Verankerung Versucht man, die Assoziationsfreiheit vor dem Hintergrund ihres Fehlens in den Verfassungen zu beurteilen, so liegt darin spiegelbildlich zugleich ein Urteil über den Wert der verfassungsrechtlichen Verankerung selbst. Einerseits fehlte es der Assoziationsfreiheit gegenüber der Pressefreiheit an politischer Brisanz, übte sie doch keine Erinnerungsfunktion aus, die der Bevölkerung ihre enttäuschten Hoffnungen stetig vor Augen hielt. Deshalb war die Vereinigungsund Versammlungsfreiheit in der Gesellschaft zwar keine so zentrale Forderung wie die Pressefreiheit. Dafür aber wurde die Unterdrückung von Assoziationen seitens der Reaktion nicht mit dem gleichen Aufwand und der gleichen Energie betrieben, wie es bei der Presse der Fall war. Gefördert wurde die Entwicklung freier Vereinigungen vor allem durch die tatsächlichen Bewegungen in Gesellschaft und Wirtschaft. Die Bildung von Assoziationen konnte weder verboten noch wirksam beaufsichtigt werden, so dass auch ein politischer Bezug eben dieser in der Praxis nicht wirksam unterdrückt werden konnte. Zudem hatte die Staatsrechtslehre die Assoziationsfreiheit als Folge der individuellen Freiheit bzw. der Repräsentativverfassung theoretisch 613 Eine Aufzählung einzelner Volksfeste findet sich bei E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 135. 614 N. Deuchert, Vom Hambacher Fest zur badischen Revolution, S. 187 ff. 615 Vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 448 ff.; ein Abdruck der Programme findet sich bei dems. (Hrsg.), Dokumente I, S. 323 (Offenburg), S. 324 (Heppenheim).

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8. Kap.: Die frühkonstitutionellen Grundrechte

begründet und mit Verfassungsrang versehen. Die naturrechtliche Herleitung der Assoziationsfreiheit wurde zum Ersatz für die mangelnde verfassungsrechtliche Positivierung. Spätestens hier wird deutlich, dass für die beschränkte Geltungskraft der frühkonstitutionellen Grundrechte nicht mehr das enge Freiheitsverständnis des frühneuzeitlichen Naturrechts verantwortlich gemacht werden kann. Gerade die Assoziationsfreiheit wurde durch ein umfassendes naturrechtliches Freiheitsverständnis nicht nur gefördert, sondern geradezu begründet. Die modernen naturrechtlichen Ideen der umfassenden Menschenrechte, die im gewaltengeteilten, auf Volksouveränität beruhenden Staat besonders geschützt wurden, waren zur Zeit des Frühkonstitutionalismus in Deutschland daher nicht nur bekannt, sondern sie wurden losgelöst von den Verfassungstexten als Quelle für die individuellen Freiheitsrechte herangezogen. Damit wurde die Assoziation, obwohl sie selbst in der Realität keinen Grundrechtsrang hatte, zum Mittel, zum Staat in Opposition zu treten und einen besseren Grundrechtsschutz sowie ein ausgedehntes Grundrechtsverständnis zu fordern. Deshalb wohnte auch der einfachgesetzlichen Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eine wegweisende Funktion inne: Zum einen wies sie als Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft auf den demokratischen Rechtsstaat, in dem die Freiheitsrechte einen besonderen Schutz erfuhren. Und zum anderen eröffnete sie sich damit selbst ihren eigenen Weg in die Verfassungstexte.

9. Kapitel

Geltungskraft und Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte Maßgeblich für die Bedeutung der frühkonstitutionellen Grundrechte in der deutschen Verfassungsgeschichte ist ihre Funktion. Deshalb muss unter Berücksichtigung der von Einzelgrundrecht zu Einzelgrundrecht variierenden Geltungskraft eine Gesamtbewertung vorgenommen werden. Erst diese kann Auskunft über den Freiraum geben, der für das Individuum durch die erste Positivierung von Grundrechten auf deutschem Boden entstanden ist. Dabei sind die frühkonstitutionellen Grundrechte in ihrer Abhängigkeit von und in ihrer Bedeutung für die weitere verfassungsrechtliche Entwicklung zu betrachten. Ursprünglich waren die Wirkungsmöglichkeiten der frühkonstitutionellen Grundrechte genau wie die Verfassungen durch die Motive des Monarchen geprägt, die hinter dem Eingehen der konstitutionellen Bindung standen. Deshalb sollten sie vor allem dem Monarchen nutzen und seine Machtposition ausbauen. Als einseitige Gewährungen sollten die Grundrechte unpolitisch sein und das monarchische Prinzip nicht in Frage stellen. Sobald die Grundrechte jedoch verfassungsrechtlich verbrieft waren, entwickelten sie eine Eigendynamik und ihre Wirkungen gingen über die Absichten des Monarchen hinaus. Diese Eigendynamik und der damit verbundene Bedeutungsgewinn beruhten auf verschiedenen Faktoren, die bereits bei den Entstehungsbedingungen der Grundrechte erläutert worden sind. Der verdichtete Freiheitsbegriffs des deutschen Naturrechts, der Eindruck der Französischen Revolution, das Freiheitsstreben des wirtschaftlich erstarkten und nach den Befreiungskriegen auch politisch interessierten Bürgertums sowie der wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel im aufgeklärten Absolutismus und im Rheinbund standen als Wegbereiter der Grundrechte in einem wechselseitigen Bezug zueinander. Im Vormärz, nachdem die Grundrechte in die Verfassungstexte eingezogen waren, hörte die freiheitsfördernde Wirkung der Grundrechtsvoraussetzungen nicht auf, sondern begann sich aufgrund der damaligen Stimmung erst richtig zu entfalten. Außerdem waren die Grundrechte keine abstrakte Idee mehr, sondern aufgrund ihrer verfassungsrechtlichen Verankerung Gegenstand des Staatsrechts. Deshalb konnte die liberale Staatsrechtslehre die Ideen des Naturrechts mit dem Freiheitsstreben der gesamten Bevölkerung verbinden und den Grundrechten eine hohe Bedeutung zumessen. Ihre Vertreter traten dabei

314

9. Kap.: Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte

nicht nur theoretisch, sondern auch in der Praxis z. B. als Mitglieder der Ständevertretungen im politischen Kampf für die Grundrechte ein. Die Eigendynamik der frühkonstitutionellen Grundrechte war daher das Resultat der sich weiterentwickelnden Entstehungsvoraussetzungen. Dabei bot die verfassungsrechtliche Positivierung für die liberale Staatsrechtlehre einen Anknüpfungspunkt, die verschiedenen Argumente für die Grundrechte zu bündeln und auf eine Ausdehnung hinzuarbeiten.

I. Stützfunktion für die Monarchie Die frühkonstitutionellen Grundrechte konnten nur deshalb in die Verfassungen einziehen, weil der Monarch sie einseitig gewährte. Nur im Falle Württembergs ließ sich der Monarch in Verhandlungen mit den Ständen auf eine verfassungsrechtliche Grundrechtsbindung ein.1 Der unmittelbare Zweck hinter den Grundrechten ist daher in den Absichten des Monarchen zu finden. Sie sollten in erster Linie der Festigung und Absicherung seiner Herrschaft dienen. Den Anstoß für die Grundrechte gaben also keine tieferen naturrechtlichen Überzeugungen, sondern dynastische Erwägungen.2 Damit eigneten sich die Landesfürsten die Menschenrechtsidee an, zehrten aber gleichzeitig deren Substanz auf, indem sie die Menschenrechte aus Eigennutz um ihren wesentlichen Teil beschnitten: Sie kamen der Freiheitsforderung nur so weit entgegen, wie es ausreichte, um revolutionäre Bestrebungen zu verhindern.3 Als Kompensation für politische Freiheit wurden lediglich bürgerliche Freiheiten gewährt, die mit dem monarchischen Prinzip vereinbar sein sollten. Die Grundrechte waren insoweit lediglich Ausdruck der „Reformbestrebungen von oben“4, denen es an Pathos fehlte. Dabei profitierten die Monarchen von den Vorteilen der Grundrechte für die wirtschaftliche Entwicklung. Durch die sog. „Staatsbürgerrechte“ wurde der Adel mit den Bürgern und Bauern auf eine Stufe in einen allgemeinen Staatsbürgerstand gestellt. Über diesem vereinigten Untertanenverband thronte der Monarch, dessen Machtposition besonders hervorgehoben und für den Adel unerreichbar wurde.5 Die Position des Monarchen innerhalb der konstitutionellen Monarchie sollte also gestützt werden. Für die Grundrechtsentwicklung hatte das nicht nur den Nachteil, dass die gewährten Freiheitsrechte inhaltlich begrenzt waren. Zusätzlich bewirkte das Entgegenkommen des Monarchen ein 1

Vgl. oben 7. Kapitel, IV. K. Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland, S. 14 f.; H. Brandt, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 460 (464). 3 R. Wahl, Staat 18 (1979), S. 321 (344). 4 D. Grimm, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 359 (368). 5 Vgl. oben 8. Kapitel, I. 3. a) aa). 2

II. Abwehrfunktion

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Aufzehren der revolutionären Energien, die eine Menschenrechtserklärung nach französischem Vorbild hätten fordern können. Die vom Monarchen stark begrenzten Grundrechte sollten nämlich gleichzeitig dazu dienen, die Freiheitsforderungen zu entschärfen und ihre eigene Ausdehnung zu verhindern.

II. Abwehrfunktion Anders als in Nordamerika und Frankreich sollten die frühkonstitutionellen Grundrechte nicht den Ausgangspunkt des neu zu schaffenden freiheitlichen Staates bilden, sondern sie wurden als konstitutionelle Elemente in die bisherige Staatsordnung eingefügt. Deshalb stand ihre objektive Bedeutung als Grenze der bestehenden Herrschaftsmacht im Vordergrund.6 Durch die Grundrechte wurde ein erster staatsfreier Bereich individueller Entfaltung geschaffen, der dem Zugriff des Herrschers entzogen sein sollte.7 Der Zweck der Grundrechte wurde darin gesehen, „dieselben gegen Eingriffe der Regierungs- oder auch der richterlichen Gewalt, welche durch die Idee des Staates nicht gerechtfertigt sind, sicher zu stellen“8. Die Grundrechte markierten damit eine Sphäre, die der monarchischen Herrschaft entzogen sein sollte. Wo die Grundrechte begannen, hörte die Staatsgewalt auf. Im konstitutionellen Staat waren kleine Inseln verfassungsrechtlich geschützter Individualrechte entstanden, die der Herrscher nicht betreten durfte und die somit staatsfrei waren. Eine Teilhabe am Staat selbst und eine Beeinflussung der Staatsgewalt sollte von den Inseln nicht erfolgen, die Grundrechte waren nur defensiv und sollten eine Grenze markieren. Zunächst ging es damit um den Bestandsschutz der einseitig gewährten Freiheits- und Gleichheitsrechte in ihrer eingeschränkten Gestalt.9 Legte man die Grundrechte aber extensiv aus, so wuchsen diese Inseln und der Machtbereich des Monarchen verkleinerte sich. Die Grenzen, die der monarchischen Macht gezogen worden waren, konnten nicht verbindlich und eindeutig festgelegt werden, so dass eine weitere Zurückdrängung der monarchischen Macht und damit verbundene Veränderungen der Staatsform möglich waren. Fraglich ist jedoch, ob die konstitutionellen Fesseln, die sich der Monarch durch die frühkonstitutionellen Verfassungen im Wesentlichen selbst angelegt hatte, ihn überhaupt wirksam am Betreten der grundrechtlich geschützten Inseln hindern konnten. Dazu sind die Möglichkeiten der Grundrechte, Eingriffe der Staatsgewalt abzuwehren, näher zu untersuchen:

6

U. Scheuner, in: FS Huber, S. 139 (146). H. Brandt, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 460 (466); D. Grimm, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 234 (240). 8 F. Schmitthenner, Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts, S. 562. 9 Vgl. K. Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland, S. 16. 7

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9. Kap.: Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte

1. Grundrechtsschutz als Aufgabe der Volksvertretung Die Sicherstellung und der Schutz der Grundrechte war in den frühkonstitutionellen Verfassungen hauptsächlich Aufgabe der Volksvertretungen. Diese hatten über die sog. „Freiheits- und Eigentumsklausel“ die Möglichkeit, grundrechtswidrige Gesetze zu verhindern.10 Dadurch entstand ein Ansatzpunkt, dem Monarchen aus der Defensive heraus Bedingungen für die Zustimmung zu einem Gesetz zu stellen und die Politik zu beeinflussen. Auch die verschiedenen Rechtsschutzmöglichkeiten mussten über die Stände erfolgen. Die Unabhängigkeit der Justiz vermochte einen Schutz der Grundrechte nicht sicherzustellen, solange es keine Verwaltungs- und keine Verfassungsgerichtsbarkeit gab. Eine Verletzung verfassungsmäßiger Rechte konnte nur über die Stände durch die Verfassungsbeschwerde oder die Ministeranklage beanstandet werden.11 Wenn Brandt deshalb von einer dreigliedrigen Verfassungsgewähr spricht, die aus der Unabhängigkeit der Justiz, der Volksrepräsentation und der Freiheits- und Eigentumsklausel bestand12, passt dieses Bild bezogen auf den Grundrechtsschutz nicht ganz: Hier waren Rechtsschutz und Freiheits- und Eigentumsklausel mit der Volksvertretung gleichbedeutend, die somit zum tragenden Pfeiler des Grundrechtsschutzes wurde. Die Bedeutung der Volksvertretung für den Grundrechtsschutz tritt besonders bei Zoepfl hervor: Er erhob die Mitwirkungsrechte der Volksvertretung in den Rang der formellen Volksrechte, die dem Schutz der sog. materiellen Volksrechte, d. h. der Grundrechte dienen sollten.13 Schmitthenner kam zu dem Schluss, dass „das schützende Organ nicht die Justiz, sondern das Institut der Volksvertretung, der Landstände ist.“14 Mit der Volksvertretung war dem Monarchen daher ein Organ gegenübergestellt worden, das ihn im täglichen politischen Geschehen am Überschreiten seiner Grenzen hindern sollte. Gleichzeitig wurde damit ein erster Anker für das demokratische Prinzip im monarchischen Staat gelegt.15 Doch auch die Möglichkeiten der Volksvertretung, die Staatsgewalt aus dem grundrechtlich geschützten Bereich abzuwehren, waren begrenzt:

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Vgl. oben 7. Kapitel, V. 2. a). Vgl. oben 8. Kapitel, II. 3. b) bb), dd). 12 H. Brandt, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 460 (466 f.). 13 Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 118. 14 Grundsätze des allgemeinen oder idealen Staatsrechts, S. 559; vgl. auch R. von Mohl, Staatsrecht, S. 535. 15 E.-W. Böckenförde, in: Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, S. 146 (151). 11

II. Abwehrfunktion

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2. Gegenüber der Verwaltung Die Verwaltung konnte von Grundrechtsverletzungen abgehalten werden, wenn diese gesetzlich untersagt waren. Der für die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung notwendige Vorbehalt des Gesetzes hatte sich aber noch nicht herausgebildet.16 Der Gedanke, dass Eingriffe in die Grundrechte durch die Zustimmung der Stände gerechtfertigt werden konnten, war zwar bezüglich der Gesetzgebung in der Freiheits- und Eigentumsklausel verfassungsrechtlich verankert, aber eben nicht auf die gesamte Verwaltung übertragen worden. Folglich konnte die Verwaltung auch ohne Gesetz handeln und die individuellen Freiheitsrechte beeinträchtigen, solange sie dabei nicht gegen ein Gesetz verstieß. Die Volksvertretung konnte daher nicht sicherstellen, dass es nur in den von ihr vorgesehenen Fällen zu Freiheitseingriffen durch die Verwaltung kam. Grundrechtsverletzungen hätten lediglich durch detaillierte, alle möglichen Fälle des Verwaltungshandelns erfassenden Gesetze verhindert werden können. Selbst wenn es möglich gewesen wäre, alle Handlungsmöglichkeiten der Verwaltung gesetzlich vorherzubestimmen, fehlte es der Volksvertretung dazu an der erforderlich Zeit und vor allem am Gesetzesinitiativrecht.17 Außerdem mangelte es der Volksvertretung am notwendigen Fachwissen, das über die Beamten und Fachminister noch immer beim Monarchen gebündelt war.18 Die Verwaltung blieb deswegen in den Bereichen, in denen sie ohne Gesetz handelte, von den grundrechtsschützenden Vorgaben unabhängig und konnte von der Volksvertretung nicht gesteuert werden. 3. Gegenüber der Gesetzgebung Gesetzgeberische Eingriffe in Freiheit und Eigentum konnte die Volksvertretung abwehren, indem sie die dazu erforderliche Zustimmung versagte. Dadurch konnten aber lediglich bereits bestehende Freiräume defensiv geschützt, aber keine neuen, die Grundrechte konkretisierenden Freiräume geschaffen werden. Und selbst der Bestandsschutz der bereits gewährten Freiheit war keineswegs lückenlos. a) Vorkonstitutionelle Eingriffsermächtigungen Die historische Kontinuität der frühkonstitutionellen Verfassungen zwingt dazu, den Grundrechtsschutz nicht nur gegenüber der nachkonstitutionellen, sondern auch gegenüber der vorkonstitutionellen Gesetzgebung zu betrachten, 16

Vgl. dazu oben 8. Kapitel, III. 4. c). Vgl. oben 7. Kapitel, V. 2. d). 18 R. Grawert, in: Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung, Der Staat, Beiheft 7 (1984), S. 113 (120). 17

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9. Kap.: Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte

an der die Volksvertretungen nicht beteiligt gewesen waren. Die vorkonstitutionellen Gesetze waren oftmals Ausdruck monarchischer Willkür oder altständischer Machtinteressen. Viele von ihnen verletzten die frühkonstitutionellen Grundrechte, indem sie zu Eingriffen in die individuellen Freiheitsrechte ermächtigten. Für solche Fälle bestimmte lediglich § 91 der Württembergischen Verfassung, dass alle „Gesetze und Verordnungen, welche mit einer ausdrücklichen Bestimmung der gegenwärtigen Verfassungs-Urkunde im Widerspruche stehen“, aufgehoben sein sollen. In allen anderen Verfassungen fehlte diese Regelung. Im Interesse des Grundrechtsschutzes wurde daher in der liberalen Staatsrechtslehre der Versuch unternommen, den § 91 VU Württemberg zu dem Grundsatz zu verallgemeinern, dass alle Verfassungen „von früheren Gesetzen befreit“ sein sollten.19 Dieser Grundsatz konnte sich aber in der Praxis nicht durchsetzen20 und widersprach auch der historischen Kontinuität der frühkonstitutionellen Verfassungen. Diese sollten gerade keinen Bruch mit der bisherigen Ordnung bewirken, sondern waren eine „Aufpfropfung konstitutioneller Institutionen“21. Die Grundrechte hatten die Landesfürsten aus dynastischen Motiven überwiegend wegen ihrer Wirkung auf die Bevölkerung, weniger ihres Inhalts wegen zugelassen. Keineswegs wollten sie mit der bisherigen Ordnung brechen, nur weil sie den widerwillig akzeptierten Aufpfropfungen inhaltlich widersprach. Deshalb waren die Grundrechte nur gegenüber dem nachkonstitutionellen Gesetzgeber verbindlich.22 Dadurch entfiel eine sofortige Wirkung der Grundrechte, die erst im künftigen Prozess der Gesetzgebung eine abwehrende Funktion entfalten konnten. b) Bundesbeschlüsse Wirkungslos blieben die Grundrechte auch gegenüber den Gesetzen des Deutschen Bundes, was vor allem an der Pressefreiheit und an den Karlsbader Beschlüssen deutlich wird.23 Die Landesverfassungen bestimmten nämlich, dass die verkündeten Beschlüsse des Deutschen Bundes verbindlich sein mussten.24 Selbst wenn die Bundesbeschlüsse den Grundrechten widersprachen, verlangten die Landesverfassungen doch ihre Geltung. Ein Zustimmungserfordernis der

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J. Ch. Aretin, Staatsrecht, Bd. 1, S. 229. J. Ch. Aretin, ebd., S. 232. 21 O. Hintze, in: Staat und Verfassung, S. 359 (365). 22 D. Grimm, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 234 (243 f.); K. Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland, S. 17; R. Grawert, in: Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung, Der Staat, Beiheft 7 (1984), S. 113 (118); F.-J. Peine, Staat 22 (1983), S. 521 (531 f.); U. Scheuner, in: FS Huber, S. 139 (140). 23 Vgl. oben 8. Kapitel, V. 3. b). 24 § 2 VU Baden; § 3 VU Württemberg; Art. 2 VU Hessen. 20

II. Abwehrfunktion

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Stände, das die Grundrechte hätte schützen können, bestand gegenüber den Bundesbeschlüssen nicht. c) Bedeutung und Reichweite der Freiheits- und Eigentumsklausel In den meisten frühkonstitutionellen Verfassungen besaßen die Volksvertretungen nur ein Zustimmungsrecht zu Gesetzen, welche „die Freiheit der Person oder das Eigenthum des Staats-Angehörigen“25 betrafen und konnten so gegenüber nachkonstitutionellen Gesetzen einen Grundrechtsschutz bewirken. Dabei war allerdings unklar, wann überhaupt ein „Gesetz“ vorlag: Einer Auffassung nach wurde mit der Freiheits- und Eigentumsklausel das Gesetz im materiellen Sinne definiert.26 Ein Gesetz war demnach jede Norm, die in die Freiheit und das Eigentum des Einzelnen eingriff. Folglich mussten die Stände das Recht haben, zu jedem Gesetz ihre Zustimmung zu geben. Ausdrücklich war ein so weites Mitwirkungsrecht der Stände lediglich in § 88 der Verfassung Württembergs und Art. 72 der Verfassung Hessens formuliert. Nach der dargestellten Ansicht waren diese Vorschriften mit der Freiheits- und Eigentumsklausel gleichbedeutend und die Begrenzung der Zustimmungsrechte auf freiheits- und eigentumseinschränkende Gesetze wurde als überflüssiges Definitionsmerkmal ausgelassen. Eine alleinige Rechtssetzung durch den Monarchen sollte demnach nur im Wege der Verordnung möglich sein. Die überzeugendere Ansicht geht davon aus, dass die Freiheits- und Eigentumsklausel den Bereich der Gesetzgebung nicht definieren, sondern zerlegen und nur einen Teil der ständischen Zustimmung unterwerfen wollte.27 Dafür spricht schon die Entstehungsgeschichte der frühkonstitutionellen Verfassungen und ihre Prägung durch das monarchische Prinzip. Durch die freiwillig gewährten „konstitutionellen Aufpfropfungen“ wollten die Landesfürsten kaum ihre Gesetzgebungsbefugnis grundsätzlich von der Mitwirkung der Stände abhängig machen. Wenn alle Staatsgewalt beim Monarchen vermutet wurde und Mitwirkungsbefugnisse der Stände ausdrücklich in der Verfassung genannt sein mussten, kann der Freiheits- und Eigentumsklausel kein grundsätzliches Zustimmungsrecht zu allen Gesetzen entnommen werden.28 Diese eingeschränkte Auslegung der ständischen Mitwirkung entspricht auch den Motiven der Landesfürsten, die hinter den Verfassungen standen. Den Freiheitsforderungen ins25

§ 2 VII VU Bayern. M. von Seydel, Staatsrecht, S. 118; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 346 f. 27 H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. II, S. 110 f.; F. Fremuth, Der Vorbehalt des Gesetzes in der Bayerischen Verfassungsurkunde, S. 110 ff.; E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 71. 28 Vgl. auch F. Fremuth, Der Vorbehalt des Gesetzes in der Bayerischen Verfassungsurkunde, S. 115. 26

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9. Kap.: Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte

besondere des Bürgertums kam man entgegen, indem der Gesetzgebung vor der Freiheit und dem Eigentum der Bürger Schranken gezogen wurden. Bei dem dadurch geschützten Bereich individueller Entfaltung handelte es sich um ein Hauptanliegen des liberalen Denkens.29 Die Landesfürsten wollten aber den Bereich, der ihrer alleinigen Rechtssetzungskompetenz entzogen war, im Interesse ihrer eigenen Souveränität möglichst gering halten. Keineswegs wollten sie eine grundsätzliche Grenze zwischen Verordnungen und Gesetzen im materiellen Sinne ziehen und Letztere ausnahmslos von der Zustimmung der Stände abhängig machen. Folglich kann der Freiheits- und Eigentumsklausel keine verbindliche Definition des Gesetzes entnommen werden. Dafür spricht auch, dass in der Praxis die Trennung zwischen Gesetz und Verordnung weiterhin unklar blieb. Hätte die Freiheits- und Eigentumsklausel Klarheit über den Gesetzesbegriff geschaffen, hätten die mit Zustimmung der Stände erlassen Gesetze nicht, wie es in den Verkündigungsformeln oftmals lautete, „verordnet“ werden müssen.30 Die Freiheits- und Eigentumsklausel verlangte daher die Zustimmung der Stände zur Gesetzgebung nur für einen bestimmten Bereich, für alle außerhalb dieses Bereiches liegenden Gegenstände blieb ein alleiniges Gesetzgebungsrecht des Monarchen bestehen. Demgegenüber bildeten § 88 der Verfassung Württembergs und Art. 72 der Verfassung Hessens eine Ausdehnung der ständischen Mitwirkungsbefugnisse in der Gesetzgebung. Schon aus juristischen Gründen problematisch war nun die Feststellung der Materien, die zum Freiheits- und Eigentumsbereich gehören sollten. Für die Grundrechte war die Abgrenzung deshalb von Bedeutung, da die grundrechtlich gewährleisteten Rechtspositionen nicht mit „Freiheit und Eigentum“ gleichbedeutend waren. Wenn sie nicht zum Vorbehaltsbereich gehörten, waren sie dem alleinigen Rechtssetzungsrecht des Monarchen preisgegeben. Außerdem prallten bei der genauen Bestimmung des Vorbehaltsbereichs politische Gegensätze aufeinander.31 Schon zum Freiheitsbegriff gab es unterschiedliche Auffassungen. Bei restriktiver Auslegung konnte nur für Gesetze, die die Fortbewegung des Individuums betrafen, die Zustimmung der Stände als erforderlich angesehen werden.32 Die liberale Staatsrechtlehre deutete die Freiheit jedoch im Sinne einer umfassenden Handlungsfreiheit33, was eine ständische Mitwirkung bei allen Gesetzen mit Grundrechtsbezug bedeutet hätte. In der vormärzlichen Staats29

E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 71. Vgl. dazu die Nachweise bei R. Grawert, in: Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung, Der Staat, Beiheft 7 (1984), S. 113 (149); F. Fremuth, Der Vorbehalt des Gesetzes in der Bayerischen Verfassungsurkunde, S. 183. 31 H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. II, S. 111; E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 75. 32 F. Schmitthenner, Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts, S. 566 f.; E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 75. 33 Vgl. zur weiten Auslegung der Freiheit der Person oben 8. Kapitel, II. 4. c); vgl. auch E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 225. 30

II. Abwehrfunktion

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praxis wurde die Freiheits- und Eigentumsklausel ebenfalls weit ausgelegt und erfasste alle wichtigen Gegenstände des Zivilrechts und des gerichtlichen Verfahrensrechts sowie des Strafrechts.34 Dennoch blieben vor allem im Polizeirecht weite Bereiche dem landesherrlichen Verordnungsrecht überlassen, auch wenn sie in die gewährten Grundrechtspositionen eingriffen. d) Das landesherrliche Verordnungsrecht Das landesherrliche Rechtssetzungsrecht erstreckte sich nicht nur auf die Materien außerhalb der Freiheits- und Eigentumsklausel. Selbst in Württemberg, wo die Volksvertretung zu jedem Gesetz ihre Zustimmung geben musste, gab es noch immer weite Bereiche, in denen der Monarch durch einseitige Verordnungen ohne Zustimmung der Stände Recht setzen konnte. Die frühkonstitutionellen Verfassungen sahen nämlich vor, dass der Monarch die zur „Vollstreckung und Handhabung der Gesetze erforderlichen Verordnungen und Anstalten“ zu treffen habe.35 Selbst wenn der Freiheits- und Eigentumsbereich betroffen war, durfte der Monarch die Ausführungs- und Vollzugsregelungen allein bestimmen. Dabei konnte er Behörden einrichten, die Aufsicht über die Verwaltung durch Verordnungen regeln und Detailregelungen vornehmen. Seine Befugnisse sollten sogar soweit gehen, auch „Abgaben und Taxen oder Gebühren“ festzulegen, solange ein gesetzlicher Maßstab bestand.36 Gegenüber vorkonstitutionellen Gesetzen wurde das Ausführungs- und Vollzugsverordnungsrecht des Monarchen damit gerechtfertigt, dass diese schon nicht mit Mitwirkung der Stände entstanden waren und somit auch unter der frühkonstitutionellen Verfassung dem alleinigen Verordnungsrecht des Monarchen unterlagen.37 Hier zeigt sich erneut, wie unter den frühkonstitutionellen Verfassungen der Schutz der individuellen Freiheitsrechte durch die historische Kontinuität unterlaufen wurde. Doch auch für nachkonstitutionelle Gesetze hatte der Landesfürst das Recht, Vollzugsverordnungen zu erlassen. Dabei waren die Gesetze oftmals unbestimmt, insbesondere die Beschlüsse des Deutschen Bundes erforderten zahlreiche Ausführungsregelungen, über die der Landesherr im Rahmen seines Verordnungsrechts allein bestimmte.38 Folglich blieb dem Monarchen mit den Vollzugsverordnungen ein weiter Bereich zur eigenständigen Rechtssetzung überlassen.

34 Dazu ausführlich F. Fremuth, Der Vorbehalt des Gesetzes in der Bayerischen Verfassungsurkunde, S. 116 ff. 35 § 89 VU Württemberg; vgl. auch § 66 VU Baden; Art. 73 VU Hessen; vgl. auch H. O. Meisner, Die Lehre vom monarchischen Prinzip im Zeitalter der Restauration und des Deutschen Bundes, S. 260 f. 36 H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. II, S. 120. 37 H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. II, S. 118 f. 38 R. Grawert, in: Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung, Der Staat, Beiheft 7 (1984), S. 113 (150).

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9. Kap.: Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte

Außerdem besaß der Landesfürst das sog. Notverordnungsrecht. Dadurch war er „in dringenden Fällen“ ermächtigt, „zur Sicherheit des Staates“ auch Materien zu regeln, zu denen eigentlich die Zustimmung der Stände erforderlich war.39 In Notfällen lagen daher alle legislativen Kompetenzen in den Händen des Monarchen. Eine Notverordnung sollte aber nur in Fällen besonderer Eile zulässig sein, in denen sie nicht nur nützlich, sondern notwendig war und in denen die rechtzeitige Einberufung der Stände unmöglich war.40 Allerdings war es schwierig, dem Monarchen nachzuweisen, dass diese Voraussetzungen nicht vorlagen. Auch die Einberufung der Stände lag in den Händen des Monarchen und konnte hinausgezögert oder in Zeiten politischer Krisen gar unterlassen werden. Zwar wurde gefordert, die ständische Zustimmung in solchen Fällen nachzuholen41, faktisch fehlte es jedoch an der Möglichkeit, diese Forderung durchzusetzen. Somit bestand die Gefahr, dass das Notverordnungsrecht über seinen Zweck, nämlich in Krisenzeiten die Gesetzesproduktion sicherzustellen42, hinausging und zur Annexion der unbeschränkten Rechtssetzungskompetenz seitens des Monarchen führte. In der frühkonstitutionellen Staatspraxis machten die Landesherren von ihren Verordnungsrechten häufig Gebrauch und wurden so zur Hauptquelle der Rechtsbildung.43 Der Bereich, in dem die Volksvertretungen durch ihr Zustimmungsrecht einen besonderen Schutz der Grundrechte bewirken konnten, machte daher nur einen Teil der frühkonstitutionellen Rechtssetzung aus. Es wurde kein lückenloser Schutz gegenüber der Legislative bewirkt, sondern es wurden nur einzelne Bereiche der Gesetzgebung herausgelöst und über die Mitwirkungsrechte der Volksvertretung abgeschirmt. Nur in diesem Teilbereich der Rechtssetzung hatten die Grundrechte eine abwehrende Funktion. Aber schon durch das Notverordnungsrecht konnte der Landesherr selbst in diesen Bereich einbrechen. e) Das Verhältnis zwischen Verfassung und einfachem Gesetz Die abwehrende Funktion, die den Grundrechten gegenüber einem Teil der Gesetzgebung zukam, war zudem schwach. Es war zum einen denkbar, dass Gesetze, obwohl sie Freiheit und Eigentum betrafen, einfach ohne Zustimmung 39

§ 89 VU Württemberg; vgl. auch § 66 VU Baden; Art. 73 VU Hessen. H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. II, S. 121 f.; vgl. auch H. O. Meisner, Die Lehre vom monarchischen Prinzip im Zeitalter der Restauration und des Deutschen Bundes, S. 260 f. 41 R. von Mohl, Staatsrecht, S. 199. 42 R. Grawert, in: Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung, Der Staat, Beiheft 7 (1984), S. 113 (150). 43 F. Fremuth, Der Vorbehalt des Gesetzes in der Bayerischen Verfassungsurkunde, S. 186. 40

II. Abwehrfunktion

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der Stände erlassen wurden. Zum anderen war keineswegs sichergestellt, dass die Gesetze inhaltlich mit den Grundrechten übereinstimmten, nur weil die Zustimmung der Volksvertretung erforderlich war. Grundrechtsverletzende Gesetze waren nicht mit Sicherheit ausgeschlossen. Das Problem war nun, dass es keinen Verfassungsvorrang und keine institutionalisierte Verfassungsgerichtsbarkeit gab. Grundrechte hatten damit gegenüber den einfachen Gesetzen keine derogierende Kraft. Letztere galten somit fort, auch wenn sie den Grundrechten inhaltlich widersprachen und daher materiell oder aufgrund der fehlenden Zustimmung der Stände formell verfassungswidrig waren. aa) Das monarchische Prinzip Zwar waren die Grundrechte ein Maßstab für die künftige Gesetzgebung, es fehlte aber an Verfassungsregelungen, die positiv zur Einhaltung dieses Maßstabs verpflichteten. Da es zudem keine Schutzmechanismen gab, die eine Übereinstimmung der Gesetze mit der Verfassung prüfen konnten, kann von einer verfassungsrechtlichen Bindungswirkung nicht gesprochen werden.44 Dass die frühkonstitutionellen Verfassungen gegenüber dem einfachen Gesetz keinen Vorrang besaßen, folgte schon aus ihren Entstehungsbedingungen: Als einseitige Gewährungen sollten sie allenfalls herrschaftsmodifizierend, keineswegs aber herrschaftsbegründend sein. Folglich wurde in ihnen keine allgemeine, höhere Grundlage gesehen, die Quelle der Staatsgewalt war und über Befugnisse und Kompetenzen bestimmte. Der Vorrang der Verfassung hätte bedeutet, dass sie auch gegenüber dem Monarchen vorging, dessen Legitimation allein in der Verfassung hätte ruhen müssen – eine Vorstellung, die mit dem monarchischen Prinzip nicht vereinbar war.45 Allerdings kam auch in den frühkonstitutionellen Verfassungen eine dauerhafte Bindung des Monarchen an diese zum Ausdruck: Er konnte sie nicht willkürlich ändern, sondern bedurfte dazu der Zustimmung der Stände.46 Dabei musste anders als bei einem einfachen Gesetz eine qualifizierte Mehrheit erreicht werden, wodurch die Verfassung eine besondere Bedeutung erhielt. Peine kommt deshalb zu dem Ergebnis, dass das monarchische Prinzip an der wichtigsten Stelle leer lief. Da auch der Monarch an die Verfassung gebunden war, gelte es insoweit nicht und stünde einem Verfassungsvorrang und einer Verfassungsgerichtsbarkeit nicht entgegen.47 Damit löst er die Widersprüchlichkeit der 44 So aber F.-J. Peine, Staat 22 (1983), S. 521 (532); zur mangelnden Bindungswirkung auch D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 133. 45 So auch R. Wahl, Staat 20 (1981), S. 485 (495); J. Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, S. 23; H. Kelsen, VVDStRL 5 (1929), S. 30 (34). 46 § 7 X VU Bayern; § 64 VU Baden; § 176 VU Württemberg; Art. 110 VU Hessen.

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9. Kap.: Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte

frühkonstitutionellen Verfassungen zu Lasten des monarchischen Prinzips auf. Er verkennt jedoch, dass eine solche Entscheidung in der frühkonstitutionellen Staatspraxis keineswegs zwingend war. Immerhin fand sich in allen Verfassungen ganz zu Beginn der Hinweis darauf, dass alle Staatsgewalt in den Händen des Landesfürsten, dem Herrscher von Gottes Gnaden, vereinigt sein sollte.48 Deshalb war es genauso denkbar, dass die über die Vorschriften zur Verfassungsänderung mittelbar ausgedrückte Verfassungsbindung des Monarchen leer lief und einen Verfassungsvorrang ausschloss. bb) Dualistische Staatsstruktur, Widersprüchlichkeit der Verfassungen Ein Hindernis des Verfassungsvorrangs ist auch in der dualistischen Struktur der frühkonstitutionellen Verfassungen zu sehen.49 Aufgrund der Widersprüchlichkeit der Verfassung war das Kräfteverhältnis zwischen Monarch und Volksvertretung nicht eindeutig festgelegt. Bei der Auslegung der Verfassung prallten die Vorstellung vom monarchischen Prinzip und erste Ansätze vom heraufziehenden Parlamentarismus aufeinander.50 Hier gab die Verfassung keine klare Antwort und war daher als Maßstab ungeeignet. Der Ausgleich zwischen beiden Auffassungen konnte nicht über unabhängig entscheidende Gerichte, die sich an der unklaren Verfassung orientierten, sondern allein im politischen Prozess erfolgen. cc) Grundrechtsschutz durch das Gesetz In diesem politischen Prozess legten es die Volksvertretungen auf eine Ausdehnung ihrer Kompetenzen an, wodurch sie gleichzeitig einen besseren Grundrechtsschutz bewirkten. Die Volksvertretungen wurden daher gerade als Garant für die Grundrechte gesehen.51 Als verfassungswidrige Gesetze wurden fast ausschließlich solche diskutiert, die ohne Zustimmung der Stände erlassen worden waren. Die materielle Verfassungsmäßigkeit wurde als gegeben vorausgesetzt, sobald die Stände zugestimmt hatten.52 Folglich fehlte es zunächst – anders als 47

F.-J. Peine, Staat 22 (1983), S. 521 (542). § 1 II VU Bayern; § 5 VU Baden; § 4 VU Württemberg; Art. 4 VU Hessen. 49 R. Wahl, Staat 21 (1981), S. 485 (494 f.); W. Heun, in: FS Rauschning, S. 41 (55, Fn. 108). 50 Vgl. J. Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, S. 24. 51 D. Grimm, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 234 (245); F.-J. Peine, Staat 22 (1983), S. 521 (535 f.); G. Schau, Das Verhältnis von Verfassung und einfachem Recht in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, S. 20. 52 J. Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, S. 36. 48

II. Abwehrfunktion

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in Nordamerika – an einem Gefährdungsbewusstsein gegenüber mit ständischer Zustimmung erlassenen Gesetzen. Grundrechtsschutz sollte nicht vor dem Gesetz, sondern gerade durch das Gesetz erfolgen. Genau wie nach der Französischen Revolution53 sollte das Gesetz dazu beitragen, eine neue Ordnung zu schaffen und die Grundrechte zu konkretisieren. Folglich war auch im Frühkonstitutionalismus ein Verfassungsvorrang zunächst denkunmöglich. dd) Entwicklung zugunsten des Verfassungsvorrangs Bevor die Verfassung eine vorrangige Bedeutung gewinnen konnte, musste sie also im politischen Prozess konkretisiert werden. Die Grundrechte waren zunächst der Gesetzgebung schutzlos ausgeliefert. Zwar war das der Absicherung der Grundrechte abträglich, es gab jedoch einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: Wenn Verfassungsfragen nicht in abgeschirmten Gerichten, sondern im politischen Alltag geklärt werden, gewinnen sie an Öffentlichkeit.54 So kam es im Vormärz zu umfassenden verfassungspolitischen Diskussionen nicht nur in den verschiedenen Landtagen und in der Staatsrechtslehre, sondern in der gesamten Bevölkerung. Dadurch entstand die Möglichkeit, bei der Lösung verfassungsrechtlicher Unklarheiten nicht nur den Willen des Verfassungsgebers, d. h. in den überwiegenden Fällen den des Monarchen, sondern auch die politischen Auffassungen und Wertungen der gesamten Bevölkerung sowie die aktuellen Entwicklungen zu berücksichtigen. Konkret bedeutete das im Frühkonstitutionalismus, dass nicht nur das monarchische Prinzip, sondern auch die aufkommenden liberalen Auffassungen als Auslegungsmaßstab dienen konnten. Dabei ist zu beachten, dass die liberale Staatsrechtslehre an einigen Stellen über die frühkonstitutionellen Verfassungen hinausging.55 Im politischen Prozess konnte sie mit ihren Forderungen dennoch Einfluss nehmen, während ihre Annahmen – sofern sie nicht mehr juristisch überzeugend in den frühkonstitutionellen Verfassungen wurzelten – von einer Verfassungsgerichtsbarkeit hätten ignoriert werden müssen. Somit waren die Verfassungen zwar weniger abgesichert, dafür aber auch weniger starr und für liberale Auslegungen bzw. Weiterentwicklungen offen. Erst dadurch wurde es möglich, das monarchische Prinzip zu vernachlässigen und die Verfassung als höherrangige, herrschaftsbegründende Grundlage zu sehen, aus der sich ableiten ließ, von wem und wie die Staatsgewalt ausgeübt werden sollte – für den Vorrang der Verfassung eine unentbehrliche Voraussetzung. In der liberalen Staatsrechtslehre bildete sich bald die Vorstellung vom Verfassungsvorrang sowie von verfassungswidrigen und daher nichtigen Gesetzen 53 54 55

Vgl. oben 5. Kapitel, II. 2. R. Wahl, Staat 20 (1981), S. 485 (499). Vgl. zur Assoziationsfreiheit oben 8. Kapitel, VI. 3. b).

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9. Kap.: Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte

aus. Dies mag zum einen daran liegen, dass Tocqueville mit seinem Werk „Über die Demokratie in Nordamerika“ auf die Vorteile eines Verfassungsvorrangs aufmerksam machte. Vor allem aber hatte die eigene Erfahrung gezeigt, dass die Grundrechte auch gegenüber dem Gesetz und somit gegenüber der Volksvertretung abgesichert werden mussten. Die vormärzlichen Gesetze trugen trotz aller Bemühungen der liberalen Mitglieder in den Volksvertretungen oftmals eine restaurative Handschrift und schränkten die Grundrechte eher ein als dass sie sie konkretisierten.56 Deshalb sah das frühliberale Staatsrecht die Notwendigkeit, dass die Richter neben dem verfassungsmäßigen Zustandekommen der Gesetze auch den Inhalt eben dieser prüfen sollten.57 Deutlich wird die Skepsis gegenüber dem Inhalt der Gesetze bei Mohl, der davon ausging, dass die Staatbürger den Gesetzen nur dann gehorchen mussten, „in so ferne sie verfassungsmäßig erlassen und verfassungsmäßigen Inhalts sind“58. Damit hatte sich zwar in der Theorie die Vorstellung vom Vorrang der Grundrechte gegenüber dem einfachen Gesetz herausgebildet, in der Praxis hatte er sich aber noch nicht durchgesetzt. Da keine Verfassungsgerichtsbarkeit institutionalisiert war, mussten die jeweiligen Richter die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes feststellen und dieses unangewandt lassen. Lediglich in Einzelfällen wagten sie diesen in restaurativen Zeiten mutigen Schritt und trugen zum Grundrechtsschutz bei.59 Die richterliche Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen hat daher bereits im Frühkonstitutionalismus erste Wurzeln. Zu diesem Ergebnis stehen die aufgezeigten Hindernisse des Verfassungsvorrang in keinem Widerspruch.60 Die Hindernisse des Verfassungsvorrangs waren nämlich gerade aufgrund des fehlenden Verfassungsvorrangs nicht unüberwindbar und statisch, sondern konnten im politischen Prozess vor dem Hintergrund bisheriger Verfassungserfahrungen langsam beseitigt werden. f) Bewertung Die abwehrende Funktion der Grundrechte wurde vor allem durch die Mitwirkungsbefugnisse der Ständeversammlungen sichergestellt. Anders als im Absolutismus und unter dem Preußischen ALR war es nicht mehr der Monarch allein, der über das Ausmaß der Grundrechte entschied. Dabei übernahmen die 56 Vgl. zur Einschränkung der Pressefreiheit 8. Kapitel, V. 3. b); zur Assoziationsfreiheit 8. Kapitel, VI. 2. a). 57 J. L. Klüber, Oeffentliches Recht des Teutschen Bundes, § 361, S. 555 m. w. N.; vgl. R. Wahl, Staat 20 (1981), S. 485 (491 f.); J. Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, S. 24 ff. 58 Staatsrecht, S. 324; vgl. auch seinen Beitrag in der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1846, S. 451 (493 ff.). 59 Vgl. dazu U. Eisenhardt, in: FS Kroeschell, S. 75 ff. 60 So aber F.-J. Peine, Staat 22 (1983), S. 521 (522).

III. Programmfunktion

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Volksvertretungen eine defensive Position. Ihr Zustimmungsrecht erstreckte sich längst nicht auf alle Materien der Rechtssetzung und konnte umgangen werden. Es war jedoch darauf angelegt, an Bedeutung zu gewinnen. Bei Inkrafttreten der frühkonstitutionellen Verfassungen galten die vorkonstitutionellen, ohne Mitwirkung der Stände entstandenen Gesetze fort, so dass zunächst keine Änderung eingetreten war. Durch das Zustimmungsrecht zu nachkonstitutionellen Gesetzen hatten die Stände aber die Möglichkeit, den bisherigen Rechtszustand nach und nach zu modifizieren und ihrem Willen anzupassen. Der Einfluss der Stände nahm daher mit jedem Gesetz, dem sie zugestimmt hatten, zu und der Monarch konnte trotz des monarchischen Prinzips immer weniger als alleinige Quelle des Rechts gesehen werden. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die weite Auslegung der Freiheits- und Eigentumsklausel. Außerdem holte die Regierung oftmals auch bei Materien, die nicht in den Vorbehaltsbereich fielen, die Zustimmung der Stände ein, so dass sich der Einflussbereich der Volksvertretung durch die sogenannte „Präokkupierung“ ausdehnte.61 Die Auslegung der Verfassung wurde aufgrund der fehlenden Verfassungsgerichtsbarkeit dem politischen Prozess überlassen. Sie rückte in das Licht der Öffentlichkeit und erfolgte auch unter Berücksichtigung der liberalen Strömungen. Erst dadurch wurde es möglich, das monarchische Prinzip der verfassungsmäßigen Bindung des Monarchen zu opfern. Damit war es zumindest denkbar geworden, dass Gesetze, denen die erforderliche Zustimmung der Stände fehlte, als verfassungswidrig verworfen werden konnten. Dieser Bedeutungsgewinn des ständischen Zustimmungsrechts bewirkte eine Zurückdrängung der monarchischen Macht zugunsten des Grundrechtsschutzes. Schon die abwehrende Funktion der Grundrechte bewirkte daher nach und nach eine Änderung des Kräfteverhältnisses innerhalb der konstitutionellen Monarchie. Die Grundrechte gewannen dabei zumindest in der Theorie auch eine abwehrende Funktion gegenüber der erstarkenden Volksvertretung, da auch die materielle Verfassungswidrigkeit von Gesetzen problematisiert wurde. Die konstitutionellen Fesseln, die sich der Monarch selbst angelegt hatte, ermöglichten ihm somit zwar das Betreten der grundrechtlich geschützten, eigentlich staatsfreien Sphären, sie neigten jedoch dazu, sich von alleine immer enger zu ziehen und den Wirkungskreis des Monarchen zu verkleinern.

III. Programmfunktion Die abwehrende Funktion der Grundrechte setzte voraus, dass ihre Inhalte auch in die Gestalt des einfachen Gesetzes gegossen wurden. Die Grundrechte traten erst durch die privatrechtliche und einfachgesetzliche Konkretisierung ins 61

E.-W. Böckenförde, in: Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, S. 146 (151).

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9. Kap.: Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte

Leben.62 Erst durch ein einfaches Gesetz dehnte sich die Freiheit des Bürgers tatsächlich aus und die Grundrechte wurden für ihn spürbar. Solange dieser Zustand noch nicht erreicht war, genügte der defensive Schutzcharakter der Grundrechte, der sich über die Abwehrfunktion entfaltete, nicht. Bevor die Staatsgewalt aus dem grundrechtlich geschützten Schutzbereich abgewehrt werden kann, muss dieser einfachgesetzlich abgesteckt werden. In einer solchen Situation müssen deshalb die Grundrechte offensiv auf die Gesetzgebung wirken und als Programm fungieren.63 Im Frühkonstitutionalismus war die Konkretisierung und einfachgesetzliche Umsetzung der Grundrechte für deren Geltung unerlässlich. Problematisch war nun, dass die Verfassungen keinen verpflichtenden Auftrag für den Gesetzgeber zur Umsetzung der Grundrechte enthielten.64 Dennoch ist es zu kurz gedacht, ihnen eine „Leitfunktion“65, und eine offensive66 oder richtungsgebende Tendenz67 völlig abzusprechen. Zwar mochte es keine richtungsweisende Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte geben, die verfassungsrechtlich abgesichert war, das bedeute jedoch nicht, dass es überhaupt keine Bindungswirkung gab. Vielmehr wurden die Grundrechte als zukunftsweisende Aufforderungen des Gesetzgebers Richtungsbegriffe für die Prozesse der Rechtsänderung und Gesellschaftsgestaltung.68 Die Programmfunktion der frühkonstitutionellen Grundrechte ergab sich zunächst aus dem Widerspruch zwischen den verfassungsrechtlichen Versprechen und der Realität.69 Freiheits- und Gleichheitsrechte, die in der Verfassung grundsätzliche Anerkennung erfahren hatten, blieben im einfachen Recht oftmals unberücksichtigt. Aufgrund der historischen Kontinuität galten vorkonstitutionelle Gesetze fort, die von den Grundrechten unbeeinflusst waren. Letzte62 R. Wahl, Staat 18 (1979), S. 321 (329); D. Grimm, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 359 (361); U. Scheuner, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 376 (377). 63 Zur Programmatik von Grundrechten B.-O. Bryde, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 17, Rdnr. 3. 64 Vgl. dazu oben 9. Kapitel, II. 3. e). 65 So D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 133. 66 D. Grimm, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 359 (368). 67 So U. Scheuner, in: FS Huber, S. 139 (148). 68 So auch R. Wahl, Staat 18 (1979), S. 321 (330 ff.); H. Brandt, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 460 (467 f.); B.-O. Bryde, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 17, Rdnr. 6; K. Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland, S. 17; B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 176; U. Scheuner, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 376 (377 ff.). 69 Vgl. dazu R. Wahl, Staat 18 (1979), S. 321 (330).

III. Programmfunktion

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ren standen als Hindernisse Überbleibsel ständischer Vorrechte sowie das monarchische Prinzip entgegen, die jedoch nach dem pragmatischen Übergang zum Verfassungsstaat an theoretischer Überzeugungskraft verloren hatten. Folglich war es geboten, die Widersprüche zugunsten der grundsätzlich anerkannten Grundrechte aufzulösen und die einfache Rechtsordnung anzupassen. Von den verschiedenen Grundrechten konnte das Individuum kaum profitieren, solange die einfachgesetzlichen Voraussetzungen nicht geschaffen waren.70 Die Hoffnungen richteten sich daher auf das nachkonstitutionelle Gesetz, das dem alleinigen Willen des Monarchen entzogen war und einen Wandel bewirken konnte. Geschürt wurden diese Hoffnungen durch die Grundrechtstexte selbst, die an verschiedenen Stellen auf die künftige Gesetzgebung verwiesen. Besonders deutlich wird das an der Pressefreiheit, die nach der Verfassung Badens „nach den künftigen Bestimmungen der Bundesversammlung gehandhabt“, also durch diese gerade verwirklicht werden sollte.71 Hoffnungen auf freiheitsschaffende Gesetze weckten auch die Bestimmungen, nach denen Verhaftungen nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen möglich sein sollten.72 Hier gab es Ansatzpunkte für den Gesetzgeber, den Grundrechten Leben einzuhauchen. Auch die Staatsrechtlehre deutete die Grundrechte als Verheißung und als Programm. Gerade von liberaler Seite lag es nahe, die Grundrechte, wenn sie schon kein verpflichtender Auftrag waren, mit der größtmöglichen Wirkung auf den Gesetzgeber zu versehen. Deswegen erschöpfte sich nach Mohl die Bedeutung der Grundrechte nicht im defensiven Schutz der bestehenden Freiheit, sondern es waren für die freiheitsschaffende, einfachgesetzliche Umsetzung „wenigstens die Keime gelegt“73 und sie sollten „Sporn zu künftigen Verbesserungen“74 sein. Somit konnten die Grundrechte gegenüber dem Gesetzgeber zwar keine verfassungsrechtlich verbindliche, wohl aber eine programmatische Leitfunktion übernehmen. Die Umsetzung des Programms war aber mit verschiedenen Schwierigkeiten verbunden: 1. Abbau der wohlerworbenen Rechte als Grundrechtshindernisse Anders als in Frankreich hatte in Deutschland mit dem Übergang zum Konstitutionalismus keine vollständige und entschädigungslose Aufhebung der wohlerworbenen Rechte und Privilegien stattgefunden.75 Aufgrund der historischen 70 Zu den Voraussetzungen der Freiheit der Person und des freien Eigentums oben 8. Kapitel, II. 3. b), III. 4. b). 71 § 17 VU Baden; vgl. auch § 28 VU Württemberg und Art. 35 VU Hessen, die zudem auf die künftige Landesgesetzgebung verweisen. 72 § 8 IV VU Bayern; § 15 VU Baden; § 26 VU Württemberg; Art. 33 VU Hessen. 73 Staatsrecht, S. 342. 74 Ebd., S. 343. 75 Vgl. oben 6. Kapitel, II. 3. b), h) cc), 7. Kapitel, I. 2.

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9. Kap.: Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte

Kontinuität bestanden diese exklusiven Rechte zunächst unbeschadet fort und standen der Geltung der allgemeinen Grundrechte im Weg.76 Die staatsbürgerliche Gleichheit und Freiheit konnte aber erst dann zur vollen Entfaltung kommen, wenn die im bäuerlichen Grundbesitz lastenden Dienste und Abgaben vollständig abgelöst, die Jagd- und Weidegerechtigkeiten, die Patrimonialgerichtsbarkeit, die Familienfideikommisse sowie die Steuerprivilegien und die Vorrechte im Militärwesen beseitigt waren. Deshalb mussten die wohlerworbenen Rechte und ständischen Privilegien abgebaut werden. a) Theoretische Überwindung der Unverletzlichkeit der wohlerworbenen Rechte Problematisch war nun, dass aufgrund der historischen Kontinuität die wohlerworbenen Rechte ebenfalls als anerkannte Rechtspositionen galten. Als sie entstanden waren, gab es noch keinen Unterschied zwischen öffentlichen und privaten Rechten und ihr Charakter unterschied sich nicht von den Rechten des Landesfürsten. Sie entstammten dergleichen Quelle und waren vom Landesfürsten auf die Rechtsinhaber verbindlich übertragen worden.77 Folglich konnte der Landesfürst die wohlerworbenen Rechte nicht zurücknehmen und sie stellten Grenzen der Gesetzgebung dar. Zur Sicherung dieser Grenzen blieb zumindest in der Theorie der umfassende Rechtsschutz präsent, den die wohlerworbenen Rechte im Alten Reich vor den Reichsgerichten erfahren hatten.78 Fraglich war nun, ob im Interesse der Grundrechte diese Grenzen überschritten und in die wohlerworbenen Rechte eingegriffen werden durfte. Zur Dispositionsbefugnis des nachkonstitutionellen Gesetzgebers über die wohlerworbenen Rechte gab es unterschiedliche Auffassungen. Während Haller die ausnahmslose Unverletzlichkeit der wohlerworbenen Rechte betonte79, waren nach Stahl Eingriffe ausnahmsweise gerechtfertigt, wenn sie nicht lediglich aus Gemeinwohlerwägungen, sondern mit „unabweisbarer Nothwendigkeit“80 gefordert waren. Anklang fanden diese Auffassungen bei den Trägern der wohlerworbenen Rechte und vor allem bei den Restaurationspolitikern des Deutschen Bundes.81 Daneben gab es die Vorstellung, die dem Gesetzgeber grundsätzlich Eingriffe in die wohlerworbenen Rechte erlaubte. Geringe Vorausset76 R. Wahl, Staat 18 (1979), S. 321 (337); G. Lübbe Wolff, ZRG Germ. Abt. 103 (1986), S. 104 ff.; R. Grawert, in: Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung, Der Staat, Beiheft 7 (1984), S. 113 (133). 77 Vgl. oben 6. Kapitel, I. 2. a) dd); vgl. auch G. Lübbe-Wolff, ZRG Germ. Abt. 103 (1986), S. 104. 78 Vgl. G. Lübbe-Wolff, ZRG Germ. Abt. 103 (1986), S. 104 (107); B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 172. 79 C. L. Haller, Restauration der Staatswissenschaften, Bd. 2, S. 344 ff. 80 F. J. Stahl, Philosophie des Rechts, Bd. 2, 1. Abtheilung, S. 268.

III. Programmfunktion

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zung sollte sein, dass der Eingriff gegebenenfalls eine Entschädigung nach sich ziehen und dem öffentlichen Wohl förderlich sein musste.82 Auch wenn sich diese Auffassung letztlich durchsetzte, fehlte es gerade im Frühkonstitutionalismus an einer klaren Linie.83 Und selbst wenn es gelang, die wohlerworbenen Rechte durch ein ausdrückliches Gesetz aufzuheben, so galt bei der Auslegung der unklaren Gesetze doch das Prinzip der Unverletzlichkeit der wohlerworbenen Rechte fort. Im Zweifel bildeten Letztere daher die Grenze der Rückwirkung neuer gesetzlicher Regelungen und standen den Grundrechten weiterhin entgegen.84 Die Aufhebung der wohlerworbenen Rechte wurde daher durch die fragwürdige theoretische Rechtfertigung erschwert. b) Rechtsschutz der wohlerworbenen Rechte und Rückwirkungen auf den Grundrechtsschutz Damit die wohlerworbenen Rechte als Hindernisse der Grundrechte aus dem Weg geräumt werden konnten, bedurfte es einer Lockerung der Schranken, die sie gegenüber der Herrschaftsmacht zogen. Die geringen Voraussetzungen, unter denen Eingriffe in die wohlerworbenen Rechte als zulässig galten, erinnerten deshalb eher an die Gemeinwohldoktrin des absolutistischen Staates als an einen konstitutionellen Rechtsstaat, zu dessen Verwirklichung sie aber gerade erforderlich waren. Besonders deutlich wird das am Rechtsschutz. Um zu verhindern, dass gegen die Aufhebung jedes wohlerworbenen Rechts erfolgreich geklagt werden konnte, entsprach ein eingeschränkter Rechtsschutz gerade den Interessen der liberalen, rechtsstaatlichen Bewegung.85 Der Preis dafür war hoch: Da die Grenzen zwischen den wohlerworbenen Rechten und den allgemeinen Staatsbürgerechten immer mehr verschwammen86, bestand er darin, dass auch Letztere nur eingeschränkten Schutz erfuhren. Dieser Preis musste jedoch gezahlt werden, um das Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt erst möglich werden zu lassen.

81 Zu deren Absicht, mit der landständischen Verfassung i. S. d. Art. 13 DBA die Souveränität der Landesfürsten durch eine Stärkung der Stände zu mindern vgl. oben 6. Kapitel, III. 3. a). 82 H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. II, S. 170 f. 83 Vgl. G. Lübbe-Wolff, ZRG Germ. Abt. 103 (1986), S. 104 (126). 84 H. A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, Bd. II, S. 88; vgl. auch G. Lübbe-Wolff, ZRG Germ. Abt. 103 (1986), S. 104 (136). 85 Vgl. nur R. von Mohl, Staatsrecht, S. 404; vgl. auch G. Lübbe-Wolff, ZRG Germ. Abt. 103 (1986), S. 104 (135). 86 Vgl. nur R. von Mohl, Staatsrecht, S. 392, der unter der Überschrift „Sicherstellung der wohlerworbenen Rechte gegen Eingriffe des Staates“ diejenigen Rechte anspricht, die in der „Verfassung, welche überhaupt die Rechte des Bürgers gegenüber von dem Staat sichern will“, genannt sind; vgl. auch G. Lübbe-Wolff, ZRG Germ. Abt. 103 (1986), S. 104 (108 ff.).

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Andererseits breitete sich der Schutzmantel der Verfassung, der im liberalen Rechtsstaat klassischerweise für die Grundrechte vorgesehen ist, im Frühkonstitutionalismus auch über die wohlerworbenen Rechte aus, die gerade Hindernisse der Grundrechte waren.87 Privilegien wurden in den Verfassungen explizit genannt und besonders geschützt. Dieses Weiterleben der altständischen Ordnung in den frühkonstitutionellen Verfassungen mag zum einen darauf zurückzuführen sein, dass der Gesellschaftswandel in Süddeutschland zum Zeitpunkt der Konstitutionalisierung noch nicht weit genug fortgeschritten war. Insofern mögen die Verfassungen zu früh entstanden sein.88 Entscheidend war aber das rationale Machtkalkül, das hinter den Verfassungen stand. Es war gerade das Ziel der Landesfürsten, mit den wohlerworbenen Rechten eine egalitäre Staatsbürgergesellschaft zu verhindern.89 Deshalb hatten sie die wohlerworbenen Rechte als Grundrechtsbarrieren ganz bewusst in den Verfassungen selbst mit einer Befestigung versehen. Zudem enthielt die Bundesakte altständische Rechtspositionen, die von den Ländern zu beachten waren. Genau wie zuvor z. B. unter dem Preußischen ALR die ständischen Schutzmechanismen zugunsten eines allgemeinen Freiheitsschutzes instrumentalisiert worden waren90, wurden nun umgekehrt die modernen Verfassungen auch zum Schutz partikularer Vorrechte genutzt – ein Umstand, der ihren Abbau erheblich erschwerte. c) Interesse des Gesetzgebers am Abbau Der Abbau der wohlerworbenen Rechte konnte allein über den Gesetzgeber erfolgen, dessen Interesse daran jedoch eingeschränkt war. Lediglich von den Volksvertretungen war zu erwarten, dass sie ihre eingeschränkten Befugnisse dazu einsetzten, die vom Monarchen bewusst gesetzten Hindernisse einer gleichen Gesellschaft aus dem Weg zu räumen. Dagegen sprach jedoch schon die Zusammensetzung der Kammern, die noch von einem ganz anderen Gesellschaftsmodell zeugte.91 Gerade in der ersten Kammer lebte die altständische Gliederung weiter und der Adel sowie der Klerus waren überrepräsentiert. Damit hatten genau diejenigen Bevölkerungsgruppen einen erhöhten Einfluss, die bislang von den wohlerworbenen Rechten profitiert hatten. Folglich war es ihre Absicht, diese Rechtspositionen zu erhalten. Lediglich über die zweiten Kam-

87 H. Brandt, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 460 (474). 88 So R. Wahl, Staat 18 (1979), S. 321 (337). 89 Vgl. dazu oben 8. Kapitel, I. 3. b) cc). 90 Vgl. dazu oben 6. Kapitel, II. 3. c) bb). 91 Vgl. dazu R. von Mohl, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1846, S. 451 (472); H. Brandt, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 460 (474 f.); R. Wahl, Staat 18 (1979), S. 321 (328); K. Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland, S. 17.

III. Programmfunktion

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mern wurde Druck auf die wohlerworbenen Rechte ausgeübt. Um ein Gegengewicht zur ersten Kammer bilden zu können und wirksamen Einfluss auszuüben, musste die zweite Kammer fast ausschließlich liberal zusammengesetzt sein.92 Ein solches Wahlergebnis ließ sich aber nicht zuletzt aufgrund der restaurativen Unterdrückungsmaßnahmen nur schwer erzielen. Da zudem die einfache Bevölkerung oftmals eher altehrwürdigen Adeligen oder Geistlichen als ihresgleichen die Stimme gab, fehlte es an einer wahlpolitischen Kongruenz.93 Dem Abbau der wohlerworbenen Rechte war diese Überrepräsentation privilegierter Bevölkerungsschichten abträglich. Insgesamt verlief der Abbau der wohlerworbenen Rechte eher schleppend und wurde weniger durch die verfassungsmäßigen Ankündigungen einer egalitären Staatsbürgergesellschaft, als vielmehr von praktischen wirtschaftlichen Interessen angetrieben. Ein erheblicher Teil der Gesetzgebungsenergien wurde damit schon verbraucht, um Grundrechtshindernisse aus dem Weg zu räumen, bevor überhaupt mit der Umsetzung der Grundrechte durch neue Gesetze begonnen werden konnte. 2. Umsetzung und Konkretisierung der Grundrechte Die Konkretisierung der Grundrechte machte vor allem neue Gesetze erforderlich, die auf dem allgemeinen Freiheitsgrundsatz beruhten. Nicht nur die Abwehrfunktion der Grundrechte, sondern auch ihre Programmfunktion konnte sich damit nur über den Gesetzgeber entfalten. Dadurch gerieten die Grundrechte mitten in das Spannungsfeld zwischen dem Monarchen und der Ständeversammlung. Sie waren von den politischen Kräfteverhältnissen abhängig und ihre Ausdehnung oder Einschränkung diente gleichzeitig dazu, im frühkonstitutionellen Dualismus die Machtsphären abzugrenzen. Die Umsetzung der Grundrechte war daher aus verschiedenen Gründen problematisch: Um aktiv neue, freiheitsschaffende Gesetze auf den Weg zu bringen, bedurfte es eines Gesetzesinitiativrechts.94 Dieses stand aber dem Monarchen allein zu und er ließ die Umsetzung der Grundrechte nur dann zu, wenn sie seinen Machtinteressen entsprachen. Zwar waren die Grundrechte auch ein Appell an den Monarchen, eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Vorlage verschiedener Gesetzesentwürfe begründeten sie jedoch nicht.95 Die Ständeversammlungen 92 So beim Konflikt um das Badische Pressgesetz, vgl. oben 8. Kapitel, V. 3. c) bb), aus dem aber die liberale zweite Kammer letztlich doch als Verlierer hervorging. 93 Vgl. dazu H. Brandt, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 460 (475). 94 Vgl. dazu ausführlich oben 7. Kapitel, V. 2. d). 95 Von einem verpflichtenden Verfassungsauftrag geht lediglich F. Bülau, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 22 aus; vgl. auch D. Grimm, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der spätbürgerlichen zur ständischen Gesellschaft, S. 234 (242).

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9. Kap.: Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte

konnten nur gegenüber dem Monarchen auf eine aktive Umsetzung der Grundrechte drängen, denn aufgrund ihrer defensiven Befugnisse fehlte es ihnen an der Möglichkeit dazu. Zwar konnte es über eine Instrumentalisierung des Budgetrechts gelingen, den Monarchen zu einem bestimmten Gesetzesentwurf zu zwingen96, hierbei handelte es sich jedoch um in der Verfassung nicht vorgesehene Ausnahmefälle. Außerdem verfolgten die Ständeversammlungen aus den gleichen Gründen wie beim Abbau der wohlerworbenen Rechte die Konkretisierung der Grundrechte mit wechselndem Interesse. Hinzu kam, dass der Umsetzung der Grundrechte aus Wien ein starker Gegenwind entgegen blies. Restaurative Bundesgesetze verhinderten Landesgesetze, die für die Grundrechtsumsetzung erforderlich gewesen wären. Besonders deutlich wird das an der Pressefreiheit: Nachdem es trotz aller Schwierigkeiten in Baden gelungen war, eine Umsetzung der Grundrechte über den Landesgesetzgeber zu erreichen, musste diese auf Druck des Deutschen Bundes zurückgenommen werden. Die einfachgesetzliche Umsetzung des Grundrechtsprogramms war daher eine lange Entwicklung, die sich jahrzehntelang hinziehen musste und den politischen Stimmungen ausgeliefert blieb. Im politischen Prozess setzten sich aber vor allem in den zweiten Kammern die Liberalen unermüdlich für die Umsetzung der Grundrechte ein, die zum „Hauptgeschäft“ der Parlamente wurde.97 Getragen wurden diese Bemühungen von der politisierten Bevölkerung, die ebenfalls eine Ausdehnung der Freiheit forderte. Deshalb mag es zwar stimmen, dass die individuelle Freiheit im Frühkonstitutionalismus genau wie unter dem Preußischen Allgemeinen Landrecht noch immer vom einfachen Gesetz abhängig war98, es bestanden jedoch zwei wesentliche Unterschiede: Zum einen waren die frühkonstitutionellen Grundrechte durch ihre konstitutionelle Weihe grundsätzlich anerkannt und bekamen dadurch einen appellativen Charakter, der von den liberalen Strömungen begeistert aufgenommen und eingefordert wurde. Zum anderen hatte sich der Gesetzgeber geändert: Durch die konstitutionelle Bindung war das Gesetz nicht mehr Ausdruck des monarchischen Willens. Über die Mitwirkungsbefugnisse der Ständeversammlungen geriet es in das Interesse der politisierten Öffentlichkeit. Dabei hatten jene liberalen Strömungen, die die Grundrechte so begeistert aufgenommen hatten, trotz aller Schwierigkeiten vor allem über die zweite Kammer die Möglichkeit, die Gesetzgebung zu beeinflussen. Die Programmfunktion der frühkonstitutionellen Grundrechte entstand daher nicht über eine verfassungsrechtliche Bindung, sondern über die 96

Vgl. dazu oben 8. Kapitel, V. 3. c) bb). H. Brandt, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 460 (470 f.). 98 U. Scheuner, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 376 (390). 97

III. Programmfunktion

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begeisterte Aufnahme der Grundrechte in der Bevölkerung und Wissenschaft, die einen unermüdlichen Einsatz der liberalen Politiker bewirkte. 3. Freiheitsgünstiges Klima durch die Umsetzung des Programms Die Umsetzung der Grundrechte mochte zwar viel Zeit erfordern, sie trug aber zur Herstellung eines freiheitsgünstigen Klimas bei. Mit den grundrechtskonkretisierenden Gesetzen wurden Freiräume geschaffen und die sozialgesellschaftlichen Bedingungen wurden so verändert, dass eine weitere Ausdehnung der Grundrechte möglich wurde. Die staatsbürgerliche Gleichheit beinhaltete die grundsätzliche Abkehr von der altständischen Ordnung. Die Grundrechte lösten damit einen Gesellschaftswandel aus, der eine allgemeine, gleiche Staatsbürgerschaft schaffen sollte. Erst dadurch konnten grundsätzliche Freiheiten entstehen, auf die sich jeder gleichermaßen gegenüber dem Staat berufen konnte. Die grundsätzliche Anerkennung des freien Eigentums ermöglichte ein faktisches Durchbrechen der ehemaligen Standesgrenzen. Der Vorteil der Freiheit für die wirtschaftliche Entwicklung war erkannt und es entstand eine freie Erwerbsgesellschaft, die prinzipiell jedem offen stand. Dem Eigentümer eröffneten sich neue Freiräume und Handlungsmöglichkeiten. Durch die Gewissensfreiheit wurde die Toleranz zum Grundsatz, dem das einfache Gesetz Effektivität verleihen sollte. Die Umsetzung des Grundrechtsprogramms wirkte sich daher nicht nur auf die konkreten verfassungsrechtlich garantierten Rechtspositionen vorteilhaft aus. Vielmehr bewirkten sie einen Gesellschaftswandel, der eine weitere Ausdehnung und Entfaltung der Grundrechte ermöglichte. Die Grundrechte entwickelten dadurch eine Eigendynamik, dass sie ein freiheitsgünstiges Klima schufen, das auch für die Freiheiten, die noch nicht verfassungsrechtlich abgesichert waren, vorteilhaft war. 4. Mittelbare Auswirkungen der Programmfunktion auf die Verwaltung Erst die Programmfunktion der Grundrechte führte dazu, dass diese ihre eigentliche Wirkung gegenüber der Verwaltung entfalten konnten. Die abwehrende Funktion der Grundrechte allein bewirkte nämlich gegenüber der Verwaltung keine großen Veränderungen: Sie beschränkte sich darauf, dass lediglich gesetzeswidrige Eingriffe in die Grundrechte verhindert werden konnten. Dabei kam es allein darauf an, dass administrative Eingriffe nicht gegen ein Gesetz verstießen, ohne gesetzliche Grundlage waren sie aber noch zulässig, solange sich der Vorbehalt des Gesetzes und die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung noch

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nicht entwickelt hatten.99 Da sich kein Vorrang der Verfassung herausgebildet hatte, musste die Verwaltung lediglich die vorhandenen Gesetze, nicht den materiellen Gehalt der verfassungsrechtlich verbürgten Staatsbürgerrechte beachten. Auf den konkreten Inhalt der verschiedenen Grundrechte kam es insoweit nicht an. Deshalb wird die Wirkung der Grundrechte gegenüber der Verwaltung auf eine Freiheit von gesetzeswidrigem Zwang reduziert.100 Der Formulierung der Einzelgrundrechte hätte es eigentlich nicht bedurft und es wäre durch die schlichte Feststellung, dass die Verwaltung nicht gegen das Gesetz verstoßen darf, das gleiche Ergebnis erzielt worden.101 Gegenüber der Verwaltung würden die Grundrechte demnach leer laufen. Diese Auffassung verkennt jedoch, dass die Wirkungen der Grundrechte auf den Gesetzgeber mittelbar auch die Verwaltung beeinflussen mussten. Hier kam es sehr wohl auf den Inhalt der verschiedenen Grundrechte an. Wichtig war dabei die Programmfunktion102: Im Interesse eines optimalen Grundrechtsschutzes waren gerade Gesetze geboten, die die Handlungsmöglichkeiten der Verwaltung einschränkten. Wenn der Gesetzgeber in diesen die Grundrechte umsetzte, durfte die Verwaltung nicht gegen die grundrechtskonkretisierenden Gesetze und somit auch nicht gegen die Grundrechte verstoßen. Folglich darf die Funktion der Grundrechte gegenüber der Verwaltung nicht isoliert betrachtet werden und zumindest mittelbar entstand eine Bindung der Verwaltung auch an die konkreten Grundrechtsinhalte.

IV. Subjektivierung Die Wirkungen der Grundrechte, die sie über die Abwehr- und Programmfunktion entfalteten, waren zunächst objektiv. Es kam auf ihre Eigenschaft als objektive Grenze der Staatsgewalt sowie als objektive Leitlinie für die Gesetzgebung und weniger auf die individuelle Berechtigung an. Die Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht kam erst später zur vollen Entwicklung und die Grundrechte waren nicht als individuelle Anspruchsgrundlagen formuliert.103 Dennoch konnten die Grundrechte auch im Frühkonstitutionalismus eine subjektive Bedeutung gewinnen.

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Vgl. dazu oben 8. Kapitel, III. 4. c). So D. Grimm, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 234 f. 101 G. Anschütz, Verfassungsurkunde, S. 134. 102 Vgl. dazu R. Wahl, Staat 18 (1979), S. 321 (330 ff.). 103 B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 160, 171. 100

IV. Subjektivierung

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1. Anlehnung an die wohlerworbenen Rechte Anders als die frühkonstitutionellen Grundrechte wurden die wohlerworbenen Rechte durchaus als subjektive Rechte verstanden.104 Ihre Inhaber konnten sich im Alten Reich gegenüber dem Herrscher auf ihre Rechtspositionen berufen und vor den Reichsgerichten Rechtsschutz erlangen. Im Frühkonstitutionalismus wurde zunächst versucht, gerade diese subjektive Bedeutung der Rechte zu vernachlässigen. Um die wohlerworbenen Rechte als Hindernisse der allgemeinen Grundrechte aus dem Weg räumen zu können, musste ihre subjektive Schutzwirkung ignoriert und der Individualrechtsschutz vernachlässigt werden. Zunächst ging es allein um die Umsetzung der Grundrechte als objektive Prinzipien, die eine neue Ordnung bewirken sollten. Da dieses Ziel durch die vorhandenen subjektiven Berechtigungen gerade erschwert wurde, galt es, diese abzubauen. Folglich konnten auch die Grundrechte nicht subjektiv verstanden werden. In der Publizistik und vor allem in der Rechtspraxis blieb jedoch der Charakter des subjektiven Rechts präsent. Es wurde erkannt, dass die Grundrechte im Interesse eines besseren Rechtsschutzes genau wie die wohlerworbenen Rechte der Form des subjektiven Rechts bedurften. Deshalb wurden die Grundrechte in Anlehnung an die wohlerworbenen Rechte subjektiviert.105 Dieses Vorgehen lag auch aufgrund der verschwimmenden Grenzen zwischen wohlerworbenen Rechten und allgemeinen Staatsbürgerrechten nahe.106 Hier zeigt sich ein Vorteil der historischen Kontinuität: Obwohl die wohlerworbenen Rechte eigentlich ein Hindernis der Grundrechtsentwicklung waren, führte gerade ihr Fortbestand dazu, dass auch den Grundrechten subjektiv-rechtlich Rechnung getragen wurde. Genährt wurde die Vorstellung einer subjektiven Wirkung der Grundrechte durch das Staatsvertragsdenken der Aufklärung. Zum Zweck der Sicherheit, d. h. zur Absicherung der natürlichen Rechte des Menschen, wurde der Staat gegründet, weshalb das Recht auf Sicherheit nicht mit der Staatsgründung verloren ging, sondern gerade gestärkt werden musste. Der Einzelne verzichtete auf Selbsthilfe, indem er sein Recht dazu an den Staat übertrug. Nach der Staatsgründung musste den Vertragsschließenden deshalb ein Anspruch gegenüber dem Staat auf Ausübung der übertragenen Selbsthilferechte und somit auf Schutz und Sicherheit zustehen.107 Übertragen auf den Frühkonstitutionalismus 104 H. Bauer, Geschichtliche Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, S. 26 ff.; G. Lübbe-Wolff, ZRG Germ. Abt. 103 (1986), S. 104 ff. 105 Vgl. dazu B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 178. 106 Vgl. oben 6. Kapitel, I. 2. a) dd). 107 Zum naturrechtlichen Vertragsdenken oben 3. Kapitel, 6. Kapitel, I. 2.; P. Pfizer, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. XV (Urrechte und unveräußerliche Rechte), S. 626; vgl. auch G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 108 f.

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9. Kap.: Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte

bewirkte diese Argumentation, dass die in den Verfassungen garantierte Sicherheit der Person108 den Staat nicht nur objektiv zur Wahrung der explizit genannten Staatsbürgerrechte verpflichtete. Vielmehr war die Sicherstellung der Rechtspositionen „das Erste, was demnach der Einzelne vom Staate fordern und erwarten kann“109. Folglich sollte das Individuum auch einen Anspruch gegenüber dem Staat auf den Schutz dieser Rechte geltend machen können. 2. Probleme der Subjektivierung Problematisch war allerdings, dass die frühkonstitutionellen Verfassungen nicht auf einer vertraglichen Vereinbarung des Herrschers mit den Individuen beruhten. In der Realität gab es keinen Vertragsschluss, aus dem sich ein Anspruch des Individuums auf Schutz seiner Staatsbürgerrechte ableiten ließ. Außerdem waren die Staatsbürgerrechte, anstatt als individuelle, subjektive Rechte formuliert zu werden, mit Staatsbürgerpflichten verbunden worden. Es ging also weniger darum, den Einzelnen mit einer subjektiven Berechtigung auszustatten, sondern es sollte seine Stellung im komplexen, aus Rechten und Pflichten bestehenden Rechtsverhältnis objektiv deutlich werden.110 Einer Auslegung der frühkonstitutionellen Grundrechte als subjektive Rechtspositionen stand außerdem das monarchische Prinzip entgegen. Der Monarch war alleiniger Inhaber der Staatsgewalt und lediglich bei der Ausübung eben dieser war er durch die Verfassung objektiv gebunden. Subjektive Rechte, die das Individuum gegenüber dem Monarchen geltend machen konnte, waren mit dieser Vorstellung nicht vereinbar. Außerdem fehlte es schon an den Rechtsschutzmöglichkeiten, die zur Durchsetzung eines subjektiven Charakters der Grundrechte erforderlich gewesen wären.111 Von subjektiven öffentlichen Rechten war der Frühkonstitutionalismus daher noch weit entfernt. 3. Bedeutung für die Entwicklung des subjektiven öffentlichen Rechts Dennoch darf nicht verkannt werden, dass bereits im Frühkonstitutionalismus wichtige Vorbedingungen des subjektiven öffentlichen Rechts erfüllt waren. Seit dem Absolutismus hatte sich die Vorstellung vom Staat als verselbstständigte Rechtspersönlichkeit herausgebildet, die von der Person des Herrschers gelöst war.112 Die Konsequenz war, dass individuelle Rechte nicht mehr personenge108

Wörtlich § 8 IV VU Bayern; vgl. dazu oben 8. Kapitel, II. P. Pfizer, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. XV (Urrechte und unveräußerliche Rechte), S. 626. 110 H. Bauer, Geschichtliche Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, S. 56 ff. 111 Vgl. dazu oben 8. Kapitel, II. 3. b). 109

IV. Subjektivierung

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bunden gegen den Herrscher gerichtet waren, sondern sich in öffentlich-rechtlichen Beziehungen auf den Staat als Ganzes bezogen. Erst dadurch wurde das subjektiv öffentliche Recht denkbar.113 Demgegenüber hatte das wohlerworbene, subjektive Recht, genau wie nach heutigem Verständnis die Privatrechte, nur zwischen zwei Personen, nämlich der Person des Rechtsträgers und der Person des Herrschers gegolten.114 Die Vorstellung von der Rechtspersönlichkeit des Staates ermöglichte damit die Trennung zwischen privatem und öffentlichem Recht – eine Grundvoraussetzung für die moderne Vorstellung der subjektiven öffentlichen Rechte. Außerdem hatte die objektive Bedeutung der Freiheitsrechte einen Wandel erfahren: Sie bewirkte nicht mehr nur punktuelle Begrenzungen der Herrschaftsmacht, sondern zog durchgehende Grenzlinien zwischen dem Staat und den anerkannten Freiheitssphären der Individuen. Diese objektive Kompetenzbeschränkung war unerlässliche Voraussetzung dafür, dass für alle Individuen, nicht nur für exklusive Rechtsträger, allgemeine subjektive Rechtspositionen entstehen konnten.115 a) Die Staatsrechtslehre Eine subjektive Bedeutung der individuellen Freiheitsrechte bestand vor allem in der Staatsrechtslehre. Bei Stahl hatten die sogenannten Urrechte des Menschen einen subjektiven Charakter. Zu ihnen gehörten neben der Freiheit, der Ehre, der Rechtsfähigkeit und der Integrität der Person vor allem auch der Schutz der erworbenen Rechte.116 Stahl dehnte damit die anerkannte subjektive Wirkung der wohlerworbenen Rechte auf die allgemeinen Freiheitsrechte aus und gab ein Beispiel für die angesprochene Subjektivierung der allgemeinen Freiheitsrechte in Anlehnung an die wohlerworbenen Rechte. Die subjektiven Rechte sollten sich aber nicht unmittelbar auf das positive Recht auswirken, sondern hatten nur eine sittliche Bedeutung. Das Recht „im subjektiven Sinne“ beschränkte sich auf „die sittliche Macht, welche ein Mensch gegen Andere hat in der ihm von der Rechtsordnung zugewiesenen Sphäre und kraft derselben“117. Wenn das positive Recht die sittlichen Anforderungen nicht erfüllte, konnte sich somit keine subjektive Wirkung entfalten.

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Vgl. dazu D. Willoweit, Verfassungsgeschichte, S. 237; vgl. oben 6. Kapitel, I. 1. H. Bauer, Die geschichtlichen Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, S. 48 ff. 114 Vgl. dazu oben 6. Kapitel, I. 2. a) dd). 115 So auch B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 172. 116 Philosophie des Rechts, Bd. 2, 1. Abtheilung, S. 257. 117 Philosophie des Rechts, Bd. 2, 1. Abtheilung, S. 219. 113

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9. Kap.: Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte

Demgegenüber knüpfte Dresch unmittelbar an das Staatsvertragsdenken der Aufklärung an. Es sei der verbindliche Zweck des Staates, durch Schutz oder Beistand die Urrechte des Menschen zu sichern.118 Folglich müsse dem Einzelnen auf die Herstellung dieses Zustands ein „erzwingbares Recht“ zustehen.119 Auch Zoepfl kannte solche allgemeinen Volksrechte, die „jeder Einzelne für sich selbst und ohne Vermittelung der Repräsentation in Anspruch nehmen kann“120. Um den subjektiven Charakter individueller Rechte zu begründen, löste sich die Staatsrechtslehre erneut von den Verfassungstexten und nutzte das Naturrecht als Grundlage. Die rein theoretische Anerkennung einer subjektiven Wirkung der Grundrechte allein genügte jedoch nicht. Es kam darauf an, wie die liberale Staatsrechtslehre diese Wirkung in der Praxis sicherstellen wollte. Dazu sollte der Einzelne das Recht geltend machen können, „zu nicht mehr als im Gesetze angegeben ist, angehalten werden zu können“121. Er hatte somit keinen unmittelbaren Anspruch auf den Inhalt des Grundrechts, sondern nur auf gesetzmäßige Behandlung. Damit blieb die subjektive Ausprägung der Grundrechte genau wie ihr Charakter als objektive Grenze vom einfachen Gesetz abhängig. Die dargestellten Schwächen der objektiven Schutzrichtung gegenüber dem Gesetzgeber übertragen sich somit auch auf die subjektivierten Rechtspositionen. Die brüchige Grenze, die die Grundrechte zogen, bestand nicht nur zwischen dem Monarchen und dem Volk, sondern auch zwischen dem Monarchen und dem Individuum.122 Das Individuum konnte demnach lediglich die Gesetzesmäßigkeit eines Eingriffs in Freiheit und Eigentum einfordern, ohne dass der konkrete Grundrechtsinhalt sichergestellt war. b) Subjektive Erwartungen in der Bevölkerung Eine wichtige Rolle spielte die Aufnahme der Grundrechte in der Bevölkerung. Seit den Befreiungskriegen hatten individuelle Hoffnungen auf Anerkennung der Freiheitsrechte bestanden. Die frühkonstitutionellen Verfassungen erfüllten die Hoffnungen auf subjektive Rechte nicht. Hier ist nun aber der Zusammenhang zur Programmfunktion zu sehen: Die Freiheitsgarantien der Verfassungen wurden als zukunftsweisende Versprechen verstanden, diese Freiheiten einfachgesetzlich umzusetzen. Dabei konnte sich nicht nur das Volk, son118 Oeffentliches Recht des Deutschen Bundes und der deutschen Bundesstaaten, Bd. I, S. 3. 119 Naturrecht, S. 362. 120 Grundlinien des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, S. 182. 121 C. L. A. Mittermaier, AcP 4 (1821), S. 305 (316 f.); vgl. auch B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 179. 122 B. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, S. 180.

V. Politische Funktion

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dern es musste sich auch das Individuum als Adressat dieser Versprechen angesprochen fühlen. Somit enthielten die Verfassungen zwar keine subjektiven Ansprüche, sie schürten jedoch subjektive Erwartungen auf die Schaffung und Ausfüllung individueller Freiräume. Festzuhalten bleibt, dass die frühkonstitutionellen Grundrechte zwar als objektive Rechte gewährt bzw. mit den Ständen vereinbart worden waren. Dennoch waren wichtige Voraussetzungen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht auf den Weg gebracht.123 Durch die historische Kontinuität konnte die Vorstellung subjektiver Rechte fortwirken und sowohl im Staatsrecht als auch durch die Aufnahme in der Bevölkerung gewannen die Grundrechte eine subjektive Bedeutung.

V. Politische Funktion Die Entstehungsbedingungen der frühkonstitutionellen Grundrechte schlossen zunächst aus, dass diese eine politische Bedeutung hatten. Die Monarchen wollten nur bürgerliche Freiheiten zulassen, um ihre eigene Machtposition zu erhalten. Zwar kannten auch die frühkonstitutionellen Verfassungen politische Mitwirkungsrechte der Bevölkerung in Form des Wahlrechts, dieses war jedoch ungleich ausgestaltet und wurde nicht als Grundrecht verstanden. Eine Aktivbefugnis des Einzelnen, an der Gestaltung des Staates mitzuwirken und diesen mitzustimmen, sollte aus den Grundrechten nicht abgeleitet werden. Stattdessen waren diese Befugnisse allein für den Monarchen vorgesehen. Die Grundrechte sollten daher nicht wie in Nordamerika erste Grundlage eines freien Gemeinwesens, sondern Ausdruck bürgerlicher Staatsferne sein.124 Diese eigennützigen Absichten des Monarchen zum Zeitpunkt der Grundrechtsgewährung entsprachen später die Interessen der Restauration. Dennoch konnten die Grundrechte im Vormärz eine politische Bedeutung entwickeln: 1. Politisierung der Bevölkerung Die Politisierung der Bevölkerung durch den Eindruck der Französischen Revolution, die Entwicklung des Bürgertums und die Befreiungskriege hatte sich nach dem Erlass der frühkonstitutionellen Verfassungen keineswegs gelegt. Vielmehr wurde sie – trotz aller restaurativen Repressionen – durch die Grund123 So auch H. Bauer, Geschichtliche Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, S. 62; zu weit geht H. O. Meisner, Die Lehre vom monarchischen Prinzip im Zeitalter der Restauration und des Deutschen Bundes, S. 256, der die frühkonstitutionellen Freiheitsrechte als subjektive öffentliche Rechte bezeichnet. 124 Vgl. U. Scheuner, in: FS Huber, S. 139 (147); M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, S. 115.

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9. Kap.: Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte

rechte noch verstärkt. Durch die frühkonstitutionellen Verfassungen waren die Erwartungen der Bevölkerung eher enttäuscht als befriedigt worden. Hinzu kam, dass die unteren Schichten aufgrund des Bevölkerungswachstums in der neuen Gesellschaftsordnung von der Massenarmut bedroht waren.125 Die Konsequenz war, dass das politische Geschehen von der gesamten Bevölkerung mit größerer Unzufriedenheit, keineswegs aber mit geringerem Interesse verfolgt wurde. Den Staatsbürgern waren mit den Grundrechten – trotz ihrer unpolitischen Ausrichtung – grundsätzliche Fähigkeiten zuerkannt worden, die zum politischen Räsonnement ermutigten: Der Schutz des freien Eigentums bewirkte, dass die Eigentümer eigenverantwortliche Entscheidungen trafen und als „Politiker im Kleinen“ auftraten. In wirtschaftlichen Fragen kam es nicht auf den Monarchen, sondern allein auf die Auffassung des Individuums an. In einem wichtigen Bereich wirkte ein Vertrauen auf die monarchische Allwissenheit antiquiert. Einbußen der monarchischen Autorität waren unausweichlich und es stellte sich die Frage, ob man noch in politischen Fragen uneingeschränkt auf den Monarchen vertrauen konnte. Die Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Entscheidung war dem Individuum noch deutlicher durch die Gewissensfreiheit zugesprochen. Die machtpolitische Beschränkung der Toleranz auf den unpolitischen Bereich des Gewissens musste in der Bevölkerung auf Unverständnis stoßen. Die Pressefreiheit nährte das politische Interesse der Bevölkerung und ließ sie am öffentlichen Geschehen teilhaben, während ihre Unterdrückung die Unzufriedenheit mit dem politischen System schürte. Allein durch die Kodifizierung der verschiedenen Staatsbürgerrechte wurde das politische Interesse und Bewusstsein der Bevölkerung genährt. Ein politisches Bewusstsein der Bevölkerung war zudem vom konstitutionellen System gefordert. So konnten die Staatsbürger nicht an den Wahlen zur Volksvertretung teilnehmen, ohne sich zuvor eine politische Meinung gebildet zu haben. Das Restaurativsystem Metternichs versuchte vergebens, politische Aktivitäten der Bevölkerung vollständig zu unterdrücken. Die „Verfälschung des Grundgedankens“ der frühkonstitutionellen Monarchie bewirkte dabei nach Mohl eine „fortwährende Gereiztheit und Veränderungslust“126. Letztlich wurde damit eine noch größere Unzufriedenheit hervorgerufen. Die Unzufriedenheit entlud sich im Kampf um die Grundrechte. Anstatt die eingeschränkte Wirkung der frühkonstitutionellen Grundrechte zu akzeptieren, setze man sich für deren Ausdehnung ein. Große Volksfeste wie das Hambacher Fest zeigen, dass der Kampf um die Grundrechte nicht nur in der Wissenschaft 125 H. Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen, S. 80 ff.; D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 175 ff. 126 Vgl. R. von Mohl, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1846, S. 451 (469).

V. Politische Funktion

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und in den Parlamenten, sondern auch von der Bevölkerung geführt wurde. Die Forderung nach Freiheit war dabei eng verbunden mit der Forderung nach nationaler Einheit, nach der eine tiefe Sehnsucht bestand.127 Der Wunsch nach stärkerer Anerkennung und Ausdehnung der Grundrechte wurde dadurch nicht nur verstärkt, sondern emotionalisiert. Es handelte sich nicht mehr um eine passive Erwartung, sondern die Bevölkerung begann, die Grundrechte aktiv einzufordern. 2. Legitimationsfrage Einen Anknüpfungspunkt für die Erwartungen der Bevölkerung bot die Programmfunktion der Grundrechte, die dadurch gleichzeitig für die politische Legitimation der Herrschaft an Bedeutung gewann. Es entstanden zwar keine verbindlichen Verpflichtungen, wohl aber subjektive Erwartungen an die Politik, dass die Grundrechte inhaltlich umgesetzt wurden. Dabei konnten sich diese Erwartungen auf die grundsätzliche Anerkennung durch die Verfassungen selbst berufen. Die Konsequenz war, dass anders als in Nordamerika und Frankreich die Freiheit vor dem Staat erst durch den Staat erfolgen konnte. Handelte der Staat nicht im Sinne der Freiheitsumsetzung, so missachtete er mit der Programmwirkung der grundsätzlich anerkannten frühkonstitutionellen Verfassungen gleichzeitig die „Heiligkeit des gegebenen Wortes und feierlicher Deklarationen“128. Obwohl die Grundrechte die Staatsgewalt nicht bindend verpflichteten, waren sie ein Versprechen, an das die Verfassungstexte stets erinnerten. Alle Maßnahmen der Regierung und des Monarchen konnten künftig auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten überprüft werden. Dabei ging es nicht nur darum, nicht gegen die Grundrechte zu verstoßen. Durch den zukunftsgerichteten Verheißungscharakter wurde die Erwartung geschürt, dass sich Parlament und Regierung der Sache der Grundrechte annahmen und diese umsetzten. Die Missachtung dieser Aufgabe war zwar keine Verletzung einer verfassungsrechtlichen Pflicht, bewirkte aber doch die moralische Diskreditierung der Regierung bzw. des Parlaments. Die Grundrechte wurden zur Kritikbasis gegenüber der Herrschaft.129 Der Monarch hatte mit den Grundrechten ein Versprechen gegeben. Erst die Umsetzung dieses Versprechens konnte die im Vormärz immer stärker werdenden Freiheitserwartungen befriedigen. Solange dies nicht geschehen war, wurde die Legitimation des Monarchen immer fragwürdiger.130 Das Gottesgnadentum hatte an Überzeugungskraft verloren und konnte in seiner Le127

Vgl. E.-W. Böckenförde, in: Recht, Staat, Freiheit, S. 244 (251 ff.). M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, S. 116. 129 So D. Grimm, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 234 (247); vgl. auch ders., in: Simon, Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages, Ius Commune, Sonderheft 30, S. 45 (71); H. Brandt, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 460 (474); M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, S. 116. 128

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9. Kap.: Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte

gitimationswirkung nicht durch das künstliche Konstrukt des monarchischen Prinzips ersetzt werden.131 Entscheidend war deshalb – auch unter dem Eindruck der Französischen Revolution – die tatsächliche, moralische Legitimation, die der Monarch gegenüber der Bevölkerung besaß. Diese war nicht das Ergebnis der juristischen Auslegung der verfassungsrechtlichen Pflichten des Monarchen, sondern wurzelte im moralischen Empfinden der Bevölkerung. Diese Art der Legitimation hing letztlich davon ab, dass der Monarch das Versprechen, das er mit den Grundrechten gegeben hatte, tatsächlich einhielt. Dass es sich bei der Grundrechtsumsetzung nicht um eine positive verfassungsrechtlich bindende Verpflichtung handelte, war für die moralische Legitimation unerheblich. Auch wenn die Grundrechte eigentlich die Machtposition des Monarchen nicht gefährden und das monarchische Prinzip nicht in Frage stellen sollten, hing damit die tatsächliche Legitimation des Monarchen letztlich doch von der Umsetzung der Grundrechte ab. Hier ist ebenfalls eine Parallele zu den Entstehungsbedingungen der Grundrechte zu sehen: Die Monarchen hatten die Grundrechte zwar freiwillig, aber nicht aus reiner Beliebigkeit gewährt. Stattdessen waren sie faktisch dazu gezwungen, um ihre Herrschaft langfristig zu erhalten.132 Genauso waren sie nach dem Erlass der Grundrechte zwar nicht verfassungsrechtlich zur einfachgesetzlichen Umsetzung eben dieser verpflichtet, aber faktisch dazu gezwungen, um ihre moralische Legitimation innerhalb der Bevölkerung zu wahren. Anders als die Freiheitsrechte im Preußischen ALR waren die Grundrechte damit nicht mehr allein von der monarchischen Willkür abhängig. Stattdessen wurden sie mit dem Übergang zum Konstitutionalismus in einem – wenn auch beschränkten – Umfang verfassungsrechtlich abgesichert und es war nun umgekehrt die monarchische Legitimation, die von den Grundrechten abhängig wurde. Die Grundrechte besaßen nicht nur eine gesellschaftsverändernde Dynamik und waren mehr als „potentielles Recht“133. Sie zeigten aber mehr als die bloße Möglichkeit einer neuen Gesellschaftsordnung, deren Umsetzung im Belieben des Monarchen stand. Vielmehr waren sie feierliche, verfassungsrechtlich fixierte und so der Bevölkerung stets gegenwärtige Versprechen des Monarchen, diese Gesellschaftsordnung auch umzusetzen. Durch die Verfassungen wurde stets an das Versprechen erinnert und in den Bereichen, wo die Grundrechte zwar verfassungsrechtlich umgangen werden konnten, blieb ihre moralische Verbindlichkeit dennoch bestehen. 130 R. Wahl, Staat 18 (1979), S. 321 (331 ff.); D. Grimm, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 234 (239). 131 Vgl. dazu oben 7. Kapitel, V. 4. 132 Vgl. dazu oben 7. Kapitel, V. 133 Anders R. Wahl, Staat 18 (1979), S. 321 (338), der diese Bezeichnung Kosellecks für die Freiheitsrechte im Preußischen ALR [vgl. dazu oben 6. Kapitel, II. 3. g) bb)] für die frühkonstitutionellen Grundrechte verwendet.

V. Politische Funktion

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3. Verschärfung der Legitimationsfrage durch die liberale Staatsrechtslehre Die Widersprüchlichkeit der frühkonstitutionellen Verfassungen, die durch das monarchische Prinzip auf der einen und der konstitutionellen Bindung auf der anderen Seite entstanden war, wirkte sich auf die Grundrechte in besonderem Maße aus. Aufgrund der Unklarheit über die Bedeutung der Grundrechte war die Bewertung durch die Staatsrechtslehre besonders wichtig. Doch allein mit juristischen Auslegungsmethoden vermochte auch die Staatsrechtslehre keine klare Antwort zu finden. Um die Widersprüchlichkeit der frühkonstitutionellen Verfassungen aufzulösen, bedurfte es daher zunächst einer politischen Entscheidung. Verfassungsfragen waren somit untrennbar mit politischen Fragen verbunden.134 Die Folge war, dass die Staatsrechtslehre unausweichlich zum Diskussionsforum für verschiedene politische Anschauungen wurde. Auf dem Gebiet der Wissenschaft hatten es nun die liberalen Ideen im Vergleich zu den restaurativen und konservativen Ansichten leichter: Sie entsprachen dem Geist der Aufklärung und waren gerade in der Theorie geboren worden, während die restaurativen Ansichten auf pragmatischen, theoretisch nicht überzeugenden Erwägungen zum Machterhalt beruhten. Außerdem bot die Staatsrechtslehre den Liberalen eine Möglichkeit, ihre Ideen, solange die praktische Umsetzung noch nicht möglich war, zumindest theoretisch zu entfalten, weshalb man sich ihr mit besonderem Eifer widmete. Die Konsequenz war, dass sich eine bedeutende liberale Staatsrechtslehre entwickelte, die gleichzeitig zum Hort fortschrittlicher politischer Ideen wurde. Gegenstand der Staatsrechtslehre war die Frage nach dem Geltungsgrund der Grundrechte. Die liberalen Auffassungen lösten sich dabei vom unbefriedigenden Wortlaut der Verfassungstexte, in denen von der einseitigen Gewährung durch den Monarchen die Rede war. Stattdessen beriefen sie sich auf den naturrechtlichen Geltungsgrund und das Naturrecht wurde als Ersatzverfassung herangezogen.135 Damit wurde das gesamte positive Verfassungsrecht in ein überpositives Begründungsschema eingekleidet.136 Gleichzeitig legte die liberale Staatsrechtslehre damit eine andere Machtverteilung innerhalb des Staats zu Grunde, als es das monarchische Prinzip getan hatte. Der Monarch thronte nicht mehr über allem, sondern wurde in das naturrechtliche System verschiedener Rechte und Pflichten eingebunden. Die Beachtung der Grundrechte war daher 134

Vgl. M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, S. 101, 119. Besonders deutlich wird das bei P. Pfizer, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. XV (Urrechte und unveräußerliche Rechte), S. 610 ff.; vgl. zur naturrechtlichen Begründung der persönlichen Freiheit oben 8. Kapitel, II. 4. c), zur Gewissensfreiheit IV. 4. b); zur Pressefreiheit oben V. 4. c); zur Ableitung der Assoziationsfreiheit aus dem Naturrecht VI. 3. b); zur Ersatzfunktion des Naturrechts 6. Kapitel, I. 2. d). 136 So D. Grimm, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 234 (237). 135

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9. Kap.: Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte

mehr als ein einseitig gegebenes Versprechen, sie war zur naturrechtlichen Verpflichtung geworden, die von der liberalen Staatsrechtslehre sogar ersatzweise in den Rang einer verfassungsrechtlichen Verpflichtung erhoben wurde. Die Legitimationsfrage, die sich an den Grundrechten ohnehin schon entzündete, erfuhr dadurch eine Verschärfung. Zum einen wuchsen mit dem Umfang der geforderten angeborenen Menschenrechte auch die Erwartungen innerhalb der Bevölkerung, zum anderen wurden die Grundrechte auch für den Monarchen verbindlich. Deutlich wird das schon an den zurückhaltenden Ausführungen Schmitthenners, der neben den verfassungsmäßigen Freiheitsrechten angeborene Menschenrechte anerkannte, die der Monarch aber nur ethisch zu beachten verpflichtet sei137 – eine Auffassung, die an den unterschiedlichen Verpflichtungscharakter des positiven und natürlichen Rechts bei Thomasius erinnert.138 Wenn nun der Monarch die gewährten Grundrechte nicht schützte und tatsächlich umsetzte, war es nicht mehr nur ein selbst gegebenes Versprechen, das der Monarch brach. Vielmehr verletzte er eine ihm nach ethischen Maßstäben von außen auferlegte Pflicht. Dahinter verbarg sich ein noch grundsätzlicheres Legitimationsproblem. Mit der naturrechtlichen Anerkennung angeborener Menschenrechte war deren Schutz und Absicherung zum Zweck des Staates geworden.139 Folglich konnte sich der Monarch nicht mehr auf das Gottesgnadentum berufen, sondern musste sich in den Dienst der angeborenen Menschenrechte stellen. Dazu gehörte es aber, dass auch die verschiedenen Meinungen, die sich in der öffentlichen Meinung bündelten, geschützt wurden. Wenn sich aber eine öffentliche Meinung ungehindert im Staat herausbilden konnte, so war die Legitimation des Monarchen davon abhängig, dass seine Politik mit der öffentlichen Meinung übereinstimmte. Pfizer war davon überzeugt, „daß keine Regierung dem vernünftigen Willen der Volksmehrheit oder der öffentlichen Meinung systematisch und beharrlich entgegenhandeln dürfe“140. Damit verlor der Monarch jegliche eigene Autorität. Inhaber der Staatsgewalt konnte er nur sein, solange er als Sprachrohr und Organ der öffentlichen Meinung fungierte. Dann wäre er aber nicht mehr monarchisch, sondern nur noch demokratisch zu legitimieren gewesen. Für die liberale Staatsrechtslehre war die Legitimation des Monarchen daher von der Anerkennung der Grundrechte durch diesen abhängig und konnte letztlich nur demokratisch erfolgen. Hierbei handelte es sich jedoch nur um theoreti137

Grundlinien des allgemeinen oder idealen Staatsrechts, S. 557 f. Vgl. dazu oben 3. Kapitel, II. 1. b). 139 P. Pfizer, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. XV (Urrechte und unveräußerliche Rechte), S. 626, 633; S. Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht, S. 36; Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 2, S. 1. 140 P. Pfizer, in: Rotteck/Welcker, Staatslexikon, Bd. XV (Urrechte und unveräußerliche Rechte), S. 634; vgl. auch R. von Mohl, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1846, S. 451 (481). 138

VI. Verfassungsverändernde Funktion

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sche Ideen, die im positiven Recht nicht umgesetzt waren. Aufgrund des unlösbaren Zusammenhangs zwischen Staatsrechtslehre und Politik konnten diese Ideen aber auch von den liberalen Politikern genutzt werden. Dabei waren es oftmals die Staatsrechtslehrer selbst, die sich in den Kammern unermüdlich für einen besseren Grundrechtsschutz einsetzten.141 Folglich konnte die liberale Staatsrechtslehre auch die zeitgenössische, oppositionelle Politik beeinflussen – was den Nachteil hatte, dass sie ebenfalls den Unterdrückungsmaßnahmen der Restauration ausgesetzt war.142 In der liberalen Staatsrechtslehre wurde damit die Widersprüchlichkeit der frühkonstitutionellen Verfassungen im Interesse eines besseren Grundrechtsschutzes unter Missachtung des verfassungsrechtlich verankerten monarchischen Prinzips zugunsten des demokratischen Prinzips aufgelöst. Diese Lösung fand auch in der resignierenden Bevölkerung, deren Wunsch nach Grundrechten unterdrückt wurde, Anklang. Die Forderung nach politischen Mitspracherechten verstärkte sich. Der Legitimationsdruck auf den Monarchen, der von den Grundrechten ausging, wurde dadurch erhöht.

VI. Verfassungsverändernde Funktion Die frühkonstitutionellen Grundrechte entwickelten ein Eigenleben und zogen die Forderung nach politischen Mitspracherechten nach sich. Als reine Abwehrrechte konzipiert, weckten die Staatsbürgerrechte das Bedürfnis nach aktiven Mitbestimmungsrechten.143 Zunächst beeinflussten die Grundrechte damit die von weiten Kreisen der Bevölkerung geforderte verfassungsrechtliche Situation. Daneben wirkten sie aber auch tatsächlich verfassungsverändernd. Wie bereits angesprochen, wird die konstitutionelle Monarchie im verfassungsgeschichtlichen Schrifttum als Übergangsform gesehen, die auf eine Weiterentwicklung zur Volkssouveränität und zum Parlamentarismus hinauslaufen musste.144 In der konstitutionellen Monarchie wird ein dauerhaft nicht tragfähiger, letztlich widersprüchlicher Kompromiss zwischen Monarchie und Volkssouveränität gesehen.145 Schon im Frühkonstitutionalismus sei absehbar, dass dieser Kompromiss 141 Zum Einsatz Welckers für die Pressefreiheit vgl. 8. Kapitel, V. 3. c) bb), 4. c) bb); vgl. auch die Restriktionen des Bundes-Universitätsgesetzes, abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 101. 142 Vgl. zur Versetzung der liberalen Staatsrechtslehrer Rotteck und Welcker in den vorzeitigen Ruhestand oben 8. Kapitel, V. 3. c) bb). 143 H. Brandt, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 460 (468). 144 E.-W. Böckenförde, in: Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, S. 146 ff.; vgl. dazu U. Scheuner, in: Bosl, Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlage in der ständischen Repräsentation, S. 297 (302) m. w. N.; W. Heun, in: FS Rauschning, S. 41 (52 ff.); O. Brunner, in: Hofmann, Die Entstehung des modernen souveränen Staates, S. 115 (133 ff.); a. A. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 9 ff.

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9. Kap.: Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte

in eine Demokratisierung und Parlamentarisierung münden müsse.146 Einen Übergangscharakter erhielt die frühkonstitutionelle Monarchie auch in der liberalen Staatsrechtslehre: Es wurde betont, dass die gegebenen Verfassungen keineswegs ideal seien, sondern stets der Verbesserung bedürften. Maßstab für die Fortentwicklung und Modifizierung der Verfassung sollten dabei „die fortschreitende Wissenschaft“ sowie die „Übereinstimmung mit den verschiedenen Stufen der Volkscultur“ sein.147 Zwar mochten die Verfassungen demnach in ihrer Gewährung allein vom monarchischen Willen abhängen, für ihre Weiterentwicklung waren aber die Erkenntnisse der Staatsrechtslehre und die Auffassung der Bevölkerung ausschlaggebend. In welche Richtung die Weiterentwicklung erfolgen musste, verdeutlichte Mohl: Eine parlamentarische, auf demokratischen Grundsätzen beruhende Staatsform sei das Ziel, das erreicht werde, wenn sich die frühkonstitutionellen Verfassungen voll entfalten könnten.148 Die These vom Übergangscharakter der frühkonstitutionellen Monarchie wird durch die Untersuchung der frühkonstitutionellen Grundrechte bestätigt. Diese waren auf eine Ausdehnung und Weiterentwicklung im parlamentarischen, auf dem Gedanken der Volkssouveränität beruhenden System angelegt. Grundsätzlich anerkannt, konnten ihnen die verfassungsrechtlichen Entfaltungsbedingungen nicht auf Dauer versagt werden. Allein die Eigendynamik der frühkonstitutionellen Grundrechte bewirkte, dass die frühkonstitutionelle Monarchie auf lange Sicht in eine parlamentarische und demokratische Staatsform übergehen musste. 1. Die Grundrechte als Auslöser des Kampfes zwischen dem monarchischen und dem demokratischen Prinzip In den frühkonstitutionellen Verfassungen sollte durch das monarchische Prinzip das demokratische Prinzip zwar anerkannt, damit aber gleichzeitig in seine endgültigen Grenzen gewiesen werden. Die demokratisch legitimierte Volksvertretung sollte lediglich an der Ausübung der Staatsgewalt teilhaben. Ein wichtiger Bereich, der in den Zuständigkeitsbereich der Volksvertretung fiel, waren die Zustimmungsbefugnisse in der Gesetzgebung, die einen besseren Grundrechtsschutz ermöglichen sollten. Hierbei handelte es sich jedoch nicht um eine Kompetenz, die eine klare Einschränkung des demokratischen Prinzips und eine Unterordnung unter das monarchische Prinzip erlaubte. Vielmehr war

145

E.-W. Böckenförde, in: Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, S. 146 (147). So H. Boldt, in: Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte, Der Staat, Beiheft 10 (1993), S. 151 (153). 147 Aretin/Rotteck, Staatsrecht, Bd. 3, S. 261. 148 R. von Mohl, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1846, S. 451 (473 ff.). 146

VI. Verfassungsverändernde Funktion

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die Kompetenz auf eine Ausdehnung und auf eine Stärkung des demokratischen Begriffs angelegt. Zunächst besaß der Zuständigkeitsbereich der demokratisch legitimierten Volksvertretung keine eindeutigen Grenzen. Es war unklar, was mit „Freiheit und Eigentum“ überhaupt gemeint war und es fehlte an einem Konsens über den Umfang der durch die Zustimmung zu schützenden Grundrechte. Die Volksvertretungen orientierten sich bei der Lösung diesen Problems nicht am Willen des Monarchen, sondern – entsprechend ihrer Legitimation – an der Auffassung der Bevölkerung. Diese war jedoch mit dem positivrechtlich erreichtem Ausmaß der Grundrechte unzufrieden. Beeinflusst durch die liberale Staatsrechtslehre, die abweichend von den Verfassungstexten das Naturrecht als Geltungsgrund der Grundrechte heranzog, forderte sie umfassende Freiheiten. Die Folge war, dass auch die Volksvertretungen auf eine weite Auslegung der Freiheits- und Eigentumsklausel und somit auf eine Ausdehnung ihrer eigenen Kompetenz zu Lasten des Monarchen hinarbeiteten. Dabei konnten sie sich auf die Verfassungen selbst berufen: Diese erkannten die Grundrechte grundsätzlich an. Es ließ sich unmittelbar aus den Verfassungen ableiten, dass es der Zweck der Volksvertretungen sein sollte, die Grundrechte zu schützen. Allerdings sahen die Verfassungen dazu nur unzureichende Schutzinstrumente vor. Diese wurden deshalb als erstes Stadium einer weiteren Entwicklung aufgefasst. In Übereinstimmung mit dem Volkswillen und der liberalen Staatsrechtslehre musste deshalb das Parlament gegenüber der monarchischen Regierung gestärkt werden. Um eine „folgerichtige Durchbildung der Volksrechte“ zu ermöglichen149, bedurfte es einer Erweiterung der Kontrollbefugnisse des Parlaments. Außerdem musste das Parlament unverfälschtes Abbild des Volkswillens sein und der Monarch durfte keinen Einfluss auf seine Zusammensetzung haben. Somit wurde eine Machtverschiebung vom Monarchen zum Parlament erforderlich. Obwohl das monarchische Prinzip über dem demokratischen stehen sollte, konnte der Monarch diese Kompetenzverschiebung nicht aufhalten: Eine Beschränkung der Volksvertretung und des demokratischen Prinzips hätte eine Beschränkung des Grundrechtsschutzes bedeutet. Dadurch wäre aber wiederum seine eigene Legitimität in Frage gestellt worden. Der Kampf um die Grundrechte hatte gezeigt, dass es nicht allein auf ihre verfassungsrechtliche Gewährung, sondern vor allem auf ihre Absicherung und ihren Schutz ankam.150 Eine Ausdehnung der frühkonstitutionellen Schutzmöglichkeiten bedeutete eine Stärkung des Parlaments und des demokratischen Prin149 R. von Mohl, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1846, S. 451 (479 ff.). 150 Vgl. E. Schmidt-Jortzig, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 10, Rdnr. 26.

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9. Kap.: Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte

zips. Somit war durch die Grundrechte in den Verfassungen selbst ein Ansatzpunkt für die Weiterentwicklung zum parlamentarischen, auf dem Gedanken der Volkssouveränität beruhendem System geschaffen. Der ursprüngliche Zweck des monarchischen Machterhalts, der hinter den Grundrechten stand, wirkte deshalb nur kurzfristig: Zwar wurde eine Revolution verhindert und eine Machtverlängerung erreicht, auf lange Sicht war aber der endgültige Machtverlust des Monarchen vorbereitet. 2. Die verschiedenen Grundrechtsinhalte Bestätigt wird dieses Ergebnis durch eine Untersuchung der verschiedenen Grundrechtsinhalte. Diese bewirkten nicht nur ein freiheitsgünstiges Klima und eine Politisierung der Bevölkerung. In ihrer verfassungsrechtlichen Verankerung zeichneten die Grundrechte zudem den Übergang zum demokratischen Parlamentarismus vor. Durch die prinzipielle Anerkennung der staatsbürgerlichen Gleichheit wurde das Individuum in ein unmittelbares Verhältnis zum Staat gesetzt. Die ungleiche Ausgestaltung des Wahlrechts war immer schwerer zu rechtfertigen. Konsequent zu Ende gedacht verlangte das Prinzip der staatsbürgerlichen Gleichheit, dass jeder die gleichen Möglichkeiten zur aktiven Gestaltung des Staates haben und sich nur dem Willen der Mehrheit unterwerfen musste. Gegen diesen konsequenten Gleichheitssatz verstieß die bevorzugte Stellung, die der Monarch durch das monarchische Prinzip besaß und letztlich wurde eine Demokratisierung erforderlich. Die Freiheit der Person war zunächst gleichbedeutend mit der Sicherung der explizit in den Verfassungen genannten Staatsbürgerrechte. Eine Ausdehnung sollten diese nicht erfahren. Schon die enge Auslegung der Freiheit der Person machte aber eine Erweiterung der justiziellen Rechte erforderlich. Die Unabhängigkeit der Justiz sowie die Rechtsstellung des Individuums mussten gestärkt werden. Somit wirkte auch die Freiheit der Person verfassungsverändernd, indem sie eine rechtsstaatliche Entwicklung auslöste. Das Eigentum war in den frühkonstitutionellen Verfassungen eine Voraussetzung, um über das Wahlrecht aktiv an der Gestaltung des Staates mitwirken zu können. Der Schutz des Eigentums bedeutete daher auch Schutz politischer Mitwirkungsrechte. Das Eigentum wurde damit zur verfassungsrechtlich geschützten Brücke, die einen Übergang politischer Mitwirkungsrechte auf das Individuum ermöglichte. Mit der Freiheits- und Eigentumsklausel wurde gleichzeitig schon im frühkonstitutionellen Staat die gedankliche Grundlage einer gesetzmäßigen Verwaltung gelegt. Jede Entfaltung dieses Gedankens lief darauf hinaus, dass die Abhängigkeit der Exekutive vom Parlament wuchs.

VI. Verfassungsverändernde Funktion

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Mit der Pressefreiheit wurde ein Grundrecht gewährleistet, das über die frühkonstitutionellen Verfassungen hinauswies. Die Anerkennung der öffentlichen Meinung führte dazu, dass sich diese auch als politische Kraft konstituierte. Wenn sich die öffentliche Meinung frei entfalten konnte, wurde der Monarch von dieser abhängig. Seine Herrschaftsmacht war nur solange gesichert, wie seine Politik mit der öffentlichen Meinung übereinstimmte. War dies nicht der Fall, konnte ihn die Öffentlichkeit kritisieren und sich gegen ihn auflehnen. Folglich war es die öffentliche Meinung, die die Regierung bestimmen konnte und musste. In den frühkonstitutionellen Verfassungen waren aber die Parlamente kein Abbild der öffentlichen Meinung und ihr Einfluss auf die Regierung war beschränkt. Deshalb sollte die Presse als Ersatzelement zur unvollkommenen Verfassung den Einfluss der öffentlichen Meinung stärken und die Regierung kontrollieren. Folglich kam der Pressefreiheit eine unmittelbar verfassungsverändernde Funktion zu. Die Assoziationsfreiheit offenbart die Offenheit der frühkonstitutionellen Verfassungen. Obwohl sie nicht in den Grundrechtskatalogen enthalten war, wurde die Assoziationsfreiheit von der Staatsrechtslehre und durch die Bevölkerung in den Rang eines Grundrechtes erhoben. Einen Ansatzpunkt dafür bot der staatsorganisationsrechtliche Teil der frühkonstitutionellen Verfassungen, der für die Durchführung von Wahlen sowie für die Öffentlichkeit der Ständeversammlungen Assoziationen zuließ und voraussetzte. Die geforderte Assoziationsfreiheit sollte der öffentlichen Meinung Ausdruck verleihen und den mangelnden Rechtsschutz der frühkonstitutionellen Verfassungen kompensieren. Die Assoziationen wurden eine Vorform politischer Parteien, die für den modernen Parlamentarismus unentbehrlich sind. Deshalb wurde in der liberalen Staatsrechtslehre mit der Assoziationsfreiheit eine Ergänzung der Verfassung vorgenommen, die zu einer weiteren Annäherung an ein parlamentarisches System führte. Die Grundrechte in den frühkonstitutionellen Verfassungen bewirkten damit Widersprüche, deren Auflösung nur in eine Richtung möglich war. Ihre zukunftsweisende Funktion zeigte auf den Übergang zum Parlamentarismus und zur Volkssouveränität. Sie hatten eine verfassungsverändernde Funktion und ihr eigentlicher Wert ist nicht in ihrer Stellung in der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung Deutschlands, sondern in ihrer Bedeutung für eben diese zu sehen. Eine wichtige Voraussetzung für die in den Grundrechten angelegte Weiterentwicklung der Verfassungen war allerdings im Frühkonstitutionalismus noch nicht vollständig erfüllt: Die Übereinstimmung mit dem Interesse der Machthabenden.151 Zwar hatte das besitzende Bürgertum an politischem Einfluss gewonnen und konnte sich für die Grundrechte einsetzen, gegen die politische 151

Vgl. dazu oben 7. Kapitel, VII.

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9. Kap.: Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte

Macht der Restauration konnte es sich aber noch nicht durchsetzen. Die volle Entfaltung der Grundrechte stand somit quer zur politischen Kräftekonstellation.152 Sei stießen faktisch „an fast eherne Grenzen“153, die ihre Geltungskraft einschränkten. Keineswegs aber erlosch dadurch die zukunftsweisende Funktion der Grundrechte. Vielmehr wurde die Legitimationsfrage, die sich an den Grundrechten entzündete, verschärft. Die Konsequenz war, dass sich innerhalb der „ehernen Grenzen“ die Spannungen erhöhten und sich in der Revolution von 1848 entluden.

152 So auch H. Brandt, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 460 (477); D. Grimm, in: Simon, Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages, Ius Commune, Sonderheft 30, S. 45 (72). 153 K. Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland, S. 15.

10. Kapitel

Ausblick auf die weitere Grundrechtsentwicklung I. Die Paulskirchengrundrechte als Reaktion auf die eingeschränkte Geltungskraft der Grundrechte im Frühkonstitutionalismus Eine zentrale Forderung der Revolution von 1848 war die Einführung von Grundrechten. Es entstand eine über die Einzelstaaten hinausgehende Bewegung, die nach Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit, nach justiziellen Rechten, nach der endgültigen Aufhebung der Feudallasten und nach einem allgemeinen Wahlrecht verlangte.1 Das gemeinsame Ziel war es, Bevormundungen, Verfolgungen und Unterdrückungen der Freiheitsrechte, wie sie im Restaurativsystem Metternichs vor allem durch die Karlsbader Beschlüsse stattgefunden hatten, ein für alle mal auszuschließen. Die „Freiheit und Selbstständigkeit“2 der Deutschen war ein bedeutendes Anliegen, dem sich die von den Revolutionären geforderte Nationalvertretung annehmen sollte. Die Nationalversammlung, die in der Paulskirche zusammentrat, begann ihre Arbeit am 3. Juli mit der Beratung der Grundrechte. Schon daran kann man die Bedeutung der Grundrechte für die Revolution von 1848 erkennen.3 Am 27. Dezember 1848 wurden die Grundrechte zunächst durch ein einfaches Reichsgesetz in Kraft gesetzt4, bevor sie in die Frankfurter Reichsverfassung vom 28. März 1849 aufgenommen wurden.5 Als Vorgabe für die Arbeit konnten die Petitionskataloge der revolutionären Märzbewegung genutzt werden.6 Mit Sylvester Jordan, Robert von Mohl und Karl Theodor Welcker gehörten gerade 1 Vgl. E. Eckhardt, Die Grundrechte vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart, S. 28 f.; D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 179; A. Voigt, Geschichte der Grundrechte, S. 83. 2 So die Erklärung der Heidelberger Versammlung vom 5. März 1848, abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 326. 3 So auch F. Giese, Die Grundrechte, S. 20. 4 RGBl. 1848, S. 49. 5 RGBl. 1849, S. 101; ebenfalls abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 375. 6 O. Dann, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 515 (528); E. Eckhardt, Die Grundrechte vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart, S. 28 ff.

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10. Kap.: Ausblick auf die weitere Grundrechtsentwicklung

diejenigen zu den Sprechern der Nationalversammlung, die sich schon im Frühkonstitutionalismus für eine Absicherung und Erweiterung der Grundrechte eingesetzt hatte.7 Die aus der Revolution hervorgegangen Paulskirchengrundrechte waren somit eine Reaktion auf das vorherige „Kümmerdasein“8 der frühkonstitutionellen Grundrechte. Es sollte ein „rechtsstaatliches Gegenmodell zum überkommenen, leidvoll erfahrenen Polizeistaat“ 9 geschaffen werden. Ein Blick auf den Inhalt der Paulskirchengrundrechte bestätigt dieses Ergebnis: 1. Gleichheit Zu Gewalthandlungen kam es während der Revolution von 1848 zunächst auf dem Land, wo die drückenden Feudallasten, obwohl dies vom frühkonstitutionellen Grundrechtsprogramm eigentlich vorgesehen war, noch nicht abgelöst waren.10 Schon deshalb bestand an der Gleichheit ein nachdrückliches Interesse. Gemäß § 137 der Frankfurter Reichsverfassung sollten alle Deutschen vor dem Gesetz gleich sein. Die Formulierung des Gleichheitsgrundsatzes stimmt nahezu wörtlich mit Art. 18 der Verfassung Hessens vom 17. Dezember 1820 überein. Anders als im Frühkonstitutionalismus war der Gleichheitsgrundsatz aber nicht nur in seiner Formulierung, sondern auch in seiner Ausgestaltung allgemein: Es sollte gemäß § 137 FRV keine Standesunterschiede mehr geben und der Adel wurde, auch wenn während der Grundrechtsberatungen seine historisch-soziale Bedeutung betont wurde11, als Stand rechtlich aufgehoben. Die Aufhebung der Adelsvorrechte richtete sich auch gegen Art. 14 DBA12, der die frühkonstitutionellen Gleichheitssätze unterlaufen hatte. Die ständisch feudale Gesellschaftsordnung sollte nun endgültig in eine bürgerliche überführt werden. Gegenstand der Kritik war im Frühkonstitutionalismus vor allem die ungleiche Ausgestaltung des aktiven und passiven Wahlrechts. Die Paulskirchenverfassung sah dementsprechend keine nach altständischem Muster zusammengesetzte erste Kammer vor, in der Adel und Klerus überrepräsentiert waren. Es wurde ein allgemeines Wahlrecht für alle Männer über fünfundzwanzig eingeführt.13 Die den Frühkonstitutionalismus prägende Verbindung zwischen Wahlrecht und Eigentum wurde im Wesentlichen aufgelöst. Allerdings waren Perso7 Vgl. die Liste der Sprecher im Frankfurter Parlament bei H. Scholler (Hrsg.), Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche, S. 286. 8 So Ch. Starck, in: GS Sasse, S. 777 (784). 9 So K. Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland, S. 24. 10 D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 179. 11 So G. Beseler, abgedruckt in H. Scholler (Hrsg.), Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche, S. 257. 12 J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 290. 13 § 94 der Frankfurter Reichsverfassung i. V. m. § 1 des Reichswahlgesetzes, abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 396.

I. Paulskirchengrundrechte als Reaktion auf die Grundrechte

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nen, über deren Vermögen ein Konkursverfahren eröffnet war oder die Armenunterstützung aus öffentlichen Mitteln oder Gemeindemitteln bezogen, auch weiterhin vom Wahlrecht ausgeschlossen.14 In diesen Punkten wirkte die soziale Abstufung des Wahlrechts fort. Frauen besaßen kein Wahlrecht, obwohl bereits erste Stimmen die politische Emanzipation der Frau gefordert hatten.15 Auch an den Straßenkämpfen der Revolution hatten sich Frauen beteiligt und unter den 300 Toten befanden sich 15 Frauen.16 Folglich war der Ausschluss der Frauen vom Wahlrecht schon damals zweifelhaft. Mit der Einführung eines grundsätzlich allgemeinen Wahlrechts wurde das demokratische Prinzip gestärkt und der Erlass der Verfassung beruhte auf dem Gedanken der Volkssouveränität.17 In der Verfassung war aber der Fortbestand der Monarchie vorgesehen und eine Demokratie forderte der Gleichheitsgrundsatz der Paulskirche nicht. In den Beratungen der Grundrechte wurde deutlich, dass keine Gleichheit gewollt war, die eine bevorzugte Stellung von Fürsten, Ministern und Mitgliedern der Ständeversammlung ausschloss.18 Es war keine „rohe, materialistisch-kommunistische Gleichheit“ beabsichtigt, „welche alle natürlichen Unterschiede in den geistigen und physischen Fähigkeiten aufheben“19 würde. Stattdessen sollten „für alle Personen und Sachen, welche sich in gleicher Lage befinden, auch gleiche Gesetze bestehen müssen.“20 Die Gleichheit wurde deshalb nur von den Demokraten naturrechtlich als angeborenes Urrecht hergeleitet. Von der Mehrheit wurde sie als historisch gewachsenes, im Bewusstsein des Volkes lebendes Staatsbürgerrecht verstanden. Als solches schloss sie ein Festhalten an der Monarchie noch nicht aus. 2. Freiheit der Person Die Freiheit der Person sollte anders als in den frühkonstitutionellen Verfassungen nicht nur gesichert, sondern gemäß § 138 FRV „unverletzlich“ sein. Schon diese Formulierung deutet darauf hin, dass es nicht mehr nur um den Schutz einzelner Rechte, sondern um eine Sphäre ging, in die der Staat nur in Ausnahmefällen eingreifen durfte. Einfachgesetzliche Eingriffe in diese Sphäre 14

§ 2 Nr. 2 und 3 Reichswahlgesetz. Vgl. dazu J.-D. Kühne, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 3, Rdnr. 26. 16 D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 180. 17 W. Heun, in: FS Rauschning, S. 41 (49). 18 F. C. Dahlmann, abgedruckt in H. Scholler (Hrsg.), Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche, S. 240 ff. 19 So H. Ahrens, abgedruckt in H. Scholler (Hrsg.), Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche, S. 243. 20 H. Ahrens, ebd., S. 244; vgl. dazu auch J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 328 f. 15

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10. Kap.: Ausblick auf die weitere Grundrechtsentwicklung

sollten aber weiterhin möglich sein.21 Abgeschirmt wurde diese Sphäre durch justizielle Rechte. Verhaftungen bedurften eines richterlichen, mit Gründen versehen Befehls, der dem Verhafteten innerhalb eines Tages zugestellt werden musste. Außerdem durfte die Polizei niemanden länger als 24 Stunden in Verwahrung nehmen, danach musste sie die Person entweder freilassen oder einer richterlichen Behörde übergeben. Die Gerichtsverfahren sollten künftig öffentlich und mündlich sein und es wurden Schwurgerichte eingeführt.22 Anders als im Frühkonstitutionalismus reichte für eine Verhaftung das Vorliegen eines Gesetzes nicht aus und der Schutz durch den Richter wurde höher bewertet. Darin offenbaren sich Zweifel daran, dass ein wirksamer Grundrechtsschutz allein durch den Gesetzgeber erfolgen konnte.23 Die für eine effektive Absicherung der Grundrechte erforderliche Gewaltenteilung deutet sich an.24 Mit den eingeführten Justizrechten wurden gerade die Forderungen umgesetzt, die im Frühkonstitutionalismus aus der Freiheit der Person abgeleitet wurden.25 Die neuen Regelungen waren aber mehr als tradierte Habeas CorpusRechte26, die in bestimmten Bereichen die Abwehr des Polizeistaates ermöglichten. Vielmehr waren sie auf die Abschaffung des Polizeistaates bzw. dessen vollständige Überführung in den Rechtssaat ausgerichtet. Erst der Schutz über diese Justizrechte konnte aus der Freiheit der Person eine Rechtssphäre werden lassen. Zwar war damit noch kein genereller Freiheitsschutz im Sinne einer allgemeinen Handlungsfreiheit geschaffen.27 Eine erste Erweiterung erfuhr diese Rechtssphäre aber durch die Unverletzlichkeit der Wohnung (§ 140 FRV) und das Briefgeheimnis (§ 142 FRV). 3. Eigentum Genau wie die Freiheit der Person sollte das Eigentum in § 164 FRV im Vergleich zum Frühkonstitutionalismus nicht mehr nur gesichert, sondern unverletzlich sein.28 Auch das geistige Eigentum wurde anerkannt und sollte über die Reichsgesetzgebung geschützt werden. Die ständische Prägung des Eigentums, die noch im Frühkonstitutionalismus kennzeichnend gewesen war, wurde endgültig aufgehoben. Vom Eigentum ausgehende Hoheitsrechte wie die Patri21

J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 341 ff. §§ 178 f. FRV. 23 H. Scholler, Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche, Systematische Einführung, S. 23. 24 Vgl. dazu J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 349 ff. 25 Vgl. dazu oben 8. Kapitel, II. 4. b). 26 Diese Bezeichnung wählt aber H. Zoepfl, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, Bd. 2, S. 26. 27 J.-D. Kühne, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 3, Rdnr. 13. 28 Vgl. dazu J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 251 f. 22

I. Paulskirchengrundrechte als Reaktion auf die Grundrechte

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monialgerichtsbarkeit waren abgeschafft.29 Gleiches galt für ständisch motivierte Verfügungsbeschränkungen wie die Familienfideikommisse.30 Das allgemeine Eigentum wurde als ein „für die geistige und moralische Entwicklung des Individuums nothwendiges Institut“31 anerkannt, womit an die naturrechtliche Argumentation der liberalen Staatsrechtslehre im Vormärz angeknüpft wurde. Es wurde aber betont, dass von vornherein nur der gesetzmäßige Gebrauch des Eigentums geschützt sei.32 Damit wurden vorausschauend Angriffe der aufkommenden kommunistischen Auffassungen abgewehrt, die das Privateigentum als unsittlich betrachteten. Gegenüber dem Frühkonstitutionalismus wurde dem Eigentum eine zusätzliche Absicherung zu Teil: Für jede Enteignung war ein Gesetz erforderlich, so dass Administrativenteignungen künftig unzulässig wurden.33 Außerdem wurden die Forderungen nach weiteren Freiheitsrechten umgesetzt, die im Frühkonstitutionalismus aus dem Eigentumsrecht abgeleitet worden waren34: Erst die Freizügigkeit, die Gewerbe- und die Berufsfreiheit aus § 133 FRV ermöglichten es dem Individuum, sein freies Eigentum auf vielfältige Weisen einzusetzen und zu nutzen. 4. Glaubens- und Gewissensfreiheit Gemäß § 144 FRV sollte jeder Deutsche „volle Glaubens- und Gewissenfreiheit“ besitzen und insoweit stimmt der Wortlaut mit dem Preußischen Allgemeinen Landrecht überein.35 Die Glaubens- und Gewissensfreiheit wurde 1848 aber als umfassendes Grundrecht verstanden und ihr Inhalt wurde wesentlich erweitert: Gemäß § 145 FRV durfte jeder Deutsche seine Religion auch öffentlich ausüben. Dieses Recht war im Frühkonstitutionalismus auf die Angehörigen der anerkannten christlichen Glaubensgemeinschaften beschränkt gewesen, während alle anderen lediglich das Recht zur Hausandacht besaßen. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit der Paulskirche ging somit entscheidend über das forum internum hinaus und erstmals überhaupt war ein allgemeines Recht zur Religionsausübung verankert. 29 §§ 166 ff. FRV; vgl. zur Patrimonialgerichtsbarkeit J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 295. 30 §§ 165, 170 FRV; vgl. zum Scheitern der tatsächlichen Aufhebung der Fideikommisse J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 281. 31 So B. Hildebrand, in: H. Scholler (Hrsg.), Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche, S. 213. 32 B. Hildebrand, in: H. Scholler (Hrsg.), Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche, S. 211; vgl. auch H. Scholler, Systematische Einführung, S. 42. 33 § 164; vgl. auch H. Zoepfl, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, Bd. 2, S. 504; J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 161. 34 Vgl. dazu oben 8. Kapitel, III. 4. b). 35 § 2 II 11 ALR.

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10. Kap.: Ausblick auf die weitere Grundrechtsentwicklung

Während der volle Genuss der staatsbürgerlichen Rechte im Frühkonstitutionalismus noch die Zugehörigkeit zu einer der anerkannten christlichen Bekenntnisse gefordert hatte, war er gemäß § 146 FRV vom religiösen Bekenntnis vollkommen unabhängig. Niemandem sollte aufgrund seiner Religion ein Nachteil entstehen, weshalb auch keine Pflicht zur Offenbarung der religiösen Überzeugung bestand (§ 144 FRV). § 148 FRV betonte, dass niemand zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit gezwungen werden durfte. Dieses Verbot ergab sich eigentlich schon aus der Glaubens- und Gewissensfreiheit in § 144 FRV. Seine ausdrückliche Formulierung erklärt sich aus den Erfahrungen im Frühkonstitutionalismus: Trotz der verfassungsrechtlich formulierten Gewissensfreiheit waren dort z. B. mit der Kniebeugepflicht für alle Soldaten in Bayern kirchliche Handlungen unabhängig vom individuellen Glauben vorgeschrieben worden.36 Gestärkt wurde die Glaubens- und Gewissenfreiheit durch § 150 der FRV, wonach die Religionsverschiedenheit kein bürgerliches Ehehindernis mehr war. Gewissenszwänge, die entstehen konnten, wenn vor der Ehe ein Partner zum anderen Glauben übertreten musste, wurden dadurch vermieden. Einen weittragenden Unterschied zum Frühkonstitutionalismus bewirkte § 147 FRV: Die Parität der anerkannten christlichen Konfessionen wurde auf alle Religionsgemeinschaften erweitert. Keine Religion sollte durch den Staat in den Genuss bestimmter Vorrechte kommen und zur Gründung einer Religionsgemeinschaft war eine staatliche Anerkennung nicht erforderlich. Die Konsequenz war die vollständige Trennung der Kirche vom Staat.37 Verdeutlicht wurde die Neutralität des Staates gegenüber den verschiedenen Religionen durch die verfassungsrechtliche Bestimmung einer neutralen Eidesformel in § 149 FRV, die nicht auf ein bestimmtes Bekenntnis schließen ließ. Das ius reformandi war damit endgültig aufgehoben und die Glaubens- und Gewissensfreiheit erfuhr als staatsfreie Sphäre eine besondere Absicherung. 5. Pressefreiheit Die Unterdrückung der verfassungsrechtlich versprochenen Pressefreiheit hatte seit den Karlsbader Beschlüssen die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den bestehenden politischen Verhältnissen geschürt. Erst als nach der Französischen Februarrevolution 1848 auch in Deutschland eine revolutionäre Stimmung aufkam, gab der restaurative Deutsche Bund nach: Am 3. März kam er der For36 Vgl. zum Kniebeugeerlass in Bayern oben 8. Kapitel, IV. 3. b); H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 185. 37 H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, S. 192; A. Voigt, Geschichte der Grundrechte, S. 97; vgl. auch J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 308 ff.

I. Paulskirchengrundrechte als Reaktion auf die Grundrechte

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derung nach Pressefreiheit, die er jahrzehntelang ignoriert, unterdrückt und bekämpft hatte, entgegen und stellte es jedem Bundesstaat frei, die Zensur aufzuheben.38 Es war zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse gekommen und die Restauration sah sich erstmals gezwungen, dem liberalen Druck nachzugeben. Trotz dieser Konzession war die Revolution aber nicht aufzuhalten und die Pressefreiheit sollte in der Paulskirchenverfassung endgültig verwirklicht und abgesichert werden. Genau wie zuvor Art. 18d DBA verwies § 143 FRV auf ein künftiges Gesetz, das die Presse zum Gegenstand haben sollte. Es bestand jedoch ein wesentlicher Unterschied: § 143 FRV bestimmte ausdrücklich, dass jeder Deutsche das Recht habe, seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung frei zu äußern. Die Verfassung selbst bestimmte in einer detaillierten Regelung, dass es keine Präventivzensur oder andere vorbeugende Maßnahmen geben solle.39 Eine maßlose, dem öffentlichen Interesse zuwiderlaufende Presse wollte man jedoch nicht. Deshalb wurde eine nachträgliche Kontrolle der Presseerzeugnisse über die Gerichte vorgesehen (Art. 143 FRV), die schon im Frühkonstitutionalismus diskutiert und gefordert worden war. Die Linken hatten sich also in der Nationalversammlung mit der Forderung einer Pressefreiheit ohne ausdrückliche Beschränkung nicht durchsetzen können.40 Ihrem Einfluss ist jedoch die besondere Betonung der Pressefreiheit zu verdanken, die „unter keinen Umständen und in keiner Weise . . . beschränkt, suspendiert oder aufgehoben werdend darf.“41 Diese auffallende und herausstechende Formulierung ist kein Produkt juristischer Sachlichkeit. Sie ist emotional begründet und verlieh dem tieferen Wunsch nach Pressefreiheit Ausdruck, der im Frühkonstitutionalismus auf eine für die Bevölkerung entmündigende Art unterdrückt worden war. Neben der Presse unterlagen im Frühkonstitutionalismus aufgrund des Universitätsgesetzes die Universitäten einer starken Kontrolle. In § 153 FRV wurde nun die Freiheit der Wissenschaft und Lehre ausdrücklich normiert. Dadurch wurde die Universität als ein Ort geschützt, an dem sich freie Meinungen entwickeln und entfalten konnten.

38 Bundesbeschluss über die Einführung der Preßfreiheit, abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 329. 39 So G. Beseler, in: H. Scholler (Hrsg.), Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche, S. 145. 40 Vgl. H. Scholler, Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche, Systematische Einführung, S. 29. 41 Die Formulierung beruht auf dem Antrag von K. Nauwerck, in: H. Scholler (Hrsg.), Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche, S. 144; Hervorhebung durch die Verfasserin.

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10. Kap.: Ausblick auf die weitere Grundrechtsentwicklung

6. Assoziationsfreiheit Eine erste Empfehlung über die von der Nationalversammlung zu beschließenden Grundrechte hatten das Vorparlament vorgelegt, das vom 31. März bis zum 4. April 1848 tagte. Das Vorparlament war aus dem Heidelberger Treffen vom 5. März hervorgegangen, auf dem mit dem sog. Heidelberger Programm die Revolutionsforderungen formuliert wurden. Letztlich war es eine Versammlung privater Natur, die erste konkretisierte Vorschläge zum künftigen Grundrechtskatalog vorlegte.42 Schon an der Vorgeschichte der Paulskirchengrundrechte kann man daher erkennen, dass die Assoziation grundsätzlich anerkannt und anders als im Frühkonstitutionalismus nicht auf den unpolitischen Bereich beschränkt sein sollte. Gemäß § 161 FRV stand jedem Deutschen das Recht zu, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln, ohne dass es dazu einer Erlaubnis bedurfte. § 162 FRV enthielt das Recht, Vereine zu bilden. Eine vorherige Anerkennung des Staates war nicht erforderlich und andere vorbeugende Maßnahmen zur Beschränkung dieser Freiheit waren unzulässig. Das Assoziationsrecht, das im Frühkonstitutionalismus lediglich einfachgesetzlich geregelt war, wurde damit, nachdem es zuvor von der liberalen Staatsrechtslehre in den Rang eines Grundrechts gehoben worden war, erstmals tatsächlich verfassungsrechtlich abgesichert. Gleichzeitig erfuhr es eine inhaltliche Ausdehnung, indem auch die politische Assoziation zugelassen wurde. Deutlich wird das auch an § 159 FRV, der bestimmt, dass das Petitionsrecht auch „von Corporationen und von Mehreren im Vereine“ ausgeübt werden kann.43 Anders als im Frühkonstitutionalismus wurde damit die politische Organisation der Gesellschaft nicht mehr unterdrückt, sondern unter den besonderen Schutz der Verfassung gestellt. Die Paulskirchengrundrechte gewannen durch die Assoziationsfreiheit eine Modernität, durch welche sie sich sogar von der Französischen Menschenrechtserklärung von 1789 abhoben: Sie lösten sich vom rein individualistischen Ansatz und nahmen gesellschaftliche Organisationen in den Blick. Dahinter stand neben den liberalen Forderungen das konservative Bestreben, in Anknüpfung an die germanische Tradition nicht nur egoistische Einzelzwecke, sondern das Bleibende und Gemeinsame zu fördern.44 Die rechtshistorische Begründung dieses Ansatzes konnte dabei an die intermediäre Tradition anknüpfen.45 Die Assoziationen wurden aber nicht nur als geschichtlich gewachsene Erscheinung ge42 Vgl. A. Voigt, Geschichte der Grundrechte, S. 83; E. Eckhardt, Die Grundrechte vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart, S. 31 ff.; die Beschlüsse des Vorparlaments sind abgedruckt bei H. Scholler (Hrsg.), Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche, S. 60 f. 43 Vgl. zum Petitionsrecht J.-D. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 422 ff. 44 G. Beseler, in: J. G. Droysen (Hrsg.), Die Verhandlungen des Verfassungsausschusses der deutschen Nationalversammlung, Teil 1, S. 25 f. 45 J.-D. Kühne, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 3, Rdnr. 15.

I. Paulskirchengrundrechte als Reaktion auf die Grundrechte

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schützt, sondern auch als Instrumente, über die das Individuum aufgrund eines freien Entschlusses politischen Einfluss nehmen konnte. Öffentliche Vereine und Versammlungen boten dem Volk eine Möglichkeit, Kritik an der Regierung zu üben und diese zu kontrollieren.46 Daher war mit der Assoziationsfreiheit anders als im revolutionären Frankreich von 1789 eine weitere Voraussetzung der Demokratie verfassungsrechtlich verankert worden. 7. Vorgesehene Wirkungskraft der Paulskirchengrundrechte Nicht nur in ihrem Inhalt, sondern auch in ihrer Wirkungskraft sollten die Paulskirchengrundrechte die frühkonstitutionellen Grundrechte übertreffen. Dies wird schon an § 130 FRV deutlich, der bestimmte, dass keine Verfassung oder Gesetzgebung eines deutschen Einzelstaates die Grundrechte aufheben oder beschränken konnte. Aber nicht nur für die Gliedstaaten, sondern auch für das Reich selbst sollten die Grundrechte unmittelbar bindend sein.47 Dies verdeutlicht § 126 g FRV, der es dem deutschen Staatsbürger ermöglichte, bei Verletzung der ihm durch die Reichsverfassung gewährten Rechte eine Art Verfassungsbeschwerde vor dem Reichsgericht zu erheben. Die Grundrechte wurden folglich auch als subjektive Rechte verstanden, mit denen sich das Individuum wirksam vor Übergriffen der Staatsgewalt schützen konnte. Die Wirkung der Paulskirchengrundrechte ging somit über die eines Programms hinaus. Andererseits stand man aber auch noch 1848 vor dem Problem, dass die Grundrechte der Konkretisierung durch ein einfaches Gesetz bedurften, auch wenn die frühkonstitutionellen Gesetzgeber in den Einzelstaaten durch ihre grundrechtskonkretisierende Arbeit den Gesellschaftswandel schon vorangetrieben hatten. Auch hier lernte man aus den Erfahrungen, die man im Frühkonstitutionalismus gemacht hatte. Die Umsetzung der Grundrechte sollte nicht den Unsicherheiten eines langwierigen politischen Prozesses überlassen werden, sondern mit Gewissheit und vor allem möglichst rasch geschehen. Deshalb wurden im Einführungsgesetz zu den Grundrechten Umsetzungsfristen für diese bestimmt. Sie sollten, wenn ihre unmittelbare Geltung sofort nicht möglich war, „möglichst bald“48, „ungesäumt“49 oder „innerhalb sechs Monaten“50 umgesetzt 46

W. Boldt, Die Anfänge des deutschen Parteiwesens, S. 31 ff. E. Eckhardt, Die Grundrechte vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart, S. 99; J.-D. Kühne, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 3, Rdnr. 31. 48 So Art. II des Einführungsgesetzes vom 27.12.1848, RGBl. 1848, S. 49, zu den Gesetzen und organischen Einrichtungen, die für den Grundsatz der Selbstständigkeit der Religionsgemeinschaften erforderlich waren. 49 Art. III des Einführungsgesetzes zu den Abänderungen und Ergänzungen der Landesgesetzgebung, die durch die Bestimmungen der Grundrechte geboten waren. 50 So Art. VIII des Einführungsgesetzes zu den Abänderungen der Grundverfassung einzelner deutscher Staaten, welche durch die Abschaffung der Standesvorrechte notwendig wurden. 47

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10. Kap.: Ausblick auf die weitere Grundrechtsentwicklung

werden. Aus den Geltungsschwierigkeiten der frühkonstitutionellen Grundrechte lernend wurden die Paulskirchengrundrechte so konzipiert, dass sie sich so schnell wie möglich voll entfalten konnten.

II. Bedeutung der Paulskirchengrundrechte und der frühkonstitutionellen Grundrechte in der deutschen Grundrechtsgeschichte In Inhalt und Funktion gingen die Paulskirchengrundrechte über den bis dahin in Deutschland erreichten Stand hinaus. Wäre die Paulskirchenverfassung nicht gescheitert, hätten sie die Basis einer Weiterentwicklung zum demokratischen Nationalstaat bilden können.51 Durch sie erfolgte eine Angleichung an die Menschenrechtserklärungen Nordamerikas und Frankreichs, wobei Letztere durch die Assoziationsfreiheit sogar noch weiterentwickelt wurde. Deshalb werden die Paulskirchengrundrechten zu Recht als „der bedeutendste Markstein“52 der deutschen Grundrechtsgeschichte gesehen. Allerdings darf in der deutschen Grundrechtsgeschichte nicht übersehen werden, dass dieser „Markstein“ durch die frühkonstitutionellen Grundrechte wesentlich vorbereitet, ja provoziert worden war. Die Programmfunktion der frühkonstitutionellen Grundrechte und die Jahre der restaurativen Unterdrückung hatten das Volk geradezu dazu herausgefordert, auf die tatsächliche Umsetzung des Programms hinzuarbeiten, die mit den Paulskirchengrundrechten endgültig erreicht werden sollte. Die inhaltliche Ausweitung der Grundrechte ging dabei nicht über das Maß hinaus, das auch schon im Frühkonstitutionalismus von der liberalen Staatsrechtslehre diskutiert wurde. Deshalb war es im Revolutionsjahr 1848 keineswegs neu, dass die Gesellschaft mit der Grundrechtsforderung an die Regierungen herantrat. Dies hatte sie seit den Befreiungskriegen trotz aller Restriktionen immer wieder getan. Neu war, dass sich die Machtverhältnisse verschoben hatten und dass die Gesellschaft zum ersten Mal gehört wurde. Die Paulskirchengrundrechte waren somit das Ergebnis einer längeren Entwicklung, deren tieferen Ursachen schon im Frühkonstitutionalismus lagen. Sie waren die vorprogrammierte Antwort auf die Unterdrückung und Beschränkung der frühkonstitutionellen Grundrechte. Erst dadurch wird die eigentliche Bedeutung der frühkonstitutionellen Grundrechte offenbar: Trotz aller Schwächen verdienen sie die Bezeichnung „Grundrecht“, da sie – grundsätzlich anerkannt und verfassungsrechtlich verankert – eine umfassendere Grundrechtserklärung herausforderten. Mit ihnen begann eine Entwicklung zugunsten der Freiheit und Gleichheit, die zwar vorübergehend gebremst, nicht aber aufgehalten werden konnte. Die deutsche Grundrechtsgeschichte wird deshalb bereits mit der ersten verfassungsrechtlichen Ver51 O. Dann, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 515 (529). 52 J. Ipsen, Staatsrecht II, Rdnr. 35.

III. Eingeschränkte Geltungskraft der Grundrechte

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ankerung von individuellen Freiheitsrechten im Frühkonstitutionalismus eingeleitet.53 Mit den frühkonstitutionellen Grundrechten wurden die Keime konstitutionalisiert, die sich früher oder später zur Blüte verfassungsrechtlich vollständig geschützter und abgesicherter Grundrechte entwickeln mussten.

III. Eingeschränkte Geltungskraft der Grundrechte im Spätkonstitutionalismus und deren Gründe Das Scheitern der Revolution führte dazu, dass die Paulskirchenverfassung nie in Kraft trat. Die einfachgesetzliche Einführung der Grundrechte vom Dezember 1848 war mit den reaktionären Interessen der wiederbelebten Bundesversammlung nicht vereinbar. Deshalb wurde in einem Bundesbeschluss vom 23. August 1851 erklärt, dass die Einführung der Grundrechte nicht „für rechtsgültig gehalten werden“ könne und „in allen Bundesstaaten als aufgehoben zu erklären“ sei.54 Damit wurde geleugnet, dass die Paulskirchengrundrechte jemals Geltung besessen hatten und das dunkle Kapitel der Reaktion wurde um ein schwerwiegendes Element bereichert.55 Kurz darauf wurden ein reaktionäres Bundespreßgesetz56 und ein Bundesvereinsgesetz57 erlassen, welche ganz in der Tradition der Karlsbader Beschlüsse standen und sogar noch restriktiver wirkten.58 Die Reaktion hatte wieder die Oberhand gewonnen. Die Revolution und die ausführlichen Grundrechtsberatungen in der Paulskirche hatten die tatsächliche Grundrechtsgeltung im Vergleich zum Frühkonstitutionalismus kaum verändert: In den Einzelstaaten bestanden bis auf geringfügige Erweiterungen die Grundrechtskataloge fort, die bereits vor 1848 eingeführt worden waren. Nach der Außerkraftsetzung der Paulskirchengrundrechte wurden deren Grundgedanken lediglich als Vorbild für die einfache Gesetzgebung genutzt, wenn es den Interessen der Reaktion an einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichem Wandel entsprach.59 Der Grundrechtskatalog der revidierten preußischen Verfassung vom 31. Januar 1850 war der einzige, der als Folgeerscheinung der Ereignisse des Jahres 1848 im Spätkonstitutionalismus 53

So auch H. Dreier, in: ders., Grundgesetz – Kommentar, Vorb. Art. 1, Rdnr. 13. Abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente II, S. 2. 55 So U. Scheuner, in: FS Huber, S. 139 (143); vgl. auch E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 136 ff. 56 Bundes-Preßgesetz vom 6. Juli 1854, abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente II, S. 3. 57 Bundesbeschluss über Maßregeln zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe im Deutschen Bunde, insbesondere das Vereinswesen betreffend, vom 13. Juli 1854, abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente II, S. 7. 58 K. Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland, S. 36 ff.; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 137. 59 Vgl. die Übersicht bei K. Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland, S. 39 f.; F. Giese, Die Grundrechte, S. 21 f.; U. Scheuner, in: FS Huber; S. 139 (153). 54

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noch Geltung besaß.60 In seiner oktroyierten Form war dieser zwar auch ein Eingeständnis von Friedrich Wilhelm IV. an die Revolution, primäres Ziel war aber der eigene Machterhalt.61 Im Vergleich zum Frühkonstitutionalismus waren die spätkonstitutionellen Grundrechte in ihrer Wirksamkeit nicht gestärkt worden. Der Geltungsgrund der Grundrechte wurde nicht im Naturrecht gesehen, sondern sie waren Produkt des vom Monarchen positiv gesetzten Verfassungsrechts.62 Mit den Grundrechten wurde dem Individuum eine Sphäre geschaffen, aus der sich die Staatsgewalt nur zurückzog. Folglich waren sie als freiwillige Selbstbeschränkung der Staatsgewalt noch immer einseitig gewährt. An einem Vorrang der Verfassung, der die Grundrechte hätte absichern können, mangelte es auch weiterhin.63 In der Verfassung Preußens wurde in Art. 106 ein richterliches Prüfungsrecht der Gerichte über das Zustandekommen eines Gesetzes und die Gesetzmäßigkeit von Verordnungen sogar ausdrücklich ausgeschlossen. Der Grundrechtsschutz wurde auch nicht als Aufgabe der sich langsam entwickelnden Verwaltungsgerichtsbarkeit angesehen.64 Eine subjektive Wirkung wurde den Grundrechten weiterhin abgesprochen.65 Wegweisend war erst Jellineks Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, die er 1892 entwickelte.66 Es fehlte zudem an einer ausdrücklichen Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte, so dass diese nur eine Programmfunktion entwickelten.67 An der Umsetzung des Programms bestand aber im Vergleich zum Frühkonstitutionalismus ein geringeres Interesse. Die Legitimation des Monarchen wurde davon nicht mehr abhängig gemacht und die revolutionäre Brisanz der Grundrechte hatte sich gelegt.68 Der mittelbare Einfluss, den die Grundrechte über die Programm60 Preuß. GS 1850, S. 17; ebenfalls abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente I, S. 501; vgl. dazu ausführlich M. Kotulla, Die rechtliche Tragweite der Grundrechte der revidierten preußischen Verfassung. 61 Dazu ausführlich M. Kotulla, Die rechtliche Tragweite der Grundrechte der revidierten preußischen Verfassung; vgl. auch J. Ipsen, Staatsrecht II, Rdnr. 36. 62 F. Giese, Die Grundrechte, S. 59 ff.; M. Kotulla, Die rechtliche Tragweite der Grundrechte der revidierten preußischen Verfassung, S. 10 f.; Th. Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen, S. 55. 63 Vgl. Th. Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen, S. 52; U. Scheuner, in: FS Huber, S. 139 (156 f.). 64 F. Giese, Die Grundrechte, S. 74. 65 Ausdrücklich P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, S. 138; vgl. auch H. Bauer, Geschichtliche Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, S. 65 ff.; D. Grimm, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 234 (250 ff.). 66 G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte; vgl. auch H. Bauer, Geschichtliche Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, S. 69. 67 Vgl. U. Scheuner, in: FS Huber, S. 139 (157); Th. Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen, S. 51; M. Kotulla, Die Tragweite der Grundrechte der revidierten preußischen Verfassung, S. 175. 68 D. Grimm, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 234 (265 f.).

III. Eingeschränkte Geltungskraft der Grundrechte

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funktion auf die Verwaltung hatten, ist daher gering einzuschätzen. Für den Spätkonstitutionalismus ist daher die Aussage, dass sich die Wirkung der Grundrechte gegenüber der Verwaltung auf das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung beschränkte, weitgehend zutreffend.69 Nach 1848 fehlte es den Grundrechten im Vergleich zum Frühkonstitutionalismus an einer politisierenden Wirkung. Sie blieben auf die Einzelstaaten beschränkt und in den beiden wichtigsten spätkonstitutionellen Verfassungen, nämlich der des Norddeutschen Bundes vom 26. Juli 186770 und der des Deutschen Reiches vom 16. April 187171, waren keine Grundrechte enthalten. Zwar gab es während der Verfassungsberatungen auch Stimmen, die sich für die Grundrechte einsetzten72, die Mehrheit zog es jedoch vor, „statt der abstrakten, allgemeinen Normativsätze, die man ,Grundrechte‘ zu nennen pflegt, . . ., lieber einzelne Grund-Gesetze“73 zu erlassen. Die politische und verfassungsverändernde Funktion der Grundrechte kam damit vorübergehend fast ganz zum Erliegen. Der Grund für die eingeschränkte Funktion der spätkonstitutionellen Grundrechte ist zunächst in einem Interessenwandel des Bürgertums zu sehen. Dieses sah sich schon während der Grundrechtsberatungen in der Paulskirche in seiner eigenen Machtposition anders als im Frühkonstitutionalismus weniger durch die monarchische Herrschaft, sondern immer stärker durch den herannahenden vierten Stand bedroht, der soziale Grundrechte und umfassende politische Mitspracherechte forderte. Die Liberalen lehnten einen radikaldemokratischen Ansatz ab, von dem sie eine Stärkung des vierten Standes befürchteten. Es wurde deshalb trotz Stärkung des Parlaments an der Monarchie festgehalten. Die Verfassungskonzeption der Paulskirche beruhte somit noch auf einer paritätischen Zweieinheitlichkeit von Fürst und Volk.74 Der in dieser Lösung zum Ausdruck kommende liberal-demokratische Kompromisscharakter prägte auch die Grundrechtsverhandlungen: Man näherte sich der Grundrechtsfrage mit großer Vorsicht und vermied abstrakte Erklärungen, die eine Radikalisierung, wie sie in Frankreich stattgefunden hatte, fördern könnten. Der naturrechtliche Begrün-

69 So D. Grimm, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, S. 234 f.; G. Anschütz, Verfassungsurkunde, S. 134; vgl. dazu oben 9. Kapitel, II. 2. 70 BGBl. NDB 1871, S. 2; ebenfalls abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente II, S. 272. 71 RGBl. 1871, S. 63; ebenfalls abgedruckt bei E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente II, S. 384. 72 Die verschiedenen Vorschläge zur Verfassung des Norddeutschen Bundes sind abgedruckt bei E. Bezold (Hrsg.), Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung, Bd. 1, S. 404 ff.; vgl. auch E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 665 f. 73 So der Abgeordnete Braun im constituierenden Norddeutschen Reichstag, abgedruckt bei E. Bezold (Hrsg.), Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung, Bd. 1, S. 438. 74 J.-D. Kühne, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 3, Rdnr. 28 ff.

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dungsansatz, der eine Ableitung sozialer Rechtsposition und einer weiterführende Demokratisierung ermöglicht hätte, wurde vom rechtshistorischen verdrängt.75 Eine Stärkung des vierten Standes zu Lasten des Bürgertums sollte verhindert werden. Dazu war das Bürgertum auch bereit, sich von der Revolution zu distanzieren. Nach 1848 waren mit der Paulskirchenverfassung vor allem die Grundrechte gescheitert. Ein Grund für die erfolglose Revolution wurde darin gesehen, dass sich die Nationalversammlung zu lange mit der Beratung der Grundrechte aufgehalten hatte. Die Niederlage der Revolutionäre von 1848 wurde deshalb vor allem auch als eine Niederlage der Grundrechte empfunden.76 Nachträglich wurde deren Debatte als „Schrecken ohne Ende“ beurteilt, der zu einem „Ende mit Schrecken“ geführt habe.77 In der weiteren verfassungsrechtlichen Entwicklung ging daher das Interesse an den Grundrechten zurück. Als abstrakte Grundsätze hatten sie die Gegenrevolution nicht verhindern können und waren wirkungslos geblieben. Aus dieser Erfahrung lernend, nahm auch das liberale Bürgertum von der Forderung nach verfassungsrechtlich proklamierten, abstrakten Grundrechten Abstand und besann sich auf die einfachgesetzlichen, unpolitischen Freiräume zurück. Unter dem Eindruck des herannahenden vierten Standes waren diese ausreichend, um die Forderungen des Bürgertums zu befriedigen. Erst die Revolution von 1918 ermöglichte es, an die bereits im Frühkonstitutionalismus entwickelten Grundgedanken der Paulskirchenverfassung anzuknüpfen. Die auf der Volkssouveränität beruhende Weimarer Reichsverfassung war daher nicht nur Ausdruck der in den Grundrechten seit dem Frühkonstitutionalismus angelegten Demokratisierung, sie war gleichzeitig das konstitutionelle System, in dem die Grundrechte erstmals zur vollen Entfaltung kommen konnten. Viele Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung78 waren wiederum Vorbild für den Grundrechtskatalog des Bonner Grundgesetzes vom 23. Mai 1949.79 Zum Zeitpunkt der Entstehung des Grundgesetzes hatten die Grundrechte somit in ganz Deutschland als umfassend verbürgte Rechtspositionen bereits eine hundertjährige Tradition, denn mit den Paulskirchengrundrechten von 75 O. Dann, in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, S. 515 (523); D. Grimm, Verfassungsgeschichte, S. 195; K. Kröger, Grundrechtsentwicklung in Deutschland, S. 26; U. Scheuner, in: FS Huber, S. 139 (149 f.); A. Voigt, Geschichte der Grundrechte, S. 92 ff. 76 J.-D. Kühne, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte I, § 3, Rdnr. 7; R. Wahl, Staat 18 (1979), S. 321 (340 f.). 77 So der Abgeordnete Braun im konstituierenden Norddeutschen Reichstag, abgedruckt bei E. Bezold (Hrsg.), Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung, Bd. 1, S. 438. 78 RGBl. 1919, S. 1383 (1404 ff.); ebenfalls abgedruckt bei Willoweit/Seif (Hrsg.), Europäische Verfassungsgeschichte, S. 637 (651 ff.). 79 BGBl. I 1949, S. 1 ff.; zur Vorbildfunktion J. Ipsen, Staatsrecht II, Rdnr. 40.

IV. Entstehungsbedingungen und Funktion der Grundrechte

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1848 war es erstmals zu einem revolutionär erkämpften, umfangreichen Grundrechtskatalog gekommen. Wichtig ist nun, dass die Paulskirchengrundrechte als Reaktion auf die eingeschränkte Geltungskraft der frühkonstitutionellen Grundrechte entstanden. Erste Wurzeln unserer heutigen Grundrechte sind deshalb schon in den frühkonstitutionellen Grundrechten zu sehen, die auf eine zwingende Weiterentwicklung angelegt waren.

IV. Entstehungsbedingungen und Funktion der Grundrechte in ihrer Abhängigkeit von den bestehenden Machtverhältnissen Die verfassungsverändernde Wirkung der frühkonstitutionellen Grundrechte, die auf einen Übergang zur parlamentarischen Demokratie angelegt waren, verdeutlicht den Zusammenhang zwischen den Entstehungsbedingungen und der Funktion der Grundrechte. Die Untersuchung der Entstehungsbedingungen im ersten Teil hat gezeigt, dass die Grundrechte immer vom politischen Interesse der Machthabenden abhängig sind. Die frühkonstitutionellen Grundrechten waren ein Kompromiss verschiedener Interessen: Vom machthabenden Monarchen wurden sie als Eingeständnis an das mächtiger werdende Bürgertum gewährt bzw. mit den noch nicht ganz entmachteten Ständen vereinbart. Auf den ersten Blick waren sie daher durchaus mit den bestehenden Kräfteverhältnissen vereinbar. Problematisch war jedoch, dass die verschiedenen Machtinteressen nicht in einen eindeutigen Ausgleich zu bringen waren. Der Kompromiss, der den frühkonstitutionellen Verfassungen zu Grunde lag, beruhte daher nicht auf einer Einigung, sondern auf Widersprüchen, die nach Auflösung verlangten. Dabei entwickelten die Grundrechte eine Eigendynamik, die eine Auflösung dieser Widersprüche nur zugunsten des demokratischen Prinzips zuließ. Die Grundrechte wurden zum Selbstläufer und entwickelten eine Funktion, die von der Mehrheit der Machthabenden nicht beabsichtigt war. Folglich wurde die verfassungsverändernde Funktion der Grundrechte im Frühkonstitutionalismus unterdrückt. Die Verschiebung der Machtverhältnisse, die notwendig war, damit die Grundrechte ihre verfassungsverändernde Funktion erfolgreich ausüben konnten, wurde 1848 nur kurzzeitig erreicht. Danach war das Interesse des Bürgertums an den Grundrechten geschwächt und eine wichtige Machtstütze, die bislang hinter den Grundrechten gestanden hatte, entfiel. Die Entstehungsbedingungen der spätkonstitutionellen Grundrechte waren damit anders und die verfassungsverändernde Funktion der Grundrechte kam fast ganz zum Erliegen. Erst 1918, hundert Jahre, nachdem die ersten frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge aufgestellt worden waren, ließ die geänderte politische Kräftekonstellation den in den Grundrechten angelegten Übergang zur parlamentarischen Demokratie zu. Daran wird deutlich, dass die Grundrechte nicht nur in ihrer Entstehung von den Interessen der Machthabenden abhängig sind, sondern auch ihre Funktion nicht konträr zu diesen entfalten können. Die frühkonstitutionellen Grundrechte

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zeigen aber, dass über die Politisierung der Bevölkerung und die Infragestellung der Legitimation des Monarchen, durch die Grundrechte selbst eine Verschiebung der Machtverhältnisse erreicht werden kann. Während die Grundrechte damit in ihrer Entstehung ein getreues Abbild der bestehenden Machtverhältnisse waren, konnten sie sich in ihrer Funktion konträr zu diesen entwickeln und sogar Einfluss auf sie nehmen.

Anhang A. Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26. 5. 1818 (Bayerisches Gesetzblatt 1818, S. 101 ff.) Titel IV. Von allgemeinen Rechten und Pflichten § 1 Zum vollen Genuss aller bürgerlichen, öffentlichen und Privatrechte in Baiern wird das Indigenat erfordert, welches entweder durch die Geburt oder durch die Naturalisirung nach den nähern Bestimmungen des Edictes über das Indigenat erworben wird. § 2 Das Baierische Staats-Bürgerrecht wird durch das Indigenat bedingt, und geht mit demselben verloren. § 3 Nebst diesem wird zu dessen Ausübung noch erfordert: a) die gesetzliche Volljährigkeit; b) die Ansässigkeit im Königreiche, entweder durch den Besitz besteuerter Gründe, Renten oder Rechte, oder durch die Ausübung besteuerter Gewerbe, oder durch den Eintritt in ein öffentliches Amt. § 4 Kron-Aemter, oberste Hof-Aemter, Civil-Staatsdienste und oberste MilitaireStellen, wie auch Kirchen-Aemter oder Pfründen können nur Eingebornen oder verfassungsmäßig Naturalisirten ertheilt werden. § 5 Jeder Baier ohne Unterschied kann zu allen Civil-, Militaire- und KirchenAemtern oder Pfründen gelangen. § 6 In dem Umfange des Reichs kann keine Leibeigenschaft bestehen, nach den nähern Bestimmungen des Edictes vom 3. August 1808. § 7 Alle ungemessenen Frohnen sollen in Gemessene umgeändert werden und auch diese ablösbar seyn. § 8 Der Staat gewährt jedem Einwohner Sicherheit seiner Person, seines Eigenthums und seiner Rechte. Niemand darf seinem ordentlichen Richter entzogen werden. Niemand darf verfolgt oder verhaftet werden, als in den durch die Gesetze bestimmten Fällen, und in der gesetzlichen Form. Niemand darf gezwungen werden, sein Privat-Eigenthum, selbst für öffentliche Zwecke abzutreten, als nach einer förmlichen Entscheidung des versammelten Staatsraths, und nach vorgängiger Entschädigung, wie solches in der Verordnung vom 14. August 1815 bestimmt ist.

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§ 9 Jedem Einwohner des Reichs wird vollkommene Gewissens-Freyheit gesichert; die einfache Haus-Andacht darf daher Niemanden, zu welcher Religion er sich bekennen mag, untersagt werden. Die in dem Königreiche bestehenden drey christlichen Kirchen-Gesellschaften genießen gleiche bürgerliche und politische Rechte. Die nicht christlichten Glaubens-Genossen haben zwar vollkommene Gewissens-Freyheit; sie erhalten aber an den Staatsbürgerlichen Rechten nur in dem Maaße einen Antheil, wie ihnen derselbe in den organischen Edicten über ihre Aufnahme in die Staats-Gesellschaft zugesichert ist. Allen Religionstheilen, ohne Ausnahme, ist das Eigenthum der Stiftungen und der Genuß ihrer Renten nach den ursprünglichen Stiftungs-Urkunden und dem rechtmäßigen Besitze, sie seyen für den Cultus, den Unterricht oder die Wohltätigkeit bestimmt, vollständig gesichert. Die geistliche Gewalt darf in ihrem eigentlichen Wirkungskreise nie gehemmt werden, und die weltliche Regierung darf in rein geistlichen Gegenständen der Religions-Lehre und des Gewissens sich nicht einmischen, als in soweit das Obersthoheitliche Schutzund Aufsichts-Recht eintritt, wonach keine Verordnungen und Gesetze der KirchenGewalt ohne vorgängige Einsicht und das Placet des Königs verkündet und vollzogen werden dürfen. Die Kirchen und Geistlichen sind in ihren bürgerlichen Handlungen und Beziehungen – wie auch in Ansehung des ihnen zustehenden Vermögens den Gesetzen des Staates und den weltlichen Gerichten untergeben; auch können sie von öffentlichen Staatslasten keine Befreyung ausprechen. Die übrigen nähern Bestimmungen über die äußern Rechts-Verhältnisse der Bewohner des Königreichs, in Beziehung auf Religion und kirchliche Gesellschaften sind in dem der gegenwärtigen Verfassungs-Urkunde beygefügten besondern Edicte enthalten. § 10 Das gesamte Stiftungsvermögen nach den drey Zwecken des Cultus, des Unterrichts und der Wohltätigkeit, wird gleichfalls unter den besondern Schutz des Staates gestellt; es darf unter keinem Vorwande zu dem Finanz-Vermögen eingezogen und in der Substanz für andere, als die drey genannten Zwecke, ohne Zustimmung der Betheiligten, und bey allgemeinen Stiftungen ohne Zustimmung der Stände des Reiches veräußert oder verwendet werden. § 11 Die Freyheit der Presse und des Buchhandels ist nach den Bestimmungen des hierüber erlassenen besondern Edictes gesichert. § 12 Alle Baiern haben gleiche Pflichtigkeit zu dem Kriegsdienste und zur Landwehr nach den dießfalls bestehenden Gesetzen. § 13 Die Theilnahme an den Staats-Lasten ist für alle Einwohner des Reichs allgemein, ohne Ausnahme irgend eines Standes, und ohne Rücksicht auf vormals bestandene besondere Befreyungen. § 14 Es ist den Baiern gestattet, in einen andern Bundestaat, welcher erweißlich sie zu Unterthanen annehmen will, auszuwandern, auch in Civil- und Militaire-Dienste desselben zu treten, wenn sie den gesetzlichen Verbindlichkeiten gegen ihr bisheriges Vaterland Genüge geleistet haben.

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Sie dürfen, solange sie im Unterthans-Verbande bleiben, ohne ausdrückliche Erlaubniß des Monarchen von einer auswärtigen Macht weder Gehalte noch Ehrenzeichen annehmen.

B. Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden vom 22. 8. 1818 (Großherzoglich-Badisches Staats- und Regierungsblatt 1818, S. 101 ff.) II. Staatsbürgerliche und politische Rechte der Badener und besondere Zusicherungen § 7 Die staatsbürgerlichen Rechte der Badener sind gleich in jeder Hinsicht, wo die Verfassung nicht namentlich und ausdrücklich eine Ausnahme begründet. Die großherzoglichen Staatsminister und sämmtliche Staatsdiener sind für die genaue Befolgung der Verfassung verantwortlich. § 8 Alle Badener tragen ohne Unterschied zu allen öffentlichen Lasten bey. Alle Befreyungen von directen oder indirecten Abgaben bleiben aufgehoben. § 9 Alle Staatsbürger von den drey christlichen Confessionen haben zu allen Civil- und Militärestellen und Kirchenämtern gleiche Ansprüche. Alle Ausländer, welchen Wir ein Staatsamt conferiren, erhalten durch diese Verleihung unmittelbar das Indigenat. § 10 Unterschied in der Geburt und der Religion begründet, mir der für die standesherrlichen Familien durch die Bundesacte gemachten Ausnahme, keine Ausnahme der Militärdienstpflicht. § 11 Für die bereits ablöslich erklärten Grundlasten und Dienstpflichten und alle aus der aufgehobenen Leibeigenschaft herrührenden Abgaben soll durch ein Gesetz ein angemessener Abkaufsfuß regulirt werden. § 12 Das Gesetz vom 14. August 1817, über die Wegzugsfreyheit, wird als ein Bestandtheil der Verfassung angesehen. § 13 Eigenthum und persönliche Freyheit der Badener stehen für alle auf gleicher Weise unter dem Schutze der Verfassung. § 14 Die Gerichte sind unabhängig innerhalb der Grenzen ihrer Competenz. Alle Erkenntnisse in bürgerlichen Rechtssachen müssen von den ordentlichen Gerichten ausgehen. Der großherzogliche Fiscus nimmt in allen aus privatrechtlichen Verhältnissen entspringenden Streitigkeiten Recht vor den Landesgerichten. Niemand kann gezwungen werden, sein Eigenthum zu öffentlichen Zwecken abzugeben, als nach Berathung und Entscheidung des Staatsministeriums, und nach vorgängiger Entschädigung.

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§ 15 Niemand darf in Criminalsachen seinem ordentlichen Richter entzogen werden. Niemand kann anders als in gesetzlicher Form verhaftet und länger als zweymal 24 Stunden im Gefängniß festgehalten werden, ohne über den Grund seiner Verhaftung vernommen zu seyn. Der Großherzog kann erkannte Strafen mildern oder ganz nachlassen, aber nicht schärfen. § 16 Alle Vermögens-Consfiscationen sollen abgeschafft werden. § 17 Die Preßfreyheit wird nach den künftigen Bestimmungen der Bundesversammlung gehandhabt werden. § 18 Jeder Landeseinwohner genießt der ungestörten Gewissensfreyheit und in Ansehung der Art seiner Gottesverehrung des gleichen Schutzes. § 19 Die politischen Rechte (der drey christlichen Religionstheile) sind gleich. § 20 Das Kirchengut und die eigenthümlichen Güter und Einkünfte der Stiftungen, Unterrichts- und Wohlthätigkeitsanstalten dürfen ihrem Zwecke nicht entzogen werden. § 21 Die Dotationen der beyden Landesuniversitäten und anderer höherer Lehranstalten, sie mögen in eigenthümlichen Gütern und Gefällen oder in Zuschüssen aus der allgemeinen Staatscasse bestehen, sollen ungeschmälert bleiben. § 22 Jede, von Seite des Staates gegen seine Gläubiger übernommene Verbindlichkeit ist unverletzlich. Das Institut der Amortisationscasse wird in seiner Verfassung aufrecht erhalten. § 23 Die Berechtigungen, die durch das Edict vom 23. April 1818 den dem Großherzogtum angehörigen, ehemaligen Reichsständen und Mitgliedern der vormaligen unmittelbaren Reichsritterschaft verliehen worden sind, bilden einen Bestandtheil der Staatsverfassung. § 24 Die Rechtsverhältnisse der Staatsdiener sind in der Art, wie die das Gesetz vom Heutigen festgestellt hat, durch die Verfassung garantirt. § 25 Die Institute der weltlichen und geistlichen Witwencasse und der Brandversicherung sollen in ihrer bisherigen Verfassung fortbestehen und unter den Schutz der Verfassung gestellt seyn.

C. Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg vom 25. 9. 1819 (Königlich-Württembergisches Staats- und Regierungsblatt 1819, S. 634 ff.) Kapitel III. Von den allgemeinen Rechts-Verhältnissen der Staats-Bürger § 19 Das Staatsbürgerrecht wird theils durch Geburt, wenn bei ehelich Geborenen der Vater, oder bei Unehelichen die Mutter das Staatsbürgerrecht hat, theils durch Aufnahme erworben. Letztere setzt voraus, dass der Aufzunehmende von einer be-

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stimmten Gemeinde die vorläufige Zusicherung des Bürger- oder Besitz-Rechtes erhalten habe. Außerdem erfolgt durch die Anstellung in dem Staats-Dienste die Aufnahme in das Staatsbürgerrecht, jedoch nur auf die Dauer der Dienstzeit. § 20 Der Huldigungseid ist von jedem gebornen Württemberger nach zurückgelegtem 16. Jahre, und von jedem neu Aufgenommenen bei der Aufnahme abzulegen. § 21 Alle Württemberger haben gleiche staatsbürgerliche Rechte, und eben so sind sie zu gleichen staatsbürgerlichen Pflichten und gleicher Theilnahme an den StaatsLasten verbunden, so weit nicht die Verfassung eine ausdrückliche Ausnahme enthält; auch haben sie gleichen verfassungsmäßigen Gehorsam zu leisten. § 22 Kein Staatsbürger kann wegen seiner Geburt von irgend einem Staats-Amte ausgeschlossen werden. § 23 Die Verpflichtung zur Vertheidigung des Vaterlandes und die Verbindlichkeit zum Waffendienste ist allgemein; es finden in letzterer Hinsicht keine andere als die durch die Bundes-Akte und die bestehenden Gesetze begründeten Ausnahmen statt. Ueber das Recht, Waffen zu tragen, wird ein Gesetz die nähere Bestimmung geben. § 24 Der Staat sichert jedem Bürger Freiheit der Person, Gewissens- und Denkfreiheit, Freiheit des Eigenthums und Auswanderungs-Freiheit. § 25 Die Leibeigenschaft bleibt für immer aufgehoben. § 26 Niemand darf seinem ordentlichen Richter entzogen und anders als in den durch das Gesetz bestimmten Fällen und in den gesetzlichen Formen verhaftet und bestraft, noch länger als Einmal 24 Stunden über die Ursache seiner Verhaftung in Ungewißheit gelassen werden. § 27 Jeder, ohne Unterschied der Religion, genießt im Königreiche ungestörte Gewissensfreiheit. Den vollen Genuß der staatsbürgerlichen Rechte gewähren die drei christlichen Glaubens-Bekenntnisse. Andere christliche und nicht christliche Glaubens-Genossen können zur Theilnahme an den bürgerlichen Rechten nur in dem Verhältnisse zugelassen werden, als sie durch die Grundsätze ihrer Religion an der Erfüllung der bürgerlichen Pflichten nicht gehindert werden. § 28 Die Freiheit der Presse und des Buchhandels findet in ihrem vollen Umfange statt, jedoch unter Beobachtung der gegen den Mißbrauch bestehenden oder künftig zu erlassenden Gesetzen. § 29 Jeder hat das Recht, seinen Stand und sein Gewerbe nach eigener Neigung zu wählen, und sich dazu im In- und Auslande auszubilden, mithin auch auswärtige Bildungs-Anstalten in Gemäßheit der gesetzlichen Vorschriften zu besuchen. § 30 Niemand kann gezwungen werden, sein Eigenthum und andere Rechte für allgemeine Staats- oder Corporationszwecke abzutreten, als nachdem der Geheime Rath über die Nothwendigkeit entschieden hat, und gegen vorgängige volle Entschädigung. Entsteht aber ein Streit über die Summe der Entschädigung, und der Eigenthümer will sich bei der Entscheidung der Verwaltungs-Behörde nicht beruhigen, so ist die Sache im ordentlichen Rechtswege zu erledigen, einstweilen aber die von jener Stelle festgesetzte Summe ohne Verzug auszubezahlen.

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§ 31 Ausschließliche Handels- und Gewerbs-Privilegien können nur zu Folge eines Gesetzes oder mit besonderer für den einzelnen Fall gültigen Bestimmung der Stände ertheilt werden. Dem Ermessen der Regierung bleibt überlassen, nützliche Erfindungen durch Patente zu deren ausschließlichen Benützung bis auf die Dauer von zehn Jahren zu belohnen. § 32 Jedem Staatsbürger steht frei, aus dem Königreiche, ohne Bezahlung einer Nachsteuer, auszuwandern, sobald er dem ihm vorgesetzten Beamten von seinem Vorsatze die Anzeige gemacht, seine Schulden und andere Obliegenheiten berichtigt, und hinreichende Versicherung ausgestellt hat, daß er innerhalb Jahresfrist gegen König und Vaterland nicht dienen, und eben so lange in Hinsicht auf die vor seinem Wegzuge erwachsenen Ansprüche vor den Gerichten des Königreichs Recht geben wolle. § 33 Durch den Wegzug verliert der Auswandernde sein Staatsbürgerrecht für sich und seine mit ihm wegziehenden Kinder. Das Vermögen derjenigen Kinder, welche nicht mit den Eltern auswandern, wird im Lande zurückbehalten. § 34 Wer ohne einen ihm zugestandenen Vorbehalt des Staatsbürgerrechts in auswärtige Staatsdienste tritt, wird desselben verlustig. § 35 Wer in einem fremden Staate seine bleibende Wohnung nimmt, kann sein Württembergisches Staatsbürgerrecht nur mit Königlicher Bewilligung und unter der Bedingung beibehalten, daß er den ihm obliegenden staatsbürgerlichen Pflichten in jeder Hinsicht Genüge leiste. § 36 Jeder hat das Recht, über gesetzes- und ordnungswidriges Verfahren einer Staatsbehörde oder Verzögerung der Entscheidung bei der unmittelbar vorgesetzten Stelle schriftliche Beschwerde zu erheben, und nöthigenfalls stufenweise bis zur höchsten Behörde zu verfolgen. § 37 Wird die angebrachte Beschwerde von der vorgesetzten Behörde ungegründet gefunden, so ist letztere verpflichtet, den Beschwerdeführer über die Gründe ihres Urtheils zu belehren. § 38 Glaubt der Beschwerdeführer sich auch bei der Entscheidung der obersten Staatsbehörde nicht beruhigen zu können, so darf er die Beschwerde den Ständen mit der schriftlichen Bitte um Verwendung vortragen. Haben sich diese überzeugt, daß jene Stufenfolge beobachtet worden und die Beschwerde eine Berücksichtigung verdiene, so ist ihnen auf ihr Verlangen von dem Königlichen (Geheimen Rathe) die nöthige Auskunft über den Gegenstand zu ertheilen. § 39 Der ritterschaftliche Adel des Königreichs bildet zum Behuf der Wahl seiner Abgeordneten in die Stände-Versammlung und der Erhaltung seiner Familien in jedem der vier Kreise ein Körperschaft. § 40 Die Aufnahme in eine dieser Körperschaften hängt von ihrer Zustimmung und der Genehmigung des Königs ab. In Beziehung auf die Aufnahme adelicher Besitzer immatriculirter Ritter-Güter soll jedoch durch die Statute dieser Körperschaften das Nähere festgesetzt werden.

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§ 41 Gedachte Statute erhalten auf eben die Art wie andere Landesgesetze verbindliche Kraft. § 42 Den Mitgliedern der Ritterschaft stehen alle allgemeinen staatsbürgerlichen Rechte zu. Die näheren Bestimmungen über die Ausübung der im 14ten Artikel der Bundes-Akte der Ritterschaft zugesicherten Rechte werden den Ständen mitgetheilt.

D. Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Hessen vom 17. 12. 1820 (Hessisches Regierungsblatt 1820, S. 535 ff.) Titel III. Von den allgemeinen Rechten und Pflichten der Hessen Art. 12 Der Genuß aller bürgerlichen Rechte in dem Großherzogtume, sowohl der Privatrechte, als der öffentlichen (oder des Staatsbürgerrechts) steht nur den Inländern zu. Art. 13 Das Recht eines Inländers (Indigenat) wird erworben: 1. durch die Geburt für denjenigen, dessen Vater oder Mutter damals Inländer waren; 2. durch Verheurathung einer Ausländerin mit einem Inländer; 3. durch Verleihung eines Staatsamts; 4. durch besondere Aufnahme. Art. 14 Staatsbürger sind diejenigen volljährigen Inländer männlichen Geschlechts, welche in keinem fremden persönlichen Unterthans-Verband stehen und wenigstens drey Jahre in dem Großherzogthume wohnen. Die in dem Besitze einer oder mehrerer Standesherrschaften sich befindenden Häupter der jetzigen standesherrlichen Familien haben jedoch das Staatsbürgerrecht ungeachtet eines fremden persönlichen Unterthans-Verbands. Art. 15 Nicht christliche Glaubensgenossen haben das Staatsbürgerrecht alsdann, wenn es ihnen das Gesetz verliehen hat, oder wenn es Einzelnen entweder ausdrücklich, oder, durch Uebertragung eines Staatsamts, stillschweigend verliehen wird. Art. 16 Jede rechtskräftige Verurtheilung zu einer peinlichen Strafe ziehet den Verlust des Staatsbürgerrechts nach sich. Seine Ausübung wird gehindert: 1. durch Versetzung in den peinlichen Anklagestand, oder Verhängung der Special-Inquisition; 2. durch das Entstehen eines gerichtlichen Concurs-Verfahrens über das Vermögen bis zur vollständigen Befriedigung der Gläubiger; 3. während der Dauer einer Curatel und 4. für diejenigen, welche für die Bedienung der Person oder der Haushaltung eines Andern Kost und Lohn empfangen, während der Dauer dieses Verhältnisses.

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Art. 17 Das Recht des Inländers geht verloren: 1. durch Auswanderung; 2. durch Verheurathung an einen Ausländer. Die Witwe erhält jedoch die Rechte einer Inländerin wieder, wenn sie entweder im Großherzogthume geblieben ist, oder dahin, mit der Erlaubniß der Staatsregierung und unter der Erklärung, sich darin niederlassen zu wollen, zurückkehrt. Art. 18 Alle Hessen sind vor dem Gesetz gleich. Art. 19 Die Geburt gewährt Keinem eine vorzügliche Berechtigung zu irgend einem Staats-Amte. Art. 20 Die Verschiedenheit der in dem Großherzogthume anerkannten christlichen Confessionen hat keine Verschiedenheit in den politischen oder bürgerlichen Rechten zur Folge. Art. 21 Den anerkannten christlichen Confessionen ist freye und öffentliche Ausübung ihres Religions-Cultus gestattet. Art. 22 Jedem Einwohner des Großherzogthums wird der Genuß vollkommener Gewissensfreiheit zugesichert. Der Vorwand der Gewissensfreiheit darf jedoch nie ein Mittel werden, um sich irgend einer, nach den Gesetzen obliegenden Verbindlichkeiten zu entziehen. Art. 23 Die Freyheit der Person und des Eigenthums ist in dem Großherzogthume keiner Beschränkung unterworfen, als welche Recht und Gesetz bestimmen. Art. 24 Jedem Hessen stehet das Recht der freyen Auswanderung, nach den Bestimmungen des Gesetzes zu. Art. 25 Die Leibeigenschaft bleibt, nach den deßfalls bestehenden Gesetzen, für immer aufgehoben. Art. 26 Ungemessene Frohnden können nie Statt finden und die gemessenen sind abzulösen. Art. 27 Das Eigenthum kann für öffentliche Zwecke nur gegen vorgängige Entschädigung, nach dem Gesetze, in Anspruch genommen werden. Art. 28 In außerordentlichen Nothfällen ist jeder Hesse zur Vertheidigung des Vaterlandes verpflichtet und kann für diesen Zweck zu den Waffen gerufen werden. Art. 29 Jeder Hesse, für welchen keine verfassungsmäßige Ausnahme bestehet, ist verpflichtet, an der ordentlichen Kriegs-Dienstpflicht Antheil zu nehmen. Bei dem Aufrufe zur Erfüllung dieser Verbindlichkeit entscheidet unter den gleich Verpflichteten das Loos, mit Gestattung der Stellvertretung. Art. 30 Alle Hessen sind zu gleichen staatsbürgerlichen Verbindlichkeiten und zu gleicher Theilnahme an den Staatslasten verpflichtet, in so ferne sie nicht eine verfassungsmäßige Ausnahme für sich in Anspruch zu nehmen haben. Art. 31 Niemand soll seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Art. 32 Das Materielle der Justiz-Ertheilung und das gerichtliche Verfahren, innerhalb der Gränzen seiner gesetzlichen Form und Wirksamkeit, sind von dem Einflusse der Regierung unabhängig.

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Art. 33 Kein Hesse darf anders, als in den durch das Recht und die Gesetze bestimmten Fällen und Formen, verhaftet oder bestraft werden. Keiner darf länger, als 18 Stunden, über den Grund seiner Verhaftung in Ungewißheit gelassen werden und dem ordentlichen Richter soll, wenn die Verhaftung von einer anderen Behörde geschehen ist, in möglichst kurzer Frist von dieser Verhaftung die erforderliche Nachricht gegeben werden. Art. 34 Die Richter können nur durch gerichtliches Erkenntniß entsetzt, sie können auch nicht wider ihren Willen entlassen und nur dergestalt versetzt werden, daß sie in derselben Dienst-Kategorie verbleiben und weder im Gehalte, noch in dem Dienstgrade zurückgesetzt werden. Die Directoren der Justiz-Collegien bleiben jedoch den allgemeinen Bestimmungen der Dienst-Pragmatik unterworfen. Art. 35 Die Presse und der Buchhandel sind in dem Großherzogthume frey, jedoch unter Befolgung der gegen den Mißbrauch bestehenden, oder künftig erfolgenden Gesetze. Art. 36 Jedem steht die Wahl seines Berufes und Gewerbs, nach eigener Neigung, frey. Unter Beobachtung der hinsichtlich der Vorbereitung zum Staatsdienste bestehenden Gesetze, ist es jedem überlassen, sich für seine Bestimmung, im Inlande, oder Auslande, auszubilden.

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Weitzel, Jörg: Das Reichskammergericht und der Schutz von Freiheitsrechten seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Diestelkamp, Bernhard (Hrsg.), Die politische Funktion des Reichskammergerichts, Köln 1993, S. 157 Welzel, Hans: Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs – Ein Beitrag zur Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin 1968 – Ein Kapitel aus der amerikanischen Erklärung der Menschenrechte (John Wise und Samuel Pufendorf), in: Schnur, Roman (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Darmstadt 1964, S. 238 – Naturrecht und materielle Gerechtigkeit, 4. Auflage, Göttingen 1962 Westerkamp, Dominik: Pressefreiheit und Zensur im Sachsen des Vormärz, Baden-Baden 1999 Wieacker, Franz: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auflage, Göttingen 1967 Wilke, Jürgen: Pressefreiheit, Darmstadt 1984 Willoweit, Dietmar: Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit – Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 5. Auflage, München 2005 – Das bürgerliche Recht und das gemeine Wohl, in: Ebel, Friedrich (Hrsg.), Gemeinwohl – Freiheit – Vernunft – Rechtsstaat, 200 Jahre Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, Berlin 1995, S. 1 – War das Königreich Preußen ein Rechtsstaat? in: Schwab, Dieter u. a., Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft, Festschrift für Paul Mikat zum 65. Geburtstag, Berlin 1989, S. 451 – Geschichtliche Wandlungen der Eigentumsordnung und ihre Bedeutung für die Menschenrechtsdiskussion, in: Schwartländer, Johannes/Willoweit, Dietmar, Das Recht des Menschen auf Eigentum, Kehl am Rhein 1983, S. 7 Wipfelder, Hans-Jürgen: Die grundrechtliche Eigentumsgarantie im sozialen Wandel, in: Staat und Recht, Festschrift für Günther Küchenhoff zum 65. Geburtstag, Berlin 1972, S. 747 Wolf, Erik: Das Problem der Naturrechtslehre – Versuch einer Orientierung, 3. Auflage, Karlsruhe 1964 – Große Rechtsdenker der Deutschen Geistesgeschichte, 3. Auflage, Tübingen 1951 Wunder, Bernd: Grundrechte und Freiheit in den Verfassungskämpfen 1815–1819, in: Birtsch, Günter (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, Göttingen 1981, S. 435 – Landstände und Rechtsstaat – Zur Entstehung des Art. 13 DBA, ZHF 5 (1978), S. 139 Wundt, Max: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 1945 Würtenberger, Thomas: Von der Aufklärung zum Vormärz, in: Merten, Detlef/Papier, Hans-Jürgen (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band I: Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 49

Literatur- und Quellenverzeichnis

399

– Der Konstitutionalismus des Vormärz als Verfassungsbewegung, Der Staat 37 (1998), S. 165 – Staatsverfassung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Böckenförde, Ernst-Wolfgang (Hrsg.), Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte, Der Staat, Beiheft 10, Berlin 1993, S. 85 – Der Schutz von Eigentum und Freiheit im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Gose, Walter/Würtenberger, Thomas (Hrsg.), Zur Ideen- und Rezeptionsgeschichte des Preußischen Allgemeinen Landrechts, Stuttgart 1989, S. 55 Zimmermann, Fritz: Bayerische Verfassungsgeschichte vom Ausgang der Landschaft bis zur Verfassungsurkunde von 1818, 1. Teil: Vorgeschichte und Entstehung der Konstitution von 1808, Neudruck der Ausgabe München 1940, Aalen 1973 Zippelius, Reinhold: Allgemeine Staatslehre, 14. Auflage, München 2003 – Geschichte der Staatsideen, 10. Auflage, München 2003

3. Quellenverzeichnis a) Quellensammlungen und nachgedruckte Quellen Adams, Angela/Adams, Willi Paul: Die Amerikanische Revolution und die Verfassung 1754–1791, München 1987 Allgemeines Gesetzbuch für die Preußischen Staaten, Berlin 1791, Nachdruck Frankfurt a. M., 1985 Altmann, Wilhelm: Ausgewählte Urkunden zur außerdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776, 2. Auflage, Berlin 1913 Bezold, Ernst: Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung, Band 1, Berlin 1872 Brandt, Hartwig: Restauration und Frühliberalismus 1814–1840, Darmstadt 1979 Buschmann, Arno: Kaiser und Reich – Teil I: Vom Wormser Konkordat 1122 bis zum Augsburger Reichabschied von 1555; Teil II: Vom Westfälischen Frieden bis zum Ende des Reiches im Jahre 1806, 2. Auflage, Baden-Baden 1994 Collmann, Julius August: Quellen, Materialien und Commentar des gemeinen deutschen Pressrechts, Berlin 1844 Dippel, Horst: Die Anfänge des Konstitutionalismus in Deutschland. Texte deutscher Verfassungsentwürfe am Ende des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1991 Dross, Elisabeth: Quellen zur Ära Metternich, Darmstadt 1999 Droysen, Johann Gustav: Die Verhandlungen des Verfassungsausschusses der deutschen Nationalversammlung, Teil 1, Leipzig 1849 Franz, Günter: Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes in der Neuzeit, Darmstadt 1993 – Staatsverfassungen, 2. Auflage, München 1964

400

Literatur- und Quellenverzeichnis

Garber, Jörn: Revolutionäre Vernunft – Texte zur jakobinischen und liberalen Revolutionspraxis in Deutschland 1789–1810, Kronberg 1974 Hartung, Fritz/Commichau, Gerhard/Murphy, Ralph: Die Entwicklung der Menschenund Bürgerrechte von 1776 bis zur Gegenwart, 6. Auflage, Göttingen 1998 Hattenhauer, Hans/Bernert, Günther: Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, 3. Auflage, Neuwied 1996 Hofmann, Hanns Hubert: Quellen zum Verfassungsorganismus des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1494–1815, Darmstadt 1976 Huber, Ernst Rudolf: Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, – Bd. I: Deutsche Verfassungsdokumente 1803–1850, 3. Auflage, Stuttgart u. a. 1978 – Bd. II: Deutsche Verfassungsdokumente 1851–1900, 3. Auflage, Stuttgart u. a. 1986 Klüber, Johann Ludwig: Acten des Wiener Congresses, Bd. IV, Nachdruck der Ausgabe 1815, Osnabrück 1966 Klüber, Johann Ludwig/Welcker, Karl Theodor: Wichtige Urkunden für den Rechtszustand der deutschen Nation, Nachdruck der 2. Auflage Mannheim 1845, Aalen 1977 Klueting, Harm: Der Josephinismus – Ausgewählte Quellen zur Geschichte der theresianisch-josephinischen Reformen, Darmstadt 1995 Laube, Adolf: Flugschriften gegen die Reformation (1518–1524), Berlin 1997 – Flugschriften der frühen Reformationsbewegung (1518–1525), Bde. 1 u. 2, Berlin 1983 Müller, Klaus: Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses 1814/1815, Darmstadt 1986 Reinganum, Maximilian: Abdruck der wichtigsten Achtenstücke die gegen den Verfasser und die Unterzeichner der Druckschrift „Protestation deutscher Bürger für Pressfreiheit in Deutschland“ verfügte Untersuchung entsprechend, Offenbach 1833 Rob, Klaus: Regierungsakten des Königreichs Westphalens, 1807–1813, Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten, Bd. 2, hrsg. von der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 1992 Schimke, Maria: Regierungsakten des Kurfürstentums und Königreichs Bayern 1799– 1815, Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten, Bd. 4, hrsg. von der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 1996 Scholler, Heinrich: Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche, Darmstadt 1982 Stammen, Theo/Eberle, Friedrich: Deutschland und die Revolution 1789–1806, Darmstadt 1988 Volz, Gustav Berthold: Die Werke Friedrich des Großen, Band 7: Antimachiavell und Testamente, Hobbing 1913 Willoweit, Dietmar/Seif, Ulrike: Europäische Verfassungsgeschichte, München 2003

Literatur- und Quellenverzeichnis b) Gesetzes- und Verordnungsblätter (chronologisch sortiert) Gesetzsammlung für die Königlichen-Preußischen Staaten, 1806–1810, 1810–1813 Königlich Bayerisches Regierungsblatt, 1806–1817 Königlich Württembergisches Staats- und Regierungsblatt, 1806–1823 Großherzoglich-Badisches Staats- und Regierungsblatt, 1817–1844 Gesetzblatt für das Königreich Bayern, 1818–1873 Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt, 1819–1918 Reichsgesetzblatt, 1848/1849 Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes, 1867 ff. Reichsgesetzblatt 1871 ff. Reichsgesetzblatt 1919 ff. Bundesgesetzblatt, Teil I, 1949 ff.

401

Personen- und Sachverzeichnis Absolutismus 45, 255, 259, 294 – aufgeklärter Absolutismus 36, 96 ff., 242 Abwehrfunktion 40, 315 Administrativenteignungen 225 f. Aktiengesellschaft 233 f. Allgemeine Handlungsfreiheit 204 f. Allgemeines Staatsrecht 93 ff. Allgemeinwillen 293 Allgemeinwohl 32 f., 44, 63 Aretin, Johann Christoph von 216 Assoziation 165, 252 f., 290 f., 351, 360 f., 362 Aufklärung 39, 88 f., 114, 126, 242 f., 253, 255 f., 337, 340, 345 Augsburger Religionsfrieden 235 f. Auswanderungsfreiheit 130 ff., 216 Badisches Pressegesetz 273 ff., 300 Bauernbefreiung 139 f. Befreiungskriege 22, 151 f., 158, 189, 260, 262, 287, 290, 296 f., 313, 340 f., 362 Bergk, Johann Adam 95 Bill of Rights von 1689 54, 257 Blackstone, William 54 f. Bonner Grundgesetz 20, 366 Brandt, Hartwig 316 Briefgeheimnis 356 Budgetrecht 172, 274, 334 Bundes-Preßgesetz 266, 269 ff., 281 Bundesbeschlüsse 20, 268 f., 318 f., 363 Bundesexekution 267 Bundespressekommission 272, 274 Bundesversammlung 158, 161, 224, 263 ff., 268, 270, 272 ff., 281, 289, 329, 363

Bundeszweck 159 f., 163, 181 Bürgertum 25, 73, 83, 90 ff., 96, 105 f., 118, 122 f., 125, 144, 151, 188, 191, 197, 199, 201, 233 f., 259, 297, 310 f., 313, 320, 341, 365 ff. Burke, Edmund 84 Burschenschaften 297 f.

101, 184, 255, 351,

Carl, Großherzog von Baden 164 Charte Constitutionnelle 86 ff., 187 Code Napoleon 146 ff. Common Law 54 Common Sense 61, 68 Constant, Benjamin 86 Declaratio Ferdinandea 236 Demokratie 31 f., 40, 83, 202 f., 326, 355, 361, 367 Demokratisches Prinzip 163, 182, 347 ff., 367 Descartes 27 Deutsche Bundesakte 152, 156, 158 f., 162, 287 Deutscher Bund 152 ff., 159, 181, 267, 271, 285, 288, 290, 358 Dualismus 174, 182, 210, 212, 217, 223, 266, 333 Eigentum 58 ff., 67, 84, 86, 98, 101, 116, 135, 138 f., 147, 156 f., 168, 170 f., 201 f., 211, 217 ff., 250, 275 f., 282, 316 ff., 335, 340, 343, 349, 350, 356 f. England 54, 56, 60, 62 f., 68, 84, 92, 99, 238, 240, 257, 292 Enteignung 124 f., 135, 218, 225 Erinnerungsfunktion 290, 311

Personen- und Sachverzeichnis

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Familienfideikommiss 191, 223, 330, 357 Feuerbach, Paul Johann Anselm 147 Fiskustheorie 124, 208, 226 Frankfurter Appellationsgericht 282 Frankfurter Bücherkommission 255 Frankfurter Reichsverfassung 353 f. Französische Revolution 80, 84 f., 87 ff., 92, 108, 125, 141, 157, 176, 184, 187, 190, 241, 256, 259, 293, 304, 313, 325, 341, 344 Freiheit der Person 55, 147, 171, 203 ff., 250, 305, 319, 350, 355 f. Freiheits- und Eigentumsklausel 171, 218, 231 f., 275, 315 ff., 319 ff., 349 f. Freizügigkeit 76, 91, 140, 157, 357 Friedrich der Große 88, 108, 111 f., 126, 256 f. Friedrich Wilhelm II., König von Preußen 108, 113 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 96, 261 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 277, 364

Gesetzmäßigkeit der Verwaltung 231 f., 317, 335, 365 Gewaltenteilung 25, 60, 63, 68, 70, 73, 86, 95, 111, 133, 140, 142, 209, 211, 356 Gewerbefreiheit 140 Gewissensfreiheit 39, 61, 105, 126 ff., 134, 148, 158, 186, 216, 235 ff., 335, 342, 357 f. Glaubensfreiheit siehe Gewissensfreiheit Gleichheit 29, 31 f., 34, 36, 58, 61 f., 72 ff., 83 f., 86, 99, 101, 117 ff., 124, 139, 146 f., 156, 186 ff., 217 f., 222, 233, 239, 304, 315, 328, 330, 335, 350, 354 ff., 362 Gleichheit der Gesetze 188, 191, 200 Gleichheit vor dem Gesetz 86, 188, 199 f. Gleichheitsgrundsatz 139, 187, 193, 200, 203, 354 ff. Gleichheitsrechte 139, 146 f., 188, 190 ff., 199 f., 233, 315, 328 Görres, Joseph 261, 290 Gottesgnadentum 28, 145, 178, 185, 255 f., 291, 343, 346 Großbritannien siehe England Großherzoglich Badische Staats-Zeitung 260 Großmächte (Preußen und Österreich) 153 f., 160 f., 165, 181, 273 Gutenberg, Johannes 254

Gallilei 27 Gegenzeichnung 173, 276 Gehorsamsverweigerung 47, 224 Gemeindeparlamente 151 Gemeinwohl 33, 37 ff., 43 f., 50, 58, 63, 94, 99, 103, 109, 113, 121 ff., 131 ff., 170, 256, 292, 330, 331 Gentz, Friedrich von 162, 180, 289 Gesellschaftsvertrag 57, 60, 88, 97, 203 Gesetzesinitiativrecht 174, 317, 333 Gesetzeskommission 112 f., 115 Gesetzesvorbehalt 122, 262, 265 f. Gesetzlicher Richter 113, 205

Habeas Corpus 54, 61, 356 Haller, Carl Ludwig 330 Hambacher Fest 285, 290, 297 ff., 310, 342 Handelsfreiheit 57, 91, 216 Hausandacht 129, 135, 237, 241, 245 f., 251 f., 357 Herrschaftsvertrag 35 f., 43, 45 f., 47 Historische Kontinuität 169, 176, 181 f., 186, 190, 198, 229, 233, 317 f., 321, 328, 330, 337, 341 Hobbes, Thomas 36, 38, 59, 90 Huldigungseid 166, 169

Ernst August von Weimar 256 Ersatzfunktion 286 f., 309 Ersatzverfassung 106 f., 142, 184, 345 Exekutive 81, 83, 172, 207, 350 Expropriation 218, 231

404

Personen- und Sachverzeichnis

Imbecibillitas 29 Indigenat 165 f. Individualrechte 37 f., 57, 99, 121, 293, 308, 315, 337 Individuelle Freiheitsrechte 19, 39, 50, 141, 150, 213, 221, 230, 305, 307, 312, 317 f., 321, 339, 363 Individuelle Freiheitssphäre 38 f. Ius circa sacra 248 Ius emigrandi 131 Ius eminens 100 Ius in sacra 248 Ius reformandi 127, 235, 237, 242 ff., 248, 358 Jakobiner 83 ff., 187, 259, 294, 296 Jellinek, Georg 239 f., 364 Jordan, Silvester 205, 222, 230, 251, 305 f., 310, 353 Joseph II. von Österreich 242 Judikative 63, 82, 86, 207 Julirevolution 25, 273, 289, 297 Justizgrundrechte, justizielle Rechte 61, 132, 205 f., 214 f., 350, 353, 356 Justizsystem 263 f. Kammer – erste 194 ff., 212, 231, 332 f., 354 – zweite 194 ff., 273 ff., 284, 300, 302, 322, 333 f. Kammern 197, 212, 226, 280, 301, 332, 347 Kant, Immanuel 101 ff., 109, 216 Karlsbader Beschlüsse 265 ff., 273 ff., 288 ff., 298, 318, 353, 358, 363 Karlsbader Kongress 162 Kategorischer Imperativ 102, 104 Klein, Ernst Ferdinand 119, 123 Klerus 194 f., 332, 354 Konfession 27, 126 ff., 148, 157, 194, 235, 244, 255, 358 Königreich Westfalen 144 ff. konservative Staatsrechtslehre 168 ff., 215

Konstitutionalisierung 21, 23, 45, 48, 89, 107, 112, 163, 186, 229, 240 f., 250, 284, 298, 332 Korporation 91, 98 ff., 128, 146, 156, 291, 293 ff., 302 ff. Kotzebue, August von 289, 298 Landständische Verfassungen 100, 160 ff., 190, 195 Legislative 61, 63, 66, 86, 144, 174, 322 Legitimität, Legitimitätsprinzip 153, 162, 170, 284, 349 Leibeigenschaft 105, 116, 147, 169, 188 f., 193, 221 f., 286 Leopold, Großherzog von Baden 273, 277, 301 Lern- und Lehrfreiheit siehe Wissenschaftsfreiheit Lesezirkel 295 Liberale Staatsrechtslehre 178 f., 228, 282, 285 ff., 310, 313, 325, 340, 345 ff., 349 Liberalismus 90, 176 ff., 225, 265, 276, 302 Licensing Act 257 Locke, John 28, 52, 57 ff., 183, 219 Ludwig I., König von Bayern 276 f. Ludwig XVI. 79 Ludwig XVIII. 86 Ludwig, Herzog von Hessen 164 Luther, Martin 255 Luthertum, lutherisch 126 f., 235 f., 246 Machtspruchverbot 110 ff., 133 Magna Charta 54, 99 Marbury v. Madison 65 Maximilian, König von Bayern 164 Meinungsfreiheit 98, 105, 136, 253 f., 294 Menschenrechtsidee 30, 32, 39, 68, 72, 80, 87, 106, 240, 250, 314 Metternich, Klemens Wenzel Fürst von 270 f., 277, 289, 342, 353 Ministeranklage 173, 212 f., 316

Personen- und Sachverzeichnis Ministerverantwortlichkeit 172, 276 Mohl, Robert von 192, 200, 205, 214, 216, 233 ff., 251, 268, 306 f., 309, 326, 329, 342, 348 Monarchisches Prinzip 163, 168 ff., 175, 178, 180, 184, 262, 276, 286, 313, 319, 323, 325, 327, 329, 344 f., 348 ff., 350 Montesquieu, Charles de 73, 86 Montgelas, Maximilian von 191, 262 Möser, Justus 233 Müller-Arnold-Prozess 111 Nachzensur 257, 263 ff., 269 f. Napoleon 85, 91, 144 ff., 150 ff., 158, 191, 259 ff., 263, 297 Nationalversammlung 73 f., 77, 81 f., 353 f., 359 f., 366 Natürliche Freiheit 28 ff., 32 ff., 41 ff., 58, 62, 68 f., 95 f., 109 f., 113, 125 f., 134 ff., 137, 139 ff., 156, 161, 292, 307 Naturzustand 28 f., 35, 59 ff., 94 ff., 105 Neuständische Ordnung 157, 190 f., 193 f., 196, 199 ff., 248 Nordamerikanische Menschenrechtserklärungen 31, 42, 61, 66 ff., 185, 219, 389 Norddeutscher Bund 365 Öffentliche Meinung 179 f., 201, 259 ff., 278, 280, 283 f., 286 f., 301, 309 f., 346, 351, Opposition 146, 174, 266, 272, 275 f., 280 f., 285, 289 f., 295, 297 f., 300 ff., 310 f., 347 Papst 235 Pariser Frieden 153 Parität 128, 148, 157, 237, 242 ff., 358, 365 Parlamentarismus 180, 271, 324, 347, 350 f. Patrimonialgerichtsbarkeit 75, 121, 146, 156, 330

405

Pauperisierung 150, 304 Peine, Franz Joseph 323 Petition 54 f., 76, 174, 273, 280 f., 289, 292, 294, 308, 353, 360 Pfizer, Paul Achatius 203, 346 Physiokraten 95, 220 Politische Mitwirkungsrechte 40, 46, 49, 51, 55, 77, 185, 195, 202, 232 ff., 341, 350 Politische Rechte 46, 48 f., 51, 58, 86, 176, 186, 233 f., 244, 247, 254 Politisierung 254, 291, 341, 350, 368 Polizeisystem 263 f., 270 Preß- und Vaterlandsverein 290, 297 Presseedikt 262, 266, 268 Pressefreiheit 62, 148, 158, 241, 254 ff., 293, 301, 309 ff., 318, 329, 334, 342, 351, 358 f. Preußische Reformen 105, 137, 140 ff., 295 Preußisches Allgemeines Gesetzbuch 108 ff. Preußisches Allgemeines Landrecht 19, 96, 107 ff., 114 ff., 150, 158, 177, 226, 244, 247, 334, 357 Programmfunktion 327 ff., 336, 340, 343, 362, 364 Protokolle der Ständeversammlungen 280 Pufendorf, Samuel von 28 ff., 42, 50, 93, 131, 239, 292 Reaktion 266, 271, 275 ff., 284, 287 ff., 297 f., 300, 302, 309, 311, 363 Recht der Siegelmäßigkeit 191 Rechtspositivismus 220 f. Rechtsschutzmöglichkeiten 99, 158 f., 177, 206, 209, 213, 217, 224, 309, 316, 338 Rechtsstaatlichkeit 133, 153, 155, 160 f., 163, 177, 180 Rechtsweggarantie 159 Reformation 27, 235, 238, 240 f., 255 Reichsdeputationshauptschluss 242

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Personen- und Sachverzeichnis

Reichsgericht 124, 330, 337, 361 Reichsstände 235 f. Religionsausübung 127 f., 237, 239 ff., 243 f., 252, 357 Religionsedikt 127, 243 ff., 249 Religionsfreiheit 86, 235 ff., 239 ff., 293; siehe auch Gewissensfreiheit Religionsgemeinschaften 127 ff., 135, 237, 242, 246 f., 249 ff., 254, 293, 358 Repräsentative Vertretung, Repräsentativorgan 77, 198, 286 Repräsentativverfassungen 19, 22, 143, 161 ff., 171, 176 ff., 179 ff., 286, 308, 311 Restauration 84, 86, 137, 141, 157 f., 161 f., 265, 330, 341, 347, 352, 359 Rheinbund 24, 143 ff., 152 f., 165, 168, 177, 181, 187 f., 191, 242 f., 313 Rheinbundverfassungen 143, 147, 149 f., 153, 155, 158, 168, 181, 187 f. Rheinischer Merkur 261 Rhode Island 238 Robespierre, Maximilien 83 f. Romantik 302 ff. Rotteck, Carl von 175, 179, 199 f., 216 f., 230, 233, 275 Rousseau, Jean-Jacques 28, 52, 73, 77, 293 f. Rückwirkung (von Gesetzen) 132 f., 135, 331 Sachsen-Meiningen 291 Scheidemantel, Heinrich Gottfried 94 f. Scheinkonstitutionalismus 145, 154, 177 Schmitthenner, Friedrich 316, 346 Sechs Artikel 276, 280 Sechzig Artikel 289 Souveränität der Nation 74, 77, 82 Soziale Frage 296 Spätkonstitutionalismus 363, 365 Staatsanwaltschaft 215 Staatsbürgerpflichten 42, 170, 247 ff., 338 Staatsbürgerstand 165, 194, 314

Staatsgewalt 19, 23, 39, 44 ff., 54, 59, 90, 105, 143, 145, 149, 154, 159, 162 f., 168 ff., 174 f., 178 ff., 184, 203, 211, 217, 224, 227 f., 250, 301, 309, 315 f., 319, 323 ff., 328, 336, 338, 343, 346, 348, 361, 364 Staatsrat 144 f., 210 f., 218, 226 f. Staatsrücksichten 256 Stahl, Friedrich Julius 180, 199, 215 f., 303, 330, 339 Ständeordnung 114, 117 f., 120, 123 ff., 138, 155 ff., 181, 234, 259, 304 – funktionalisierte Ständeordnung 117, 120 – patriarchalische Ständeordnung 114 Standesunterschiede 73 ff., 77, 79, 117, 176, 187, 354 Ständeversammlungen 166, 168, 171, 174, 182, 266 f., 275, 280, 286, 326, 333 f., 351 Ständische Freiheiten 98, 100 f., 135, 176, 183 Sternenkammer 257 Steuerbewilligung, Steuerverwilligung 55, 172, 166 Steuerleistung 77, 131, 196, 233 Steuerpflicht 147, 192 Strafprozessrecht 206 Strafrecht 206, 321 Subjektive Rechte 21, 44, 307, 336 f., 361, 364 Subjektivierung 336 ff. Svarez, Carl Gottlieb 96 ff., 110, 119, 254 Teutscher Beobachter 271 ff. Thomasius, Christian 37 ff., 42, 50, 97, 110, 126, 346 Tocqueville, Alexis de 117, 326 Toleranz-Patent 242 Tudors 257 Tugendbund 297 Turnverein 297

Personen- und Sachverzeichnis Unabhängigkeit der Justiz 110 f., 207 ff., 214, 316, 350 Unabhängigkeitserklärung 56, 68 Universitäten 32, 140, 196, 275, 298 f., 359 Unverletzlichkeit der Wohnung 356 Verein 128, 252, 291 ff., 360 f. Vereinigungsfreiheit 295, 312 Verfahrensrecht 62, 267, 321 Verfassungsbeschwerde 208 ff., 213, 316, 361 Verfassungsgerichtsbarkeit 65 f., 68, 70, 76, 82, 173, 316, 323, 325 ff. Verfassungsvorrang 363 f., 65, 68, 70, 76, 281 f., 323 ff. Verhaftung 61, 205 f., 214 f., 329, 356 Vermögenskonsfiskation 218 Vernunftrecht 26, 57, 93, 100, 108, 126, 217 Versammlung 76, 240, 253, 290 ff., 353, 360 f. Versammlungsfreiheit 293, 302, 311, 353 Vertrag von Ried 153 Verwaltungsbeschwerde 211 Verwaltungsgerichtsbarkeit 208 f., 364 Vierter Stand 365 ff. Virginia Bill of Rights 53 ff., 182, 238, 241, 258 Volkssouveränität 25, 40, 62 ff., 66 ff., 83, 85, 95, 103, 162, 203, 286 f., 347 f., 350, 355, 366 Volonté générale 73, 77, 82, 293 Vorkonstitutionelles Recht 176, 207, 317 f., 321, 327 f. Vorzensur 255, 257, 262 ff., 266, 268 ff., 273 f.

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Wahlmänner 195 f. Wahlrecht 67, 72, 77, 82, 152, 194 ff., 199 f., 203, 234, 341, 350, 353 ff. – aktives Wahlrecht 194 f., 196 – passives Wahlrecht 194 f., 196, 354 Wartburgfest 265, 298, 301 Wehrpflicht 139, 156, 189, 192, 200 Weimarer Reichsverfassung 20, 366 Welcker, Carl Theodor 201, 233, 273, 275, 280 f., 284 f., 289, 307, 310, 353 Westfälischer Frieden 129, 237, 242 f., 245 f. Wiener Beschlüsse 278 ff., 289 Wiener Ministerialkonferenz 278 f. Wilda, Eduard Wilhelm 251 Wilhelm, König von Württemberg 268, 272, 277 Wise, John 31 Wissenschaftsfreiheit 91, 140 Wohlerworbene Rechte 98, 100 f., 120 ff., 148, 156, 176, 221 f., 243, 329 ff., 337, 339 Wolff, Christian 40 ff., 50 f., 97, 112 f., 120, 131, 215, 292 Wöllner\9sches Religionsedikt 127 Zachariä, Heinrich Albert 205 Zachariä, Karl Salomo 179 f. Zehn Artikel 298 ff. Zensur-Edikt 148 Zensurlücken 279 Zivilrecht 125, 230, 321 Zoepfl, Heinrich 232, 316, 340 Zünfte 148, 291 Zwangsverbände 291 Zwölf Artikel 161