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German Pages 385 [386] Year 2019
Expressivität im Deutschen
Reihe Germanistische Linguistik
Herausgegeben von Mechthild Habermann und Heiko Hausendorf Wissenschaftlicher Beirat Karin Donhauser (Berlin), Stephan Elspaß (Salzburg), Helmuth Feilke (Gießen), Jürg Fleischer (Marburg), Stephan Habscheid (Siegen), Rüdiger Harnisch (Passau)
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Expressivität im Deutschen Herausgegeben von Franz d’Avis und Rita Finkbeiner
Reihe Germanistische Linguistik Begründet und fortgeführt von Helmut Henne, Horst Sitta und Herbert Ernst Wiegand
ISBN 978-3-11-062755-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-063019-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-062772-5 ISSN 0344-6778 Library of Congress Control Number: 2018964355 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Der vorliegende Band ist Jörg Meibauer zum 65. Geburtstag gewidmet, der sich in vielen Arbeiten mit dem Phänomen der Expressivität im Deutschen auseinandergesetzt hat. Wir möchten uns bei den Autorinnen und Autoren für ihre Bereitschaft bedanken, sich in ihren Beiträgen aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit Expressivität zu beschäftigen. Den Reihenherausgeberinnen und Reihenherausgebern, Mechthild Habermann und Heiko Hausendorf, danken wir für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Germanistische Linguistik, Daniel Gietz vom de Gruyter Verlag und Anne Rudolph für die freundliche Begleitung und redaktionelle Unterstützung des Projekts. Bei der redaktionellen Arbeit haben zudem Lena Stutz und Jonas Koch mitgewirkt, für deren Einsatz wir uns herzlich bedanken möchten. Mainz und Düsseldorf, im November 2018 Franz d’Avis Rita Finkbeiner
https://doi.org/10.1515/9783110630190-202
Inhalt Franz d’Avis & Rita Finkbeiner Was ist Expressivität? | 1
Teil I: Zum Anfang Franz d’Avis Expressivität und Lüge. Expressive Bedeutungsbestandteile von Äußerungen als Grundlage einer Lügendefinition | 25
Teil II: Expressive Wörter Carmen Scherer Expressivität in der Wortbildung. Ein Überblick | 49 Björn Technau Die expressive Bedeutung von Beleidigungswörtern. Tabubrüche, Sprechereinstellungen, Emotionen | 75 Ingo Reich Saulecker und supergemütlich! Pilotstudien zur fragmentarischen Verwendung expressiver Adjektive | 109 Frank Liedtke & Lena Rosenbaum Interjektionen und Kontextbezug. Pragmatische Templates als Analysemodell | 129 Laura Neuhaus Ironische Interjektionen und expressive Negation #hurra #nicht. Über Ironie und Expressivität auf Twitter | 149
Teil III: Expressive Sätze Sven Müller Expressivität und die linke Peripherie. Zur Beziehung zwischen expressiver Bedeutung und funktionalen Projektionen | 181
VIII | Inhalt
Eva-Maria Uebel & Jürgen Pafel Als ob wir Ideologen wären! Freie als ob-Sätze, epistemische Normen und Emotionen | 205 Claudia Poschmann Appositive und Expressivität. Zur expressiven Bedeutung appositiver Relativsätze | 231 Daniel Gutzmann & Katharina Turgay Der Moment, wenn dir klar wird, dass es expressive Nebensätze gibt. Zur Syntax und Semantik der expressiven Nebensatzkonstruktion | 261
Teil IV: Expressive Zeichen Jochen Geilfuß-Wolfgang Was ist das denn?! Über die Kombination aus Fragezeichen und Ausrufezeichen | 295 Annika Herrmann & Markus Steinbach Expressive Gesten – expressive Bedeutungen. Expressivität in gebärdensprachlichen Erzählungen | 313
Teil V: Zum Ende Rita Finkbeiner Tschüssikowski und Bis später, Attentäter. Zur Bedeutung von expressiven Verabschiedungen | 341
Franz d’Avis & Rita Finkbeiner
Was ist Expressivität? Mit dem Begriff der Expressivität wird in der Linguistik ganz allgemein versucht, der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem sprachlichen Ausdruck von Gedanken und dem sprachlichen Ausdruck von Gefühlen oder Einstellungen. Lang (1983) führt die Konzepte SAY und EXPRESS ein, um diesen Unterschied genauer zu explizieren. EXPRESS lässt sich in Beziehung setzen mit ‚ausdrücken‘ in einer bestimmten Lesart, in etwa der, die in Hermann Pauls Wörterbuch festgehalten ist: „Etwas Seelisches durch sinnlich Wahrnehmbares zu erkennen geben“ (vgl. Lang 1983: 315). Expressivität als Konzept knüpft damit sowohl ganz grundsätzlich an die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache und Emotion an als auch, in einem spezifischeren Sinn, an die Frage nach dem Verhältnis zwischen „expressiven“ und „nicht-expressiven“ Aspekten sprachlicher Bedeutung. Entsprechend wird das Konzept in der Forschung zur Semantik und Pragmatik, zur Sprachphilosophie, zur Semiotik, Stilistik, kognitiven und interaktionalen Linguistik auf unterschiedliche Art und Weise zu erfassen versucht. Im Umfeld funktionaler Sprachbetrachtungen nach Bühler (1999 [1934]) und Jakobson (1979 [1960]) finden sich schon früh Überlegungen zu Expressivität, die den Begriff unter der Perspektive des Zusammenhangs zwischen Sprache und Emotion untersuchen. Ausgehend von dieser funktionalen Perspektive hat sich eine breit gefächerte Forschungslandschaft zur Expressivität entwickelt, die u.a. kognitionslinguistische, stilistische, text- und gesprächsanalytische sowie kommunikationswissenschaftliche Ansätze umfasst. Eine Grundfrage kognitionslinguistisch orientierter Ansätze ist, wie Emotionen sprachlich repräsentiert werden und in welcher Weise Emotionen kognitive Prozesse der Sprachverarbeitung beeinflussen (vgl. z.B. Schwarz-Friesel 2013; Pustka 2015; Mondal 2016). Für die Stilistik war der Ansatz von Bally (1970 [1909]) wegweisend, der die kommunikativ-soziale Dimension des sprachlichen Ausdrucks von Gefühlen herausstellt. Dieser Ansatz wurde v.a. in der Romanistik rezipiert, die in jüngerer Zeit eine ganze Reihe von Arbeiten zur Expressivität hervorgebracht hat (vgl. z.B. Drescher 2003; Pustka 2015; Pustka & Goldschmitt 2014). Aus Sicht der Forschung zur Gesprächslinguistik und verbalen Interaktion ist die Rolle von Emotionen unter der Fragestellung untersucht worden, „wie Emotionen in der Interaktion wechselseitig manifestiert, gedeutet und gemeinsam prozessiert werden, und […] mit welchen kommunikativen Verfahren und Mustern die Beteiligten dies tun“ (Fiehler 1990: 1–2; vgl. auch Drescher 2003 für das Französische).
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Eine andere Forschungstradition, in der der Begriff der Expressivität sehr einflussreich geworden ist, ist die Forschung zur Semantik und zur Semantik/Pragmatik-Schnittstelle (vgl. Lang 1983; Kaplan 1999, 2004; Potts 2007; Gutzmann 2015). In diesen Ansätzen wird Expressivität im Sinne einer bestimmten Dimension sprachlicher Bedeutung verstanden, die von Referentialität oder Propositionalität grundlegend verschieden ist. Dabei stehen Fragen danach im Mittelpunkt, an welchen sprachlichen Phänomenen sich diese Bedeutungsdimension manifestiert, auf welchen linguistischen Ebenen sie am besten zu erfassen ist und wie man sie (formal) repräsentieren kann. Der vorliegende Band steht sicherlich dieser zweiten Forschungstradition näher als der ersten, legt sich aber nicht auf ein bestimmtes theoretisches Konzept von Expressivität fest, sondern will den Begriff und die Möglichkeit seiner Anwendung auf ausgewählte sprachliche Phänomene des Deutschen theorieneutral und ergebnisoffen untersuchen. Der Fokus liegt auf expressiven Ausdrücken des Deutschen, die auf den zentralen linguistischen Beschreibungsebenen von Wort, Satz und Zeichen (Interpunktion und Gebärde) verortet sind. Ziel dieses einleitenden Kapitels ist es, unterschiedliche Ansätze zu Expressivität vorzustellen und die einzelnen in diesem Band versammelten Beiträge in dem entstehenden Begriffsfeld zu verorten. Unter einer funktionalen Perspektive auf Sprache bezeichnet Expressivität den sprachlichen Ausdruck von Emotionen. Hinter der Annahme, dass man den sprachlichen Ausdruck von Emotionen vom sprachlichen Ausdruck von Gedanken unterscheiden sollte, steht die Idee, dass Gefühle, im Gegensatz etwa zu dinglichen Referenten sprachlicher Ausdrücke, für die Außenwelt erst dadurch manifest werden, dass Sprecherinnen und Sprecher diesem Gefühl eine (sprachliche) Form verleihen. Intuitiv unterscheiden sich expressive Ausdrücke wie jippie damit von deskriptiven Ausdrücken wie Katze darin, dass das Wort Katze klar von der Klasse der Katzen unterscheidbar ist, die es bezeichnet, während das beim Wort jippie nicht so klar ist (vgl. Hayner 1956: 152). Unter einer formal-semantisch orientierten Perspektive zielt Expressivität auf Bedeutungsaspekte von sprachlichen Ausdrücken, die nicht wahrheitsfunktional sind. Dahinter steht die Idee, dass sich für bestimmte Ausdrücke wie jippie zwar Bedingungen angeben lassen, unter denen ihr Gebrauch angemessen oder unangemessen ist, nicht aber Bedingungen, unter denen der Ausdruck wahr oder falsch ist (vgl. Kaplan 2004: 3; vgl. auch Potts 2007). Dies hat zu der Annahme geführt, dass die wahrheitsfunktionale Semantik um eine gebrauchsfunktionale Semantik ergänzt werden muss. Aus Sicht der Semantik/Pragmatik-Schnittstelle stellt sich hier die Frage, inwiefern auch nicht-konventionelle (kontextabhängige), gebrauchskonditionale Aspekte, etwa konversationelle Implikaturen, zur
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Expressivität – zum „Ausgedrückten“ – gerechnet werden sollen (vgl. Lang 1983: 320–321). Prominente Vertreter eines funktional orientierten Expressivitätsbegriffs sind Bühler (1999 [1934]) und Jakobson (1979 [1960]). Bühler unterscheidet in seinem „Organonmodell der Sprache“ drei „semantische Funktionen des (komplexen) Sprachzeichens“: Es ist Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom (Anzeichen, Indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft seines Appells an den Hörer, dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert wie andere Verkehrszeichen. (Bühler 1999: 28)
Für Bühler ist Expressivität – er spricht von der Kundgabe- oder Ausdrucksfunktion der Sprache – damit eine semiotische Dimension, die bei jedem Zeichengebrauch mitzudenken ist, insofern als Sprecherinnen und Sprecher durch den Gebrauch sprachlicher Zeichen nicht nur etwas mitteilen und beim Hörer etwas erreichen wollen, sondern auch etwas über sich selbst, ihre „Innerlichkeit“ zu erkennen geben (indizieren). Die Idee, dass Äußerungen über ihren „Mitteilungsgehalt“ hinaus zusätzliche, emotive bzw. einstellungsbezogene Bedeutungsaspekte indizieren können, findet sich später auch in sprechakttheoretischen Arbeiten zu Expressivität, etwa bei Austin (1962). Jakobson übernimmt von Bühler die Annahme, dass Sprache eine Vielfalt von Funktionen erfüllen kann, wobei er insgesamt sechs Funktionen annimmt. Neben der referentiellen, konativen, phatischen, metasprachlichen und poetischen Funktion unterscheidet er die emotive Funktion von Sprache: Die sogenannte EMOTIVE oder ‚expressive‘ Funktion, die sich an den SENDER richtet, bringt die Haltung des Sprechers zum Gesprochenen unmittelbar zum Ausdruck. (Jakobson 1979: 89)
Wie bei Bühler ist die emotive Funktion bei Jakobson dem Sender zugeordnet. Bei Jakobson findet sich zudem der Gedanke, dass Emotionen sprachlich unmittelbar ausgedrückt werden. Das lässt sich so verstehen, dass Gefühle zu den Bedeutungsinhalten zählen, die eine sehr enge Bindung zu dem aufweisen, wodurch sie ausgedrückt werden, vgl. den oben angedeuteten Unterschied zwischen jippie und Katze. Als sprachliche Ausdrücke, in denen die emotive Funktion am „reinsten“ zum Ausdruck kommt, betrachtet Jakobson die Klasse der Interjektionen. Die emotive Funktion „färbt“ aber nach Jakobson „bis zu einem gewissen Grade alle unsere Äußerungen auf der phonischen, grammatischen und lexikalischen
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Ebene“ (Jakobson 1979: 89; vgl. zum Begriff der „Färbung“ bereits Frege 1892: 31). Ein wichtiger Punkt bei Jakobson ist, dass er Expressivität auf den Begriff der sprachlichen Information bezieht. Sprachlich kodierte Information kann nach Jakobson nicht auf referentielle oder kognitive Information reduziert werden, sondern umfasst eben auch expressive Information (vgl. Jakobson 1979: 89–90). Dieser Gedanke wird später in semantischen Arbeiten zu Expressivität formalisiert, so bei Kaplan, der der Frage nachgeht, was der semantische Informationsgehalt von Ausdrücken wie ouch! oder goodbye ist (vgl. Kaplan 2004: [12:43]). Während Jakobson eine semiotisch und strukturalistisch orientierte Sichtweise vertritt, nach der es ein sprachliches Zeichen ist, das expressives „Symptom“ für einen inneren Zustand ist, steht in sprachphilosophisch orientierten Ansätzen die Frage im Vordergrund, was Sprecherinnen und Sprecher im Gebrauch sprachlicher Zeichen kommunikativ intendieren. Grice (1989 [1957], 1993) unterscheidet zwischen zwei Arten von Bedeutung: natürliche Bedeutung (meaningN) und nicht-natürliche Bedeutung (meaningNN). „Symptome“ sind nach Grice Fälle von meaningN, bei denen ein naturgesetzlicher Kausalzusammenhang besteht. So kann man sagen, dass Pusteln Masern bedeuten bzw. ein Symptom für Masern sind, wobei dieser Zusammenhang nicht intentionaler Art ist. Intentionale Bedeutung, oder meaningNN, liegt nur dann vor, wenn eine Hörerin eine bestimmte Bedeutung erkennt, weil sie erkennt, dass der Sprecher mit der Äußerung intendiert hat, dass die Hörerin diese Bedeutung erkennt. ‚S meinte mit x etwas‘ ist (in etwa) äquivalent mit ‚S beabsichtigte, daß die Äußerung von x bei einem Hörer eine Wirkung mittels der Erkenntnis dieser Absicht hervorruft‘. (Grice 1993: 11)
Dieser Zusammenhang zwischen der Äußerung und ihrer Bedeutung folgt keinen Naturgesetzen, sondern ist über die sprachliche Äußerung vermittelt, die in einem bestimmten Kontext als so-und-so intendiert interpretiert werden kann. Auch wenn Grice nicht explizit über Expressivität spricht, hat der Begriff meaningN eine gewisse Nähe zum Begriff der Expressivität. So könnte man sagen, dass eine Äußerung, die mit brüchiger Stimme hervorgebracht wird, ein Symptom dafür ist, dass jemand gerührt ist. Während nach Bühler oder Jakobson in diesem Fall die emotive bzw. Ausdrucksfunktion von Sprache zutage tritt, liegt nach Grice bei diesem Beispiel meaningN vor, da ein Hörer die Rührung des Sprechers unabhängig davon erkennen kann, ob er bestimmte Intentionen des Sprechers erkennt. Die Grenze zwischen natürlicher und nicht-natürlicher Bedeutung scheint aber gerade im Bereich expressiver Bedeutungsaspekte unscharf zu sein.
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Das hat damit zu tun, dass physiologische Erscheinungen wie eine brüchige Stimme oft unkontrolliert auftreten, aber natürlich auch vom Sprecher zu einem bestimmten kommunikativen Zweck eingesetzt werden können. Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist, welche Rolle sprachliche Kodiertheit für die Unterscheidung zwischen meaningN und meaningNN spielt. So ist eine brüchige Stimme eine äußerungsbegleitende Erscheinung, aber kein Fall von sprachlicher Kodiertheit. Es wäre aber falsch, dieses Beispiel allein deshalb von vornherein nicht als Fall von meaningNN in Betracht zu ziehen. Grice will die Unterscheidung meaningN und meaningNN explizit nicht mit der Unterscheidung zwischen natürlichen und konventionellen Zeichen gleichsetzen. Nach Grice (1989: 215) ist also nicht jeder Fall von nicht-natürlicher Bedeutung konventionell, und nicht jeder Fall von natürlicher Bedeutung ist ein Zeichen für diese Bedeutung. Ein Phänomen, das oft im Übergangsbereich zwischen nicht-sprachlichem und sprachlichem Code angesiedelt wird, sind Interjektionen (vgl. Ehlich 1986; Wharton 2009), also gerade die prototypischen expressiven Ausdrücke. Expressivität spielt auch in den sprechakttheoretischen Ansätzen von Austin (1962) und Searle (1971, 1982) eine wichtige Rolle, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen lässt sich hier ein Verständnis von Expressivität im Sinne von nichtwahrheitsfunktionalen Bedeutungsanteilen finden, nämlich in der schon bei Austin (1962) getroffenen Unterscheidung zwischen describe und indicate. Mit dieser Unterscheidung wird abgebildet, dass Äußerungen nicht nur eine propositionale, wahrheitsfunktionale Bedeutung haben, sondern dass jeweils auch ein bestimmter Teil der Äußerung dafür verantwortlich ist, dass die illokutionäre Kraft des Sprechakts bzw. die propositionale Einstellung des Sprechers angezeigt (indiziert) wird. Ein wichtiger illokutionärer Indikator ist z.B. der Satzmodus, der sich aus einem Zusammenwirken von Indikatoren wie Verbstellung und Verbmodus, Intonation und kategorialer Füllung konstituiert. So repräsentiert der Satz Wen hat Trump gefeuert? die Proposition, dass Trump jemanden gefeuert hat, und indiziert aufgrund des interrogativen Satzmodus zugleich nicht-propositional die Illokution einer Frage. Die describe/indicate-Unterscheidung der Sprechakttheorie weist eine gewisse Nähe zu der in neueren relevanztheoretischen Arbeiten getroffenen Unterscheidung zwischen konzeptueller und prozeduraler Bedeutung auf (vgl. Blakemore 2002). Gegenüber Ausdrücken mit konzeptueller Bedeutung lässt sich der Beitrag prozeduraler Ausdrücke, beispielsweise Diskursmarker wie also, nicht auf Konzepte abbilden. Ihre Funktion liegt darin, den inferentiellen Verstehensprozess einzuschränken und in eine bestimmte Richtung zu lenken.
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Zum anderen spielt der Begriff der Expressivität bei Searle (1982) in Gestalt der expressiven Sprechakte eine Rolle. In seiner Taxonomie der Sprechakte unterscheidet Searle fünf Sprechaktklassen auf Grundlage der Kriterien der Ausrichtung, des psychischen Zustands und des illokutionären Witzes. In Bezug auf die Expressiva geht Searle davon aus, dass der illokutionäre Witz dieser Klasse darin besteht, den in der Aufrichtigkeitsbedingung angegebenen psychischen Zustand zum Ausdruck zu bringen, der auf eine im propositionalen Gehalt aufgeführte Sachlage gerichtet ist. (Searle 1982: 34)
Auch hier findet sich somit die Idee, dass Expressivität etwas mit dem Ausdrücken von Emotionen („psychischen Zuständen“) zu tun hat. Ein Problem ergibt sich daraus, dass Searle in seiner Taxonomie zugleich davon ausgeht, dass mit jedem Sprechakttyp (ausgenommen die Deklarationen) ein psychischer Zustand ausgedrückt wird. Der Unterschied ist nur der, dass der Ausdruck eines psychischen Zustands bei den anderen Klassen im Dienste eines hiervon verschiedenen illokutionären Zwecks steht, während er bei den Expressiva den eigentlichen Zweck ausmacht. Wenn also mit jedem Sprechakttyp ein psychischer Zustand ausgedrückt wird, bzw. – im Sinne der Unterscheidung describe/indicate – wenn mit jedem Sprechakttyp ein bestimmter Einstellungsrahmen indiziert wird, dann wäre eigentlich jeder Sprechakt expressiv. Es stellt sich damit die Frage nach der Berechtigung einer eigenen Klasse der Expressiva. Lang (1983) kritisiert Searles Taxonomie entsprechend und stellt fest, dass jeglicher Sprechakt […] repräsentative, direktive, kommissive, expressive und im Falle explizit performativer Formeln auch deklarative Aspekte [umfasst], nur sind diese auf verschiedene Interpretationsebenen verteilt, d.h. sie können propositional oder nichtpropositional in der sprachlichen Struktur repräsentiert sein, in der der Satzbedeutung oder der Äußerungsbedeutung oder dem Kommunikativen Sinn verankert sein. (Lang 1983: 338)
Ein zweites Problem ist, dass die von Searle (1982) als typische Beispiele für Expressiva genannten Sprechakte – wie Danken, Gratulieren, um Entschuldigung bitten – ein seltsam kleines Spektrum möglicher sprachlich ausdrückbarer Gefühle umfassen. Das scheint damit zu tun zu haben, dass Searle nur solche Sprechakte als expressive Sprechakte auffasst, für die es Verben gibt, die idealerweise auch performativ gebraucht werden können, z.B. Ich danke dir, Ich gratuliere dir. Man kann aber natürlich auch viele andere Gefühle performativ zum Ausdruck bringen, indem man Formulierungen wählt wie Ich möchte hiermit meine Genugtuung/meine Erleichterung/mein Entsetzen (darüber) zum Ausdruck
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bringen, …. Auch dabei sollte es sich um expressive Sprechakte handeln, auch wenn ihre Lexikalisierung einzelsprachlich unterschiedlich ist. Es entsteht insgesamt der Eindruck, dass Searle – dessen Klasse der Expressiva in Auseinandersetzung mit Austins (1962) „Behabitiva“ entstanden ist – vor allem solche expressiven Sprechakte im Blick hat, die bestimmten sozialen Verhaltensnormen entsprechen, mit denen also bestimmte sozial einklagbare Einstellungen zum Ausdruck gebracht werden (vgl. dazu auch Finkbeiner, in diesem Band). Übrige, individuelle Gefühlsäußerungen – im Sinne einer allgemeinen „emotiven Funktion“ – spielen bei Searle dagegen eine untergeordnete Rolle. Prominente Vertreter eines formal-semantisch orientierten Expressivitätsbegriffs sind Kaplan (1999, 2004) und Potts (2007). Unter einer formal-semantischen Betrachtungsweise basiert expressive Bedeutung auf der Unterscheidung zwischen wahrheitsfunktionaler und nicht-wahrheitsfunktionaler Bedeutung. Der Grundgedanke dabei ist, dass es für manche Ausdrücke nicht sinnvoll scheint, danach zu fragen, unter welchen Bedingungen sie wahr oder falsch sind, sondern unter welchen Bedingungen sie angemessen oder unangemessen verwendet werden. Dass expressive Ausdrücke nicht deskriptiv in einem wahrheitsfunktionalen Sinn sind, hat schon Hayner (1956) angenommen und sich dabei mit dem Ausdruck Ouch! beschäftigt, was als prominentes Beispiel auf Milmed (1954) zurückgeht. Für Kaplan (1999, 2004) sind Überlegungen zu ouch und oops Ausgangspunkt für die Bestimmung von expressiven Bedeutungsbestandteilen. Dabei tritt der Gedanke der emotionalen Involviertheit des Sprechers in den Hintergrund. Im Fokus stehen konventionalisierte, nicht-wahrheitsfunktionale Bedeutungsaspekte, die Kaplan (1999, 2004) mit den Werkzeugen der formalen Semantik in den Griff bekommen möchte. Die grundsätzliche Überlegung sieht dabei so aus: So, here’s my method: I don’t ask what the expression means, for example, I don’t ask, ‘What does goodbye mean?’ Instead I ask, what are the conditions under which the expression would be correctly or accurately used? This seems a much more fruitful line of inquiry for a word like goodbye. To the degree that such conditions reflect linguistic convention, the information that such a condition obtains is carried in the semantics of the expression. (Kaplan 2004: [14:33])
Ein Satz wie That damn Kaplan was promoted, der den expressiven Ausdruck damn enthält, muss dabei aus mindestens zwei unterschiedlichen Blickwinkeln bewertet werden: (i) Unter welchen Bedingungen ist dieser Satz wahr? Und (ii), unter welchen Bedingungen ist eine Äußerung dieses Satzes angemessen? Man könnte einwenden, dass man sich bei der Identifikation dieser zweiten Bedingungen schon im Bereich der Pragmatik befindet, da es schließlich um angemessene Verwendungsbedingungen geht, die eine Bewertung im Rahmen des Kontexts
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betreffen. Der relevante Punkt für Kaplan (1999, 2004) ist hier allerdings, dass diese Gebrauchsbedingungen zum einen konventionelle Bedeutungen widerspiegeln, d.h. sie sind mit dem Ausdruck verbunden und sollten unabhängig vom Kontext gleichbleiben, und zum anderen die Möglichkeit geboten ist, diese Bedeutungsaspekte mit dem Instrumentarium der formalen Semantik in eine Theorie der Bedeutung zu integrieren (vgl. für eine formale Umsetzung Gutzmann 2015). Für den Ansatz von Kaplan (1999, 2004) sind dabei zwei Aspekte für expressive Bedeutung grundlegend, nämlich Bedingungen des Gebrauchs und Konventionalität. Der zweite Aspekt wird bei der Frage nach der Explikation von expressiver Bedeutung nicht immer als differenzierend angenommen. Der Ansatz von Lang (1983) macht zwar ebenfalls die Unterscheidung zwischen wahrheitskonditionaler und nicht-wahrheitskonditionaler Bedeutung zum Kriterium für die Bestimmung von expressiver Bedeutung, doch ist in seinen Überlegungen Konventionalität nicht unterscheidend. Das, was mit konversationellen Implikaturen im Sinne von Grice (1989) in die Gesamtbedeutung einer Äußerung eingeht, fällt damit hier auch unter den Begriff der expressiven Bedeutung. Lang (1983) expliziert den Unterschied zwischen den sprachwissenschaftlichen Konzepten SAY und EXPRESS mit Hilfe von Überlegungen zur Bedeutung und Argumentstruktur des Verbs ausdrücken. Diesen Zusammenhang mit der Bedeutung von to express diskutiert auch Hayner (1956). Lang (1983) nutzt dabei Eigenschaften der Redewiedergabe systematisch als heuristisches Mittel zur Unterscheidung von Gesagtem und Ausgedrücktem. Bei Redewiedergaben handelt es sich um Äußerungen, mit denen sich ein Sprecher auf eine andere Äußerung in einem bestimmten Kontext, die Originaläußerung, bezieht (Lang 1983: 317). Redewiedergaben mit sagen und ausdrücken tun das dabei auf unterschiedliche Weise. Der Grundgedanke ist, dass bei einer Redewiedergabe mit sagen, dass p p sich auf die Proposition der Originaläußerung bezieht, während in einer Redewiedergabe mit ausdrücken, dass q q sich auf nicht-propositionale Bedeutungsbestandteile der Originaläußerung bezieht, die in der Redewiedergabeäußerung selbst Bestandteil der Proposition sind; sie werden propositionalisiert (Lang 1983: 319f.). Das gilt auch für konversationelle Implikaturen. Expressive Bedeutung im Sinne von Lang (1983) ist damit nicht-propositional und konventionell oder als Sprecherintention in einem bestimmten Kontext systematisch ableitbar (vgl. dazu ausführlicher d’Avis, in diesem Band). Auch Potts (2007) bietet eine bestimmte Heuristik zur Identifikation expressiver Bedeutung im Rahmen des Gegensatzes wahrheitskonditional/nicht-wahrheitskonditional und listet sechs Kriterien auf, die zur Unterscheidung von deskriptiver und expressiver Bedeutung herangezogen werden können.
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Das erste Kriterium ist Unabhängigkeit (independence) und besagt, dass die beiden Bedeutungsbereiche voneinander unabhängig sind, so dass wir den expressiven Gehalt einer Äußerung verändern oder streichen können, ohne dass der deskriptive Gehalt davon berührt wird. Bei einer Beschreibung der Bedeutung sollte man dabei die beiden Bereiche trennen. Die Bedeutung einer Äußerung wie (1a) kann dabei als (2b) angegeben werden, vgl. Potts (2007: 168). (1)
a. Dieser blöde Maius Agricola ist sehr bekannt. b. deskriptiv: Maius Agricola ist sehr bekannt expressiv: Maius Agricola ist blöd/aus Sicht des Sprechers negativ zu beurteilen
Ganz unabhängig sind die beiden Bedeutungsbereiche dabei nicht, da blöd semantisch als Prädikat zu behandeln ist, das ein Argument braucht. Dieses Argument ist auf der deskriptiven Ebene als Maius Agricola zu finden. Offensichtlich wird das in Kopulasätzen, wenn das Zutreffen des expressiven Ausdrucks als Prädikativ auf das Subjekt gerade das ist, was in der Äußerung ausgedrückt wird. (2)
Maius Agricola ist blöd.
Hier ist es nicht ganz deutlich, wie man deskriptive von expressiver Bedeutung trennen kann. Potts (2007: 194) verweist darauf, dass Kopulasätze Probleme machen, und begründet dies damit, dass sie nicht expressiv sein könnten, da sie kein Argument (bzw. keinen Funktor) für das Kopulaverb bereitstellten. Trotzdem möchte man Äußerungen wie (3) intuitiv wohl als expressiv ansehen. (3)
Heinz ist so ein Arschloch!
Das zweite Kriterium nennt Potts (2007: 169ff.) Nicht-Verschiebbarkeit (nondisplaceability). Die Idee ist, dass expressive Ausdrücke immer (außer in direkter Rede) etwas aussagen über die jeweilige Äußerungssituation und nicht im Skopus einer Negation stehen oder temporal oder modal verschoben werden können. Sie können nichts über vergangene Situationen, Einstellungen, Gefühle oder bloße Möglichkeiten sagen, vgl. entsprechende Beispiele Potts (2007: 170).
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(4) a. Dieses Arschloch Agricola ist nicht zu spät. #Er ist ein netter Kerl. b. Es stimmt einfach nicht, dass dieses Arschloch Agricola zu spät ist. #Er ist ein netter Kerl. c. #Wenn dieses Arschloch Agricola einen guten Vortrag hält, sollte er die Stelle wegen seiner Blödheit nicht bekommen. d. Vielleicht wird dieses Arschloch Agricola wieder zu spät sein. #Auf der anderen Seite ist er vielleicht gar kein Arschloch. In (4a,b) wird nicht die Einstellung des Sprechers gegenüber Agricola negiert, in (4c) sollte sich eine sinnvolle Lesart ergeben, wenn der Ausdruck Arschloch konditionalisiert wird, und in (4d) müsste der Ausdruck im Skopus eines Möglichkeitsoperators stehen können, damit die Fortsetzung angemessen ist. Auch Tempus hat keinen Einfluss auf expressive Ausdrücke, vgl. Potts (2007: 171). (5)
Dieses Arschloch Agricola kam gestern zu spät. #Aber heute ist er kein Arschloch, weil er rechtzeitig da war.
Eine mögliche Erklärung dieses Verhaltens könnte sein, dass Expressive sich wie Präsuppositionstrigger verhalten. Einstellungsprädikate etwa erlauben, dass Präsuppositionen nicht für den Gesamtsatz gelten, vgl. (6), siehe Potts (2007: 170). (6)
Maria glaubt, dass Heinz bedauert, dass die Erde flach ist.
Eine Interpretation ist, dass die faktive Präsupposition, die auf die Eigenschaften des Verbs bedauern zurückgeht, sich auf den Glauben von Maria bezieht. Das scheint heute auch die einzige sinnvolle, wobei sie sich auch auf den Sprecher beziehen kann. Letztere ist nach Potts (2007: 170) für Expressive allerdings die einzig mögliche Lesart, vgl. (7). (7)
Maria glaubt, dass dieses Arschloch Agricola gehen sollte. #Ich glaube, dass er ein netter Kerl ist.
Die Fortsetzung in (7) und damit eine Lesart, die die negative Einstellung gegenüber Agricola nur für Maria gelten lässt, scheint nicht möglich zu sein. Das ist anders bei Redewiedergabe, womit sich das dritte Kriterium beschäftigt. Bevor wir dazu kommen, betrachten wir noch einmal Kopulasätze, bei denen das Prädikativ ein expressiver Ausdruck ist. Solche Sätze scheinen sich nicht so zu verhalten, wie es das Kriterium der Nichtverschiebbarkeit andeutet.
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(8) a. Es ist nicht der Fall, dass Maius Agricola ein Arschloch ist. Er ist ein netter Kerl. b. Wenn Maius Agricola ein Arschloch ist, sollte er die Stelle nicht bekommen. Andernfalls schon. c. Vielleicht ist Maius Agricola ein Arschloch. Auf der anderen Seite vielleicht aber auch nicht. d. Maius Agricola war gestern ein Arschloch. Heute finde ich ihn aber nett. Hier verhält sich der expressive Ausdruck Arschloch anders. Man könnte überlegen, ob die jeweils zugrundeliegende syntaktische Konstruktion nicht einen stärkeren Einfluss hat, als es die Darstellung in Potts (2007) nahelegt. Möglicherweise werden Ausdrücke wie that bastard oder das Arschloch im Grunde ähnlich wie appositive Relative gedeutet, die nach Potts ja auch in den Bereich der Expressive gehören (vgl. dazu Poschmann, in diesem Band). Nun zum dritten Kriterium, der perspektivischen Abhängigkeit (perspective dependence). Diesem Kriterium liegt die Beobachtung zugrunde, dass es Fälle gibt, in denen ein expressiver Ausdruck in Bezug auf eine andere Person als den Sprecher interpretiert werden kann, vgl. (9), i. Orig. in Kratzer (1999). (9)
Mein Vater schrie, dass er es mir nie erlauben würde, dieses Arschloch Webster zu heiraten.
Der Inhalt des Satzes legt nahe, dass der Vater als derjenige angesehen werden kann, auf den der expressive Ausdruck zurückgeht. Das liegt sicher einmal am Matrixverb schreien, das eine bestimmte emotional beeinflusste Art der Rede beschreibt, die zur Verwendung von expressiven Ausdrücken passt, zum anderen scheint ein Widerspruch zu entstehen, wollte der Sprecher jemanden heiraten, den er selbst als Arschloch bezeichnet. Ein in diesem Sinn geändertes Beispiel wie (10) verortet die entsprechende Einstellung eher beim Sprecher. (10) Mein Vater sagte, dass er es mir nie erlauben würde, dieses Arschloch Webster umzubringen. Der relevante Punkt ist jedoch, dass es Kontexte gibt, die erlauben, dass die durch ein Expressiv ausgedrückte Einstellung nicht die des Sprechers ist. Potts (2007) diskutiert die Einführung eines sogenannten ‚judge‘, also eines ‚Richters‘, der in entsprechenden Kontexten vom Sprecher weg verschoben werden kann, geht aber davon aus, dass im Default-Fall der Sprecher der Richter ist. Wenn die Verschiebung der Richter-Rolle mit Einstellungsverben oder mit Redewiedergabe zu
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tun hat, dann scheinen hier Kopulasätze auch wieder eine Ausnahme zu sein, insoweit sie wohl nur das Matrixsubjekt als Richter zulassen wie in (11). (11) Mein Vater meinte/sagte/behauptete/glaubte/fürchtete, dass Webster ein Arschloch ist. (Ich sah das nie so.) Das vierte Kriterium nennt Potts (2007: 176ff.) descriptive ineffability, vielleicht übersetzbar mit ‚deskriptive Unangebbarkeit‘. Dahinter steckt die Beobachtung, dass Sprecher generell nicht in der Lage sind, die Bedeutung von expressiven Ausdrücken genauer anzugeben bzw. mit möglichen Paraphrasen oft unzufrieden sind. Die Verwendung von Drecksack in Bezug auf eine bestimmte Person heißt vermutlich nicht einfach, dass diese Person ein schlechter Mensch ist. Das kann durchaus mit dem Kontext variieren. Was ausgedrückt wird, können Gesprächsteilnehmer in etwa ableiten. Diese Schlüsse selbst sind dann wiederum propositionalisierbar, worauf schon Milmed (1954) hinweist. Potts (2007) analysiert expressive Ausdrücke als Indices im Kontext, die zu einer Restriktion führen, die die Möglichkeiten weiterer expressiver Sprache im selben Kontext beschränkt, wenn der Sprecher nicht widersprüchlich agieren will. Das fünfte Kriterium, ‚Unmittelbarkeit‘ (immediacy), bezieht sich nach Potts (2007: 179ff.) darauf, dass Expressive wie performative Ausdrücke oder Sprechakte dadurch, dass sie ausgesprochen werden, ihre Wirkung entfalten. Das, was ein Sprecher damit ausdrücken will, ist im Diskurs nicht verhandelbar. Wenn A (12a) äußert, kann B die Wahrheit des Assertierten anzweifeln, vgl. (12b), aber nicht die Tatsache, dass A eine Assertion vollzogen hat, vgl. die Unangemessenheit von (12c). (12) a. A: Heinz hat seine Frau betrogen. b. B: Nein, das stimmt doch gar nicht. c. B: #Nein, das hast du nicht assertiert. So verhalten sich auch Expressive, wie wir oben gesehen haben, vgl. (13). (13) Dieses Arschloch Agricola kam gestern zu spät. #Aber heute ist er kein Arschloch, weil er rechtzeitig da war. Der Sprecher kann nicht zurücknehmen, dass er mit der Verwendung von Arschloch eine bestimmte Einstellung gegenüber Agricola ausgedrückt hat. Auch in Be-
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zug auf die Eigenschaft der Unmittelbarkeit scheint sich die Verwendung von expressiven Ausdrücken als Prädikative in Kopulasätzen anders zu verhalten, vgl. die Beispiele oben. Als letztes Kriterium für Expressive führt Potts (2007: 182) ‚Wiederholbarkeit‘ (repeatability) an. Im Gegensatz zu möglichen ableitbaren propositionalen Beschreibungen des Inhalts sind expressive Ausdrücke wiederholbar und haben dabei andere Effekte, etwa Verstärkung, vgl. (14a vs. 14b). (14) a. Scheiße, ich habe meine (scheiß) Schlüssel in diesem (scheiß) Auto vergessen. b. #Ich bin wütend! Ich habe meine Schlüssel vergessen. Ich bin wütend! Sie liegen im Auto. Ich bin wütend! Potts (2007: 182) weist darauf hin, dass im Japanischen der angemessene Gebrauch von Honorifika auch mit der Quantität zu tun hat. Zu wenige Honorifika können als unhöflich angesehen werden, zu viele können zu Sarkasmus oder Ironie führen. Die Studie von El Barkani (2017) kommt für das Deutsche zum selben Schluss. Potts (2007) hat mit diesen Eigenschaften operationalisierbare Kriterien vorgelegt, die zur Identifizierung expressiver Ausdrücke beitragen können. Ob die Grenzen dabei richtig gezogen werden, ist nicht immer eindeutig, wie wir an Kopulasätzen gesehen haben. Auch das Verhältnis zu Sprechakten könnte sich als problematisch erweisen, je nachdem, ob man alle Sprechakte als expressiv ansehen will oder nicht. Meibauer (2014: 96) bemerkt dazu kritisch, dass die Eigenschaft der Unmittelbarkeit mit allen Sprechakten in Beziehung zu setzen sei. Anstatt das als Argument gegen diese Eigenschaft zu sehen, könnte es allerdings sein, dass Sprechakte oder ihre syntaktischen Entsprechungen (Satztypen oder Satzmodus) gerade weitere Phänomene sind, die man als expressiv ansehen kann (vgl. Lang 1983; Gutzmann 2015: 166ff.) Meibauer (2014: 96) hält weiterhin fest, dass diese Kriterien in gewissem Sinne intuitiv seien. Es sei auch nicht klar, ob es sich um eine abgeschlossene Menge von Kriterien handle. So schlägt er ein weiteres Kriterium vor, nämlich, dass Expressive nicht koordiniert werden können, vgl. (15a). Das ist auch auf Deutsch nicht wirklich überzeugend, vgl. (15b). (15) a. ??That bastard and idiot Kresge... b. ??Dieser Drecksack und Mistkerl Agricola hat mein Fahrrad zerkratzt.
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Vielleicht liegen hier aber auch konstruktionelle Unterschiede vor, da eine nachgestellte Apposition wie (16) akzeptabler scheint und auch Kopulasätze wieder eine eigene Klasse bilden, vgl. (17). (16) Agricola, dieser Mistkerl und Drecksack, hat mein Fahrrad zerkratzt. (17) Agricola ist ein Drecksack und ein Riesenarschloch. Deutlich wird aus den vorgestellten Ansätzen, dass für die Definition dessen, was man unter expressiver Bedeutung verstehen sollte, durchaus noch keine Einigkeit herrscht. Neben definitorischen Festlegungen, etwa Kaplan (1999, 2004), gibt es Vorschläge zu heuristischen Verfahren wie bei Lang (1983) und Potts (2007). Zusammenfassend lassen sich die unterschiedlichen semantischen und pragmatischen Verständnisweisen von Expressivität auf die in Tabelle 1 gezeigten dichotomischen Gegenüberstellungen abbilden. Dabei sollte aus unseren Ausführungen deutlich geworden sein, dass die genannten Dichotomien nicht mehr sein können als stark vereinfachte Versuche, einen Explikationsrahmen für die unterschiedlichen Arten von Bedeutung zu bereitzustellen, wobei von zahlreichen Übergängen auszugehen ist. Tab. 1: Dichotomien zwischen deskriptiver und expressiver Bedeutung
Deskriptive Bedeutung
Expressive Bedeutung
Referenz
describe
manifest
Hayner 1956
nicht-natürlich
natürlich
Grice 1989 [1957]
describe
indicate
Austin 1962
propositional
nicht-propositional
Lang 1983
sagen
ausdrücken
Lang 1983
wahr/falsch
angemessen/unangemessen
Kaplan 1999, 2004
describe
express
Kaplan 1999, 2004
conceptual
procedural
Blakemore 2002
to offer content
to inflict content
Potts 2007
mittelbar
unmittelbar
Potts 2007
truth-conditional
use-conditional
Gutzmann 2015
Grundsätzlich finden sich im Deutschen auf allen linguistischen Ebenen Phänomene, für die eine Einordnung in den Bereich expressiver Bedeutung diskutiert
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werden kann. Jörg Meibauer hat sich mit einer Vielzahl solcher Phänomene beschäftigt, etwa mit expressiver Interpunktion (Meibauer 2007a, 2015, im Erscheinen), expressiver Wortbildung (Meibauer 2003, 2007b, 2013a), expressiver Lexik (Meibauer 1994, 2013c, 2016), expressiven Konstruktionen (d’Avis & Meibauer 2013; Meibauer 2013b; Finkbeiner & Meibauer 2016) und expressiven Sprechakten (Meibauer 1986, 2013b, 2016), und dabei immer wieder deutlich gemacht, dass die Beschreibung von Expressivität auch eine Beschreibung des Zusammenwirkens syntaktischer (auch: graphematischer, morphologischer), semantischer und pragmatischer Eigenschaften sprachlicher Ausdrücke erfordert. Die in diesem Band versammelten Beiträge knüpfen hier an, indem sie verschiedenen expressiven Phänomenen im Deutschen auf den Ebenen von Wort, Satz und Zeichen nachgehen und dabei auch unterschiedliche theoretische und methodische Zugänge aufzeigen. Der Beitrag von Franz d’Avis – ‚Expressivität und Lüge. Expressive Bedeutungsbestandteile von Äußerungen als Grundlage einer Lügendefinition‘ – diskutiert die These, dass einer Lüge immer expressive Bedeutungsbestandteile zugrunde liegen. Es werden zwei verschiedene Möglichkeiten betrachtet, expressive Bedeutung zu definieren, wobei der Unterschied darin liegt, ob auch Bedeutungsaspekte, die auf nicht-konventionelle Weise in die Gesamtbedeutung einer Äußerung in einem Kontext eingehen, zu expressiver Bedeutung zu rechnen sind. Im Weiteren ist die Überlegung, dass Lügen, wenn sie auf Assertionen beruhen, immer auch auf expressiver Bedeutung beruhen, sofern man Bedeutungsbestandteile, die auf Eigenschaften von Sprechakten zurückzuführen sind, als expressive Bedeutung klassifiziert. Vor dem Hintergrund, dass es sinnvoll ist, auch unaufrichtige konversationelle Implikaturen als Lügen anzusehen, werden Lügen auf der Basis von Assertionen und Lügen auf der Basis von (anderer) expressiver Bedeutung auf denselben Mechanismus zurückgeführt, nämlich als Hinzufügung einer Proposition zum Gemeinsamen Gesprächshintergrund, die nicht Element des Glaubenshintergrunds des Verantwortlichen ist. Einen ersten Themenbereich des Bandes bildet dann der Bereich ‚Expressive Wörter‘. Der Beitrag von Carmen Scherer – ‚Expressivität in der Wortbildung. Ein Überblick‘ – unternimmt eine systematische Analyse des Phänomens Expressivität im Hinblick auf die deutsche Wortbildung. Dabei wird Expressivität als pragmatisches Phänomen verstanden, dessen Wirkung aus Abweichungen von prototypischen Standardwerten oder -mustern resultiert, die lexikalischer oder struktureller Natur sein können. Im Fall strukturell bedingter Expressivität unterscheidet die Autorin zwischen Expressivität, die auf einer Abweichung von universell gültigen Defaultwerten basiert, etwa bei Wortbildungstypen wie der
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Kontamination und der Kurzwortbildung, die gegen die universelle Präferenz von konkatenativen Wortbildungstypen verstoßen, und Expressivität, die auf einer Abweichung in der Füllung von Strukturen beruht, die sprachabhängig und individuell für einzelne Wortbildungsmuster variieren kann (z.B. unkaputtbar). Schwerpunkt des Beitrags bildet neben der Begriffsklärung und Abgrenzung des Phänomens – etwa in Bezug auf verwandte Konzepte wie evaluative und ‚marginale‘ Morphologie – ein systematischer Überblick über lexikalische und strukturelle Expressivität in der deutschen Wortbildung. Björn Technau widmet sich in ‚Die expressive Bedeutung von Beleidigungswörtern. Tabubrüche, Sprechereinstellungen, Emotionen‘ dem Zusammenhang zwischen diesen Bereichen. Beleidigungswörter lassen sich nach vielerlei Kriterien unterscheiden, u.a. danach, ob sie gruppenbasiert sind (Polacke, Schwuchtel) oder nicht (Arschloch, Idiot). Da ihre Verwendung einen Tabubruch darstellt, können Sprecher mit ihnen konventionell besondere Expressivität erreichen. Der Beitrag stellt auf Grundlage empirischer Daten ein Analysemodell vor, das sich am Kriterium der Konventionalität orientiert. Dabei wird der Tatsache Rechnung getragen, dass (bestimmte) Beleidigungswörter nicht nur konventionell zum Ausdruck negativer Einstellungen verwendet werden, sondern auch konventionell zum Ausdruck positiver Einstellungen. Was die verschiedenen Verwendungsweisen gemein haben, sind die gesteigerten Emotionen ihrer Sprecher, die über den Tabubruch expressiv ausgedrückt werden. Im Beitrag von Ingo Reich – ‚Saulecker und supergemütlich! Pilotstudien zur fragmentarischen Verwendung expressiver Adjektive‘ – wird sowohl korpuslinguistisch wie auch experimentell der Hypothese nachgegangen, dass expressive Adjektive in fragmentarischer Verwendung signifikant akzeptabler sind als deskriptive Adjektive. Während sich diese Hypothese im Korpus zunächst weitgehend bestätigt, zeigen die experimentellen Untersuchungen zwar, dass expressive Äußerungen generell besser bewertet werden als deskriptive Äußerungen, die ursprüngliche Hypothese lässt sich aber nicht bestätigen. Die Diskrepanz zwischen den korpuslinguistischen und den experimentellen Ergebnissen wird in der Folge auf eine Unterscheidung zwischen individuenbezogenen und äußerungsbezogenen (expressiven) Adjektiven zurückgeführt. Die ursprüngliche Hypothese wäre daher in dem Sinne zu qualifizieren, dass sie nur Aussagen über die isolierte Verwendung äußerungsbezogener Adjektive macht. Frank Liedtke und Lena Rosenbaum diskutieren in ihrem Beitrag ‚Interjektionen und Kontextbezug. Pragmatische Templates als Analysemodell‘ grammatische und pragmatische Konzeptionen zur Interpretation von Interjektionen vor dem Hintergrund einer wissenschaftshistorischen Betrachtung verschiedener Beschreibungsansätze, die Interjektionen je nach Ausrichtung als Naturlaute
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oder als konventionalisierte Sprachlaute auffassten. Ein hierbei auftretendes Problem ist die angenommene Nicht-Referentialität von Interjektionen, die gleichwohl auf Ereignisse oder Objekte der Äußerungsumgebung bezogen sind. Ein Lösungsvorschlag ist die Annahme von pragmatischen Templates als Bündel von semantischer und kontextueller Information, die den Gegenstandsbezug von Interjektionen als Teil des Verwendungswissens behandeln. Zum Abschluss des Themenbereichs ‚Expressive Wörter‘ setzt Laura Neuhaus in ihrem Beitrag ‚Ironische Interjektionen und expressive Negation #hurra #nicht. Ironie und Expressivität am Beispiel Twitter‘ Expressivität in Zusammenhang mit dem Bereich der Ironie, der in der bisherigen Expressivitätsforschung keine zentrale Rolle gespielt hat. Dabei ist der Phänomenbereich ironisch bewertender Gefühlsausdrücke besonders interessant, um das Verhältnis von Wahrheits- und Gebrauchsbedingungen und figurativer Bedeutung zu diskutieren und bestehende Expressivitätstheorien zu prüfen. Die Analyse von 1.000 Tweets zeigt, wie der semantische Operator nicht in nachgestellter Position expressiv verschiedene Ironietypen markiert und wie die expressiven Interjektionen hurra, juhu, jippie/yippie und yeah ironisch gebraucht werden. Die Zusammenschau dieser Phänomene ermöglicht die Überprüfung und Anwendung bestehender Expressivitäts- und Ironieansätze. Einen zweiten Themenbereich bildet der Bereich ‚Expressive Sätze‘. In ‚Expressivität und die linke Peripherie. Zur Beziehung zwischen expressiver Bedeutung und funktionalen Projektionen‘ beschäftigt sich Sven Müller mit peripheren Adverbialsätzen mit den Konnektoren obwohl, da und während, die über eine syntaktische Basisposition in der linken Peripherie ihres Matrixsatzes verfügen. Alle drei Adverbialsatzvarianten weisen zudem expressive Bedeutungsbestandteile auf. Die syntaktischen und semantischen Charakteristika peripherer Adverbialsätze deuten damit auf den bereits für andere expressive Ausdrücke und Strukturen angenommenen Bezug zwischen expressiver Bedeutung und linker Peripherie hin. Dass dieser Bezug im Fall peripherer Adverbialsätze tatsächlich systematisch ist, zeigt der Vergleich mit nicht-peripheren, zentralen Adverbialsatzvarianten. Eva-Maria Uebel und Jürgen Pafel beschäftigen sich in ‚Als ob wir Ideologen wären! Freie als ob-Sätze, epistemische Normen und Emotionen‘ mit selbständigen Varianten von als ob-Sätzen, mit denen ein Sprecher unterschiedliche negative Emotionen zum Ausdruck bringen kann, die von Wut, Empörung, Ärger bis zu leichtem Unmut, Unbehagen, Enttäuschung reichen. Diese Eigenschaft ist darauf zurückzuführen, dass freie als ob-Sätze eine Normverletzung konstatieren und damit auf Seiten des Sprechers eine ‚Irritation’ zu erkennen geben, die je nach Situation unterschiedlich emotional grundiert sein kann. Das Konstatieren
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einer Normverletzung ergibt sich aus dem Zusammenspiel der speziellen kommunikativen Intention und Präsupposition des freien als ob-Satzes mit allgemeinen epistemischen Normen. Bei den freien als ob-Sätzen liegt ein hochspezialisierter deklarativer Satztyp vor, der den Status einer indirekten Emotionsbekundung hat. Formal handelt sich um selbständige als ob/als wenn-VE- oder alsV1-Sätze mit dem finiten Verb im Konjunktiv Präteritum. Sie weisen Ähnlichkeiten zu doch-Deklarativen und w-Exklamativen auf. Der Beitrag von Claudia Poschmann – ‚Appositive und Expressivität. Zur expressiven Bedeutung appositiver Relativsätze‘ – nimmt seinen Ausgangspunkt in der Beobachtung, dass appositive Relativsätze oft als expressive Ausdrücke analysiert werden, mit denen sie typische Eigenschaften wie Unabhängigkeit, Nicht-Zurückweisbarkeit und Sprecherorientierung teilen. Andererseits drücken appositive Relativsätze wahrheitswertkonditionale Inhalte aus. Sie lassen sich somit nur schwer in die mittlerweile gut etablierte Unterscheidung zwischen wahrheitskonditionalen und expressiven Bedeutungen einordnen. In diesem Beitrag wird diskutiert, in welchen Punkten appositive Relativsätze Expressiven ähneln, wo sie sich unterscheiden und was passiert, wenn expressive Ausdrücke in appositive Relativsätze eingefügt werden. Ein solcher Vergleich führt zu interessanten Fragen nicht nur für die Analyse und Klassifikation appositiver Relativsätze, sondern auch für das Verständnis zentraler Eigenschaften expressiver Bedeutungen. Im Beitrag von Daniel Gutzmann und Katharina Turgay – ‚Der Moment, wenn dir klar wird, dass es expressive Nebensätze gibt. Zur Syntax und Semantik der expressiven Nebensatzkonstruktion‘ – wird das durch den Titel exemplifizierte Phänomen diskutiert und eine Analyse der Syntax und Semantik dieser Konstruktion vorgestellt. Sie besteht aus einer NP – vornehmlich temporal-referentielle Ausdrücke wie der Moment, der Augenblick, manchmal auch das Gefühl – und einem attributiven Nebensatz. Die Konstruktion erfüllt eine Doppelfunktion: Zum einen wird eine Situation dargestellt, zum anderen wird dadurch ein spezifisches Gefühl ausgedrückt, welches durch die beschriebene Situation ausgelöst wird. Die Autoren argumentieren, dass beide Aspekte nicht assertiert, sondern im Sinne Kaplans (1999) expressiv zum Ausdruck gebracht werden. Da der nominale Anker nur wenig zu der Gesamtbedeutung beiträgt und auch weggelassen werden kann, wird die Situations- und Gefühlsdarstellung primär durch den Nebensatz geleistet. Einen letzten Themenbereich des Bandes bilden ‚Expressive Zeichen‘, und zwar zum einen im Bereich der Graphematik und zum anderen im Rahmen der Gebärdensprache.
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In ‚Was ist das denn?! Über die Kombination aus Fragezeichen und Ausrufezeichen‘ beschäftigt sich Jochen Geilfuß-Wolfgang mit der genannten Kombination, ?!, die bisher nur selten untersucht worden ist, obwohl sie in informellen Kontexten doch erstaunlich häufig verwendet wird; auch in der amtlichen Regelung findet sich dazu nichts. Der Beitrag untersucht zum einen das Vorkommen dieser Kombination genauer. Dabei werden vier Verwendungsweisen diskutiert: ‚normale‘ Fragen, erstaunte Nachfragen, ambige Sätze und rhetorische Fragen. Zum anderen soll geklärt werden, ob das Ausrufezeichen auch in dieser Kombination die Funktion des Nachdrucks oder des Ausdrucks von Expressivität hat, die ihm oft zugeschrieben wird. Die Frage, ob bei ?! tatsächlich eine Normlücke in der amtlichen Regelung vorliegt, wird so beantwortet, dass ?! zwar nicht explizit geregelt wird, sein Gebrauch sich aber aus den Bestimmungen für ? und ! herleiten lässt, wenn man den Begriff des Nachdrucks auf geeignete Weise definiert. Annika Herrmann und Markus Steinbach gehen in ihrem Beitrag ‚Expressive Gesten – expressive Bedeutungen. Expressivität in gebärdensprachlichen Erzählungen‘ der Frage nach, wie Gesten und Äußerungen in Gebärdensprache zusammenwirken. Anhand von ausgewählten Beispielen von Role Shift in gebärdeten Erzählungen diskutieren die Autoren die komplexe Interaktion von Gesten und Gebärdensprache in DGS. Im Fokus steht dabei die Doppelfunktion von manuellen und nicht-manuellen Gesten. Einerseits können gestische Bedeutungskomponenten zum wahrheitsfunktionalen Gehalt beitragen, der durch die Äußerung vermittelt wird. Andererseits können gestische Bedeutungskomponenten auch gebrauchskonditionale Gehalte ausdrücken. Abschließend werden einige aktuelle Erklärungsansätze zu Role Shift, Körper-als-Subjekt, indirekter Rede, Demonstration und Gestik im Hinblick auf ihre Erklärungskraft für die vorgestellte modalitätsspezifische Interaktion von Gestik und Gebärde diskutiert. Den Abschluss des Bandes bildet ‚Tschüssikowski und Bis später, Attentäter. Zur Bedeutung von expressiven Verabschiedungen‘ von Rita Finkbeiner. Der Beitrag nähert sich dem Begriff der Expressivität aus sprechakttheoretischer Sicht, indem er der Frage nachgeht, in welchem Sinn Verabschiedungen expressive Sprechakte sind. Ausgehend von Kaplans Analyse von goodbye werden zunächst einige Probleme aufgezeigt, die sich aus einer semantischen Sicht ergeben. Die Autorin argumentiert, dass es sinnvoll ist, Verabschiedungen im Rahmen einer Sprechakttheorie als Routinehandlungen zu beschreiben, die primär einen sozialen Zweck in der Kommunikation erfüllen. Vor diesem Hintergrund analysiert sie eine Teilklasse von Verabschiedungen, die sich von der Normalform durch besondere ‚expressive‘ Effekte unterscheidet. Auf Basis einer Beispielklassifikation sowie Überlegungen zu ihrer kommunikativen Verwendung wird ein Vorschlag zu ihrer theoretischen Modellierung gemacht, der die
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besonderen expressiven Effekte solcher Verabschiedungen als Eigenschaft von Äußerungen begreift, nicht als Eigenschaft der Ausdrücke an sich. Die in diesem Band versammelten Beiträge machen die Vielzahl expressiver Phänomene im Deutschen exemplarisch deutlich und geben Aufschluss über Möglichkeiten, die unterschiedlichen Arten von Bedeutung auf der Schnittstelle von Syntax, Semantik und Pragmatik zu modellieren. Zugleich lassen sich aus den Beiträgen auch Impulse für eine Weiterentwicklung des theoretischen Begriffs der Expressivität ableiten, indem in der Zusammenschau der Phänomene und ihrer empirischen und theoretischen Aspekte ein genaueres Bild darüber entsteht, wo es Konvergenzen und Divergenzen zwischen unterschiedlichen Auffassungen von Expressivität gibt und wie diese für die weitere Forschung nutzbar gemacht werden können.
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| Teil I: Zum Anfang
Franz d’Avis
Expressivität und Lüge Expressive Bedeutungsbestandteile von Äußerungen als Grundlage einer Lügendefinition Abstract: In diesem Artikel wird die Frage diskutiert, ob einer Lüge nicht immer expressive Bedeutungsbestandteile einer Äußerung zugrunde liegen. Dazu werden zwei verschiedene Möglichkeiten betrachtet, expressive Bedeutung zu definieren, wobei der Unterschied darin liegt, ob auch Bedeutungsaspekte, die auf nicht-konventionelle Weise in die Gesamtbedeutung einer Äußerung in einem Kontext eingehen, zu expressiver Bedeutung zu rechnen sind. Im Weiteren ist die Überlegung, dass Lügen, wenn sie auf Assertionen beruhen, immer auch auf expressiver Bedeutung beruhen, sofern man Bedeutungsbestandteile, die auf Eigenschaften von Sprechakten zurückzuführen sind, als expressive Bedeutung klassifiziert. Vor dem Hintergrund, dass es sinnvoll ist, auch unaufrichtige konversationelle Implikaturen als Lügen anzusehen (Meibauer 2014), werden Lügen auf der Basis von Assertionen und Lügen auf der Basis von (anderer) expressiver Bedeutung auf denselben Mechanismus zurückgeführt, nämlich als Hinzufügung einer Proposition zum Gemeinsamen Gesprächshintergrund, die nicht Element des Glaubenshintergrunds des Verantwortlichen ist.
1 Einleitung In Sätzen wie (1) sind Ausdrücke enthalten, die man als expressive Ausdrücke oder als Ausdrücke mit einer expressiven Bedeutung bezeichnen kann. (1)
a. Dieser Drecksack Heinz hat schon wieder ein neues Auto. b. Heinz hat leider schon wieder ein neues Auto.
Ganz offensichtlich hat der Sprecher von (1a) keine gute Meinung von Heinz, das heißt, er drückt mit der Verwendung von Drecksack normalerweise aus, dass er eine negative Einstellung zu Heinz hat. Ebenso drückt der Sprecher in (1b) durch das Satzadverb leider sein Bedauern darüber aus, dass Heinz ein neues Auto hat. Was aber ist, wenn er diese negative Einstellung gar nicht hat? Wenn er Heinz eigentlich tatsächlich mag? Oder wenn es dem Sprecher egal ist, ob Heinz ein neues Auto hat, er es also nicht bedauert? Wie sind Äußerungen von (1a,b) dann https://doi.org/10.1515/9783110630190-002
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zu bewerten? Wenn wir uns fragen, unter welchen Bedingungen Äußerungen von (1a,b) Lügen sind, dann ist die erste Antwort wohl: Der Sprecher lügt, wenn es nicht der Fall ist, dass Heinz eine neues Auto hat. Handelt es sich aber auch um eine Lüge, wenn Heinz zwar ein neues Auto hat, der Sprecher die durch die Verwendung von Drecksack ausgedrückte negative Einstellung Heinz gegenüber aber gar nicht hegt oder, für (1b), es gar nicht bedauert, dass Heinz ein neues Auto hat? Kaplan (1999, 2004) hält eine solche Verwendung nicht für eine (richtige) Lüge. Er ist der Ansicht, dass eine korrekte Beschreibung der Bedeutung von expressiven Ausdrücken sicherstellen muss, dass man diese auch in unlauterer Weise benutzen kann, auch wenn man mit ihnen nicht lügen könne („...even if one cannot exactly lie with them“, 1999: 9, Hervorheb. i. Orig.) beziehungsweise auch wenn er sich nicht darauf festlegen möchte, dass eine unlautere Verwendung eine Lüge genannt werden könne („I don’t know if that’s exactly a lie – I’m not sure if we would quite use that term there, but there’s a kind of dissimulation of some form that’s taking place“, 2004: [26:14], in Bezug auf eine Verwendung von Ouch!, wenn der Sprecher gar keine Schmerzen hat). Auch Meibauer (2014) legt sich in Bezug auf die unlautere Verwendung von expressiven Ausdrücken nicht darauf fest, dass es sich dabei um eine Lüge handelt, auch wenn eine Tendenz dahingehend unverkennbar ist. Mit Verweis auf eine Überlegung in Dietz (2002: 74), bei der es um Sprecherwissen in Bezug auf Wahrnehmungen und Gefühle geht, fährt Meibauer (2014) fort: If this is on the right track, we have to conclude, that propositional expression is not a precondition for lying and that lying is also possible with the expression of false attitudes, whether they are propositionally or non-propositionally expressed. Alternatively, we would speak of deceiving instead of lying. (Meibauer 2014: 99, meine Hervorhebung, FD)
Ich möchte die Frage, ob man mit expressiven Ausdrücken lügen kann, etwas anders stellen und überlegen, ob einer Lüge nicht immer expressive Bedeutungsbestandteile einer Äußerung zugrunde liegen.
2 Zu expressiver Bedeutung Man kann verschiedene Arten unterscheiden, expressive Bedeutung zu definieren beziehungsweise die Ausdrücke oder Phänomene zu identifizieren, die expressive Bedeutung tragen oder dafür verantwortlich sind, dass expressive Bedeutungsbestandteile Teil der Gesamtbedeutung einer Äußerung in einem
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Kontext sind. In Bezug auf unser Hauptanliegen kann man fragen, ob diese unterschiedlichen Klassen von expressiver Bedeutung einer Lüge zugrunde liegen können. Ich möchte mich hier auf zwei bestimmte Arten von Definitionen konzentrieren, die verschiedene Kriterien zugrunde legen und damit den Phänomenbereich unterschiedlich festlegen. Die beiden Ansätze unterscheiden sich im Endeffekt dadurch, wie sie mit mitgemeinter Bedeutung im Rahmen einer Äußerung in einem bestimmten Kontext umgehen. Ich nenne sie hier EB1 (expressive Bedeutung 1) und EB2 (expressive Bedeutung 2).
2.1 Expressive Bedeutung 1 Grundlegend für beide Auffassungen sind verschiedene Kriterien, entlang derer die Gesamtbedeutung einer Äußerung aufgeteilt werden kann. Das erste Kriterium, das für beide Sichtweisen gilt, beruht auf dem Unterschied zwischen wahrheitsfunktionaler Bedeutung und nicht-wahrheitsfunktionaler Bedeutung. In einem Satz wie (2) sind Bedeutungsbestandteile verschiedener Art enthalten, die man entlang der Dimension wahrheitsfunktional versus nicht-wahrheitsfunktional unterscheiden kann. (2) Der blöde Heinz hat den ersten Preis gewonnen. Neben der Information, dass Heinz den ersten Preis gewonnen hat, erfahren wir bei einer Äußerung von (2) auch, dass der Sprecher eine negative Einstellung Heinz gegenüber hat, ausgedrückt durch das Adjektiv blöd, was wir als expressiven Gehalt der Äußerung ansehen können. Wenn man sich fragt, unter welchen Bedingungen der Satz in (2) wahr ist, dann scheint die Bedeutung von blöd nicht in die Formulierung dieser Bedingungen eingehen zu müssen: (2) ist wahr genau dann, wenn Heinz den ersten Preis gewonnen hat.1 Kaplan (1999, 2004) verdeutlicht das an dem Verhalten solcher Sätze im Rahmen von logischen Argumenten. (3) a. Der blöde Heinz hat den ersten Preis gewonnen. b. Der Heinz hat den ersten Preis gewonnen.
|| 1 Auf pragmatische Anreicherungen, für dieses Beispiel etwa die Antwort auf die Frage, welche Art von erstem Preis gemeint ist, gehe ich hier nicht ein.
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Aus (3a) folgt (3b). Das gilt aber nicht im umgekehrten Fall, das heißt, aus (4a) folgt nicht (4b). (4) a. Der Heinz hat den ersten Preis gewonnen. b. Der blöde Heinz hat den ersten Preis gewonnen. Ein solches Argument scheint auch nicht zu funktionieren, wenn man unsere Paraphrase der Bedeutung von blöd als Prämisse hinzunimmt, das heißt, aus (5a) und (5a') folgt nicht (5b). (5) a. Der Heinz hat den ersten Preis gewonnen. a'. Der Sprecher hat eine negative Einstellung in Bezug auf Heinz. b. Der blöde Heinz hat den ersten Preis gewonnen. Potts (2007: 168) verweist auf diesen Zusammenhang mit dem Begriff ‚Independence‘, der darauf abzielt, dass eine Veränderung oder Weglassung des expressiven Gehalts den wahrheitsfunktionalen Gehalt der Äußerung nicht ändert, was sich ergibt, wenn der expressive Gehalt nicht Teil der wahrheitsfunktionalen Bedeutung ist. Weiterhin kann man einer Äußerung von (6) nur in Bezug auf bestimmte Bedeutungsaspekte zustimmen oder sie ablehnen: Zustimmung oder Ablehnung beziehen sich in ihrer einfachen Form auf die wahrheitsfunktionale Bedeutung eines solchen Satzes und nicht auf Elemente wie blöd. (6) A: Der blöde Heinz hat den ersten Preis gewonnen. B: Stimmt./Stimmt nicht. Die Erwiderung von B bezieht sich auf den wahrheitsfunktionalen Gehalt der Äußerung von A: Der Heinz hat den ersten Preis gewonnen./Der Heinz hat den ersten Preis nicht gewonnen. Zustimmung oder Ablehnung in Bezug auf die Einstellung des Sprechers gegenüber Heinz ist so leicht nicht möglich. Dazu muss B sich expliziter Ausdrücke bedienen. (7) A: Der blöde Heinz hat den ersten Preis gewonnen. B: Du hast recht, der Heinz ist wirklich blöd./Naja, so blöd ist Heinz doch gar nicht. Es ist sogar möglich, den wahrheitsfunktionalen Gehalt auf die eine Art und die durch blöd ausgedrückte Bedeutung auf die andere Art zu bewerten, vgl. (8).
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(8) A: Der blöde Heinz hat den ersten Preis gewonnen. B: Stimmt. Heinz hat den ersten Preis gewonnen, aber blöd ist er eigentlich nicht. B':Stimmt nicht. Karl hat gewonnen, aber Heinz ist tatsächlich blöd. In indirekter Rede verhalten sich wahrheitsfunktionale Elemente und expressive Elemente ebenfalls unterschiedlich, vgl. (9). (9) Karl: Heinz, der Drecksack, hat seine Frau betrogen. Maria: Karl sagte, dass Heinz, der Drecksack, seine Frau betrogen habe/hat. Das zweite ist keine klare Redewiedergabe, da nicht eindeutig ist, dass Karl Heinz einen Drecksack genannt hat. Im Normalfall wird der pejorative Ausdruck auf den Sprecher bezogen, das heißt, Maria hält Heinz für einen Drecksack. Eine Interpretation, die die Einstellung gegenüber Heinz auf das Matrixsubjekt Karl bezieht, ist sicher möglich, aber nicht die präferierte. Potts (2007) führt hierfür das Kriterium der ‚perspective dependence‘ ein, das beschreibt, dass expressive Ausdrücke aus einer bestimmten Sichtweise bewertet werden. Eine Bewertung, die nicht vom Standpunkt des Sprechers ausgeht, ist markiert (Potts 2007: 168). Eine weitere Eigenschaft von expressiven Elementen, die Potts (2007: 167) identifiziert, ist, dass sie in einem gewissen Sinn direkt seien, sie erreichen ihren intendierten Effekt einfach dadurch, dass sie geäußert werden. Meibauer (2014: 96) bemerkt dazu kritisch, dass diese Eigenschaft mit allen Sprechakten in Beziehung zu setzen sei. Anstatt das als Argument gegen die Eigenschaft der Direktheit zu sehen, könnte es allerdings sein, dass Sprechakte oder ihre syntaktischen Entsprechungen (Satztypen oder Satzmodus) gerade weitere Phänomene sind, die man als expressiv im Sinne von EB1 ansehen kann (vgl. Lang 1983; Gutzmann 2015: 166ff.). Man kann zu Elementen mit expressiver Bedeutung tatsächlich nicht nur Wörter wie Drecksack, blöd oder ‚ethnic slur terms‘ wie boche, Kraut, Spaghetti oder nigger rechnen, sondern auch Appositionen, nicht-restriktive Relativsätze oder Satztypen, was etwa bei Exklamativen auch in einem traditionellen Sinne von expressiv einsichtig ist (vgl. Potts 2007; Gutzmann 2015). Die zweite Gruppe unterscheidet sich von der ersten dadurch, dass wir hier die expressive Bedeutung an einer bestimmten Art von syntaktischer Konstruktion, zum Teil auch in Verbindung mit anderen (formalen) Merkmalen festmachen müssen. Gemeinsam haben diese Phänomene, die unter den Ansatz EB1 fallen, dass ihre Bedeutung, die in die Gesamtbedeutung einer Äußerung eingeht, konventioneller Art ist. Die mit ihnen verbundenen Effekte müssen etwa von einem
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Sprachlerner als solche gelernt werden. Kaplan (1999, 2004) fasst die konventionalisierte Information, die die Ausdrücke einer Sprache tragen, als ‚semantische Information‘ zusammen (2004: 12:43). Dabei kann man unterscheiden zwischen wahrheitsfunktionalen Ausdrücken und expressiven Ausdrücken, bei denen man nicht danach fragt, was diese Ausdrücke bedeuten, sondern unter welchen Bedingungen sie korrekt benutzt werden (vgl. Kaplan 1999: 5). Die Frage bei einem Ausdruck wie boah lautet also nicht, was boah bedeutet, sondern unter welchen Bedingungen boah angemessen verwendet wird. Der Punkt dabei ist nicht, dass man nicht etwa einigermaßen angeben kann, was mit einer Äußerung von boah gemeint ist, sondern dass es sich dabei nicht um eine Äußerung handelt, die im Sinne von wahr oder falsch beurteilt werden kann. Wenn wir annehmen, dass boah etwa ausdrückt, dass der Sprecher über etwas erstaunt ist, dann ist eine Äußerung von boah dennoch etwas anderes als die Behauptung, dass ich über etwas erstaunt bin. Zum Beispiel kann man (10a) nicht widersprechen oder es in Zweifel ziehen. (10) a. Boah. b. #Das stimmt nicht./#Bist du dir sicher? Dasselbe haben wir oben in (1) und (2) beobachtet. Die semantische Information, die mit blöd oder Drecksack einhergeht, ist nicht Teil der wahrheitsfunktionalen Bedeutung. Kaplan (1999, 2004) spricht hier von Gebrauchsbedingungen im Gegensatz zu Wahrheitsbedingungen. Das Bewertungskriterium ist also nicht wahr oder falsch, sondern +/– richtiger Gebrauch. Der relevante Punkt ist aber, dass diese Gebrauchsbedingungen als Teil der Eigenschaften eines solchen Ausdrucks konventionell sind, sie sind mit dem Ausdruck verbunden und ändern sich zum Beispiel nicht mit wechselnden Kontexten. (11) hat also zwei Arten von Bedeutungen, propositionale/wahrheitsfunktionale Bedeutung und expressive/(direkt) ausgedrückte Bedeutung: (11) Der blöde Heinz hat den ersten Preis gewonnen. (i) propositionale Bedeutung: dass Heinz den ersten Preis gewonnen hat (ii) expressive Bedeutung: Der Sprecher hat eine negative Einstellung gegenüber Heinz.
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Für expressive Bedeutung 1 können wir hier also als Kriterien festhalten: (12) EB1: Expressive Bedeutung 1 von einfachen oder komplexen Ausdrücken ist: a. nicht-propositional (sie definiert sich über Gebrauchsbedingungen) und b. konventionell.
2.2 Expressive Bedeutung 2 Während EB1 den Umfang des Begriffs ‚expressiver Ausdruck‘ auf konventionelle Bedeutungen beschränkt, also Bedeutungen, die im sprachlichen System mit Wörtern oder bestimmten Konstruktionen verbunden sind, umfasst EB2 auch Bedeutungsaspekte, die in einem bestimmten Kontext mit einer Äußerung verbunden sind. Das, was mit konversationellen Implikaturen im Sinne von Grice (1989) in die Gesamtbedeutung einer Äußerung eingeht, kann damit hier auch unter den Begriff der expressiven Bedeutung fallen. Die Idee ist dabei folgende: Wenn wir den Überlegungen in Lang (1983) folgen, was ich im Folgenden tun werde, dann kann man den Unterschied zwischen den sprachwissenschaftlichen Konzepten SAY und EXPRESS mit Hilfe von Überlegungen zur Bedeutung und Argumentstruktur des Verbs ausdrücken explizieren. Der erste Schritt betrifft die Unterscheidung zwischen propositionaler Bedeutung und nicht-propositionaler Bedeutung, die auch im Rahmen von EB1 relevant ist. Man kann sagen, dass ein Satz die von ihm repräsentierte Proposition ausdrückt. In dieser Lesart kann man ausdrücken durch bedeuten explizieren (vgl. Lang 1983: 310). Für die Beschreibung von expressiven Ausdrücken in unserem Sinn ist diese Lesart von ausdrücken nur insofern relevant, als dass Fälle, die von ihr betroffen sind, ausgeschlossen werden, da es sich um propositionale Bedeutung handelt. Ein Satz wie (13a) drückt die Proposition (13b) aus, wobei (13b) eine Umschreibung der Proposition ist, die im Rahmen einer semantischen Theorie genauer angegeben werden muss. (13) a. Heinz ist satt. b. dass Heinz satt ist Diese Beziehung besteht zwischen Sätzen und Propositionen. Hier kann man argumentieren, dass die ausgedrückte Proposition genau das ausdrückt, was mit einem Satz gesagt wird. Ausdrücken in diesem Sinne fasst Lang (1983) dann folgerichtig unter das Konzept SAY. „SAY ist die Lesart von ausdrücken, die die Relation zwischen Satz und Proposition betrifft“ (Lang 1983: 312). Das entspricht,
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auch in Bezug auf die folgende Konzeption von ausdrücken als EXPRESS, der Unterscheidung von Grice (1989) in Gesagtes und Gemeintes. Der Grundgedanke ist, dass bei der Interpretation der Äußerung eines Satzes nicht nur die Proposition eine Rolle spielt, sondern auch andere Bedeutungsaspekte, die Lang (1983) mit ‚Einstellungen‘ benennt. Als sprachliche Indikatoren solcher Einstellungen werden bestimmte formale Eigenschaften von Sätzen genannt, die etwa Interrogativ-, Deklarativ- und Imperativsätze voneinander unterscheiden, aber auch Satzadverbiale und Modalpartikeln (vgl. Lang 1983: 313). So haben wir in den folgenden Sätzen zwar immer dieselbe Proposition (‚dass Heinz schon satt ist‘), aber die mit Äußerungen dieser Sätze verbundenen Einstellungen sind aufgrund der beteiligten Mittel unterschiedlich. (14) a. Heinz ist schon satt. b. Ist Heinz schon satt? c. Heinz ist leider/bedauerlicherweise schon satt. In (14a) wird durch die Form des Deklarativsatzes durch den Sprecher eine Einstellung des Für-wahr-Haltens ausgedrückt, in (14b) eine Fragehaltung (in etwa: wissen wollen, ob p wahr ist) und in (14c) eine Bewertungseinstellung, vgl. entsprechende Beispiele in Lang (1983: 314). Diese Einstellungen sind, wie die Formulierungen schon vermuten lassen, gebunden an einen Sprecher. „Die in den Sätzen sprachlich indizierten Einstellungen werden durch Sprecher im Vollzug von Äußerungen (Äußerungsvorkommen) der betreffenden Sätze ausgedrückt“ (Lang 1983: 314). Diese Einsicht wird dann in Potts (2007: 169) in der Eigenschaft der ‚nondisplaceability‘ für expressive Ausdrücke formuliert: „They always tell us something about the utterance situation itself.“ Diese Bedeutungsbestandteile sind nicht Teil der Proposition und fallen damit nicht in den Bereich von SAY, sind also nicht Gesagtes, sondern fallen in den Bereich von EXPRESS als Ausgedrücktes. Wenn wir das bis jetzt Dargelegte in Zusammenhang bringen mit der Konzeption für EB1, dann sieht es aus, als würden dieselben Phänomene abgedeckt, nämlich nicht-propositionale Bedeutung, die konventionell ist. Letzteres trifft natürlich auch auf die hier genannten Elemente zu: Sowohl die (semantischen) Auswirkungen von Satzadverbien und Modalpartikeln als auch die vom Sprecher durch bestimmte formale Eigenschaften von Sätzen ausgedrückten Einstellungen müssen als mit diesen sprachlichen Elementen konventionell verbundene Bedeutungsaspekte angesehen werden. Sie verändern ihre Bedeutung in unterschiedlichen Kontexten nicht und müssen also vom Sprecher als Bedeutungszuordnungen gelernt werden. In diesem Sinn fallen dann natürlich auch die in 2.1.
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erwähnten Ausdrücke wie blöd, Drecksack und boah in die Klasse von Ausdrücken mit expressiver Bedeutung im Sinne von EB2. Ein methodologisch interessanter Punkt in den Überlegungen von Lang (1983) zur Unterscheidung von SAY und EXPRESS ist die systematische Einbeziehung von Redewiedergabe als heuristisches Mittel, um Gesagtes von Ausgedrücktem zu unterscheiden. Bei Redewiedergaben handelt es sich um Äußerungen, mit denen sich ein Sprecher auf eine andere Äußerung in einem bestimmten Kontext, die Originaläußerung, bezieht (Lang 1983: 317). Redewiedergaben mit sagen und ausdrücken tun das dabei auf unterschiedliche Weise. Der Grundgedanke ist, dass bei einer Redewiedergabe mit sagen, dass p p sich auf die Proposition der Originaläußerung bezieht, während in einer Redewiedergabe mit ausdrücken, dass q q sich auf nicht-propositionale Bedeutungsbestandteile der Originaläußerung bezieht, die in der Redewiedergabeäußerung selbst Bestandteil der Proposition sind; sie werden propositionalisiert (Lang 1983: 319f.). Ersteres ist nicht ganz unproblematisch, da man annehmen muss, dass durch die Verwendung von sagen in der Redewiedergabe auch bestimmte nichtpropositionale Teile wiedergegeben werden, nämlich die Urteilseinstellung des Sprechers, die mit der Verwendung eines Deklarativsatzes verbunden sei (vgl. Lang 1983: 324). Dabei muss man sich allerdings Gedanken über die Wiedergabe von Imperativsätzen machen. (15) a. A: Geh nach Hause, Heinz! b. B: A hat gesagt, dass Heinz nach Hause gehen soll. (15b) ist sicher eine angemessene Redewiedergabe in Bezug auf (15a). Nicht ganz klar scheint mir, ob es sich in der Originaläußerung tatsächlich um eine Urteilseinstellung von A handelt. Bei der Analyse von Redewiedergabe unterscheidet Lang (1983: 318) folgende Punkte: (i) Formen der Wiedergabe, (ii) wiedergegebene Aspekte, (iii) Dimensionen der Wiedergabequalität. Unter (i) fällt die Unterscheidung zwischen direkter Rede (wörtliches Zitat), indirekter Rede (propositionales Zitat) und freier, indirekter Wiedergabe (etwa durch uneingeleitete Sätze im Konjunktiv). Unter (ii), wo es auch Mischformen geben kann, fällt die Spezifizierung dessen, worauf sich die Wiedergabeäußerung in Bezug auf die Originaläußerung ge-
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nau bezieht: den propositionalen Gehalt, den Einstellungsrahmen und/oder einen bestimmten kommunikativen Sinn der Originaläußerung, der in Bezug auf den Kontext bestimmt werden muss. Für (iii) unterscheidet Lang zwischen ‚Fairness‘ und ‚Transparenz‘. Dabei ist eine Wiedergabe ‚fair‘, wenn sie den propositionalen Inhalt und den Einstellungsrahmen der Originaläußerung zu rekonstruieren gestattet und die Bezugnahme auf den kommunikativen Sinn so formuliert, daß in der Wiedergabe die Intention des Originalsprechers von der Interpretation oder Bewertung derselben durch den Reporter (den Sprecher der Wiedergabeäußerung) unterscheidbar ist. (Lang 1983: 318)
‚Transparent‘ ist eine Wiedergabeäußerung, wenn man die sprachliche Struktur der Originaläußerung rekonstruieren kann. Wenn wir den Redewiedergabetest als Grundlage zur Bestimmung der Elemente machen, die eine expressive Bedeutung tragen, ist vor allem der Punkt der ‚wiedergegebenen Aspekte‘ relevant. Hier sind offensichtlich auch konversationelle Implikaturen miteinzubeziehen. Wenn wir über die Propositionalisierung von konversationellen Implikaturen reden, dann leistet uns der Aspekt der Fairness gute Dienste. Redewiedergaben mit sagen und ausdrücken verhalten sich nun unterschiedlich in Bezug auf die Möglichkeit, in bestimmten Formen der Redewiedergabe aufzutreten beziehungsweise bestimmte Aspekte der Originaläußerung wiederzugeben. Gehen wir von der Originaläußerung in (16) aus. (16) A: Heinz ist satt. Eine Wiedergabe in direkter Rede ist nur mit sagen möglich, nicht mit ausdrücken. (17) B: A sagte: „Heinz ist satt.“ B: *A drückte aus: „Heinz ist satt.“ Das gilt auch für Wiedergaben wie (18), vgl. Lang (1983: 319). (18) a. Heinz sagte wörtlich, dass er satt ist. b. *Heinz drückte wörtlich aus, dass er satt ist.
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Diese Eigenschaft lässt sich dahingehend generalisieren, dass an der Objektstelle von ausdrücken in indirekter Rede gar kein ‚linguistisches‘ Element wie Satz oder Wort stehen kann, Lang (1983: 319). Generell müssen bei einer Redewiedergabe mit sagen in der Proposition des dass-Satzes alle Elemente weggelassen werden, die in der Originaläußerung als nicht-propositionale Bedeutungsbestandteile vorliegen (Lang 1983: 320). Das können wir mit einer Auswahl von expressiven Elementen überprüfen. (19) A: Heinz ist leider schon satt. B: A sagte, dass Heinz leider schon satt ist. (20) A: Der Drecksack Heinz hat schon wieder ein neues Auto. B: A sagte, dass der Drecksack Heinz schon wieder ein neues Auto hat. (21) A: Dass es schon wieder regnet! B: A sagte, dass es schon wieder regnet. (22) A: Boah! B: *Heinz sagte, dass boah. Die B-Sätze sind in keinem dieser Fälle faire Redewiedergaben der Äußerungen von A. In (19) bezieht sich die Einstellung des Bedauerns präferiert auf B. Allerdings ist auch ein Bezug zu A möglich. In (20) drückt B eine negative Einstellung gegenüber Heinz aus, die für A nicht gelten muss. In (21) vollzieht A eine Exklamation bezüglich des Sachverhalts, dass es regnet. Dass es sich um eine Exklamation handelt, dass der Sprecher also ausdrückt, dass er den bestehenden Sachverhalt (‚dass es schon wieder regnet‘) nicht erwartet hat, drückt A auf nichtpropositionale Weise aus (vgl. d’Avis 2013, 2016). Die Wiedergabe von Heinz berichtet offensichtlich nur über den zugrundeliegenden Sachverhalt, nicht aber über die Einstellung von A zu diesem Sachverhalt. Damit ist diese Redewiedergabe auch nicht fair. Eine Äußerung wie (22), bei der A ausdrückt, dass er einen im Kontext zu spezifizierenden Sachverhalt unerwartet oder erstaunlich findet, lässt sich als indirekte Rede mit dem Matrixverb sagen überhaupt nicht wiedergeben. Direkte Rede (Heinz sagte: „Boah!“) ist möglich. Wenn die getesteten Bedeutungsbestandteile konventionell sind, wovon ich ausgehe, dann liefert uns EB2 mit dem Redewiedergabetest bis hierher dieselben Ergebnisse wie EB1.
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Auch Bedeutungsbestandteile, die als konversationelle Implikaturen klassifizierbar sind, werden durch den Redewiedergabetest als propositionale Bedeutung der Originaläußerung ausgeschlossen, was an dieser Stelle erwartbar ist. Stellen wir uns vor, Heinz ist zum Essen eingeladen und wird vom Gastgeber gefragt, ob er noch etwas von dem vorzüglichen Lammbraten möchte. In dieser Situation kann er ohne Problem (23) entgegnen und damit dem Gastgeber zu verstehen geben, dass er nichts mehr möchte. (23) Heinz: Ich bin satt. Eine Redewiedergabe wie (24) ist transparent und fair, sie erlaubt es also die sprachliche Struktur der Originaläußerung zu rekonstruieren sowie den propositionalen Gehalt und, durch das gewählte Matrixverb, die Einstellung des Originalsprechers zu dieser Proposition. (24) Heinz sagte, dass er satt ist. Das, was wir als konversationelle Implikatur in dieser Situation mitverstehen, also das, was Lang (1983) nach Bierwisch (1980) den kommunikativen Sinn der Äußerung nennt, lässt sich allerdings in dieser Form nicht wiedergeben. (25) Heinz sagte, dass er nichts mehr von dem Lammbraten möchte. (25) ist als Redewiedergabe weder fair noch transparent. (25) versteht man so, dass die Proposition der Originaläußerung gerade ‚dass Heinz nichts mehr von dem Lammbraten möchte‘ sei, was (23) nicht entspricht. Der Redewiedergabetest identifiziert bei einer Einbettung unter sagen also den propositionalen Gehalt einer Originaläußerung. Konventionelle expressive Ausdrücke, die auch unter EB1 fallen, sind unter sagen ausgeschlossen, aber auch konversationelle Implikaturen, über die EB1 nichts sagt. Auf der anderen Seite erhalten wir durch den Redewiedergabetest mit dem Matrixverb ausdrücken eine andere Klasse von Bedeutungsaspekten. Diese beinhaltet sowohl konventionelle expressive Bedeutungsbestandteile als auch nichtkonventionelle, also etwa konversationelle Implikaturen. Betrachten wir die folgenden Beispiele. (26) A: Heinz ist leider schon satt. B: A drückte aus, dass er es bedauert, dass Heinz schon satt ist.
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(27) A: Der Drecksack Heinz hat schon wieder ein neues Auto. B: A drückte aus, dass er eine negative Einstellung gegenüber Heinz hat. (28) A: Dass es schon wieder regnet! B: A drückte aus, dass er es nicht erwartet hat, dass es schon wieder regnet. (29) A: Boah! B: Heinz drückte aus, dass er etwas überraschend findet. In diesen Beispielen sind wir durch die Wahl des Matrixverbs ausdrücken darauf festgelegt, nicht-propositionale Bedeutungsaspekte wiederzugeben. Hier sind es Fälle von Einstellungen der Sprecher, die konventionell mit bestimmten Wörtern oder formalen Eigenschaften der zugrunde liegenden Sätze verbunden sein können.2 Die Redewiedergabe mit Hilfe von ausdrücken identifiziert also erst einmal dieselbe Klasse von expressiver Bedeutung wie EB1. Darüber hinaus fallen aber auch Bedeutungen, die aus rekonstruierbaren Schlüssen in Bezug auf Eigenschaften des Kontexts ableitbar sind, unter expressive Bedeutung, vgl. (30), wobei wir denselben Kontext wie oben bei (23) nehmen. (30) Heinz: Ich bin satt. Eine Redewiedergabe von (30) wie (31) bezieht sich auf den kommunikativen Sinn der Äußerung im angegebenen Kontext, was wir als konversationelle Implikatur analysieren können. (31) Heinz drückte (mit ‚Ich bin satt‘) aus, dass er nichts mehr von dem Lammbraten möchte. Eine Bestimmung der Klasse der expressiven Bedeutungsaspekte auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen sagen und ausdrücken in der Redewiedergabe gibt uns eine andere Klasse als EB1. Eine Definition von EB2 kann dann lauten:
|| 2 Das heißt, man kann den Zusammenhang so interpretieren. Das betrifft vor allem die Beziehung zwischen formalen Eigenschaften des der exklamativen Äußerung zugrunde liegenden Satzes und der Einstellung des Nicht-erwartet-Habens in Bezug auf die Proposition.
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(32) EB2: Die Expressive Bedeutung 2 von Äußerungen in einem Kontext ist: a. nicht-propositional und b. konventionell oder als Sprecherintention in einem bestimmten Kontext systematisch ableitbar. Die unterschiedlichen Klassifikationen machen natürlich unterschiedliche Voraussagen in Bezug auf das, was unter den Begriff expressive Bedeutung fällt. Für eine Anrede wie Herr X oder Frau X gibt es bestimmte Gebrauchsbedingungen. Auf der einen Seite sollte wohl das erkennbare biologische Geschlecht mit der gewählten Anrede übereinstimmen, auf der anderen Seite wird mit einer solchen Anrede ein gewisser Grad an Respekt ausgedrückt. Das ist ein Teil der konventionellen Bedeutung von Herr X und Frau X. Betrachten wir nun einen Kontext, in dem Frau Maria Schmidt als Expertin in eine Gesprächsrunde eingeladen ist. Der Gesprächsleiter weiß, dass sie zu einem diskussionsrelevanten Thema ihre Doktorarbeit geschrieben hat, und es lässt sich erwarten, dass sie sich in diesem Bereich besonders gut auskennt. Wie beurteilen wir eine Situation, in der der Diskussionsleiter diese Expertin nun mit folgenden Worten in (33) vorstellt? (33) Als Expertin begrüßen wir in unserer Runde Frau Maria Schmidt. Der Gebrauch von Frau ist angemessen und er zeigt eine gewisse Art von Respekt seitens des Gesprächsleiters. Im Sinne von EB1 können wir über das, was mit der Äußerung dieses Wortes ausgedrückt wird, wohl nicht viel mehr sagen. Im Sinne von EB2 könnten wir dem Diskussionsleiter allerdings den Ausdruck einer Art von respektlosem Verhalten unterstellen. In dieser Situation wäre die Vorstellung als Frau Dr. Maria Schmidt wesentlich angemessener. Und die Auswahl der weniger respektvollen Benennung – gerade wenn es sich um eine bewusste Wahl handelt – ist geradezu respektlos, auch wenn der gewählte Ausdruck an sich nicht respektlos ist. Ein Ausdruck kann also konventionell Respekt ausdrücken und in einer bestimmten Situation zusätzlich Missachtung. Der erste Teil wird von EB1 abgedeckt, der zweite nicht. EB2 beinhaltet auch Bedeutungsbestandteile einer Äußerung, die wir als konversationelle Implikaturen deuten können. Die beiden Vorgehensweisen unterscheiden sich dadurch, dass EB1 konventionell ist als semantische Information, die gebunden ist an Wörter und Phrasen (vgl. Kaplan 1999), während EB2 auch andere Bedeutungsbestandteile einer Äußerung umfasst, die über die Explikation dessen, was ein Sprecher in einem Kontext ‚ausdrückt‘, klassifiziert werden (vgl. Lang 1983).
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Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass EB1 definitorisch vorgeht, indem bestimmte Bedeutungsaspekte einer Äußerung auf der Grundlage der Eigenschaft +/–konventionell ausgeschlossen werden. Das hat sicher seine Berechtigung (es spielen auch Abgrenzungsdiskussionen in Bezug auf die Semantik/ Pragmatik-Schnittstelle eine Rolle), doch bleibt die Frage offen, wie man den Zusammenhang zu den durch EB2 identifizierten Elementen anders als über die negative Eigenschaft der Nicht-Propositionalität erklären will. Bei der weiteren Diskussion der Hauptfrage werde ich auch Bedeutungsbestandteile, die nur unter EB2 fallen, im Blick behalten.
3 Zur Lüge Es ist sicher schon intuitiv nicht leicht zu entscheiden, was eine Lüge ist, und es gibt in der Literatur eine große Anzahl von Versuchen einer Definition, siehe dazu Falkenberg (1982), Meibauer (2014). Ich werde dazu hier nichts sagen, sondern möchte im Rahmen unserer Ausgangsfrage auf den Zusammenhang zwischen Assertion und Lüge eingehen, wie er in der ersten Definition für Lüge von Meibauer (2014: 103) explizit aufscheint. (34) Lying S lied at t, if and only if (a) S asserted at t that p, (b) S actively believed at t that not p. (Meibauer 2014: 103)
Hier liegt Assertion einer Lüge zu Grunde. Assertionen gehören nicht zu den expressiven Sprechakten im Sinne von Searle, doch ist deutlich, dass bei einem assertiven Sprechakt bestimmte Aspekte der Gesamtbedeutung der Äußerung beinhaltet sind, die nicht-propositional sind. Wenn wir die Definition von Assertion in Meibauer (2014) betrachten, dann gilt zumindest für (35c), dass es sich dabei im Sinn unseres Wiedergabetests um einen nicht-propositionalen Bedeutungsaspekt einer assertiven Äußerung handelt.
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(35) Assertion S asserted at t that p, if and only if (a) S uttered at t the declarative sentence σ meaning p, (b) by uttering the declarative sentence σ, S presented p as true, (c) by uttering the declarative sentence σ, S M-intended that an addressee H to whom S uttered p actively believes that p. (Meibauer 2014: 102)
Man kann den Effekt von (35c) so beschreiben, dass ein Sprecher mit einer assertiven Äußerung (auch) ausdrückt, dass er möchte, dass der Adressat die Bedeutung (Proposition) des geäußerten Deklarativsatzes glaubt. Der durch (35c) erfasste Bedeutungsaspekt einer assertiven Äußerung ist somit nicht-propositional und fällt in den Rahmen von expressiver Bedeutung, den EB2 umfasst. Insoweit, als Glückensbedingungen von Sprechakten konventionell sind, fällt dieser Bedeutungsaspekt auch in den Bereich, der von EB1 abgedeckt wird. Wenn man diesen Gedanken generalisiert, ergibt sich, dass Glückensbedingungen für Illokutionen Teil der expressiven Bedeutung von Äußerungen sind. Der entscheidende Punkt für die Ausgangsüberlegung ist nun: Wenn Lüge auf Assertion beruht und Assertion definiert ist über Bedingungen, die Teil der expressiven Bedeutung einer Äußerung sind, beruht Lüge dann nicht immer (auch) auf expressiven Bedeutungsaspekten? Das hängt natürlich damit zusammen, dass Propositionen in der sprachlichen Kommunikation nicht allein vorkommen, sie sind entweder Teil einer größeren Proposition oder in gewissem Sinn eingebettet in sprachliche Handlungen. Somit scheint unsere Ausgangsfrage mit „ja“ beantwortet werden zu können.3 Ich möchte nun an einer kleinen Überlegung zeigen, wie man mit einer etwas anderen Definition von Assertion und gewissen Vorstellungen über den Einfluss von unterschiedlichen Bedeutungsaspekten auf den Gemeinsamen Gesprächshintergrund den Zusammenhang zwischen Lügen auf der Basis von Assertion und Lügen auf der Basis von (anderen) expressiven Ausdrücken verdeutlichen kann. MacFarlane (2011) gliedert die Ansätze zur Beschreibung von Assertion in vier Klassen mit folgender Beschreibung:
|| 3 Wenn man die Definition von Lang (1983: 334) anschaut, kommt man ebenfalls zu diesem Schluss: „[..., kürzer noch:] Lügen ist unaufrichtiges Ausdrücken einer Urteilseinstellung.“ Hier wird ebenfalls klar, dass Lügen die Manipulation von expressiven Elementen betrifft und nicht die assertierte Proposition selbst.
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(i) To assert is to express an attitude. (ii) To assert is to make a move defined by its constitutive rules. (iii) To assert is to propose to add information to the conversational ground. (iv) To assert is to undertake a commitment. (MacFarlane 2011: 80)
Ich möchte mich hier auf den dritten Ansatz beschränken, der auf Robert Stalnaker zurückgeht (vgl. z.B. Stalnaker 1999 [1978], 2002). Die Grundidee ist, dass bei einer Assertion der Sprecher eines Deklarativsatzes ausdrückt, dass die Proposition des Deklarativsatzes dem Gemeinsamen Gesprächshintergrund (GGH) hinzugefügt werden soll. Der GGH kann jetzt allerdings nicht so definiert sein, dass er nur Propositionen enthält, die die Gesprächsteilnehmer tatsächlich für wahr halten (auch wenn das bei einem ‚normalen‘ Gespräch der Fall sein dürfte). Wenn der GGH so definiert wäre, dann bekommen wir ein Problem, wenn Lüge auf der Basis von Assertion definiert wird. Beinhaltet Lügen, dass der Lügner die assertierte Proposition für falsch hält und sie dem GGH hinzufügen möchte, dann erhielten wir einen Widerspruch, da der GGH mindestens eine Proposition enthalten würde, die einer der Gesprächsteilnehmer (der Lügner) sowohl für wahr als auch für falsch halten müsste.4 Eine andere Möglichkeit ist folgende: Erstens, der GGH enthält die Propositionen, die für den Zweck des Gesprächs von den Gesprächsteilnehmern für wahr angesehen werden, siehe MacFarlane (2011: 88), der sich hier auf Stalnaker bezieht. Zweitens, man betrachtet auch das Verhältnis des GGH zu den Glaubenshintergründen von Sprecher (GHS) und Hörer (GHH), die die Propositionen enthalten, die von Sprecher respektive Hörer generell für wahr gehalten werden. Für ein ‚normales‘ Gespräch kann man davon ausgehen, dass GGH GHS und GGH GHH, das heißt sowohl Sprecher als auch Hörer halten die Propositionen im GGH auch generell für wahr. Eine Lüge von S ist nun erst einmal nichts anderes als eine Assertion. Der Sprecher möchte, dass eine Proposition p dem GGH hinzugefügt wird; die Proposition soll im Rahmen des Gesprächs für wahr angesehen werden. Was sich ändert, ist nun das Verhältnis von GGH und GHS: Der GGH ist nicht mehr Teilmenge des Glaubensinhalts von GHS. Hieraus ergibt sich nun in der Tat kein Widerspruch. Für das aktuelle Gespräch hält der Lügner die Propositionen im GGH für
|| 4 Meibauer (2014: 102) umgeht dieses Problem bei seiner Definition von Assertion, indem er fordert, dass der Sprecher die Proposition als wahr ‚präsentiert‘. Wie auch immer man ‚als wahr präsentieren‘ expliziert, muss eine Definition beinhalten, dass der Sprecher die Proposition nicht für wahr halten muss.
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wahr im selben Sinn, wie es beide Gesprächsteilnehmer machen müssten, wenn sie eine bestimmte Annahme machen würden, von der keiner der beiden weiß, ob sie wahr ist, oder die sie beide für falsch halten. Das ist der Effekt von Stalnakers Einschränkung ‚für den Zweck des Gesprächs‘. Der Täuschungseffekt ergibt sich nun daraus, dass der Lügner in gewissem Sinn die Grundannahmen des Gesprächs ändert: Es handelt sich nicht mehr um ein ‚normales‘ Gespräch, sondern um ein ‚Lügengespräch‘. Die psychologische Schwierigkeit für den Lügner besteht natürlich darin, immer unter Kontrolle haben zu müssen, dass der Hörer (der Belogene) eine andere Vorstellung über das Verhältnis zwischen GGH und Glaubenshintergrund des Lügners (nämlich: GGH GHS) hat als der Lügner selbst (GGH / GHS). Eine Lüge liegt also dann vor, wenn ein Sprecher S eine Proposition p assertiert und dabei gilt, dass der Hörer der Meinung ist, es handele sich um ein normales Gespräch mit GGH {p} GHS und GGH {p} GHH, während aus der Sicht des Sprechers gilt: GGH {p} / GHS und GGH {p} GHH. Der Sinn einer solchen Sichtweise kann durch folgende Überlegung deutlicher werden. Lügen scheint intuitiv immer etwas mit sagen zu tun zu haben und damit, wenn wir der Einschätzung von Lang (1983) folgen, mit dem Ausdruck einer Urteilseinstellung in Bezug auf eine Proposition. Verdeutlicht wird das in Beispielen wie (36) (denken wir an den Essenskontext oben). (36) a. Er log, als er sagte, dass er satt ist. b. ??Er log, als er ausdrückte, dass er nicht mehr haben möchte. Wenn man diese Daten zur Grundlage einer Definition der Lüge macht, dann hängt Lügen aufgrund der Eigenschaften von sagen immer mit Assertion zusammen. Genauer gesagt, könnte man dann nur in Bezug auf eine Proposition lügen, die die Bedeutung eines Deklarativsatzes ist, der im Vollzug einer Assertion geäußert wird. Dabei sagt man aber mehr über die Bedeutung des Verbs lügen als über ein theoretisches Konzept der LÜGE. Man kann sich fragen, ob eine Definition von LÜGE als theoretischem Begriff mit den Beurteilungen von Sätzen wie (36b) konform gehen muss oder ob man dafür andere Kriterien zugrunde legen kann. Meibauer (2014: 125) bezieht konversationelle Implikaturen explizit in seine Definition von Lüge mit ein, das heißt, eine Lüge kann auch dann vorliegen, wenn ein Sprecher eine Proposition q konversationell implikatiert, die er für falsch hält.
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(37) Lie – extended Definition (IMPL) S lied at t by uttering the declarative sentence σ if and only if (a) the definition of the lie holds [= (34) oben] (b) or S thereby conversationally implicated that q, but actively believed that not q. (Meibauer 2014: 125)
Eine generellere Definition könnte den Effekt auf den gemeinsamen GGH wie oben definiert als Grundlage nehmen: die Menge der Propositionen, die für ein Gespräch als wahr zugrunde gelegt werden. Diese Definition sagt nichts darüber aus, ob die Gesprächsteilnehmer die Proposition für wahr halten. Allerdings muss sich auch der Lügner im Rahmen des relevanten Gesprächs so verhalten, als hielte er die Proposition der Lüge für wahr. Deswegen die Einschränkung auf das Für-wahr-Halten innerhalb eines Gesprächs. Wir können jetzt allerdings auch davon ausgehen, dass Propositionen auch auf andere Arten als durch Assertionen in den GGH aufgenommen werden können. Konversationelle Implikaturen sind eine Möglichkeit, aber auch durch andere expressive Ausdrücke ausgedrückte Bedeutung kann propositionalisiert Teil des GGH sein. Wenn A (38a) äußert, ist eine Nachfrage von B wie (38b) völlig normal. Sie setzt aber voraus, dass die Einstellung von A zu Heinz tatsächlich etwa als die Proposition ‚dass A eine negative Einstellung zu Heinz hat‘ Teil des GGH ist. (38) a. A: Dieser Drecksack Heinz hat schon wieder ein neues Auto. b. B: Was hast Du denn gegen Heinz? Genauso können nicht-zurückgewiesene konversationelle Implikaturen Teil des GGH sein, vgl. (39). In einem Essenskontext wie oben ist eine Nachfrage, die die Implikatur ‚dass Heinz nichts mehr von dem Braten möchte‘ als Teil des GGH voraussetzt, durchaus möglich. (39) a. Heinz: Ich bin satt. b. Gastgeber: Warum möchtest Du denn nichts mehr? Du isst doch auch sonst weiter, wenn du satt bist.
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Wenn wir LÜGE auf der Basis dessen definieren, was im GGH vorhanden ist, dann kann man mit sprachlichen Ausdrücken, die als expressiv im Sinne von EB1 oder EB2 klassifiziert werden, ebenfalls lügen.5 (40) Eine LÜGE liegt immer dann vor, wenn ein Sprecher intentional eine Proposition p im GGH unterbringt, die nicht Teil seines eigenen Glaubenshintergrunds ist. Diese Definition lässt den Adressaten außer Acht. Das heißt, es ist egal, ob der Adressat eine solche Proposition p dann selber für wahr hält oder ob er sie für den GGH zulässt, obwohl er p für falsch hält. Dadurch wird auch das zugelassen, was man Lüge zweiter Stufe nennen kann. Nehmen wir an, A äußert einen Deklarativsatz mit der Proposition p, die er für falsch hält. Der Adressat weist p nicht zurück, das heißt, p wird in den GGH aufgenommen. Der Normalfall der Lüge ist nun, dass A glaubt, dass B p für wahr hält. Wenn aber B p für falsch hält und durch seine Passivität die Aufnahme von p in den GGH zulässt, obwohl er es eigentlich hätte verhindern können, dann hat er vielleicht in dem Sinn gelogen, als er zulässt, dass A glaubt, dass B p für wahr hält. Das kann auch passieren, wenn A im ersten Schritt gar nicht gelogen hat, sondern sich vielleicht nur irrt. Diese Lüge zweiter Stufe wäre eine Lüge durch Passivität. Aber auch abgesehen von diesem Spezialfall, der, wie ich denke, richtigerweise nicht ausgeschlossen wird, fasst diese Sichtweise Lügen mit Assertionen und anderen expressiven Konstruktionen auf einfache Weise zusammen, ohne dass man die Möglichkeit des Lügens etwa auf der Grundlage von konversationellen Implikaturen explizit angeben muss.
4 Fazit Ausgangspunkt obiger Überlegungen war die Frage, ob man mit expressiven Ausdrücken lügen kann. Ich habe das Problem aus einem anderen Blickwinkel angesehen und mich gefragt, ob nicht eigentlich bei jeder Lüge expressive Bedeutung zugrunde liegt. Zuerst bin ich auf zwei verschiedene Möglichkeiten eingegangen, expressive Bedeutung zu definieren, die ich EB1 und EB2 genannt habe, wobei der Unterschied darin lag, dass EB2 auch Bedeutungsaspekte, die
|| 5 Präsuppositionen fallen dann wahrscheinlich ebenfalls unter Phänomene, mit denen man lügen kann.
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auf nicht-konventionelle Weise in die Gesamtbedeutung einer Äußerung in einem Kontext eingehen (etwa konversationelle Implikaturen), zu expressiver Bedeutung rechnet. Im Weiteren war die Überlegung, dass Lügen, wenn sie auf Assertionen beruhen, immer auch auf expressiver Bedeutung beruhen, sofern man Bedeutungsbestandteile, die auf Eigenschaften von Sprechakten zurückzuführen sind, als expressive Bedeutung klassifiziert, was ich getan habe. Vor dem Hintergrund, dass es sinnvoll ist, auch unaufrichtige konversationelle Implikaturen als Lügen anzusehen (Meibauer 2014), habe ich einen Vorschlag gemacht, wie man Lügen auf der Basis von Assertionen und Lügen auf der Basis von (anderer) expressiver Bedeutung auf denselben Mechanismus zurückführen kann, nämlich als Hinzufügung einer Proposition zum Gemeinsamen Gesprächshintergrund, die nicht Element des Glaubenshintergrunds des Verantwortlichen ist.
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| Teil II: Expressive Wörter
Carmen Scherer
Expressivität in der Wortbildung Ein Überblick Abstract: Dieser Beitrag unternimmt eine systematische Analyse des Phänomens Expressivität im Hinblick auf die deutsche Wortbildung. Dabei wird Expressivität als pragmatisches Phänomen verstanden, dessen Wirkung aus Abweichungen von prototypischen Standardwerten oder -mustern resultiert, die lexikalischer oder struktureller Natur sein können. Schwerpunkt dieses Beitrags bildet neben der Begriffsklärung und der Abgrenzung des Phänomens ein systematischer Überblick über lexikalische und strukturelle Expressivität in der deutschen Wortbildung.
1 Einleitung Ziel dieses Aufsatzes ist es, einen systematischen Überblick über expressive Phänomene in der Wortbildung des Deutschen zu vermitteln. Was sich zunächst wie ein bescheidenes Vorhaben anhört, erweist sich in der Realität als alles andere als einfach. Zunächst gehören das Substantiv Expressivität und das entsprechende Adjektiv expressiv zu jenen Begriffen, die in sprachwissenschaftlichen Kontexten zwar regelmäßig verwendet werden, für die aber nichtsdestotrotz eine klare terminologische Eingrenzung fehlt. Insofern ist im Diskurs zur Expressivität nicht immer klar, ob alle Beteiligten auf dasselbe sprachliche Phänomen referieren. Eine solche terminologisch unbefriedigende Situation ergibt sich häufig dann, wenn wie im Fall von Expressivität ein Begriff nicht auf eine einheitliche Forschungslinie oder -tradition zurückgeht, sondern sich „quer“ zu unterschiedlichen theoretischen Schulen etabliert. In einem solchen Fall trifft man auf einen Begriff, der sich nicht als klar umrissene aristotelische Kategorie präsentiert, sondern als ein Netzwerk von Familienähnlichkeiten, denen ein Prototyp zugrunde liegen kann (Pustka 2014: 13‒14). Sodann ist zu klären, ob es sich bei Expressivität um ein semantisches Phänomen, d.h. ein Phänomen des Sprachsystems, und/oder ein pragmatisches, d.h. ein Phänomen des Sprachgebrauchs, handelt. In der Semantik werden unter expressiver Bedeutung in einem weiteren Verständnis jene Bedeutungsanteile erfasst, die über die deskriptive Bedeutung hinausgehen und wahrheitsfunktional nicht erfasst werden können (z.B. Kaplan 1999). In einem engeren Verständnis https://doi.org/10.1515/9783110630190-003
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verweist Expressivität auf die in einer Äußerung enthaltenen emotionalen Komponenten (z.B. Foolen 1997). Im Hinblick auf die Wortbildung ist allerdings unklar, inwiefern wahrheitsfunktionale Aussagen über Wortbildungstypen, Wortbildungsprodukte oder Wortbildungskonstituenten, insbesondere gebundene, überhaupt möglich sind. Folgerichtig findet sich der Begriff Expressivität im Kontext der Wortbildung überwiegend im engeren Verständnis, d.h. im Sinne von emotionaler Beteiligung. Thematisiert werden in diesem Zusammenhang insbesondere Diminution, Augmentation, Melioration und Pejoration. Ohne die Frage ausführlich diskutieren zu können, werde ich in Anlehnung an Bauer (1997) und Meibauer (2007, 2013, 2014) davon ausgehen, dass Expressivität in der Wortbildung aus dem Sprachgebrauch resultiert und insofern primär pragmatischer Natur ist. Was die Beschäftigung mit dem Gegenstand weiter erschwert, ist, dass typische expressive Phänomene der Wortbildung wie die Diminution in der Forschung nicht nur unter dem Etikett der expressiven Morphologie behandelt werden, sondern auch im Rahmen der evaluativen Morphologie (z.B. Bauer 1997; Grandi & Körtvélyessy (Hrsg.) 2015; Prieto 2015) und der marginalen bzw. extragrammatischen Morphologie (z.B. Dressler & Merlini Barbaresi 1994; Dressler 2000). Dies führt dazu, dass die Termini in der Forschung häufig – gerne ohne eingehende Diskussion und in Fußnoten – als austauschbar deklariert werden (z.B. Fortin 2011: 1, Fn. 1; Gutzmann 2013: 25, Fn. 25). Insofern wird zunächst zu klären sein, ob, wie Körtvélyessy (2015: 63, Fn. 3) schreibt, die drei Ansätze tatsächlich dasselbe Gebiet untersuchen und insbesondere inwieweit die Ausdrücke expressive, evaluative und marginale bzw. extragrammatische Morphologie deckungsgleich sind, ohne das terminologische Dilemma an dieser Stelle abschließend auflösen zu können (Kap. 2). Vielmehr soll ausgehend von der Annahme, dass das Konzept der Normabweichung zentral für Expressivität in der Wortbildung ist, eine transparente Definition von Expressivität entwickelt und der Gegenstand einer expressiven Morphologie bzw. Wortbildung umrissen werden (Kap. 3). Abschließend werden anhand von Beispielen aus der deutschen Wortbildung Abweichungen semantisch-funktionaler (Kap. 4) bzw. formal-struktureller Art (Kap. 5) als Auslöser von expressiver Bedeutung bzw. Expressivität in der Wortbildung diskutiert.
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2 Expressive, evaluative und marginale Morphologie Diminution, Augmentation, Pejoration und Melioration sind charakteristische Phänomene der expressiven Morphologie. Sie bilden den Gegenstand zahlreicher Aufsätze, Monografien und Überblicksdarstellungen zu expressiver, evaluativer und marginaler Morphologie (z.B. Bauer 1997; Dressler & Merlini Barbaresi 1994; Grandi & Körtvélyessi (Hrsg.) 2015).1 Im Folgenden werde ich am Beispiel des Diminutivs, dem in der Forschung besondere Beachtung zukommt (z.B. Bauer 1997; Dressler & Merlini Barbaresi 1994; Fortin 2011), Gemeinsamkeiten, Überschneidungen und Unterschiede von expressiver Morphologie, evaluativer Morphologie sowie marginaler und extragrammatischer Morphologie herausarbeiten. Um den Begriff der expressiven Morphologie zu klären, ist es zunächst sinnvoll, einen Blick auf das Phänomen Expressivität an sich zu werfen. In der Forschung besteht weitgehend Konsens darüber, dass Expressivität mit Emotionen zu tun hat: „It is the emotional feeling of the speaker that is expressed and communicated in the expressive function” (Foolen 1997: 15). Jedoch muss Expressivität nicht auf den unmittelbaren Gefühlsausdruck beschränkt sein. Nach Jakobson (1971 [1960]: 89) bringt die expressive Funktion der Sprache nicht allein die Emotionen, sondern vielmehr „die Haltung des Sprechers zum Gesprochenen unmittelbar zum Ausdruck.“ Expressivität bringt somit prinzipiell eine subjektive, sprecherbezogene Komponente in die Kommunikation ein. In Anlehnung an Bühlers Organonmodell unterscheidet Pustka (2014) drei Typen von Expressivität.2 Von diesen dreien ist im Hinblick auf die Morphologie insbesondere der als Expressivität2 (oder Expressivität i.w.S.) bezeichnete Typ von Interesse, bei dem expressiven Ausdrücken über ihre primäre Darstellungsfunktion hinaus der Ausdruck von Emotionen unterstellt wird. Diese Ausdrücke verfügen somit neben ihrer Denotation und Konnotation über einen emotionalen, sprich expressiven Gehalt, der aus der Metastrategie der Normabweichung sowie den ihr untergeordneten Strategien der Vergrößerung und der Annäherung resultiere. Die expressive Wirkung der Ausdrücke ergibt sich laut Pustka (2014: 24) || 1 Als weitere Phänomene in diesem Zusammenhang werden unter anderem Intensivierung, Abschwächung, die Bildung von Hypokoristika und der Ausdruck von Alter oder sozialer Position genannt (Grandi & Körtvélyessi 2015; Kiefer 1998). 2 Pustka (2014) differenziert zwischen Expressivität1 bzw. Expressivität i.e.S., die sich auf die Ausdrucks- (=Expressivität1a) und die Appellfunktion (=Expressivität1b) in Bühlers Organon-Modell bezieht, und Expressivität2 oder Expressivität i.w.S., die auf die Darstellungsfunktion verweist.
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„allein schon durch die Abweichung von der konventionellen Form-Inhalts-Beziehung bzw. von konventionell kommunizierbaren (nicht tabuisierten) Inhalten […]“. Pustka (2014: 25) begreift Expressivität2 insofern als das Ergebnis einer Normabweichung, wobei Expressivität unter anderem dazu diene, Aufmerksamkeit zu erregen. Zu den ersten Wissenschaftlern, die sich explizit mit dem Phänomen der Expressivität in der Wortbildung auseinandergesetzt haben, gehören Arnold M. Zwicky und Geoffrey K. Pullum. In Hinblick auf die Derivation unterscheiden Zwicky & Pullum (1987: 335–337) zwischen plain morphology, die die produktive und nicht produktive Wortbildung sowie die Wortbildungsregeln einer Sprache umfasst, und expressive morphology, die sich neben dem Auftreten spezifischer sprachlicher und außersprachlicher Charakteristika, wie z.B. der Flexibilität hinsichtlich des Inputs, insbesondere durch das Auftreten pragmatischer Effekte auszeichnet: „Expressive morphology is associated with an expressive, playful, poetic, or simply ostentatious effect of some kind“ (Zwicky & Pullum 1987: 335). Expressive Morphologie ist demnach gekennzeichnet durch semantischfunktionelle Abweichungen von einem inhaltlichen Standardwert, der zu einer semantisch-pragmatischen Sprechereinschätzung führt, sowie durch formalstrukturelle Abweichungen, die sich in der Markiertheit expressiver Ausdrücke niederschlagen. Diminutive sind insofern expressiv, als sie sowohl Abweichungen von der erwartbaren Wortbildungsbedeutung als auch von prototypischen Bildungsmustern aufweisen oder aufweisen können. So zeigen Diminutive im Deutschen laut Fleischer & Barz (1995: 181) nicht nur die Verkleinerung eines Referenten an, sondern enthalten zusätzlich eine „emotionale Konnotation“, die positiver (Händchen) oder negativer Natur (Freundchen) sein kann. Ihre formale Besonderheit liegt darin, dass Diminutivsuffixe – abgesehen von wenigen Ausnahmen wie Dummchen zu dumm und Frühchen zu früh – nicht zu einem Wortartwechsel führen, sie also anders als die meisten Derivationssuffixe nicht transponierend, sondern lediglich modifizierend sind. Anders als im Fall des Expressivitätsbegriffs lässt sich der Begriff der evaluativen Morphologie in einer relativ homogenen Forschungstradition verorten, vgl. den Forschungsüberblick in Grandi & Körtvélyessy (2015). Ein sprachlicher Ausdruck ist laut Grandi & Körtvélyessy (2015: 13) dann evaluativ, wenn er zwei Bedingungen, eine funktional-semantischer und eine formaler Art, erfüllt: 1. Der Ausdruck weist einem Konzept einen Wert zu, der von einem Standardoder Defaultwert abweicht. 2. Der Ausdruck enthält die explizite Kodierung des Standardwerts und eines spezifischen die Abweichung anzeigenden Evaluationsmarkers.
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Typischerweise tritt dabei der Standardwert bei einem Derivat als Basis auf, bei einem Kompositum als Kopf und der evaluative Marker als Affix bzw. Nicht-Kopf. Die Evaluation, die durch einen evaluativen Ausdruck vorgenommen wird, kann abhängig von der jeweiligen semantisch-pragmatischen Funktion sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht erfolgen. „In other words, an object (or a person, an action, etc.) can be ‚evaluated‘ according to both its tangible, real characteristics (its size, its shape, etc.), and the speaker’s feeling towards it” (Grandi & Körtvélyessy 2015: 10). Gemeinsam ist den beiden Dimensionen der Evaluation die Feststellung einer Abweichung von einem Standard- oder Defaultwert. Während sich diese Abweichung bei der quantitativen Evaluation i.d.R. an realen und permanenten Merkmalen festmachen lässt, also objektiv und empirisch nachvollziehbar ist, beruht die Abweichung im Fall der qualitativen Evaluation auf der Wahrnehmung oder den Gefühlen des Sprechers: „Qualitative evaluation assumes a subjective evaluation: personal feelings or opinions and, often, the influence of extra-linguistic context become the crucial factors“ (Grandi & Körtvélyessy 2015: 10–11). Neben der semantisch-pragmatischen Funktion der Abweichung spielt auch deren Richtung eine wesentliche Rolle. So tendieren prototypische Diminutive und Pejorative zum negativen Ende einer semantischen Skala, prototypische Augmentative und Meliorative hingegen zum positiven. Prototypische Diminutive und Augmentative drücken quantitative Abweichungen von einem Standardwert aus, Pejorative und Meliorative hingegen qualitative (Grandi & Körtvélyessy 2015: 11–12). Aus Sicht der evaluativen Morphologie stellen prototypische Diminutive somit primär den Ausdruck einer quantitativen Negativabweichung im Hinblick auf einen Standardwert dar. Quantitative und qualitative Dimension überschneiden sich jedoch häufig, sodass teilweise ein und derselbe Ausdruck gleichzeitig eine quantitative und eine qualitative Evaluation vornehmen kann (Grandi & Körtvélyessy 2015: 13). Zudem kann laut Körtvélyessy (2014: 305–306) bei Diminutiven durch die ikonische Bedeutungsverschiebung SMALL IS CUTE aus einer quantitativen Evaluation eine qualitative Evaluation abgeleitet werden, analog bei Augmentativen durch die Verschiebung BIG IS NASTY. In seinem typologisch orientierten Aufsatz zur evaluativen Morphologie stellt Bauer (1997: 557) die im Hinblick auf das Verhältnis zwischen evaluativer und expressiver Morphologie grundlegende Frage: „Is evaluative morphology necessarily expressive morphology?“ Bei seiner Untersuchung von Diminutiven und Augmentativen kommt er zu dem Schluss, dass in manchen Sprachen evaluative Morphologie immer auch expressiv ist, dass dies aber nicht prinzipiell der
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Fall sei.3 Trotzdem habe „evaluative morphology clearly […] things in common with purely expressive morphology“ (Bauer 1997: 561). Beispielsweise ist Diminutivmorphologie als solche nicht per se expressiv, sondern kann abhängig von ihrer Verwendung entweder der regulären oder der expressiven Morphologie zuzurechnen sein (Bauer 1997: 561). Insgesamt kommt Bauer (1997: 563) zu dem Schluss, dass „the distinction between plain and expressive morphology may be a matter of use rather than a matter of structure“. Marginale und extragrammatische Morphologie schließlich bezeichnen Komponenten eines grammatischen Modells, das in Dressler (2000) beschrieben wird und als Grundlage der Arbeiten Dresslers und seiner Kollegen zur Morphopragmatik dient (z.B. Dressler & Merlini Barbaresi 1994). Während die extragrammatische Morphologie außerhalb der morphologischen Grammatik liegt, ist die marginale Morphologie an deren Rändern angesiedelt. Dabei kann es sich sowohl um die Grenzen zu anderen Modulen der Grammatik als auch um die Grenzen zwischen den drei Teilmodulen der Morphologie, der Flexion, Derivation und Komposition, handeln. Als Beispiele für marginale Morphologie nennt Dressler (2000: 7) Übergangsphänomene zwischen Komposition und Derivation wie Affixoide, nicht prototypische Wortbildungen wie deverbale Nomina agentis und Nomina actionis oder morphologische Phänomene mit einer Nähe zur Pragmatik wie Diminution und Augmentation. Charakteristisch für marginale Morphologie ist folglich, dass sie regelbasierte grammatische, aber periphere und nicht prototypische Phänomene erfasst. Im Gegensatz dazu steht die extragrammatische Morphologie, die Dressler (2000: 1) als „antonym of morphological grammar“ bezeichnet. Extragrammatische Bildungen sind vor allem durch eines gekennzeichnet: ihre Abweichung von prototypischer regelbasierter Morphologie. Sie zeichnen sich folglich dadurch aus, dass ihre Entstehung sich fundamental anders gestaltet als bei grammatischen Bildungen: So sind sie beispielsweise nicht das Ergebnis eines spontanen, sondern eines bewussten Bildungsprozesses wie bei Sprachspielen und Analogiebildungen, sie sind in ihrer Form nicht vorhersagbar wie Kontaminationen oder sie bilden wie die Kurzwortbildung aus semantischer Sicht keine neuen Wörter, da trotz formaler Operationen eine Veränderung der Bedeutung ausbleibt (Dressler & Merlini Barbaresi 1994: 38‒41). Dressler (2000: 1) verwirft mit seinem dreigliedrigen Modell zwar die binäre Unterteilung von Zwicky & Pullum (1987) in plain und expressive morphology, verweist aber auf die konzeptuelle Übereinstimmung zwischen expressiver und extragrammatischer Morphologie (vgl. auch Bauer 1997: 557). Andererseits sind
|| 3 In 29 von 50 untersuchten Sprachen fand Bauer (1997: 561) keine Hinweise auf expressive Effekte bei Diminutiven und Augmentativen.
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nach Dressler (2000: 4) extragrammatische Bildungen nicht zwangsläufig expressiv. Als Beispiel nennt er die von Zwicky & Pullum (1987) angeführten -(e)teria-Bildungen im Englischen, die zwar im Fall von engl. honeyteria, nicht aber im Fall von engl. cafeteria als expressiv anzusehen seien. Festzuhalten bleibt, dass extragrammatische Morphologie und expressive Morphologie sich hinsichtlich ihres Untersuchungsgegenstandes zwar weitgehend überlappen, aber trotz konzeptioneller Nähe nicht identisch sind. Auch eine Gleichsetzung von marginaler und expressiver Morphologie kann ausgeschlossen werden, da laut Dressler (2000) auch die nicht expressiven deverbalen Nomina agentis und Nomina actionis als nicht prototypische Vertreter der Derivation in den Bereich der marginalen Morphologie fallen. Als Ergebnis dieses kurzen Überblicks über expressive, evaluative, marginale und extragrammatische Morphologie kann festgehalten werden, dass die verschiedenen Theorieansätze nicht gleichzusetzen sind, wenngleich sie sich in ihrem Untersuchungsgegenstand überschneiden. Insbesondere emotional wertende Ausdrücke wie Pejorative und Meliorative sind sowohl expressiv als auch evaluativ als auch morphologisch marginal. Berücksichtigt man, dass Diminutive und Augmentative neben ihrer prototypischen Funktion der quantitativen Evaluation häufig auch eine qualitative Evaluation vornehmen, erklärt sich, warum sie im Zentrum zahlreicher Untersuchungen zur expressiven, evaluativen und marginalen Morphologie stehen. Allen Ansätzen gemeinsam ist, dass sie Expressivität, Evaluation oder Marginalität bzw. Extragrammatikalität als Abweichung von einem Default, Standardwert oder Prototypen definieren, der semantisch-pragmatischer oder formaler Art sein kann. Während sich die einzelnen Ansätze in ihrem Untersuchungsgegenstand also mehr oder weniger überlappen, unterscheiden sie sich in ihrem theoretischen Fokus. Die expressive Morphologie legt den Fokus auf den außersprachlichen Kontext der einzelnen Bildungen, sei es den Ausdruck einer subjektiven Sprechereinschätzung bzw. -wahrnehmung oder die Wirkung einer Äußerung auf die Hörer. Die expressive Morphologie analysiert Äußerungen somit primär aus einer pragmatischen Perspektive. Die evaluative Morphologie hingegen fokussiert auf die Beurteilung sprachlicher Ausdrücke. Im Zentrum steht hier der – subjektive oder objektive – Vergleich mit einem Bezugswert. Der evaluativen Morphologie liegt insofern eine primär funktional-semantische Perspektive zugrunde. Marginale und extragrammatische Morphologie klassifizieren sprachliche Ausdrücke primär in Hinblick auf ihre formal-strukturellen Eigenschaften. Beiden liegt somit eine grammatische Perspektive zugrunde.
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Abbildung 1 verdeutlicht abschließend am Beispiel des Diminutivs das Verhältnis von expressiver, evaluativer, marginaler und extragrammatischer Morphologie.4
Abb. 1: Verhältnis zwischen expressiver, evaluativer, marginaler und extragrammatischer Morphologie
3 Was bedeutet Expressivität in der Wortbildung? Expressivität beruht in der Wortbildung in erster Linie auf der Auffälligkeit von Bildungen, die von der regulären Morphologie abweichen: [W]e hope to have established it as credible that rules of expressive morphology are not subject to the same conditions as rules of plain morphology. Indeed, […] the fact that they use linguistic resources in ways that grammatical rules do not enables them to stand out, to call attention to themselves – and so to serve their expressive function. (Zwicky & Pullum 1987: 338)
Das für expressive Wortbildung charakteristische Herausstechen („stand out“) und Erregen von Aufmerksamkeit („call attention to themselves“) ist insofern
|| 4 Aus Gründen der Übersichtlichkeit wurde auf die Darstellung der Bedeutungsverschiebung beim Diminutiv, d.h. des Übergangs von der quantitativen zur qualitativen Evaluation, verzichtet, vgl. Kap 2.
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eine Konsequenz des Abweichens von einem als Standard angesetzten Vergleichs- oder Defaultwert. Diese Eigenschaft, von prototypischen Vertretern einer Klasse abzuweichen, teilt die expressive Wortbildung mit der marginalen bzw. extragrammatischen und der evaluativen Morphologie, vgl. Kap. 2. Zwar führen Zwicky & Pullum (1987: 332) für das Englische die Bildungen mit dem Suffix -(e)teria und Bauer (1997) Diminutive und Augmentative als Beispiele für expressive Wortbildung an, bislang ist aber unklar, wie Expressivität in der Wortbildung entsteht. Geben bestimmte expressive Konstituenten, beispielsweise Affixe wie -(e)teria im Englischen oder expressive Stämme, ihre Expressivität an das Wortbildungsprodukt weiter? Oder sind bestimmte semantische Outputkategorien wie Diminutive und Augmentative per se expressiv ‒ unabhängig von ihrem Input? In diesem Zusammenhang ist auf die Überlegungen bei Meibauer (2007) hinzuweisen, der eine Unterscheidung zwischen lexikalisch und strukturell basierter Expressivität sprachlicher Ausdrücke trifft. In vielen Fällen, so Meibauer (2007: 246), etwa bei Interjektionen oder Schimpfwörtern, ist Expressivität Bestandteil der Morphembedeutung, d.h. sie ist lexikalisch verankert, in anderen Fällen hingegen, etwa bei Exklamativsätzen, ist sie strukturell bedingt. Im Hinblick auf die Wortbildung wird in der Literatur eine Vielzahl expressiver Affixe beschrieben, die beispielsweise Diminutive oder Derivate mit pejorativer Bedeutung ableiten. Es läge also nahe zu vermuten, dass Expressivität in der Wortbildung prinzipiell lexikalischer Natur ist. Aber nicht nur Derivate wie Schreiberling oder Gelese (Dammel 2011: 328) sind expressiv, sondern auch Phrasenkomposita wie Hier-kriegt-man-alles-was-man-braucht-Seminar (Meibauer 2007: 240), Konfixkomposita wie Witzothek (Hoppe 2000: 215) oder Kontaminationen wie schuhverlässig (Friedrich 2008: 93), ohne dass sich die beteiligten Konstituenten durch lexikalische Expressivität auszeichnen. Da sich die Expressivität in diesen Fällen nicht auf eine lexikalische Grundlage zurückführen lässt, scheint die Expressivität dieser Ausdrücke struktureller Art zu sein. Expressive Wortbildung als Abweichung von nicht-expressiver Wortbildung kann insofern sowohl lexikalisch basiert als auch strukturell bedingt sein, vgl. Kap. 4 und 5. Bei dem Standard- oder Defaultwert, der als Vergleichsgröße zum Feststellen einer Abweichung herangezogenen wird, handelt es sich im Fall lexikalisch basierter Expressivität um einen semantisch-funktionalen Bezugsrahmen, im Fall strukturell bedingter Expressivität um einen formal-strukturellen. Semantischfunktionale Vergleichswerte sind beispielsweise neutrale Bezeichnungen wie Haus im Vergleich zu Kate oder Häuschen bzw. Palast oder Riesenhaus, die eine im Vergleich zum Standardwert kleinere oder größere Dimension aufweisen. Die Abweichung kann aber nicht nur wie bei Größenabweichungen rein quantitativer Natur sein, sondern vielmehr auch die Qualität betreffen. So könnte man ein
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Haus, das man besonders positiv bewertet, beispielsweise als Superhaus bezeichnen, eines, das man eher negativ bewertet, als Bruchbude. Den formal-strukturellen Bezugsrahmen expressiver Ausdrücke bilden prototypische Strukturen. Im Rahmen der Wortbildung handelt es sich dabei um universell oder einzelsprachlich unmarkierte Wortbildungstypen wie Komposition und Derivation sowie deren Eigenschaften.5 Die unmarkierte Form, zwei Wörter im Deutschen zu einem neuen Wort zu kombinieren, besteht in der Komposition. So wird die Tür eines Hauses als Haustür bezeichnet, ein Baum, der Äpfel trägt, als Apfelbaum und ein heller blauer Farbton als hellblau. Wird also eine vitaminhaltige Limonade als Vitaminade bezeichnet (Friedrich 2008: 489), d.h. wird statt des unmarkierten Kompositums Vitaminlimonade eine Kontamination gewählt, liegt eine Abweichung vom präferierten Wortbildungsverfahren vor, die Aufmerksamkeit erregt. Charakteristisch für expressive Wortbildung ist ihre pragmatische Dimension, d.h. ihr Bezug auf den außersprachlichen Kontext, etwa die Kommunikationssituation, insbesondere aber auf Sprecher und Hörer. Durch die Abweichung von einem semantisch-funktionellen Standardwert (Superhaus) kann ein Sprecher sowohl eine subjektive Empfindung oder Einschätzung ausdrücken als auch auf eine bestimmte Reaktion beim Hörer abzielen. Eine Abweichung formalstruktureller Art (Vitaminade) scheint hingegen primär auf eine spezifische Wirkung beim Hörer abzuzielen. In diesem Fall liegt die Emotionalität „also nicht primär beim Sprechenden, sondern beim Hörer“ (Pustka 2014: 29).
4 Lexikalisch basierte Expressivität Lexikalisch basierte ‒ oder kurz lexikalische ‒ Expressivität in der Wortbildung ist eine Konsequenz der Verwendung bestimmter freier oder gebundener Wortbildungskonstituenten. Dabei können die Konstituenten entweder selbst expressiv sein und ihre expressive Bedeutungskomponente wie im Fall evaluativer Affixe in das entstehende Wortbildungsprodukt einbringen oder die expressive
|| 5 Prinzipiell sind konkatenative Verfahren der Wortbildung wie Komposition und Derivation als weniger markiert anzusehen als solche ohne formale Veränderung (Konversion) oder subtraktive Verfahren wie Kurzwortbildung und Kontamination, da eine semantisch komplexere Form mit einem formal aufwändigeren Ausdruck korreliert (vgl. Dressler 1987, 2005). Unmarkierte Wortbildungsmuster zeichnen sich insbesondere durch morphosemantische Transparenz, konstruktionellen Ikonismus und Systemangemessenheit aus (vgl. Wurzel 1994: 55‒71).
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Bedeutung des Wortbildungsprodukts ergibt sich aus der metaphorischen Verwendung nicht-expressiver Konstituenten wie etwa Hammer in hammerhart. Im Rahmen der lexikalisch basierten expressiven Wortbildung entstehen im Deutschen insbesondere Ausdrücke, die zum negativen Ende der Evaluationsskala tendieren, d.h. Diminutive und Pejorative, vgl. Kap. 2. Augmentative und vor allem meliorative Bildungen finden sich seltener. Im Folgenden soll zunächst die expressive Derivation und daran anschließend die expressive Komposition behandelt werden, jeweils mit einem Fokus auf pejorativen Bildungen. Für die Bildung von Diminutiven im Deutschen werden abgesehen von dem nicht-nativen Präfix mini- überwiegend Suffixe verwendet (Donalies 2005: 46). Zu den Diminutivsuffixen gehören die nominalen Suffixe -chen und -lein sowie deren regionale Varianten -ke, -le und -el, das verbale Suffix -eln (hüsteln) oder das Adjektivsuffix -lich (bläulich) (Fleischer & Barz 1995). Anders als in anderen Sprachen fehlen im Deutschen Augmentativsuffixe weitgehend, es stehen neben dem nativen erz- jedoch eine Reihe nicht-nativer Augmentativpräfixe zur Ableitung nominaler und adjektivischer Basen zur Verfügung (vgl. Ruf 1996). Insgesamt wird für die Bildung von Augmentativen aber die Komposition bevorzugt (Fleischer & Barz 1995: 100; Donalies 2005: 47). Wie Donalies (2005: 43) betont, ist bei Diminutiven und Augmentativen mit dem rein quantitativen Aspekt der Größenabweichung „meist eine positive oder negative Wertung“ verbunden. Dies wird sowohl für die Diminutive als auch für die Augmentative durch die Literatur bestätigt (z.B. Fleischer & Barz 1995: 181; Ruf 1996). So stellt Ruf (1996: 344) in ihrer Studie zu Augmentativpräfixen fest, dass einige Präfixe wie makro lediglich eine objektive Bewertung der Dimension vornehmen (Makrostruktur), wohingegen bei anderen eine zusätzliche subjektive Bewertung auftritt, die sowohl pejorativer (ultrakonservativ) als auch meliorativer Art (superschnell) sein kann. Daneben stehen Präfixe wie hyper, die nicht quantitativ, sondern ausschließlich qualitativ evaluierend verwendet werden. Während Derivate, bei denen das Affix zu einer Bedeutungsverbesserung führt, im Deutschen kaum untersucht sind, haben sich unlängst zwei Studien von Dammel (2011) und Dammel & Quindt (2016) eingehend mit der Entstehung pejorativer Affixbedeutung befasst. Bei Dammel (2011) findet sich auch eine Definition pejorativer Derivation, die als Ausgangspunkt für eine Definition expressiver Derivation insgesamt dienen kann. Nach Dammel (2011: 328) hat „[e]in Derivationsmuster […] dann eine pejorative Funktion, wenn es an neutralen Basen eine negativ-distanzierende Bewertung durch den Sprecher markiert“. Dazu muss die Pejoration innerhalb des Wortbildungsmusters zum einen reihenbildend sein, sie muss zum anderen in Kontextisolation bestehen bleiben und schließlich muss
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die pejorative Bedeutung unabhängig von der Bedeutung der Basis auftreten. Zudem weist Dammel (2011) darauf hin, dass es im Deutschen keine Affixe gibt, die funktional auf die Pejoration beschränkt sind. Vielmehr bilde Pejoration „immer mehr oder weniger produktive Wortbildungsnischen polyfunktionaler Wortbildungsmuster“ (Dammel 2011: 328), etwa bei Mustern mit diminuierender (-chen, -lein), kollektivierender (Ge-e, -(er)ei) oder iterativer Funktion (-eln). Pejorative Ausdrücke bilden aber auch die nominalen Suffixe -ler, -ling und -itis (Müller 1953; Feine 2003) sowie das onymische Suffix -istan (Meibauer 2014). Tabelle 1 bietet einen Überblick über die Derivationsaffixe, die im Deutschen über eine expressive Funktion verfügen. Tab. 1: Überblick über expressive Affixe des Deutschen (Quelle: Fleischer & Barz 1995; Donalies 2005; Dammel 2011)
Substantive
Adjektive
Verben
Präfixe
Suffixe
Präfixe
Präfixe
Suffixe
Diminutive
mini-
-chen, -lein + regional: -el, -ke, -le etc.
mini-
Augmentation
erz-; giga-, hyper-, makro-, maxi-, mega-, super-, ultra-
Pejoration
Ge-e; hyper-, super-, ultra-
rum-
-eln
Meliorative
maxi-, super-
erz-; giga-, hyper-, makro-, maxi-, mega-, super-, ultra-(er)ei, -ler, -ling; -itis
hyper-, super-, ultramaxi-, super-
Eine expressive Bedeutung bei Derivaten kann aber nicht nur dann entstehen, wenn das Affix selbst über eine expressive Bedeutung verfügt, sondern auch dann, wenn ein wertneutrales Affix wie das Movierungssuffix -in oder die Verbpartikel an- mit einer expressiven Basis wie Bastard oder kreischen verbunden wird, vgl. (1) mit (2): (1)
(2)
a. Lehrerneutral
+
-inneutral
Lehrerinneutral
b. an-neutral
+
sprechenneutral
ansprechenneutral
a. Bastardexpressiv
+
-inneutral
Bastardinexpressiv
b. an-neutral
+
kreischenexpressiv
ankreischenexpressiv
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Die gehäufte Verbindung mit pejorativen Basen sehen Dammel (2011) sowie Dammel & Quindt (2016) auch als Ausgangspunkt für das Entstehen der pejorativen Bedeutung bei Affixen wie -ler oder –(er)ei. Erreicht die Zahl der entsprechenden Bildungen eine kritische Masse, so kann das Wortbildungsmuster als pejorativ reanalysiert und die Pejoration zum Bestandteil der Affixbedeutung werden, die in der Folge auch bei Verbindung mit neutralen Basen zu einer pejorativen Gesamtbedeutung führen kann (Dammel 2011: 338‒340). Im Fall von Komposita gilt analog, dass ein Kompositum als Ganzes expressiv sein kann, wenn zumindest eine seiner Konstituenten expressiv ist, vgl. (3): (3) a. Straßeneutral
+
Hundneutral
Straßenhundneutral
b. Straßeneutral
+
Köterexpressiv
Straßenköterexpressiv
Allerdings kann bei Komposita auch dann eine expressive Bedeutung entstehen, wenn keine der beiden Ausgangskonstituenten expressiv ist, vgl. (4): (4) a. Affeneutral b. Hammerneutral
+
Hitzeneutral
Affenhitzeexpressiv
+
hartneutral
hammerhartexpressiv
Dieses Phänomen lässt sich im Deutschen insbesondere, aber nicht nur bei Konstituenten feststellen, die wie Affe, Hund, Ratte, Schwein und Sau Tiere bezeichnen oder wie Kack(e), Mist und Scheiß(e) Exkremente.6 Da diese Konstituenten zum einen reihenbildend sind, vgl. (5), und zum anderen ihre Bedeutung im Vergleich zu der der freien Form semantisch ausgebleicht ist, weisen sie typische Eigenschaften von Affixen auf. Entsprechend werden sie in der Forschung häufig als Affixoide oder Halbaffixe bezeichnet, deren morphologischer Status kontrovers diskutiert wird (vgl. Motsch 1996; Elsen 2009). (5) hammerhart, hammercool, Hammerauftritt, Hammeralbum, Hammerangebot, Hammerargument, Hammerband, Hammerbuch, Hammergruppe, Hammerhalbfinale…7
|| 6 Eine umfassende Zusammenstellung entsprechender Konstituenten findet sich in Meibauer (2013). 7 Alle Beispiele sind den Korpora des Instituts für deutsche Sprache (IDS) in Mannheim entnommen.
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In seinem Aufsatz zu expressiven Komposita diskutiert Meibauer (2013), wie die expressive Bedeutung bei Bildungen mit einem reihenbildenden Erstglied wie Affe oder Hammer entsteht. Dabei verwirft er den Ansatz, die expressive Bedeutung des Kompositums auf die Kombination mit einem in seiner Bedeutung von dem freien Wort abweichenden Affixoid zurückzuführen (Meibauer 2013: 28). Vielmehr erklärt er die expressive Bedeutung von Wörtern wie in (4) oder (5) durch die metaphorische Verwendung des Erstglieds, wie sie auch bei nicht expressiven Komposita wie Paketlösung oder Spielparadies üblich ist (Meibauer 2013: 29). Am Beispiel von Arsch- zeigt Meibauer (2013: 31), dass es sich dabei um konventionelle Metaphern handelt, die nicht ad hoc konstruiert werden. Wie aber ist zu erklären, dass bei manchen Komposita mit metaphorischem Erstglied eine expressive Bedeutung entsteht (hammerhart, arschkalt) und bei anderen (Paketlösung) nicht? Ausschlaggebend ist hier die Bewertung des Wortfeldes, aus dem das entsprechende Wort stammt: “[I]t is the expressive meaning connected to the evaluation of the source domain of the respective metaphor that brings in the expressive meaning” (Meibauer 2013: 38). Während Wörter wie Arsch einem negativ bewerteten Wortfeld entstammen und so bei metaphorischer Verwendung eine pejorative Bedeutungskomponente in Komposita einbringen, ist dies bei Wörtern wie Paket aus einem semantisch neutralen Wortfeld nicht der Fall. Umgekehrt haben metaphorisch verwendete Wörter aus positiv bewerteten Wortfeldern wie Hammer eine meliorative Wirkung (hammerhart). Derselbe Effekt ergibt sich auch bei metaphorischer Verwendung von Zweitgliedern aus positiv (Fußballgott) oder negativ (Reformscheiße) bewerteten Wortfeldern. Dass Arsch in expressiven Komposita aber nicht nur eine pejorative Bedeutungskomponente (arschkalt) einbringen kann, sondern auch eine meliorative (arschcool), hat für Meibauer (2013: 31) pragmatische Gründe. In solchen Fällen werde die Melioration durch konversationelle Implikaturen ausgelöst. Lexikalisch basierte Expressivität kann somit einerseits unmittelbar auf eine entsprechende expressive Bedeutung zurückzuführen sein, die einzelne Affixe (-ler, -chen, super-) oder Stämme (Bastard, kreisch, Köter) in die Bedeutung des gebildeten Wortbildungsprodukts einbringen. Andererseits kann lexikalisch basierte Expressivität mittelbar im Rahmen einer metaphorischen Verwendung von Wortbildungskonstituenten auch dann entstehen, wenn die beteiligten Konstituenten selbst keine expressive Bedeutung haben, aber eine oder beide aus einem Wortfeld stammen, das einer stereotypen positiven oder negativen Bewertung unterliegt, die auf das Wortbildungsprodukt übertragen wird.
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5 Strukturell bedingte Expressivität Während sich lexikalisch basierte Expressivität aus einer semantisch-funktionalen Abweichung ergibt, die aus der Verwendung einer per se expressiven Wortbildungskonstituente oder aus dem Bezug zur Quelldomäne einer metaphorisch verwendeten Konstituente resultiert, stellt die strukturell bedingte ‒ oder kurz strukturelle ‒ Expressivität die Folge einer Abweichung von prototypischen Wortbildungsstrukturen dar. Die Vorstellung von sprachlichen Prototypen oder Defaultwerten findet sich insbesondere in der Natürlichkeitstheorie, die zwischen natürlichen und weniger natürlichen bzw. unmarkierten und markierten Formen unterscheidet. Strukturell bedingte Expressivität tritt insofern bei im Sinne der Natürlichkeitstheorie markierten Wortbildungseinheiten auf. Die Markiertheit und die daraus resultierende Expressivität kann einerseits ganz allgemein den Wortbildungstyp, andererseits einzelne Wortbildungsmuster und/oder die verwendeten Konstituenten betreffen. Strukturell bedingte Expressivität kann ganz grundlegender Natur sein, insofern eine Abweichung von universell gültigen Natürlichkeitsprinzipien vorliegt. Zu den für die Wortbildung relevanten Prinzipien zählen unter anderem die Prinzipien der Ikonizität, der Indexikalität, der Binarität sowie der morphosemantischen und der morphotaktischen Transparenz (Dressler 2005: 268‒278). Gemäß dem Prinzip der konstruktionellen Ikonizität beispielsweise korreliert in unmarkierten Ausdrücken ein Mehr an Bedeutung mit einem Mehr an Form. In der Wortbildung bedeutet dies, dass konkatenative Wortbildungsverfahren wie Komposition und Derivation universell präferiert, d.h. unmarkiert sind, wohingegen Verfahren wie die Kurzwortbildung, bei denen formale Bestandteile getilgt werden, stark markiert sind. Aber nicht nur die Abweichung von universell gültigen Defaultwerten wie dem Prinzip des konstruktionellen Ikonismus ist als expressiv im strukturellen Sinn zu verstehen, sondern auch die Abweichung in der Füllung der Strukturen, die nicht nur sprachabhängig, sondern auch individuell für einzelne Wortbildungsmuster variieren kann. Ein gutes Beispiel hierfür stellt etwa das Derivat unkaputtbar dar. Unkaputtbar verstößt gegen die kategorielle Inputbeschränkung des -bar-Suffixes, das im Gegenwartsdeutschen auf die Ableitung von verbalen Basen beschränkt ist, auch wenn sich vereinzelt noch Reste früherer denominaler und deadjektivischer Ableitungen finden (fruchtbar, offenbar) (Fleischer & Barz 1995: 252–253). Strukturell bedingte Expressivität in der deutschen Wortbildung kann sich also auch im Verstoß gegen Wortbildungsbeschränkungen äußern.
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Strukturelle Expressivität in der Wortbildung stellt somit eine Konsequenz aus der Abweichung von prototypischen Wortbildungsstrukturen und deren Beschränkungen dar. Im Folgenden sollen sowohl jene Phänomene strukturell bedingter Expressivität betrachtet werden, die sich aus der Abweichung von universell gültigen Prinzipien unmarkierter Wortbildung ergeben, als auch jene, die aus der Abweichung von individuellen Wortbildungsbeschränkungen resultieren.
5.1 Expressive Wortbildungsstrukturen Als kürzende Verfahren der Wortbildung sind Kurzwortbildung8 und Kontamination stark markiert, da sie maximal vom universell präferierten konkatenativen Wortbildungstyp abweichen, wie ihn Derivation und Komposition darstellen, vgl. (6) vs. (7). Während bei Kurzwörtern trotz einer Reduzierung der Form der Inhalt aber erhalten bleibt, steht im Fall der Kontamination einem Weniger an Form sogar ein Mehr an Inhalt gegenüber. (6) a. Apfel
+
Baum
Apfelbaum
b. Kind
+
lich
kindlich
Uni
Bürotel
(7) a. Universität b. Büro
+
Hotel
Kurzwortbildung und Kontamination zeichnen sich aber nicht nur durch fehlenden konstruktionellen Ikonismus aus, sondern auch durch einen Mangel an morphosemantischer und morphotaktischer Transparenz. Während Derivate und insbesondere Komposita in beiderlei Hinsicht in hohem Maße transparent sind, verfügen Kurzwörter und Kontaminationen weder über eine kompositionelle Bedeutung noch über eine erkennbare interne Struktur. Aufgrund dieser Abweichung von der prototypischen konkatenativen und transparenten Wortbildung sind beide Wortbildungsverfahren expressiv in strukturellem Sinn. Diese strukturell bedingte Expressivität, die den kürzenden Wortbildungstypen eigen ist,
|| 8 Unter Kurzwortbildung fasse ich die kürzenden Verfahren der Kürzung (Universität > Uni), Abkürzung (Atomkraftwerk > AKW) und Akronymbildung (Deutsches Institut für Normung > DIN) zusammen.
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kann von Sprechern gezielt zur Kommunikation außersprachlicher Inhalte verwendet werden. Diese können sowohl den Ausdruck subjektiver Einstellungen und Gefühle des Sprechers als auch das Erzielen einer bestimmten Wirkung auf den Hörer betreffen. Sowohl für die Kurzwortbildung als auch für die Kontamination wird in der Forschung der von Zwicky & Pullum (1987: 335) als charakteristisch für expressive Morphologie genannte spielerische Effekt beschrieben (Kobler-Trill 1994: 198; Friedrich 2008: 109; Reischer 2008: 175), vgl. etwa die Kurzwörter in (8). (8) Schumatra MeckPomm
Physiker
+ holen
>
*reholen
+ abel
>
*lesabel
b. Physik + er (13) a. re b. les
Im Bereich der Komposition und Derivation kann strukturelle Expressivität insofern als Folge der Abweichung von universellen Prinzipien wie der Wortbasiertheit der Wortbildung, von sprachspezifischen Prinzipien wie systemangemessenen Formen der Komposition oder von für einzelne Wortbildungsmuster spezifischen Inputbeschränkungen entstehen. Allein die Entscheidung, markierte Wortbildungstypen, Konstituenten oder Wortbildungsprodukte anstelle weniger markierter alternativer Ausdrucksmöglichkeiten zu verwenden, verweist dabei auf eine spezifische Absicht des Sprechers, etwa sich kreativ auszudrücken oder Aufmerksamkeit zu erregen. Während die Verwendung von markierten Wortbildungstypen wie der verbalen Komposition oder von markierten Wortbildungskonstituenten wie Phrasen jedoch letztlich Bildungen nicht ausschließt, vermögen Wortbildungsbeschränkungen die Bildung entsprechender Formen weitgehend oder sogar vollständig zu blockieren. Insofern haben Wörter, die gegen Wortbildungsbeschränkungen verstoßen wie Witzothek oder unkaputtbar, wenn sie verwendet werden, eine besonders expressive Wirkung.
6 Fazit Das Ansinnen, einen Überblick über Expressivität in der deutschen Wortbildung zu bieten, erweist sich als unfertig- und unperfektbares Vorhaben. Allein den Begriff der Expressivität zu definieren und von verwandten Begriffen abzugrenzen, ist alles andere als trivial. Die Wortbildung anschließend systematisch auf expressive Phänomene hin abzuklopfen und für die einzelnen Phänomene zu ergründen versuchen, worauf deren Expressivität beruht, ist kaum weniger schwierig und alles andere als unproblematisch. Diesem Aufsatz liegt ein Verständnis von Expressivität zugrunde, bei dem das Konzept der Abweichung von einem Default-, Norm- oder Standardwert zentral ist. Dabei kann die Abweichung sowohl semantisch-funktionaler als auch
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formal-struktureller Natur sein. Mit verwandten Begriffen wie der evaluativen Morphologie oder der marginalen und extragrammatischen Morphologie verbindet die expressive Morphologie bzw. Wortbildung nicht nur das Konzept der Abweichung, sondern insbesondere der Untersuchungsgegenstand, der sich in allen drei Ansätzen überschneidet. Evaluative Morphologie und expressive Morphologie teilen sich die Analyse qualitativ evaluierender morphologisch komplexer Ausdrücke. Zudem ist expressive Morphologie immer auch marginale oder extragrammatische Morphologie, da sie durch Abweichungen von wortbildungsspezifischen prototypischen Exemplaren definiert ist und somit nie im Zentrum der regelgeleiteten plain morphology stehen kann. In der Wortbildung kann Expressivität zudem lexikalisch oder strukturell bedingt sein. Lexikalische Expressivität resultiert aus der Verwendung bestimmter Konstituenten bei der Wortbildung. Dabei kann es sich sowohl um Affixe (-ling) oder Wörter (Köter) mit expressiver Bedeutung handeln als auch um nicht-expressive Wörter (Hammer), die metaphorisch verwendet werden. Lexikalischer Expressivität liegt die Abweichung von einem semantisch-funktionalen Standardwert zugrunde, sodass lexikalisch expressive Ausdrücke immer auch evaluativ sind. Strukturelle Expressivität ergibt sich in der Wortbildung aus der Abweichung von einem strukturellen Standard- oder Defaultwert, d.h. aus der Abweichung von prototypischen und unmarkierten Wortbildungsstrukturen und deren Eigenschaften. Expressiv in struktureller Hinsicht sind zunächst die nicht konkatenativen Wortbildungstypen, die gegen das Prinzip des konstruktionellen Ikonismus verstoßen. Dies betrifft im Deutschen insbesondere die Kurzwortbildung und die Kontamination. Beide Wortbildungstypen sind der extragrammatischen Morphologie zuzurechnen. In der konkatenativen Wortbildung entsteht strukturelle Expressivität insbesondere in zwei Fällen: zum einen, wenn gegen das Prinzip der Wortbasiertheit verstoßen wird wie bei Phrasen- oder Konfixkomposita, zum anderen, wenn formale oder inhaltliche Wortbildungsbeschränkungen verletzt werden wie im Fall von unkaputtbar oder Mondin. Diese Phänomene sind der marginalen Morphologie zuzurechnen. Wie Bauer (1997) und Meibauer (2007, 2013) gehe ich davon aus, dass es sich bei Expressivität in der Wortbildung nicht um ein semantisches, sondern vielmehr um ein pragmatisches Phänomen handelt, das kontextbezogen entsteht, weil ein Sprecher sich aus bestimmten Gründen für die Verwendung eines spezifischen, von unmarkierten Alternativen abweichenden Ausdrucks entscheidet. Diese Gründe sind subjektiver Art und können vom Ausdruck sprecherbezogener Emotionen oder Bewertungen über das Ausleben sprachlicher Kreativität und
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das Erzielen spezifischer Effekte wie Komik oder Ironie bis hin zum Erregen von Aufmerksamkeit oder gar sprachlicher Provokation reichen.
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Björn Technau
Die expressive Bedeutung von Beleidigungswörtern Tabubrüche, Sprechereinstellungen, Emotionen Abstract: Beleidigungswörter lassen sich nach vielerlei Kriterien unterscheiden, u.a. danach, ob sie gruppenbasiert sind (Polacke, Schwuchtel) oder nicht (Arschloch, Idiot). Sie müssen individuell analysiert werden, etwa unter Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen Beleidigungsgrade (Zigeuner < Arschficker). Da ihre Verwendung einen Tabubruch darstellt, können Sprecher mit ihnen konventionell besondere Expressivität erreichen. Die expressive Bedeutung von Beleidigungswörtern ist in der Literatur unterschiedlich beschrieben worden. Der folgende Beitrag beleuchtet diese Unterschiede und stellt auf Grundlage empirischer Daten ein Analysemodell vor, das sich am Kriterium der Konventionalität orientiert. Dabei wird der Tatsache Rechnung getragen, dass (bestimmte) Beleidigungswörter nicht nur konventionell zum Ausdruck negativer Einstellungen verwendet werden, sondern auch konventionell zum Ausdruck positiver Einstellungen. Was die verschiedenen Verwendungsweisen gemein haben, sind die gesteigerten Emotionen ihrer Sprecher, die über den Tabubruch expressiv ausgedrückt werden.
1 Einleitung Beleidigungswörter zählen zur großen lexikalischen Klasse der Pejorativa, zu deren Bedeutung eine negative Wertung gehört. Neben nonverbalen Mitteln wie dem erhobenen Mittelfinger zählen sie zu den einschlägigsten Kommunikationsmitteln zum Ausdruck einer abwertenden Haltung gegenüber einer Person und/oder einer Personengruppe. In unseren Sprachgemeinschaften sind sie daher mehr oder weniger tabuisiert. Als Tabuwörter ziehen Beleidigungswörter große Aufmerksamkeit auf sich, nicht nur in der Forschung und unter denjenigen, die sie verwenden. Ihre Semantik und Pragmatik weisen vielerlei Besonderheiten auf, die in der Literatur unterschiedlich gefasst und linguistisch beschrieben worden sind. Mit meinem eigenen Ansatz geselle ich mich zu jenen Theoretikern, die Beleidigungswörter als sog. thick terms verstehen, als eine Mixtur aus deskriptiven und expressiven Elementen (u.a. Saka 2007; Richard 2008; Je-
https:// doi.org/10.1515/9783110630190-004
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shion 2013a, b und Croom 2014b). Allerdings unterscheiden sich die Ansätze darin, was sie unter diesen Elementen verstehen und wie sie die expressive Bedeutung von Beleidigungswörtern fassen. Um hier Klarheit zu schaffen, konsultiere ich im folgenden Beitrag empirische Daten und stelle ein semantisches Analysemodell vor, das sich stärker an der Realität der Sprachgemeinschaft orientiert als moralische oder rein theoretische Ansätze. Dafür schlage ich zunächst eine terminologische Unterscheidung verschiedener Arten von Beleidigungswörtern vor (Abschnitt 2) und gehe auf einschlägige Ansätze ein, die in der Literatur zur Beschreibung der expressiven Bedeutung von Beleidigungswörtern vorgelegt worden sind (Abschnitt 3). Da den meisten Ansätzen eine empirische Grundlage fehlt, liefere ich eine solche in Abschnitt 4: Hier geht es um die Analyse authentischer Gesprächsdaten und das Hervorheben empirischer Untersuchungen, die uns Einblicke in die Verwendungsweisen und die expressive Bedeutung von Beleidigungswörtern gewähren. Basierend auf diesen Daten stelle ich anschließend das Multikomponentenmodell vor, das die expressive Bedeutung als indexikalische Komponente fasst, die auf die Emotionen des Sprechers im Kontext verweist (Abschnitt 5). Im letzten Abschnitt rege ich schließlich empirische und experimentelle Forschungen an, die weitergehende Erkenntnisse versprechen, nicht nur im Hinblick auf Pejoration, Expressivität und die Semantik/Pragmatik-Schnittstelle, sondern auch im Hinblick auf unser soziales Miteinander, unsere Emotionen und Bedürfnisse.
2 Arten von Beleidigungswörtern Bevor wir uns ihrer expressiven Bedeutung widmen, muss zunächst eine Unterscheidung verschiedener Arten von Beleidigungswörtern getroffen werden. Wie komplex eine solche Unterteilung sein kann, zeigt sich in Nunberg (im Erscheinen: 4–8), der u.a. zwischen prejudicials und pejoratives unterscheidet. Während pejoratives auf Grundlage einzigartiger Umstände und individueller Verhaltensweisen auf Personen angewendet werden (Arschloch), geht es bei prejudicials um die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Personengruppe (nigger). Wichtig ist dabei die Beobachtung, dass prejudicials im Gegensatz zu pejoratives in der Regel
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ein nicht-pejoratives Gegenstück (NPC1) haben (African American). Das NPC-Kriterium ziehe ich für meine eigene Unterteilung der Beleidigungswörter heran. Ob Beleidigungswörter ein NPC haben (können) oder nicht, hängt eng mit der Frage zusammen, ob sie sich auf eine bestimmte Personengruppe (PG) beziehen oder nicht. Eine PG setzt sich aus Personen zusammen, die sich über Religion, Nationalität, Hautfarbe, Beruf, Sexualität, körperlich-geistige Versehrtheit o.ä. miteinander identifizieren (lassen). Beleidigungswörter können auf eine bestimmte PG referieren oder nicht, und sie können ein NPC haben oder nicht. Mit den beiden Kriterien PG und NPC nehme ich entsprechend eine grobe Unterteilung in vier verschiedene Arten der Beleidigungswörter vor. Ich grenze diese von bloßen Schimpfwörtern (Fuck, Kacke, Scheiße) und anderen tabuisierten Kommunikationsmitteln (angewiderter Gesichtsausdruck) ab, die sich ebenfalls durch besondere Expressivität auszeichnen (für eine ausführliche Übersicht und Unterteilung siehe Technau 2018a: 3–11). Tab. 1: Arten von Beleidigungswörtern
Beleidigungswortart
Beispiele
Beleidigungswörter (+PG+NPC)2
Ethnophaulismen: Kanake, Nigger, Judensau, Zigeuner Andere PG: Bulle, Schwuchtel, Spast(i), Weib
Beleidigungswörter (–PG–NPC)
Arschloch, Depp, Idiot, Weichei, Wichser, Sau, Kuh
Beleidigungswörter (+PG–NPC)
Mädchen, Bauer, Jude, Nazi, Opfer, Tante, Kommunist
Beleidigungswörter (–PG+NPC)
Absteige, Fresse, Kaff, Karre, Köter
Beleidigungswörter gehören zu den Tabuwörtern, die Jay (2009: 153) dem Lexikon beleidigender emotionaler Sprache zuordnet. Tabuwörter sind „Wörter, die man zwar kennen sollte, aber nicht ohne weiteres verwenden darf“ (Keller & Kirschbaum 2003: 2). Sie beziehen sich auf bestimmte Tabubereiche, z.B. den sexuellen (ficken) oder religiösen Bereich (goddamn). Darüber hinaus lässt sich auf Fäkalien (shit, Scheiße) verweisen, auf Tiernamen (bitch, Schwein) und auf Beleidigungswörter, die u.a. auf die Abstammung (Hurensohn, son of a bitch, bastard),
|| 1 NPC steht für non-pejorative correlate, das nach Hom (2008: 3) definiert werden kann als „the expression that picks out the supposed extension of the epithet but without expressing derogation toward members of that extension.“ 2 Für Beleidigungswörter (+PG+NPC) verwende ich im Folgenden die verkürzte Schreibweise BeleidigungswörterPG.
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wahrgenommene Normabweichungen (Fettsack, Arschficker), Rasse (nigger, whitey, redskin), Nationalität (boche, Polacke), Religion (kike, Judenschwein) oder Sonstiges (Arschloch, Idiot, Depp) abstellen.3 Jay & Jay (2015) haben die Struktur der Tabuwortkategorie experimentell untersucht, indem sie ihre Versuchsteilnehmer innerhalb einer Minute so viele Tabuwörter wie möglich nennen ließen. Demzufolge stehen Schimpfwörter (fuck, shit) und Beleidigungswörter–PG–NPC (asshole, motherfucker) im Zentrum der Tabuwortkategorie4, während BeleidigungswörterPG (faggot, dyke) in deren Peripherie zu finden sind. Die Ergebnisse von Jay & Jay (2015) zeigen, dass Sprecher, die nach Tabuwörtern gefragt werden, als Erstes an solche Wörter denken, bei denen es tatsächlich nur um einen Tabubruch und besondere Expressivität geht (fuck, shit). Bei der Verwendung von BeleidigungswörternPG geht es in der Regel um mehr als das, da diese Wörter nicht nur pejorativ und expressiv sind, sondern auch referentiell. Außerdem grenzen sie sich durch einen hohen Beleidigungsgrad ab: „[T]he devastating force of slurs goes beyond the force of other kinds of taboo words“ (Spotorno & Bianchi 2015: 248). Jay (2009) identifiziert Autoritäten mit institutioneller Macht, die bestimmte Wörter verbieten und damit überhaupt erst zu Tabuwörtern machen. Auch Anderson & Lepore (2013b) zufolge kann ein Wort erst dann als Beleidigungswort gelten, wenn es von einem relevanten Individuum bzw. einer bestimmten Autorität als ein solches herausgestellt und damit in gewisser Weise verboten wurde. Beleidigungswörter fassen Anderson & Lepore (2013b) entsprechend als prohibited words. Für sie ist es der Bruch mit dem aufgestellten Verbot, der die Beleidigung provoziert. Sobald das Verbot aufgestellt sei, schwinge es in allen Verwendungssituationen mit und dadurch auch die Beleidigungsdimension, die stets auf den Sprecher zurückgeführt werde, selbst in indirekter Rede und unter der Verwendung von Anführungsstrichen. „[P]rohibition, once put in place, is on every occurrence of the slur; and occurrences cannot be eradicated“ (Anderson & Lepore 2013b: 353). Es stellt sich natürlich die Frage, wer diese Autoritäten sind, die Wörter zu taboo words (Jay 2009) bzw. prohibited words (Anderson & Lepore 2013b) machen. Für Anderson & Lepore (2013b: 351) sind es insbesondere Mitglieder der Target Group, die das Verbot aufstellen; für Jay (2009: 153) sind es vor
|| 3 Ein guter Überblick über die verschiedenen Tabubereiche und zahlreiche Beispiele findet sich in Jay (2009) und Jay & Jay (2015). 4 Schimpfwörter und Beleidigungswörter–PG–NPC wurden von den TN nicht nur am häufigsten genannt; sie erschienen auf ihren Listen auch als die erstgenannten Wörter. „Early generation of the most typical (i.e., central to the category) exemplars is a common finding in tasks in which people are asked to generate examples of category members“ (Jay & Jay 2015: 7).
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allem „courts of law, religious leaders, educators, and mass media managers. Authorities who define taboo speech exercise their power to do so by policing and punishing those who violate prohibitions.“ Jay (2009) setzt dabei bereits im kindlichen Spracherwerb an, indem er auf unsere Erziehung verweist, während der wir lernen, welche Wörter Tabuwörter sind.
3 Ansätze zur Beschreibung der expressiven Bedeutung Die expressive Bedeutung von Beleidigungswörtern ist über die letzten 10 Jahre vielfach beschrieben worden (u.a. Saka 2007; Richard 2008; Whiting 2013; Croom 2014a). Die Autoren unterscheiden sich darin, was sie unter der expressiven Bedeutung verstehen und wie sie die Einstellungen und Motivation der Sprecher beschreiben. Da Sprecher mit expressiven Ausdrücken ihre Einstellungen und Gefühle zum Gesagten zum Ausdruck bringen, wird die expressive Bedeutungsebene in der Regel von der deskriptiven getrennt und mit der Perspektive des Sprechers in Verbindung gebracht (Potts 2007a; Camp 2013). Dabei lässt sich unterscheiden zwischen rein expressiven Ausdrücken (damn) und solchen, die sowohl expressiv als auch deskriptiv sind (Köter). Frege (1892) hatte neben dem Sinn (Intension) und der Bedeutung (Extension) sprachlicher Ausdrücke auf die subjektive Vorstellung verwiesen, die wir mit ihnen verbinden, auf sog. „Färbungen“ (Frege 1892: 31). Mit Bezug auf Ethnophaulismen (honky) spricht Kaplan (1999: 7) hier von „epithetical color“ und Gutzmann (2013: 7) von „expressively coloured expressions“. Während diese Bedeutungsdimension seit Frege (1892) traditionell außerhalb der Logik betrachtet wurde, gibt es in jüngerer Zeit Versuche, die expressive Bedeutung von Beleidigungswörtern in der Wahrheitsanalyse zu berücksichtigen. Da es konventionelle Regeln für ihren Gebrauch gibt, geht man in Anlehnung an die Wahrheitsbedingungen von Gebrauchsbedingungen aus (Recanati 2004; Alston 2006; Gutzmann 2013). Die folgenden beiden Sätze haben demnach dieselben Wahrheitsbedingungen, unterscheiden sich aber in ihren Gebrauchsbedingungen. (1) I met a honky. (2) I met a white person.
(Schlenker 2007: 242)
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Beide Sätze sind wahr unter der Bedingung, dass der Sprecher einer weißen Person begegnet ist, d.h. sie sind wahrheitskonditional gleichwertig. Da honky im Gegensatz zu white person aber expressive Bedeutung hat, können die beiden Ausdrücke nicht ohne weiteres gegeneinander ausgetauscht werden. Kaplan (1999) folgend könnte man sagen, dass für (1) nicht nur die Schlussfolgerung, dass der Sprecher einer weißen Person begegnet ist, logische Gültigkeit hat, sondern auch die Schlussfolgerung, dass er Weißen gegenüber eine abwertende Haltung einnimmt. „‚[H]onky‘ is a derogatory term for a Caucasian. Anyone who claims to be using it in a non-derogatory sense is also making a linguistic error“ (Kaplan 1999: 7). Da Kaplan (1999) in der Wahrheitsanalyse nicht nur auf die deskriptive Korrektheit schaut, sondern auch auf die expressive, bewertet er Fälle wie (1) als true-plus und fasst diesen erweiterten Wahrheitsbegriff als truth with an attitude. Er beobachtet außerdem, dass expressive Bedeutung (oops) zwar in deskriptive überführt werden kann (I just observed a minor mishap), nicht aber umgekehrt. Dies verdeutlicht er an dem Satz (3), der ihm zufolge die Schlussfolgerung (4) zulässt. (3) That damn Kaplan was promoted. (4) I have a derogatory attitude toward Kaplan. Kaplans (1999) Analyse folgend wäre Satz (3) deskriptiv korrekt, wenn Kaplan befördert wurde, und expressiv korrekt, wenn der Sprecher eine abfällige Einstellung ihm gegenüber hat.5 Damit schlägt Kaplan (1999) eine von der Tradition abweichende Semantiktheorie vor, die er als Gebrauchssemantik beschreibt und von einer Bedeutungssemantik abgrenzt. Konventionelle Gebrauchsregeln werden von Kaplan (1999) als semantisch gefasst. In seiner Analyse von damn unterschlägt er dann allerdings, dass damn auch konventionell zum Ausdruck positiver Sprechereinstellungen verwendet wird, vgl. etwa: (5) The concert was damn good. Es sind auch durchaus Kontexte denkbar, in denen Satz (3) nicht-pejorativ verwendet wird, z.B. von einem langjährigen Freund und Studienkollegen Kaplans. In meinem Analysemodell (Abschnitt 5), das sich ebenfalls an linguistischen
|| 5 Neben dem verwendeten Attribut damn trägt in (3) auch das Demonstrativum that zur Pejoration bei, denn: „using demonstratives referring to humans is via their primary pointing function a face-threatening act“ (Averintseva-Klisch 2016: 134).
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Konventionen orientiert, können die Unterschiede solcher Sätze durch eine Auftrennung von Kaplans (1999) expressiver Information in eine pejorative, skalare und expressive Komponente erklärt werden. Außerdem zeige ich durch die Unterscheidung von expressiver und pejorativer Komponente, dass das, was der Sprecher mit seiner Verwendung anzeigt, nicht zwingend eine abfällige Haltung gegenüber dem Hörer sein muss. Sein kommunikatives Ziel muss nicht das der Beleidigung sein; seine Äußerung nicht zwingend eine Anzeige von Nichtachtung. Was angezeigt wird, fasse ich viel allgemeiner, nämlich als gesteigerte Emotionen. Kaplan (1999) erweitert den Wahrheitsbegriff, da er bislang außerhalb der Semantik betrachtete Bedeutungsaspekte in die logisch gültigen Schlussfolgerungen einbezieht (truth-plus). Er plädiert für die Anerkennung der konventionalisierten Bedeutung expressiver Sprache. Gutzmann (2013) geht auf diesen Vorschlag ein, indem er in Anlehnung an Recanati (2004) von gebrauchskonditionaler Bedeutung spricht, die er von der wahrheitskonditionalen abgrenzt. Er erweitert dabei das Forschungsinteresse, indem er nicht nur an expressive Inhalte auf lexikalischer Ebene denkt, sondern allgemein an use-conditional items (UCIs), „ranging from morphological devices over syntactic constructions to intonation patterns“ (Gutzmann 2013: 4). Gutzmann (2013) unterscheidet zwischen eindimensionalen UCIs (ouch), deren Bedeutung ausschließlich gebrauchskonditional ist, und zweidimensionalen bzw. mixed UCIs (kraut), deren Bedeutung sowohl gebrauchs- als auch wahrheitskonditional ist. Ein weiterer Unterschied zwischen expressiven Adjektiven (fucking) und BeleidigungswörternPG ist der, dass erstere ein Argument benötigen, letztere dagegen nicht. Es ist möglich, einen Beleidigungsakt mithilfe eines isolierten BeleidigungswortesPG zu realisieren: (6) Nigger! Ohne Argument entfällt zwar die Möglichkeit einer wahrheitskonditionalen Analyse; die gebrauchskonditionale Dimension von Nigger ist aber für eine vollständige Äußerung ausreichend. Auch die Interjektion ouch kommt ohne Argument aus: „ouch directly expresses the emotion of pain without needing an argument“ (Gutzmann 2013: 27). Die Kriterien der Dimensionalität und Argumentstruktur veranlassen Gutzmann (2013: 30), die Bedeutung der BeleidigungswörterPG wie folgt zu beschreiben: „Kraut, for instance, descriptively predicates German to a nominal argument α while expressing a negative attitude towards Germans in the use-conditional dimension.“
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Auch Saka (2007) integriert die Sprechereinstellung in die semantische Analyse pejorativer Äußerungen. Er schlägt für pejorative Sprache eine von Wahrheitsbedingungen gänzlich unabhängige Semantik vor: attitudinal semantics. Pejorative Sprache soll demzufolge mit jenen Konditionen entschlüsselt werden, unter denen die Bedeutung als wahr gedacht wird. Saka (2007) möchte damit herausstellen, warum viele Sprecher die formallogische Wahrheit einer pejorativen Äußerung nicht geltend machen wollen: „[P]ejorative statements might be true yet unassertable for reasons of prudence, protocol, or common decency“ (Saka 2007: 128). Dabei spielen linguistische Konventionen eine wichtige Rolle, die von Ort zu Ort variieren können. Für die Analyse des Satzes (7) Nietzsche was a kraut. schlägt Saka die Form (ф) vor, bei der die sog. attitude conditions definiert werden: (ф) For any member S of the anglophone community, S thinks “Nietzsche was a kraut” (a) S thinks that Nietzsche was German and (b) S disdains Germans as a class. (Saka 2007: 128)
Die Wahrheit des Satzes macht Saka (2007) von der Einstellung seines Sprechers abhängig: „[A] certain relation must hold between the speaker and the referent, namely the possession of the attitude of contempt“ (Saka 2007: 128). Um den Wahrheitswert des Satzes zu bestimmen, geht er nicht von einer Proposition, sondern von einem attitude-complex aus, welcher (a) den Glauben des Sprechers an Nietzsches Deutschsein und (b) seine kognitiv-affektive Einstellung gegenüber Deutschen beinhaltet: Nietzsche was a kraut is “true-for-S” if S disdains Germans and otherwise neither true for S nor false for S. (Saka 2007: 128)
Richard (2008) schreibt BeleidigungswörternPG (slurs) ebenfalls expressive Bedeutung zu. Wahrheitskonditionale Analysen entsprechender Äußerungen lehnt er ab, da deren expressive Komponente nicht mit wahr oder falsch bewertet werden könne. Er verweist darüber hinaus auf die Möglichkeit, diese Ausdrücke auch ohne die Anzeige von Verachtung zu verwenden, z.B. durch die Target Group selbst oder durch Komödianten, die damit die zugrundeliegenden Einstellungen kritisieren. Unser konzeptuelles Wissen ist laut Richard (2008) zu einem gewissen Grad von uns selbst konstruiert, von unseren Bewertungen und Gefühlen durchfärbt. Ob die evaluative Einstellung des Rassisten Teil des ausgedrückten
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Konzeptes ist, werde im Kontext des Beobachters bestimmt. Es seien unsere Interessen und sozialen Beziehungen, die unsere Vorstellungen von den Überzeugungen und Konzepten anderer lenkten. Richard (2008) widerspricht damit der Vorstellung, die Anwendung eines Konzeptes setze stets dieselbe bewertende Einstellung voraus. Auch Potts’ (2007a: 173) Ansatz legt die Sprecher nicht auf eine bestimmte Negativeinstellung gegenüber der mit einem Beleidigungswort bezeichneten Person fest. Ihm zufolge indizieren expressive Ausdrücke gesteigerte Emotionen ihrer Sprecher und können folglich als indexikalisch und somit kontextabhängig eingestuft werden. Für Potts (2007b) können expressive Ausdrücke in Abhängigkeit vom Sprecher unterschiedliche Inhalte vermitteln. Insbesondere BeleidigungswörterPG (racial epithets) führten je nach Sprecher zu unterschiedlichen expressiven Settings, die den jeweiligen Interpretationsrahmen für die Äußerung stellten. Dass dieser Ansatz viel näher an der Realität der Sprachgemeinschaft orientiert ist, zeigt sich spätestens bei der Betrachtung empirischer Daten, die im folgenden Abschnitt analysiert werden.
4 Verwendungsweisen der Beleidigungswörter Eine Betrachtung und Analyse authentischer Verwendungsweisen und -kontexte kann uns wertvolle Einblicke in die expressive Bedeutung von Beleidigungswörtern gewähren. In der Forschung wird dies häufig unterschätzt, und es finden sich nur wenige Studien, die empirische Gesprächsdaten analysieren. Dies führt zu fehlerhaften Annahmen in der Literatur, wie z.B. der, dass BeleidigungswörterPG hauptsächlich in feindlichen Kontexten verwendet würden und zum Zwecke der Beleidigung und Herabsetzung einer Person(engruppe). Bartlett et al. (2014) haben in ihrer Studie die Verwendungsweisen einer bestimmten Unterkategorie der BeleidigungswörterPG untersucht, nämlich Ethnophaulismen6, die über Twitter öffentlich gemacht wurden. Über neun Tage hinweg sammelten sie insgesamt 126.975 Tweets und stellten bzgl. der Häufigkeit der Verwendung von Ethnophaulismen fest: „there are approximately 10,000 uses per day of racist and ethnic slur terms in English (about 1 in every 15,000 tweets)“
|| 6 Für die Herausfilterung der Ethnophaulismen orientierten sich Bartlett et al. (2014) an einer Liste auf Wikipedia (http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_ethnic_slurs). Andere BeleidigungswörterPG schlossen die Forscher aufgrund von Zeitmangel explizit aus: „We have made the decision to focus this work on ‚racial, religious, and ethnic slurs‘, and excluded homophobic, misogynist or other types of identity based slurs“ (Bartlett et al. 2014: 4).
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(Bartlett et al. 2014: 6). Dabei zeigt sich, dass die BeleidigungswörterPG sehr unterschiedlich verwendet werden, und zwar sowohl pejorativ als auch nicht-pejorativ. Insgesamt konnten mit ihrer Untersuchung sechs verschiedene Verwendungsweisen der Ethnophaulismen auf Twitter identifiziert werden (Bartlett et al. 2014: 24–25)7: (1) Übermittlung negativer stereotypisierender Einstellungen, (2) beiläufige Verwendungen (unbewusst beleidigend / casual uses), (3) gezielte Beleidigung, (4) Appropriation8, (5) nicht-pejorative Verwendung, (6) ideologisch basierte Androhung von Gewalt. Interessanterweise macht die nicht-pejorative Verwendung den mit Abstand größten Anteil9 aus: „Slurs are most commonly used in a non-offensive, non-abusive manner: to express in-group solidarity or non-derogatory description“ (Bartlett et al. 2014: 7). In Zahlen: „[O]f the 10,000 tweets employing racial/ethnic slurs every day, 7,000 are employing them in a non-derogatory fashion“ (Bartlett et al. 2014: 48). Relativ wenige Tweets – 500 bis 2.000 pro Tag – konnten der adressierten Beleidigung zugeordnet werden, „a prevalence of directed racially or ethnically prejudicial tweets of about 1 in 75,000 tweets in the English language“ (Bartlett et al. 2014: 49). Diesen Ergebnissen folgend gilt es also zwei Annahmen als falsch zurückzuweisen: 1. dass BeleidigungswörterPG hauptsächlich pejorativ verwendet werden und 2. dass ihre pejorative Verwendung hauptsächlich in der direkten Adressierung einzelner Target Group-Mitglieder im Sinne eines Beleidigungsaktes besteht.10 In Technau (2018a: 267) schlage ich folgende Unterteilung der Verwendungsweisen vor:
|| 7 Nicht in ihre Analysen mit einbezogen wurden Tweets, für deren Kategorisierung weitere Informationen wie beispielsweise vorangegangene Konversationen und PG-Zugehörigkeit des Senders und Empfängers nötig gewesen wären, sowie Tweets, in denen die BeleidigungswörterPG metasprachlich reflektiert wurden. 8 „[A]ppropriation is the practice of reclaiming from racists, homophobes and misogynists powerful tools of discrimination by subverting their meaning. Community uses do not erase hateful and contemptuous meanings, but keep evoking them in contexts where the speakers’ dissociation from derogatory contents is manifest“ (Bianchi 2014: 43). 9 Die computergestützte Analyse schätzte den Anteil auf 70%, die Auswertung durch die Forscher selbst kam auf 47,5% und nach Hinzunahme der Kategorie 2, casual uses, auf über 50%. 10 „[T]third-person uses of slurs are orders of magnitude more frequent than their uses in direct address“ (Nunberg, im Erscheinen: 20).
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Tab. 2: Verwendungsweisen der Beleidigungswörter
Verwendungsweisen expressiv
neutral
pejorativ
nicht-pejorativ
Hate Speech Beleidigung Mobbing
Appropriation
metasprachliche Betrachtung Sprachplanung Sprachempfehlung
Humoristische Verwendungen: Scherzkommunikation / Banter Comedy
So wie Brontsema (2004), Hayn (2010), Croom (2013) und Anderson & Lepore (2013a) hält auch Saka (2007) nicht-pejorative Verwendungsweisen nur unter Mitgliedern der bezeichneten PG für möglich. Für das Wort nigger stellt Saka (2007: 145) zwei Soziolekte auf, die er anhand der Hautfarbe ihrer Sprecher trennt. (A) For black speakers of English S, S thinks “X is a nigger” (a) S thinks that X is black and (b) S feels camaraderie toward X. (B) For non-black speakers of English S, S thinks “X is a nigger” (a) S thinks that X is black and (b) S disdains blacks as a class. Target Group-Mitgliedschaften sind allerdings keine verlässliche Interpretationsstütze für nicht-pejorative Verwendungsweisen. Da nicht-pejorative Verwendungsweisen in der Regel darauf abzielen, die zugrundeliegenden (rassistischen/homophoben/sexistischen/etc.) Einstellungen auf den Kopf zu stellen und damit zu kritisieren, verweisen sie letztlich auf die entgegengesetzte (nicht-rassistische/nicht-homophobe/nicht-sexistische/etc.) Einstellung des Sprechers. Attitudes and modes of use, however, cannot be properly drawn from the sexuality, skin color, nationality, or religion of the speaker. There are members of target groups who are indeed prejudiced against their own group themselves, and there are members who are
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strictly opposed to any kind of use of slur terms,11 be it a pejorative or a non-pejorative use. Aside from that, we find non-target group members who successfully use these terms nonpejoratively among their friends. (Technau 2017: 111)
Selbstverständlich erleichtert eine Target Group-Mitgliedschaft des Sprechers die nicht-pejorative Lesart, denn „the more features that the interlocutors share in common, […] the less likely it would be that derogation would occur between them“ (Croom 2013: 193). Das Phänomen kann aber präziser beschrieben werden, wenn wir allgemein auf solche Sprecher verweisen, die in bestimmten Kontexten BeleidigungswörterPG nicht-pejorativ verwenden können, weil ihre Einstellungen unter den Gesprächspartnern ausreichend bekannt sind. Die richtige Interpretation hängt dann von einer soliden Beziehung zwischen den Gesprächspartnern ab, nicht von einer gemeinsamen Target Group-Mitgliedschaft. Außerdem ist zu beachten, dass die einzelnen BeleidigungswörterPG auch ganz unterschiedlich verwendet werden12 und folglich einer individuellen Betrachtung und Analyse bedürfen. Nicht nur beziehen sie sich auf verschiedene Personengruppen mit unterschiedlichem sozialen Status in der Gesellschaft13; sie unterscheiden sich auch in ihren Beleidigungsgraden voneinander,14 und zwar sowohl in Bezug auf unterschiedliche PG (Zigeuner < Arschficker), als auch koreferentiell (Neger < Nigger). Diejenigen Sprecher, die nigger, faggot, Schwuchtel oder Schlitzi nicht-pejorativ verwenden (Beispiele in Technau 2018a), wissen als kompetente Sprecher der Sprachgemeinschaft, dass diese Wörter pejorativ und unterschiedlich stark beleidigend sind, und sie benötigen diese Information zur Erreichung ihrer kommunikativen Ziele (Jeshion 2013a: 253). Der nicht-pejorative Gebrauch baut auf || 11 „There is an ongoing movement within the African American community to ban the use of nigga. But despite efforts to erase the term from the active lexicon of African Americans, it continues to find considerable acceptance and use as a term of self-reference among African Americans“ (Rahman 2012: 2). 12 „[D]ifferent slurs tend to be used in quite different ways. For example, over half the cases of ‚nigga‘ were used in a non-derogatory way. The terms ‚paki‘, ‚spic‘ and ‚coon‘ were less likely to be used in a non-derogatory way, and more likely suggestive of stereotyping“ (Bartlett et al. 2014: 32). 13 Den Einfluss des sozialen Status auf den Beleidigungsgrad der BeleidigungswörterPG haben Henry et al. (2014) empirisch nachgewiesen. Sie sprechen von einem offensiveness gap, das sich zwischen BeleidigungswörternPG für unterschiedliche Personengruppen ergibt. Auch Hom (2008) beschreibt mit seinem Combinatorial Externalism-Ansatz die BeleidigungswörterPG individuell, und zwar über Stereotype und die jeweilige Diskriminierungspraxis, die die bezeichnete PG in ihrer Gesellschaft erfährt. 14 „[S]peakers have a pretty good understanding of the lexical, negative ordering of slurs (e.g. ‚nigger‘ is worse than ‚chink‘ is worse than ‚limey‘, etc.)“ (Hom 2010: 175).
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die pejorative Bedeutungskomponente und gibt die Äußerung einer tatsächlich rassistisch bzw. homophob eingestellten Person echohaft wieder (Technau 2013; Bianchi 2014).15 Im folgenden Gesprächsausschnitt findet sich ein Beispiel für das echohafte Aufgreifen homophober Einstellungen, und zwar durch eine heterosexuelle Person in Bezug auf ihren homosexuellen Freund, in Anwesenheit gemeinsamer Freunde. Die aufgezeichneten Sprecher sind zum Zeitpunkt der Aufnahme (10.11.2010) Ende 20 und seit ca. 15 Jahren miteinander befreundet. Sie schauen auf eine entsprechend lange Konversationsgeschichte zurück, in der sich Ingroup-Rituale herausgebildet und in informellen Kontexten ein Stil mit jugendsprachlichen Elementen16 (Hyperbolik, Ironie, lexikalische Tabubrüche, Neubildungen, Fiktionalisierungen) etabliert hat, der der Unterhaltung und Freundschaftskonsolidierung dient. Die Beobachtung einer freieren und variableren Gestaltung der Redebeiträge in der privaten Kommunikation steht den festgelegten Abläufen von Gesprächstypen wie dem Bewerbungsgespräch (Schwarz-Friesel 2007: 246) oder dem Polizeiverhör (Technau 2018a: 72) gegenüber. Im vorliegenden Beispiel befinden sich Freunde in einem lockeren Gespräch über ihre geteilte Aversion gegen Schnittwunden durch Papier bzw. IKEA-Kartons (1–19). Als Bernd in diesem Zusammenhang auf seine Phobie vor Nadeln beim Blutspenden eingeht (20–26), nimmt Torsten dies zum Anlass, auf die in Deutschland kontrovers diskutierte Frage anzuspielen, ob Homosexuelle überhaupt Blut spenden dürfen. Er übernimmt dabei scheinbar die Perspektive der Gegner, indem er seinen homosexuellen Freund damit bezichtigt, sein „UNreines TUNtenblut“ (27) zu spenden.
|| 15 Nicht-pejorative Verwendungsweisen sind dabei mit hohem Aufwand auf Sprecher- und Hörerseite verbunden. McKinnon & Prieto (2014) zeigen z.B. mit ihren Experimenten, dass die richtige Interpretation von mock impoliteness stärker vom gestischen Input des Sprechers abhängt, und Andreeva & Bonacchi (2015) zeigen, dass es bei der Produktion von mock impoliteness um ein ganzes Merkmalsbündel geht, „bei dem Tonakzent, Grundfrequenz, Intensität, Dauer, Stimmqualität (aber auch nichtverbale Vokalisierungen: Lächeln/Lacher) die wichtigsten Komponenten sind“ (Andreeva & Bonacchi 2015: 16). 16 Generell ist ein hoher Grad an gemeinsamem Wissen der Entstehung von Innovationen und ihrer gruppeninternen Verbreitung förderlich. In der Forschung gilt die sog. Jugendsprache daher als besonders aktiv in der Produktion und Aufnahme von Neuerungen (Keller & Kirschbaum 2003: 142, Fritz 2006: 47–56, Neuland 2008: 75–88). Als Gründe dafür, ein Wort in bisher ungebräuchlicher Weise zu verwenden, können viele in Frage kommen. Die Sprecher wollen sich z.B. „originell ausdrücken und dadurch auffallen, oder aber man ist emotional so stark beteiligt, dass man sich expressiver ausdrückt“ (Nübling et al. 2006: 115–116).
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Transkript: Tuntenblut [Informelles Beisammensein in einer Privatwohnung, Mainz, 10.11.2010 Sprecher: Bernd (29), Niko (29), Dennis (28), Torsten (29), Steffi (27)] 1 Bernd: was MICH total, obwohls=überHAUPT=nicht=weh=tut 2 aber da könnt ich an die DEKke gehen, is sich an ner 3 BUCHseite zu schneiden. 4 Niko: ja 5 Dennis: [oaa(h)h] 6 alle: [hahaha] 7 Niko: ganz schlimm. 8 Bernd: da könnt ich WEGrennen, da krieg ich uah 9 Torsten: [hehe] 10 Dennis: (?war des nich auch ?) 11 Torsten: [paper cut.] 12 Steffi: [na gut des=echt mIES] 13 Bernd: des is NULL schlimm, des tut NULL weh, aber des 14 is Ekelhaft hoch zehn. 15 Torsten: ja, ikea-pakete=auch=immer=gern=genommen=um=sich=dran 16 =zu=schneiden=man=zieht=die=so=ausm=regal 17 [und=rutscht=aus] und schneidet sich an dieser SCHEIßkante17. 18 Ekelhaft! 19 Niko: [ja, stimmt.] 20 Bernd: oder JEdes mal beim blut spenden. ich muss mich JEdesmal so 21 überwinden [und finds JEdesmal-] 22 Torsten: [ja, es sei denn du bist so’n GEIler penner der-] 23 Steffi: [pickst des?] 24 Bernd: „PIckst des?“ da si- ich ne viertel stunde an dieser FEtten nadel 25 hänge, ja. da krieg ich auch, ich krieg JEdesmal schwitzige hände 26 (un so). 27 Torsten: spendest auch noch dein UNreines TUNtenblut. 28 alle HAHAHA 29 Torsten: [mit dem man e(h)eh nichts anfangen kann.] 30 Bernd HOHOHOHOHO 31 Torsten: dein entARTetes blut ((gerolltes r)) 32 Bernd: [HAHAHA](3.0)
|| 17 Der skatologische Wortschatz Scheiß(e), Mist, Arsch etc. nimmt im Deutschen einen höheren Stellenwert ein als in anderen Sprachen (Gauger 2012); er ist weiterhin äußerst produktiv und längst in die expressive Wortbildung eingedrungen (Nübling & Vogel 2004).
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33 34 35 36 37 38 39 40
Torsten: Niko: Torsten: Bernd: Niko alle: Torsten: alle:
des kippen die grad WEG wenn du da raus bist [hahaha, (des kommt in schrank)] ja(h)a, gena(h)u: gluck gluck gluck, hehehe [HAHAHAHA] schwule ni(h)ch HAHAHA so’n eimer: „schwul“ HAHAHAHA
Das ad hoc gebildete Nominalkompositum (27) weist als Erstglied ein BeleidigungswortPG für männliche Homosexuelle18 auf, Tunte, das mit der Kopfkonstituente Blut verbunden wird. Die dadurch ausgelöste Implikation, dass sich das Blut Homosexueller von dem Blut nicht-homosexueller Personen unterscheidet, wird durch das Attribut unrein verstärkt, das die Qualität des Bluts negativ bewertet. Dass es sich dabei nicht um Torstens eigene Meinung handelt, macht er u.a. durch die Wortwahl, insbesondere das BeleidigungswortPG, deutlich, dessen Verwendung mit seiner unter den Freunden wohl bekannten nicht-homophoben Einstellung kontrastiert. Torsten zielt hier u.a. auf Unterhaltungseffekte ab und hat damit Erfolg: Seine Freunde lachen über den Gesprächsbeitrag (28). Dass Torsten seine Äußerungen in einer scherzhaften Gesprächsmodalität verstanden wissen will (sie lässt sich als Banter-Beitrag19 klassifizieren), macht er außerdem durch einen integrierten Lachlaut deutlich, als er ironisch fortführt, dass man mit
|| 18 Die referentielle Bedeutung (NPC) von Tunte habe ich 2013 mithilfe einer Fragebogenuntersuchung unter Linguistik-Studenten an der Universität Mainz empirisch untersucht. Für das Item gaben die TN (N=110) u.a. an „Homosexueller“ (32,7%), „Transvestit“ bzw. „Mann in Frauenkleidern“ (17,8%), „transsexuelle Person“ (10,9%), „weiblich agierender homosexueller Mann“ bzw. „weiblich aussehender homosexueller Mann“ (6,9%), „homosexueller Mann“ (6,9%), „Schwuchtel“ (2,0%), „weiblich agierende Person“ (2,0%), „verweichlichter homosexueller Mann“ (1,0%), „femininere Jungen“ (1,0%), „Transgender“ (1,0%) sowie „sich affektiert als Frau ausgebender Mann“ (1,0%). Das entspricht in etwa dem zweiten Eintrag zu Tunte im Großen Schimpfwörterbuch, der sich auf „einen feminin wirkenden Homosexuellen oder einen in Frauenkleidern“ (Pfeiffer 1999: 438) bezieht. Der dritte Eintrag, der auf „eine zimperliche, verwöhnte Person“ abstellt, lässt sich in meiner Untersuchung genauso wenig nachweisen wie der erste, der sich auf unangenehme und langweilige Frauen bezieht. 19 „Banter is a social phenomenon most prominently accomplished through mock impoliteness. It is a common human means to entertain as well as to establish, confirm, and strengthen friendly relations“ (Technau 2017: 99).
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dem Blut von Homosexuellen „e(h)eh nichts anfangen kann” (29).20 Das deutlichste Distanzierungsverfahren, das Torsten für die echohafte Markierung seines Beitrags nutzt, findet sich schließlich in seiner Imitation der Sprechweise Adolf Hitlers, die er mithilfe eines übertrieben artikulierten alveolaren Vibrants (gerolltes Zungen-r) realisiert (31). Die nationalsozialistische Assoziation macht Torsten außerdem mit dem Adjektiv entartet deutlich, mit dem die Nazis im Dritten Reich moderne Kunst diffamierten und das hier von Torsten erneut auf Bernds Blut bezogen wird. Durch diesen absurden Bezug zieht Torsten die Einstellung derjenigen ins Lächerliche, die das Blut Homosexueller für die Spende für ungeeignet halten, und zeigt damit indirekt, dass er selbst gegen die Diskriminierung Homosexueller (beim Blutspenden) ist. Torsten (Banter-Subjekt) spinnt außerdem die Fiktion, dass Bernds Blut entsorgt wird, sobald er die Blutbank verlässt (33). Seine Unterhaltungsabsichten scheinen dabei wieder erfolgreich: Bernd (BanterObjekt) lacht und Niko (Banter-Publikum) spinnt die Fiktion weiter, indem er einen Abstellschrank für das Blut der Homosexuellen imaginiert (34).21 Torsten stellt sich dagegen einen Eimer mit der Aufschrift „schwul“ vor (39), in den das Blut gekippt wird (35). Die Tatsache, dass hier alle lachen (40), ist zwar ein Indiz für das Goutieren der scherzhaften Absichten durch die Gesprächsteilnehmer, allerdings kein Beweis dafür: Bei dem Lachen könnte es sich auch bloß um gesichtsschonende Maßnahmen handeln.22 Auch die auffällig lange Pause (32) nach Torstens gewagtesten Beitrag (31) könnte darauf hinweisen, dass den Freunden die Provokation eigentlich zu weit geht. Hier gilt es allerdings im Sinne des facework (Goffman 1955) sowohl das Gesicht des Sprechers als auch das des Adressaten zu schützen, häufig auch über die Grenzen der persönlichen Empfindlichkeiten der einzelnen Gesprächsteilnehmer hinaus.
|| 20 Der Sprecher lädt durch sein Lachen die Rezipienten zum Mitlachen ein und die Rezipienten bestätigen durch ihr Lachen ihre Akzeptanz des Wechsels der Interaktionsmodalität. „In the course of such negotiations, both teller and recipient use laughter to establish and display the meaning of their interaction“ (Mulkay 1988: 117). 21 „Der Erfolg eines solchen Unternehmens [Banter-Beitrag] hängt nicht allein vom Sprecher ab, sondern insbesondere von den Hörern, und zwar von allen Hörern, nicht nur den direkt angesprochenen“ (Technau 2018a: 326). „The banter target(s) (and/or the banter audience) must approve of the positive intentions behind the banter activity, through laughter for instance, because otherwise contrary effects might be triggered and the relationship jeopardized. Thus, the target (and/or the audience) finalizes the banter activity and determines its success“ (Technau 2017: 102). 22 Im Laufe unserer kognitiven und kommunikativen Entwicklung bilden wir die Fähigkeit heraus, Lachen nicht nur als direkten Ausdruck der Erheiterung zu produzieren, sondern auch aus sozialen Gründen, inkl. der Fähigkeit, Lachen zu übertreiben, zu verstecken und vorzutäuschen (Glenn 2003: 17).
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Dass der heterosexuelle Torsten ein BeleidigungswortPG für Homosexuelle auf seinen homosexuellen Freund Bernd beziehen kann, ohne dabei die Abneigung des Sprechers gegenüber dem Adressaten und/oder dessen PG anzuzeigen, hängt mit der engen freundschaftlichen Beziehung der beiden zusammen, die über die Wortwahl expressiv zum Ausdruck kommt, denn: „through violating the niveau of politeness it is indexed that a relationship has such a firm foundation that it is no longer dependent on politeness or courtesy“ (Kotthoff 1996: 306). Eine Banter-Aktivität geht häufig mit der Intention des Sprechers einher, Kritik zu äußern und diese Kritik mithilfe einer spielerischen oder humoristischen Modalität abzumildern (Kotthoff 1996: 299). Neben Kritikäußerung kann es dabei auch um die Herausstellung und Erhöhung der eigenen Macht gehen. Den Machtaspekt hält Nübling (2014: 106) für die Verwendung von Spott- und Kosenamen wie folgt fest: „Demjenigen, der sie vergibt, verleihen sie Macht: Eine Person ermächtigt sich, eine andere onymisch wert- oder geringzuschätzen […]. Die namengebende bzw. -verwendende Person etabliert diese durch sie definierte Relation, kontrolliert und aktiviert sie.“ Wenn solche Benennungen auf bestimmte Personengruppen Bezug nehmen, können die Sprecher damit andere diskriminieren, „und zwar dadurch, dass sie die Benannten sprachlich anders herstellen, als sie es sich wünschen bzw. sie sich durch die Wortwahl ignoriert, ausgeschlossen oder herausgehoben und negativ bewertet fühlen“ (Hornscheidt & NdukaAgwu 2011: 30). Croom (2013: 194) unterscheidet zwischen „(a) the paradigmatic derogatory use of slurs“ und „(b) the non-paradigmatic derogatory use of slurs“ (white nigger). Zu den nicht-pejorativen Verwendungsweisen (c) zählt er lediglich die Verwendung innerhalb der Target Group. Jeshion (2013a) unterscheidet in ihrem Ansatz zwischen weapon uses und non-weapon uses sowie zwischen G-referencing uses, G-extending uses und G-contracting uses. Bei der Unterscheidung zwischen G-referencing und G-extending uses geht es darum, dass BeleidigungswörterPG nicht immer auf die entsprechende PG angewendet werden (G-referencing), sondern mitunter auch auf Personen außerhalb dieser Gruppe (G-extending). „For example, a racist who knows that his taxi driver is Arabic and not African-American uses ‚Nigger‘ in a way that is G-extending in asserting (8) I don’t tip Niggers. This use is not G-referencing because the speaker knowingly and intentionally applies ‚Nigger‘ in a fashion contrary to the conventional use governed by the norm to apply it exclusively to African-Americans“ (Jeshion 2013a: 238). In solchen Fällen stellen die Sprecher typischerweise eine Verbindung zu Stereotypen
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der bezeichneten PG her, zu stereotypen Eigenschaften, die sie in der mit dem BeleidigungswortPG bezeichneten Person, die nicht der PG angehört, zu finden glauben. Dies scheint mit einigen BeleidigungswörternPG einfacher zu gehen als mit anderen (Schwuchtel vs. Schlitzi), möglicherweise weil die entsprechenden Stereotype ausgeprägter und/oder innerhalb der Sprachgemeinschaft bekannter sind.23 Jeshion (2013a: 238) spricht außerdem von G-contracting uses, bei denen innerhalb der PG nur eine Untergruppe bezeichnet werden soll, so z.B., wenn Chris Rock sagt: (9) I love black people but I hate Niggers. Jeshions G-referencing uses behandele ich in meinem Ansatz als die ursprüngliche Konvention und G-extending und G-contracting uses als Abweichungen von dieser Konvention bzw. als Verwendungen, die diese ursprüngliche Konvention ausbeuten. G-extending uses scheinen mitunter derartig häufig vorzukommen, dass auch sie in der Sprachgemeinschaft weitläufig bekannt sein dürften und als konventionell gelten können, so z.B. die nicht-referentielle Verwendung von Nazi, Spast(i) und Mädchen (siehe Technau 2018a: 270–277), die ich ebenfalls als expressiv fasse. Wenn BeleidigungswörterPG im Rahmen von Hate Speech verwendet werden, dann geht es um die Abwertung von Personen auf Basis ihrer PG-Zugehörigkeit, um den Ausdruck von Hass gegenüber Personengruppen. Sprecher, die eine bestimmte PG mit einem BeleidigungswortPG verunglimpfen, haben gemein, dass sie gegenüber der PG negative Emotionen ausdrücken. Ihre Vorurteile werden von diesen negativen Emotionen viel stärker geprägt als durch den bloßen Glauben an bestimmte Stereotype (Smith & Mackie 2010). Hate Speech-Kontexte zeichnen sich in meiner Unterscheidung verschiedener Verwendungsweisen u.a. dadurch aus, dass die BeleidigungswörterPG darin auf Personen bezogen werden, die der Target Group angehören.24 Die Verwendung ist außerdem immer pejorativ. Die negativen Emotionen des Sprechers beziehen sich nicht nur auf ein Individuum, sondern auf dessen gesamte PG (Delgado & Stefancic 2004: 11). Sein Hass ist gruppenbasiert; es handelt sich um intergroup emotions (Smith & Mackie 2010), die über die expressive Bedeutungskomponente indiziert werden. Die Konvention des Rassisten, der mit dem Wort Nigger pejorativ auf einen Afroamerikaner referiert, muss allen anderen Konventionen vorangestellt werden. Dies unterscheidet meinen Ansatz von Croom (2011), der die verschiedenen Konventionen
|| 23 Zu den mit Schwuchtel und faggot assoziierten Stereotypen siehe Technau (2018a: 205–207). 24 Dies haben sie mit Appropriation-Kontexten gemein.
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auf gleicher Ebene diskutiert. Die Verwendung von Nigger in Bezug auf einen Weißen vergleicht er im Sinne der Prototypensemantik mit der Verwendung des Wortes Hund in Bezug auf einen dreibeinigen Hund (Croom 2011: 356). Sprecher drückten mit BeleidigungswörternPG nicht ihre negative Einstellung gegenüber einer PG aus, sondern gegenüber der mit dieser PG assoziierten Eigenschaften. Dies trifft zwar auf viele Verwendungsweisen zu, ändert aber nichts an der ursprünglichen Konvention der Rassisten, für die die PG-Zugehörigkeit für die Abwertung völlig ausreichend ist. Sprecher müssen nicht über die aus Asim (2007: 27) zitierten stereotypen Eigenschaften von Afroamerikanern („emotionally shallow, simple-minded, sexually licentious, and prone to laziness“ (Croom 2011: 354)) informiert sein, um kompetent mit dem BeleidigungswortPG Nigger umgehen zu können, wohl aber über dessen referentielle Bedeutungskomponente. Die Eigenschaft der PG-Zugehörigkeit hat bei Nigger, anders als die Eigenschaft der Vierbeinigkeit bei Hund, wahrheitskonditionale Bedeutung. Wird von dieser referentiellen Bedeutungskomponente konversationell abgewichen, muss der Hörer pragmatisch herleiten, warum der Sprecher das BeleidigungswortPG nicht-referentiell verwendet hat. Das Ergebnis seines Schlussprozesses könnte je nach Kontext25 z.B. sein, dass der Sprecher mit dieser Verwendung (negative) stereotype Eigenschaften des Bezeichneten herausstellen will, dass er ihn schlichtweg beleidigen will, dass er dem Code der jeweiligen Sprachgemeinschaft entsprechen will oder dass er einen Scherz machen will. Croom (2011) stellt die Konvention des Rassisten auf eine Ebene mit allen anderen Konventionen, die von ihr abweichen. Die Beweggründe dafür lassen sich angesichts der Häufigkeit von nichtreferentiellen und nicht-pejorativen Verwendungsweisen zwar nachvollziehen; häufige Abweichungen von der rassistischen Konvention dürfen uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass BeleidigungswörterPG auf bestimmte Personengruppen referieren. Crooms Ansatz ist an die Prototypensemantik angelehnt, die von unterschiedlichen Graden der Typikalität von Vertretern einer Kategorie ausgeht (Bußmann 2008: 560), so dass etwa der Spatz mit seiner Flugfähigkeit ein typischerer Vertreter der Kategorie ‚Vogel‘ ist als der Pinguin. Aber kann dies analog auf BeleidigungswörterPG und die der bezeichneten PG zugeschriebenen ste-
|| 25 Das richtige Erkennen eines Kontextes ist eine erstaunliche Leistung des Menschen. Er muss dafür aus einer riesigen Wissensmenge das gerade Relevante herausfiltern und auf die jeweilige Äußerungssituation beziehen. Zum kontextrelevanten Wissen zählt Meibauer (2008: 9) die „emotionale Information, d.h. Wissen über Emotionen wie Angst und Liebe“. BeleidigungswörterPG können über ihre expressive Komponente auf eine solche Information verweisen und den Interpretationskontext verändern.
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reotypen Eigenschaften angewendet werden? Ist ein sexuell zügelloser und fauler Afro-Amerikaner ein typischerer Vertreter eines nigger? Wenn ja, müssten wir davon ausgehen, dass die Wörter nigger und African American eine unterschiedliche Referenz haben (was Croom nicht tut) und zu Homs (2008) Ergebnis kommen, dass BeleidigungswörterPG im Unterschied zu ihren NPCs Null-Extensionalität aufweisen. Wenn ein Sprecher rassistisch eingestellt ist, dann liegen für ihn negative (stereotype) Eigenschaften unabhängig vom gewählten Wort vor; er unterscheidet innerhalb der PG nicht zwischen African Americans, die diese Eigenschaften nicht haben, und niggers, die diese Eigenschaften haben. Er wird aber, ebenso wie ein nicht-rassistischer Sprecher, keinerlei Schwierigkeiten damit haben, die Extension eines BeleidigungswortesPG anzugeben, seine referentielle Bedeutungskomponente. Croom (2011) zeigt zwar, wie die assoziierten negativen Eigenschaften auf Personen außerhalb der bezeichneten PG angewendet werden, liefert aber keine überzeugende Erklärung für die nicht-pejorativen Verwendungsweisen. Diese geht er einfach mit einer Reduktion der Liste von (negativen) Eigenschaften an und begründet die Wortwahl des Sprechers gar mit Effizienz und Sprachökonomie: [I]f interlocutors know each other well-enough or have established enough common ground to understand that the speaker does not dislike the target and does not intend to communicate that the target possesses most of the other (typically negative) properties belonging to N [family resemblance category], an in-group speaker might strategically choose to employ N as the category that most efficiently and economically predicates the intended (shared) properties of their target such as e.g. (P1) African American, (P4) commonly the recipient of poor treatment, and possibly others, at least to an extent that N is better for this than other categories available in the speaker’s lexicon. (Croom 2011: 357)
Nicht-pejorative Verwendungsweisen betrachte ich nicht als effizient, sondern als emotional motiviert. Sie bauen auf die pejorative Bedeutungsebene bzw. rassistische Konvention, brechen mit ihr und erreichen so ihre kommunikativen Ziele. Alle vermeintlichen Eigenschaften, die über die Referenz (P1) hinausreichen und negativ bewertet werden, führt der Rassist auf (P1) zurück. Sie müssen vom Hörer pragmatisch erschlossen werden; die Referenz (P1) und ihre negative Bewertung dagegen sind Teil des Gesagten: xy and despicable because of it (siehe Abschnitt 5). Kaplan (1999) und Gutzmann (2013) folgend ist die Verwendung der Beleidigungswörter expressiv korrekt, wenn der Sprecher eine negative Einstellung gegenüber der bezeichneten Person hat. Damit decken sie allerdings nur die konventionelle pejorative Verwendung ab, nicht aber die konventionelle nicht-pejo-
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rative Verwendung26, deren Frequenz mitunter höher zu sein scheint (Bartlett et al. 2014; Technau 2018b) und die ebenfalls expressiv ist. Aus diesem Grund fasse ich in meinem Ansatz die expressive Korrektheit nicht über eine bestimmte Sprechereinstellung, sondern über eine emotionale Motivation für die Verwendung. Was die unterschiedlichen Verwendungen zwischen Hate Speech und Scherzkommunikation vereint, ist der Ausdruck besonderer Expressivität. Dieser wird über den Tabubruch konventionell erreicht, z.B. um damit humoristische Effekte zu erzielen (Kotthoff 2010; Technau 2013) oder seinen Hass auszudrücken (Meibauer 2013b). Im folgenden Abschnitt stelle ich ein Analysemodell vor, das durch die Auftrennung der pejorativen und expressiven Bedeutung der Tatsache Rechnung trägt, dass auch nicht-pejorative Verwendungsweisen expressiv sind und als solche ebenso konventionalisiert sein können.
5 Das Multikomponentenmodell Um die Bedeutung von Beleidigungswörtern linguistisch zu erfassen, bedarf es eines Analysemodells, das sowohl der Komplexität ihrer Semantik Rechnung trägt als auch ihren vielfältigen Verwendungsweisen zwischen Scherzkommunikation und Hate Speech. Das Multikomponentenmodell (MCM), das ich in Technau (2018a) vorstelle, umfasst insgesamt vier Bedeutungskomponenten, die je nach Art des Beleidigungswortes entweder teilweise oder allesamt in die semantische Analyse fließen: – eine referentielle Komponente, die die Extension des Beleidigungswortes bestimmt, – eine pejorative Komponente, die diese Extension negativ bewertet, – eine expressive Komponente, die auf die Emotionen des Sprechers verweist, und – eine skalare Komponente, die den individuellen Beleidigungsgrad des Wortes erfasst. Neu an dieser Herangehensweise sind vor allem die Trennung von pejorativer und expressiver Bedeutung sowie die Integration einer skalaren Komponente,
|| 26 Da sich die Autoren selbst am Kriterium der Konventionalität orientieren, müssten sie in ihren Ansätzen auch andere Konventionen berücksichtigen, so z.B. Appropriation von nigger und queer (Technau 2018b). „[M]any empirical studies show that the diffusion of appropriated uses of slurs is far more extended […] and cannot be labeled as merely an ‚exception‘ of no particular social or political import“ (Spotorno & Bianchi 2015: 244).
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die sich aus einer Vielzahl von Quellen schöpft und die die Unterschiede zwischen Beleidigungswörtern mit derselben Extension (Neger, Nigger) erklären kann. Die referentielle und die pejorative Bedeutungskomponente sind semantisch relativ einfach zu beschreiben: Erstere bestimmt die Extension und ist die einzige Komponente, die BeleidigungswörterPG mit ihren NPCs gemein haben (Jeshion 2013b; Whiting 2013). Die pejorative Komponente markiert das Wort als abwertend. Nübling et al. (2006: 114) sprechen von einer negativen Bewertung, die sich fest in der denotativen Bedeutung der Wörter festsetzt: „Dies hat nichts mehr mit Konnotationen, die zusätzlichen individuellen Assoziationen entsprechen, zu tun.“ Gemeinsam entsprechen referentielle und pejorative Komponente der Formel xy and despicable because of it (siehe Saka 2007; Richard 2008; Hom 2008 u.a.). Diese Formel hat den Vorteil, dass sie keine konkreten Vorurteile in der semantischen Analyse vorsieht, wohl aber die Abwertung an sich.27 Zwar verweist auch despicable auf eine negative Einstellung gegenüber der PG; der individuelle Sprecher wird in dieser Formel aber ausgeklammert. Wie auch immer die kommunikativen Ziele eines Sprechers, der ein BeleidigungswortPG verwendet, aussehen mögen, sie bauen stets auf das Wissen um dessen referentielle und pejorative Bedeutung. Dass die negative Bewertung der PG dabei nicht notwendigerweise als diejenige des Sprechers herausgestellt und über dessen Einstellung logisch hergeleitet werden kann, ergibt sich allein schon aus der Häufigkeit nicht-pejorativer Verwendungsweisen, die die Häufigkeit pejorativer Verwendungsweisen zu übertreffen scheint (Bartlet et al. 2014; Technau 2018b). Die skalare Bedeutungskomponente ist empirisch nachweisbar (Technau 2018a: 107–136) und ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal der Pejorativa. Ansätze, die die unterschiedlichen Beleidigungsgrade über die individuelle Tabuisierung der Beleidigungswörter erklären (Jay 2009; Anderson & Lepore 2013b), bieten zwar den Vorteil, dass sie auch die Unterschiede zwischen BeleidigungswörternPG für dieselbe PG erklären können,28 decken aber ebenfalls nur einen Teil
|| 27 „Despicable because of it […] is a general, non-specific prejudice. […] Despicable because of it is introduced into the cognitive significance of slur sentences by linguistic meaning. […] Cognitive significance can be understood by only considering language and without grasping any specific denigrating content. […] Once a speaker selects a slur to provide a cognitive fix on a group, more specific intentions to convey negative aspects of the extension are immaterial. The word itself carries prejudice. […] Knowledge of language is irrelevant to knowledge of the specific prejudices a slur sentence utterance conveys“ (Vallée 2014: 82). 28 „[C]o-extensive slurs vary in intensity of contempt“ (Anderson & Lepore 2013a: 25); „distinct derogatives for Jews (jewboy, sheeny, yidl, etc.) can evoke the same stereotype but differ greatly in their force“ (Nunberg, im Erscheinen: 31).
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der Quellen des Beleidigungsgrades ab. Der Beleidigungsgrad speist sich aus einer Vielzahl von Quellen (Jeshion 2013a), die ich in semantische, pragmatische und außersprachliche Quellen unterteile. Semantische Quellen können sich beispielsweise durch die Herkunft eines Wortes ergeben (z.B. Mulatte, das auf das spanische Wort für Maultier zurückgeht), durch systematisch-pejorative Wortbildungsmuster (etwa die Suffixe -ling und -i), durch Metonymien (spaghettis, krauts) sowie Komposita, in denen ein NPC entweder über die Kopfkonstituente (Judenschwein) oder das Erstglied (Scheißtürke) mit einem negativ bewerteten Quellbereich in Verbindung gebracht wird, der dann metaphorisch auf das ganze Wort übertragen wird (vgl. Meibauer 2013a). Zu den pragmatischen Quellen zähle ich auf bestimmte Beleidigungswörter bezogene Verwendungskontexte (sprachliche Diskriminierungspraxis), perlokutionäre Effekte, metalinguistische Abhandlungen, Sprachempfehlungen im Sinne der PC (Technau 2013), Zensur und Rechtsprechung. Außersprachliche Quellen unterscheiden sich von den pragmatischen dadurch, dass sie nicht auf bestimmte Wörter und den Umgang mit diesen bezogen sind, sondern auf bestimmte Personengruppen und den Umgang mit diesen. Außersprachliche Quellen ergeben sich aus bestimmten Ideologien und der außersprachlichen Diskriminierungspraxis, aus Stereotypen und der Medienberichterstattung. Verschiedene BeleidigungswörterPG, die sich auf dieselbe PG beziehen, werden von diesen außersprachlichen Quellen folglich allesamt gleichermaßen beeinflusst. Dass sie dennoch unterschiedliche Beleidigungsgrade haben (können), ist entsprechend auf andere Quellen zurückzuführen, also auf semantische und/oder pragmatische. Bedeutungswandelprozesse können aus neutralen Wörtern Beleidigungswörter machen (Neger, Weib) und dabei die einzelnen Bedeutungskomponenten individuell betreffen (Technau 2018a: 181–208). Nübling et al. (2006: 114) zeigen z.B., dass das heutige BeleidigungswortPG Weib im Ahd. (wīb) und im Mhd. (wȋp) „die übergreifende, neutrale Bezeichnung für ‚Frau‘ schlechthin war.“ Diese alte neutrale Bedeutung ist bis heute im Adjektiv weiblich sowie bei der Tierbezeichnung Weibchen, dem Pendant zu Männchen, erhalten geblieben. Als BeleidigungswortPG hat Weib im Unterschied zum Beleidigungswort-PG-NPC Idiot seine referentielle Bedeutungskomponente beibehalten. Sowohl die damalige neutrale Bezeichnung als auch die heutige pejorative Bezeichnung referieren auf die PG der Frauen.29 Der Bedeutungswandel muss dabei nicht auf den Übergang von der
|| 29 Das Wort Frau ist ein Beispiel für eine meliorative Personenbezeichnung, die durch Pejorisierung zu einer neutralen wurde. Ahd. frouwa und mhd. vrouwe bezeichneten noch eine sozial hoch stehende (adlige) Frau, eine Herrin. Während Nübling et al. (2006: 115) diese Entwicklung
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neutralen Bezeichnung zum Beleidigungswort beschränkt bleiben. Das Wissen der Sprecher bzgl. des Beleidigungsgrades entwickelt sich weiter, indem es von unterschiedlichen Quellen genährt wird. Diese Entwicklung findet bei Neger und Zigeuner derzeit statt, wobei Neger in dieser Entwicklung weiter fortgeschritten ist (Technau 2018a: 126–127). Kümmerling-Meibauer & Meibauer (2015: 21) zeigen, dass Zigeuner und Neger in ihrer Geschichte neutrale und abwertende Verwendungsweisen durchgemacht haben und ihr Status als BeleidigungswörterPG daher bis heute debattiert wird. Es leuchtet ein, dass solche Debatten nicht von allen Sprechern gleichermaßen verfolgt werden, dass es also Sprecher gibt, die die Herausstellung dieser Wörter als BeleidigungswörterPG noch nicht mitbekommen haben.30 Die expressive Bedeutungskomponente verweist schließlich auf die gesteigerten Emotionen des Sprechers im Kontext. Wenn ich von „gesteigerten Emotionen“ spreche, beziehe ich mich auf die intensiven Emotionen, die mit der Verwendung von Tabuwörtern ausgelöst, zum Ausdruck gebracht und verstärkt werden können. Es kann sich dabei um negative oder auch positive Emotionen handeln. Es geht dabei um das, was von Potts (2007a: 173) als „heightened emotional state“ und von Jay & Jay (2015: 7) als „heightened emotional arousal“ gefasst wird. Wenn ein Sprecher nicht weiß, dass BeleidigungswörterPG in allen Kontexten emotional motiviert sind, kann er nicht kompetent mit ihnen umgehen. Eine exakte Bestimmung der in einem bestimmten Verwendungskontext vorliegenden Emotionen scheint geradezu unmöglich, sogar für den emotional involvierten Sprecher selbst. Je nachdem, ob er mit der Verwendung beleidigen, scherzen oder eine Zuneigung kundtun will, handelt es sich um jeweils unterschiedliche Emotionen. Während negative Emotionen ganz bestimmte Reaktionen evozieren, z.B. auf eine unmittelbare Bedrohung, führen positive Emotionen zu ganz unterschiedlichen Reaktionen und laden zu einer Vielzahl möglicher Gedanken und Handlungen ein. Freude, Kreativität und Spieldrang lassen sich bei-
|| im Zusammenhang sozialer und moralischer Degradierung sowie Sexualisierung der Frau sehen, erklären Keller & Kirschbaum (2003: 12) diese Entwicklung mit dem Streben nach Höflichkeit: Eine Frau mit der Bezeichnung für adlige Damen zu adressieren, galt als höflich und führte mit der Zeit dazu, dass diese Bezeichnung zur Normalform wurde. 30 Diese Sprecher unterscheide ich von solchen, die diese Entwicklungen zwar verfolgen, aber dennoch den Standpunkt vertreten, diese Wörter seien immer schon neutral gewesen und blieben es auch. Wenn ein Sprecher weiß, dass ein Wort in seiner Sprachgemeinschaft als BeleidigungswortPG verstanden wird, dann wird dieses Wissen, ob er will oder nicht, in seinem Lexikoneintrag abgespeichert und bei jeder seiner zukünftigen Verwendungen aktiviert. Das Wort kann dann auch für ihn nicht mehr neutral sein.
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spielsweise in der Scherzkommunikation nachweisen, negative Emotionen spielen in Hate Speech-Kontexten eine zentrale Rolle. Gemein ist den unterschiedlichen Verwendungsweisen lediglich, dass sie auf expressiver Ebene gesteigerte Emotionen anzeigen. Um welche Emotionen es sich genau handelt, ist vom Kontext, der jeweiligen Sprachgemeinschaft, den Interaktanten und anderen pragmatischen Komponenten abhängig.31 In die Semantik spielt also nur das Vorliegen von Emotionen, nicht deren Qualität. Dass sich die Beleidigungswörter für den Ausdruck gesteigerter Emotionen eignen, hängt damit zusammen, dass sie Tabuwörter sind und durch ihre Verwendung ein Tabu gebrochen bzw. ein kontextübergreifendes Verbot (Anderson & Lepore 2013b) missachtet wird. Die Entscheidung der Sprecher, den Tabubruch zu begehen, wird durch ihre gesteigerten Emotionen im Kontext begünstigt. Die emotionale Erregung bei der Verwendung expressiver Ausdrücke ist immer im Hier und Jetzt der jeweiligen Äußerungssituation zu verorten (nondisplaceability32). Emotionen werden selten geplant. Sie werden ausgelöst, liegen vor und können durch BeleidigungswörterPG ausgedrückt werden. Zeigt ein Sprecher seine Emotionen auf diese Weise an, erkennen die Hörer aufgrund der Wortwahl das Vorliegen gesteigerter Emotionen und werden von diesen tangiert.33 Diese emotionale Information wirkt sofort und durch die bloße Aussprache der BeleidigungswörterPG (immediacy). Potts (2007a: 180) vergleicht sie deshalb mit performativen Äußerungen, die den intendierten Akt bereits durch das bloße Geäußertwerden realisieren, „the emotive performance“.34 Die skalare Komponente
|| 31 Zu den einschlägigsten Emotionen, die bei der Verwendung von Beleidigungswörtern eine Rolle spielen, siehe Technau (2018a: 252–258). 32 Nondisplaceability ist eines von insgesamt sechs Charakteristika, die Potts (2007a) für expressive Inhalte aufstellt. Daneben nennt er independence (Unabhängigkeit vom deskriptiven Inhalt), perspective dependence, descriptive ineffability, immediacy und repeatability (Wiederholung eines expressiven Elements führt zu emotionaler Steigerung statt Redundanz). 33 Die Hörer nehmen diese expressive Information nicht in gleicher Weise auf wie wahrheitskonditionale Inhalte, die sie rational verarbeiten können. Sie werden durch sie berührt und müssen sich zu ihr verhalten. „Emotions are evoked for both the producer and target of impoliteness“ (Culpeper 2011: 60). Neben Goffmans face-work in sozialer Interaktion könnte diese Besonderheit auch mit der Gefühlstheorie nach Schmitz (2005) begründet werden, die Gefühle als überindividuelle Atmosphären fasst, als einen Raum, von denen alle Anwesenden umhüllt und individuell ergriffen werden. „Gefühle als Atmosphären, die von Richtungen oder Vektoren durchzogen werden, nenne ich Erregungen, mit einem Fremdwort könnte man auch von ‚Emotionen‘ sprechen“ (Schmitz 2005: 57). 34 Sprechakttheoretische Herangehensweisen finden sich u.a. in Celis (2003), Jäger (2007), Graumann & Wintermantel (2007), König & Stathi (2010), Frigerio & Tenchini (2016), sowie Meibauer (2016), der BeleidigungswörterPG als illokutionäre Indikatoren für Beleidigungsakte fasst.
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ermöglicht es den Sprechern, die jeweils vorliegenden Emotionen in ihrer Intensität zu stützen / zu steigern / zum Ausdruck zu bringen – seien es positive oder negative Emotionen. Potts (2007a) weist darauf hin, dass sich expressive Inhalte rein deskriptiv kaum paraphrasieren lassen (descriptive ineffability). Da auf der expressiven Bedeutungsebene Emotionen indexikalisiert werden, ist die Unmöglichkeit einer genauen Paraphrase leicht einzusehen. Emotionen können aufgrund ihrer individuellen Komplexität kaum erschöpfend beschrieben werden (Frijda 2010: 73). Potts (2007a: 178) geht diese Bedeutungsebene deshalb mit expressive indices an, die er wie folgt definiert: An expressive index is a triple 〈a I b〉, where a and b are in the domain of entities and I [–1, 1]. (Potts 2007a: 178)
a und b sind Individuen bzw. nach Potts (2007b) Situationen inkl. Individuen und Eigenschaften, deren Beziehung mit einer expressiven Stufe I angegeben wird. Wenn I dem Intervall [–1, 1] entspricht, dann weist Individuum a keine Gefühle gegenüber b auf. Je weiter die Zahlen in den positiven Bereich gehen, desto positiver ist die expressive Beziehung und umgekehrt. Je kleiner das Intervall, desto intensiver die Gefühle. Expressive indices werden durch expressive Sprache eingeführt und tragen für Potts propositionale Implikationen, so z.B., dass Individuum a negative Gefühle gegenüber Individuum b hat. „[N]ew language can heighten emotions by narrowing the current indices’ intervals or introducing new ones“ (Potts 2007b: 256). Ich begrüße Potts’ Herausstreichung der Emotionen, die in einer semantischen Analyse der BeleidigungswörterPG Beachtung finden müssen. Er versucht diesen wichtigen Bereich mithilfe der expressive indices genauer zu definieren und will damit u.a. zeigen, dass expressive Bedeutung in besonderem Maße variabel ist: „The interval component of an expressive index explicitly allows for this infinite variability“ (Potts 2007a: 179). Insbesondere BeleidigungswörterPG würden allerdings auch zeigen, dass selbst expressive indices die Komplexität expressiver Sprache nicht adäquat abbilden können. [R]acial epithets and curses are incomparable in their expressivity. We can generalize the theory of expressive indices to allow for this: the real intervals can be multidimensional, or we can, […] put entirely new objects in their place when giving certain meanings. As the model theory for semantics gets closer to the theory of cognition, we might seek to deal directly with emotions (however realized) in this position. (Potts 2007a: 179)
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Es sind die involvierten Emotionen, die eine semantische Herangehensweise an Pejorativa so schwierig gestalten. Ihre Komplexität und Unberechenbarkeit stehen im Widerspruch zu den Wahrheitsbewertungen der Aussagenlogik. Emotionen lassen sich auch nur schwer in den etablierten Theorien unterbringen, die wie die Grice’sche auf rationales Kommunikationsverhalten bauen.35 Obwohl sich das Grice’sche Kooperationsprinzip in seiner Formulierung nur bedingt für Kontexte eignet, in denen Beleidigungswörter verwendet werden, lässt es sich in reduzierter Form auch für diese Kontexte anwenden, da der Sprecher (trotz eines möglichen Mangels an Kooperationsbereitschaft und Rationalität) seinen konversationellen Beitrag so gestalten wird, dass er vom Hörer verstanden wird.
6 Ausblick Wenn wir die expressive Bedeutung von Beleidigungswörtern erfassen möchten, müssen wir zunächst eine Unterscheidung verschiedener Arten von Beleidigungswörtern vornehmen. Dabei wird z.B. ersichtlich, dass BeleidigungswörterPG tendenziell stärker beleidigend sind als Beleidigungswörter–PG–NPC. Desweiteren gilt es zu beachten, dass wir auch innerhalb der einzelnen Beleidigungswortarten weiter unterscheiden müssen, z.B. nach individuellen Beleidigungsgraden und der Referenz auf verschiedene Personengruppen, die in der Gesellschaft ihre jeweils eigenen Erfahrungen mit diskriminierenden Behandlungsweisen und Sprachhandlungen gemacht haben. Aufgrund ihres hohen Beleidigungsgrades bedarf es mitunter aufwendiger Distanzierungsverfahren, wenn BeleidigungswörterPG für etwas anderes eingesetzt werden sollen als für die Beleidigung einer Person(engruppe). Neben Hate Speech und Mobbing finden wir diese Wörter auch in freundschaftlichen Kontexten und Banter-Äußerungen. Da sich in allen Fällen bewusst für einen Tabubruch entschieden wird, können wir auch all diese Fälle als expressiv beschreiben: Die Sprecher verfolgen mit der Verwendung Ziele, die sich von einem nüchtern-effektiven Informationsaustausch unterscheiden und stets mit gesteigerten Gefühlen (z.B. Hass oder Liebe) einhergehen. Durch die Häufigkeit nicht-pejorativer und nicht-referentieller Verwendungen können Bedeutungswandelprozesse ausgelöst werden, die z.B. die Referenz verschwimmen lassen (abgeschlossen bei Idiot; || 35 Grice (1989) weist selbst darauf hin, dass es nicht in jeder Konversation um einen maximal effektiven Informationsaustausch geht und nennt u.a. Streitigkeiten als einen Konversationstyp, der nicht in seinen Theorierahmen passen will: „[T]here are too many types of exchange, like quarreling and letter writing, that it fails to fit comfortably“ (Grice 1989: 30).
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im Gange bei Spast) oder gar die pejorative Komponente (gay, Schwuler). Die Eignung eines Beleidigungswortes für eine bestimmte Verwendungsweise ist also von einer Reihe von semantischen und pragmatischen Faktoren abhängig, die für jedes Beleidigungswort individuell und diachron betrachtet werden müssen. Dass beispielsweise das BeleidigungswortPG nigger aufgrund einer reichen Diskriminierungsgeschichte (in den USA) stärker beleidigend ist als das BeleidigungswortPG whitey ist keine kontextuelle Information, sondern eine semantische. Beleidigungswörter sind pejorativ und aufgrund ihrer Tabuisierung expressiv. Andere Wörter wie z.B. Unkraut können ebenfalls pejorativ sein, haben aber keine expressive Komponente, da Sprecher mit ihrer Verwendung keinen Tabubruch begehen. Sprecher entscheiden sich aus ganz unterschiedlichen Gründen für die Verwendung von Beleidigungswörtern und damit für den Tabubruch. Sie wollen z.B. beleidigen, Freundschaften konsolidieren oder Unterhaltungseffekte erzielen. Sie drücken sich dabei in allen Fällen expressiv aus. Wenn sie sich der Expressivität nicht bewusst sind (z.B. ein älterer Sprecher, der Neger und Zigeuner für neutrale Wörter hält), kennen sie die volle Bedeutung des Wortes nicht und können entsprechend auch nicht kompetent mit ihm umgehen. Letztlich können alle Verwendungsweisen zu Beleidigungseffekten führen, unabhängig davon, ob dies vom Sprecher intendiert ist oder nicht. Es stellt sich u.a. die Frage, inwieweit sich die Beobachtungen aus meinen Gesprächsdaten (Technau 2013, 2017, 2018a) auch auf andere Sprachgemeinschaften übertragen lassen, so z.B. die Beobachtung, dass der Erfolg nicht-pejorativer Verwendungsweisen nicht notwendigerweise an die PG-Zugehörigkeit ihrer Sprecher geknüpft ist. Die Beantwortung solcher Fragen kann nur durch eine stetige Sammlung von Gesprächsdaten und ihre konversationsanalytische Aufarbeitung geleistet werden. Empirische Studien à la Bartlett et al. (2014) ermöglichen uns wertvolle Einblicke in die expressive Bedeutung von Beleidigungswörtern, beziehen sich aber nur auf geschriebene Sprache, die sich von der gesprochenen u.a. in ihrer Lexik unterscheidet (Schwitalla 2006: 149). Internet und Korpora geschriebener Sprache sind zwar reiche Quellen der Generierung von Beleidigungswörtern, können allerdings die Erhebung von Gesprächsdaten in der face-to-face-Interaktion nicht ersetzen, da sich die Sprecher in der privaten Kommunikation anders verhalten als im öffentlichen Raum. Insbesondere Studien zur Verwendungshäufigkeit müssen ihre Quelle sehr genau reflektieren und berücksichtigen, dass pejorative Sprache hauptsächlich in der Alltagskommunikation vorkommt (Jay 2009: 157). In diesem Zusammenhang sollte auch untersucht werden, wie häufig die einzelnen Verwendungsweisen vorkommen, wie das Verhältnis zwischen pejorativen und nicht-pejorativen Verwendungsweisen genau aussieht, ob sich das Ungleichgewicht zwischen ihnen empirisch weiter belegen lässt.
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Zwei weitere Bereiche, die es im Zusammenhang mit der expressiven Bedeutung von Beleidigungswörtern zu untersuchen gilt, sind Emotionen und Stereotype. Hier stellt sich z.B. die Frage nach den kognitiven Prozessen der Verarbeitung, über die sich mithilfe von neurologischen Laboruntersuchungen Erkenntnisse gewinnen lassen. Inwiefern unterscheidet sich etwa die Verarbeitung der expressiven Bedeutung bei der Verwendung von BeleidigungswörternPG innerhalb von Ingroups vs. gegenüber Outgroups (Spotorno & Bianchi 2015: 248)? Wie stellen sich die Unterschiede zwischen positiven und negativen Emotionen bei der Verwendung genau dar? In Bezug auf Stereotype müsste geprüft werden, ob diese wie in den Ansätzen von Hom (2008) und Croom (2013) tatsächlich zur Wortbedeutung von BeleidigungswörternPG gehören oder so wie in meinem Ansatz außerhalb der Semantik betrachtet werden müssen. Meine Vermutung ist, dass wir auch hier starken individuellen Unterschieden begegnen werden, da Stereotype bei einigen BeleidigungswörternPG viel stärker hervortreten als bei anderen (Camp 2013: 342). Auch wenn uns Beleidigungswörter missfallen, sie sind in unserem Lexikon abgespeichert und begegnen uns in allerlei Kontexten, in verschiedenen Sprachgemeinschaften und mit unterschiedlichen kommunikativen Interessen. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen ist nicht nur für einen linguistischen Erkenntnisgewinn fruchtbar, sie kann uns Einblicke in unser soziales Miteinander, unsere Emotionen und Bedürfnisse gewähren, sie kann juristische Implikationen haben und Lösungsansätze für Probleme bieten, die sich in unserer Gesellschaft angesichts von Mobbing, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit stellen.
Transkriptionssystem Transkriptionskonventionen nach Gesprächsanalytischem Transkriptionssystem GAT (Selting et al. 1998) [ ] [ ] (1.0) (? ?) (?gestern?) = : ÷
Überlappungen und Simultansprechen Pause (Zahl in Klammern zeigt Sekundenzahl an) unverständliche Passage unsichere Transkription schnelles Sprechtempo; unmittelbarer Anschluss Dehnung langsames Sprechtempo
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NEIN hu(h)nde hahaha HAHAHA hehehe hohoho ((hustet)) hm, nee hm=hm LAUT
Abbruch Akzent lachend gesprochen Lachen lautes Lachen verhaltenes Lachen dunkles Lachen para- und außersprachliche Handlungen und Ereignisse einsilbige Rezeptionssignale zweisilbiges Rezeptionssignal sehr laut gesprochen
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Ingo Reich
Saulecker und supergemütlich! Pilotstudien zur fragmentarischen Verwendung expressiver Adjektive Abstract: Schaut man auf dem Kika die „Jungs-WG“ oder „Durch die Wildnis“, dann ist gefühlt jede dritte Äußerung eine isolierte Verwendung eines expressiven Adjektivs der Art „Mega!“. Ausgehend von dieser ersten impressionistischen Beobachtung wird in diesem Artikel sowohl korpuslinguistisch wie auch experimentell der Hypothese nachgegangen, dass expressive Adjektive in fragmentarischer Verwendung signifikant akzeptabler sind als deskriptive Adjektive. Während sich diese Hypothese im Korpus zunächst weitgehend bestätigt, zeigen die experimentellen Untersuchungen zwar, dass expressive Äußerungen generell besser bewertet werden als deskriptive Äußerungen, die ursprüngliche Hypothese lässt sich aber nicht bestätigen. Die Diskrepanz zwischen den korpuslinguistischen und den experimentellen Ergebnissen wird in der Folge auf eine Unterscheidung zwischen individuenbezogenen und äußerungsbezogenen (expressiven) Adjektiven zurückgeführt und festgestellt, dass die Korpusergebnisse die Verteilung äußerungsbezogener expressiver Adjektive nachzeichnen, während sich die Experimente alleine auf individuenbezogene (expressive) Adjektive beziehen. Die ursprüngliche Hypothese wäre daher in dem Sinne zu qualifizieren, dass sie nur Aussagen über die isolierte Verwendung äußerungsbezogener Adjektive macht.
1 Eine Alltagsbeobachtung Völlig egal, ob man über den Campus der Universität läuft, durch die Fußgängerzone in der Innenstadt schlendert oder am Bolzplatz vorbeikommt, man schnappt überall Äußerungen auf der Art Mega!, Voll krass!, Geil!, Cool! oder Klasse!. Selbst etwas weniger expressive, eher evaluative Äußerungen wie Inte-
|| Danksagung: Für tatkräftige Unterstützung bei der Durchführung der vorgestellten Studien möchte ich (in alphabetischer Reihenfolge) Luise Ehrmantraut, Robin Lemke, Lisa Schäfer und Jessica Schmidt herzlichst danken. https://doi.org/10.1515/9783110630190-005
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ressant!, Unglaublich!, Heldenhaft! oder Verblüffend! sind immer wieder zu vernehmen. Dagegen hört man (zumindest gefühlt) recht selten Äußerungen der Art Abgelegen!, Blond!, Nass! oder Jung!. Wenn überhaupt, dann würde man solche Äußerungen wohl eher in modifizierter Form erwarten: Total abgelegen!, Krass blond!, Voll nass! oder auch Mega jung!. Die Generalisierung, die sich hier aufdrängt, zieht eine Grenze zwischen expressiven Adjektiven auf der einen Seite und deskriptiven Adjektiven auf der anderen Seite: Während expressive Adjektive als Fragmente (selbständige Äußerungen mit illokutiver Geltung, vgl. Morgan 1973) problemlos Verwendung finden können, scheint dies für deskriptive Adjektive nicht (oder zumindest nicht in dem Maße) möglich zu sein. Und wird ein deskriptives Adjektiv doch isoliert verwendet, dann wird es von einer Steigerungspartikel modifiziert, die der Äußerung eine expressive Note gibt. Expressivität scheint also intuitiv eine notwendige Bedingung für die isolierte Verwendung von Adjektiven zu sein. Sollte diese Beobachtung durch empirische Untersuchungen gestützt werden können, dann wäre dies sicherlich von theoretischem Interesse. So wird zum Beispiel in Potts (2007) argumentiert, dass (komplexe) sprachliche Ausdrücke im Wesentlichen in zwei Klassen zerfallen: expressive und deskriptive. Dabei wird unter anderem angenommen, dass expressive auf deskriptiven Ausdrücken operieren können, aber nicht deskriptive auf expressiven. Um dies zu präzisieren, führt Potts (2007) für expressive Ausdrücke einen logischen Typ ein. In diesem System könnte obige Generalisierung dann dergestalt paraphrasiert werden, dass Adjektive nur dann isoliert verwendet werden können, wenn ihr logischer Typ auf endet. Inhaltlich wird ein Adjektiv dabei im Wesentlichen als expressiv bezeichnet, wenn es (möglicherweise neben einem deskriptiven Gehalt) notwendig eine Einstellung des Sprechers zu einem bestimmten Objekt (oder Sachverhalt) kommuniziert. Trägt die Bedeutung eines Adjektivs lediglich zu den Wahrheitsbedingungen einer Aussage bei, dann ist es als deskriptiv zu bezeichnen.
2 Eine (kleinere) Korpusstudie Ob bzw. inwieweit der gerade skizzierte impressionistische Eindruck korrekt ist, ist natürlich eine empirische Frage und erfordert empirische Untersuchungen. Dabei bietet sich zunächst eine Korpusstudie an. Da wir an der Universität des Saarlandes im Rahmen unseres Projekts zu Information Density and Fragments in German (SFB 1102, Projekt B3) ein Korpus aufgebaut haben, in dem alle vorkommenden fragmentarischen Ausdrücke und damit insbesondere alle AP-Frag-
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mente bereits annotiert sind (vgl. Horch & Reich 2017), ist es naheliegend, zunächst auf dieses Fragmente-Korpus (FraC) zurückzugreifen. Eine weitere Besonderheit dieses Korpus ist, dass es Texte aus insgesamt 17 verschiedenen Textsorten enthält, die das ganze Spektrum der (konzeptionellen) Mündlichkeit und Schriftlichkeit abdecken, von gesprochenen Dialogen über SMS und Twitter bis hin zu Kochrezepten und juristischen Texten. Als potentiell problematisch ist dagegen anzusehen, dass jeder Teilkorpus (aufgrund der vergleichsweise aufwendigen händischen Annotation) jeweils mit nur ca. 2.000 Äußerungseinheiten vertreten ist, so dass aufgrund der geringeren Größe des Korpus keine hart belastbaren statistischen Aussagen möglich sind. Dennoch zeichnet sich schon bei dieser kleineren korpuslinguistischen Untersuchung ein recht klares Bild ab, vgl. hierzu zunächst Abbildung 1.
Abb. 1: Textsortenspezifische Verteilung expressiver und deskriptiver Adjektive
Abbildung 1 illustriert, dass in unserem Korpus in den Textsorten / Kommunikationsformen Dialog, Interview, Moderation und SMS nur expressive Adjektive isoliert auftreten. Im Dialog nehmen dabei evaluative Adjektive wie gut, richtig oder prima, deren Abgrenzung zur Klasse der Diskurspartikeln sicher nicht unproblematisch ist (vgl. z.B. Blakemore 2002), quantitativ eine besondere Stellung ein. Dennoch ist das vollständige Fehlen selbständig verwendeter deskriptiver Adjektive auffällig. Abgesehen von Tweets scheint die isolierte Verwendung von deskriptiven Adjektiven auf Textsorten wie Werbung (z.B. schnell, neu, müde)
112 | Ingo Reich
und Kleinanzeigen (z.B. blau, unfallfrei, massiv) beschränkt zu sein, die Produkteigenschaften (im weiteren Sinne) kommunizieren müssen. Auffallend ist dabei, dass das Vorkommen deskriptiver Adjektive in unserem Korpus auf unidirektionale (also monologische) Kommunikationsformen beschränkt ist. Expressive Adjektive kommen hier nur in bidirektionalen (dialogischen) Kommunikationsformen vor, vgl. Abbildung 2.
Abb. 2: Verteilung expressiver und deskriptiver Adjektive nach Direktionalität
Auch die Korpusstudie legt damit nahe, dass deskriptive Adjektive zumindest in dialogischen Kommunikationsformen keine (wesentliche) Rolle spielen. Ob sich dieser Befund durch weitere und größer angelegte Korpusuntersuchungen (eventuell eingeschränkt auf dialogische Kommunikationsformen) erhärten lässt, muss an dieser Stelle offenbleiben. Im Folgenden wollen wir die Ergebnisse der Korpusstudie exemplarisch experimentell überprüfen.
3 Zwei experimentelle Studien Die zu überprüfende Hypothese lässt sich nun (eingeschränkt auf dialogische Kommunikation) in etwa wie folgt formulieren: Expressive Adjektive sind in iso-
Saulecker und supergemütlich! | 113
lierter Verwendung signifikant akzeptabler als deskriptive Adjektive. Die Akzeptabilität derartiger Äußerungen soll über eine Fragebogenstudie getestet und auf einer 7-Punkt-Likert-Skala gemessen werden. Experiment 1 Das Design der Fragebogenstudie ist dabei recht klassisch. Da die Hypothese explizit auf Fragmente Bezug nimmt und die sententialen Varianten der Prädikationen als Baseline dienen sollen, führt dies zu einem 2x2-Design mit den beiden Faktoren SENTENTIALITÄT (Satz vs. Fragment) und EXPRESSIVITÄT (expressiv vs. deskriptiv). In der folgenden Tabelle werden die relevanten Bedingungen an ausgewählten Beispielen illustriert: Tab. 1: Illustration der zu testenden Bedingungen
Satz
Fragment
deskriptives Adjektiv
Er ist blond.
Blond.
expressives Adjektiv
Er ist unausstehlich.
Unausstehlich.
Die Bedingungen müssen natürlich in einem geeigneten Kontext präsentiert werden und die zentrale Frage ist hier, wie ein solcher Kontext idealerweise aussehen könnte. Zum einen muss gesichert werden, dass die getesteten Adjektive über dieselbe Art von Objekten prädizieren. Da deskriptive Adjektive primär von Personen und Gegenständen ausgesagt werden, haben wir durchgängig Personen und Gegenstände als Bezugsgröße angenommen. Die Äußerungen in Tabelle 1 könnten sich also zum Beispiel auf einen neuen Freund beziehen. Auf diese Weise werden explizit Verwendungen ausgeschlossen, die sich auf komplette Äußerungen bzw. den durch diese Äußerungen ausgedrückten Sachverhalt beziehen. Ein solcher Fall wären Das-ist-Ellipsen der Art Klasse! als Reaktion auf eine Äußerung wie Ich habe in Mathematik eine 1 geschrieben. Auf diesen Punkt werden wir am Ende nochmal zurückkommen. Zum anderen muss gesichert werden, dass sowohl die Äußerung des deskriptiven als auch die des expressiven Adjektivs in einem naheliegenden Sinne informativ ist. Nehmen wir zum Beispiel an, unser Nachbar hat sich ein neues Auto gekauft und führt es nun ganz stolz vor. In einem solchen Kontext wäre eine Äußerung wie Rot. nur dann informativ, wenn der Sprecher gleichzeitig mit der Äußerung kommunizieren wollte, dass er das Rot aus welchen Gründen auch immer für nicht so ideal hält. Denn dass das Auto rot ist, ist in dieser Situation sowohl für den Sprecher als auch den Adressaten offensichtlich. Folglich kann es nicht
114 | Ingo Reich
das Ziel des Sprechers sein, diese (und nur diese) Information zu kommunizieren. Damit wäre die Äußerung bereits aus pragmatischen Gründen markiert. Bei expressiven Adjektiven liegt der Fall dagegen etwas anders, da sie eben (immer auch) Sprechereinstellungen kommunizieren und Sprechereinstellungen intersubjektiv nicht zugänglich, also immer informativ sind. Idealerweise sollte daher die Person oder der Gegenstand, auf die oder den sich die prädikative Aussage bezieht, für den Adressaten nicht sichtbar sein. Betrachtet man unter dieser Perspektive noch einmal in Abbildung 1 diejenigen Kommunikationsformen, in denen im Korpus nur expressive Adjektive Verwendung finden (also Dialog, Interview, Moderation und SMS), dann ist der einzige verbleibende Kandidat SMS-Kommunikation (da Dialog, Interview und Moderation in der Regel face-to-face erfolgen). Aus diesem Grund haben wir entschieden, die obigen Bedingungen in SMS-Kommunikation einzubetten. Die folgenden Abbildungen illustrieren für Fragmente, wie die Items den Probanden präsentiert wurden. Die Studie wurde mit Hilfe von LimeSurvey (www.limesurvey.org/de/) online durchgeführt (die 18–40-jährigen Probanden wurden über Clickworker rekrutiert und mit je 2,50 Euro vergütet):
Abb. 3: Beispiel eines Items für die Bedingung expressives Fragment
Abb. 4: Beispiel eines Items für die Bedingung deskriptives Fragment
Saulecker und supergemütlich! | 115
In dieser Fragebogenstudie wurden insgesamt 24 Items und 60 Filler (davon 50% Sätze und 50% DP- oder PP-Fragmente) getestet. Die Items wurden nach dem lateinischen Quadrat und pseudo-randomisiert (mindestens 1 Item oder Filler anderen Typs zwischen zwei Fillern gleichen Typs und mindestens 1 Filler zwischen 2 Items; individuelle Abfolge je Proband) auf 4 Listen aufgeteilt, so dass jeder Proband 6 Items pro Bedingung zu bewerten hatte. Die Bewertung der Items erfolgte dabei auf einer 7-Punkt-Likert-Skala mit den Skalenenden 1 = vollkommen unnatürlich und 7 = vollkommen natürlich. Von den 48 Teilnehmer/innen gingen 47 in die Auswertung ein. Einer der Teilnehmer musste leider ausgeschlossen werden, da er mehr als 50% der 7 scharf ungrammatischen Filler mit 6 oder 7 bewertet hat. Abbildung 5 illustriert die Ergebnisse der Fragebogenstudie: Erstens ist festzustellen, dass die sententialen Varianten sowohl in der expressiven als auch in der deskriptiven Bedingung durchgängig besser beurteilt werden als isolierte Verwendungen (Haupteffekt von SENTENTIALITÄT, 2 = 53.67, p < 0.001). Dies ist insofern ein wenig überraschendes Ergebnis, als wir derartige Haupteffekte auch schon von anderen Experimenten kennen, die wir in unserem Fragmente-Projekt durchgeführt haben. Schon eher als überraschend zu bezeichnen ist dagegen, dass wir zweitens auch einen Haupteffekt von EXPRESSIVITÄT (2 = 18.06, p < 0.001) beobachten konnten: Expressive Äußerungen werden durchgängig als akzeptabler bewertet, egal ob eine isolierte Verwendung oder eine vollständige Satzstruktur vorliegt.1
|| 1 Die Daten wurden mit gemischten linearen Modellen in R (R Core Team 2017) mit dem Paket lme4 (Bates et al. 2015) ausgewertet. Als abhängige Messvariable wurden die je Proband z-transformierten Bewertungen verwendet. Ausgehend von einem vollen Modell, das alle Haupteffekte sowie Zwei-Weg-Interaktionen zwischen den Variablen SENTENTIALITÄT, EXPRESSIVITÄT und POSITION enthielt, wurde eine Modellauswahl durch Rückwärts-Elimination durchgeführt. Alle Modelle enthalten random intercepts für Probanden und Items sowie zusätzlich random slopes für Items und EXPRESSIVITÄT. Letztere tragen möglichen itemspezifischen semantischen Unterschieden zwischen den verwendeten deskriptiven und expressiven Adjektiven Rechnung. Positionseffekte konnten keine nachgewiesen werden.
116 | Ingo Reich
Abb. 5: Ratings der ersten Fragebogenstudie
Was die Studie jedoch nicht hat zeigen können, ist eine signifikante Interaktion zwischen den beiden Variablen SENTENTIALITÄT und EXPRESSIVITÄT (p > 0.1). Mit anderen Worten: In unseren Daten konnte nicht statistisch nachgewiesen werden, dass expressive Adjektive in fragmentarischer Verwendung signifikant besser beurteilt werden als deskriptive. Damit wird durch unsere Daten die eingangs formulierte Hypothese nicht gestützt. Insbesondere angesichts der Ergebnisse der Korpusstudie ist dieses Resultat doch einigermaßen unerwartet. Experiment 2 Eine mögliche Erklärung für die fehlende Interaktion könnte sein, dass die Distanz zwischen den expressiven und den deskriptiven Adjektiven in unserem Experiment zu gering war, dass also in gewissem Sinne die expressiven Adjektive noch zu wenig expressiv sind (im Vergleich zu zum Beispiel sehr expressiven Fällen wie Krass! oder Geil!). Um diese Erklärung zu testen, haben wir unser Experiment zu einem 2x3-Design erweitert, in dem nicht nur deskriptive und expressive Adjektive kontrastiert wurden, sondern auch gesteigerte Varianten der bereits getesteten expressiven Adjektive, also Äußerungen der Art saulecker, kackdreist, supereklig, stinklangweilig, todschick, grottenschlecht. Abbildung 6 illustriert wieder, wie die fraglichen Items den Probanden in Form einer SMS-Kommunikation präsentiert wurden:
Saulecker und supergemütlich! | 117
Abb. 6: Beispiel eines Items für die Bedingung modifiziertes expressives Fragment
Die zweite Fragebogenstudie wurde in derselben Weise wie die erste Studie durchgeführt und ausgewertet: Es wurden wieder 24 Items und (dieselben) 60 Filler getestet. Diese wurden auf 6 Listen nach dem lateinischen Quadrat aufgeteilt und (in derselben Weise) pseudo-randomisiert, d.h. jeder Proband sieht aufgrund des erweiterten Designs nun nur 4 Items pro Bedingung. Die Anzahl der getesteten Probanden wurde mit 48 konstant gehalten. Wie in Experiment 1 mussten Teilnehmer/innen von der Auswertung ausgeschlossen werden, in diesem Fall 2. Abbildung 7 illustriert die Resultate der zweiten Studie: Wie schon Experiment 1 zeigt auch Experiment 2 einen Haupteffekt von SENTENTIALITÄT (2 = 60.68, p < 0.001), das heißt Sätze werden generell besser bewertet als Fragmente. Gleichzeitig bestätigt sich auch der in Experiment 1 beobachtete Haupteffekt von EXPRESSIVITÄT (2 = 32.39, p < 0.001): Expressive Adjektive werden generell besser beurteilt als deskriptive Adjektive. Zusätzlich zeigt die Studie, dass die gesteigerten Varianten der expressiven Adjektive signifikant besser beurteilt werden als ihre nicht modifizierten Gegenstücke (2 = 10.98, p < 0.001).
118 | Ingo Reich
Abb. 7: Ratings der zweiten Fragebogenstudie
Was hingegen auch die zweite Studie nicht zeigen konnte, ist eine Interaktion zwischen den Variablen SENTENTIALITÄT und EXPRESSIVITÄT: Auch wenn die gesteigerten expressiven Adjektive besser beurteilt wurden als die deskriptiven, scheint es keinen Unterschied zu machen, ob die Adjektive isoliert oder als Teil eines Satzes präsentiert werden.
4 Diskussion Auch die zweite Studie, in der die Distanz zwischen deskriptiven und expressiven Adjektiven noch einmal deutlich erhöht wurde, liefert also keine Evidenz für die Hypothese, dass expressive Adjektive als Fragmente besser bewertet werden als deskriptive Adjektive. Beide Studien zeigen, dass sie eben nicht nur als Fragmente besser bewertet werden als deskriptive Adjektive, sondern auch als Teil von Sätzen. Darüber hinaus legt die zweite Studie nahe, dass Äußerungen umso besser in ihrer Akzeptabilität beurteilt werden, je expressiver sie sind. Dies ist bereits für sich genommen ein interessantes Ergebnis, sind doch alle getesteten Items in grammatischer Hinsicht alle gleichermaßen wohlgeformt. Die Hypothese, dass Expressivität systematisch die Akzeptabilität von Äußerungen erhöht, wäre also ein interessantes Forschungsfeld.
Saulecker und supergemütlich! | 119
Ausgangspunkt dieser experimentellen Studien war jedoch die eher impressionistische Beobachtung, dass deskriptive Adjektive nicht oder nur in sehr geringem Maße fragmentarisch verwendet werden. Diese Beobachtung musste zwar aufgrund der Korpusstudie auf bestimmte Textsorten eingeschränkt werden. Innerhalb dieser Textsorten schien sich die Beobachtung aber durchaus zu bestätigen. Damit bleibt aber die Frage bestehen, worauf die Diskrepanz zwischen den Korpusdaten und den experimentellen Daten zurückzuführen ist. Führen wir uns noch einmal das experimentelle Design vor Augen, dann wird schnell klar, dass wir nicht nur zwischen expressiven und deskriptiven Adjektiven unterschieden haben, sondern auch zwischen einerseits Adjektiven, die Aussagen über Individuen machen, und andererseits Adjektiven, die sich auf Äußerungen beziehen bzw. auf die von den Äußerungen denotierten Sachverhalte. (Vermutlich sollte man innerhalb letzterer Klasse noch zwischen propositionalen und illokutionären Verwendungen unterscheiden. Eine solche Unterscheidung scheint aber in unserem Kontext keine wesentliche Rolle zu spielen, weshalb wir hier bei der dichotomen Klassifikation bleiben.) Beispiele für individuenbezogene Verwendungen wären unfallfrei (deskriptiv) und nervig (expressiv). Ein Beispiel für äußerungsbezogene Verwendungen mit expressivem Charakter wäre eine Äußerung wie Schade. als Reaktion auf Sorry, schaffe es wohl leider nicht. Deskriptive äußerungsbezogene Varianten sind dagegen schwer zu finden. Ein möglicher Kandidat wäre Korrekt. als Reaktion auf eine Äußerung wie Herr Summers, nehme ich an?. Aber selbst in solchen Fällen, in denen es primär um die Wahrheit oder Falschheit des ausgedrückten Sachverhalts geht, ist es wohl nicht völlig unplausibel, eine (schwach) evaluative Komponente anzunehmen. Tatsächlich zeigt sich, dass von den 68 als deskriptiv klassifizierten isolierten Äußerungen lediglich 1 Äußerung als äußerungsbezogen eingestuft wurde, und zwar die isolierte Verwendung von Gemeinsam. in der Werbeanzeige Zukunft gestalten. Gemeinsam. Umgekehrt sind die expressiven Adjektive im unserem Korpus fast ausschließlich äußerungsbezogen. Im untersuchten FraC-Korpus fallen also (i) deskriptive und individuenbezogene Verwendungen sowie (ii) expressive und äußerungsbezogene Verwendungen weitgehend zusammen, vgl. Tabelle 2. Tab. 2: Quantitative Verhältnisse im Korpus FraC
Äußerung
Individuum
deskriptives Adjektiv
1
67
expressives Adjektiv
268
5
120 | Ingo Reich
Damit sollte aber klar sein, worauf die Diskrepanz zwischen den Korpusdaten einerseits und den experimentellen Daten andererseits zurückzuführen ist: Werden sehr spezielle Textsorten wie Kleinanzeigen aus der Betrachtung ausgeschlossen, dann verbleiben im Korpus fast nur noch äußerungsbezogene Verwendungen und diese sind (bis auf eine Ausnahme) durchgängig expressiv. Damit muss sich aber der Eindruck vermitteln, dass Adjektive in fragmentarischer Verwendung (fast) ausschließlich expressiven Charakter haben (auch wenn sich bei individuenbezogener Verwendung kein signifikanter Unterschied zwischen fragmentarischen und nicht-fragmentarischen Verwendungen ergibt). Vergleichbares gilt für das impressionistische Urteil, das ja im Wesentlichen auf dialogischen Kommunikationsformen basiert. Man könnte nun versucht sein, auf der Basis der quantitativen Daten zu schließen, dass äußerungsbezogene Verwendungen fragmentarischer Adjektive immer expressiv sind. Dass man mit solchen Schlussfolgerungen vorsichtig sein muss, zeigt der Fall deskriptiver Adjektive: Auch wenn die individuenbezogenen Verwendungen fast ausschließlich deskriptiv sind, ist klar, dass auch expressive Adjektive (wie nervig) von Individuen ausgesagt werden können. Im Gegensatz zu den individuenbezogenen Verwendungen fällt es einem bei äußerungsbezogenen Verwendungen aber tatsächlich schwer, überzeugende Fälle rein deskriptiver Verwendungen zu finden. Damit schließt sich jedoch der Kreis und unsere obigen Überlegungen führen zurück zu der nun präzisierten Hypothese, dass äußerungsbezogene Verwendungen fragmentarischer Adjektive immer (oder etwas schwächer: typischerweise) expressiven Charakter haben. Oder um es im System von Potts (2007) zu formulieren: Isoliert verwendete Adjektive sind immer (oder typischerweise) vom logischen Typ . Ob diese Hypothese Bestand hat oder ob sie am Ende nur „Bullshit“ ist, wird jedoch eine andere Untersuchung zeigen müssen.
Literatur Bates, Douglas, Martin Maechler, Ben Bolker & Steve Walker (2015): Fitting linear mixed-effects models using lme4. Journal of Statistical Software 67 (1), 1–48. Blakemore, Diane (2002): Relevance and linguistic meaning: The semantics and pragmatics of discourse markers. Cambridge: Cambridge University Press. Horch, Eva & Ingo Reich (2017): The Fragment Corpus (FraC). Proceedings of the 9th International Corpus Linguistics Conference, Birmingham.
Saulecker und supergemütlich! | 121
Morgan, Jerry L. (1973): Sentence fragments and the notion ‘sentence’. In Braj B. Kachru, Robert B. Lees, Yakov Malkiel, Angelina Pietrangeli & Sol Saporta (Hrsg.), Issues in linguistics: Papers in honor of Henry and Renée Kahane, 719–751. Illinois: University of Illinois Press. Potts, Christopher (2007): The expressive dimension. Theoretical Linguistics 33 (2), 165–197. R Core Team (2017): R: A language and environment for statistical computing. R Foundation for Statistical Computing, Wien. https://www.R-project.org/ (26.09.2018).
Anhang: Liste der Items zu Experiment 2 Tab. 3: 2x3 Design mit den beiden Faktoren SENTENTIALITÄT (SENT) und EXPRESSIVITÄT (EXPR) sowie den Stufen Frag(ment) und Satz im Fall von SENT und desk(riptiv), expr(essiv) und gesteigert im Fall von EXPR. Die eigentlichen Zielausdrücke sind in einen Kontext K1+K2 eingebettet.
TSET
SENT
EXPR
KONTEXT+TARGET
1
Frag
desk
Ich habe gestern in dem neuen Steakhouse ein Rumpsteak gegessen. – Und? – Blutig
1
Satz
desk
Ich habe gestern in dem neuen Steakhouse ein Rumpsteak gegessen. – Und? – Es war blutig
1
Frag
expr
Ich habe gestern in dem neuen Steakhouse ein Rumpsteak gegessen. – Und? – Saulecker
1
Satz
expr
Ich habe gestern in dem neuen Steakhouse ein Rumpsteak gegessen. – Und? – Es war lecker
1
Frag
gest
Ich habe gestern in dem neuen Steakhouse ein Rumpsteak gegessen. – Und? – Lecker
1
Satz
gest
Ich habe gestern in dem neuen Steakhouse ein Rumpsteak gegessen. – Und? – Es war saulecker
2
Frag
desk
Meine Schwester hat sich am Wochenende eine Katze aus dem Tierheim geholt. – Und? – Getigert
2
Satz
desk
Meine Schwester hat sich am Wochenende eine Katze aus dem Tierheim geholt. – Und? – Sie ist getigert
2
Frag
expr
Meine Schwester hat sich am Wochenende eine Katze aus dem Tierheim geholt. – Und? – Niedlich
2
Satz
expr
Meine Schwester hat sich am Wochenende eine Katze aus dem Tierheim geholt. – Und? – Sie ist niedlich
2
Frag
gest
Meine Schwester hat sich am Wochenende eine Katze aus dem Tierheim geholt. – Und? – Superniedlich
2
Satz
gest
Meine Schwester hat sich am Wochenende eine Katze aus dem Tierheim geholt. – Und? – Sie ist superniedlich
122 | Ingo Reich
TSET
SENT
EXPR
KONTEXT+TARGET
3
Frag
desk
Wir sind in dem Hotel untergekommen, das Lena uns empfohlen hat. – Und? – Zentral
3
Satz
desk
Wir sind in dem Hotel untergekommen, das Lena uns empfohlen hat. – Und? – Es ist zentral
3
Frag
expr
Wir sind in dem Hotel untergekommen, das Lena uns empfohlen hat. – Und? – Schön
3
Satz
expr
Wir sind in dem Hotel untergekommen, das Lena uns empfohlen hat. – Und? – Es ist schön
3
Frag
gest
Wir sind in dem Hotel untergekommen, das Lena uns empfohlen hat. – Und? – Wunderschön
3
Satz
gest
Wir sind in dem Hotel untergekommen, das Lena uns empfohlen hat. – Und? – Es ist wunderschön
4
Frag
desk
Paul hat mich am Freitag auf das Mickie-Krause-Konzert in Mannheim mitgenommen. – Und? – Ausverkauft
4
Satz
desk
Paul hat mich am Freitag auf das Mickie-Krause-Konzert in Mannheim mitgenommen. – Und? – Es war ausverkauft
4
Frag
expr
Paul hat mich am Freitag auf das Mickie-Krause-Konzert in Mannheim mitgenommen. – Und? – Lustig
4
Satz
expr
Paul hat mich am Freitag auf das Mickie-Krause-Konzert in Mannheim mitgenommen. – Und? – Es war lustig
4
Frag
gest
Paul hat mich am Freitag auf das Mickie-Krause-Konzert in Mannheim mitgenommen. – Und? – Superlustig
4
Satz
gest
Paul hat mich am Freitag auf das Mickie-Krause-Konzert in Mannheim mitgenommen. – Und? – Es war superlustig
5
Frag
desk
Gestern früh waren die Handwerker wegen dem Wasserschaden da. – Und? – Pünktlich
5
Satz
desk
Gestern früh waren die Handwerker wegen dem Wasserschaden da. – Und? – Sie waren pünktlich
5
Frag
expr
Gestern früh waren die Handwerker wegen dem Wasserschaden da. – Und? – Dreist
5
Satz
expr
Gestern früh waren die Handwerker wegen dem Wasserschaden da. – Und? – Sie waren dreist
5
Frag
gest
Gestern früh waren die Handwerker wegen dem Wasserschaden da. – Und? – Kackdreist
5
Satz
gest
Gestern früh waren die Handwerker wegen dem Wasserschaden da. – Und? – Sie waren kackdreist
6
Frag
desk
Ich habe letztens im Staatstheater „Nathan der Weise“ gesehen. – Und? – Klassisch
6
Satz
desk
Ich habe letztens im Staatstheater „Nathan der Weise“ gesehen. – Und? – Es war klassisch
Saulecker und supergemütlich! | 123
TSET
SENT
EXPR
KONTEXT+TARGET
6
Frag
expr
Ich habe letztens im Staatstheater „Nathan der Weise“ gesehen. – Und? – Langweilig
6
Satz
expr
Ich habe letztens im Staatstheater „Nathan der Weise“ gesehen. – Und? – Es war langweilig
6
Frag
gest
Ich habe letztens im Staatstheater „Nathan der Weise“ gesehen. – Und? – Stinklangweilig
6
Satz
gest
Ich habe letztens im Staatstheater „Nathan der Weise“ gesehen. – Und? – Es war stinklangweilig
7
Frag
desk
Ich habe letzte Woche den neuen Freund von meiner Schwester kennengelernt. – Und? – Blond
7
Satz
desk
Ich habe letzte Woche den neuen Freund von meiner Schwester kennengelernt. – Und? – Er ist blond
7
Frag
expr
Ich habe letzte Woche den neuen Freund von meiner Schwester kennengelernt. – Und? – Dumm
7
Satz
expr
Ich habe letzte Woche den neuen Freund von meiner Schwester kennengelernt. – Und? – Er ist dumm
7
Frag
gest
Ich habe letzte Woche den neuen Freund von meiner Schwester kennengelernt. – Und? – Strohdumm
7
Satz
gest
Ich habe letzte Woche den neuen Freund von meiner Schwester kennengelernt. – Und? – Er ist strohdumm
8
Frag
desk
Claudia hat bei Ikea gestern wieder lauter Deko gekauft. – Und? – Schlicht
8
Satz
desk
Claudia hat bei Ikea gestern wieder lauter Deko gekauft. – Und? – Sie ist schlicht
8
Frag
expr
Claudia hat bei Ikea gestern wieder lauter Deko gekauft. – Und? – Kitschig
8
Satz
expr
Claudia hat bei Ikea gestern wieder lauter Deko gekauft. – Und? – Sie ist kitschig
8
Frag
gest
Claudia hat bei Ikea gestern wieder lauter Deko gekauft. – Und? – Superkitschig
8
Satz
gest
Claudia hat bei Ikea gestern wieder lauter Deko gekauft. – Und? – Sie ist superkitschig
9
Frag
desk
Céline und ich haben am Samstag eine Tanzperformance angeschaut. – Und? – Experimentell
9
Satz
desk
Céline und ich haben am Samstag eine Tanzperformance angeschaut. – Und? – Sie war experimentell
9
Frag
expr
Céline und ich haben am Samstag eine Tanzperformance angeschaut. – Und? – Lahm
9
Satz
expr
Céline und ich haben am Samstag eine Tanzperformance angeschaut. – Und? – Sie war lahm
124 | Ingo Reich
TSET
SENT
EXPR
KONTEXT+TARGET
9
Frag
gest
Céline und ich haben am Samstag eine Tanzperformance angeschaut. – Und? – Superlahm
9
Satz
gest
Céline und ich haben am Samstag eine Tanzperformance angeschaut. – Und? – Sie war superlahm
10
Frag
desk
Daniela hat sich am Wochenende ein Kleid für den Abschlussball gekauft. – Und? – Schulterfrei
10
Satz
desk
Daniela hat sich am Wochenende ein Kleid für den Abschlussball gekauft. – Und? – Es ist schulterfrei
10
Frag
expr
Daniela hat sich am Wochenende ein Kleid für den Abschlussball gekauft. – Und? – Glamourös
10
Satz
expr
Daniela hat sich am Wochenende ein Kleid für den Abschlussball gekauft. – Und? – Er ist glamourös
10
Frag
gest
Daniela hat sich am Wochenende ein Kleid für den Abschlussball gekauft. – Und? – Superglamourös
10
Satz
gest
Daniela hat sich am Wochenende ein Kleid für den Abschlussball gekauft. – Und? – Er ist superglamourös
11
Frag
desk
Ich hab gestern zum ersten Mal einen Rinderbraten gekocht. – Und? – Zäh
11
Satz
desk
Ich hab gestern zum ersten Mal einen Rinderbraten gekocht. – Und? – Er war zäh
11
Frag
expr
Ich hab gestern zum ersten Mal einen Rinderbraten gekocht. – Und? – Eklig
11
Satz
expr
Ich hab gestern zum ersten Mal einen Rinderbraten gekocht. – Und? – Er war eklig
11
Frag
expr
Ich hab gestern zum ersten Mal einen Rinderbraten gekocht. – Und? – Supereklig
11
Satz
expr
Ich hab gestern zum ersten Mal einen Rinderbraten gekocht. – Und? – Er war supereklig
12
Frag
desk
Wir haben seit heute einen neuen Klassenlehrer. – Und? – Jung
12
Satz
desk
Wir haben seit heute einen neuen Klassenlehrer. – Und? – Er ist jung
12
Frag
expr
Wir haben seit heute einen neuen Klassenlehrer. – Und? – Fies
12
Satz
expr
Wir haben seit heute einen neuen Klassenlehrer. – Und? – Er ist fies
12
Frag
gest
Wir haben seit heute einen neuen Klassenlehrer. – Und? – Saufies
12
Satz
gest
Wir haben seit heute einen neuen Klassenlehrer. – Und? – Er ist saufies
13
Frag
desk
Ich habe mir am Wochenende in dem neuen Einkaufszentrum Stiefel gekauft. – Und? – Flach
13
Satz
desk
Ich habe mir am Wochenende in dem neuen Einkaufszentrum Stiefel gekauft. – Und? – Sie sind flach
Saulecker und supergemütlich! | 125
TSET
SENT
EXPR
KONTEXT+TARGET
13
Frag
expr
Ich habe mir am Wochenende in dem neuen Einkaufszentrum Stiefel gekauft. – Und? – Stylish
13
Satz
expr
Ich habe mir am Wochenende in dem neuen Einkaufszentrum Stiefel gekauft. – Und? – Sie sind stylish
13
Frag
gest
Ich habe mir am Wochenende in dem neuen Einkaufszentrum Stiefel gekauft. – Und? – Superstylish
13
Satz
gest
Ich habe mir am Wochenende in dem neuen Einkaufszentrum Stiefel gekauft. – Und? – Sie sind superstylish
14
Frag
desk
Ich habe mir gestern ein neues Hemd im Internet bestellt. – Und? – Kariert
14
Satz
desk
Ich habe mir gestern ein neues Hemd im Internet bestellt. – Und? – Es ist kariert
14
Frag
expr
Ich habe mir gestern ein neues Hemd im Internet bestellt. – Und? – Schick
14
Satz
expr
Ich habe mir gestern ein neues Hemd im Internet bestellt. – Und? – Es ist schick
14
Frag
gest
Ich habe mir gestern ein neues Hemd im Internet bestellt. – Und? – Todschick
14
Satz
gest
Ich habe mir gestern ein neues Hemd im Internet bestellt. – Und? – Es ist todschick
15
Frag
desk
Ich habe mir gerade das neue Album von Ed Sheeran runtergeladen. – Und? – Elektronisch
15
Satz
desk
Ich habe mir gerade das neue Album von Ed Sheeran runtergeladen. – Und? – Es ist elektronisch
15
Frag
expr
Ich habe mir gerade das neue Album von Ed Sheeran runtergeladen. – Und? – Schlecht
15
Satz
expr
Ich habe mir gerade das neue Album von Ed Sheeran runtergeladen. – Und? – Es war schlecht
15
Frag
gest
Ich habe mir gerade das neue Album von Ed Sheeran runtergeladen. – Und? – Grottenschlecht
15
Satz
gest
Ich habe mir gerade das neue Album von Ed Sheeran runtergeladen. – Und? – Es war grottenschlecht
16
Frag
desk
Thomas hat sich vor ein paar Tagen ein neues Motorrad gekauft. – Und? – Rot
16
Satz
desk
Thomas hat sich vor ein paar Tagen ein neues Motorrad gekauft. – Und? – Es ist rot
16
Frag
expr
Thomas hat sich vor ein paar Tagen ein neues Motorrad gekauft. – Und? – Prollig
16
Satz
expr
Thomas hat sich vor ein paar Tagen ein neues Motorrad gekauft. – Und? – Es ist prollig
126 | Ingo Reich
TSET
SENT
EXPR
KONTEXT+TARGET
16
Frag
gest
Thomas hat sich vor ein paar Tagen ein neues Motorrad gekauft. – Und? – Megaprollig
16
Satz
gest
Thomas hat sich vor ein paar Tagen ein neues Motorrad gekauft. – Und? – Es ist megaprollig
17
Frag
desk
Meine Oma hat mir zum Geburtstag eine Handtasche geschenkt. – Und? – Gepunktet
17
Satz
desk
Meine Oma hat mir zum Geburtstag eine Handtasche geschenkt. – Und? – Sie ist gepunktet
17
Frag
expr
Meine Oma hat mir zum Geburtstag eine Handtasche geschenkt. – Und? – Hässlich
17
Satz
expr
Meine Oma hat mir zum Geburtstag eine Handtasche geschenkt. – Und? – Sie ist hässlich
17
Frag
gest
17
Satz
gest
Meine Oma hat mir zum Geburtstag eine Handtasche geschenkt. – Und? – Superhässlich Meine Oma hat mir zum Geburtstag eine Handtasche geschenkt. – Und? – Sie ist superhässlich
18
Frag
desk
Daniel und ich waren heute eine Wohnung in Altstadt besichtigen. – Und? – Hell
18
Satz
desk
Daniel und ich waren heute eine Wohnung in Altstadt besichtigen. – Und? – Sie war hell
18
Frag
expr
Daniel und ich waren heute eine Wohnung in Altstadt besichtigen. – Und? – Schäbig
18
Satz
expr
Daniel und ich waren heute eine Wohnung in Altstadt besichtigen. – Und? – Sie war schäbig
18
Frag
gest
Daniel und ich waren heute eine Wohnung in Altstadt besichtigen. – Und? – Superschäbig
18
Satz
gest
Daniel und ich waren heute eine Wohnung in Altstadt besichtigen. – Und? – Sie war superschäbig
19
Frag
desk
Pascal und ich waren gestern Abend zum ersten Mal in dem neuen Pub. – Und? – Rustikal
19
Satz
desk
Pascal und ich waren gestern Abend zum ersten Mal in dem neuen Pub. – Und? – Es ist rustikal
19
Frag
expr
Pascal und ich waren gestern Abend zum ersten Mal in dem neuen Pub. – Und? – Gemütlich
19
Satz
expr
Pascal und ich waren gestern Abend zum ersten Mal in dem neuen Pub. – Und? – Es ist gemütlich
19
Frag
gest
Pascal und ich waren gestern Abend zum ersten Mal in dem neuen Pub. – Und? – Supergemütlich
19
Satz
gest
Pascal und ich waren gestern Abend zum ersten Mal in dem neuen Pub. – Und? – Es ist supergemütlich
Saulecker und supergemütlich! | 127
TSET
SENT
EXPR
KONTEXT+TARGET
20
Frag
desk
Wir waren gestern eine Ausstellung von meinem Kumpel Fabian anschauen. – Und? – Abstrakt
20
Satz
desk
Wir waren gestern eine Ausstellung von meinem Kumpel Fabian anschauen. – Und? – Sie war abstrakt
20
Frag
expr
Wir waren gestern eine Ausstellung von meinem Kumpel Fabian anschauen. – Und? – Schräg
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Satz
expr
Wir waren gestern eine Ausstellung von meinem Kumpel Fabian anschauen. – Und? – Sie war schräg
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Frag
gest
Wir waren gestern eine Ausstellung von meinem Kumpel Fabian anschauen. – Und? – Superschräg
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gest
Wir waren gestern eine Ausstellung von meinem Kumpel Fabian anschauen. – Und? – Sie war superschräg
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Frag
desk
Ich habe heute Kollegin zum ersten Mal getroffen. – Und? – Kompetent
21
Satz
desk
Ich habe heute Kollegin zum ersten Mal getroffen. – Und? – Sie ist kompetent
21
Frag
expr
Ich habe heute Kollegin zum ersten Mal getroffen. – Und? – Arrogant
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Ich habe heute Kollegin zum ersten Mal getroffen. – Und? – Sie ist arrogant
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gest
Ich habe heute Kollegin zum ersten Mal getroffen. – Und? – Arrogant
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Satz
gest
Ich habe heute Kollegin zum ersten Mal getroffen. – Und? – Sie ist superarrogant
22
Frag
desk
Letztes Wochenende waren wir mit der ganzen Familie am Strand. – Und? – Steinig
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Satz
desk
Letztes Wochenende waren wir mit der ganzen Familie am Strand. – Und? – Er war steinig
22
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expr
Letztes Wochenende waren wir mit der ganzen Familie am Strand. – Und? – Verdreckt
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expr
Letztes Wochenende waren wir mit der ganzen Familie am Strand. – Und? – Er war verdreckt
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Frag
gest
Letztes Wochenende waren wir mit der ganzen Familie am Strand. – Und? – Dreckig
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gest
Letztes Wochenende waren wir mit der ganzen Familie am Strand. – Und? – Er war saudreckig
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Frag
desk
Gestern wurde endlich unsere neue Einbauküche geliefert. – Und? – Weiß
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desk
Gestern wurde endlich unsere neue Einbauküche geliefert. – Und? – Sie ist weiß
128 | Ingo Reich
TSET
SENT
EXPR
KONTEXT+TARGET
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Frag
expr
Gestern wurde endlich unsere neue Einbauküche geliefert. – Und? – Edel
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Gestern wurde endlich unsere neue Einbauküche geliefert. – Und? – Sie ist edel
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Frag
gest
Gestern wurde endlich unsere neue Einbauküche geliefert. – Und? – Superedel
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gest
Gestern wurde endlich unsere neue Einbauküche geliefert. – Und? – Sie ist superedel
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Frag
desk
Meine Eltern haben sich vor kurzem zwei Papageien geholt. – Und? – Bunt
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desk
Meine Eltern haben sich vor kurzem zwei Papageien geholt. – Und? – Sie sind bunt
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Meine Eltern haben sich vor kurzem zwei Papageien geholt. – Und? – Nervig
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Meine Eltern haben sich vor kurzem zwei Papageien geholt. – Und? – Sie sind nervig
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Meine Eltern haben sich vor kurzem zwei Papageien geholt. – Und? – Supernervig
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Meine Eltern haben sich vor kurzem zwei Papageien geholt. – Und? – Sie sind supernervig
Frank Liedtke & Lena Rosenbaum
Interjektionen und Kontextbezug Pragmatische Templates als Analysemodell Abstract: Vor dem Hintergrund einer wissenschaftshistorischen Betrachtung von Beschreibungsansätzen für Interjektionen, die diese je nach Ausrichtung als Naturlaute oder als konventionalisierte Sprachlaute auffassten, werden gegenwärtige grammatische und pragmatische Konzeptionen diskutiert. Ein hierbei auftretendes Problem ist die angenommene Nicht-Referentialität von Interjektionen, die gleichwohl auf Ereignisse oder Objekte der Äußerungsumgebung bezogen sind. Ein Lösungsvorschlag ist die Annahme von pragmatischen Templates als Bündel von semantischer und kontextueller Information, die den Gegenstandsbezug von Interjektionen als Teil des Verwendungswissens behandelt.
1 Vorbemerkung Sind Interjektionen wie Ah!, Ih! oder Ui! sprachliche Phänomene oder nicht? Wurde diese Frage in philosophischen, psychologischen oder linguistischen Arbeiten zur Wende des 19. zum 20. Jahrhundert durchaus unterschiedlich beantwortet, so scheint es heute unbestritten zu sein, dass es sich um – wenngleich randständige – Erscheinungsformen der Sprache handelt. Mit dieser Entscheidung ist eine Prinzipienfrage beantwortet, eine andere aber wiederum aufgeworfen: Um welche Art von sprachlichen Phänomenen handelt es sich? Diese Frage ist alles andere als geklärt, reichen die Auffassungen doch von der Annahme einer eigenen Wortklasse über die Zuordnung zu Partikeln bis hin zu ihrer Einordnung als Satzäquivalente oder Kurzsätze; schließlich wurde Interjektionen die Eigenschaft zugewiesen, die Grenze zwischen Wort und Satz aufzuheben. Unter dem Eindruck, dass eine Kategorisierung allein durch formale Merkmale viele Vorkommnisse ausblendet und so ihren Gegenstand letztlich zu eng definiert, wurden Ansätze formuliert, die sich auf funktionale Kriterien stützen. Als zentrales Kriterium wurde dasjenige des Ausdrucks von Emotionen aufgestellt, und in der so gewonnenen Kategorie versammelten sich die unterschiedlichsten Ausdrucksformen in ihrer ganzen Breite. Der sich sofort einstellende Eindruck, dass dies wiederum zu einer hybriden Kategorie führt, die zu viel unter
https://doi.org/10.1515/9783110630190-006
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einem Dach vereint (beispielsweise auch Exklamativsätze), führte zu einer Kombination von formalen und funktionalen Merkmalen, mit deren Hilfe ein einigermaßen adäquater Begriff von Interjektion gewonnen werden sollte. Den vielfältigen Versuchen, zu einer adäquaten Auffassung zu kommen, was eine Interjektion sei, die in den beiden folgenden Abschnitten dieses Beitrags auszugsweise nachgezeichnet werden, soll hier kein weiterer hinzugefügt werden. Es geht vielmehr darum, vor dem Hintergrund des Referats bisheriger Ansätze ein Beschreibungsmodell für den Gebrauch von Interjektionen vorzustellen, das sich auf wesentliche Eigenschaften ihres Vorkommens in sprachlicher Kommunikation stützt. Gefragt wird in diesem Zusammenhang vor allem, welcher Art von Informationen es bedarf, um geäußerte Interjektionen interpretieren zu können, und weiterhin, wo diese Informationen theoretisch zu lokalisieren sind – als Komponenten des geäußerten Ausdrucks oder als Teil des Kontextwissens, das zur Interpretation herangezogen wird. Die hier verfolgte Strategie wird sein, den Löwenanteil der interpretationsrelevanten Information nicht als Teil der Äußerung inklusive ihrer semantischen Interpretation aufzufassen, sondern als Teil des Kontextwissens, das zur Interpretation oder Deutung der vollzogenen Äußerung herangezogen wird. Programmatisch steht hinter dieser Strategie das Bemühen, Fragen der Bedeutung von Ausdrücken von Fragen der Deutung im Vollzug ihrer Äußerung zu trennen und auf diese Weise zu einer adäquaten Beschreibung des engen Verhältnisses von Interjektion und Kontextinformation zu kommen. Interjektionen werden als Äußerungstypen aufgefasst, deren zentraler Gebrauch (im Sinne einer proper function, vgl. Millikan 2008) im Ausdruck von Emotionen wie Freude, Ärger, Überdruss, Schrecken, Begeisterung, Abscheu und anderen besteht. Sie haben in der Regel keinen oder nur einen schwachen deskriptiven Gehalt; sie „dienen ausschließlich der Expressivität des emotionalen Empfindens“ (Schwarz-Friesel 2013: 155). Wenn – wie bei sekundären Interjektionen – einzelne Wörter bzw. Wortverbindungen mit lexikalischer Bedeutung zugrundeliegen, kann von einer (kontinuierlichen) Verblassung der ursprünglich referentiellen Funktion zugunsten einer oder mehrerer Funktionen im Gespräch ausgegangen werden (vgl. Reisigl 1999). Verwandte Äußerungstypen sind expressive Sprechakte wie Gratulieren, Kondolieren und andere, die sich mehr oder weniger explizit auf den Anlass ihres Vollzugs beziehen. Dieser Bezug fehlt bei Interjektionen, er wird rein kontextuell hergestellt. Das auffälligste Merkmal ist daher ihre Nicht-Propositionalität, es wird weder ein Referenz- noch ein Prädikationsakt vollzogen. Wie ihre Äußerung gleichwohl auf einen identifizierbaren Sachverhalt bezogen werden kann, soll im Verlaufe dieses Beitrags durch das Modell der pragmatischen Templates verdeutlicht werden. Bevor dies angegangen wird, soll
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zunächst ein Blick in die überaus reiche Tradition der Behandlung von Interjektionen geworfen werden.
2 Naturlaute, Sprachlaute, Affektlaute In der Sprachtheorie der letzten Jahrhundertwende wurden Interjektionen als historische Urformen oder als Mischkategorie im Übergangsbereich zwischen Naturlauten und kulturell determinierten sprachlichen Äußerungen aufgefasst – das heißt grob gesagt als Phänomene, die zwischen Natur und Kultur angesiedelt sind. In Hermann Pauls ‚Prinzipien der Sprachgeschichte‘, deren erste Auflage 1880 erschien, wurden Interjektionen als Beispiele für spontane Sprachschöpfungen durch die Sprachbenutzer eingeführt. Sie befinden sich dabei auf einer Stufe mit den lautmalenden, onomatopoetischen Formen. Entsprechend betrachtet H. Paul Interjektionen als „unwillkürlich ausgestossene Laute, die durch den Affekt hervorgetrieben werden, auch ohne jede Absicht der Mitteilung“ (Paul 1920: 179). Allerdings – und hier unterscheidet sich Paul von nachfolgenden Ansätzen – handelt es sich nicht um „wirkliche Naturlaute“ wie Lachen oder Weinen. Sie sind vielmehr konventionelle Bildungen, „gerade so gut durch die Tradition erlernt wie die übrigen Elemente der Sprache“ (Paul 1920: 179). Den zwanzig Jahre nach Pauls ‚Prinzipien‘ erschienenen ersten Band der Völkerpsychologie, Die Sprache (1. Auflage 1900) eröffnet Wilhelm Wundt in einer genealogischen Perspektive mit sogenannten Ausdrucksbewegungen. Er geht sodann zur Gebärdensprache über und gelangt in einem dritten Schritt zu den Sprachlauten. Hier begegnen uns die sogenannten Naturlaute, und sie umfassen „alle Stimmlaute der Tiere und des Menschen, die der Wortsprache vorausgehen oder als Überlebnisse eines vorsprachlichen Zustandes in sie hineinreichen“ (Wundt 1921: 307). Ein Widerhall von Johann Gottfried Herders Sprachursprungsschrift mit seiner berühmten Wendung „Schon als Tier hat der Mensch Sprache“ (Herder 1966 [1772]: 5) ist hier durchaus zu spüren. Nicht zufällig fasst Herder die „tönenden Interjektionen“ als „Grundwurzeln der Sprache“ auf (Herder 1966 [1772]: 47). Die erwähnten Naturlaute Wilhelm Wundts sind in seiner Stufenfolge der Gegenpart der konventionalisierten Sprachlaute. Dieses „Hineinreichen“ in die Wortsprache tritt entweder in Form unartikulierter Schreilaute auf, die sich allerdings auf die Äußerungen des Schmerzes, der Wut oder des Jubels beschränken, oder in Gestalt artikulierter Gefühlslaute, die etwas „mäßigere Gefühle“ ausdrücken. Diese in die Wortsprache hineinreichenden Naturlaute werden den primären Interjektionen zugeordnet. Wundt charakterisiert sie auch als „Trümmer
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einer vorsprachlichen Stufe“ (Wundt 1921: 308), die den Zusammenhang der Rede unterbrechen. Aufgrund einer von der Sitte gebotenen „Mäßigung der Affektäußerungen“ (Wundt 1921: 308) ist die Zahl der primären Interjektionen beschränkt, und sie wird allmählich ersetzt durch die sekundären Interjektionen. Es handelt sich dabei um „diejenigen reinen Gefühlsäußerungen […], die in andere sprachliche Formen eingekleidet werden“ (Wundt 1921: 309), wie beispielsweise „mein Gott“, „Donnerwetter“ und „o Himmel“.
3 Abgrenzungskriterien In der nachfolgenden Grammatikographie findet sich ein Reflex dieser frühen sprachpsychologischen Überlegungen, beispielsweise in der Deutschen Syntax von Otto Behaghel von 1928. Die hier gegebene Charakterisierung fasst die bisher dargestellten Ansätze gleichsam zusammen; sie lautet: 1101. Die Interjektionen sind entweder Empfindungslaute, die durch äußere oder innere Vorgänge ausgelöst werden (Reflexlaute), z.B. ach, ah, ei, oder Laute, die bei anderen Reflexvorgänge auslösen sollen (erregende Laute): he, holla, pst […] oder endlich Schallnachahmungen: patsch, puff, tandaradei. […] 1102. Es gibt ursprüngliche (primäre) und unursprüngliche, aus anderen Wortgattungen hergeleitete Interjektionen (z.B. hola! weng!). […] 1103. Eine Interjektion kann für sich allein einen eingliedrigen Satz bilden […]. (Behaghel 1928: 435)
Auffallend ist einerseits, dass Schallnachahmungen, also Onomatopoetika, zu den Interjektionen gezählt werden, andererseits, dass satzförmige Interjektionen vorgesehen sind. Eine klassifikatorisch anderslautende Entscheidung in Bezug auf die „ursprünglichen“ oder „primären“ Interjektionen finden wir bei Otto Jespersen als „words which are never used otherwise“ (Jespersen 1924: 90). Hier findet sich ein sehr früher Beleg dafür, sie der Wortklasse der Partikeln zuzuweisen: „Those interjections which cannot be used except as interjections may most conveniently be classed with other particles“ (Jespersen 1924: 90). Diesen Partikeln-Interjektionen stellt er solche Wörter gegenüber, die der Alltagssprache entnommen sind, wie Well!, Why! oder Nonsense! (vgl. Jespersen 1924: 90). Zu einer anderen Auffassung gelangt Leonard Bloomfield. Er schreibt über „Interjections“: They „occur predominantly as minor sentences, entering into few or no constructions other than parataxis“ (Bloomfield 1933: 176ff., zit. n. Ameka 1992: 104). Daraufhin erfolgt die vertraute Zweiteilung als „either special
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words such as ouch, oh, sh, gosh, hello, sir, ma‘am, yes, or else phrases (secondary interjections), often peculiar constructions, such as dear me, goodness me, […]“ (Bloomfield 1933: 176ff., zit. n. Ameka 1992: 104). In dieser Sicht sind Interjektionen einschließlich primärer Interjektionen also kurze oder kleinere Sätze. Im Rahmen seiner Klassifikation von Sprachfunktionen nimmt Roman Jakobson eine emotive Funktion an – und dies in expliziter Anlehnung an Marty (1908) (vgl. Jakobson 1979: 89). Diese charakterisiert er folgendermaßen: Die emotive Schicht der Sprache findet sich am reinsten in den Interjektionen verwirklicht. Sie unterscheiden sich von den referentiellen sprachlichen Mitteln sowohl durch ihren phonischen Bau (eigentümliche Lautfolgen und auch sonst unübliche Laute) als auch durch ihre syntaktische Rolle (sie sind nicht Komponenten, sondern Äquivalente von Sätzen). (Jakobson 1979: 89)
Konrad Ehlich bezieht sich in seiner Monographie über Interjektionen ebenfalls auf ihre emotionale Funktion, allerdings in einer interaktionalen Perspektive. Interjektionen „ermöglichen ein unmittelbares Eingreifen in die psychischen Verarbeitungen der kommunikativen Abläufe“ (Ehlich 1986: 232). Für die Formseite von Interjektionen gilt, dass sie durch spezifische Bildungsverfahren gekennzeichnet sind. So überwiegen im Gegensatz zu nicht-interjektionalen Einheiten die vokalischen Bildungsmöglichkeiten. Dadurch und durch die weitgehend monosyllabische Einheitenbildung können tonale Strukturen zur Anwendung kommen, die eine gewisse Ähnlichkeit zu Tonsprachen zur lexikalischen Differenzierung aufweisen (vgl. Ehlich 1986: 212). In einer rein interaktionalen Analyse nimmt Irving Goffman die von ihm sogenannten response cries in den Fokus (vgl. Goffman 1981). In dem einschlägigen Kapitel seines Buches werden Formen des nicht-adressierten Sprechens wie Selbstgespräche, aber auch ausgestoßene Äußerungen wie Flüche, Verwünschungen und Freudenrufe untersucht. Diesem Verhalten stehen Verwendungen von Interjektionen gegenüber, in denen der Äußernde ein ratifizierter Teilnehmer einer gerade ablaufenden Konversation ist, „[…] a ratified participant of ongoing conversation, not merely someone copresent to others or in an open state of talk“ (Goffman 1981: 107). In allen diesen Fällen bewegen wir uns als Sprecher im „shelter of communication“, wie Goffman es ausdrückt (Goffman 1981: 108). In seinem Aufsatz über Interjektionen definiert Felix Ameka diese konzise als vokale Gesten und analogisiert sie so mit nicht-sprachlichen Ausdrucksmitteln: „Interjections are relatively conventionalized vocal gestures which express a speaker᾿s mental state, action or attitude or reaction to a situation“ (Ameka 1992: 106).
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Funktional unterscheidet Ameka (1992: 114) zwischen expressiven Interjektionen, die als Symptome des mentalen Zustands des Sprechers gelten (zum Beispiel Igitt! Aha!), konativen Interjektionen, die an Adressat_innen gerichtet sind (wie Pst! oder Hä?) und phatischen Interjektionen, die als Mittel zur Etablierung oder Aufrechterhaltung des kommunikativen Austausches gelten, aber auch Hörerrückmeldungen umfassen (Mhm. Ja.). Wichtig ist in diesem Zusammenhang seine Unterscheidung zwischen der Wortklasse der Interjektionen einerseits und dem betreffenden Äußerungstyp, der als Exklamativ eingeführt wird (Ameka 1992: 108). Auf eine formale wie funktionale Charakterisierung zielt die IdS-Grammatik ab. Interjektionen werden als eine Klasse „selbständiger funktionaler Einheiten im Diskurs“ aufgefasst (Zifonun, Hoffmann & Strecker 2011: 362). Da sie sich weder der Wortebene noch der Satzebene umstandslos zuordnen lassen, werden Interjektionen – zusammen mit einer weiteren Kategorie der Responsive – als ‚interaktive Einheiten‘ gekennzeichnet (Zifonun, Hoffmann & Strecker 2011: 362). Gegen die Zuordnung zur Satzebene argumentiert auch Fries (1988). Damaris Nübling (2004) diskutiert in expliziter Weise mögliche Definitionsoder Abgrenzungskriterien für Interjektionen, wobei die so herausgebildete Kategorie keine klassischen Entweder-Oder-Entscheidungen zulässt, sondern eine prototypische Struktur aufweist. Entsprechend beinhaltet die Kategorie Ausdrücke, die eine Vielzahl der festgestellten interjektionalen Eigenschaften haben, und andere, die nur wenige dieser Eigenschaften aufweisen, dafür aber einige der Nachbarkategorien, nämlich einerseits der Gliederungspartikeln, andererseits der Onomatopoetika. Sie fasst Interjektionen auf als „satz-/textwertige Wörter, deren Primärfunktion der spontane Emotionsausdruck ist“ (Nübling 2004: 38). Ist man an einer Zusammenschau einiger der besprochenen Ansätze interessiert, dann lassen sich verschiedene Eigenschaften für Interjektionen nennen, die klassifikatorisch relevant sind, sowohl bezüglich der Abgrenzung zu anderen Kategorien als auch hinsichtlich der Binnengliederung der Kategorie selbst. So lassen sich Interjektionen danach unterscheiden, ob sie durch innere oder äußere Faktoren ausgelöst sind oder ob sie selbst auslösende Wirkung haben, etwa auf die Handlungen oder Gefühle der Angesprochenen – diese Unterscheidung traf Behaghel. Durchgängig wird die von Wundt eingeführte Unterscheidung zwischen primären und sekundären Interjektionen beibehalten, wobei die primären als Partikeln (Jespersen), andererseits primäre wie sekundäre Interjektionen auch als Kurzsätze (Bloomfield) klassifiziert werden. Ihnen wird – in Form von Satzäquivalenten – wesentlich eine emotive, nicht-referentielle Funktion zugewiesen (Jakobson). Allerdings wird neben der emotiven/expressiven Funktion
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auch eine konative – im Sinne der auslösenden Funktion Behaghels – wie eine phatische Funktion angenommen (Ameka). Neben weiteren formalen Eigenschaften wie semantischer Intransparenz (Nübling) und Nicht-Propositionalität (IdS-Grammatik) werden auch der illokutionäre sowie der monologische Charakter von Interjektionen hervorgehoben (Nübling). Abgrenzungsfragen entstehen vor allem zur benachbarten Kategorie der Onomatopoetika, aber auch zu Gesprächspartikeln, die von einigen Autor_innen zu den Interjektionen gezählt werden (Ehlich, IdS-Grammatik), von anderen hingegen nicht (Nübling). Im Folgenden soll die funktionale Strategie, die von einigen der angesprochenen Ansätze verfolgt wird, ebenfalls eingeschlagen werden. Dies geschieht vor allem aus der Überlegung heraus, dass es in vielen Fällen von der Verwendung eines Ausdruckstyps abhängt, welcher Kategorie dieser zuzuordnen ist. Oft bietet sich die Wort-, Phrasen- oder Satzebene gleichermaßen an für eine Zuordnung, und selbst wenn man sich für eine dieser Ebenen entschieden hat, beispielsweise die Wortebene, ist eine eindeutige Zuordnung zu einer Wortklasse oft nicht möglich. Dies war schon für Behaghel ein starkes Motiv für die Annahme ‚unursprünglicher Interjektionen‘, die aus anderen Wortarten abgeleitet werden. Es stellt sich in diesem Fall die Frage, welche Kriterien jeweils für die Klassifizierung eines Ausdrucks als Interjektion oder als Vertreter einer ‚ursprünglichen‘ Wortart angenommen werden können – wenn es nicht Kriterien des Gebrauchs sind. Aus dieser Überlegung heraus soll der Terminus Interjektion in der weiteren Argumentation im Sinne eines Ausdrucks mit interjektiver Funktion verwendet werden. Es geht also nicht um eine Klasse von Ausdrücken, sondern um eine Klasse von Verwendungen von Ausdrücken. Die Abgrenzungskriterien sollen mit Ameka (1992) in der expressiven, konativen oder phatischen Funktion von Interjektionen gesehen werden: Sie dienen dem Ausdruck einer emotionalen Einstellung, dem Hervorrufen einer Einstellung oder Handlung bei den Adressaten oder aber der Aufrechterhaltung des kommunikativen Austauschs selbst, möglicherweise als Reaktion auf Gesagtes. Die formalen Eigenschaften der Ausdrücke, die für den interjektionalen Gebrauch in Frage kommen, sind mit dieser Funktion korreliert. Es handelt sich um nicht-referierende und nicht-propositionale Kurzformen, die holophrastisch auftreten, nicht flektiert sind und eine eigene tonale Struktur haben. In dieser phonetisch ‚markierten‘, semantisch ‚leichten‘, morphologisch ‚einfachen‘ und syntaktisch ‚freien‘ Form sind sie auf die typische Verwendungssituation – ihre proper function – zugeschnitten. Allerdings ergeben sich die formalen Charakteristika nicht zwingend aus der funktionalen Bestimmung, denn expressive, konative oder phatische Funktionen werden auch mit Ausdruckstypen realisiert, die nicht zu den Interjektionen gezählt werden sollten. Es ist also ein zusätzliches Kriterium erforderlich, das mit
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den schon genannten Bedingungen hinreichend ist für die Zuweisung zur Kategorie – dem Prototyp – der Interjektionen. Die entscheidende Eigenschaft von Interjektionen ist ihr intrinsischer Kontextbezug, d. h. der Verweis auf vorausgesetzte oder im Vollzug gegebene Informationen, die nicht durch das jeweils verwendete Sprachmittel zur Verfügung gestellt werden – und es auch nicht müssen. Prototypische Interjektionen haben insofern eine verweisende Funktion, indem sie eine Perspektivierung oder Bewertung eines wahrgenommenen, erzählten oder anderweitig gegebenen Sachverhalts vornehmen. Sie beziehen sich auf einen präsenten oder präsentierten Sachverhalt, der nicht eigens benannt werden muss. Einige Autoren haben daraus geschlossen, dass Interjektionen die Eigenschaft der Indexikalität haben. Mit dieser Auffassung werden wir uns im Folgenden auseinandersetzen. Zuvor soll jedoch noch ein Punkt angesprochen werden, der implizit mit der Eigenschaft der Illokutionalität schon genannt wurde: Es geht um die Frage, inwiefern Interjektionen Sprechakte sind.
4 Sprechakte und prozedurale Bedeutung Aus der Diskussion einiger der vorliegenden Erklärungsansätze für Interjektionen ergab sich, dass mit ihnen weder auf einen – möglicherweise auslösenden – Sachverhalt referiert wird, noch mit ihrer Äußerung ein irgendwie gearteter propositionaler Gehalt übermittelt wird. Nicht-Referentialität und Nicht-Propositionaliät sind somit, neben der Eigenschaft der Expressivität, definierende Merkmale für den interjektionalen Prototyp. Andererseits ergibt sich aus der Tatsache, dass sie formal gesehen syntaktische Autonomie aufweisen, also syntagmatisch nicht eingebettet werden können, ihr Status als eigenständiger Sprechakt. Fasst man Äußerungen wie beispielsweise Toll! als Kommentar einer Sprecherin A in Bezug auf eine beeindruckende Handlung ihres Gegenübers auf, dann würde man nicht zögern, dies als einen Sprechakt aufzufassen, mit dem A ihre Bewunderung ausdrückt. Die Frage ist allerdings, ob es sich beim Äußern von Interjektionen tatsächlich um illokutionäre Akte handelt. Searle selbst beantwortet dies offenkundig positiv, spricht er doch in seinem Buch ‚Sprechakte‘ Vorkommnissen wie Hurrah für Manchester United oder Nieder mit Caesar jeweils einen Indikator der illokutionären Rolle zu (vgl. Searle 2003: 51, Fn. 10). Der Propositionsindikator ist hier allerdings durch eine Variable n für hinweisende Ausdrücke ersetzt, so dass sich die Struktur F(n) ergibt und nicht F(p), wie es für propositionshaltige Sprechakte üblich ist (vgl. Searle 2003: 51, Fn. 10). Klassifikatorisch liegt die Zuordnung von Interjektionen zu den Expressiva nahe. Das für diese Klasse relevante Kriterium des illokutionären Zwecks besagt
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jedoch, dass der „in der Aufrichtigkeitsbedingung angegebene psychische Zustand zum Ausdruck gebracht wird, der wiederum auf eine im propositionalen Gehalt aufgeführte Sachlage gerichtet ist“ (Searle 2004: 34). Daraus, dass Expressiva keine Ausrichtung haben, folgt weiterhin, dass „vorausgesetzt wird, dass die zum Ausdruck gebrachte Proposition wahr ist“ (Searle 2004: 34). Diese hat nun die Form „S/H + Eigenschaft“ (Searle 2004: 35), das heißt mit einem Sprechakt wie Ich gratuliere dir zum Rennsieg wird in diesem Fall H die Eigenschaft zugeschrieben, das Rennen gewonnen zu haben. Diese Analyse von Expressiva mitsamt den Spezifika für den Status des – präsupponierten – propositionalen Gehalts trifft für den angegebenen Typ zweifellos zu: Der Rennsieg wird mit dem Sprechakt nicht behauptet, sondern als errungen vorausgesetzt. Interjektionale Äußerungen werden aufgrund des Fehlens eines propositionalen Gehalts von dieser Analyse allerdings nicht erfasst. Genau auf diesen Punkt weist auch Wharton (2003: 86–87) hin. Seiner Meinung nach ist der Sprechaktansatz Searles daher nur begrenzt für die Analyse von Interjektionen und die Frage, was durch sie übermittelt wird, geeignet. Ist ein propositionaler Gehalt nicht vorhanden, kann auch keine (emotionale) Einstellung zu diesem zum Ausdruck gebracht werden. Wharton verdeutlicht die Problematik an drei Gebrauchsvarianten von Interjektionen. So enthalten die beiden Beispiele Wow! You’re here und Wow! This ice cream is delicious jeweils einen propositionalen Gehalt, auf den sich die Interjektion Wow! bezieht. Im ersten Fall spricht Wharton (2003: 86) von einer sogenannten „higher-level-explicature“, die Informationen zur emotionalen Einstellung des Sprechers (Wow!) in Bezug auf den propositionalen Gehalt der unmittelbar folgenden Äußerung (You’re here.) enthält, also im Sinne von: ‚The speaker is delighted that I am here‘. Davon unterscheidet er den Gebrauch von wow im zweiten Beispiel, da hier eine Einstellung zu einem Objekt (ice cream) und nicht zum propositionalen Gehalt der unmittelbar folgenden Äußerung (This ice cream is delicious.) zum Ausdruck gebracht wird (Wharton 2003: 87). Die dritte Gebrauchsvariante verdeutlicht er am Beispiel von Yuk!, einer alleinstehenden Interjektion als Ausdruck des Ekels oder der Abscheu, die als vollständige Äußerung gebraucht wird (Wharton 2003: 87). In diesem Beispiel ist in der Tat keine Proposition vorhanden, auf die sich die Interjektion beziehen könnte. Während sich die erste Gebrauchsvariante von Wow! noch gut mit Searles Sprechakttheorie erklären lässt, da sie eine Einstellung zum propositionalen Gehalt der Gesamtäußerung ausdrückt, ist eine derartige Analyse bei der zweiten Gebrauchsvariante schon zu modifizieren, da sie eher die Struktur F(n) hat, und bei der dritten, alleinstehenden Gebrauchsvariante scheitert sie schließlich. Wharton (2003: 87) schlägt deshalb vor, von emotionalen Einstellungen im Sinne
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von Empfindungen (sog. „feelings“ oder „sensations“) zu sprechen, die durch Interjektionen übermittelt werden. Im Gegensatz zu Emotionen wie beispielsweise Trauer enthielten diese Empfindungen nicht zwangsläufig kognitive, qualitative und physiologische Elemente. Um genauer zu beschreiben, was mit Interjektionen zum Ausdruck gebracht wird, stellt Wharton (2003: 89–92) seinen „prozeduralen Ansatz“ zur Analyse von Interjektionen vor. Diesen Ansatz stellt er als Alternative dem semantischen, bzw. von ihm als „konzeptionalistisch“ beschriebenen, Modell zur Bedeutung von Interjektionen gegenüber. Seiner Auffassung nach sind in Interjektionen prozedurale Informationen kodiert, die potenziell unterschiedliche Einstellungskonzepte aktivieren: For instance, wow would not encode a unique conceptual representation that a hearer translates as ‘X is delighted’. Instead it might activate (or add an extra layer of activation to) a range of attitudinal descriptions associated with delight, surprise, excitement, etc. (Wharton 2003: 90)
Ob der Hörer die jeweilige Interjektion – und damit das entsprechend durch die Interjektion aktivierte Einstellungskonzept – auf eine Proposition oder ein Objekt bezieht, variiere je nach Situation. Wharton (2003: 87) vermutet allerdings, dass sich die meisten Interjektionen auf unmittelbar wahrgenommene Objekte oder Ereignisse beziehen und nur im weiteren Sinne auf Propositionen. Wollte man den Sprechaktansatz gegen diese Kritik verteidigen, so könnte man die searlesche Analyse für Interjektionen F(n) als allgemeines Schema zugrundelegen. Das Objekt, auf das sich die Interjektion bezieht, wäre dann durch den Platzhalter n markiert, der in diesem Fall nicht einen propositionalen, sondern einen nominalen Indikator darstellte. Zusätzlich könnte man bezüglich des ausgedrückten psychischen Zustands eine Öffnungsklausel einführen, die nicht nur einen, sondern eine umschriebene Menge solcher Zustände zuließe – etwa {Abneigung, Abscheu, Ekel, …} für die Interjektion yuk. Wäre durch diese Schritte die strukturelle Einpassung in das Begriffsschema der Sprechakttheorie möglich, so bliebe doch der prozedurale Charakter der Interjektionen unberücksichtigt. Procedural meaning ist eine besondere Art von Bedeutung, die sich von propositionaler oder konzeptueller Bedeutung unterscheidet. Sie kommt Elementen zu, die die Verarbeitung von propositionaler Information im Diskurs erleichtern sollen, ohne selbst Bestandteil dieser Information zu sein. In der ursprünglichen Konzeption von Blakemore (1987) traf dies auf Diskurspartikeln oder Konnektoren zu. Eine erweiterte Sicht auf das Phänomen nehmen Escandell-Vidal, Leonetti & Ahern (2011) ein, indem sie schreiben:
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Linguistic items with procedural meaning contain computational information that requires a propositional representation to which they should apply, without being themselves constituents of the proposition they are attached to. (Escandell-Vidal, Leonetti & Ahern 2011: xix)
Aus dieser Definition für procedural meaning wird allerdings auch deutlich, dass diese auf propositionale Bedeutung bezogen ist, deren Verarbeitung wiederum erleichtert werden soll. Bei vollständigem Fehlen propositionaler Bedeutung haben die entsprechenden sprachlichen Elemente nicht mehr diese Hilfestellung – sie stehen für sich. Daraus wird deutlich, dass der Begriff der prozeduralen Bedeutung, der von Wharton vertreten wird, einen wichtigen Aspekt von Interjektionen erfasst, gleichzeitig aber alle Interjektionen, die nicht auf eine vorhergehende oder nachfolgende Proposition bezogen sind, unberücksichtigt lässt. Auch Whartons Ansatz ist also in einer wichtigen Hinsicht unterdeterminiert. Hieraus ergibt sich die Aufgabe, ein möglichst vollständiges Analyseschema für Interjektionen zu entwickeln, das die Eigenschaften der Nicht-Propositionalität und Nicht-Referentialität für die unterschiedlichen Arten von Interjektionen erfassen kann. Da der Weg zu einer solchen Analyse über die Berücksichtigung des intrinsischen Kontextbezugs verläuft, soll dieser grundlegende Begriff zunächst näher erläutert werden.
5 Intrinsischer Kontextbezug Ameka stellt in seinem schon erwähnten Aufsatz den Kontextbezug klar heraus: „Interjections […] are all produced in reaction to a linguistic or extra-linguistic context, and can only be interpreted relative to the context in which they are produced” (Ameka 1992: 108). Dieser Auffassung wird hier gefolgt. Allerdings verbirgt sich hinter der Erklärungsstrategie des intrinsischen Kontextbezugs ein begriffliches Problem: Was heißt Bezug? Schließt man sich dem Common Sense an, der Interjektionen Referentialität abspricht, betont aber gleichzeitig den Kontextbezug als Angemessenheitsbedingung für ihre Verwendung, dann gerät man nur dann nicht in ein begriffliches Dilemma, wenn man den Kontextbezug als nichtreferentiellen Bezug auffasst. Die Lösung, nicht Referenz, sondern eine Existenzpräsupposition anzunehmen, ist – wie wir sahen – nur bei expressiven Sprechakten möglich, die sich auf einen expliziten propositionalen oder nominalen Gehalt beziehen lassen. Fehlt dieser oder bleibt er implizit, dann ist die Präsuppositionsanalyse nicht ohne weiteres möglich. Es ist also erforderlich, den intrinsi-
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schen Kontextbezug in einer Weise zu explizieren, die das Dilemma der Referentialität vermeidet. Im folgenden Abschnitt sollen einige Vorschläge zur Ausarbeitung eines solchen Explikationsschemas gemacht werden. Wilkins (1992) machte einen wichtigen Schritt hin zu einer solchen Erklärung, indem er die indexikalische Eigenschaft von Interjektionen herausstellte (vgl. auch Berdychowska 2011). In der Tat haben Interjektionen wie die von Nübling (2004) getesteten Ih!, Ah! oder Ui! wichtige Eigenschaften, die auch Ausdrücke wie Hier oder Gleich haben. Ohne Kenntnis der Situation, in der sie geäußert werden, können sie nicht verstanden werden. Allerdings würde man sagen wollen, dass mit der Äußerung von Hier oder Gleich eine Referenz erfolgt auf den Ort, an dem sich S befindet bzw. auf einen Zeitpunkt kurz nach dem Äußerungszeitpunkt – es handelt sich also um sprecherbezogene bzw. äußerungsabhängige Referenz –, was mit der Annahme der Nicht-Referentialität konfligiert. Der deiktische Charakter von Interjektionen kann also nur bei gleichzeitiger Referentialitätsannahme postuliert werden. Eine mit der Indexikalitätsannahme verwandte Erklärungsstrategie ist die in der neueren Pragmatik vorherrschende Auffassung, die von uns geäußerten Sätze seien nur ein Teil dessen, was im Diskurs kommuniziert werde; ein anderer Teil bleibe implizit in dem, was gesagt wurde, habe aber die gleiche Wirkung wie das explizit Kommunizierte. Mit Kent Bach gesprochen werden in der Regel propositionale Radikale geäußert, die nur den Kern dessen enthalten, was diskursiv relevant ist, wobei der ebenfalls relevante nicht-geäußerte Rest als Implizitur bezeichnet wird – er bleibt eben implizit und muss von den Adressaten ergänzt werden (vgl. Bach 1994). Ein Beispiel ist die Äußerung von Es regnet, die in der Regel auf den Ort bezogen wird, an dem sie vollzogen wurde, und nicht auf irgendeinen anderen Ort – denn dann wäre sie (vermutlich) immer wahr (vgl. auch Perry 1998). Es regnet ist also zu ergänzen durch hier. Auch diese Strategie führt nur dann nicht zu Problemen, wenn Propositionalität als Eigenschaft von Interjektionen zugelassen wird. Anders ist die Analyse eines propositionalen Radikals nicht möglich. Selbst in diesem Fall gibt es – wie bei jeder auf Ergänzungen beruhenden Erklärung von Kurzformen – das notorische Problem der Unbestimmtheit der Ergänzung. So ist es offen, ob Es regnet durch hier, hier in unserer Stadt, hier im Süden, hier am Meer oder etwas anderes ergänzt werden soll. Natürlich kann auch ein Nicht-Hier gemeint sein, wenn im Gespräch vorgängig von einem anderen Ort die Rede war. Überdies scheint auch in diesen Fällen eine Art unartikulierter Referenz vorzuliegen, denn S bezieht sich zweifellos auf verschiedene Orte mit dem, was er sagt. Der dritte und wohl stärkste Grund, einer Ergänzungsstrategie zu misstrauen, ist die Unmöglichkeit
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einer Erweiterung in vielen Fällen, in denen primäre sowie auch sekundäre Interjektionen gebraucht werden. Auch wenn solche Kombinationen in Einzelfällen möglich sind (Wow du!), so ist das Ergebnis oft nicht wohlgeformt: ?Ih das; ?Ah so etwas; ?Ui die. Dieses Ergebnis erzwingt eine differenziertere Analyse dessen, was intrinsischer Kontextbezug heißen kann. Eine Lösung des beschriebenen Dilemmas der Referentialität/Propositionalität kann nur gelingen, wenn dieser Bezug nicht als Eigenschaft eines explizit oder implizit in der fraglichen Äußerung vorkommenden sprachlichen Elements modelliert wird. Der Bezug von Interjektionen und vielen anderen Kurzformen auf die umgebende Situation ist vielmehr als Relation wiederzugeben; die eine Seite der Relation besteht aus einem Äußerungstyp mit bestimmten definierenden Eigenschaften, das zweite Relatum aus einem bestimmten Situationstyp mit definierenden Eigenschaften, innerhalb dessen die Äußerung präferiert vollzogen wird. Der Begriff des pragmatischen Templates ist geeignet, diese Relation näher zu kennzeichnen (vgl. Liedtke 2013: 2018). Die Auffassung, dass pragmatische Templates dem Verstehen (und Hervorbringen) sprachlicher wie nicht-sprachlicher Äußerungen zugrundeliegen, beruht auf der Vorstellung, dass nicht nur Äußerungen sich bestimmten Typen zuordnen lassen, die jeweils eine phonologische/morphologische Formseite sowie eine semantische Repräsentation erhalten. Vielmehr sind auch die Beziehungen der Äußerungen zu Situationen, in denen sie bevorzugt geäußert werden, bestimmten Typen zuzuordnen, so dass sich privilegierte Beziehungen von Äußerungen-miteiner-Bedeutung zu stereotypen Situationen ergeben. Verkürzt kann man sagen, dass nicht nur der Code einer Typisierung und Kategorisierung zugänglich ist, sondern auch die Beziehung des Codes zur Verwendungssituation, in die er sich einpasst. Frühe Ansätze der kommunikativen Kompetenz haben diesen Punkt in aller Deutlichkeit hervorgehoben (vgl. Hymes 1972), ohne dass dies in der Folgezeit zu einer ausgereiften Theorie der Äußerung-Kontext-Beziehung geführt hätte. So stellen Finkbeiner, Meibauer & Schumacher noch 2012 Folgendes fest: „ […] while there are numerous attempts at explaining single aspects of the notion of context, these attempts are quite diverse and do not easily converge to a unified theory of context“ (Finkbeiner, Meibauer & Schumacher 2012: 1). Der auf dem Begriff des pragmatischen Templates aufbauende Erklärungsversuch kann, wenn er gelingt, als Baustein zu einer solchen allgemeinen Theorie des Kontextbezugs von Äußerungen aufgefasst werden. Bevor weitere Erläuterungen zu pragmatischen Templates gegeben werden, soll ein Blick auf die Verwendung von Interjektionen im Sprachvollzug geworfen werden, und zwar am Beispiel der interjektionalen Verwendung von toll. Um zu
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illustrieren, was man sich unter einer typischen interjektionalen Verwendung vorstellen kann, kann folgendes Beispiel dienen: (1) [H und A stehen im Museum vor einem Bild von Caravaggio und betrachten es. A schaut sich die Abbildung der Hände einer Figur an und sagt:] Toll. Die Äußerung von A ist ohne die Wahrnehmung ihres Blicks auf die abgebildeten Hände nicht verständlich, dieser ist neben der vollzogenen Äußerung Teil der Informationen, die H oder ein dritter Beobachter benötigt, um dem Sprachverhalten von A einen Sinn zu verleihen. Neben der reinen Wahrnehmung des Blicks und seines Objekts ist eine weitere positiv bewertende Komponente im Spiel, die das fragliche Bild als ein Meisterwerk der Renaissance einstuft. Fehlt diese Wertung oder ist sogar eine negative Wertung im Spiel, etwa wenn A offenkundig eine Beschädigung am Bild entdeckt, dann bekommt die Äußerung der Interjektion eine ironische Färbung. Reagiert werden kann aber nicht nur auf wahrgenommene oder präsentierte Handlungen, sondern auch auf Vorgängeräußerungen im Diskurs. Dies wird deutlich an folgendem Beispiel, das dem deutschen Teil eines WhatsApp-Korpus entnommen wurde (vgl. hierzu Siebenhaar 2018): (2) a. 20:11:00, Partner_in 1, Nr. 47871: Ich hole die Mädchen morgen um 14.30 Uhr ab und gehe mit ihnen in die Bibliothek. Bär kann die Bücher in Franzis Spind legen b. 21:58:00, Partner_in 2, Nr. 47872: Sehr gut. Toll! In diesem Chat wird die Interjektion Toll! durch eine weitere verstärkt (Sehr gut.), wobei sich beide Token auf den in der Vorgängernachricht gemachten Vorschlag beziehen. Es ist klar, dass die Vorgängernachricht notwendig ist, um den Sinn der Folgeäußerung und der in ihr vorkommenden Interjektionen zu verstehen. Außerdem ist eine moralisch, ästhetisch, sportlich, intellektuell o.ä. bewertbare Eigenschaft der angekündigten Handlung im Spiel, die zum nicht-ironischen Verständnis gegeben sein muss. Ein Angebot, sich um die Kinder zu kümmern, ist eine in diesem Sinne bewertbare Handlung. Sowohl im Museumsbeispiel (1) als auch im angeführten WhatsApp-Beispiel (2) wird deutlich, dass beide Informationsquellen, die sprachliche wie die kontextuelle, erst gemeinsam die erforderliche Basis für die jeweils Reagierenden
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darstellen. Andererseits müssen diese auch in der Lage sein, beide Quellen zusammenzuführen, und das heißt für die kontextuelle Seite, dass sie aus der Fülle der umgebenden Informationen die für die Interpretation relevanten auswählen, sofern sie geeignet sind, der Äußerung Sinn zu verleihen.
6 Die Struktur eines pragmatischen Templates Das Verfügen über ein pragmatisches Template besteht in der Fähigkeit, eine Äußerung-mit-einer-Bedeutung einer stereotypen Situation zuzuordnen, wobei dieser Fähigkeit das Wissen um präferierte Zuordnungen unterliegt. So müssen Äußerungen aufgrund bestimmter Formeigenschaften Äußerungstypen zugeordnet werden und Situationen aufgrund bestimmter charakteristischer Merkmale Situationstypen. Das Betrachten eines Bildes im Museum stellt einen solchen Situationstyp dar. Bestimmte Verhaltensweisen sind einfach erwartbar, weil sie den Zweck eines solchen Besuchs ausmachen. So werden sich die Betrachter über ein Bild austauschen, und sie werden darüber hinaus im weitesten Sinne ästhetische Urteile über das Wahrgenommene äußern. Steht H diese typisierte Information zur Verfügung, so ist es für ihn ein Leichtes, die Äußerung von S auf einen Teil des Bildes zu beziehen, den sie gerade betrachtet. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die kontextuelle Information in propositionaler Form zur Verfügung steht, denn es handelt sich um inferentielle Prozesse. Hierfür wurde in der pragmatischen Theoriebildung der Begriff der Kontextproposition eingeführt (vgl. Sperber & Wilson 1986; für genauere Ausführungen zu pragmatischen Templates vgl. Liedtke 2018). Das Beispiel 2. ist leichter zu analysieren, da die erforderliche Information in der Vorgängernachricht, als sprachlicher Kotext, zur Verfügung steht. Da adjazente Paare als zusammengehörig wahrgenommen werden, bezieht Partner_in 1 die Äußerungen von Sehr gut. und Toll! durch Partner_in 2 auf den in der ersten Nachricht gemachten Vorschlag (sei es auf die Illokution, sei es auf die Proposition). Wichtig für den hier vertretenen Ansatz ist es, dass der Vorschlag von Partner_in 1 nicht als implizite Ergänzung von Sehr gut.Toll! modelliert wird, etwa nach dem Muster: (3) Sehr gut. Toll, dass du die Mädchen morgen …, denn zum einen ist der ‚Skopus‘ nicht klar, nämlich ob sich die Bewertung auf die erste Proposition (Mädchen abholen und Bibliotheksbesuch) oder auf die
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zweite (Bücher in den Spind) oder auf beide bezieht. Es ist darüber hinaus möglich, dass sich die Bewertung lediglich auf die Illokution bezieht, also auf die Tatsache, dass Partner_in 1 einen altruistischen Vorschlag macht und sich damit als hilfsbereite Person positioniert. Eine explizite Ergänzung würde hier eine Entscheidung treffen, die aufgrund der Datenlage nicht möglich ist. Als Kontextinformation stand in Beispiel (1) die typische Situation des Museumsbesuchs zur Verfügung, im zweiten – authentischen – Beispiel die Vorgängernachricht. Weitere Elemente, auf die sich die Interpretation von (1) stützen kann, sind die Personen der Sprecher_innen und Adressat_innen, anwesende und mithörende Personen, der institutionelle Kontext, die gemeinsame Vorgeschichte der kommunizierenden oder beteiligten Personen, kulturelles Wissen bezogen auf die eigene Sprachgemeinschaft, ein relevanter Ausschnitt aus dem Weltwissen einschließlich alltagswissenschaftlicher Elemente (naive Physik, folk psychology …). Eine Aufzählung interpretationsrelevanter Kontextelemente, auf die sich eine Interjektion wie Toll! beziehen kann, umfasst mindestens die folgenden Bestandteile: 1. A nimmt ein Ereignis E oder Objekt O bzw. eine Repräsentation R eines E/O wahr. 2. H ist kopräsent und nimmt ebenfalls E/O oder R(E/O) wahr. 3. 1. und 2. sind für A und H wechselseitig manifest. 4. H *weiß, dass E/O oder R(E/O) eine für A bewertungsrelevante Eigenschaft P hat. A unterstellt dieses Wissen von H. Formal lässt sich das unterstellte Wissen so wiedergeben: E(P); O(P); R(E)(P); R(O)(P). (*weiß wird im Sinne von kann aufrichtig behaupten verwendet.) Bedingungen 1. und 2. besagen, dass der Bezug der Interjektion nur dann gelingen kann, wenn A sichtbar für H das fragliche Ereignis oder Objekt wahrnimmt; Bedingung 3. besagt, dass A weiß, dass H über dieses Wissen verfügt. Bedingung 4. wurde aufgeführt, weil es wichtig ist, sich über den Stellenwert der bewertungsrelevanten Eigenschaft klar zu werden. Einerseits muss sie überhaupt vorhanden sein: Wenn man sich die fragliche Interjektion nicht vor einem Gemälde, sondern vor einem Hinweisschild für die Feuerleiter vorstellt, dann kann ihr nicht ohne Weiteres ein Sinn zugeschrieben werden. Andererseits spielt die im Template genannte sprechende Person eine Rolle, denn auch hier erhält die Interjektion jeweils eine andere Lesart und vor allem einen anderen Bezug, je nachdem ob A eine Kunsthistorikerin oder eine Restaurateurin ist – jeweils andere bewertungsrelevante Eigenschaften des Gemäldes stehen im Fokus.
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In David Kaplans Konzeption von Meaning as Use findet sich eine relevante Unterscheidung, die mit der hier getroffenen zwischen Äußerungstyp und Situationstyp große Verwandtschaft besitzt. Es ist die Unterscheidung zwischen der semantischen Information, die ein verwendeter Ausdruck aufweist, und der sozialen Praxis, die die Verwendung des Ausdrucks bestimmt. So ist ein Ausdruck wie Goodbye eine Abschiedsfloskel (semantische Information), und seiner Äußerung in einem spezifischen Kontext und mit einem bestimmten begleitenden Verhalten kann man entnehmen, dass A zum Gehen veranlassen möchte und nicht etwa selbst gehen möchte (soziale Praxis) (vgl. Kaplan 1999: 27ff.). Im Unterschied zum kaplanschen Ansatz ist ein pragmatisches Template etwas weiter gefasst: Es werden über soziale Praktiken oder Konventionen hinaus auch aktuale situative Kontextbedingungen erfasst. Das Schema für ein pragmatisches Template, das für die Interjektion toll einschlägig ist, hat die unten angegebene Form. Es werden Eigenschaften der Äußerungsform auf Eigenschaften der stereotypischen Äußerungssituation bezogen, und es wird weiterhin unterstellt, dass die Kombination beider Seiten eine holistische Struktur ergibt, die ein Element der kommunikativen Kompetenz für Interjektionen des angegebenen Typs bilden. Der obere Teil des Templates bezieht sich dabei auf die Äußerungsform und die Bedeutung des Lexems. Der untere Teil benennt die relevanten Eigenschaften der Äußerungssituation, so wie sie von den Kommunikationsteilnehmern konzeptualisiert und perspektiviert wird. Der Name dieses Templates ist Testimonial-Template, was darauf anspielt, dass es sich hier um Augen- und/oder Ohrenzeugen des Ereignisses/Objekts handelt. Pragmatisches Template für „Toll“: Testimonial-Template 1. ÄUßERUNGSFORM: Morpho-syntaktische Form {Adjektiv, Interjektion, unflektiert} 2. LEXIKALISCHE BEDEUTUNG VON ‚TOLL‘: ungewöhnlich, unglaublich; großartig, prächtig 3. STEREOTYPISCHE EIGENSCHAFTEN DER ÄUßERUNGSSITUATION: (i) A nimmt E oder O wahr mit einer bewertungsrelevanten Eigenschaft P. (ii) A und H sind raum-zeitlich kopräsent. (iii) A und H wissen wechselseitig voneinander, dass sie E/O wahrnehmen, und welche bewertungsrelevante Eigenschaft P für E/O gilt. (iv) Gleiches gilt für R(E/O). Die Architektur des Templates beinhaltet somit einen Äußerungsteil (Äußerungsform und lexikalische Bedeutung) und einen Situationsteil (stereotypische Eigen-
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schaften der Äußerungssituation), die aufeinander bezogen sind. Es ist diese Relation, die als Ganzes einen Baustein der kommunikativen Kompetenz von Sprachbenutzern ausmacht. Sie wird aufgerufen, wenn es um die Sinnzuschreibung für Interjektionen geht, bei denen ein wesentlicher Teil der Interpretationslast im Kontext liegt. Wie unterscheidet sich die Äußerung der Interjektion „Toll!“ von dem nichtinterjektionalen Sprechakt „Das ist toll!“, in dem toll als prädikatives Adjektiv verwendet wird? Der entscheidende Unterschied liegt in der Bedingung 3.(iii), die im Fall von Interjektionen notwendig ist, im Fall des expliziteren Sprechakts aber ersetzt wird durch das Demonstrativum das und eventuell eine Zeigegeste. Dadurch wird H erst auf E/O oder R(E/O) orientiert – was wiederum beim Gebrauch der Interjektion schon gegeben sein muss. Die Funktion eines pragmatischen Templates der beschriebenen Art für Interjektionen besteht darin, Informationen zur Verfügung zu stellen, die die Interpretation des Gesagten erleichtern oder erst ermöglichen. Es ist ein Hilfsmittel, das Sinnzuschreibung ermöglicht. Es darf allerdings nicht als starre Form verstanden werden, die schematisch auf Äußerungssituationen anzuwenden sind. Wie bei jeder anderen Sprachverwendung auch ist das dargestellte Template die Folie, auf die Sprachverhalten abgebildet wird, wobei mit dieser Folie kreativ umgegangen wird. Ausdehnungen, Erweiterungen oder auch offenkundige Verstöße – wie im Falle der Ironie – sind Teil des durchaus üblichen Sprachgebrauchs. Auch in diesen Fällen bilden pragmatische Templates einen wenn auch vermittelten, allerdings präsenten Hintergrund der Äußerungsinterpretation.
7 Fazit Im vorliegenden Beitrag wurde versucht, das Beschreibungsdilemma für Interjektionen vor allem des primären Typs zu lösen, welches in der Annahme der Nicht-Referentialität einerseits, dem offenkundigen Bezug von A auf eine Gegebenheit im Kontext andererseits besteht. Dadurch, dass dieser Bezug nicht auf ein semantisches oder anderweitig innerhalb der Äußerung liegendes Merkmal zurückgeführt wird, entgeht man einer Reihe von Beschreibungsproblemen nicht nur der angegebenen Art. Der Vorschlag, systematisch nach Beziehungen zwischen dem Äußerungstyp und einem stereotypischen Kontexttyp im weitesten Sinne zu suchen und diese in einem möglichst einheitlichen Format dazustellen, kann zu einer Beschreibung von Interjektionen führen, die dem benannten Dilemma entgeht.
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Laura Neuhaus
Ironische Interjektionen und expressive Negation #hurra #nicht Ironie und Expressivität am Beispiel Twitter Abstract: In der bisherigen Expressivitätsforschung spielt Ironie keine zentrale Rolle. Dabei ist der Phänomenbereich ironisch bewertender Gefühlsausdrücke besonders interessant, um das Verhältnis von Wahrheits- und Gebrauchsbedingungen und figurativer Bedeutung zu diskutieren und bestehende Expressivitätstheorien zu prüfen. Die Analyse von 1.000 Tweets zeigt, wie der semantische Operator nicht in nachgestellter Position expressiv verschiedene Ironietypen markiert und wie die expressiven Interjektionen hurra, juhu, jippie/yippie und yeah ironisch gebraucht werden. Die Zusammenschau dieser Phänomene ermöglicht die Überprüfung und Anwendung bestehender Expressivitäts- und Ironieansätze.
1 Expressivität und Ironie Positiv evaluierende Interjektionen wie hurra, juhu oder yeah gelten als typische Vertreter für Expressivität (u.a. Meibauer 2007: 246; Gutzmann 2013: 6; Foolen 1997: 21). Als Ausdruck der Freude zum Beispiel über einen festlichen Anlass können solche und andere Interjektionen wie bei Cruse (2004: 57) und Gutzmann (2013: 5) als expletive Expressiva, also Expressiva im engeren Sinne, klassifiziert werden: Ihnen wird kein deskriptiver Gehalt zugesprochen, sie gelten also nicht als wahrheitskonditional (vgl. auch Fries 2008: 654). Spannend wird es, wenn genau diese Interjektionen nicht zum Ausdruck der Freude gebraucht werden, wie beispielsweise in diesem Tweet, vgl. (1).1
|| Danksagung: Für wertvolle Kommentare danke ich Rita Finkbeiner, Franz d’Avis und den Teilnehmenden von EPICS VIII in Sevilla und INPRA VIII in Nikosia. Mein Dank für die Unterstützung bei der Kodierung der Daten geht an Freya Overzier und für die Hilfe bei der Statistik an Ulrike Schneider. Alle verbleibenden Irrtümer sind meine eigenen. || 1 Alle hier zitierten Belege sind gefolgt von der URL-Quelle und dem Veröffentlichungsdatum. Die Belege entsprechen in Rechtschreibung und Interpunktion den Originalen.
https://doi.org/10.1515/9783110630190-007
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(1) Vor dem Haus bis Ende des Jahres Baustelle und die Wohnung neben an wird seit heute Morgen Kernsaniert! #hurra Wohin kann ich auswandern? (https://twitter.com/HenrikeFehrs/status/932514819554578432 – 20.11.17)
Die Verfasserin dieser Nachricht auf dem Mikroblogging-Dienst Twitter beschreibt ihre Wohnsituation als so unangenehm, dass sie vor ihr flüchten möchte, kommentiert das aber mit der positiv evaluierenden Interjektion hurra. Diese Verwendung von Expressiva ist ironisch. Das stellt zunächst ein Problem für das traditionelle Ironieverständnis dar, nach dem Ironie das Gegenteil von dem meint, was gesagt wird. Denn ohne einen deskriptiven Gehalt kann nicht von einer scheinbaren Verletzung der ersten Qualitätsmaxime2 ausgegangen werden, wie beispielsweise Grice (1989a: 34) es in seiner Ironieanalyse vorschlägt. Die Verwendung der Interjektion in (1) lässt sich allerdings leicht erfassen, wenn die Ironieanalyse modifiziert wird und wie in Neuhaus (2016) zwei Charakteristika für Ironie berücksichtigt werden: Zum einen liegt ein situativer Kontrast vor, in (1) zwischen der unangenehmen Wohnsituation und der Bewertung mit der Interjektion hurra. Zum anderen geht mit der ironischen Äußerung die Implikatur einer implizit kritischen Haltung einher, bei (1) paraphrasierbar als ‚Mich stört die benachbarte Baustelle sehr‘. Zentral für den ironischen Effekt ist also nicht der propositionale Gehalt der Äußerung. Zentral sind die Gebrauchsbedingungen und die Verwendung einer Äußerung in einer Situation oder einem Kontext, der diese Bedingungen nicht erfüllt. Die Trennung von Wahrheits- und Gebrauchsbedingungen für Expressiva bei Kaplan (1999) erweist sich als grundlegend für die Analyse von Ironie. Zu fragen ist vor diesem Hintergrund, wie und unter welchen Bedingungen Expressivität und Ironie zusammenwirken können. Um das Verhältnis von Expressivität und Ironie zu klären, bietet sich der Vergleich mit einem anderen Phänomen an, dass bereits für das Englische im Zusammenhang mit Ironie diskutiert wurde (u.a. Sulis et al. 2016; Hee, Lefever & Hoste 2016): die nachgestellte Negation, im Deutschen mit nicht. (2) Das bilden der Rettungsgasse im Stau heute morgen hat hervorragend funktioniert! #NICHT !!! (https://twitter.com/nektus/status/936489773564350464 – 1.12.12)
(2') Es ist nicht der Fall, dass das Bilden der Rettungsgasse im Stau heute morgen hervorragend funktioniert hat.
|| 2 „Do not say what you believe to be false“ (Grice 1989a: 27).
Ironische Interjektionen und expressive Negation #hurra #nicht | 151
Die Negation nicht steht in (2) syntaktisch desintegriert und ist damit markiert im Vergleich zur üblichen Position links der negierten Konstituente (vgl. Blühdorn 2012: 71). Die nachgestellte Negation macht deutlich, dass die Behauptung in (2) ironisch ist. Im Vergleich zu (2') ist die Äußerung in (2) interessanter. Es entsteht ein Gardenpath-Effekt: Die erste Interpretation muss im Laufe des Verstehensprozesses wieder abgelegt werden. Die dann erhaltene Interpretation lässt sich insofern mit Ironie in Zusammenhang bringen, als dass ein situativer Kontrast zwischen der nicht-negierten Äußerung (hervorragend funktioniert) und der tatsächlichen Situation besteht, über die der Verfasser ironisch-kritisch seinen Unmut äußert. Sowohl in (1) als auch in (2) wird also Ironie signalisiert. Nachgestelltes nicht passt allerdings nicht in die oben genannte enge Expressivitätsdefinition, die davon ausgeht, dass Expressiva keine wahrheitsfunktionale Semantik haben. Ziel dieser Untersuchung ist es, den pragmatischen Status von nachgestelltem nicht im Vergleich zur ironischen Verwendung von Interjektionen zu klären und damit sowohl einen Beitrag zur Theorie der Expressivität als auch zur Theorie der Ironie zu leisten. Nach der Einordnung und Problematisierung bisheriger Forschung zur Ironieerkennung im Rahmen der Sentimentanalyse (Kap. 2) wird auf die Multifunktionalität der schriftsprachlichen Markierung durch # für Expressivität und Ironie eingegangen (Kap. 3). Kap. 4 zeigt den pragmatischen Mechanismus der Markierung durch #nicht, der verschiedene Ironietypen übergreift (Kap. 4.1) und argumentiert für dessen expressiven Status als Markierung für nicht erfüllte Gebrauchsbedingungen (Kap. 4.2). Kap. 5 systematisiert im Vergleich zu #nicht die ironische Verwendung von Expressiva am Beispiel positiv evaluierender Interjektionen. Ein Fazit ordnet die Ergebnisse in die Diskussion zu Expressivität und Ironie ein (Kap. 6).
2 Sentimentanalytische Ironieforschung und deren Probleme Für Ironiephänomene wie in (1) und (2) gibt es ein großes Interesse innerhalb des Forschungsfelds der Sentimentanalyse (u.a. Rajadesingan, Zafarani & Liu 2015; Kunneman et al. 2015; Hernández Farías & Rosso 2017). Mit Fokus auf englischsprachigen Daten in sozialen Medien ist es das Anliegen dieser Text-Mining-Ansätze, die negative oder positive Haltung, die mit einer Äußerung verbunden ist, maschinell erkennbar zu machen. Phänomene der Nicht-Wörtlichkeit wie Ironie stellen für dieses Unterfangen eine besondere Herausforderung dar. Riloff et al.
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(2013) gehen für die automatische Ironieerkennung in Twitterdaten beispielsweise von Ironie aus, wenn ein Ausdruck positiver Empfindung (love) im Kontrast zu einer stereotyp negativen Situation (taking exam) steht. Sie entwickeln dafür einen Algorithmus, der Ausdrücke für positive Empfindungen und stereotyp negative Situationen lernt und Ironie dann erkennt, wenn diese zusammen auftreten. Auch Hee, Lefever & Hoste (2016: 1794) gehen nach statistischen Analysen von Korpusdaten davon aus, in kontrastierenden Bewertungen einen Indikator für die Ironieerkennung gefunden zu haben. Darüber hinaus gibt es von Seiten der Sentimentanalyse ein neues Interesse an (lexikalischen) Ironiesignalen und damit einer Perspektive auf Ironie, die in der Linguistik seit einiger Zeit kaum mehr eingenommen wird (für Ironiesignale argumentieren u.a. Warning 1976; Willer & Groeben 1980; Nekula 1996; Attardo et al. 2003, dagegen u.a. Lapp 1992 und Bryant & Fox Tree 2005, einen Überblick der Diskussion liefert Hartung 2002: 172–182). Interjektionen als potentielle Ironiesignale werden bei der Sentimentanalyse allerdings nur am Rande mit untersucht (für das Portugiesische vgl. Carvalho et al. 2009 anhand von u.a. viva und bravo). Unkomplizierter automatisch systematisierbar und daher etwas häufiger untersucht ist #not (Kunneman et al. 2015; Rajadesingan, Zafarani & Liu 2015; Sulis et al. 2016; Hee, Lefever & Hoste 2016). Speziell für die schriftsprachliche Ironie (nicht nur, aber auch in sozialen Medien) wird die Markierung von Ironiesignalen durch Hashtags mit #, wie in (1) und (2), diskutiert (Davidov, Tsur & Rappoport 2010; Maynard & Greenwood 2014).3 Die in der Sentimentanalyse mit Abstand meist untersuchten Ironiesignale sind allerdings explizite metasprachliche #-Kommentare wie in (3) und (4) (González-Ibáñez, Muresan & Wacholder 2011; Reyes, Rosso & Buscaldi 2012; Liebrecht, Kunneman & van den Bosch 2013; Riloff et al. 2013; Barbieri, Saggion & Ronzano 2014; Bamman & Smith 2015; Rajadesingan, Zafarani & Liu 2015; Hernández Farías, Benedi & Rosso 2015; Sulis et al. 2016; Hee, Lefever & Hoste 2016). (3) Gibt doch nichts geileres als Prüfungsvorbereitung am Samstag 👌 #ironie (https://twitter.com/pfresh789/status/964816431920631808 – 17.02.18)
(4) 9 von 10 Kindern finden Mobbing lustig. #witz #sarkasmus (https://twitter.com/AnnikaBuhnemann/status/965121107442524160 – 18.02.18)
|| 3 Auch in der germanistischen Linguistik gibt es ein Interesse an Ironie in computervermittelter Kommunikation. Beispielhaft zu nennen sind hier Marx & Weidacher (2014: 149–152), die für Ironie-Belege aus Facebook und Twitter Schlussprozesse im Sinne der Grice’schen (1989a) Implikaturentheorie nachzeichnen.
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Aus Perspektive der Sentimentanalyse sind Markierungen wie #irony, #sarcasm, #cynicism besonders attraktiv, weil sie anders als zum Beispiel Interjektionen frei von Ambiguität sind. Aus linguistischer Perspektive zeigen sich bei der Herangehensweise der sentimentanalytischen Ironieforschung in mindestens vier Punkten Probleme: Erstens ist bei der Nutzung explizit metasprachlicher Ironiesignale für die systematische Erkennung von Ironiekriterien problematisch, dass damit auf laienlinguistische Kategorisierung vertraut werden muss (Kapogianni 2011: 54). So liegt beispielsweise bei dem Witz in (4) ein Sarkasmusverständnis vor, das sich nicht mit der verbreiteten linguistischen Definition (Neuhaus 2016: 126; Garmendia 2010: 416) als bittere opferorientierte Form der Ironie deckt. Um diesem methodischen Problem zu entgehen, liegt der Fokus in dieser Arbeit auf den bisher deutlich weniger untersuchten ironischen Interjektionen und nachgestellter Negation. Zweitens ist kritisch zu fragen, ob Belege mit nachgestellter Negation überhaupt so selbstverständlich als Ironie gelten können. Es gibt Rezipienten, die angesichts dieses Phänomens ein ästhetisches Unbehagen äußern, das ähnlich schwer zu fassen ist wie die individuell auftretende Genervtheit bei expressiven Abschiedsgrüßen (Finkbeiner, in diesem Band). Ursache für dieses Missfallen gegenüber nachgestellter Negation ist eine Bedingung, die an Ironie gestellt werden kann: Ironie muss implizit bleiben, ansonsten ist sie in dieser Perspektive entweder langweilig oder es liegt keine Ironie vor. Ähnlich argumentiert Grice (1989b: 54) in seinen weiterführenden Überlegungen zur Ironie: „[W]hile one wants the pretense to be recognized as such, to announce it as a pretense would spoil the effect.“ Markierungen wie #Ironie oder #nicht können also als Spoiler wie bei Filmen oder Literatur gesehen werden, die den Ironiegenuss kaputt machen, so wie Witze nicht besser werden, wenn man sie erklärt. Nichtsdestotrotz muss erklärt werden, warum solche Markierungen auftreten. Dafür ist Grice (1989b: 54) präziser auszulegen: Der ironische Effekt würde besonders dann ruiniert, wenn die Ironie vorab angekündigt würde. Es ist genauso unmöglich, explizit mit beispielsweise hiermit äußere ich ironisch, dass… Ironie im Voraus bekannt zu geben, wie es unmöglich ist, mit z.B. hiermit lüge ich, dass das Verb lügen performativ zu verwenden (vgl. Meibauer 2014). Der rhetorische Kniff, sowohl von #Ironie als auch von #nicht, scheint in der nachgestellten Position zu liegen, die die Ironie nicht vorab vereitelt, sondern die Äußerung nachträglich einordnet. Drittens geht der Sentimentanalyse durch das Ziel der automatisierten Erkennung von Haltungen ein Interesse an der klaren Trennung der drei genannten
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Phänomene ab. Das ist nachvollziehbar, denn die Phänomene haben die gemeinsame Funktion, Ironie zu signalisieren. Dass es sich um einen gemeinsamen Effekt handelt, zeigt sich besonders gut in der Möglichkeit der Kombination. (5) Die, die meckern, sind bestimmt die, die sich auch wirklich an ALLE Verkehrsregeln halten 😠#nicht #Ironieaus 😫 (https://twitter.com/handballevi49/status/935891365518544896 – 29.11.17)
(6) Wegen des Unfalls komme ich wieder zum Busfahren. Nun steht er im Berufsverkehr fest. #jippie #nicht (https://twitter.com/ingopudlatz/status/834304456753811457 – 21.02.17)
Bei der Zusammenschau zeigen sich aber auch Unterschiede. In (5) markieren #nicht und #Ironieaus die ironische, also nicht-wörtliche Verwendung des vorherigen Satzes doppelt. Die Verfasserin geht davon aus, dass sich die, die meckern, eben nicht an alle Verkehrsregeln halten. Demgegenüber liegt bei (6) eine wörtlich gemeinte Äußerung vor, die mit dem Stau eine tatsächlich behauptete unangenehme Situation beschreibt. Die Ironie entsteht hier durch den situativen Kontrast zur positiv evaluierenden Interjektion #jippie. Die Negation dieser Interjektion markiert die ironische Verwendung der Interjektion. Der Unterschied zwischen (5) und (6) liegt darin, worauf sich #nicht jeweils bezieht. Interessanterweise gibt es die Beschränkung, dass Interjektionen nicht negierbar sind (*nicht psst). Fries (2008: 656) bringt diese Beobachtung vor, um zu zeigen, dass Interjektionen nicht propositional sind. Dass #jippie in (6) negierbar ist, sagt etwas über die semantische und pragmatische Besonderheit nachgestellter Negation, die nicht mit deskriptiver Negation gleichzusetzen ist. Viertens ist die Ironiedefinition, die den meisten Untersuchungen der Sentimentanalyse zugrunde liegt, kritisch zu hinterfragen. Das erklärte Ziel dieser Ansätze, wie es Hernández Farías & Rosso (2017: 113) formulieren, ist es, die Polaritätsumkehrung der Ironie automatisiert erkennbar zu machen (vgl. auch Rajadesingan, Zafarani & Liu 2015). Polaritätsumkehrung lässt sich mit dem linguistischen Begriff der Nicht-Wörtlichkeit in Zusammenhang bringen und damit mit einem traditionellen und viel kritisierten Ironiekonzept (Wilson 2017; Neuhaus 2016; Dynel 2013a). Innerhalb der linguistischen Diskussion hat Dynel (2013a: 414) darauf aufmerksam gemacht, dass ironische Äußerungen durchaus auch wörtlich gemeint sein können, wie zum Beispiel in (7).
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(7) Ich liebe es, wenn die Nachbarn Rücksicht auf die anderen Leute im Haus nehmen und nicht ihre Musik auf volle Lautstärke drehen, dass man sie im ganzen Haus hört. 🙂🙂🙂 #diebestennachbarn #nicht (https://twitter.com/yvonne_wie/status/940606673273663488 – 12.12.17)
Hier ist davon auszugehen, dass die Verfasserin rücksichtsvolle Nachbarn tatsächlich sehr schätzt, die Situation, die sie zum Schreiben dieses Tweets bringt aber in einem Kontrast dazu steht. Dass solche Feinheiten bei Versuchen der automatisierten Ironieerkennung zunächst außen vor zu lassen sind, ist verständlich. Darin zeigt sich aber auch, wie vielfältig das Phänomen Ironie ist (vgl. Dynel 2013a: 403; Kapogianni 2011: 51) und wie divers Ironie im Kontext signalisiert werden kann.
3 Hashtags als Marker von Ironie und Expressivität? – Methodisches Vorgehen Hashtags hatten ursprünglich ausschließlich eine themenorganisierende Funktion. Die Nennung des Themas in einer Buchstabenfolge nach einem Rautenzeichen (z.B.: #wortdesjahres) verweist als Hyperlink auf eine Liste anderer Verwendungen des gleichen Hashtags, bei Twitter auf andere Tweets. Eine solche gemeinschaftliche Verschlagwortung ohne Regeln wird als Folksonomie bezeichnet (vgl. Page 2012: 187). Bei Hashtags wie #hurra und #nicht ist allerdings von einer Erweiterung des Gebrauchs von Hashtags auszugehen. Zu den Möglichkeiten der kommunikativen Funktionen von Hashtags gibt es einige Klassifikationsversuche, die deren Multifunktionalität zeigen. Page (2012: 187) geht für ihre Untersuchung von einer Zweiteilung in themenorientierte und evaluative Hashtags aus. Interjektionen, auch ironisch verwendet, sind dieser zweiten Klasse zuzuordnen. Bei #nicht ist die evaluative Komponente allerdings eher implizit. Geeigneter ist da die Klassifikation evaluativer Hashtags von Zappavigna (2017a: 447), die sich an deren Verhältnis zum restlichen Text orientiert. Evaluative Hashtags können demnach dem Text zuliefern (‚supply‘), d.h. zusätzlich Einstellungen ausdrücken, die im Text nicht explizit sind,4 unterstützen (‚support‘), d.h. im Text ausgedrückte Einstellungen elaborieren, und herausfordern (‚challenge‘), d.h. der Haltung des Textes widersprechen. Als Beweggründe für diese
|| 4 Das entspricht Wikströms (2014: 136) Typ des Meta-Kommentars.
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letzte Kategorie nennt Zappavigna (2017a: 448) Humor und Sarkasmus sowie #not als Beispiel. Hashtags mit ironischen Interjektionen passen nur dann in diese Kategorie, wenn wie bei (8) vorher eine Haltung explizit gemacht wurde (Hölle), der dann mit den Interjektionen (#juhu, #jajajippijipiyeah) widersprochen werden kann. (8) Wenn du wach wirst und sofort weißt, dass die nächsten zwei Tage Hölle werden #juhu #jajajipijipiyeah #nicht (https://twitter.com/AngisNightmare/status/921292078633668609 – 20.10.17)
Das trifft zum Beispiel bei (1) und (6) nicht zu. In diesen Fällen ist von einem Zusammenwirken von zuliefernder und herausfordernder Evaluation auszugehen. Für eine noch feingliedrigere (nicht-exhaustive) Unterscheidung der Funktionen von Hashtags schlägt Wikström (2014) auf Basis sprechakttheoretischer Überlegungen acht Typen vor.5 Wikström (2014) konzentriert sich dabei weniger auf Evaluationen. Den evaluativen Hashtags bei Page (2012) und Zappavigna (2017a) am nächsten ist Wikströms (2014: 140) Typ des emotiven Gebrauchs, den er als expressiv bezeichnet und für den er Interjektionen als Beispiele anführt (#Grrr, #Ouch). Ironische Interjektionen lassen sich klar diesem Typ zuordnen, dem Wikström (2014: 149) zuschreibt, die illokutionäre Kraft der Voräußerung zu stärken oder zu ändern. Je nach Evaluationsrichtung des Textes sind beide Optionen für ironische Interjektionen relevant. Darüber hinaus liefert Wikström (2014) weitere Typen, die rhetorische Besonderheiten ironischer Interjektionen und nachgestellter Negation erfassen: Der Typ der Meta-Kommentare macht deutlich, dass Hashtags den vorherigen Text (bewertend) kommentieren können. Mit dieser nachträglichen Kommentierung wird der ironische Witz und bei #nicht der Gardenpath-Effekt möglich. In diesem Sinne schreibt Zappavigna (2017a: 445) Hashtags zu, Metadiskurse zu ermöglichen. Wikström (2014: 144) bezieht als weiteren Typ humorvollen und spielerischen Gebrauch von Hashtags mit ein, worunter sich auch Ironie fassen lässt. Hier geht Wikström (2014: 149) von scheinbarer Verletzung Grice’scher (1989a) Konversationsmaximen aus. Außerdem lässt sich mit Wikströms (2014: 146) Typ der Hashtag-Memes die Ebene der konventionalisierten Verwendung von bestimmten Hashtags berücksichtigen. In Wikströms (2014) Sinn ist unter einem Meme die schnelle Verbreitung von kurzen Informationseinheiten (z.B. in Form eines Bilds, Links, Videos
|| 5 Wikström (2014) nennt thematische Kennzeichnung, soziales Spiel, Meta-Kommentar, beiläufige Erklärung/Erweiterung, emotiven Gebrauch, emphatischen Gebrauch, humorvollen/spielerischen Gebrauch und Memes/popkulturelle Referenzen.
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oder eben Hashtags) über das Internet gemeint. Als Beispiel nennt Zappavigna (2017b: 215) #fail, dessen Verwendung auch deutschsprachig als humorvolle (Selbst-)Kritik standardisiert ist. Auch Page (2012: 187) unterscheidet InternetMemes von idiosynkratischen Kreationen. In diesem Sinne kann für #nicht eine konventionalisierte memeartige Verwendung als Ironiesignal vermutet werden.6 Ohne auf solche Standardisierungen einzugehen, geht Scott (2015: 8) aus relevanztheoretischer Perspektive davon aus, dass Hashtags den Inferenzprozess der Rezipientenschaft lenken, indem sie eine zusätzliche Ebene relevanten Kontexts schaffen. Diese zusätzliche Ebene sieht Scott (2015: 8) als notwendig an, weil der Diskurskontext größtenteils anonym und frei von kontextuellen Vorannahmen sei. Dass Tweets aufgrund ihrer Kürze prägnanter Kontextualisierung bedürfen, sehen zum Beispiel auch Sulis et al. (2016: 134) und Lin et al. (2013: 1– 2). Diese Ansätze gehen aber anders als Scott (2015) nicht primär von einem anonymen Kontext aus, sondern davon, dass sich einzelne Hashtags als Marker (‚low-salience cues‘) für bestimmte, auch expressive kommunikative Zwecke etablieren. Diese Annahme der Standardisierung bestimmter Hashtags schlägt den Bogen zurück zur Folksonomie jenseits thematischer Hashtags. Wer dieser These entsprechend zum Beispiel ironische Tweets sucht, müsste sich an #nicht orientieren können. Wichtig ist zu bemerken, dass sich daraus nicht der Umkehrschluss ableiten lässt, der kommunikative Zweck sei immer an die Markierung durch Hashtags geknüpft. Ironiemarkierende Verwendung von nicht findet sich genauso ohne Hashtag (9), wodurch zusätzlich nahegelegt ist, dass nicht von einer Beschränkung auf Schriftsprachlichkeit auszugehen ist. (9) Seit 4h Bauchkrämpfe. #yeah nicht. (https://twitter.com/Haramis/status/937751863654539266 – 4.12.17)
Darüber hinaus ist zu beobachten, dass Hashtags nicht auf Twitter oder digitale Diskurse beschränkt sind. Heyd & Puschmann (2017) untersuchen Hashtags zum Beispiel auf Plakatwerbung und auf Kleidung. Whalen, Pexman & Gill (2009) untersuchen nachgestelltes not in Emails. Beispiele für nachgestelltes #nicht außerhalb von Twitter sind leicht zu finden.
|| 6 Ein weiteres Internet-Meme zur Ironiemarkierung aus den 2010er Jahren ist #Kappa. Dabei handelt es sich eigentlich um den Namen eines Emoticons mit echtem Gesicht, das ursprünglich von der englischsprachigen Streamingplattform Twitch stammt. Eine Erläuterung des Phänomens liefert: https://www.youtube.com/watch?v=Pj1NYGwuLqA
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(10) Apokalyptiker aller Länder vereinigt Euch! #nicht (http://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastkommentar-apokalyptiker-allerlaender-vereinigt-euch-nicht/6133734 31.01.2012)
(11) Noch ein „Die SPD geht unter“-Artikel #nicht (https://www.vorwaerts.de/blog/noch-spd-geht-artikel – 24.04.2016)
Eine systematische Analyse von #nicht und ironischen Interjektionen bietet sich auf Basis von Twitterdaten an, weil diese Belege zugänglich sind und weil die Beschränkung der Textlänge auf 140 bzw. seit November 2017 auf 280 Zeichen die Annahme von Verknappung im Ausdruck und der Möglichkeit von Standardisierungen nahelegt (vgl. Moraldo 2009). Als Datengrundlage für die folgende Analyse dienen je 200 deutschsprachige Tweets mit den Hashtags #nicht, #hurra, #juhu, #yeah und #jippie/#yippie7.8 Die Tweets wurden von zwei Annotatorinnen in die drei Kategorien ironisch, nichtironisch und ambig eingeteilt. Für #nicht wurde außerdem dessen syntaktische (Des-)Integriertheit kodiert. Diese insgesamt 1000 Tweets erlauben zum einen quantitative Aussagen zur Verwendung dieser Hashtags und Eigenschaften, die damit in Verbindung zu bringen sind; zum anderen können qualitative Analysen dieser Daten exemplarisch Strukturen und mögliche Gemeinsamkeiten zwischen einzelnen Verwendungen zeigen.
4 Nachgestellte Negation Im Folgenden wird zunächst darauf eingegangen, wie der ironische Effekt bei #nicht entsteht und welche Typen von Ironie mit #nicht auftreten. Anschließend wird die Eigenschaft der Expressivität für #nicht anhand von Kriterien und Merkmalen aus der bisherigen Expressivitätsforschung diskutiert.
|| 7 Für jede Schreibweise wurden jeweils 100 Belege extrahiert. 8 Extrahiert wurden innerhalb des Suchzeitraums chronologisch alle deutschsprachigen Tweets, die bei der Suche nach den entsprechenden Hashtags auf twitter.com erschienen sind. Die Tweets wurden in folgenden Zeiträumen gepostet: #hurra: 06.09.17–19.12.17, #juhu: 13.08.17–18.12.17, #yeah: 01.11.17–18.12.17; #jippie: 24.03.16–14.12.17; #yippie: 13.08.16–19.12.17; #nicht: 20.10.17–02.11.17 und 27.11.17–12.12.17.
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4.1 Ironietypen und deren Ableitbarkeit bei #nicht Zentral für den rhetorischen Effekt von #nicht ist die syntaktische Desintegration. Von den 200 #nicht-Belegen sind 160 syntaktisch desintegriert wie in (12) und (13). In allen Belegen, die von beiden Annotatorinnen als ironisch bewertet wurden (146 Belege), ist #nicht syntaktisch desintegriert. (12) Ein Tag mit 4 Stunden Schlaf kann nur gut werden. #nicht (https://twitter.com/theresa_niederl/status/938283762810540033 – 06.12.17)
(13) Ahh ja irgendwie habe ich das Gehupe und Gedränge am neuen Wall vermisst #nicht 😎❄ (https://twitter.com/MrsElizabeta/status/939164192787058690 – 08.12.17)
Bei den 40 syntaktisch integrierten Belegen, wie in (14) und (15), handelt es sich durchgehend um Hashtags, die Wikström (2014: 142) als emphatisch bezeichnet. Hashtags werden hier als Mittel der Hervorhebung verwendet, alternativ beispielsweise zu Großbuchstaben.9 (14) Warum soll der #Fernseher #nicht #direkt am #Fenster stehen? https://goo.gl/wCQiGi (https://twitter.com/James8105/status/940491422947594241 – 12.12.17)
(15) #Menschen #die #aus #jedem #Wort #einen #Hashtag #machen , #kann #ich #nicht #ernst #nehmen. *Nippt am #Wasser . Wird von ihren Katzen #ignoriert. #Liebe ist Scheiße! Warum? 😭 (https://twitter.com/Fight_with_cats/status/939544528792453120 – 09.12.17)
Von dieser Gruppe der klar syntaktisch integrierten und klar nicht-ironischen Verwendungen von #nicht sind Belege zu unterscheiden, die aufgrund ihrer Position als syntaktisch integriert gelten könnten. Wegen der Position am Ende des Satzes und der visuellen Abtrennung durch die Raute oder andere Interpunktionszeichen werden Belege wie (16) und (17) hier als syntaktisch desintegriert klassifiziert. In den erhobenen Daten kommt dieser Typ 11 Mal vor.
|| 9 Der Beleg (15) macht sich über diese Verwendung lustig, entspricht also Wikströms (2014: 144) Typ des spielerischen Gebrauchs von Hashtags. Es ist anzunehmen, dass unter den 40 Belegen mit syntaktisch integriertem #nicht einige von Bots generiert wurden, d.h. von Computerprogrammen, die automatisch Tweets produzieren. Eine (Bot-)Technik, die dazu dient, Aufmerksamkeit zu erregen, ist es, fast jedes Wort mit # zu versehen.
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(16) Zeichnen? kann ich. #nicht. (https://twitter.com/dagiskiwi/status/938063392518103040 – 05.12.17)
(17) Bis in die Nacht arbeiten, um Deadlines einzuhalten... 😴Ich liebe es #nicht...✋ (https://twitter.com/Florimatic/status/936400634550603776 – 1.12.17)
Besonders an diesen Belegen ist, dass sie durchaus als ironisch zu verstehen sind, aber mit der integrierbaren Negation auch als wörtlich gemeint interpretierbar sind. Sie entsprechen damit Dynels (2013a: 414) Ironietyp, der keine scheinbare Verletzung der ersten Qualitätsmaxime zur Voraussetzung hat. Bei diesen Fällen entsteht der situative Kontrast durch das Nebeneinander von nicht negiertem und negiertem Satz. Demgegenüber gibt es desintegrierte Belege, bei denen eine Integration der nachgestellten Negation auch durch Umstellung nicht möglich wäre. (18) Von ner kotzenden Katze geweckt werden. Immer wieder schön #NICHT Vor allem: Er rennt immer auf den Teppich als würde sein Leben davon abhängen. WTF. (https://twitter.com/FloremSpiritus/status/939812911983316992 – 10.12.2017)
(19) Da kommt doch Freude auf #nicht (https://twitter.com/SvenKannenberg/status/939919905092227072 – 10.2017)
Wenn sich #NICHT in (18) auf die positiv-polare Äußerung Immer wieder schön bezieht, ist die Negation mit nie auszudrücken. Die Variante immer wieder nicht schön wäre im Vergleich dazu markiert. In (19) wäre entsprechend anstatt nicht eine pronominale Negation durch keine zu erwarten. Darin zeigt sich, dass es sich bei syntaktisch desintegrierter Negation nicht einfach nur um eine andere lineare Anordnung handelt, sondern dass mit diesem Gebrauch auch eine distinkte konventionalisierte Bedeutung verbunden ist.
Bei der überwiegenden Zahl der ironischen #nicht-Belege (129 von 146) entsteht die ironische Bedeutung, indem #nicht eine positive Evaluation umkehrt, wie in (20). Bei 20 dieser Fälle handelt es sich um eine Evaluation, die in einem vorherigen Hashtag geäußert wird, wie bei (21) #radelnwirdheutelustig. (20) Top. Läuft alles super
♂ #Nicht
(https://twitter.com/EinfachWeil_/status/940296286980407296 – 12.12.17)
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(21) Lieber Schnee, hättest du nicht noch EINEN Tag warten können? Mein dreimonatiges #Öffiticket für die #gvb gilt nämlich erst ab morgen verdammt! #radelnwirdheutlustig #nicht (https://twitter.com/StyxiYT/status/925082997191335936 – 30.11.17)
Damit entspricht der ironische Effekt mit #nicht der typischen Asymmetrie der Evaluationsrichtung, die für Ironie nachgewiesen wurde (u.a. Kreuz & Link 2002: 127). Demnach tritt Ironie häufiger in positiver Bewertung negativer Situationen auf und ist entsprechend leichter zu verstehen als die negative Bewertung positiver Situationen. Für diese entgegengesetzte Evaluation sind in den erhobenen Daten insgesamt nur 2 Belege vertreten. (22) Ich bin zutiefst enttäuscht :) #nicht Mach was dir den meisten Spaß macht :) (https://twitter.com/vardashde/status/938062789230452736 – 5.12.17)
(23) Morgen wird so scheiße #nicht (https://twitter.com/IchBinDerPanda/status/938101269830520834 – 5.12.17)
Neben der Negation von ironischen Evaluationen wird #nicht außerdem eingesetzt, um ironische Äußerungen als irreal zu markieren, wie in (24) und (25) durch Hyperbel. Hier ist nicht die Bewertung einer Situation ironisch, sondern die Darstellung einer irrealen Situation selbst. Es ist nicht der Fall, dass der Verfasser von (24) eine Fahne ans Auto geklemmt hat und die Verfasserin von (25) viel zu früh mit dem Lernen angefangen hat. Das ähnelt Kapogiannis (2011) Typ der surrealen Ironie (26) – mit dem Unterschied, dass die irrealen Behauptungen möglicherweise wahr sein könnten. (24) „Wir sind schon alle im WM Darts Fieber“.... Ähm ja. Tierisch. Ich hab schon meine Deutschlandfähnchen ans Auto geklemmt.. #nicht #dopa (https://twitter.com/Redhead_Hunter/status/939812599532806144 – 10.12.17)
(25) Habe mal wieder viel zu früh mit lernen für die Chemie Arbeit morgen angefangen #nicht (https://twitter.com/AnnasView_/status/935984492841521152 – 29.11.17)
(26) Are you going to school tomorrow? No, I am riding my unicorn to Alaska! (Kapogianni 2011: 51)
Interessant sind außerdem Fälle wie (27) und (28), bei denen #nicht nach dem performativen Sprechakt des Dankens steht. Hier wird deutlich, dass mit #nicht
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keine Negation der Voräußerung getätigt wird. Die Rücknahme eines Danks, direkt nachdem er ausgeführt wurde, ist pragmatisch unakzeptabel (vgl. Kap. 4.2.4). Die Markierung durch #nicht macht hier stattdessen deutlich, dass der Sprechakt der Voräußerung nicht aufrichtig gebraucht wurde.10 (27) Ihr seid echt ekelhaft! Scheiß mal auf den Bürger, denn wir sind die Polizei! Wir stehen über dem Gesetz! #dankepolizei #nicht #fürgarnichts (https://twitter.com/FuerstMarius/status/940218112867295232 – 10.12.17)
(28) 5 weitere Jahre Glyphosat. Na, danke auch #nicht (https://twitter.com/fraugala/status/935181539998134272 – 27.11.17)
Diese ironische Verwendung findet sich primär bei expressiven Sprechakten. Neben ironischem Dank sind auch ironische Entschuldigungen oder ironische Gratulationen denkbar. Illokutionäre Akte mit Anpassungsrichtung Welt-an-Wort (Direktiva, Kommissiva, Deklarativa) scheinen für eine ironische Verwendung weniger geeignet zu sein.11 Es zeigt sich also, dass #nicht mit verschiedenen Typen von Ironie auftreten kann. Zu klären ist, wie sich die ironische Bedeutung jeweils ableiten lässt. Zentral hierfür ist die syntaktische Desintegration von #nicht. Durch die syntaktisch desintegrierte Position ist nachgestelltes #nicht im Vergleich zur normalen Negation markiert. Dass mit dieser markierten Form eine besondere Funktion einhergeht, entspricht Levinsons (2000: 136) M-Prinzip. Im Sinne von Grice (1989a: 27) lässt sich eine Implikatur als scheinbare Verletzung der 1. und 4. Maxime der Art und Weise ableiten.12 Die markierte Position allein reicht aber noch nicht aus, um die Verwendung als Ironiemarker abzuleiten. Dafür sind zusätzlich die bereits eingangs genannten Ironiekriterien notwendig (vgl. Neuhaus 2016): Zum einen muss ein situativer Kontrast zwischen einem Ereignis oder Ergebnis auf der einen und der Äußerung, zum Beispiel der Evaluation, auf der anderen Seite erkennbar sein. Zum anderen || 10 Die Herausgeber weisen darauf hin, dass bei (28) die Äußerung Na, danke auch selbst schon Ironie signalisiert. Man könnte hier von standardisierter ironischer Verwendung ausgehen, ähnlich wie bei schön für dich. Hier signalisiert #nicht den ironischen Dank zusätzlich. 11 Folgende konstruierte Beispiele für Direktiva (i), Kommissiva (ii) und Deklarativa (iii) in ironischer Verwendung zeigen sich als nicht gebräuchlich. Ein Grund dafür könnte in der Anpassungsrichtung liegen. (i) Bitte sei pünktlich. #nicht (ii) Ich verspreche pünktlich zu sein. #nicht (iii) Hiermit erkläre ich meinen Rücktritt. #nicht 12 „1. Avoid obscurity of expression. […] 4. Be orderly“ (Grice 1989a: 27).
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wird mit der ironischen Äußerung eine implizite kritische Haltung implikatiert. Die kommentierende Interpretationshilfe scheint besonders dann als notwendig erachtet zu werden, wenn nicht davon ausgegangen wird, dass Kontext und/oder Weltwissen eine ironische Interpretation der Äußerung nahelegen. Bei der ironischen Bewertung in (2), unten wiederholt, fehlt den Rezipienten beispielsweise ein Kontext, der deutlich machen würde, dass das Bilden der Rettungsgasse schlecht funktioniert hat. Erst durch #nicht wird eindeutig erkennbar, dass die Äußerung nicht wörtlich gemeint ist. (2) Das bilden der Rettungsgasse im Stau heute morgen hat hervorragend funktioniert! #NICHT !!! (https://twitter.com/nektus/status/936489773564350464 – 1.12.12)
Die Ergänzung durch #nicht gibt einen Hinweis darauf, dass die Voräußerung ironisch zu interpretieren ist. In diesem Sinne ist #nicht nicht selbst ironisch.
4.2 Expressivität durch #nicht Im Folgenden werden Expressivitätseigenschaften von #nicht und mögliche Expressivitätstypen diskutiert. Dabei handelt es sich um Hinweise, mit denen bei anderen Expressivitätsphänomenen argumentiert wurde, sowie relevante Kriterien aus der Liste von Potts (2007) und Merkmalsverteilungen von Gutzmann (2013).
4.2.1 Abweichende Syntax Die syntaktische Desintegration von #nicht legt zunächst nahe, diesen Ironiemarker mit der ironischen Verwendung von Interjektionen zu vergleichen, da diese standardmäßig syntaktisch desintegriert sind und ebenfalls als kommentierende Interpretationshilfe dienen (vgl. Kap. 5.1). Eine mögliche Herangehensweise wäre es, in der syntaktischen Desintegration von #nicht eine Analogiebildung zu Interjektionen zu vermuten, die einen expressiven Gehalt ermöglicht. Andererseits ist die syntaktische Desintegration bei #nicht, anders als bei ironischen Interjektionen, eine markierte Abweichung. Das ist selbst eine Eigenschaft, die verschiedentlich mit Expressivität in Verbindung gebracht wurde. Foolen (1997: 23) geht am Beispiel you bitch davon aus, dass Formen in expressivem Gebrauch neue syntaktische Möglichkeiten annehmen können. Meibauer (2007: 246f.) erläutert die Expressivität von Phrasenkomposita wie Gott-ist-tot-Thematik (Meibauer
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2007: 243) mit der Abweichung durch die Integration syntaktischer Komponenten in die Morphologie. Auch Gutzmann (2013: 21) nimmt nicht-kanonische syntaktische Strukturen als potentiell expressiv an und nennt Topikalisierung als Beispiel.
4.2.2 Emotionalität: Witz und Wiederholbarkeit Expressivität wird klassischerweise mit dem Ausdruck von Gefühlen in Zusammenhang gebracht. In dieser Tradition stehen die Ausdrucksfunktion aus Bühlers (1999 [1934]: 28) Organonmodell als Versprachlichung von Innerlichkeit sowie die emotive Funktion bei Jakobson (1960: 354), die er alternativ auch als expressive Funktion bezeichnet. Foolen (1997: 15) schließt sich dieser Tradition an und definiert Expressivität simpel als die Kommunikation von Gefühlen der sprechenden Person. Auch Meibauer (2007: 246) zieht ein ähnlich offenes Verständnis heran, nach dem Expressivität mit Gefühlen oder gefühlsbezogenen Bewertungen zu tun hat. Nicht zuletzt ist hier auch Potts (Potts 2007: 173) zu nennen, der davon ausgeht, dass expressive Ausdrücke fast immer mit einem gesteigerten emotionalen Zustand einhergehen. Über diesen Faktor der Gefühlsbezogenheit lässt sich eine Verbindung zwischen Expressivität und Ironie herstellen. Schon Grice (1989b: 53-54) geht davon aus, dass Ironie an Gefühle wie Empörung und Geringschätzung geknüpft ist. Rajadesingan, Zafarani & Liu (2015: 5) nehmen Frustration als Motiv für Ironie in sozialen Medien an. Durch den Gardenpath-Effekt bei #nicht ist die Frustration und die damit einhergehende ironische Kritik typischerweise an einen gewissen Witz geknüpft, was als weitere Eigenschaft von Expressiva gelten kann. Meibauer (2007: 233) verbindet bei seiner Analyse von Phrasenkomposita deren Einfachheit und Witz mit Expressivität. Der Gardenpath-Effekt nachgestellter Negation entspricht dem typischen Humor-Muster von Spannung und Lösung (u.a. Dynel 2013b; Attardo & Raskin 1991). Spannung entsteht während der Rezeption der Äußerung, Lösung bei der Rezeption von #nicht und der damit verbundenen ironischen Interpretation. In diesem Sinne spielerische und auffällige Sprache lässt sich als expressiv einordnen, und in diesem Zusammenhang zeigt sich, dass Ironie eine Möglichkeit des distanzierenden Umgangs mit Gefühlen (der Frustration) darstellt. Die Emotionalität zeigt sich auch in dem von Potts (2007: 167) aufgestellten Kriterium der Wiederholbarkeit von Expressiva. Demnach verstärkt die Wiederholung expressiver Ausdrücke deren emotionalen Gehalt, ohne dass Redundanz
Ironische Interjektionen und expressive Negation #hurra #nicht | 165
entsteht (29). Unter den 200 gesammelten Belegen mit #nicht liegt mit (30) ein Beleg vor, in dem Negation wiederholt wird, allerdings nicht genau formgleich, sondern mit unterschiedlichen Modifikatoren in Einzelhashtags. Formgleiche Wiederholungen der Negation lassen sich aber durchaus auch finden (31). (29) Damn, I left my damn keys in the damn car. (Potts 2007: 182)
(30) So sieht professionelles Tapezieren aus #vermutlichnicht #ganzsichernicht #neverever #nicht http://ift.tt/2ze5GR6 (https://twitter.com/Ivonne3281/status/924229011336769536)
(31) Die Zeit der dummen Sprüche ist vorbei! .... puh das hab ich jetzt lange aus gehalten. #nichtnicht (https://twitter.com/diespike/status/848903676018249733 – 3.4.17)
Gutzmann (2013: 47) und Geurts (2007: 213) kritisieren die Nennung des Wiederholbarkeitskriteriums, weil auch nicht-expressive Ausdrücke wiederholbar sind, ohne redundant zu werden (big big apple bei Geurts 2007: 213). Gutzmanns (2013: 47) geht noch weiter, indem er davon ausgeht, dass Wiederholbarkeit noch nicht einmal für alle Typen von Expressivität gilt und bewertet die wiederholten Interjektionen in (32) als merkwürdig. Intuitionen können hier auseinandergehen. Ein möglicher Grund für Gutzmanns (2013: 47) Bewertung könnte die Eigenschaft von Interjektionen sein, semantisch und syntaktisch isoliert aufzutreten, die er auch selbst benennt (vgl. Gutzmann 2013: 6). Nicht-redundante Wiederholungen von Interjektionen, die mit einer Verstärkung des emotionalen Gehalts einhergehen finden sich leicht, zum Beispiel in (33) und (34). (32) #Oops! I forgot my keys! Oops! They are in the car! Oops! (Gutzmann 2013: 47)
(33) She loves you, yeah, yeah, yeah. (The Beatles 1964 – She loves you)
(34) "#Brüssel geht die wirklich wichtigen #Thema an! Es leben die #€UdSSR #Hurra Hurra Hurra ... #Freundschaft Via @abendblatt (https://twitter.com/BuschFrank/status/933410026735185921 – 22.11.17)
Wiederholung als vielfältiges Phänomen ist für sich genommen nicht als Expressivitätskriterium anzusehen. Hervorzuheben ist trotzdem, dass bei (30) und (31) eine Lesart der einzelnen Negationen als sich mehrfach gegenseitig negierende
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logische Operatoren ausgeschlossen ist und stattdessen der emotionale Gehalt verstärkt wird.
4.2.3 Unmittelbarkeit der Expressivität und Nicht-Streichbarkeit der Ironie Mit dem Expressivitätskriterium der Unmittelbarkeit vergleicht Potts (2007: 180) Expressiva mit performativen Äußerungen. So wie mit der Äußerung selbst der intendierte Akt performativer Verben wie versprechen vollzogen wird, wird demnach bei Expressiva deren Emotionalität vollzogen. Als Argument für die Unmittelbarkeit bringt Potts (2007: 180) an, dass sich weder Expressivität (35) noch Performativität (36) löschen lässt. (35) That bastard Kresge was late for work yesterday. (#But he’s no bastard today, because today he was on time.) (Potts 2007: 180)
(36) I promise that I’ll wash the dishes later. #But I refuse to wash the dishes later. (Potts 2007: 180)
Diese Beobachtung lässt sich auch auf Ironie ausweiten. Im Rahmen der Diskussion um Streichbarkeit konversationeller Implikaturen weist Weiner (2006) darauf hin, dass ironische Bedeutung nicht streichbar ist, sondern im Gegenteil solche Versuche in der Regel weiterhin und noch stärker ironisch interpretiert werden, vgl. (37). Auch bei #nicht lässt sich die Ironie nicht gut streichen, vgl. (12') und (13'). (37) Are all conversational implicatures cancellable? Yes they are, and I am the Queen of Romania. I mean it. (Weiner 2006: 127)
(12') Ein Tag mit 4 Stunden Schlaf kann nur gut werden. #nicht #ichmeinsernst (13') Ahh ja irgendwie habe ich das Gehupe und Gedränge am neuen Wall vermisst #nicht …Oder doch irgendwie schon! Die Unaufrichtigkeit der ironischen Äußerung lässt sich nicht abschütteln. Diese Beobachtung gilt für Ironie im Allgemeinen und, wie Potts (2007: 180) selbst anmerkt, nicht nur für performative Akte, sondern für direkte Sprechakte ganz allgemein.
Ironische Interjektionen und expressive Negation #hurra #nicht | 167
(38) A: Ed is a werewolf. B: #It is false that we are in a context in which you asserted that Ed is a werewolf. (nach Potts 2007: 180-181)
Potts (2007: 181) leitet daraus ab, dass Expressiva unmittelbar den aktuellen Interpretationskontext wandeln, ohne dabei den deskriptiven Gehalt zu ändern. Ironie passt genau in diese Perspektive, lässt sich also als gebrauchskonditional erfassen.
4.2.4 Gebrauchsbedingungen, Figurativität und Sprechakte Grundlegend für die Analyse von Expressiva ist die Trennung von Wahrheits- und Gebrauchsbedingungen, vorgeschlagen von Kaplan (1999). Interjektionen wie hurra werden typischerweise keine Wahrheits-, dafür aber Gebrauchsbedingungen zugeordnet. Demgegenüber gibt es expressive Ausdrücke wie Köter, die sowohl eine deskriptive Dimension als auch einen expressiven Gehalt haben. Die erste Gruppe nennt Gutzmann (2013: 26) expletiv, die zweite gemischt. Als weitere Beispiele für die expletive Expressivität auf Satzebene nennt Gutzmann (2013: 22–23) Topikalisierung, mit der Argumentation, dass diese abweichende syntaktische Konstruktion selbst nichts zum propositionalen Gehalt der Äußerung beiträgt. Bei der Ironiemarkierung durch #nicht und bei Ironie generell ist fraglich, inwieweit die figurative Bedeutung mit den Wahrheitsbedingungen in Zusammenhang steht oder nur auf der Ebene der Gebrauchsbedingungen zu repräsentieren ist. Für Metaphern wird zum Beispiel neben der wörtlichen auch eine metaphorische Proposition mit eigenen Wahrheitsbedingungen diskutiert (vgl. Pafel & Reich 2016: 48; Camp 2012: 620). Nach der Merkmalsaufteilung von Gutzmann (2013: 27) ist #nicht nicht isoliert, wie zum Beispiel Interjektionen, die ihre expressive Einstellung allein ausdrücken. #nicht ist funktional, wie zum Beispiel Modalpartikeln, weil für die expressive Einstellung ein Argument notwendig ist, nämlich die Voräußerung. Der expressive Gehalt von #nicht lässt sich paraphrasieren als: ‚Die Voräußerung ist ironisch gemeint.‘ Wenn von diesem expressiven Gehalt ausgegangen wird, ist zu überlegen, welcher deskriptive Gehalt für die gesamte Äußerung anzunehmen ist. Auf den ersten Blick scheint die Negation durch #nicht auch auf deskriptiver Ebene vorhanden zu sein. In der Gutzmann’schen (2013) Turmschreibweise mit expressivem Gehalt oben und deskriptivem Gehalt unten ergibt sich dann folgendes Bild der gemischten Expressivität.
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#nicht =
ironisch (Proposition der Voräußerung) ¬ (Proposition der Voräußerung)
Der Versuch, eine ironische Proposition sowohl auf der expressiven als auch auf der deskriptiven Ebene abzubilden, ist mit Problemen verbunden. Wenn die Negation in den propositionalen Gehalt der Äußerung integriert wird, erhalten wir Paraphrasen wie (12'') und (25'). (12'') Es ist nicht der Fall, dass ein Tag mit 4 Stunden Schlaf nur gut werden kann. (25') Es ist nicht der Fall, dass ich mal wieder viel zu früh mit lernen für die Chemie Arbeit morgen angefangen habe. Diese Paraphrasen mit integrierter Negation kommen der ironischen Proposition schon näher als die wörtlichen Äußerungen. Es fehlt dabei aber ein entscheidender Anteil der ironischen Bedeutung, der über die reine Negation hinausgeht. In (12) ist von der ironischen Verwendung abzuleiten, dass ein Tag mit vier Stunden Schlaf nicht nur nicht gut, sondern wahrscheinlich schlecht wird, und in (25) hat die Verfasserin nicht nur nicht viel zu früh, sondern viel zu spät mit dem Lernen begonnen. Diese Bedeutungsbestandteile lassen sich nicht in die Idee einer ironischen Proposition integrieren. Sie liegen auf pragmatischer Ebene als Implikaturen. Die Negation einfach in die deskriptive Dimension aufzunehmen, funktioniert außerdem nicht immer. Problematisch wird es, wenn #nicht auf die ironische Verwendung von Sprechakten wie in (27) und (28) oder auf die ironische Verwendung von Interjektionen folgt, wie in (6). (27) Ihr seid echt ekelhaft! Scheiß mal auf den Bürger, denn wir sind die Polizei! Wir stehen über dem Gesetz! #dankepolizei #nicht #fürgarnichts (https://twitter.com/FuerstMarius/status/940218112867295232 – 10.12.17)
(28) 5 weitere Jahre Glyphosat. Na, danke auch #nicht (https://twitter.com/fraugala/status/935181539998134272 – 27.11.17)
(6) Wegen des Unfalls komme ich wieder zum Busfahren. Nun steht er im Berufsverkehr fest. #jippie #nicht (https://twitter.com/ingopudlatz/status/834304456753811457 – 21.02.17)
Ironische Interjektionen und expressive Negation #hurra #nicht | 169
Hier wird nicht die Proposition der Voräußerung negiert, sondern es wird geäußert, dass deren Gebrauchsbedingungen nicht zutreffen. Eine geeignetere Paraphrase wäre entsprechend: ‚Es ist nicht der Fall, dass die Gebrauchsbedingungen der Voräußerung erfüllt sind.‘ Mit dieser Präzisierung des expressiven Gehalts von #nicht scheint keine relevante wahrheitskonditionale Bedeutung übrig zu bleiben. #nicht =
¬ (Gebrauchsbedingungen der Voräußerung) ∅
Bei Interjektionen ergibt sich diese Perspektive allein daraus, dass für sie üblicherweise kein deskriptiver Gehalt angenommen wird, der negiert werden könnte. Beim ironischen Sprechakt des Dankens in (27) und (28) trifft weder die von Searle (1969: 63) formulierte Einleitungsbedingung zu, dass die dankende Person von dem vergangenen Akt, für den sie sich bedankt, profitiert und selbst glaubt, dass sie von ihm profitiert, noch wird die Aufrichtigkeitsbedingung eingehalten, nach der die dankende Person tatsächlich dankbar ist und den vergangenen Akt würdigt und schätzt. Dieser Ansatz der nicht erfüllten Gebrauchsbedingungen lässt sich auch auf die anderen Belege übertragen, nämlich, wenn die Voräußerungen im Rahmen der Sprechakttheorie als Assertiva (z.B. Behauptungen) oder Expressiva (z.B. Lob/Tadel) betrachtet werden. Standardmäßig ist es die Aufrichtigkeitsbedingung, die in einer ironischen Verwendung nicht befolgt wird. Das entspricht Camps (2012: 589) Typ der illokutionären Ironie. Damit ist #nicht als funktionales, expletives Expressivum klassifiziert. Die jeweilige Ironie-Implikatur ist darauf aufbauend aus dem Kontext ableitbar.
5 Positiv evaluierende Interjektionen Interjektionen sind, wie erwähnt, als isolierte, expletive Expressiva beschrieben worden (vgl. Gutzmann 2013: 6; Potts 2005: 65). Moraldo (2009: 267, 273) ordnet den Einsatz von Interjektionen auf Twitter als Beleg für die Sprachökonomie und die konzeptionelle Mündlichkeit dieser Kommunikationsplattform ein. Interessant ist es zu sehen, auf welche Weise diese Ausdrücke ohne eigenen deskriptiven Gehalt ironisch verwendet werden können und ob es dabei Unterschiede zwischen verschiedenen positiv evaluierenden Interjektionen gibt. Die Auswahl
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positiv evaluierender Interjektionen leitet sich von der Beobachtung ab, dass Ironie häufiger in positiver Bewertung negativer Situationen auftritt als umgekehrt (Kreuz & Link 2002: 127).
5.1 Ironietypen und deren Ableitbarkeit bei #hurra, #juhu, #yeah und #yippie/#jippie So klar die Expressivität von positiv evaluierenden Interjektionen ist, so viel weniger deutlich und eindeutig ist ihre Verwendung im Zusammenhang mit Ironie, besonders im Vergleich mit #nicht. Eine formale Markiertheit liegt bei Interjektionen anders als bei #nicht per se nicht vor, weil sie ohnehin syntaktisch desintegriert sind. Bemerkenswert ist dabei aber, dass ironische Interjektionen so wie #nicht eher nach einer Voräußerung auftreten und Interjektionen, die einen Post einleiten, wörtlich positiv evaluierend verwendet werden, wie in (39). Wörtlich positiv evaluierende Interjektionen finden sich aber ebenso als nachgestellte Kommentare, wie in (40). (39) #yippie Hauptrunde bei Autorenwettbewerb vom Spielwerk Hamburg erreicht. Jetzt muss ich meinem Sohn für den Proto Bauklötze klauen ;) (https://twitter.com/eisenmed/status/917377632957861889 – 9.10.17)
(40) Noch 4 Tage, dann wird es Zeit für den Urlaub! #yeah (https://twitter.com/Futzipelz/status/942629261734809601 – 17.12.17)
Für die ironische Interpretation von positiv evaluierenden Interjektionen ist deshalb der Kontext umso wichtiger. Besonders klare Fälle von Ironie liegen dann vor, wenn die ironische Interjektion mit einer Evaluation in der Voräußerung in Kontrast steht und diese im Sinne von Zappavigna (2017a: 447) herausfordert, wie der Kontrast der Interjektionen zu Hölle in (8), umsonst in (41) und beschissen in (42). (8) Wenn du wach wirst und sofort weißt, dass die nächsten zwei Tage Hölle werden #juhu #jajajipijipiyeah #nicht (https://twitter.com/AngisNightmare/status/921292078633668609 – 20.10.17)
(41) Wenn du Montags umsonst um 6:00 Uhr aufstehst, da die erste VL ausfällt. Egal steh eh im Stau🙌🙄 #juhu #montagsliebe (https://twitter.com/NotterLena/status/932493539027636225 – 19.11.17)
Ironische Interjektionen und expressive Negation #hurra #nicht | 171
(42) Wenn das Leben zeigt wie toll beschissen es werden kann... #hurra (https://twitter.com/DietrichViktor/status/919629286633623552 – 15.10.17)
Als Doppelmarkierung der Ironie sind Fälle wie (43) zu analysieren, bei denen in der Voräußerung bereits ein Kontrast besteht, in (43) zwischen große Chance und gegen die Wand zu setzen, und zusätzlich noch eine ironische Interjektion angeschlossen wird. (43) Nightwing soll verfilmt werden. Eine weitere große Chance für DC und Warner Bros., das Ganze grandios gegen die Wand zu setzen. #Jippie (https://twitter.com/Held_des_Chaos/status/835076174351069184 – 24.02.17)
Interjektionen können aber auch ironisch verwendet werden, wenn sie der Evaluationsrichtung der Voräußerung entsprechen, wie was ganz nettes in (44), Spaß in (45) und Highlight in (46). Der situative Kontrast, der die Ironie deutlich macht, entsteht hier nicht zwischen zwei Evaluationen, sondern zwischen den positiven Evaluationen in den Äußerungen und den Interjektionen auf der einen Seite und den geschilderten Situationen auf der anderen Seite, die mit Rückgriff auf das Weltwissen typischerweise negativ bewertet werden – Hustenanfälle beim Einschlafen in (44), Programmabsturz in (45) und überbuchte Züge in (46). (44) Ach Hustenanfälle wenn man schlafen möchte sind doch was ganz nettes 🤧#juhu (https://twitter.com/JessicaaNolte/status/917871680592187393 – 10.10.17)
(45) Es macht echt immer so spaß, wenn man gerade ein Video schneidet und plötzlich das Programm abstürtzt... #Videoschneiden #Juhu (https://twitter.com/featherlifehd/status/901835835699548160 – 27.08.17)
(46) @DeutscheBahn_AG - mein Highlight „bitte nutzen sie alternativen - wir haben nicht mal für gebuchte Tickets genug Plätze“ #yippie #db (https://twitter.com/BriefKaLiebe/status/939880799763038208 – 10.12.17)
Bei Kontrast in der Evaluationsrichtung ist die Interjektion allein Träger der Ironie. Bei gleicher Evaluationsrichtung werden sowohl die Voräußerung als auch die Interjektion zusammen ironisch verwendet. Das zeigt sich auch darin, dass in diesen Fällen die Interjektion durch #nicht ersetzbar ist und damit die bestehende Ironie der Voräußerung markiert wird. Interessanterweise sind beide Typen mit #nicht kombinierbar. Bei Kontrast in der Evaluationsrichtung, in (47) zwischen totmüde [sic!] und #juhu, markiert
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#nicht nur die ironische Verwendung der Interjektion. Bei gleicher Evaluationsrichtung, in (48) zwischen auf ein Neues und #Yeah, markiert #nicht die gemeinsame Ironie. (47) Totmüde....na dann mal ab in die Arbeit #juhu #nicht #dienachtwarzukurz #reviewwarwichtiger (https://twitter.com/AngisNightmare/status/923101432433315840 – 25.10.17)
(48) Wahlkampf. Auf ein Neues.🐣 #Yeah #NICHT (https://twitter.com/SvenjaWelsch/status/932387286662242305 – 19.11.17)
Weniger klar als ironisch einzuordnen sind Belege, bei denen in der Voräußerung keine explizite Evaluation gegeben wird. (49) Die schwarzen Krähen krächzen, die kahlen Äste ächzen. Im Wind. Ich sehe einen Drachen, ich hör ein Kinderlachen. Im Wind. {von so nem Dichter Typ} Muss das Kind für die Schule lernen. Hör schon den ganzen Tag nix anderes. #hurra (https://twitter.com/fandango911/status/928318373510991873 – 8.11.17)
(50) Auf an den Schreibtisch 🎉#juhu (https://twitter.com/I_LegallyBlonde/status/910025145162530817 – 18.09.2017)
In (49) ist eine potentiell ironische Verwendung von #hurra nur dadurch ableitbar, dass es nicht selbstverständlich ist, das wiederholte Hören eines Gedichts positiv zu bewerten. Dass die Interjektion nicht wörtlich gemeint sein könnte, lässt sich außerdem von der pejorativen Äußerung von so nem Dichter Typ ableiten. Bei (50) hängt die potentiell ironische Evaluation von #juhu davon ab, wie die Verfasserin ihre Schreibtischtätigkeit bewertet. Anders als #nicht markieren positiv evaluierende Interjektionen also nicht nur die ironische Verwendung der Voräußerung, sondern sie werden selbst ironisch verwendet. Die Ironie entsteht durch den situativen Kontrast zwischen der Gebrauchsbedingung, eine positive Bewertung oder Empfindung auszudrücken und der tatsächlichen Verwendung im Zusammenhang einer impliziten kritischen Haltung. Dass in ironischer Verwendung die Gebrauchsbedingungen der Interjektionen als Kontrast herangezogen werden, ändert nichts an deren expressivem Status. Vielmehr zeigt sich darin eine zusätzliche pragmatische Möglichkeit des Umgangs mit Expressivität.
Ironische Interjektionen und expressive Negation #hurra #nicht | 173
5.2 Ironietypische Interjektionen im Vergleich zu #nicht Im Vergleich von positiv evaluierenden Interjektionen untereinander stellt sich die Frage, ob es Ausdrücke gibt, die häufiger ironisch verwendet werden als andere und ob es Fälle gibt, bei denen von einer Standardisierung einer ironischen Verwendung auszugehen ist. Abbildung 1 zeigt die Verteilung der untersuchten Belege.
Abb. 1: Anzahl der Tweets, in denen die Interjektionen als ironisch, nicht-ironisch oder ambig bewertet wurden. In Klammern ist der Beitrag zu 2 angegeben.13 Die Unterschiede sind signifikant mit p .001.
In dieser Gegenüberstellung zeigt sich, dass alle getesteten Interjektionen deutlich häufiger nicht-ironisch als ironisch verwendet werden. Bemerkenswert ist, dass sich die Interjektion #hurra deutlich durch den vergleichsweise großen An-
|| 13 Mit diesem statistischen Wert lässt sich zeigen, in welchem Maß die gemessenen Werte sich von Erwartungswerten unterscheiden. Je größer die Zahl ist, umso größer ist die Abweichung.
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teil an ironischen Verwendungen und der größten Abweichung vom Erwartungswert absetzt. Sie kann damit unter den getesteten als die ironietypischste Interjektion gelten.14 Der Vergleich mit der Verteilung bei #nicht zeigt, dass hier ein ganz anderes Phänomen vorliegt.
Abb. 2: Anzahl der Tweets, in denen #nicht als ironisch, nicht-ironisch oder ambig bewertet wurde.
Während es sich bei positiv evaluierenden Interjektionen um eine nicht-konventionalisierte ironische Verwendungsmöglichkeit handelt, die dadurch ableitbar ist, dass die Gebrauchsbedingungen nicht eingehalten werden, erlaubt #nicht, vor allem in nachgestellter Position, eine vergleichsweise klare Markierung der Ironie der Voräußerung.
|| 14 Aus der Analyse der erhobenen Daten lässt sich kein Motiv ableiten, warum im Vergleich hurra häufiger ironisch gebraucht wird als die anderen getesteten Interjektionen. Zu fragen wäre, ob die nicht-ironische Verwendung systematisch bessere Voraussetzungen für eine ironische Verwendung liefert als bei den anderen Interjektionen.
Ironische Interjektionen und expressive Negation #hurra #nicht | 175
6 Fazit Dieser Beitrag hat versucht zu zeigen, dass gebrauchskonditionale Bedeutung eine ironische Verwendung erlaubt. Die Markierung von ironischen Äußerungen durch nachgestelltes nicht wurde als funktionale expletive Expressivität analysiert und die ironische Verwendung von isoliert expletiver Expressivität der positiv evaluierenden Interjektionen hurra, juhu, yeah und yippie/jippie wurde gezeigt. Die Interjektion hurra wird im Vergleich besonders häufig ironisch verwendet. Damit konnte gezeigt werden, dass das Phänomen der Ironie nicht auf Umkehrung deskriptiver Bedeutung zu beschränken ist, sondern einen situativen Kontrast mit einer impliziten kritischen Haltung verbindet. Der Einbezug von Ironie in die Analyse von Expressivität stellt eine Erweiterung der bisherigen Expressivitätsdiskussion dar. Ein daraus entstehendes Desiderat ist die Analyse von potentieller ironischer Verwendung anderer Expressivitätsphänomene. Ist die Verwendung von Slurs wie Schlaumeier oder Spitznamenderivation wie Jörgi beispielsweise im Kontext von Banter als ironisch analysierbar?
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| Teil III: Expressive Sätze
Sven Müller
Expressivität und die linke Peripherie Zur Beziehung zwischen expressiver Bedeutung und funktionalen Projektionen Abstract: Periphere Adverbialsätze mit den Konnektoren obwohl, da und während verfügen über eine syntaktische Basisposition in der linken Peripherie ihres Matrixsatzes. Alle drei Adverbialsatzvarianten weisen zudem expressive, evaluative Bedeutungsbestandteile auf. Die syntaktischen und semantischen Charakteristika peripherer Adverbialsätze deuten damit auf den bereits für andere expressive Ausdrücke und Strukturen angenommenen Bezug zwischen expressiver Bedeutung und linker Peripherie hin. Dass dieser Bezug im Fall peripherer Adverbialsätze tatsächlich systematisch ist, zeigt der Vergleich mit nicht-peripheren, zentralen Adverbialsatzvarianten.1
1 Einleitung Die syntaktische und semantische Analyse verschiedener expressiver Strukturen legt eine enge Verknüpfung der linken Peripherie des Satzes mit gebrauchskonditionaler bzw. expressiver Bedeutung nahe. Beispiele für links-periphere, expressive Ausdrücke bzw. Strukturen sind Topikalisierung und Linksversetzung (vgl. Gutzmann 2013) oder Modalpartikeln (vgl. Zimmermann 2008). Zimmermann geht explizit davon aus, dass at least part of the linking between descriptive and expressive content takes place compositionally in the left periphery of the clause, more specifically in the domain of ForceP. (Zimmermann 2008: 200)
Ausgehend von dieser Hypothese von Zimmermann (2008) kann man zwei Fragen stellen: (i) Besteht bei einem Phänomen, welches im Rahmen einer Theorie der expressiven Bedeutung analysiert wird, im Deutschen ein systematischer Bezug zur linken Peripherie des Satzes (insbesondere ForceP)?; und (ii) Lassen sich
|| 1 Vielen Dank an die Herausgeberinnen Franz d’Avis und Rita Finkbeiner für viele hilfreiche Anmerkungen und Kommentare und für ihre Unterstützung. https:// doi.org/10.1515/9783110630190-008
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im Deutschen Phänomene in der linken Peripherie des Satzes (insbesondere ForceP) im Rahmen einer Theorie der expressiven Bedeutung analysieren? Ein Phänomen, das syntaktisch mit der linken Peripherie des Satzes – und speziell mit der Force-Projektion – assoziiert ist, sind sogenannte periphere Adverbialsätze (PAS) (vgl. Haegeman 2004; Frey 2011). Zu diesen zählen unter anderem die folgenden Varianten: konzessive Adverbialsätze mit obwohl (1), epistemisch-kausale Adverbialsätze mit da (2) und adversative Adverbialsätze mit während (3). (1) Obwohl Tilda verreist ist, brennt in ihrem Büro Licht. (2) Da die Straße nass ist, hat es geregnet. (3) Während Tilda Sozialarbeiterin ist, arbeitet Hilda als Bankerin. Ausgehend von ihrem geringen Grad syntaktischer Einbettung und der Beobachtung, dass alle drei Adverbialsatzvarianten Wurzelsatzphänomene erlauben, analysiert Frey (2011) sie als Force-Elemente: Force-Projektionen (ForcePs), die in der Spezifiziererposition der Force-Projektion ihres Matrixsatzes basisgeneriert werden und deren einleitende Konnektoren obwohl, da und während ihrerseits Köpfe der Force-Projektion des jeweiligen Adverbialsatzes sind (vgl. Abschnitt 2). Neben dieser syntaktischen Gemeinsamkeit weisen die konzessiven, kausalen und adversativen PAS auch semantische Parallelen auf: Alle drei Varianten verfügen über eine multipropositionale Semantik und jeweils über einen sprecherseitigen, evaluativen Bedeutungsbestandteil (vgl. Abschnitt 4). Dieser lässt sich im Rahmen einer Theorie der expressiven Bedeutung analysieren (vgl. Abschnitt 5). Dass die von Zimmermann (2008) angenommene Verknüpfung von expressiver Bedeutung und linker Peripherie dabei tatsächlich systematisch ist, legt der Vergleich peripherer Adverbialsätze mit nicht-peripheren, zentralen Varianten nahe: Neben den peripheren, expressiven Adverbialsätzen leiten die Subjunktionen da und während auch zentrale Adverbialsätze ein, (4) und (5). Zentrale Adverbialsätze lassen sich nicht als Force-Elemente analysieren: Sie sind zu einem höheren Grad syntaktisch integriert (und nicht in der Force-Projektion ihrer Matrixsätze basisgeneriert) und sind selbst keine Force-Projektionen. Zugleich verfügen sie nicht über die expressive Bedeutungskomponente der peripheren Adverbialsätze (vgl. Abschnitt 6).
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(4) Da es geregnet hat, ist die Straße nass. (5) Während das Gemüse gart, bereitet Hilda den Nachtisch vor.
2 Periphere Adverbialsätze Der Analyse peripherer Adverbialsätze als Force-Elemente liegt ein generatives Modell deutscher Syntax zugrunde, welches sich grundsätzlich an den Arbeiten von Rizzi (1997), Haegeman (2004) und Frey (2011) orientiert. Zentrales Merkmal dieses Modells ist die Annahme, dass der Bereich „oberhalb“ der VP oder ggf. der I-Domäne eines Satzes – die sogenannte C-Domäne – nicht aus einer einzigen funktionalen Projektion (beispielsweise CP) besteht, sondern aus einer Menge solcher funktionaler Projektionen (auch kartographischer Ansatz, Split-CP-Hypothese). Die einzelnen Projektionen stellen einerseits Positionen für syntaktisch integrierte Elemente zur Verfügung, die aus der VP (bzw. dem Mittelfeld) des Satzes heraus in die linke Peripherie bewegt werden (beispielsweise Topik-Ausdrücke und bestimmte Adverbien), andererseits treten innerhalb der C-Domäne Elemente mit einem geringeren Grad syntaktischer Einbettung auf, die in einer der dortigen funktionalen Projektionen unmittelbar eingesetzt – also basisgeneriert – werden. Periphere Adverbialsätze (vgl. (1) bis (3), hier wiederholt als (6), (7) und (8)) sind Beispiele für linksperiphere Elemente mit einem geringen Einbettungsgrad, der sich insbesondere im Vergleich zu zentralen Adverbialsätzen zeigt. (6) Obwohl Tilda verreist ist, brennt in ihrem Büro Licht. (7) Da die Straße nass ist, hat es geregnet. (8) Während Tilda Sozialarbeiterin ist, arbeitet Hilda als Bankerin. Frey (2011) führt die Indizien in (9) für den geringen syntaktischen Einbettungsgrad und damit für die hohe Basisposition peripherer Adverbialsätze an: (9) a. Periphere Adverbialsätze haben keine Korrelate im Matrixsatz. b. Periphere Adverbialsätze können nicht erfragt werden. c. Frageoperatoren im Matrixsatz haben keinen Skopus über periphere Adverbialsätze.
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d. Negationsausdrücke im Matrixsatz haben keinen Skopus über periphere Adverbialsätze. e. Quantifizierer im Matrixsatz binden Pronomen im peripheren Adverbialsatz nicht. Diese Eigenschaften peripherer Adverbialsätze lassen sich am Vergleich der beiden Strukturen in (10) illustrieren. Bei beiden Strukturen handelt es sich um Konstruktionen2 mit VL-Adverbialsätzen, die sich aus einer linearen, topologischen Perspektive beide in der Vorfeld-Position (VF) unmittelbar vor dem finiten Verb des einbettenden V2-Matrixsatzes befinden. (10) a. Wenn es regnet, wird die Straße nass. b. Da die Straße nass ist, hat es geregnet. Tatsächlich unterscheiden sich jedoch die Strukturpositionen der beiden Adverbialsätze in (10a) und (10b), was an den in (9) aufgeführten Charakteristika gezeigt werden kann. Sie weisen den mit wenn eingeleiteten Adverbialsatz als zentrale, eingebettete, den da-Satz als periphere Variante mit geringem Einbettungsgrad aus.3 (11) PAS haben keine Korrelate im Matrixsatz: a. Wenn es regnet, dann wird die Straße nass. b. *Da in ihrem Zimmer Licht brennt, deshalb ist Tilda zu Hause. (12) PAS können nicht erfragt werden: a. (i) Wann wird die Straße nass? (ii) Wenn es regnet. b. (i) Warum hat es geregnet? (ii) *Da die Straße nass ist.
|| 2 Ich verwende den Begriff Konstruktion hier und im Folgenden (Konzessivkonstruktion, Kausalkonstruktion etc.) theorieneutral im Sinn eines komplexen Gebildes aus Matrixsatz und eingebettetem Satz. 3 Im Folgenden markiert das Zeichen * vor einem Beispiel, dass der betreffende Satz mit der jeweiligen intendierten Lesart in dem gegebenen Kontext ungrammatisch ist. In den Fällen (12) bis (14) beispielsweise sind die da-Adverbialsätze ungrammatisch, wenn man eine epistemische Lesart voraussetzt. Das Zeichen # vor einem Beispiel markiert kontextuelle Unangemessenheit ansonsten grammatischer Strukturen.
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(13) Frageoperatoren im Matrixsatz haben keinen Skopus über PAS: a. (i) Wird die Straße nass, wenn es regnet? (ii) Ja, oder wenn ein Hydrant defekt ist. b. (i) Hat es geregnet, da die Straße nass ist? (ii) *Ja, oder da Hildas Jacke nass ist. (14) Negationsausdrücke im Matrixsatz haben keinen Skopus über PAS: a. (i) Die Straße wird nicht nur nass, wenn es regnet ... (ii) ... sondern auch, wenn ein Hydrant defekt ist. b. (i) Es hat nicht nur geregnet, da die Straße nass ist ... (ii) *... sondern auch, da Hildas Jacke nass ist. (15) Quantifizierer im Matrixsatz binden Pronomen im PAS nicht: a. Wenn [sie]i nicht nass werden will, nimmt [fast jede Kollegin]i einen Schirm mit. b. *Da [sie]i einen Schirm mitgenommen hat, will [fast jede Kollegin]i nicht nass werden. Konzessive und adversative periphere Adverbialsätze weisen dieselben, hier an der peripheren kausalen Variante mit da illustrierten syntaktischen Charakteristika auf: Sie verfügen nicht über Korrelate, sind nicht erfragbar, stehen nicht im Skopus von Operatoren (Frage/Negation) im Matrixsatz und die Pronomenbindung in den Adverbialsatz ist eingeschränkt. Frey (2011) leitet aus diesen Eigenschaften der Adverbialsätze ab, dass ihre Basisposition im Matrixsatz außerhalb der Skopus- und Bindungsdomänen der besagten Operatoren liegen muss und sie nicht, wie zentrale Adverbialsätze, aus einer VP-internen Position in die linke Peripherie ihrer Matrixsätze bewegt werden. Als Basisposition für periphere Adverbialsätze nimmt Frey (2011) die höchstmögliche Position ihres Matrixsatzes, die Spezifikator-Position der Force-Projektion, an. Die Konnektoren, die die peripheren Adverbialsatzvarianten einleiten, sollen ihrerseits Köpfe in der Force-Projektion der Adverbialsätze sein. Indiz dafür, dass es sich bei peripheren Adverbialsätzen um Force-Projektionen handelt, ist die Beobachtung, dass periphere Adverbialsätze Wurzelsatzphänomene – wie beispielsweise Modalpartikeln oder sprechaktbezogene Adverbien in (16) – erlauben (vgl. Reis 2006).
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(16) a. Obwohl Tilda ja/wohl/bekanntlich verreist ist, brennt in ihrem Büro Licht. b. Da die Straße ja/wohl/bekanntlich nass ist, hat es geregnet. c. Während Tilda ja/wohl/bekanntlich Sozialarbeiterin ist, arbeitet Hilda als Bankerin. Die hier diskutierten peripheren Adverbialsätze und ihre Konnektoren weisen also mit Blick auf ihre externe und ihre interne Syntax einen direkten Bezug zu jener Position auf, die von Zimmermann (2008) mit der Verknüpfung deskriptiver und expressiver Bedeutung assoziiert wird. In den peripheren Adverbialsätzen mit den Ausdrücken obwohl, da und während treten Konnektoren auf, die Köpfe der Force-Projektion der Adverbialsätze sind; zugleich nehmen die peripheren Adverbialsätze die Spezifiziererposition der Force-Projektion ihrer Matrixsätze ein.
Abb. 1: ForceP-Struktur nach Rizzi (1997). Zwischen der Fin- und der Force-Projektion können diskurssemantische Projektionen für Topikalisierung, wh-Bewegung und Fokus auftreten. Die Basisposition für periphere Adverbialsätze in Wurzelsätzen ist die ForceSpec-Position. In Wurzelsätzen besetzen Konnektoren die Kopfposition der Force-Projektion.
Ausgehend von der in Abschnitt 1 gestellten Frage, ob sich für Force-Elemente dieser Art ein systematischer Bezug zu expressiver Bedeutung aufzeigen lässt, werde ich im Folgenden den Expressivitätsbegriff umreißen, der dabei zugrunde gelegt werden soll.
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3 Expressive Bedeutung Die expressive Bedeutung eines Ausdrucks – im Sinne von Kaplan (1999), Potts (2007) und Gutzmann (2013) – bildet eine zusätzliche Dimension von Bedeutung, parallel zur deskriptiven (oder auch propositionalen) Bedeutung. Zur expressiven Bedeutung eines Ausdrucks zählen solche Bedeutungsbestandteile, die die folgenden vier Eigenschaften aufweisen: Sie sind (i) konventionell mit dem Ausdruck verknüpft, sind jedoch (ii) nicht Teil der wahrheitsfunktionalen Bedeutung dieses Ausdrucks (sofern dieser überhaupt eine solche besitzt) und (iii) von dieser vollständig unabhängig (d.h. die propositionale Bedeutung des Ausdrucks ist unabhängig von seiner expressiven Bedeutung bestimmbar und andersherum); stattdessen (iv) bestimmt oder modifiziert die expressive Bedeutung die Gebrauchsbedingungen (eng. use conditions) des Ausdrucks, mit dem sie konventionell verbunden ist. Letzteres ist so zu verstehen, dass die expressive Bedeutung eines Ausdrucks die Menge der Kontexte einschränkt, in denen dieser Ausdruck angemessen verwendet werden kann. Expressive Bedeutung ist also konventionelle, nicht-wahrheitskonditionale, unabhängige, gebrauchskonditionale Bedeutung (vgl. Gutzmann 2013: 2f.). Weitere Eigenschaften expressiver Bedeutung sind deren Nicht-Verschiebbarkeit, ihre Perspektivabhängigkeit sowie ihre Unmittelbarkeit (vgl. Gutzmann 2013). Ich werde diese Charakteristika in Abschnitt 5 am Beispiel der expressiven Bedeutung peripherer Adverbialsätze genauer diskutieren. Zusätzliche, von Potts (2007) angeführte Merkmale expressiver Bedeutung – Nicht-Beschreibbarkeit und Wiederholbarkeit – diskutiert Gutzmann (2013) kritisch und weist sie zum Teil als nicht relevant für die Abgrenzung expressiver und deskriptiver Bedeutung zurück. Dass propositionale oder deskriptive Bedeutung einerseits und expressive Bedeutung andererseits zwar parallele, aber doch verschiedene Dimensionen der Semantik eines Ausdrucks sind, lässt sich sinnvoll im sogenannten mode of expression fassen (vgl. Kaplan 1999). Dieser beschreibt die Art und Weise, wie ein Bedeutungsbestandteil von der Sprecherin repräsentiert wird: Zwischen einer Sprecherin, einem Ausdruck und dessen deskriptiver Bedeutung besteht eine um-zu-Relation. Die Sprecherin verwendet den Ausdruck, um die deskriptive Bedeutung – mittelbar, über Referenz und Prädikation – zu repräsentieren. Sprecherin, Ausdruck und expressive Bedeutung hingegen stehen in einer indem-Relation. Die Sprecherin repräsentiert die expressive Bedeutung unmittelbar, indem sie den Ausdruck verwendet (vgl. auch Lang 1983 und Liedtke 1997).
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Im Folgenden stellt sich also die Frage, ob die in Abschnitt 2 eingeführten kausalen und konzessiven peripheren Adverbialsätze – genauer gesagt ihre subordinierenden Konnektoren – über expressive Bedeutungsbestandteile im oben umrissenen Sinne verfügen. Das bedeutet: über Bedeutungsbestandteile, die konventionell, nicht wahrheitsfunktional und von der wahrheitsfunktionalen Bedeutung der Konnektoren und ihrer Konstruktionen unabhängig sind und sich im Sinne von Gebrauchsbedingungen für die PAS-Konnektoren da, obwohl und während charakterisieren lassen. Für diese Bedeutungsbestandteile sollte sich außerdem zeigen lassen, dass ihnen ein expressiver Ausdrucksmodus zugrunde liegt. Dass expressive Bedeutung notwendigerweise mit dem Ausdruck sprecherseitiger Emotionen und Einstellungen verbunden ist, ist nicht Teil des hier angenommenen, vergleichsweise engen und formalen Expressivitätsbegriffs. Wie die Analyse konzessiver, kausaler und adversativer Adverbialsätze allerdings zeigen wird, weist die expressive Bedeutung dieser Konstruktionen einen klaren sprecherorientierten, evaluativen Aspekt auf, der sich auch im Sinne eines emotiven oder Einstellungsausdrucks deuten lässt und somit auch weitergefassten Konzepten expressiver Bedeutung genügen kann.
4 Zur Semantik peripherer Adverbialsätze Konstruktionen mit peripheren konzessiven, kausalen und adversativen Adverbialsätzen verfügen über eine komplexe, multipropositionale Semantik. Das bedeutet, auf der Basis dieser Konstruktionen werden zugleich mehrere Propositionen – ihre jeweiligen Bedeutungsbestandteile – mit jeweils unterschiedlichem Diskursstatus repräsentiert. Im Folgenden werde ich die Bedeutungsstruktur der einzelnen Konstruktionstypen aufschlüsseln und dabei das Hauptaugenmerk auf solche Bedeutungsbestandteile legen, die sich im Sinne einer Theorie der expressiven Bedeutung analysieren lassen.
4.1 Periphere Adverbialsätze mit obwohl Die wahrheitskonditionale Bedeutung von Konzessivkonstruktionen der Form in (17) wird üblicherweise mit der der logischen Konjunktion (∧) der beiden durch die jeweiligen Teilsätze ausgedrückten Propositionen – dass Tilda verreist ist (P) und dass in Tildas Büro Licht brennt (Q) – gleichgesetzt (vgl. Antomo & Steinbach 2013: 428; Iten 2005: 158; Eisenberg & König 1984: 317). Darüber hinaus wird für
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Konzessivkonstruktionen typischerweise ein weiterer, nicht linguistisch kodierter Bedeutungsbestandteil angenommen. Dieser zusätzliche Bedeutungsbestandteil wird als Konditionalsatz – etwa wie in (17c) – formuliert. (17) Obwohl Tilda verreist ist, brennt in ihrem Büro Licht. a. Obwohl P, Q b. P ∧ Q c. Wenn P, ¬Q Das Antezedens dieses Konditionals (im Folgenden: Konzessivkonditional) bildet die im obwohl-Satz ausgedrückte Proposition P, im Konsequens steht die negierte Proposition des Matrixsatzes der Konzessivkonstruktion ¬Q. Das Konzessivkonditional ist nicht wahrheitsfunktional für die Konzessivkonstruktion. Es kann, wie auch die im obwohl-Satz ausgedrückte Proposition P, als präsupponiert gelten, lizensiert ist das Konzessivkonditional als konventionelle Implikatur (vgl. Antomo & Steinbach 2013; Müller 2016). Die Matrixsatzproposition Q wird mit der Äußerung der Konzessivkonstruktion assertiert (vgl. König & Siemund 2000). In der Debatte darüber, wie der konditionale Bedeutungsbestandteil in der Semantik konzessiver Konstruktionen zu interpretieren ist, habe ich (vgl. Müller 2016) dafür argumentiert, das Konditional entsprechend der von Kratzer (2012) vorgeschlagenen Semantik für natürlichsprachliche Konditionale und modale Operatoren zu analysieren. (18) Wenn Tilda verreist ist, brennt in ihrem Büro kein Licht. Spart man Einzelheiten und technische Details der Analyse aus, ergibt sich als Kernpunkt der Semantik natürlichsprachlicher Konditionale die Auffassung, dass in diesen zunächst die Notwendigkeit (i.S.v. Wahrheit in allen möglichen Welten) der Matrixsatzproposition ausgedrückt wird; hier also: dass in Tildas Büro kein Licht brennt. Dem eigentlichen Konditionalsatz kommt die einschränkende Funktion eines sogenannten Restriktors zu: Die Notwendigkeit der Proposition dass in Tildas Büro kein Licht brennt gilt nicht für alle möglichen Welten, sondern nur für solche, in denen die Proposition dass Tilda verreist ist wahr ist. Ein Konditionalsatz der Form in (18) lässt sich demnach wie folgt paraphrasieren: In allen möglichen Welten, in denen Tilda verreist ist, brennt in Tildas Büro kein Licht.
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In der Semantik natürlichsprachlicher Konditionale verbirgt sich also ein coverter Modaloperator, der Notwendigkeit ausdrückt, aber durch den Konditionalsatz in seinem Skopus auf eine spezifische Menge von Welten eingeschränkt wird. Doch auch außerhalb von natürlichsprachlichen Konditionalen müssen Modaloperatoren als eingeschränkt interpretiert werden. Auch hier können Einzelheiten vorerst ausgespart werden; die Essenz der von Kratzer (2012) vorgeschlagenen Analyse modaler Operatoren kann an dem folgenden Beispiel verdeutlicht werden: (19) Das Kolloquium muss ausfallen. In Beispiel (19) wird – über den hier overten Modaloperatur muss – die Notwendigkeit der Proposition dass das Kolloquium ausfällt ausgedrückt. In einer konkreten Äußerungssituation ist die Notwendigkeit jedoch nicht auf alle möglichen Welten bezogen, sondern nur auf solche, in denen dieselben Umstände vorliegen wie in der Äußerungssituation selbst, in der der Ereignisrahmen also identisch ist und beispielsweise die Vortragenden ihren Zug verpasst haben.4 Präziser kann der Satz in (19) also paraphrasiert werden als: Das Kolloquium muss – unter den gegebenen Umständen – ausfallen. Doch auch mit dieser ersten Einschränkung des Modaloperators auf einen bestimmten Ereignisrahmen ist dessen natürlichsprachliche Bedeutung nicht ausreichend genau umrissen. Die Notwendigkeit der Proposition dass das Kolloquium ausfallen muss gilt nämlich nicht in solchen möglichen Welten, in denen die Vortragenden zwar den Zug verpasst, aber daraufhin kurzerhand – auf Institutskosten – einen Helikopter gechartert und so den Vortragsort noch rechtzeitig erreicht haben. Dieses Szenario wäre zu weit hergeholt (far fetched, vgl. Kratzer 2012) und entspräche kaum den Normalvorstellungen der Sprecherin, die (19) äußert. Natürlichsprachliche Modaloperatoren sind also „doubly relative“ (Kratzer 2008: 644): Sie werden einmal relativ zu einem konkreten Ereignisrahmen interpretiert – was ihren Skopus einschränkt – und zudem relativ zu den Normalvorstellungen der Sprecherin in Bezug auf diesen Ereignisrahmen. Dies schränkt die
|| 4 Als den Ereignisrahmen eines spezifischen Sachverhalts kann man sich die Menge aller Sachverhalte vorstellen, die zugleich mit diesem Sachverhalt eintreten. Im Kontext modaler Operatoren wird der Ereignisrahmen relevant, da eine Teilmenge dieser Sachverhalte eine notwendige Bedingung für die mittels des Modaloperators ausgedrückte Notwendigkeit oder Möglichkeit des spezifischen Sachverhalts bildet: Nur wenn diese relevanten Sachverhalte aus dem Ereignisrahmen eintreten, muss (bzw. kann) der fragliche Sachverhalt eintreten.
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Notwendigkeit der entsprechenden Proposition weiter ein, nämlich auf alle Welten (oder Ereignisrahmen), die die Sprecherin für normal hält. Zusammengenommen kann ein Satz der Form (19) also paraphrasiert werden als: In allen möglichen Welten, die dem Ereignisrahmen entsprechen und die die Sprecherin für normal hält, fällt das Kolloquium aus. Ein coverter Modaloperator in einem natürlichsprachlichen Konditionalsatz wie (18) ist also dreifach eingeschränkt: durch die beiden kontextsensitiven Parameter in der Semantik des Operators selbst und durch den restriktiven Konditionalsatz. Die Bedeutung des Satzes (18) lässt sich also wie folgt paraphrasieren: In allen möglichen Welten, die dem Ereignisrahmen entsprechen, die die Sprecherin für normal hält und in denen Tilda verreist ist, brennt in Tildas Büro kein Licht. Nimmt man nun diese Bedeutung des Konzessivkonditionals und die wahrheitsfunktionale Bedeutung der Konzessivkonstruktion zusammen (P ∧ Q, dass Tilda verreist ist und dass in Tildas Zimmer Licht brennt), ergibt sich das folgende Bild: In der Situation, die durch die Sprecherin mit der Konzessivkonstruktion repräsentiert wird, ist Tilda verreist und in ihrem Büro brennt Licht. Zugleich wird repräsentiert, dass diese beiden Sachverhalte nicht zugleich zutreffen sollten, wenn der Ereignisrahmen in allen relevanten Punkten dem der repräsentierten Sachverhalte und zugleich den Normalvorstellungen der Sprecherin entspricht. Eine konkrete Äußerungssituation, die eine Äußerung mit einem (coverten oder overten) Modaloperator involviert, bildet zunächst genau den Ereignisrahmen, der die einschränkende Bedingung für den Modaloperator darstellt. Alle relevanten Umstände sind also gegeben. Aus den Annahmen der Sprecherin kann daher nur eines folgen: Der erweiterte Ereignisrahmen der beiden mittels der Konzessivkonstruktion repräsentierten Sachverhalte entspricht nicht den Normalvorstellungen der Sprecherin. Konzessivkonstruktionen mit peripheren Adverbialsätzen verfügen damit über einen sprecherseitigen, evaluativen Bedeutungsbestandteil. Mit der Äußerung der Konzessivkonstruktion drückt die Sprecherin aus, dass der Ereignisrahmen der in der Konstruktion repräsentierten Sachverhalte nicht ihren Normalvorstellungen entspricht.5
|| 5 Dass ein Bezug zu sprecherseitigen Normalvorstellungen nicht bei allen Verwendungen konzessiver Konstruktionen mit obwohl gegeben sein muss, zeigt d’Avis (2016). Beispiele sind (teilweise) Zurückweisungen konditionaler Vorgängeräußerungen. A: Wenn Tilda verreist ist, brennt in ihrem Zimmer kein Licht. B: Aber obwohl Tilda verreist ist, brennt in ihrem Zimmer Licht! Dem geäußerten Konditionalsatz liegen die Normalvorstellungen der Sprecherin A zugrunde, die dementsprechend auch bei der Interpretation der Konzessivkonstruktion eine Rolle spielen, die von B geäußert wird.
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Dieser Bedeutungsbestandteil ist konventionell mit der Verwendung von obwohl als Konnektor verknüpft, für die Konzessivkonstruktion jedoch nicht wahrheitskonditional und von deren wahrheitskonditionaler Bedeutung unabhängig. Die sprecherseitige Evaluation des Ereignisrahmens legt allerdings Gebrauchsbedingungen für konzessive Konstruktionen fest: Bewertet die Sprecherin den erweiterten Ereignisrahmen zweier Sachverhalte nicht als Widerspruch gegen ihre Normalvorstellungen, ist die Verwendung von obwohl als Konnektor unangemessen.
4.2 Periphere Adverbialsätze mit da Der Konnektor da als Subjunktor für periphere Adverbialsätze der Form in (20) etabliert eine kausale Relation. Dabei wird auf Basis des Adverbialsatzes ein Grund oder eine Ursache und auf Basis des Matrixsatzes eine Wirkung repräsentiert. Die periphere Kausalkonstruktion erhält dabei eine epistemische Lesart (vgl. Sweetser 1990): (20) Da die Straße nass ist, hat es geregnet. Während im Adverbialsatz ein Sachverhalt repräsentiert wird (nämlich der Sachverhalt, dass die Straße nass ist), repräsentiert der Matrixsatz eine „epistemically judged proposition“ (vgl. Scheffler 2005), also ein epistemisches Objekt: die Annahme der Sprecherin, dass es geregnet hat. Die Kausalrelation wird zwischen dem im Adverbialsatz repräsentierten Sachverhalt und dem im Matrixsatz repräsentierten epistemischen Objekt etabliert: Der Sachverhalt, dass die Straße nass ist, ist Ursache für/bewirkt die Annahme der Sprecherin, dass es geregnet hat. Der auf Basis des Adverbialsatzes repräsentierte Sachverhalt ist als solcher notwendigerweise faktisch, die zugrundeliegende Proposition wird mit der Äußerung der Kausalkonstruktion präsupponiert.6 Für die Matrixsatzproposition gilt dies nicht. Sie wird von der Sprecherin mit der Äußerung der Kausalkonstruktion epistemisch bewertet, aber nicht präsupponiert oder primär assertiert.
|| 6 Präsupponiert wird die Proposition in einem pragmatischen Sinne. Mit der Äußerung der Kausalkonstruktion wird sie als nicht-kontroverse Hintergrundannahme dem Common Ground hinzugefügt; die Proposition – bzw. der Common Ground – wird akkommodiert (falls die Proposition nicht schon zuvor Teil des Common Ground war). Dass die Adverbialsatzproposition als in diesem Sinne präsupponiert gelten kann, lässt sich allgemein für kausale Subjunktoren mittels des P-Familien-Tests zeigen (Chierchia & McConnell-Ginet 2000).
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Die epistemische Bewertung der Matrixsatzproposition ist dabei variabel. Sie kann von der Sprecherin geglaubt (i.S.v. für wahr gehalten) werden oder eine Annahme mit einem geringeren Grad epistemischer Sicherheit sein, beispielsweise eine Vermutung. Der variable Grad epistemischer Sicherheit kann auf der Basis von Modalpartikeln oder sprechaktbezogenen Adverbien repräsentiert werden, vgl. (21). (21) Da die Straße nass ist, hat es wohl/vermutlich/sicher geregnet. Mit der epistemischen Lesart der peripheren Kausalkonstruktion, d.h. mit der epistemischen Bewertung der Matrixsatzproposition (und der Repräsentation eines Sachverhalts als Ursache für diese Bewertung) liegt ein sprecherseitiger, evaluativer Bedeutungsbestandteil vor. Mit Blick auf die Ausgangsfrage der Analyse ist allerdings zu klären, ob dieser die Kriterien expressiver Bedeutung erfüllt. Die epistemische Bewertung der Matrixsatzproposition durch die Sprecherin ist zwar konventionell mit dem Konnektor da in peripheren Adverbialsätzen verknüpft, nicht aber Teil der Wahrheitsbedingungen entsprechender epistemischer Kausalkonstruktionen. Über die Wahrheit oder Falschheit des Satzes in (20) entscheidet der Wahrheitswert der Adverbialsatzproposition dass die Straße nass ist. Die Wahrheitsbedingungen der Kausalkonstruktion sind von der epistemischen Bewertung der Matrixsatzproposition unabhängig: Ist die Proposition dass die Straße nass ist zum Äußerungszeitpunkt falsch, hat dies – zumindest zum Äußerungszeitpunkt – keine Auswirkungen auf die epistemische Bewertung der Matrixsatzproposition durch die Sprecherin (sie kann unabhängig davon – also auch auf der Basis einer falschen Annahme – glauben oder vermuten, dass es geregnet hat). Andersherum ist der Satz Da die Straße nass ist, hat es geregnet nicht falsch, wenn die Sprecherin nicht glaubt oder vermutet, dass es geregnet hat. Wohl aber wirkt eine Äußerung von (20) unangemessen, wenn keine entsprechende sprecherseitige, variable epistemische Bewertung vorliegt. Für Kausalkonstruktionen wird – wie bei den ebenfalls konditionalbasierten Konzessiven – neben der wahrheitskonditionalen Bedeutung ein weiterer präsupponierter, konditionaler Bedeutungsbestandteil angenommen (vgl. König & Siemund 2000; Sæbø 2011). Dabei scheint vor allem mit Blick auf epistemische Kausale nicht festgelegt zu sein, welche konditionale Relation dem Kausal zugrunde liegt (vgl. Breindl, Volodina & Waßner 2014):
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(22) Da die Straße nass, ist hat es geregnet. a. Da P, Q b P c. (i) Wenn P, Q (ii) Wenn Q, P Beide Verteilungen von Adverbialsatz- und Matrixsatzproposition auf das Antezedens und das Konsequens des Konditionals sind denkbare Annahmen der Sprecherin: (22c-i) = Wenn die Straße nass ist, hat es geregnet oder (22c-ii) = Wenn es geregnet hat, ist die Straße nass. Aus der Verknüpfung des Konditionals in (22ci) mit der wahrheitskonditionalen Bedeutung (22b) ergibt sich die Basis für einen validen deduktiven Schuss (modus ponens) mit der Matrixsatzproposition Q als Konklusion. Nimmt man das Konditional (22c-ii) als Basis für die kausale Semantik an, dann ist der Schluss auf die Matrixsatzproposition nicht im logischen Sinne gültig, es liegt ein reduktiver Schluss vor. Möglicherweise basiert die epistemische Lesart, unter der die Matrixsatzproposition eben nicht als Sachverhalt und als faktisch repräsentiert wird – sondern als Annahme mit variabler epistemischer Sicherheit – auf dem zugrundeliegenden Konditional (22c-ii) und dem reduktiven Schluss der Sprecherin.
4.3 Periphere Adverbialsätze mit während Breindl, Volodina & Waßner (2014: 393) klassifizieren den Subjunktor während als zur Klasse der additiv basierten Konnektoren gehörig. Konnektoren dieser Klasse zeichnen sich dadurch aus, dass ihre wahrheitskonditionale Bedeutung mit der logischen Konjunktion (∧) ihrer Konnekte gleichzusetzen ist, ohne dass dabei jedoch ein zusätzlicher konditionaler Bedeutungsbestandteil vorliegt (im Gegensatz also zu kausalen und konzessiven Konnektoren, vgl. Abschnitte 4.1 und 4.2). Sowohl die Proposition im Adverbialsatz als auch die Matrixsatzproposition werden von der Sprecherin assertiert. (23) Während Tilda Sozialarbeiterin ist, arbeitet Hilda als Bankerin. a. Während P, Q b. P ∧ Q c. P ∧ ¬ Q Spezifischer gehört während zu den adversativen Konnektoren. Als zusätzlichen präsupponierten Bedeutungsbestandteil nehmen Breindl, Volodina & Waßner (2014: 396) für diese die Konjunktion der Adverbialsatzproposition (P) und der
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Negation der Matrixsatzproposition (¬Q) an. Aus der Verbindung von wahrheitskonditionaler und präsupponierter Bedeutung ergibt sich dabei der zentrale Bedeutungsaspekt adversativer Konstruktionen: der Ausdruck einer Kontrastrelation zwischen den Konnekten. Die spezifische Kontrastrelation, die mittels des Subjunktors während ausgedrückt wird, grenzen Breindl, Volodina & Waßner (2014: 522) auf den „kontrastiven Vergleich“ ein. Verglichen werden Hilda und Tilda (die jeweiligen Topik-Ausdrücke des Adverbialsatzes und des Matrixsatzes) hinsichtlich ihrer jeweiligen Berufswahl (hier die Kommentare zu bzw. Prädikationen über die Topik-Ausdrücke). Dabei steht Tildas Sozialarbeiterin-Sein im Kontrast zu Hildas Bankerin-Sein. Der eigentliche Kontrast besteht also zwischen den Kommentaren bzw. Prädikationen. Der „Gleichlauf“ der beiden Vergleichsgrößen Hilda und Tilda ist durchbrochen (Breindl, Volodina & Waßner 2014: 393). Mit der Kontrastierung wird eine sprecherseitige Bewertung der beiden Prädikate ausgedrückt: Im vorliegenden Beispiel verortet die Sprecherin Tildas Sozialarbeiterin-Sein und Hildas Bankerin-Sein auf einer impliziten Skala als konträr (vgl. Breindl, Volodina & Waßner 2014: 518). Implizit bleibt dabei, was die Basis dieser Skala ist, auf der die Prädikate verglichen werden (gesellschaftliche Relevanz der Berufe, Höhe des Einkommens, Stressfaktor o.ä.); diese ergibt sich jedoch möglicherweise aus dem Äußerungskontext. Sprecherseitig ist diese Form der Bewertung der beiden Prädikate insofern, als dass der Verortung auf der impliziten Skala eine Bewertung der Sprecherin zugrunde liegt. Zustande kommt die Kontrastlesart vor dem Hintergrund der präsupponierten Konjunktion der Adverbialsatzproposition und der Negation der Matrixsatzproposition (P ∧ ¬Q): Handelt es sich hierbei um eine Hintergrundannahme der Sprecherin, die einem Gleichlauf entspricht, muss mit der ausgedrückten Verknüpfung von Adverbialsatz- und Matrixsatzproposition (P ∧ Q) eine Durchbrechung dieses Gleichlaufs, also ein Kontrast repräsentiert werden. Adversative Konstruktionen mit während der Form in (23) verfügen damit über einen sprecherbezogenen evaluativen Bedeutungsaspekt, der sich in etwa wie folgt paraphrasieren lässt: S bewertet die Prädikate p und q als konträr in Bezug auf einen Aspekt α (wobei p und q die Prädikate der jeweiligen Propositionen P und Q im Adverbial- und im Matrixsatz der Adversativkonstruktion bezeichnen). Dieser evaluative Bedeutungsaspekt ist konventionell mit der Verwendung von während als Subjunktor für periphere Adverbialsätze verknüpft. Zugleich ist die sprecherseitige Bewertung nicht Teil der wahrheitskonditionalen Bedeutung adversativer Konstruktionen, die sich auf die Wahrheit der Konjunktion von Adverbialsatz- und Matrixsatzproposition beschränkt. Von dieser ist die Wahrheit
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bzw. Falschheit des evaluativen Bedeutungsbestandteils zudem unabhängig: Wenn eine Sprecherin eine Adversativkonstruktion der Form in (23) äußert, und dabei nicht Tildas Sozialarbeiterin-Sein und Hildas Bankerin-Sein als konträr auf einer spezifischen, impliziten Skala betrachtet, ändert dies nichts am Wahrheitswert der Konstruktion. Die Äußerung wird unter diesen Umständen allerdings unangemessen. Der evaluative Bedeutungsbestandteil adversativer Konstruktionen bestimmt also deren Gebrauchsbedingungen.
5 Periphere Adverbialsätze und expressive Bedeutung Die in den vorangegangenen Abschnitten exemplarisch diskutierten Beispiele peripherer konzessiver, kausaler und adversativer Adverbialsätze, eingeleitet durch die Subjunktoren obwohl, da und während, weisen – neben ihrem gemeinsamen syntaktischen Status als Force-Elemente – auch eine entscheidende semantische Parallele auf: Konstruktionen mit den drei Adverbialsatzvarianten verfügen über einen sprecherseitig evaluativen Bedeutungsbestandteil. Dieser Bedeutungsbestandteil ist konventionell an die adverbialsatzeinleitenden Konnektoren gebunden, nicht-wahrheitskonditional und wechselseitig unabhängig von der wahrheitskonditionalen Bedeutung der Konstruktionen. Zugleich modifizieren die jeweiligen Bedeutungsbestandteile die Gebrauchsbedingungen der konzessiven, kausalen und adversativen Konstruktionen: Eine Verknüpfung zweier Propositionen mit obwohl, ohne dass die Sprecherin glaubt, dass ein ungewöhnlicher, nicht-normaler Ereignisrahmen vorliegt, ist ebenso unangemessen wie die Verwendung von da mit epistemischer Lesart, ohne dass die Sprecherin die Matrixsatzproposition epistemisch bewertet. Voraussetzung für den angemessenen Gebrauch des adversativen Subjunktors während ist es, dass die Sprecherin die in den Konnekten prädizierten Eigenschaften als konträr evaluiert. Neben diesen grundlegenden Charakteristika weisen die sprecherseitigen evaluativen Bedeutungsbestandteile weitere Eigenschaften expressiver Bedeutung auf: Nicht-Verschiebbarkeit, Perspektivabhängigkeit und Unmittelbarkeit (vgl. Gutzmann 2013). Die Nicht-Verschiebbarkeit expressiver Bedeutung zeigt sich darin, dass die expressive Bedeutung eines Ausdrucks einen unmittelbaren Bezug zur Äußerungssituation hat und die entsprechenden Gebrauchsbedingungen eines expressiven Ausdrucks zum Äußerungszeitpunkt selbst erfüllt sein müssen. Im Fall
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von Konzessivkonstruktionen, epistemischen Kausalkonstruktionen und adversativen Konstruktionen muss die sprecherseitige Evaluation des Ereignisrahmens, der Matrixsatzproposition bzw. der Relation der Adverbialsatz- und Matrixsatzprädikation zum Äußerungszeitpunkt tatsächlich stattfinden und kann nicht in der Vergangenheit liegen oder nur möglicherweise zutreffen. (24) a. Obwohl es geregnet hat, sind wir gestern spazieren gegangen. b. #... aber heute finde ich, dass es ein ganz normaler Tag war. (25) a. Da die Straße nass war, hat es gestern geregnet. b. #... aber heute vermute ich, dass ein Hydrant defekt war. (26) a. Während Tilda Sozialarbeiterin ist, arbeitet Hilda als Bankerin. b. #.... aber vielleicht sind doch beide Jobs gesellschaftlich sehr relevant.7 Als Perspektivabhängigkeit expressiver Bedeutung wird die Beobachtung bezeichnet, dass der expressive Bedeutungsbestandteil stets an ein Individuum geknüpft ist, dem diese expressive Komponente zugeschrieben wird (vgl. Gutzmann 2013). Diese Bedingung wird von Konzessivkonstruktionen dadurch erfüllt, dass sprecherseitige Normalvorstellungen Teil der Semantik des jeweiligen konditionalen Bedeutungsbestandteils sind und somit auch die Evaluation des erweiterten Ereignisrahmens notwendigerweise der Sprecherin zugeschrieben wird. In epistemischen Kausalen findet die epistemische Bewertung der Matrixsatzproposition durch die Sprecherin statt, in adversativen Konstruktionen bewertet die Sprecherin Matrix- und Adverbialsatzprädikat als konträr. Ausdrücke, die mit einer expressiven, gebrauchskonditionalen Bedeutung verknüpft sind, unterscheiden sich von Trägern deskriptiver Bedeutung auch in dem Aspekt, dass ihre Bedeutung unmittelbar ist. Gutzmann (2013: 44ff.) illustriert diese Eigenschaft an der Beobachtung, dass die expressive Bedeutung eines Ausdrucks mit dessen Äußerung im Raum steht und nicht ohne Weiteres negiert oder zurückgewiesen werden kann. Dies trifft auch auf die expressiven Komponenten der hier diskutierten peripheren Adverbialsätze zu: (27) Obwohl Tilda verreist ist, brennt in ihrem Büro Licht. a. #... aber das finde ich ganz normal. b. #Nein! Das findest du doch gar nicht ungewöhnlich!
|| 7 Möglich ist hier allerdings eine Korrektur-Lesart, bei welcher die mittels der vorangegangenen Äußerung ausgedrückte Evaluation zurückgenommen wird.
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(28) Da die Straße nass ist, hat es geregnet. a. #... aber ich vermute nicht, dass es geregnet hat. b. #Nein! Du vermutest doch gar nicht, dass es geregnet hat! (29) Während Tilda Sozialarbeiterin ist, arbeitet Hilda als Bankerin a. #... aber das empfinde ich nicht als Gegensatz. b. #Nein! Das ist doch für dich kein Gegensatz! Die Unmittelbarkeit expressiver Bedeutungsbestandteile scheint in direktem Zusammenhang mit dem expressiven Ausdrucksmodus zu stehen (vgl. Abschnitt 3). Die sprecherseitige Bewertung wird mit der Verwendung der peripheren Konnektoren unmittelbar angezeigt (vgl. Kaplan 1999) und nicht wie im deskriptiven Ausdrucksmodus vermittelt über Referenz und Prädikation repräsentiert.
6 Periphere und zentrale Adverbialsätze im Vergleich Die in den vorangegangenen Abschnitten diskutierten peripheren konzessiven, kausalen und adversativen Adverbialsätze können als Force-Elemente einerseits und als Strukturen mit expressiver Bedeutung andererseits analysiert werden. Die Analyse deutet damit auf den von Zimmermann (2008) postulierten Zusammenhang zwischen linker Peripherie und expressiver Bedeutung hin. Dass dieser Zusammenhang – zumindest mit Blick auf periphere Adverbialsätze – tatsächlich systematisch ist, zeigt der Vergleich mit nicht-peripheren, zentralen Adverbialsatzvarianten. Die folgenden Beispiele illustrieren adverbiale VL-Sätze, eingeleitet durch die Konnektoren da in (30) bzw. während in (31). (30) Da es geregnet hat, ist die Straße nass. (31) Während das Gemüse gart, bereitet Hilda den Nachtisch vor.
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Die in Abschnitt 2 angeführten Testkriterien für syntaktische Integration weisen die Adverbialsätze in (30) und (31) als zentrale Adverbialsätze (ZAS) aus.8 Ihre Basisposition ist VP-intern, aus dieser werden sie in die linke Peripherie des Satzes angehoben. (32) ZAS haben Korrelate im Matrixsatz: a. Da es geregnet hat, deshalb ist die Straße nass b. Während das Gemüse gart, währenddessen/da bereitet Hilda den Nachtisch vor. (33) ZAS können erfragt werden: a. (i) Warum ist die Straße nass? (ii) Da es geregnet hat. b. (i) Wann bereitet Hilda den Nachtisch vor? (ii) Während das Gemüse gart. (34) Frageoperatoren im Matrixsatz haben Skopus über ZAS: a. (i) Ist die Straße nass, da es geregnet hat? (ii) Nein, da ein Hydrant defekt ist. b. (i) Bereitet Hilda den Nachtisch vor, während das Gemüse gart? (ii) Nein, während die Sauce einkocht. (35) Negationsausdrücke im Matrixsatz haben Skopus über ZAS: a. (i) Da es geregnet hat, ist die Straße nicht nass ... (ii) ... sondern da ein Hydrant defekt ist. b. (i) Während das Gemüse gart, bereitet Hilda den Nachtisch nicht vor ... (ii) ... sondern während die Sauce einkocht.
|| 8 Insbesondere die Beispielsätze mit da als Konnektor für zentrale Adverbialsätze erscheinen zum Teil nicht gänzlich unmarkiert. Für während mit temporaler Lesart scheinen sich keine uneingeschränkt guten Korrelate finden zu lassen. Dennoch zeigt sich für die Adverbialsatzvarianten mit da in (32) bis (36) ein deutlicher Kontrast zu den Sätzen in (11) bis (15). In den Test-Kontexten für den Grad syntaktischer Einbettung sind die vermeintlichen zentralen Varianten tatsächlich weniger stark markiert, was als Indiz für einen höheren Einbettungsgrad zu werten ist.
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(36) Quantifizierer im Matrixsatz binden Pronomen im ZAS: a. Da [sie]i nicht nass werden will, nimmt [fast jede Kollegin]i einen Schirm mit. b. Während [sie]i die Sauce einkochen lässt, bereitet [fast jede Teilnehmerin]i den Nachtisch vor. Das nur eingeschränkt mögliche Auftreten von Wurzelsatzphänomenen, vgl. die Beispiele in (37), deutet darauf hin, dass es sich bei den zentralen Adverbialsatzvarianten mit da und während nicht um Force-Elemente handelt. (37) a. #Da es wohl/bekanntlich/übrigens geregnet hat, ist die Straße nass. b. #Während wohl/bekanntlich/übrigens das Gemüse gart, bereitet Hilda den Nachtisch vor. Semantisch unterscheiden sich die zentralen Varianten in (30) und (31) grundsätzlich von den in Abschnitt 4.2 und 4.3 diskutierten peripheren Adverbialsätzen. Zentrale da-Adverbialsätze weisen eine kausale, aber propositionale Lesart auf. Die Kausalrelation wird nicht zwischen einem Sachverhalt und einem epistemischen Objekt etabliert, sondern es besteht ein Sachverhaltsbezug: Der auf der Basis der Adverbialsatzproposition repräsentierte Sachverhalt ist Grund/Ursache für das Zutreffen des im Matrixsatz repräsentierten Sachverhalts. Ein sprecherseitiger, evaluativer Bedeutungsbestandteil, also die variable epistemische Bewertung der Matrixsatzproposition, liegt nicht vor. Die Matrixsatzproposition wird von der Sprecherin assertiert und ist in Konjunktion mit der Adverbialsatzproposition Teil der Wahrheitsbedingungen der zentralen Kausalkonstruktion. Zentrale Adverbialsätze mit während haben eine temporale Lesart. Ausgedrückt wird die Gleichzeitigkeit der beiden auf der Basis des Adverbial- und des Matrixsatzes repräsentierten Sachverhalte. Ein Kontrast zwischen den jeweiligen Prädikaten wird dabei nicht ausgedrückt, eine adversative, evaluative Komponente liegt nicht vor. Konstruktionen mit zentralen da-Adverbialsätzen und solche mit zentralen während-Adverbialsätzen verfügen damit nicht über die expressiven Bedeutungsbestandteile ihrer peripheren Pendants. Es zeigt sich daran, dass für die hier diskutierten Konnektoren und Adverbialsätze ein systematischer Zusammenhang zwischen Einbettungsgrad und Bedeutungsstruktur besteht. Dieser lässt sich auch für konzessive Konstruktionen mit obwohl annehmen. Da zentrale obwohl-Adverbialsätze allerdings nicht auftreten, ist ein direkter Vergleich mit zentralen Adverbialsatzvarianten für diesen Konnektor nicht möglich.
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7 Fazit Die im Vorangegangenen diskutierten peripheren Adverbialsätze mit den Konnektoren obwohl, da und während illustrieren die systematische Beziehung zwischen expressiven Ausdrücken und der Force-Projektion in der linken Peripherie des Satzes. Syntaktisch lassen sich die drei Adverbialsatzvarianten aufgrund eines geringen Einbettungsgrades und ihrer wurzelsatzähnlichen Charakteristika als Force-Elemente analysieren: als Force-Projektionen, deren Kopfpositionen durch die jeweiligen Konnektoren besetzt sind und die selbst in der Spezifiziererposition der ForceP ihres Matrixsatzes basisgeneriert werden. Die resultierenden Konstruktionen weisen jeweils sprecherseitige, evaluative Bedeutungsbestandteile auf. Mittels konzessiver obwohl-Konstruktionen bewertet die Sprecherin den erweiterten Ereignisrahmen zweier Sachverhalte als nicht ihren Normalvorstellungen entsprechend. Auf der Basis kausaler Konstruktionen mit peripheren da-Adverbialsätzen drückt die Sprecherin eine variable epistemische Bewertung der Matrixsatzproposition aus. Adversativkonstruktionen mit während sind Mittel des Ausdrucks einer kontrastiven Bewertung des Adverbialsatzprädikats und des Matrixsatzprädikats durch die Sprecherin. Diese evaluativen Bedeutungsbestandteile zeigen die grundlegenden Eigenschaften expressiver Bedeutung: Sie sind konventionell mit den Konnektoren obwohl, da und während verknüpft, für Konstruktionen mit den entsprechenden peripheren Adverbialsätzen jedoch nicht wahrheitskonditional und von deren wahrheitskonditionaler Bedeutung wechselseitig unabhängig. Die evaluativen Bedeutungskomponenten lassen sich zudem als Gebrauchsbedingungen für die jeweiligen Konnektoren auffassen. Auch weitere Charakteristika expressiver Bedeutung zeigen sich an den evaluativen Bedeutungsbestandteilen konzessiver, epistemisch-kausaler und adversativer Konstruktionen: Perspektivabhängigkeit, Nicht-Verschiebbarkeit und Unmittelbarkeit. Dass die Beziehung zwischen der expressiven Bedeutung der diskutierten Konnektoren und Konstruktionen und der linken Peripherie des Satzes tatsächlich systematisch ist, zeigt der Vergleich mit zentralen Adverbialsätzen. Zu den peripheren Adverbialsätzen mit da und während existieren nicht-periphere Varianten. Bei diesen handelt es sich nicht um Force-Elemente und sie verfügen nicht über die sprecherseitigen, evaluativen Bedeutungskomponenten ihrer peripheren Pendants.
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Eva-Maria Uebel & Jürgen Pafel
Als ob wir Ideologen wären! Freie als ob-Sätze, epistemische Normen und Emotionen Abstract: Mit einem freien als ob-Satz kann ein Sprecher unterschiedliche negative Emotionen zum Ausdruck bringen, die von Wut, Empörung, Ärger bis zu leichtem Unmut, Unbehagen, Enttäuschung reichen. Diese Eigenschaft ist darauf zurückzuführen, dass freie als ob-Sätze eine Normverletzung konstatieren und damit auf Seiten des Sprechers eine ‚Irritation‘ zu erkennen geben, die je nach Situation unterschiedlich emotional grundiert sein kann. Das Konstatieren einer Normverletzung ergibt sich aus dem Zusammenspiel der speziellen kommunikativen Intention und Präsupposition des freien als ob-Satzes mit allgemeinen epistemischen Normen. Es liegt bei den freien als ob-Sätzen ein hochspezialisierter deklarativer Satztyp vor, der den Status einer indirekten Emotionsbekundung hat. Formal handelt es sich um selbständige als ob/als wenn-VE- oder als-V1Sätze mit dem finiten Verb im Konjunktiv Präteritum. Sie weisen Ähnlichkeiten zu doch-Deklarativen und w-Exklamativen auf. 1
1 Einleitung Als ob wir Ideologen wären! Als wenn wir Ideologen wären! Als wären wir Ideologen! – dies sind Beispiele für das, was wir unter ‚freien als ob-Sätzen‘ verstehen wollen. Es gibt sie als selbständige VE-Sätze, die mit als ob oder als wenn eingeleitet sind, sowie als selbständige V1-Sätze, an deren linkem Rand die Partikel als realisiert ist, jeweils mit einem finiten Verb im Konjunktiv Präteritum.2
|| 1 Vor dem Dank kommen die honneurs: Einem von uns ist Jörg in allem immer etwas voraus gewesen, so auch in der Beschäftigung mit dem Thema Expressivität. Mit diesem Beitrag bietet sich die Möglichkeit, seine Vorlage aufzunehmen. – Wir bedanken uns für die anregende Diskussion zu den als ob-Sätzen bei den Teilnehmern an unserem Forschungskolloquium vom Winter 17/18 sowie bei Manuela Korth und dem Herausgeberduo für die hilfreichen Kommentare. Besten Dank auch an die, die uns mit den Beispielen aus anderen Sprachen versorgt haben. 2 Vereinzelt finden sich Belege für freie als ob-Sätze im Indikativ – siehe unten Beispiel (13) sowie Als ob ein Spion sich mitten in ein Lokal setzt, sagte meine Mutter (Kempowski, Tadellöser & Wolff; zitiert nach Thurmair 1989: 59). Wir gehen davon aus, dass Konjunktiv Präteritum (noch) die Norm ist. Siehe auch unten § 2.1. https:// doi.org/10.1515/9783110630190-009
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Freie als ob-Sätze haben insofern ein emotionales Potential, als sie ein sehr probates Mittel für einen Sprecher darstellen, eine negative Emotion zum Ausdruck zu bringen, zum Beispiel Ärger, Wut oder Empörung, wie sich in den folgenden Belegen zeigt. (1)
Gerda Krötmann, die das Scheitern des auch von ihr so genannten Putsches klatschend begrüßte, sich als Anhängerin Gorbatschows zu erkennen gab, „outete“, wie Hawa anmerkte, sagte: „Jetzt ist der Weg frei für einen wirklichen Sozialismus.“ „Der mit dem menschlichen Antlitz?“, fragte Hawa. „Arschloch“, sagte Benno Krötmann, „als ob es darum ginge.“ So, und worum es denn ginge, wollte Hawa wissen. (Franz-Josef Degenhardt, Für ewig und drei Tage, Aufbau-Verlag 1999: 219)
Hier wird schon durch den Anfang von Benno Krötmanns Redebeitrag deutlich, dass er negativ eingestellt ist. Die Beleidigung transportiert eine Verärgerung oder gar Wut. Der als ob-Satz passt zu dieser Emotion sehr gut, er ‚trägt‘ sie weiter. Auch in der folgenden Interview-Sequenz (mit dem ehemaligen Kultusminister Baden-Württembergs Andreas Stoch) erscheint ein als ob-Satz in einer ganz klar negativ aufgeladenen Äußerung, wie durch „Aber ich war auch sauer!“ auch explizit gemacht wird: (2) ZEIT: Ein Realschullehrer sammelte mit einer Online-Petition 200 000 Unterschriften gegen Ihre Pläne. Stoch: Ein Evangelikaler aus pietistischem Umfeld. In der Petition wurde etwa behauptet, wir wollten Kinder zur Homosexualität erziehen. Völliger Blödsinn! ZEIT: Die Kirchen haben offiziell verlautbaren lassen, dass das Arbeitspapier eine zu große Nähe zur schwul-lesbischen Lobby habe. Stoch: Ich hatte unterschätzt, welche Bedeutung dieses Thema auch für manchen in den Kirchen hat. Aber ich war auch sauer! Die Kirchen wandten sich gegen „jede Ideologisierung“. Als ob wir Ideologen wären! Das war nach einem Gespräch mit den Bischöfen abgeräumt. Die baten mich nur, klarer darzulegen, was wir vorhaben. (Die Zeit, 16.11.17, S. 89)
Ganz eindeutig ist das emotionale Potential auch in dem folgenden Beleg aus einer englischsprachigen Serie zu sehen, in dem die deutsche Übersetzung einen freien als ob-Satz dort wählt, wo im englischen Original mit dem Lexem bloody
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(umgangssprachlich für verdammt, verflucht) ein eindeutiges Expressiv des Britischen gewählt wird, wodurch der Sprecher seinen Unmut zum Ausdruck bringt: (3) Original Sarah: Kira is not part of any deal, S. Miss S.: I bloody know that. Übersetzung Sarah: Kira nimmt an dem Deal nicht teil, S. Miss S.: Als ob ich das nicht wüsste! (Orphan Black, Staffel 2, Episode 8, Min. 3:33)
Dieses emotionale Potential ist in der spärlichen Forschungsliteratur zu den freien als ob-Sätzen nicht unbemerkt geblieben. Für Hahnemann (1999: 207) sind sie eine Art Exklamation, mit dem Zweck, eine „implizit oder explizit gemachte Behauptung zurückzuweisen“, Thurmair (1989: 59) klassifiziert sie als Aussagesätze mit einer „Vorwurfskomponente“, für Thurmair (2001: 67) sind sie „emphatische Zurückweisungen“ und Helbig & Buscha (2017: 402) beschreiben sie als „imperativische [...] Ausrufe, die auf einen entgegengesetzten (realen) Sachverhalt hinweisen sollen“. Aber Verärgerung, Wut oder Empörung sind nicht die einzigen negativen Emotionen, die mit einem freien als ob-Satz einhergehen können. Auch weniger starke, mildere emotionale Kontexte tolerieren einen freien als ob-Satz, wie sich z.B. in dem folgenden Redebeitrag von Gesche Joost3 in einem Interview zur digitalen Bildung an Schulen veranschaulichen lässt: (4) Es ist ja nachvollziehbar, dass viele Lehrer überfordert sind, auch dieses Thema nun noch schultern zu müssen. Daher lobbyieren auch deren Vertreter naturgemäß gegen digitale Bildung: Erst mal sollten die Dächer der Schulen repariert werden. Als ob sich das widerspräche. Es ist schade, dass es diese konservative, ablehnende Haltung gibt und diese so plakativ mit Google verbunden wird. (Zeit online, 22.11.2017)
Es kann auch ein resignativer Selbstzweifel oder eine gewisse Skepsis zum Ausdruck gebracht werden wie in den folgenden konstruierten Beispielen:
|| 3 Gesche Joost ist Internetbotschafterin der BRD. Sie fordert eine Vermittlung digitaler Kenntnisse bereits ab der Grundschule.
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(5) [A bekommt eine hochinteressante Aufgabe gestellt, äußert von Selbstzweifeln geplagt:] Als ob ich so etwas leisten könnte. (6) A: Melanie will vom Rektor eine Unterschrift unter die Petition. B: Als ob das so leicht wäre. A: Das weiß sie. Versucht man, in einer positiven Stimmungslage mit einer als ob-Äußerung fortzufahren, so wird das unakzeptabel oder muss als ironisch, sarkastisch interpretiert werden: (7) A: Hier, ich habe dir ein Erdbeereis mitgebracht. B: √Danke, wie nett, dass du an mich gedacht hast, nur: Ich esse kein Eis. B: #Danke, wie nett, dass du an mich gedacht hat, nur: Als ob ich Eis essen würde. B: √Na super, als ob ich Eis essen würde. Wie unsere Belege verdeutlichen, sind die freien als ob-Sätze – ähnlich wie auch ein Expressiv wie verdammt – ein Phänomen der konzeptionellen Mündlichkeit: Sie eignen sich gut als Replik im Gespräch und tauchen im Rahmen eines Interviews als Teil eines mehr oder weniger emotionalen Berichts auf. Es passt nicht gut zu ihrem noch genauer zu untersuchenden emotionalen Potential, dass sie als Aussagen in Texten erscheinen, die dezidiert befreit sind von emotionalem Ausdruck. Wenn man unter ‚Expressivität‘ ganz allgemein den Ausdruck, die Bekundung von Emotionen durch sprachliche Mittel versteht, dann gehören die freien als ob-Sätze aufgrund ihres emotionalen Potentials in das Gebiet der Expressivität. Wir legen dieses Verständnis von Expressivität zugrunde und unterscheiden grob drei Arten von Emotionsbekundungen: die expressive (Aua!), die deskriptive (Ich habe Schmerzen) und die indirekte Art (Ich habe mir in den Finger geschnitten). Bei der expressiven und deskriptiven Art gibt es eine einzelsprachliche konventionelle Basis für den Ausdruck der Emotion und das Vorliegen der Emotion ist entscheidend für die Angemessenheit bzw. Wahrheit der Äußerung. Für die indirekte Art gilt beides nicht, es gibt keine konventionelle Basis, ihr Status als Emotionsbekundung lässt sich nur pragmatisch erschließen, dementsprechend ist das Vorliegen der Emotion nicht entscheidend für Angemessenheit oder
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Wahrheit, der Schluss ist wie bei konversationellen Implikaturen annullierbar (Ich habe mir in den Finger geschnitten, aber es tut gar nicht weh).4 Eine entscheidende Frage für uns ist, welche Art von Emotionsbekundung bei freien als ob-Sätzen vorliegt. Wir werden zu zeigen versuchen, dass der freie als ob-Satz ein eigener hochspezialisierter Satztyp des Deutschen ist, der inhaltlich durch eine spezifische kommunikative Intention (mit deontischem Gehalt) und eine spezifische Präsupposition charakterisiert ist. Intention und Präsupposition legen den Schluss nahe, dass der Sprecher eine ‚Normverletzung‘ konstatiert und ‚irritiert‘ ist. Eine Irritation ist ein kognitiver Zustand, der, wenn nicht bereits eine Emotion, so doch inhärent mit einer emotionalen Einstellung verbunden ist, die unterschiedlich stark negativ grundiert ist. Dies, so werden wir argumentieren, liegt dem emotionalen Potential der freien als ob-Sätze zugrunde, die damit nach der Klassifikation oben eine indirekte Art der Emotionsbekundung wären.
2 Eigenschaften freier als ob-Sätze 2.1 Selbständigkeit Formal handelt es sich bei freien als ob-Sätzen um das eigenständige Auftreten der als-Varianten sogenannter kontrafaktischer (irrealer, hypothetischer) Vergleichssätze. Letztere werden als integrierte Teilsätze in modaladverbialer Funktion (Peter spricht, als ob er eine Kartoffel im Mund hätte), als Modifikatoren innerhalb einer Adjektivphrase (Peter spricht so laut, als ob er schwerhörig wäre) und als minimal integrierte Kommentare (Peter spricht ganz schön laut, als ob er Angst hätte, überhört zu werden) in einer komplexen Vergleichskonstruktion verwendet (zu einer Analyse der verschiedenen Formen von als ob-Sätzen vgl. Uebel 2018). Formale wie inhaltliche Gründe sprechen dagegen, die freien als ob-Sätze als elliptische Varianten von Vergleichskonstruktionen zu betrachten. Die freien als ob-Sätze erlauben erstens nicht den Zusatz des Adverbs so, sind zweitens eingeschränkter in der Moduswahl wie in den Einleitungselementen und haben drittens eine andere Bedeutung als vergleichbare nicht-elliptische Vergleichskonstruktionen. Der Reihe nach. || 4 Damit ist klar, dass für uns Expressivität einerseits auf den Bereich der Emotionen eingeschränkt, aber andererseits nicht auf die nicht-wahrheitsfunktionale Bedeutungsdimension beschränkt ist.
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Die Möglichkeit, so zu einem kontrafaktischen Vergleichssatz hinzuzufügen, ist immer gegeben, egal ob dieser als Modaladverbial voll integriert ist (Peter spricht so, als ob er eine Kartoffel im Mund hätte) oder als kommentierendes Satzadverbial minimal integriert ist (Peter spricht ganz schön laut, so als ob er Angst hätte, überhört zu werden). Auch wenn ein kontrafaktischer Vergleichssatz elliptisch verwendet wird, ist so problemlos hinzufügbar: (8) A: Spricht der nicht komisch? B: Ja, (so) als hätte er eine Kartoffel im Mund. (9) A: Der spricht ganz schön laut, nicht? B: Ja, (so) als ob er Angst hätte, überhört zu werden. Die Hinzufügung von so ist bei den freien als ob-Sätzen unmöglich bzw. mehr oder weniger merkwürdig: (10) a. *Arschloch, so als ob es darum ginge. b. ??Die Kirchen wandten sich gegen »jede Ideologisierung«. So als ob wir Ideologen wären. c. ??Daher lobbyieren auch deren Vertreter naturgemäß gegen digitale Bildung: Erst mal sollten die Dächer der Schulen repariert werden. So als ob sich das widerspräche. Kontrafaktische Vergleichssätze können generell auch durch eine Kombination aus der Vergleichspartikel wie und der Subjunktion wenn eingeleitet werden (Peter spricht, wie wenn er eine Kartoffel im Mund hätte; Peter spricht so laut, wie wenn er schwerhörig wäre; Peter spricht ganz schön laut, wie wenn er Angst hätte, überhört zu werden). Für die freien als ob-Sätze scheint es keine eingespielte wie wennVariante zu geben (vgl. Thurmair 2001: 66): (11) a. ??Arschloch, wie wenn es darum ginge. b. ??Die Kirchen wandten sich gegen »jede Ideologisierung«. Wie wenn wir Ideologen wären. c. ??Daher lobbyieren auch deren Vertreter naturgemäß gegen digitale Bildung: Erst mal sollten die Dächer der Schulen repariert werden. Wie wenn sich das widerspräche. Auch was Tempus und Modus des finiten Verbs angeht, unterscheiden sich die freien als ob-Sätze von den kontrafaktischen Vergleichssätzen. Bei letzteren ist
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neben Konjunktiv Präteritum durchaus auch Konjunktiv Präsens (Du tust so, als ob dich das was angehe) und sogar Indikativ möglich (Du tust so, als ob dich das was angeht) – allerdings nicht in der V1-Variante (vgl. Thurmair 2001: 63; Hahnemann 1999: 204; Oppenrieder 1991). Bei freien als ob-Sätzen ist Konjunktiv Präteritum die kanonische Form, Konjunktiv Präsens scheint unmöglich zu sein, vgl. (12). Den Indikativ hört bzw. liest man manchmal, vgl. (13). (12) a. *Arschloch, als ob es darum gehe. b. *Die Kirchen wandten sich gegen »jede Ideologisierung«. Als ob wir Ideologen seien. c. *Daher lobbyieren auch deren Vertreter naturgemäß gegen digitale Bildung: Erst mal sollten die Dächer der Schulen repariert werden. Als ob sich das widerspreche. (13) Interviewer: Oder würdest du direkt nach der Schule so was wie Gastronomie studieren? Jonas: Boah nee, als ob ich direkt nach der Schule studiere. Ich mach ein bisschen Work and Travel und wenn ich davon genug hab, fang ich das Restaurant an. (Zeit online, 13.08.2016)
Lassen sich die freien als ob-Sätze wenigstens inhaltlich als elliptische Varianten von Vergleichskonstruktionen betrachten, so dass die Sätze als komplexe Satzgefüge paraphrasierbar sind, worin der als ob-Satz (bzw. seine Varianten) eine modaladverbiale oder prädikative Konstituente und damit einen eingebetteten Teilsatz darstellt? Gegen diese Annahme spricht, dass naheliegende Paraphrasen, die die vermeintliche Ellipse auflösen, eine andere Bedeutung haben als die freien als ob-Sätze (vgl. Thurmair 2001: 66). Man vergleiche (1) und (2) mit (1') und (2'): (1') „Arschloch“, sagte Benno Krötmann, „du tust, als ob es darum ginge.“ (2') Die Kirchen wandten sich gegen »jede Ideologisierung«. Sie verhielten sich, als ob wir Ideologen wären! (/Es ist, als ob wir Ideologen wären!) Bei (1') und (2') handelt es sich um Modalitätsvergleiche, die ein Verhalten bzw. eine Situation beschreiben. Mit den als ob-Äußerungen in (1) und (2) jedoch verbindet der Sprecher nicht die Absicht, eine Verhaltensweise zu beschreiben. Dies wird in § 2.2 noch deutlicher werden.
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Dies legt nahe, dass freie als ob-Sätze, obgleich sie diachron wohl aus unselbständigen kontrafaktischen Vergleichssätzen entstanden sein müssen, sich von diesem Ursprung gelöst haben und zum einen den Status von selbständigen Sätzen angenommen haben und zum anderen keine Vergleichskonstruktionen mehr sind, wie wir unten genauer ausführen werden.5 Es sei noch vermerkt, dass es eine Kurzvariante von als ob-Sätzen gibt. Auf die Ankündigung Heute werde ich es schaffen, pünktlich zu sein kann die Adressatin spöttisch antworten Als ob! und damit ihrer Skepsis Ausdruck verleihen, dass die Ankündigung auch umgesetzt wird. Wir können hier nicht der Frage nachgehen, wie sehr sich die Kurzvariante semantisch/pragmatisch von der Vollvariante unterscheidet – sie ist hier vor allem deshalb angeführt, da sie zusätzlich unterstreicht, inwiefern die Konstruktion selbständig und losgelöst von einem Vergleich funktioniert. Ein kurzer Blick auf die Prosodie. Was den Tonhöhenverlauf (fallend) und die Betonungsmuster angeht, so scheinen freie als ob-Sätze Aussagesätzen zu ähneln, vgl. (14). Es ist ganz natürlich, eine weitere Konstituente zu betonen und dadurch einen Kontrast zu suggerieren, vgl. (15). (14) a. Als ob dich das was ANginge. b. Als ob sie KRÖsus wäre. (15) a. Als ob DICH das was ANginge. b. Als ob dich DAS was ANginge. c. Als OB dich das was ANginge. Eine Emphase bei der Akzentuierung kann das emotionale Potential der freien als ob-Sätze gut unterstreichen und dazu führen, dass sich der Adressat zurechtgewiesen oder beleidigt fühlt. Ein Äquivalent zu freien als ob-Sätzen scheint es in vielen Sprachen zu geben, bislang in jeder Sprache, zu der wir Informanten befragen konnten. Wie im Deutschen scheinen sie sich aus kontrafaktischen Vergleichskonstruktionen heraus entwickelt zu haben. Vergleiche die Übersetzungen von Als ob ich Zeit dafür hätte! in verschiedenen Sprachen.
|| 5 Oppenrieders (1991) Bezeichnung der freien als ob-Sätze als „rhetorische Vergleiche“ ist also genauso irreführend wie Hahnemanns (1999: 205) Beschreibung, dass „irreale Vergleichsstrukturen [...] die einzigen Vergleichsstrukturen [sind], die sowohl in einem Satz eingebettet als auch frei vorkommen“.
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(16) a. As if I had time for that! (/As if!) b. Som om jag wie ob ich
hade tid haben.IND.PRÄT.1S Zeit
c. Comme si wie wenn
j’avais du ich.haben.IND.PRÄT.1S P+Artikel
d. Come se wie wenn
med mit
det. das
avessi tempo! haben.KONJ.PRÄS.1S Zeit
(Schwedisch)
temps! (Französisch) Zeit (Italienisch)
e. De parcă aș avea timp pentru așa ceva! (Rumänisch) DE scheinbar AUX.KOND.1S haben Zeit für so etwas f. Sjakaš (/kato če li, vse edno) ima-m vreme! als-ob haben.PRÄS-1S Zeit g. Haoxiang als-ob
wo ich
hen you sehr haben
shijian si de. Zeit als-ob
(Bulgarisch)
(Mandarin)
2.2 Semantik und Pragmatik Was den propositionalen Gehalt von freien Sätzen der Form als ob p angeht, so ist das Faktum offenkundig, dass die Negation von p ausgedrückt wird. Mit anderen Worten, durch als ob p! gibt ein Sprecher zu verstehen, dass es nicht der Fall ist, dass p.6 Grammatischer Reflex dieser Eigenschaft ist der Umstand, dass freie als obSätze negative Polaritätselemente (wie ein Schwein, einen Finger krumm machen oder sonderlich) lizensieren, positive Polaritätselemente (wie ziemlich) aber nicht: (17) A: Erzähl doch mal von deiner Kindheit. B: Als ob das hier ein Schwein interessieren würde!
|| 6 Oppenrieder (1991) spricht von einer „Polaritätsumkehrung“, Thurmair (1989: 59) von „Umdrehen“. Man beachte aber, dass es ganz vereinzelt Fälle gibt, für die dies nicht zutrifft: Als ob er es gerochen hätte! (Kempowski, Tadellöser & Wolff; zitiert nach Thurmair 1989: 59), Als hätte ich es geahnt!
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(18) A: Weißt du was? Marie wurde zur Mitarbeiterin des Monats gewählt. B: Als ob die hier schon mal einen Finger krumm gemacht hätte. (19) A: Peter bekommt eine Gehaltserhöhung! B: Was? √Als würde der hier sonderlich viel leisten! B: Was? *Als würde der hier ziemlich viel leisten! Freie als ob-Sätze sind damit eindeutig negative Äußerungen. Die Proposition, dass es nicht der Fall ist, dass p, kann weder annulliert ((20a), (21a)) noch bekräftigt ((20b), (21b)) werden, was zeigt, dass sie nicht den Status einer konversationellen Implikatur hat (vgl. als Kontrast einen integrierten als ob-Satz in (22), wo die Proposition, dass er keine Kartoffel im Mund hat, annulliert wie bekräftigt werden kann): (20) a. #Als ob es darum ginge! Und das tut es möglicherweise ja auch. b. #Als ob es darum ginge! Und darum geht es sicher nicht. (21) a. #Als hätt’ Peter im Moment Zeit für Urlaub. Vielleicht hat er das ja auch. b. #Als hätt’ Peter im Moment Zeit für Urlaub. Was er ja auch nicht hat. (22) a. Peter spricht, als hätte er eine Kartoffel im Mund. Was er ja vielleicht auch hat. b. Peter spricht, als hätte er eine Kartoffel im Mund. Dabei hat er gar nichts im Mund. Die Proposition, dass es nicht der Fall ist, dass p, hat in freien als ob p!-Äußerungen nicht den Status einer Präsupposition, denn die Proposition ist nicht indirekt durch eine nachhakende Verständnisfrage aus der Ursprungsaussage herausschälbar (vgl. den Hey!-Wait-a-minute-Test von Fintel 2004): (23) A: Peter hat dieses Jahr angefangen zu rauchen. B: Moment mal, heißt das etwa, Peter hat früher gar nicht geraucht? (24) A: Als ob der hier sonderlich viel leisten würde. B: #Moment mal, willst du damit etwa sagen, der leistet hier nicht sonderlich viel? Mit Als ob p! gibt der Sprecher zu verstehen, dass p nicht der Fall ist. Dieser Sachverhalt kann von Gesprächsteilnehmern zustimmend zur Kenntnis genommen,
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in Zweifel gezogen oder erfragt werden. Es spricht also alles dafür, dass dieser Sachverhalt vom Sprecher assertiert wird. Doch was unterscheidet Als ob p! von der einfachen Assertion Es ist nicht der Fall, dass p, die völlig neutral verwendet werden kann? Ein Vergleich mit w-Exklamativen und doch-Deklarativen ist aufschlussreich. W-Exklamative können im Gegensatz zu V2-Deklarativen nicht dazu verwendet werden, Neuigkeiten zu übermitteln, Erzählsequenzen zu bilden oder Argumente vorzubringen. Castroviejo Miró (2008) schließt daraus, dass w-Exklamative mit der expressiven konventionellen Implikatur (im Sinne von Potts 2005) verbunden sind, dass der Sprecher sich im emotionalen Zustand der Überraschung befindet – ähnlich wie ein Expressiv wie verdammt oder Scheiß- (wie in Scheiß-Auto) konventionell eine negative Emotion seitens des Sprechers zum Ausdruck zu bringen vermag.7 Nun können auch als ob-Sätze nicht dazu verwendet werden, Neuigkeiten zu übermitteln (25), Erzählsequenzen zu bilden (26) oder Argumente vorzubringen (27) – vgl. die Tests mit w-Exklamativen bei Castroviejo Miró (2008: 51f.): (25) [Arzt nach der Untersuchung:] a. Ihr Infekt ist viel besser geworden. b. #Als ob ihr Infekt nicht viel besser geworden wäre. (26) a. Ich hob meinen Blick und ich sah kaum Sternschnuppen. b. *Ich hob meinen Blick und als ob ich viele Sternschnuppen gesehen hätte. (27) A: Sie haben ja die Tomatensuppe gar nicht gegessen. Warum denn nicht? B: Mir schmecken Tomaten nicht. B': #Als ob Tomaten mir schmecken würden. Doch nun davon auszugehen, dass die Eigenart von als ob-Sätzen erkannt wäre, wenn man annähme, dass ein Sprecher mit Als ob p! kundtut, dass er das Gegenteil von p annimmt und sich emotional in einem negativen Zustand befindet, wäre verkehrt. Als ob p! ist nicht gleichbedeutend mit Verdammt! (/Oh je!) P ist (gar) nicht der Fall:
|| 7 Zu expressiven Komposita vgl. Meibauer (2013).
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(28) [Petra hat sich sehr sommerlich angezogen, da es vom Fenster aus nach einem warmen Tag aussah. Sie tritt aus dem Haus und stellt fest, dass es viel kühler als gedacht ist, ist daher verstimmt und sagt:] a. Verdammt! (/Oh je!) Ich bin nicht richtig angezogen. b. #Als ob ich richtig angezogen wäre. Freie als ob-Sätze sind also nicht einfach Deklarative mit konventionellem expressivem Gehalt. Eine gewisse Ähnlichkeit müssen freie als ob-Sätze mit Deklarativen haben, die die unbetonte Modalpartikel doch aufweisen, wie die folgenden Paraphrasen zeigen:8 (29) Als ob dich das was anginge! Das geht dich doch nichts an! (30) Als hätt’ ich im Moment Zeit für Urlaub! Ich habe im Moment doch keine Zeit für Urlaub! (31) Als wenn Petra das interessieren würde! Das interessiert Petra doch nicht! Mit einem doch-Deklarativ will der Sprecher eine Information reaktivieren, die bereits Teil des gemeinsamen Wissens ist oder daraus abzuleiten ist, der sich die Adressatin aber momentan nicht bewusst zu sein scheint (vgl. Egg 2010, 2012; Zimmermann 2011). Wenn die Adressatin klar gemacht hat, dass sie über diese Information verfügt, sind doch-Deklarative nicht angebracht. Vergleiche das folgende Minimalpaar (nach Zimmermann 2011: 2017): (32) A: Ich gehe jetzt. B: Du gehst? Es gibt doch Bier! (33) A: Es gibt zwar Bier, aber ich gehe jetzt. B: Du gehst? #Es gibt doch Bier!
|| 8 Vgl. dazu auch Thurmairs (1989: 59, Fn. 73) Feststellung, dass der polaritätsverkehrte Deklarativ mit doch die Vorwurfskomponente des freien als ob-Satzes auch transportiere, der Deklarativ ohne doch aber nicht mehr.
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Da doch-Deklarative eine Information nur wieder ins Bewusstsein bringen wollen, sind sie deplatziert in den Umgebungen, in denen eine reine Assertion, die neue Information liefert, verlangt ist. Das heißt, sie können wie die freien als obSätze (und die w-Exklamative) nicht dazu verwendet werden, Neuigkeiten zu übermitteln, Sequenzen in Erzählungen zu bilden oder Argumente vorzubringen (man ersetze in (25) bis (27) den als ob-Satz durch ein entsprechendes doch-Deklarativ). Hier liegen offensichtlich die Ähnlichkeiten zu freien als ob-Sätzen. Ein freier als ob-Satz ist nicht angebracht, wenn das Gegenüber den Sachverhalt, dass es nicht der Fall ist, dass p, eigentlich nicht wissen kann – damit erklärt sich die Unangemessenheit der als ob-Sätze in (25) bis (27). Und er ist unangebracht, wenn das Gegenüber bereits explizit gemacht hat, dass es sich des Sachverhalts bewusst ist: (34) A: Ich wundere mich wirklich immer wieder aufs Neue, dass mein Bruder so faul ist. B: #Als ob der jemals einen Finger krumm gemacht hätte! Freie als ob p-Sätze scheinen nur zu glücken, wenn eine saliente Person (dies muss nicht ein Gesprächsteilnehmer sein) der Überzeugung ist, dass p der Fall ist, bzw. vorsichtiger: Sie sind nur dann geglückt, wenn es Evidenzen dafür gibt, dass eine saliente Person der Überzeugung ist, dass p der Fall ist.9 Hierbei scheint es sich um eine Präsupposition von freien als ob-Sätzen zu handeln. Dies ist ein Unterschied zu der einfachen Assertion, dass p nicht der Fall ist. Siehe auch den Kontrast in (35): (35) A: Marie hat heute Mittag angerufen. B: Ich rufe sie dann nachher zurück. B': #Als ob ich sie dann nachher nicht zurückrufen würde. Die Äußerung von B' missglückt hier als Replik, da es kontextuell gar keinen Grund gibt zu der Unterstellung, dass A davon ausgeht, dass B' Marie nicht zurückrufen wird. Ein drastisches Minimalpaar soll die Präsupposition und deren Kraft, auf eine Unterstellung schließen zu lassen, noch untermauern. Stellen wir uns vor,
|| 9 Siehe das Beispiel (6), bei dem für den Sprecher der als ob-Äußerung die epistemische Möglichkeit besteht, dass der Sachverhalt nicht bekannt ist, dass es nicht leicht ist, eine Unterschrift vom Rektor zu bekommen. Er muss nicht davon ausgehen, dass der Sachverhalt geleugnet wird.
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es wird davon gesprochen, dass Helena gesagt hat, sie würde morgen vom zehnten Stock eines Hochhauses springen: (36) A: Helena sagte, sie wird morgen vom zehnten Stock des Hochhauses springen. B: #Als ob sie das überleben könnte. Um „Das kann sie nicht überleben!“ zum Ausdruck zu bringen, kann B den freien als-ob-Satz hier deshalb nicht verwenden, weil es weder explizite noch implizite Anhaltspunkte gibt, dass jemand, insbesondere Helena, von Überlebenschancen ausgeht. In diesem Kontext kann dies auch nicht unterstellt werden, da man bei niemandem einfach davon ausgehen kann, dass er der Annahme ist, er könne einen Sprung aus dem zehnten Stock überleben. Verändern wir den Kontext aber leicht und ergänzen, dass Helena sagte, sie wolle mit einem selbstgenähten Fallschirm aus Bettlaken springen, dann wird der Beitrag von B angebracht: Man versteht dann, dass der Sprecher davon ausgeht, dass Helena davon ausgeht, den Sprung (dank des Fallschirms) zu überleben. Damit kann bei geändertem Kontext die für als ob-Sätze einschlägige Präsupposition als gegeben gelten: (37) A: Helena sagte, sie wird morgen mit einem selbstgenähten Fallschirm aus Bettlaken vom zehnten Stock des Hochhauses springen. B: Als ob sie das überleben könnte. Die Analogie zwischen als ob-Sätzen und doch-Deklarativen ist nun nicht vollständig. Wie sich an einer unterschiedlichen Distribution im Diskurs erkennen lässt, ist ihr Verhältnis unidirektional: Als ob-Sätze lassen sich durch doch-Deklarative ziemlich äquivalent ersetzen, vgl. (29) bis (31), doch gilt das Umgekehrte nicht: (38) A: Seit wann hast du denn den Zauberberg? B: Den hast du mir doch vor zwei Jahren geschenkt. (Thurmair 1989: 113) B':Als ob du mir den nicht vor zwei Jahren geschenkt hättest! (39) A: Ich gehe jetzt. B: Du gehst? Es gibt doch Bier. B':Du gehst? Als ob es kein Bier gäbe!
(Zimmermann 2011: 2017)
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Die als ob-Sätze haben deutlich eine aggressive Note, die die doch-Deklarative nicht haben bzw. nicht haben müssen.10 So kann man einen Bekannten, der den Umstand, dass man keine Tomaten mag, anscheinend vergessen hat, mit einem doch-Deklarativ sachte darauf hinweisen, dass er diesen Umstand wohl gerade nicht zu beachten scheint. Dies steht in deutlichem Kontrast zu der Aggressivität der als ob-Äußerung, bei der ein Vorwurf oder eine Unterstellung fast notwendig mitzuschwingen scheint: (40) [Konversation zwischen Bekannten, wobei A wissen sollte, dass B Tomaten nicht mag:] A: Warum hast du denn die Tomatensuppe nicht genommen? B: Mir schmecken doch Tomaten nicht. B': Als ob Tomaten mir schmecken würden. Dieser Unterschied muss in dem unterschiedlichen epistemischen Status des im doch-Deklarativ einerseits und des im als ob-Satz andererseits ausgedrückten Sachverhaltes begründet liegen, was sich deutlich in ihrer unterschiedlichen Toleranz zu den Wahrheitsanspruch qualifizierenden ‚Tags‘ zeigt, mit der sich ein Sprecher rückversichern will: Doch-Deklarative erlauben solche Tags, freie als ob-Sätze nicht:11 (41) a. Das Feuerzeug hab’ ich dir doch gegeben, oder nicht? b. Den Zauberberg hast du mir doch vor zwei Jahren geschenkt, oder verwechsle ich da was? (42) a. *Als hätt’ Peter im Moment Zeit für Urlaub, oder hat er das etwa? b. *Als ob es darum ginge, oder etwa doch? c. *Als ob sie das nicht längst täten, oder tun sie das etwa nicht? In (42) ist zu erkennen, dass der assertierte Sachverhalt der als ob-Äußerung aus Sicht des Sprechers kein Sachverhalt ist, von dem vorstellbar wäre, dass er sich darin irrt. || 10 Wiewohl die Funktion von doch-Deklarativen durchaus auch eine negativ konnotierte sein kann, die in der Literatur mit ähnlichen Wörtern beschrieben wird, wie wir sie eingangs bei den freien als ob-Sätzen vorgefunden haben: „Widerspruch“ (Hentschel 1986), „Korrektur“ (Thurmair 1989; Pittner 2007), „Zurückweisung“ bzw. „Einwand“, engl. „objection“ (Eckardt 2015), „Gegengrund“ bzw. „Hindernis“, engl. „impediment“ (Egg 2010, 2012). 11 Bei einfachen Deklarativen ist eine Qualifizierung natürlich auch möglich: (i) Ich gehe zum Café Faust. Da ist der Kaffee günstiger. Oder irre ich mich da?
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Was kann es sein, das ein Sprecher mit Hilfe einer als ob-Äußerung assertiert, so dass eine Qualifizierung des Wahrheitsanspruchs nicht möglich ist? Es muss etwas sein, das einen Zweifel nicht aufkommen lässt, das jede Gegenevidenz von vornherein ausschließt, das epistemisch notwendig gefordert ist. Mit Als ob p! scheint ein Sprecher zu verstehen zu geben, dass es für jeden (der mit der Sache befasst ist) klar sein muss, dass p nicht der Fall ist. Wir hätten es dann also mit einer normativen epistemischen Feststellung zu tun. Dies zeigt sich auch daran, dass es für den Sprecher nicht vorstellbar, vielleicht besser: nicht legitim, erscheint, dass jemand den Sachverhalt, dass p nicht der Fall ist, auch nur momentan nicht präsent hat. So kann nicht die Möglichkeit eingeräumt werden, dass eine solche Person diesen Sachverhalt nicht kennt: (43) Als ob es darum ginge! #Weißt du das denn nicht? (44) [Einer voll ausgelasteten Abteilung wird vom Vorstand ein zusätzliches Arbeitsfeld zugewiesen. Als dies bekannt wird, äußert ein Mitglied der Abteilung:] Als ob wir Zeit für so was hätten! #Vielleicht wissen die nicht, dass wir besetzungsmäßig aus dem letzten Loch pfeifen? Doch-Deklarative und als ob-Sätze eint die Annahme des Sprechers, dass jemand das Gegenteil annimmt von dem, was Fakt ist. Somit ist klar, dass sie als Zurückweisung bzw. als Korrektur verstanden werden. Der Unterschied scheint sich aus dem epistemisch-deontischen Aspekt zu ergeben. Während doch-Deklarative die Möglichkeit einräumen, dass jemand den infrage stehenden Sachverhalt nicht kennt, pochen als ob-Sätze auf die Notwendigkeit, ihn zu kennen. Zusammenfassend können wir nun sagen, dass sich die freien als ob-Sätze durch folgende syntaktische, semantische und pragmatische Eigenschaften auszeichnen: (i) Syntaktische Eigenschaften: – Selbständiger als ob/als wenn-VE-Satz oder als-V1-Satz – Finites Verb im Konjunktiv Präteritum (ii) Semantische und pragmatische Eigenschaften: – Ein Sprecher von Als ob p! gibt zu verstehen, dass p nicht der Fall ist, und muss der Überzeugung sein, dass p nicht der Fall ist – wenn er aufrichtig ist. – Als ob p! ist nicht einfach die Assertion, dass p nicht der Fall ist.
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Mit Als ob p! gibt der Sprecher zu verstehen, dass es für jemanden, der mit der Sache befasst ist, klar sein muss, dass p nicht der Fall ist. Der Sprecher von Als ob p! präsupponiert, dass es Evidenz dafür gibt, dass eine saliente Person die Überzeugung hat, dass p.
3 Der freie als ob-Satz als hochspezialisierter Satztyp Funktionale Satztypen wie der Deklarativ, Imperativ oder Interrogativ unterscheiden sich darin, dass sie bestimmte Arten von kommunikativen Intentionen ausdrücken. Eine kommunikative Intention ist die Intention, jemandem durch eine Äußerung mitzuteilen, dass das-und-das der Fall ist. Mit dem Deklarativ p drückt der Sprecher aus, dass er intendiert, der Adressatin mitzuteilen, dass p der Fall ist; mit dem Imperativ p! drückt der Sprecher aus, dass er intendiert, der Adressatin mitzuteilen, dass er von ihr möchte, dass p der Fall ist; und mit dem (Entscheidungs-)Interrogativ p? drückt der Sprecher aus, dass er möchte, dass die Adressatin ihm mitteilt, ob p der Fall ist. Das illokutionäre Potential eines Satztyps wird durch die kommunikative Intention festgelegt, die damit wesentlich die kommunikative Bedeutung einer Äußerung bestimmt. Ein funktionaler Satztyp legt für die Sätze, die nach seinem Vorbild geformt werden, neben der Art der kommunikativen Intention eine Reihe von formalen Eigenschaften fest (zu dieser Konzeption von funktionalen Satztypen siehe Pafel 2016). Den freien als ob-Satz werden wir vor diesem Hintergrund als einen eigenen funktionalen Satztyp betrachten. Was die formalen Eigenschaften angeht, haben wir es, wie bereits gesehen, mit einem selbständigen als ob/als wenn-VE- oder als-V1-Satz zu tun mit dem finiten Verb im Konjunktiv Präteritum, der prosodisch die Eigenschaften von Deklarativen zu haben scheint (vgl. § 2.1). Was die inhaltlichen Eigenschaften angeht, so ist er durch die kommunikative Intention (45) sowie die Präsupposition (46) charakterisiert: (45) Kommunikative Intention eines freien als ob p-Satzes Der Sprecher intendiert, der Adressatin mitzuteilen, dass es für jemanden, der mit C befasst ist, klar sein muss, dass es nicht der Fall ist, dass p. (C ist eine kontextuell zu interpretierende Variable.)
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(46) Präsupposition eines freien als ob p-Satzes Der Sprecher präsupponiert, dass es Evidenzen dafür gibt, dass eine saliente Person die Überzeugung hat, dass p. Die Intention in (45) hat – neben der Negation (es ist nicht der Fall) – ein epistemisches (klar sein) wie auch ein deontisches Moment (muss). Wir können damit sagen, dass mit einer entsprechenden Äußerung eine „partikuläre epistemische Norm“ konstatiert wird: „Es muss jedem, der mit der Sache befasst ist, klar sein, dass es nicht der Fall ist, dass p.“ (47) a. Als ob wir Ideologen wären! Es muss jedem klar sein, dass wir keine Ideologen sind. b. Als ob es darum ginge! Es muss jedem klar sein, dass es nicht darum geht. c. Als ob wir Zeit für so was hätten! Es muss jedem klar sein, dass wir keine Zeit dafür haben. Die Äußerung Als ob p! geht damit deutlich hinaus über die einfache Assertion Es ist nicht der Fall, dass p. Wer die Feststellung trifft Als ob p!, trifft damit auch die Feststellung Es ist nicht der Fall, dass p, aber nicht umgekehrt. Als ob-Sätze sind damit eine spezielle Art von Deklarativen. Die Präsupposition (46) erfasst den Umstand, dass die Äußerung Als ob p! nur dann geglückt ist, wenn es jemanden gibt, der der Überzeugung, dass p, ist oder zumindest sein könnte, wobei diese Person aber nicht unter den Gesprächsteilnehmern zu finden sein muss. Die Kombination von kommunikativer Intention und Präsupposition lässt den Schluss zu, dass aus der Sicht des Sprechers eine Person, die mit der Sache C befasst ist und der Überzeugung ist, dass p, eine epistemische Norm verletzt. Der Stellenwert dieser Normverletzung ergibt sich, wenn man annimmt, dass im Hintergrund die folgenden allgemeinen ‚epistemischen Normen‘ stehen:12
|| 12 In der philosophischen Diskussion zur epistemischen Ethik (ethics of belief) werden seit langer Zeit Prinzipien wie das in (48) unter dem Namen Evidentialismus diskutiert, vgl. Chignell (2017): „The central question in the debate is whether there are norms of some sort governing our habits of belief-formation, belief-maintenance, and belief-relinquishment“ (Einleitung); „Evidentialism of some sort is far and away the dominant ethic of belief among early modern and contemporary philosophers alike. The central principle [...] is that one ought only to base one’s beliefs on relevant evidence (i.e. evidence that bears on the truth of the proposition) that is in one’s possession“ (§ 4.1). Das zentrale Prinzip des Evidentialismus wird beispielsweise in Feldman (2000: 679) wie folgt formuliert: „For any person S, time t, and proposition p, if S has
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(48) Evidenzprinzip Eine Person ist verpflichtet zu der Überzeugung, dass p, wenn sie über starke Evidenz für die Wahrheit von p verfügt; sie darf diese Überzeugung nicht haben, wenn sie nur über schwache oder gar keine Evidenz verfügt. (49) Informationelle Sorgfaltspflicht Eine Person ist verpflichtet, sich gut zu informieren in Bereichen, die ihr Handeln betreffen. Durch Als ob p! wird implizit darauf abgehoben, dass sich der Umstand, dass es klar ist, dass p nicht der Fall ist, notwendig aus Prinzipien wie (48) und (49) ergibt. Nehmen wir das Beispiel der vollausgelasteten Abteilung, die vom Vorstand ein zusätzliches Arbeitsfeld zugewiesen bekommt, und die vorwurfsvolle Reaktion eines Mitglieds der Abteilung: (50) Als ob wir Zeit für so was hätten! Die müssen doch wissen, dass wir besetzungsmäßig aus dem letzten Loch pfeifen. Der Vorwurf besteht entweder darin, dass der Vorstand seiner informationellen Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen ist, d.h. der Beschluss wurde getroffen, ohne die Arbeitsbelastung der Abteilung zu eruieren, oder darin, dass der Vorstand die Daten, die ihm zur Arbeitsbelastung vorliegen, derzufolge die Belastungsgrenze erreicht ist, ignoriert hat und einen Beschluss getroffen hat, der davon ausgeht, dass sich die Arbeitsbelastung noch steigern lässt (Verletzung des Evidenzprinzips), womit eine gewissenlose, ausbeuterische Gesinnung unterstellt wird. Sollte die Reaktion Ausdruck der Überzeugung sein, dass keine der beiden epistemischen Normen verletzt ist, kann der Vorwurf eigentlich nur noch darin bestehen, dass der Beschluss irrational, potentiell selbstzerstörerisch ist.
|| any doxastic attitude at all toward p at t and S’s evidence at t supports p, then S epistemically ought to have the attitude toward p supported by S’s evidence at t.“ Und es wird wie folgt erläutert: „[It] in effect conjoins three principles: if a person is going to adopt any attitude toward a proposition, then that person ought to believe it if his current evidence supports it, disbelieve it if his current evidence is against it, and suspend judgment about it if his evidence is neutral (or close to neutral).“ Das Evidenzprinzip in (48) ist eine für unsere Zwecke vereinfachte Version von Feldmans Prinzip. Siehe auch die Modifikation des Evidenzprinzips in Baehr (2011: Kap. 5) durch die Hinzunahme von epistemischen ‚Tugenden‘ (virtue epistemology).
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Die Äußerung (51), die der Sprecher von sich gibt, nachdem jemand ihn um 1000 € gebeten hat, lässt sich am ehesten so verstehen, dass der Sprecher moniert, dass der Bittsteller sich nicht klar gemacht hat, dass der Sprecher nicht jemand ist, von dem man sich mal so eben einen solchen Geldbetrag leihen könnte – die informationelle Sorgfaltspflicht ist verletzt. (51) Als ob ich Krösus wäre. Ähnlich bei dem Beispiel in (2) – Als ob wir Ideologen wären! –, wo mangelnde Informiertheit auf Seiten der Kirchen angemahnt wird. Anders bei einer Äußerung wie Als ob ich ihm das nicht schon hundert Mal gesagt hätte!, wo die Verletzung des Evidenzprinzips moniert wird: „Ich habe es ihm schon hundertmal gesagt, wie es sich verhält (er hat mich ja immer wieder danach gefragt), aber er hat dies schlicht ignoriert.“ Und in dem folgenden Beleg wird mit Jaja, als ob dich jemand begrabschen würde. Das ist Wunschdenken moniert, dass jemand glaubt, dass p, obwohl es keine Evidenzen dafür gibt: (52) DIE ZEIT: Frau Kebekus, nach allem, was man derzeit liest, bekommt man den Eindruck, fast jede Frau werde sexuell belästigt. Ist das so? Kebekus: Ich glaube, ja. Und ich finde, ehrlich gesagt, die Überraschung darüber überraschend. Natürlich bin ich schon auf Partys begrabscht worden. Aber wenn ich das öffentlich sage, heißt es plötzlich: Huch! Im Netz schreiben sie dann: „Jetzt kommen sie alle aus den Löchern. Jetzt will die Kebekus auch noch was vom Kuchen ab.“ Da denke ich: Ja, das ist ja eine so tolle Sache, sexuell belästigt worden zu sein. Da will ich auch ein Stück ab vom Kuchen. Geil fand ich auch: „Jaja, als ob dich jemand begrabschen würde. Das ist Wunschdenken.“ Es ist erstaunlich, wie sehr mir bei solch normalen Erlebnissen nicht geglaubt wird. (Die Zeit, 16.11.17, S. 34)
Damit gehören freie als ob-Sätze einem hochspezialisierten Satztyp an, den wir ‚als-VE-Deklarativ‘ taufen können: Seine Form ist sehr genau festgelegt und die ausgedrückte Intention ist eine sehr spezielle. Als wenn-Sätze können wir als eine Variante dieses Satztyps betrachten, wenn wir neben der Einleitung als ob auch die Einleitung als wenn zulassen. Für als-V1-Sätze müssen wir wohl einen zweiten Satztyp ansetzen, der sich aber nur im Einleitungsbereich unterscheidet, sonst nahezu die gleichen formalen und inhaltlichen Eigenschaften hat (‚als-V1Deklarativ‘).
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Freie als ob-Sätze weisen mehrere interessante Parallelen zu zwei Spezialtypen von Deklarativen auf, dem wo doch-VE-Deklarativ und dem und w-/und obVE-Deklarativ. Insbesondere weisen auch diese, was die kommunikative Intention angeht (vgl. Pafel 2016: 411), ein epistemisches Moment auf (im Folgenden unterstrichen): (53) Wo der doch jetzt vorbestraft ist. Der Sprecher intendiert, der Adressatin mitzuteilen, dass es (bereits) gemeinsames Wissen ist, dass eine bestimmte Person vorbestraft ist. (54) Und ob der Dopingmittel genommen hat.13 Der Sprecher intendiert der Adressatin mitzuteilen, dass es sehr sicher ist, dass eine bestimmte Person Dopingmittel genommen hat. Man könnte von einer Gruppe von ‚epistemischen‘ Deklarativen reden, zu denen damit auch der als-VE- sowie der als-V1-Deklarativ gehören.
4 Freie als ob-Sätze, Irritation und Emotion Mit einer Behauptung drücken wir unsere Überzeugung, mit einer Bitte unseren Wunsch, mit einer Entschuldigung unser Bedauern aus. Wie diese Relation des ‚Ausdrückens von mentalen Zuständen‘ genau zu analysieren ist, hängt eng damit zusammen, wie man Sprechakte analysiert. Wir haben in § 3 eine Konzeption skizziert, derzufolge Sprechakten bestimmte kommunikative Intentionen zugrunde liegen, die sich aus dem verwendeten Satztyp ergeben: Mit dem Deklarativ p drückt der Sprecher aus, dass er intendiert, der Adressatin mitzuteilen, dass p der Fall ist; mit dem Imperativ p! drückt der Sprecher aus, dass er intendiert, der Adressatin mitzuteilen, dass er von ihr möchte, dass p der Fall ist; und mit dem (Entscheidungs-)Interrogativ p? drückt der Sprecher aus, dass er möchte, dass die Adressatin ihm mitteilt, ob p der Fall ist. Demzufolge hat der Ausdruck von kommunikativen Intentionen und damit der Ausdruck dieser Spezies von mentalen Zuständen eine konventionelle Basis.
|| 13 Der Sprecher scheint mit einer solchen Äußerung zu präsupponieren, dass eine saliente Person nicht der Überzeugung ist, dass eine bestimmte Person Dopingmittel genommen hat. Die Äußerung wäre nicht geglückt, wenn die Präsupposition nicht zuträfe.
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Wie sieht es vor diesem Hintergrund mit dem Ausdruck von mentalen Zuständen wie Überzeugungen, Bitten und Wünschen aus? Dies hängt von der jeweiligen kommunikativen Intention ab. Beim (Entscheidungs-)Interrogativ p? haben wir gesagt, dass der Sprecher mitteilt, dass er möchte, dass die Adressatin ihm mitteilt, ob p der Fall ist. Er drückt damit unmittelbar seinen Wunsch aus. Beim Deklarativ hat der Ausdruck der Überzeugung, dass p, auf Seiten des Sprechers jedoch keine konventionelle Basis, es wird ja nur mitgeteilt, dass p der Fall ist. Dies wäre anders, wenn die kommunikative Intention des Deklarativs so festgelegt wäre, dass der Sprecher mitteilt, dass er der Überzeugung ist, dass p, denn dann könnte man von einer konventionellen Basis des Ausdrucks der Überzeugung reden. Dass der Deklarativ Ausdruck einer Überzeugung ist, ergibt sich aus der allgemeinen Aufrichtigkeitsmaxime, dass Sprecher – bis zum Beweis des Gegenteils – für aufrichtig gehalten werden sollen. Ein Sprecher, der aufrichtig behauptet, dass p, hat auch die Überzeugung, dass p. Der LügnerNe jedoch, der behauptet, dass p, hat nicht die Überzeugung, dass p, doch solange wir ihn nicht durchschauen, d.h. solange wir ihn für aufrichtig halten, nehmen wir an, dass er die Überzeugung hat.14 Bei der aufrichtigen Äußerung eines als ob-Satzes ist der Sprecher der Überzeugung, dass es nicht der Fall ist, dass p. Dies ergibt sich aus der kommunikativen Intention, die die Äußerung ausdrückt. Die Äußerung eines als ob-Satzes sagt aber noch mehr über die Einstellung des Sprechers aus. Die kommunikative Intention und die Präsupposition legen nahe, dass der Sprecher sich im Zustand einer ‚Irritation‘ befindet – Irritation ob einer Normverletzung. Naheliegend ist dies, da eine solche Irritation der Grund dafür sein kann, dass man einen als obSatz äußert. Wenn wir sagen, die Äußerung des als ob-Satzes bedeutet, dass der Sprecher sich im Zustand der Irritation befindet, so handelt es sich hier um ‚natürliche Bedeutung‘ im Sinne von Grice, der alltagspsychologische Überlegungen (Theory of Mind) über das Verhältnis von mentalen Zuständen und Handlungen zugrunde liegen (ein bestimmter mentaler Zustand ist ein möglicher Grund für eine bestimmte sprachliche Handlung). Eine Irritation ist ein kognitiver Zustand, der, wenn nicht bereits eine Emotion, so doch inhärent mit einer emotionalen Einstellung verbunden ist, die unterschiedlich stark negativ grundiert ist. Wenn er die Form einer Empörung annimmt (ALS OB WIR ZEIT FÜR SO WAS HÄTTEN!), dann ist die Irritation mit Wut verbunden. Doch wir haben ja an verschiedenen Beispielen gesehen, dass die
|| 14 Vgl. Falkenberg (1982: §IV) und Meibauer (2014: §4.2).
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Irritation emotional sehr unterschiedlich gefärbt sein kann. Das emotionale Potential von als ob-Sätzen hat durchaus eine gewisse Bandbreite, aber der emotionale Zustand des Sprechers ist nie ein positiver. Dies, sowie die emotionale Bandbreite, zeigt sich auch in der Kombinierbarkeit mit Ausdrücken der expressiven Emotionsbekundung, die auf einen negativen mentalen Zustand des Sprechers schließen lassen. Positiv konnotierte Äußerungen sind nur dann angebracht, wenn sie sarkastisch gemeint sind. Dies sieht man deutlich, wenn man derartige Ausdrücke in die Leerstelle in (55) einsetzt: (55) A: Peter sagt, das Beste wird sein, wir kaufen uns gleich ein neues Auto. B: __________ als ob wir uns das leisten könnten! a. Interjektionen Pfff... Tzz... Sappalott... Ohje... Haha... *Jippi... *Hurra... *Juhu.... *Oh ja...
... als ob wir uns das leisten könnten!
b. Expressive Adjektive, Adverbien, Nomen Verdammt/Verflixt/Verflucht... Himmel, Arsch und Zwirn... (Das ist doch) Scheiße/Mist/Blödsinn... Scheiße/Shit/Fuck ey... So ein Arschloch/ Blödmann/Depp...
... als ob wir uns das leisten könnten!
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c. Idiomatische Wendungen zum Ausdruck von Irritation Sag’ mal... Na hör’ mal... Ich glaub, ich spinne... Nicht zu fassen... Das ist ja die Höhe... Sowas (aber auch)... Jetzt geht’s aber los... Nee, oder?... Echt jetzt?...
... als ob wir uns das leisten könnten!
d. Sarkastisch verwendete Ausdrücke Na toll/klasse/super... Wunderbar... ... als ob wir uns das leisten könnten! Das ist ja ’ne ganz tolle Idee... Die Beziehung zwischen freien als ob-Sätzen und Emotionen ist nach unserer Analyse keine direkte, durch konventionelle Elemente hergestellte Beziehung. Allgemeine alltagspsychologische Annahmen spielen eine Rolle, wobei die konstatierte Normenverletzung das entscheidende Verbindungsglied ist (siehe oben). Die Beziehung Äußerung/Emotion ist damit nicht zu vergleichen mit der entsprechenden Beziehung bei deskriptiven Emotionsbekundungen wie Ich bin wütend, dass du mir so was zutraust oder expressiven Emotionsbekundungen wie verdammt, wo eine konventionelle Basis vorhanden ist. Der Aspekt der Irritation kommt bei den freien als ob-Sätzen weder bei der kommunikativen Intention noch der Präsupposition vor, es wäre abwegig zu behaupten, dass Als ob p! zu verstehen gäbe, dass es irritierend, empörend ist, dass (es nicht der Fall ist, dass) p – mit Als ob wir Ideologen wären! sagen wir nicht, dass es irritierend oder empörend ist, dass wir (keine) Ideologen sind (/wären). Irritierend oder empörend wäre höchstens, dass die Überzeugung im Raum steht, dass p, angesichts des Offenkundigseins von non-p. Mehrfach haben wir erwähnt, dass die Äußerung von freien als ob-Sätzen eine Aggressivität, eine Bissigkeit begleiten kann. Ist der freie als ob-Satz eine direkte Replik, dann kann die Adressatin durchaus den Eindruck gewinnen, sie würde vom Sprecher gemaßregelt, was sie dann als Affront empfinden wird (vgl. etwa (40)). Dies erklärt sich dadurch, dass der Sprecher mit dem als ob-Satz eine Normverletzung konstatiert (nämlich: die Adressatin weiß nicht, was sie wissen
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muss). Das kommt dem gleich, jemandem einen Fehler vor Augen zu führen. Nun hütet man sich aber generell aus Gründen der Höflichkeit, einem Gesprächspartner ganz offen einen Fehler, was eine Normverletzung ja ist, vorzuwerfen. Nur wenn man wirklich aufgebracht ist, scheint man bereit, die Höflichkeit außer Acht zu lassen. Die Verletzung der Höflichkeitsmaxime ist für die Adressatin somit ein weiteres Indiz für den Gemütszustand des Sprechers. Da sich die Adressatin brüskiert fühlen kann durch die Tatsache, dass ihr ein Gegenüber einen Fehler vor Augen führt, kann der als ob-Satz also auch beim Hörer wiederum Emotionen hervorrufen.
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Claudia Poschmann
Appositive und Expressivität Zur expressiven Bedeutung appositiver Relativsätze Abstract: Appositive Relativsätze werfen eine Reihe interessanter Rätsel für unser Verständnis expressiver Bedeutung auf. Einerseits teilen sie typischerweise charakteristische Eigenschaften expressiver Ausdrücke wie etwa Unabhängigkeit, Nicht-Zurückweisbarkeit und Sprecher-Orientierung (siehe u.a. Potts 2005, 2007; Gutzmann 2013). Oftmals werden Appositive daher auch gemeinsam mit expressiven Inhalten der Klasse der konventionellen Implikaturen zugeordnet (u.a. Potts 2005; Simons et al. 2010; Venhuizen et al. 2014). Andererseits unterscheiden sie sich von expressiven Bedeutungen jedoch in entscheidenden Punkten. So denotieren Appositive, anders als Expressive, Propositionen, drücken also wahrheitswertkonditionale Inhalte aus, nicht nur Sprechereinstellungen (Potts 2005) oder Gebrauchsbedingungen (Gutzmann 2013). Darüber hinaus scheint, wie neuere Arbeiten zeigen, sowohl der Diskursstatus (Syrett & Koev 2015) als auch der Skopus von Appositiven (Schlenker 2013; Poschmann 2018) flexibler als der von klassischen expressiven Bedeutungen zu sein. Appositive Relativsätze lassen sich somit nur schwer in die mittlerweile gut etablierte Unterscheidung zwischen wahrheitskonditionalen und expressiven Bedeutungen einordnen. In diesem Papier diskutiere ich, in welchen Punkten appositive Relativsätze Expressiven ähneln, wo sie sich unterscheiden und was passiert, wenn expressive Ausdrücke in Appositive eingefügt werden. Wie ich zeigen werde, wirft ein solcher Vergleich interessante Rätsel auf nicht nur für die Analyse und Klassifikation appositiver Relativsätze, sondern auch für unser Verständnis zentraler Eigenschaften expressiver Bedeutungen wie z.B. Projektion (Chierchia & McConnell-Ginet 1990/2000).
1 Einleitung Unter expressiver Bedeutung versteht man in der Regel Inhalte, die zwar durch bestimmte Ausdrücke oder Konstruktionen konventionell kodiert sind, jedoch nicht unmittelbar einen Beitrag zu den Wahrheitsbedingungen einer Äußerung leisten, sondern vielmehr zusätzlich Emotionen oder Einstellungen des Sprechers vermitteln (Grice 1975; Kaplan 1999; Potts 2005; Gutzmann & Gärtner 2013). Darunter fallen nicht nur die Bedeutungen expressiver Ausdrücke im engeren https://doi.org/10.1515/9783110630190-010
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Sinn wie verdammt (damned), vgl. (1a) (Potts 2005), oder von Interjektionen wie Aua (ouch), vgl. (1b) (Kaplan 1999), sondern auch z.B. die Beiträge von Diskurspartikeln wie ja oder wohl, vgl. (1c) (Meibauer 1994; Zimmermann 2004; Gutzmann 2015). Wie Gutzmann (2013) eindrucksvoll zusammenfasst, können expressive Bedeutungen, ähnlich wie wahrheitskonditionale Bedeutungen, auf ganz unterschiedliche Weise kodiert werden, wie z.B. durch Affixe, vgl. (1e), spezielle syntaktische Konstruktionen, vgl. (1f), durch Intonation, wie im Falle des Exklamativakzents (d’Avis 2002; Roguska 2008; Castroviejo Miró 2008) in (1d), oder gar durch Satzzeichen, wie z.B. Predelli (2003) für Anführungszeichen in sogenannten „scare quotes“ annimmt, vgl. (1g) (s. hierzu auch Brendel, Meibauer & Steinbach 2011). (Die Beispiele in (1) zitiere ich nach Gutzmann 2013.) (1)
a. b. c. d. e. f. g.
I hear your damned dog barking. (Potts 2005: 18) Ouch, I’ve hit my thumb. (Kaplan 1999) Hein ist wohl auf See. (Zimmermann 2004: 543) How TALL Michael is! (Gutzmann 2013: 17) Guten Morgen, Hans-i. (Gutzmann 2013: 25) Ames, who was a successful spy, is now behind bars. (Potts 2005: 90) The “debate” resulted in three cracked heads and two broken noses. (Predelli 2003: 3)
In seinem einflussreichen Buch klassifiziert Potts (2005) den Beitrag solch expressiver Bedeutungen, in Abgrenzung zu konversationellen Implikaturen (Grice 1975) und Präsuppositionen (Stalnaker 1973; Karttunen 1973), als konventionelle Implikaturen.1 Zur Etablierung dieser Klasse diskutiert Potts (2005) u.a. zwei Standardbeispiele expressiver, nicht-wahrheitskonditionaler Bedeutungen: die Bedeutung expressiver Ausdrücke im engeren Sinne wie damned (verdammt) in (1a) und die Bedeutung appositiver Relativsätze wie in (1f). (2) a. Der verdammte Arzt konnte Gert nicht retten. b. Der Arzt konnte Gert nicht retten. c. ≈ Ich verachte den Arzt. Im Gegensatz zu (2b) enthält (2a) das Adjektiv verdammt. Dennoch haben beide Sätze die gleichen Wahrheitsbedingungen. Insbesondere trägt das Adjektiv verdammt nicht zur Bestimmung des Referenten der Nominalphrase Arzt bei, an die
|| 1 Zur Unterscheidung zwischen verschiedenen Klassen von Bedeutungen und den entsprechenden Tests siehe u.a. Meibauer (2001).
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es syntaktisch doch eigentlich angebunden ist. Durch Hinzufügung von verdammt drückt der Sprecher lediglich seine Abneigung gegenüber dem Arzt aus. Die Wahrheitsbedingungen der Äußerungen werden offenbar unabhängig von der An- oder Abwesenheit des expressiven Ausdrucks interpretiert. Dies bedeutet natürlich nicht, dass der Beitrag des Adjektivs redundant ist. Gewiss verändert das Einfügen des Adjektivs die Gebrauchsbedingungen der Äußerung und schränkt die Kontexte ein, in welchen die Äußerung angemessen verwendet werden kann, wahrscheinlich auf solche, in welchen der Sprecher eine negative Einstellung gegenüber dem fraglichen Arzt ausdrücken möchte. Gutzmann (2013) argumentiert daher dafür, dass der Unterschied zwischen Expressiven und anderen Bedeutungsklassen darauf zurückgeführt werden kann, dass expressive Ausdrücke oder Konstruktionen eben keine wahrheitswertrelevanten Inhalte ausdrücken (truth-conditional), sondern Inhalte, die lediglich für die Gebrauchsbedingungen einer Äußerung relevant sind (use-conditional). Die Beobachtung, dass Äußerungen neben wahrheitsfunktionalen Inhalten auch zusätzliche, unabhängig interpretierte nicht-wahrheitsfunktionale Inhalte kodieren können, hat maßgeblich zur Entwicklung zweidimensionaler Semantiken beigetragen (Potts 2005; Gutzmann 2015). So nimmt Potts (2005) an, dass die Bedeutung von expressiven Ausdrücken wie damned (verdammt) unabhängig von der wahrheitskonditionalen Bedeutung der Äußerung, ihrem sogenannten At-issue-Inhalt, auf der Ebene nicht-wahrheitsfunktionaler Bedeutung als Non-at-issue-Inhalt interpretiert wird. (3) Der verdammte Arzt konnte Gert nicht retten. a. at-issue: Der Arzt konnte Gert nicht retten. b. non-at-issue: verdammter Arzt. Als Paradebeispiele einer syntaktischen Konstruktion, die expressive Bedeutung ausdrückt, führt Potts (2005) u.a. appositive Relativsätze wie in (1f) und (4a) an. In der Tat verhalten sich Appositive weitgehend wie expressive Bedeutungen. (4) a. Die Kinder, die ja im Garten gespielt haben, sind hundemüde. (ARS) b. Die(jenigen) Kinder, die im Garten gespielt haben, sind hundemüde. (RRS) c. Die Kinder sind hundemüde. Sie haben im Garten gespielt. (Matrix) So scheint der appositive Relativsatz (ARS) in (4a), anders als sein restriktives Gegenstück in (4b), nicht zu den Wahrheitsbedingungen des Satzes beizutragen, in den er eingebettet ist. Während der restriktive Relativsatz (RRS) in (4b) die
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Menge der Kinder, die müde sind, auf die Menge der Kinder beschränkt, die im Garten gespielt haben (und somit unmittelbar in die Deutung seines Kopfnomens eingeht), hat der appositive Relativsatz in (4a) in etwa die Bedeutung des nachgestellten Matrixsatzes in (4c). So sind (4a) zufolge die Kinder alle müde. Der appositive Relativsatz liefert lediglich eine zusätzliche Begründung für diese Behauptung. Trotz seiner eingebetteten Position wird der appositive Relativsatz, ähnlich wie das expressive Adjektiv verdammt, somit scheinbar völlig unabhängig von dem ihn einbettenden Satz interpretiert. Aufgrund dieser semantischen Unabhängigkeit vertritt Potts (2005) eine weitgehend einheitliche mehrdimensionale Analyse von Appositiven und Expressiven. (5) Die Kinder, die ja im Garten gespielt haben, sind hundemüde. a. at-issue: Die Kinder sind hundemüde. b. non-at-issue: Sie haben (ja) im Garten gespielt. Gutzmann (2013) weist jedoch auf einen interessanten Unterschied zwischen Expressiven und Appositiven hin. Anders als klassische Expressive drücken Appositive Wahrheitswerte aus, auch wenn diese nicht unmittelbar in die Deutung des sie einbettenden Satzes eingehen. Haben die Kinder nicht im Garten gespielt, ist der appositive Relativsatz in (4a) (und somit letztendlich auch die Gesamtäußerung) einfach falsch. Expressive Inhalte hingegen lassen sich nur schwer in Kategorien wie wahr und falsch fassen.2 So stellt Meibauer (2014) zu Recht fest, dass sich mit Appositiven problemlos lügen lässt. Ob der Sprecher von (2a) hingegen der Lüge bezichtigt werden kann, wenn er den von ihm beschimpften Arzt im Grunde ganz akzeptabel findet, oder ob in diesem Fall lediglich eine Art Täuschung vorliegt, hängt entscheidend von der jeweiligen Definition von Lügen ab (siehe die ausführliche Diskussion hierzu in Meibauer 2014). Gutzmann (2013) geht daher davon aus, dass Appositive zwar ähnlich wie expressive Bedeutungen zweidimensional interpretiert werden, jedoch selbst nicht notwendigerweise expressive Bedeutungen ausdrücken. Dies wirft jedoch eine Reihe interessanter Fragen in Hinblick auf die Klassifikation expressiver Inhalte und die Charakterisierung ihrer Eigenschaften auf, insbesondere in Bezug auf den von Potts (2005) und Gutzmann (2015) angenommenen Zusammenhang von nicht-wahrheitskonditionaler Bedeutung und semantischer Unabhängigkeit bzw. Mehrdimensionalität. Beide nehmen mehr oder weniger explizit an, dass
|| 2 Gutzmann (2013: 22): „While it may be quite mistaken in the first place to ask what the truth conditions of expressions such like ouch or ja (or damned) are, this is an easy question when it comes to appositives and their kin.“
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eine Ursache für die semantische Unabhängigkeit bzw. die Mehrdimensionalität expressiver Inhalte in der Tatsache begründet liegt, dass sie eben nicht wahrheitsfunktional sind. Wie aber erklärt sich dann der Umstand, dass Appositive zwar Wahrheitswerte ausdrücken und dennoch in der Regel wie selbständige Sätze interpretiert werden? Im Folgenden werde ich diskutieren, welche Eigenschaften Appositive mit Expressiven teilen, in welchen Punkten sie sich unterscheiden und was passiert, wenn man Expressive in Appositive einfügt. Wie ich zeigen werde, wirft ein solcher Vergleich interessante Rätsel auf nicht nur für die Analyse und Klassifikation appositiver Relativsätze, sondern auch für unser Verständnis vom Zusammenhang von Expressivität und semantischer Unabhängigkeit.
2 Appositive und Expressive – die Gemeinsamkeiten Wie Potts (2005) eindrucksvoll hervorhebt, weisen appositive Relativsätze, zumindest auf den ersten Blick, einige charakteristische Eigenschaften expressiver Inhalte auf, insbesondere in Bezug auf (i) Unabhängigkeit und Projektion, (ii) Sprecherbezug und (iii) Diskursstatus. (i) Unabhängigkeit und Projektion Nicht nur scheinen Appositive ähnlich wie Expressive nicht zu den Wahrheitsbedingungen des sie einbettenden Satzes beizutragen, wie ihre Weglassbarkeit in (2) und (4) belegt, zudem erfolgt ihre Interpretation ähnlich wie die expressiver Bedeutungen typischerweise unabhängig von dem wahrheitsfunktionalen Inhalt der Äußerung, in der sie verwendet werden. Insbesondere scheint die Interpretation von Appositiven ähnlich wie die Interpretation von Expressiven unabhängig von etwaigen Operatoren des sie einbettenden Satzes zu erfolgen. (6) a. Der verdammte Arzt konnte Gert (nicht) retten. b. ≈> Ich verachte den Arzt. c. ≉> Ich verachte den Arzt nicht. (7) a. Der Arzt, der leider sehr spät hinzugerufen wurde, konnte Gert nicht retten. b. ≈> Der Arzt wurde sehr spät hinzugerufen. c. ≉> Der Arzt wurde nicht sehr spät hinzugerufen.
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Unabhängig von der Tatsache, ob (6a) eine Negation enthält oder nicht, drückt (6a) immer aus, dass der Sprecher den Arzt verabscheut. Ebenso kommt der Arzt in (7a) dem Sprecher zufolge zu spät, obwohl der Hauptsatz eine Negation enthält. D.h. weder der appositive Relativsatz noch das expressive Adjektiv werden im Skopus der Negation interpretiert, obwohl sie (zumindest in der Oberflächenform) syntaktisch in deren Skopus liegen. Man spricht in diesem Fall davon, dass der Inhalt des Expressivs bzw. des Appositivs projiziert, d.h. nicht lokal an der Stelle im Satz interpretiert wird, an dem er syntaktisch (zumindest an der Oberflächenstruktur) positioniert ist, sondern weiten Skopus bezüglich des Gesamtsatzes zu nehmen scheint bzw. global bezüglich des Diskurskontextes interpretiert werden muss. Projektion ist ein bekanntes Phänomen, das u.a. auch in Bezug auf Präsuppositionen zu beobachten ist (Frege 1892; Karttunen 1973; Chierchia & McConnell-Ginet 1990/2000). (8) a. Der König von Frankreich ist glatzköpfig. b. Der König von Frankreich ist nicht glatzköpfig. c. => Es gibt einen König von Frankreich. So folgt sowohl aus (8a) als auch (8b) die Existenz eines Königs von Frankreich, obwohl die definite DP, die diese Präsupposition auslöst, sich in (8b) in einem negierten Satz befindet. Die vom definiten Artikel ausgelöste Präsupposition bleibt also trotz Negation erhalten. Anders als Präsuppositionen projizieren Appositive und Expressive oftmals aber sogar außerhalb des Skopus von Operatoren, die normalerweise Projektion blockieren. So stellen z.B. Einstellungsverben in der Regel „Stöpsel” (plugs) für die Projektion von Präsuppositionen dar (Karttunen 1973). Zum Beispiel präsupponiert der Sprecher des Satzes (9a) nicht notwendigerweise, dass es einen König von Frankreich gibt. Vielmehr wird die vom definiten Artikel ausgelöste Präsupposition im eingebetteten Kontext interpretiert, also Peter zugeschrieben. Die Präsupposition wird in diesem Fall lokal und nicht global interpretiert. (9) a. Peter glaubt, dass der König von Frankreich glatzköpfig ist. b. ≉> Es gibt einen König von Frankreich.
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Appositive wie in (10) und Expressive wie in (11) hingegen weisen selbst in solchen Einstellungskontexten eine starke Tendenz auf, global zu projizieren.3 (10) a. Peter glaubt, dass der verdammte Arzt Gert nicht retten konnte. b. ≈> Der Sprecher hasst diesen Arzt. (11) a. Peter glaubt, dass der Arzt, der leider sehr spät hinzugerufen wurde, Gert nicht retten konnte. b. ≈> Der Arzt wurde sehr spät hinzugerufen. In der Regel wird daher angenommen, dass Appositive und Expressive stark projizierende Inhalte beisteuern, die stets global interpretiert werden müssen und keine lokalen Lesarten ermöglichen (u.a. Chierchia & McConnell-Ginet 1990/2000; Potts 2005; Simons et al. 2010). (ii) Sprecherbezug Eng verwandt mit den Projektionseigenschaften von Appositiven und Expressiven ist auch eine andere Eigenschaft, die Potts (2005) als charakteristisch für konventionelle Implikaturen betrachtet, nämlich ihr starker Sprecherbezug. Ganz gleich, wie tief sie eingebettet werden, die Inhalte von Appositiven und Expressiven werden in der Regel dem Sprecher der Äußerung zugeschrieben. Daher kann sich der Sprecher einer Äußerung oft nur schlecht vom Inhalt eines appositiven Relativsatzes oder eines expressiven Ausdrucks distanzieren. (12) a. Peter glaubt, dass der verdammte Arzt Gert nicht retten konnte. #Er ist ein sehr guter Arzt. Peter glaubt, dass der Arzt, der leider sehr spät hinzugerufen wurde, Gert nicht retten konnte. #Er wurde frühzeitig informiert. Allerdings ist ein Wechsel der Perspektive nicht gänzlich ausgeschlossen, wie Harris & Potts (2009) anhand von Beispielen wie (13) eindrücklich belegen (siehe hierzu auch Koev 2013). So muss der Sprecher von (13) nicht unbedingt die Ansicht seines Bruders teilen, dass Hausaufgaben reine Zeitverschwendung sind.
|| 3 Eine Diskussion möglicher Ausnahmen findet sich u.a. in Harris & Potts (2009), Schlenker (2013), Koev (2013).
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(13) [My brother Sid hates school.] a. He says that he puts off his homework, a complete waste of time, to the last minute. b. He puts off his homework, a complete waste of time, to the last minute. (Harris & Potts 2009: 548)
Auch (14) erlaubt einen solchen Perspektivwechsel. (14) Dr. Meier ist ein guter Arzt. Peter befürchtet dennoch, dass der verdammte Arzt Gert nicht retten kann. Diese Beobachtung stellt allerdings nur bedingt die oben getroffenen Annahmen zur Projektion von Appositiven und Expressiven in Frage. Vergleichbare Perspektivwechsel sind in geeigneten Kontexten oder bei geeigneter expliziter Markierung auch in selbständigen Sätzen möglich, erfordern folglich nicht zwingend eine strukturelle Einbettung. (15) My brother Sid hates school. He puts off his homework, a complete waste of time. (Harris & Potts 2009: 548)
Harris & Potts (2009) betrachten Beispiele wie (13) daher mit einigem Recht nicht als Hinweise für eine lokale Interpretation von Appositiven und Expressiven, sondern vielmehr als Belege für den stark perspektivischen Charakter appositiver und expressiver Inhalte.4 (iii) Diskursstatus Eine dritte Eigenschaft, die Appositive, Potts (2005) zufolge, mit Expressiven teilen, ist ihr Diskursstatus bzw. ihr eigentümlicher Hintergrundcharakter (Chierchia & McConnell-Ginet 1990/2000; Holler 2005). So beobachtet Potts (2005), dass Appositive und Expressive im Diskurs, anders als assertierte Inhalte, schlecht direkt zurückgewiesen werden können. Vielmehr muss zur Zurückwei-
|| 4 Zusätzlich zu der in Potts (2005) entwickelten mehrdimensionalen Semantik, die in erster Linie die starke Projektion erklären soll, nehmen Harris & Potts (2009) daher an, dass Appositive und Expressive, ähnlich wie andere subjektive Ausdrücke wie lecker, bezüglich eines speziellen kontextabhängigen „Judge“-Parameters interpretiert werden (Lasersohn 2005), der in der Regel mit dem Sprecher-Index belegt, aber prinzipiell auch geshifted interpretiert werden kann.
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sung des propositionalen Beitrags des Appositivs – ähnlich wie bei der Zurückweisung falscher Präsuppositionen (Fintel 2008) – eine eigene Korrektursequenz im Diskurs eröffnet werden. (16) a. b. c. d.
Dr. Meier, der das Gegengift verfügbar hatte, konnte Gert retten. Nein, konnte er nicht. (Zurückweisung Matrixsatz) #Nein, hatte er nicht. (Zurückweisung Appositiv) Warte mal. Dr. Meier hatte das Gegengift doch gar nicht verfügbar. Er musste es erst bestellen. (Korrektur Appositiv)
(17) a. b. c. d.
Der verdammte Hund bellt schon wieder. Nein, tut er nicht. (Zurückweisung Matrixsatz) #Nein, ist er nicht. (Zurückweisung Expressiv) Warte mal. Das ist doch eigentlich ein ganz lieber Hund. (Korrektur Expressiv)
Auch eignen sich Appositive und Expressive nicht unbedingt zur direkten Beantwortung von Fragen im Diskurs. Zwar können sie dazu beitragen, eine Frage zu beantworten, tragen sie allerdings das alleinige Gewicht der Antwort, trägt also die Proposition des Satzes, in welchem sie vorkommen, selbst nicht zur Beantwortung bei, erscheint die Äußerung als Ganzes unangemessen. (18) Konnte Dr. Meier Gert retten? a. Dr. Meier, der das Gegengift verfügbar hatte, konnte Gert retten. b. ??Dr. Meier, der Gert retten konnte, hatte das Gegengift verfügbar. (19) Was hältst Du von Dr. Meier? a. ?Der Pfuscher wohnt nebenan. b. Der Pfuscher konnte Gert nicht retten. In der Regel wird daher angenommen, dass Appositive und Expressive nicht nur semantisch unabhängig vom Matrixsatz interpretiert werden (dem At-issue-Inhalt), sondern überhaupt nicht zur Beantwortung der allgemeinen Fragestellung im Diskurs, der Quaestio (Klein & von Stutterheim 1987) bzw. der Q(uestion) U(nder) D(iscussion) (Ginzburg 1996) des Diskurses beitragen können (siehe u.a. Potts 2005; Amaral et al. 2007; AnderBois, Brasoveanu & Henderson 2015). Sowohl im Projektionsverhalten als auch in Hinblick auf ihren Diskursstatus und Sprecherbezug weisen Appositive somit starke Parallelen zu expressiven Inhalten auf. Sind appositive Relativsätze also expressiv? Gutzmann (2013) weist
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auf interessante Unterschiede zwischen Appositiven und Expressiven hin. Wie eingangs bereits erwähnt, drücken Appositive, anders als Expressive, Wahrheitswerte aus, auch wenn diese unabhängig von den Wahrheitswerten des einbettenden Satzes ermittelt werden. So ist der Appositivsatz in (16a) (und damit die Gesamtäußerung) falsch, wenn Dr. Meier zum fraglichen Zeitpunkt das Gegengift nicht verfügbar hatte. Auch ist der Inhalt des Appositivs deskriptiv bestimmbar, während die von einem expressiven Ausdruck wie verdammt ausgedrückte Einstellung sich nur bedingt propositional paraphrasieren lässt, und eventuell auch stark kontextabhängig ist (siehe Diskussion hierzu in Potts 2007). So kann verdammt nicht nur negative, sondern durchaus auch positive Einstellungen des Sprechers zum Ausdruck bringen. (20) Du bist ein verdammtes Genie! Diese Unterschiede mögen ein Grund dafür sein, dass appositive Inhalte, anders als expressive Inhalte, bei unmittelbarer Wiederholung schnell redundant wirken (vgl. Potts 2007; Gutzmann 2013). (21) #Dr. Meier, der das Gegengift verfügbar hatte, hatte das Gegengift verfügbar. (22) Du bist verdammt, verdammt genial! Trotz vieler Gemeinsamkeiten erfüllen Appositive daher nur bedingt die Charakteristiken expressiver Bedeutungen (vgl. die Diskussion dazu in Potts 2007). Insbesondere ist ihr Beitrag wahrheitskonditional und nicht expressiv. Im Folgenden werde ich dafür argumentieren, dass dieser Unterschied zwischen Appositiven und Expressiven weitreichende Konsequenzen sowohl für ihre Projektionseigenschaften als auch für ihren Diskursstatus hat.
3 Unterschiede in Projektion und Diskursstatus Neuere, insbesondere auch experimentelle Arbeiten zu Appositiven zeigen, dass sowohl der Diskursstatus als auch der Skopus von Appositiven weit flexibler ist als u.a. von Potts (2005) angenommen (AnderBois, Brasoveanu & Henderson 2015; Syrett & Koev 2014; Schlenker 2013; Poschmann 2018). So zeigen u.a. die Experimente von Syrett & Koev (2014), dass sich die Zurückweisbarkeit von Appositiven deutlich verbessert, wenn sich der Relativsatz in satzfinaler Position befindet.
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(23) Peter konnte Dr. Meier erreichen, der das Gegengift verfügbar hatte. a. Nein, hatte er nicht. (Zurückweisung des Appositivs) b. Nein, konnte er nicht. (Zurückweisung des Matrixsatzes) Die Zurückweisbarkeit eines expressiven Ausdrucks hingegen scheint sich durch einen Positionswechsel nicht zu verbessern.5 (24) A: Peter vertraut dem Pfuscher. B: a. Nein, tut er nicht. (Zurückweisung des Matrixsatzes) b. ??Nein, ist er nicht. (Zurückweisung des Expressivs) Diese Beobachtungen werfen die Frage auf, ob Appositive tatsächlich als inhärent non-at-issue klassifiziert werden sollten oder, anders als Expressive, nicht eher einen flexiblen Diskursstatus aufweisen (siehe Diskussion hierzu in Koev 2013). Auch in ihren Projektionseigenschaften scheinen appositive Relativsätze mehr Flexibilität aufzuweisen als die vergleichsweise starr projizierenden Expressive. Wie u.a. Schlenker (2013) an Beispielen aus dem Französischen und Englischen belegt, können appositive Relativsätze unter bestimmten Bedingungen eingebettet interpretiert werden. (25) a. If Peter called the Dean, who then called the Chair, I would be in trouble. b. ≠> The Dean called the Chair. c. => If Peter called the Dean and the Dean called the Chair, I would be in trouble. (adaptiert von Schlenker 2013: 5)
So drückt der appositive Relativsatz in (25a) nicht notwendigerweise aus, dass der Dekan bereits den Vorsitzenden angerufen hat, vgl. (25b). Dies würde man jedoch erwarten, wenn man annimmt, dass appositive Relativsätze starr global projizieren. Vielmehr scheint der Appositiv tatsächlich lokal interpretiert zu wer-
|| 5 Wie einer der Herausgeber zu Recht anmerkt, könnte der Kontrast in (24) auf das (Nicht-)Enthaltensein des Verbs im Ausgangssatz zurückzuführen sein. Wie das Beispiel in (i) zeigt, ist im Falle des Matrixsatzes, anders als im Falle des Expressivs, auch eine rein inhaltliche Zurückweisung möglich, ohne Rückgriff auf das Verb des Ausgangssatzes. (i) Peter vertraut dem Pfuscher. a. Nein. Er findet ihn ganz schrecklich. (Zurückweisung des Matrixsatzes) b. Nein. ??Er ist ein guter Arzt. (Zurückweisung des Expressivs)
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den und eine Lesart aufzuweisen, nach welcher der Sprecher nur dann in Schwierigkeiten stecken würde, falls Peter den Dekan anrufen würde und dieser dann zufälligerweise auch noch den Vorsitzenden anrufen würde, vgl. (25c). In diesem Fall scheint also der appositive Relativsatz unmittelbar in die Deutung der Wahrheitsbedingungen des ihn einbettenden Konditionalsatzes einzugehen. Anders als in den oben genannten Fällen mit Perspektivwechsel, vgl. (13) und (15), wird der Gesamtsatz in diesem Fall ungrammatisch, sobald der Appositiv in eine Parenthese (oder einen nachgestellten Matrixsatz) umgewandelt wird, da anders als im Appositiv das past tense in der Parenthese nicht durch den Konditionalsatz gebunden werden kann. Schlenker (2013) argumentiert daher dafür, dass appositive Relativsätze, anders als Parenthesen, tatsächlich eingebettet interpretiert werden können und in diesem Fall zum Wahrheitswert des Konditionals (also zu dessen At-issue-Gehalt) beitragen können. (26) a. If Peter called the Dean (*he then called the Chair), I would be in trouble. b. If Peter called the Dean, I would be in trouble. *He then called the Chair. Diese Beispiele stellen nicht nur ein ernsthaftes Gegenargument gegen zweidimensionale Theorien dar, die vorhersagen, dass Appositive immer projizieren müssen (Potts 2005), sondern werfen auch für eindimensionale Analysen interessante Probleme auf. Denn wenn Appositive prinzipiell einbettbar sind und in die wahrheitskonditionale Bedeutung des einbettenden Satzes eingehen können, stellt sich die Frage, weshalb sie in der Regel dennoch weiten Skopus nehmen und so oft unabhängig interpretiert werden. Schlenker (2013) beobachtet, dass die Einbettbarkeit nur möglich ist, wenn der Appositiv in einer satzfinalen Position zu seinem Bezugssatz (in diesem Falle also zu final zum Antezedens des Konditionals) steht und selbst bei finaler Stellung zum Bezugssatz vom Inhalt des Appositivs bzw. von dessen rhetorischer Relation (Asher & Vieu 2005; Holler 2005) zum Bezugssatz abzuhängen scheint. (27) a. If Peter called the Dean, who then called the Chair, I would be in trouble. b. *If Peter called the Dean, who hated me, I would be in deep trouble. c. *If the Dean, who then called the Chair, was called by Peter, I would be in deep trouble. (adaptiert von Schlenker 2013)
Während der Relativsatz in (27a) ein Ereignis beschreibt, das auf das im Antezedens beschriebene Ereignis folgt und somit in gewissen Sinne die NARRATION des Bezugssatzes weiterführt, so wird der Relativsatz in (27b) eine Erklärung (EXPLA-
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NATION) für die im Konditional geäußerte Annahme, dass der Sprecher in Schwie-
rigkeiten stecken würde, falls Peter den Dean anrufen würde (weil der nämlich den Sprecher hasst). Nur im ersteren Fall scheint eine eingebettete Lesart möglich. Diese Beobachtung ist insbesondere für das Deutsche interessant. So vertritt Holler (2005) die Annahme, dass es im Deutschen zwei syntaktisch verschiedene Typen nicht-restriktiver Relativsätze gibt, sogenannte „weiterführende" und „appositive“ Relativsätze,6 die sich unter anderem durch ihre Position und Diskursstruktur unterscheiden. Während „weiterführende“ Relativsätze in einer koordinierenden Diskursrelation zum Bezugssatz stehen (wie z.B. NARRATION oder RESULT), nehmen „appositive“ Relativsätze subordinierende Diskursrelationen zum Bezugssatz ein (wie EXPLANATION oder BACKGROUND).7 Handelt es sich bei den von Schlenker (2013) beobachteten Kontrasten also um Kontraste zweier strukturell verschiedener Typen nicht-restriktiver Relativsätze? Sind „weiterführende“ Relativsätze einbettbar und „appositive“ nicht? Poschmann (2018) geht dieser Frage in einer Reihe von Experimenten nach, in welchen sie die Verfügbarkeit eingebetteter Lesarten satzfinaler nicht-restriktiver Relativsätze im Deutschen überprüft. Dafür präsentiert sie Sätze wie (28) in Kontexten, in welchen die unabhängige (projizierende) Lesart explizit ausgeschlossen wurde. Die Teilnehmer sollten beurteilen, ob sich der jeweilige Testsatz, also z.B. (28a), als Teil einer Zusammenfassung der Kontext-Geschichte eignet.8 (28) [Gert wurde von einer Schlange gebissen und hat nur wenig Chancen zu überleben. Denn das Gift wirkt schnell tödlich. Wenn überhaupt, kann er nur noch Dr. Meier erreichen, der ganz in der Nähe wohnt. Ob dieser jedoch über das äußerst seltene Gegengift verfügt, ist mehr als ungewiss. Nur falls Dr. Meier ihm noch rechtzeitig das richtige Gegengift verabreicht, kann er gerettet werden.]
|| 6 Im Folgenden verwende ich die Begriffe „appositiv“ und „weiterführend“ in Anführungsstrichen, wenn sie im Sinne von Holler (2005) verwendet werden. Andernfalls beziehe ich mich mit appositiv auf nicht-restriktive Relativsätze im Allgemeinen. 7 Da koordinierende Diskursrelationen aber nur schwer satzintern verfügbar sind, ist eine satzfinale Position im Bezugssatz nahezu obligatorisch für weiterführende Relativsätze, während appositive Relativsätze sowohl intern als auch final zum Bezugssatz auftreten können (Holler 2005). 8 Insgesamt wurden 18 Testitems in einem pseudo-randomisierten Latin-square-Design getestet, so dass jeder Proband nur jeweils einen Satz pro Kontext vorgelegt bekam, insgesamt jedoch jede Kondition dreimal bewertet hat.
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a. Wenn Gert rechtzeitig Dr. Meier erreicht, der ihm das passende Gegengift verabreicht, kann er gerettet werden. (Relativsatz) b. Wenn Gert rechtzeitig Dr. Meier erreicht und der ihm das passende Gegengift verabreicht, kann er gerettet werden. (und-Konjunktion) c. Wenn Gert rechtzeitig Dr. Meier erreicht (der verabreicht ihm das passende Gegengift), kann er gerettet werden. (Parenthese) d. Wenn Gert rechtzeitig Dr. Meier erreicht, kann er gerettet werden. Der gibt ihm das passende Gegengift. (Juxtaposition) Projiziert der Relativsatz in (28a) bzw. nimmt er weiten Skopus über den Gesamtsatz, so besagt er, dass Gert gerettet ist, sobald er Dr. Meier erreicht, da dieser ihm dann in jedem Fall das Gegengift verabreicht wird. Dies ist jedoch nicht kompatibel mit dem Kontext, in dem explizit erwähnt wird, dass wir nicht wissen, ob Dr. Meier über das Gegengift verfügt und wir somit auch nicht wissen, ob Gert gerettet werden kann, selbst wenn er Dr. Meier erreicht. Ist für die Probanden nur eine solche projizierende Lesart verfügbar, sollten die Probanden den Relativsatz als inkompatibel mit dem Kontext zurückweisen, ebenso wie die Parenthese (28c) oder den nachgestellten Matrixsatz (28d). Nur unter einer lokalen Lesart, nach welcher Gert gerettet ist, wenn er Dr. Meier erreicht und dieser ihm (auch noch) das Gegengift gibt, sollte der Relativsatz mit dem Kontext kompatibel sein, vgl. (28b). Zusätzlich zum Satztyp wurde der Prädikatstyp des Relativsatzes variiert und Relativsätze mit state- und event-Prädikat getestet. Holler (2005) zufolge sind „weiterführende“ Lesarten weitgehend auf event-Prädikate beschränkt, während „appositive“ Relativsätze sowohl mit event- als auch mit state-Prädikaten verfügbar sind. (29) Wenn Gert rechtzeitig Dr. Meier erreicht, a. der ihm das passende Gegengift verabreicht, (Relativsatz/event) b. der über das passende Gegengift verfügt, (Relativsatz/state) kann er gerettet werden. Wie Poschmann (2018) belegt, können (satzfinale) nicht-restriktive Relativsätze im Deutschen tatsächlich eingebettet interpretiert werden. In diesem Fall tragen sie konjunktiv zum Wahrheitswert des Gesamtsatzes bei. Dabei werden nichtrestriktive Relativsätze signifikant häufiger eingebettet interpretiert als die vergleichbaren Parenthesen und nachgestellten Matrixsätze. Der Prädikats-Typ beeinflusst die Einbettbarkeit nicht-restriktiver Relativsätze. Jedoch sind eingebettete Lesarten mit state-Prädikaten nicht gänzlich ausgeschlossen. Fügt man in
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die Testsätze ein temporales dann oder kontrastives wider Erwarten ein und erzwingt somit eine koordinierende Diskursrelation (z.B. NARRATION und CONTRAST), verbessert sich die Einbettbarkeit von Relativsätzen auch mit state-Prädikaten. Dies deutet darauf hin, dass eingebettete Lesarten tatsächlich nur mit koordinierenden Diskursrelationen verfügbar sind. Die in Holler (2005) vertretene strukturelle Unterscheidung zwischen „appositiven“ und „weiterführenden“ Relativsätzen bietet jedoch nur bedingt eine Erklärung für das von Schlenker (2013) und Poschmann (2018) beobachtete unterschiedliche Projektionsverhalten. So nimmt Holler (2005) aufgrund von unabhängig motivierten Beobachtungen zu Position und Prosodie von nicht-restriktiven Relativsätzen an, dass „appositive“ Relativsätze auf DP-Ebene an ihr Bezugsnomen angebunden sind, während „weiterführende“ Relativsätze nur lose auf Diskursebene an ihren Bezugssatz angebunden sind. Demnach wäre jedoch erwartbar, dass „appositive“ und nicht „weiterführende“ Relativsätze einbettbar sind. Schlenker (2013) und Poschmann (2018) gehen daher davon aus, dass nichtrestriktive Relativsätze im Prinzip ein flexibles Skopusverhalten aufweisen, die Verfügbarkeit von lokalen Lesarten jedoch durch koordinierende Diskursrelationen verbessert werden kann. Auch in dieser Hinsicht scheinen sich Expressive (zumindest auf den ersten Blick) klar von Appositiven zu unterscheiden. Gleich wie tief ein Expressiv eingebettet ist und in welcher inhaltlichen Relation der expressive Gehalt des Gesamtsatzes steht, eine eingebettete Lesart scheint nicht verfügbar zu sein. Selbst wenn man in (30) versucht, eine kausale Relation zwischen dem Expressiv Pfuscher und dem Inhalt des Antezedens des Konditionals zu forcieren (wenn Dr. Meier sich nicht mit Schlangenbissen auskennt, dann ist er ein Pfuscher), lässt sich das Expressiv nicht eingebetten (30b), sondern nur unabhängig (30c) interpretieren. (30) a. Wenn Dr. Meier sich mit Schlangenbissen nicht auskennt und der Pfuscher Peter sterben lässt, haben wir wirklich Pech gehabt. b. ≠> Wenn Dr. Meier sich mit Schlangenbissen nicht auskennt und ein Pfuscher ist, der Peter sterben lässt, haben wir wirklich Pech gehabt. c. => Dr. Meier ist ein Pfuscher. Aufgrund dieser Daten scheint es fraglich, ob eine einheitliche Analyse oder Klassifizierung von Appositive und Expressiven trotz vieler Gemeinsamkeiten tatsächlich möglich und sinnvoll ist.
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4 Expressive in Appositiven Eine meines Erachtens weitere sehr interessante und bislang kaum beachtete Frage ist, was eigentlich passiert, wenn expressive Inhalte in einem appositiven Relativsatz auftauchen. Nehmen wir an, dass Appositive tatsächlich im Skopus flexibel sind, Expressive hingegen immer global projizieren, d.h. unabhängig interpretiert werden. Bedeutet dies, dass expressive Inhalte in einem Appositiv die Projektion des Relativsatzes erzwingen können? Die Beantwortung der Frage ist abhängig vom Typ des verwendeten Expressivs. Wie Gutzmann (2013) diskutiert, gibt es unterschiedliche Typen expressiver Ausdrücke und Konstruktionen. Während alle expressiven Inhalte zu projizieren scheinen, unterscheiden sich die unterschiedlichen Typen unter anderem darin, wie sie mit dem propositionalen Inhalt des Bezugssatzes interagieren. So bringen Interjektionen wie aua oder engl. ouch unmittelbar ein Schmerzgefühl des Sprechers zum Ausdruck, ohne einen Beitrag zum propositionalen Gehalt des Satzes zu machen. Diese Typen können daher auch unabhängig geäußert werden. Andere Typen von Expressiven hingegen sind funktional und fungieren selbst als Argument im propositionalen Gehalt des Matrixsatzes (wie Pfuscher oder Kraut). Ließe man Kraut in (32) entfallen, wäre der Satz ungrammatisch. Wieder andere benötigen zu ihrer eigenen Interpretation Material aus dem Bezugssatz als Argument (wie das Adjektiv verdammt oder Diskurspartikeln wie ja). So ist die Äußerung eines übrigens ohne Bezugssatz ebenfalls nicht interpretierbar. (31) a. Ouch, I’ve hit my thumb. b. truth-conditional: I’ve hit my thumb. c. expressive: I feel pain. (Gutzmann & Gärtner 2013: 7)
(32) a. Lessing was a Kraut. b. truth-conditional: Lessing was German. c. expressive: I dislike Germans. (Gutzmann & Gärtner 2013: 8)
(33) a. Webster schläft ja. b. truth-conditional: Webster is sleeping. c. expressive: ja (Webster is sleeping). (Gutzmann & Gärtner 2013: 8)
(34) #Übrigens/Offen gestanden/(...).
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Interessanterweise scheint der Typ des Expressivs Einfluss darauf zu haben, ob es, wenn es in einen appositiven Relativsatz gesetzt wird, eine Projektion erzwingen kann oder nicht. Ersetzen wir z.B. in den von Poschmann (2018) verwendeten Beispielen das auf Gert referierende Pronomen im Relativsatz durch das Expressiv Bastard, scheint die eingebettete Lesart immer noch verfügbar zu sein, vgl. (35a). Fügen wir hingegen eine Diskurspartikel wie ja oder übrigens ein oder ein Sprechaktadverb wie offen gestanden, bekommen die Sätze eine recht seltsame Lesart, vgl. (35b). Plötzlich scheinen sie zu besagen, dass Dr. Meier Gert in jedem Fall das Gegengift verabreicht, unabhängig davon, ob dieser ihn erreicht oder nicht.9 (35) a. Wenn Gert Dr. Meier erreicht, der dem Bastard das Gegengift verabreicht, ist Gert gerettet. b. ??Wenn Gert Dr. Meier erreicht, der ihm ja/übrigens/offen gestanden/leider das Gegengift verabreicht, ist Gert gerettet. Doch worin unterscheidet sich ein expressives Nomen wie Bastard von einer Diskurspartikel wie übrigens? Anders als z.B. Bastard ist die Interpretation von Diskurspartikeln und Sprechaktadverbien funktional. Sie nehmen die Proposition bzw. die Illokution ihres Bezugssatzes (in diesem Fall der appositive Relativsatz) als Argument. In diesem Fall scheint die Projektion des Appositivs tatsächlich erzwungen zu werden. Nun ist der Skopus von Diskurspartikeln und Sprechaktadverbien bekanntlich ebenfalls flexibel. So können Diskurspartikeln und Sprechaktadverbien nicht nur ganze Propositionen, sondern z.B. auch (nicht-restriktiv interpretierte) Adjektive modifizieren. In (36) bezieht sich die durch die Partikeln bzw. das Adverb ausgedrückte Sprechereinstellung nicht auf den Umstand, dass Dr. Meier Gert das Gegengift gibt, sondern auf den Preis des Gegengifts. In diesem Fall scheint die Anwesenheit der Partikel bzw. des Adverbs die Projektion nicht zu erzwingen.10
|| 9 Sätze wie (35b) lassen sich retten, wenn man ein zusätzliches dann einfügt oder ein konditionales würde verwendet, da dadurch eine modal subordinierte Lesart verfügbar wird. Modale Subordination jedoch ist auch mit nachgestellten Matrixsätzen oder Parenthesen möglich und somit klar weitskopig. (i) Wenn Gert Dr. Meier erreicht, der ihm dann ja/offen gestanden/übrigens/leider das Gegengift verabreicht/verabreichen würde, ist Gert gerettet. 10 Vielen Dank an Katja Jasinskaja (p.c.) für diesen Hinweis.
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(36) Wenn Gert Dr. Meier erreicht, der ihm das offen gestanden/leider/übrigens sehr teure Gegengift verabreicht, ist Gert gerettet. Dieses Verhalten erinnert stark an die Bedingungen in Adverbialsätzen (vgl. u.a. Antomo & Steinbach 2010). Adverbialsätze wie (37) erlauben sowohl eingebettete als auch weitskopige Lesarten, fügt man jedoch ein Sprechaktadverb ein, geht die lokale Lesart verloren. Nimmt das Sprechaktadverb jedoch nur engen Skopus (in diesem Fall über amateur), bleiben beide Lesarten erhalten, vgl. (39). Weitskopige Lesarten von Appositiven und Adverbialsätzen, bzw. deren Interpretation als selbständige Sprechakte, können von Expressiven offenbar nur dann erzwungen werden, wenn die durch das Expressiv ausgedrückte Sprechereinstellung die durch den Appositiv bzw. Adverbialsatz ausgedrückte Proposition als Ganzes betrifft. (37) a. Chloe was not chosen because she was dressed like an amateur (but because she danced like a star). b. Chloe was not chosen. Because she was dressed like an amateur. (Jasinskaja, in Vorb.: 24)
(38) a. *Chloe was not chosen because, frankly, she was dressed like an amateur but because she danced like a star. b. Chloe was not chosen. Because, frankly, she was dressed like an amateur. (adaptiert von Jasinskaja, in Vorb.: 24)
(39) a. Chloe was not chosen because she was dressed like, frankly, an amateur but because she danced like a star. b. Chloe was not chosen. Because she was dressed like, frankly, an amateur. (adaptiert von Jasinskaja, in Vorb.: 24)
Diskurspartikeln und Sprechaktadverbien werden oftmals als Test dafür verwendet, ob ein Relativsatz restriktiv oder appositiv ist (z.B. Jasinskaja in Vorb.; Koev 2013). So sind restriktive Relativsätze mit Diskurspartikeln ungrammatisch (vgl. die Diskussion in Poschmann & Wagner 2016), appositive Relativsätze hingegen erlauben Diskurspartikeln. (40) a. Der Wanderer, der ja Schneeschuhe trug, hat das Riemannhaus erreicht. (appositiv) b. *Jeder Wanderer, der ja Schneeschuhe trug, hat das Riemannhaus erreicht. (restriktiv) (Poschmann & Wagner 2016: 1037)
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Die Relativsätze in (35) sind jedoch ebenfalls klar appositiv. Dies ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass der Kopf des Relativsatzes ein Eigenname ist. Dennoch ist das Einfügen einer Diskurspartikel nur bedingt möglich. Das Einfügen von Diskurspartikeln ist strikt genommen also kein Test für Appositivität, sondern ein Test dafür, ob ein Satz über ein eigenes Illokutionspotential verfügt (bzw. über eine eigene „Force“, im Sinne von Lohnstein 2000). Die oben genannten Daten zeigen daher, dass appositive Relativsätze, ähnlich wie Adverbialsätze, potentiell ambig sind zwischen einer eingebetteten Interpretation und einer Interpretation als eigener Sprechakt. Sie können, aber müssen nicht über eine eigene Illokution verfügen. Forciert man jedoch eine Sprechaktinterpretation, projiziert der appositive Relativsatz notwendigerweise. Interessant ist in dieser Hinsicht auch der von Schlenker (2013) und Poschmann (2018) beobachtete Kontrast zwischen Appositiven und Parenthesen. Anders als z.B. Parenthesen, die im Deutschen über eine V2-Struktur verfügen, weisen appositive Relativsätze die für eingebettete Sätze typische Verbletzt-Stellung auf. Neben der Kompatibilität mit Diskurspartikeln gilt im Deutschen die V2-Stellung jedoch als Indiz für eine eigenständige illokutionäre Kraft (u.a. Lohnstein 2000; Truckenbrodt 2004). Dies mag mit ein Grund dafür sein, dass V2-Parenthesen anders als Appositive immer global interpretiert werden müssen (vgl. Abschnitte 3 und 4). Sprechakte nehmen in der Regel immer weiten Skopus (vgl. hierzu auch Beispiel (56)).11 Eine mögliche Erklärung dafür, wann und weshalb appositive Relativsätze projizieren, könnte daher wie folgt lauten: Appositive Relativsätze projizieren, wenn sie als eigene Sprechakte interpretiert werden.
5 Appositive, Sprechereinstellung und Projektion In der Regel wird angenommen, dass Appositive global interpretiert werden müssen, weil sie entweder syntaktisch auf CP-Ebene angebunden sind (Emonds 1979; McCawley 1982) oder semantisch auf einer anderen Dimension interpretiert werden (Potts 2005). Diese Ansätze sagen jedoch eine starre Projektion von Appositiven voraus. Nimmt man hingegen an, dass Appositive in ihrem Skopus ambig sind zwischen einer lokalen Interpretation als einfache Propositionen und einer globalen Interpretation als eigener Sprechakt (Schlenker 2013; Poschmann 2018), dann stellt sich die Frage, weshalb sie dennoch so häufig global projizieren und in vielen Fällen fast automatisch als eigene Sprechakte interpretiert werden.
|| 11 Vgl. Krifka (2002) für eine Gegenposition.
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Eine mögliche Erklärung hierfür könnte in der Tatsache begründet liegen, dass (zumindest satzinterne) nicht-restriktive Relativsätze in der Regel subordinierende rhetorische Relationen ausdrücken wie z.B. BACKGROUND oder EXPLANATION (Asher & Vieu 2005; Holler 2005), also vom Sprecher verwendet werden, um Hintergrundinformationen zu geben, die für das Verständnis der im Bezugssatz mitgeteilten Information hilfreich sein könnten, oder eine Begründung für eine Behauptung zu liefern.12 Subordinierende rhetorische Relationen (zumindest unmarkierte subordinierende Relationen)13 sind jedoch oftmals sprecherorientiert. Im Falle von EXPLANATION z.B. dient das zweite Argument als Begründung für das erste Argument. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Sprecher beide Argumente als wahr anerkennt. Dies könnte ein Grund dafür sein, dass der appositive Relativsatz in (41a) auch ohne Diskurspartikel eine starke Tendenz hat zu projizieren, und somit wie eine eigenständige Assertion interpretiert wird, vgl. (41b). (41) a. Wenn Gert Dr. Meier erreicht, der (ja) über das Gegengift verfügt, ist Gert gerettet. b. Wenn Gert Dr. Meier erreicht, ist Gert gerettet. Der verfügt (ja) über das Gegengift. Koordinierende Relationen sind hingegen nicht notwendigerweise sprecherorientiert. Eine Diskursrelation wie NARRATION Z.B. drückt zunächst lediglich eine temporale Folgebeziehungen zwischen Ereignissen aus. In diesem Fall sind lokale Interpretationen offenbar möglich. So ist der Relativsatz in (42a) im Prinzip ambig zwischen den Lesarten (42b) und (42c).14 Fügt man in (41a) statt der Diskurspartikel ja ein temporales dann ein, erzwingt man also eine koordinierende Diskursrelation, wird auch in diesem Fall eine Einbettung möglich (Poschmann 2018). (42) a. Wenn Gert Dr. Meier erreicht, der ihm dann das Gegengift verabreicht, ist Gert gerettet. b. Wenn Gert Dr. Meier erreicht, ist Gert gerettet. Der verabreicht ihm dann das Gegengift.
|| 12 Vielen Dank an Katja Jasinskaja (p.c.) für diesen Hinweis! 13 Siehe Jasinskaja (2007) für den Unterschied zwischen markierten und nicht-markierten rhetorischen Relationen. 14 Interessanterweise handelt es sich bei der weitskopigen Lesart (42b) strikt genommen um keine koordinierende Lesart, sondern ebenfalls um eine EXPLANATION.
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c. Wenn Gert Dr. Meier erreicht und der ihm dann das Gegengift verabreicht, ist Gert gerettet. Aber selbst koordinierende Diskursrelationen erlauben nicht notwendigerweise eine Einbettung. So markieren deshalb und also im Deutschen koordinierende Relationen (in der Regel RESULT), anders als deshalb ist also jedoch sprecherorientiert. Der Kontrast lässt sich wie folgt beschreiben. Während die mit deshalb markierte Relation sich in etwa mit „A, deshalb B“ beschreiben lässt, entspricht der Beitrag von also eher „A, und daher glaube ich B“. Intuitiv scheint deshalb eine lokale Interpretation des Relativsatzes zu erlauben (wenn Eva Max kritisiert und der sich deshalb ärgert), während dies mit also nicht möglich zu sein scheint, da also voraussetzt, dass der Grund für den Ärger von Max im Kontext global verfügbar ist, vgl. (43). Können wir also auf Information im vorausgehenden Kontext beziehen, wird die Äußerung angemessen, allerdings ist auch in diesem Fall nur eine globale Lesart des Relativsatzes verfügbar, vgl. (44). (43) Wenn Eva Max kritisiert, der sich deshalb/??also ärgert, haben wir ein Problem. (44) Die Sitzung hat 6 Stunden gedauert! Wenn wir Peter, der also ziemlich müde gewesen sein muss, gefragt hätten, ob er auf ein Bier mitkommt, hätte er bestimmt abgesagt. Diese Daten sprechen dafür, dass eingebettete Lesarten für Appositive im Deutschen nur mit Diskursrelationen verfügbar sind, die nicht sprecherorientiert sind.15 Sprecherbezug hingegen führt zu Projektion. Diese Beobachtungen werfen || 15 Diese Beobachtung erklärt unter Umständen auch die starke Präferenz globaler Lesarten von Appositiven. Denn befindet sich der Relativsatz satzintern in seinem Bezugssatz, sind ohnehin nur subordinierende Diskursrelationen verfügbar, da koordinierende Diskursrelationen nur satzfinal verfügbar sind. Zudem könnte es selbst bei satzfinaler Position des Relativsatzes eine starke Präferenz für subordinierende Diskursrelationen geben (Jasinskaja, in Vorb.). Anders als z.B. Adverbialsätze werden Relativsätze ohne overte Konjunktion an den Bezugssatz angeschlossen. In dieser Hinsicht ähneln sie nicht-koordinierten Parataxen, für welche ebenfalls subordinierende Diskursrelationen präferiert werden. So weist der zweite Satz in (i), ebenso wie der Relativsatz in (ii), typischerweise eine starke Präferenz auf, als Erklärung dafür interpretiert zu werden, weshalb Marie Ben gefeuert hat. Eine temporal koordinierende Diskursrelation ist zwar ebenfalls plausibel, muss aber in der Regel explizit markiert werden, vgl. (iii)–(iv) (vgl. Jasinskaja 2007). (i) Marie hat Ben gefeuert. Er trank zuviel. (EXPLANATION) (ii) Marie hat Ben gefeuert, der zuviel trank. (EXPLANATION)
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interessante Fragen auf für die Klassifikation von Appositiven und Expressiven und den Zusammenhang von Sprechereinstellung und Projektion. Denn auch Expressive sind natürlich stark sprecherorientiert.
6 Expressivität, Non-at-issueness und Projektion Traditionell wird als Ursache für die Projektion eines Inhalts bzw. einer Folgerung die Gegebenheit dieser Folgerung im globalen (Common Ground) oder lokalen (Einbettung) Kontext betrachtet (u.a. Stalnaker 1973; Karttunen 1973; Heim 1988). Grund hierfür sind Beobachtungen zur Projektion konventioneller Präsuppositionen in komplexen Sätzen (Karttunen 1973; Stalnaker 1974; Heim 1988). Präsupponiert ein Satz eine Proposition q, so ist die Äußerung dieses Satzes nur angemessen in Kontexten, in welchen q bereits als gegeben im Common Ground betrachtet werden kann, bzw. eine wechselseitig geteilte Annahme aller Diskursteilnehmer darstellt, vgl. (45). Befindet sich der Ausdruck, der die Präsupposition auslöst, in einem eingebetteten Kontext (unter dem Skopus eines Operators), kann die Präsupposition auch durch diesen lokalen Kontext erfüllt sein, vgl. (46). In diesem Fall erbt der Gesamtsatz die Folgerung nicht. Eine globale Interpretation (also Projektion) erfolgt immer dann, wenn die ausgelöste Präsupposition nicht im lokalen Kontext erfüllt ist, sondern im globalen Kontext als gegeben betrachtet werden muss, vgl. (47). (45) a. Der König von Frankreich ist glatzköpfig. b. => Es gibt einen König von Frankreich. (46) a. Wenn es einen König von Frankreich gibt, ist der König von Frankreich glatzköpfig. b. ≠> Es gibt einen König von Frankreich (47) a. Wenn der König von Frankreich glatzköpfig ist, trägt er eine Perücke. b. => Es gibt einen König von Frankreich.
|| (iii) Marie hat Ben gefeuert. Und er trank dann zu viel. (RESULT) (iv) Marie hat Ben gefeuert, der dann zu viel trank.
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Wie Potts (2005: 32–36) überzeugend darlegt, kann diese Erklärung jedoch nicht auf das Projektionsverhalten von appositiven und expressiven Folgerungen angewendet werden. Denn erstens projizieren Appositive und Expressive in der Regel auch aus Kontexten, die normalerweise Projektion blockieren, vgl. die Beispiele (10) und (11). Zweitens unterscheiden sich Appositive und Expressive von Präsuppositionen bezüglich ihrer Informativität. Anders als Präsuppositionen drücken Appositive und Expressive neue, nicht gegebene Information aus. Kontextgegebenheit hingegen führt, anders als bei Präsuppositionen, zumindest bei Appositiven unweigerlich zur Redundanz (Potts 2005; McCready 2010; Gutzmann 2015; Koev 2013). (48) Lance Armstrong survived cancer. #When reporters interview Lance, who is a cancer survivor, he often talks about his disease. (adaptiert von Potts 2005: 36)
Potts (2005) erklärt daher die Projektion von Appositiven und Expressiven nicht über Gegebenheit, sondern über die Unterscheidung von At-issue-Inhalten und Non-at-issue-Inhalten und mit der Annahme, dass diese in semantisch voneinander unabhängigen Dimensionen interpretiert werden (für eine vergleichbare Annahme, vgl. Gutzmann 2015). Appositive und Expressive projizieren demnach, da sie als Non-at-issue-Inhalte in einer anderen Dimension interpretiert werden als die wahrheitskonditionalen Operatoren des Bezugssatzes und für diese gleichsam unsichtbar sind. Eine solche zweidimensionale Semantik erlaubt jedoch zunächst nur eine starre, globale Projektion, nicht jedoch die Erfassung flexiblerer Projektionsdaten, wie sie für Präsuppositionen oder unter Umständen auch für Appositive charakteristisch sind. Daher ist es fraglich, ob sie sich als Modell für Projektion im Allgemeinen eignet. Non-at-issueness jedoch ist eine Eigenschaft, welche nicht nur Expressive und Appositive, sondern u.a. auch Präsuppositionen aufweisen, also genau jene Folgerungen, die ebenso wie Appositive und Expressive projizieren. So können auch Präsuppositionen nur schwer im Diskurs direkt zurückgewiesen werden (vgl. von Fintel 2008). (49) A: Der König von Frankreich hat eine Glatze. B: Nein. a. Er hat keine Glatze. (Zurückweisung Matrixproposition) b. #Es gibt keinen König von Frankreich. (Zurückweisung Präsupposition)
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In der neueren Literatur wird daher lebhaft diskutiert, ob die Ursache für die Projektion von Inhalten im Diskursstatus dieser Inhalte begründet liegen könnte. So argumentieren u.a. Simons et al. (2010) dafür, dass Inhalte immer dann projizieren, wenn ihr Inhalt non-at-issue ist.16 Anders als Potts (2005) definieren Simons et al. (2010) den Begriff Non-at-issueness pragmatisch. Demnach ist ein Inhalt nur dann at-issue, wenn er relevant ist für die Beantwortung der aktuellen Fragestellung im Diskurs (QUD).17 Doch auch diese, wenngleich wesentlich flexiblere Definition von Non-at-issueness kann das Projektionsverhalten von Appositiven und Expressiven nur unzureichend erfassen (vgl. u.a. die Diskussion in Koev 2013). So eignen sich Appositive oder Expressive, wie in Abschnitt 2 gezeigt, nur schlecht zur direkten Beantwortung von Fragen, zumindest wenn der Matrixsatz selbst für die Beantwortung der Frage irrelevant ist. Als partielle Antworten sind Appositive und Expressive zwar angemessen, aber auch in diesem Fall scheint der Zusammenhang zwischen Projektion und aktueller QUD im Diskurs nur recht indirekt zu sein. Denn wie Simons et al. (2010) selbst einräumen, projizieren Appositive und Expressive typischerweise sogar, wenn sie unmittelbar die aktuelle Fragestellung im Diskurs betreffen. (50) Q: Who’s coming to the dinner tonight? A: Well, I haven’t talked to Charles, who probably won’t be able to come, but I did talk to Sally, who is coming. (Simons et al. 2010: 323)
(51) Q: What do you think of Bill? A: I’ve never met the son-of-a-bitch. (Simons et al. 2010: 323)
|| 16 Definition von Question under discussion (QUD) (Simons et al. 2010: 323, adaptiert von Ginzburg 1996): a. QUD: A partially ordered set that specifies the currently discussable issues. If a question q is maximal in QUD, it is permissible to provide any information specific to q using (optionally) a short answer. b. QUD update: Put any question that arises from an utterance on QUD. c. QUD downdate: When an answer a is uttered, remove all questions resolved by a from QUD. 17 Relevanz bezüglich einer QUD definieren Simons et al. (2010: 316) wie folgt: a. An assertion is relevant to a QUD if it contextually entails a partial or complete answer to the QUD. b. A question is relevant to a QUD if it has an answer which contextually entails a partial or a complete answer to the QUD.
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Simons et al. (2010) schließen daraus, dass Appositive und Expressive linguistisch als Non-at-issue-Bedeutungen markiert sind und daher notwendigerweise projizieren.18 Dies stellt jedoch nicht nur die von Simons et al. (2010) eigentlich verfochtene pragmatische Definition von At-issueness in Frage, sondern führt auch zu der Annahme, dass Appositive und Expressive immer non-at-issue sind und immer stark projizieren. Wie wir gesehen haben, sind aber zumindest im Falle von Appositiven der Diskursstatus und der Skopus durchaus flexibel. Dennoch scheint der Diskursstatus nicht notwendigerweise Einfluss auf den Skopus des Relativsatzes zu nehmen. In diesem Zusammenhang sind meines Erachtens die oben gemachten Beobachtungen zum Zusammenhang zwischen Sprecherbezug und Projektion bei Appositiven interessant. Wie wir gesehen haben, projizieren Appositive, sobald sie sprecherorientiert bzw. als eigene Sprechakte interpretiert werden. Auch Expressive weisen einen starken Sprecherbezug auf. Im Falle expressiver Adjektive wie verdammt besteht der Beitrag des Adjektivs sogar ausschließlich im Ausdruck einer Sprechereinstellung. Lässt sich ein Zusammenhang zwischen Sprecherorientiertheit und den anderen Eigenschaften von Expressiven und Appositiven finden? Vergleichen wir dazu Projektion und Diskursstatus sprecherorientierter Bedeutungsanteile bei Expressiven, Appositiven und Sprechakten. Ähnlich wie bei expressiven Ausdrücken ist bei Sprechakten zwar der propositionale Gehalt der Äußerung, nicht aber die Sprechereinstellung selbst anfechtbar. So führt z.B. Kaufmann (2012) die starke Performativität von Imperativen, und damit ihre schlechte Zurückweisbarkeit, auf die Tatsache zurück, dass der Sprecher eine maximale Autorität bezüglich seiner eigenen Einstellungen hat. Ähnlich wie der subjektive Inhalt bei Expressiven können die Sprechereinstellungen im Falle von Sprechakten daher nicht angefochten werden, lediglich der propositionale Gehalt, auf den sich diese Einstellungen beziehen. (52) a. Da bellt schon wieder dieser verdammte Hund. b. Nein, macht er nicht. c. #Nein, ist er nicht.
|| 18 Simons et al. (2010: 323): „This is how linguistic marking of at-issueness status comes to affect projection: if some proposition is linguistically marked as not-at-issue, then, as long as the resulting interpretation is felicitous in other respects, the addressee will take it that the speaker does not intend to address the QUD via that proposition.“
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(53) a. Gib mir das Buch! b. Nein. Das mach ich nicht. c. Nein. #Das befiehlst Du nicht. Von Projektion betroffen scheinen ebenfalls jeweils diejenigen Teile einer Äußerung, die Sprechereinstellungen unterliegen, wie der sprecherorientierte Gehalt expressiver Ausdrücke oder die Sprechereinstellung eines Sprechakts. (54) a. Nie schläft dieser verdammte Hund. b. => Der Hund schläft nicht. c. ≠> Nie ist der Hund verdammt. (55) a. Nie schläft dieser Köter. b. => Der Hund schläft nicht. c. ≠> Ich mag diesen Hund nicht. (56) a. Geh nicht! b. => Du sollst nicht gehen. c. ≠>Ich fordere dich nicht auf, zu gehen. (adaptiert von Kaufmann 2013: 689)
Eine treibende Kraft für die Nicht-Zurückweisbarkeit und Projektion von Inhalten könnte folglich in ihrem starken Sprecherbezug liegen, bzw. in ihrer Eigenschaft, Sprechereinstellungen zu kommunizieren und nicht Sachverhalte zu beschreiben.19 Anders als im Falle von Expressiven ist der Inhalt von Appositiven jedoch wahrheitskonditional. Der Inhalt eines Appositivs drückt nicht notwendigerweise Emotionen oder Sprechereinstellungen aus, sondern kann jegliche Art von Sachverhalt beschreiben. Daher kann es kaum überraschen, dass Appositive, anders als Expressive, zumindest in satzfinaler Position durchaus zurückgewiesen werden können. Dass Appositive satzintern schlechter zurückgewiesen werden können, kann eventuell durch Reihenfolge-Effekte erklärt werden (vgl. die Diskussion dazu in Koev 2013), die in ähnlicher Weise auch mit unabhängigen Matrixsätzen auftreten.
|| 19 Gutzmann (2013: 33): „Independence (projection) follows directly from the fact that use-conditional meaning is not truth-conditional meaning.“
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(57) a. Emma trifft sich bestimmt mit Peter, der gerade in der Stadt ist. b. Nein, ist er nicht. c. Nein, macht sie nicht. (58) a. Peter, der gerade in der Stadt ist, trifft sich bestimmt mit Emma. b. Nein, macht er nicht. c. #Nein, ist er nicht. (59) a. Peter ist gerade in der Stadt. Er trifft sich bestimmt mit Emma. b. #Nein, ist er nicht. c. Nein, macht er nicht. (60) a. Emma trifft sich mit Peter. Der ist gerade in der Stadt. b. #Nein, macht sie nicht. c. Nein, ist sie nicht. Auch können Appositive aufgrund ihres wahrheitskonditionalen Inhalts in die Deutung des Gesamtsatzes eingehen und lokal interpretiert werden. Projiziert wird, wenn der Beitrag des Appositivs als sprecherorientiert bzw. als eigener Sprechakt interpretiert wird.20 Dies wirft meines Erachtens nach interessante Fragen in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Sprechereinstellung und Projektion bzw. zwischen Expressivität und Projektion auf. Kann Projektion von Expressiven, Appositiven und Sprechakten über Sprecherorientiertheit erklärt werden? Sind Sprechereinstellungen expressiv? Können wir z.B. auch im Falle von Präsuppositionen Projektion auf Sprechereinstellungen zurückführen? Immerhin spielt auch bei globalen Präsuppositionen die Annahme von geteiltem Wissen von Sprecher und Adressat(en) eine Rolle. Diese Fragen gehen jedoch weit über den Rahmen dieses Beitrags hinaus und hängen stark vom jeweiligen Konzept bzw. der jeweiligen Analyse von Expressivität und Sprecherorientiertheit ab.
|| 20 Zur Annahme, dass Appositive aufgrund von Sprecherorientiertheit bzw. von „Force“ projizieren, vgl. u.a. die Analyse in Koev (2013).
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7 Zusammenfassung In der Regel weisen Appositive typische Eigenschaften expressiver Bedeutungen auf, insbesondere in Bezug auf Projektion und Diskursstatus. Anders als bei expressiven Bedeutungen ist der Inhalt von Appositiven jedoch wahrheitskonditional. Dies hat weitreichende Konsequenzen für sein Projektionsverhalten und seine Zurückweisbarkeit im Diskurs. Appositive denotieren in erster Linie Propositionen. Diese sind, anders als expressive Inhalte, zumindest in satzfinaler Stellung zurückweisbar. Auch können sie in einigen Fällen lokal in die Deutung des Gesamtsatzes eingehen. Solch lokalen Lesarten sind jedoch nur verfügbar, solange der Sprecher keine Einstellung bezüglich des Appositivs ausdrückt. Verwendet der Sprecher den Appositiv als eigenen Sprechakt, projiziert der Relativsatz notwendigerweise. Expressiv ist somit nicht der Inhalt des Appositivs, sondern nur seine typische Verwendung als selbständiger Sprechakt.
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Daniel Gutzmann & Katharina Turgay
Der Moment, wenn dir klar wird, dass es expressive Nebensätze gibt Zur Syntax und Semantik der expressiven Nebensatzkonstruktion Abstract: Dieser Beitrag beschreibt eine bisher nicht untersuchte Konstruktion,
die sich in den letzten Jahren vor allem in den sozialen Medien verbreitet hat und eine neue Form der Situationsdarstellung bei gleichzeitigem Gefühlsausdruck darstellt. Diese Konstruktion besteht aus einer NP – vornehmlich temporal-referentielle Ausdrücke wie der Moment, der Augenblick, manchmal auch das Gefühl – und einem attributiven Nebensatz wie in Der Moment, wenn einem klar wird, dass morgen Montag ist. Diese Konstruktion erfüllt eine Doppelfunktion: Zum einen wird eine Situation dargestellt, zum anderen wird dadurch ein spezifisches Gefühl ausgedrückt, welches durch die jeweilige, beschriebene Situation ausgelöst wird. (Um welches spezifische Gefühl es sich handelt, muss durch Kontext- und Weltwissen erschlossen werden.) Wichtig dabei ist, dass beide Aspekte nicht assertiert, sondern im Sinne Kaplans (1999) expressiv zum Ausdruck gebracht werden. Da der nominale Anker nur wenig zu der Gesamtbedeutung beiträgt und auch weggelassen werden kann, wird die Situations- und Gefühlsdarstellung primär durch den Nebensatz geleistet, weshalb wir von einer expressiven Nebensatzkonstruktion (kurz ENK) sprechen. In diesem Beitrag dokumentieren wir die Syntax und Semantik der ENK mit authentischen Belegen und stellen einen ersten Versuch einer Analyse vor.
1 Einleitung Informelle Sprachvarietäten wie beispielsweise Jugendsprache (Androutsopoulos 1998; Bahlo 2010; Neuland 2008), Kiezdeutsch (Wiese 2012), Chatkommunikation (Albert 2013) oder Sprache in den sozialen Medien (Schlobinski 2006) sind im Vergleich zu eher formeller Sprache reich an sprachlichen Innovationen; insbesondere was die sprachlichen Mittel der Expressivität betrifft. Expressivität als semantisches Konzept hat in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren zunehmend Eingang in die linguistische Forschung erhalten. Während Expressivität bereits als die sogenannte „Ausdrucksfunktion“ der Sprache bei https://doi.org/10.1515/9783110630190-011
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Bühler (1999 [1934]) zu finden ist und bei Jakobson (1979 [1960]) explizit diskutiert wird, war für die formal orientierte Linguistik vor allem Kaplans (1999) Manuskript zur Bedeutung von „ouch and oops“ sehr einflussreich. Nach Kaplan ist expressive Bedeutung ein bestimmter Ausdrucksmodus („mode of expression“), der sich fundamental von sogenannter deskriptiver Bedeutung unterscheidet. Deskriptive Bedeutung beschreibt und kann entsprechend wahr oder falsch sein. Für expressive Bedeutung hingegen, die eher darstellt („displays“) und ausdrückt („expresses“), ist es laut Kaplan nicht sinnvoll, zu fragen, wann sie wahr ist (bzw. welchen Beitrag sie zu den Wahrheitsbedingungen einer Äußerung macht). Stattdessen wird ihre Bedeutung durch die Bedingungen ihres Gebrauchs bestimmt. Kaplans Manuskript, das bis dato immer noch nicht veröffentlicht ist, hat zu zahlreichen Arbeiten zu semantischen und pragmatischen Phänomenen geführt, die viele charakteristische Eigenschaften von expressiven Ausdrücken ausgearbeitet haben.1 In diesem Beitrag wollen wir eine bisher in der linguistischen Literatur nicht diskutierte expressive Konstruktion untersuchen, die insbesondere in den sozialen Medien breite Verwendung findet. Diese Konstruktion besteht aus einer definiten DP, die typischerweise das Nomen Moment enthält, welches durch einen attributiven Nebensatz ergänzt wird. (1) Der Moment, wenn du um 3 Uhr nachts heimkommst und dir einfällt, dass du noch ’ne Packung Kekse hast. Diese Konstruktion, die wir expressive Nebensatzkonstruktion (ENK) nennen, wird dazu verwendet, ein relativ spezifisches Gefühl zum Ausdruck zu bringen, indem in dem Nebensatz das gefühlsauslösende Ereignis dargestellt wird. Durch ihre Kürze und den Eindruck der Unmittelbarkeit, der aus dem expressiven Charakter folgt, ist sie besonders in den sozialen Medien verbreitet oder in anderen interaktiven Kommunikationsformen, wie privaten Chats oder Kurznachrichten oder Kommentaren in Webforen.2 Besonders an der Konstruktion ist, dass sie für sich genommen eine komplette Äußerung (oder genauer genommen einen „Post“) darstellt und dabei nicht als Ellipse einer elaborierten Form verstanden werden kann. || 1 Für einen Überblick siehe Gutzmann (2013) und die Referenzen darin. Hier eine kleine Auswahl für das Deutsche: d’Avis & Meibauer (2013); Bücking & Rau (2013); Gutzmann & Turgay (2016); Meibauer (2007, 2013). 2 Da traditionellere Medien wie Printmedien oder deren Entsprechungen im Web weder durch Interaktivität noch durch Unmittelbarkeit ausgezeichnet sind und auch nicht starken Längenbeschränkungen wie Twitter unterliegen, kommen ENKs hier kaum bis gar nicht vor und wenn, dann meist in Form von eingebetteten Tweets.
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Ziel dieses Aufsatzes ist es, die ENK und ihre syntaktischen und semantischen Eigenschaften im Detail zu beschreiben, da sie bisher noch nicht diskutiert wurde, sowie einen ersten Vorschlag zu ihrer Analyse zu machen. Dazu werden wir zunächst in § 2 die syntaktischen Eigenschaften der ENK ausführlich dokumentieren. Soweit nicht anders angemerkt, handelt es sich bei den verwendeten Beispielen um authentische Beispiele, die wir durch einfache Suchen auf Twitter gefunden haben (wir übernehmen Schreibung und Interpunktion). Dies hat den praktischen Grund, dass sich Twitter, im Gegensatz zu anderen sozialen Medien, durchsuchen lässt, was es uns ermöglichte, leicht das Vorkommen bestimmter Formen und Varianten der ENK, wie wir sie in § 2 beschreiben, zu überprüfen. Vertreten ist die ENK jedoch in allen neuen Medien.3 In § 3 diskutieren wir dann die semantischen und pragmatischen Aspekte, bevor wir in § 4 eine mögliche Analyse der Syntax und Semantik der ENK skizzieren.
2 Syntax der expressiven Nebensatzkonstruktion In diesem Abschnitt soll die Grammatik der ENK beleuchtet werden. Dazu gehen wir in 2.1 zunächst auf den etwaigen Anker ein, bevor wir in 2.2 den expressiven Nebensatz an sich betrachten. Dies hat zunächst einmal die Funktion, die ENK zu dokumentieren. Einige der beschriebenen Aspekte werden auch für die spätere Analyse relevant sein.
2.1 Syntax des Ankers Der am häufigsten auftretende Fall ist der, in dem eine definite DP mit Moment den Anker der ENK bildet. Dabei liegt als Determinierer meist der einfache definite Artikel der vor. (2) a. Der Moment, wenn dir bewusst wird, dass morgen ein Feiertag ist und du ausschlafen kannst. b. Der Moment, wenn dir bewusst wird, dass dein aktueller Story-Ordner „Stories 15-16“ heißt, es aber ja schon 2017 ist…
|| 3 Die Twittersuche diente insbesondere dazu, die sprachlichen Intuitionen, die wir über die Konstruktion haben, zu überprüfen und mit authentischen Beispielen zu belegen. Eine systematisch vorbereitete und durchgeführte Korpuserstellung und -auswertung müssen wir an dieser Stelle zukünftigen Arbeiten überlassen.
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Daneben ist auch ein demonstrativer Artikel möglich, üblicherweise dieser (seltener jener), wobei es sich um eine anamnestische Verwendung handelt (Himmelmann 1996, 1997; Molnár 2010), da suggeriert wird, dass die Adressatin eine derartige (oder ähnliche) Situation erlebt hat. (3) a. Dieser Moment, wenn der Arsch einfach zu fett ist um ein kleid anzuziehen. b. Dieser Moment, wenn du deine Handtasche so packst, dass alles genau reinpasst und du in der Bahn dann etwas brauchst. c. Jener Moment, wenn beim Raid nur ein Ring für dich droppt, den du nicht gebrauchen kannst. Darüber hinaus können selten auch plurale DPs attestiert werden. (4) a. Diese Momente, wenn dir klar wird, das du jetzt 1 Problem mehr hast… b. Die Momente, wenn ich mich in ein Schreibmonster verwandele und am Ende nur dasitze und denke: What just happened? Nicht attestieren lassen sich indefinite Artikel sowie Quantoren, was auch unserer Intuition entspricht, dass diese Strukturen ungrammatisch sind. (5) a. *Ein Moment, wenn dir bewusst wird, dass morgen ein Feiertag ist und du ausschlafen kannst. b. *Jeder Moment, wenn dir bewusst wird, dass morgen ein Feiertag ist und du ausschlafen kannst. c. *Alle Momente, wenn dir bewusst wird, dass morgen ein Feiertag ist und du ausschlafen kannst. Auch wenn Moment den häufigsten Anker darstellt, finden sich wenige Beispiele, bei denen das Nomen Augenblick verwendet wird. Dabei treten sowohl definite Artikel als auch Demonstrativpronomen auf. (6) a. Dieser Augenblick, wenn man glaubt, einen guten, niveauvollen Witz gemacht zu haben, und niemand geht darauf ein. b. Dieser Augenblick, wenn bei @NetflixDE die 2. Staffel von Outlander endlich verfügbar ist und dann fehlen da einfach drei Episoden... c. Der Augenblick, wenn dir nach der Prüfung alles egal ist. d. Der Augenblick, wenn man mit einem neuen Buch beginnt.
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Aber auch Gefühl kann als Anker der ENK dienen. (7) a. Dieses Gefühl, wenn man Ed Sheeran bei #GamesOfThrones sieht. (2x!!) b. Dieses Gefühl, wenn es ohne seine Schulter einfach nirgends mehr bequem ist... c. Dieses Gefühl, wenn man am Flughafen ankommt, die ersten Sonnenstrahlen einfängt und das Urlaubsfeeling einsetzt. Die DP kann auch um ein Adjektivattribut erweitert werden, was vor allem dann vorkommt, wenn Gefühl der Anker ist. (8) a. Dieser peinliche Moment, wenn ich eine Geburtstagserinnerung bekomme und beim besten Willen nicht mehr weiß, wer diese Person ist. b. Der komische Moment, wenn man in einem Seminar hockt und einfach keinen kennt. c. Der geile Moment, wenn die Schmerzmittel endlich wirken. d. Der komische augenblick wenn dein mett brötchen nach chicken mcnuggets schmeckt. e. Der tolle augenblick, wenn du durst hast, und noch was neben dieinem schreibtisch steht. f. Dieses geile Gefühl, wenn du bemerkst, dass du das Wochenende nicht mit Lernen verbringen musst, da du schon alle Arbeiten geschrieben hast! g. Dieses befriedigende Gefühl, wenn man mit seiner Playlist die ganze Gruppe glücklich macht. h. Dieses einsame Gefühl, wenn dein Kommentar nur likes bekommt, aber niemand mit dir diskutieren mag. i. Dieses eklige Gefühl wenn man realisiert, dass die Person, die man nicht nur mag, nicht die gleichen Gefühle für einen empfindet. j. Dieses sehr strange Gefühl, wenn du den Mann anrufst und er dir erzählt, dass seine Familie gerade über deine Bücher diskutiert. Dabei ist das Adjektiv meistens evaluativ, sowohl positiv als auch negativ. Darauf gehen wir an späterer Stelle noch genauer ein. Darüber hinaus kann die DP auch um ein temporales Präpositionalattribut mit der Präposition während erweitert werden. (9) Der Moment während der ersten Töne eines Konzertes, wenn Du erkennst, dass die nächsten zwei Stunden echt klasse werden.
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In vielen ENKs kann der Anker jedoch auch ausgelassen werden. (10) a. Wenn dir bewusst wird, dass du nur noch 2 Wochen Ferien hast. b. Wenn dir klar wird, dass du den Backofen morgen nur noch mit Napalm sauber kriegen wirst... Dies zeigt, dass die eigentliche expressive Bedeutung vor allem durch den attributiven Nebensatz zum Ausdruck gebracht wird. Der nominale Anker dient lediglich dazu, das ausgedrückte Gefühl temporal zu verorten und damit als Referenz verfügbar zu machen. Eine weitere interessante Beobachtung ist das Vorkommen von Sprachmischungen, wie in (11). In diesen Beispielen handelt es sich um einen englischen Anker oder zumindest ein englisches Demonstrativpronomen. Aufgrund der Gleichschreibung von Moment im Deutschen und Englischen ist nicht klar, ob auch das Nomen aus dem Englischen übernommen wurde, wobei die Großschreibung auf den deutschsprachigen Ausdruck hindeutet. (11) a. That Moment, wenn du einfach mal keine Zeichen Skills mehr hast xD b. That Moment, wenn du von nem 15“ pro maxed out auf nen low entry 13“ Gerät wechselst und einfach glücklich bist. c. That Moment: Wenn man beim Arzt sitzt und einfach nicht klar kommt, weil es so lange dauert.
2.2 Externe Syntax Nachdem im letzten Abschnitt der Anker der ENK fokussiert wurde, betrachten wir im Folgenden den Nebensatz an sich. Bei den Nebensätzen handelt es sich um Attributsätze, die meist temporal zu verstehen sind. Üblicherweise werden diese mit wenn eingeleitet, es liegen aber auch Beispiele vor, bei denen Relativsätze mit in dem eingeführt werden. (12) a. Dieser Moment, wenn man ne wichtige mail verschickt und sie vorher gefühlt 1000x durchliest, damit ja kein Fehler drin ist. b. Dieser Moment, in dem du deinen Regenschirm suchst und ca. 3x daran vorbei läufst bevor du ihn siehst, weil er auf dem Küchentisch liegt. c. Der Moment in dem man sich mal wieder fragt ob die anderen scheiße sind oder man selbst einfach unfähig.
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Seltener werden die Relativsätze auch mit an dem, bei dem oder auch während eingeführt. (13) a. Der Moment an dem dir bewusst wird dass du schleichend zugenommen hast. b. Der Moment, an dem man den Gesundheitszustand mit den Entwicklungen am Arbeitsplatz in Verbindung bringt, und den inneren Aufruhr spüren kann. c. Der Moment bei dem man feststellt, das beide Elternteile in der Midlife crisis stecken. d. Der Moment, bei dem man sich große Sorgen um die deutsche Sprache machen muss. e. Der Moment während du im Meeting dein Handout aus der Tasche ziehst und ein paar Halterlose Strümpfe auf den Tisch fallen... WTF Als weitere nebensatzeinleitende Elemente können auch das Relativadverb wo sowie die temporale Subjunktion nachdem dokumentiert werden: (14) a. Der Moment wo du freudig nach Hause kommst und halt weder DHL noch Hermes da war, rip me xD b. Der Moment wo man ein Video fertig geschnitten/hochgeladen hat aber noch nicht freigeben kann. c. Der Moment wo du beim Gig ankommst und hörst, dass das Mischpult am Morgen geklaut wurde... (15) a. Der Moment, nachdem man eine großartige Geschichte gelesen hat und total traurig ist, weil es schon vorbei ist. b. Der Moment, nachdem 1 sich durch einen chinesischen Text gequält hat und ZUFÄLLIG die englische Übersetzung findet. c. Der Moment, nachdem man eine Stunde lang singend durch die WG läuft und bemerkt, dass die Mitbewohnerin doch noch da ist. An dieser Stelle sei angemerkt, dass bei Auslassung der Anker zwar die Subjunktionen während und nachdem den Nebensatz einleiten können, bei Relativpronomen (mit Präposition) scheint jedoch eine Beschränkung vorzuliegen: Beispiele wie in (16c) konnten wir nicht attestieren.
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(16) a. Während du bei Sonnenschein auf der Terrasse mit der Familie Bier und Wein trinkst und am gegenüberliegenden Berg eine Lawine abgeht. b. Nachdem du dir alle Songs von ApoRed angehört hast. c. *An dem dir bewusst wird dass du schleichend zugenommen hast. Wie die Beispiele bisher gezeigt haben, enthalten die Attributsätze in der Regel ein Pronomen im Singular. Dies ist entweder ein nominativisches Personalpronomen in der 2. Person (17) oder das indefinite Pronomen man (18). (17) a. Dieser Moment wenn du beim Matratzen Concord reinläufst am einen Tag im Jahr, wo es keinen Ausverkauf gibt. b. Der moment wenn du ein Loch in den Boden Bohrst und eine Wasserleitung Triffst und den übelsten Headshot kriegst xD (18) a. Der Moment, wenn man merkt, dass gleich 3 Kameraakkus gleichzeitig leer sind und die Sonne gerade untergeht. b. Dieser Moment, wenn man mit dem Pennyboard hin fällt und seine Hose kaputt gegangen ist... Auch das Personalpronomen der 1. Person im Nominativ tritt in unseren Daten auf. Dies kann sowohl im Singular als auch im Plural der Fall sein. (19) a. That Moment wenn ich in so eine blöde Ferien Freizeit muss und man sein Handy nicht mitholen darf... b. Dieser moment wenn ich in voll spame und er keine nachricht ließt. c. Der Moment, wenn ich mit meiner Mutter auf dem Sofa fernsehe und wir beide bei der Durex Werbung einfach nur laut lachen. d. Der Moment, wenn ich erneut realisiere, dass ich Ferien habe. e. Dieser Moment wenn ich mich erwachsener fühle als ein erwachsener Politiker. f. Dieser Moment wenn wir beide deutsch können aber trotzdem auf Englisch schreiben omg g. Dieser Moment wenn wir in Brüssel übel das timeluck haben und aussteigen (sind schwarz gefahren) und dann die Kontrolleurin kommt haha. h. Dieser Moment wenn wir schreiben weil es zu unangenehm ist laut im Kino zu reden. i. Dieser Moment wenn wir fast random in der gleichen Stadt sind. j. Dieser Moment wenn wir nebeneinander liegen und still unser Twitter scouten.
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k. Dieser Moment wenn wir beide dass selbe geschrieben haben und ich es nichtmal bemerk. Neben dem Personalpronomen im Nominativ existieren auch Beispiele, bei denen das Personalpronomen der 2. Personal Singular im Dativ vorkommt. (20) a. Dieser wunderschöne Moment, wenn dir ein volles Senfglas auf die Zehen fällt. b. Dieser Moment, wenn dir dein Handy runter fällt und du einfach nur betest, dass es nicht gerissen ist. c. Dieser Moment wenn dir einfällt dass du noch Pizza im Gefrierschrank hast. Häufig wird nach dem Relativpronomen oder der Subjunktion eine NP verwendet. Dabei tritt am häufigsten ein Nomen mit einem Possessivpronomen der 2. Person Singular auf. (21) a. Wenn deine Eltern bald eine Woche weg sind. b. Wenn deine fernen verwandten 500sten grades zu besuch kommen und du so tun musst als würdest du sie kennen. c. Dieser Moment, wenn deine Freunde schon Sommerferien haben, du aber noch nicht. d. That moment, wenn deine Mama mit einem Nudelholz ums Haus rennt... Auch NPs mit einem Possessivpronomen der 1. Person im Singular sind in den Daten zu finden. (22) a. Dieser Moment wenn mein 65 jähriger Patient nachts um 1 Uhr auf dem Stationsflur hockt und Hearthstone zockt. b. Dieser Moment wenn mein Vater die Polizei anrufen will, aber die Nummer nicht weis und dann „112“ wählt. c. Dieser Moment wenn mein Vater mir sein Handy in die Hand drückt weil er nix so hinbekommt wie er will, und ich das in 10 Minuten hinkriege. d. That Moment wenn meine 2Brüder (20&19) und deren Freunde anfangen alte Folkslieder mitzugrölen im zimmer gegenüber während man Schlafen will. Die NP referiert zwar meist auf belebte Entitäten, kann aber auch einen Bezug auf unbelebte Dinge haben.
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(23) a. Dieser Moment, wenn dein PC wieder GRUNDLOS LANGSAM IST UND DU DESWEGEN NICHT ZOCKEN KANNST, WEIL ES LAGGT WIE SAU !#?%#!! b. Dieser Moment, wenn dein Internet abkackt, während du Tote Mädchen Lügen nicht guckst. c. Dieser Moment wenn mein zug um 21:09 geht. d. Dieser Moment wenn mein Ladekabel bei Nora ist, mein Handy 17% hat und die Powerbank nur einen Strich übrig hat. Dabei sind die Determinierer sowohl Possessivpronomen der 1. und 2. Person Singular (23), können sich aber auch auf die 3. Person beziehen (24). Dies kann auch indefinit erfolgen (24f). (24) a. Der Moment wenn ihre Mutter sie vor mir „dein Mädchen“ nennt b. Dieser Moment wenn ihre Mitbewohnerin ruft: „Geht das auch leiser?“ :x c. Die peinlichen Moment, wenn Ihre Krawatte ist mehr wert als einer Mietwohnung. d. Der Moment, wenn ihre WhatsApp Nachricht mit „Wolltest du nicht ...“ anfängt… e. Der Moment wenn seine zeichnung dir direkt in die Seele starrt. f. Das Gefühl, wenn andere deine Stimme auf Band gesprochen hören. Und du dabei anwesend bist. DAS. Die unbelebte NP kann allerdings auch einen einfachen definiten Artikel als Determinierer aufweisen, auch wenn die Variante mit einem Possessivpronomen häufiger ist. Dabei handelt es sich meist um sog. weak definites (Aguilar-Guevara 2014; Carlson et al. 2006). (25) a. Dieser Moment wenn das Auto 4h in der Sonne stand und man jz nix anfassen kann ohne sich zu verbrennen... b. Dieser Moment wenn das Auto in der Werkstatt ist und du realisiert, das du 12km zu Fuß zurück musst. c. Dieser Moment wenn der Computer beschäftig ist .. Und man kurz vorm schreien ist. d. Dieser Moment, wenn der Computer hängt, du ganz oft auf das Internetsymbol klickst und der Browser sich dann zwanzigmal öffnet -.e. Das Gefühl wenn die letzten Reste vom abgeblätterten Nagellack runter sind…
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Vor allem die Struktur wenn du x, dass aber auch wenn man x, dass ist sehr häufig, wobei x für folgende Verben stehen kann, die das Realisieren von etwas kennzeichnen. (26) Merken a. Der Moment, wenn Du merkst, dass Deine Studis SMD-Bauteile per Hand auflöten können, Du selbst aber nicht mehr. b. Dieser Moment, wenn du merkst, dass dich nur noch ein Monat vor deinem Kindheitstraum trennt. c. Wenn du merkst, dass einer deiner Comics inzwischen über 200€ wert ist. (27) Bemerken a. DER MOMENT WENN DU BEMERKST, DASS DEIN GESICHT EIN FUCKING MEME IST EGAL WIE DU SCHAUST. b. Dieser moment wenn du bemerkst dass du noch cola hast. c. Dieser Moment wenn du bemerkst, dass du deinen Namen falsch geschrieben hast und es nicht mehr ändern kannst. d. Wenn du bemerkst, dass emojis liberaler sind als deine Regierung. e. ...Wenn du bemerkst, dass es schon FREITAG ist. (28) Feststellen a. Wenn du am Bahnhof feststellst, dass du dein Portmonee vergessen hast... b. Dieser erhabene Moment, wenn du feststellst, dass der Hersteller deiner Kaffeemühle einen eigenen XMPP-Server für Supportanfragen betreibt. c. Dieser Moment, wenn du feststellst, dass dein Ehemann Justin in seiner Spotify Playlist hat. d. Dieser Moment, wenn man feststellt das Reisepass, Kreditkarten und alle anderen dokumente sowie Rückflugticket geklaut worden sind. e. Wenn man feststellt, dass der 6 Jahre alte Bruder besser malt als man selbst. (29) Realisieren a. Der moment wenn du realisierst du stehst anna falschen stage. b. Der Moment, wenn Du realisierst, dass das Portemonnaie, nicht dort ist, wo es sein sollte.
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(30) Checken a. Wenn du checkst, dass der @DaneyZockt der @_NichtJessy_ folgt, aber dir nicht. b. Wenn du checkst, was in Songs gesungen wird, die du mit ca 11 Jahren gefeiert hast und dich beim Hören immer übelst bosshaft gefühlt hast. c. Der Moment wenn man checkt das man verschlafen hat.. d. Der Moment, wenn du checkst, dass du Pokémon das letzte mal nicht gespeichert hast und alles vom letzten Mal weg ist. Bei diesen ENKs handelt es sich immer um Realisierungsverben der 2. oder 3. Person im Singular Präsens Aktiv mit einem Pronomen im Nominativ. Daneben existieren auch Strukturen, bei denen ein singuläres Personalpronomen der 2. Person oder Indefinitpronomen im Dativ auftritt. (31) Klar werden a. Dieser Moment, wenn einem klar wird, dass die eigene französische Aussprache eher wie Klingonisch klingt... b. Dieser Moment wenn einem klar wird das Morgen Montag ist... c. Dieser Moment, wenn Dir klar wird, dass Du nicht pünktlich auf Arbeit kommen wirst... d. Dieser Moment, wenn dir mitten in der Nacht klar wird, dass du dein Nasenspray im Büro vergessen hast... (32) Bewusst werden a. Wenn dir auf einmal bewusst wird, dass #HighSchoolMusical schon elf Jahre alt ist. b. Wenn dir bewusst wird, dass deine letzten "Sommerferien" 10 Jahre her sind. c. Dieser Moment, wenn dir bewusst wird, dass du die nächste Woche nur liegen darfst. (33) Auffallen a. Dieser Moment, wenn du erst „Germanistiker“ tippst und dir nur auffällt, dass es „Germanisten“ heißt, weil die 140 Zeichen voll sind ... b. Der Moment, wenn dir auffällt, dass dein Arzt genauso aussieht wie @bendzko. c. Der Moment wenn dir um 22 Uhr auffällt, dass du heute nur 2 Pfannkuchen gegessen hast.
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(34) Einfallen a. Dieser Moment wenn dir einfällt dass du noch Pizza im Gefrierschrank hast. b. Der Moment, wenn du um 3 Uhr nachts heimkommst und dir einfällt, dass du noch ne Packung Kekse hast. c. Wenn Dir einfällt, dass Du jetzt auch Mads Mikkelsen heiraten kannst, weils halt legal ist ;) d. Dieser Moment wenn dir ums verrecken die eigene PLZ nicht mehr einfällt...
2.3 Weitere Aspekte In diesem Abschnitt betrachten wir weitere Aspekte, die entweder außerhalb oder innerhalb der ENK liegen, aber an sich nicht zum Anker oder zum Nebensatz selbst gehören. Dies umfasst unter anderem parenthetisch eingeschobene sowie vor- bzw. nachgestellte Interjektionen. Dabei verstärkt oder konkretisiert die Interjektion das ausgedrückte Gefühl oder intensiviert die Expressivität der ENK. Hier scheint eine funktionale Ausdifferenzierung vorzuliegen. Während die integrierten Interjektionen in (35) mehr die Funktion innehaben, das plötzliche Auftreten des ausgedrückten Gefühls zu verdeutlichen, so erfüllen die vor- bzw. nachgestellten Interjektionen in (36) bzw. (37) eher eine Kommentarfunktion und verorten das ausgedrückte Gefühl. Dies gilt vor allem für die nachgestellten Interjektionen. Bei den vorangestellten finden sich bisweilen auch situative „Interjektionen der Plötzlichkeit“ wie wusch oder peng in (36c) und (36d). (35) a. Der Moment, wenn im Netto die 2. Kasse eröffnet und sich ein Rollator, zack, in eine Rakete verwandelt. b. Der Moment, in dem man denkt: „Alles, nur nicht nachdenken, sondern einfach machen!“ und zack, denkt man nach und macht nichts. c. Der Moment, wo du plötzlich ein Bild siehst...und ZACK...wieder alles aufgerissen wird... d. Der Moment, wenn man extra nochmal aus dem Bett aufsteht, um was zu machen, aber dann, zack, weiß man nicht mehr was. e. Dieser Moment, wenn du endlich so richtig gemütlich im Bett liegst und BÄM!!! Du musst pinkeln. f. Der Moment, wenn du dich auf ein Bild konzentrierst und dann BAMM.! Akku fast leer.
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(36) a. Wow! Der Moment wenn dich jemand anruft, nur um dich zu beleidigen b. Wow der Moment, wenn man aufsteht und man so verpeilt ist, dass man seinen Müll in den Wäschekorb wirft. c. Wusch!!! RT @bl1nk: Der Moment als das Unwetter den Hamburger Hafen erreichte. d. Peng Der Moment, in dem du realisierst, dass du zwar Urlaub hast, aber dennoch was arbeiten musst. e. Haha, der Moment wenn man auf dem Zweitkanal unterwegs ist und einem sein eigenes Video vom Hauptkanal empfohlen wird. f. Boa, der Moment wenn man 25 min. in #Overwatch Season für ein Unentschieden vergeudet. (37) a. Der Moment, wenn man beim Haare waschen an die Beule kommt die man sich beim stoßen am Badezimmerschrank zugezogen hat autsch. b. Der Moment, wenn man Sneaker gegen Stiefeletten tauscht autsch. c. Der Moment, wenn dir Leute was zum essen oder trinken geben wollen, aber einem so gut wie nichts schmeckt.. ups. d. Der moment wenn dir einfällt dass sie ja jetzt mega gut mit denen ist. Ups. e. Der Moment, wenn du zuhause ankommst und merkst: die Pizza ist zu groß für deinen Kühlschrank. ups... Zur weiteren Verstärkung der Expressivität der gesamten ENK wird hin und wieder ein vereinzelter demonstrativ gebrauchter definiter Artikel nachgestellt, der als stark betont zu interpretieren ist, was sich an der regelmäßig auftretenden Großschreibung oder an den Ausrufezeichen erkennen lässt. (38) a. Das Gefühl, wenn andere deine Stimme auf Band gesprochen hören. Und du dabei anwesend bist. DAS. b. Der Moment in dem du 1 bisschen Ecstasy nimmst, dir denkst, was soll schon groß passieren & das Teil richtig ballert. DER!! c. Der Moment, wo sich dein Partner gerade so dermaßen in Rage redet und du dir nur denkst: BAM!!! Ich liebe dich so unf***ingfassbar! Der! Es ist nicht unüblich, dass ENKs im Zusammenspiel mit Bildern verwendet werden, beispielsweise in Form einer Bildunterschrift (oder -überschrift) oder, ebenfalls typisch, als Overlay. Der Einsatz der Bilder kann hier das zum Ausdruck gebrachte Gefühl nochmals betonen oder, falls es durch die ENK noch nicht
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eindeutig erschließbar ist, disambiguieren. Eine typische Verwendung ist das folgende Beispiel.4
Nachdem wir nun die syntaktischen Aspekte der ENK präsentiert haben, werden wir im Folgenden ihre speziellen semantischen und pragmatischen Eigenschaften diskutieren.
3 Semantik und Pragmatik der expressiven Nebensatzkonstruktion Die ENK zeichnet sich nicht nur durch eine besondere Syntax aus, wie im vorangegangenen Abschnitt dargestellt, sie verfügt zudem auch über besondere semantische und pragmatische Eigenschaften. Aus semantisch-pragmatischer Sicht hat die ENK eine Doppelfunktion. Zum einen wird eine Situation bzw. ein Ereignis durch den Nebensatz dargestellt. Zum anderen drückt die ENK ein Gefühl aus, das durch das dargestellte Ereignis ausgelöst wird. Wichtig dabei ist, dass, wie wir zeigen werden, beide Aspekte expressiv kommuniziert werden. In
|| 4 Das Bild haben wir aus bildrecht-technischen Gründen selbst erstellt.
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der Terminologie Kaplans (1999) werden das Ereignis und das Gefühl nicht „beschrieben“, sondern „dargestellt“ bzw. „ausgedrückt“. Wie Turgay (erscheint) ausführlich darlegt, hat die ENK teilweise narrativen Charakter, weshalb sie auch als Minimal-Narration bezeichnet werden kann. Der Schreiber „erzählt“ eine Geschichte, indem er die Situation beschreibt und dabei das Gefühl expressiv kommuniziert. Daraus erfolgt eine indirekte Aufforderung an den Leser, sich in dieses Gefühl hineinzuversetzen. Inwiefern die erzählte Situation erlebt sein muss oder fiktiv sein kann, wird an späterer Stelle kurz aufgegriffen.5 Der expressive Charakter der ENK geht mit besonderen semantischen und pragmatischen Eigenschaften einher, die wir im Folgenden genauer betrachten wollen, bevor wir anschließend auf ihre emotionsausdrückende Funktion eingehen werden.
3.1 Expressive Eigenschaften Wie bereits in der Einleitung erwähnt, handelt es sich bei der ENK um einen expressiven Ausdruck, was wir im Folgenden darlegen werden. In der Literatur zur Expressivität (Kaplan 1999; Potts 2007; Gutzmann 2013) werden typische Eigenschaften von expressiven Ausdrücken aufgeführt. Die wichtigsten von diesen sollen in diesem Abschnitt beschrieben und in Bezug auf unsere Konstruktion getestet werden. Eine der wichtigsten Eigenschaften von expressiven sprachlichen Mitteln ist, dass sie im Dialog nur schwer zurückgewiesen werden können, was daran liegt, dass sie nicht „at-issue“ sind. Das bedeutet, dass expressiver Inhalt gar nicht erst zur Diskussion gestellt wird (Potts 2005; Murray 2014; AnderBois, Brasoveanu & Henderson 2015). Dies lässt sich gut anhand von w-Exklamativsätzen illustrieren. Auch wenn eine Äußerung wie (39) die Informationen ausdrückt, dass A’s Freund schlau ist und A davon überrascht ist, so können beide Aspekte nicht ohne Weiteres zurückgewiesen werden (d’Avis 2013: 194). (39) A: Wie schlau mein Freund doch ist! B: #Nein. #Das stimmt nicht. #Nein, ist er nicht. #Nein, du bist nicht überrascht.
|| 5 Wir danken Franz d’Avis und Rita Finkbeiner für ihre hilfreichen Hinweise.
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Dies trifft auch auf die ENK zu. Es ist nicht möglich, einen Moment-Ausdruck durch nein oder das stimmt nicht zu verneinen. Auch explizitere Zurückweisungen sind ausgeschlossen, was sowohl für die beschriebene Situation als auch das kommunizierte Gefühl gilt. (40) A: Dieser Moment wenn du beim Matratzen Concord reinläufst am einen Tag im Jahr, wo es keinen Ausverkauf gibt. B: #Nein. #Das stimmt nicht. #Nein, es war Ausverkauf. #Nein, dieses Gefühl hattest du nicht. #Nein, das war nicht frustrierend. Eine weitere Eigenschaft ist die assertorische Trägheit (Horn 2002), die sich beispielsweise daran zeigt, dass eine expressive Äußerung nicht als Antwort auf eine Frage verwendet werden kann. Wieder dienen w-Exklamativsätze zur Illustration (vgl. Castroviejo Miró 2008). (41) A: Was ist los? B: #Wie schlau mein Freund doch ist! Auch dies lässt sich auf die ENK übertragen. (42) A: Wie geht’s dir? B: #Dieser Moment wenn einem klar wird das Morgen Montag ist... Natürlich lässt sich hier schwer entscheiden, ob (42B) deshalb ausgeschlossen ist, weil der Inhalt expressiv kommuniziert wird, oder weil die ENK sich syntaktisch wie eine DP verhält und DPs keine guten Antworten auf eine Frage wie in (42A) sind.6 Wir können also versuchen, die Frage so umzuformulieren, dass eine DP als Antwort erwartbar ist. (43) A: Was fühlst du? B: #Dieser Moment wenn einem klar wird das Morgen Montag ist... B': #Dieses Gefühl, wenn einem klar wird das Morgen Montag ist...
|| 6 Wir danken den Herausgebern für diese Beobachtung.
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Doch auch in diesem Fall ist eine ENK als Antwort nicht möglich, selbst wenn die Variante in (43B') mit dem Anker Gefühl etwas besser passen würde. Und in der Tat ist (43B') als Antwort vollkommen akzeptabel, jedoch geht dann der expressive Charakter verloren und es handelt sich nicht mehr um eine ENK, sondern vielmehr um eine elliptische Antwort, die eine „string“-identische DP übrig lässt, welche auf (44B) zurückgeht. (44) A: Was fühlst du? B: Ich fühle dieses Gefühl, wenn einem klar wird, dass morgen Montag ist. (≠ ENK) Dies zeigt, dass es eher der semantische Status der ENK ist als die syntaktische Form, die ENKs als Antworten auf Fragen untersagt. Interessant dabei ist, dass der deskriptive Gehalt der ENK an sich genug Informationen liefert, um die Frage zumindest indirekt per Implikatur zu beantworten, was folgende Variation von (42) zeigt. (45) A: Wie geht’s dir? B: Mir wird gerade klar, dass morgen Montag ist. Der Kontrast zwischen (44) und (45) veranschaulicht, dass selbst der beschreibende Charakter der ENK nicht auf normale Art und Weise kommuniziert wird, sondern ebenfalls als expressiv zu gelten hat. Die Interaktion zwischen dem expressiven Gehalt und anderen semantischen Operatoren wird als weiterer Test angeführt (vgl. Potts 2005). So haben expressive Ausdrücke üblicherweise weiten Skopus, lassen sich nicht einbetten und können nicht Ziel einer Frage sein. Hier zeigt sich das Problem, dass diese Umgebungen nicht ohne Weiteres mit unserer Konstruktion vereinbar sind, was an der bereits beschriebenen Selbstständigkeit der ENK liegt. Wenn wir dennoch versuchen, die ENK einzubetten, liegt entweder eine nicht expressive, „wörtliche“ Verwendung der ENK vor, oder das Ergebnis ist ungrammatisch. (46) a. #Nicht der Moment, wenn einem klar wird, dass morgen Montag ist. b. Der Moment, wenn einem klar wird, dass morgen Montag ist, war noch nicht.
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(47) a. *Wenn der Moment, wenn einem klar wird, dass morgen Montag ist, sollte man sich mit einem Eis aufmuntern. b. Wenn der Moment, wenn einem klar wird, dass morgen Montag ist, kommt, sollte man sich mit einem Eis aufmuntern. (48) a. #Der Moment, wenn einem klar wird, dass morgen Montag ist? b. War jetzt der Moment, wenn einem klar wird, dass morgen Montag ist? In den a.-Beispielen wird versucht, die ENK zu negieren (46a), in ein Konditional einzubetten (47a) und zu erfragen (48a), was entweder ungrammatisch ist (da die ENK eine DP zu sein scheint) oder nicht den intendierten Effekt hat (da eine nicht expressive Lesart erzwungen wird). Die b.-Beispiele sind zwar ohne weiteres möglich, jedoch liegt hier eine gewöhnliche Verwendung der NP der Moment vor, die nicht expressiv ist. All dies zeigt, dass die ENK expressiven Charakter hat. Aus den vorangegangenen Überlegungen ziehen wir den Schluss, dass der gesamte Inhalt der ENK expressiv kommuniziert wird. Ähnlich wie bei Exklamativsätzen scheint dies interessanterweise nicht nur für das ausgedrückte Gefühl, sondern auch für die durch den Nebensatz dargestellte Situation zu gelten. Wenn dies korrekt ist (wovon wir im Folgenden ausgehen werden), dann lässt sich die eingangs beschriebene Doppelfunktion der ENK – Charakterisierung einer gefühlsauslösenden Situation und Ausdruck des entsprechenden Gefühls – komplett auf der expressiven Ebene verorten.
3.2 Emotionalität Wie bereits in der Einleitung angesprochen, ist die Hauptfunktion der ENK, ziemlich spezifische Gefühle darzustellen. Der Nebensatz bringt eine Situation zum Ausdruck, in die der Hörer sich hineinversetzen und dadurch das Gefühl nachvollziehen soll. Allerdings reicht die ENK alleine nicht aus, um das Gefühl genauer zu bestimmen, so dass ein Erschließen des Gefühls mithilfe von Kontext und Weltwissen nötig ist. Wird (49) beispielsweise von jemandem geäußert, der Wochenenden nicht mag und die Arbeitswoche liebt, so kann auch ein positives Gefühl ausgedrückt werden. Ähnliches gilt für (50). Hier muss zur Bestimmung des Gefühls bekannt sein, welche Einstellung der Schreiberin zu den erwähnten Personen (@DaneyZockt und @NichtJessy) besteht. (49) Der Moment, wenn einem klar wird, dass morgen Montag ist.
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(50) Wenn du checkst, dass der @DaneyZockt der @NichtJessy folgt, aber dir nicht. Das heißt, selbst die Polarität des Gefühls hängt vom Kontext- und Weltwissen ab und ist nicht rein durch das sprachliche Material bestimmt. Auch dies ist eine Eigenschaft, die die ENK mit anderen expressiven Ausdrücken teilt, wie beispielsweise expressiven Adjektiven wie verdammt oder beschissen, auch wenn diese eine lexikalisch präferierte Polarität haben.7 Wie in (8) illustriert, kann der Anker zusätzliche Adjektive enthalten, die bei der Bestimmung des Gefühls helfen. In Abwesenheit des positiven Adjektivs erhaben in (51) ist dem Laien-Leser nicht klar, ob die Tatsache, dass ein Kaffeemühlenhersteller einen XMPP-Server für Supportanfragen betreibt, positiv oder negativ ist. (51) Dieser erhabene Moment, wenn du feststellst, dass der Hersteller deiner Kaffeemühle einen eigenen XMPP-Server für Supportanfragen betreibt. Das Adjektiv hilft hier nicht nur die Polarität zu fixieren, sondern auch das Gefühl genauer zu bestimmen. Doch nicht nur Adjektive helfen dabei, sondern auch die Bilder, die wie in 2.3 bereits angesprochen sehr häufig zusammen mit der ENK verwendet werden.
4 Analyse Nachdem wir die syntaktischen und semantisch-pragmatischen Eigenschaften der ENK vorgestellt haben, wollen wir im Folgenden eine formale Analyse der ENK skizzieren. Es sei bereits jetzt darauf hingewiesen, dass es sich dabei lediglich um einen ersten Ansatz handelt und dass eine umfassendere und detailliertere Analyse (insbesondere der Semantik) aufgrund des notwendigen technischen Apparats den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde.
|| 7 Zur pragmatischen Erschließung der Polarität vgl. McCready (2012).
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4.1 Syntaktische Analyse Syntaktisch gesehen sieht die ENK wie eine gewöhnliche definite DP aus, die einen attributiven Nebensatz (entweder einen temporalen Nebensatz oder einen Relativsatz) enthält. Es stellt sich deshalb die Frage, ob es sich dabei tatsächlich um DPs handelt oder ob ENKs mehr syntaktische Struktur aufweisen. Auch wenn sich diese Frage an dieser Stelle nicht komplett beantworten lässt, wollen wir zumindest einige Überlegungen anstellen, die zur Klärung der Frage beitragen können. Was bei genauerer Betrachtung schnell klar wird, ist, dass ENKs keine Ellipsen einer satzwertigen Struktur darstellen. Jede Ellipse sollte prinzipiell ohne Bedeutungsänderung auch wieder als komplette Struktur realisiert werden können. Betrachten wir beispielsweise die folgenden Kandidaten für (49). (52) a. Der Moment, wenn einem klar wird, dass morgen Montag ist, ist gerade. b. Der Moment, wenn einem klar wird, dass morgen Montag ist, beschäftigt mich gerade. c. Der Moment, wenn einem klar wird, dass morgen Montag ist, widerfährt mir gerade. d. Das ist der Moment, wenn einem klar wird, dass morgen Montag ist. Das Problem mit diesen Sätzen ist, dass sie nicht mehr den expressiven Charakter der ENK aufweisen. Ließen sich ENKs durch Ellipsen aus Sätzen wie in (52) per Tilgung der unterstrichenen Teile ableiten, würden wir erwarten, dass entweder die Sätze in (52) ebenfalls expressiv sind oder dass auch ENKs nicht expressiv sind, da Ellipsen nicht zu einer Bedeutungsänderung führen. Beides scheint nicht der Fall zu sein. Ähnliche Evidenz kommt auch daher, dass eine Konstruktion, die oberflächlich wie eine ENK aussieht, ebenfalls nicht expressiv ist, wenn sie als Antwort auf eine Frage fungiert, die klar nach einer DP in der Antwort verlangt. (53) A: Was ist eine typische Situation, in der man sich freut? B: Der Moment, wenn dir einfällt, dass du noch Eis im Gefrierfach hast. Die Antwort in (53B) ist klar als DP markiert und hat in diesem Zusammenhang rein deskriptive Bedeutung. Dies verdeutlicht noch einmal, dass eine ENK-artige Struktur, die mit anderen Ausdrücken in syntaktischer Beziehung steht, nicht expressiv ist und es sich daher um gar keine ENK handelt. Ähnliches gilt im Übrigen auch für die ankerlose Variante. Steht diese in normaler syntaktischer Relation
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zu anderem Material oder fungiert als entsprechende Antwort, handelt es sich nicht um eine ENK. (54) Wenn einem klar wird, dass morgen Montag ist, dann sollte man schnell an was Schönes denken. (55) A: Wann sollte man am besten an was Schönes denken? B: Wenn einem klar wird, dass morgen Montag ist. Ein weiteres Argument gegen eine Analyse der ENK als Ellipse ist, dass das in einer Ellipse getilgte Material kontextuell verankert sein muss; man kann nicht beliebiges Material tilgen. Dies scheint in ENKs nicht der Fall zu sein, selbst für „einfaches“ Material wie das ist … (52d). Grundsätzlich hätte ein Ellipsenansatz also das Problem, das völlig unklar ist, was das getilgte Material sein kann (und was nicht) und wie es für die Interpretation wiederhergestellt werden kann. Es ist also zumindest eindeutig, dass es sich bei ENKs nicht um Ellipsen handelt. Die Frage, ob ENKs „reine“ DPs sind oder einen syntaktischen Überbau haben, der ihren Status als selbstständigen Sprechakt kodiert, ist allerdings nicht ohne Weiteres zu beantworten, da es keinen guten syntaktischen Test gibt, um ihren Status zu überprüfen. Wie wir gerade gesehen haben, geht der expressive Charakter verloren, sobald ENKs mit anderem Material syntaktisch interagieren. Da wir aber im nächsten Abschnitt aus kompositionalen Gründen annehmen werden, dass der expressive Charakter durch einen coverten expressiven Operator zustande kommt, der die eigentliche semantische Arbeit leistet, gehen wir auch syntaktisch davon aus, dass die DP das Argument eines coverten expressiven Operators EmO ist. (56) [DP EmO [DP der Moment … ] ] Wir gehen an dieser Stelle davon aus, dass dieser Operator syntaktisch an die DP adjungiert ist und es sich demnach bei der ganzen ENK immer noch um eine DP handelt, die aus semantischen Gründen jedoch nicht weiter mit anderen Ausdrücken interagieren kann, da sie keinen deskriptiven Gehalt mehr hat. Allerdings sind auch andere Kategoriezuweisungen denkbar: beispielsweise eine komplette CP mit EmO als Kopf, die dann eine DP als Argument nimmt statt einer TP.8
|| 8 Die beiden Alternativen werden in Bezug auf autonome, expressive Vokative wie Du Idiot! in Gutzmann (2019) diskutiert.
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(57) [CP [C EmO [DP der Moment … ] ] Durch die nicht vorhandene Interaktion lässt sich diese jedoch schwer testen, weshalb wir für die Zwecke dieses Aufsatzes bei der Struktur in (56) bleiben.9
4.2 Semantische Analyse Wie in § 3 dargelegt, referieren ENKs vordergründig weder auf einen bestimmten Moment noch beschreiben sie diesen, sondern sie stellen eine gefühlsauslösende Situation oder ein Ereignis expressiv dar und drücken dadurch ein damit assoziiertes zu inferierendes Gefühl aus. Das bedeutet, dass sie nicht den semantischen Typ einer Situation oder eines Ereignisses haben, sondern den einer expressiven Sprechereinstellung, für die in der formal-semantischen Literatur ein eigener spezieller Typ angenommen wird. Ein weiterer wichtiger Aspekt für die semantische Analyse ist die erwähnte Doppelfunktion der ENK: Es wird, im Gegensatz zu beispielsweise reinen Interjektionen, nicht nur ein Gefühl ausgedrückt, sondern gleichzeitig auch eine Situation dargestellt, die die Ursache für das Gefühl ist. Wichtig dabei ist, dass die Situation nicht nur als Mittel zur Gefühlsdarstellung dient, sondern ebenfalls ein aktiver Bestandteil der expressiven Bedeutung der ENK ist. Dies zeigt folgende Überlegung. Angenommen, die beschriebene Situation wäre nur der „Weg“ zum Gefühlsausdruck (ähnlich wie der Inhalt einer referierenden definiten Kennzeichnung oft nur ein Weg zum Referenten ist), dann könnte eine ENK auch dann erfolgreich verwendet werden, wenn die Sprecherin die dargestellte Situation gar nicht erlebt hat, solange sie nur das entsprechende Gefühl empfindet. Nehmen wir zur Illustration an, dass (58) dazu dient, ein sehnsüchtig-trauriges Gefühl von Liebeskummer auszudrücken. (58) Dieses Gefühl, wenn es ohne seine Schulter einfach nirgends mehr bequem ist... Um (58) angemessen zu verwenden, reicht es nicht aus, dass die Sprecherin den ausgedrückten Liebeskummer empfindet. Vielmehr muss sie in einer Situation gewesen sein, in der sie es ohne „ihn“ unbequem fand (beispielweise ihr Sofa
|| 9 Eine weitere denkbare Möglichkeit ist, dass EmO gar nicht syntaktisch verankert ist, sondern nur eine semantische Repräsentation hat. Dann wäre eine ENK einfach eine DP ohne die weitere Schale.
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o.ä.), und diese Situation muss das Gefühl ausgelöst haben, das durch (58) zum Ausdruck gebracht werden soll. Es ist also wichtig, dass nicht nur das Gefühl zum Ausdruck gebracht wird, sondern auch die Situation und ein kausaler Zusammenhang zwischen Situation und Gefühl. Dies verdeutlichen die folgenden Überlegungen. Angenommen, die Sprecherin mag keinen Kuchen, findet Kuchen sogar ekelhaft. Nun hat sie erschrocken entdeckt, dass ihr Partner eine große Menge Kuchen im Kühlschrank deponiert. Dieses Gefühl möchte die Sprecherin nun gerne zum Ausdruck bringen. Sie kann dafür folgende ENK verwenden (Beispiel ist konstruiert). (59) Der Moment, wenn du in den Kühlschrank schaust und er voller Kuchen ist. Ohne das notwendige Wissen über die Sprecherin wird man (59) wahrscheinlich vor dem Hintergrund seines jeweiligen Weltwissens interpretieren und davon ausgehen, dass (59) ein positives Gefühl zum Ausdruck bringt. Nun nehmen wir mal an, die Sprecherin ist sich bewusst, dass fast alle potentiellen Adressaten ihrer ENK Kuchen mögen oder zumindest nicht eklig finden. Sie könnte also versuchen, das Gefühl, dass sie beim Anblick des Kühlschranks voller Kuchen hat, durch folgende ENK zum Ausdruck zu bringen (Beispiel ist konstruiert). (60) #Der Moment, wenn du in den Kühlschrank schaust und er voller Schweinedarm ist. Die meisten Menschen finden Schweinedarm im eigenen Kühlschrank vermutlich ziemlich eklig, so dass (60) vermutlich besser in der Lage zu sein scheint, das Ekelgefühl der Sprecherin auszudrücken. Allerdings ist es so, dass (60) in dem geschilderten Kontext unangemessen und irreführend ist, selbst wenn die Chance, dass das Gefühl korrekt nachempfunden wird, bei (60) viel größer ist als bei (59). Dies zeigt, dass die durch die ENK ausgedrückte Situation nicht lediglich Mittel zum Zweck ist, sondern auch Teil des expressiven Gehalts ist. Davon unberührt bleibt natürlich die Tatsache, dass ENKs oft verwendet werden, um ein Gefühl zu beschreiben, als ob man die entsprechende Situation tatsächlich erlebt hätte, tatsächlich aber ein fiktives Ereignis genutzt wird. Hinzu kommt auch, dass die dargestellte Situation oft übertrieben und witzig dargestellt wird. Dies erscheint uns jedoch ein pragmatisches Phänomen zu sein (bedingt durch die Funktion der ENK in den sozialen Medien), das sich genauso verhält wie Übertreibungen und bewusste Überspitzungen in ganz gewöhnlichen Aussagen.
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Zusätzlich zu dieser Beschränkung ist es auch nicht möglich, eine ENK angemessen zu verwenden, wenn die Sprecherin zwar die dargestellte Situation tatsächlich erlebt hat, aber nicht das ausgedrückte Gefühl empfindet. Angenommen, in dem genannten Kuchenkontext wissen die Adressaten, dass die Sprecherin Kuchen eklig findet, so dass sie das passende Gefühl inferieren können. Aber nun nehmen wir an, dass die Sprecherin dieses Gefühl gar nicht hatte. Dann ist der Gebrauch von (59) ebenfalls unangemessen, selbst wenn sie tatsächlich in einen Kühlschrank voll mit Kuchen geschaut hat. Wir können also festhalten, dass eine Sprecherin sowohl die durch die ENK dargestellte Situation erlebt, als auch das damit kontextuell verbundene Gefühl empfunden haben muss, damit eine ENK angemessen ist. Somit haben wir zwei wichtige Komponenten diagnostiziert, die durch die semantische Analyse reflektiert werden müssen. Und wie zuvor diskutiert, müssen beide Komponenten auf der expressiven Ebene angesiedelt sein. Es gibt noch ein paar weitere Beschränkungen, die wir bisher nicht angesprochen haben und die den Inhalt des Nebensatzes betreffen. Die bisher diskutierten Beispiele zeigen, dass es sich bei den in der ENK dargestellten Ereignissen um zumindest theoretisch wiederholbare Ereignisse handelt. Wirklich singuläre Ereignisse sind in ENKs ausgeschlossen oder zumindest sehr markiert, wie die folgenden konstruierten Beispiele verdeutlichen. (61) a. #Der Moment, wenn mein Vater stirbt. b. #Das Gefühl, wenn meine erste Tochter geboren wird. c. #Dieser Moment, wenn ich mein Abi bestanden habe. Interessanterweise werden die Beispiele in (61) wesentlich besser, wenn statt der ersten Person die (generisch verwendete) zweite Person oder ein generisches man verwendet wird, wie die folgenden, ebenfalls konstruierten Beispiele zeigen. (62) a. Der Moment, wenn dein Vater stirbt. b. Das Gefühl, wenn deine erste Tochter geboren wird. c. Dieser Moment, wenn du dein Abi bestanden hast. (63) a. Der Moment, wenn man seinen Vater verliert. b. Der Moment, wenn man seine erste Tochter in den Armen hält. c. Dieser Moment, wenn man sein Abi bestanden hat.
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Dass (62) und (63) akzeptabler als (61) sind, liegt daran, dass es sich aufgrund der Pronomen um generische Situationen handeln kann, die deshalb auch nicht singulär sind.10 Die Beispiele in (61) lassen sich auch dadurch verbessern, dass ein weiteres Ereignis, das nicht singulär ist, mit dem singulären Ereignis koordiniert wird. (Die Beispiele sind ebenfalls konstruiert.) (64) a. Der Moment, wenn mein Vater stirbt und sich alle nur um das Erbe streiten. b. Das Gefühl, wenn meine erste Tochter geboren wird und mir alles andere unwichtig erscheint. c. Dieser Moment, wenn ich mein Abi bestanden habe und meine Eltern sich nur für meinen Durchschnitt interessieren. All diese Beschränkungen deuten darauf hin, dass das in der ENK dargestellte Ereignis generisch zu verstehen ist. Wir interpretieren dies so, dass es in der ENK also eher um Ereignisarten geht als um ein konkretes Ereignis. Ein funktionaler Grund für diese Beschränkung kann darin liegen, dass die ENK dazu verwendet wird, die Hörerin dazu einzuladen, sich an entsprechende, eventuell selbst erlebte Ereignisse zu erinnern und das entsprechende Gefühl nachzuempfinden. Dazu passt auch die Beobachtung, dass ENKs mit Demonstrativa auftreten können, die demzufolge anamnestisch gebraucht werden (Himmelmann 1996, 1997; Molnár 2010). Kommen wir also nun zur semantischen Analyse. Wie eingangs erwähnt, muss die Denotation einer ENK eine expressive Proposition sein, die einen speziellen semantischen Typ hat. Wir folgen hier dem System aus Gutzmann (2015) und nehmen an, dass expressive Propositionen und folglich ENKs den Typ u erhalten.11 In Anlehnung an den Typ t, der für truth und entsprechend truth conditions steht, steht u für use und use-conditions. Die Grundidee dabei ist, in Anlehnung an Kaplans (1999) Ausführungen, dass es für bestimmte Ausdrücke wenig Sinn macht, zu fragen, unter welchen Bedingungen sie wahr sind (die Grundidee
|| 10 Weitere Evidenz dafür, dass singuläre Ereignisse schlecht sind: Wenn das Pronomen der zweiten Person nicht generisch zu verstehen ist, sondern auf die Adressatin referiert, sind die Beispiele in (62) als ENK stark markiert. 11 Weitere, sehr ähnliche Optionen: Typ tc bei Potts (2005) und McCready (2010) und Typ ε bei Potts (2007).
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der formalen Wahrheitsbedingungensemantik), sondern man sollte vielmehr fragen, unter welchen Bedingungen ihr Gebrauch angemessen ist. Kaplan illustriert das am Beispiel von Interjektionen oder auch Grüßen. (65) a. Uups! b. Aua! c. Hallo! Laut Kaplan ist es seltsam zu fragen, wann eine Äußerung „Uups!“ wie in (65a) wahr ist, aber es ist durchaus sinnvoll, zu fragen, unter welchen Bedingungen eine Äußerung von (65a) angemessen ist. Analog dazu: So, wie Wahrheitsbedingungen die Bedeutung einer Äußerung wie „Schnee ist weiß“ erfassen, so erfassen Gebrauchsbedingungen eine Äußerung von „Uups!“. (66) „Schnee ist weiß“ ist wahr, wenn Schnee weiß ist. (67) „Uups!“ ist angemessen gebraucht, wenn die Sprecherin Zeugin eines kleineren Missgeschicks wird. Um den expressiven Beitrag von ENKs zu erfassen, müssen wir also ebenfalls solche Gebrauchsbedingungen formulieren. Wir illustrieren dies anhand eines konkreten Beispiels: (68) „Dieser Moment wenn einem klar wird das Morgen Montag ist...“ ist angemessen gebraucht, wenn a. i. es eine Ereignisart k gibt der Form „x wird klar, dass am nächsten Tag Montag ist“ ii. und die Sprecherin kürzlich ein kontextuell hinreichend ähnliches Ereignis i der Art k erlebt hat; b. i. es ein Gefühl e gibt, das Personen (aus einem eventuell kontextuell eingeschränkten Personenbereich) generell empfinden, wenn sie ein Ereignis der Art k erleben ii. und die Sprecherin das Gefühl e im Ereignis i empfunden hat. Die beiden Unterpunkte in den Gebrauchsbedingungen stehen für die beiden Aspekte der Doppelfunktion: die Ereignisdarstellung (68a) und den Gefühlsausdruck (68b). Der Hinweis auf Ereignisarten (68a-i) erfasst den diskutierten generischen Charakter und (68a-ii) stellt sicher, dass die Sprecherin kürzlich auch ein entsprechendes Ereignis erlebt haben muss. Wir haben kürzlich in die Definition
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mitaufgenommen, um der Unmittelbarkeit des Gefühlsausdrucks gerecht zu werden. Man kann eine ENK nicht äußern, um ein Gefühl bezüglich eines länger zurückliegenden Ereignisses auszudrücken. Auf der anderen Seite sind ENKs nicht in dem Grade unmittelbar und affektiv, wie es beispielsweise Interjektionen sind, was alleine schon daran liegt, dass es sich um bewusst veröffentlichte Texte in sozialen Medien handelt. Satz (68b-i) erfasst den generischen, interpersonellen Charakter der ENK, während (68b-ii) die Ereignisart mit dem Gefühl verknüpft (so dass die ENK unangemessen ist, wenn die Sprecherin zwar das Gefühl empfindet und das Ereignis erlebt hat, diese aber unabhängig voneinander sind) und sicherstellt, dass die Sprecherin das Gefühl auch tatsächlich empfindet. Wie oben erwähnt, schließen die Bedeutungskomponenten nicht aus, dass die Sprecherinnen so tun, als ob sie ein entsprechendes Ereignis erlebt und ein entsprechenden Gefühl gehabt hätten, um witzige oder unterhaltsame Kommentare zu posten. Dies geschieht besonders oft im Zusammenspiel mit den oben erwähnten Bildern, mit denen ENKs oft gemeinsam auftreten und die von den ENKs quasi kommentiert werden. Dieser kreative, pragmatische Gebrauch der ENK ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Bedingungen in (68) zu den Gebrauchsbedingungen des „ernsthaften“ (aufrichtigen, wörtlich gemeinten) Gebrauchs der ENK gehören und somit zu ihrer semantischen Bedeutung. So können andere expressive Ausdrücke, beispielsweise Interjektionen wie Aua! oder Uups!, auf ähnliche Art und Weise verwendet werden, um ein entsprechenden Bild zu kommentieren; das beraubt sie aber nicht ihrer lexikalischen Semantik.12 Zusammengenommen erfassen die Bedingungen in (68) die Bedeutung der ENK relativ gut. Die Frage bleibt natürlich, wie sich diese Gesamtbedeutung zusammensetzen lässt. Da hier nicht der Platz ist, um eine detaillierte formale Analyse durchzuführen, müssen wir diese Frage an dieser Stelle unbeantwortet lassen und begnügen uns mit der folgenden skizzenhaften Idee. Der Ausgangspunkt ist, dass wir, wie im vorangegangenen Abschnitt dargelegt, davon ausgehen, dass die ENK von einem coverten expressiven Operator EmO eingeleitet wird. Die Grundidee ist, dass dieser Operator die DP als Argument nimmt und den Moment, auf den diese (deskriptiv) referiert, auf eine gebrauchskonditionale Proposition wie (68) abbildet. Das heißt, die DP alleine ist nicht expressiv; erst im Zusammenhang mit dem coverten Operator wird das Ganze dann zu einer expressiven Proposition wie in (68). Die erläutert auch, warum die ENK ihren expressiven Charakter verliert, wenn man sie in einer syntaktischen Position verwendet, die eine DP erfordert: Da hier der EmO-Operator nicht vorhanden sein kann, wenn
|| 12 Wir danken den beiden Herausgebern für Hinweise in diese Richtung.
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die Struktur grammatisch sein soll, handelt es sich dann um eine einfache DP ohne den EmO-Operator und folglich nicht um eine ENK.
5 Fazit In diesem Artikel haben wir die expressive Nebensatzkonstruktion (ENK) ausführlich beschrieben und ihre semantischen und pragmatischen Eigenschaften diskutiert. Die wohl entscheidendste Eigenschaft und Funktion der ENK ist, dass sie ihren Inhalt komplett auf der expressiven Ebene kommuniziert. Die ENK hat zwei entscheidende Funktionen: Zum einen wird ein Ereignis dargestellt und gleichzeitig wird ein Gefühl ausgedrückt, das durch dieses Ereignis ausgelöst wird. Aufgrund der Tatsache, dass das ausgedrückte Gefühl aus der dargestellten Situation inferiert wird, das Ereignis als generisch präsentiert wird und dadurch die Leserin dazu einlädt, das Gefühl nachzuempfinden, eignet sich die ENK in Kombination mit ihrer Kürze besonders für die Verwendung in den sozialen Medien. Dies könnte ein Grund dafür sein, warum die ENK so frequent in den sozialen Medien ist. Die ENK reiht sich ein in eine Vielzahl von expressiven Konstruktionen aus informellen Sprachvarianten, die ein besonderes sprachliches Verhalten aufweisen und die in letzter Zeit Aufmerksamkeit der formal orientierten Linguistik erhalten haben (siehe u.a. Bücking & Rau 2013; Gutzmann & Henderson 2015; Gutzmann & Turgay 2014, 2016; McCready 2008; Meinunger 2009, 2011; Walkden 2017). Dies zeigt, dass Expressivität ein sehr weit verbreitetes Phänomen ist, das zu linguistisch sehr interessantem Verhalten führt, und dass es auch aus grammatisch-theoretischer und formal-semantischer Perspektive durchaus lohnenswert ist, sich mit solchen Aspekten informeller Sprache zu beschäftigen.
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| Teil IV: Expressive Zeichen
Jochen Geilfuß-Wolfgang
Was ist das denn?! Über die Kombination aus Fragezeichen und Ausrufezeichen Abstract: Die Kombination aus Fragezeichen und Ausrufezeichen, ?!, ist bisher nur selten untersucht worden, obwohl sie in informellen Kontexten doch erstaunlich häufig verwendet wird; auch in der amtlichen Regelung findet sich nichts dazu. Der folgende Beitrag will einerseits das Vorkommen dieser Kombination genauer untersuchen, andererseits aber auch klären, ob das Ausrufezeichen auch in dieser Kombination die Funktion des Nachdrucks oder des Ausdrucks von Expressivität hat, die ihm oft zugeschrieben wird.
1 Einleitung Wie Rita Finkbeiner zu Beginn ihres Beitrags zur Gedenkschrift für Gustav Korlén bemerkt, werden seit einigen Jahren Sätze des Typs Wie [A] ist DAS denn? wie z.B. Wie geil ist DAS denn? oder Wie krank ist DAS denn? verwendet, um Bewunderung oder Verachtung für einen Sachverhalt auszudrücken. Bei der genaueren Beschreibung der formalen Merkmale dieser Konstruktion beobachtet sie unter anderem, dass Sätze dieses Typs mit mehr Nachdruck gesprochen werden als strukturell identische w-Fragesätze wie Wie schwer IST das denn? und sich dieser Nachdruck auch in der Interpunktion niederschlägt: In geschriebenen Belegen für [diese Konstruktion] wird häufig eine Kombination aus Frageund Ausrufezeichen (oder auch eine Variante mit (mehreren) Frage- oder Ausrufezeichen) gewählt […]. Sämtliche Interpunktionsvarianten […] lassen sich als Indikatoren besonderer Emphase deuten. (Finkbeiner 2015: 253)
(1)
a. Wie geil ist das denn?! b. Wie dumm bist du denn?? c. Wie krass ist der denn!!
Versucht man sich in der aktuellen amtlichen Regelung zu solchen Kombinationen aus mehreren Satzendzeichen kundig zu machen, stellt man fest, dass sich dazu nichts findet, wie bereits Primus (1997) in einer Fußnote anmerkt:
https://doi.org/10.1515/9783110630190-012
296 | Jochen Geilfuß-Wolfgang
In diesem Zusammenhang muß eine Normlücke in VN [Vorlage für die amtliche (neue) Regelung] und RD [Rechtschreibduden 1991] erwähnt werden. Sie betrifft expressive Fragesätze, nach denen sowohl das Fragezeichen als auch das Ausrufezeichen usuell verwendet wird (z.B. Warum denn nicht?!). (Primus 1997: 475)
Wenn hier tatsächlich eine Normlücke vorliegt, ergibt sich unter anderem die Frage nach dem orthographischen Status dieser Kombinationen: Sind sie orthographisch korrekt oder nicht? Solche Kombinationen sind nicht nur im Deutschen zu finden, sondern auch im Englischen, und das, was Huddleston & Pullum (2002: 1735) zu den englischen Beispielen in (2) festhalten, scheint auch die herrschende Meinung zu den deutschen Beispielen in (1) zu sein: „Examples like those in [2] tend to be disfavoured by the manuals; they are restricted to informal style.“ Die Kombinationen aus mehreren Satzendzeichen haben dann einen vergleichbaren Status wie der Apostroph in Fällen wie Carlo’s Taverne oder Einstein’sche Relativitätstheorie; sie werden verwendet, und zwar durchaus häufiger, aber man spricht lieber nicht über sie und duldet sie nur.1 (2)
a. Who, I wonder, is going to volunteer for the late shift?? b. Guess what – we’ve sold the house at last!! c. Did you see his face when she mentioned the doctor?!
Ich werde im Folgenden die Frage nach dem orthographischen Status dieser Kombinationen nicht weiter verfolgen. Mir geht es vielmehr darum, zu klären, was genau mit der Emphase, dem Nachdruck oder der Expressivität gemeint ist, die durch das Ausrufezeichen markiert wird; möglicherweise stellt sich dabei heraus, dass die vermeintliche Normlücke keine ist und zumindest die Kombination aus Fragezeichen und Ausrufezeichen aus den amtlichen Regeln für Fragezeichen und Ausrufezeichen hergeleitet werden kann. Ich werde mich dabei auf die Kombination aus Fragezeichen und Ausrufezeichen konzentrieren, das heißt, ich lasse auch die Kombination aus Ausrufezeichen und Fragezeichen (!?) unberücksichtigt.
|| 1 Eine erste Sichtung des Deutschen Referenzkorpus (DeReKo 2017-I) spricht für den informellen Status, eine große Anzahl von Belegen stammt aus Leserbriefen. Eine interessante Diskussion zur Korrektheit dieser Kombinationen im Englischen wird auf der Internetseite https://en.wikipedia. org/wiki/Talk:Interrobang#Grammar! geführt.
Was ist das denn?! | 297
2 Die amtliche Regelung und ihre Vorläufer Die bis 1996 gültige Regelung der Rechtschreibung legte das Ausrufezeichen auf Imperativsätze, Optativsätze, Ausrufe und Exklamativsätze fest; dem lag die Vorstellung zugrunde, dass sich die Satzendzeichen gewissermaßen die Arbeit der Satzartenmarkierung teilen und der Punkt dann Deklarativsätze markiert und das Fragezeichen Interrogativsätze.2 Diese Festlegung führte unter anderem bei Sätzen wie (3a) zu dem bekannten Problem, dass außer dem Ausrufezeichen nichts dafür spricht, den Satz als Exklamativsatz zu klassifizieren; der Satz (3a) ist strukturell identisch mit dem Deklarativsatz (3b). Gallmann (1985) klassifiziert deshalb solche Sätze auch nicht als Exklamativsätze, sondern als affektiv markierte Deklarativsätze, mit Primus (1997) könnte man sie auch expressive Deklarativsätze nennen. Bei der Neuregelung der Rechtschreibung ist diese Festlegung des Ausrufezeichens auf bestimmte Satzarten beseitigt worden: Das Ausrufezeichen dient laut § 69 dazu, dem Inhalt eines Satzes besonderen Nachdruck zu geben; von Satzarten ist in § 69 keine Rede mehr. (3) a. Es zieht! b. Es zieht. Interessanterweise ist die Vorstellung, dass das Ausrufezeichen dazu dient, Nachdruck zu markieren, aber schon älter. So findet sich dazu bei Elster (1901) Folgendes: Das Ausrufezeichen steht, wenn eine besonders lebhafte Empfindung zum Ausdruck gebracht werden soll. Dies kann Freude, Schmerz, Stolz, Verwunderung, Wunsch, Befehl, Ausruf, Anruf u. s. w., überhaupt ein Affekt sein, jeweils wenn auf diese Empfindung ein besonderer Nachdruck in der Schrift gelegt werden soll. (Elster 1901: 25)
Es mag aus heutiger Sicht überraschend sein, Befehl, Ausruf oder Anruf als Affekte zu bezeichnen, doch der entscheidende Punkt ist klar: Das Ausrufezeichen
|| 2 Ich verwende für die Satzarten, Meibauer, Steinbach & Altmann (2013) und vielen anderen folgend, die lateinischen Bezeichnungen. In den Regeln für die Rechtschreibung werden stattdessen die deutschen Bezeichnungen Aussagesatz, Fragesatz, Aufforderungssatz, Wunschsatz und Ausrufesatz verwendet; das ist schon deshalb unglücklich, weil dadurch der falsche Eindruck entstehen kann, dass ein Ausrufezeichen einen Satz zu einem Ausrufesatz macht.
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wird nach Elster gesetzt, um eine Empfindung, einen Affekt, eine Emotion als besonders stark zu markieren, es hat eine expressive Funktion.3 Anders als Elster versteht die amtliche Regelung Nachdruck nicht als psychischen oder psychologischen Begriff, sondern als pragmatischen Begriff (so explizit Gallmann 1985: 211). Das wird deutlich bei der Exemplifizierung der Regel in § 69, der besagt: „Mit dem Ausrufezeichen gibt man dem Inhalt des Ganzsatzes einen besonderen Nachdruck wie etwa bei nachdrücklichen Behauptungen, Aufforderungen, Grüßen, Wünschen oder Ausrufen“.4 Behauptungen, Aufforderungen, Grüße, Wünsche und Ausrufe sollen hier als sprachliche Handlungen verstanden werden, als Sprechakte. Was nachdrückliche Behauptungen oder Aufforderungen sind, bleibt in der amtlichen Regelung selbst unklar, doch Primus (1997: 472) hat den Versuch einer Klärung im Rahmen der Sprechakttheorie unternommen. Sie bezieht den Begriff des Nachdrucks auf den sprechakttheoretischen Begriff der Stärke der illokutionären Kraft: „Die Bestimmung ‚ohne Nachdruck‘ [beim Punkt] kann somit […] als ‚ohne große bzw. die größtmögliche Stärke der illokutiven Kraft‘ gedeutet werden“. Ein Ausrufezeichen markiert dann im Umkehrschluss eine große bzw. die größtmögliche illokutive Stärke; Deklarativsätze mit einem Ausrufezeichen sind starke Behauptungen, bei denen der Sprecher sehr nachdrücklich versichert, dass der geäußerte Sachverhalt wahr ist, und Imperativsätze mit einem Ausrufezeichen sind starke Aufforderungen, bei denen der Sprecher nachdrücklich versucht, den Hörer dazu zu bringen, etwas zu tun. Hilft uns all das weiter bei der Beschreibung der Kombination aus Fragezeichen und Ausrufezeichen? Gallmann (1985: 212) geht am Rande seiner Ausführungen zum Ausrufezeichen auch auf diese Kombination ein und beschreibt sie so, dass in besonderen Fällen sowohl das Merkmal, eine Frage zu sein, als auch das Merkmal, eine nachdrückliche Äußerung zu sein, ausgedrückt wird, und zwar das eine Merkmal durch das Fragezeichen und das andere Merkmal durch das Ausrufezeichen. Wenn das zutrifft, sollte eine Äußerung wie (4) eine nachdrückliche Frage sein: (4) Wer hat den KUchen aufgegessen?!
|| 3 Wenn hier und im Folgenden von Expressivität die Rede ist, geht es also um Expressivität im Sinne von starker Emotion und nicht um Expressivität im Sinne von ‚expressive meaning‘, nichtwahrheitskonditionaler Bedeutung (vgl. Kaplan 1999, Potts 2007). 4 Man beachte, dass nachdrückliche Fragen in dieser Liste nicht auftauchen. So soll ausgeschlossen werden, dass nachdrückliche Fragen nur mit einem Ausrufezeichen markiert werden, ohne Fragezeichen (Wer hat den Kuchen aufgegessen!).
Was ist das denn?! | 299
Nimmt man mit Searle (1971) an, dass die wesentlichen Regeln einer Frage darin bestehen, dass der Sprecher eine bestimmte Information erhalten möchte und die Äußerung als ein Versuch verstanden werden soll, den Hörer dazu zu bringen, diese Information zu liefern, wäre bei einer nachdrücklichen Frage dann entweder der Wunsch des Sprechers nach einer bestimmten Information sehr stark (‚ich will es sehr gerne wissen‘) oder es wäre ein sehr nachdrücklicher Versuch (‚ich will dich wirklich dazu bringen, mir die Information zu liefern‘). Weder das eine noch das andere scheint mir bei (4) zuzutreffen; die Kombination aus Fragezeichen und Ausrufezeichen mit Hilfe des Begriffs der illokutionären Stärke herzuleiten, funktioniert also nicht. Nachdrückliche Fragen werden nicht mit der Kombination aus Fragezeichen und Ausrufezeichen markiert, sondern mit der Kombination aus Fragezeichen:5 (5) Wer hat den KUchen aufgegessen?? Weiter kommt man mit Elster (1901), denn das Ausrufezeichen in (4) dient offensichtlich dazu, eine besonders starke Emotion auszudrücken. Welche Emotion das ist, wird durch das Ausrufezeichen nicht festgelegt, es könnte Freude, Empörung, Wut oder Enttäuschung darüber sein, dass jemand den Kuchen aufgegessen hat. Für eine solche Analyse spricht die Unverträglichkeit von ?! mit Prädikaten, die „als Teil ihrer Bedeutung die Nicht-Existenz einer emotionalen Einstellung zu einem bestimmten Sachverhalt haben, z.B. egal sein, nicht jucken“ (d’Avis 2001: 39; vgl. auch Fries 1988: 4). Setzt man deklarative Fragen wie Die Bayern spielen schlecht? mit solchen Prädikaten fort, kann der deklarativen Frage kein Ausrufezeichen hinzugefügt werden (# markiert hier Unangemessenheit): (6) a. b. c. d. e. f.
Die Bayern spielen schlecht? Das ist mir egal. Du hast Kopfschmerzen? Das juckt mich nicht. Das Klima wandelt sich viel schneller? Das interessiert doch keinen. Die Bayern spielen schlecht?! #Das ist mir egal. Du hast Kopfschmerzen?! #Das juckt mich nicht. Das Klima wandelt sich viel schneller?! #Das interessiert doch keinen.
Bei den eingangs erwähnten Sätzen des Typs Wie [A] ist das denn?, mit denen nach Finkbeiner (2015) eine positive oder negative Bewertung eines Sachverhalts
|| 5 Auch mit (5) kann man aber wie mit (4) eine Frage und eine starke Emotion ausdrücken, worauf mich Rita Finkbeiner hingewiesen hat. Ich werde weiter unten noch einmal auf ?! vs. ?? zurückkommen.
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ausgedrückt wird, ist das Ausrufezeichen dann ein Indikator für die starke Emotion, die mit der positiven oder negativen Bewertung verbunden ist, etwa für große Freude bei einer positiven Bewertung oder für große Verärgerung bei einer negativen Bewertung.
3 Ein Mischtyp aus Fragesatz und Ausrufesatz? Wie in der Einleitung erwähnt, sagt die amtliche Regelung nichts zur Kombination aus Fragezeichen und Ausrufezeichen, es findet sich aber zumindest ein Satz dazu in den Erläuterungen des Rechtschreibdudens. Dort heißt es: „Gelegentlich werden ein Fragezeichen und ein Ausrufezeichen gesetzt, um einen Fragesatz gleichzeitig als Ausrufesatz zu kennzeichnen“ (Duden 2017: 43). Als Beispiel wird Was fällt dir denn ein?! genannt. Der Rechtschreibduden führt nicht aus, was unter einem Ausrufesatz zu verstehen ist, doch der Grammatikduden gibt Auskunft darüber: In einem weiten Sinn kann man unter einem Ausrufesatz oder Exklamativsatz jeden Satz auffassen, der mit Nachdruck geäußert wird (und nicht klar einer der anderen Satzarten, z.B. Aufforderungssatz, zugeordnet werden kann). (Duden 2016: 902)
Nicht zufällig erinnert diese Bestimmung des Ausrufesatzes an § 69 der amtlichen Regelung; nimmt man beide zusammen, landet man wieder bei der irreführenden Annahme, dass ein Satz, der mit einem Ausrufezeichen endet, ein Ausrufesatz oder Exklamativsatz sei. Dass sie nicht wirklich tauglich ist, zeigt schon der Zusatz in Klammern, der verhindern soll, dass ein Satz wie Komm bitte! als Ausrufesatz und nicht als Aufforderungssatz klassifiziert wird. Der folgende Satz (7) hat alle Eigenschaften eines Deklarativsatzes und kann daher klar einer anderen Satzart zugeordnet werden. (7) Die SONne scheint! Für eine geeignetere Bestimmung ist eine klare Unterscheidung zwischen Satzform und Satzfunktion hilfreich. Rett (2011) unterscheidet zwischen Exklamationen (‚exclamations‘) und Exklamativsätzen (‚exclamatives‘) und charakterisiert sie wie folgt:
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[…] the utterance of an exclamation expresses a violation of the speaker’s expectation […] exclamatives are semantically restricted in that they can only receive degree interpretations. (Rett 2011: 412)
Mit Exklamationen, die zur größeren Klasse der Expressiva gehören, drückt ein Sprecher also ein Erstaunen aus, und zwar ein Erstaunen darüber, dass ein bestimmter Sachverhalt nicht dem entspricht, was er erwartet hat. Wenn Satz (7) ein Erstaunen darüber ausdrückt, dass die Sonne scheint und es nicht regnet, kann man ihn als einen Deklarativsatz klassifizieren, der die illokutive Funktion einer Exklamation hat; er ist aber kein Exklamativsatz (jedenfalls nicht nach Rett). Das lässt sich auf den Satz (4) oben übertragen. Mit der Äußerung dieses Satzes stellt der Sprecher eine Frage, deshalb das Fragezeichen. Der Satz hat auch alle formalen Merkmale eines w-Interrogativsatzes. Zugleich drückt der Sprecher aber durch das Ausrufezeichen aus, dass er nicht erwartet hat, dass jemand den Kuchen aufisst; dass kein Kuchen mehr übrig ist, trifft ihn unerwartet. Die Äußerung des Satzes soll somit als Frage und als Exklamation verstanden werden und die oben genannten Emotionen wie Freude, Empörung, Wut oder Enttäuschung beruhen auf diesem Erstauntsein (vgl. d’Avis 2013: 172) und sind daraus resultierende Effekte. Zu einer solchen Analyse passen viele der Zeitungsbelege, die ich gefunden habe: (8) a. „Die Säulen sind auch neu?! Ich hätte schwören können, die sehen aus wie die alten!“ Frau Emmi steht im Foyer des wiedererrichteten Schmidt Theaters, und so aufregend ist dieser erste Besuch […] (Hamburger Morgenpost, 6.8.2005, S. 20f.)
b. Zuerst war da nur ein Gedanke: „Meine Fresse, warum wieder ich?!“, schoss es Torsten Jansen bei der Diagnose durch den Kopf. (Hamburger Morgenpost, 30.9.2006, S. 34)
c. Kaum wieder aus der Halle raus Richtung Berlin, fällt mein glücksverschleierter Blick auf die Tankanzeige. Fast leer. Wieso fast leer?! Der war doch vorhin noch halb voll. Verunsichert halte ich an der Tanke. (Hamburger Morgenpost, 2.9.2007, S. 46f.)
In all diesen Beispielen führt ein überraschender, unerwarteter Sachverhalt (dass die Säulen neu sind, dass Torsten Jansen sich schon wieder verletzt hat und dass
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der Tank schon fast leer ist) zu einer Emotion als Reaktion darauf (Aufregung, Wut, Verunsicherung). Für eine solche Analyse spricht aber auch der Fortsetzungstest, den d’Avis (2013) einsetzt. Der Fortsetzungstest funktioniert so, dass man den betreffenden Satz mit Das habe ich erwartet fortsetzt. Da bei einer Exklamation der ausgedrückte Sachverhalt eine Überraschung für den Sprecher ist, ist eine solche Fortsetzung nicht angemessen (durch # markiert). (9) a. Das DER die Josephine heiratet! Das habe ich nicht erwartet. b. Dass DER die Josephine heiratet! #Das habe ich erwartet. Die Vorhersage ist, dass man eine deklarative Frage wie Die Bayern spielen schlecht? nicht mit Das habe ich erwartet fortsetzen kann, wenn das Fragezeichen mit einem Ausrufezeichen kombiniert ist. Das scheint mir auch zuzutreffen: (10) a. b. c. d.
Das Treffen kommt doch nicht zustande? Das überrascht mich wirklich. Das Treffen kommt doch nicht zustande? Das überrascht mich nicht. Das Treffen kommt doch nicht zustande?! Das überrascht mich wirklich. Das Treffen kommt doch nicht zustande?! #Das überrascht mich nicht.
4 Erstaunte Nachfragen In der Einleitung von Cohen (2007) finden sich die Beispiele in (11), die er mit der Kombination ?! versieht; entsprechende deutsche Beispiele sind leicht zu finden.6 (11) Ann: John is going to get the job. a. Bill: JOHN is going to get the job?! b. Bill: WHO is going to get the job?! (12) Jochen: Ich bestelle mir einen Tee. a. Karin: Du bestellst dir einen TEE?!
|| 6 Den Hinweis auf diese Art von Fragen verdanke ich Franz d’Avis. Auch das Beispiel Eu não sei?! aus dem Brasilianischen Portugiesisch, das Cagliari (1981) als ‚supresa interrogativa‘ bezeichnet, endet bemerkenswerterweise auf ?! (vgl. Truckenbrodt, Sândalo & Abaurre 2009: 77).
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b. Karin: Du bestellst dir WAS?! c. Karin: WAS bestellst du dir?! Cohen bezeichnet Bills Fragen als Überraschungsfragen (‚incredulity questions‘), sie entsprechen dem, was Selting (1995: 298ff.) als ‚erstaunte Nachfragen‘ diskutiert. Von Echofragen unterscheiden sie sich nach Cohen (2007) in zweierlei Hinsicht:7 They have a different intonation pattern, where incredulity is expressed by expanded pitch range […] Incredulity questions also have a different interpretation: they are not used to recover some information that was misheard oder misunderstood, but to express incredulity oder indignation about a statement that was heard and understood perfectly. (Cohen 2007: 133)
Das heißt, Überraschungsfragen sind (auch) Exklamationen. Eine vergleichbare Charakterisierung findet sich bei Selting (1995: 303), die ebenfalls von prosodisch markierten Fragen spricht, die lautere, stärkere Akzente bzw. Akzente mit größeren Tonhöhenbewegungen aufweisen. Man kann dann das Ausrufezeichen als das graphische Pendant zu diesen prosodischen Merkmalen ansehen; das Überraschtsein würde nicht prosodisch, sondern graphisch signalisiert.8 Wichtig für die theoretische Modellierung ist die Beobachtung von Cohen (2007), Poschmann (2015) und auch schon Selting (1995), dass die Überraschungsfragen auch Nachfragen sind; sie sind also nicht nur Exklamationen, mit denen der Sprecher seine Überraschung ausdrückt, sondern auch Fragen. Jochen kann auf Karins Äußerungen in (12a–c) mit Ja oder Einen Tee antworten, er kann sich aber auch auf Karins Erstauntsein beziehen und eine Begründung dafür liefern, warum er sich überraschenderweise einen Tee bestellt (etwa dass er Magenschmerzen hat oder schon genug Kaffee getrunken hat). Wichtig für die theoretische Modellierung ist diese Doppelnatur deshalb, weil man klären muss, auf welcher sprachlichen Ebene sie zu verorten ist. Cohen (2007) geht davon aus, dass es sich bei der relevanten sprachlichen Ebene um die Semantik handelt, und entwickelt eine Theorie, nach der solche Überraschungsfragen nicht nur einen semantischen Wert haben, sondern zwei semantische Werte. Es liegt aber auch || 7 Diese Unterscheidung ist allerdings umstritten, Reis (2016) etwa sieht Beispiele wie in (12) als Echofragen an. 8 So schon Gallmann (1985: 211): „Das Ausrufezeichen wird sekundär dadurch zum Satzintentionssignal, daß Sätze mit bestimmten Intentionsmerkmalen meist mit Nachdruck gesprochen werden, beispielsweise Aufforderungssätze.“ Man beachte, dass (4) anders als (11a–b) und (12a– c) nicht mit einer steigenden Tonhöhe gesprochen wird; die steigende Tonhöhe kann also nicht zu den prosodischen Merkmalen zählen, denen das Ausrufezeichen entspricht.
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eine Analyse nahe, nach der es sich bei der Exklamation, dem Ausdruck der Überraschung, um einen indirekten Sprechakt handelt; die Doppelnatur der Überraschungsfragen ergäbe sich dann nicht wie bei Cohen auf der Ebene der Satzbedeutung, sondern erst auf der Ebene der Äußerungsbedeutung. Äußert ein Sprecher eine Überraschungsfrage, würde es sich nach dieser Analyse primär um Exklamationen und nur sekundär um Fragen handeln, das Ausrufezeichen wäre dann eine Art konventionalisierter Indikator einer indirekten expressiven Illokution. Eine dritte Möglichkeit findet sich bei Primus (1997), die das Ausrufezeichen als einen Satzmodusindikator analysiert. Bei den Überraschungsfragen läge dann eine Satzmodusmischung oder Satzmodusvariante vor, sie wären dann exklamative oder expressive Interrogativsätze. Ein Argument dafür, die Bedeutung von ?! auf der Ebene der Äußerungsbedeutung oder der Illokutionsebene zu modellieren, ist die Beobachtung von Poschmann (2015: 221), dass das Erstaunen auch sprechaktbezogen sein kann. Wenn Bill weiß, dass jemand anders als John den Job bekommen wird, und er denkt, dass Ann das auch weiß, dann kann er mit (11a) sein Erstaunen darüber ausdrücken, dass Ann das äußert, was sie äußert (‚Wie kannst du das behaupten? Du weißt es doch eigentlich besser‘). Möglicherweise kann das Erstaunen auch auf Mimik oder Gestik bezogen sein. Über was ist der Sprecher erstaunt, wenn er den Satz (2c) oben äußert? Wohl über einen bestimmten Gesichtsausdruck. Ich will hier noch einmal auf den Unterschied zwischen ?! und ?? zurückkommen. Die Datenlage ist nicht ganz klar, aber auch bei den erstaunten Nachfragen scheint man ?? statt ?! setzen zu können:9 (13) Jochen: Ich bestelle mir einen Tee. a. Karin: Du bestellst dir einen TEE?? b. Karin: Du bestellst dir WAS?? c. Karin: WAS bestellst du dir?? Es gibt aber möglicherweise einen subtilen Kontrast zwischen ?! und ??, und zwar hinsichtlich des sprechaktbezogenen Erstaunens. Stellt jemand eine Behauptung auf, die für den Hörer ganz offensichtlich falsch ist, kann der Hörer über den geäußerten Sachverhalt nicht erstaunt sein; er kann dann eigentlich nur über das Behaupten erstaunt sein. In solchen Fällen kann ich die Kombination aus Fragezeichen und Ausrufezeichen setzen, aber nicht die Kombination aus zwei Fragezeichen:
|| 9 Auch darauf hat mich Rita Finkbeiner aufmerksam gemacht.
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(14) a. Jochen: 2 + 2 ist 5. Karin: 2 + 2 ist 5?! Karin: #2 + 2 ist 5?? b. Jochen: Die Erde ist eine Scheibe. Karin: Die Erde ist eine Scheibe?! Karin: #Die Erde ist eine Scheibe?? Wird ?? gesetzt, verstehe ich die Nachfragen so, dass Karin darüber erstaunt ist, dass 2 + 2 tatsächlich 5 und die Erde tatsächlich eine Scheibe sein soll (‚Das überrascht mich sehr‘), und nicht darüber, dass Jochen solche absurden Behauptungen aufstellt.
5 Der Interrobang Im Frühjahr 1962 veröffentlicht Martin K. Speckter, der in New York eine Werbeagentur besitzt, im Magazin Type Talks, das er alle zwei Monate herausgibt, einen Artikel mit dem Titel Making a New Point, or How about that … In diesem Artikel schlägt er die Einführung eines neues Satzendzeichens vor, das die Kombination aus Fragezeichen und Ausrufezeichen ersetzen soll. Dieses Zeichen ist eine Fusion aus Fragezeichen und Ausrufezeichen und inzwischen zu einem Bestandteil diverser Fonts geworden.10 Nach einigen Hin und Her setzt sich als Bezeichnung Interrobang durch, eine Kontamination aus interrogatio oder interrogative und bang, dem Ausdruck der amerikanischen Setzer für das Ausrufezeichen.11 Nach Speckter soll dieses Zeichen Sätze markieren, die Kombinationen aus Fragen und Exklamationen sind und zugleich Überraschung oder Aufregung und Zweifel ausdrücken können (zitiert nach Houston 2013: 25–26): To this day, we don’t know exactly what Columbus had in mind when he shouted “Land, ho”. Most historians insist that he cried, “Land, ho!” but there are others who claim it was really “Land, ho?”. Chances are the intrepid Discoverer was both excited and doubtful, but
|| 10 In den Fonts Calibri und Cambria zum Beispiel sieht das Zeichen so aus: ‽ und ‽. 11 Für den Hinweis auf den Interrobang danke ich nachdrücklich Ursula Bredel, vgl. aber auch Müller (2016). Die abwechslungsreiche Geschichte des Interrobangs erzählt ausführlich Houston (2013: Kap. 2), kürzere Zusammenfassungen finden sich unter https://www.thoughtco.com/interrobang-punctuation-term-1691181 oder https://www.grammarly.com/blog/a-brief-and-glorious-history-of-the-interrobang. Es gibt auch einen Wikipediaeintrag unter https://en.wikipedia.org/wiki/Interrobang.
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neither at that time did we, nor even yet, do we, have a point which clearly combines and melds interrogation with exclamation.
Das passt natürlich schön zu dem vorangehenden Abschnitt. Interessanterweise weist aber einer derjenigen, die die Details des Wikipedia-Eintrags zum Interrobang diskutieren, darauf hin, dass nicht Speckter das Zeichen erfunden hat, da es schon in Friedrich Huchs Enzio, der 1911 erschienen ist, auftaucht.12 Hier zwei Belege (S. 281): (15) a. […] fragte er bestürzt: Was hast du denn‽ b. Enzio richtete sich schnell empor und sah ihr erschreckt in die Augen: Bist du etwa hergereist, um mich von ihr zu trennen‽ Im Druck der Ausgabe von 1911 lässt sich neben dem Punkt, dem Fragezeichen und dem Ausrufezeichen klar noch ein viertes Satzendzeichen erkennen, und zwar eine Fusion aus Fragezeichen und Ausrufezeichen. Wie aus dem jeweiligen Satzkontext ersichtlich wird, wird es in Sätzen gesetzt, bei deren Äußerung die Sprecherfigur überrascht ist. In späteren Ausgaben ist dieses Zeichen leider verschwunden.
6 Kein Mischtyp In den Zeitungsbelegen, die ich gesammelt habe, taucht noch ein anderer Typ von ?! auf, der mit Erstaunen nichts zu tun hat. Er wird häufig bei Zeitungsüberschriften, Ankündigungen von öffentlichen Veranstaltungen oder von Fernsehund Rundfunksendungen verwendet und lässt sich als Ambiguität klassifizieren. Hier sind einige Beispiele aus meinem Korpus:
(16) a. Der folgende Tag stand unter dem Motto „Alles Käse?!“. (St. Galler Tagblatt, 21.7.2008, S. 34)
b. Wieder von 20 bis 21.15 Uhr finden vier Impulsabende zu unterschiedlichen Themen statt, unter anderem „Krisen als Wendepunkt?!“. (St. Galler Tagblatt, 26.3.2009, S. 41)
|| 12 Der Hinweis darauf findet sich unter https://en.wikipedia.org/wiki/Talk:Interrobang.
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c. Das Motto in Arbon heisst „Machen Sie mit beim Gesundsein?!“. (St. Galler Tagblatt, 30.9.2010, S. 35)
d. Es beginnt mit einem Ausrufezeichen. Obwohl im Titel der Eröffnungsausstellung „Ausgewogen?!“ auch ein Fragezeichen steht. Aber der Auftakt mit elf Künstlerinnen und Künstlern ist doch eine Art Statement von Ueli Vogt geworden. (St. Galler Tagblatt, 17.7.2012, S. 11)
e. „Schaffen wir diese Schule ab?!“ So lautete der provokante Titel einer Konfrontations-Diskussion, die Mittwoch abend als Abschluß des Landesjugend-Redewettbewerbs 1994 im Salzburger Rockhouse abgehalten wurde. (Salzburger Nachrichten, 27.5.1994)
Ein Motto wie Alles Käse?! ist nicht zugleich eine Frage und eine Exklamation, sondern entweder eine Frage oder eine Exklamation, das heißt, es ist ambig zwischen der Frage Alles Käse? und der Exklamation Alles Käse!13 Ähnlich ist der Diskussionsrundentitel Schaffen wir diese Schule ab?! entweder als Frage zu verstehen, Schaffen wir diese Schule ab?, oder als Aufforderung, Schaffen wir diese Schule ab! In diesen Sätzen wird das Ausrufezeichen nicht dem Fragezeichen hinzugefügt, sondern es werden zwei Sätze miteinander verschmolzen, ein Satz mit einem Fragezeichen und ein Satz mit einem Ausrufezeichen. In dieser Ambiguität zwischen zwei Satztypen oder zwei Illokutionen besteht gerade der Witz, deshalb werden sie so gerne in diesen Kontexten verwendet.14
7 Rhetorische Fragen Ein wichtiger Punkt oben bei den Überraschungsfragen war, dass sie nicht nur verwendet werden, um das Erstaunen über etwas auszudrücken, sondern zugleich als Fragen, genauer als Nachfragen. Doch ?! wird auch oft in rhetorischen Fragen gesetzt, auf die keine Antwort erwartet wird; Martin Speckter sieht seinen
|| 13 Man kann, was Franz d’Avis angemerkt hat, Alles Käse! auch als nachdrückliche Behauptung verstehen. Das ändert jedoch nichts an der Ambiguität. 14 Hierher gehört auch das Beispiel Es regnet?! aus Müller (2016: 497f.), das er als Kombination aus Fragesatz und Aussagesatz, also aus Es regnet? und Es regnet! beschreibt.
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Interrobang nicht nur für Überraschungsfragen vor, sondern auch für rhetorische Fragen.15 Und auch dafür gibt es in meinem Korpus diverse Belege: (17) a. Der Papst fühlt sich verhöhnt? Der Ärmste! Wie sich wohl Millionen von Schwulen und Lesben fühlen, die mit bald langweiliger Regelmäßigkeit von der katholischen Kirche offiziell diffamiert werden?! (Hamburger Morgenpost, 15.4.2006, S. 5)
b. Was nützt mir ein Fahrzeug mit 200 PS, wenn ich nur 120 fahren darf?! (Hamburger Morgenpost, 3.1.2007, S. 16)
c. Liebe ein Leben lang: Wer träumt nicht davon?! (Hamburger Morgenpost, 26.2.2012, S. 52)
d. Wer macht denn so was?! Erwin Friedeboldt (82) wurde sein silbergrauer Motorroller, eine Spezialanfertigung für den Schwerbehinderten, geklaut! (Hamburger Morgenpost, 8.7.2012, S. 6)
Wenn man Meibauer (1986) darin folgt, dass rhetorische Fragen gebraucht werden, um etwas zu behaupten, und rhetorische Fragen als indirekte Behauptungen analysiert werden können, stellt sich wieder die Frage nach der Funktion des Ausrufezeichens. Eine mögliche Funktionsbestimmung ist, das Ausrufezeichen bei den rhetorischen Fragen zu den rhetorischen Mitteln zu zählen, das heißt, zu den sprachlichen Mitteln, mit denen die Rhetorizität einer Frage angezeigt wird. Es wäre dann eine Art indirekter illokutionärer Indikator, der zusammen mit eventuellen anderen rhetorischen Mitteln wie den Modalpartikeln schon, auch oder nicht anzeigt, dass der Fragesatz nicht als Frage verstanden werden soll, sondern als Behauptung.16 Nach einer anderen möglichen Funktionsbestimmung ist das Ausrufezeichen auf den indirekten Sprechakt des Behauptens bezogen. Der Effekt der Hinzufügung des Ausrufezeichens in rhetorischen Fragen bestünde dann darin, dass dem Behaupten durch das Ausrufezeichen Nachdruck
|| 15 Schon Elster (1901: 25) beobachtet, dass ?! gerne bei rhetorischen Fragen gesetzt wird: „Ob die rhetorische Frage Fragezeichen oder Ausrufungszeichen verlangt, darf dem Geschmack des Einzelnen, je nachdem ob er mehr die Frage oder mehr das Rhetorische ausdrücken will, überlassen werden. Bei besonderer Hervorhebung setzt man wohl auch beides.“ 16 Das Ausrufezeichen macht also aus dem Fragesatz entgegen Müller (2016: 498) keinen Aussagesatz. Für eine kritische Diskussion des Konzepts der indirekten illokutionären Indikatoren vgl. Meibauer (1986: Kap. 5.2).
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verliehen wird, und das Ausrufezeichen bei den rhetorischen Fragen könnte ordentlich unter § 69 subsumiert werden, wenn unter dem in § 69 genannten Inhalt des Satzes die Äußerungsbedeutung verstanden wird.17 Ob rhetorische Fragen, die mit einem zusätzlichen Ausrufezeichen versehen sind, tatsächlich auch nachdrücklich geäußert werden, also mit stärkeren Akzenten oder Akzenten mit größeren Tonhöhenbewegungen, wäre zu überprüfen.
8 Zum Schluss Die Kombination aus Fragezeichen und Ausrufezeichen sitzt gewissermaßen am graphematischen Katzentisch; sie wird erstaunlich häufig gebraucht, aber nur selten in der Forschungsliteratur zur Graphematik des Deutschen erwähnt, geschweige denn genauer beschrieben. Wie hoffentlich in den vorangehenden Ausführungen deutlich geworden ist, lohnt sich jedoch eine genauere Beschäftigung mit ihr, weil sie vielfältig einsetzbar ist. Ich habe vier verschiedene Verwendungsarten diskutiert (‚normale‘ Fragen wie (4), erstaunte Nachfragen wie in (12), ambige Sätze wie in (16) und rhetorische Fragen wie in (16)) und es gibt wahrscheinlich noch mehr (vgl. Müller 2016: 496). Bei all diesen Verwendungsweisen taucht auf die ein oder andere Weise der Begriff des Nachdrucks auf. Daher kann man die Frage, ob bei ?! tatsächlich eine Normlücke in der amtlichen Regelung vorliegt, so beantworten, dass ?! zwar nicht explizit geregelt wird, sein Gebrauch sich aber aus den Bestimmungen für ? und ! herleiten lässt, wenn man den Begriff des Nachdrucks auf geeignete Weise definiert. Man kann diesen Begriff wie schon Gallmann (1985) einerseits prosodisch verstehen, andererseits pragmatisch. Wenn man vom Ausrufezeichen als einem Indikator für Expressivität spricht, muss man deshalb je nach Verwendungskontext differenzieren, ob es sich um Expressivität in einem prosodischen Sinn handelt oder um Expressivität in einem illokutiven Sinn. In vielen Fällen ist mit der Kombination aus Fragezeichen und Ausrufezeichen eine Einstellung des Sprechers verbunden, die man als Erstaunen, Überraschung oder Ungläubigkeit beschreiben kann; es gibt aber auch Fälle, in denen der Sprecher keine solche Einstellung hat. Etwas vereinfacht lässt sich somit festhalten, dass das Ausrufe-
|| 17 Das entspräche dann, wenn ich es richtig verstehe, in etwa dem, was Müller (2016: 498) dazu sagt: „[D]urch das Ausrufezeichen wird das Wissen der getätigten Aussage des Schreibenden unterstrichen“.
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zeichen zwar immer auf die ein oder andere Weise eine expressive Funktion hat, aber nicht immer eine exklamative.
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Annika Herrmann & Markus Steinbach
Expressive Gesten – expressive Bedeutungen Expressivität in gebärdensprachlichen Erzählungen Abstract: Gebärdensprachen verwenden dieselbe visuell-gestische Modalität wie manuelle und nicht-manuelle Gesten. Daher können Signer einer Gebärdensprache nicht nur – genauso wie Sprecher einer Lautsprache – Gesten sprachbegleitend verwenden, sondern auch – anders als Sprecher einer Lautsprache – Gesten systematisch in das linguistische System ihrer Gebärdensprache integrieren. Ein besonders interessantes Beispiel für diese systematische Interaktion von Gesten und Gebärdensprache ist das Phänomen des Role Shifts in gebärdensprachlichen Erzählungen. Role Shift wird in Gebärdensprachen verwendet, um sprachliche und nicht-sprachliche Handlungen anderer Personen wiederzugeben. In diesem Beitrag diskutieren wir ausgewählte Beispiele aus Fabeln, die in DGS erzählt wurden und die komplexe Interaktion von Gebärdensprache und Gestik illustrieren. In der Analyse der Beispiele gehen wir insbesondere auf die Doppelfunktion von manuellen und nicht-manuellen Gesten ein: Gestische Bedeutungskomponenten tragen einerseits zum propositionalen (wahrheitsfunktionalen) Gehalt der Äußerung bei. Andererseits realisieren sie aber auch expressive Bedeutungsaspekte. Am Ende des Beitrags diskutieren wir abschließend, wie sich im Rahmen neuerer Ansätze zu Role Shift, Body as Subject, Redewiedergabe, Demonstration und sprachbegleitender Gestik diese modalitätsspezifische Interaktion von Gebärdensprache und Gestik ableiten lässt.
1 Gestik, Gebärdensprache und Expressivität Natürliche menschliche Sprachen existieren in zwei verschiedenen Modalitäten. Generell unterscheidet man die oral-auditive Modalität der Lautsprachen von der visuell-gestischen Modalität der Gebärdensprachen. Letztere sind die natürlichen Muttersprachen von tauben Menschen. Sie sind perzeptiv visuell und werden mit den Armen, den Hände, dem Oberkörper, dem Kopf und dem Gesicht produziert. Die spezifische Art der Artikulation und Perzeption ist für die wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Sprachmodalitäten verantwortlich (Meier 2002; Aronoff, Meir & Sandler 2005). Die zugrundeliegenden grammatischen Strukturen gleichen dagegen genauso wie die kognitiven Prozesse und https://doi.org/10.1515/9783110630190-013
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neuronalen Repräsentationen auf allen Ebenen weitgehend denen von Lautsprachen. Eine für diesen Beitrag wichtige modalitätsspezifische Eigenschaft ist, dass Gebärdensprachen gestische Elemente direkt in die grammatische Struktur integrieren können. In Lautsprachen ist dies nur für vokale Gestik möglich. Vokale Gesten haben allerdings eine begrenzte Ausdrucksstärke: Mit ihnen lassen sich im Wesentlichen stimmliche Eigenschaften von Sprechern oder wie in den Beispielen (1) und (2c) Geräusche von Objekten nachahmen, d.h. die Gesten haben onomatopoetischen Charakter. In den folgenden Beispielen sind die gestischen Elemente kursiv und fett gedruckt. (1) Jörg mit seinem Audi: brumm brumm; Markus mit seinem Benzi: wrrrummm. Außerdem spielen vokale Gesten in vielen Sprachen bei Ideophonen, in der Informationsstrukturierung und bei der Markierung von Satztypen und Sprechakten eine zentrale Rolle. In diesem Bereich sind sie weitgehend grammatikalisiert und somit stark in das sprachliche System integriert, wobei im Bereich der Intonation und Prosodie – ähnlich wie bei den unten diskutierten gebärdensprachlichen Beispielen – die Grenze zwischen Gestik und Sprache fließend und damit nicht immer eindeutig festzulegen ist (zu Ideophonen vgl. Dingemanse & Akita 2017; zu Intonation vgl. Gussenhoven 2004). Neben vokalen Gesten wie in (1) verwenden Sprecher einer Lautsprache natürlich auch sprachbegleitende (2a,b) oder sprachersetzende (2c) manuelle und nicht-manuelle Gesten. Solche Gesten können wie in (2c) auch gemeinsam mit vokalen Gesten auftreten. In (2c) geben die Pfeile unter den beiden vokalen Gesten ‚schhhht‘ und ‚ft-ft‘ die Bewegung des rechten Arms und der Hand des Sprechers (Otto Ludwig Piffl) wieder und demonstrieren die Flugrichtung sowjetischer und amerikanischer Raketen (Beispiel (2b) ist aus Streeck 2002 und Beispiel (2c) aus Billy Wilders One, Two, Three). (2) a. Kennst du den da drüben? --Blickgeste-b. But then they’re like “Stick this card into this machine” --gesture “sticking card into”--
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c. Soviet missiles pfschhhhhhhhht Venus!
American missiles pft-pft Miami Beach.
Gebärdensprachen nutzen auf eine ähnliche Art und Weise das semantische und expressive Repertoire von manuellen und nicht-manuellen Gesten. Zudem können sie mithilfe von Mimik und Bewegung gestische Bedeutungsaspekte realisieren, die in Lautsprachen mithilfe von vokaler Gestik realisiert werden. So kann man sich für Beispiel (1) ohne Weiteres eine manuelle und nicht-manuelle gestische Begleitung der Fahrgeräusche vorstellen, die dann Aufschluss über die Art der Fortbewegung gibt und somit zur Gesamtbedeutung der Aussage beiträgt. Dies bedeutet, dass in beiden Modalitäten Sprache und Gestik auf eine modalitätsspezifische Art und Weise interagieren. Diese Schnittstelle der Interaktion von Gestik und Sprache rückt verstärkt in das aktuelle Forschungsinteresse und bietet ein spannendes interdisziplinäres Forschungsfeld für die Lautsprachlinguistik, die Gebärdensprachlinguistik und die Gestenforschung (vgl. auch GoldinMeadow & Brentari 2017; Müller et al. 2013, 2014; Ortega, Schiefner & Özyürek 2017; Özyürek 2012; Schlenker, im Erscheinen). Da manuelle und nicht-manuelle Gesten dieselbe Modalität der Produktion und Perzeption nutzen wie Gebärdensprachen, ist es in Gebärdensprachen möglich, solche gestischen Elemente direkt in das sprachliche System zu integrieren. Daher ist eine klare Abgrenzung zwischen Geste und Gebärde (ähnlich wie bei bestimmten vokalen Gesten in Lautsprachen) nicht immer eindeutig möglich. Eine Besonderheit von Gebärdensprachen ist dabei die systematische Integration von manuellen und nicht-manuellen Gesten in das Sprachsystem, und zwar sowohl diachron im Rahmen von Grammatikalisierungsprozessen (van Loon, Pfau & Steinbach 2014; Pfau & Steinbach 2011) als auch synchron im Rahmen einer parallelen Nutzung von Gebärden und Gestik (Goldin-Meadow & Brentari 2017). Ein besonders wichtiger Aspekt ist dabei, dass die modalitätsspezifischen Eigenschaften von Gebärdensprachen nicht nur eine simultane Realisierung von unterschiedlichen grammatischen Merkmalen durch verschiedene parallel verwendete Artikulatoren ermöglichen, sondern auch eine simultane Realisierung von Gesten und Gebärden. Die in das Sprachsystem integrierten Gesten übernehmen dabei zwei unterschiedliche Aufgaben: Zum einen tragen sie zum propositionalen Gehalt der Äu-
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ßerung des Signers bei. Dies gilt vor allem im Bereich der Rede- und Handlungswiedergabe. Bestimmte Aspekte der Proposition werden nicht linguistisch realisiert, sondern gestisch demonstriert. Zum anderen haben sie meist eine zusätzliche (und in manchen Fällen auch eine ausschließliche) expressive Komponente, da sie im Gegensatz zu einer neutralen linguistischen Beschreibung die Art der wiedergegebenen Handlung oder die Einstellung eines Protagonisten direkter zur Schau stellen (unmittelbar demonstrieren). Die in diesem Artikel diskutierten Beispiele werden zeigen, dass Signer mithilfe gestischer Elemente bestimmten Einstellungen, bestimmten Gefühlen oder bestimmten Handlungen eines Protagonisten unmittelbar Ausdruck verleihen. Diese Doppelfunktion von manuellen und nicht-manuellen Gesten in Gebärdensprachen lässt sich (ähnlich wie die Doppelfunktion von Ideophonen in vielen Lautsprachen) gut mit einer multidimensionalen Semantik erfassen, die zwei Bedeutungsebenen annimmt: (i) eine ‚klassische‘ propositionale (wahrheitsfunktionale) Ebene und (ii) eine gebrauchsfunktionale (use-conditional) Ebene, auf der expressive Bedeutungsaspekte repräsentiert werden (Kaplan 1999; Gutzmann 2015). In diesem Beitrag analysieren wir – aufbauend auf der Studie von Herrmann & Pendzich (2018) – einige Beispiele für die Interaktion von Gebärden und Gesten in gebärdensprachlichen Erzählungen der Deutschen Gebärdensprache (DGS) und diskutieren das komplexe Zusammenspiel von Gesten und Gebärden innerhalb des Phänomens des sogenannten Role Shifts. Role Shift ist eine strukturierte Rollenübernahme, bei der der Erzähler systematisch die Perspektive eines Protagonisten übernimmt (Abschnitt 2). Wir schauen uns dabei explizit die Verwendung von expressiven Gesten in den Erzählungen an (Abschnitt 3) und skizzieren im Anschluss fünf zentrale Bausteine für eine ‚multimodale‘ Bedeutungstheorie der systematischen Interaktion von Gesten und Gebärden in gebärdensprachlichen Erzählungen (Abschnitt 4). Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werden in den folgenden Beispielen nur die für unsere Diskussion wesentlichen Aspekte glossiert. Dabei werden Gebärden immer in Kapitälchen notiert. ‚CL‘ steht für einen Klassifikator und ‚INDEX‘ für eine Zeigegebärde, die unter anderem pronominale Funktion haben kann. Raumpunkte werden mit tiefgestellten Indizes markiert. Gestische Elemente werden wie in Beispiel (1) und (2) kursiv und fett repräsentiert. Sollten manuelle linguistische oder gestische Elemente gleichzeitig mit gestischen Gesichtsausdrücken auftreten, werden letztere unter den Gebärden oder Gesten ebenfalls fett und kursiv notiert. Role Shift wird mit eckigen Klammern markiert, wobei der Protagonist, dessen Handlung oder Äußerung im Role Shift wiedergegeben wird, nach der öffnenden Klammer tiefgestellt angegeben ist.
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2 Role Shift in Gebärdensprachen Role Shift ist ein für Gebärdensprachen typisches Mittel der Wiedergabe von Sprache, Gedanken und Handlungen Dritter. Diese Rollenübernahme von Referenten hat zwei generelle Eigenschaften: Semantisch wird ein sogenannter Perspektivwechsel ausgelöst und somit die Interpretation der dargestellten Handlung oder der wiedergegebenen Äußerung in einem anderen Kontext ermöglicht, der nicht dem aktuellen Sprecherkontext entspricht. Morphosyntaktisch wird Role Shift und die damit einhergehende Verschiebung der Perspektive meist overt mithilfe nicht-manueller Markierungen ausgedrückt. Dazu gehören Oberkörper- und Kopfbewegungen, Veränderung der Blickrichtung und geänderte Gesichtsausdrücke (Winston 1991). Maximale Markierungen eines prototypischen Role Shifts enthalten alle nicht-manuellen Marker. Im Gegensatz dazu kann bei einer minimalen Markierung der Role Shift allein durch die Veränderung der Blickrichtung oder des Gesichtsausdrucks angezeigt werden (Herrmann & Steinbach 2012). Die Marker Blickrichtung und Kopfbewegung sind am Adressaten der Äußerung der wiedergegebenen Situation orientiert, die Oberkörperbewegung orientiert sich dagegen am Signer der wiedergegebenen Äußerung. In gebärdensprachlichen Erzählungen werden diese Perspektivwechsel typischerweise sehr subtil und schnell markiert (Quer 2011). Die Beispiele, die wir im nächsten Abschnitt diskutieren, geben davon einen guten Eindruck. In der Literatur werden generell zwei Formen von Role Shift unterschieden (Schlenker 2017a, 2017b; Quer et al. 2017): (i) Quotation/Attitude Role Shift (Q-RS) wird zur Wiedergabe der Äußerungen oder Gedanken einer Person verwendet; (ii) Action Role Shift (A-RS) wird zur Wiedergabe von Handlungen einer Person verwendet. Dabei kommt in vielen Fällen eine Mischung beider Arten von Role Shift vor, da sowohl der linguistische Inhalt wiedergegeben als auch der gestische, handlungsorientierte Ausdruck aus der wiedergegebenen Handlungssituation ikonisch demonstriert wird. Die nicht-manuellen Markierungen des Role Shifts durch Bewegung des Oberkörpers und Kopfs und durch Veränderung der Blickrichtung sind allerdings selbst keine gestische Imitation der wiedergegebenen Äußerungen und Handlungen einer Person, sondern grammatische Indikatoren. Durch ein Drehen des Oberkörpers drückt der Signer nicht aus, dass sich die entsprechende Person in der wiedergegebenen Situation tatsächlich gedreht hat, sondern markiert den Role Shift grammatisch. Diese Marker unterliegen demnach auch grammatischen Beschränkungen und zeigen an, dass der Signer nun
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in die Rolle einer anderen Person schlüpft und damit ein Kontextwechsel stattfindet. Diese nicht-manuellen Marker haben typischerweise Skopus über das gesamte zitierte oder demonstrierte Material und erscheinen simultan zu den Gebärden. Da nicht-manuelle Markierungen meist minimal vor der manuellen Artikulation starten, findet man häufig ein sogenanntes Spreading, also die Ausbreitung der entsprechenden Markierung auf vorangehende Gebärden wie beispielsweise Handlungs- oder Sprechaktprädikate oder nominale Angaben des entsprechenden Protagonisten. Im Gegensatz dazu kann die Mimik innerhalb des Role Shifts in Abhängigkeit von den wiedergegebenen Gebärden und Äußerungen einerseits lexikalische (z.B. Mundgestik) oder grammatische Funktionen (z.B. Markierung von Satztypen) übernehmen oder aber eine Demonstration des Verhaltens oder Charakters der dargestellten Person darstellen und somit unterschiedliche Funktionen haben (z.B. Emotionen, Eigenheiten oder Einstellungen der dargestellten Person ausdrücken). Die Interpretation von Pronomen und temporalen oder lokalen indexikalischen Ausdrücken wird innerhalb des Role Shifts normalerweise an den neuen Kontext angepasst, so dass der Signer im Role Shift ähnlich wie in direkter Rede die Perspektive der wiedergegebenen Person einnimmt. Hierbei gibt es jedoch sprachspezifische Unterschiede. In Amerikanischer Gebärdensprache (ASL) und Französischer Gebärdensprache (LSF) scheint die Anpassung aller indexikalischen Ausdrücke obligatorisch (Schlenker 2017a), wohingegen in der Katalanischen Gebärdensprache (LSC) oder der DGS manche indexikalischen Ausdrücke wie Temporal- und Lokaldeixis im Role Shift ambig bleiben und die Interpretation situations- und gebärdenabhängig ist (Quer 2005, 2011; Herrmann & Steinbach 2012; Hübl 2013, 2014, 2016). Damit verbindet Role Shift in DGS Eigenschaften von direkter und indirekter Rede. Diese Eigenschaften von Role Shift legen auch einen Vergleich zu erlebter Rede in schriftsprachlichen Erzählungen nahe, in der ebenfalls zwei Kontexte überlagert werden, so dass deiktische Ausdrücke wie jetzt, dort oder sprecherorientierte Elemente wie Modalpartikeln und expressive Ausdrücke wie verdammt im Kontext der Erzählung und nicht im Kontext des Erzählers interpretiert werden, wohingegen Pronomen und Tempus weiterhin im Erzählerkontext interpretiert werden (Eckardt 2012, 2014). Wir kommen weiter unten auf diesen Vergleich zurück. Ein weiterer im Verlauf des Artikels relevanter Aspekt von Role Shift ist die Möglichkeit, in Gebärdensprachen mehrere Perspektiven und Protagonisten gleichzeitig darstellen zu können. Unterschiedliche Artikulatoren wie die dominante und die nicht-dominante Hand, der Oberkörper, der Kopf und das Gesicht können jeweils für verschiedene Protagonisten und den Erzähler stehen und dabei eine linguistische oder gestische Funktion übernehmen (blended spaces bei
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Liddell & Metzger 1998, body partitioning bei Dudis 2004, parallel perspectives bei Herrmann & Pendzich 2014). Dabei spielt auch die Verwendung von so genannten Klassifikatoren eine essentielle Rolle. Klassifikatoren sind grammatische Modifikationen der Handform einer Verbgebärde in Abhängigkeit von Eigenschaften der Argumente des Verbs. Dies ist in Abbildung 1 anhand von Klassifikatoren für Fahrzeuge illustriert, die je nach Gebärdensprache mit einer unterschiedlichen Handform realisiert werden. Wird beispielsweise in ASL (rechtes Bild) ausgedrückt, dass ein Auto über die Autobahn fährt oder an einer bestimmten Stelle auf dem Parkplatz steht, muss die in Abbildung 1 rechts dargestellte 3-Hand verwendet werden. Für denselben Sachverhalt wird in DGS die in der Mitte dargestellte flache Hand und in der Jordanischen Gebärdensprache die links dargestellte Handform mit ausgestrecktem Zeigefinger und kleinem Finger verwendet. Würde dagegen die Bewegung eines Menschen ausgedrückt, müsste man in DGS die sogenannte 1-Handform (ausgestreckter Zeigefinger) mit nach oben ausgerichtetem Zeigefinger verwenden.
Abb. 1: Unterschiedliche Entity- oder Subjektklassifikatoren für Fahrzeuge in Jordanischer Gebärdensprache (links), DGS (Mitte) und ASL (rechts).
Man unterscheidet verschiedene Typen von Klassifikatoren, wobei in den folgenden Beispielen vor allem zwei Formen der Verbalklassifikation relevant sind: (i) die Handling- oder Objektklassifikatoren und (ii) die Entity- oder Subjektklassifikatoren (Benedicto & Brentari 2004; Glück & Pfau 1998; Zwitserlood 2012). Erstere demonstrieren die Handhabung eines Objekts (klassifizieren also das interne Argument des Verbs) und lassen sich aufgrund des gestischen Ursprungs der Handhabung nicht immer eindeutig von Gesten der Handhabung von Objekten unterscheiden. Subjektklassifikatoren klassifizieren dagegen, wie in Abbildung 1 für Fahrzeuge illustriert, das Subjekt des Satzes und unterliegen klaren sprachspezifischen formalen Beschränkungen, welche dann auch innerhalb des Role Shifts systematisch linguistischen Kategorien zugeordnet werden. Im folgenden Ab-
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schnitt werden wir die Interaktion von Gesten und Gebärden anhand von Beispielen aus gebärdeten Fabeln illustrieren. Dabei werden auch die beiden Arten von Klassifikatoren ausführlicher beschrieben.
3 Zeig mir, was du meinst: Die Interaktion von Gesten und Gebärdensprachen In gebärdensprachlichen Erzählungen werden gestische Komponenten in systematischer Weise verwendet, um unterschiedliche semantische und pragmatische Effekte zu erzielen. Die Gesten können dabei wie oben schon erwähnt eine propositionale und eine expressive Funktion haben. So können gestische Elemente, wie im vorherigen Abschnitt dargestellt, verwendet werden, um Perspektivwechsel und multiple Perspektivierung zu markieren (Role Shift). Darüber hinaus dient die Integration von Gesten in Erzählungen der Wiedergabe von sprachlichen und nicht-sprachlichen Handlungen eines oder mehrerer Protagonisten. Mithilfe von Gesten lassen sich die Handlungen von Protagonisten optimal integrieren und im Rahmen einer gebärdensprachlichen Erzählung lebhaft darstellen. Dasselbe gilt für die Darstellung von mentalen Prozessen und Emotionen. Ein vierter Aspekt betrifft die Einstellung eines Protagonisten oder des Erzählers zu einem bestimmten Sachverhalt. Auch expressive Bedeutungsaspekte lassen sich mithilfe von integrierten gestischen Elementen sehr gut visualisieren. Alle vier Punkte werden wir im Folgenden anhand von ausgewählten Beispielen ausführlich illustrieren. Zwei Punkte sind beim Zusammenspiel von Gesten und Gebärdensprache von besonderer Bedeutung: Zum einen können die gestisch realisierten Bedeutungsaspekte unterschiedlich stark in die semantische Struktur der Erzählung einfließen. Wir werden anhand der im Folgenden diskutierten Beispiele zeigen, dass in manchen Fällen die gestischen Komponenten einen wichtigen Bestandteil der Proposition bilden. Dies bedeutet, dass in Gebärdensprachen das Gesagte im Sinne von Grice (1989) sowohl sprachlich als auch gestisch vermittelt wird und damit bestimmte Aspekte der Proposition systematisch gestisch realisiert werden. Im Gegensatz dazu haben Gesten in Lautsprachen oft nur eine „sprachbegleitende“ Funktion und realisieren Bedeutungsaspekte, die nicht-at-issue und damit nicht direkt relevant für das Gesagte sind. Auf diesen Unterschied zwischen Laut- und Gebärdensprachen gehen wir im vierten Abschnitt noch einmal näher ein. Zum anderen ist die Grenze zwischen Gestik und Gebärdensprache fließend, so dass bestimmte Elemente nicht immer eindeutig als sprachlich oder
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gestisch klassifiziert werden können. Dies hat mit der oben schon genannten Beobachtung zu tun, dass Gebärdensprachen und Gesten dieselbe Modalität nutzen. Ein prominentes Beispiel für einen fließenden Übergang zwischen Gesten und Gebärden sind die ebenfalls schon erwähnten Objektklassifikatoren, die zur Darstellung der Handhabung eines Objekts dienen und die einen stark gestischen Charakter haben. Dennoch unterliegen auch diese Klassifikatoren klaren linguistischen Beschränkungen (Benedicto & Brentari 2004). Dasselbe gilt für viele grammatische und lexikalische nicht-manuelle Markierer, die einerseits einen gestischen Ursprung haben, andererseits systematisch in die grammatische und lexikalische Struktur der jeweiligen Gebärdensprache integriert sind (van Loon, Pfau & Steinbach 2014; Pendzich 2017; Pfau & Quer 2010; Pfau & Steinbach 2011). Im Folgenden werden wir mithilfe einiger ausgewählter Beispiele darstellen, wie vielschichtig die Interaktion von sprachlichen und gestischen Elementen in gebärdensprachlichen Erzählungen sein kann. Die Beispiele stammen aus drei verschiedenen Aesop-Fabeln, die von zwei Signern (A und B) nacherzählt wurden und Teil eines Fabelkorpus sind, das im Gebärdensprachlabor der Georg-August-Universität Göttingen in Anlehnung an das ECHO-Projekt erstellt wurde (Crasborn et al. 2007). Auch wenn hier nur einige wenige Beispiele vorgestellt werden, so können wir festhalten, dass sich die unten dargestellten Erzählstrukturen und Erzählstrategien in den unterschiedlichen Fabeln ähneln und über die unterschiedlichen Signer in den Daten erstaunlich konstant sind. Der Schwerpunkt der folgenden Auswertung liegt dabei auf expressiven Verwendungen von Gesten. Die Beispiele zeigen dabei auf unterschiedliche Art die komplexe Interaktion von Gebärdensprache und Gestik, und zwar von stark gestisch geprägten Erzählsequenzen über komplexe gestische Demonstrationen bis hin zu gemischten Sequenzen, in denen gestische und linguistische Elemente gemeinsam die Erzählung tragen. Eine ausführliche Diskussion der Fabeln und eine detaillierte Auswertung der Erzählstrukturen und Perspektivierungen findet sich in Herrmann & Pendzich (2018). Das erste Beispiel (Signer A) ist der Fabel Der Hirtenjunge und der Wolf entnommen. In diesem Beispiel wird die Langeweile des Hirtenjungen sowohl sprachlich wie auch gestisch dargestellt. Der Erzähler schlüpft in die Rolle des Hirtenjungen und wechselt zwischen A-RS und Q-RS. Der Role Shift wird durch ein leichtes Drehen des Oberkörpers nach rechts, eine Veränderung der Mimik und die gestische Imitation des Verhaltens des Hirtenjungen markiert. Wie in Beispiel (3) zu sehen ist, werden die Gedanken des Hirtenjungen wiedergegeben (‚die Landschaft hier ist schön, aber es ist langweilig und es passiert nichts‘). Zum anderen wird das gelangweilte Verhalten des Hirtenjungen gestisch demonstriert. Während der Gedankenwiedergabe behält der Erzähler den gelangweilten
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Gesichtsausdruck bei, so dass auch diese Sequenz eine gestische (nicht-manuelle) Komponente hat. Dies bedeutet, dass die gestische nicht-manuelle Markierung den gesamten Role Shift (also auch die Gedankenwiedergabe im Q-RS) markiert. Zudem wird der Q-RS von zwei gestischen Demonstrationen des Verhaltens des Jungen, also von zwei A-RS, eingerahmt. (3) [Hirtenjunge steht und hält einen Stock und schiebt die Schafe zusammen SCHÖN LANDSCHAFT ABER LANGWEILIG DASSELBE steht und hält einen Stock und schaut gelangweilt umher] ‚Der Hirtenjunge hält einen Stock und schiebt die Schafe zusammen. Er findet die Landschaft schön, aber denkt, dass seine Tätigkeit langweilig ist und immer dasselbe. Er steht mit seinem Stock in der Gegend und schaut gelangweilt umher.‘ In einer lautsprachlichen Erzählung könnte man einen ähnlichen Effekt erzielen, indem man die Gedanken wie in Beispiel (4) in erlebter Rede wiedergibt: (4) Der Hirtenjunge stand auf der Weide. Mein Gott, war das schön hier. Aber auch soooo langweilig. Die gestischen Komponenten geben einen direkten Eindruck des langweiligen Tagesablaufs des Hirtenjungen, der die Grundlage für die in der nächsten Sequenz dargestellte Idee bildet, die Dorfbewohner zu ärgern. Diese weiterführende Sequenz ist im zweiten Beispiel (Signer A) dargestellt. In diesem Beispiel ist die Interaktion zwischen gestischen und linguistischen Elementen etwas komplexer. Zu Beginn der Sequenz wird im Role Shift gestisch dargestellt, dass der Hirtenjunge nachdenkt und eine Idee hat. Dabei dreht der Erzähler den Oberkörper nach links in Richtung des Raumpunkts im Gebärdenraum, in dem er vorher die Dorfbewohner verortet hat. Dann kommt im Skopus des Role Shifts eine Beschreibung des Erzählers, und zwar SCHREI. Der Erzähler beschreibt damit das Verhalten des Hirtenjungen, allerdings ohne in die neutrale Position des Erzählers zu wechseln. Direkt darauf befinden wir uns wieder im QRS. Der Erzähler ist nun wieder in der Rolle des Hirtenjungen und gibt dessen Äußerung, dass der Wolf seine Schafe frisst, wieder. Dabei bedient er sich linguistischer (wiedergegebene Äußerung) wie auch gestischer Elemente (Art der Äußerung). Das Schreien des Hirtenjungen wird expressiv gestisch durch die Art der Äußerung (große intensive Gebärden) und die Mimik demonstriert. Am Ende der Sequenz kommt dann noch einmal ein Erzählerkommentar. Die Gebärde SCHREI wird noch zweimal wiederholt.
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(5) [Hirtenjunge hat eine Idee
SCHREI HEY WOLF INDEX SCHAF ESS INDEX SCHREI++]
---------------------“schreien”--------------------‚Der Hirtenjunge hat eine Idee. Er schreit in Richtung der Dorfbewohner: „Hey, der Wolf frisst meine Schafe“.‘ Interessant an diesem Beispiel ist einerseits die Einbettung des Role Shifts in einen Erzählkommentar, der die sprachliche Handlung (Schreien) noch einmal linguistisch beschreibt und damit das Gegenstück zu der im vorherigen Beispiel zu beobachtenden Einbettung einer sprachlichen Äußerung in eine gestische Demonstration ist. Andererseits wird die Art der Äußerung (Schreien) zusätzlich durch die sprachbegleitende Gestik demonstriert und so bildlich in der Erzählung dargestellt. Der Erzähler wechselt hier also zum einen ohne explizite Markierung zwischen der Perspektive des Erzählers und der des Protagonisten, des Hirtenjungen. Da die komplette Sequenz im Role Shift erzählt wird, können die beiden einrahmenden Kommentare des Erzählers (SCHREI und SCHREI++) als eine Art Unquotation im Sinne von Maier (2014, 2015) analysiert werden (es ist nicht der Hirtenjunge, der ‚schreien‘ sagt, sondern der Erzähler). Dies ähnelt wieder dem nicht eindeutig grammatisch markierten Perspektivwechsel in erlebter Rede in Lautsprachen. Zum anderen mischt der Erzähler die beiden Arten von Role Shift – Q-RS und A-RS – und erreicht so eine expressivere Art der Wiedergabe der Äußerung des Hirtenjungen. Das dritte Beispiel (Signer B) beschreibt die Reaktion der Dorfbewohner. Nachdem der Hirtenjunge sie in Aufruhr versetzt hat, kommen die Dorfbewohner (in Beispiel (6) die ‚Nachbarn‘) angerannt und fragen den Jungen, ob er Hilfe braucht. Auch diese Sequenz ist wieder komplex strukturiert. Der Perspektivwechsel wird durch die Gebärde NACHBAR eingeleitet (zum Framing von Role Shift, siehe Cormier, Smith & Zwets 2013). Anschließend schlüpft die Erzählerin in die Rolle der Nachbarn und demonstriert im ersten Teil des Role Shifts gestisch das Rennen der Nachbarn (mithilfe der Arme, des Oberkörpers und des Gesichts). Dann wechselt die Perspektive erneut. Nun wird die Bewegung der Nachbarn mithilfe eines Klassifikators dargestellt. Beide Hände bewegen sich aus dem neutralen Gebärdenraum auf den Körper der Erzählerin zu, der nun den Hirtenjungen repräsentiert (in der Glosse dargestellt durch den Index ‚1‘ am Ende von CL:MASS). Gleichzeitig bleibt der gestische Gesichtsausdruck (‚besorgt und außer Atem‘), den der Erzähler zur Demonstration der rennenden Nachbarn verwendet, erhalten. Die Sequenz wird mit einem erneuten Perspektivwechsel beendet. Die Erzählerin schlüpft nun wieder in die Rolle der Nachbarn (Q-RS), die den Hirtenjungen fragen, ob sie helfen können.
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(6)
NACHBAR [Nachbar
rennen CL:MASS1 HELF WAS] -besorgt und außer Atem‚Die Nachbarn rennen besorgt zum Hirtenjungen und fragen, ob sie ihm helfen können.‘
Das Spannende an dieser Sequenz ist, dass verschiedene Perspektiven überlagert werden. Die Sequenz beginnt mit der neutralen Erzählperspektive (NACHBAR). Anschließend nutzt die Erzählerin gestische Elemente, um in die Perspektive der Nachbarn zu wechseln. Innerhalb dieses A-RS überlagern sich dann drei Perspektiven: Der Oberkörper der Erzählerin repräsentiert den Hirtenjungen, der das Ziel der rennenden Nachbarn ist. Die Gruppe der Nachbarn wird mit einem Klassifikator aus neutraler Erzählerperspektive linguistisch dargestellt. Gleichzeitig markiert die Mimik des Erzählers weiterhin gestisch den Role Shift der Erzählerin in der Rolle der Nachbarn. Dies bedeutet, dass der Gesichtsausdruck während der gesamten Sequenz die Handlung der Nachbarn und ihre Besorgnis zum Ausdruck bringt, während der Körper und die Ausrichtung des Klassifikators den Jungen repräsentieren. Das vierte Beispiel (Signer B) ist dem Anfang der Fabel Der Löwe und die Maus entnommen. Während der Löwe schläft, kommt plötzlich eine kleine Maus vorbei. Die Erzählerin schlüpft nach Einführung der Maus direkt in die Rolle der Maus, indem sie A-RS verwendet. Zunächst wird die Bewegung der Maus (wie im vorherigen Beispiel die Bewegung der Nachbarn) gestisch mit beiden Händen demonstriert. Zudem passt sich die Mimik der sich bewegenden Maus an. Anschließend verwendet die Erzählerin wieder einen Klassifikator, also ein linguistisches Element, um auszudrücken, dass die Maus über einen Kopf, der kontextuell als Kopf des Löwen identifiziert werden kann, klettert. Die Mimik bleibt allerdings die der sich bewegenden Maus (‚geschürzte Lippen‘) – wir befinden uns also weiter im Skopus des Role Shifts der Maus, auch wenn Kopf und Hand hier andere Funktionen haben. Der Kopf der Erzählerin markiert hier den Ort des Ereignisses (i.e. Löwe), die Hand markiert die Art des Ereignisses (i.e. klettern). Der erneute Wechsel der Erzählperspektive wird durch die lexikalische Gebärde LÖWE markiert, an die sich direkt ein weiterer Role Shift anschließt. Das Aufwachen des Löwen wird innerhalb des Role Shifts sowohl gestisch (Mimik einer aufwachenden Person) als auch mit einer Gebärde (AUF-WACH) ausgedrückt. Hier liegt demnach wieder eine doppelte Markierung vor. Im letzten Teil der Sequenz gibt es zwei schnelle Perspektivwechsel. Zunächst wird das Herunterfallen der Maus auf den Boden vor dem Löwen (Index ‚3‘) mit einem Klassifikator gebärdet (also genauso wie das Auf-den-Kopf-Klettern). Diese Gebärde wird wieder von einem entsprechenden erstaunten Gesichtsausdruck gestisch begleitet. Genauso wird im
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abschließenden Teil das Fangen der Maus durch den Löwen mit einer Gebärde (CL:FANGEN3) und mit einem entsprechenden aggressiven, verärgerten Gesichtsausdruck realisiert. Zudem wird die Gebärde manuell so modifiziert, dass sie zu der aggressiven Ausführung der Handlung passt (durch eine schnellere und akzentuiertere Ausführung). (7)
lauf CL:KLETTER-KOPF ] LÖWE [Löwe AUF-WACH ] --geschürzte Lippen--wacht-auf[Maus CL:FALLEN3] [Löwe CL:FANGEN3] -erstaunt-verärgert‚Plötzlich kommt eine Maus vorbei und klettert über den Kopf des Löwen. Der Löwe wacht auf und die Maus fällt auf den Boden. Der Löwe ist sehr verärgert und schnappt sich die Maus.‘ PLÖTZLICH MAUS
[Maus
Auch in dieser Sequenz werden wieder verschiedene Perspektiven überlagert. Wie im vorherigen Beispiel (6), in dem der Oberkörper und die Mimik unterschiedliche Protagonisten repräsentieren (den Hirtenjungen und die Nachbarn), werden auch in diesem Beispiel (7) zwei Protagonisten auf den Körper (verschiedene Körperteile) des Signers abgebildet: Der Kopf steht für den Kopf des Löwen, die Mimik für die auf den Kopf kletternde Maus. In diesem Fall wird also die Mimik vom Kopf abgetrennt. Zudem liegt im zweiten Role Shift wieder ein Fall von Unquotation vor. Die Gebärde AUF-WACH, die das gestisch dargestellte Aufwachen begleitet, ist ein Kommentar des Erzählers. Außerdem werden die beiden letzten Handlungen (CL:FALLEN3 und CL:FANGEN3) wieder gestisch modifiziert. Während das Fallen der Maus nur von einer erstaunten Mimik nicht-manuell modifizert wird, wird das Fangen sowohl von einer aggressiven Mimik nicht-manuell als auch von einer Modifikation der Art der Ausführung der Gebärde (des Objektklassifikators) manuell modifiziert. Das letzte Beispiel (Signer B) entstammt der Fabel Die Schildkröte und der Hase. Die dargestellte Sequenz schildert den Anfang der Erzählung, in dem sich der Hase über die Schildkröte lustig macht. Die komplette Sequenz wird aus der Perspektive des Hasen erzählt. Beim ersten Teil (... GEH) handelt es sich um Q-RS, der durch ein Drehen des Oberkörpers nach rechts (dem Ort, an dem die Schildkröte verortet wurde) markiert wird. Der Hase sagt zur Schildkröte, dass sie so langsam gehen würde. Direkt im Anschluss daran wechselt die Erzählerin in einen A-RS, indem sie den Oberkörper wieder in die neutrale Position zurückbewegt. Ziel des A-RS ist die gestische Imitation des Gangs der Schildkröte mithilfe der Arme, des Oberkörpers und des Gesichts. Interessanterweise ist diese gesti-
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sche Imitation auf den Gebärdenraum beschränkt. Die Beine der Schildkröte werden von den Armen repräsentiert, die eine klassifizierende Handform haben. Der Klassifikator referiert hier auf die Füße der Schildkröte. Gleichzeitig verwendet der Erzähler eine bestimmte Mimik, um das schwerfällige Laufen der Schildkröte zu demonstrieren. Direkt im Anschluss wechselt die Erzählerin wieder durch ein erneutes Drehen des Oberkörpers nach rechts in den Q-RS und verspottet die Schildkröte erneut, indem sie sich darüber lustig macht, dass die Schildkröte so langsam geht (zu pejorativen Elementen in Role Shift, siehe Fischer & Kollien 2016). (8) [Hase ... GEH [Schildkröte beweg sich langsam und umständlich] INDEX2 LANGSAM GEH] -verspotten----------------schwerfällig---------------- ------verspotten-----‚Der Hase verspottet die Schildkröte: „Du gehst so langsam und umständlich“.‘ Dieses Beispiel hat zwei Besonderheiten: Zum einen wird die gestische Demonstration wieder mithilfe linguistischer Elemente beschrieben (GEH und INDEX2 LANGSAM GEH) und von diesen eingerahmt. Anders als in Beispiel (5) sind diese linguistischen Elemente nun aber keine Kommentare der Erzählerin, sondern Äußerungen eines der beiden Protagonisten (des Hasen). Es liegt hier demnach eine Sequenz von Q-RS, A-RS und Q-RS vor, wobei Q-RS und A-RS denselben Sachverhalt ausdrücken. Zum anderen liegt mit dem A-RS die Demonstration einer Demonstration vor. In diesem Beispiel imitiert die Erzählerin einen Protagonisten (den Hasen), der einen weiteren Protagonisten (die Schildkröte) imitiert. Dieses Beispiel zeigt also, dass sich gestische Demonstrationen in gebärdensprachlichen Erzählungen rekursiv einbetten lassen. Darüber hinaus werden die drei Role Shifts wieder von nicht-manuellen Markierern begleitet. Im Fall des Q-RS wird eine verspottende Mimik verwendet. Im Fall des A-RS modifiziert die Mimik den schwerfälligen Gang der Schildkröte. Die fünf Beispiele zeigen, das gestische und linguistische Elemente in Gebärdensprachen auf eine komplexe Art und Weise interagieren. Gestische Elemente realisieren dabei nicht nur expressive Bedeutungselemente, sie tragen wie linguistische Elemente direkt zum propositionalen Gehalt der Äußerung bei. In der Fabel Der Hirtenjunge und der Wolf wird die Langeweile des Hirtenjungen ausschließlich gestisch dargestellt. Dasselbe gilt für das Nachdenken darüber, wie er diese Situation ändern könnte. Das Schreien wird sowohl gestisch durch eine Mischung von A-RS und Q-RS dargestellt als auch linguistisch durch einen einrahmenden Kommentar des Erzählers. Da sich der Erzählerkommentar eindeutig im
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Skopus des Role Shifts befindet, handelt es sich hier um einen Fall von Unquotation. Eine ähnliche Mischung von gestischen und linguistischen Elementen findet sich auch in der Sequenz, in der die Nachbarn besorgt in Richtung des Hirtenjungen rennen. Hier werden gestische Elemente verwendet, um die Besorgnis und Atemlosigkeit der Nachbarn zu realisieren. Interessanterweise haben diese gestischen Elemente auch Skopus über Sequenzen, in denen verschiedene Perspektiven gemischt werden. Sie dienen hier dazu, die Perspektive der besorgten Nachbarn als zentrale Perspektive aufrechtzuerhalten. Zudem modifizieren sie wie in der vorherigen Sequenz die Äußerung der Nachbarn, in diesem Fall die Frage, ob sie dem Hirtenjungen helfen können. Eine ähnliche Erweiterung des Skopus findet sich auch in der Fabel Der Löwe und die Maus. Hier markiert die Mimik der Erzählerin auch dann gestisch das Verhalten der Maus, wenn die Handlung aus der Perspektive des Erzählers wiedergegeben wird, und zwar im Fall von ‚über den Kopf klettern‘ und ‚vom Kopf fallen‘. Im ersten Fall wird die Mimik der vorangegangen gestischen Imitation der Bewegung der Maus beibehalten, obwohl der Kopf der Signerin nun den Kopf des Löwen repräsentiert und die Bewegung selbst mithilfe eines linguistischen Elements (eines Subjektklassifikators) beschrieben wird. Der zweite Fall nimmt dieses Muster wieder auf: Nun modifiziert eine erstaunte Mimik das wieder linguistisch dargestellte Herunterfallen der Maus. Auch hier weist der Kontext den Kopf der Signerin eindeutig als Kopf des Löwen aus. In beiden Fällen haben wir dieselbe Trennung zwischen gestischer Mimik (Maus), linguistischen manuellen Elementen (Erzähler) und dem Ort der Handlung, dem Kopf der Signerin (Löwe). Eine ähnliche Mischung von gestischen und linguistischen Elementen finden wir auch in den beiden A-RS-Sequenzen, die das Verhalten des Löwen beschreiben. Darüber hinaus liegt hier wieder ein Fall von Unquotation vor: die Gebärde AUFWACH, die die gestische aufwachende Mimik begleitet, ist wieder ein Kommentar des Erzählers (‚der Löwe wacht auf‘) und keine Äußerung des Löwen (‚ich wache gerade auf‘). Das letzte Beispiel zeigt zum einen den interessanten Fall einer linguistischen Einrahmung einer gestischen Demonstration der Bewegung eines der beiden Protagonisten (der Schildkröte) in Form der Äußerung des zweiten Protagonisten (des Hasen), die genau diese gestische Demonstration linguistisch beschreibt. Die Wiedergabe der Äußerung des Hasen im Q-RS wird von einer gestischen Mimik begleitet, die die pejorativen Aspekte dieser Äußerung unterstreicht. Zum anderen liegt hier eine rekursive gestische Demonstration vor. Der Erzähler imitiert gestisch mithilfe von A-RS den Hasen, der wiederum die Schildkröte imitiert. Diese Imitation wird also aus der Perspektive des Hasen erzählt,
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der die Schildkröte verspottet, nicht aus der Perspektive des Erzählers. Die gestische Imitation erhöht das verspottende Potential der Äußerung, indem sie die Bewegung der Schildkröte nicht nur linguistisch abwertend aber auch distanziert beschreibt, sondern durch die gestische Imitation direkt zur Schau stellt und damit unmittelbar lächerlich macht. Zusammenfassend können wir festhalten, dass die in den vorgestellten Fabelausschnitten verwendeten gestischen Elemente zum einen die sprachlichen und nicht-sprachlichen Handlungen der Protagonisten darstellen. Zum anderen drücken die gestischen Elemente expressive Bedeutungsaspekte aus, die bei der Charakterisierung der Protagonisten und der Beschreibung ihrer Handlungen eine wichtige Funktion übernehmen. Im Vergleich zu einer rein linguistischen Beschreibung ist die gestische Darstellung unmittelbarer und lebendiger. Dies gilt sowohl für die sprachlichen Handlungen (um Hilfe rufen, Hilfe anbieten, verspotten) als auch für die nicht-sprachlichen Handlungen (sich langweilen, rennen, aufwachen, herunterfallen, fangen, umständlich fortbewegen). In all diesen Fällen würde die Erzählung massiv an expressivem Potential verlieren, wenn die Signer auf diese gestischen Elemente verzichten würden. Dies gilt insbesondere für die verspottende Äußerung des Hasen, die ohne die gestischen Elemente ihren pejorativen Charakter verlieren würde. Abschließend möchten wir noch darauf hinweisen, dass in einigen Fällen wie ‚aufwachen‘ und ‚verspotten‘ die genaue Abgrenzung von lexikalischer und adverbialer Mimik, die Teil des sprachlichen Systems ist, und gestisch expressiver Mimik nicht immer ganz klar ist. Dies gilt insbesondere, wenn die entsprechende Mimik wie in den Fabeln im Skopus eines Role Shifts verwendet wird.
4 Bausteine einer Semantik gestischer Elemente in gebärdensprachlichen Erzählungen Im vorherigen Abschnitt haben wir gesehen, dass gestische Elemente ein wesentlicher Bestandteil gebärdensprachlicher Erzählungen sind. Dies bedeutet, dass eine Theorie sprachlicher Bedeutungen erklären muss, wie diese gestischen Elemente mit linguistischen Elementen interagieren und zur komplexen Bedeutung der Erzählung auf propositionaler und diskurssemantischer Ebene an der Semantik/Pragmatik-Schnittstelle beitragen. In diesem Abschnitt wollen wir kurz einige Bausteine vorstellen, die unserer Ansicht nach für jede mehrdimensionale Bedeutungstheorie relevant sind:
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(i) Sprachbegleitende Gesten (ii) Body as Subject (iii) Unquotation (iv) Demonstration (v) Context shift Diese Bausteine wurden schon bei der Analyse unterschiedlicher Phänomene in Laut- und Gebärdensprachen gewinnbringend angewandt. Dazu gehören Kongruenz zwischen dem Verb und seinen Argumenten, Q-RS und A-RS, erlebte Rede, gemischte Zitate und sprachbegleitende Gestik. Die einzelnen Bausteine erfassen dabei unterschiedliche Aspekte der im vorherigen Abschnitt dargestellten Interaktion von Gestik und Gebärdensprache. Im Folgenden werden wir diese fünf Bausteine und ihre Relevanz für eine mehrdimensionale Bedeutungstheorie kurz kommentieren. (i) Sprachbegleitende Gesten: Zur Interaktion von Lautsprache und Gestik und zur Integration sprachbegleitender Gesten in Lautsprachen gibt es eine lange umfangreiche Diskussion (siehe unter anderem Fricke 2012; Kita & Özyürek 2003; Ladewig 2012; Müller et al. 2013, 2014), die in den letzten Jahren wieder Fahrt aufgenommen hat, nachdem sich nun auch die formale Semantik verstärkt mit diesem Thema befasst. Neuere formalsemantische Analysen gehen davon aus, dass sprachbegleitende gestische Elemente in Lautsprachen entweder nicht-atissue sind oder Präsuppositionen auslösen (Ebert 2018a, 2018b; Schlenker, im Erscheinen). Dies bedeutet, dass sprachbegleitende Gesten nicht direkt zur geäußerten Kernproposition beitragen. Ein Grund dafür könnte in den unterschiedlichen Modalitäten von Lautsprache und manueller und nicht-manueller Gestik liegen. Manuelle und nicht-manuelle Gesten lassen sich anders als vokale Gesten aufgrund des Modalitätsunterschieds nicht direkt in die lautsprachlich realisierte Kernproposition integrieren und vermitteln deshalb im wesentlichen Zusatzinformationen, die nicht-at-issue sind. Wie die Beispiele im vorherigen Abschnitt zeigen, ist dies in Gebärdensprachen anders. Gebärdensprachen und Gesten verwenden dieselbe Modalität, weshalb der Übergang zwischen Gebärdensprache und Gestik teilweise auch fließend ist (Goldin-Meadow & Brentari 2017). Ein Grund dafür ist, dass in Gebärdensprachen gestische Elemente genauso wie linguistische Elemente den artikulatorischen Beschränkungen von Gebärdensprachen zu unterliegen scheinen und deshalb auf der artikulatorischen Seite optimal in die linguistische Struktur integriert sind. Aus diesem Grund können gestische Komponenten in Gebärdensprachen durchaus at-issue sein und zur Kernproposition beitragen.
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Gestische Elemente können in Gebärdensprachen also zentrale Bedeutungsaspekte realisieren oder Teile der Proposition modifizieren. Zudem lassen sich mit Gesten auch zusätzliche expressive Bedeutungsaspekte realisieren und in Erzählungen somit unmittelbar darstellen. Die Integration von Gesten in gebärdensprachlichen Erzählungen erfolgt demnach nicht über Präsuppositionen oder Nicht-at-issueness. Gesten tragen direkt zum At-issue-Inhalt bei. Dies scheint übrigens auch für Gesten in Lautsprachen zu gelten, die nicht sprachbegleitend sind, sondern für sich selbst stehen (Ebert 2018c; Schlenker, im Erscheinen). (ii) Body as Subject: Meir et al. (2007) argumentieren, dass der Körper des Signers, der beim Gebärden zwangsläufig immer präsent ist, bestimmte linguistische Funktionen übernimmt. Erstens sind bestimmte Körperteile bei vielen Gebärden der ‚natürliche‘ Ort der Ausführung einer Gebärde. So werden beispielsweise Gebärden wie TRINK und ESS am Mund des Signers ausgeführt. Dasselbe gilt für metaphorische Verwendungen des Körpers bei Gebärden wie KENN oder DENK, die mentale Prozesse bezeichnen und an der Stirn ausgeführt werden. Auch bei Gebärden wie SCHREIB und LES führt die dominante Hand die mit dem Verb beschriebene Tätigkeit aus, während die nicht-dominante Hand das Objekt der Handlung (Schriftstück oder Buch) markiert. Zweitens wird der Körper auch bei der Kongruenzmarkierung als Subjekt verwendet, so dass Body as Subject Auswirkungen auf die Realisierung grammatischer Merkmale hat. Bei Kongruenz mit zwei Dritte-Person-Argumenten wird sehr häufig eines der beiden Argumente (typischerweise das Subjekt) mit dem Körper des Signers identifiziert, so dass die kongruenzmarkierende Bewegung nicht am Raumpunkt des Objekts beginnt, sondern am Körper des Signers (Fenlon, Schembri & Cormier, 2018). Und drittens übernimmt der Körper des Signers gezielt die Funktion einer handelnden Person. Diese Funktion des Körpers ist insbesondere für die Interpretation der Fabeln von besonderer Bedeutung. In den im vorherigen Abschnitt diskutierten Beispielen schlüpft der Signer in die Rolle eines der Protagonisten, zum Beispiel in die des Hirtenjungen, der Nachbarn, des Löwen oder des Hasen. Der Körper des Signers steht dabei stellvertretend für den Protogonisten und gibt die sprachlichen und nicht-sprachlichen Handlungen wieder, die der Protagonist (bzw. die Protagonisten im Fall der Nachbarn) ausführt. Dies ist sicher ein Grund für die in gebärdensprachlichen Erzählungen häufig verwendete Charakterperspektive (Earis & Cormier 2013; Perniss 2007). In Q-RS- und A-RS steht der Körper des Signers demnach für eine andere handelnde Person oder, wie in den Fabeln, für ein handelndes Tier. Im Fall des die Schildkröte imitierenden Hasen wird diese Funktion des Körpers sogar rekursiv verwendet, indem der Körper des Signers für den Hasen steht, der eine Schildkröte imitiert. Eine damit einhergehende Funktion ist die Markierung von
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Perspektive, die ebenfalls gut in den Fabeln zu beobachten ist: In der Fabel Der Hirtenjunge und der Wolf ist das Ziel der Bewegung der Nachbarn, die durch eine Klassifikator-Gebärde (CL:MASS1) ausgedrückt wird, der Körper des Signers, der in dieser Sequenz den Hirtenjungen, den zentralen Protagonisten der Fabel, repräsentiert. Dieser Ausschnitt zeigt auch, wie schnell die Perspektive innerhalb einer Sequenz wechseln kann. Direkt davor und direkt danach repräsentiert der Körper der Signerin die Nachbarn, indem sie zuerst die Bewegung der Nachbarn gestisch demonstriert (rennen) und dann die Frage der Nachbarn (HELF WAS) im Q-RS wiedergibt. Die in Abschnitt 2 diskutierten Beispiele zeigen aber auch, dass in den Fabeln eine komplexere Verwendung des Körpers zu beobachten ist, da der Körper eines Signers nicht nur eine Rolle übernehmen kann, sondern unterschiedliche Rollen auf unterschiedliche Körperteile abgebildet werden können (Dudis 2004; Cormier, Smith & Sevcikova-Sehyr 2015; Herrmann & Pendzich 2018). In dem schon erwähnten Beispiel aus Der Hirtenjunge und der Wolf steht nicht nur der Körper der Signerin für den Hirtenjungen (das Ziel der Bewegung der Nachbarn), sondern gleichzeitig auch das Gesicht für die Nachbarn, indem die Mimik gestisch den erschöpften und verwunderten Gesichtsausdruck der Nachbarn imitiert. Zudem stehen die sich aus dem neutralen Gebärdenraum auf den Körper der Signerin zubewegenden Hände für die rennenden Nachbarn. Eine ähnliche Aufteilung ist in der Fabel Der Löwe und die Maus zu finden: Im ersten Teil repräsentiert der Kopf der Signerin den Kopf des Löwen. Gleichzeitig wird die kletternde bzw. die herunterfallende Maus mithilfe der Mimik und der dominanten Hand der Signerin repräsentiert. Auch hier übernimmt die Mimik eine Funktion, die unabhängig von der Funktion anderer Körperteile, insbesondere des Oberkörpers und des Kopfes, ist. Diese Verwendung mimischer Komponenten ist ein weiteres Beispiel dafür, wie wichtig nicht-manuelle mimische Markierer für Gebärdensprachen sind (zu nicht-manuellen mimischen lexikalischen und grammatischen Markierern, siehe auch Pendzich 2017 und Pfau & Quer 2010). (iii) Unquotation: Ein weiterer wichtiger Baustein ist die Dekontextualisierung bestimmter Gebärden im Role Shift. In zwei der oben diskutierten Beispiele wird eine Gebärde im Skopus des Role Shifts nicht dem Protagonisten, dessen Rolle der Signer in diesem Moment übernimmt, zugeschrieben, sondern dem Erzähler (SCHREI in (5) und AUF-WACH in (7)). Beides sind Fälle von Unquotation (Maier 2014, 2015, 2017; Hübl 2016). In geschriebener Sprache wird Unquotation qua Konvention typischerweise mit eckigen Klammern (‚[...]‘) markiert. Die Funktion der eckigen Klammern ist, zu markieren, dass der Ausdruck in den Klammern nicht Teil der Redewiedergabe ist, sondern im Kontext des Sprechers zu interpretieren ist. Hübl (2016) zeigt, dass sich das Verhalten von indexikalischen
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Ausdrücken im Role Shift in DGS gut mithilfe von Maiers Theorie der Unquotation erklären lässt. In bestimmten Kontexten verwenden Signer in der Redewiedergabe (Q-RS) eine indexikalische Gebärde (beispielsweise die Zeigegebärde INDEX) statt der in der originalen Äußerung verwendeten Gebärde (beispielsweise einen Eigennamen oder eine definite Kennzeichnung), weil die indexikalische Gebärde den Referenten im aktuellen Kontext eindeutig identifiziert. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn der entsprechende Referent im aktuellen Kontext anwesend oder anderweitig einfach zu identifizieren ist (beispielsweise durch ein Bild). Die beiden Beispiele in den Fabeln sind anders. Hier liegt eine Unquotation vor, weil die beiden Gebärden die im Role Shift gestisch wiedergegebene Handlung des Protagonisten (Hirtenjunge in (5) und Löwe in (7)) zusätzlich linguistisch beschreiben. Die Dekontextualisierung durch Unquotation resultiert demnach nicht aus einer direkten indexikalischen Bezugnahme auf einen Referenten, sondern aus einer zusätzlichen linguistischen Beschreibung der im Role Shift demonstrierten Handlung eines Protagonisten. Diese zusätzliche Beschreibung kann sequenziell einrahmend sein (wie im Beispiel des Hirtenjungen in (5)) oder simultan (wie im Beispiel des Löwen in (7)). Letzteres ist möglich, weil Gebärdensprachen mehrere Artikulatoren gleichzeitig nutzen können. Um solche Fälle adäquat zu analysieren, muss die Theorie der Unquotation entsprechend modifiziert und erweitert werden. (iv) Demonstration: Ein zentraler Baustein für jede Analyse mehrdimensionalen Erzählens ist eine Theorie der Demonstration (Clark & Gerrig 1990; Davidson 1984, 2015; Maier 2017; Schlenker 2017a, 2017b). Davidson (2015) schlägt vor, dass Role Shift in Gebärdensprachen dem Englischen be like entspricht. In beiden Fällen behauptet die Sprecherin oder der Signer, dass es ein Ereignis gibt, das in bestimmter Hinsicht ähnlich zu seiner oder ihrer Demonstration dieses Ereignisses ist. Demonstration kann sich auf kontextuell relevante sprachliche und nichtsprachliche Ereignisse und Handlungen anderer beziehen. In Lautsprachen kann eine Sprecherin beispielsweise die Stimme einer anderen Person oder die Sprechweise dieser Person demonstrieren. Zudem kann sie mithilfe von redebegleitenden Gesten die nicht-sprachliche Handlung einer Person demonstrieren. In Gebärdensprachen können manuelle und nicht-manuelle Gesten verwendet werden, um die sprachliche Äußerung, die Einstellung oder die Handlung einer Person zu demonstrieren. In den oben diskutierten Beispielen demonstriert der Signer nicht nur die sprachlichen und nicht-sprachlichen Handlungen der Protagonisten, sondern auch ihre Art zu gebärden und ihre psychischen (gelangweilt, verärgert, überrascht) und physischen (erschöpft, erwacht) Zustände. Durch den Einsatz von Demonstrationen können Teile der Proposition systematisch an ges-
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tische Komponenten delegiert und bei der Interpretation wieder in die Kernproposition integriert werden. Die Erzählung lässt sich durch integrierte Demonstrationen lebendiger gestalten und um expressive Bedeutungsanteile anreichern. Interessanterweise lassen sich Demonstrationen rekursiv verwenden, wie Beispiel (8) zeigt, in dem die Signerin die Handlung eines Hasen demonstriert, der die Handlung einer Schildkröte demonstriert. Ein wesentlicher Aspekt bei der Interpretation von Demonstrationen ist die Erzählperspektive, die durch eine Demonstration vom Erzähler hin zum Protagonisten verschoben wird. Wie oben schon erwähnt (in (ii) Body as Subject), zeichnen sich die Fabeln dadurch aus, dass der Signer multiple Demonstrationen vornimmt, indem er mit unterschiedlichen Körperteilen verschiedene Aspekte eines komplexen Ereignisses simultan demonstriert. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Häufigkeit von Demonstrationen in der Textsorte Fabel und die hohe Frequenz des Perspektivwechsels. Demonstration scheint demnach ein zentrales Merkmal gebärdensprachlicher Erzählungen zu sein. (v) Context Shift: Der letzte Punkt betrifft die Verwaltung unterschiedlicher Kontexte. In Q-RS und A-RS sind grundsätzlich mindestens zwei Kontexte verfügbar: (i) Der Kontext des Signers oder Erzählers und (ii) der Kontext der demonstrierten Handlung. Auch wenn Role Shift und erlebte Rede zu zwei unterschiedlichen Modalitäten gehören, eine unterschiedliche Expressivität besitzen und auf dem Spektrum der Nähe und Distanz an entgegengesetzten Enden angesiedelt sind (Koch & Österreicher 2007), so ähneln sich die Markierung und Verwaltung der beiden Kontexte in diesen beiden ‚gemischten‘ Formen der Wiedergabe von Äußerungen, Gedanken und Handlungen anderer doch sehr. Zum einen wird sowohl in Role Shift wie auch in erlebter Rede der Wechsel eines Kontexts nicht immer klar markiert, weshalb die kontextuelle Zuordnung des beschriebenen oder demonstrierten Sachverhalts nicht immer eindeutig ist. Zum anderen sind für die Interpretation der beiden komplexen Formen der Rede-, Gedanken- oder Handlungswiedergabe beide Kontexte relevant (Eckardt 2012, 2014; Herrmann & Steinbach 2012; Hübl 2013, 2014; Lillo-Martin 2012; Schlenker 2004). Aus diesem Grund ist es nicht verwunderlich, dass in der neueren Forschung diese zwei Arten der Redewiedergabe miteinander in Verbindung gebracht wurden (Herrmann & Pendzich 2018; Hübl 2016; Maier 2017). Die in diesem Beitrag diskutierten Beispiele zeigen, dass in Role Shift eine ähnliche Überlagerung der Kontexte vorliegt wie in erlebter Rede. Ein wesentlicher Aspekt der Interpretation der gebärdensprachlichen Beispiele ist die Zuordnung gestischer und linguistischer Elemente zum Kontext des Erzählers und zum Kontext der erzählten Geschichte. Dieser Aspekt macht die Fabeln so vielschichtig, komplex und expressiv und führt zu den vielen Perspektivwechseln, die in den Fabeln zu beobachten sind.
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5 Abschließende Bemerkungen Die Diskussion ausgewählter Beispiele aus drei Fabeln hat gezeigt, dass die fünf im vorherigen Abschnitt eingeführten Bausteine eine zentrale Rolle in der Analyse gebärdensprachlicher Erzählungen spielen. Wie genau diese Bausteine in einer komplexen Bedeutungstheorie gebärdensprachlicher Erzählungen zusammengesetzt werden und welche Modifikationen und Erweiterungen nötig sind, um die oben beschriebenen Beispiele adäquat zu erfassen, überlassen wir der zukünftigen Forschung. Es sollte allerdings klar geworden sein, dass die einzelnen Bausteine in der hier dargestellten Form nicht unabhängig voneinander sind. So verwendet beispielsweise Maier (2015) den Baustein der Unquotation, um die simultane Verwendung zweier Kontexte in erlebter Rede zu analysieren. Gleichzeitig macht es Sinn, den Baustein der Demonstration auf den Baustein des Körpers als Subjekt zu beziehen, da letzterer eine Voraussetzung für die effektive Demonstration von sprachlichen und nicht-sprachlichen Handlungen in Q-RS und A-RS in Gebärdensprachen ist. Dasselbe gilt für den Baustein der sprachbegleitenden Gestik in Laut- und Gebärdensprachen, der sich gut mit diesen beiden Bausteinen verbinden lässt. Unabhängig davon, wie diese Bausteine nun für den Bau eines theoretischen Modells zur Analyse gebärdensprachlicher (und lautsprachlicher) Erzählungen verwendet werden, sollte die Diskussion der Fabeln gezeigt haben, dass dieser Art von Erzählungen komplexe vielschichtige Textstrukturen zugrunde liegen, deren Analyse maßgeblich zu einem besseren Verständnis von ‚multimodalen‘ Textstrukturen und Erzählstrategien im Allgemeinen beitragen kann.
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| Teil V: Zum Ende
Rita Finkbeiner
Tschüssikowski und Bis später, Attentäter Zur Bedeutung von expressiven Verabschiedungen Abstract: Der Beitrag nähert sich dem Begriff der Expressivität aus sprechakttheoretischer Sicht, indem er der Frage nachgeht, in welchem Sinn Verabschiedungen expressive Sprechakte sind. Ausgehend von Kaplans Analyse von goodbye zeige ich zunächst einige Probleme auf, die sich aus einer semantischen Sicht ergeben. Ich argumentiere, dass es sinnvoll ist, Verabschiedungen im Rahmen einer Sprechakttheorie als Routinehandlungen zu beschreiben, die primär einen sozialen Zweck in der Kommunikation erfüllen. Vor diesem Hintergrund analysiere ich eine Teilklasse von Verabschiedungen, die sich von der Normalform durch besondere ‚expressive‘ Effekte unterscheiden. Auf Basis einer Beispielklassifikation sowie Überlegungen zu ihrer kommunikativen Verwendung mache ich einen Vorschlag zu ihrer theoretischen Modellierung, der die besonderen expressiven Effekte solcher Verabschiedungen als Eigenschaft von Äußerungen begreift, nicht als Eigenschaft der Ausdrücke an sich.
1 Einleitung Sich verabschieden ist ein Sprechakt, der im Deutschen mit Hilfe unterschiedlicher sprachlicher Ausdrücke vollzogen werden kann. Zu den geläufigsten Ausdrücken gehören Verabschiedungsformeln wie tschüs, auf Wiedersehen, bis dann oder wir telefonieren. Die Wahl des passenden Ausdrucks hängt von verschiedenen funktionalen, situationalen und sozialen Faktoren ab. So scheinen die genannten Ausdrücke für Alltagsverabschiedungen in verschiedenen Kontexten angemessen, aber z.B. nicht, wenn man einen verdienten Professor im Zusammenhang mit der feierlichen Überreichung einer Festschrift in den Ruhestand verabschieden möchte. Neben dem oben angedeuteten Set von Ausdrücken gibt es nun ein weiteres, alternatives Set von Ausdrücken, das Sprecher für den Vollzug von alltäglichen Verabschiedungen verwenden können. Diese haben unter der Bezeichnung
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„Nervsprech“ in den letzten Jahren einige mediale Aufmerksamkeit erlangt.1 Gemeint sind Ausdrücke wie tschüssikowski, auf Wiese gehen, bis später, Attentäter und lass uns teflonieren. Solche Ausdrücke scheinen einerseits in vergleichbaren Situationen und zu vergleichbaren Zwecken verwendet werden zu können wie usuelle Abschiedsformeln. Andererseits können mit ihnen offenbar – dies legt zumindest die laienlinguistische Bezeichnung „Nervsprech“ nahe – bestimmte sprecher- und/oder hörerrelatierte Effekte erzielt werden, die über das hinausgehen, was usuelle Abschiedsformeln leisten. Es liegt mit anderen Worten nahe, anzunehmen, dass es sich bei der Klasse der „Nervsprech“-Abschiedsformeln um expressive Ausdrücke handelt. Das Konzept der Expressivität ist in der linguistischen Forschung traditionell auf solche Aspekte sprachlicher Äußerungen angewandt worden, die etwas mit dem Ausdruck von Gefühlen oder psychischen Zuständen zu tun haben. Diese Vorstellung von Expressivität findet sich etwa bei Bühler (1999 [1934]) und Jakobson (1979 [1960]), aber auch in Searles (1971) Definition von expressiven Sprechakten. In neueren formal-semantischen Ansätzen, die stark von Kaplan (1999, 2004) beeinflusst sind, wird Expressivität dagegen weiter gefasst als eine bestimmte Art von Informationsgehalt, der unabhängig vom deskriptiven Gehalt eines Ausdrucks zu beschreiben ist. Während deskriptive Information wahr oder falsch sein kann, kann expressive Information allenfalls angemessen oder unangemessen sein. So kann man nicht sinnvoll fragen, ob die Äußerung von goodbye wahr oder falsch ist, aber man kann fragen, ob sie angemessen gebraucht ist. Der expressive Gehalt eines Ausdrucks ist damit ein nicht-wahrheitsfunktionaler Gehalt, der aber konventionell ist in dem Sinn, dass es angebbare, überindividuelle Gebrauchsbedingungen für den Ausdruck gibt. Nach Kaplan (1999: 3) muss expressive Bedeutung daher ebenfalls in der Komponente der Semantik beschrieben werden.
|| 1 Besonders das von Spiegel Online 2005 veröffentlichte sogenannte „Nervsprech-Lexikon“ stieß auf große mediale Resonanz, vgl. http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/nervsprechlexikon-na-dann-proust-mahlzeit-a-340869.html (01.10.2017). Dabei handelt es sich um eine Sammlung von ca. 160 Floskeln, die von Lesern eingesandt und von der Redaktion nach acht Themenbereichen zu einer „Enzyklopädie des sprachlichen Grauens“ zusammengefasst wurden. Für diesen Beitrag habe ich nur die Floskeln ausgewertet, die sich dem Sprechakt des Verabschiedens zuordnen lassen. Beispiele für „Nervsprech“ aus anderen Sprechaktbereichen sind z.B. Begrüßungen (Hallöchen Popöchen), Kommentare (Das darf doch nicht Warstein!), Drohungen (Noch so’n Spruch – Schädelbruch) oder Frage-Antwort-Sequenzen (Wie spät ist es? – Zeit, dass du dich besserst!).
Tschüssikowski und Bis später, Attentäter | 343
Aus pragmatischer Sicht kann man dagegen einwenden, dass die Einbindung von Aspekten des Gebrauchs in die semantische Beschreibung von Ausdrücken dazu führt, dass die Grenze zwischen Semantik und Pragmatik verwischt wird. Zu den zentralen Aspekten des Gebrauchs von sprachlichen Ausdrücken gehört die Frage, mit welchen Intentionen und zu welchen Zwecken diese von Sprecherinnen und Sprechern verwendet werden. Gerade dies sind nach allgemeiner Ansicht aber genuin pragmatische Aspekte. Es stellt sich daher die Frage, ob es nicht angemessener ist, statt von expressiven Ausdrücken von expressiven Äußerungen zu reden. Unter den verschiedenen genannten Perspektiven stellen „Nervsprech“-Ausdrücke in zweierlei Hinsicht einen interessanten Testfall für eine Theorie der Expressivität dar. Zum einen muss man fragen, ob Sich-Verabschieden generell ein expressiver Sprechakt ist – und was man darunter genau verstehen soll – und wenn ja, wie man dann die intuitiven Unterschiede in der Expressivität zwischen tschüs und tschüssikowski erklären kann. Zum anderen stellt sich die Frage, in welchem Sinn „Nervsprech“-Ausdrücke expressiv sind: Sind sie expressiv im Sinn von emotional aufgeladen oder im Sinn von nicht-wahrheitsfunktional? Sind es die Ausdrücke selbst, die expressiven Gehalt haben, oder wird der expressive Gehalt erst in Verwendungen dieser Ausdrücke durch Sprecher kommuniziert? In diesem Beitrag gehe ich diesen Fragen nach. Ausgehend von neueren semantischen Ansätzen zur Expressivität (Abschnitt 2) und speziell Kaplans Analyse von goodbye (Abschnitt 3) zeige ich einige Probleme auf, die sich aus der semantischen Sicht ergeben. Ich argumentiere, dass es sinnvoll ist, Verabschiedungen im Rahmen einer Sprechakttheorie als Routinehandlungen zu beschreiben, die primär einen sozialen Zweck in der Kommunikation erfüllen (Abschnitt 4). Dabei diskutiere ich auch die Frage, ob es sich bei Verabschiedungen um expressive Sprechakte handelt. Anschließend wende ich mich den „expressiven Verabschiedungen“ vom Typ tschüssikowski und bis später, Attentäter zu (Abschnitt 5). Diese zeichnen sich gerade durch De-Routinisierung aus. Auf Basis einer einfachen formalen Klassifikation stelle ich Überlegungen zu ihren kommunikativen Effekten an und schlage eine Ableitung über das M-Prinzip (Levinson 2000) vor. Abschnitt 6 fasst die Ergebnisse zusammen.
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2 Expressive Bedeutung: Semantische Sicht Die Unterscheidung zwischen deskriptivem und expressivem Gehalt von Äußerungen lässt sich mit Lang (1983: 307) grundlegend auf zwei Arten mentaler Repräsentation beziehen: propositionale Repräsentation und nicht-propositionale Repräsentation. Mit (1) wird eine Bedauernseinstellung propositional repräsentiert, mit (2) nicht-propositional. (1) Ich bedaure, dass Jörg aufhört. (2) Leider hört Jörg auf. Mit Nicht-Propositionalität ist gemeint, dass eine Einstellung auf eine Weise in den Diskurs eingebracht wird, die es unmöglich macht, sie anzugreifen oder zu verhandeln. Sie wird dem Adressaten gewissermaßen „untergejubelt“. Das sieht man beispielsweise daran, dass man gegen die in (2) nicht-propositional ausgedrückte Bedauernseinstellung nicht mit „Das stimmt nicht“ protestieren kann. „Das stimmt nicht“ würde hier nur die propositional repräsentierten Anteile angreifen, also die Tatsache, dass Jörg aufhört. Gegen die propositional repräsentierte Bedauernseinstellung in (1) lässt sich dagegen durchaus mit „Das stimmt nicht“ Widerspruch einlegen. Hayner (1956: 151) fasst dies als Unterschied zwischen beschreiben (describe) und manifestieren (manifest). Den Unterschied verdeutlicht er – bereits über 40 Jahre vor Kaplan – am Beispiel des Kontrasts zwischen ouch und I am in pain. In the former case [Ouch!, R.F.], we would probably say that the exclamation is itself an expression of pain. It is a form of behavior through which pain itself is manifested. The having of pain is, or may be, characterized by this form of activity. But in the case of the statement, “I feel pain” (assuming the truth of the statement), we do not ordinarily intend this as itself, that is, qua statement, to be an expression of pain. Rather it would appear to be an indication or a description of a state of affairs. And the state of affairs so indicated or described would be regarded, probably, as essentially ‘separate’ from the indication or description of it. (Hayner 1956: 151; Hervorheb. i. Orig.)
Auch wenn Dichotomien wie beschreiben/manifestieren (Hayner 1956), propositional/nicht-propositional (Lang 1983) oder mittelbar/unmittelbar (Potts 2007) einerseits gut geeignet scheinen, den Unterschied zwischen deskriptiver und expressiver Bedeutung zu explizieren, suggerieren sie andererseits, dass diese verschiedenen Arten von Bedeutung tatsächlich klar voneinander abgegrenzt werden können. Das ist aber gar nicht so klar. So kann man sich mit Meibauer (2014: 96) auf den Standpunkt stellen, dass alle Sprechakte „unmittelbar“ sind;
Tschüssikowski und Bis später, Attentäter | 345
man würde aber wahrscheinlich nicht sagen wollen, dass alle Sprechakte expressiv sind.2 Wharton (2009) betont Übergänge zwischen den verschiedenen Bedeutungsarten und schlägt vor, die von ihm in Anlehnung an Grice (1989a) verwendeten Begriffe showing und meaningNN als Pole eines Kontinuums anzusehen. Kaplan (1999: 3) verfolgt den Ansatz, expressive Bedeutung als Teil einer formalen Semantik zu repräsentieren. Die Idee ist, eine „semantics of Meanings“ (truth-conditional meaning) von einer „semantics of Use“ (use-conditional meaning) zu unterscheiden, wobei beide Arten von Semantik mit Mitteln der Logik erfasst werden sollen. Dieser Ansatz ist von Potts (2007) und Gutzmann (2015) weiterentwickelt worden. Als semantische Ansätze interessieren sich die genannten Modelle v.a. für konventionelle Bedeutungsaspekte. Die Dimension truth-conditional/use-conditional ist aber nicht nur auf die konventionelle Bedeutung von Äußerungen zu beziehen, sondern auch auf die kontextabhängige (oder konversationelle) Bedeutung. Hier kann man zwischen solchen kontextabhängigen Prozessen unterscheiden, die Einfluss auf die Wahrheitsbedingungen haben, insbesondere verschiedenen Arten pragmatischer Anreicherung (vgl. Recanati 2010), und solchen, die sich nicht auf die Wahrheitsbedingungen auswirken, sondern über den wahrheitsfunktionalen Gehalt eines Satzes hinausgehen, z.B. bestimmte Arten konversationeller Implikaturen (vgl. Grice 1989b). Es ergeben sich somit vier Arten von Bedeutung, die in Tabelle 1 dargestellt sind (nach Gutzmann 2015: 5). Tab. 1: Vier Arten von Bedeutung
+truth-conditional
–truth-conditional
+conventional
Denotative Bedeutung, z.B. Hund
Gebrauchsbedingungen, z.B. autsch!
–conventional
Pragmatische Anreicherung, z.B. Paracetamol ist besser [als was?]
Konversationelle Implikaturen, z.B. „Ist Jörg da?“ – „Im Büro brennt kein Licht.“
|| 2 Dies wäre allerdings durchaus eine mögliche Position, je nachdem, welche Vorstellung von Expressivität man ansetzt (vgl. d’Avis, in diesem Band; d’Avis & Finkbeiner, in diesem Band). Eine solche Position zu vertreten, würde u.a. erfordern, den Status der Klasse der Expressiva (Searle 1982) gegenüber anderen Sprechaktklassen zu klären, die ja in einem solchen Verständnis auch expressiv wären.
346 | Rita Finkbeiner
Expressiv sind nun nach Kaplan all diejenigen Ausdrücke, die einen konventionellen Bedeutungsbeitrag leisten, der nicht wahrheitsfunktional ist (d.h. +conventional, –truth-conditional). Dies ist eine weite Auffassung von Expressivität. Engere Auffassungen, etwa die von Potts (2007), zählen zu den expressiven Ausdrücken nur solche konventionellen und nicht-wahrheitsfunktionalen Ausdrücke, die eine emotionale Einstellung bzw. einen hohen Grad von emotionaler Beteiligung des Sprechers ausdrücken. Beispielsweise wären Schimpfwörter wie bastard in einem engen – emotiven – Sinn expressiv, während Modalpartikeln wie wohl eher in einem weiten – nicht-wahrheitsfunktionalen – Sinn expressiv sind. Für das Folgende erscheint es mir sinnvoll, davon auszugehen, dass use-conditional meaning nicht vollständig mit expressiver Bedeutung (i.S.v. Emotionalität und anderen sprecher- und/oder hörerrelatierten Einstellungen) überlappt. Es kann Ausdrücke mit gebrauchskonditionaler Semantik geben, die nicht expressiv im Sinne von emotiv sind (Mahlzeit!), ebenso wie es expressive (emotive) Äußerungen geben kann, deren Gebrauchsbedingungen nicht konventionell festgelegt sind (Wir schaffen das!). Weiter scheint es mir sinnvoll, mit Meibauer (2013: 36) verschiedene Grade der Expressivität von Äußerungen anzunehmen. So scheint „Scheiße!“ expressiver als „Mist!“, und genauso scheint „Bis später, Attentäter!“ expressiver als „Bis später!“.
3 Kaplan über goodbye Kaplan (2004) verwendet den englischen Abschiedsausdruck goodbye als exemplarisches Beispiel für einen Ausdruck mit expressiver Bedeutung. I don’t ask what the expression means, for example, I don’t ask, ‘What does goodbye mean?’ Instead I ask, what are the conditions under which the expression would be correctly or accurately used? […] To the degree that such conditions reflect linguistic convention, the information that such a condition obtains is carried in the semantics of the expression. (Kaplan 2004: [14:33])
Der Ausdruck goodbye trägt demnach als semantischen Gehalt die Information, dass bestimmte Gebrauchsbedingungen gelten. Diese Gebrauchsbedingungen gibt Kaplan (2004: [1:16:54]) in (3) an: (3) You and I are now parting from one another for a significant period of time.
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Nach Kaplan ist goodbye „informationally equivalent“ mit (3). Das ergibt sich daraus, dass goodbye nur dann korrekt gebraucht ist, wenn es der Fall ist, dass der Sprecher und der Adressat jetzt für eine gewisse Zeit auseinandergehen. Goodbye lässt sich damit nach Kaplan ganz analog zu ouch behandeln, das er als informationsäquivalent mit I am in pain auffasst. Nach der Klassifikation von Gutzmann (2013) ließe sich goodbye zu den expletiven und isolierten UCIs (use-conditional items) zählen. Goodbye ist expletiv, da es ausschließlich nicht-wahrheitsfunktionalen Gehalt beiträgt, im Gegensatz etwa zu ethnic slurs wie Kraut, die sowohl wahrheitsfunktionalen als auch nichtwahrheitsfunktionalen Gehalt beitragen. Goodbye ist isoliert, da sein nicht-wahrheitsfunktionaler Gehalt bereits „gesättigt“ ist, der Ausdruck also kein weiteres Argument zu sich nimmt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich goodbye etwa von Modalpartikeln wie wohl, die als Operatoren über Propositionen aufgefasst werden können. Ein rein formal-semantischer Beschreibungsansatz für Ausdrücke wie goodbye erscheint aber aus Sicht einer deskriptiven Linguistik in mancher Hinsicht unbefriedigend. Erstens scheint es unangemessen, goodbye und (3) als informationsäquivalent zu behandeln. Mit You and I are now parting from one another for a significant period of time wird etwas assertiert, mit goodbye dagegen nicht. Der Unterschied ist genau der, der oben für die Sätze (1) und (2) skizziert wurde, und er hat etwas mit der sprachlichen Form der Äußerungen zu tun. Zwar ist klar, dass es Kaplan an dieser Stelle auf den semantischen Gehalt der Ausdrücke ankommt und nicht auf die Verwendung von Sätzen wie (3) als Äußerungen in einem Kontext. Dennoch ist es aus deskriptiv-linguistischer Sicht unzulässig, den Bedeutungsbeitrag eines Deklarativsatzes ohne Weiteres mit dem einer nicht-propositionalen Routineformel gleichzusetzen. Ein zweiter Punkt betrifft das Problem, wie man eigentlich genau die Gebrauchsbedingungen für goodbye formulieren soll. Auch dieses Problem interessiert Kaplan nicht besonders, es kommt ihm ja nur darauf an, zu argumentieren, dass es hier bestimmte Gebrauchsbedingungen gibt, und dass man diese in der Semantik erfassen kann. Aus linguistischer Sicht interessiert dieses Problem aber durchaus. Wie lange dauert zum Beispiel „a significant period of time“? Dieses Problem hängt eng damit zusammen, dass es im Deutschen wie im Englischen ein breites Spektrum von möglichen Verabschiedungsausdrücken gibt, die sich z.B. darin unterscheiden können, ob die Zeitspanne der Trennung eher lang oder eher kurz ist (vgl. tschüs vs. lebewohl). Die Frage ist dann, ob man Kaplans Formel generalisierend für alle Verabschiedungsformeln ansetzen kann. Schließlich kann man sich ja mit allen verabschieden. Es gibt aber zugleich spezifische Unterschiede zwischen ihnen, die irgendwie erfasst werden müssen, man denke nur
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an regionale Unterschiede wie bei tschüs, pfiati, ade (vgl. dazu Coulmas 1981: 141). Hier müsste man darüber nachdenken, ob je nach Ausdruck weitere spezifische (gebrauchskonditionale) Aspekte zu den allgemeinen Gebrauchsbedingungen hinzutreten. Ein dritter Punkt betrifft Kaplans Idee, dass jede Form von Sprache, die einen (irgendwie gearteten) semantischen Gehalt hat, auch unaufrichtig verwendet werden kann. Eine unaufrichtige Verwendung liegt nach Kaplan dann vor, wenn der Sprecher den semantischen Gehalt des Ausdrucks nicht für wahr hält. Für goodbye bringt Kaplan folgendes Beispiel: (4) I drop you off at the door of your surprise party, and I say goodbye! insincerely, planning to park and quickly run around, and join the party. (Kaplan 2004: [1:15:59])
Hier hält es der Sprecher nach Kaplan nicht für wahr, dass er und die Adressatin für eine signifikante Zeitspanne auseinandergehen. Mir scheint diese Analyse in bestimmter Hinsicht verfehlt. Zum einen kann sie den alltäglichen kommunikativen Gebrauch von Verabschiedungsausdrücken nicht angemessen erfassen. Für den geglückten Vollzug bestimmter Sprechakte, wie z.B. grüßen, sich bedanken, gratulieren und sich verabschieden, scheint es nämlich unerheblich zu sein, ob der Sprecher aufrichtig ist oder nicht. Der Sprecher in (4) hat sich verabschiedet, und alles ist so, wie es die soziale Routine erfordert (vgl. dazu auch Austin 1962). Zum anderen baut die Analyse auf eine Konzeption von Unaufrichtigkeit, die an Assertionen orientiert ist, d.h. an der Verpflichtung des Sprechers auf die Wahrheit des Gesagten. Indem der Sprecher in (4) nicht glaubt, dass die Gebrauchsbedingung seiner Äußerung wahr ist, ist er nach Kaplan unaufrichtig. Die Frage ist aber, ob Wahrheit in Bezug auf Sprechakte wie das Sich-Verabschieden überhaupt eine relevante Analysekategorie ist. Eine sprechakttheoretische Beschreibung würde das Beispiel (4) so analysieren, dass hier gegen eine Einleitungsbedingung für das Verabschieden verstoßen wurde. Unaufrichtigkeit würde dagegen aus sprechakttheoretischer Sicht nur vorliegen, wenn gegen die Aufrichtigkeitsbedingung des Sprechakts verstoßen worden wäre. Und diese Aufrichtigkeitsbedingung – wenn man denn eine solche für das Verabschieden überhaupt annehmen will – ist auf jeden Fall nicht, dass der Sprecher glaubt, dass p. Dies wäre schon damit nicht verträglich, dass normalerweise angenommen wird, dass Äußerungen, mit denen man sich verabschiedet, gar keinen propositionalen Gehalt haben.
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Wenn aber mit der Äußerung von goodbye nichts behauptet wird, also gar keine propositionale Einstellung assertiert wird, dann kann man mit einer solchen Äußerung auch nicht lügen.3 Wenn goodbye nun expressiv wäre in dem Sinn, dass es der Zweck der Äußerung ist, damit eine nicht-propositionale (subjektive, emotive) Sprechereinstellung auszudrücken (wie z.B. mit leider p), sollte man mit der Äußerung aber heucheln, d.h. eine solche Einstellung nur vortäuschen können (vgl. Lang 1983). Dies ist m.E. aber ebenfalls nur schlecht möglich. So kann man zwar jemandem, der „Herzliches Beileid“ sagt, hinterher vorwerfen, sein Beileid sei nur geheuchelt gewesen, aber ich halte es für schwierig, jemandem, der „Tschüs“ gesagt hat, hinterher vorzuwerfen, seine Verabschiedung sei nur geheuchelt gewesen. Dies liegt offenbar daran, dass der illokutionäre Witz von tschüs nicht ist, eine bestimmte Einstellung auszudrücken, sondern eine bestimmte soziale Situation routinehaft zu markieren. Dies entspricht übrigens auch Kaplans Darstellung, der ja den expressiven Gehalt von tschüs gerade in der Angabe des entsprechenden, zu markierenden Situationstyps sieht. Sicher lässt sich das Verhalten des Sprechers in (4) insgesamt als Täuschung ansehen, aber die Täuschung kommt nicht durch einen unaufrichtigen Gebrauch des Ausdrucks goodbye zustande, sondern dadurch, dass sich aus dem Vollzug der Verabschiedung für die Freundin bestimmte Erwartungen ergeben, die der Sprecher nicht einlöst. Insofern Aufrichtigkeit also kein relevantes Kriterium für das Sich-Verabschieden ist, geht die Analyse von Kaplan an dieser Stelle ins Leere.4 Insgesamt lässt sich aus den genannten Problemen schließen, dass das Unterfangen, Gebrauchsbedingungen als semantische Größen aufzufassen, der Rolle von Ausdrücken wie z.B. Abschiedsformeln in der alltäglichen Kommunikation nicht vollständig gerecht wird. Ich werde im folgenden Abschnitt dafür argumentieren, dass Abschiedsausdrücke, bzw. Grußformeln insgesamt, einen Wortschatzbereich darstellen, der dem Vollzug bestimmter routinisierter kommunikativer Handlungen dient, nämlich der Markierung von Übergängen zwischen Interaktion und Nicht-Interaktion (vgl. Hartmann 1973; Coulmas 1981).
|| 3 Ob Sprecher auch mit Äußerungen, die ausschließlich nicht-propositionale Einstellungen transportieren, lügen können, ist eine offene Frage, die ich hier nicht im Detail diskutieren kann, vgl. dazu Meibauer (2014: 98). 4 Möglicherweise ist es sinnvoll, genauer zwischen solchen expressiven Ausdrücken zu unterscheiden, die propositionalisierbar sind (z.B. aua) und solchen, die gewissermaßen performativ sind, wie tschüs. Bei aua scheint mir die Möglichkeit, zu heucheln, eher gegeben zu sein als bei tschüs. Dies hat etwas damit zu tun, dass die Sprecherin mit aua ein subjektives Gefühl ausdrückt, während sie mit tschüs primär eine soziale Handlung praktiziert.
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In diesem Sinne handelt es sich um einen primären Beschreibungsgegenstand der Pragmatik.
4 Verabschiedung als Sprechakt Zum Sich-Verabschieden gibt es bisher kaum sprechakttheoretische Beschreibungen. Ich greife daher für das Folgende auch auf Beschreibungen zum Grüßen bzw. Begrüßen zurück, also auf den gewissermaßen komplementären Sprechakt am Beginn einer gemeinsamen Aktivität, der im Sinn interaktionaler „Rahmung“ eng mit dem Sich-Verabschieden zusammengehört (vgl. Goffman 1967; Kohrt 1985). Ich konzentriere mich dabei auf solche Verabschiedungen, die mittels eines relativ überschaubaren Repertoires stereotyper Wendungen vollzogen werden. Dazu gehören Ausdrücke wie tschüs, ciao, auf Wiedersehen, man sieht sich, bis dann, bis bald. Ein Indiz für den hohen Grad an Stereotypizität solcher Wendungen ist es nach Kohrt (1985: 178), dass zwei Interaktanten „bei der Realisierung der jeweiligen Handlung ein und dieselbe Formel gebrauchen“ können. Dies grenzt die Grußformeln insbesondere von mit ihnen eng verwandten Wunschformeln wie Schönen Tag noch ab. Stereotype Grußformeln lassen also einen Echogebrauch zu, Wunschformeln dagegen nicht, vgl. den in (5) und (6) gezeigten Kontrast. (5) A: Auf Wiedersehen. B: Auf Wiedersehen. B': #Danke (gleichfalls). (6) A: Schönen Tag noch! B: #Schönen Tag noch! B': Danke (gleichfalls). Wie lässt sich nun der Sprechakt des Grüßens genauer beschreiben? Searle (1971, 1982) geht an verschiedenen Stellen auf Hallo ein und gibt auch eine Definition des Grüßens. Interessanterweise äußert er sich allerdings nicht explizit dazu, zu welcher Sprechaktklasse das Grüßen gehört. Nach Searle (1971: 106) lässt sich Grüßen folgendermaßen definieren.
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(7) Grüßen (nach Searle 1971: 106) Regeln des propositionalen Gehalts:
keine
Einleitungsregeln:
S ist H gerade begegnet (oder vorgestellt worden usw.)
Regeln der Aufrichtigkeit:
keine
Wesentliche Regeln:
Gilt als S’ höfliches Wiedererkennen des H
Die meisten sprechakttheoretischen Arbeiten zum Grüßen gehen davon aus, dass es sich dabei um einen expressiven Sprechakt handelt (z.B. Rolf 1997; Arnovick 1999; Harras et al. 2004). Expressive Sprechakte lassen sich mit Searle als Klasse von Sprechakten charakterisieren, deren illokutionärer Witz es ist, „den in der Aufrichtigkeitsbedingung angegebenen psychischen Zustand zum Ausdruck zu bringen, der auf eine im propositionalen Gehalt aufgeführte Sachlage gerichtet ist“ (Searle 1982: 34). Nun gibt allerdings Searle in der Definition (7) gar keinen psychischen Zustand für das Grüßen an. Der Grund dafür scheint darin zu liegen, dass Searle die Intuition erfassen will, dass Grüßen primär ein Sprechakt ist, mit dem soziale Obligationen, oder auch Höflichkeitserwartungen, erfüllt werden. Das Grüßen ist damit gewissermaßen entsubjektiviert. Es geht beim Grüßen nicht darum, bestimmte Gefühle zum Ausdruck zu bringen, sondern darum, dem Gegenüber höfliche Anerkennung zu zollen. Dies ist nach Searle der illokutionäre Witz (die wesentliche Regel) des Grüßens („Gilt als S’ höfliches Wiedererkennen des H“). Deswegen kann es nach Searle auch kein unaufrichtiges Grüßen geben, denn „nur dann, wenn der Akt als der Ausdruck eines psychischen Zustandes gilt, [ist] Unaufrichtigkeit möglich […]. Man kann zum Beispiel nicht unaufrichtig grüßen oder taufen, wohl aber etwas unaufrichtig aussagen oder versprechen“ (Searle 1971: 107). Searle rückt hier den Sprechakt des Grüßens in die Nähe von Deklarationen. Das scheint mir etwas fragwürdig. Es ist klar, dass es unaufrichtiges Taufen nicht geben kann, da Taufen gar keine Aufrichtigkeitsbedingung hat. Für die Definition des Sprechakts der Taufe ist Aufrichtigkeit schlicht kein relevantes Definitionskriterium. Taufen können nur im Rahmen institutionalisierter Rollen ausgeführt werden, für die die psychische Befindlichkeit des Taufenden (wie auch des Zu-Taufenden) keine Rolle spielt, und wo eine bestimmte Befindlichkeit auch weder erwartet wird noch einklagbar ist. Sprechakte wie Taufe, Rücktrittserklärung oder Sitzungseröffnung wirken sich somit nicht auf die „gefühlte Beziehung“ zwischen Interaktanten aus, sondern nur auf deren Status innerhalb des Bezugsrahmens einer außersprachlichen Institution.
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Beim Grüßen ist der Fall komplizierter. Grüßen unterscheidet sich vom Taufen darin, dass das Grüßen ein bedeutsamer Sprechakt im Rahmen des alltäglichen Beziehungsmanagements ist. Das heißt, Befindlichkeiten von Sprecher und Hörerin spielen beim Grüßen durchaus eine Rolle. Dennoch scheint ein bestimmter psychischer Zustand des Sprechers für das Grüßen nicht einklagbar zu sein (??Du hast ‚hallo‘ gesagt, aber du hast es gar nicht so gemeint!), etwa im Gegensatz zum Versprechen, bei dem Nicht-Aufrichtigkeit, also das Fehlen der Absicht des Sprechers, die Handlung auszuführen, einklagbar ist und sanktioniert werden kann (Du hast versprochen, dass du mir ein Tamagotchi schenkst, aber du hast es gar nicht so gemeint!). Die skizzierten Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Grüßens als Sprechakt und seiner Zuordnung zu einer Sprechaktklasse betrifft m.E. nicht nur das Grüßen, sondern die meisten Sprechakte, die Searle zu den Expressiva rechnet, z.B. Danken, Gratulieren oder Kondolieren. Das Problem ist, dass diese Sprechakte in bestimmten Situationen sozial hochgradig erwartet sind und deshalb zu Routinisierung neigen. Der Aspekt des Ausdrucks eines individuellen Gefühls geht dabei ein Stück weit gegenüber der Erfüllung einer sozialen Konvention verloren. Insofern ist der Terminus „expressiver Sprechakt“ für solche Sprechakte in gewissem Sinn irreführend. Bach & Harnish (1979) tragen dem Rechnung, indem sie statt der Klasse der Expressiva eine Klasse Acknowledgments annehmen. Dazu gehören die bei Searle als Expressiva geführten Sprechakte (Danken, Gratulieren usw.) ebenso wie das Grüßen. Sie führen dazu aus: Because acknowledgments are expected on particular occasions, they are often issued not so much to express a genuine feeling as to satisfy the social expectation that such a feeling be expressed. (Bach & Harnish 1979: 51)
Der Sprechakt des Grüßens ist deshalb nach Bach & Harnish erfüllt, wenn entweder Freude über das Wiedersehen zum Ausdruck gebracht wird oder aber die Intention, die soziale Erwartung zu erfüllen, dass Freude ausgedrückt wird. (Besser wäre es m.E., statt von „Freude“ hier von „höflicher Anerkennung“ zu sprechen, vgl. (7)). Für die angemessene Beschreibung des Grüßens erhält hier Leechs (2014) Unterscheidung zwischen illokutionären und sozialen Zwecken von Kommunikation besondere Relevanz: Grüßen ist ein Kommunikationsakt, der primär einen sozialen Zweck erfüllt. Auch Rolf (1997) nimmt eine Neubestimmung der Klasse der Expressiva vor. Dabei hebt er hervor, dass Sprechakte aller Klassen Aufrichtigkeitsbedingungen haben, die mit dem Vollzug eines Sprechakts eo ipso zum Ausdruck gebracht werden. Dies sei allerdings ein Moment des Sprechaktvollzugs, das von dem Zweck
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dieses Vollzugs unterschieden werden müsse, und zwar – kontra Searle – auch bei den Expressiva. Nach Rolf ist der Zweck eines expressiven Sprechakts nicht das Zum-Ausdruck-Bringen des entsprechenden psychischen Zustands – dieser wird implizit ohnehin zum Ausdruck gebracht –, sondern der „Versuch einer Beeinflussung der emotionalen (Gesamt-)Lage des Adressaten“ (Rolf 1997: 223). Was Searle als wesentliche Bedingung des Grüßens formuliert, würde Rolf damit als Aufrichtigkeitsbedingung fassen; als wesentliche Bedingung führt er eine neue Zweckbestimmung ein. Diese Zweckbestimmung scheint mir in die richtige Richtung zu gehen, auch wenn man diskutieren kann, ob es tatsächlich um die Beeinflussung der Emotionen des Hörers geht oder eher um einen Versuch, die Beziehung zwischen Sprecherin und Hörer positiv zu beeinflussen.5 Folgt man der Analyse von Rolf, so kann man also sagen, dass Grüßen durchaus eine Aufrichtigkeitsbedingung hat, dass aber – und dies habe ich oben ausgeführt – die Frage der Aufrichtigkeit des Sprechers beim Grüßen aufgrund der starken sozialen Obligiertheit des Vollzugs von Grußhandlungen gewissermaßen in den Hintergrund rückt. In Anlehnung an Searles Definition (7) sowie Rolfs Neubestimmung für das Grüßen möchte ich die Definition (8) für das Sich-Verabschieden vorschlagen. (8) Sich verabschieden Regeln des propositionalen Gehalts:
keine
Einleitungsregeln:
S und H trennen sich nach einer gewissen Zeit gemeinsamer Aktivität
Regeln der Aufrichtigkeit:
S nimmt H wahr und erkennt H an
Wesentliche Regeln:
Gilt als ein höflicher Versuch von S, die emotionale Gesamtlage von H zu beeinflussen
|| 5 Mit einem Gruß würde die Sprecherin demnach den Zweck verfolgen, zu signalisieren, dass sie ein Interesse daran hat, dass die (weitere) Interaktion zwischen S und H wohlwollend verläuft. Grundsätzlich kann man Grüßen – und ebenso Sich-Verabschieden – in diesem Sinn als Ausdruck einer kooperativen Grundeinstellung auffassen.
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Mit Searle gehe ich davon aus, dass es keine Regel des propositionalen Gehalts gibt, da die typischen Verabschiedungsausdrücke (z.B. tschüs) – synchron gesehen – keinen propositionalen Gehalt haben.6 Bei denjenigen Verabschiedungsausdrücken, die eine wörtliche Bedeutung haben (z.B. auf Wiedersehen), kann man annehmen, dass diese für den Vollzug der Verabschiedung keine Rolle spielt, da sie „qua Routine suspendiert“ ist (Coulmas 1981: 77).7 Die Einleitungsregel legt den Situationstyp fest, der gegeben sein muss, damit der Sprechakt des Verabschiedens gelingen kann. Sie entspricht in etwa der bei Kaplan als semantische Gebrauchsbedingung für goodbye festgehaltenen Regel.8 Ich folge Rolf (1997) in der Annahme, dass das Verabschieden (wie das Grüßen) eine Regel der Aufrichtigkeit hat. Der psychische Zustand von S lässt sich genauer als S’ Wahrnehmen und Anerkennen von H angeben (vgl. Harras et al. 2004). Der Akt gilt dann, dies ist die wesentliche Regel, als höflicher Versuch der Beeinflussung der emotionalen Gesamtlage von H. Höflichkeit scheint mir eine wesentliche Eigenschaft von Verabschiedungen (wie auch von Begrüßungen) zu sein: Zu gehen, ohne sich zu verabschieden, ist ein grober Verstoß gegen Höflichkeitsregeln und kann zu ernsthaften Störungen der sozialen Beziehung zwischen den Interaktanten führen. Weitere wichtige Eigenschaften des Sich-Verabschiedens sind die folgenden.9 Erstens, man kann sich unter Verwendung eines explizit performativen Verbs verabschieden, vgl. (9). (9) Ich verabschiede mich.
|| 6 Tschüs lässt sich auf ad deum bzw. adios zurückführen, dies ist aber synchron nicht mehr transparent (vgl. Coulmas 1981). 7 Man müsste allerdings im Einzelfall genauer diskutieren, wie weit diese „Suspendierung“ geht. So scheint es gar nicht so klar zu sein, dass „niemand ein Auf Wiedersehen am Telefon als abweichend“ betrachten würde, wie Coulmas (1981: 77) behauptet. Generell ist klar, dass Ausdrücke wie auf Wiedersehen in entsprechenden Kontexten leicht reliteralisiert werden können, etwa wenn der Gefängniswärter bei der Entlassung zum Gefangenen „Auf Wiedersehen“ sagt und dieser mit „Hoffentlich nicht“ reagiert. 8 Diese Beobachtung könnte für einen genaueren Vergleich von formal-semantischen Ansätzen mit sprechakttheoretischen Beschreibungen interessant sein, insofern sich hier möglicherweise die Generalisierung ziehen lässt, dass semantische Ansätze diejenigen Bedeutungsaspekte als expressiv-semantischen Gehalt von expressiven Ausdrücken „propositionalisieren“, die die Sprechakttheorie als Einleitungsbedingungen entsprechender expressiver Sprechakte auffasst. 9 Vgl. Meibauer (2016) zu einer „speech act checklist“, die ich hier in Auszügen anwende.
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Zweitens, man kann den Vollzug des Sprechakts nicht rückgängig machen, vgl. (10). (10) #Tschüs. Das war keine Verabschiedung, im Gegenteil. Drittens, man kann sich nicht indirekt verabschieden. Zum Beispiel kann man zwar mit Äußerungen wie (11) signalisieren, dass man ein Telefongespräch beenden möchte, man hat sich damit aber noch nicht verabschiedet. (11) Ich muss noch den Müll runterbringen. Das heißt, Verabschiedungen können nur vollzogen werden, indem man einen Ausdruck verwendet, der konventionell zum Verabschieden benutzt wird. Diese Ausdrücke kann man als illokutionäre Indikatoren für das Sich-Verabschieden betrachten. Dazu können auch Ausdrücke gehören, die ursprünglich eigentlich andere Funktionen hatten, z.B. gute Wünsche (Mach’s gut, Schlaf gut etc.). Wie sind nun vor dem Hintergrund des Gesagten „Nervsprech“-Abschiedsgrüße wie tschüssikowski, auf Wiese gehen oder bis denn, Sven einzuordnen?
5 Expressive Verabschiedungen im Deutschen „Nervsprech“ ist ein von Spiegel Online 2005 geprägter Begriff für eine Reihe von modifizierten sprachlichen Routinen der Umgangssprache, z.B. Herzlichen Glühstrumpf, Das darf ja wohl nicht Warstein, Alles klärchen, Schanke dön oder Prostata!. Eine Teilklasse dieser Ausdrücke bilden diejenigen modifizierten Wendungen, die Sprecherinnen und Sprecher für den Vollzug von Verabschiedungen nutzen. Solche Ausdrücke sind bisher nur aus Sicht der Phraseologie in den Blick genommen worden, und dies auch nur in ersten Ansätzen (vgl. Schulze 2013). Eine systematische Beschreibung von „Nervsprech“-Abschiedsgrüßen aus Sicht der Semantik/Pragmatik-Schnittstelle steht aus. Im Folgenden skizziere ich zuerst eine formale Klassifikation von „Nervsprech“-Abschiedsgrüßen. Es zeigt sich, dass man „Nervsprech“ allgemeiner als eine Form von Sprachspiel auffassen kann. Ausgehend von dieser Beobachtung beschreibe ich dann die Bedeutung und kommunikative Funktion von „Nervsprech“-Äußerungen genauer. Anschließend versuche ich eine Herleitung ihres expressiven Bedeutungspotentials über Levinsons (2000) M-Prinzip.
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5.1 Formale Klassifikation „Nervsprech“-Abschiedsformeln sind intentionale Modifikationen usueller Abschiedsformeln mittels unterschiedlicher formaler Verfahren. Diese lassen sich nach Schulze (2013) grob den beiden Typen Expansion und Substitution zuordnen. Expansion und Substitution können noch genauer auf die linguistischen Ebenen der Phonologie, Morphologie und Syntax bezogen werden. Die folgende Klassifikation, mit der keine Vollständigkeit angestrebt wird, illustriert einige der zentralen Verfahren, die im Bereich der „Nervsprech“-Abschiedsformeln genutzt werden. Die Beispiele stammen überwiegend aus dem „Nervsprech“-Lexikon von Spiegel Online. Phonologie Als Substitution im Bereich der Phonologie lassen sich solche Varianten einordnen, bei denen Wörter bzw. Wortteile durch ähnlich klingende Wörter bzw. Wortteile ersetzt werden, vgl. (12).10 (12) a. b. c. d.
(auf) Wiedersehen auf Wiedersehen auf Wiedersehen man sieht sich
> > > >
Wirsing auf Video sehen auf Wiese gehen man siebt sich
Auch im Bereich der Begrüßungsformeln wird dieses Verfahren eingesetzt, etwa bei Guten Tag > Guten Tacho. Zur Expansion im Bereich der Phonologie lassen sich Erweiterungen durch Reimwörter zählen, vgl. z.B. bis später, Attentäter. Solche Beispiele behandle ich unten im Bereich der Syntax, da dabei syntaktische Strukturbildung (Vokativ) vorliegt. Reimdopplungen wie autschi kabautschi, die sich als genuin phonologisches Phänomen auffassen lassen, scheint es bei den Abschiedsformeln nicht zu geben. Morphologie Zur Substitution im Bereich der Morphologie lassen sich Kontaminationen wie (13) rechnen.
|| 10 Genauer könnte man hier, wie auch bei den Beispielen in (13) und (14), von Phänomenen der Phonologie/Morphologie-Schnittstelle sprechen. Die Substitution ist phonologisch induziert, aber zugleich auch wortbezogen.
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(13) a. wir telefonieren b. lass uns telefonieren
> >
wir telefonanieren lass uns teflonieren
Ein analoger Fall im Bereich der Begrüßungsformeln wäre hereinspaziert > Heroin-spaziert. Einen produktiven Untertyp dieser Klasse stellen Varianten von bis dann/bis denn/bis bald dar, bei denen das Adverb (dann/denn/bald) so mit einem zweisilbigen Eigennamen bzw. Nomen kontaminiert wird, dass es phonologisch mit dessen erster Silbe zusammenfällt, vgl. (14). (14) a. bis dann b. bis denn c. bis bald
> > >
bis Danzig bis Denver bis Baldrian
Etwas anders verhält sich die Kontamination ciao cesku aus ciao plus dem Eigennamen Ceauşescu. Zur Expansion im Bereich der Morphologie gehören nicht-native Suffigierungen wie (15). (15) a. ciao b. tschüs c. bis dann
> > >
ciao+ski tschüss+i+k+ow+ski bis dann+i+man+ski
Hier werden Abschiedsausdrücke mit Hilfe von polnischen Familiennamensuffixen erweitert; -ow bezeichnet dabei eine Herkunftsrelation, -ski die Relation „Sohn von“. Dannimanski scheint eine Analogiebildung zum Namen Schimanski zu sein. Syntax Zur Substitution im Bereich der Syntax gehören Ersetzungen von Wortformen. Diese können semantisch, vgl. (16a), oder phonologisch motiviert sein, vgl. (16b). (16) a. wir sehen uns > b. ich verabschiede mich >
wir riechen uns ich verabscheue mich
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Syntaktische Expansion liegt bei der vokativischen Erweiterung durch einen Eigennamen bzw. ein Nomen vor, das sich auf das vorangehende Wort der Verabschiedungsformel reimt, vgl. (17)–(18). Dieses Muster scheint produktiv zu sein.11 (17) a. b. c. d.
bis denn bis später mach’s gut hau rein
> > > >
bis denn, Sven bis später, Peter mach’s gut, Knut hau rein, Hein
(18) a. b. c. d. e.
bis dann bis später mach’s gut servus ciao
> > > > >
bis dann, Weihnachtsmann bis später, Attentäter mach’s gut, Zuckerhut servus, Fötus ciao, Kakao
Auch einige englische Verabschiedungsformeln, die im Deutschen genutzt werden, lassen sich diesem Typ zuordnen, vgl. (19). (19) a. goodbye b. so long c. see you later
> > >
goodbye, Hawaii so long, Hongkong see you later, Alligator
Erweiterungen durch reimende Eigennamen finden sich außer bei Abschiedsformeln auch bei gesprächssteuernden Formeln wie das war’s, Lars oder bei Befindlichkeitsphrasen wie alles cool in Istanbul, alles okay in Bombay. Ein weiterer syntaktischer Expansionstyp ist die Erweiterung durch eine mitPP, durch die eine Pseudo-Schreibregel aufgestellt wird, ebenfalls in Reimform, vgl. (20). (20) a. b. c. d.
ciao ciao tschö tschüs
> > > >
ciao mit au ciao mit vau tschö mit ö tschüs mit üs
Ein Parallelfall im Bereich der Begrüßungen ist hallöchen mit öchen. Bei einer Reihe von Abschiedsgrüßen, die die Form von Imperativsätzen haben, gibt es zudem Expansionen durch adversative Sätze, vgl. (21). || 11 Vgl. zur Frage der Produktivität phraseologischer Konstruktionen Finkbeiner (2008).
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(21) a. hau rein b. mach’s gut
> >
hau rein, aber nicht zu tief/fest mach’s gut, aber nicht zu oft
Zu „Nervsprech“ lassen sich noch eine Reihe weiterer Modifikationsverfahren zählen, z.B. die Vertauschung von Segmenten wie bei gefickt eingeschädelt, schittebön oder unterm Schwiegel der Versiegenheit (vgl. Schulze 2013). Für Abschiedsausdrücke gibt es in der Spiegel Online-Sammlung aber keine Belege dieses Typs.
5.2 „Nervsprech“ und Sprachspiel Die Klassifikation macht deutlich, dass Sprecherinnen und Sprecher usuelle Abschiedsausdrücke mit Hilfe unterschiedlicher formaler Verfahren modifizieren können. Daraus ergibt sich die Frage, was den genannten Verfahren gemeinsam ist. Was rechtfertigt es, „Nervsprech“-Ausdrücke als eine Klasse von Ausdrücken zu betrachten? Zwei Beobachtungen scheinen hier wichtig. Zum einen ist den verschiedenen Verfahren gemeinsam, dass der zugrundeliegende usuelle Ausdruck noch erkennbar bleibt. Dies wird dadurch gewährleistet, dass Substitution nur auf einzelnen Segmenten, Wortteilen oder Wörtern operiert und Expansion den usuellen Ausdruck so nach rechts erweitert, dass der eigentliche Wortbestand dabei weitgehend unverändert bleibt. „Nervsprech“Ausdrücke sind damit immer formal sichtbar auf eine usuelle Alternative bezogen. Dies scheint eine wichtige Voraussetzung dafür zu sein, dass die „Nervsprech“-Modifikation die ursprüngliche kommunikative Funktion der usuellen Formel – den Vollzug eines Sprechakts der Verabschiedung – weiter erfüllen kann. Zum anderen lässt sich die Klasse der „Nervsprech“-Modifikationen relativ deutlich nach außen abgrenzen, und zwar insbesondere gegenüber bestimmten regulären Prozessen expressiver Morphologie (vgl. dazu Scherer, in diesem Band). Betrachten wir dazu Suffigierungen wie die unter (22). (22) a. tschüs b. ciao c. bis dann
> > >
tschüss+i ciao+i bis dann+i
In (22) liegt Partikeldiminuierung mit dem Suffix -i vor. Nach Wiese (2006) steuert das -i-Suffix „expressive Bedeutungsanteile“ bei, die darin bestehen, dass eine
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informelle Beziehung12 zwischen den Interaktionspartnern markiert wird (vgl. auch Zwicky & Pullum 1987; Bücker 2018). Dies gilt ebenfalls für das partikeldiminuierende Suffix -chen und seine regionalen Varianten, vgl. (23). (23) a. tschüs b. tschüs c. tschüs
> > >
tschüsschen tschüssle tschüssken
Wir haben hier also usuelle Abschiedsausdrücke, die den regulären morphologischen Prozess der Partikeldiminuierung durchlaufen, wobei systematisch die expressive Zusatzbedeutung „Informalität“ erzeugt wird. Dieser Prozess sollte aber von „Nervsprech“ abgegrenzt werden. „Nervsprech“, d.h. die Gesamtheit von formalen Modifikationsverfahren, die in diesen Bereich fallen, ist gerade kein regelhafter grammatischer Prozess. Vielmehr handelt es sich bei „Nervsprech“ um kreative, sprachspielerische Modifikationen. Diese können zwar durchaus in bestimmtem Maß produktiv sein, da sie oft musterbasiert sind, es handelt sich aber nicht um Regeln mit „hoher Generalisierungstendenz“ (Fries 2007). Sprachspiel zielt darauf ab, die Sprache selbst ins Blickfeld zu rücken, ist also auf eine Metaebene bezogen. Dies geschieht häufig dadurch, dass Strukturmerkmale betont werden, z.B. durch Reim (Hau rein, Hein; Mach’s gut, Zuckerhut), lautliche Assoziation (ciao cesku, bis Danzig) oder Rhythmus (See you later, Alligator). Dadurch entsteht eine Inkongruenz zwischen wörtlicher Bedeutung und Kommunikationsabsicht. Bei der Partikeldiminuierung spielen dagegen weder Metaierung noch die Erzeugung semantischer Inkongruenz eine Rolle. Eine zentrale Sprecherintention beim Sprachspiel scheint Humor zu sein, die Effekte von Sprachspielen sind aber, im Gegensatz zur relativ uniformen Informalisierung bei der Partikeldiminuierung, nicht uniform beschreibbar. So kann „Nervsprech“ zwar witzig wirken, aber eben auch „nervig“ oder offensiv. Diese spezifischen Eigenschaften von „Nervsprech“ gegenüber der Partikeldiminuierung rechtfertigen auch eine unterschiedliche Behandlung der jeweils relevanten expressiven Effekte. Ich werde weiter unten argumentieren, dass der Aspekt „Informalität“ ein kontextunabhängiger, expressiver Aspekt von tschüssi ist, dass dagegen Witzigkeit, „Nervigkeit“ usw. kontextabhängige expressive Aspekte von tschüssikowski sind.
|| 12 Nach Bücker (2018: 155) signalisiert die i-Suffigierung bei Grußformeln eine „Konvergenz auf der Beziehungsebene“.
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5.3 Bedeutung und kommunikative Funktionen Wie lässt sich nun der Bedeutungsbeitrag von Ausdrücken wie tschüssikowski oder bis später, Attentäter genauer erfassen? Die Bezeichnung „Nervsprech“ legt nahe, dass Sprecher mit der Verwendung solcher modifizierter Abschiedsausdrücke ihr Gegenüber irritieren (möchten). Irritation ist aber sicherlich nur eine von mehreren möglichen Sprecherintentionen bzw. Hörereffekten, die solche Verabschiedungen haben können. Das „nervende“ Potential von „Nervsprech“-Äußerungen scheint gerade damit zu tun zu haben, dass es häufig zu einer Diskrepanz zwischen dem kommt, was Sprecher mit den Äußerungen intendieren, und dem, wie Hörerinnen solche Äußerungen auffassen. Schauen wir uns dazu ein Beispiel an. Im Film „Jürgen – heute wird gelebt“ (Heinz Strunk, ARD 2017) gibt es eine Szene, in der Jürgen, ein alleinstehender Mann fortgeschrittenen Alters, der im Parkhaus arbeitet und außer zu seiner bettlägerigen Mutter und Schwester Petra vom Pflegedienst regelmäßig Kontakt nur zu seinem alten Freund, dem an den Rollstuhl gefesselten Bernd Würmer hat, versucht, mit Schwester Petra zu flirten. (24) Jürgen: Ich möchte nach meinem Ableben fünfzehn Jahre unentdeckt in meiner Wohnung liegen bleiben. Das wäre dann nämlich neuer Weltrekord. […] Petra: Küchenpapier und Waschpulver sind auch so gut wie alle. Und Hüttenkäse. Ich schreib Ihnen das aber auch nochmal auf. Jürgen: Ja, ok. Ich muss dann auch mal los. Äh – ciao cesku! (kichert) Petra: (irritierter Blick) Jürgen versucht hier offenbar, mit der Wahl der Abschiedsformel ciao cesku ein Bild von sich als witzigem, spontanem und originellem Typen zu vermitteln, um dadurch in Petras Augen attraktiv zu erscheinen. Petra geht allerdings überhaupt nicht auf Jürgens Annäherungsversuch ein und agiert ausschließlich in der Rolle als Pflegerin der Mutter. In diesem Kontext erscheint Jürgens Verhalten völlig deplatziert. Es scheint insgesamt sinnvoll, davon auszugehen, dass Sprecherinnen mit der Verwendung modifizierter Abschiedsformeln bestimmte, über den Zweck der Verabschiedung hinausgehende, auf der Beziehungsebene zu beschreibende Effekte intendieren, z.B. Witzigkeit oder das Streben nach Originalität, und dass Hörer auf solche Verabschiedungen in unterschiedlicher Weise, und abhängig von unterschiedlichen Faktoren des Kontexts, wie z.B. der Art der Beziehung zwischen Sprecherin und Hörer, mit Anerkennung oder aber mit Irritation reagieren können. Solche Effekte lassen sich als expressive Effekte beschreiben.
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Ciao cesku in (24) ist morphologisch zunächst einmal eine Kontamination aus der denotativ leeren Grußformel ciao und dem rumänischen Eigennamen Ceauşescu. Mit Eigennamen können Sprecher auf Individuen referieren, sie haben – im Gegensatz zu Grußformeln – ein referentielles Potential. Ein besonders salienter Referent des Eigennamens Ceauşescu ist der ehemalige rumänische Diktator Nikolae Ceauşescu. Es scheint allerdings, dass Jürgen in (24) gerade keine Referenz auf Nikolae Ceauşescu herstellen will; diese Person spielt schließlich im aktuellen Kommunikationszusammenhang überhaupt keine Rolle. Vielmehr bezweckt Jürgen, die zufällige phonologische Ähnlichkeit der beiden sprachlichen Ausdrücke in humoristischer Absicht auszunutzen. Der Sprecher erzeugt somit durch einen Wechsel auf die metasprachliche Ebene bewusst eine Inkongruenz zwischen dem referentiellen Potential von Ceauşescu und dem kommunikativen Zweck als Verabschiedungsformel. Fasst man Jürgens Äußerung sprechakttheoretisch, dann vollzieht er hier den expressiven Sprechakt einer Verabschiedung, wie er in (8) definiert wurde. Ciao cesku ist genau in den Situationen geglückt, die die Einleitungsbedingung in (8) erfüllen, dass nämlich S und H sich nach einer gewissen Zeit gemeinsamer Aktivität trennen. Analog könnte man nach Kaplans Analyse diese Bedingung als expressiven (gebrauchskonditionalen) semantischen Gehalt des Ausdrucks fassen. Jürgen drückt damit die Einstellung aus, dass er Petra wahrnimmt und anerkennt (vgl. die Aufrichtigkeitsbedingung), und die Äußerung kann als Versuch gelten, Petras emotionale Gesamtlage zu beeinflussen (vgl. die wesentliche Bedingung). Eine interessante Frage ist aber, ob es sich dabei auch um einen höflichen Versuch handelt. Jürgen erfüllt zwar die soziale Anforderung, dass man sich beim Gehen verabschieden soll, er tut das aber in einer Weise, die die normale Erwartung verletzt. Je nach Situation und Beziehungskonstellation zwischen den Interaktionspartnern kann eine solche Verletzung der sozialen Erwartung unterschiedlich aufgefasst werden. Petra empfindet die Verabschiedung mit ciao cesku offenbar nicht als situationsadäquat und reagiert irritiert. In einem anderen Kontext dagegen, etwa wenn Jürgen sich von seinem alten Kumpel Bernd verabschieden würde, könnte ein lockeres ciao cesku ein bestimmtes geteiltes Verständnis von Humor aktualisieren und damit die Kumpelbeziehung zwischen Jürgen und Bernd stärken. Jürgen hat hier also den gegebenen situativen Kontext falsch eingeschätzt – seine Intention, witzig zu sein, schlägt fehl. Man kann damit sagen, dass eine geglückte Verwendung von „Nervsprech“-Ausdrücken auch voraussetzt, dass Sprecher mitbeurteilen, in welchen Kontexten die damit verfolgte Intention angemessen ist und in welchen Kontexten nicht.
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Wie lassen sich nun die intendierten expressiven Effekte von „Nervsprech“Äußerungen in Bezug auf die Semantik/Pragmatik-Schnittstelle am besten einordnen? Eine Möglichkeit wäre, anzunehmen, dass es auf der gebrauchskonditionalen Ebene verschiedene, voneinander unabhängige Bedeutungsaspekte gibt, die konventionell an die entsprechenden Ausdrücke gebunden sind. Die oben genannte Gebrauchsbedingung für Verabschiedungsausdrücke wäre also nur ein gebrauchskonditionaler Aspekt, zu dem je nach Verabschiedungsausdruckbe weitere hinzutreten können. Ein Beispiel dafür wären Ausdrücke wie pfiati oder ade, die einen Aspekt der Regionalität indizieren, ein anderes Beispiel wären Ausdrücke wie tschüssi oder adele, die einen Aspekt der Informalität (oder Nähe) indizieren. Nach dem oben Gesagten könnte man so von folgender Bedeutung für tschüssi ausgehen: (25) tschüssi Wahrheitsbedingungen: – Gebrauchsbedingungen: a. S und H trennen sich nach einer gewissen Zeit gemeinsamer Aktivität b. S und H stehen in einer informellen Beziehung zueinander Wir haben hier also zwei unterschiedliche gebrauchskonditionale Aspekte. Dass nicht nur der a.-Aspekt, sondern auch der b.-Aspekt ein konventioneller Bedeutungsaspekt ist, lässt sich zeigen, indem man einen nicht-informellen Kontext konstruiert und nachweist, dass tschüssi dort unangemessen ist. Dazu kann man sich z.B. eine Situation vorstellen, in der sich jemand auf eine Professur bewirbt. Verabschiedet sich die Kandidatin von der Berufungskommission mit tschüssi, bekommt sie den Job vermutlich nicht. Wie sieht nun im Vergleich die Bedeutungsstruktur des „Nervsprech“-Ausdrucks tschüssikowski aus? Tschüssikowski weist zunächst einmal dieselben wahrheits- und gebrauchskonditionalen Aspekte auf wie tschüssi. Dies würde uns für tschüssikowski dieselbe Repräsentation wie für tschüssi geben. (25) wäre aber für tschüssikowski – und andere „Nervsprech“-Verabschiedungen – noch keine vollständige Beschreibung. Wie oben gezeigt, intendieren Sprecher mit der Äußerung von Abschiedsausdrücken wie tschüssikowski zusätzliche Effekte auf der Beziehungsebene. Eine solche Intention wäre, sich als witzig, unkonventionell oder cool zu präsentieren. Eine andere Intention wäre, damit eine bestimmte Hörererwartung zu erfüllen bzw. Gruppenzugehörigkeit zu signalisieren (z.B. wenn Jörg am Feierabend „Tschüssikowski!“ in die Runde ruft, weil das im Büro
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alle so machen). Ebenso ist denkbar, dass tschüssikowski verwendet wird, um den Adressaten bewusst zu nerven (z.B. wenn der Adressat ein ausgesprochener „Nervsprech“-Hasser ist und die Sprecherin das weiß). Es ist unplausibel, dass diese expressiven Effekte Teil der konventionellen Semantik von tschüssikowski sind, da sie sprecher- und hörerabhängig sind. Plausibler ist es, die expressiven Effekte von Ausdrücken wie tschüssikowski, die noch zu den in der konventionellen Semantik festgelegten Aspekten hinzukommen, als konversationelle Implikaturen zu erklären. Man braucht also für die Beschreibung der Bedeutung von tschüssikowski neben der Ebene der Wahrheitsbedingungen (+conventional, +truth-conditional, vgl. Tabelle 2 oben) und der Ebene der Gebrauchsbedingungen (+conventional, –truth-conditional) auch eine Ebene, auf der konversationelle Implikaturen erfasst werden können, die beim Gebrauch von Ausdrücken wie tschüssikowski in aktuellen Äußerungssituationen entstehen (–conventional, –truth-conditional), vgl. (26). (26) tschüssikowski Wahrheitsbedingungen: – Gebrauchsbedingungen: a. S und H trennen sich nach einer gewissen Zeit gemeinsamer Aktivität b. S und H stehen in einer informellen Beziehung zueinander konversationelle Implikaturen Nicht-konventionelle, z.B. ‚S intendiert mit der Äußerung U, sich als nicht-wahrheitsfunktiowitzig/unkonventionell/cool zu präsentieren‘ nale Aspekte:
5.4 M-Prinzip Einen Ansatz zur Ableitung solcher Implikaturen bietet Levinsons (2000) M-Prinzip, vgl. (27). Das M-Prinzip kann dort zusätzliche Bedeutungen generieren, wo eigentlich aus Gründen der Sprachökonomie bzw. des Prinzips der Synonymievermeidung Blockierung erwartbar wäre. (27) M-Principle Speaker’s maxim: Indicate an abnormal, nonstereotypical situation by using marked expressions that contrast with those you would use to describe the corresponding normal, stereotypical situation. Recipient’s corollary: What is said in an abnormal way indicates an abnormal situation, or marked messages indicate marked situations, specifically: Where S had said “p” containing the marked expression M, and there is an
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unmarked alternate expression U with the same denotation D which the speaker might have employed in the sentence-frame instead, then where U would have I-implicated the stereotypical or more specific subset d of D, the marked expression M will implicate the complement of the denotation, namely d¯ of D. (Levinson 2000: 136–137)
Für das Wirksamwerden des M-Prinzips müssen also zwei konkurrierende Ausdrücke vorliegen, von denen einer relativ zu dem anderen markierter ist. Typische, in der Literatur diskutierte Beispiele sind etwa töten vs. den Tod verursachen oder tendenziell vs. tendenziös. Markiertheit (markedness) definiert Levinson (2000) wie folgt: (28) Markedness [M]arked forms, in comparison to corresponding unmarked forms, are more morphologically complex and less lexicalized, more prolix or periphrastic, less frequent or usual, and less neutral in register. (Levinson 2000: 137)
In Bezug auf die hier interessierenden Fälle kann man sagen, dass usuelle Abschiedsausdrücke in systematischer Konkurrenz zu modifizierten Abschiedsausdrücken stehen. Die modifizierten Ausdrücke sind in der Regel morphologisch oder syntaktisch komplexer (z.B. tschüs vs. tschüssikowski; bis später vs. bis später, Attentäter), „weitschweifiger“ (z.B. Schönen Gruß zuhause vs. Schönen Gruß an deine Frau und meine Kinder) und weniger neutral im Register (z.B. wir telefonieren vs. wir telefonanieren). Unter der Annahme, dass es sich bei den modifizierten Ausdrücken um kreative Modifikationen handelt, die von Sprecherinnen intentional gebildet werden, sind diese zudem weniger stark lexikalisiert und damit auch weniger usuell. Das schließt natürlich nicht aus, dass die Ausdrücke im Lauf der Zeit usualisiert bzw. lexikalisiert werden können.13 || 13 In diesem Beitrag bin ich aus synchroner Sicht davon ausgegangen, dass einem Set usueller Abschiedsausdrücke ein Set neuer bzw. modifizierter Abschiedsformeln gegenübersteht. Aspekte sprachlicher Dynamik konnten dabei nicht berücksichtigt werden. Es ist aber klar, dass das hier besprochene Set usueller Abschiedsausdrücke historisch gewachsen ist. Welche Ausdrücke dazugehören, kann sich ändern. Dasselbe gilt für das Set von „Nervsprech“-Ausdrücken. So sind viele der hier besprochenen „Nervsprech“-Ausdrücke nicht mehr neu, sondern haben bereits einen gewissen Verbreitungs- bzw. Etablierungsgrad erreicht. Beispiele für heute veraltete „Nervsprech“-Ausdrücke sind etwa zum Bleistift oder Schlepptop. Zugleich ist die Bildung neuer Ausdrücke jederzeit möglich, z.B. auf Basis von (teil-)produktiven Mustern wie dem Muster mit Vokativerweiterung (Vorschläge: Gib Gummi, Flummi; Rutsch mal durch, Lurch; Bleib
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Ein wesentlicher Unterschied zwischen Ausdrucksalternativen wie einerseits töten/Tod verursachen und andererseits ciao/ciao cesku ist aber, dass Letztere denotativ leer sind. Sie haben also „the same denotation“ höchstens in dem Sinn, dass sie beide keine Denotation haben. Statt von gleicher Denotation kann man hier aber sinnvollerweise von einer kommunikativen Äquivalenz sprechen. Damit ist gemeint, dass die Ausdrucksalternativen auf denselben Situationstyp bezogen sind, nämlich die Verabschiedungssituation, und dass beide zusätzlich als informell markiert sind. Dass sie gerade nicht in jeder (informellen) Verabschiedungssituation gleichermaßen angemessen verwendet werden können, erklärt sich über das M-Prinzip dann so, dass Sprecherinnen mit Ausdrücken wie ciao cesku zusätzliche Bedeutungen evozieren können, z.B. Humoreffekte, die sensibel für bestimmte Beziehungsaspekte zwischen den Interaktanten sind.
5.5 Expressivität Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich nun die eingangs gestellte Frage genauer beantworten, in welchem Sinn „Nervsprech“-Formeln expressiv sind. „Nervsprech“-Abschiedsformeln haben keinen wahrheitsfunktionalen, sondern nur einen gebrauchskonditionalen Gehalt. Möchte man Expressivität im Sinne formal-semantischer Ansätze mit Gebrauchskonditionalität gleichsetzen, dann sind „Nervsprech“-Abschiedsformeln, genau wie usuelle Abschiedsformeln, in diesem semantischen Sinn expressiv. Damit hat man dann aber natürlich die Spezifik von „Nervsprech“-Abschiedsformeln gegenüber usuellen Abschiedsformeln nicht erfasst. „Nervsprech“-Abschiedsformeln sind auch in einem pragmatischen Sinn expressiv insofern, als Sprecher sich mit Äußerungen dieser Formeln verabschieden und Sich-Verabschieden ein expressiver Sprechakt ist. Allerdings gilt für „Nervsprech“-Abschiedsäußerungen gerade nicht, was oben über Äußerungen von usuellen Abschiedsformeln gesagt wurde, nämlich, dass damit lediglich höfliche Routinen vollzogen werden, die in bestimmten Situationen genau so erwartet sind. Vielmehr durchbrechen Sprecherinnen und Sprecher mit der Modifikation von Standard-Abschiedsformeln gerade den Routinecharakter des Sprechakts || munter, Gunter). In dem Maß, in dem eine „Nervsprech“-Modifikation im Verabschiedungsritual usualisiert wird, scheinen auch ihre zusätzlichen expressiven Bedeutungsaspekte hinter ihre kommunikative Funktion als Abschiedsgruß zurückzutreten. So hat tschüssikowski das Potential, zum totalen kommunikativen Äquivalent von tschüssi zu werden, etwa im o.g. Beispiel „Feierabendrunde“, wo es zum üblichen Abschiedsgruß unter Kollegen geworden ist.
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des Verabschiedens. Während beim routinisierten Gebrauch von Ausdrücken wie ciao eine potentiell (mit-)vollzogene sprecherindividuelle Emotionsäußerung interaktional keine Relevanz besitzt, wird gerade diese sprecherindividuelle Emotionsäußerung beim Äußern von ciao cesku wieder relevant gesetzt oder aktualisiert. Es geht ja gerade um das Erzielen besonderer emotionaler Effekte. Diese können, wie oben gezeigt, als expressive M-Implikaturen aufgefasst werden. Äußerungen von „Nervsprech“-Abschiedsformeln sind deshalb, und dies ist mein Fazit, in der Tat „expressive Verabschiedungen“ – also de-routinisierte, und deshalb genuin expressive expressive Sprechakte.
6 Schluss Expressivität ist ein Begriff, der je nach Perspektive unterschiedliche Deutungen erhalten kann. Ein Forschungsdesiderat scheint mir darin zu bestehen, Expressivität im Sinn von Gebrauchskonditionalität noch stärker und systematischer auf die Theorie der Sprechakte, und speziell auf expressive Sprechakte, zu beziehen. Dies habe ich hier am Beispiel von „Nervsprech“-Verabschiedungen getan. Diese erweisen sich als besonders interessanter Fall, da sie expressiv im dreifachen Sinne sind: Als expressive (gebrauchskonditionale) Ausdrücke, als Realisierungen expressiver Sprechakte und als Äußerungen, die im Vergleich mit usuellen Verabschiedungen zusätzliche Effekte auf der Beziehungsebene haben können. An und Pfirsich also eine tolle Sache.
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Autorenverzeichnis Franz d’Avis Johannes Gutenberg-Universität Mainz Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie Deutsches Institut D-55099 Mainz [email protected]
Frank Liedtke Universität Leipzig Institut für Germanistik Beethovenstr. 15 D-04107 Leipzig [email protected]
Rita Finkbeiner Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Institut für Germanistik Universitätsstr. 1 D-40225 Düsseldorf [email protected]
Sven Müller Johannes Gutenberg-Universität Mainz Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie Deutsches Institut D-55099 Mainz [email protected]
Jochen Geilfuß-Wolfgang Johannes Gutenberg-Universität Mainz Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie Deutsches Institut D-55099 Mainz [email protected]
Daniel Gutzmann Institut für Deutsche Sprache und Literatur I Sprachwissenschaft Albertus Magnus Platz D-50923 Köln [email protected]
Annika Herrmann Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser Universität Hamburg Gorch-Fock-Wall 7 D-20354 Hamburg [email protected]
Laura Neuhaus Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft Am Hofgarten 22 D-53113 Bonn [email protected]
Jürgen Pafel Universität Stuttgart Institut für Linguistik/Germanistik (ILG) Keplerstr. 17 D-70174 Stuttgart [email protected]
Björn Technau The German Immersion School of New York 398 4th Street, Brooklyn, NY 1121 [email protected]
372 | Autorenverzeichnis
Claudia Poschmann Goethe-Universität Frankfurt am Main Institut für Linguistik Norbert-Wollheim-Platz 1 D-60323 Frankfurt [email protected]
Ingo Reich Universität des Saarlandes Fachrichtung Germanistik Campus A2 2, Zimmer 3.11 D-66123 Saarbrücken [email protected]
Lena Rosenbaum Universität Leipzig Institut für Germanistik Beethovenstr. 15 D-04107 Leipzig [email protected]
Carmen Scherer Johannes Gutenberg-Universität Mainz Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie Deutsches Institut D-55099 Mainz [email protected]
Markus Steinbach Universität Göttingen Seminar für Deutsche Philologie Käte-Hamburger-Weg 3 D-37073 Göttingen [email protected]
Katharina Turgay Universität Koblenz-Landau Campus Landau Institut für Germanistik Fortstr. 7 D-76829 Landau [email protected]
Eva-Maria Uebel Universität Stuttgart Institut für Linguistik/Germanistik (ILG) Keplerstr. 17 D-70174 Stuttgart [email protected]
Index Adjektiv 67, 81, 90, 97, 118 – äußerungsbezogene Verwendung 109, 119f. – deadjektivische Ableitung 63 – deskriptives 109ff., 116ff. – expressives 109ff., 116ff., 265, 280 – individuenbezogene Verwendung 109, 119f. Adjektivsuffix 59 Adverbialsatz – adversativer 182, 185, 195, 197, 201 – epistemisch-kausaler 182, 197, 201 – konzessiver 182, 185, 188f., 191, 197, 201 – peripherer 182ff., 192, 194f., 198 – zentraler 182, 185, 198ff. Affix 53, 57ff., 59, 69, 71 – Derivationsaffix 60 Affixoid 54, 61f. als ob-Satz, freier 18, 209, 216, 218f., 221, 226, 228 als-V1-Deklarativ 18, 224f. als-VE-Deklarativ 18, 224f. Assertion 25, 39ff., 215, 217, 220, 222, 250, 348f. at-issue 233f., 239, 242, 253ff., 329f. Attributivsatz 266, 281 Aufforderungssatz 300 Aufrichtigkeitsbedingung 137, 169, 288, 348, 351ff., 362 Aufrichtigkeitsregel 351, 353f. Augmentation 50f., 53ff., 57, 59 – Augmentativpräfix 59 – Augmentativsuffix 59 ausdrücken 31ff. Ausdrucksfunktion 3f., 51, 164, 261 Ausdrucksmodus 188, 198, 262 Ausrufesatz 300 Ausrufezeichen 19, 295ff. Äußerungstyp 130, 134, 141, 143, 145f. BACKGROUND 243, 250 Banter 89ff., 101 – Objekt 90 https://doi.org/10.1515/9783110630190-015
– Publikum 90 – Subjekt 90 Basisposition – syntaktische 183, 185f., 199 bedeuten 31 Bedeutung – figurative 149, 167 – Morphembedeutung 57 Bedeutungstheorie, multimodale 316, 328 Bedeutungsverbesserung 59 Bedeutungsverschiebung, ikonische 53 Beleidigung 75ff., 78, 81, 83f., 101 Beleidigungsgrad 75, 78, 86, 95ff., 101 Beleidigungswort 78, 81, 83, 89, 91ff., 101f. Bewertung 29f., 32, 34, 59, 62, 66, 71 Bewertungseinstellung 136, 143f., 193, 195, 198 Body as Subject 313, 329f., 333 C-Domäne 183 Chatkommunikation 142, 261 Context shift 329, 333 CONTRAST 245 Deklaration 351 Deklarativ 32f., 40ff., 44, 162, 205, 215ff., 225f. Deklarativsatz 32, 297f., 300f., 347 Demonstration 313, 318, 321, 323, 326f., 329, 332ff. Derivation 52, 54f., 58f., 63f., 66, 68ff., 70 Deutsche Gebärdensprache (DGS) 316, 318f., 332 Diminution 50f., 54 – Diminutiv 51ff., 55ff., 59f. – Diminutivsuffix 52 Diskurspartikel 135, 232, 246ff. Diskursstatus 188, 231, 235, 238ff., 254f., 258 Einleitungsbedingung 169, 348, 362 Einleitungsregel 351, 353f.
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Einstellung 25ff., 32f., 35ff., 43, 65, 79f., 82, 84f., 93f., 96, 110, 114, 135, 137f., 155, 167, 209, 226, 231, 233, 240, 247f., 252, 255ff., 279, 283, 299, 309, 316, 318, 332, 344, 346, 349, 362 Einstellungsrahmen 34 Ellipse 113, 209ff., 262, 278, 281f. Emotion 50f., 55, 58, 71, 129f., 135, 137f., 164ff., 215, 226, 228, 279, 298ff., 353f., 362, 367 Emotionsbekundung 209, 227f. erlebte Rede 329, 333 Exklamation 35, 207, 300ff., 307 Exklamativsatz 29, 57, 130, 134, 276f., 279, 297, 300f. EXPLANATION 243, 250 EXPRESS 31ff., 262 Expressiva 136f., 149ff., 164, 166f., 169, 301, 352f. Fairness 34ff. Färbung 4, 79 Force-Element 182f., 186, 196, 198, 200f. ForceP 181f., 186, 201 Force-Projektion 182, 185f., 201 Frage 19, 239, 254, 277f., 281, 298f., 301, 303ff., 307 – deklarative 299, 302 – rhetorische 307ff. Fragebogenstudie 113, 115ff. Frageoperator 183, 185, 199 Fragezeichen 19, 301f., 304ff. Fragment 109ff., 113ff., 117ff. Funktion – emotionale 133, 279 – emotive 3f., 7, 133f. – kommunikative 355, 359 – semantische 3 funktionaler Satztyp 221 Gardenpath-Effekt 151, 156, 164 Gebrauchsbedingung 2, 7f., 17, 30f., 38, 79, 149f., 167, 169, 172, 174, 187f., 192, 196, 201, 231, 233, 287f., 342, 345ff., 354, 363f. Gebrauchsregel 80
Gefühl 1ff., 7, 18, 53, 65, 82, 99ff., 164, 265, 273, 276, 278ff., 342, 351f. Gefühlsausdruck 17, 51, 283, 287f. Gehalt – deontischer 209 – deskriptiver 9, 49, 110, 130, 149f., 167, 169, 186f., 197, 208, 228, 240, 262, 278, 282, 342, 344 – expressiver 27f., 52, 163, 167, 169, 216, 245, 256, 278, 284, 342ff., 349 – gebrauchskonditionaler 19, 362, 366 – propositionaler 6, 34, 36, 136f., 139, 150, 167f., 213, 246, 255, 313, 315, 326, 348, 351, 353f. – wahrheitsfunktionaler 19, 28, 342f., 345ff. Gemeinsamer Gesprächshintergrund 15, 25, 40f., 45, 252 Gemeintes 32 Gesagtes 8, 32f., 94, 146 Gesprächsdaten 76, 83, 102 Gesprächsmodalität 89 Geste 19 – expressive 316 – manuelle 313ff., 329, 332 – nicht-manuelle 313, 315f. – vokale 133, 314f., 329 Graphematik 18, 309 Hashtag 152, 155ff., 165 Hate Speech 92, 95, 99, 101 I-Domäne 183 illokutionärer Witz 349, 351 Imperativ 221, 225 Imperativsatz 32f., 297f. Implikatur 2, 8, 15, 25, 31, 34, 36ff., 42ff., 62, 150, 162, 166, 168f., 189, 209, 214f., 231f., 237, 278, 345, 364, 367 independence 9, 28, 231, 234f. Informationsgehalt 4, 342, 346f. – semantischer 17, 30, 38 Integration, syntaktische 199 Intention 4, 18, 34, 38, 44 – kommunikative 205, 209, 221f., 225f., 228, 343, 352, 356, 360ff. Interjektion 3, 5, 16f., 130ff., 149f., 154, 156, 165, 169ff., 232, 246, 273, 283, 287f.
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– expressive 134 – konative 134 – phatische 134 – primäre 131f. – sekundäre 130, 134, 141 Interpunktion 295 Interrobang 305f., 308 Interrogativ 221, 225f. Interrogativsatz 32, 297, 301, 304 Ironie 13, 17, 146, 149ff., 156, 158, 161f., 164, 166 Ironiesignal 152f., 157 Ironietyp 149, 151, 160, 170 Jugendsprache 87, 261 Kiezdeutsch 261 Klassifikator 316, 319ff., 323f., 326, 331 Kommunikationssituation 58 Komposition 54, 58f., 63f., 66f., 68, 70 Konnektor 17, 182, 185f., 188, 192ff., 196, 198, 200f. Konnotation 96 – emotionale 52 Kontamination 54, 57f., 64ff., 68, 71 Kontext 2, 4, 7f., 11f., 15, 19, 25, 27, 30ff., 37f., 45, 55, 58f., 71, 76, 83, 86, 92f., 97, 98f., 102, 129f., 136, 139ff., 143ff., 150, 155, 157, 163, 169f., 187, 195, 207, 218, 261, 279, 284f., 306f., 309, 317f., 331ff., 345, 347, 360ff. Kontextproposition 143 Konventionalität 2, 5, 8, 15f., 75, 79, 94f., 187f., 192f., 195f., 201, 208, 215, 225f., 228, 231, 342, 345f., 355, 363f. Konversationsmaxime 156 Kopfnomen 234 Korpus 16, 61, 109ff., 114, 116, 119f., 142, 306, 308, 321
Meliorativ 53, 55 Meta-Kommentar 152, 156, 360, 362 M-Implikatur 367 Mitteilungsgehalt 3 Modalität – oral-auditive 313 – visuell-gestische 313 Modaloperator 189ff. Modalpartikel 32, 167, 308, 318, 346f. Morphologie 16 – extragrammatisch/marginal 50f., 54f., 57, 71 M-Prinzip 162, 343, 355, 364ff. Multifunktionalität 151, 155 Multikomponentenmodell 76, 95 Mündlichkeit, konzeptionelle 111, 169 Nachfrage 43 NARRATION 242f., 245, 250, 276 Naturlaut 16, 129, 131 Nebensatz 18, 261f., 266f., 279, 281 – attributiver 18 Negation 9, 17, 213, 222, 236 – nachgestellte 150f., 153f., 156, 164 Negationsoperator 17, 185 Nervsprech 355f., 359ff., 366 Nicht-Propositionalität 130, 135f., 139, 344, 349 Nicht-Referentialität 129, 139f., 146 nicht-wörtliche Verwendung 151, 154 Nicht-Zurückweisbarkeit 231, 256 non-at-issue 233f., 241, 253ff. 320, 329 nondisplaceability 9, 32, 187, 196, 201 Normalvorstellung 190ff., 197, 201 Onomatopoetikum 131f., 134f. Operator – coverter expressiver 282, 288 – Möglichkeitsoperator 10 Organonmodell 3, 51, 164 Originaläußerung 8, 33ff., 332
Lüge 15, 25ff., 39ff., 226, 234 Markiertheit 52, 63ff., 365 meaningN 4 meaningNN 4f., 345 Mehrdimensionalität 328f., 332, 234f. Melioration 50f., 59, 62
Partikel 110f., 129, 132, 134, 138, 247, 359f. Pejoration 50f., 57, 59ff., 76, 78, 80ff., 84, 86, 92ff., 102, 172 Pejorativa 53, 55, 59, 75, 76, 326 Peripherie, linke 17, 183, 185, 199
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perspective dependence 11, 29, 187, 196f., 201 Perspektivwechsel 237f., 242, 317, 320, 323f., 333 Phrasenkompositum 57, 67f. Potential – emotionales 206ff., 212, 227 – expressives 328 Präsupposition 10, 18, 189, 192ff., 205, 209, 214, 217f., 221f., 226, 228, 232, 236, 239, 252f., 257, 329f. prejudicials 76 procedural meaning 138f. Projektion 183, 231, 235f., 238, 241, 245ff., 249, 251ff. Prototyp 134, 136 – Morphologie 49, 52ff., 58, 63f., 66f., 71 Realisierung, simultane 315 Redewiedergabe 8, 10f., 29, 33ff., 313, 331ff. Regel des propositionalen Gehalts 351, 353f. Relation, rhetorische 242, 250 Relativsatz – appositiver 18, 231, 233f., 236, 239, 241ff., 247ff. – nicht-restriktiver 243ff., 250 – restriktiver 233, 248 – weiterführender 243, 245 repeatability 13 RESULT 243, 251 Role Shift 19, 313, 316ff., 322, 326, 331ff. Routinehandlung 19, 341, 343, 349 Satzadverbial 210 Satzendzeichen 295ff., 305f. Satzform 300 Satzfunktion 300 Satzmodus 5, 13, 29, 304 SAY 1, 8, 31ff. Scherzkommunikation 95, 99 Semantik/Pragmatik-Schnittstelle 2, 76, 328, 355, 363 Sinn, kommunikativer 34, 36f. Situationstyp 141, 143, 145, 349, 354, 366 Skopus 9f., 183ff., 190, 199, 231, 236, 240, 242, 244, 246ff., 252, 255, 278, 318, 322, 324, 327, 331
soziale Medien 151f., 164 Spezifiziererposition 182, 186, 201 Split-CP-Hypothese 183 Sprachmodalität 313, 315, 321, 329, 333 Sprachspiel 355, 360 Sprachvariante, informelle 289 Sprechakt 3, 5f., 12f., 15, 19, 25, 29, 39f., 45, 136f., 146, 161f., 166, 168f., 225, 248f., 255ff., 298, 304, 308, 343ff., 348, 350ff., 354f. – expressiver 130, 139, 162, 351ff., 362 – Sprechakttyp 6 Sprechaktadverb 247f. Sprechakttheorie 137f., 156, 169, 298, 341, 343, 348, 350f., 362 Sprecherbezug 140, 235, 237, 239, 251, 255f. Sprechereinstellung 65, 68, 75, 82, 95 Sprecherorientierung 250f., 255, 257 Streichbarkeit 9, 166 Tabu 16, 52, 75, 78, 95, 99, 101f. Tabuwort 75, 77ff., 98f. Template, pragmatisches 17, 141, 143ff. thick term 75 Topikalisierung 164, 167 Trägheit, assertorische 277 Transparenz 34, 36 – morphologisch 63f., 66f., 68 Überraschungsfrage 303f., 307f. und w-/und ob-VE-Deklarativ 225 Unmarkiertheit, Wortbildung 58, 64f., 71 Unmittelbarkeit 12f., 166f., 187, 196, 198, 201, 262, 288 Unquotation 323, 325, 327, 329, 331f., 334 Urteilseinstellung 42 Verabschiedung 19, 349f., 354f., 361f. Verabschiedungsformel 347f., 350, 354, 358, 362f. Verbpartikel 60 Vergleichssatz, kontrafaktischer 209f., 212 Verwendungswissen 17 Wahrheitsbedingung 2, 30, 79, 82, 110, 167, 193, 200, 231ff., 242, 287, 345, 363f. wesentliche Regel 299, 351, 353f.
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w-Exklamativ 205, 215, 217 Wiederholbarkeit 13, 164f. wo doch-VE-Deklarativ 225
Wortbildung 15, 49ff. Wortbildungsmuster 97 Wurzelsatzphänomen 182, 185f., 200f.