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German Pages 388 Year 2015
Schriften zum Europäischen Recht Band 172
Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht
Von Ioannis Thanos
Duncker & Humblot · Berlin
IOANNIS THANOS
Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht
Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von
Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann
Band 172
Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht
Von Ioannis Thanos
Duncker & Humblot · Berlin
Die Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität Hamburg hat diese Arbeit im Wintersemester 2013 als Dissertation angenommen.
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© 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: buchbücher.de gmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-14523-2 (Print) ISBN 978-3-428-54523-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-84523-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Reichweite der in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCH) und in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) statuierten Grundrechte in Verfahren für die Anwendung von Art. 101 und 102 AEUV durch die Kommission. Die Arbeit wurde im Wintersemester 2013 von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg als Dissertation angenommen. Das Promotionsverfahren wurde am 30. April 2014 mit dem Rigorosum abgeschlossen. Mein Doktorvater, Herr Prof. Dr. Armin Hatje, gab nicht nur die Anregung zu diesem Thema, sondern betreute die Arbeit stets mit großem Einsatz und war für fachliche Diskussionen immer offen. Für die wertvollen Anregungen und Hinweise, die gesamte Betreuung und die zügige Erstellung des Erstgutachtens bedanke ich mich herzlich bei ihm. Mein Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Markus Kotzur für seine Bereitschaft, das Zweitgutachten zu erstellen. Nicht zuletzt gebührt mein Dank Frau Prof. Julia Iliopoulos-Strangas von der Juristischen Fakultät der Universität Athen, die mich zu einer Promotion in Deutschland angespornt und den Erstkontakt zu meinem Doktorvater hergestellt hat. Schließlich möchte ich meiner Frau, Anna-Regina Thanos, für ihren ununterbrochenen Rückhalt, ihr Verständnis für die langen Stunden der akademischen Arbeit, den ermutigenden Zuspruch und, nicht zuletzt, das Korrekturlesen großer Teile dieser Arbeit ganz herzlich danken. Diese Arbeit ist meinen Eltern, Ntinos und Ninetta Thanos, gewidmet. Ohne sie und ihre Unterstützung hätte es diese Arbeit nicht gegeben. Von Herzen vielen Dank! Hamburg, im Februar 2015
Ioannis Thanos
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 A. Das Verhältnis zwischen den Grundrechten und dem EU-Kartellverfahrensrecht 21 B. Die VO 1/2003, die Grundrechte und das erforderliche Umdenken bezüglich ihrer Reichweite im EU-Kartellverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 C. Die für das EU-Kartellverfahren relevanten grundrechtlichen Verbürgungen . . . 29 D. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 § 1 Überblick über das EU-Kartellverfahren und die Ermittlungsbefugnisse der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 A. Vom Verbot mit Erlaubnisvorbehalt zum System der Legalausnahme . . . . . . . . . 33 B. Die Struktur des EU-Kartellverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 I.
Die Ermittlungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1. Die Nachprüfungen in Unternehmensräumlichkeiten oder in Privatwohnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. Die Auskunftsersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
II. Das Hauptverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1. Mitteilung der Beschwerdepunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2. Einsicht des Betroffenen in die Kommissionsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3. Anhörung des Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4. Ergänzung der Beschwerdepunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 III. Mögliche Verfahrensabschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 1. Erlass einer (Bußgeld-)Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Angebot von Verpflichtungszusagen durch die betroffenen Unternehmen 51 3. Einstellung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 § 2 Grundrechte und Grundrechtsquellen in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 A. Ausarbeitung von Grundrechten als allgemeine Rechtsgrundsätze in der EuGHRechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 B. Die Erarbeitung der Europäischen Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 C. Die EU-Grundrechtsarchitektur nach dem Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . 61 I.
Verrechtlichung der Europäischen Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . 61
II. Beitritt der EU zur EMRK nunmehr Pflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
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Inhaltsverzeichnis D. Allgemeine Rechtsgrundsätze, Grundrechte, Menschenrechte und Verteidigungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 I.
Allgemeine Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
II. Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 III. Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 IV. Verteidigungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 § 3 Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht . . . . . . . . . . . . 74 A. Die Reichweite der Grundrechte und der Charakter der Bußgelder im EU-Kartellverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 I.
Reichweite der Grundrechte im Spannungsfeld zwischen effektiver Durchsetzung des Wettbewerbsrechts und adäquatem Grundrechtsschutz . . . . . . 74
II. Verankerung des Grundrechtsschutzes im Kartellverfahren in der VO 1/2003 76 III. Der Charakter der Bußgelder im EU-Kartellverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . 77 1. Rückschlüsse auf den Charakter der Sanktionen im EU-Kartellverfahren aus dem positiven Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2. Rückschlüsse auf den Charakter der Sanktionen im EU-Kartellverfahren aus der Rechtsprechung der Unionsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3. Rückschlüsse auf den Charakter der Sanktionen im EU-Kartellbußgeldverfahren aus der EGMR-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 4. Argumente aus der schleichenden Kriminalisierung des Kartellrechts in nationalen Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 5. Argumente aus der von der Kommission verwendeten strafrechtlichen Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 6. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 IV. Argumente gegen die Anerkennung des strafrechtlichen Charakters der Sanktionen im EU-Kartellverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 1. Die Bezeichnung der Sanktionen als nicht-strafrechtlich in Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2. Argument aus dem Charakter der Kommission als Verwaltungsorgan im weiten Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3. Argument aus der Gefährdung der Effektivität des EU-Kartellverfahrens durch die Anerkennung des strafrechtlichen Charakters der Bußgelder 95 4. Argument aus der geringeren Reichweite der Garantien strafrechtlichen Ursprungs im EU-Kartellverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 5. Argument aus den fehlenden Freiheitsstrafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 V. Ergebnis: Volle Anwendbarkeit der Garantien von Art. 6 EMRK aufgrund des strafrechtlichen Charakters der Geldbußen im EU-Kartellverfahren . . 98
Inhaltsverzeichnis
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B. Die Rolle und die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahren angesichts des strafrechtlichen Charakters der Bußgelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 I.
Gebot eines hohen Grundrechtsschutzes durch das Rechtsstaatsprinzip . . . 102
II. Wachsende Relevanz des Grundrechtsschutzes im EU-Kartellverfahren aufgrund der Institutionalisierung des Grundrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . 104 III. Konsequenzen für den Grundrechtsschutz im EU-Kartellverfahren aus der Rezeption der EMRK-Rechtsprechung in der Rechtsprechung der Unionsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 § 4 Die Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht 110 A. Allgemein zum Nemo-tenetur-Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 I.
Die Rolle des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht . . 110
II. Entwicklung des Nemo-tenetur-Grundsatzes und positiv-rechtliche Veran kerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 1. Herleitung des Grundsatzes und historische Entwicklung . . . . . . . . . . . 111 2. Keine ausdrückliche Verankerung des Nemo-tenetur in der GRCH und im primären EU-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 3. Der Nemo-tenetur-Grundsatz in der EMRK – Herleitung aus Art. 6 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 III. Das Nemo-tenetur-Prinzip in der Entscheidungspraxis und Rechtsprechung der EU-Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 1. Die Entscheidungspraxis der Kommission und das Orkem-Urteil des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2. Bestätigung der Orkem-Rechtsprechung in weiteren Urteilen . . . . . . . . 119 3. Aktueller Umfang des Nemo-tenetur im EU-Kartellverfahrensrecht . . . 121 a) Anerkennung eines Geständnisverweigerungsrechts bei Gefahr der Selbstbezichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 b) Pflicht zur Vorlage von bereits existierenden, belastenden Dokumenten 122 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4. Kodifizierung der Orkem-Rechtsprechung in der VO 1/2003 . . . . . . . . 126 IV. Die EGMR-Rechtsprechung zum Nemo-tenetur-Grundsatz . . . . . . . . . . . . 126 1. Das Urteil „Funke“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2. Bestätigung der Funke-Rechtsprechung in weiteren Urteilen . . . . . . . . 127 3. Der EGMR erkennt kein absolutes Auskunftsverweigerungsrecht an . . 128 4. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 V. Würdigung der EuGH-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 VI. Plädoyer für eine weite Auslegung des Nemo-tenetur im EU-Kartellverfahren 134 1. Vollumfängliches Auskunftsverweigerungsrecht wegen des strafrechtlichen Charakters der Sanktionen im EU-Kartellbußgeldverfahren geboten 134
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Inhaltsverzeichnis 2. Anpassung des Nemo-tenetur im EU-Kartellverfahren an das EMRKSchutzniveau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 3. Uneingeschränkte Geltung des Nemo-tenetur-Grundsatzes auch für Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 4. Geringe Praktikabilität der in der EuGH-Rechtsprechung vorgenommenen Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 5. Nachträglicher Schutz des rechtlichen Gehörs rechtfertigt nicht die Einschränkung des Nemo-tenetur-Grundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 6. Keine Gefährdung der Effizienz der Ermittlungen der Kommission durch eine weite Auslegung des Nemo-tenetur-Grundsatzes . . . . . . . . . . . . . . 140 a) Die unangekündigten Nachprüfungen in Unternehmens- und anderen Räumlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 b) Die Kronzeugenmitteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 7. Zumutbarkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 8. Zwischenergebnis: Keine Pflicht zur Vorlage von inkriminierenden Dokumenten im Rahmen eines Auskunftsersuchens der Kommission . . . . 145 VII. Die Kronzeugenregelung und der Nemo-tenetur-Grundsatz . . . . . . . . . . . . 146 1. Rechtsprechung der Unionsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2. Vereinbarkeit der Kronzeugenmitteilung mit dem Nemo-tenetur-Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 VIII. Das Settlement-Verfahren und der Nemo-tenetur-Grundsatz . . . . . . . . . . . 151 1. Zielsetzung und Aufbau des Settlement-Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . 151 2. Die Reichweite der Grundrechte im Settlement-Verfahren . . . . . . . . . . 152 a) Die Verteidigungsrechte im Settlement-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . 152 b) Der Nemo-tenetur-Grundsatz im Settlement-Verfahren . . . . . . . . . . 154 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 B. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
§ 5 Das Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht . . . . . 157 A. Die erweiterten Nachprüfungsbefugnisse der Kommission gemäß VO 1/2003 . 157 I.
Nachprüfungen in Unternehmensräumlichkeiten gemäß Art. 20 VO 1/2003 157 1. Verfahren der Nachprüfung gemäß Art. 20 VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . 159 a) Nachprüfung auf Grundlage eines einfachen Auftrags . . . . . . . . . . . 159 b) Nachprüfung auf Grundlage einer Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . 160 2. Die Befugnisse der Kommissionsbediensteten bei einer Nachprüfung im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 a) Das Betretungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 b) Das Recht, Geschäftsunterlagen zu prüfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
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c) Das Recht, Kopien von Unterlagen anzufertigen . . . . . . . . . . . . . . . 165 d) Das Recht, Räumlichkeiten kurzfristig zu versiegeln . . . . . . . . . . . . 165 e) Das Recht auf Befragung der Unternehmensmitarbeiter . . . . . . . . . 165 3. Ablauf einer Nachprüfung in einem Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4. Amtshilfe der nationalen Wettbewerbsbehörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 II. Nachprüfungen in anderen Räumlichkeiten gemäß Art. 21 VO 1/2003 . . . 174 B. Die Nachprüfungsbefugnisse der Kommission und das Recht auf Achtung der Privatsphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 I.
Art. 8 EMRK und die Nachprüfungsbefugnisse der Kommission . . . . . . . . 177
II. Art. 7 GRCH und die Nachprüfungsbefugnisse der Kommission . . . . . . . . 178 1. Der Regelungsgehalt von Art. 7 GRCH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 2. Das Verhältnis zwischen Art. 7 GRCH und den Nachprüfungsbefugnissen der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 III. Die Rechtsprechung des EGMR bezüglich der Unverletzlichkeit von Geschäftsräumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 1. Das Urteil „Chappell“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 2. Das Urteil „Niemietz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 3. Das Urteil „Société Colas Est“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 4. Das Urteil „Roemen und Schmit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 5. Das Urteil „Buck“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 6. Zusammenfassung der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . 188 IV. Die Rechtsprechung der Unionsgerichte in Bezug auf die Reichweite von Art. 7 GRCH/Art. 8 EMRK im EU-Kartellverfahrensrecht . . . . . . . . . . . . 189 1. Das EuGH-Urteil „National Panasonic“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 2. Das EuGH-Urteil „Hoechst“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 3. Das EuG-Urteil „Limburgse Vinyl Maatschappij“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 4. Das EuGH-Urteil „Roquette Frères“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 5. Das EuGH-Urteil „Varec“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 6. Zusammenfassung der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . 194 V. Schutz der Unverletzlichkeit von Geschäftsräumen in nationalen Rechts ordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 VI. Argumente für die Geltung des Grundrechts auf Achtung der Privatsphäre in Bezug auf Geschäftsräume im Rahmen des EU-Kartellverfahrens . . . . . . . 196 VII. Konsequenzen einer Einbeziehung der Geschäftsräume in den Schutzbereich von Art. 7 GRCH für die Nachprüfungsbefugnisse der Kommission . . . . . 198 1. Änderungsbedarf bezüglich der Genehmigung einer Entscheidung über die Durchsuchung von Unternehmensräumlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . 198
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Inhaltsverzeichnis a) Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der aktuellen Kommissionspraxis mit den EMRK-Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 b) Lösungsansatz: Genehmigung des Durchsuchungsbeschlusses durch das EuG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 2. Änderungsbedarf bezüglich der richterlichen Genehmigung von Entscheidungen über Durchsuchungen in privaten Räumlichkeiten . . . . . . 206 C. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 A. Schutzzweck der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 I.
Allgemeiner Schutzzweck des Anwaltsprivilegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
II. Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 1. Bestandsaufnahme des Anwaltsprivilegs im EU-Sekundärrecht . . . . . . 211 2. Bedeutung des Anwaltsprivilegs im EU-Kartellverfahren . . . . . . . . . . . 212 B. Das Anwaltsprivileg als Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 I.
Anhaltspunkte in der EU-Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
II. Anhaltspunkte in der EuGH-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 III. Anhaltspunkte in der EMRK und in der EGMR-Rechtsprechung . . . . . . . . 216 IV. Anhaltspunkte in nationalen Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 V. Weitere Argumente für die grundrechtliche Natur des Anwaltsprivilegs . . . 219 VI. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 C. Einschränkungsmöglichkeit des Anwaltsprivilegs aus Gründen der Verfahrens effizienz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 D. Die Entwicklung des Schutzes der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant in der Rechtsprechung des EGMR und der Unionsgerichte 222 I.
Die EGMR-Rechtsprechung zum Anwaltsprivileg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
II. Die Rechtsprechung der Unionsgerichte zum Anwaltsprivileg . . . . . . . . . . 225 1. Das EuGH-Urteil vom 18.5.1982, AM & S/Kommission, Rs. 155/79 . . 226 2. Beschluss des EuG vom 4.4.1990, Hilti/Kommission, Rs. T-30/89 . . . . 228 3. Beschluss des Präsidenten des EuG vom 30.10.2003, Akzo Nobel Chemi cals und Akcros Chemicals/Kommission, Rs. T-125/03 R und T-253/03 R 229 4. Urteil des EuG vom 17.9.2007, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission, verb. Rs. T-125/03 und T-253/03 . . . . . . . . . . . . . 231 5. Urteil des EuGH v. 14.09.2010 in der Rechtssache C-550/07 P, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission . . . . . . . . . . . . . 235 III. Aktuelle Reichweite des europarechtlichen Anwaltsprivilegs . . . . . . . . . . . 237
Inhaltsverzeichnis
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1. Kommunikation zum Zwecke der Verteidigung und in Bezug auf das laufende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 2. Ausdehnung der Reichweite auf nicht verfahrensbezogene Kommuni kation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 3. Geltung des EU-Anwaltsprivilegs auch in nationalen Verfahren zur Anwendung von Art. 101 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 IV. Würdigung der Rechtsprechung der Unionsgerichte zum Anwaltsprivileg . 242 1. Ungerechtfertigte Beschränkung auf „unabhängige“ Rechtsanwälte . . . 242 2. Das Erfordernis der Unabhängigkeit der Rechtsanwälte . . . . . . . . . . . . 244 3. Abkehr von der Akzo-Nobel-Rechtsprechung erscheint geboten . . . . . . 245 E. Plädoyer für ein die Syndikusanwälte umfassendes Anwaltsprivileg . . . . . . . . . 246 I.
Argumente für eine Erweiterung des Anwaltsprivilegs auf Unternehmensanwälte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 1. Argument der fehlenden Unabhängigkeit der Unternehmensanwälte nicht überzeugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 2. Das eingeschränkte Anwaltsprivileg erschwert die kartellrechtliche Selbsteinschätzung des Verhaltens eines Unternehmens . . . . . . . . . . . . 248 3. Argumente für die Ausdehnung der persönlichen Reichweite des Anwaltsprivilegs aus der Zusammenarbeit im Rahmen des Europäischen Netzes der Wettbewerbsbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 4. Kein Missbrauchsrisiko aus einer eventuellen Ausweitung der persönlichen Reichweite des EU-Anwaltsprivilegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 5. Argument aus dem Schutz der Dokumente des juristischen Dienstes der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 6. Argumente aus der internationalen Handhabung des Anwaltsprivilegs . . 254
II. Lösungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 F. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 § 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 A. Das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen und Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 I.
Allgemein zum Zweck des Akteneinsichtsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
II. Das Grundrecht auf Akteneinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 III. Die Entwicklung des kartellrechtlichen Akteneinsichtsrechts in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 IV. Bestandsaufnahme des (kartellrechtlichen) Akteneinsichtsrechts im positiven Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 1. Europäische Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 2. EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 3. EU-Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
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Inhaltsverzeichnis a) Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 b) Mitteilung der Kommission über die Akteneinsicht . . . . . . . . . . . . . 264 c) Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen („best practices“) 265 V. Inhalt des Akteneinsichtsrechts im EU-Kartellverfahren . . . . . . . . . . . . . . . 265 1. Akteneinsichtsrecht des Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 a) Verfahren der Akteneinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 b) Zeitliche Aspekte der Akteneinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 2. Akteneinsichtsrecht des Beschwerdeführers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 a) Mögliche Rechtsgrundlagen für das Akteneinsichtsrecht des Beschwerdeführers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 b) Begründung des eingeschränkten Akteneinsichtsrechts des Beschwerdeführers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 VI. Die Problematik des Akteneinsichtsrechts sonstiger Dritter . . . . . . . . . . . . 270 1. Herkömmlicher Ansatz: Grundsätzlich kein Akteneinsichtsrecht für sonstige Dritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 2. Akteneinsichtsrecht Dritter im EU-Kartellverfahren über die Transpa renzverordnung (VO 1049/2001)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 a) Struktur und Zweck der VO 1049/2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 b) Die in der VO 1049/2001 vorgesehenen Ausnahmen vom Grundsatz des Zugangs zu den Dokumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 c) Die Auslegung der Ausnahmetatbestände durch die Unionsgerichte
275
d) Heranziehung der Transparenzverordnung im Bereich des EU-Wettbewerbsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 3. Argumente gegen die Anwendung der VO 1049/2001 in Kartellsachen
277
a) Unterschiedliche Zielsetzungen des Akteneinsichtsrechts und des Rechts auf Zugang zu Dokumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 b) Argument aus dem Lex-posteriori-Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 c) Argument aus dem Lex-specialis-Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 d) Argument aus der Effizienz des Kronzeugenprogramms . . . . . . . . . 280 4. Argumente für die Anwendung der VO 1049/2001 im Kartellverfahren 281 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 VII. Folgen der Verletzung des Akteneinsichtsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 VIII. Grenzen des Akteneinsichtsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 1. Die Interna der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 2. Geschäftsgeheimnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 a) Grundrechtlicher Schutz der Geschäftsgeheimnisse . . . . . . . . . . . . . 288 b) Sekundärrechtliche Regelung des Schutzes der Geschäftsgeheimnisse 289 c) Abwägung zwischen dem Schutz der Geschäftsgeheimnisse und der Effektivität der Ermittlungstätigkeit der Kommission . . . . . . . . . . . 292
Inhaltsverzeichnis
15
d) Entscheidung über das Vorliegen eines Geschäftsgeheimnisses . . . . 293 e) Das Verfahren des Schutzes der Geschäftsgeheimnisse nach Art. 16 VO 773/2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 3. Sonstige vertrauliche Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 B. Einsicht in die Kronzeugenakte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 I.
Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
II. Die rechtliche Lage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 III. Handhabung der Vertraulichkeit von Kronzeugenanträgen durch die Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 IV. Das Pfleiderer-Urteil des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 1. Der Sachverhalt, der zum Vorlageverfahren geführt hat . . . . . . . . . . . . . 302 2. Schlussanträge des GA Mázak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 3. Das Urteil des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 V. Auswirkungen des Pfleiderer-Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 VI. Das Donau-Chemie-Urteil des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 VII. Ausblick – Lösungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 C. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 § 8 Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht . . . . . . . . . . . . 311 A. Der Ne bis in idem-Grundsatz als Ausfluss der Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . 311 B. Die Quellen des Ne bis in idem-Grundsatzes in der EU-Rechtsordnung . . . . . . 312 I.
Art. 50 GRCH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
II. Art. 54 SDÜ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 1. Der materiellrechtliche Gehalt der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 2. Die Auslegung des Art. 54 SDÜ durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 III. Die EuGH-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 C. Das Ne bis in idem in der EMRK – Art. 4 des 7. ZP-EMRK . . . . . . . . . . . . . . . 319 I.
Inhalt des Art. 4 Abs. 1 7. ZP-EMRK und Geltung in den EMRK-Signatarstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
II. Anwendbarkeit des Art. 4 Abs. 1 7. ZP-EMRK auch auf strafrechtsähnliche Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 III. Auslegung des Art. 4 Abs. 1 7. ZP-EMRK in der EGMR-Rechtsprechung
321
D. Die Rechtsprechung der Unionsgerichte zum Ne bis in idem-Grundsatz . . . . . . 323 E. Würdigung der restriktiven Auslegung des Ne bis in idem-Grundsatzes durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326
16
Inhaltsverzeichnis F. Gefahr einer Doppelverfolgung oder/und Sanktionierung im EU-Kartellrecht . . 326 I.
Doppelte Ahndung eines Wettbewerbsverstoßes durch die Kommission . . 327 1. Erlass einer zweiten Entscheidung nach Aufhebung der ersten wegen Verfahrensmängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 2. Erlass einer zweiten Entscheidung nach Aufhebung der ersten wegen mangelnder Beweisführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
II. Doppelte Ahndung eines Verstoßes durch die Kommission und eine nationale Wettbewerbsbehörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 III. Mehrfache Ahndung eines Verstoßes durch mehrere nationale Wettbewerbsbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 IV. Doppelte Ahndung eines Verstoßes durch die Kommission und die Wettbewerbsbehörde eines Drittstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 G. Plädoyer für eine weite Auslegung des Ne bis in idem im EU-Kartellverfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 I.
Weite Auslegung im Fall der Verfolgung/Sanktionierung durch die Kommission und eine mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörde . . . . . . . . . . . . . . . . 336
II. Anrechnungspflicht für in Drittstaaten verhängte Geldbußen . . . . . . . . . . . 340 H. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 § 9 Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht . . . . 344 A. Die Unschuldsvermutung als rein strafrechtliches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 I.
Inhalt des Prinzips der Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
II. Auswirkungen des Prinzips der Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . 344 III. Anwendbarkeit der Unschuldsvermutung im EU-Wettbewerbsrecht . . . . . 345 B. Die Geltung der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht . . . . . . . . 346 I.
Die Geltung der Unschuldsvermutung im EU-Recht im Allgemeinen . . . . 346
II. Rechtsgrundlage der Unschuldsvermutung im EU-Recht . . . . . . . . . . . . . . 347 1. Anerkennung der Unschuldsvermutung in der Rechtsprechung der Unionsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 2. Positivierung in Art. 48 Abs. 1 GRCH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 III. Die Rechtsprechung der Unionsgerichte zur Anwendung der Unschuldsvermutung im Kartellverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 IV. Die Rechtsprechung des EGMR zur Anwendung von Art. 6 Abs. 2 EMRK auf Ordnungswidrigkeitenverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 C. Die Folgen der Geltung der Unschuldsvermutung im europäischen Kartellverfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 I.
Die kartellverfahrensrechtliche Beweislast und die Unschuldsvermutung . 352
Inhaltsverzeichnis
17
II. Die Beweislastregelung des Art. 2 VO 1/2003 und die Unschuldsvermutung 353 1. Inhalt der Beweislastregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 2. Rechtstheoretische Grundlagen der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 3. Zielsetzung der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 4. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 5. Geltung von Art. 2 Satz 2 VO 1/2003 auch in Bußgeldverfahren? . . . . . 356 6. Vorrang der Unschuldsvermutung gegenüber Art. 2 Satz 2 VO 1/2003 in kartellrechtlichen Bußgeldverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 III. Die Auswirkungen des Prinzips der Unschuldsvermutung auf die Entscheidungsbefugnis der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 IV. Die Kronzeugenregelung und das Prinzip der Unschuldsvermutung . . . . . 361 1. Die Kronzeugenregelung als Instrument der Kartellrechtsdurchsetzung 361 2. Beurteilung der Kronzeugenregelung anhand strafrechtlicher Grundsätze 362 3. Eingriff in die Unschuldsvermutung durch die Kronzeugenregelung . . 363 4. Lösungsansatz: Die Kronzeugenmitteilung muss dem Gesetzesvorbehalt unterstellt werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Thesen-Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
Abkürzungsverzeichnis a. a. O. am angegebenen Ort Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften ABl. EG ABl. EU Amtsblatt der Europäischen Union Abs. Absatz AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union AG Die Aktiengesellschaft (Zeitschrift) Art. Artikel BetriebsBerater (Zeitschrift) BB Beschwerdenr. Beschwerdenummer BVerfG Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE Cah. dr. europ. Cahiers de droit européen (Zeitschrift) Columbia Journal of European Law (Zeitschrift) CJEL Common Market Law Review (Zeitschrift) CMLRev Competition Law Insight (Zeitschrift) CompLI Competition Law Review (Zeitschrift) CompLRev Diss. Dissertation DöV Die öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) ECJ European Competition Journal (Zeitschrift) European Competition Law Review (Zeitschrift) ECLR ECN European Competition Network EFTA European Free Trade Association EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EHRLR European Human Rights Law Review (Zeitschrift) European Law Journal (Zeitschrift) ELJ EL Rev European Law Review (Zeitschrift) Europäische Menschenrechtskonvention EMRK Europäische Union EU EuG Gericht (der Europäischen Union) EuGH Gerichtshof (der Europäischen Union) Europäische Grundrechtezeitschrift (Zeitschrift) EuGRZ EuLF The European Legal Forum (Zeitschrift) Europarecht (Zeitschrift) EuR Vertrag über die Europäische Union EUV EuZW Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Zeitschrift) Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Zeitschrift) EWS und folgende (für eine Seite) f. ff. und folgende (für mehrere Seiten) Fordham Int’l L. J. Fordham International Law Journal (Zeitschrift) FS Festschrift GG Grundgesetz
Abkürzungsverzeichnis Charta der Grundrechte der Europäischen Union GRCH GWB Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen Hrsg. Herausgeber JECLAP Journal of European Competition Law and Practice (Zeitschrift) JZ Juristenzeitung (Zeitschrift) MünchKommEuWettbR Münchener Kommentar zum EU-Wettbewerbsrecht mit weiteren Nachweisen m. w. N. Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) NJW Organization for Economic Cooperation and Development OECD Österreichische Juristen-Zeitung (Zeitschrift) ÖJZ Gesetz über Ordnungswidrigkeiten OWiG ÖZK Österreichische Zeitschrift für Kartellrecht (Zeitschrift) Rdnr. Randnummer Rdnrn. Randnummern Revue du droit de l’ Union européene (Zeitschrift) Rev. dr. UE Rivista di diritto europeo (Zeitschrift) Riv. dir. eur. Rs. Rechtssache RTDeur Revue trimestrielle de droit européen (Zeitschrift) S. Seite Tijdschrift voor Europees en economisch recht (Zeitschrift) SEW Slg. Sammlung StPO Strafprozessordnung VO Verordnung wbl Wirtschaftsrechtliche Blätter (Zeitschrift) Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht (Zeitschrift) wistra World Competition (Zeitschrift) World Compet. Wirtschaft und Wettbewerb (Zeitschrift) WuW Yearbook of European Law (Zeitschrift) YEL Zeitschrift für europarechtliche Studien (Zeitschrift) ZEuS ZEW Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung Zeitschrift für Gesetzgebung (Zeitschrift) ZG Ziff. Ziffer Zeitschrift für öffentliches Recht (Zeitschrift) ZöR
19
Einleitung A. Das Verhältnis zwischen den Grundrechten und dem EU-Kartellverfahrensrecht Die EU-Grundrechte und das europäische Kartellverfahrensrecht sind zwei Rechtsbereiche, die aus historischer und materiell rechtlicher Sicht eng verbunden sind. Aus historischer Sicht ergibt sich die enge Verbundenheit dadurch, dass Rechtsstreitigkeiten im Bereich des EU-Wettbewerbsrechts einen großen Beitrag zur Entwicklung der EU-Grundrechte, der prätorischen Ausarbeitung ihres materiellen Gehalts und ihrer Dogmatik geleistet haben1. Von Unternehmen erhobene Klagen gegen Entscheidungen der Kommission im Bereich des Wettbewerbsrechts haben den Gerichtshof der Europäischen Union dazu veranlasst, sich wiederholt mit der Frage der Geltung von Grundrechten im Kartellverfahren vor der EU-Kommission zu befassen und sie durch seine Rechtsprechung zu den allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts als immanenten Teil des EU-Rechts (damals noch Gemeinschaftsrechts) anzuerkennen. Die Rechtsprechung des EuGH zu den EU-Grundrechten hat diesen Weg, der zur Proklamierung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union2 („GRCH“) im Jahre 2000 und zur Erklärung ihrer Verbindlichkeit und ihres Primärrechtsranges durch den Vertrag von Lissabon (Art. 6 Abs. 1 EUV) führte, geöffnet und geebnet. Die materiell rechtliche Verbundenheit der EU-Grundrechte und des EU-Wettbewerbsrechts manifestiert sich in zwei Aspekten. Zum einen beruhen die freie wirtschaftliche Tätigkeit und die Institution „Wettbewerb“ auf grundrechtlichen Freiheiten. Dies ist auf den ordoliberalen Ansatz zurückzuführen, wonach wirtschaftliches Handeln im Rahmen ausdrücklicher oder impliziter Regeln stattfindet3. Die Wettbewerbsfreiheit wie sie in Art. 101 und 102 AEUV zum Ausdruck kommt, stellt ein zentrales Element der bereits durch die Römischen Verträge getroffenen Entscheidung für das Marktwirtschaftsprinzip innerhalb der Europäischen Union dar und gehört somit zur Wirtschaftsverfassung der Europäischen
1 Vgl. auch Douglas-Scott, CMLRev 2006, 629 (643), der auch agrarrechtliche Verfahren vor dem EuGH zu den Verfahren zählt, die zur Entwicklung der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH beigetragen haben. 2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. EU v. 26.10.2012, C 326/391. 3 Vgl. Vanberg, „Wettbewerbsfreiheit“ als Maßstab der Wettbewerbspolitik, in: Bechtold/ Jickeli/Rohe (Hrsg.), S. 829.
22
Einleitung Einleitung
Union4. Darüber hinaus sind diese Vorschriften auch Teil der Wettbewerbsordnung der EU5. Eine freie Wettbewerbsordnung setzt nicht nur die Privataunomie voraus, sondern fördert sie gleichzeitig. Funktioniert der Wettbewerb ordentlich, haben Marktteilnehmer eine größere wirtschaftliche Freiheit6. Der Wettbewerb als Institution und Leitidee der Wirtschaftsverfassung der EU schützt nicht nur die grundrechtlich geschützte wirtschaftliche Freiheit (siehe insbesondere Art. 15 GRCH über die Berufsfreiheit und das Recht zu arbeiten sowie Art. 16 GRCH über die unternehmerische Freiheit) der Marktteilnehmer sondern auch die Handlungsfreiheit und die Gleichheit der Staatsbürger, die hauptsächlich als Verbraucher am Markt teilnehmen7. Der Schutz der Gleichheit ergibt sich dadurch, dass eine Beschränkung der wirtschaftlichen Freiheit gleichzeitig eine Beschränkung des Rechts des Einzelnen auf gleichberechtigte Teilnahme am Wirtschaftsverkehr bedeutet. Grundrechtliche Freiheiten werden vom freien Wettbewerb nicht nur vorausgesetzt und gefördert sondern auch durch ihn mittelbar beschränkt. Für die Verwirklichung der auf Verfassungsebene getroffenen Entscheidung zu Gunsten eines Systems freien und unverfälschten Wettbewerbs, der der allgemeinen Wohlfahrt dient, werden die „Spielregeln“, i. e. das Wettbewerbsrecht aufgestellt. Diese normativen Verhaltensanweisungen beschränken die wirtschaftlichen Grundrechte und die Privatautonomie, indem sie z. B. marktbeherrschenden oder marktmächtigen Unternehmen bestimmte Handlungen untersagen8. Insofern ermächtigen Art. 101 und Art. 102 AEUV zu Grundrechtseingriffen. Solche Eingriffe dienen wiederum dazu, die Handelsfreiheit der von diesen marktbeherrschenden oder marktmächtigen Unternehmen abhängigen Wirtschaftsteilnehmer zu schützen. Daran wird auch der ambivalente Charakter der Vorschriften, die den freien Wettbewerb schützen, deutlich. Einerseits schützen sie die grundrechtliche Freiheit und andererseits ermächtigen sie zu Grundrechtseingriffen. Ferner stellen die Grundrechte die wichtigste Schranke der Tätigkeit der Kommission im Bereich des EU-Kartellverfahrensrechts dar. Da neben natürlichen Personen auch juristische Personen Grundrechtsträger sind, sind die Ermittlungs- und Ahndungsaktionen der Kommission im Rahmen des EU-Kartellverfahrensrechts an den Grundrechten zu messen. Die Bindung der Kommission an die Grundrechte bei der Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts ist auch in der Kartellverfahrensverordnung 1/2003 niedergelegt9.
4 Vgl. Immenga/Mestmäcker, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Die Bedeutung der Wettbewerbsregeln in der Wirtschaftsverfassung der EU, Rdnr. 35. 5 Vgl. grundlegend dazu EuGH, Urteil v. 13.7.1966, verb. Rs. 56–58–64, Établissements Consten S.à.R. L. und Grundig-Verkaufs-GmbH/Kommission, Slg. 1966, 322 (394). 6 Vgl. Shoda, in: Fuchs/Schwintowski/Zimmer (Hrsg.), S. 379. 7 So Shoda, in: Fuchs/Schwintowski/Zimmer (Hrsg.), S. 379. 8 Siehe dazu Shoda, in: Fuchs/Schwintowski/Zimmer (Hrsg.), S. 381. 9 Siehe insbesondere Erwägungsgrund 37 und Artikel 27 Abs. 2.
A. Verhältnis zwischen Grundrechten und EU-Kartellverfahrensrecht A.Verhältnis zwischenGrundrechten undEU-Kartellverfahrensrecht
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Die besondere Rolle der Grundrechte im EU-Kartellverfahren wird nicht zuletzt daran erkennbar, dass die grundrechtliche Argumentation der Unternehmen in Klagen gegen im Rahmen des Kartellverfahrens erlassene Entscheidungen der Kommission im Laufe der Zeit nicht nur häufiger zu finden ist, sondern auch differenzierter, durchdachter und anspruchsvoller geworden ist. Das zeugt davon, dass die Problematik der Wirkung von Grundrechten auf die Kompetenzen der Kommission im EU-Kartellverfahren sowie auf die Struktur und den Ablauf des Kartellverfahrens selbst nicht nur von der Literatur aufgegriffen wurde, sondern auch die Praxis intensiv beschäftigt10. Der besondere Reiz der Untersuchung des Verhältnisses zwischen den EU-Grundrechten und dem EU-Kartellverfahrensrecht besteht darin, dass es sich dabei nicht nur um eine Frage von rein akademischem Interesse, sondern auch um eine Thematik handelt, die die Praxis, Rechtsanwender und Unternehmen, gleichfalls interessiert11. Darüber hinaus handelt es sich beim Grundrechtsschutz im Rahmen des EU-Kartellverfahrens um ein dynamisches und sich stets entwickelndes Konzept, das ein faires Verfahren für die Betroffenen gewährleisten muss. Der Grundrechtsschutz muss den Entwicklungen im EUWettbewerbsrecht folgen und sich entsprechend anpassen, um dem Postulat eines fairen Verfahrens zu entsprechen12. Die Untersuchung des Verhältnisses zwischen den EU-Grundrechten und dem EU-Kartellverfahrensrecht erscheint auch deswegen besonders sinnvoll, weil die Grundrechtsschutzarchitektur der Europäischen Union, nach der Erhebung der Europäischen Grundrechtecharta durch den Lissabon-Vertrag zum rechtsverbindlichen, den beiden EU-Verträgen gleichrangigen Rechtsinstrument, in absehbarer Zukunft einen erneuten bedeutsamen Wandel durch den Beitritt der EU zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte („EMRK“) erleben wird. Der Beitritt ist nunmehr als Pflicht (und keine Option) in Art. 6 Abs. 2 EUV vorgesehen. Das 14. Zusatzprotokoll zur EMRK, das unter anderem in Art. 17 die Möglichkeit des Beitritts der Europäischen Union zur EMRK vorsieht, ist am 1.6.2010 in Kraft getreten13. Die Verhandlungen zwischen der EU und dem Europarat über den Beitritt laufen bereits. Die künftige Eingliederung der EMRK in die EU-Rechtsordnung der EU ist auch als Ausfluss der Rechtsprechung des EuGH über die Grundrechte als all 10 Die Zunahme der grundrechtlichen Argumentation in der Verteidigung von Unternehmen gegen Ermittlungsaktionen und Vorwürfe der Kommission wurde schon zur Zeit des Inkrafttretens der VO 1/2003 prognostiziert: Siehe Ameye, ECLR 2004, 332 (336). 11 Vgl. auch Anderson/Cuff, Fordham International Law Journal 2011, 385 (387). 12 Das betonte auch A. Italianer, Generaldirektor der Generaldirektion Wettbewerb, in seinem Vortrag „Safeguarding due process in antitrust proceedings“ bei der Annual Conference on International Antitrust Law and Policy des Fordham Competition Law Institute am 23.9.2010, abrufbar unter http://ec.europa.eu/competition/speeches/text/sp2010_06_en.pdf. 13 Siehe die Pressemitteilung des Europarates vom 15.5.2010, abrufbar unter http://www. echr.coe.int/NR/rdonlyres/57211BCC-C88A-43C6-B540-AF0642E81D2C/0/CPProtocole14 EN.pdf.
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Einleitung Einleitung
gemeine Rechtsgrundsätze des EU-Rechts zu betrachten14. Die unmittelbare Bindung der EU an die EMRK nach dem EU-Beitritt wird die Spannungsfelder zwischen den EMRK-Vorgaben und dem Grundrechtsschutz auf EU-Ebene, wie zum Beispiel die Reduzierung des Nemo-tenetur-Grundsatzes vom EuGH auf ein Geständnisverweigerungsrecht (zumindest im Bereich des EU-Wettbewerbsrechts), noch deutlicher zum Vorschein bringen und zu einer Lösung zwingen15. Der bereits bestehende Einfluss der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR auf den Grundrechtsschutz in der EU wird nach dem EU-Beitritt zur EMRK noch stärker sein. Vor allem wird es in der Zeit nach dem Beitritt darum gehen, die Grundrechtskonkordanz der EU und der EMRK16 zu wahren. Unter „Grundrechtskonkordanz“ ist die Auslegung von Grundrechten auf EUEbene, die auch von der EMRK geschützt werden, im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR zu verstehen. Der EGMR scheint von einer allgemeinen Konkordanz und von einer Vereinbarkeit von EU-Rechtsakten und Maßnahmen mit der EMRK auszugehen, wie es sich aus dem Bosphorus-Urteil ergibt17. Diese Vermutung ist allerdings widerlegbar, wenn sich herausstellen sollte, dass der Grundrechtsschutz in einem bestimmten Fall offenkundig unzureichend („manifestly deficient“) ist18. In diesem Fall wäre die EU-Maßnahme nicht mehr vereinbar mit den EMRK-Vorgaben. Die strengeren Vorgaben der EMRK beanspruchen Geltung, da die EMRK als öffentliches Instrument der europäischen Ordre-public zu verstehen ist19. Daraus folgt, dass der EGMR in seinem Bosphorus-Urteil dem auf EU-Ebene gewährten Grundrechtsschutz keinen Blankoscheck ausgestellt hat, sondern sich das Recht vorbehalten hat, das Grundrechtsschutzniveau in der EU an den EMRK-Vorgaben zu messen, wenn das erforderlich erscheint. Eine Pflicht der Unionsgerichte zur Berücksichtigung der EMRK-Vorgaben ergibt sich für Grundrechte, die sowohl von der EMRK als auch von der Charta garantiert werden, nicht zuletzt aus der Homogenitätsklausel des Art. 52 Abs. 3 GRCH. Die Homogenitätsklausel führt ferner dazu, dass die EMRK, obwohl sie nach dem EU-Beitritt formell aufgrund von Art. 216 Abs. 2 AEUV als völkerrechtlicher Vertrag zwischen Primär- und Sekundärrecht rangieren wird, dennoch den Auslegungsmaßstab für die GRCH darstellen wird20. 14
So Jacqué, CMLR 2011, 995 (999). Vgl. Bueren, EWS 2012, 363 (371). 16 Den Begriff „Grundrechtskonkordanz“ verwendet Reich, EuZW 2011, 379 (379). 17 EGMR, Urteil v. 30.6.2005, Beschwerdenr. 45036/98, Bosphorus Hava Yollari Turizm ve tikaret anonim sirketi./.Irland, = NJW 2006, 197, Ziff. 155, 156 und 165. Für sämtliche in dieser Arbeit zitierten EGMR-Urteile gilt als Quelle, wenn nichts anderes angegeben, die OnlineDatenbank HUDOC des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (abrufbar unter http:// www.echr.coe.int/ECHR/EN/Header/CaseLaw/Decisions+and+judgments/HUDOC+database/). 18 EGMR, Urteil v. 30.6.2005, Beschwerdenr. 45036/98, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim Şirketi./.Irland, Ziff. 156. 19 Vgl. EGMR, Urteil v. 30.6.2005, Beschwerdenr. 45036/98, Bosphorus Hava Yollari Turizm ve tikaret anonim sirketi./.Irland, = NJW 2006, 197, Ziff. 156. 20 Schulte-Herbrüggen, ZEuS 2009, 343 (363). 15
A. Verhältnis zwischen Grundrechten und EU-Kartellverfahrensrecht A.Verhältnis zwischenGrundrechten undEU-Kartellverfahrensrecht
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Die Erhebung der Europäischen Grundrechtecharta zum Primärrecht durch den Vertrag von Lissabon und der künftige Beitritt der EU zur EMRK bringen nicht nur einen besseren Grundrechtsschutz für natürliche und juristische Personen in der Europäischen Union mit sich, sondern werfen auch eine Reihe von Fragen über die Vereinbarkeit der grundrechtlichen Rechtsprechung des EuGH mit der entsprechenden des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte („EGMR“), der als Wächter der menschenrechtlichen Ordre-public in Europa bezeichnet wird21, sowie über die Auslegung der Kartellverfahrensverordnung 1/2003 und über die Vereinbarkeit der Reichweite bestimmter Befugnisse der Kommission im EU-Kartellverfahrensrecht mit den grundrechtlichen Vorgaben der Europäischen Grundrechtecharta („GRCH“) und der EMRK sowie mit der Rechtsprechung des EGMR auf. Bislang haben die Unionsgerichte zwar die EMRK und die Judikatur des EGMR als Erkenntnisquelle für ihre Grundrechtsrechtsprechung und für die Entwicklung der allgemeinen Rechtsgrundsätze des EU-Rechts herangezogen.22 Trotzdem scheinen die Unionsgerichte nicht von einer Bindungswirkung der EMRK und der EGMR-Rechtsprechung für sie auszugehen23, obwohl sie sich auf die EGMRRechtsprechung als Auslegungsinstrument bezüglich der Rechtmäßigkeit von Akten der EU beziehen24. Das führt in bestimmten Fällen, die im Rahmen dieser Arbeit näher zu untersuchen sind, zu Diskrepanzen zwischen dem gewährten Grundrechtsschutz in den Rechtssystemen der EU und der EMRK25. Obwohl sich der EuGH der divergierenden EGMR-Rechtsprechung in bestimmten Grundrechtsfragen bewusst ist, sieht er sich nicht in der Pflicht, seine Rechtsprechung an die entsprechende des EGMR anzupassen. Daran konnte bislang auch die Klausel des Art. 52 Abs. 3 GRCH nichts ändern. Dennoch scheint eine solche Betrachtungsweise mit der Rechtslage nach dem Beitritt der EU zur EMRK nicht mehr vereinbar zu sein26. Die Bedeutung der Untersuchung des Spannungsfelds zwischen Grundrechtsschutz und effizienter Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts ist nicht zuletzt auf die Dynamik des EU-Wettbewerbsrechts zurückzuführen. Bei der Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts und beim EU-Kartellverfahrensrecht handelt es sich um Bereiche, die sich in einer Phase der dynamischen Entwicklung befinden. Die Kommission versucht durch die Einführung neuer Verfahrensarten, wie zum Beispiel des Settlement-Verfahrens, effektiver und ressourcenschonender zu arbeiten. Gleichzeitig stellt die höhere Wahrnehmung des EU-Wettbewerbsrechts durch die Marktteilnehmer die Kommission vor neue Herausforderungen und neue Tat 21
So Andriantsimbazovina, Cah. dr. europ. 2006, 733 (733). Siehe zum Beispiel EuGH, Urteil v. 18.6.1991, Rs. C-260/89, Elliniki Radiophonia Tileorassi AE/Dimotiki Etairia Pliroforissis und Sotirios Kouvelas, Slg. 1991, I-2925, Rdnr. 41. 23 A. A. Tizzano, Rev. dr. UE 2006, 9 (11). 24 Harpaz, CMLRev 2009, S. 105 (109). 25 Unklarheiten bezüglich der Reichweite des Grundrechtsschutzes im EU-Kartellverfahren aufgrund von unterschiedlicher Auslegung grundrechtlicher Garantien durch den EuGH und den EGMR wurden früh in der Literatur thematisiert; so zum Beispiel Weiß, EWS 1997, 253 ff. 26 So Weiß, ECLR 2011, 186 (188). 22
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sachen, da Beteiligte an einer wettbewerbswidriger Absprache immer öfter darauf bedacht sind, keine schriftlichen Beweise solcher Absprachen zu hinterlassen. Dadurch steigt die Bedeutung der mündlichen Erklärungen der Unternehmen („oral statements“) im Rahmen des Kronzeugenprogramms weiter, da die Kommission immer mehr auf sie als Kartellnachweismittel angewiesen ist. Die stets wachsende Bedeutung der Grundrechte im Europäischen Kartellverfahrensrecht und die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit ihrer Reichweite im Kartellverfahren ergibt sich nicht zuletzt aus den potentiellen Konsequenzen eines solchen Verfahrens für die vom Verfahren betroffenen Unternehmen. In den letzten Jahren ist eine steigende Tendenz der von der Kommission gegen Unternehmen verhängten Geldbußen zu verzeichnen. Die von der Kommission gegen ein einzelnes Unternehmen verhängte Geldbuße wegen Beteiligung an sogenannten Hardcore-Kartellen (besonders schwerwiegenden Wettbewerbsverstößen wie z. B. Preisfestsetzung zwischen Wettbewerbern) belief sich bereits in Einzelfällen auf fast 1 Milliarde Euro27. Ferner tangiert das EU-Kartellverfahren durch die Ermittlungsaktionen und die Entscheidungen der Kommission eine Reihe von grundrechtlich geschützten Individualrechtspositionen der Verfahrensbetroffenen. Die Nachprüfungsbefugnis der Kommission in Unternehmen und privaten Räumlichkeiten berührt das Recht auf Achtung der Privatsphäre. Die von der Kommission an Unternehmen adressierten Auskunftsersuchen mit Pflicht zur Offenlegung von Informationen und die Kronzeugenmitteilung könnten den Grundsatz verletzen, dass keine natürliche oder juristische Person dazu gezwungen werden darf, sich selbst zu bezichtigen. Ferner kann die aktuelle Regelung der Zuständigkeitsverteilung im Rahmen des Europäischen Netzwerks der Wettbewerbsbehörden („ECN“) Zweifel an ihrer Verein barkeit mit dem Grundsatz „ne bis in idem“ aufwerfen. Schließlich ist der Grundrechtsschutzstandard im EU-Kartellverfahrensrecht wegen seiner Ausstrahlungsfunktion auf die nationalen Rechtsordnungen bedeutsam28. Das EU-Wettbewerbsrecht hat eine weitgehende Harmonisierung des materiellen Wettbewerbsrechts der EU-Mitgliedstaaten bewirkt. Unter dem Begriff „materielles Wettbewerbsrecht“ ist nicht nur das Verbot wettbewerbswidriger Absprachen und abgestimmter Verhaltensweisen in Art. 101 Abs. 1 AEUV, aber auch in Art. 102 AEUV statuierte Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschender Stellung zu fassen. In Bezug auf das Kartellverfahrensrecht gibt es dagegen keine Angleichung der nationalen Regelungen, da der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten einer solchen Angleichung im Wege steht. Trotzdem lässt sich feststellen, dass das EU-Kartellverfahrensrecht bereits einen Einfluss auf 27 Vgl. die gegen das Unternehmen „Saint-Gobain“ für seine Beteiligung am Autoglas-Kartell verhängte Geldbuße in Höhe von EUR 896.000.000. Siehe für mehr Details die von der Kommission veröffentlichten Statistiken über die in Kartellfällen verhängten Geldbußen abrufbar unter http://ec.europa.eu/competition/cartels/statistics/statistics.pdf. 28 Vgl. Weiß, EuZW 2006, 263 (264).
B. Die VO 1/2003 und die Grundrechte
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die Gestaltung der Befugnisse der nationalen Wettbewerbsbehörden und des Ablaufs von nationalen Kartellverfahren gehabt hat und dass sich viele nationale Gerichte in ihrer Rechtsprechung über Grundrechtsstandards im nationalen Kartellverfahren an der EuGH-Rechtsprechung ausrichten29. Daraus folgt, dass man der EuGH-Rechtsprechung eine Ausstrahlungsfunktion auf die grundrechtsrelevante Rechtsprechung der nationalen Gerichte im Bereich des Kartellverfahrensrechts nicht absprechen kann.
B. Die VO 1/2003, die Grundrechte und das erforderliche Umdenken bezüglich ihrer Reichweite im EU-Kartellverfahren Durch die ausdrückliche Bezugnahme auf die Verteidigungsrechte der Parteien in Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003, die während des Verfahrens vollumfänglich gewahrt werden müssen, fürht die VO 1/2003 zu einer deklaratorischen Kodifizierung der Grundrechtsrechtsprechung der Unionsgerichte im Bereich des Kartellverfahrens. Es bleibt aber nicht nur bei der Kodifizierung der vorhandenen Rechtsprechung der Unionsgerichte. Durch Erwägungsgrund 37 der VO 1/2003, der klarstellt, dass die VO 1/2003 in Übereinstimmung mit den Rechten und Prinzipien der Grundrechtecharta auszulegen ist, verlagert sich der Mittelpunkt des Grundrechtsschutzes von der Rechtsprechung der Unionsgerichte auf die positiv-rechtlichen Grundrechtsvorschriften der EU-Grundrechtecharta und, aufgrund des in Art. 52 Abs. 3 GRCH enthaltenen Verweises, mittelbar auf die entsprechenden Vorschriften der EMRK und die Rechtsprechung des EGMR. Diese in der VO 1/2003 abgebildeten Entwicklungen des Grundrechtsschutzes im Rahmen des EU-Kartellverfahrens müssen im Lichte der allgemeinen Tendenz zur Gewährung eines hohen Maßes an Grundrechtsschutz bei der Durchsetzung des Unionsrechts betrachtet werden. Dabei ist es unerheblich, ob das EU-Recht von den Institutionen der EU selbst oder von den Mitgliedstaaten durchgeführt wird. Die erhöhte Wachsamkeit über den Schutz der Grundrechte der natürlichen und juristischen Personen, in deren grundrechtlich geschützte Rechtspositionen durch Akte des Unionsrechts eingegriffen wird, wird nicht zuletzt an der Erarbeitung der Grundrechtecharta und ihrer Verrechtlichung sowie an den Vorbereitungen für den Beitritt der EU zur EMRK deutlich. Ein hohes Maß an Grundrechtsschutz stellt das erforderliche Gegengewicht zu jeder Ausweitung der Kompetenzen der EU dar. Die allmähliche Ausweitung der Kompetenzen der EUOrgane im Laufe der Zeit wird nicht zuletzt im Bereich des Wettbewerbsrechts und am Beispiel der Kompetenzen der Kommission in diesem Bereich deutlich. Das EU-Wettbewerbsrecht spielt eine besondere Rolle in der EU-Rechtsordnung und wird durch den Schutz des Verbrauchers, des sozialen Wohlstands und der Umwelt 29
Weiß, EuZW 2006, S. 263 (264).
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Einleitung Einleitung
durch die Förderung einer effizienten Ressourcenallokation geprägt, die auf eine unvollkommene Konstitutionalisierung der EU hindeuten30. Das Wettbewerbsrecht ist somit Teil der Wirtschaftsverfassung der EU. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Schutz des Wettbewerbs nicht mehr im Haupttext des AEUV verankert ist31. Bis zum Vertrag vor Lissabon war der Schutz des Wettbewerbs als eins der Ziele der Europäischen Gemeinschaft in Art. 3 Abs. 1 Buchst. g) EGV verankert. Nunmehr ist der Schutz des Wettbewerbs in Protokoll 31 über den Binnen markt und den Wettbewerb niedergelegt, das, wie alle Protokolle, mit dem Vertrag gleichrangig ist. Der Charakter des EU-Wettbewerbsrechts als eins der Fundamente der Wirtschaftsverfassung der EU ergibt sich auch aus seinem engen Zusammenhang mit dem Binnenmarkt, wie er sich nicht zuletzt aus Protokoll 31 ergibt. Der Schutz des funktionierenden und unverfälschten Wettbewerbs ist eine Voraussetzung für die Aufrechterhaltung eines funktionierenden Binnenmarkts, der zu den primären Zielen der Europäischen Union gehört32. Wegen der besonderen Bedeutung des funktionierenden und unverfälschten Wettbewerbs für die EU ist es auch konsequent, dass die Kommission mit besonderen Kompetenzen und Ermittlungsbefugnissen für die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts ausgestattet ist. Der Kommission obliegt es als Hüterin der Verträge, für die effiziente Durchsetzung der EU-Wettbewerbsregeln zu sorgen. Die VO 1/2003 räumt ihr zu diesem Zweck erweiterte Ermittlungsbefugnisse ein, deren Ausübung einen schweren Eingriff in rechtlich geschützte Positionen der Unternehmen darstellt. Aus diesem Grund ist es erforderlich, ein besonders hohes Maß an Grundrechtsschutz im Bereich des EU-Wettbewerbsrechts zu gewährleisten. Das hohe Maß an Grundrechtsschutz ist die logische Folge der besonderen Bedeutung des Wettbewerbsrechts für die EU-Wirtschaftsverfassung und der ausgeweiteten Kompetenzen der Kommission in Bezug auf die Durchsetzung der EU-Wettbewerbsregeln. Das System zur Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts enthält zwar eine Vielzahl von Garantien, die der Gewährleistung des Schutzes der Grundrechte der Betroffenen und eines fairen Verfahrens dienen. Dennoch ist das faire Verfahren kein starres oder statisches Konzept33. Der Inhalt dieser Garantie entwickelt sich zusammen mit den Befugnissen der Kommission bei der Durchsetzung des EUKartellrechts. Dadurch sollte sichergestellt werden, dass der Grundrechtsschutz nicht hinter dem erforderlichen Niveau bleibt und stets das Gegengewicht zu den Eingriffskompetenzen der Kommission darstellt. Diese Einstellung der Betrach 30
So Boy, in: Debarge/Georgopoulos/Rabaey (Hrsg.), (126). A. A. Riley, ECLR 2007, 703 (704), der die Auffassung vertritt, dass kein Protokoll jemals die Ausstrahlungsfunktion der Präambel und der ersten Artikel des Vertrags bei der Auslegung der Vertragsvorschriften erreichen werde. 32 Art. 26 AEUV i. V. m. Protokoll 31 zum AEUV. 33 Italianer, Safeguarding due process in antitrust proceedings, Vortrag gehalten bei der Annual Conference on International Antitrust Law and Policy am 23. September 2010, abrufbar unter http://ec.europa.eu/competition/speeches/text/sp2010_06_en.pdf. 31
C. Die für das EU-Kartellverfahren grundrechtlichen Verbürgungen
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tung des fairen Verfahrens als einer dynamischen, sich den jeweiligen Entwicklungen der Kompetenzen und Ermittlungsbefugnissen anpassenden Konzeption entspricht auch der Betrachtung der EMRK durch den EGMR als ein lebendiges Instrument, das sich den Entwicklungen in der Gesellschaft anpasst, um den Ansprüchen an einem hohen Maß an Grundrechtsschutz stets gerecht zu werden. Darüber hinaus muss die EMRK so ausgelegt werden, dass sie konkrete und effektive, und nicht bloß theoretische oder illusorische Rechte garantiert34. Diese EGMRRechtsprechung sollte auch auf die Grundrechte und Grundsätze der Grundrechte charta übertragen werden, um, nicht zuletzt bei der Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts gewährleisten zu können, dass die von den Ermittlungsbefugnissen Betroffenen ein hohes Maß an Grundrechtsschutz genießen und dass die Kommission ihre Kompetenzen im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessensspielraums ausübt, ohne den Wesensgehalt der Grundrechte zu verletzen oder auszuhöhlen.
C. Die für das EU-Kartellverfahren relevanten grundrechtlichen Verbürgungen Die in der Grundrechtecharta und in der EMRK verankerten Grundrechte sowie die in der Rechtsprechung des EuGH und des EuG herausgearbeiteten allgemeinen Rechtsgrundsätze erfassen das gesamte EU-Kartellverfahren. Das EU-Kartellverfahren wird für die Zwecke der vorliegenden Arbeit nicht stricto sensu verstanden (von der formellen Verfahrenseröffnung bis zum Erlass der das Verfahren abschließenden Kommissionsentscheidung). Dieser engen Definition wird eine weite vorgezogen, die auch die Ermittlungsphase vor der formellen Verfahrenseröffnung der Kommission einbezieht und die die Möglichkeit einräumt, bestimmte Nachwirkungen eines EU-Kartellverfahrens am Maßstab der Grundrechte zu überprüfen. Konkret gemeint werden damit die Implikationen des Ne bis in idem-Grundsatzes für die Möglichkeit der Kommission, ein Kartellverfahren zu eröffnen sowie die Implikationen des Akteneinsichtsrechts für die Möglichkeit Kartellgeschädigter Akteneinsicht in die Akte eines Kronzeugen zu bekommen. Die Einbeziehung letzteren Punktes kann dadurch gerechtfertigt werden, dass er in direktem Zusammenhang mit der Durchführung und dem Erfolg des Kronzeugenprogramms der Kommission steht, das einen festen Bestandteil des Kartellverfahrensrechts darstellt. Den Unternehmen, die von der Ausübung der Kompetenzen der Kommission im Bereich des EU-Wettbewerbsrechts betroffen sind, stehen, anders als unter der VO 17/62, mehrere Rechtsinstrumente und Rechtsgrundlagen zur Verfügung, die die EU und ihre Organe binden und auf deren Grundlage sie ihren Grundrechtsschutzanspruch geltend machen können. Es handelt sich dabei vorrangig um die Europä 34 EGMR, Urteil v. 30.6.2011, Beschwerdenr. 30754/03, Klouvi./.Frankreich, abrufbar unter www.echr.coe.int, Ziff. 40.
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Einleitung Einleitung
ische Grundrechtecharta (Art. 6 Abs. 1 EUV) und die EMRK (Art. 6 Abs. 3 EUV). Aber auch im Sekundärrecht sind grundrechtlich relevante Verbürgungen zu finden, auf die sich die betroffenen Unternehmen stützen können. Im Gegensatz zur VO 17/62 bezieht sich die VO 1/2003 ausdrücklich auf die Verteidigungsrechte, die während des Kartellverfahrens in vollem Umfang geachtet werden müssen35. Die Achtung der Verteidigungsrechte bei der Durchsetzung des EU-Rechts wird auch durch Art. 48 Abs. 2 GRCH gewährleistet. Art. 48 Abs. 2 GRCH garantiert die Verteidigungsrechte für jeden „Angeklagten“ und nimmt somit direkten Bezug auf Strafverfahren. Da aber wie bereits gezeigt die im Rahmen des EU-Kartellverfahrens von der Kommission verhängten Sanktionen strafrechtlichen Charakter im Sinne von Art. 6 EMRK haben, ist Art. 48 Abs. 2 GRCH auch auf das EU-Kartellverfahren anwendbar. Art. 48 Abs. 2 GRCH gewährleistet implizit auch das sogenannte Anwaltsprivileg („legal privilege“), den Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen einem Anwalt und seinem Mandanten. Obwohl das Anwaltsprivileg nicht ausdrücklich in Art. 48 Abs. 2 GRCH erwähnt ist, gehört das aufgrund des Verweises der Erläuterungen zu Art. 48 GRCH auf Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK und aufgrund der Homogenitätsklausel in Art. 52 Abs. 3 GRCH zum ungeschriebenen Inhalt von Art. 48 Abs. 2 GRCH. Das Anwaltsprivileg ist implizit in Art. 6 Abs. 3 EMRK verankert36. Art. 48 entspricht im Allgemeinen Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 EMRK37. Art. 48 Abs. 1 GRCH legt den Grundsatz der Unschuldsvermutung fest, der aufgrund des strafrechtlichen Charakters der Sanktionen im EU-Kartellverfahren auch für vom Kartellverfahren betroffene Unternehmen gilt. Darüber hinaus garantiert die Grundrechtecharta in Art. 7 das Recht jeder Person auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Kommunikation. Für das EU-Kartellverfahren ist insbesondere der Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung und der Geschäftsräume von besonderer Bedeutung. Art. 7 GRCH entspricht grundsätzlich Art. 8 EMRK. Der Schutz, der von den Unionsgerichten angeboten wird, bleibt aber hinter dem Schutzniveau der EMRK zurück, da die Unionsgerichte den Schutz von Art. 7 GRCH nicht auf Geschäftsräume erweitern, während Art. 8 EMRK sowohl für Privatwohnungen als auch für Geschäftsräume gilt38. Von Belang für das EU-Kartellverfahren ist auch Art. 41 GRCH, der das Recht auf eine gute Verwaltung statuiert. Aus dieser Vorschrift ergibt sich der allgemeine Grundsatz, dass jeder Betroffene des EU-Kartellverfahrens ein Recht darauf hat, 35
Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003. Vgl. Gippini-Fournier, in: Hawk (Hrsg.), International Antitrust Law and Policy, Fordham International Law Institute 2004, 587 (615); Weiß, in: Weiß (Hrsg.), Die Rechtsstellung Betroffener im modernisierten EU-Kartellverfahren, S. 56. 37 Siehe die Erläuterungen zu Art. 48 EGC. 38 Siehe § 5 „Das Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht“, S. 157 ff. 36
C. Die für das EU-Kartellverfahren grundrechtlichen Verbürgungen
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dass seine Angelegenheit von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Kommission unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden39. Das Recht auf eine gute Verwaltung stellt einen Oberbegriff dar, unter dem ein Bündel subjektiver Rechte subsumiert wird40, die von besonderer Bedeutung für das Kartellverfahren sind. Dazu gehört das Recht jeder Person gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird (Art. 41 Abs. 2 Buchst. a GRCH). Das Anhörungsrecht im EU-Kartellverfahren wird durch Art. 27 Abs. 1 VO 1/2003 näher konkretisiert. Diese Vorschrift sieht vor, dass die Unternehmen die Gelegenheit haben müssen, vor dem Erlass einer Entscheidung Stellung zu den Beschwerdepunkten zu nehmen, die die Kommission heranzuziehen beabsichtigt. Der hohe Stellenwert des Anhörungsrechts im EU-Kartellverfahren wird schließlich an der Schaffung der Institution des Anhörungsbeauftragten im Jahr 198241, der die effektive Wahrung der Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen im gesamten Verlauf des EU-Kartellverfahrens gewährleistet42. Das Recht auf eine gute Verwaltung umfasst auch das Recht jeder Person auf Zugang zu den sie betreffenden Akten bei gleichzeitiger Wahrung des berechtigten Interesses der Vertraulichkeit sowie des Berufs- und Geschäftsgeheimnisses (Art. 41 Abs. 2 Buchst. b GRCH). Das Recht des Verfahrensbetroffenen auf Akteneinsicht wird in Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003 näher umrissen. Die Verfahrensparteien haben Recht auf Einsicht in die Kommissionsakte unter dem Vorbehalt des berechtigten Interesses von Unternehmen an der Wahrung ihrer Geschäftsgeheimnisse. Das Recht auf Einsicht in die Akte der Kommission im Rahmen des Kartellverfahrens beschränkt sich nicht nur auf die Verfahrensbetroffene, sondern kann sich unter Einschränkungen auf Beschwerdeführer und Dritte erstrecken. Insbesondere die Frage, ob Dritte (im Verhältnis zum Kartellverfahren) Einsicht in die Kronzeugenakte der Kommission bekommen dürfen, um eine Schadensersatzklage gegen Mitglieder eines Kartells zu substantiieren, hat nach dem PfleidererUrteil des EuGH43 besondere Bedeutung erlangt. Von der Antwort auf die Frage, ob ein Zugang zur Kronzeugenakte möglich ist, hängt maßgeblich die Bereitschaft der an Kartellen beteiligten Unternehmen mit der Kommission zu kooperieren und schließlich der Erfolg des Kronzeugenprogramms und der öffentlichen Durchsetzung des EU-Kartellrechts ab. Aus diesem Grund wird auch dieser Aspekt des Akteneinsichtsrechts in der vorliegenden Arbeit geprüft. 39
Art. 41 Abs. 1 EGC. So Kanska, ELJ 2004, 296 (301). 41 Beschluss des Präsidenten der Europäischen Kommission vom 13.10.2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren („Anhörungsbeauftragtenmandat“), ABl. EU v. 20.10.2011, L 275/29, Erwägungsgrund 4. 42 Anhörungsbeauftragtenmandat, Artikel 1 Abs. 2. 43 EuGH, Urteil v. 14.6.2011, Rs. C-360/09, Pfleiderer AG/Bundeskartellamt, Slg. 2011, I-5161. 40
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Einleitung Einleitung
D. Gang der Untersuchung Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Reichweite der Grundrechte im EUKartellverfahren. Sie gliedert sich in einen allgemeinen (§§ 1–3) und einen besonderen Teil (§§ 4–9). In § 1 werden das EU-Kartellverfahren und die Ermittlungsbefugnisse der Kommission kurz dargestellt. § 2 liefert einen Überblick über die Entwicklung des Grundrechtsschutzes auf EU-Ebene und die Grundrechtsquellen in der EU. § 3 behandelt die Reichweite der Grundrechte aus einem allgemeinen Gesichtspunkt unter Berücksichtigung der Problematik des Charakters der Sanktionen im EU-Kartellbußgeldverfahren. § 4 geht auf die Reichweite des Grundsatzes „nemo tenetur se ipsum accusare“ im EU-Kartellverfahrensrecht ein. Im Anschluss daran wird in § 5 die Reichweite des Rechts auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahren erörtert. § 6 behandelt das Recht auf Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandanten (das sogenannte „Anwaltsprivileg“). § 7 befasst sich mit dem Akteneinsichtsrecht der Betroffenen eines Kartellverfahrens und Dritter. § 8 widmet sich der Reichweite des Ne bis in idem-Grundsatzes im EU-Kartellverfahren. Schließlich behandelt § 9 die Reichweite der Unschuldsvermutung im Kartellverfahren der Kommission.
§ 1 Überblick über das EU-Kartellverfahren und die Ermittlungsbefugnisse der Kommission A. Vom Verbot mit Erlaubnisvorbehalt zum System der Legalausnahme Die VO 1/2003 hat zu einem radikalen Wandel bei der öffentlichen Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts geführt. Während die Kommission unter der VO 17/1962 noch über einen Genehmigungsvorbehalt und das Freistellungsmonopol verfügte, da wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen bei ihr angemeldet und auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 101 Abs. 3 AEUV hin von der Kommission geprüft werden mussten, wurde mit der VO 1/2003 das System der Legalausnahme eingeführt1. Das bedeutet in erster Linie, dass Art. 101 Abs. 3 AEUV von sämtlichen mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden und Gerichten unmittelbar anwendbar ist. Seit dem Inkrafttreten der VO 1/2003 müssen die Unternehmen selbst beurteilen, ob ihre Vereinbarungen die Einzelfreistellungsvoraussetzungen von Art. 101 Abs. 3 AEUV erfüllen und brauchen ihre Vereinbarung nicht mehr bei der Kommission anzumelden, um eine Individualfreistellung zu bekommen. Die Aufhebung des Entscheidungsmonopols der Kommission in Bezug auf Art. 101 Abs. 3 AEUV ging mit der Verstärkung der dezentralen Anwendung von Art. 101 Abs. 1 und 102 AEUV einher. Die Wettbewerbsbehörden und die Gerichte der Mitgliedstaaten waren zwar auch vor dem Inkrafttreten der VO 1/2003 befugt, Art. 101 Abs. 1 und 102 AEUV (damals Art. 81 Abs. 1 und Art. 82 EGV) auf Absprachen oder Verhaltensweisen anzuwenden, die den zwischenstaatlichen Handel beeinflussen konnten2. Durch die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 101 Abs. 3 AEUV hat die VO 1/2003 aber ein System von parallelen Zuständigkeiten zwischen der Kommission, den nationalen Wettbewerbsbehörden und den Gerichten geschaffen. Zum Zweck einer effektiven Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den mitgliedstaatlichen Wettbewerbshütern sowie zur Förderung der effizienten öffentlichen Durchsetzung des Kartellrechts wurde das Netzwerk der europäischen Wettbewerbsbehörden („European Competition Network“ – „ECN“) ins Leben gerufen. Die effizientere öffentliche Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts war das Hauptziel der durch die VO 1/2003 eingeführten Systemumstellung. Die dezen 1 Für eine Analyse der Vor- und Nachteile der Modernisierung des EU-Kartellverfahrensrechts siehe Geradin, CJEL 2002, 1 ff. 2 Vgl. Canenbley/Rosenthal, ECLR 2005, 106 (106).
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§ 1 EU-Kartellverfahren und die Ermittlungsbefugnisse der Kommission § 1EU-Kartellverfahren und die Ermittlungsbefugnisse der Kommission
trale Anwendung von Art. 101 AEUV sollte bei der Kommission Ressourcen freimachen, die bei der Bekämpfung von schweren Wettbewerbsverstößen eingesetzt werden können. Gleichzeitig sollte die Kommission für die einheitliche Anwendung des EU-Wettbewerbsrechts sorgen, so dass es nicht zu divergierenden Entscheidungen verschiedener mitgliedstaatlicher Wettbewerbsbehörden kommt, die eine widerspruchsfreie Auslegung des EU-Wettbewerbsrechts und schließlich seine Durchsetzungskraft gefährden könnten. Die Modernisierung des EU-Kartellverfahrensrechts war ein einseitig ausgerichtetes Vorhaben, das auf eine verbesserte und effizientere Ermittlung und Ahndung von Wettbewerbsverstößen abzielte und das nur unwesentlich, nämlich insofern sie die EuGH-Rechtsprechung kodifizierte, den Rechtsschutz der Unternehmen bestätigte3. Zur wirksamen Erfüllung ihrer Aufgaben bei der öffentlichen Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts wurde die Kommission bei der Systemumstellung mit neuen, weit reichenden Ermittlungsbefugnissen und -instrumenten ausgestattet, die in der VO 1/2003 verankert sind. Das Arsenal der Kommission wurde somit um das in Art. 19 VO 1/2003 verankerte Recht zur Befragung von natürlichen und juristischen Personen und die in Art. 21 VO 1/2003 niedergelegte Ermächtigung der Kommission zur Durchführung von Nachprüfungen in anderen Räumlichkeiten als die der Unternehmen, gegen die ermittelt wird erweitert. Trotz der Dezentralisierung der Anwendung des EU-Wettbewerbsrechts bleibt die Kommission die Hauptakteurin bei seiner Durchsetzung4. Die Kommission hält im EU-Kartellverfahren eine Doppelrolle: Sie ist sowohl die Ermittlungs- und Anklageinstanz als auch die Entscheidungsinstanz. Die Kommission beschränkt sich nicht auf die Ermittlung von Kartellverstößen, sondern ahndet selbst die von ihr festgestellten Zuwiderhandlungen. Diese doppelte Rolle wurde vielfach in der Literatur als unvereinbar mit rechtsstaatlichen Garantien und insbesondere mit dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) kritisiert5. Aus diesen Gründen wird immer intensiver die Trennung der beiden Funktionen der Kommission im Kartellverfahren gefordert6. In einem solchen Fall würde die Kommission die Anklageinstanz bleiben und wäre somit zuständig für die Ermittlungen, die Beweiserhebung und die Beschwerde (in Form der Mitteilung der Beschwerdepunkte). Den Fall würde dann ein spezielles (Wettbewerbs-)Gericht entscheiden, dessen Bußgeldentscheidung vor dem EuG anfechtbar wäre. 3
So Steenbergen/van der Woude, SEW 2004, 192 (197). So Schulz/Rizza, in: Siragusa/Rizza (Hrsg.), S. 136. 5 Siehe statt aller Temple-Lang, in: Baudenbacher (Hrsg.), St. Gallen International Competition Law Forum 2010, S. 194 ff. 6 Siehe zum Beispiel Riley, ECLR 2010, 191 (206); Forrester, ELRev 2009, 817 ff.; A. A. Almunia, Due process and competition enforcement, Rede gehalten am 17.9.2010 anlässlich der IBA – 14th Annual Competition Conference, abrufbar unter http://europa.eu/rapid/pressrelease_SPEECH-10-449_en.htm?locale=en; Italianer, Safeguarding due process in antitrust proceedings, Rede gehalten am 23.9.2010 anlässlich der „Annual Conference on International Antitrust Law and Policy“ des Fordham Competition Law Institute, abrufbar unter http:// ec.europa.eu/competition/speeches/text/sp2010_06_en.pdf. 4
B. Die Struktur des EU-Kartellverfahrens
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B. Die Struktur des EU-Kartellverfahrens Das Kartellverfahren der Kommission gliedert sich in zwei Phasen. Es gibt die Ermittlungsphase (oder auch Untersuchungsphase genannt), die die Zeit von den ersten Hinweisen auf einen potenziellen Wettbewerbsverstoß bis zur Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte an die Unternehmen erfasst, denen wettbewerbswidriges Verhalten zur Last gelegt wird. Danach folgt die zweite Phase, das sogenannte Hauptprüfverfahren, das sich von der förmlichen Mitteilung der Beschwerdepunkte bis zum Erlass der abschließenden Verfahrensentscheidung der Kommission erstreckt.
I. Die Ermittlungsphase Die Ermittlungsphase ist für die Beweiserhebung, die Sammlung von Beweismaterial und die Substantiierung des Anfangsverdachts der Kommission bedacht, während sich die zweite Phase, die mit der förmlichen Mitteilung der Beschwerdepunkte anfängt, auf die Ausübung der Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen und die weitere Aufklärung des Sachverhalts konzentriert. Die zweite Phase wird auch als förmliches Verfahren bezeichnet7, da die Kommission spätestens vor der Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte die förmliche Einleitung eines Verfahrens beschlossen haben muss8. Mit dem Beschluss über die förmliche Einleitung des Verfahrens, der ein förmlicher Rechtsakt ist und keinen bestimmten Adressaten hat9, macht die Kommission klar, dass sie vorhat, eine der in der VO 1/2003 vorgesehenen und das Verfahren abschließenden Entscheidungen zu erlassen. Die förmliche Verfahrenseinleitung bedeutet ferner, dass dem Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte das gesamte Arsenal von Verteidigungsrechten zur Verfügung steht, was in der Ermittlungsphase nicht der Fall ist. In der Ermittlungsphase gelten aber auch gewisse Verteidigungsrechte, wie das Recht auf Hinzuziehung eines juristischen Beistands oder das Anwaltsprivileg.10 Darüber hinaus lässt sich die Ermittlungsphase in zwei weitere Abschnitte unterteilen, das Voruntersuchungsverfahren und die Untersuchungsphase. Das 7
Siehe dazu Weiß, in: Terhechte (Hrsg.), Rdnr. 72.10. Art. 11 Abs. 6 VO 1/2003 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 und 3 VO 773/2004. Die VO 773/2004 enthält keine bestimmte Zeitvorgabe, wann ein Verfahren einzuleiten ist. Sie stellt nur klar, dass die Verfahrenseinleitung auf jeden Fall vor der vorläufigen Beurteilung nach Art. 9 Abs. 1 VO 1/2003, vor der Übermittlung der Mitteilung der Beschwerdepunkte an das betroffene Unternehmen nach Art. 10 VO 773/2004 und vor der Veröffentlichung einer Mitteilung nach Art. 27 Abs. 4 VO 1/2003 (Zusammenfassung des Falls und Inhalt der Verpflichtungszusagen oder Beschreibung der weiteren Vorgehensweise in Fällen von Entscheidungen nach Art. 9 oder 10 VO 1/2003). 9 de Bronett, Art. 25, Rdnr. 10. 10 Siehe auch EuGH, Urteil v. 21.9.1989, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rdnr. 16. 8
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§ 1 EU-Kartellverfahren und die Ermittlungsbefugnisse der Kommission § 1EU-Kartellverfahren und die Ermittlungsbefugnisse der Kommission
Voruntersuchungsverfahren dient dazu, den Gegenstand der Untersuchung hinreichend abzugrenzen und festzustellen, ob es sich lohnt, den Fall weiter zu verfolgen11. Die Untersuchungsphase kann auf eine der folgenden Weisen abgeschlossen werden: Entweder beschließt die Kommission, eine Mitteilung der Beschwerdepunkte zu verfassen, oder sie tritt in Verhandlungen über Verpflichtungszusagen der am Verfahren beteiligten Unternehmen ein, oder sie beschließt, das Verfahren in Bezug auf sämtliche oder einige Unternehmen einzustellen, weil kein Anlass für seine Fortführung besteht12. Ermittlungen der Kommission finden sowohl im Voruntersuchungs- als auch im Hauptprüfverfahren statt. In der Ermittlungsphase verfügt die Kommission über weitreichende Ermittlungsbefugnisse und -instrumente. Die Kommission ist berechtigt, von ihren Ermittlungsbefugnissen sowohl in der Ermittlungsphase als auch nach der förmlichen Einleitung des Verfahrens Gebrauch zu machen13. Diese Möglichkeit ist konsequent mit dem Ziel der effizienten Durchsetzung des EU-Kartellrechts, da eine andere Lösung zu einer Vereitelung des Verfahrens führen könnte, da ein Unternehmen über die Einleitung eines Verfahrens gegen sich erfahren würde und eventuell versuchen könnte, die Ermittlungsaktionen zu erschweren oder ihren Erfolg zu verhindern. Die Praxis zeigt, dass die Kommission in fast allen Fällen ihre Ermittlungsbefugnisse bereits im Voruntersuchungsverfahren ausübt. Die unangekündigten Nachprüfungen in Unternehmensräumlichkeiten und in anderen Räumlichkeiten, in denen Beweismaterial eventuell zu finden wäre, nach Art. 20 und 21 VO 1/2003 (die sogenannten „dawn raids“) und die Versendung von Auskunftsersuchen nach Art. 18 VO 1/2003, mit denen die Kommission die aus ihrer Sicht erforderlichen Informationen von den Unternehmen verlangt, sind die beiden Ermittlungsinstrumente, die am häufigsten im Voruntersuchungsverfahren zum Einsatz kommen. Hinzuzufügen ist noch das auf Art. 19 VO 1/2003 basierende Recht der Kommission, Unternehmensmitarbeiter zu befragen, von dem oft im Rahmen eines „dawn raid“ Gebrauch gemacht wird. Die Berechtigung der Kommission von ihren Ermittlungsbefugnissen im EUKartellverfahren auch vor der förmlichen Einleitung eines solchen Verfahrens Gebrauch zu machen, bedeutet aber nicht, dass die Kommission Ausforschungen von Unternehmen (sogenannte „fishing expeditions“) durchführen darf. Die Kommission darf nicht „ins Blaue hinein“ ermitteln, sondern benötigt einen Anfangs verdacht über einen Verstoß gegen das EU-Wettbewerbsrecht. Für den Anfangs 11 Bekanntmachung der Kommission über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Artikel 101 und 102 des AEUV, ABl. EU v. 20.10.2011, C 308/6, (im Folgenden: „Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen“) Rdnr. 17. 12 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 75. 13 Art. 2 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 773/2004 der Kommission vom 7. April 2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel 81 und 82 EG-Vertrag durch die Kommission, ABl. L 123 v. 27.4.2004 (im Folgenden: „VO 773/2004“).
B. Die Struktur des EU-Kartellverfahrens
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verdacht sind Indizien einer Wettbewerbsverzerrung auf einem bestimmten Markt nötig. Zu diesen Indizien gelangt die Kommission entweder selbst (z. B. über eigene Marktbeobachtungen und Presseveröffentlichungen) oder nachdem sich ein Marktteilnehmer (entweder ein Endverbraucher oder, häufiger, ein Wettbewerber) sich an sie mit einer Beschwerde über das angebliche wettbewerbswidrige Verhalten wendet. Darüber hinaus ist es in Fällen von schwerwiegenden horizontalen Wettbewerbsverstößen möglich, das ein Unternehmen die Kronzeugenregelung in Anspruch nimmt und den Verstoß selbst bei der Kommission meldet. Hat die Kommission einen Anfangsverdacht für einen Verstoß gegen das EUWettbewerbsrecht, kann sie erste Ermittlungsaktionen durchführen. Sie können die Form von Nachprüfungen in den Räumlichkeiten des Unternehmens oder in anderen Räumlichkeiten, wo die Unterbringung von Beweismaterial vermutet wird, oder (seltener) von Auskunftsersuchen haben. 1. Die Nachprüfungen in Unternehmensräumlichkeiten oder in Privatwohnungen Der Kommission steht es frei, Nachprüfungen entweder auf Grundlage eines einfachen Nachprüfungsauftrages oder einer Nachprüfungsentscheidung durchzuführen14. Der Unterschied besteht darin, dass ein Unternehmen die durch Entscheidung angeordnete Nachprüfung zu dulden hat, während im Fall des einfachen Nachprüfungsauftrages den Bediensteten der Kommission der Einlass in die Unternehmensräumlichkeiten ohne weitere Konsequenzen verwehrt werden darf15. Wenn sich jedoch das Unternehmen für die Duldung der durch einfachen Nachprüfungsauftrag durchzuführenden Nachprüfung entscheidet, dann unterliegt es derselben Kooperationspflicht wie ein Unternehmen im Fall einer durch formelle Entscheidung angeordneten Nachprüfung16. Bei der Anordnung einer Nachprüfungsentscheidung handelt es sich um eine vorbereitende Verfahrensentscheidung, die im Ermächtigungsverfahren (d. h. ein oder mehrere Kommissionsmitglieder erlassen die Entscheidung im Namen des Kollegiums) und ohne Anhörung des betroffenen Unternehmens erlassen wird17. Wird eine Nachprüfung nicht per einfachen Auftrag, sondern per Entscheidung angeordnet, muss die Wettbewerbsbehörde des Staates, in dessen Hoheitsgebiet die Nachprüfung durchgeführt werden soll, angehört werden18. Die Kommission ist aber nicht an die Beurteilung der Nachprüfungsmaßnahme durch die nationale Wettbewerbsbehörde gebunden19. 14
Art. 20 Abs. 4 VO 1/2003. Vgl. Klees, S. 325. 16 Klees, S. 325. 17 de Bronett, Art. 20, Rdnr. 46. 18 Art. 20 Abs. 4 Satz 3 VO 1/2003. 19 de Bronett, Art. 20, Rdnr. 46. 15
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§ 1 EU-Kartellverfahren und die Ermittlungsbefugnisse der Kommission § 1EU-Kartellverfahren und die Ermittlungsbefugnisse der Kommission
Sowohl der einfache Nachprüfungsauftrag als auch die Nachprüfungsentscheidung müssen Gegenstand und Zweck der Nachprüfung aufführen, sowie auf die vorgesehenen Sanktionen im Fall der Nicht-Erfüllung oder der mangelhaften Erfüllung der sich im Rahmen der Nachprüfung aus Art. 23 Abs. 1 VO 1/2003 ergebenden Pflichten hinweisen (Art. 20 Abs. 3 VO 1/2003). Formelle Nachprüfungsentscheidungen müssen darüber hinaus eine Rechtsmittelbelehrung enthalten20. Art. 20 VO 1/2003 sagt nichts zu der Frage, ob ein Nachprüfungsauftrag oder eine Nachprüfungsentscheidung auch ihre Rechtsgrundlage erwähnen müssen. Diese Pflicht ist aber für Auskunftsersuchen (Art. 18 Abs. 2 und 3 VO 1/2003) und Befragungen (Art. 19 VO 1/2003 i.V.m Art. 3 Abs. 1 VO 773/2004) vorgesehen. Deswegen sollte davon ausgegangen werden, dass es sich bei diesem Versäumnis in Bezug auf Nachprüfungsentscheidungen um ein redaktionelles Versehen handelt und dass die Nachprüfungsentscheidung ihre Rechtsgrundlage aufführen muss. Die Pflicht der Kommission, Gegenstand und Zweck der Nachprüfung anzu geben, dient der Wahrung der Verteidigungsrechte der durch die Nachprüfung betroffenen Unternehmen. Die Unternehmen müssen dadurch in die Lage versetzt werden, ihre Mitwirkungspflicht bei der Nachprüfung zu erkennen und ihre Verteidigungsrechte ausüben zu können21. Es ist aber zu beachten, dass Handlungen der Kommissionsbediensteten, die im Rahmen einer Nachprüfung ihre Befugnisse überschreiten, die Rechtmäßigkeit der die Nachprüfung anordnenden Entscheidung nicht beeinträchtigen22. Da im Fall eines einfachen Prüfungsauftrages meist mit dem Widerstand des Unternehmens zu rechnen ist, erlässt die Kommission in der Regel eine Nachprüfungsentscheidung, die Gegenstand und Zweck der Nachprüfung bezeichnet, den Zeitpunkt des Beginns der Nachprüfung bestimmt und auf die in Art. 23 und Art. 24 VO 1/2003 vorgesehenen Sanktionen sowie auf das Recht, die Nachprüfungsentscheidung vor dem EuG anzufechten, hinweist23. Diese Anforderungen an die schriftliche Nachprüfungsentscheidung wurden durch die EuGH-Rechtsprechung weiter konkretisiert. Demnach muss die Nachprüfungsentscheidung nicht nur Gegenstand und Zweck der Nachprüfung darlegen, sondern auch soweit wie möglich genau aufführen, wonach gesucht wird und die Punkte angeben, auf die sich die Nachprüfung beziehen soll24. 20
Art. 20 Abs. 4 Satz 2 VO 1/2003. EuGH, Urteil v. 21.9.1989, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rdnr. 29. 22 EuGH, Urteil v. 17.10.1989, Rs. 85/87, Dow Benelux NV/Kommission, Slg. 1989, 3137, Rdnr. 49. 23 Art. 20 Abs. 4 VO 1/2003. 24 EuGH, Urteil v. 22.10.2002, Rs. C-94/00, Roquette Frères SA/Directeur général de la concurrence, de la consommation et de la répression des fraudes, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 48; Urteil v. 26.6.1980, Rs. 136/79, National Panasonic/Kommission, Slg. 1980, 2033, Rdnr. 26 und 27. 21
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Handeln die Kommissionsbediensteten alleine oder mit Unterstützung der nationalen Kartellbehörde, muss die Nachprüfungsentscheidung nicht von einem nationalen Gericht genehmigt werden. Anders verhält es sich, wenn die Kommission die Amtshilfe einer nationalen Vollzugsbehörde (Art. 20 Abs. 6 VO 1/2003 nennt ausdrücklich die Polizei) beantragt, um den Widerstand des Unternehmens gegen die Nachprüfung zu beugen. Wenn das nationale Verfahrensrecht vor einem solchen Polizeieinsatz die richterliche Genehmigung vorsieht, muss diese gemäß Art. 20 Abs. 7 VO 1/2003 beantragt werden. Eine beglaubigte Abschrift der Nachprüfungsentscheidung und, falls erforderlich, der Genehmigung des Vollzugs des Durchsuchungsbeschlusses durch den nationalen Richter25, wird dem Vertreter des Unternehmens von den Kommissionsbeamten ausgehändigt. Das Unternehmen, das Adressat der Nachprüfungsentscheidung ist, hat das Recht auf Hinzuziehung juristischen Beistands für die Dauer der Nachprüfung. Dieses Recht besteht bereits in der Phase der Voruntersuchung26. Die Anwesenheit eines Rechtsanwalts ist aber keine Voraussetzung für die Rechtswirksamkeit der Nachprüfung in den Unternehmensräumlichkeiten27. Die Kommission gewährt dem Unternehmen eine Wartezeit, wenn sie notwendig für das Eintreffen eines Rechtsanwalts ist, solange diese Wartezeit nicht zu einer unangemessenen Verzögerung der Nachprüfung führt und wenn die Unternehmensvertreter garantieren, dass keine Unterlagen aus den Unternehmensräumlichkeiten während der Wartezeit entfernt werden28. Verfügt das Unternehmen über eine interne Rechtsabteilung und ist der Syndikusanwalt im Hause, wird dagegen normalerweise keine Wartezeit gewährt. Die Kommissionsbediensteten verfügen gemäß Art. 20 Abs. 2 VO 1/2003 über das Recht, alle Räumlichkeiten, Grundstücke und Transportmittel des Unternehmens zu betreten, das die Nachprüfung zu dulden hat. Ferner dürfen die Kommissionsbeamten und ihre Begleitpersonen die Bücher und Geschäftsunterlagen des Unternehmens sichten. Die Form der Unterlagen (handfest oder elektronisch) ist unerheblich. Das Unternehmen ist verpflichtet, alle angeforderten Bücher und Unterlagen vollständig vorzulegen29. Aus dem Prüfungsrecht der Kommission und der entsprechenden Vorlagepflicht des die Nachprüfung duldenden Unternehmens ist der Schriftverkehr zwischen dem Unternehmen und seinen externen Rechtsanwälten ausgeschlossen, solange er im Zusammenhang mit dem von der Kommission vermuteten Wettbewerbsverstoß steht, der auch Gegenstand des Verfahrens ist. 25
Vgl. Art. 20 Abs. 7 VO 1/2003. EuGH, Urteil v. 21.9.1989, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rdnr. 16. 27 Europäische Kommission „Explanatory note to an authorisation to conduct an inspection in execution of a Commission decision under Article 20(4) of Council regulation No 1/2003“, Rdnr. 6, abrufbar unter http://ec.europa.eu/competition/antitrust/legislation/explanatory_note.pdf. 28 Klees, S. 327. 29 Art. 23 Abs. 1 Buchst. c VO 1/2003. 26
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Da es aufgrund des Umfangs der zu prüfenden Unterlagen vorkommen kann, dass die Nachprüfung nicht innerhalb eines Arbeitstages abgeschlossen werden kann, und da die Kommission – im Gegensatz zum Bundeskartellamt30 – kein Beschlagnahmerecht hat, wurde der Kommission gemäß Art. 20 Abs. 2 Buchst. b VO 1/2003 die Befugnis erteilt, betriebliche Räumlichkeiten, Geschäftsbücher oder -unterlagen jeder Art und in dem Ausmaß zu versiegeln, wie es für die Nachprüfung erforderlich ist. Nach dem Erwägungsgrund 25 der VO 1/2003 sollte die Versiegelung nicht länger als 72 Stunden dauern. Im Allgemeinen sollte sich die Kommission bemühen, insbesondere, wenn es sich um Betriebsräumlichkeiten handelt, die durch die Versiegelung entstehende Störung des Betriebsablaufs des Unternehmens auf das Geringste zu reduzieren31. Das vorsätzliche oder fahrlässige Brechen eines Siegels stellt einen Verstoß dar, der gemäß Art. 23 Abs. 1 Buchst. e VO 1/2003 mit einer Geldbuße von der Kommission sanktioniert werden kann, was auch bislang zweimal der Fall gewesen ist32. Die Kommissionsbediensteten haben ferner nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. c VO 1/2003 das Recht, aus den Büchern und den Unterlagen Kopien anzufertigen oder zu erhalten. Dieses Recht dient als Ersatz für die fehlende Beschlagnahmebefugnis der Kommission33. Die Kommissionsbediensteten haben aber keinen Anspruch darauf, dass das Unternehmen bzw. die Mitarbeiter bei der Erstellung der Kopien Hilfe leisten34. Das Recht auf Anfertigung von Kopien umfasst auch Dokumente in elektronischer Form35. Wenn es erforderlich ist, dürfen die Kommissionsbediensteten eine exakte Kopie der Festplatte von Computern des Unternehmens anfertigen.36 Anders als die VO 17/1962 ermächtigt Art. 21 VO 1/2003 die Kommission dazu, Nachprüfungen in anderen Räumlichkeiten als denen des betreffenden Unternehmens zu führen37. Unter „anderen Räumlichkeiten“ sind nicht nur die Privatwohnungen der Unternehmensleiter und der Mitglieder von Aufsichts- und Leitungsorganen oder anderer Mitarbeiter des betreffenden Unternehmens, aber jede 30
Siehe § 58 GWB. Klees, S. 335. 32 Siehe EuG, Urteil v. 15.12.2010, Rs. T-141/08, E.ON Energie AG/Kommission, Slg. 2010, II-5761; die zweite Geldbuße wegen Siegelbruchs wurde gegen das Unternehmen Suez Environnement im Mai 2011 verhängt. Siehe diesbezüglich die Pressemitteilung der Kommission IP/11/632 vom 24.5.2011. 33 Klees, S. 334. 34 Klees, S. 334. 35 Europäische Kommission, „Explanatory note to an authorisation to conduct an inspection in execution of a Commission decision under Article 20(4) of Council regulation No 1/2003“, Rdnr. 9. 36 Europäische Kommission, „Explanatory note to an authorisation to conduct an inspection in execution of a Commission decision under Article 20(4) of Council regulation No 1/2003“, Rdnr. 11. 37 Soweit ersichtlich wurde von dieser Befugnis der Kommission bislang einmal Gebrauch gemacht: Im Rahmen der Ermittlungen im Marineschläuchekartell (Fall COMP/39.406) führte die Kommission Nachprüfungen in privaten Räumlichkeiten durch. 31
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Räumlichkeit, in der Bücher oder Geschäftsunterlagen des betreffenden Unternehmens aufbewahrt sein könnten und die als Nachweis eines schweren Wettbewerbsverstoßes dienen könnten. Wegen des schweren Eingriffs in die Privatsphäre, den eine solche Nachprüfung darstellt, ist sie an besondere Voraussetzungen geknüpft. Es ist erforderlich, dass die Kommission einen begründeten Verdacht hat, dass Bücher oder Geschäftsunterlagen, die den Gegenstand der Nachprüfung betreffen und die als Nachweis eines schweren Wettbewerbsverstoßes dienen könnten, in anderen Räumlichkeiten als den Betriebsräumlichkeiten aufbewahrt sein könnten. Der begründete Verdacht ist qualitativ ein Plus im Vergleich zum Anfangsverdacht, der für die Anordnung einer Nachprüfung in den Unternehmensräumlichkeiten erforderlich ist. Es handelt sich nicht um einen begründeten Verdacht, wenn die Nachprüfung in der Unternehmensräumlichkeit einfach erfolglos geblieben ist. Vielmehr sollen die Kommissionsbediensteten im Laufe dieser Nachprüfung konkrete Hinweise bekommen haben, dass Bücher und/oder Geschäftsunterlagen in anderen Orten aufgehoben werden38. Unter „schwerem Verstoß“ sind grundsätzlich horizontale Wettbewerbsverstöße zu verstehen: Preisabsprachen zwischen Wettbewerbern, Marktaufteilung, Submissionskartelle. Aber auch der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung von Quasi-Monopolisten könnte als schwerer Verstoß bezeichnet werden39. Nachprüfungen in anderen als den betrieblichen Räumlichkeiten dürfen nur nach vorherigem Erlass einer Kommissionsentscheidung durchgeführt werden40. Die die Nachprüfung anordnende Kommissionsentscheidung kann nur nach ihrer Genehmigung durch das Gericht des Mitgliedstaats, in dem die nachzuprüfenden Räumlichkeiten sich befinden, vollzogen werden41. Anders als im Fall der Genehmigung von Art. 20 Abs. 7 VO 1/2003 ist die Genehmigung einer Entscheidung über die Nachprüfung in anderen Räumlichkeiten durch den nationalen Richter zwingend erforderlich, also auch dann, wenn das nationale Verfahrensrecht keine entsprechende Regelung vorsieht/vorsehen würde42. Das zwingende Erfordernis einer Genehmigung durch den nationalen Richter erklärt sich durch die besondere Intensität des Eingriffs in die grundrechtlich geschützte Privatsphäre durch die Nachprüfung.
38 Klees, S. 342. Siehe in Bezug auf die Durchsuchungen in privaten Räumlichkeiten die Ausführungen in § 5, A.II, S. 174 ff. 39 Klees, S. 343. 40 Art. 21 Abs. 1 VO 1/2003. 41 Art. 21 Abs. 3 VO 1/2003. 42 Klees, S. 341.
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2. Die Auskunftsersuchen Hat die Kommission Beweismaterial bezüglich der vermuteten Zuwiderhandlung im Rahmen von Nachprüfungen in den Unternehmens- oder in sonstigen Räumlichkeiten gesammelt, versucht sie normalerweise den Sachverhalt weiter zu klären und ihr Bild von den vermuteten Wettbewerbsverstößen zu vervollständigen. Das passiert in der Regel in Form von Auskunftsersuchen, die an die Unternehmen adressiert werden und mit denen die Kommission zusätzliche/aufklärende Auskünfte einzuholen bezweckt. Die Befugnis der Kommission, Auskunftsersuchen an Unternehmen zu versenden, ist in Art. 18 VO 1/2003 geregelt. Art. 18 Abs. 1 VO 1/2003 sieht zwei Arten von Auskunftsersuchen vor: die einfachen und diejenigen, die auf Grundlage einer Entscheidung der Kommission ergehen. Ein einfaches Auskunftsverlangen verpflichtet ein Unternehmen weder zur Beantwortung noch zur Erteilung von Informationen. Entscheidet sich aber ein Unternehmen dafür, ein einfaches Auskunftsersuchen zu beantworten, unterliegt es der sich aus Art. 18 Abs. 2 VO 1/2003 i. V. m. 23 Abs. 1 Buchst. a VO 1/2003 ergebenden Pflicht, keine unrichtigen oder irreführenden Auskünfte zu erteilen. Einfache Auskunftsersuchen sind aber eher die Ausnahme. Um das Verfahren so weit wie möglich zu beschleunigen und ihren Ermittlungen zur größtmöglichen Effizienz zu verhelfen, versendet die Kommission die Auskunftsersuchen auf Grundlage einer Entscheidung gemäß Art. 18 Abs. 3 VO 1/2003. Solche Auskunftsersuchen verpflichten ihre Adressaten zur Erteilung aller erforderlichen Auskünfte. Erforderlich sind Auskünfte insbesondere dann, wenn sie es der Kommission ermöglichen, im Auskunftsersuchen genannte mutmaßliche Zuwiderhandlungen nachzuweisen43. Der Kommission steht bei der Beurteilung, welche Auskünfte erforderlich sind, ein Ermessensspielraum zu44. Die Kommission gibt im Auskunftsersuchen nach Art. 18 Abs. 3 VO 1/2003 die Rechtsgrundlage, den Zweck des Auskunftsersuchens und die geforderten Auskünfte an. Darüber hinaus setzt die Kommission dem Adressaten des Auskunftsersuchens eine Frist zu dessen Beantwortung. Schließlich muss die Kommission im Auskunftsersuchen auf die gemäß Art. 23 Abs. 1 Buchst. b VO 1/2003 drohenden Bußgelder bei Erteilung von unrichtigen, unvollständigen oder irreführenden Angaben oder bei Antwort nach Ablauf der gesetzten Frist. Die dem Unternehmen von der Kommission gewährte Zeit zur Beantwortung eines Auskunftsersuchens liegt im Ermessen der Kommission, hängt aber vom Umfang der geforderten Informationen ab und kann nach entsprechendem Antrag des Adressaten des Auskunftsersuchens verlängert 43
Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 33. EuG, Urteil v. 8.7.2004, Rs. T-48/00, Corus UK Ltd/Kommission, Slg. 2004, II-2325, Rdnr. 212; Urteil v. 20.3.2002, Rs. T-9/99, HFB u. a./Kommission, Slg. 2002, II-1487, Rdnr. 384; Urteil v. 11.3.1999, Rs. T-141/94, Thyssen Stahl AG/Kommission, Slg. 1999, II-347. 44
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werden45. Die Frist muss aber auf jeden Fall mindestens zwei Wochen ab Eingang des Auskunftsersuchens betragen46. Ein Auskunftsersuchen der Kommission wird meistens an das von den Ermittlungen betroffene Unternehmen (und selten an einen bestimmten Mitarbeiter des betroffenen Unternehmens) versandt. Die Antwort auf die Frage, wer die von der Kommission verlangten Auskünfte zu erteilen hat, wird von Art. 18 Abs. 4 VO 1/2003 gegeben. Diejenigen natürlichen Personen, die eine juristische Person nach Gesetz oder Satzung vertreten, sind zur Erteilung der von der Kommission geforderten Informationen im Namen der juristischen Person befugt. Art. 18 Abs. 4 VO 1/2003 sieht auch die Möglichkeit vor, dass ordnungsgemäß bevollmächtigte Rechtsanwälte die verlangten Informationen im Namen des Unternehmens erteilen. Die Unternehmen, die mit dem Auskunftsersuchen adressiert wurden, bleiben aber auch in diesem Fall dafür zuständig, dass die erteilten Auskünfte vollständig, sachlich richtig und nicht irreführend sind47. Die Versendung von Auskunftsersuchen, zu deren Beantwortung die Unternehmen verpflichtet sind, greift in erheblichem Maß in die grundrechtlich geschützte Rechtsposition jeder natürlichen oder juristischen Person ein, sich nicht durch eine eigene Aussage belasten zu müssen. Die Kommission48 und der EuGH49 haben bislang das Auskunftsverweigerungsrecht wegen Gefahr von Selbstbezichtigung im EU-Kartellverfahren nur im Sinne eines Geständnisverweigerungsrechts ausgelegt. Ansonsten ist nach Auffassung des EuGH ein Unternehmen, das mit einem Auskunftsersuchen adressiert wurde, auch zur Erteilung von solchen Informationen und zur Vorlage solcher Dokumente verpflichtet, die den Beweis für ein wettbewerbswidriges Verhalten des betreffenden oder eines anderen Unternehmens erbringen50. Es ist fraglich, inwieweit diese restriktive Auslegung des Nemotenetur-Grundsatzes im Einklang mit der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und mit den Postulaten der Europäischen Grundrechtecharta steht. Für eine Analyse dieser Frage wird auf die entsprechende Stelle der vorliegenden Arbeit verwiesen51.
45 Siehe bezüglich der Fristverlängerung Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 39. 46 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 38. 47 Art. 18 Abs. 4 Satz 2 VO 1/2003. 48 Siehe z. B. Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 36. 49 Vgl. EuGH, Urteil v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Orkem/Kommission, Slg. 1989, 3283, Rdnr. 35. 50 So EuGH, Urteil v. 29.6.2006, Rs. C-301/04 P, Kommission/SGL Carbon AG, Slg. 2006 I-5915, Rdnr. 41. 51 Siehe § 4 „Die Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht“, S. 110 ff.
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§ 1 EU-Kartellverfahren und die Ermittlungsbefugnisse der Kommission § 1EU-Kartellverfahren und die Ermittlungsbefugnisse der Kommission
II. Das Hauptverfahren Nachdem die Kommission durch den Einsatz dieser Ermittlungsinstrumente den Sachverhalt aufgeklärt hat, gibt es drei Möglichkeiten für den weiteren Verfahrensgang: (a) die Kommission beabsichtigt den Erlass einer Entscheidung über die Feststellung einer Zuwiderhandlung (Art. 7 VO 1/2003) und übersendet den an der Zuwiderhandlung angeblich beteiligten Unternehmen eine Mitteilung der Beschwerdepunkte; (b) die Parteien können Verpflichtungszusagen anbieten, um die wettbewerblichen Bedenken der Kommission auszuräumen (Art. 9 VO 1/2003) und (c) die Kommission kann feststellen, dass es keine Gründe zur weiteren Verfolgung des Falles gibt, und das Verfahren einstellen. 1. Mitteilung der Beschwerdepunkte Ist die Kommission der Auffassung, dass Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV oder Art. 102 AEUV vorliegen, kann sie den betroffenen Unternehmen ihre Beschwerdepunkte mitteilen. Die Mitteilung der Beschwerdepunkte enthält die vorläufige Position der Kommission in Bezug auf die den Parteien zur Last gelegten Zuwiderhandlungen und wird jeder Verfahrenspartei schriftlich zugestellt52. Die Mitteilung der Beschwerdepunkte enthält alle Angaben über die gegen die Unternehmen erhobenen Beschwerdepunkte sowie alle Angaben, die die Parteien benötigen, um ihre Verteidigungsrechte wirksam ausüben zu können. Aus diesem Erfordernis folgt, dass die Mitteilung der Beschwerdepunkte nicht nur eine Beschreibung des Sachverhalts, aber auch die rechtliche Bewertung der geschilderten Tatsachen sowie die Beweismittel, auf die die Kommission ihre Beschwerdepunkte stützt. Die Mitteilung der Beschwerdepunkte legt ferner dar, ob die Kommission die Verhängung einer Geldbuße gegen die betroffenen Unternehmen beabsichtigt und ob sie gewisse Abhilfemaßnahmen vorschreiben wird, sollte der Verstoß fortgeführt werden. Beabsichtigt die Kommission die Verhängung einer Geldbuße, muss sie in der Mitteilung der Beschwerdepunkte alle tatsächlichen und rechtlichen Gründe aufführen, die zur Bußgeldverhängung führen. Dazu gehören die Dauer und Schwere des behaupteten Verstoßes, sowie Ausführungen darüber, ob der Verstoß nach Auffassung der Kommission absichtlich oder fahrlässig begangen wurde. Ferner muss die Kommission darauf hinweisen, ob sie beabsichtigt, ein Mutterunternehmen für die durch das von ihm kontrollierte Tochterunternehmen begangene Zuwiderhandlung zu bebußen beabsichtigt. Die Mitteilung der Beschwerdepunkte ist somit von besonderer Bedeutung für das EU-Kartellverfahren, weil sie die Ergebnisse der Ermittlungsphase wiedergibt und die Weichen für den Abschluss des Verfahrens entweder durch eine (Bußgeld-) 52
Art. 10 Abs. 1 VO 773/2004.
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Entscheidung oder durch Einstellung des Verfahrens stellt. Sie ist insofern für die Kommission bindend, dass die Kommission grundsätzlich ihre das Verwaltungsverfahren beendende Entscheidung nur auf die Zuwiderhandlungen stützen darf, die den Parteien in der Mitteilung der Beschwerdepunkte zur Last gelegt wurden und zu denen sich die Verfahrensparteien äußern konnten53. Diese Einschränkung dient der Wahrung der Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen, da sie Gelegenheit haben müssen, sich zu allen Vorwürfen der Kommission zu äußern und ihr Recht auf Anhörung effektiv auszuüben. Beabsichtigt jedoch die Kommission in ihrer endgültigen Entscheidung von ihrer sachlichen oder rechtlichen Argumentation in der Mitteilung der Beschwerdepunkte zu Lasten eines oder mehrerer Unternehmen abzuweichen oder zusätzliche belastende Beweisstücke zu berücksichtigen, muss sie den betroffenen Unternehmen Gelegenheit geben, sich dazu zu äußern54. Die Wahrung der Verteidigungsrechte von Unternehmen, denen ein Verstoß gegen das EU-Kartellrecht vorgeworfen wird, wird nach der Versendung von der Kommission der Mitteilung der Beschwerdepunkte einerseits durch das Recht der Unternehmen, zu der Mitteilung der Beschwerdepunkte Stellung zu nehmen (Art. 27 Abs. 1 VO 1/2003 i. V. m. Art. 10 Abs. 2 und 3 VO 773/2004) und andererseits durch die Anhörung dieser Unternehmen (Art. 27 Abs. 1 VO 1/2003 i. V. m. Art. 11 und 12 VO 773/2004) gewährleistet. Die Kommission setzt den Parteien eine Frist zur schriftlichen Stellungnahme zur Mitteilung der Beschwerdepunkte55. Gemäß Art. 17 Abs. 2 VO 773/2004 beträgt diese Frist mindestens vier Wochen. Die Kommission kann aber auch längere Fristen (normalerweise zwei Monate, in Ausnahmen auch mehr) gewähren, wenn der Umfang und die Komplexität des Falles dies erfordern56. Bei begründetem Antrag eines Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte kann die Antwortfrist verlängert werden57. Die Antwortfrist beginnt mit dem Tag der Gewährung von Einsicht in die Akte der Kommission58. 2. Einsicht des Betroffenen in die Kommissionsakte Zur wirksamen Ausübung der Verteidigungsrechte eines Unternehmens nach der Versendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte von der Kommission gehört die Einsicht in die Kommissionsakte. Ein Akteneinsichtsrecht besteht erst nach der Zustellung der Mitteilung der Beschwerdepunkte an die betroffenen Unternehmen. Vor der Versendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte sind von den 53
Art. 27 Abs. 1 Satz 2 VO 1/2003 i. V. m. Art. 11 Abs. 2 VO 773/2004. Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 86. 55 Art. 10 Abs. 2 VO 773/2004. 56 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 100. 57 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 101. 58 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 102. 54
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§ 1 EU-Kartellverfahren und die Ermittlungsbefugnisse der Kommission § 1EU-Kartellverfahren und die Ermittlungsbefugnisse der Kommission
Ermittlungen der Kommission betroffene Unternehmen nicht berechtigt, Einsicht in das von der Kommission gesammelte Beweismaterial zu nehmen. Die Akteneinsicht ist erforderlich, damit ein Unternehmen in angemessener Weise zu allen von der Kommission erhobenen Beschwerdepunkten Stellung nehmen kann. Das Recht auf Akteneinsicht im EU-Kartellverfahren ist in Art. 27 Abs. 2 Satz 2 VO 1/2003 verankert. Aus der Akteneinsicht sind Geschäftsgeheimnisse und vertrauliche Informationen anderer Unternehmen, sowie interne Schriftstücke der Kommission und ihre Korrespondenz mit den nationalen Wettbewerbsbehörden ausgenommen59. Das Recht auf Akteneinsicht im EU-Kartellverfahren wird in Art. 15 der Durchführungsverordnung (VO 773/2004) und in der Mitteilung der Kommission über die Akteneinsicht60 konkretisiert. Besondere Regelungen gibt es auch in Bezug auf die Einsicht in Unternehmenserklärungen und begleitende Unterlagen, die im Rahmen der Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung oder im Rahmen der Durchführung eines Vergleichsverfahrens („Settlement“) abgegeben bzw. vorgelegt wurden61. Das in Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003 verankerte Akteneinsichtsrecht gilt nur für Verfahrensparteien und im Rahmen der wirksamen Ausübung des Anhörungsrechts während des Hauptprüfverfahrens (bis zum Erlass der Kommissionsentscheidung). Es besteht kein Anspruch auf Akteneinsicht, um eine Klage gegen eine Kommissionsentscheidung zu vorbereiten oder zu substantiieren62. Dritte haben in dieser Verfahrensphase kein Recht auf Akteneinsicht. Das Akteneinsichtsrecht Dritter kommt aber im Anschluss an den Erlass der das Verfahren abschließenden Kommissionsentscheidung zum Tragen, wenn Dritte (Kartellgeschädigte) Einsicht in die Akte (und meistens in die Unternehmenserklärungen der Kronzeugen) be antragen, um eine Schadensersatzklage zu substantiieren. Für eine detaillierte Besprechung der Reichweite des Akteneinsichtsrechts im EU-Kartellverfahren und der Akteneinsicht Dritter in die Kronzeugenakte wird auf das entsprechende Kapitel der vorliegenden Arbeit verwiesen63. 59
Art. 27 Abs. 2 Satz 3 VO 1/2003. Mitteilung der Kommission über die Regeln für die Einsicht in Kommissionsakten in Fällen einer Anwendung der Artikel 81 und 82 EG-Vertrag, Artikel 53, 54 und 57 des EWRAbkommens und der Verordnung (EG) Nr. 139/2004, ABl. EU v. 22.12.2005, C 325/7 (im Folgenden: „Mitteilung der Kommission über die Akteneinsicht“). 61 Siehe bezüglich der Kronzeugenmitteilung: Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. EU v. 8.12.2006, C 298/17 (im Folgenden: „Kronzeugenmitteilung“), Rdnrn. 31 bis 35, und bezüglich des Vergleichsverfahrens Mitteilung der Kommission über die Durchführung von Vergleichsverfahren bei dem Erlass von Entscheidungen nach Artikel 7 und Artikel 23 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates in Kartellfällen, ABl. EU v. 2.7.2008, C 167/1 (im Folgenden: „Settlement-Mitteilung“), Rdnrn. 35–40. 62 So de Bronett, Art. 27, Rdnr. 24 mit Verweis auf EuGH, Urteil v. 6.4.1995, Rs. T-145/89, Baustahlgewebe GmbH/Kommission, Slg. 1995, II-987, Rdnr. 32, 34 und 35. 63 Siehe § 7 „Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht“, S. 258 ff. 60
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3. Anhörung des Betroffenen Die Adressaten einer Mitteilung der Beschwerdepunkte sind dazu berechtigt, eine Anhörung zu beantragen, in der sie ihre Argumente bezüglich der Beschwerdepunkte der Kommission äußern können64. Die Anhörung nach der Zustellung der Mitteilung der Beschwerdepunkte gehört zum System von „Checks and Balances“ im Kartellverfahren der Kommission. Die Unternehmen haben die Gelegenheit, ihren Standpunkt zu erläutern, Argumente gegen die von der Kommission vorgenommene Beurteilung des Sachverhalts vorzubringen und neue, entlastende Beweismittel vorzulegen. Gemäß Art. 14 Abs. 1 VO 773/2004 wird die Anhörung vom Anhörungsbeauftragten in voller Unabhängigkeit durchgeführt. Dem Anhörungsbeauftragten obliegt die Vorbereitung und Leitung der mündlichen Anhörung. Der Anhörungsbeauftragte, der als unabhängiger Schiedsmann zu verstehen ist und dessen Mandat in einem Beschluss des Präsidenten der Kommission vom 13.10.2011 festgelegt ist65, entscheidet selber darüber, wen er zur mündlichen Anhörung einlädt. Insbesondere entscheidet er darüber, ob Dritte, die einen Antrag auf Anhörung nach Art. 13 VO 773/2004 gestellt haben, zur mündlichen Anhörung zugelassen werden. Dasselbe gilt auch für Beschwerdeführer. Im Gegensatz zu den Adressaten einer Mitteilung der Beschwerdepunkte sind Beschwerdeführer und betroffene Dritte nicht automatisch zur mündlichen Anhörung zugelassen. Vielmehr müssen sie ihre Teilnahme schriftlich beantragen66. Der Anhörungsbeauftragte legt das Datum, die Zeit und den Ort der mündlichen Anhörung fest (Art. 12 Abs. 1 des Mandats des Anhörungsbeauftragten). Die mündliche Anhörung ist nicht öffentlich (Art. 14 Abs. 6 VO 773/2004). Das trägt zur Wirksamkeit der mündlichen Anhörung bei, da die Beteiligten sich frei äußern können67. Der Anhörungsbeauftragte hat dafür zu sorgen, dass die Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte, andere Verfahrensbeteiligte und die Beschwerdeführer oder betroffene Dritte, die womöglich zur mündlichen Anhörung eingeladen wurden, während der mündlichen Anhörung Gelegenheit bekommen, sich zu den vorläufigen Feststellungen der Kommission zu äußern68. Während der mündlichen Anhörung kann der Anhörungsbeauftragte gestatten, dass die Teilnehmer der Anhörung Fragen stellen69. Gemäß Art. 14 Abs. 8 VO 773/2004 werden die Aussagen aller Teilnehmer der Anhörung aufgezeichnet und nach entsprechen-
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Art. 12 VO 773/2004. Beschluss des Präsidenten der Europäischen Kommission vom 13. Oktober 2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren, ABl. EU v. 20.10.2011, L 275/29 (im Folgenden: „Mandat des Anhörungsbeauftragten“). 66 Art. 6 Abs. 2 des Mandats des Anhörungsbeauftragten. 67 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 107. 68 Art. 10 Abs. 4 des Mandats des Anhörungsbeauftragten. 69 Art. 14 Abs. 7 VO 773/2004 und Art. 12 Abs. 3 des Mandats des Anhörungsbeauftragten. 65
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dem Antrag nach dem Abschluss der Anhörung den übrigen Teilnehmern zur Verfügung gestellt. Nach der mündlichen Anhörung erstellt der Anhörungsbeauftragte seinen Zwischenbericht nach Maßgabe des Art. 14 des Mandats des Anhörungsbeauftragten. Der Zwischenbericht bezieht sich auf alle Verfahrensfragen, die bis zu diesem Zeitpunkt des Verfahrens erhoben wurden, und enthält die Schlussfolgerungen des Anhörungsbeauftragten bezüglich der Frage, inwieweit die Verfahrensrechte der Unternehmen effektiv gewahrt worden sind. Der Zwischenbericht kann ferner Bemerkungen hinsichtlich des weiteren Verlaufs des Verfahrens beinhalten. Der Anhörungsbeauftragte könnte beispielsweise die Einholung weiterer Auskünfte, den Verzicht auf bestimmte Beschwerdepunkte oder die Mitteilung von zusätzlichen Beschwerdepunkten oder weitere Ermittlungsaktionen empfehlen70. 4. Ergänzung der Beschwerdepunkte Ist die Kommission der Auffassung, dass sich neue Erkenntnisse ergeben haben, auf die sie sich zu Last der betroffenen Unternehmen stützen möchte und die neue Beschwerdepunkte begründen könnten oder die die Natur der den betroffenen Unternehmen zur Last gelegten Zuwiderhandlung ändern, muss die Kommission zusätzliche Beschwerdepunkte erheben71. Die zusätzlichen Beschwerdepunkte müssen in einer ergänzenden Mitteilung der Beschwerdepunkte niedergelegt werden und die betroffenen Unternehmen müssen erneut Gelegenheit bekommen, sich zu den zusätzlichen Beschwerdepunkten zu äußern72. Nur unter Erfüllung dieser Voraussetzungen kann sich die Kommission in der das Verfahren abschließenden Entscheidung auf diese zusätzlichen Beschwerdepunkte und Beweismittel berufen. Die Zustellung einer ergänzenden Mitteilung der Beschwerdepunkte bedeutet, dass den Adressaten erneut ein Recht auf Akteneinsicht und auf Anhörung zusteht73. Beschränken sich die neuen Beweismittel lediglich darauf, die in der ursprünglichen Mitteilung enthaltenen Beschwerdepunkte zu untermauern, muss die Kommission keine ergänzenden Beschwerdepunkte erheben, sondern kann an die betroffenen Unternehmen ein einfaches Schreiben, das sogenannte „Tatbestandsschreiben“ schicken74. Auch im Fall des Tatbestandsschreibens werden die Verteidigungsrechte der Unternehmen gewahrt, da die Unternehmen durch das Schreiben dazu aufgerufen werden, sich zu den neuen Beweismitteln innerhalb einer Frist schriftlich zu äußern75. Darüber hinaus bekommen die Adressaten Einsicht 70
Art. 14 des Mandats des Anhörungsbeauftragten. Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 109–110. 72 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 112. 73 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 112. 74 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 111. 75 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 111. 71
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in sämtliche Beweisstücke, die seit der Zustellung der Mitteilung der Beschwerdepunkte bis zur Zustellung des Tatbestandsschreibens von der Kommission gesammelt wurden76.
III. Mögliche Verfahrensabschlüsse 1. Erlass einer (Bußgeld-)Entscheidung Nach der Mitteilung der Beschwerdepunkte, der Gewährung von Akteneinsicht und der mündlichen Anhörung vor dem Anhörungsbeauftragten wird die Kommission den weiteren Fortgang des Verfahrens erwägen. Ist sie der Auffassung, dass ihre Beschwerdepunkte nachgewiesen wurden, wird sie weitere Schritte unternehmen, um eine Entscheidung über die Feststellung einer Zuwiderhandlung zu treffen und Geldbußen zu verhängen. Ist sie dagegen der Ansicht, dass ihre Beschwerdepunkte nicht begründet sind, stellt sie das Verfahren ein. Wenn nur einige der Beschwerdepunkte nicht begründet waren, kann die Kommission die nicht nachgewiesenen Beschwerdepunkte zurückziehen und auf eine Entscheidung über die Feststellung einer Zuwiderhandlung hinarbeiten, die auf die übrigen Beschwerdepunkte gestützt sein wird77. Beabsichtigt die Kommission den Erlass einer Entscheidung über die Feststellung eines Verstoßes und die Verhängung von Geldbußen (Art. 7 i. V. m. Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003), erstellt sie den Entwurf einer Entscheidung. Der Entscheidungsentwurf ist dem Anhörungsbeauftragten vorzulegen, der auf dessen Grundlage seinen Abschlussbericht nach Art. 16 des Mandats des Anhörungsbeauftragten verfasst. Der Abschlussbericht befasst sich mit der Frage, inwieweit die Verfahrensrechte der Parteien in jeder Verfahrensphase effektiv gewahrt worden sind und enthält die Feststellungen des Anhörungsbeauftragten diesbezüglich. Nachdem der Beratende Ausschuss gemäß Art. 16 Abs. 2 des Mandats des Anhörungsbeauftragten konsultiert wurde, wird der Abschlussbericht des Anhörungsbeauftragten zusammen mit dem Entscheidungsentwurf dem Kollegium der Kommissionsmitglieder vorgelegt78. Sobald die Entscheidung vom Kollegium der Kommissionsmitglieder angenommen worden ist, wird sie den Entscheidungsadressaten zusammen mit dem Abschlussbericht des Anhörungsbeauftragten übermittelt79. Gemäß Art. 30 VO 1/2003 müssen alle Entscheidungen, die die Kommission nach Artikel 7 bis 10 und 23 bis 24 VO 1/2003 erlässt, veröffentlicht werden. In Erfüllung dieser Pflicht veröffentlicht die Kommission im Amtsblatt der EU eine 76
Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 112. Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 113–114. 78 Art. 17 Abs. 1 des Mandats des Anhörungsbeauftragten. 79 Art. 17 Abs. 3 des Mandats des Anhörungsbeauftragten. 77
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Zusammenfassung der Entscheidung, den Abschlussbericht des Anhörungsbeauftragten und die Stellungnahme des Beratenden Ausschusses. Kurz nach dem Erlass der Entscheidung veröffentlicht die Kommission auch eine nicht-vertrauliche Fassung der Entscheidung auf ihrer Webseite. In Bezug auf Bußgeldentscheidungen nach Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003 ist auf die besondere Problematik der Haftung eines Mutterunternehmens für Zuwiderhandlungen seiner Tochtergesellschaft(en) einzugehen. Nicht zuletzt, um den Bußgeldrahmen indirekt erhöhen zu können (da im Fall der Haftung der Muttergesellschaft der Konzernumsatz zur Berechnung der Geldbuße herangezogen wird)80, hat die Kommission das Konzept der Haftung einer Muttergesellschaft für Zuwiderhandlungen ihrer Tochtergesellschaft entwickelt. Die Entscheidungspraxis der Kommission wird vom EuGH und vom EuG in ständiger Rechtsprechung bekräftigt. Nach dieser Rechtsprechung kann einer Muttergesellschaft das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft insbesondere dann zugerechnet werden, wenn die Tochtergesellschaft trotz eigener Rechtspersönlichkeit ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmt, sondern wegen der wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen den Weisungen der Muttergesellschaft folgt81. Der Grund für die Zurechnung der von der Tochtergesellschaft begangenen Zuwiderhandlung der Muttergesellschaft besteht darin, dass die beiden eine wirtschaftliche Einheit bilden82. Die Kommission hat in ihrer Entscheidungspraxis die widerlegbare Vermutung entwickelt, die von den Unionsgerichten bestätigt wurde, dass ein Unternehmen tatsächlich bestimmenden Einfluss auf ein anderes Unternehmen ausübt, wenn es einhundert Prozent des Kapitals des Tochterunternehmens hält83. Die hundert prozentige Kontrolle und die Begehung eines Verstoßes durch das kontrollierte Tochterunternehmen sind die einzigen Voraussetzungen für die Begründung der Haftung der Muttergesellschaft. Die Kommission braucht nur nachzuweisen, dass die Muttergesellschaft das gesamte Kapital der Tochtergesellschaft hält, um annehmen zu dürfen, dass die Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik dieses Tochterunternehmens ausübt. Die Kommission kann danach dem Mutterunternehmen als Gesamtschuldner die Haftung für die Zahlung der gegen dessen Tochterunternehmen verhängten Geldbuße zuweisen, sofern das Mutterunternehmen, dem es obliegt, diese Vermutung zu widerlegen, den 80 Vgl. dazu D. Anderson/R. Cuff, Cartels in the European Union: Procedural fairness for defendants and claimants, Fordham International Law Journal 2011, S. 385 (406). 81 EuGH, Urteil v. 29.9.2011, Rs. C-521/09 P, Elf Aquitaine SA/Europäische Kommission, Slg. 2011, I-8947, Rdnr. 54; Urteil v. 29.3.2011, verb. Rs. C-201/09 P und C-216/09 P, ArcelorMittal Luxembourg SA/Europäische Kommission, Slg. 2011, I-2239, Rdnr. 96; Urteil v. 10.9.2009, Rs. C-97/08 P, Akzo Nobel NV u. a./Kommission, Slg. 2009, I-8237, Rdnr. 58. 82 EuGH, Urteil v. 29.9.2011, Rs. C-521/09 P, Elf Aquitaine SA/Europäische Kommission, Slg. 2011, I-8947, Rdnr. 54; Urteil v. 10.9.2009, Rs. C-97/08 P, Akzo Nobel NV u. a./Kommission, Slg. 2009, I-8237, Rdnr. 59. 83 Siehe EuGH, Urteil v. 29.3.2011, verb. Rs. C-201/09 P und C-216/09 P, ArcelorMittal Luxembourg SA/Europäische Kommission, Slg. 2011, I-2239, Rdnr. 97; Urteil v. 10.9.2009, Rs. C-97/08 P, Akzo Nobel NV u. a./Kommission, Slg. 2009, I-8237, Rdnr. 60.
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Nachweis dafür nicht erbringt, dass sein Tochterunternehmen auf dem Markt eigenständig auftritt84. Die Vermutung des bestimmenden Einflusses der Muttergesellschaft auf das Marktverhalten der Tochtergesellschaft ist nur schwer widerlegbar85, da die Unternehmen einen negativen Beweis führen müssen. Deswegen ist es bislang soweit ersichtlich nur einmal Unternehmen gelungen, sie zu widerlegen86. 2. Angebot von Verpflichtungszusagen durch die betroffenen Unternehmen Beabsichtigt die Kommission, eine Entscheidung zur Abstellung einer wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlung zu erlassen (d. h. eine Verbotsentscheidung), können die am Verfahren beteiligten Unternehmen gemäß Art. 9 Abs. 1 VO 1/2003 anbieten, Verpflichtungen einzugehen, die geeignet sind, die ihnen von der Kommission mitgeteilten wettbewerbsrechtlichen Bedenken auszuräumen. Die Kommission kann nach eigenem Ermessen entscheiden, ob sie die Verpflichtungszusagen akzeptiert und sie durch eine Entscheidung als bindend erklärt. Das Verpflichtungszusagenverfahren ist kein besonderes Kartellverfahren, sondern ein Kartellverfahren, das nicht mit einer Verbotsentscheidung abgeschlossen wird87. Die beiden Verfahrensgänge unterscheiden sich hauptsächlich darin, dass nach Art. 7 VO 1/2003 im Verbotsbeschluss eine Zuwiderhandlung festgestellt wird, während in einer Entscheidung nach Art. 9 VO 1/2003 die Verpflichtungszusagen für verbindlich erklärt werden, ohne dass eine Aussage darüber getroffen wird, ob es einen Verstoß gegeben hat oder nicht88. Ferner werden die Verpflichtungszusagen von den am Verfahren beteiligten Unternehmen freiwillig angeboten, während Abhilfemaßnahmen in einer Entscheidung nach Art. 7 VO 1/2003 von der Kommission auferlegt werden (ohne dass die Auferlegung von Abhilfemaßnahmen die Verhängung einer Geldbuße ausschließt). In einer Entscheidung nach Art. 9 VO 1/2003 kommt dagegen die Verhängung einer Geldbuße nicht in Frage, da es keine Feststellung über eine Zuwiderhandlung gibt. Schließlich ha 84 EuGH, Urteil v. 10.9.2009, Rs. C-97/08 P, Akzo Nobel NV u. a./Kommission, Slg. 2009, I-8237, Rdnr. 61. 85 Davon geht offensichtlich auch der EuGH aus, der in seinem Urteil in der Rs. „Elf Aquitaine“ festgestellt hat, dass „sich eine Vermutung – selbst wenn sie schwer zu widerlegen ist – innerhalb akzeptabler Grenzen hält, wenn sie im Hinblick auf das verfolgte legitime Ziel angemessen ist, wenn die Möglichkeit besteht, den Beweis des Gegenteils zu erbringen, und die Verteidigungsrechte gewahrt sind“. EuGH, Urteil v. 29.9.2011, Rs. C-52/09 P, Elf Aquitaine SA/Europäische Kommission, Slg. 2011, I-8947, Rdnr. 62. 86 Siehe Entscheidung der Kommission v. 20.10.2004 im Fall COMP/C.38.238, Rohtabak Spanien, Rdnr. 376, abrufbar unter ec.europa.eu/competition/antitrust/cases/dec_docs/38 238/38238_248_1.pdf. 87 So de Bronett, Art. 9, Rdnr. 4. 88 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 117.
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ben die betroffenen Unternehmen auch in einem solchen Verfahren ein Recht auf Einsicht in die Akte, da die Verpflichtungszusageentscheidung nachteilige Auswirkungen auf sie hat89. Verfahren über die Verfolgung und Sanktionierung von schwerwiegenden Wettbewerbsverstößen (Hardcore-Kartellen) können aber nicht mit einer Verpflichtungszusagenentscheidung abgeschlossen werden. Die Kommission wendet Art. 9 VO 1/2003 grundsätzlich nicht auf Wettbewerbsverstöße an, auf die auch die Kronzeugenmitteilung anwendbar ist90. In allen anderen Fällen von Verstößen gegen Art. 101 Abs. 1 oder 102 AEUV können sich die am Verfahren beteiligten Unternehmen jederzeit an die Kommission wenden und ihre Bereitschaft erklären, Verpflichtungen zur Ausräumung von wettbewerblichen Bedenken einzugehen. Grundsätzlich werden aber Verpflichtungszusagen am ehesten akzeptiert, wenn sie vor der Mitteilung der Beschwerdepunkte unterbreitet werden91. Ist die Kommission von der tatsächlichen Bereitschaft eines Unternehmens überzeugt, Verpflichtungszusagen anzubieten, die zur Ausräumung der wettbewerblichen Bedenken geeignet sind, erstellt sie die sogenannte vorläufige Beurteilung des Falles. Die vorläufige Beurteilung enthält eine Zusammenfassung des Sachverhalts und eine Erläuterung der wettbewerblichen Bedenken, die zu einer Abhilfeentscheidung nach Art. 7 VO 1/2003 führen würden92. Wurde den beteiligten Unternehmen bereits eine Mitteilung der Beschwerdepunkte zugestellt, wird ihnen keine vorläufige Beurteilung übermittelt, weil die Mitteilung der Beschwerdepunkte die Rolle der vorläufigen Beurteilung übernimmt93. Nach der Zustellung der vorläufigen Beurteilung haben die Parteien eine Frist von einem Monat, um Verpflichtungen verhaltensorientierter oder struktureller Natur zu unterbreiten, die geeignet sind, die wettbewerblichen Bedenken der Kommission auszuräumen. Ferner müssen die Verpflichtungen unzweideutig und unmittelbar vollzugsfähig sein94. Die von den Unternehmen unterbreiteten Verpflichtungszusagen müssen gemäß Art. 27 Abs. 4 VO 1/2003 einem Markttest unterzogen werden. Erachtet die Kommission die angebotenen Verpflichtungszusagen als prima facie geeignete Lösungen für die von ihr festgestellten Wettbewerbsprobleme, veröffentlicht sie die Hauptpunkte der Verpflichtungszusagen zusammen mit einer Zusammenfassung des Falles im Amtsblatt der EU und den vollständigen Wortlaut der Verpflichtungszusagen auf ihrer Webseite und fordert Dritte, die ein berechtigtes Interesse
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Wils, WorldCompet 2006, 345 (355). Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 116. 91 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 123. 92 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 121. 93 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 123. 94 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 128. 90
B. Die Struktur des EU-Kartellverfahrens
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haben (in der Regel Wettbewerber, Kunden), dazu auf, innerhalb eines Monats zu den Verpflichtungszusagen Stellung zu nehmen95. Die Kommission teilt den beteiligten Unternehmen das Ergebnis der Marktprüfung mit. Stimmt das Ergebnis der Marktprüfung mit der prima facie Einschätzung der Kommission über die Angemessenheit der Verpflichtungszusagen, die wettbewerblichen Bedenken auszuräumen, werden die Verpflichtungszusagen durch Entscheidung der Kommission als verbindlich erklärt. Erst die Zustellung der Kommissionsentscheidung über die Verpflichtungszusagen macht sie für ihre Adressaten bindend96. Führt das Ergebnis der Marktprüfung die Kommission zur Feststellung, dass die Zusagen die wettbewerblichen Bedenken nicht vollständig ausräumen oder das ihr Wortlaut modifiziert werden muss, um wirksam zu sein, fordert sie die beteiligten Unternehmen zur Vornahme der erforderlichen Änderungen. Kommen die Unternehmen dieser Aufforderung nach, werden die modifizierten Zusagen einer erneuten Marktprüfung unterzogen. Sind die Unternehmen dagegen nicht bereit, die unterbreiteten Verpflichtungszusagen zu ändern, kann die Kommission eine Verbotsentscheidung nach Art. 7 VO 1/2003 erlassen97. Im Allgemeinen steht es sowohl der Kommission als auch den am Verfahren beteiligten Unternehmen frei, jederzeit aus dem Verpflichtungszusagenverfahren auszusteigen98. Die Befugnis der Kommission eine Entscheidung nach Art. 7 VO 1/2003 zu erlassen, wird dadurch nicht beeinträchtigt. 3. Einstellung des Verfahrens Unabhängig davon, ob die Kommission auf Grundlage einer Beschwerde oder von Amts wegen einen Fall verfolgt, hat sie die Möglichkeit das Verfahren einzustellen, wenn es sich nach einer Prüfung des Falles und nach eventuell vorgenommenen Ermittlungshandlungen ergibt, dass es keine hinreichenden Anhaltspunkte zur Annahme einer Zuwiderhandlung gibt. Der Ermessensspielraum der Kommission, der bezüglich der Verfolgung jeder Beschwerde besteht99, hängt nicht vom Grad des Fortschritts der Untersuchung ab100. Daraus folgt, dass die Kommission in der Regel jederzeit die Einstellung des Verfahrens entscheiden kann, wenn sie die Weiterverfolgung einer Beschwerde oder eines Falles als nicht angebracht betrachtet. 95
Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 129–130. de Bronett, Art. 9, Rdnr. 19. 97 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 133. 98 Argument aus Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 125. 99 Bekanntmachung der Kommission über die Behandlung von Beschwerden durch die Kommission gemäß Artikel 81 und 82 EG-Vertrag, ABl. EU v. 27.4.2004, C 101/65 (im Folgenden: „Beschwerdebekanntmachung“), Rdnr. 27. 100 Beschwerdebekanntmachung, Rdnr. 44. 96
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§ 1 EU-Kartellverfahren und die Ermittlungsbefugnisse der Kommission § 1EU-Kartellverfahren und die Ermittlungsbefugnisse der Kommission
Gehen die Ermittlungsaktionen auf eine Beschwerde zurück und ist die Kommission der Ansicht, dass es keine ausreichenden Gründe für die Weiterverfolgung der Beschwerde gibt, muss sie dem Beschwerdeführer ihre begründete Ansicht mitteilen und ihm eine Frist zur Stellungnahme setzen101. Äußert sich der Beschwerdeführer innerhalb der gesetzten Frist nicht, gilt die Beschwerde als zurückgezogen. Wenn er aber seine Stellungnahme abgibt, kann die Kommission die Beschwerde nur mit einer begründeten Entscheidung nach Art. 7 VO 773/2004 zurückweisen102. Das Erfordernis einer deutlichen Begründung dient dazu, es dem Beschwerdeführer zu ermöglichen, die Argumentation der Kommission nachzuvollziehen und den Unionsgerichten die rechtliche Kontrolle der Entscheidung zu erleichtern103.
101
Beschwerdebekanntmachung, Rdnr. 56. Beschwerdebekanntmachung, Rdnr. 57. 103 Beschwerdebekanntmachung, Rdnr. 75. 102
§ 2 Grundrechte und Grundrechtsquellen in der EU A. Ausarbeitung von Grundrechten als allgemeine Rechtsgrundsätze in der EuGH-Rechtsprechung Der Grundrechtsschutz auf EU-Ebene kann auf eine lange und interessante Geschichte zurückblicken. Die ursprünglichen „römischen“ Verträge, die am 25.3.1957 in Rom unterzeichnet wurden und mit denen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft („EWG“) und die Europäische Atomgemeinschaft („EURATOM“) gegründet wurden, enthielten so gut wie keine Vorschriften über Grundrechte im klassischen Sinne1. Das gilt auch für den im Jahr 1951 unterzeichneten Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl („EGKS“). Die einzig frühen Ansätze eines Grundrechtsschutzes in der EWG waren die in Art. 48 bis 58 EWG-Vertrag verankerte Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Dienstleistungsfreiheit, sowie das in Art. 8 EWG niedergelegte Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Nationalität und das Gebot des gleichen Entgeltes für Männer und Frauen in Art. 119 EWG. Diese Vorschriften waren aber mehr ein Korrelat der damaligen Kompetenzen der EWG, das der Verwirklichung der EWG-Ziele dienen sollte, als ein Ausdruck des Wunsches der Gründungsstaaten, durch die Verträge Grundrechtsschutz zu gewährleisten2. Die fehlende Rechtsgrundlage in den römischen Verträgen hat jedoch die Entwicklung eines prätorischen Grundrechtsschutzes auf EWG/EU-Ebene nicht gehindert. Nach einem ursprünglichen Widerstreben, eine europarechtliche Dimension der Grundrechte anzunehmen3, wie dies in seinem Urteil in der Rs. Stork zum Ausdruck kam4, bezog sich der EuGH zum allerersten Mal in seinem Urteil in der Rs. Stauder auf die Grundrechte5. Da stellte der EuGH klar, dass die ihm vorgelegte, streitige nationale Regelung nichts enthalte, „was die in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der
1
Siehe auch Benoît-Rohmer, RTDeur 2005, 261 (266, Fn. 7). So Benoît-Rohmer, RTDeur 2005, 261 (266, Fn. 7). 3 Chiti, S. 102. 4 EuGH, Urteil v. 4.2.1959, Rs. 1–58, Friedrich Stork & Co. Kohlengrosshandlung/Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Slg. 1959 (deutsche Ausgabe), 45 (63); Chiti, S. 102. 5 EuGH, Urteil v. 12.11.1969, Rs. 29–69, Erich Stauder/Stadt-Ulm, Slg. 1969, 419. 2
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§ 2 Grundrechte und Grundrechtsquellen in der EU § 2Grundrechte und Grundrechtsquellen in der EU
Gerichtshof zu sichern hat, enthaltenen Grundrechte der Person zu sichern hätte“6. In seinem Urteil in der Rs. Internationale Handelsgesellschaft aus dem Jahre 1970 hat sich der EuGH zum ersten Mal auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als Erkenntnisquelle für die Grundrechte der EWG/ EU berufen. Der EuGH stellte fest, dass die Gewährleistung der Grundrechte auf EWG-Ebene ihr Fundament in den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten findet, dass sie sich aber auch in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen muss7. Die nächste Etappe in der Entwicklung des Grundrechtsschutzes durch den EuGH stellte das in 1974 ergangene Urteil in der Rs. Nold dar. Der EuGH stellte klar, dass zu den Erkenntnisquellen der Gemeinschaftsgrundrechte neben den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auch die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte gehören, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder deren sie beigetreten sind8. Ausdrücklich auf die EMRK als Rechtserkenntnisquelle für seine Grundrechtsjudikatur hat sich der EuGH ein Jahr später, in 1975, in seinem Urteil in der Rs. Rutili bezogen9. Das liegt daran, dass Frankreich, das am Verfahren in der Rs. Rutili beteiligt war, die EMRK erst 1974 ratifiziert hat. Erst nach dieser Ratifizierung waren alle dama ligen EWG-Mitglieder auch Konventionsparteien. Die Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte durch den EuGH war gleichzeitig eine Reaktion auf den Druck von nationalen Verfassungsgerichten (vor allem des deutschen Bundesverfassungsgerichts)10 und eine wichtige Voraussetzung für die Durchsetzung der durch den EuGH entwickelten Dogmatik des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts11. Ohne die Gewährleistung eines zumindest ebenbürtigen Grundrechtsschutzes auf der Gemeinschaftsebene hätte die Vorrangtheorie nur geringe Chancen, bei nationalen Gerichten auf Akzeptanz zu stoßen. Diese Vorrangslegitimierungsfunktion der Gemeinschaftsgrundrechte kam später in den beiden „Solange“-Urteilen des deutschen Bundesverfassungsgerichts zum Vorschein, in denen das deutsche oberste Gericht zuerst auf den damaligen mangelhaften Schutz der Grundrechte auf EU-Ebene im Vergleich zum deutschen Rechtsstandard hinwies (Solange I)12 und später klarstellte, dass es den Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem deutschen Grundgesetz nur akzeptiere, solange ein dem durch das deutsche Grundgesetz gewährleisteten Grundrechtsschutz auf 6
EuGH, Urteil v. 12.11.1969, Rs. 29–69, Erich Stauder/Stadt-Ulm, Slg. 1969, 419, Rdnr. 7. EuGH, Urteil v. 17.12.1970, Rs. 11–70, Internationale Handelsgesellschaft/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Slg. 1970, 1125, Rdnr. 4. 8 EuGH, Urteil v. 14.5.1974, Rs. 4–73, J. Nold, Kohlen- und Baustoffgroßhandlung/Kommission, Slg. 1974, 491, Rdnr. 13. 9 EuGH, Urteil v. 28.10.1975, Rs. 36–75, R. Rutili/Ministre de l’intérieur, Slg. 1975, 1219, Rdnr. 32. 10 Vgl. Hilson, ELRev 2004, 636 (637); siehe auch Pernice, NJW 1990, 2409 (2412 f.). 11 Siehe Jacqué, RTDeur 2008, 439 (444); G. Harpaz, CMLRev 2009, 105 (107). 12 BVerfG, Beschluss v. 29.5.1974, 2 BvL 52/71 (Solange I), BVerfGE 37, 271 ff, Rdnr. 50 ff. 7
A. Ausarbeitung von Grundrechten in der EuGH-Rechtsprechung
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EU-Ebene garantiert wird (Solange II)13. Somit stellten die in der Rechtsprechung entwickelten EU-Grundrechte die „rechtstaatlich gebotene Fundierung des Integrationsprozesses“ dar14. Bei der Herausarbeitung der EU-Grundrechte zog der EuGH unterschiedliche Quellen, wie zum Beispiel die Verfassungen der Mitgliedstaaten und die Europäische Menschenrechtskonvention heran. Dabei benutzte der EuGH die Methode der wertenden Rechtsvergleichung. Die dadurch gewonnenen Gemeinschaftsgrundrechte entsprechen nicht dem kleinsten gemeinsamen Nenner des Schutzniveaus eines Grundrechts in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, sondern sind das Ergebnis einer Rechtsvergleichung, die den Zweck hat, zwischen mehreren nationalen Regelungen und Schutzniveaus diejenigen zu finden, die den Erfordernissen und dem Effet-utile des Gemeinschaftsrechts entsprechen. Für die Erhebung eines Rechts zum Rang eines Gemeinschaftsgrundrechts durch die Rechtsprechung des EuGH war es keine Voraussetzung, dass dieses Recht in allen oder in der Mehrheit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen garantiert wird. Dank der autonomen Entwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtekatalogs ist es möglich gewesen, auch solche Rechte als Grundrechte anzuerkennen, die zum Zeitpunkt ihrer richterrechtlichen Ausprägung durch den EuGH nur von einigen nationalen Rechtsordnungen gewährleistet waren, wie zum Beispiel der Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandanten15. Die Anwendung der Methode der wertenden Rechtsvergleichung erlaubte dem EuGH, den beiden wichtigen Anliegen seiner Grundrechtsrechtsprechung Rechnung zu tragen: der Wahrung der Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung einerseits und der Notwendigkeit, die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen. Seine Grundrechtsrechtsprechung ist Ausdruck dieses Versuchs, dem verfassungsrechtlichen „Acquis“ der Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen, ohne dabei die Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung zu opfern16. Die Gemeinschafts- und nunmehr EU-Grundrechte entwickelten sich im Rahmen der Rechtsprechung des EuGH als allgemeine Rechtsgrundsätze („general principles“, „principes généraux“) des Gemeinschaftsrechts. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze stellen einen Oberbegriff dar, unter den mehrere Rechtsinstitutionen fallen, wie z. B. die Grundrechte, die Verteidigungsrechte und allgemeine Rechtprinzipien, wie z. B. der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die zuerst in der EU-Rechtsprechung anerkannten Grundrechte setzten dem Handeln der Europäischen Gemeinschaft Schranken. Dennoch waren sie während der Anfangsjahre der Entwicklung dieser Rechtsprechung, nicht die bedeutendsten Garantien
13
BVerfG, Beschluss v. 22.10.1986, 2 BvR 197/83 (Solange II), BVerfGE 73, 339, Rdnr. 104 ff. So zutreffend von Papp, EWS 2009, 216 (216). 15 Siehe § 6 „Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht“, S. 210 ff. 16 Azoulai, RTDeur 2008, 29 (32). 14
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§ 2 Grundrechte und Grundrechtsquellen in der EU § 2Grundrechte und Grundrechtsquellen in der EU
für natürliche und juristische Personen im EU-Recht17. Diese Rolle blieb den vier Grundfreiheiten des EG-Vertrags vorbehalten. Die Grundrechte und ihr Schutz spielten keine so große Rolle wie in einzelnen Mitgliedstaaten (zum Beispiel in Deutschland). Allerdings lässt sich im Laufe der Jahre eine Trendwende in Bezug auf die Wahrnehmung und Rolle der Grundrechte erkennen. Die Grundrechte rücken näher ins Zentrum der Rechtsprechung der Unionsgerichte, die gleichzeitig grundrechtsempfindlicher werden18. Als Beispiele dieser Trendwende lassen sich die Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen „Omega“19 und „Schmidberger“20 aufführen, in denen die Grundrechte als Schranken der EU-Grundfreiheiten vom EuGH herangezogen wurden. Die reiche und fortschrittliche21 Grundrechtsrechtsprechung des EuGH fand später Eingang in die Vertragstexte der EWG/EU. Durch den Vertrag von Maastricht in 1992, der zur Gründung der Europäischen Union führte, trat der Vertrag über die Europäische Union („EUV“) in Kraft. Art. F Abs. 2 EUV (später umnummeriert in Art. 6 Abs. 2 EUV, nunmehr Art. 6 Abs. 3 AEUV) kodifizierte die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH, indem er die Europäische Union dazu verpflichtete, die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben, zu achten.
B. Die Erarbeitung der Europäischen Grundrechtecharta Eine wichtige Etappe der Entwicklung des Grundrechtsschutzes auf EU-Ebene stellte die Erarbeitung und Proklamierung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dar. Mit der Ausarbeitung der Charta wurde nach dem Beschluss des Europäischen Rats vom 3./4.6.1999 in Köln ein Gremium (später als „Konvent“ bezeichnet) betraut, das aus 15 persönlichen Beauftragten der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, aus 16 Abgeordneten des Europäischen Parlaments, aus einem Vertreter des Präsidenten der Kommission und 30 Mitgliedern der nationalen Parlamente bestand. Die Idee eines Grundrechtekatalogs für die Europäische Union sollte vorrangig angesichts der erweiterten Kompetenzen der EU dem EU-Bürger mehr Rechtssicherheit bieten und die Qualität des Grund 17
Bogdandy/Bernstorff, CMLRev 2009, 1035 (1036). Bogdandy/Bernstorff, CMLRev 2009, 1035 (1039). 19 EuGH, Urteil v. 14.10.2004, Rs. C-36/02, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH/Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Slg. 2004, I-9609. 20 EuGH, Urteil v. 12.6.2003, Rs. C-112/00, Eugen Schmidberger, Internationale Transporte und Planzüge/Republik Österreich, Slg. 2003, I-5659. 21 So ausdrücklich Mattera, Rev. dr. UE 2012, 121 (123). 18
B. Die Erarbeitung der Europäischen Grundrechtecharta
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rechtsschutzes auf EU-Ebene fördern, indem man eine positive Verankerung der von der EU garantierten Grundrechte schaffte. Die Erarbeitung eines Grundrechtekatalogs für die Europäische Union sollte die in der Rechtsprechung des EuGH entwickelten Grundrechte systematisieren und für den EU-Bürger durch mehr Klarheit einen besseren Überblick des von der EU gewährten Grundrechtsschutzes bieten. Darüber hinaus ist die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ein klares Indiz der Konstitutionalisierung der EU und ihrer Entwicklung zu einem künftigen paneuropäischen Staat22. Ferner stellt die Grundrechtecharta „das Kondensat eines rechtsvergleichenden Status quo“ dar, da durch die Konventszusammensetzung die grundrechtlichen Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten Eingang in die Charta gefunden haben23. Die Grundrechtecharta sollte aber vor allem deutlich zeigen, dass die Europäische Union auf den Grundrechten beruht und dass die EU die Wahrung der Grundrechte garantiert. Der Konvent legte das Ergebnis seiner Arbeit, die „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ am 2.10.2000 vor. Am 11.10.2000 präsentierte das Konventspräsidium die „Erläuterungen“ zur Charta der Grundrechte. Die Grundrechtecharta der Europäischen Union wurde schließlich am 7.12.2000 vom Europäischen Parlament, vom Rat der Europäischen Union und von der Kommission in Nizza feierlich proklamiert24. Bei der ursprünglichen Konzeption des gescheiterten25 Europäischen Verfassungsvertrags war geplant, dass die Grundrechtecharta den zweiten Teil des Verfassungsvertrags bilden sollte. Der Verfassungskonvent (das Gremium, das mit der Erarbeitung des Verfassungsvertrags betraut war) überarbeitete die am 7.12.2000 proklamierte Grundrechtecharta. Die Grundrechtecharta in der Fassung des Verfassungsvertrags entsprach weitgehend der Fassung von Nizza. Zusätzlich zu sprachlichen Korrekturen nahm der Verfassungskonvent kleinere Ergänzungen in der Charta vor26 und aktualisierte die Erläuterungen zur Grundrechtecharta. Die überarbeitete Grundrechtecharta wurde zusammen mit dem Entwurf des Europäischen Verfassungsvertrags am 29.10.2004 in Rom unterzeichnet. Obwohl der Ratifizierungsprozess auch nach den ablehnenden Referenden in Frankreich und den Niederlanden fortgesetzt wurde, so dass bis Mitte 2007 be 22
Vgl. Bross, JZ 2008, 227 (232). So ausdrücklich Kühling, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 666–667. 24 ABl. EU v. 30.3.2010, C 83/389. 25 Nach den ablehnenden Referenden in Frankreich am 29.5.2005 und in den Niederlanden am 1.6.2005. 26 Insbesondere wurde Art. 52 ein siebter Absatz hinzugefügt, der vorsieht, dass die Erläuterungen, die als Anleitung für die Auslegung der Charta verfasst wurden, von den EU- und von den nationalen Gerichten gebührend zu berücksichtigen sind. Ferner wurde die Formulierung in Art. 51 Abs. 1 bezüglich des Adressatenkreises verbessert. 23
60
§ 2 Grundrechte und Grundrechtsquellen in der EU § 2Grundrechte und Grundrechtsquellen in der EU
reits 17 von insgesamt 27 Mitgliedstaaten den Verfassungsvertrag ratifiziert hatten27, beschloss der Europäische Rat, dass eine „Reflexionsphase“ bezüglich des Schicksals des Verfassungsvertrags notwendig war28. Nachdem aufgrund der Reaktionen in verschiedenen Mitgliedstaaten klar geworden war, dass das Modell des Verfassungsvertrags wenig zukunftsträchtig war, ging man in eine Verhandlungsphase über. Die Verhandlungen erbrachten ein Ergebnis auf der Tagung des Europäischen Rates in Brüssel vom 21./22.6.2007, der das Mandat für eine Regierungskonferenz erteilte, die den Vertrag über die Europäische Union und den Vertrag über die Europäische Gemeinschaft durch einen „Reformvertrag“ ändern würde. Die Arbeiten der Regierungskonferenz mündeten in die abschließende Verhandlung des Reformvertrags am 18. und 19. Oktober 2007 in Lissabon29. Nach einigen Zugeständnissen und kleineren Änderungen des Vertragsentwurfs30 wurde der Vertrag von Lissabon am 13.12.2007 von den Staats- und Regierungschefs in Lissabon unterzeichnet. Einen Tag zuvor wurde die Grundrechtecharta (in der Fassung des Verfassungsvertrags) in Straßburg von den Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission feierlich proklamiert31. Der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta wird durch Art. 51 GRCH festgelegt. Gemäß dieser Vorschrift findet die Charta jedes Mal Anwendung, wenn Unionsrecht durchgeführt wird. Unter Durchführung sind sowohl Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Umsetzung von materiellem EU-Recht als auch Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die mit Verbotsnormen des EU-Rechts nicht vereinbar sind und für deren Rechtfertigung auf Ausnahmetatbestände des EU-Rechts zurückgegriffen werden muss, zu verstehen32. Ferner ergibt sich nicht zuletzt aus Art. 51 GRCH, dass die Charta sowohl Rechte, die geachtet werden müssen, als auch Grundsätze, an die sich gehalten werden muss, garantiert. Eine Definition der Begriffe „Recht“ und „Grundsatz“ ist in der Grundrechtecharta nicht zu finden. Darüber hinaus lässt sich nicht immer aus dem Wortlaut der GRCH-Vorschriften ableiten, ob es sich um ein Recht oder einen Grundsatz handelt. Im Allgemeinen unterscheiden sich Rechte von Grundsätzen im Charta-Kontext dadurch, dass Rechte präziser und vorbehaltsfreier formuliert sind, während Grundsätze vager formuliert sind, einen breiteren Auslegungsspielraum haben und durch Rechtsakt
27
Siehe Streinz, ZG 2008, 105 (108). Siehe diesbezüglich die Erklärung des damaligen Präsidenten des Europäischen Rates Jean-Claude Juncker v. 17.6.2005 im Anschluss an die Tagung des Europäischen Rates in Brüssel am 16./17. Juni 2005, abrufbar unter http://www.eu2005.lu/en/actualites/communiques/ 2005/06/16jclj-ratif/index.html. 29 Vgl. Fischer, S. 85. Für eine detaillierte Darstellung des Wegs zum Vertrag von Lissabon und der wichtigsten Neuerungen, die er mit sich gebracht hat, siehe Weber, EuZW 2008, 7 ff. 30 Siehe für Details diesbezüglich Streinz, ZG 2008, 105 (109). 31 Siehe Fischer, S. 86. 32 So de Mol/Pahladsingh/van Heijningen, SEW 2012, 222 (235). 28
C. Die EU-Grundrechtsarchitektur nach dem Vertrag von Lissabon
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des EU-Gesetzgebers präzisiert werden müssen, damit EU-Bürger daraus subjektive, einklagbare Rechte ableiten können. Rechte und Grundsätze sind aber gleichwohl bindend für die Charta-Adressaten33.
C. Die EU-Grundrechtsarchitektur nach dem Vertrag von Lissabon I. Verrechtlichung der Europäischen Grundrechtecharta Der Vertrag von Lissabon ist am 1.12.2009 in Kraft getreten. Im Gegensatz zum mit dem gescheiterten Verfassungsvertrag verfolgten Konzept ersetzte der Vertrag von Lissabon nicht den Vertrag über die Europäische Union und den Vertrag über die Europäische Gemeinschaft, sondern modifizierte sie. Die Änderungen beschränkten sich nicht nur auf den Namen des Vertrags über die Europäische Gemeinschaft, der in „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ („AEUV“) umbenannt wurde. Durch den Vertrag von Lissabon mutierte der Vertrag über die Europäische Union („EUV“) zu einer Art „allgemeinem Teil“ des EU-Rechts. Nach herrschender Literaturmeinung kann der Lissabonvertrag als ein „getarnter Verfassungsvertrag“ bezeichnet werden.34 Obwohl der Lissabonvertrag keinen einheitlichen Vertrag vorsieht und die Struktur der beiden Verträge aufrechterhält und obwohl er auf den Begriff „Verfassung“ und alle Elemente verzichtet, die auf eine Staatswerdung der Europäischen Union hindeuten könnten, wie z. B. Flagge und Hymne der Union, führt er die mit dem Verfassungsvertrag angestrebten materiell rechtlichen Änderungen „durch die Hintertür“ ins EU-Primärrecht hinein. Von besonderem Interesse für die Zwecke dieser Arbeit sind die Änderungen, die der Vertrag von Lissabon in Bezug auf die Grundrechtsschutzarchitektur in der Europäischen Union mit sich gebracht hat. Durch den Vertrag von Lissabon ist die Grundrechtecharta rechtsverbindlich und gleichrangig mit den beiden Verträgen (EUV und AEUV) geworden. Art. 6 Abs. 1 EUV sieht nunmehr vor, dass die EU die Rechte, Freiheiten und Grundsätze anerkennt, wie sie in der Grundrechtecharta in der Fassung vom 12.12.2007 niedergelegt sind, und, dass die Grundrechtecharta und die Verträge rechtlich gleichrangig sind. Dadurch wird die Charta vom Status einer mittelbar rechtlichen Bedeutung35, den sie bis zum Inkrafttreten des Lissabonvertrags hatte, zum primärrechtlichen Status erhoben.
33
de Mol/Pahladsingh/van Heijningen, SEW 2012, 222 (232). Vgl. Streinz, ZG 2008, 105 (109). 35 So ausdrücklich Iliopoulos-Strangas, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), S. 785 f. 34
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§ 2 Grundrechte und Grundrechtsquellen in der EU § 2Grundrechte und Grundrechtsquellen in der EU
II. Beitritt der EU zur EMRK nunmehr Pflicht Art. 6 Abs. 2 EUV in der Fassung des Vertrags von Lissabon sieht nunmehr ausdrücklich den Beitritt der Europäischen Union zur EMRK vor, während Abs. 3 den Inhalt von Absatz 2 in der Fassung des Vertrags von Nizza wiedergibt und vorsieht, dass die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind36. Der Beitritt ist nunmehr als Pflicht der EU vorgesehen. Die Modalitäten für den in Art. 6 Abs. 2 EUV vorgesehenen Beitritt der EU zur EMRK sind weit fortgeschritten, da ein von einer inoffiziellen Arbeitsgruppe bearbeiteter Entwurf des Beitrittsvertrags im Mai 2011 dem Europarat und der EU vorgestellt wurde37.Bis zum Beitritt der EU zur EMRK bleibt letztere allerdings grundsätzlich eine Erkenntnisquelle für die im Unionsrecht geltenden allgemeinen Rechtsgrundsätze38. Die in der Art. 6 Abs. 2 EUV enthaltene Erläuterung, dass der Beitritt nichts an den in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der EU ändert, sollte so verstanden werden, dass der Beitritt zur EMRK keine Zuständigkeitserweiterung für die EU bedeuten darf. Es ist aber unumgänglich, dass der Beitritt zu einer allgemeinen Anpassung oder sogar zu einer Änderung der Prüfzuständigkeiten des EuGH und des EGMR führt, da die EU einem etablierten Konventionsregime mit einem hochentwickelten Grundrechtsschutzmechanismus beitritt39. Der EGMR wird somit die letzte Instanz für Fälle von geltend gemachten Verstößen gegen die EU-Grundrechte sein, die sich aus EU-Rechtsakten ergeben40. Das bedeutet aber nicht, dass der EGMR für den Ausspruch der Nichtigkeit eines EU-Rechtsaktes zuständig sein wird. Der EGMR kann nur die Unvereinbarkeit des Inhalts eines auf Grundlage des primären oder sekundären EU-Rechts erlassenen Rechtsaktes mit den Grundrechtsverbürgungen der EMRK feststellen. Die Nichtigkeit des Rechtsaktes kann weiterhin nur vom EuGH ausgesprochen werden41. Die künftige Zuständigkeit des EGMR rationae personae und rationae materiae für Verstöße der EU-Institutionen gegen von der EMRK gewährleistete Grundrechte eröffnet einen neuen Rechtsweg für Unternehmen, die Betroffene im Kartellverfahren der Europäischen Kommission sind, mit dem sie ihre Grundrechte einklagbar machen können. Zugleich wächst durch den künftigen Beitritt der Druck auf den EuGH, die bestehenden Diskrepanzen im Grundrechtsschutz zwischen der Rechtsprechung der Unionsgerichte und der EGMR-Rechtsprechung zu eliminieren, da die möglichen 36 Die Absätze 2 und 3 von Art. 6 des Vertrags von Lissabon übernehmen bis auf eine kleine redaktionelle Anpassung den Wortlaut des Verfassungsvertrags (Art. I-9 Abs. 2 und 3). So Fischer, S. 115. 37 Siehe Lock, CMLRev 2011, 1025 (1026). 38 So Mader, S. 136; Kehl, S. 56. 39 Vgl. Lock, CMLRev 2011, 1025 (1033). 40 So auch Lock, CMLRev 2011, 1025 (1045). 41 So Lock, CMLRev 2011, 1025 (1037).
D. Rechtsgrundsätze, Grundrechte, Menschenrechte und Verteidigungsrechte
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Kollisionen zwischen der Durchsetzung des EU-Rechts (auch im Bereich des Wettbewerbsrechts) und des vom EGMR gebotenen Grundrechtsschutzes nicht mehr eine bloße völkerrechtliche Angelegenheit der Mitgliedstaaten, sondern eine konstitutionelle Angelegenheit der EU sein wird42. Die Bindung des EuGH an die Grundrechtsrechtsprechung des EGMR und die daraus hervorgehende Pflicht zur Behebung von etwaigen Diskrepanzen ergeben sich also nicht nur aus Art. 52 Abs. 3 GRCH, sondern auch aus der Tatsache, dass durch den Beitritt der EU zur EMRK die EU-Institutionen sich vor dem Straßburger Gericht für jeden Verstoß gegen die EMRK-Grundrechte verantworten müssen. In diesem Zusammenhang sollte noch erwähnt werden, dass die Verrechtlichung der Grundrechtecharta durch den Vertrag von Lissabon der EMRK mittelbar einen primärrechtlichen Status verleiht. Das gilt zumindest für die in der EMRK verankerten Grundrechte, die auch in der Grundrechtecharta gewährleistet sind. Das ist auf Art. 52 Abs. 3 GRCH zurückzuführen, der vorsieht, dass die GRCH-Rechte, die auch in der EMRK niedergelegt sind, die ihnen von der EMRK verliehene Tragweite und Bedeutung haben. Die Bezeichnung der EMRK als quasi-Primärrecht der EU könnte sich auch auf die in Art. 6 Abs. 3 EUV enthaltene Formulierung stützen. Diese Vorschrift sieht vor, dass die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze Teile des Unionsrechts sind. Nach hier vertretener Ansicht ist die Formulierung von Art. 6 Abs. 3 EUV in der Fassung des Vertrags von Lissabon stärker als die entsprechende Formulierung in Art. 6 Abs. 2 EUV in der Fassung des Vertrags von Nizza. Art. 6 Abs. 2 EUV sah vor, dass die EU die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben, als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts achtet. Die Wortwahl „sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionrechts“ deutet auf eine stärkere Inkorporierung der EMRK-Rechte in die EU-Rechtsordnung hin als der Ausdruck „sind als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts zu achten“.
D. Allgemeine Rechtsgrundsätze, Grundrechte, Menschenrechte und Verteidigungsrechte Insbesondere in der europarechtlichen Literatur kommt es oft zu einem Einsatz der Begriffe „allgemeine Rechtsgrundsätze“, „Grundrechte“, „Menschenrechte“ und „Verteidigungsrechte“, der die Vermutung erlauben würde, dass diese Begriffe synonym sind. Die Verwendung dieser Begriffe ohne eine vorherige Differenzierung wird teilweise auch dadurch gefördert, dass sich der EuGH in seiner Recht 42
So Weiß, ECLR 2011, 186 (186).
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§ 2 Grundrechte und Grundrechtsquellen in der EU § 2Grundrechte und Grundrechtsquellen in der EU
sprechung verschiedene Begriffe zu eigen macht, wenn er sich zu grundrechtlichen Verbürgungen bezieht: „fundamentaler Grundsatz“, „Grundrecht“, „allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“ sind nur ein paar von den vom EuGH eingesetzten Begriffen43. Es ist zwar zutreffend, dass diese Begriffe verwandt sind. Es wäre dennoch rechtsdogmatisch verfehlt, sie als beliebig austauschbar zu betrachten. Die gemischte Verwendung vieler Begriffe für grundrechtliche Verbürgungen im Gebiet des EU-Rechts liegt auch daran, dass die in den verschiedenen Rechtsordnungen und Rechtssystemen verwendeten Begriffe, teilweise wegen konzeptioneller Abweichungen44, unterschiedlich sind: Grundrechte, Menschenrechte, Grundfreiheiten (in der EMRK), „libertés publiques“, „human rights“. Das trägt dazu bei, dass die Rechtsterminologie im EU-Recht in Bezug auf die Grundrechte uneinheitlich vorkommt. Es erscheint deswegen sinnvoll, eine kurze Konturierung und Abgrenzung der Begriffe „allgemeine Rechtsgrundsätze“, „Menschenrechte“, „Grundrechte“ und „Verteidigungsrechte“ zu versuchen.
I. Allgemeine Rechtsgrundsätze Der Begriff der allgemeinen Rechtsgrundsätze (oder auch allgemeinen Grundsätze des EU-Rechts) ist mit dem Begriff der Grundrechte besonders eng verwandt und stellt die Oberkategorie dar, da Grundrechte eine besondere Form allgemeiner Rechtsgrundsätze sind, die den Grundstein einer Rechtsordnung bilden45. Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören die EU-Grundfreiheiten46, sowie solche Grundsätze, aus denen sich kein subjektives, einklagbares Recht ableiten lässt, wie zum Beispiel der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz oder das Prinzip der Rechtssicherheit. Allgemeine Rechtsgrundsätze können auch mit dem Begriff „Rechtsprinzipien“ beschrieben werden. Nach Alexy unterscheiden sich Regeln und Prinzipien dadurch, dass Prinzipien Optimierungsgebote darstellen47. Unter die Kategorie „Optimierungsgebot“ fallen solche Normen, die gebieten, dass „etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird“48. Das bedeutet, dass ein wesentliches Merkmal der Prinzipien 43 Auf das Problem wies bereits Pliakos, S. 43, in 1987 hin, der den Grund für diese Vielfalt an Begriffen darin sah, dass es (bis zum damaligen Zeitpunkt) keinen ausdrücklichen Bezug in den Verträgen auf die Grundrechte gab. 44 So Pliakos, S. 41. 45 Vgl. Gerards/Claes, SEW 2012, 270 (272 f.). 46 Siehe in Bezug auf die Warenverkehrsfreiheit EuGH, Urteil v. 7.2.1985, Rs. 240/83, Procureur de la République/Association de défense des brûleurs d’huiles usagées (ADBHU), Slg. 1985, 531, Rdnr. 9. 47 Alexy, S. 75 f. 48 Alexy, S. 75 f.
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darin besteht, dass der Grad ihrer Erfüllung von den tatsächlichen oder rechtlichen Möglichkeiten abhängt, während Normen immer entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können49. Bei der Rechtsanwendung funktionieren Rechtsprinzipien (oder auch Rechtsgrundsätze benannt) einerseits als Korrektiv, wenn der Rechtsanwender die gesetzlichen Wertmaßstäbe als unangemessen empfindet und sie durch Rückgriff auf übergeordnete Rechtsprinzipien zu korrigieren versucht50. Andererseits werden sie zur Feststellung und Ausfüllung von gesetzlichen Lücken angewandt51. Die Frage, wie sich Rechtsprinzipien von einfachen Normen unterscheiden lassen, ist so zu beantworten, dass das wichtigste Kriterium bei dieser Unterscheidung der Sinn des Rechtsanwenders für Angemessenheit, bzw. das Wissen um die Unverzichtbarkeit der Grundwerte ist52.
II. Grundrechte Grundrechte gehen auf das Konzept des subjektiven Rechts zurück, das im 16. Jahrhundert entwickelt wurde53. Nach Iherings Auffassung sind subjektive Rechte rechtlich geschützte Interessen54. Kelsen definiert wiederum das subjektive Recht als die Rechtsmacht, die Erfüllung einer bestehenden Pflicht geltend zu machen55. Es kann hier festgehalten werden, dass eine Rechtsordnung durch die Gewährung eines subjektiven Rechts dem Rechtsträger die Möglichkeit einräumt, vom Adressaten des Rechts die Erfüllung der durch das Recht eingeführten Pflicht zu verlangen. Die Zuerkennung subjektiver Rechte durch ein Prinzip bedeutet, dass sie in höherem Maße als einfache objektive Gebote realisiert werden sollten56. Subjektive Rechte werden in der Rechtstheorie vielfältig kategorisiert. Neben der klassischen dreigliedrigen Aufteilung von Jellinek in Rechte des negativen, des positiven und des aktiven Status, die aber in der Verfassungslehre der meisten Mitgliedstaaten eine stets geringere Rolle spielt57, werden auch absolute und relative Herrschaftsrechte sowie Gestaltungsrechte58, und Reflexrechte, subjektive Rechte im technischen Sinne, politische Rechte und Grund- und Freiheitsrechte unterschieden59.
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Alexy, S. 75 f. Rüthers/Fischer/Birk, § 22, Rdnr. 757a. 51 Rüthers/Fischer/Birk, § 22, Rdnr. 757a. 52 Rüthers/Fischer/Birk, § 22, Rdnr. 758d. 53 So Seelmann/Demko, § 8, Rdnr. 15. 54 v. Ihering, Teil 3, S. 339. 55 Kelsen, S. 130–140. 56 Alexy, S. 414. 57 So ausdrücklich Iliopoulos-Strangas, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 723. 58 Vgl. Alexy, S. 168. 59 Siehe Kelsen, S. 130–150; Alexy, S. 168–169. 50
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Alexy unterteilt die subjektiven Rechte in (i) Rechte auf etwas, die weiter in Rechte auf negative Handlungen (Abwehrrechte) und Rechte auf positive Handlungen (Leistungsrechte) untergliedert werden, (ii) Freiheiten, wenn also der Freiheitsgegenstand eine Handlungsalternative ist, die weiterhin in unbewehrten (die Erlaubnis einer Handlung als auch deren Unterlassung) und bewehrten Freiheiten (d. h. Freiheiten, die durch ein Bündel von Rechten auf etwas und aus objektiven Normen die Möglichkeit der Grundrechtsträger gewährleisten, die erlaubten Handlungen vorzunehmen) und (iii) Kompetenzen, d. h. die ausdrückliche Verleihung durch die Rechtsordnung an das Individuum eines rechtlichen Könnens, das anders als die Erlaubnis ist60. Die Einräumung von Kompetenzen durch die Rechtsordnung erweitert den Handlungsspielraum des Einzelnen und somit seine rechtliche Freiheit. Grundrechte sind Normen, die auf der höchsten Hierarchiestufe sind und subjektive Rechte gewährleisten. Darüber hinaus sind Grundrechte dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht einseitig Hoheitsträger begünstigen oder Privatpersonen verpflichten61. Das Grundrecht als Ganzes kann als ein Bündel von definitiven und prima-facie (d. h. nicht definitiven) subjektiven Rechtspositionen einschließlich der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen definiert werden. Grundrechtsnormen haben insofern einen Doppelcharakter, da sie sowohl Regeln, als auch Prinzipien enthalten können62. Grundrechte gelten nicht absolut, sondern unterliegen den durch die Grundrechtsschranken gesetzten Grenzen. Als Grundrechtsschranken sind diejenigen Normen zu bezeichnen, die die Realisierung grundrechtlicher Prinzipien einschränken63. Auch Prinzipien selbst können als Grundrechtsschranken dienen64. Ursprünglich wurden die Grundrechte als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Eingriff der öffentlichen Gewalt konzipiert. Abwehrrechte des Bürgers sind subjektive Rechtspositionen, die vom Staat verlangen, dass er etwas unterlässt65. Zu den Abwehrrechten gehören die klassischen Freiheitsrechte. Abwehrrechte weisen eine Schutzfunktion auf66. Im Laufe der Entwicklung der Grundrechte und der Grundrechtsdogmatik wurden dem Bürger auch solche subjektive Rechtspositionen grundrechtlichen Ranges zuerkannt, auf deren Grundlage der Bürger eine Leistung, also eine positive Handlung verlangen darf. Zu den Leistungsgrundrechten gehören die meisten sozialen Grundrechte. Leistungsrechte beziehen sich aber nicht nur auf faktische, sondern
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Alexy, S. 164 ff. Quasdorf, S. 68. 62 Alexy, S. 227. 63 Alexy, S. 257. 64 Alexy, S. 257. 65 Alexy, S. 395. 66 Frenz, Europäische Grundrechte, Rdnr. 319. 61
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auch auf normative Leistungen, wie z. B. den Schutz durch strafrechtliche Normen oder durch Verfahrensregeln67. Schließlich gibt es auch grundrechtliche Positionen, die der Kategorie der Teilhaberechte zuzuordnen sind. Teilhaberechte begründen Ansprüche des Bürgers auf Teilnahme am demokratischen Willensbildungsprozess oder auf Einbeziehung in ein staatliches Verfahren68. Insofern handelt es sich bei den Verfahrens- und justiziellen Grundrechten auch um Teilhaberechte. Die Grenzen zwischen Abwehr-, Leistungs- und Teilhaberechten sind allerdings fließend. Teilhaberechte können auch eine Abwehrfunktion implizieren, wie das typischerweise beim Anhörungsrecht der Fall ist. Das Recht auf Anhörung begründet einerseits einen Anspruch des Betroffenen von einem Verwaltungsverfahren auf Einbeziehung in dieses Verwaltungsverfahren und andererseits einen Anspruch darauf, dass diese Einbeziehung nicht vom Staat beeinträchtigt oder vereitelt wird69. Ferner verleihen Verfahrensgrundrechte verfahrensrechtliche Positionen, die von den rechtssprechenden Instanzen zu beachten sind. Gleichzeitig können aber Verfahrensgrundrechte eine materiell-rechtliche Seite aufweisen, die ein subjektives Recht des Einzelnen begründet. Das ist der Fall mit der Unschuldsvermutung und dem Verbot der Doppelbestrafung wegen derselben Tat, die in erster Linie von den Gerichten zu achten sind, auf die sich aber auch jedermann berufen kann, um Exzesse der öffentlichen Gewalt abzuwehren70. Die in den nationalen Verfassungen enthaltenen Grundrechtekataloge sind ursprünglich so konzipiert worden, dass sie den Bedürfnissen des Individuums nach Schutz gegen die staatliche Eingriffsgewalt entsprechen71. Der Schutz von juristischen Personen rückte in der Anfangszeit der Grundrechtekodifizierung nicht besonders ins Blickfeld des nationalen Verfassungsgebers. Der Schutzbereich der Grundrechte, deren Wesen und Natur dafür geeignet war, wurde im Laufe der Zeit so ausgedehnt und ausgelegt, dass er auch juristische Personen als Träger dieser Grundrechte beinhaltet. So wird sowohl in der Theorie als auch in der Rechtsprechung mittlerweile davon ausgegangen, dass auch juristische Personen Träger von Grund- und Menschenrechten sein können, soweit das Wesen und die Natur eines Grundrechts auch auf juristische Personen anwendbar sind. Das gilt auch für die in der GRCH verankerten Grundrechte; aus der Gesamtbetrachtung der ChartaVorschriften und der diesbezüglichen EuGH-Rechtsprechung ergibt sich trotz des Mangels an einer ausdrücklichen Erklärung der umfassende Schutz von juristischen Personen durch die GRCH72.
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Alexy, S. 403. Vgl. Frenz, Europäische Grundrechte, Rdnr. 331. 69 Frenz, Europäische Grundrechte, Rdnr. 330. 70 Frenz, Europäische Grundrechte, Rdnr. 332–333. 71 Friedmann, S. 232. 72 So. Schwarze, EuZW 2001, 517 (521). 68
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Es ist aber nicht nur die Möglichkeit von juristischen Personen, Träger von Grundrechten zu sein, die ein Gemeintopos geworden ist. Die Berufung von Unternehmen auf grundrechtliche Positionen, um sich gegen Eingriffe der Staatsgewalt zu wehren, hat sich auch zu einem alltäglichen Phänomen entwickelt. Es kann in vielen Rechtsordnungen bemerkt werden73, besonders zum Vorschein kommt es aber in der EU-Rechtsordnung. Es ist kein Zufall, dass die grundrechtsrelevante Rechtsprechung des EuGH auf Grundlage von Klagen, die von juristischen Personen eingereicht wurden, oder auf Grundlage von Vorlageverfahren entwickelt wurde, die eine Unternehmensklage als Ausgangspunkt hatten. Diese Feststellung lässt sich weiter konkretisieren, indem man nicht ohne Grund behauptet, dass insbesondere in den Anfangsjahren der Gemeinschaft die Herausarbeitung der Gemeinschaftsgrundrechte in Form von allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts anlässlich von wettbewerbsrechtlichen Fällen stattgefunden hat.
III. Menschenrechte Im Gegensatz zu den positiv-rechtlichen, „normalen“ Rechten, die dem Einzelnen durch Gesetze verliehen werden, können Menschenrechte auch ohne eine entsprechende positiv-rechtliche Regelung existieren und Geltung beanspruchen74. Das wird nicht zuletzt daran gezeigt, dass Menschenrechte auch in solchen Ländern bzw. Rechtsordnungen Geltung beanspruchen, wo sie nicht positiv-rechtlich verankert sind. Das liegt daran, dass die Menschenrechte sich auf die berechtigten Ansprüche beziehen, die jeder Mensch an seine Lebensverhältnisse hat, unabhängig davon, ob der Staat sich zum Schutz solcher Ansprüche durch nationale oder internationale Gesetzgebung verpflichtet hat oder nicht75. Dem Versuch, die Menschenrechte als moralische Rechte (im Sinne einer Universalmoral) zu definieren, um an die Idee der Naturrechte zu knüpfen, ist einzuwenden, dass die Menschenrechte etwas anderes als moralische Rechte sind, da ihre Adressaten nicht die Adressaten der moralischen Pflichten (das menschliche Gegenüber) sondern eher die staatliche Gewalt und ihre Vertreter sind76. Geeigneter für die Erfassung der Natur der Menschenrechte erscheint ihre politische Konzeption. Grundbegriff der politischen Konzeption ist nicht die moralische Selbstverpflichtung eines jeden Menschen gegenüber seinen Mitmenschen, sondern die kollektive Selbstverpflichtung, die aus der freien Selbstbestimmung einer politischen Gemeinschaft hervorgeht77. Aus diesem Grundbegriff der kollektiven 73 Zum Beispiel in der US-amerikanischen Rechtsordnung und besonders im US-verfassungsrechtlichen Rechtsdiskurs. So Emberland, S. 1. 74 Menke/Pollmann, S. 25. 75 Menke/Pollmann, S. 27. 76 Menke/Pollmann, S. 31. 77 Menke/Pollmann, S. 38.
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Selbstverpflichtung könnte man folgende Definition der Menschenrechte herleiten: Menschenrechte sind berechtigte Ansprüche jedes Menschen auf eine sie als Gleiche berücksichtigende politische Ordnung, die primär an die Repräsentanten dieser Ordnung adressiert sind, die aber auch jeden anderen Menschen dazu verpflichten, so weit wie möglich zur Schaffung einer solchen politischen Ordnung mitzuwirken78. Es bleibt festzuhalten, dass der Begriff der Menschenrechte etwas breiter als der der Grundrechte zu verstehen ist, da Menschenrechte an die Theorie der Naturrechte anknüpfen und unabhängig von ihrer Gewährleistung durch einen Staat oder durch ein supranationales Gebilde Geltung beanspruchen79.
IV. Verteidigungsrechte Verteidigungsrechte sind auch Grundrechte. Sie dienen vorrangig dem Beschuldigten eines Strafverfahrens oder dem Betroffenen eines Verwaltungsverfahrens, das zu einer Sanktion führen kann, so dass er sich zu den Vorwürfen der Verwaltung oder der Verfolgungsbehörde äußern kann. Die Verteidigungsrechte dienen dem Schutz der natürlichen oder juristischen Person gegenüber der staatlichen Willkür im Straf- und Verwaltungsverfahren und sind in jeder Rechtsordnung der EU-Mitgliedstaaten zu finden. Die Verteidigungsrechte dienen hauptsächlich zwei Zwecken. Zum einen tragen sie zur Vermeidung von Justizirrtümern bei und gewährleisten die Richtigkeit der Ergebnisse der Rechtsdurchsetzungsverfahren. Zum anderen garantieren sie die Achtung der Würde des Betroffenen durch eine Maßnahme während des gesamten Rechtsdurchsetzungsverfahrens80. Die Achtung der Verteidigungsrechte des Einzelnen gilt als fundamentaler Grundsatz jedes Rechtsstaates. Ihre besondere Bedeutung ergibt durch ihre Funktion, die in der Gewährung von Rechtssicherheit für das Individuum gegenüber der staatlichen Gewalt liegt81. Die Verteidigungsrechte bezwecken primär den Schutz desjenigen, der von der geplanten Verwaltungsmaßnahme belastet wird. Da aber ein Verwaltungsakt oft eine Drittwirkung entfalten kann (was nicht selten der Fall im Bereich des Wettbewerbsrechts ist), entfalten auch die Verteidigungsrechte eine Drittwirkung im Sinne, dass sich nicht nur der Adressat einer Verwaltungsentscheidung aber auch andere von der Entscheidung Betroffene sich auf die Verteidigungsrechte berufen dürfen82.
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So Menke/Pollmann, S. 41. So Siskova, EuLF 2005, I-2. 80 Wils, World Compet. 2008, 335 (349). 81 Pliakos, S. 18. 82 Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 1276 f. 79
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Die Verteidigungsrechte haben ursprünglich Eingang in das sekundäre Gemeinschafts-, nunmehr Unionsrecht gefunden. Die VO 17/62, der Vorgänger der VO 1/2003, sah in ihrem Art. 19 das Recht im Verfahren zur öffentlichen Durchsetzung des EG-Wettbewerbsrechts im Hinblick auf die Beschwerdepunkte angehört zu werden. Die VO 99/196383, die die Anhörung nach Art. 19 VO 17/62 regelte, gewährte den Betroffenen eines Verwaltungsverfahrens der Kommission im Bereich des Wettbewerbsrechts eine Reihe von systematisierten Garantien in Bezug auf die effektive Ausübung des Anhörungsrechts. Der EuGH entwickelte in seiner Rechtsprechung ursprünglich einen allge meinen Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte eines Betroffenen im Gemeinschafts- (nunmehr EU-)Verwaltungsverfahren. In seinem Urteil in der Rs. 17–74 „Transocean Marine Paint“ hat der EuGH zum ersten Mal festgestellt, dass der Adressat einer Entscheidung der Kommission, durch die seine Interessen spürbar berührt werden, Gelegenheit bekommen muss, seinen Standpunkt zu den Beschwerden der Kommission gebührend zu äußern84. In Hoffmann-La Roche entwickelte der EuGH seine Rechtsprechung über die Verteidigungsrechte weiter, indem er feststellte, dass die Gewährung rechtlichen Gehörs in sämtlichen Verfahren, die zu Sanktionen führen können, einen fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts darstellt, der auch in einem Verwaltungsverfahren beachtet werden muss85. Die Erhebung der Verteidigungsrechte zum Rang zuerst eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes und im Anschluss zum Rang eines fundamentalen Grundsatzes des EU-Rechts durch den EuGH erfolgte nach Anwendung der Methode der wertenden Rechtsvergleichung, die der EuGH besonders oft für die Herausarbeitung von allgemeinen Rechtsgrundsätzen des EU-Rechts herangezogen hat. Der EuGH ging von der sekundärrechtlichen Verankerung der Verteidigungsrechte in VO 17/1962 aus und prüfte, inwieweit die Wahrung der Verteidigungsrechte als Grundsatz im Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten niedergelegt war. Da es diesen Grundsatz bereits in der Mehrheit der (damaligen) Mitgliedstaaten gab und da der Schutz der Verteidigungsrechte im sekundären Gemeinschaftsrecht gewährleistet war, leitete der EuGH den allgemeinen Rechtsgrundsatz ab und prüfte nicht, ob seine Umsetzung ins Gemeinschaftsrecht möglich war86. Die Achtung der Verteidigungsrechte stellt nicht nur einen allgemeinen Grundsatz, sondern einen fundamentalen Grundsatz des EU-Rechts dar, wie es sich aus 83
Verordnung Nr. 99/63/EWG der Kommission vom 25.7.1963 über die Anhörung nach Artikel 19 Absätze (1) und (2) der Verordnung Nr. 17 des Rats, ABl. EG 127 v. 20.8.1963, S. 2268. 84 EuGH, Urteil v. 23.10.1974, Rs. 17–74, Transocean Marine Paint/Kommission, Slg. 1974, 1063, Rdnr. 15. 85 EuGH, Urteil v. 13.2.1979, Rs. 85/76, Hoffmann-La Roche/Kommission, Slg. 1979, 461, Rdnr. 9. 86 Siehe bezüglich der Herleitung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes der Verteidigungsrechte mit Hilfe der wertenden Rechtsvergleichung Pliakos, S. 28 ff.
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dem EuGH-Urteil in Hoffmann-La Roche ergibt87. Dadurch wurde den Verteidigungsrechten im EU-Verwaltungsverfahren grundrechtliche Qualität zugesprochen. Das entspricht der verfassungsrechtlichen Traditionen der Mitgliedstaaten. Die Verfassungsordnungen mehrerer EU-Mitgliedstaaten garantieren die Wahrung der Verteidigungsrechte für jedermann in Gerichtsverfahren jeglicher Art (Zivil-, Straf-, Verwaltungsverfahren)88. Andere Verfassungstexte, wie zum Beispiel die griechische Verfassung, gewährleisten das Recht auf rechtliches Gehör des Betroffenen bei jeder Tätigkeit der Verwaltung zu Lasten seiner Rechte oder Interessen89. Der EuGH hat den Schutz der Verteidigungsrechte im Bereich des Vollzugs des Verwaltungsrechts der (damaligen) Europäischen Gemeinschaft in HoffmannLa Roche in den Rang eines fundamentalen Grundsatzes aus mehreren Gründen erhoben. Pliakos erklärt zutreffend, dass die Rechtsprechung des EuGH über die Verteidigungsrechte Ausfluss der praktischen Schwierigkeit des EuGH sei, eine vollumfängliche Prüfung des Entscheidungsverfahrens der Kommission beim Verwaltungsvollzug durchzuführen. Darüber hinaus befinde sich die Dogmatik der Verteidigungsrechte im Verwaltungsrecht zur Zeit des Hoffmann-La Roche-Urteils in vielen Mitgliedstaaten in Entwicklung90. Diese Argumentation könnte leicht angepasst auch in Bezug auf die heutige Rechtslage herangezogen werden. Einerseits erkennen das EuG und der EuGH in ständiger Rechtsprechung an, dass die Kommission bei komplexen ökonomischen Beurteilungen in Kartellsachen und bei der Festsetzung der Geldbuße über einen Ermessensspielraum verfügt, der nur einer eingeschränkten Kontrolle durch die Unionsgerichte hinsichtlich offenkundiger Beurteilungsfehler („manifest error 87
EuGH, Urteil v. 13.2.1979, Rs. 85/76, Hoffmann-La Roche/Kommission, Slg. 1979, 461, Rdnr. 9. 88 Das deutsche Grundgesetz sieht in Art. 103 Abs. 1 folgendes vor: „Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör“; die italienische Verfassung sieht in Art. 24 Satz 1 und 2 folgendes vor: „Jedermann kann zum Schutze seiner eigenen Rechte und seiner rechtmäßigen Interessen die Gerichte in Anspruch nehmen. Die Verteidigung ist in jeder Phase und Stufe des Verfahrens ein unverletzliches Recht“; die portugiesische Verfassung sieht in Art. 32 Abs. 1 folgendes vor: „Im Strafprozess sind alle Garantien der Verteidigung einschließlich des Rechtsweges gewährleistet“; die spanische Verfassung enthält in Art. 24 eine ausführliche Regelung der Verteidigungsrechte: „(1) Alle Personen haben bei der Wahrnehmung ihrer legitimen Rechte und Interessen das Recht auf wirksamen Schutz durch Richter und Gerichte; in keinem Fall darf jemand ohne Verteidigung bleiben. (2) Ebenso haben alle das Recht auf einen vom Gesetz bestimmten ordentlichen Richter, auf Verteidigung und Beistand durch einen Rechtsanwalt, auf Information über die gegen sie erhobene Anklage, auf einen öffentlichen Prozess ohne ungebührliche Verzögerungen und mit allen Garantien, auf Verwendung von zur Sache gehörenden Beweismitteln für ihre Verteidigung, auf Nichtaussage gegen sich selbst, darauf, sich nicht schuldig zu bekennen, und auf die Vermutung der Unschuld. Das Gesetz regelt die Fälle, in denen aus Gründen der Verwandtschaft oder des Berufsgeheimnisses keine Verpflichtung zur Aussage über mutmaßliche Straftaten besteht:“ 89 Art. 20 Abs. 2 Verfassung der Republik Griechenland. 90 Pliakos, S. 59.
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of assessment“) unterzogen werden kann91. Andererseits ist die Dogmatik der Verteidigungsrechte nicht zuletzt auf EU-Ebene weiter entwickelt worden. Die Verteidigungsrechte werden nunmehr primärrechtlich nicht nur im Rahmen von Verfahren, die zur Verhängung strafrechtlicher Sanktionen führen können (Art. 48 Abs. 2 GRCH) aber auch im Rahmen des Verwaltungsverfahrens durch Art. 41 Abs. 2 GRCH gewährleistet. In beiden Fällen handelt es sich um einklagbare Rechte des Betroffenen bzw. des Angeklagten in strafrechtlichen Verfahren. Art. 41 Abs. 2 GRCH führt als Teilrechte des in Art. 41 Abs. 1 GRCH verankerten Rechts auf eine gute Verwaltung das Recht auf rechtliches Gehör, das Recht jeder Person auf Akteneinsicht und die Pflicht der Verwaltung, ihre Entscheidungen zu begründen. Durch die Verwendung des Wortlauts „Dieses Recht umfasst insbesondere, […]“ in Art. 41 Abs. 2 GRCH wird deutlich, dass das Anhörungsrecht, das Akteneinsichtsrecht und das Recht auf eine Begründung der Entscheidung das Recht auf eine gute Verwaltung nicht ausschöpfen92. Als durch Art. 41 Abs. 2 GRCH geschützt könnte man, obwohl es nicht unmittelbar erwähnt wird, auch das Recht auf Hinzuziehung eines juristischen Beistandes sowie den Schutz der Vertraulichkeit der Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandant93. Zum materiellen Gehalt des Rechts auf eine gute Verwaltung gemäß Art. 41 Abs. 2 GRCH sollte nach richtiger Auffassung auch das Auskunftsverweigerungsrecht bei Gefahr der Selbstbezichtigung, zumindest für solche Verwaltungsverfahren, hinzugerechnet werden, die zur Verhängung von strafrechtsähnlichen Sanktionen führen können94, wie das EU-Kartellbußgeldverfahren. Aus der Rechtsprechung des EuGH, der die Achtung der Verteidigungsrechte als fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts bezeichnet hat, und aus der nunmehr primärrechtlichen Verankerung dieser Rechte in der Europäischen Grundrechtecharta wird deutlich, dass es sich bei den Verteidigungsrechten um eine besondere Kategorie von Grundrechten handelt, die garantieren, dass der Adressat einer Entscheidung, durch die seine Interessen spürbar beeinträchtigt werden, in die Lage versetzt wird, seinen Standpunkt sachdienlich und gebührend darlegen kann95. Insbesondere im Rahmen eines Kartellverfahrens vor der Kommission, das zur Verhängung einer Geldbuße führen kann, bedeutet der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte, wie sie in Art. 41 Abs. 2 GRCH ver 91 Siehe aus der neueren EuGH-Rechtsprechung EuGH, Urteil v. 8.12.2011, Rs. C-272/09, KME Germany AG, KME France SAS und KME Italy SpA/Kommission, Slg. 2011 I-12789, Rdnr. 102; EuG, Urteil v. 28.4.2010, Rs. T-446/05, Amann & Söhne GmbH & Co. KG und Cousin Filterie SAS/Kommission, Slg. 2010, II-1255, Rdnr. 131. 92 Jarass, § 36, Rdnr. 29. 93 Vgl. EuGH, Urteil v. 21.9.1989, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rdnr. 16; Jarass, § 36, Rdnr. 30. 94 Jarass, § 36, Rdnr. 32. 95 EuGH, Urteil v. 6.9.2012, Rs. C-96/11 P, August Storck KG/Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt, veröffentlicht in der digitalen Slg, Rdnr. 74; Urteil v. 12.12.2002, Rs. C-395/00, Distillerie Fratelli Cipriani SpA/Ministero delle Finanze, Slg. 2002, I-11877, Rdnr. 51; Urteil v. 21.9.2000, Rs. C-462/98 P, Mediocurso/Kommission, Slg. 2000, I-7183, Rdnr. 36.
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ankert sind, dass dem betroffenen Unternehmen Gelegenheit gegeben wurde, sich zum Vorliegen und zur Erheblichkeit der von der Kommission angeführten Tatsachen und Umstände sowie zu den von ihr für ihre Behauptung einer Zuwiderhandlung gegen den Vertrag herangezogenen Schriftstücken sachdienlich zu äußern96. Die grundrechtliche Qualität der Verteidigungsrechte führt dazu, dass sie auch als Optimierungsgebote zu betrachten sind, deren Erfüllungsgrad in Zusammenhang mit den rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten steht. In Bezug auf das Kartellverfahren der Kommission hat der EuGH in seiner Rechtsprechung anerkannt, dass, obwohl sich einige Verteidigungsrechte, wie das Anhörungsrecht, wegen ihrer Natur im Anschluss an die Mitteilung der Beschwerdepunkte beziehen, Verteidigungsrechte wie das Recht auf Hinzuziehung eines juristischen Beistandes und das Recht auf Schutz der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Anwalt und Mandant (das so genannte „Anwaltsprivileg“) grundsätzlich auch in der Ermittlungsphase (also vor der formellen Verfahrenseinleitung) zu beachten sind97.
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EuGH, Urteil v. 25.10.2011, Rs. C-110/10 P, Solvay SA/Kommission, Slg. 2011, I-10439, Rdnr. 48. 97 EuGH, Urteil v. 21.9.1989, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rdnr. 16.
§ 3 Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht A. Die Reichweite der Grundrechte und der Charakter der Bußgelder im EU-Kartellverfahren I. Reichweite der Grundrechte im Spannungsfeld zwischen effektiver Durchsetzung des Wettbewerbsrechts und adäquatem Grundrechtsschutz Die Grundrechte bilden das Fundament der durch die Europäische Union geschaffenen Rechtsordnung. Wie der EuGH bereits unter Hinweis auf den Verfassungscharakter des EGV (nunmehr AEUV) festgestellt hat, gehören die EUGrundrechte zu den Verfassungsprinzipien des Vertrags, die von den Organen der EU und von den Mitgliedstaaten zu wahren sind1. Die Tätigkeit der Kommission, wie die jedes anderen EU-Organs, ist an die EU-Grundrechte gebunden, wie sie in der Europäischen Grundrechtecharta und in den Verträgen niedergelegt sind. Die EMRK hat keine direkte Bindungswirkung für die EU-Organe und dient vorerst als Erkenntnisquelle der EU-Grundrechte2. Dennoch ergibt sich durch Art. 52 Abs. 3 GRCH eine indirekte Bindungswirkung, die sich nach dem Beitritt der EU zur EMRK zu einer unmittelbaren Bindungswirkung entwickeln wird. Der EuGH scheint diese mittelbare Bindungspflicht der EMRK in seiner Rechtsprechung zu berücksichtigen, da er festgestellt hat, dass die Reichweite der EMRK-Grundrechte von ihm berücksichtigt werden muss3. Die Verrechtlichung der Charta der Grundrechte der EU und ihre Erhebung zum primärrechtlichen Status haben die Bindungswirkung der Grundrechte für jegliche Handlung der EU-Organe nicht nur formell betont, sondern auch materiell rechtlich intensiviert. Die EU-Grundrechte beanspruchen Geltung in jedem Verfahren sowohl im Bereich der Gesetzgebung durch die EU-Organe als auch im Bereich der Durchsetzung des EU-Rechts. Das Kartellverfahren der Europäischen Kommission ist dem Bereich der Durchsetzung des EU-Rechts zuzuordnen. Der Kommission obliegt es im Rahmen ih 1 EuGH, Urteil v. 3.9.2008, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Yassin Abdullah Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, Slg. 2008, I-6351, Rdnr. 281–285. 2 Vgl. Marguery, EL Rev. 2012, 444 (449). 3 EuGH, Urteil v. 16.6.2005, Rs. C-105/03, Strafverfahren gegen Maria Pupino, Slg. 2005, 5285, Rdnr. 58–59.
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rer Rolle als Hüterin der Verträge für die Einhaltung der Wettbewerbsregeln der EU zu sorgen und dadurch den funktionierenden Wettbewerb im Binnenmarkt zu fördern. Das Kartellverfahren der Kommission ist darüber hinaus einer von den wenigen Bereichen des direkten Verwaltungsvollzugs durch die EU-Organe. Im Rahmen des Kartellverfahrens erlässt die Kommission Entscheidungen (Entscheidungen zur Auferlegung von Zwangsgeldern, Verbotsentscheidungen sowie Entscheidungen über die Verhängung von Geldbußen), die in die Rechte der am Verfahren beteiligten Unternehmen unmittelbar eingreifen. Nicht zuletzt aus diesem Grund muss das Kartellverfahren der Europäischen Kommission den Anforderungen von rechtsstaatlichen Grundsätzen und dem Gebot des Schutzes der Grundrechte Genüge tun. Andererseits ist die Kommission auf wirksame Ermittlungsinstrumente und breit gefächerte Kompetenzen angewiesen, um das EU-Wettbewerbsrecht wirksam durchsetzen zu können. Die Ermittlungsinstrumente und Kompetenzen der Kommission berühren aber grundrechtlich geschützte Rechtspositionen der Betroffenen eines Kartellverfahrens. Es wird ersichtlich, dass der größtmögliche Grundrechtsschutz der Verfahrensbeteiligten und die effektive Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts zwei entgegen gerichtete Konzepte sind. Entgegengerichtet bedeutet hier, dass die Stärkung des einen Konzepts das zweite schwächt und umgekehrt. Räumt man der Kommission besonders weitreichende Ermittlungsbefugnisse und -instrumente ein, führt das zur zwangsläufigen Einschränkung des Grundrechtsschutzes der Verfahrensbeteiligten, da sonst die Wirksamkeit der weitreichenden Ermittlungsbefugnisse gefährdet wäre. Gewährt man den Verfahrensbeteiligten andererseits einen nahezu schrankenlosen Grundrechtsschutz, laufen die Ermittlungsinstrumente und Kompetenzen der Kommission ins Leere, da sie quasi nicht mehr eingesetzt werden können. Die Forderung nach effektiver Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts und die Wahrung der grundrechtlich geschützten Rechtspositionen der Verfahrensbeteiligten müssen deswegen im Einklang gebracht werden. Der angemessene Ausgleich zwischen den beiden Konzepten (wirksame Durchsetzung des Kartellrechts – Grundrechtsschutz der Verfahrensbeteiligten) ist erforderlich, so dass sie beide zum höchsten Grad erfüllt werden, ohne dass es zur ungerechtfertigter Beeinträchtigung eines von beiden kommt4. Die Reichweite der Grundrechte im Kartellverfahren der EU-Kommission steht in engstem Zusammenhang mit diesem Balanceakt zwischen effektiver Durchsetzung des Kartellrechts und Gewährleistung eines adäquaten Grundrechtsschutzes für die Verfahrensbetroffenen.
4 Nach Ansicht von Schwarze, WuW 2009, 6 (7), wurde dieser Ausgleich in den letzten Jahren aufgrund des großen Anstiegs des Geldbußenniveaus zu Lasten des Grundrechtsschutzes der Verfahrensbeteiligten gestört und muss wieder hergestellt werden.
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§ 3 Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht § 3Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht
II. Verankerung des Grundrechtsschutzes im Kartellverfahren in der VO 1/2003 Die VO 1/2003 enthält ein doppeltes klares Bekenntnis zum Grundrechtsschutz. Zum einen ist im 37. Erwägungsgrund zu lesen, dass die VO 1/2003 die Grundrechte wahrt und im Einklang zu den Prinzipien steht, die insbesondere in der EUGrundrechtecharta verankert sind. Die Kartellverfahrensverordnung ist in Übereinstimmung mit diesen Rechten und Prinzipien auszulegen und anzuwenden. Die Grundrechte gehören zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die von der Kommission in sämtlichen Verfahrensarten geachtet werden müssen5. Daraus folgt, dass die Kommission im Kartellverfahren nicht nur die in den Grundrechtecharta verankerten Grundrechte, sondern auch eine Reihe von Garantien zu beachten hat, die einem Rechtsstaat inhärent sind. Dazu zählen der Vertrauensschutz, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der Grundsatz der Rechtssicherheit und das Verbot des Ermessensmissbrauchs. Zum anderen sieht Art. 27 Abs. 2 Satz 1 VO 1/2003 vor, dass die Verteidigungsrechte der Parteien während des Kartellverfahrens in vollem Umfang zu wahren sind. Wie bereits dargelegt6 und wie die Rechtsprechung des EuGH anerkennt, gehören die Verteidigungsrechte zu den Grundrechten, die die Kommission im Kartellverfahren zu beachten hat7. Art. 27 VO 1/2003 enthält bereits Ausführungen zu den wichtigsten Verteidigungsrechten, die im Kartellverfahren zu wahren sind. Art. 27 Abs. 1 VO 1/2003 sieht das Recht der Parteien auf Anhörung vor und Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003 enthält das Akteneinsichtsrecht. Diese Rechte der Verfahrensparteien werden ferner in der Durchführungsverordnung (VO 773/2004) und in mehreren Mitteilungen und Bekanntmachungen der Kommission (z. B. Bekanntmachung über die Akteneinsicht8, Mandat des Anhörungsbeauftragten9) konkretisiert. Darüber hinaus stellen einige Erwägungsgründe und Vorschriften der VO 1/2003 das Kondensat der Rechtsprechung des EuGH und des EuG in Bezug auf die Auslegung bestimmter Grundrechte im Kartellverfahren dar10. Das ist zum Beispiel der Fall für Artikel 20 Abs. 8 VO 1/2003, der die Prüfungsbefugnisse der nationa 5
Vgl. EuGH, Urteil v. 7.1.2004, verb. Rs. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P, Aalborg Portland A/S u. a./Kommission, Slg. 2004, I-123, Rdnr. 64. 6 Siehe § 2 „Grundrechte und Grundrechtsquellen in der EU“, IV, S. 69 ff. 7 EuGH, Urteil v. 7.1.2004, verb. Rs. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P, Aalborg Portland A/S u. a./Kommission, Slg. 2004, I-123, Rdnr. 64. 8 Mitteilung der Kommission über die Regeln für die Einsicht in Kommissionsakten in Fällen einer Anwendung der Artikel 81 und 82 EG-Vertrag, Artikel 53, 54 und 57 des EWR-Abkommens und der Verordnung (EG) Nr. 139/2004, ABl. EU v. 22.12.2005, C 325/7. 9 Beschluss des Präsidenten der Europäischen Kommission vom 13. Oktober 2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren, ABl. EU v. 20.10.2011, L 275/29. 10 So Wils, World Compet. 2006, 3 (19).
A. Der Charakter der Bußgelder im EU-Kartellverfahren
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len Gerichte bei der Genehmigung der Unterstützung der Kommissionsbediensteten bei Nachprüfungen durch die Polizei regelt und die Roquette-Frères-Rechtsprechung11 des EuGH kodifiziert. Ähnlich verhält es sich mit Erwägungsgrund 23, Satz 2, der die Orkem-Rechtsprechung12 des EuGH in Bezug auf den Nemo-tenetur-Grundsatz im EU-Kartellverfahrensrecht wiedergibt. Daraus folgt, dass die VO 1/2003 in einigen Fällen selbst die Reichweite von bestimmten Grundrechten im EU-Kartellverfahren bestimmt. Allerdings bedeutet die Tatsache, dass die Reichweite bestimmter Grundrechte im Kartellverfahren in der VO 1/2003 festgeschrieben ist, nicht, dass diese Grundrechte den Schutzumfang im Kartellverfahren haben, der ihnen zugeschrieben wurde. Die VO 1/2003 ist ein Rechtsakt des Sekundärrechts, während die Grundrechte (unabhängig davon, ob sie in der Grundrechtecharta verankert sind oder als allgemeine Rechtsgrundsätze des EU-Rechts richterrechtlich entwickelt wurden) dem Primärrecht zuzuordnen sind. Das bedeutet, dass auch eine contra legem-Auslegung der Vorschriften der VO 1/2003 denkbar wäre, wenn zum Beispiel die Rechtsprechung einem Grundrecht eine größere Reichweite im EU-Kartellverfahren zuschreiben sollte oder wenn es sich aus Rechtsschutzgründen als erforderlich erweist13. Die Grundrechte, dessen Reichweite in der VO 1/2003 definiert wird, stellen aber nur einen kleinen Anteil der Grundrechte dar, die im Kartellverfahren zum Tragen kommen. Um die Reichweite der von den Bestimmungen der VO 1/2003 nicht erfassten Grundrechte im Kartellverfahren der Kommission feststellen zu können, ist Rückgriff nicht nur auf die Rechtsprechung der Unionsgerichte, sondern auch auf die Rechtsprechung des EGMR und die Auslegung der EMRK-Vorschriften, die in der Grundrechtecharta verankerten Rechte entsprechen, erforderlich. Ferner ist der Charakter der von der Kommission verhängten Geldbußen für die Reichweite bestimmter Grundrechte im EU-Kartellverfahren maßgeblich. Im Vordergrund steht die Frage, inwieweit das Kartellbußgeldverfahren der Kommission ein reines Verwaltungsverfahren ist und inwieweit die Geldbußen im Fall von festgestellten Verstößen eine reine Verwaltungssanktion sind, oder auch strafrechtliche Züge aufweisen.
III. Der Charakter der Bußgelder im EU-Kartellverfahren Für die Feststellung der Reichweite bestimmter Garantien grundrechtlicher Natur im EU-Kartellverfahren, insbesondere derjenigen strafrechtlichen Ursprungs, ist es notwendig, sich im Voraus im Klaren über den Charakter des EU-Kartellbuß 11
EuGH, Urteil v. 17.10.2000, Rs. C-114/99, Roquette Frères S. A./Office national interprofessionnel des céréales, Slg. 2000, I-8823. 12 EuGH, Urteil v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Orkem/Kommission, Slg. 1989, 3283. 13 Ähnlich Wils, World Compet. 2006, 3 (19 f.).
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§ 3 Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht § 3Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht
geldverfahrens und der auf seiner Grundlage zu verhängenden Bußgelder zu sein14. Bei diesen Grundrechten strafrechtlichen Ursprungs handelt es sich vor allem um das Verbot der Doppelbestrafung wegen derselben Straftat („ne bis in idem“) und das Verbot nicht gezwungen werden auszusagen, wenn man sich dadurch selbst bezichtigen würde („nemo tenetur se ipsum accusare“). Je nachdem, ob man dem EU-Kartellbußgeldverfahren und der da vorgesehenen Sanktionen rein verwaltungsrechtlichen, rein strafrechtlichen oder quasi-strafrechtlichen Charakter zuspricht, wird auch die Reichweite der Grundrechte und Garantien strafrechtlicher Natur entsprechend eingeschränkt oder ausgedehnt. Deswegen soll im Folgenden der Charakter des EU-Kartellbußgeldverfahrens und der Kartellbußgelder untersucht werden. Beim EU-Kartellverfahren handelt es sich um ein kontradiktorisches Verfahren15 zwischen der Europäischen Kommission und den Unternehmen, denen die Kommission einen Wettbewerbsverstoß vorwirft. Die unterschiedlichen Varianten, mit denen ein Kartellverfahren beendigt werden kann (Verbotsentscheidung nach Art. 7 VO 1/2003, Entscheidung über die Verbindlichkeitserklärung von Verpflichtungszusagen nach Art. 9 VO 1/2003, Entscheidung über die Verhängung einer Geldbuße nach Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003), üben keinen Einfluss auf den einheitlichen Charakter des Kartellverfahrens aus16. 1. Rückschlüsse auf den Charakter der Sanktionen im EU-Kartellverfahren aus dem positiven Recht Art. 15 Abs. 4 VO 17/62 sah vor, dass die Entscheidungen der Kommission über die Verhängung von Bußgelder gegen Unternehmen für Wettbewerbsverstöße keinen strafrechtlichen Charakter haben. Daran hat sich auch mit der VO 1/2003 nichts geändert. Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 sieht ausdrücklich vor, dass die Entscheidung über die Verhängung einer Geldbuße gegen ein Unternehmen wegen Verstoßes gegen Art. 101 oder 102 AEUV keinen strafrechtlichen Charakter hat. Man könnte behaupten, dass diese Vorschrift impliziert, dass auch das Verfahren entsprechend keinen strafrechtlichen Charakter hat. Sonst wäre es logisch nicht vertretbar, dass eine Entscheidung administrativer Natur das Ergebnis eines strafrechtlichen Verfahrens ist. Die Art der Sanktionen, die verhängt werden kann, ist aber nicht maßgeblich für den Charakter des Verfahrens, der zur Verhängung der Sanktionen führt17.
14
So auch Weiß, in: Terhechte (Hrsg.), § 72, Rdnr. 47. Vgl. EuG, Urteil v. 1.7.2009, Rs. T-24/07, ThyssenKrupp Stainless AG/Kommission, Slg. 2009, II-2309, Rdnr. 206. 16 Weiß, in: Terhechte (Hrsg.), § 72, Rdnr. 47. 17 So de Bronett, Art. 23, Rdnr. 6. 15
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Die in Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 vorgenommene Klarstellung über den nicht strafrechtlichen Charakter der Geldbußen, die auf Grundlage von Art. 23 Abs. 1 und Abs. 2 VO 1/2003 gegen Unternehmen verhängt werden können, ist auf zwei Gründe zurückzuführen. Zum einen besaß die EU zum Zeitpunkt des Entwurfs und Inkrafttretens der VO 1/2003 keine Kompetenz im Bereich des Strafrechts. Die Klarstellung in Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 dient als eine Zusicherung, dass keine schleichende Zuständigkeitserweiterung durch die Möglichkeit der Verhängung von Sanktionen strafrechtlichen Charakters stattfindet18. Zum anderen soll die Klarstellung mögliche Folgen der Verhängung einer potenziell strafrechtlicher Sanktion auf EU-Ebene vorbeugen, die dann auf mitgliedstaatlicher Ebene entstehen könnten19. Allerdings wurde der Rechtsrahmen für die Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts ursprünglich als reines Verwaltungsverfahren mit Sanktionen administrativer Natur konzipiert. Das mag für den Charakter des Verfahrens in der Zeit der Geltung der VO 17/1962 und bis zum Inkrafttreten der VO 1/2003 zutreffen. Die Lage hat sich aber seit dem Inkrafttreten der VO 1/2003 beachtlich geändert. Die gegen Unternehmen verhängten Geldbußen belaufen sich mittlerweile auf Höhen, die die durchschnittliche Höhe einer Geldbuße im Verwaltungs- oder Ordnungswidrigkeitenverfahren um ein vielfaches übersteigt. Die Geldbußen im EU-Kartellverfahren erfüllen einen doppelten Zweck: Zum einen dienen sie der Verurteilung und Ahndung des durch den Verstoß begangenen Unrechts. Die Geldbußen haben somit eine Repressivwirkung. Zum anderen dient die Sanktionierung von Zuwiderhandlungen mit Geldbußen in beträchtlicher Höhe der Abschreckung von anderen Marktteilnehmern, so dass sie von der Begehung wettbewerblicher Zuwiderhandlungen künftig absehen. Die Geldbußen sollen Unternehmen dazu motivieren, sich an die Wettbewerbsregeln zu halten. Sie entfalten dadurch auch eine Präventivwirkung. Gleichzeitig sind sie ein nützliches Instrument in den Händen der Kommission für die Durchsetzung der Wettbewerbspolitik20. Diese Kombination von individual- und generalpräventivem Charakter der Geldbußen im EUKartellrecht sowie die ethische Verwerflichkeit von Kartellen deuten darauf hin, dass den Geldbußen im EU-Kartellverfahren zumindest quasi-strafrechtlicher Charakter zuerkannt werden sollte.
18
So auch Weiß, in: Terhechte (Hrsg.), § 72, Rdnr. 47. de Bronett, Art. 23, Rdnr. 6. 20 de Bronett, Art. 23, Rdnr. 6. 19
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§ 3 Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht § 3Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht
2. Rückschlüsse auf den Charakter der Sanktionen im EU-Kartellverfahren aus der Rechtsprechung der Unionsgerichte Der EuGH hat sich bislang zur Natur der von der Kommission in Kartellsachen verhängten Geldbußen nicht geäußert21. Er geht aber in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass das EU-Kartellverfahren ein reines Verwaltungsverfahren ist22. Ferner hat der EuGH wiederholt betont, dass das Kartellverfahren trotz der Verhängung von Geldbußen nicht als Strafverfahren zu qualifizieren sei und dass die Kommission als Verwaltungsinstanz und kein Strafgericht ihre Tätigkeit entfaltet23. Ausdrücklich zur Natur der im Rahmen eines Kartellverfahrens verhängten Geldbußen hat sich der EuGH aber noch nicht geäußert. Aber auch wenn man von der Prämisse ausgehen würde, dass das EU-Kartellverfahren rein verwaltungsrechtlichen Charakter hat, würde das nicht ausschließen, dass es zu Sanktionen strafrechtlicher Natur im weitesten Sinne führen könnte. Daraus würde folgen, dass auch in solchen (Verwaltungs-)Verfahren die strafrechtlichen Grundsätze zu beachten wären, wenn die Sanktionen strafrechtlichen Charakters wären24. Einen Anhaltspunkt für die strafrechtliche Qualität der Bußgelder im EU-Kartellverfahren scheint das „Hüls“-Urteil25 des EuGH zu geben. Darin hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung, ein strafrechtliches Prinzip par excellence, angesichts der Art der Zuwiderhandlungen sowie der Art und der Schwere der diesbezüglich verhängten Sanktionen auf Wettbewerbsverfahren anwendbar ist, die zur Verhängung von Geldbußen oder Zwangsgeldern führen können26. Dieses Urteil des EuGH scheint also als Grundlage der Behauptung dienen zu können, dass die kartellrechtlichen Verfahren sowohl auf EU-, als auch auf mitgliedstaatlicher Ebene, die verwaltungs- oder zivilrechtlicher Natur sind, könnten unter dem breiten Begriff des „strafrechtlichen“ im Sinne von Art. 6 EMRK fallen27. Der strafrechtliche Charakter der Geldbußen im EU-Kartellverfahren wurde teilweise auch von Generalanwälten anerkannt. In seinen Schlussanträgen im Fall 21
So Melicias, World Compet. 2012, 471 (478). EuGH, Urteil v. 13.7.1966, verb. Rs. 56 und 58–64, Établissements Consten S.à.R. L. und Grundig-Verkaufs-GmbH/Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Slg. 1966, 322 (385). 23 EuGH, Urteil v. 13.7.1966, verb. Rs. 56 und 58–64, Établissements Consten S.à.R. L. und Grundig-Verkaufs-GmbH/Kommission, Slg. 1966, 321 (385); Urteil v. 15.7.1970, Rs. 44–69, Buchler/Kommission, Slg. 1970, 733 (756); Urteil v. 29.10.1980, verb. Rs. 209 bis 215 und 218/78, Heintz van Landewyck SARL u. a./Kommission, Slg. 1980, S. 3125, Rdnr. 81; Urteil v.7.6.1983, verb. Rs. 100–103/80, Musique Diffusion Française, Slg. 1983, 1825, Rdnr. 7–11. 24 de Bronett, Art. 23, Rdnr. 6. 25 EuGH, Urteil v. 8.7.1999, Rs. C-199/92 P, Hüls AG/Kommission, Slg. 1999, I-4287. 26 EuGH, Urteil v. 8.7.1999, Rs. C-199/92 P, Hüls AG/Kommission, Slg. 1999, I-4287, Rdnr. 150. 27 Wils, in: Cseres/Schinkel/Vogelaar (Hrsg.), S. 64. 22
A. Der Charakter der Bußgelder im EU-Kartellverfahren
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„Baustahlgewebe“ äußerte GA Léger die Auffassung, dass die streitige Entscheidung der Kommission angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dem strafrechtlichen Bereich im weiten Sinne zuzuordnen sei28. Aber auch schon unter der VO 17/62 hat es deutliche Äußerungen von Generalanwälten über die Anerkennung des strafrechtlichen Charakters der Sanktionen im EU-Kartellverfahren gegeben. Der ehemalige Generalanwalt und später Richter am und Präsident des EuG, Bo Vesterdorf, vertrat in seinen Schlussanträgen in der Rs. T-1/89 „Rhône-Poulenc SA/Kommission“ die Auffassung, dass die Bußgelder, die gegen Unternehmen im EU-Kartellverfahren verhängt werden können, trotz der Regelung in Art. 15 Abs. 4 VO 17/62 (die Vorgängerregelung von Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003) und angesichts des Özturk-Urteils des EGMR strafrechtlicher Natur sind. Aus diesem Grund sollte das Gericht gewährleisten, dass es in Bezug auf die Verhängung solcher Bußgelder keinen Anlass zu berechtigter Kritik über ihre Vereinbarkeit mit den Anforderungen der EMRK gibt29. In seinem Urteil in der Rechtssache Schindler/Kommission30 befasste sich das EuG mit dem Charakter der Sanktionen im EU-Kartellverfahren. Die Klägerin, die eine Entscheidung der Kommission im sogenannten Aufzugs- und Fahrtreppenkartell anfocht, machte unter anderem eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend, da die im Kommissionsverfahren verhängten Sanktionen strafrechtlichen Charakter hätten und das Kartellverfahren dementsprechend den Anforderungen von Art. 6 EMRK genügen sollte. Das Gericht stellte zuerst fest, dass das Recht auf ein faires Verfahren einen allgemeinen Grundsatz des EU-Rechts bildet, der durch Art. 47 GRCH bekräftigt wurde und der an die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und die Hinweise der Rechtsprechung des EGMR anlehnt31. Das Gericht lehnte danach das Vorbringen der Klägerinnen unter Heranziehung der Jussila-Rechtsprechung32 des EGMR ab. Das Gericht bezog sich auf die EGMR-Rechtsprechung, gemäß der ein Verfahren den Anforderungen von Art. 6 EMRK genügen muss, wenn die durch das Verfahren zu sanktionierende Zuwiderhandlung ihrer Art nach strafrechtlich ist oder den Betroffenen einer Maßregel ausgesetzt hat, die nach ihrer Art und ihrem Schweregrad im Allgemeinen dem Strafrecht zuzuordnen 28 Schlussanträge des Generalanwalts Léger vom 3. Februar 1998. – Baustahlgewebe GmbH/Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Rs. C-185/95 P, Slg. 1998, I-8417, Rdnr. 31. 29 Schlussanträge des GA Vesterdorf v. 10.7.1991, Rs. T-1/89, Rhône-Poulenc/Kommission, Slg. 1991, II-867, Rdnr. 85. 30 EuG, Urteil v. 13.7.2011, Rs. T-138/07, Schindler Holding u. a./Kommission, Slg. 2011, II-4819. 31 EuG, Urteil v. 13.7.2011, Rs. T-138/07, Schindler Holding u. a./Kommission, Slg. 2011, II-4819, Rdnr. 51. 32 EGMR, Urteil v. 23.11.2006, Beschwerdenr. 73053/01, Jussila./.Finnland, abrufbar unter www.echr.coe.int, Rdnr. 35.
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§ 3 Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht § 3Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht
ist33. Das Gericht wies ferner darauf hin, dass der EGMR im Jussila-Urteil selbst einräumt, dass er durch seine Rechtsprechung eine eigenständige Auslegung des Begriffs der „strafrechtlichen Anklage“ geschaffen hat und den Boden für eine schrittweise Ausdehnung der Anwendung des strafrechtlichen Aspekts von Art. 6 EMRK auf Bereiche bereitet, die formal nicht zu den herkömmlichen Kategorien des Strafrechts gehören, wie etwa die finanziellen Sanktionen, die wegen Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht verhängt werden. Danach zog das Gericht aus dem Jussila-Urteil des EGMR den Schluss, dass in Bezug auf die Kategorien, die nicht zum harten Kern des Strafrechts gehören, die Garantien, die der strafrechtliche Aspekt von Art. 6 gewährleistet, nicht notwendigerweise in ihrer ganzen Strenge anzuwenden sind34. Unter Bezugnahme auf die ständige EuGH-Rechtsprechung hat das EuG aufgeführt, dass die Entscheidungen der Kommission über die Feststellung eines Wettbewerbsverstoßes und die Verhängung eines Bußgelds keinen strafrechtlichen Charakter haben35. Ferner stellte das EuG fest, dass die von den Unionsgerichten ausgeübte Kontrolle über die Entscheidungen der Kommission gewährleistet, dass die sich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ergebenden Anforderungen an ein faires Verfahren erfüllt werden36. In seinen Urteilen vom 8.12.2011 in den Rechtssachen „Chalkor“37 und „KME“38 zog der EuGH, anders als GAin Sharpston in ihren Schlussanträgen, lediglich Art. 47 GRCH und nicht Art. 6 EMRK heran39. Das ersparte dem Gerichtshof eine Auseinandersetzung mit der Frage, die sich dann ergeben würde, inwieweit die im Kartellverfahren verhängten Bußgelder dem strafrechtlichen Bereich von Art. 6 EMRK zuzuordnen sind40. In ihren Schlussanträgen in der Rechtssache C-272/09 P, die auch in den Rs. C-386/10 P und C-389/10 P berücksichtigt wurden, argumentierte die GAin Sharpston unter Berufung auf das Jussila-Urteil des EGMR, dass die Durchsetzung des EU-Kartellrechts zum Außenbereich des Art. 6 EMRK gehört41. Daraus 33 EuG, Urteil v. 13.7.2011, Rs. T-138/07, Schindler Holding u. a./Kommission, Slg. 2011, II-4819, Rdnr. 52. 34 EuG, Urteil v. 13.7.2011, Rs. T-138/07, Schindler Holding u. a./Kommission, Slg. 2011, II-4819, Rdnr. 52. 35 EuG, Urteil v. 13.7.2011, Rs. T-138/07, Schindler Holding u. a./Kommission, Slg. 2011, II-4819, Rdnr. 54. 36 EuG, Urteil v. 13.7.2011, Rs. T-138/07, Schindler Holding u. a./Kommission, Slg. 2011, II-4819, Rdnr. 55. 37 EuGH, Urteil v. 8.12.2011, Rs. C-386/10 P, Chalkor AE Epexergasias Metallon/Kommission, Slg. 2011, I-13085. 38 EuGH, Urteil v. 8.12.2011, Rs. C-389/10 P, KME Germany AG, KME France SAS und KME Italy SpA/Kommission, Slg. 2011, I-13125. 39 Siehe beispielsweise EuGH, Urteil v. 8.12.2011, Rs. C-389/10 P, KME Germany AG, KME France SAS und KME Italy SpA/Kommission, Slg. 2011, I-13125, Rdnr. 119 und 133; EuGH, Urteil v. 8.12.2011, Rs. C-386/10 P, Chalkor AE Epexergasias Metallon/Kommission, Slg. 2011, I-13085, Rdnr. 51. 40 Sibony, CMLRev 2012, 1977 (1989 f.). 41 Schlussanträge der GAin Sharpston v. 10.02.2011 in Rs. C-272/09 P, Rdnr. 67.
A. Der Charakter der Bußgelder im EU-Kartellverfahren
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folgerte sie, dass die Struktur des EU-Systems zur Durchsetzung des Kartellrechts, die in diesem Verfahren unter anderem gerügt wurde, den Anforderungen von Art. 6 EMRK entsprach42. Auch andere Generalanwälte haben früher in Schlussanträgen diese Auffassung vertreten43. GA Yves Bot scheint in seinen Schlussanträgen im Fall E.ON/Kommission davon auszugehen, dass sowohl das Kartellbußgeldverfahren der Kommission als auch die Sanktionen nach Art. 23 VO 1/2003 strafrechtlichen Charakter haben, indem er auf die Art. 6 EMRK und Art. 47 GRCH verwies44. Es lässt sich also festhalten, dass sich eine Reihe von Generalanwälten offener bezüglich der Anerkennung des strafrechtlichen Charakters der von der Kommission verhängten Geldbußen zeigt, während der EuGH und das EuG den verwaltungsrechtlichen Charakter des Verfahrens betonen, das zu diesen Sanktionen führt. 3. Rückschlüsse auf den Charakter der Sanktionen im EU-Kartellbußgeldverfahren aus der EGMR-Rechtsprechung Art. 6 Abs. 1 EMRK gilt für Verfahren über Streitigkeiten über „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“, sowie für Verfahren über die „Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage“. In Bezug auf die erste Kategorie ist zu betonen, dass die Vorschrift nicht nur privatrechtliche Ansprüche im engeren Sinne sondern auch aus dem öffentlichen Recht stammende Rechte umfasst45. Bezüglich der zweiten Kategorie der „strafrechtlichen Anklage“ ist anzumerken, dass der Gerichtshof für Menschenrechte sich nicht an die jeweilige Bedeutung dieses Begriffs in den nationalen Rechtsordnungen lehnt, sondern seine autonome Begriffsauslegung zugrunde legt. Grund für diese Praxis des EGMR ist nicht nur die Gewährleistung eines effektiven Grundrechtsschutzes, sondern auch der Ausschluss der Möglichkeit der Konventionsmitglieder, durch Entkriminalisierung bestimmter Maßnahmen die Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK einzuschränken46. Seit dem Engel-Urteil47 in 1970 hat das Straßburger Gericht drei Kriterien aufgestellt, 42
Schlussanträge der GAin Sharpston v. 10.02.2011 in Rs. C-272/09 P, Rdnr. 70. Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 14. April 2011, Rs. C-109/10, Solvay SA/Kommission, Slg. 2011, I-10329, Rdnr. 256; Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi vom 17. Februar 2011, Rs. C-521/09 P, Slg. 2011, I-8947, Rdnr. 30–31. 44 Schlussanträge des Generalanwalts Bot v. 21.6.2012, Rs. C-89/11 P, E.ON Energie AG/ Europäische Kommission, noch nicht veröffentlicht in der amtlichen Sammlung, Rdnr. 108; vgl. auch Frenz, EWS 2012, 359 (360). 45 Grabenwarter/Pabel, § 24, Rdnr. 7 ff. 46 EGMR, Urteil v. 21.2.1984, Beschwerdenr. 8544/79, Öztürk./.Deutschland, EuGRZ 1985, S. 62, Ziff. 49. 47 EGMR, Urteil v. 8.6.1976, Beschwerdenr. 5100/71; 5101/71; 5102/71; 5354/72; 5370/72, Engel u. a./.Niederlande, Serie A 73, EuGRZ 1976, S. 221, Ziff. 82–83. Diese Rechtsprechung wurde in einem neueren Urteil bestätigt: EGMR, Urteil v. 23.11.2006 (Große Kammer), Beschwerdenr. 73053/01, Jussila./.Finnland, Ziff. 30 ff. 43
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§ 3 Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht § 3Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht
anhand deren es das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage beurteilt. Ausschlaggebend für eine solche Annahme sind dann i) die Zuordnung der Vorschrift nach nationalen Recht dem Straf- oder Disziplinarrecht, ii) die Natur der Tat und iii) die Art und Schwere der für die Tat vorgesehene Sanktion. Wichtig ist, dass die Kriterien unter ii) und iii) alternativ sind, was zur Folge hat, dass alleine die Erfüllung von einem für die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK ausreicht48. Das erste Kriterium ist die Qualifizierung der Vorschrift nach nationalem Recht und dient dem EGMR als Ausgangspunkt seiner Analyse. Die rechtliche Qualifizierung einer Maßnahme oder Sanktion in einer nationalen Rechtsordnung dient nur als ein Indiz für die reale Natur der Maßnahme oder der Sanktion und ist nicht bindend für den EGMR49. Bedeutsamer sind jedoch das zweite und das dritte Kriterium. Entscheidend beim zweiten Prüfstein sind der Inhalt und das Ziel der untersuchten Regelung. Weist die Vorschrift einen sowohl abschreckenden, als auch repressiven Charakter auf, dann ist anzunehmen, dass Art. 6 auf die strafbare Tat anwendbar ist50. Die Funktion der angedrohten Sanktion ist also maßgeblich. Von Bedeutung ist auch der Adressatenkreis der untersuchten Regelung. Richtet sich eine Vorschrift an die Allgemeinheit, ist das ein Indiz für den strafrechtlichen Charakter der Tat. Der allgemeine Adressatenkreis war genau das Kriterium, auf dessen Grundlage der EGMR die strafrechtliche Natur von Ordnungswidrigkeiten nach dem deutschen Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) bejaht hat51. Der EGMR hat aber die Anwendung des Art. 6 auf die Verhängung von Zwangsstrafen oder Beugestrafen abgelehnt, da letztere nicht auf die Repression eines rechtlich verbotenen Verhaltens, sondern auf die Erzwingung eines rechtlich gebotenen Verhaltens abzielen52. Das dritte Kriterium der Art und Schwere der Strafe steht in engem Zusammenhang mit dem zweiten, mit der Natur des Vergehens. Es erstreckt sich auf sämtliche potenziellen Auswirkungen der Sanktion auf den Betroffenen, die Ausfluss der Art der Sanktion (Freiheitsstrafe, Geldstrafe, andere freiheitsbeschränkende Maßnahmen), der angedrohten Höchststrafe und der Modalitäten der Vollstreckung sind53. Maßgeblich für die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK ist nur die abstrakte Strafdrohung und nicht die tatsächlich verhängte Sanktion. Man kann davon ausgehen, dass eine Freiheitsstrafe grundsätzlich die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK be 48 EGMR, Urteil v. 23.11.2006 (Große Kammer), Beschwerdenr. 73053/01, Jussila./.Finnland, Ziff. 31. 49 EGMR, Urteil v. 27.9.2011, Beschwerdenr. 43509/08, A. Menarini Diagnostics S. R. L./. Italien, abrufbar unter www.echr.coe.int, Ziff. 39; EGMR, Urteil v. 21.2.1984, Beschwerdenr. 8544/79, Öztürk./.Deutschland, Serie A, Nr. 73, Ziff. 52. 50 Grabenwarter/Pabel, § 24, Rdnr. 19. 51 EGMR, Urteil v. 21.2.1984, Beschwerdenr. 8544/79, Öztürk./.Deutschland, EuGRZ 1985, S. 62, Ziff. 53. 52 Siehe zum Beispiel EGMR, Urteil v. 2.6.1993, K., Beschwerdenr. 16002/90, Serie A 255-B, Ziff. 38 f. 53 Grabenwarter/Pabel, § 24, Rdnr. 20.
A. Der Charakter der Bußgelder im EU-Kartellverfahren
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gründet. Bezüglich der Geldstrafen, die von Interesse für den hier untersuchten Bereich des Kartellrechts sind, gibt es keinen festen Betrag, ab dem die Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK beginnt. Es gilt der Grundsatz, dass eine „strafrechtliche Anklage“ dann vorhanden ist, wenn die Verhängung der angedrohten Geldstrafe schwerwiegende Folgen für den Beschuldigten hat, die ihrer Schwere nach einer nicht nur kurzfristigen Freiheitsstrafe entsprechen54. Der EGMR hat sich, soweit ersichtlich, bis jetzt noch nie zur rechtlichen Natur des EU-Kartellverfahrens und der da vorgesehenen Geldbußen geäußert. Eine Möglichkeit wurde ihm im Fall „Senator Lines“55 angeboten, in dem es um die Beschwerde eines Unternehmens wegen Verletzung von Art. 6 EMRK durch eine von der Kommission im Kartellverfahren auferlegten Geldbuße ging. Da aber das EuG die Bußgeldentscheidung der Kommission für nichtig erklärte, erklärte der EGMR die Beschwerde als unzulässig, ohne auf den Sachverhalt einzugehen. Im Jahr 1989 hat die Europäische Kommission für Menschenrechte56 eine Entscheidung über einen aus dem Bereich des französischen Kartellrechts stammenden Sachverhalts erlassen57. Auf der anderen Seite hat der EGMR eine Beschwerde russischer Unternehmen, wegen angeblichen Verstoßes gegen Art. 6 EMRK, da ihnen im Jahre 2004 aufgrund einer Verletzung des russischen Anti-Monopolgesetzes ein Teil der Gewinne beschlagnahmt wurde, abgelehnt, indem er argumentierte, dass das angefochtene Verfahren nicht strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 6 EMRK war58. Im Fall Jussila/Finnland, der eine geltend gemachte Verletzung von Art. 6 EMRK im Rahmen eines Steuerverfahrens vor einem Verwaltungsgericht betraf, wiederholte der EGMR, dass es keine Änderung in seiner Rechtsprechung gegeben hatte, die eine Abkehr von der Feststellung rechtfertigen würde, dass eine nicht besonders schwere Sanktion („minor nature of a penalty“) in einem Steueroder andere Verwaltungsverfahren entscheidend sein könnte, um ein Vergehen/ eine Zuwiderhandlung, das ansonsten strafrechtlichen Charakter hat, aus dem Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK auszuschließen59. In Anlehnung an seine Ent 54
Grabenwarter/Pabel, § 24, Rdnr. 22. EGMR, Senator Lines GmbH./.Österreich, Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal, Spanien, Schweden und Vereinigtes Königreich, Beschwerdenr. 56672/00, CEDH 2004IV. 56 Die Europäische Kommission für Menschenrechte war dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgeschaltet und hatte eine Filterfunktion, da sie Individualbeschwerden zur Entscheidung annahm, eine Entscheidung mit Empfehlungscharakter aussprach und den Streit gütlich beizulegen versuchte. Bei Scheitern dieses Versuchs durfte sie (oder der vom Fall betroffene Staat) den EGMR anrufen. Die Europäische Kommission für Menschenrechte wurde durch das 11. Zusatzprotokoll zur EMRK, das am 1.11.1998 in Kraft getreten ist, abgeschafft. 57 Europäische Kommission für Menschenrechte, Stenuit./.Frankreich, Entscheidung v. 11.7.1989, A/232-A. Der Beschwerdeführer zog seine Beschwerde im Jahre 1991 zurück. 58 Entscheidung v. 3.6.2004 über die Zulässigkeit der Beschwerden von OOO Neste St. Petersburg und andere./.Russland. 59 EGMR, Urteil v. 23.11.2006, Beschwerdenr. 73053/01, Jussila./.Finnland, Rdnr. 35. 55
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§ 3 Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht § 3Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht
scheidungen in den Fällen „Ezeh und Connors“60 und „Öztürk“ betonte der EGMR ferner, dass er nicht davon überzeugt war, dass die Natur von Steuerverfahren die Nicht-Anwendung von Art. 6 EMRK rechtfertigte. Während die Wichtigkeit der Steuererhebung für die ordnungsgemäße Funktion des Staates dem EGMR bewusst war, war der EGMR nicht davon überzeugt, dass die Nicht-Geltung von Verfahrensgarantien bezüglich der Verhängung von Sanktionen mit Strafcharakter in Steuerverfahren notwendig war, um die Wirksamkeit solcher Verfahren zu gewährleisten61. Der EGMR wendete im Anschluss die sogenannten „Engel“-Kriterien an62 und stellte fest, dass das dem Jussila-Fall zugrundeliegende Steuerverfahren als strafrechtlich zu bezeichnen war, da die Natur des Vergehens strafrechtlich war, da die Steuerzuschläge durch eine Norm verhängt wurden, die auf Bestrafung und Abschreckung abzielte63. Die Engel-Kriterien kamen auch im Urteil im Fall „Menarini“64 zur Anwendung. Das Urteil des EGMR hat besondere Bedeutung für das EU-Kartellverfahren, da es die Beschwerde eines italienischen Unternehmens gegen das Bußgeld betrifft, das die italienische Wettbewerbsbehörde („Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato“- im Folgenden: „AGCM“) gegen dieses Unternehmen wegen illegaler Preisabsprachen auf dem Markt für Diabetesdiagnostiktests verhängt hatte. Der Beschwerdeführende rügte die eingeschränkte Prüfungskompetenz der nationalen Verwaltungsgerichte in Bezug auf Entscheidungen der AGCM, die sich auf eine Legalitätskontrolle beschränkt. Insofern machte der Beschwerdeführende eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend. An diesem Punkt sei angemerkt, dass das italienische Kartellverfahren viele Ähnlichkeiten zum EU-Kartellverfahren aufweist. Die Geldbußen für Zuwiderhandlungen im Bereich des Wettbewerbsrechts werden auf Grundlage des Gesetzes 287 vom 10.10.1990 von einer Behörde verhängt, die gleichzeitig über die Ermittlungs- und die Entscheidungskompetenz verfügt. Die Entscheidungen der AGCM, die eine unabhängige Behörde ist, können vor den italienischen Ver waltungsgerichten erster Instanz angefochten werden, die eine uneingeschränkte Prüfungszuständigkeit haben. Das Verwaltungsgericht kann die Entscheidung (also den Verwaltungsakt) für nichtig erklären oder sie in Bezug auf die Höhe der Geldbuße modifizieren. Im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit der Beschwerde befasste sich der EGMR mit der Frage, ob das Verfahren vor der AGCM als strafrechtlich für die Zwecke des Art. 6 EMRK zu bezeichnen ist. Der EGMR stellte zuerst fest, dass 60 EGMR, Urteil v. 9.10.2003, Beschwerdenr. 39665/98 and 40086/98, Ezeh und Connors./. Vereinigtes Königreich, Ziff. 82 ff. 61 EGMR, Urteil v. 23.11.2006, Beschwerdenr. 73053/01, Jussila./.Finnland, Rdnr. 36. 62 EGMR, Urteil v. 23.11.2006, Beschwerdenr. 73053/01, Jussila./.Finnland, Ziff. 36–39. 63 EGMR, Urteil v. 23.11.2006, Beschwerdenr. 73053/01, Jussila./.Finnland, Ziff. 38. 64 EGMR, Urteil v. 27.9.2011, Beschwerdenr. 43509/08, A. Menarini Diagnostics S. R. L./. Italien.
A. Der Charakter der Bußgelder im EU-Kartellverfahren
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die dem Beschwerdeführenden zur Last gelegten Zuwiderhandlungen keine Straftaten nach dem italienischen Recht darstellten. Die Wettbewerbsverstöße werden nicht auf Grundlage des Strafrechts sondern auf Grundlage des Gesetzes 287/1990 über den Wettbewerb geahndet. Die rechtliche Zuordnung eines Vergehens in der nationalen Rechtsordnung ist jedoch nach Auffassung des EGMR nicht entscheidend für die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK. Anschließend befasste sich der EGMR mit der Natur der Normen, die die Verhängung einer Geldbuße im Falle einer wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlung vorsehen. Der Gerichtshof stellte fest, dass die AGCM eine Aufsicht über wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen und Missbräuche einer marktbeherrschenden Stellung ausübt. Ihre Tätigkeit betrifft somit allgemeine Interessen der Gesellschaft, die in der Regel vom Strafrecht geschützt werden65. Darüber hinaus zielt die Verhängung der Geldbuße darauf ab, einer Wiederholung der Zuwiderhandlungen vorzubeugen. Aus diesen Gründen gelang der EGMR zum Schluss, dass die durch die AGCM verhängte Geldbuße auf einer Norm basierte, die gleichzeitig präventiven und repressiven Zweck hat66. Danach prüfte der EGMR das dritte Engel-Kriterium, die Schwere der Sanktion. Der Gerichtshof stellte zuerst fest, dass die streitige Geldbuße nicht durch eine Freiheitsstrafe im Falle der Nicht-Zahlung der Geldbuße ersetzt werden konnte. Dennoch hatte die von der AGCM verhängte Geldbuße in Höhe von EUR 6 Mio. sowohl einen repressiven Charakter, weil sie auf die Sanktionierung einer Zuwiderhandlung abzielte, als auch präventiven Charakter, da sie bezweckte, das betroffene Unternehmen von der Wiederaufnahme des wettbewerbswidrigen Verfahrens abzubringen. Der EGMR merkte ferner an, dass der strafrechtliche Charakter der Sanktionen für solche Zuwiderhandlungen auch von der Rechtsprechung des italienischen Staatsrates („Corte Suprema di Cassazione“) bestätigt wurde67. Auf Grundlage dieser Feststellungen und unter Berücksichtigung des hohen Betrags der verhängten Geldbuße kam der EGMR zum Schluss, dass die streitige Sanktion aufgrund ihrer Schwere dem Bereich des Strafrechts zuzuordnen sei68. In diesem Zusammenhang fügte der Gerichtshof hinzu, dass er sich bereits mit mehreren Entscheidungen unabhängiger Behörden mit Sanktionierungszuständigkeiten befasst hatte, die dem strafrechtlichen Bereich im Sinne von Art. 6 EMRK zuzuordnen sind. Die strafrechtlichen Garantien von Art. 6 EMRK waren insbesondere auf das Verfahren und die Entscheidungen des französischen „Conseil 65
EGMR, Urteil v. 27.9.2011, Beschwerdenr. 43509/08, A. Menarini Diagnostics S. R. L./. Italien, Ziff. 40 mit Verweis auf Bericht der Kommission v. 30.5.1991, Société Stenuit/France, Serie A, Nr. 232-A, Rdnr. 62. 66 EGMR, Urteil v. 27.9.2011, Beschwerdenr. 43509/08, A. Menarini Diagnostics S. R. L./. Italien, Ziff. 40. 67 EGMR, Urteil v. 27.9.2011, Beschwerdenr. 43509/08, A. Menarini Diagnostics S. R. L./. Italien, Ziff. 41. 68 EGMR, Urteil v. 27.9.2011, Beschwerdenr. 43509/08, A. Menarini Diagnostics S. R. L./. Italien, Ziff. 42.
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§ 3 Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht § 3Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht
de la Concurrence“69 (ehemalige französische Wettbewerbsbehörde, deren Nachfolgerin die aktuelle „Autorité de la Concurrence“ ist), des französischen „Conseil des marchés financiers“70 (Finanzmarktrat) und der französischen Bankkommission71 („Commission bancaire“) anwendbar. In der Sache selbst hat der EGMR auch interessante Ausführungen in Bezug auf die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf (verwaltungsrechtliche) Kartellverfahren gemacht. Nach Auffassung des Straßburger Gerichtshofs stellt die Verhängung einer Strafe von einer Behörde im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens keine Verletzung von Art. 6 EMRK. Die volle Achtung von Art. 6 EMRK verlangt aber, dass die Entscheidung der Behörde der unbeschränkten und vollumfänglichen Kontrolle durch ein Gericht unterliegt, wenn die entscheidende Behörde die Voraussetzungen von Art. 6 EMRK nicht erfüllt. Vollumfängliche Kontrolle bedeutet unter anderem die Möglichkeit des richterlichen Organs, die Entscheidung sowohl rechtlich als auch in der Sache selbst zu überprüfen und sie in jeglicher Hinsicht abändern zu dürfen. Insbesondere sollte das richterliche Organ dafür zuständig sein, sich mit allen Rechts- und Sachfragen der Entscheidung einer Behörde zu befassen72. Der EGMR wies ferner darauf hin, dass der Charakter eines Verwaltungsverfahrens sich in mehrfacher Hinsicht vom Charakter eines strafrechtlichen Verfahrens im engeren Sinne unterscheidet. Diese Unterschiede können zwar die Konventionsparteien nicht von ihrer Pflicht befreien, auch in einem Verwaltungsverfahren sämtliche strafrechtlichen Garantien von Art. 6 EMRK zu beachten, können aber Auswirkungen auf die Anwendungsmodalitäten dieser Garantien haben73. Die „Auswirkungen auf die Anwendungsmodalitäten“ beziehen sich auf und bestätigen eine besonders wichtige Feststellung des EGMR im Jussila-Urteil. Nachdem der Straßburger Gerichtshof die Engel-Kriterien in „Jussila“ angewandt hatte, kam er zwar zum Schluss, dass der streitige Steuerzuschlag als strafrechtlich zu bezeichnen war und unter den Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK fiel. Dennoch räumte der EGMR gleichzeitig auch ein, dass die Entwicklung des Konzepts von strafrechtlichen Maßnahmen im Sinne von Art. 6 EMRK durch die Anwendung der Engel-Kriterien zu einer systematischen Erweiterung der Reichweite des strafrechtlichen Passuses von Art. 6 EMRK geführt hat, so dass er auch Fälle erfasst, die nicht dem Strafrecht im herkömmlichen Sinne zuzuordnen sind. Dazu gehören beispielsweise Verwaltungssanktionen, Strafvollzugsdisziplinarverfahren, Sank 69
Siehe EGMR, Urteil v. 3.12.2002, Beschwerdenr. 53892/00, Lilly/Frankreich. Siehe EGMR, Urteil v. 27.8.2002, Beschwerdenr. 58188/00, Didier/Frankreich. 71 Siehe EGMR, Urteil v. 11.6.2009, Beschwerdenr. 5242/04, Dubus S. A./Frankreich, Ziff. 36. 72 EGMR, Urteil v. 27.9.2011, Beschwerdenr. 43509/08, A. Menarini Diagnostics S. R. L./. Italien, Ziff. 59. 73 EGMR, Urteil v. 27.9.2011, Beschwerdenr. 43509/08, A. Menarini Diagnostics S. R. L./. Italien, Ziff. 62. 70
A. Der Charakter der Bußgelder im EU-Kartellverfahren
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tionen im Zollrecht, im Wettbewerbsrecht und im Finanzmarktrecht74. Insbesondere in Bezug auf das streitige Steuerzuschlagverfahren im Jussila-Fall stellte der EGMR fest, dass, da es nicht zum Strafrecht im herkömmlichen Sinne gehört, die strafrechtlichen Garantien von Art. 6 EMRK nicht in ihrer vollen Strenge auf es angewandt werden75. Daraus könnte man prima facie schließen, dass, soweit nichttraditionelle strafrechtliche Sanktionen von Art. 6 EMRK erfasst werden, die Garantien von Art. 6 EMRK nicht im selben Umfang wie für strafrechtliche Sanktionen im klassischen Sinne gelten. Aus diesem Überblick der EGMR-Rechtsprechung geht hervor, dass die von der Kommission im Rahmen des EU-Kartellverfahrens verhängten Bußgelder gegen Unternehmen als strafrechtlich im weiten, dem Art. 6 EMRK entsprechenden Sinne zu bezeichnen sind76. Insbesondere nach dem Menarini-Urteil des EGMR dürften auch die letzten Zweifel bezüglich einer solchen Zuordnung ausgeräumt sein77. Die Verhängung solcher Sanktionen von einer Behörde (von der Kommission) verstößt nicht gegen Art. 6 EMRK, solange die Entscheidung der Behörde der Kontrolle eines Gerichts mit voller Zuständigkeit für die Überprüfung dieser Entscheidung unterzogen werden kann78. Obwohl die von der Kommission verhängten Geldbußen vom EU-Gesetzgeber ausdrücklich als nicht strafrechtliche Sanktionen bezeichnet werden (Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003), erfüllen sie das zweite und dritte Engel-Kriterium. Einerseits dienen sie sowohl repressiven als auch generalpräventiven Zwecken und sind mit dem echte Strafen auszeichnenden Stigma behaftet. Andererseits ist die Höhe der verhängten Bußgelder, also die Schwere der Sanktion, ein weiteres Indiz dafür, dass die Bußgelder des EU-Kartellverfahrens strafrechtliche Sanktionen im weiten Sinne sind. Entgegen der vom EuG vertretenen Auffassung, dass die von der Kommission wegen Wettbewerbsverstöße verhängten Bußgelder als nicht traditionelle strafrechtliche Sanktionen nicht dem harten Kern des Art. 6 EMRK zuzuordnen sind79, ist von einer vollumfänglichen Anwendung der grundrechtlichen Postulate des Art. 6 EMRK im EU-Kartellverfahren auszugehen. Würde man das Jussila-Urteil so auslegen, dass jegliche von einer Verwaltungsbehörde verhängte Sanktion automatisch außerhalb des harten Kerns von Art. 6 EMRK zu platzieren wäre, würde das einen gewissen Ermessensspielraum für die Mitgliedstaaten eröffnen, damit sie die Anwendung der strengen Vorgaben von Art. 6 EMRK vermeiden. Das bedeutet, dass die Mitgliedstaaten unabhängig von der Schwere und vom Stigma einer Sanktion die Möglichkeit hätten auszuwählen, inwieweit die Vor 74
EGMR, Urteil v. 23.11.2006, Beschwerdenr. 73053/01, Jussila./.Finnland, Ziff. 43. EGMR, Urteil v. 23.11.2006, Beschwerdenr. 73053/01, Jussila./.Finnland, Ziff. 43. 76 So auch Bronckers/Vallery, ECL 2012, 283 (284). 77 So Sibony, CMLRev 2012, 1977 (1992). 78 So auch der EFTA Gerichtshof, Urteil v. 18.4.2012, Rs. E-15/10, Posten Norge/EFTA Surveillance Authority, Rdnr. 91. 79 Siehe zum Beispiel EuG, Urteil v. 13.7.2011, Rs. T-138/07, Schindler Holding u. a./Kommission, Slg. 2011, II-4819, Rdnr. 52–53. 75
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§ 3 Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht § 3Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht
gaben von Art. 6 EMRK auf diese Sanktion mit voller oder mit geringerer Stringenz anzuwenden sind80. Das könnte dadurch erreicht werden, dass die Mitgliedstaaten ihre Verwaltungsbehörden mit der Verhängung von schweren Sanktionen betrauen würden. Es wird aber ersichtlich, dass eine solche Auslegung ein Umgehungspotenzial in Bezug auf die Garantien von Art. 6 EMRK schafft und den Wunsch des EGMR nach der Gewährung des größtmöglichen Schutzes durch die EMRK konterkariert. Darüber hinaus sollte auch berücksichtigt werden, dass es sich bei der streitigen Sanktion im Jussila-Urteil um ein niedriges Bußgeld in Höhe von ca. 309 Euro handelte81, während sich die Bußgelder im EU-Kartellverfahren grundsätzlich im Millionenbereich bewegen. 4. Argumente aus der schleichenden Kriminalisierung des Kartellrechts in nationalen Rechtsordnungen Die Zuordnung des EU-Kartellverfahrens zum strafrechtlichen Bereich von Art. 6 EMRK und die durchgängige Anwendbarkeit der strafrechtlichen und strafprozessualen Garantien auf das EU-Kartellverfahren ergibt sich auch aus der schleichenden Kriminalisierung der Kartellverstöße auf EU- und auf internationaler Ebene82. Die Anzahl der Mitgliedstaaten, die Freiheitsstrafen für Führungskräfte von Unternehmen vorsehen, gegen die ein Bußgeld wegen Kartellverstoßes verhängt wurde, steigt. So sieht zum Beispiel der Enterprise Act 2002 (Section 188) im Vereinigten Königreich Haftstrafen für Führungskräfte von Unternehmen vor, die sich an Kartellen beteiligt haben. Haftstrafen für natürliche Personen im Fall von Hardcore-Kartellen sehen auch die Rechtsordnungen von Irland und Estland vor. Die Rechtsordnungen von Dänemark und Malta sehen zwar nur Buß gelder gegen Unternehmen im Fall von Kartellverstößen vor, die aber ausdrücklich strafrechtlicher Natur sind83. Ein weiterer Aspekt der Kriminalisierung von Kartellverstößen sind die in einigen Mitgliedstaaten vorgesehenen persönlichen, beruflichen Folgen für Mitarbeiter von Unternehmen, die sich an einer Zuwiderhandlung beteiligt haben. Section 204 des Enterprise Act 2002 sieht die Möglichkeit des Erlasses eines zeitlich begrenzten Verbots der Tätigkeit als Direktor eines Unternehmens gegen Führungskräfte von in Kartellen involvierten Unternehmen vor. Folgen in Bezug auf das berufliche Ansehen und die Karriere von Mitarbeitern mit persönlicher Involvierung in den von einem Unternehmen begangenen Wettbewerbsverstoß kann 80
Vgl. Bronckers/Vallery, ECL 2012, 283 (288). EGMR, Urteil v. 23.11.2006, Beschwerdenr. 73053/01, Jussila./.Finnland, Ziff. 10. 82 Anderson und Cuff bezeichnen das Phänomen als „creeping criminalization of antitrust infringement“: Anderson/Cuff, Fordham Int’l L. J. 2011, 385. Siehe zur Kriminalisierung des Kartellrechts auch Lampert/Götting, WuW 2002, 1069–1070. 83 Wils, in: Cseres/Schinkel/Vogelaar (Hrsg.), S. 60 (71). 81
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es aber auch ohne eine spezifische Rechtsgrundlage geben. Diese sich aus dem Arbeitsrecht ergebenden Auswirkungen sind nicht so einfach zu quantifizieren, da sie soweit ersichtlich nicht systematisch erfasst werden84. Dennoch kann aus Presseberichten gefolgert werden, dass persönliche berufliche Konsequenzen für Unternehmensmitarbeiter, die die Zuwiderhandlung aktiv unterstützt haben oder die von der Zuwiderhandlung Kenntnis hatten und sie toleriert haben, keine Ausnahme darstellen85. Diese Kriminalisierung von Kartellen, die im Übrigen mit der VO 1/2003 vereinbar ist, da letztere nur die Vereinheitlichung des materiellen Wettbewerbsrechts in Bezug auf das Verbot wettbewerbswidriger Absprachen und teilweise in Bezug auf den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung bewirkt, beschränkt sich nicht nur auf die bereits genannten EU-Mitgliedstaaten (Vereinigtes Königreich, Irland, Estland, Dänemark und Malta). Die Einführung von Kronzeugenprogrammen für kartellbeteiligte Unternehmen in fast alle EU-Mitgliedstaaten ist auch ein Zeichen schleichender Kriminalisierung. Kronzeugenprogramme stellten lange Zeit ein Instrument von Staatsanwaltschaften und Strafgerichten dar und waren für besonders schwere Straftaten vorgesehen86. Nachdem aber die Kommission die Erkenntnis gemacht hatte, dass das US-amerikanische Kronzeugenprogramm im Bereich des Kartellrechts sich als effizientes Instrument für die Kartellbekämpfung auch in der EU einsetzen ließ und nachdem sie 1996 die EU-Kronzeugenmitteilung erließ, folgte eine Reihe von EU-Mitgliedstaaten, die Unternehmen Erlass oder Reduktion der Geldbuße als „Gegenleistung“ dafür versprechen, dass sie ihre Beteiligung an einem schweren Wettbewerbsverstoß zugeben und mit der nationalen Wettbewerbsbehörde zum Zweck der vollständigen Aufdeckung und Aufarbeitung des jeweiligen Sachverhalts zusammenarbeiten. Schließlich sollte noch berücksichtigt werden, dass die schleichende Kriminalisierung des EU-Kartellrechts durch die Anerkennung des strafrechtlichen Charakters der von der Kommission verhängten Bußgelder sich in die international zu verzeichnende Tendenz zur Kriminalisierung von Kartellverstößen fügt87. Die Kriminalisierung von Wettbewerbsverstößen zielt darauf ab, die Generalprävention zu stärken und die öffentliche Durchsetzung des Kartellrechts zu fördern. 84
Slater/Thomas/Waelbroeck, ECJ 2009, 97 (110). Siehe zum Beispiel den Fall des sogenannten „Schienenkartells“ in Deutschland, der bei einem der beteiligten Unternehmen zur Entlassung des gesamten Vorstands führte: „ThyssenKrupp feuert Vorstand wegen des Schienen-Skandals“, Handelsblatt, 7.7.2011, abrufbar unter http://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/koepfe/thyssen-krupp-feuert-vorstandwegen-des-schienen-skandals/4366340.html. 86 Vgl. Wils, in: Cseres/Schinkel/Vogelaar (Hrsg.), S. 60 (68). 87 Siehe beispielsweise die Novellierung des kanadischen Competition Act am 12.3.2010, der nunmehr effektive Instrumente zur strafrechtlichen Verfolgung der schwersten Kartellverstöße vorsieht. Informationen über die Novellierung des kanadischen Competition Act sind auf der Webseite http://www.competitionbureau.gc.ca/eic/site/cb-bc.nsf/eng/h_03036.html abrufbar. In Bezug auf die strafrechtliche Verfolgung von Kartellen im Vereinigten Königreich auf Grundlage von Abschnitt 6 des Enterprise Act 2002 siehe Nazzini, ECLR 2003, 483 ff. 85
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5. Argumente aus der von der Kommission verwendeten strafrechtlichen Terminologie Darüber hinaus macht die Kommission im Rahmen des Kartellbußgeldverfahrens Gebrauch von strafrechtlichen Konzepten wie zum Beispiel die Wiederholungstäterschaft oder Rückfälligkeit („recidivism“)88. Die Rückfälligkeit, die aus dem harten Kern des Strafrechts stammt, bedeutet, dass ein Unternehmen bereits in der Vergangenheit für einen gleichartigen oder ähnlichen Verstoß gegen Art. 101 oder 102 AEUV sanktioniert wurde. Die Rückfälligkeit wird als erschwerender Umstand von der Kommission bei der Bußgeldzumessung berücksichtigt89. Die Verwendung des Begriffs „Rückfälligkeit“ im eigentlich als Verwaltungsverfahren ausgestalteten EU-Kartellverfahren90 deutet darauf hin, dass die Kommission nicht nur auf die Abschreckungswirkung der Sanktion, so dass sich Unternehmen an die Wettbewerbsvorgaben halten, sondern auch auf die moralische Verurteilung des wettbewerbswidrigen Verhaltens und seine Stigmatisierung abzielt91. Das sind aber eher Merkmale des strafrechtlichen Charakters einer Sanktion. 6. Zwischenergebnis Aus alledem folgt, dass die im EU-Kartellverfahren verhängten Bußgelder angesichts der Engel-Rechtsprechung des EGMR dem strafrechtlichen Aspekt von Art. 6 EMRK zuzuordnen sind. Die im Jussila-Urteil vom EGMR vorgenommene Differenzierung zwischen herkömmlichen und nicht-herkömmlichen Bereichen des Strafrechts und zwischen Sanktionen, die dem harten Kern des Strafrechts (im Sinne von Art. 6 EMRK) angehören und quasi-strafrechtlichen Sanktionen, führt nicht zu einer Aufweichung der auf das EU-Kartellverfahren anwendbaren 88 Siehe zum Beispiel Zusammenfassung der Entscheidung der Kommission vom 22. Juli 2009 in einem Verfahren nach Artikel 81 EG-Vertrag und Artikel 53 EWR-Abkommen (Sache COMP/39.396 — Calciumcarbid und Reagenzien auf Magnesiumbasis für die Stahl- und Gasindustrie), ABl. EU v. 11.12.2009, C 301/18, Rdnr. 12; Zusammenfassung der Entscheidung der Kommission vom 7. Oktober 2009 in einem Verfahren nach Artikel 81 des EG-Vertrags und Artikel 53 des EWR-Abkommens (Sache COMP/39.129 — Leistungstransformatoren), ABl. EU v. 5.12.2009, C 296/21–22, Rdnr. 14; Zusammenfassung der Entscheidung der Kommission vom 28. Januar 2009 in einem Verfahren nach Artikel 81 EG-Vertrag und Artikel 53 EWRAbkommen (Sache COMP/39.406 — Marineschläuche), ABl. EU v. 21.07.2009, C 168/6–8, Rdnr. 16. 89 Siehe Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. EU v. 1.9.2006, C 210/2, Rdnr. 28. Feststellung einer Wiederholungstäterschaft kann zu einer Erhöhung des Grundbetrags der Geldbuße um bis zu 100 % führen. Vgl. auch Slater/Thomas/Waelbroeck, ECJ 2009, 97 (109). 90 So Schild/Terhechte, § 8 Strafrechtliche und strafprozessuale Garantien, in: Terhechte (Hrsg.), Rdnr. 8.7. 91 Slater/Thomas/Waelbroeck, ECJ 2009, 97 (109).
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strafrechtlichen Garantien von Art. 6 EMRK, da die Sanktionen im EU-Kartellverfahren nicht dem Außenbereich des Strafrechts im Sinne des Art. 6 EMRK und des Jussila-Urteils zuzuordnen sind. Das EU-Kartellbußgeldverfahren und die Bußgelder sind strafrechtlicher Natur92, da sie repressiven und präventiven Zwecken dienen und da sie mit einem erheblichen Maß an Stigma verbunden sind, wie der EGMR für die Zuordnung einer Sanktion zum harten Kern des Strafrechts verlangt93.
IV. Argumente gegen die Anerkennung des strafrechtlichen Charakters der Sanktionen im EU-Kartellverfahren In der Literatur wurde eine Reihe von Argumenten herangezogen, um die Ansicht zu bekräftigen, dass die Geldbußen im EU-Kartellverfahren rein verwaltungsrechtlicher Natur seien. 1. Die Bezeichnung der Sanktionen als nicht-strafrechtlich in Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 wurde oft als Grundlage des nicht-strafrechtlichen Charakters der Geldbußen im EU-Kartellverfahren herangezogen94. Diese Vorschrift kläre abschließend die Frage des Charakters der Entscheidungen der Kommission im Kartellbußgeldverfahren. Nach hier vertretener Auffassung ist das aber nicht offenkundig. Als erstes ist darauf hinzuweisen, dass Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 die Vorgängerregelung von Art. 15 VO 17/62 wiedergibt. In der Literatur herrscht Einigkeit darüber, dass die Regelung hauptsächlich klarstellen soll, dass die EU nicht über Zuständigkeiten im strafrechtlichen Bereich verfügt95. Ferner ist anzumerken, dass zur Zeit der Verabschiedung der VO 17/62 tatsächlich die Auffassung herrschte, dass die im Rahmen des Kartellverfahrens von der Kommission verhängten Geldbußen keinen strafrechtlichen Charakter hatten96. Für lange Zeit waren die wegen wettbewerbsrechtlicher Zuwiderhandlungen verhängten Geldbußen niedrig. Die von der Kommission verwendete Sprache in Bezug auf kartellbeteiligte Unternehmen und Kartelle war auch weniger scharf als heutzutage. Insofern ist es zwar zutreffend, dass das EU-Kartellverfahren ursprünglich als ein reines Verwaltungsverfahren und die Bußgelder als reine Verwaltungssanktionen konzipiert wurden. Dennoch haben insbesondere das Inkrafttreten der VO 1/2003, 92 Zustimmend Slater/Thomas/Waelbroeck, ECJ 2009, 97 (121); Weiss, in: Terhechte (Hrsg.), Rdnr. 72.47–72.48; Nazzini, CMLRev 2012, 971 (980 f.); Bombois, Cah. dr. europ. 2011, (576); Einarsson, YEL 2006, 555 (612). 93 Siehe EGMR, Urteil v. 23.11.2006, Beschwerdenr. 73053/01, Jussila./.Finnland, Ziff. 43. 94 Siehe zum Beispiel de Bronett, Artikel 23, Rdnr. 6. 95 Slater/Thomas/Waelbroeck, ECL 2009, 97 (104) mit weiteren Nachweisen. 96 Slater/Thomas/Waelbroeck, ECL 2009, 97 (104).
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§ 3 Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht § 3Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht
die damit verbundene Ausweitung der Ermittlungsbefugnisse der Kommission und die Anhebung des Bußgeldniveaus zu einer Veränderung der Natur der von der Kommission verhängten Geldbußen geführt. Auch wenn das EU-Kartellverfahren im Kern ein Verwaltungsverfahren bleibt97, sind die von der Kommission verhängten Bußgelder doch strafrechtlicher Natur. Darüber hinaus spielt die Bezeichnung einer Sanktion oder eines Verfahrens im nationalen Recht für die Anwendbarkeit des strafrechtlichen Aspekts von Art. 6 EMRK eine relative Rolle, wie der EGMR in ständiger Rechtsprechung anerkennt98. Die autonome Auslegung des Begriffs „strafrechtliche Anklage“ durch den EGMR zielt darauf ab, den Individuen den größtmöglichen Schutz durch die Konvention zu gewähren und das Risiko einer einseitigen Einschränkung der Reichweite von Art. 6 EMRK durch die Signatarstaaten zu minimieren. Der relative Wert der Bezeichnung der Kommissionsentscheidungen in Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 als nicht-strafrechtlich wird auch dadurch deutlich, dass es bereits im Rahmen der Novellierung von VO 17/62 Stimmen gegeben hat, die trotz des Wortlauts von Art. 15 VO 17/62 und des Entwurfs von Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 von einem strafrechtlichen Charakter der durch die Kommission im Kartellverfahren verhängten Sanktionen auszugehen schienen. So vertrat das Europäische Parlament die Auffassung, dass eine vollumfängliche Prüfung der im Rahmen des Kartellverfahrens erlassenen Entscheidungen der Kommission erforderlich sei. Das sei notwendig in Anbetracht der Tatsache, dass die Frage der Vereinbarkeit des Kartellverfahrens der (damaligen) Gemeinschaft als Ganzes mit Art. 6 EMRK von besonderer Bedeutung wäre, wenn, wie es als wahrscheinlich erscheint, die Bußgelder, die von der Kommission verhängt werden können, als strafrechtlich im Sinne von Art. 6 EMRK betrachtet werden99. Schließlich bedeutet die Bezeichnung einer Sanktion als nicht-strafrechtlich nicht automatisch, dass das zur Verhängung dieser Sanktion führende Verfahren keine „strafrechtliche Anklage“ im Sinne von Art. 6 EMRK darstellt. Art. 6 EMRK macht die Achtung von strafrechtlichen und strafprozessualen Garantien abhängig von der Erhebung einer strafrechtlichen Anklage und nicht von der Verhängung einer Strafe100. Die Rechtsnatur der angedrohten Sanktionen ist nur eins von den Engel-Kriterien. Daraus folgt, dass die in Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 vorgenommene Bezeichnung der Bußgeldentscheidungen der Kommission im Kartellverfahren weder abschließend die Frage der Rechtsnatur dieser Sanktionen klärt, noch die Feststellung ausschließt, dass die Bußgelder der Kommission strafrechtlichen Charakter haben. 97
de Bronett, Artikel 23, Rdnr. 6. Siehe beispielsweise EGMR, Urteil v. 8.6.1976, Beschwerdenr. 5100/71; 5101/71; 5102/71; 5354/72; 5370/72, Engel u. a./Niederlande, Ziff. 81. 99 Stellungnahme des Europäischen Parlaments, erste Lesung oder einzige Lesung, ABl. EG v. 21.3.2000, C 72/236. Siehe insbesondere Änderungsantrag 43. 100 Slater/Thomas/Waelbroeck, ECL 2009, 97 (106). 98
A. Der Charakter der Bußgelder im EU-Kartellverfahren
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2. Argument aus dem Charakter der Kommission als Verwaltungsorgan im weiten Sinne Ein weiteres Argument gegen die Bezeichnung der Sanktionen im EU-Kartellverfahren als strafrechtlich im Sinne von Art. 6 EMRK ist, dass die Kommission eine Verwaltungsbehörde ist, woraus sich ableiten lasse, dass auch die Sanktionen im Kartellverfahren als Verwaltungssanktionen betrachtet werden sollten101, und, dass Wettbewerbsverstöße nicht zum harten Kern des Kriminalunrechts gehören. Diese Ansicht verkennt aber, dass der Charakter des Verfahrens nicht maßgeblich für den Charakter der im Verfahren vorgesehenen Sanktionen ist102. Darüber hinaus folgt der Inhalt des Begriffs „Straftat“ der sozialen Entwicklung, um den sozialen Gegebenheiten Rechnung zu tragen. So war zum Beispiel der Begriff der Umweltkriminalität bis vor einigen Jahrzehnten so gut wie unbekannt. Ferner war die Sklaverei bis vor 200 Jahren in einigen Ländern noch erlaubt103. An diesen Beispielen wird der dynamischen Charakter des Strafrechts sichtbar, dem die Rechtsprechung zu Art. 6 EMRK über den Begriff der „strafrechtlichen Anklage“ durch die Anwendung der Engel-Kriterien Rechnung trägt. Deswegen vermag auch nicht das Argument zu überzeugen, dass das EU-Kartellverfahren nicht traditionell dem Strafrecht zuzuordnen ist. Art. 6 EMRK enthält zwei Aspekte, den zivilrechtlichen und den strafrechtlichen. Die Kriterien darüber, welcher Aspekt im Einzelfall zum Tragen kommt, wurden in der Rechtsprechung des EGMR entwickelt, der die Begriffe „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ und „strafrechtliche Anklagen“ autonom auslegt104. 3. Argument aus der Gefährdung der Effektivität des EU-Kartellverfahrens durch die Anerkennung des strafrechtlichen Charakters der Bußgelder Der EuGH und das EuG argumentieren in ständiger Rechtsprechung, dass die Anerkennung der strafrechtlichen Natur der Bußgeldentscheidungen der Kommission im EU-Kartellverfahren die Effektivität des EU-Wettbewerbsrechts ernsthaft gefährden würde105. Insbesondere würde die volle Anwendbarkeit der strafrechtlichen und strafprozessualen Garantien auf das EU-Kartellverfahren die Effektivität der Ermittlungsbefugnisse der Kommission und der öffentlichen Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts erheblich kompromittieren.
101
So Mail-Fouilleul, S. 376, Rdnr. 418. de Bronett, Artikel 23, Rdnr. 6. 103 Vgl. Slater/Thomas/Waelbroeck, ECL 2009, 97 (117). 104 Siehe Meyer-Ladewig, Art. 6, Rdnr. 4. 105 EuGH, Urteil v. 18.9.2003, Rs. C-338/00 P, Volkswagen AG/Kommission, Slg. 2003, I-9189, Rdnr. 97; EuG, Urteil v. 1.7.2008, Rs. T-276/04, Compagnie maritime belge S. A./Kommission, Slg. 2008, II-1277, Rdnr. 66. 102
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§ 3 Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht § 3Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht
Dieses Argument vermag aus mehreren Gründen nicht zu überzeugen. Je schwerer der von der Verfolgungsbehörde erhobene Vorwurf und die angedrohte Sanktion, desto wichtiger die Beachtung der prozessualen Garantien, die ein faires Verfahren gewährleisten. Ferner reichen Argumente über die Verfahrenseffizienz kaum aus, um tiefe Eingriffe in die Grundrechte der Unternehmen im Rahmen des EUKartellverfahrens zu rechtfertigen106. Es ist zwar eine Tatsache, dass die Grundrechte Schranken unterliegen. Die Reichweite dieser Schranken hängt aber von der Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen ab. Ferner sollte berücksichtigt werden, dass Grundrechte Prinzipien sind, die ihre maximale Erfüllung gebieten. Da die vollumfängliche Anwendbarkeit der strafrechtlichen und strafprozessualen Garantien auf das EU-Kartellverfahren seine Effizienz nicht erheblich beeinträchtigt, wie es nachher in Bezug auf die einzelnen Grundrechtsgarantien zu zeigen ist, können die Verfahrenseffizienzargumente eine Beschränkung der Reichweite der strafrechtlichen und strafprozessualen Garantien im EU-Kartellverfahren auf ein Maß, das der Kategorisierung der Sanktionen im EU-Kartellverfahren als „geringfügige Straftat“ entsprechen würde, nicht rechtfertigen. Die Effizienzargumente in Bezug auf das EU-Kartellverfahrensrecht können dem allgemeineren Auslegungsgrundsatz der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts zugeordnet werden. Der Auslegungsgrundsatz der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts gründet darauf, dass die EU-Primär- und Sekundärrechtsvorschriften einen Effekt in der gesellschaftlichen Realität beabsichtigen107. Obwohl dem Effet-utile als Auslegungsgrundsatz ein relativ großes Gewicht zuzukommen ist, ist bei der Auslegung des Unionsrechts im Lichte des Prinzips der vollen Wirksamkeit des Unionsrechts eine Abwägung zwischen dem Erfordernis der praktischen Wirksamkeit des EU-Rechts einerseits und den grundrechtlich geschützten Interessen der natürlichen und juristischen Personen in der EU andererseits geboten108. Weitere Einschränkungen der Reichweite des Effektivitätsargumentes ergeben sich aus der Hierarchie der Rechtsnormen. Beim EU-Kartellverfahrensrecht handelt es sich größtenteils um Sekundärrecht der EU109, während die EU-Grundrechte als Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze, deren Achtung die Unionsgerichte zu wahren haben, und aufgrund der rechtlichen Gleichrangigkeit der 106
So Slater/Thomas/Waelbroeck, ECL 2009, 97 (120). Vgl. Potacs, EuR 2009, 465 (469). 108 Potacs, EuR 2009, 465 (478). 109 „Größtenteils“ wird hier verwendet, weil ein nicht unbeachtlicher Teil des EU-Kartellverfahrensrechts in Kommissionsmitteilungen und Kommissionsleitlinien niedergelegt ist, die kein Sekundärrecht im eigentlichen Sinne (Verordnungen, Richtlinien) darstellen, sondern eher soft-law-Charakter (entfalten Selbstbindungswirkung für die Kommission) aufweisen. Als Beispiele zu nennen sind hier die Bußgeldleitlinien der Kommission, die Kronzeugenregelung und die Mitteilung über den Vergleich in Kartellverfahren. Kritisch zu der Häufung der softlaw-Instrumente, nicht zuletzt im Bereich des EU-Kartellrechts, und zu ihrer Vereinbarkeit mit Art. 290 AEUV Weiß, EWS 2010, 257 ff. 107
A. Der Charakter der Bußgelder im EU-Kartellverfahren
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Europäischen Grundrechtecharta mit dem EUV und mit dem AEUV Primärrecht, und somit übergeordnetes Recht darstellen. Es erscheint fraglich, inwieweit das Argument der Effektivität von Sekundärrechtsvorschriften, die der Durchsetzung einer Politik der EU dienen, eine Einschränkung der Reichweite von Grundrechten bewirken kann, die in einigen Fällen den harten Kern des Schutzbereichs eines Grundrechtes berührt, wie das der Fall mit dem Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung ist, den die Rechtsprechung des EuGH auf ein Verbot des Zwangs zur Ablegung eines Geständnisses reduziert. Auch bei einer vollumfänglichen Anwendung der Grundsätze des Straf- und Strafverfahrensrechts im EU-Kartellverfahren erlauben die Ausnahmen zu diesen Grundsätzen und der Spielraum, der bei ihrer Auslegung zur Verfügung steht, eine Anwendung dieser Grundsätze, die die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts durch die Kommission nicht erheblich oder ungerechtfertigt beeinträchtigt110. 4. Argument aus der geringeren Reichweite der Garantien strafrechtlichen Ursprungs im EU-Kartellverfahren Ferner wird vereinzelt in der Literatur die Meinung vertreten, dass das EU-Kartellverfahren und die von der Kommission verhängten Bußgelder keinen strafrechtlichen Charakter haben, da die Verfahrensgarantien im Kartellverfahren über eine geringere Reichweite als die Verfahrensgarantien in Strafverfahren stricto sensu verfügen111. Dieses Argument enthält aber einen logischen Denkfehler, da es sich auf die Reichweite der Verfahrensgarantien stützt, um daraus Schlüsse über den Charakter des Verfahrens und der Sanktionen zu ziehen. Es geht aber vielmehr um den Charakter der Sanktionen selbst, der wiederum Rückschlüsse auf die Reichweite und die Natur der auf das Verfahren anzuwendenden Garantien erlauben wird112. Das ist auch der Ansatz des EGMR in seiner Rechtsprechung zu Art. 6 EMRK. Wenn es sich nach der Anwendung der Engel-Kriterien herausstellt, dass es sich um eine strafrechtliche Anklage im Sinne von Art. 6 EMRK handelt, finden die strafrechtlichen und strafprozessualen Garantien der EMRK Anwendung. Dieser Syllogismus funktioniert stets in diese Richtung: Die Charakterisierung eines Verfahrens als strafrechtlich im Sinne von Art. 6 EMRK führt zur Anwendung von strafrechtlichen und strafprozessualen Garantien. Er funktioniert aber nicht in die umgekehrte Richtung: Wenn die strafrechtlichen und strafprozessualen Garantien auf ein Verfahren keine Anwendung finden, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass dieses Verfahren keinen strafrechtlichen Charakter hat113. Die Nicht-Anwendung
110
Vgl. Schwarze, WuW 2009, 9. So zum Beispiel Wils, in: Cseres/Schinkel/Vogelaar (Hrsg.), S. 60–109 (71). 112 Slater/Thomas/Waelbroeck, ECL 2009, 97 (119). 113 Vgl. Slater/Thomas/Waelbroeck, ECL 2009, 97 (120). 111
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§ 3 Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht § 3Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht
der erhöhten Verfahrensgarantien lässt keine sicheren Schlüsse auf den Charakter des Verfahrens zu, da sie auch daran liegen könnte, dass der im Verfahren vom Staat oder von der supranationalen Institution gewährte Grundrechtsschutz hinter den EMRK-Standards bleibt. 5. Argument aus den fehlenden Freiheitsstrafen Schließlich wird auf das Fehlen von Freiheitsstrafen und auf die Befugnis der Kommission zur Sanktionierung lediglich juristischer Personen im EU-Kartellverfahren hingewiesen, um den nicht-strafrechtlichen Charakter der Bußgeldentscheidungen zu belegen. Die Sanktionierung einer juristischen Person könne nicht mit einem ethischen Schuldvorwurf verbunden werden114, da dies das Prinzip der Persönlichkeit der Strafe verletzen würde115. Aus der Engel-Rechtsprechung ergibt sich aber, dass die Natur und die Schwere der zu verhängenden Sanktionen nur eins von insgesamt drei Kriterien ist, auf deren Grundlage festgestellt wird, inwieweit eine strafrechtliche Anklage vorliegt. Während die Verhängung von Freiheitsstrafen zwangsläufig zur Bezeichnung eines Verfahrens als strafrechtlich führt, bedeutet die Tatsache, dass ein Verfahren nicht zur Verhängung von Freiheitsstrafen führen kann, nicht ohne weiteres, dass keine strafrechtliche Anklage im Sinne von Art. 6 EMRK vorliegt. Das wird nicht zuletzt vom Jussila-Urteil bestätigt, in dem der EGMR eine Liste von Rechtsbereichen aufgeführt hat, die zum nicht-herkömmlichen Strafrecht im Sinne von Art. 6 EMRK gehören und in denen Freiheitsstrafen selten als Sanktion vorgesehen sind. Auch die Verhängung von Geldbußen, wenn sie wie im EU-Kartellverfahren besonders hoch sind und mit einem Stigma für die bebußte natürliche oder juristische Person verbunden sind, reicht für die Annahme einer strafrechtlichen Anklage im Sinne von Art. 6 EMRK aus.
V. Ergebnis: Volle Anwendbarkeit der Garantien von Art. 6 EMRK aufgrund des strafrechtlichen Charakters der Geldbußen im EU-Kartellverfahren Obwohl sich der EGMR im Menarini-Urteil sich nicht dazu geäußert hat, ob die Bußgelder im Kartellverfahren dem harten Kern des Art. 6 EMRK zuzuordnen sind, sprechen die Schwere der Sanktion, der repressive und generalpräventive Charakter der Sanktion, sowie das mit der Sanktion verbundene Stigma (Reputationsverlust für die betroffenen Unternehmen) dafür, dass Bußgelder im Kartell verfahren dem harten Kern des Art. 6 EMRK zugeordnet werden sollten. 114
Kling/Thomas, S. 323, Rdnr. 88. Ross, S. 102.
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A. Der Charakter der Bußgelder im EU-Kartellverfahren
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Der EGMR unterscheidet in seiner Rechtsprechung zwischen zwei Arten des Begriffs „strafrechtlich“ („criminal“) im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Einerseits gibt es den harten Kern des Strafrechts (zum Beispiel alle Taten, die vom nationalen Strafrecht geahndet werden) und andererseits erkennt das Straßburger Gericht einen weiteren „strafrechtlichen“ Bereich, unter die alle diesen Verfahren fallen, deren Sanktionen ein geringeres Gewicht im Verhältnis zu den Strafen des Strafrechts stricto sensu aufweisen und mit einem geringeren Stigma als Strafen behaftet sind116. Nach hier vertretener Auffassung spricht das Jussila-Urteil des EGMR nicht gegen die vollumfängliche Anwendbarkeit von strafrechtlichen Garantien auf das EU-Kartellverfahren. Es ist zwar eine Tatsache, dass das Jussila-Urteil des EGMR so ausgelegt werden könnte, dass die Bußgelder im Kartellrecht zu den sogenannten „nicht herkömmlichen“ Bereichen des Strafrechts im Sinne der EGMR-Rechtsprechung zu Art. 6 EMRK gehört. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass sämtliche nicht herkömmliche Bereiche des Strafrechts automatisch der Peripherie von Art. 6 EMRK zuzuordnen sind. Denn es gibt keinen Grundsatz, dass auf nicht herkömmliche Bereiche des Strafrechts die Grundsätze des harten Kerns des Art. 6 EMRK nicht anwendbar sind. Aus dem Wortlaut des Urteils wird ersichtlich, dass der EGMR um eine potenziell ausufernde Anwendung der Engel-Kriterien besorgt ist. Der differenzierte Ansatz, den er verfolgt, indem er zwischen dem harten Kern des Strafrechts und dem Außenbereich des Strafrechts unterscheidet, ist ein Versuch, die möglichen Folgen einer solchen ausufernden Anwendung einzudämmen. In Jussila deutet der EGMR auf eine Einschränkung der Folgen aus der Anwendung der EngelKriterien in Bezug auf solche Fälle hin, die eher „technischer“ und administrativer Natur sind, wie zum Beispiel Verfahren über Steuerangelegenheiten oder über Verkehrsverstöße117. Die Frage ist allerdings, nach welchen Kriterien nicht herkömmliche Bereiche des Strafrechts dem harten Kern des Strafrechts zuzuordnen sind. Das sollte nach hier vertretener Ansicht von der Schwere der angedrohten Sanktionen und vom Stigma, das der Sanktionierung anhaftet, abhängig sein. Die Schwere der Sanktionen im EU-Kartellrecht und das Stigma, das den bebußten Unternehmen wegen der Kartellbeteiligung und anschließenden Bestrafung anhaften, rechtfertigen die vollumfängliche Anwendbarkeit der sich aus Art. 6 EMRK ergebenden strafrechtlichen Garantien im EU-Kartellverfahrensrecht. In Bezug auf das Stigma in Fällen der Sanktionierung von Unternehmen wegen Beteiligung an illegalen Kartellabsprachen (Festsetzung von Preisen, Marktaufteilung, Manipulation von Angeboten bei Ausschreibungen) ist auf die Rhetorik der Kommission in ihren Pressemitteilungen und Entscheidungen sowie auf die 116
Vgl. EGMR, Urteil v. 23.11.2006, Beschwerdenr. 73053/01, Jussila./.Finnland, Ziff. 43. So auch Riley, ECLR 2010, 191 (200).
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§ 3 Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht § 3Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht
von Kommissionsmitgliedern verwendete Sprache in Reden über das Einschreiten der Kommission in Kartellfällen. In der Pressemitteilung der Kommission über das fünfte Kartellvergleichsverfahren im Fall des Kühlkompressorenkartells steht folgende Äußerung des für Wettbewerbspolitik zuständigen Vizepräsidenten der Kommission Joaquín Almunia: „Ich möchte allen klar machen, dass die Kommission weiterhin mit voller Kraft Kartelle aufdecken, verfolgen und bestrafen wird. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten ist es noch wichtiger, den lauteren Wettbewerb zu fördern und Kartelle stärker zu bekämpfen, denn sie schaden Produktivität und Wirtschaftswachstum erheblich“118. In einem Vortrag im Rahmen der 15. Internationalen Wettbewerbskonferenz stellte Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia ferner fest, dass „Our fines are set at levels designed to punish the companies that have broken the law and deter them or others from engaging in anti-competitive behaviour“ [freie Übersetzung: Unsere Bußgelder werden auf einem solchen Niveau festgesetzt, das bezweckt, die Unternehmen, die gegen das Gesetz verstoßen sind, zu bestrafen und diese Unternehmen, oder andere, davon abhalten, sich an wettbewerbswidrigen Verhalten zu beteiligen].119 Die ehemalige Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes hatte sich im Rahmen einer von der International Bar Association und von der Kommission organisierten Konferenz folgenderweise geäußert: „It is up to us to show that when we break up cartels, it is to stop money being stolen from customers’ pockets“ [freie Übersetzung: Es ist unsere Aufgabe aufzuzeigen, dass wir, wenn wir ein Kartell beseitigen, das Ziel verfolgen, dass kein Geld mehr von Kunden gestohlen wird]120. Aus diesen Beispielen wird deutlich, dass die Kommission Hardcore-Kartellverstöße als eine besonders gravierende wettbewerbliche Zuwiderhandlung einstuft und dass sie durch die Sanktionierung auch auf einen gewissen Reputationsschaden der Kartellanten abzielt, so dass die Sanktion nicht nur wegen der Höhe der Geldbuße abschreckend wirkt121. Dieses Stigma aufgrund der Sanktionierung fehlt bei den meisten Bereichen, die vom EGMR im Jussila-Urteil als gehörend zum nicht herkömmlichen strafrechtlichen Bereich aufgeführt wurden, ist aber den Sanktionen im Falle von Kartellverstößen inhärent122. Diese Auffassung scheint auch der EFTA-Gerichtshof zu teilen. In seinem Urteil in der Rs. „Posten Norge“ stellte er fest, dass in Anbetracht der Natur und der Schwere der Anschuldigung im streitigen Fall (Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung) nicht angenommen werden konnte, dass der Fall eine strafrechtliche Anklage geringeren Gewichts betraf. Der Betrag der Geldbuße war erheblich und das aus der Sanktion hervorgehende Stigma war nicht unerheblich123. 118
Pressemitteilung der Kommission v. 7.12.2011, IP/11/1511. Pressemitteilung der Kommission v. 14.4.2011, SPEECH/11/268. 120 Pressemitteilung der Kommission v. 10.3.2005, SPEECH/05/157. 121 Vgl. Riley, ECLR 2010, 191 (200). 122 Siehe auch Wils, in: Cseres/Schinkel/Vogelaar (Hrsg.), S. 60 (62). 123 EFTA Gerichtshof, Urteil v. 18.4.2012, Rs. E-15/10, Posten Norge/EFTA Surveillance Authority, Rdnr. 90. 119
A. Der Charakter der Bußgelder im EU-Kartellverfahren
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Diese Ausführungen des EFTA-Gerichtshofes deuten darauf hin, dass er mittelbar anerkennt, dass Sanktionen wie sie im Fall „Posten Norge“ verhängt wurden, dem harten Kern des Strafrechts zuzuordnen sind124. Das hätte als Folge, dass die Garantien des Art. 6 EMRK mit voller Stringenz auf das Kartellverfahren anzu wenden wären. Für die vollumfängliche Anwendbarkeit der Garantien des strafrechtlichen Bereichs von Art. 6 EMRK auf das EU-Kartellverfahren sprechen auch weitere Argumente. Einerseits sind die in EU-Kartellverfahren verhängten Geldbußen, die bis 10 % des Umsatzes eines Unternehmens betragen können, die höchsten, die in der EU für Zuwiderhandlungen ziviler oder strafrechtlicher Natur verhängt werden125. Die Geldbuße kann sogar an die 1-Milliarde Euro nahe herankommen126. Das Niveau der von der Kommission gegen Kartellsünder verhängten Bußgelder übersteigt heutzutage bei weitem das Niveau der Bußgelder, die in Mitgliedstaaten im Allgemeinen für strafbare Handlungen vorgesehen sind127. Darüber hinaus erkennt der EuGH in ständiger Rechtsprechung das Recht der Kommission an, das Niveau der Geldbußen aus Abschreckungsgründen anzuheben128. Die heutige Dimension der Geldbußen im EU-Kartellverfahren kann nur durch die Schwere der Zuwiderhandlung gerechtfertigt werden. Das führt dann zur Anwendbarkeit der strafrechtlichen Garantien von Art. 6 EMRK auf das EU-Kartellverfahren, die vom differenzierten Ansatz des EGMR im Jussila-Urteil nicht betroffen ist. Die vollumfängliche Anwendbarkeit der strafrechtlichen und strafprozessrechtlichen Garantien im EU-Kartellverfahren ist auch aus rechtsstaatlichen Gründen erforderlich. Diese Garantien müssen als rechtsstaatliches Gegengewicht auf die der Kommission eingeräumte Kompetenz dienen, schwere Geldbußen gegen Unternehmen wegen Kartellverstöße zu verhängen. Aus alledem folgt, dass die Argumente gegen eine Qualifizierung der Sanktionen im Rahmen des EU-Kartellverfahrens als strafrechtlich nicht überzeugen können. Die Qualifizierung der Bußgelder im EU-Kartellverfahren als strafrechtlich im Sinne von Art. 6 EMRK führt zur Anwendung der strafrechtlichen und strafprozessualen Grundsätze der EMRK in ihrer vollen Stringenz. Das ist nicht zuletzt auch aus rechtsstaatlichen Gründen geboten. Es liegt zwar auf der Hand, 124
So auch Bronckers/Vallery, ECL 2012, 283 (293). Vgl. Riley, ECLR 2010, 191 (200). 126 Das Unternehmen Saint-Gobain musste wegen seiner Beteiligung am Autoglaskartell eine Geldbuße in Höhe von EUR 896,000,000 bezahlen. Im Fall des Kathodenstrahlröhren-Kartells hat die Kommission im Dezember 2012 gegen 7 Hersteller von solchen Röhren Geldbußen von insgesamt EUR 1,470,515,000 verhängt (Pressemitteilung der Kommission v. 5.12.2012, IP/12/1317). Siehe diesbezüglich und in Bezug auf die zehn höchsten Geldbußen, die gegen einzelne Unternehmen verhängt wurden, die Kartellstatistik der Kommission abrufbar unter http://ec.europa.eu/competition/cartels/statistics/statistics.pdf. 127 Temple-Lang, in: Baudenbacher (Hrsg.), S. 194 (203). 128 EuGH, Urteil v. 19.3.2009, Rs. C-510/06 P, Archer Daniels Midland/Kommission, Slg. 2009, I-1843, Rdnr. 59; EuGH, Urteil v. 7.6.1983, verb. Rs. 100–103/80, Musique diffusion française/ Kommission, Slg. 1983, 1825, Rdnr. 109. 125
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§ 3 Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht § 3Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht
dass die effiziente Durchsetzung des EU-Kartellrechts die effiziente Aufdeckung und Verfolgung von wettbewerblichen Zuwiderhandlungen voraussetzt. Aus diesem Grund wird der Kommission ein Ermessensspielraum bei der Ausübung ihrer Zuständigkeiten bei der Durchsetzung des EU-Kartellrechts eingeräumt. Wenn aber das Verfahren, wie es auch der Fall mit dem EU-Kartellverfahren ist, zu strafrechtlichen Sanktionen führt, können Zweckmäßigkeits- und Effizienzerwägungen, die die Reichweite des zu gewährenden Grundrechtsschutzes beschränken, nur bedingt berücksichtigt werden129. Die zwingende Anwendung von strafrechtlichen und strafprozessualen Garantien, die als Gegengewicht zum Ermessensspielraum der Behörde wirken, schränkt die Durchschlagskraft von Effizienzerwägungen ein. Nachdem der strafrechtliche Charakter der Bußgelder im EU-Kartellverfahren festgestellt wurde, gilt nun zu prüfen, was diese Feststellung bezüglich der Rolle und der Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahren bedeutet.
B. Die Rolle und die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahren angesichts des strafrechtlichen Charakters der Bußgelder I. Gebot eines hohen Grundrechtsschutzes durch das Rechtsstaatsprinzip Die Ermittlungsbefugnisse der Kommission im Rahmen des Kartellverfahrens stellen einen starken Eingriff in grundrechtlich geschützte Positionen juristischer Personen dar. Es ist aus rechtsstaatlichen Gründen geboten, dass den erweiterten Ermittlungsbefugnissen der Kommission ein hinreichendes Gegengewicht gegenübergestellt wird, so dass den Betroffenen eines EU-Kartellverfahrens ein vollumfänglicher Rechtsschutz gegen jegliche Kompetenzüberschreitung oder Machtmissbrauch gewährt wird. Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit stellen gleichzeitig aber auch die Grenze der Qualifikation der Sanktionen im EU-Kartellverfahren durch den europäischen Gesetzgeber und durch den EuGH und das EuG dar130. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist die in Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 vorgenommene Qualifizierung der Entscheidungen der Kommission im Kartellverfahren als nicht strafrechtlich von relativer Bedeutung. Insbesondere kann sie keinen Einfluss auf die Zuordnung der Sanktionen im EU-Kartellverfahren zum strafrechtlichen Aspekt von Art. 6 EMRK und auf die volle Anwendbarkeit der strafrechtlichen und strafprozessualen Garantien im EU-Kartellverfahren haben, wie sich letztere aus dieser Zuordnung zum strafrechtlichen Aspekt von Art. 6 ERMK ergibt.
129
So Schwarze, EuZW 2003, 261 (266). Schwarze, EuZW 2003, 261 (269).
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B. Die Rolle angesichts des strafrechtlichen Charakters der Bußgelder
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Daraus folgt, dass auf das EU-Kartellverfahren und seine Sanktionen die Vorgaben von Art. 6 EMRK durchgängig anzuwenden sind. Die Anwendbarkeit ergibt sich mittelbar durch die in Erwägungsgrund 37 der VO 1/2003 statuierte Pflicht, die VO 1/2003 im Einklang mit den Grundrechten, wie sie insbesondere in der Charta der Grundrechte verankert sind, auszulegen und anzuwenden. Durch den Verweis der Homogenitätsklausel von Art. 52 Abs. 3 GRCH, die sämtliche Grundrechte betrifft, die sowohl in der EMRK als auch in der Charta garantiert sind, kommen die Vorgaben von Art. 6 und 7 EMRK auch im EU-Kartellverfahren zum Tragen. Art. 6 EMRK garantiert das Recht auf ein faires Verfahren. Diese Vorschrift spielt eine besondere Rolle im EU-Kartellverfahren und wird besonders häufig in Gerichtsverfahren über die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen der Kommission in Wettbewerbssachen herangezogen131. Aus dem allgemeinen Recht auf ein faires Verfahren hat der EGMR durch Heranziehung der in der Präambel der Konvention festgeschriebenen Rechtsstaatlichkeit eine Reihe von Teilrechten entwickelt, die auch als besondere Aspekte des Rechts auf ein faires Verfahren betrachtet werden können132. Als Ausfluss der Garantie eines fairen Verfahrens gelten das Recht auf Gehör, der Grundsatz der Waffengleichheit und das Recht auf Akteneinsicht. Zu den strafrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Garantien, die sich aus Art. 6 EMRK ergeben, gehört das Recht zu schweigen und sich selbst nicht bezichtigen zu müssen („nemo tenetur se ipsum accusare“), die Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK), sowie der Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandanten. Diese vom Recht auf ein faires Verfahren abgeleiteten Rechte sind auch in Kapitel VI der Grundrechtecharta mit dem Titel „Justizielle Rechte“ niedergelegt: Art. 47 GRCH garantiert das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht und Art. 48 Abs. 1 legt den Grundsatz der Unschuldsvermutung nieder, während Art. 48 Abs. 2 die Verteidigungsrechte (zu denen auch das Recht auf Gehör zählt) garantiert. Art. 7 EMRK, der den Grundsatz „nulla poena sine lege“ statuiert, entspricht Art. 49 GRCH, der die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen garantiert.
131
Iglesias-Sanchez, CMLRev 2012, 1565 (1572). Vgl. Meyer-Ladewig, Art. 6, Rdnr. 90.
132
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§ 3 Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht § 3Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht
II. Wachsende Relevanz des Grundrechtsschutzes im EU-Kartellverfahren aufgrund der Institutionalisierung des Grundrechtsschutzes Der praktische Aspekt der Frage über die Reichweite der Grundrechte im EUKartellverfahren wird nicht zuletzt an der Rechtsprechung des EuG und des EuGH im Bereich des Wettbewerbsrechts sichtbar. Ermittlungshandlungen der Kommission und die Nicht-Gewährung von gewissen Rechten an die Verfahrensbetroffenen, die von den Betroffenen vor den Unionsgerichten angefochten wurden und werden, haben Anlass zu einer reichen Rechtsprechung gegeben, die die Grundrechtsdogmatik auf EG- (früher) und (nunmehr) EU-Ebene weiterentwickelt hat und die zu einem stärkeren Grundrechtsschutz in der EU geführt hat. Als typisches Beispiel des Beitrags der rechtlichen Auseinandersetzung zwischen vom Kartellverfahren betroffenen Unternehmen und der Kommission zur Entwicklung des Grundrechtsschutzes auf EU-Ebene ist die Gewährleistung des Schutzes der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandanten (das sogenannte „legal privilege“) zu nennen. Der Beitrag des EU-Kartellverfahrensrechts zur Entwicklung der Dogmatik und der Reichweite der EU-Grundrechte ist im Laufe der Zeit seit dem Inkrafttreten der ersten Kartellverfahrensverordnung nicht geringer geworden. Neue Fragen ergeben sich ständig, wie nicht nur die wachsende Anzahl der Klagen beim EuG gegen Bußgeldentscheidungen der Kommission133 und die darauf ergehenden Urteile des EuG und des EuGH (in zweiter Instanz), sondern auch die umfangreiche Literatur zur Frage des Verhältnisses zwischen dem EU-Kartellverfahrensrecht und den Grundrechten zeigen134. Es ist zu erwarten, dass die Relevanz der Grundrechte für das EU-Kartellverfahren noch weiter steigen wird. Der Grund dafür liegt in der Institutionalisierung des Grundrechtsschutzes auf EU-Ebene. Die Verbindlichkeit der Grundrechtecharta und ihre Erhebung zum Primärrecht durch den Vertrag von Lissabon sowie der künftige Beitritt der EU zur EMRK ändern die Grundrechtsschutzlandschaft auf EU-Ebene erheblich. Diese Änderung wird sich auch auf den Grundrechtsschutz im Rahmen des EU-Kartellverfahrens auswirken. Die Betroffenen eines Kartellverfahrens der Kommission werden die Möglichkeit haben, Entscheidungen der Kommission vor dem Straßburger Gerichtshof wegen Grundrechts
133 In Bezug auf die beim EuG neu eingegangenen Rechtssachen im Zeitraum 2007–2011 ergibt sich folgendes Bild (in Klammern die Anzahl der den Wettbewerb betreffenden Rechtssachen): 2007 – 522 (62), 2008 – 629 (71), 2009 – 568 (42), 2010 – 636 (79), 2011 – 722 (39). Siehe Jahresbericht des Gerichtshofes der Europäischen Union 2011, S. 201–202, abrufbar unter http://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2012-06/ra2011_statistiques_tribunal _de.pdf. 134 Siehe aus der neueren Literatur beispielsweise Wils, World Compet. 2011, 189 ff.; Weiß, ECLR 2011, 186 ff.; Wils, World Compet. 2010, 5 ff.; Forrester, EL Rev 2009, 817 ff.
B. Die Rolle angesichts des strafrechtlichen Charakters der Bußgelder
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verletzungen anzufechten. Das wird zur Etablierung einer weiteren Kontrollinstanz (nach dem EuG und dem EuGH) für Kommissionsentscheidungen und zur Ausübung von mehr Druck auf die Kommission für die Achtung der Grundrechte führen. Darüber hinaus führen die Verrechtlichung der Grundrechtecharta und die künftige unmittelbare Bindung der EU an die Vorgaben der EMRK zu einer erhöhten Wahrnehmung des Grundrechtsschutzes, die wiederum den EU-Recht sprechungsinstanzen, den Rechtsberatern und den Unternehmen Anlass geben wird, Grundrechtsschutzfragen im Rahmen des EU-Kartellverfahrens noch öfter zu thematisieren135.
III. Konsequenzen für den Grundrechtsschutz im EU-Kartellverfahren aus der Rezeption der EMRK-Rechtsprechung in der Rechtsprechung der Unionsgerichte In der grundrechtsrelevanten Rechtsprechung des EuGH lässt sich eine gewisse Annäherungstendenz an die EGMR-Rechtsprechung verzeichnen. Insbesondere mehren sich in den letzten Jahren in den Urteilen des EuGH und des EuG die Verweise auf die EGMR-Rechtsprechung136. Die Unionsgerichte betonen sogar, dass die Entwicklungen der EGMR-Rechtsprechung von den Unionsgerichten bei der Auslegung der Unionsgrundrechte berücksichtigt werden müssen137. Dennoch führt diese Berücksichtigungspflicht nach Auffassung des EuG nicht gleichzeitig zur Pflicht, die Rechtsprechung der Unionsgerichte an die EGMR-Judikatur anzupassen138. Darüber hinaus stellte das EuG kürzlich fest, dass es „die Rechtmäßigkeit einer wettbewerbsrechtlichen Untersuchung nicht anhand der Bestimmungen der EMRK beurteilen kann, da diese als solche nicht Bestandteil des Gemeinschaftsrechts sind“139. Der EMRK komme lediglich eine besondere Bedeutung bei der 135
Anderson/Cuff, Fordham Int’l L.J 2011, 385 (413). Siehe beispielsweise EuGH, Urteil v. 17.12.1998, Rs. C-185/95 P, Baustahlgewebe GmbH/Kommission, Slg. 1998, I-8417, Rdnr. 29; Urteil v. 8.7.1999, Hüls AG/Kommission, Slg. 1999, I-4287, Rdnr. 149 ff.; Urteil v. 27.6.2006, Rs. C-540/03, Europäisches Parlament/Rat der Europäischen Union, Slg. 2006, I-5769, Rdnr. 42, 54 und 65 ff. (Heranziehung der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK); Urteil v. 15.10.2002, Rs. C-238/99 P u. a., Limburgse Vinyl Maatschappij/Kommission, Slg. 2002, I-8375, Rdnr. 274. 137 EuGH, Urteil v. 15.10.2002, Rs. C-238/99 P u. a., Limburgse Vinyl Maatschappij/Kommission, Slg. 2002, I-8375, Rdnr. 274; EuG, Urteil v. 29.4.2004, verb. Rs. T-236/01, T-239/01, T-244/01 bis T-246/01, T-251/01 und T-252/01, Tokai Carbon Co. Ltd. u. a./Kommission, Slg. 2004, II-1181, Rdnr. 405. 138 EuG, Urteil v. 29.4.2004, verb. Rs. T-236/01, T-239/01, T-244/01 bis T-246/01, T-251/01 und T-252/01, Tokai Carbon Co. Ltd. u. a./Kommission, Slg. 2004, II-1181, Rdnr. 405. 139 EuG, Urteil v. 8.7.2008, Rs. T-99/04, AC-Treuhand AG/Kommission, Slg. 2008, II-1501, Rdnr. 45. 136
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§ 3 Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht § 3Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht
Ausarbeitung und Auslegung der Unionsgrundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts zu140. Andererseits gibt es Beispiele in der Rechtsprechung der Unionsgerichte, aus denen sich ergibt, dass der EuGH in einigen Fällen die Rechtsprechung des EGMR übernimmt und sie zur unionsrechtlichen Rechtsprechung macht141. Dabei handelt es sich aber meistens um Fälle, die sich außerhalb des Bereichs des Wettbewerbsrechts befinden142. Im Bereich des Wettbewerbsrechts scheinen aber die Unionsgerichte ein besonders großes Gewicht auf die praktische Wirksamkeit („effet utile“) der Wettbewerbsvorschriften zu legen, die dann eine Einschränkung der Reichweite der Grundrechte zugunsten der Effektivität des EU-Kartellverfahrensrechts rechtfertigen würde. Es ist insgesamt fraglich, inwiefern an dieser Haltung der Unionsgerichte gegenüber der EMRK und der EGMR-Rechtsprechung auch nach der Verbindlichkeit der Europäischen Grundrechtecharta und dem künftigen EU-Beitritt zur EMRK festgehalten werden kann. Es könnte behauptet werden, dass die Einstellung der Unionsgerichte gegenüber der EGMR-Rechtsprechung Merkmale einer „Rosinenpickerei“ aufweist. In solchen Fällen, in denen die EGMR-Recht sprechung sich im Einklang mit den nach Ansicht des EuGH festgestellten Zielen des Unionsrechts befindet oder sie sogar fördert, wird sie ohne Änderungen übernommen und auf den unionsrechtlichen Sachverhalt angewendet. Wenn aber die Unionsgerichte der Auffassung sind, dass sich die Rechtsprechung des EGMR in Bezug auf ein Grundrecht nicht mit den Zielen des Unionsrechts vereinbaren lässt, weil ihre Übernahme und Anwendung auf den unionsrechtlichen Sachverhalt die praktische Wirksamkeit einer Vorschrift des Unionsrechts vereiteln würde, nehmen die Unionsgerichte Abstand von dieser Rechtsprechung und ziehen eine autonome Auslegung der Reichweite des einschlägigen Grundrechts vor. Diese Vorgehensweise der Unionsgerichte führt zu Unstimmigkeiten zwischen der Rechtsprechung des EGMR und derjenigen der Unionsgerichte. Solche Diskrepanzen sind aber nicht mehr hinnehmbar, da die meisten Garantien der EMRK nach der Erhebung der Europäischen Grundrechtecharta zum Primärrecht mit dem Vertrag von Lissabon aufgrund der Homogenitätsklausel von Art. 52 Abs. 3 GRCH mittelbar bindend für die Unionsgerichte sind143. Aus der aktuell mittelbaren Bindungswirkung der EMRK und der EGMRRechtsprechung für die EU-Organe (nicht zuletzt aufgrund der Klauseln in Art. 52 Abs. 3 und Art. 53 GRCH) ergibt sich auch eine Pflicht des EuGH, etwaige Dis-
140 EuG, Urteil v. 8.7.2008, Rs. T-99/04, AC-Treuhand AG/Kommission, Slg. 2008, II-1501, Rdnr. 45. 141 EuGH, Urteil v. 12.9.2006, Rs. C-145/04 und C-155/04, Königreich Spanien/Vereinigtes Königreich und Nordirland, Slg. 2006, I-7917, Rdnr. 95. 142 So Weiß, ECLR 2011, 186 (190). 143 Vgl. Weiß, ECLR 2011, 186 (190).
B. Die Rolle angesichts des strafrechtlichen Charakters der Bußgelder
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krepanzen zwischen seiner Grundrechtsrechtsprechung und derjenigen des EGMR zu beseitigen. Die Unionsgerichte können nicht mehr an ihrer Einstellung festhalten, dass die EGMR-Rechtsprechung keine Bindungswirkung für die EU-Rechtsordnung hat. Bislang haben die Unionsgerichte zwar es so weit wie möglich vermieden, die Grundrechte im Rahmen des EU-Rechts so auszulegen, dass die Erfüllung von den Mitgliedstaaten der aus dem EU-Recht ausgehenden Pflichten gleichzeitig eine Verletzung ihrer Pflichten aus der EMRK zum Ergebnis hätte144. Es ist aber nicht auszuschließen, dass der EGMR künftig sich mit grundrechtsrelevanter Rechtsprechung des EuGH befassen könnte, die hinter dem vom EGMR angebotenen Rechtsschutz zurückbleibt. Insbesondere in Bezug auf den Schutz des Nemo-tenetur-Grundsatzes und des Schutzes der Unverletzlichkeit der Geschäftsräume könnte es zu einer Prüfung der Rechtsprechung der Unionsgerichte durch den EGMR kommen, deren Ergebnis wahrscheinlich einer indirekten Aufforderung an den EuGH gleichkäme, eine Angleichung des EU-Grundrechtsschutzes an die Vorgaben der EMRK vorzunehmen. Es dürfte schwer zu bezweifeln sein, dass in solchen Fällen, in denen der EUGrundrechtsschutz eindeutig hinter den EMRK-Vorgaben zurückbleibt, die vom EGMR im Bosphorus-Urteil aufgestellte widerlegbare Vermutung der Gewährung eines gleichwertigen Grundrechtsschutzes auf EU-Ebene erfüllt werden könnte. Trotz der Vermutung eines gleichwertigen Grundrechtsschutzes auf EU-Ebene hat sich der EGMR die Prüfung eines EU-Aktes vorbehalten, wenn der im konkreten Fall gewährte Grundrechtsschutz eindeutig unzureichend („manifestly deficient“) ist145. Die mittelbare Bindung der EU an die EMRK führt zu Klarstellungen in Bezug auf den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der in der EU-Rechtsordnung garantierten Grundrechte. In Bezug auf die persönliche Reichweite ist darauf hinzuweisen, dass die Grundrechtecharta keine allgemeine Aussage über die Anwendbarkeit von Grundrechten auf juristische Personen enthält. Nur vereinzelt findet man in den Charta-Vorschriften ausdrückliche Ausführungen darüber, dass einige Grundrechte auch auf juristische Personen anwendbar sind (so zum Beispiel in Art. 42 GRCH, der das Recht auf Zugang zu Dokumenten gewährleistet). Im Übrigen gelten die Charta-Grundrechte ihrem Wortlaut nach für „jede Person“ (Art. 41 GRCH – Recht auf eine gute Verwaltung, Art. 47 GRCH – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht) oder für jeden „Angeklagten“ (Art. 48 – Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte). Der Wortlaut dieser Charta-Vorschriften lässt es prima facie offen, inwieweit sie auch für juristische Personen gelten. Klärung verschaffen die Unionsgerichte, die in ständiger Rechtsprechung auch bereits vor der Verkündung der Grundrechtecharta die Geltung dieser grundrechtlichen Garantien auch für juristische Personen an-
144
So Lebeck, ZÖR 2007, 195 (207). Vgl. Mayer, EuR – Beiheft 1 – 2009, 87 (88 f.).
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§ 3 Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht § 3Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht
erkennen146. Anders verhält es sich mit der EMRK, deren Rechte und Garantien von allen natürlichen und juristischen Personen einklagbar sind, wie es sich aus Art. 34 EMRK über die Individualbeschwerde ergibt. Art. 34 EMRK sieht das Recht „jeder natürlichen Person, nichtstaatlichen Organisation oder Personengruppe“ eine Individualbeschwerde beim Straßburger Gerichtshof einzureichen, wenn sie sich in ihren Konventionsrechten verletzt sehen. Als nichtstaatliche Organisationen sind juristische Personen, Vereine, Parteien und Kirchen zu verstehen147. Dadurch wird deutlich, dass die Grundrechte und die Garantien der EMRK grundsätzlich auch auf juristische Personen anwendbar sind, soweit diese Rechte ihrer Natur nach auf juristische Personen anwendbar sein können. Der Beitritt der EU zur EMRK und die dadurch erhöhte indirekte Bindungswirkung der Rechtsprechung des EGMR für die Unionsgerichte bedeuten auch, dass die Grundrechtsschranken der EMRK auch auf die EU-Grundrechte anwendbar sein werden. Das ergibt sich aus Art. 52 Abs. 3 GRCH und wird zur Kohärenz zwischen der EuGH- und der EMRK-Rechtsprechung beitragen. Im Gegensatz zur Grundrechtecharta, die in Art. 52 Abs. 1 eine allgemeine Einschränkungs klausel enthält, gemäß der Einschränkungen bei allen Grundrechten zulässig sind, soweit sie gesetzlich vorgesehen und erforderlich sind und den Wesensgehalt der Grundrechte wahren, sieht die EMRK keine allgemeine Schrankenklausel vor. Die EMRK sieht entweder grundrechtsspezifische Schranken in den einzelnen Vorschriften oder gar keinen Einschränkungsvorbehalt vor. Das bedeutet aber nicht, dass die EMRK absolut geltende Grundrechte garantiert. Auch bei Grundrechten ohne ausdrücklichen Einschränkungsvorbehalt ist ein Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts möglich, da man bei EMRK-Vorschriften ohne ausdrücklichen Einschränkungsvorbehalt von sogenannten „implizierten“ Einschränkungsgründen ausgeht148. Das Konzept der einzeln in den Grundrechtsvorschriften vorgesehenen Einschränkungsvorbehalte hat gegenüber der allgemeinen Einschränkungsklausel von Art. 52 Abs. 1 GRCH den Vorteil, dass es der Einschränkungsmöglichkeit von Grundrechten engere Grenzen setzt. Das wird insbesondere am Beispiel von Art. 8 Abs. 2 EMRK deutlich, der erschöpfend die Rechtfertigungsgründe für den Eingriff in das Recht der Achtung des Privat- und Familienlebens aufzählt. Die Einschränkungsmöglichkeiten des entsprechenden Rechts der Grundrechtecharta, das in Art. 7 niedergelegt ist, werden von der allgemeinen Schrankenklausel des Art. 52 Abs. 1 GRCH geregelt. Die Wirkung der allgemeinen Schrankenklausel wird allerdings durch Art. 52 Abs. 3 (Homo 146
Siehe zum Beispiel EuG, Urteil v. 5.8.2003, verb. Rs. T-116/01 und T-118/01, P & O European Ferries (Vizcaya), SA (T-116/01) und Diputación Foral de Vizcaya (T-118/01)/Kommission, Slg. 2003, II-2957, Rdnr. 209; EuG, Urteil v. 15.1.2003, verb.Rs. T-377/00, T-379/00, T-380/00, T-260/01 und T-272/01, Philip Morris International, Inc u. a./Kommission, Slg. 2003, II-1, Rdnr. 121–122; EuGH, Urteil v. 18.5.1982, Rs. 155/79, AM & S Europe Limited/Kommission, Slg. 1982, 1575; EuGH, Urteil v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Orkem/Kommission, Slg. 1989, 3283; siehe auch Streinz, in: Streinz (Hrsg.), Art. 41, Rdnr. 5. 147 Meyer-Ladewig, Art. 34, Rdnr. 10–11. 148 Jarass, § 6, Rdnr. 32.
B. Die Rolle angesichts des strafrechtlichen Charakters der Bußgelder
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genitätsklausel) und Art. 53 GRCH über das Schutzniveau der Chartabestimmungen relativiert. Insbesondere sieht Art. 53 GRCH vor, dass keine Chartavorschrift als Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte auszulegen ist, die in völkerrechtlichen Instrumenten wie der EMRK anerkannt werden, bei denen sämtliche Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind. Daraus folgt, dass der Beitritt der EU zur EMRK durch die Bindungswirkung der EMRK und der EGMR-Rechtsprechung die allgemeine Schrankenklausel des Art. 52 Abs. 1 GRCH näher konkretisieren und zu einem effektiveren Grundrechtsschutz für die Träger der Grundrechte beitragen wird.
§ 4 Die Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht A. Allgemein zum Nemo-tenetur-Grundsatz I. Die Rolle des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht Das Verbot des Zwangs zur Selbstbezichtigung dient hauptsächlich dazu, den Adressaten vor hoheitlich angeordneten Ermittlungsmaßnahmen zu schützen, die ihn zwingen könnten, Verhaltensweisen einzugestehen, die mit strafrechtlichen Sanktionen belegt werden können1. Es handelt sich um ein Prinzip grundrechtlichen Charakters, das von besonderer Bedeutung im europäischen Kartellverfahren ist, da die Kommission für die Aufdeckung und Ahndung von Kartellen größtenteils auf Informationen angewiesen ist, die sie sich selber bei den Unternehmen holt, die unter Verdacht der Begehung eines Wettbewerbsverstoßes stehen, oder die ihr die an den wettbewerbswidrigen Vereinbarungen beteiligten Unternehmen im Rahmen des Kronzeugenprogramms selber liefern. Zum Tragen kommt das Nemo-tenetur-Prinzip vor allem bei der in Art. 18 VO 1/2003 niedergelegten Befugnis der Kommission, durch Auskunftsersuchen Informationen von Unternehmen über einen vermuteten Wettbewerbsverstoß zu verlangen. Ferner muss das Nemo-tenetur bei der in Art. 19 VO 1/2003 vorgesehenen Befugnis der Kommission zur Befragung von juristischen und natürlichen Personen zum Zweck der Einholung von Informationen berücksichtigt werden. Darüber hinaus stellt der Nemo-tenetur-Grundsatz eine Schranke der in Art. 20 Abs. 2 Buchst. e) VO 1/2003 verankerten Befugnis der Kommission dar, von Vertretern oder Belegschaftsmitgliedern des Unternehmens, bei dem eine Durchsuchung stattfindet, Erläuterungen zu Tatsachen oder Unterlagen zu verlangen, die mit Gegenstand und Zweck der Durchsuchung zu tun haben2. Schließlich tangiert das Verbot des Zwangs zur Selbstbezichtigung den gesamten Regelkomplex des Kronzeugenprogramms der Europäischen Kommission. An diesem Punkt ist es angebracht zu merken, dass das Auskunftsverweigerungsrecht nicht nur im Voruntersuchungsverfahren, während dem die Unternehmen von den Ermittlungsbefugnissen der Kommission betroffen sein können und sie oft auf Grundlage von Art. 18 oder 19 VO 1/2003 dazu verpflichtet werden 1
Ligabue, S. 2. So auch de Bronett, EWS 2011, 8 (12).
2
A. Allgemein zum Nemo-tenetur-Grundsatz
111
könnten, selbstbelastende Auskünfte preiszugeben3, sondern während des gesamten Kartellverfahrens bis zur Entscheidung der Kommission berücksichtigt werden muss. Dabei kommen insbesondere die freiwillige Zusammenarbeit der Unternehmen mit der Kommission im Rahmen der Kronzeugenregelung einerseits und das neue, in Art. 10a VO 773/2004 geregelte Vergleichsverfahren andererseits in Betracht. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass das Recht auf Aussageverweigerung wegen Gefahr der Selbstbelastung auch verwirkt werden kann, falls ein am Verfahren beteiligtes Unternehmen aufgrund eines einfachen Auskunftsverlangens gemäß Art. 18 Abs. 2 VO 1/2003 der Kommission selbstbelastende Auskünfte erteilt4. Diese Schlussfolgerung ergibt sich aus der den Unternehmen angebotenen Möglichkeit, als Adressaten eines auf Art. 18 Abs. 2 VO 1/2003 gestützten Auskunftsverlangens keine Antwort zu geben5. Diese Möglichkeit bleibt unbeeinflusst von der Tatsache, dass Art. 23 Abs. 1 Buchst. a VO 1/2003 eine Geldbuße auch für die Erteilung von Auskünften auch nach Art. 18 Abs. 2 VO 1/2003 vorsieht, falls diese freiwillig preisgegebene Auskünfte unrichtige oder irreführende Angaben beinhalten. Die Androhung einer Geldbuße soll in diesem Fall die Richtigkeit der der Kommission offengelegten Auskünfte gewährleisten und nicht die Offenlegung der Auskünfte selbst erzwingen.
II. Entwicklung des Nemo-tenetur-Grundsatzes und positiv-rechtliche Verankerung 1. Herleitung des Grundsatzes und historische Entwicklung Das Prinzip „nemo tenetur se ipsum accusare“, also das Prinzip, gemäß dem keine Person dazu gezwungen werden darf, sich selbst einer sanktionsbewehrten Tat zu bezichtigen6, hat tiefe historische Wurzeln und stammt aus der Tradition des angloamerikanischen Rechtskreises, von dem es in die europäische Rechts 3
So aber Ross, S. 105. EuG, Urteil v. 20.4.1999, verb. Rs. T-305/94, T-306/94, T-307/94, T-313/94 bis T-316/94, T-318/94, T-325/94, T-328/94, T-329/94 und T-335/94, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./ Kommission, Slg. 1999, II-931, Rdnr. 456 f.; Urteil v. 15.3.2000, verb. Rs. T-25/95 usw., Cimenteries CBR u. a./Kommission, Slg. 2000, II-491, Rdnr. 735. 5 EuG, Urteil v. 20.4.1999, verb. Rs. T-305/94, T-306/94, T-307/94, T-313/94 bis T-316/94, T-318/94, T-325/94, T-328/94, T-329/94 und T-335/94, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./ Kommission, Slg. 1999, II-931, Rdnr. 456 f.; Giannakopoulos, S. 105. 6 Oft wird der Grundsatz auch als „Verbot der Selbstbezichtigung“ bezeichnet, was ungenau ist, da es natürlich keiner Person verboten ist, eine rechtswidrige Tat zu gestehen oder sich selbst zu belasten. In der vorliegenden Arbeit werden aus diesem Grund als Synonyme des Begriffs „Nemo-tenetur-Prinzip“ die Begriffe „Aussageverweigerungsrecht wegen drohender Selbstbezichtigung“ oder einfacher „Aussageverweigerungsrecht“ oder „Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung“ verwendet. 4
112
§ 4 Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht § 4Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht
tradition übergegangen ist7. Ausdrücklich festgelegt wurde der Nemo-teneturGrundsatz zum ersten Mal in der „Bill of Rights“ von Virginia im Jahre 17768. Später wurde er in die US-Bundesverfassung von 1791 aufgenommen. Das Verbot des Zwangs zur Selbstbezichtigung hat strafrechtlichen Ursprung und ist im europäischen Rechtskreis sehr eng mit der Einführung des Anklageprozesses um die Mitte des 19. Jahrhunderts verbunden9. Wegen des Verfassungsrangs, das dieses Prinzip genießt, und seiner Bedeutung für die Stellung eines Angeklagten im vom Staat geleiteten Strafverfahren übt es seine Wirkung auch in Verfahren mit strafrechtsähnlichem Charakter, wie das EU-Kartellverfahren, aus. Ausdrücklich niedergelegt ist das verfassungsrechtliche Verbot des Zwangs zur Selbstbezichtigung weder in der Europäischen Grundrechtecharta noch in der EMRK. In den frühen neunziger Jahren hat die Literatur versucht, das Prinzip aus den in Art. 6 EMRK niedergelegten Verfahrensgarantien abzuleiten. Die Bestätigung dieser Argumentation der Literatur durch die Rechtsprechung kam im Jahre 1993, als das Urteil des EGMR in der Rechtssache „Funke10“ verkündet wurde. Der Verfassungscharakter des Verbots des Zwangs zur Selbstbelastung lässt sich nach hoher Meinung aus der Wahrung der Menschenwürde herleiten11. Es ist nämlich verboten, den Menschen als bloßes Objekt des Strafverfahrens zu betrachten12. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte betrachtet das Nemo-teneturPrinzip als festen Bestandteil internationaler Rechtsgrundsätze, die den Kern der in Art. 6 EMRK niedergelegten Garantie des fairen Verfahrens bilden13. Der EuGH hat dagegen im „Orkem“-Urteil die Geltung des Nemo-tenetur-Grundsatzes für juristische Personen im EU-Wettbewerbsrecht grundsätzlich abgelehnt14. Es ist allerdings eine Tatsache, dass sich das Recht wegen Gefahr der Selbstbelastung die Erteilung einer Auskunft zu verweigern weder auf eine explizite Regelung des Unionsrechts noch auf eine entsprechende Vorschrift der mitgliedstaatlichen Strafprozessordnungen gestützt werden kann. Auf die mitgliedstaatlichen Vorschriften über das Verbot des Selbstbelastungszwangs kann nicht zurückgegriffen werden, da ihre Anwendung das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot von Art. 18 AEUV verletzen würde15.
7
Ligabue, S. 4. Müller, EuGRZ 2002, 546 (546). 9 Müller, EuGRZ 2002, 546 (546). 10 EGMR, Urteil v. 25.2.1993, Beschwerdenr. 10828/84, Funke./.Frankreich. 11 Müller, EuGRZ 2002, 546 (547). 12 Schädler/Jakobs, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, Art. 6 EMRK, Rdnr. 20. 13 EGMR, Urteil vom 8.2.1996, Beschwerdenr. 18731/91, John Murray./.Vereinigtes Königreich, Ziff. 45, EuGRZ 1996, S. 587. 14 EuGH, Urteil v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Orkem/Kommission, Slg. 1989, 3283, Rdnr. 29–30. 15 Ligabue, S. 28. 8
A. Allgemein zum Nemo-tenetur-Grundsatz
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2. Keine ausdrückliche Verankerung des Nemo-tenetur in der GRCH und im primären EU-Recht Eine ausdrückliche Regelung des Nemo-tenetur-Grundsatzes ist in der Grundrechtecharta nicht zu finden. Trotz der fehlenden relevanten Vorschrift wird das Aussageverweigerungsrecht von der Charta geschützt. Der Schutz wird über die Garantie der Verteidigungsrechte in Art. 48 Abs. 2 GRCH gewahrt, da diese Vorschrift nicht nur auf Art. 6 Abs. 2, 3 EMRK gestützt ist, sondern auch inhaltlich Art. 6 EMRK entspricht. Da das Aussageverweigerungsrecht zu den durch Art. 6 EMRK geschützten Garantien gehört, stellt es mittels Art. 48 Abs. 2 GRCH ein in der EU-Rechtsordnung zu schützendes Grund- und Verteidigungsrecht16. Art. 346 Abs. 1 AEUV (ex. Art. 296 Abs. 1 lit. a EGV) kann nicht als Verankerung des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Recht betrachtet werden, da es sich bei dieser Vorschrift nur um die Anerkennung der Möglichkeit der Mitgliedstaaten handelt, in Fällen, die die nationale Sicherheit betreffen, die Preisgabe von sicherheitsrelevanten Informationen an die Organe der EU zu verweigern17. Es wird ersichtlich, dass dieses spezielle Auskunftsverweigerungsrecht nicht der Zielsetzung des Nemo-tenetur-Prinzips entspricht, sich nicht selbst für eine sanktionsbewehrte Tat belasten zu müssen, sondern die innen- und außenpolitischen Sicherheits interessen der EU-Mitgliedstaaten wahrt18. Auch im sekundären EU-Recht fehlt eine explizite Verankerung des Nemo- tenetur-Prinzips. Das ist prima facie folgerichtig, da dieser Grundsatz strafrechtlicher Abstammung ist und die Europäische Union bis zum Vertrag von Amsterdam über keine Kompetenz (und seitdem lediglich eine besonders eingeschränkte) im Bereich des Strafrechts verfügte, da das Strafrecht immer noch als Kernelement staatlicher Souveränität betrachtet wird19. Dennoch beansprucht der Nemotenetur-Grundsatz auch in Verfahren mit strafrechtsähnlichem Charakter, wie das EU-Kartellverfahren, Geltung. Nach der Erweiterung der Ermittlungsbefugnisse der Europäischen Kommission im EU-Kartellverfahren hat er sogar an Bedeutung gewonnen. Trotz dieser Tatsache wurde der Nemo-tenetur-Grundsatz weder in die alte (VO 17/62), noch in die neue Kartellverfahrensverordnung (VO 1/2003) aufgenommen. Bei den Vorarbeiten der VO 17/62 wurde das Auskunftsverweigerungsrecht allerdings angesprochen. Der vom Binnenmarktausschuss dem Parlament vorgelegte Entwurf für den damaligen Art. 9 Abs. 4 der VO 17/62 beinhaltete auch ein Aussageverweigerungsrecht des Auskunftspflichtigen in Bezug auf Fragen, die ihn, seine Angehörige oder die von ihnen vertretenen Unternehmen bei der An 16 Weiss, in: Terhechte (Hrsg.), Rdnr. 72.217. Auch Jarass, S. 471, sieht in Art. 48 Abs. 2 EGC die Verankerung des Aussageverweigerungsrechts in der Europäischen Grundrechtecharta. 17 So auch Kehl, S. 45. 18 Siehe dazu U. Karpenstein, in: J. Schwarze (Hrsg.), Art. 346 AEUV, Rdnr. 1. 19 Vgl. Oppermann/Classen/Nettesheim, § 37, Rdnr. 1–3.
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§ 4 Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht § 4Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht
wendung der nationalen Prozessordnung zur Zeugnisverweigerung berechtigen würden. Das Europäische Parlament übernahm in seine Entschließung vom 19. Ok tober 1961 bezüglich des Verordnungsentwurfs der Kommission die Forderung nach einem Auskunftsverweigerungsrecht, der Europäische Rat konnte sich aber auf die vorgeschlagenen Änderungen nicht einigen und deswegen wurde der Re gelungsentwurf über das Auskunftsverweigerungsrecht verworfen20. Dabei ist zu beachten, dass die Einwendungen des Rats gegen die Normierung des Auskunftsverweigerungsrechts nicht grundsätzlicher Natur waren. Der Rat erklärte, dass es vor der Aufnahme des Prinzips nötig wäre, eine rechtsvergleichende Untersuchung der Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes in den nationalen Rechtsordnungen durchzuführen, da gemäß des Vorschlags des Binnenmarktausschusses für die Tragweite des Grundsatzes die jeweils einschlägige nationale Prozessordnung hinweisend wäre. Der Rat hat also nicht die Existenz eines solchen Prinzips als solche im Kartellverfahrensrecht abgelehnt, sondern nur die Aufnahme ins Sekundärrecht mit nationalstaatlichem Bezug, da ein solcher Fall die Gefahr einer uneinheitlichen Anwendung des Grundsatzes auf europäischer Ebene bergen würde21. Lediglich im Erwägungsgrund 23 der Kartellverfahrensverordnung 1/2003 wird darauf hingewiesen, dass Unternehmen, die einem Auskunftsersuchen der Kommission nachkommen, nicht gezwungen werden können, eine Zuwiderhandlung einzugestehen, dass sie aber auf jeden Fall verpflichtet sind, Fragen nach Tat sachen zu beantworten und Unterlagen vorzulegen, auch wenn die betreffenden Auskünfte dazu verwendet werden können, den Beweis einer Zuwiderhandlung durch die betreffenden oder andere Unternehmen zu erbringen. Ferner enthält Art. 50 Abs. 1 der Verfahrensordnung des EuGH22 einen Hinweis auf ein Zeugnisverweigerungsrecht, auf das sich ein Zeuge oder ein Sachverständiger beim Verfahren vor dem Gerichtshof berufen kann. Diese Vorschrift legt allerdings nicht die Voraussetzungen für die Ausübung dieses Rechts fest, sondern weist lediglich dem Gerichtshof eine Entscheidungsbefugnis zu23. Deswegen kann diese Vorschrift nicht als Grundlage des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Recht, sondern nur als eine Bestätigung seiner Geltung im EU-Recht betrachtet werden.
20
Ligabue, S. 8. Kehl, S. 47. 22 ABl. EG v. 4.7.1991, L 176/7 ff. 23 Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 360. 21
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3. Der Nemo-tenetur-Grundsatz in der EMRK – Herleitung aus Art. 6 EMRK Der Nemo-tenetur-Grundsatz wird in der EMRK nicht ausdrücklich erwähnt. Er ergibt sich aber nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Grundsatz eines fairen Verfahrens, der in Art. 6 Abs. Satz 1 EMRK verankert ist24. Der EGMR hat die Geltung des Prinzips nicht nur für strafrechtliche Verfahren, sondern auch für Steuerverfahren anerkannt, wenn der Betroffene unter Androhung von Zwangsgeld zu Angaben gezwungen wird, die auch für ein Steuerstrafverfahren von Bedeutung sein könnten25. Daraus folgt aber nicht, dass immer dann ein Verstoß gegen Art. 6 vorliegt, wenn eine Person mit Zwangsmaßnahmen zur Preisgabe von ihn selbstbelastenden Auskünften gezwungen wird. Der EGMR hat dementsprechend eine Geltung des Nemo-tenetur-Grundsatzes im Fall Weh/Österreich26 abgelehnt, in dem ein Strafverfahren weder anhängig noch beabsichtigt war. Wenn aber schon die Gefahr eines Strafverfahrens und der Verwertung der unter Zwangsausübung erteilten Auskünfte besteht, liegt eine Verletzung von Art. 6 EMRK vor27. Der Nemo tenetur-Grundsatz gilt nicht nur für natürliche, sondern auch für juristische Personen, insbesondere im Kartellverfahren28. Art. 6 EMRK stellt eine Teilerscheinung des in der Konvention niedergelegten Rechtsstaatprinzips dar29. Der in Art. 6 EMRK statuierte Grundsatz des fairen Verfahrens findet sein Pendant in den Artikeln 47 und 48 GRCH und wird nach ständiger Rechtsprechung30 als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts von den Unionsgerichten anerkannt. Art. 6 Abs. 1 EMRK, der in der EMRK die Rechtsgrundlage auch für das Nemo-tenetur-Prinzip bildet, gilt in Verfahren über Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen, sowie in Verfahren über strafrechtliche Anklagen. In Bezug auf die zivilrechtlichen Ansprüche ist zu betonen, dass die Vorschrift nicht nur privatrechtliche Ansprüche im engen Sinne sondern auch aus dem öffentlichen Recht stammende Rechte erfasst31. Bezüglich der strafrechtlichen Anklage ist anzumerken, dass der Gerichtshof für Menschenrechte sich nicht an die jeweilige Bedeutung des Begriffs „strafrechtliche Anklage“ in den nationalen Rechtsordnungen orientiert, sondern seine autonome Begriffsdefinition zugrunde legt. Grund für diese Praxis des EGMR ist nicht nur die Gewährleistung eines effektiven Grundrechtsschutzes durch die EMRK, sondern auch der Ausschluss 24
Meyer-Ladewig, Art. 6, Rdnr. 131. EGMR, Urteil v. 3.5.2001, Beschwerdenr. 31827/96, J. B./Schweiz, Ziff. 64 ff., NJW 2002, S. 499. 26 EGMR, Urteil v. 8.4.2004, Beschwerdenr. 38544/97, Weh./.Österreich, JR 2005, S. 423. 27 EGMR, Urteil v. 4.10.2005, Beschwerdenr. 6563/03, Shannon./.Vereinigtes Königreich. 28 Weiß, NJW 1999, 2236 (2237); abw. für das deutsche Recht BVerfG NJW 1997, S. 1841. 29 Grabenwarter/Pabel, § 24, Rdnr. 2. 30 EuGH, Urteil v. 15.5.1986, Rs. 222/84, Marguerite Johnston/Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary, Slg. 1986, 1651, Rdnr. 18 f. 31 Grabenwarter/Pabel, § 24, Rdnr. 7 ff. 25
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§ 4 Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht § 4Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht
der Möglichkeit der Konventionsmitglieder, durch Entkriminalisierung bestimmter Maßnahmen die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK einzuschränken32. Seit dem Engel-Urteil33 im Jahr 1970 hat das Straßburger Gericht drei Kriterien aufgestellt, anhand deren es das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage beurteilt. Ausschlaggebend für eine solche Annahme sind dann a) die Zuordnung der Vorschrift im nationalen Recht, b) die Natur der Tat und c) die Art und Schwere der für die Tat vorgesehenen Sanktion. Das erste Kriterium ist die Qualifizierung der Tat nach nationalem Recht und spielt eine kleine Rolle in der Praxis des EGMR. Bedeutsamer sind das zweite und das dritte Kriterium. Entscheidend beim zweiten Prüfstein sind der Inhalt und das Ziel der untersuchten Regelung. Weist die Vorschrift einen sowohl abschreckenden als auch repressiven Charakter auf, ist anzunehmen, dass die Tat dem Strafrecht im weiten Sinne zuzuordnen und dass Art. 6 EMRK anwendbar ist34. Die Funktion der angedrohten Sanktion ist also maßgeblich. Von Bedeutung ist auch der Adressatenkreis der streitigen Regelung. Richtet sich eine Vorschrift an die Allgemeinheit, ist das ein Indiz für den strafrechtlichen Charakter des Vorgehens. Der allgemeine Adressatenkreis war genau das Kriterium, auf dessen Grundlage der EGMR die strafrechtliche Natur von Ordnungswidrigkeiten nach dem deutschen Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) bejaht hat35. Der EGMR hat aber die Anwendung von Art. 6 EMRK auf die Verhängung von Zwangsstrafen oder Beugestrafen abgelehnt, da letztere nicht auf die Repression eines rechtlich verbotenen Verhaltens, sondern auf die Erzwingung eines rechtlich gebotenen Verhaltens abzielen36. Das dritte Kriterium der Art und Schwere der vorgesehenen Sanktion steht in engem Zusammenhang mit dem zweiten Kriterium, der Natur der Handlung. Es erstreckt sich auf sämtliche potenziellen Auswirkungen der Sanktion auf den Betroffenen, die Art der Sanktion (Freiheitsstrafe, andere freiheitsbeschränkende Maßnahme, Geldbuße), die angedrohte Höchststrafe und die Vollstreckungsmodalitäten37. Maßgeblich für die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK ist nur die abstrakte Strafdrohung und nicht die tatsächlich verhängte Sanktion. Es kann davon ausgegangen werden, dass eine Freiheitsstrafe grundsätzlich die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK begründet. Bezüglich der Geldbußen, die von Interesse für den 32 EGMR, Urteil v. 21.2.1984, Beschwerdenr. 8544/79, Öztürk./.Deutschland, EuGRZ 1985, S. 62, Ziff. 49. 33 EGMR, Urteil v. 8.6.1976, Beschwerdenr. 5100/71; 5101/71; 5102/71; 5354/72; 5370/72, Engel u. a./.Niederlande, Serie A 73, EuGRZ 1976, S. 221, Ziff. 83 ff. Diese Rechtsprechung wurde in einem neueren Urteil ausdrücklich bestätigt: EGMR, Urteil v. 23.11.2006 (Große Kammer), Beschwerdenr. 73053/01, Jussila./.Finnland, Ziff. 30 ff. 34 Grabenwarter/Pabel, § 24, Rdnr. 19. 35 EGMR, Urteil v. 21.2.1984, Beschwerdenr. 8544/79, Öztürk./.Deutschland, EuGRZ 1985, S. 62, Ziff. 53. 36 Siehe zum Beispiel EGMR, Urteil v. 2.6.1993, Beschwerdenr. 16002/90, K./.Österreich, Serie A 255-B, Ziff. 38 f. 37 Grabenwarter/Pabel, § 24, Rdnr. 20.
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hier untersuchten Bereich des Kartellrechts sind, gibt es keinen Schwellenwert, oberhalb dessen die Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK beginnt. Es gilt der Grundsatz, dass eine „strafrechtliche Anklage“ dann vorhanden ist, wenn die Verhängung der angedrohten Geldsanktion schwerwiegende Folgen für den Beschuldigten hat, die ihrer Schwere nach einer nicht nur kurzfristigen Freiheitsstrafe gleichkommen38. Wie bereits erörtert haben die Bußgelder des EU-Kartellverfahrens strafrechtlichen Charakter; ferner kann das EU-Kartellbußgeldverfahren als quasistrafrechtliches Verfahren bezeichnet werden39.
III. Das Nemo-tenetur-Prinzip in der Entscheidungspraxis und Rechtsprechung der EU-Organe Wie bereits erörtert, gibt es weder im primären noch im sekundären Unionsrecht eine ausdrückliche Vorschrift, die ein Aussageverweigerungsrecht in Fällen gewährt, in denen das Auskunftsverlangen einem Zwang zur Selbstbelastung entspricht. Deswegen soll untersucht werden, inwieweit ein solches Recht in der Praxis der Kommission und der EuGH-Rechtsprechung anerkannt wird. 1. Die Entscheidungspraxis der Kommission und das Orkem-Urteil des EuGH Die Kommission hat in ihrer frühen Entscheidungspraxis in Kartellsachen die Berufung auf das Aussageverweigerungsrecht wegen Gefahr der Selbstbelastung als Grund der Nicht-Offenlegung von Dokumenten seitens der Unternehmen stets abgelehnt40. Nicht selten hat sie Unternehmen mit Geldbußen bestraft, weil sie sich geweigert hatten, Dokumente vorzulegen, die zu ihrer Selbstbelastung führen würden41. Eine solche Konstellation lag der Rechtssache „Orkem“ zugrunde, die dem EuGH zum ersten Mal die Gelegenheit bot, sich zur Geltung eines Verbots des Zwangs zur Selbstbelastung im Unionsrecht zu äußern. Die Kommission hatte im Rahmen eines Kartellverfahrens42 durch Entscheidung das Unternehmen „Orkem SA“ zur Erteilung von Auskünften verpflichtet. Die Forderung der Kommission nach Erteilung der Auskünfte entsprach nach Meinung des Unternehmens einem Zwang zur Selbstbelastung. Daraufhin erhob das Unternehmen Klage vor dem EuGH auf Grundlage von Art. 230 EGV (nunmehr Art. 263 AEUV). 38
Grabenwarter/Pabel, § 24, Rdnr. 22. Siehe § 3 „Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht“, A.3, S. 69 ff. 40 Fischer/Iliopoulos, NJW 1983, 1031 (1032). 41 Giannakopoulos, S. 101; Kommissionsentscheidungen Fabbrica Pisana, und Fabbrica Sciara (1980), ABl. EG L 75/35. 42 Als Grundlage galt Art. 11 der alten Kartellverfahrensverordnung 17/62. 39
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§ 4 Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht § 4Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht
In seinem Urteil43 stellte der EuGH fest, dass die VO 17/62 ein Auskunftsverweigerungsrecht nicht ausdrücklich anerkenne und dass es auch keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts mit solchem Inhalt gebe44. Die VO 17/62 statuiere dagegen eine aktive Mitwirkungspflicht der betroffenen Unternehmen an der Aufklärung des Sachverhalts45. Der Gerichtshof betonte ferner, dass in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ein Auskunftsverweigerungsrecht nur für natürliche Personen im Rahmen eines Strafverfahrens und nicht für juristische Personen für Zuwiderhandlungen wirtschaftlicher Art, wie zum Beispiel diejenigen im Bereich des Wettbewerbsrechts, anerkannt werde46. Der EuGH prüfte danach, inwieweit Art. 6 EMRK als Quelle eines Aussageverweigerungsrechts für Unternehmen herangezogen werden könnte. Er kam zum Schluss, dass sich juristische Personen zwar auf diese EMRK-Vorschrift berufen können, dass aber weder aus dem Wortlaut noch aus der Rechtsprechung des EGMR hervorgehe, dass es ein Recht anerkannt wird, nicht gegen sich selbst als Zeuge aussagen zu müssen47. In Bezug auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) stellte der EuGH fest, dass er in Art. 14 Abs. 3 Buchst. g ausdrücklich ein Auskunftsverweigerungsrecht bei Zwang zur Selbstbelastung vorsieht, dass es aber nur auf gerichtliche Strafverfahren anwendbar sei. Deswegen könne sich sein Anwendungsbereich nicht auf das Kartellverfahren erstreckt werden48. Danach relativierte aber der EuGH seine Feststellung über die Nicht-Existenz eines allgemeinen Auskunftsverweigerungsrechts bei Gefahr der Selbstbezichtigung im EU-Kartellverfahren, indem er eine Reihe von Argumenten aufführte, auf deren Grundlage er die Aussage- und Auskunftspflicht der Unternehmen einschränkte. Er erklärte, dass die Wahrung der Verteidigungsrechte der Unternehmen einen fundamentalen Grundsatz der Gemeinschaftsordnung darstelle und dass er nicht nur nach der Mitteilung der Beschwerdepunkte, sondern auch im Voruntersuchungsverfahren Geltung beanspruche49. Die Geltung der Verteidigungsrechte im Voruntersuchungsverfahren setzt der Befugnis der Kommission, die in Verdacht eines Wettbewerbsverstoßes stehenden Unternehmen dazu zu verpflichten, ihr Auskünfte und/oder Schriftstücke zu übermitteln, die den Beweis für einen wettbewerbsrechtlichen Verstoß liefern können, bestimmte Grenzen50. Die Kommission darf zwar mit einer Entscheidung Informationen anfordern, darf aber da-
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EuGH, Urteil v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Orkem SA/Kommission, Slg. 1989, 3283. EuGH, Urteil v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Orkem SA/Kommission, Slg. 1989, 3283, Rdnr. 28 ff. 45 EuGH, Urteil v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Orkem SA/Kommission, Slg. 1989, 3283, Rdnr. 27. 46 EuGH, Urteil v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Orkem SA/Kommission, Slg. 1989, 3283, Rdnr. 29. 47 EuGH, Urteil v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Orkem SA/Kommission, Slg. 1989, 3283, Rdnr. 30. 48 EuGH, Urteil v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Orkem SA/Kommission, Slg. 1989, 3283, Rdnr. 31. 49 EuGH, Urteil v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Orkem SA/Kommission, Slg. 1989, 3283, Rdnr. 33. 50 Siehe auch Bailleux, RTDeur 2010, 31 (40). 44
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bei nicht die Verteidigungsrechte der Unternehmen verletzen51. Das bedeutet allerdings, dass die Unternehmen dazu verpflichtet werden können, Auskünfte über Gegenstand und Ablauf des vermuteten Wettbewerbsrechtsverstoßes zu erteilen, die als Beweise für das wettbewerbswidrige Verhalten dienen können, dass sie aber nicht gezwungen werden dürfen, Auskünfte zu erteilen, mit dem sie praktisch zu einem Geständnis des Verstoßes gezwungen wären, da die Kommission die Beweislast für den von ihr vermuteten Wettbewerbsrechtsverstoß trägt52. Im Orkem-Urteil hat der EuGH zwischen der Antwortpflicht auf Auskunftsverlangen der Kommission und der Dokumentevorlagepflicht unterschieden. Ein Unternehmen darf sich weigern, auf solche Fragen der Kommission zu antworten, die es praktisch zum Geständnis einer Zuwiderhandlung zwingen, für die die Kommission den Nachweis aufbringen muss. Diese Einschränkung der Ermittlungsrechte der Kommission gilt aber nicht in Bezug auf die Pflicht des Unternehmens, von der Kommission verlangte Dokumente, die bereits existieren und ermittlungsrelevant sind, vorzulegen. Die Vorlagepflicht für bereits existierende Dokumente besteht auch im Falle, dass diese Unterlagen den vollen Nachweis einer Zuwiderhandlung liefern53. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der EuGH im Orkem-Urteil den Unternehmen ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht zwar absprach, dennoch ihnen ein Geständnisverweigerungsrecht einräumte54. Um das etwas plakativ zu schildern: Die Kommission hat das Recht, Auskünfte über den Inhalt eines bestimmten Meetings zu verlangen, soweit sie Informationen hat, die das Stattfinden dieses Meetings belegen. Die Kommission darf aber nicht die Frage stellen, ob ein Unternehmen an einem wettbewerbswidrigen Meeting teilgenommen hat, da die Antwort auf diese Frage einem Zwang zum Eingeständnis gleich käme. 2. Bestätigung der Orkem-Rechtsprechung in weiteren Urteilen Der mit der Orkem-Entscheidung eingeschlagene Rechtsprechungskurs wurde vom EuGH in zwei weiteren Urteilen bestätigt. In der Rechtssache „Otto BV“55 handelte es sich um ein Vorabentscheidungsverfahren, in dem der EuGH auf die Frage antworten musste, inwieweit in nationalen Kartellverfahren ein beschränktes Geständnisverweigerungsrecht im Sinne der Orkem-Rechtsprechung gelte. Der Gerichtshof legte dar, dass das von ihm anerkannte Geständnisverweigerungsrecht nur im europäischen Kartellverfahren gelte, fügte aber hinzu, dass es der Kommis 51
EuGH, Urteil v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Orkem SA/Kommission, Slg. 1989, 3283, Rdnr. 34. EuGH, Urteil v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Orkem SA/Kommission, Slg. 1989, 3283, Rdnr. 34–35. 53 EuGH, Urteil v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Orkem SA/Kommission, Slg. 1989, 3283, Rdnr. 34. 54 Kehl, S. 65. 55 EuGH, Urteil v. 10.11.1993, Rs. C-60/92, Otto BV/Postbank NV, Slg. 1993, I-5683 ff. 52
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sion verboten sei, in einem nationalen Verfahren unter Verletzung des Geständnisverweigerungsrechts erlangte Auskünfte für ein europäisches Verfahren als Nachweis zu verwenden. Ferner stellte der EuGH fest, dass Betroffene eines Verfahrens, das zu straf- oder verwaltungsrechtlichen Sanktionen führen kann, eines größeren Schutzes als Parteien eines Zivilverfahrens bedürfen56. Im Urteil „PVC II“ stellte der EuGH fest, dass sich die Rechtsprechung des EGMR bezüglich des Aussageverweigerungsrechts seit seinem „Orkem“-Urteil entwickelt hat57. Der Gerichtshof hat sich aber nicht mit dem Inhalt des Aussageverweigerungsrechts im EU-Kartellverfahren nach den Entwicklungen in der EGMR-Rechtsprechung auseinandergesetzt, da die Unternehmen die Beantwortung der Fragen der Kommission sowieso verweigert oder die Umstände geleugnet hätten, woraus keine Verletzung des Auskunftsverweigerungsrechts resultiert haben könnte58. Das Gericht erster Instanz bekräftigte in seinen Urteilen „Société Générale“59, „PVC“60 und „Mannesmannröhren-Werke“61 die „Orkem“-Rechtsprechung des EuGH. Im „Mannesmannröhren-Werke“-Urteil nahm das EuG zwar Bezug auf Art. 6 EMRK, kam aber zum Schluss, dass die vom EuGH im Orkem-Urteil herausgearbeiteten Rechtsgrundsätze einen gleichwertigen Schutz mit dem des Art. 6 EMRK bieten62. Deswegen maß es auch den Fall an den vom EuGH entwickelten Grundsätzen63 und befand, dass den Unternehmen, die unter dem Verdacht stehen, Kartellrechtsverstöße begangen zu haben, kein absolutes Aussageverweigerungsrecht zustehe64 und dass die Unternehmen dazu verpflichtet seien, Auskunft zu Tatsachen zu geben und Unterlagen vorzulegen, auch wenn diese Auskünfte den Beweis
56
EuGH, Urteil v. 10.11.1993, Rs. C-60/92, Otto BV/Postbank NV, Slg. 1993, I-5683, Rdnr. 15–16. 57 EuGH, Urteil v. 15.10.2002, verb. Rs. C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P und C-254/99 P, Limburgse Vinyl Maatschappij NV u. a./Kommission (PVC II), Slg. 2002, I-8375, Rdnr. 274. 58 EuGH, Urteil v. 15.10.2002, Urteil v. 15.10.2002, verb. Rs. C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P und C-254/99 P, Limburgse Vinyl Maatschappij NV u. a./Kommission (PVC II), Slg. 2002, I-8375, Rdnr. 284–293. 59 EuG, Urteil v. 8.3.1995, Rs. T-34/93, Société Générale/Kommission, Slg. 1995, II-547, Rdnr. 72 ff. 60 EuG, Urteil v. 20.4.1999, verb. Rs. T-305/94, T-306/94, T-307/94, T-313/94 bis T-316/94, T-318/94, T-325/94, T-328/94, T-329/94 und T-335/94, Limburgse Vinyl Maatschappij NV u. a./Kommission, Slg. 1999, II-931, Rdnr. 444–449, 451–454. 61 EuG, Urteil v. 20.2.2001, Rs. T-112/98, Mannesmannröhren-Werke AG/Kommission, Slg. 2001, II-729. 62 EuG, Urteil v. 20.2.2001, Rs. T-112/98, Mannesmannröhren-Werke AG/Kommission, Slg. 2001, II-729, Rdnr. 77. 63 EuG, Urteil v. 20.2.2001, Rs. T-112/98, Mannesmannröhren-Werke AG/Kommission, Slg. 2001, II-729, Rdnr. 65 ff. 64 EuG, Urteil v. 20.2.2001, Rs. T-112/98, Mannesmannröhren-Werke AG/Kommission, Slg. 2001, II-729, Rdnr. 66.
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für die Verstöße liefern könnten65. Die Anerkennung eines absoluten Auskunftsverweigerungsrechts im Kartellverfahren würde nach Auffassung des EuG die praktische Effizienz der Ermittlungen der Kommission ungerechtfertigt behindern66. Die Orkem-Rechtsprechung hat sich, trotz wiederholter Anstöße von klagenden Unternehmen zur Änderung, zur festen Rechtsprechung entwickelt. Im „SGL Carbon“-(Graphitelektrodenkartell)-Urteil67 hat sich der EuGH auf das Kondensat dieser Rechtsprechung erneut berufen. Nach Ansicht des Gerichtshofs ist die Kommission dazu berechtigt, zum Zweck der effizienten Durchsetzung des Kartellrechts von Unternehmen und Unternehmensvereinigungen alle erforderlichen Auskünfte einzuholen. Ein Unternehmen, das Adressat einer Untersuchungsmaßnahme der Kommission ist, hat nicht das Recht, sich dieser Maßnahme zu entziehen. Es ist vielmehr zur aktiven Zusammenarbeit verpflichtet. Aufgrund dieser Zusammenarbeitspflicht muss das Unternehmen der Kommission alle die Untersuchung betreffenden Informationsquellen bereithalten68. 3. Aktueller Umfang des Nemo-tenetur im EU-Kartellverfahrensrecht a) Anerkennung eines Geständnisverweigerungsrechts bei Gefahr der Selbstbezichtigung Nachdem der EuGH sich im SGL-Carbon-Urteil geweigert hat, die OrkemRechtsprechung auf den Prüfstand zu stellen69, besteht grundsätzlich eine Mitwirkungspflicht der Unternehmen in Bezug auf die Vorlage von selbstbelastenden Auskünften im EU-Kartellverfahren. Die Kommission ist dazu berechtigt, ein Unternehmen zu verpflichten, ihr alle erforderlichen Auskünfte über ihm eventuell bekannte Tatsachen zu erteilen und ihr erforderlichenfalls die in seinem Besitz befindlichen Dokumente, die sich hierauf beziehen, zu übermitteln, selbst wenn diese Dokumente dazu verwendet werden können, den Beweis für ein wettbewerbswidriges Verhalten des betreffenden oder eines anderen Unternehmens zu erbringen70. 65 EuG, Urteil v. 20.2.2001, Rs. T-112/98, Mannesmannröhren-Werke AG/Kommission, Slg. 2001, II-729, Rdnr. 65–71. 66 EuG, Urteil v. 20.2.2001, Rs. T-112/98, Mannesmannröhren-Werke AG/Kommission, Slg. 2001, II-729, Rdnr. 65–67. 67 EuGH, Urteil v. 19.1.2006, Rs. C-301/04 P, Kommission/SGL Carbon SA, Slg. 2006, I-5915, Rdnr. 39 ff. 68 EuGH, Urteil v. 19.1.2006, Rs. C-301/04 P, Kommission/SGL Carbon SA, Slg. 2006, I-5915, Rdnr. 40. 69 Siehe EuGH v. 29.6.2006, Rs. C-301/04 P, Kommission/SGL Carbon SA, Slg. 2006, I-5915, Rdnr. 43–46. 70 EuGH, Urteil v. 19.1.2006, Rs. C-301/04 P, Kommission/SGL Carbon SA, Slg. 2006, I-5915, Rdnr. 41.
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Diese Befugnis der Kommission besteht aber nicht uneingeschränkt. Ein Unternehmen ist dann nicht zur Auskunftserteilung verpflichtet, wenn die Kommission von einem Unternehmen, gegen das sich eine Untersuchung richtet, Antworten oder Auskünfte zu erlangen versucht, durch die das Unternehmen das Vorliegen einer Zuwiderhandlung eingestehen müsste, für die die Kommission den Beweis zu erbringen hat71. Mit dem „SGL Carbon“-Urteil fand aber gleichzeitig eine geringfügige Erweiterung des Geltungsbereichs des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht statt. Trotz der restriktiven Auslegung des Grundsatzes in Bezug auf die Offenlegung von Dokumenten hat der EuGH den Anwendungsbereich des Verbots des Zwangs zur Selbstbelastung auf solche Fälle erstreckt, bei denen die Preisgabe der ersuchten Auskunft das Eingeständnis von erschwerenden Umständen (und nicht nur das Eingeständnis der Begehung eines Wettbewerbsverstoßes) bedeuten würde. Im konkreten Fall hatte SGL andere Kartellteilnehmer über die Ermittlungen der Kommission in ihren Geschäftsräumen informiert. Der EuGH stellte fest, dass die Kommission SGL nicht dazu zwingen durfte, die Namen der vorgewarnten Unternehmen offenzulegen72. b) Pflicht zur Vorlage von bereits existierenden, belastenden Dokumenten Ein Zwang zur Selbstbelastung, die den Anwendungsbereich des Nemo-tenetur-Grundsatzes eröffnen könnte, könnte sich auch aus der Pflicht der Unternehmen nach Art. 18 Abs. 1 VO 1/2003 ergeben, die durch Auskunftsverlangen der Kommission angeforderten und ermittlungsrelevanten Informationen und Dokumente offenzulegen. Der EuGH erkennt in ständiger Rechtsprechung an, dass Unternehmen der Kommission auf deren Verlangen die im Auskunftsersuchen genannten, den Gegenstand der Untersuchung betreffenden Dokumente vorlegen müssen, auch wenn diese Schriftstücke von der Kommission als Beweis für das Vorliegen einer Zuwiderhandlung verwendet werden könnten73. In seinen Schlussanträgen zur Rechtssache SGL Carbon/Kommission hat sich GA Geelhoed gegen eine Anwendbarkeit des Nemo-tenetur-Grundsatzes auf die Pflicht eines Unternehmens zur Vorlage von bereits existierenden Dokumenten 71 EuGH, Urteil v. 19.1.2006, Rs. C-301/04 P, Kommission/SGL Carbon SA, Slg. 2006, I-5915, Rdnr. 42. 72 EuGH, Urteil v. 19.1.2006, Rs. C-301/04 P, Kommission/SGL Carbon SA, Slg. 2006, I-5915, Rdnr. 67 und 69. 73 EuGH, Urteil v. 29.6.2006, Rs. C-301/04 P, Kommission/SGL Carbon AG, Slg. 2006, I-5915, Rdnr. 41; EuG, Urteil v. 22.3.2012, verb. Rs. T-458/09 und T-171/10, Slovak Telekom a.s./Kommission, www.curia.eu, Rdnr. 41.
A. Allgemein zum Nemo-tenetur-Grundsatz
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ausgesprochen74. Um seine Auffassung zu stützen, berief er sich auf das Urteil des EGMR im Fall „Saunders“. In dieser Entscheidung hatte der EGMR festgestellt, dass das Aussageverweigerungsrecht in Strafsachen sich „nicht auf die Verwendung von Material, das von dem Angeklagten durch Verwendung von Zwang erlangt werden kann, das aber unabhängig vom Willen des Verdächtigen existiert, wie u. a. Dokumente, die aufgrund einer gerichtlichen Anordnung erlangt worden sind, […]“ erstreckt75. Auf dieser Grundlage stellte der GA Geelhoed fest, dass es keinen Verstoß gegen den Nemo-tenetur-Grundsatz darstellt, wenn Unternehmen zur Vorlage von bereits existierenden, sie belastenden Dokumente durch Auskunftsersuchen der Kommission verpflichtet werden. Solche Dokumente können beispielsweise Unterlagen über Marketing- oder Preisgestaltungsstrategien eines Unternehmens sein, wenn sich aus ihnen die Preisgestaltungspolitik eines Unternehmens im Rahmen einer wettbewerbswidrigen Absprache ergibt. Diese Dokumente können auch als Mittel für den Nachweis einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung herangezogen werden. Unternehmen haben aber die Möglichkeit, die aus den Dokumenten ergehende Vermutung der Begehung des Verstoßes zu widerlegen, indem sie nachweisen, dass die Kommission die Dokumente unrichtig ausgelegt hat76. Schließlich bezog sich GA Geelhoed in seinen Schlussanträgen auf das Verhältnis zwischen den Grundrechten der Unternehmen im EU-Kartellverfahren und der effektiven Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts. Unter Berufung auf das Urteil des EuGH in der Rs. „Eco Swiss“77, in dem der Gerichtshof die Wichtigkeit von Art. 101 AEUV im Normensystem des Vertrags hervorhob, stellte er fest, dass das Zusammenspiel zwischen Grundrechten und Wettbewerbsrecht im Kartellverfahren einen Balanceakt darstelle. Art. 81 EG [nunmehr 101 AEUV] gehöre als grundlegende Bestimmung für den Binnenmarkt zur öffentlichen Ordnung der Europäischen Union. Wäre die Kommission durch eine absolute Geltung des Nemo-tenetur-Grundsatzes daran gehindert, die Vorlage von ein Unternehmen selbst belastenden Dokumenten zu verlangen, würde das die effektive Durchsetzung des Wettbewerbsrechts beeinträchtigen. Zur Aufdeckung und zum Nachweis von Kartellen wäre die Kommission dann auf die freiwillige Zusammenarbeit der Unternehmen im Rahmen der Kronzeugenmitteilung und auf die Durchsuchungen in den Räumlichkeiten von Unternehmen (und in anderen Räumlichkeiten auf Grundlage von Art. 21 VO 1/2003) angewiesen. Das würde die Ermittlungsbefugnisse der Kommission und somit die wirksame Durchsetzung des Wettbewerbs 74 Schlussanträge des Generalanwalts L. A. Geelhoed vom 19.1.2006, Rs. C-301/04 P, SGL Carbon/Kommission, Slg. 2006, I-5918, Rdnr. 57 ff. 75 EGMR, Urteil v. 17.12.1996, Beschwerdenr. 19187/91, Saunders./.Vereinigtes Königreich, Ziff. 69. 76 Schlussanträge des Generalanwalts L. A. Geelhoed v. 19.1.2006 – Rs. C-301/04 P SGL Carbon/Kommission, Slg. 2006, I-5918, Rdnr. 55. 77 EuGH, Urteil v. 1.6.1999, Rs. C-126/97, Eco Swiss China Time/Benetton International, Slg. 1999, I-3055.
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rechts beeinträchtigen. Dieser Umstand würde dem Ziel der Beachtung der Verteidigungsrechte im Rahmen einer effektiven Durchsetzung des Kartellrechts nicht entsprechen. Gegen eine grundrechtsbedingte Einschränkung der Möglichkeit der Kommission, die Vorlage von das Unternehmen selbst belastenden Dokumenten zu verlangen, spreche auch die Tatsache, dass die Unternehmen sowohl im Verfahren vor der Kommission, als auch im Verfahren vor dem EuG die von der Kommission vorgenommene Auslegung der Dokumente rügen können78. In seinem Urteil in der Rs. SGL Carbon ging der EuGH nicht auf die von GA Geelhoed entwickelte Argumentation in Bezug auf die Pflicht zur Vorlage von selbstbelastenden Dokumenten ein. Der EuGH hob hervor, dass „das absolute Auskunftsverweigerungsrecht, […], nicht anerkannt werden kann. Die Anerkennung eines solchen Rechts ginge über das hinaus, was zur Wahrung der Verteidigungsrechte der Unternehmen erforderlich ist, und würde zu einer ungerechtfertigten Behinderung der Kommission bei der Erfüllung ihrer Aufgabe führen, die Wettbewerbsregeln im Gemeinsamen Markt zu überwachen. Ein Auskunftsverweigerungsrecht kann nur insoweit anerkannt werden, als von dem betroffenen Unternehmen Antworten verlangt werden, durch die es das Vorliegen einer Zuwiderhandlung eingestehen müsste, für die die Kommission den Nachweis zu erbringen hat.“79 Aus der Notwendigkeit des Erhalts der praktischen Wirksamkeit von Art. 11 VO 17/62 (der die nunmehr in Art. 18 VO 1/2003 statuierte Befugnis der Kommission vorsah, an Unternehmen Auskunftsersuchen in Wettbewerbssachen zu adressieren) leitete der EuGH ein Recht der Kommission her, die Unternehmen zur Offenlegung von Informationen über ihnen eventuell bekannten Tatsachen und zur Übermittlung von sich auf diese Tatsachen bezogenen Dokumenten zu zwingen. Diese Pflicht besteht nach dem EuGH auch selbst dann, wenn diese Informationen und Schriftstücke dazu verwendet werden können, den Beweis für ein wettbewerbswidriges Verhalten zu erbringen80. Der EuGH stellte auch fest, dass die Befugnis der Kommission Auskünfte zu verlangen, nicht gegen Art. 6 EMRK und die Rechtsprechung des EGMR verstößt81. Der EuGH nahm Bezug auf seine Feststellung im Urteil Limburgse Vinyl Maatschappij82, dass seit dem Orkem-Urteil durch die Entscheidungen in den Fäl 78 Schlussanträge des Generalanwalts L. A. Geelhoed v. 19.1.2006 – Rs. C-301/04 P, SGL Carbon/Kommission, Slg. 2006, I-5918, Rdnr. 67. 79 EuGH, Urteil v. 29.6.2006, Rs. C-301/04 P, SGL Carbon/Kommission, Slg. 2006, I-5943, Rdnr. 402. 80 EuGH, Urteil v. 29.6.2006, Rs. C-301/04 P, SGL Carbon/Kommission, Slg. 2006, I-5943, Rdnr. 403. 81 EuGH, Urteil v. 29.6.2006, Rs. C-301/04 P, SGL Carbon/Kommission, Slg. 2006, I-5943, Rdnr. 404. 82 EuGH, Urteil v. 15.10.2002 Rs. C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P und C-254/99 P, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, Slg. 2002, I-8375, Rdnr. 274.
A. Allgemein zum Nemo-tenetur-Grundsatz
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len Funke und Saunders Änderungen in der Rechtsprechung des EGMR über den Nemo-tenetur-Grundsatz eingetreten waren. Diese Änderungen konnten aber den EuGH nicht zu einer Revidierung der Orkem-Rechtsprechung veranlassen83. Der EuGH erklärt die Beibehaltung der Orkem-Rechtsprechung dadurch, dass die Pflicht der Unternehmen zur Beantwortung rein tatsächlicher Fragen der Kommission und zur Offenlegung relevanter Schriftstücke die Verteidigungsrechte der Unternehmen nicht verletzt, weil die Adressaten der Auskunftsersuchen der Kommission die Möglichkeit haben, die den Tatsachen und Dokumenten von der Kommission zugeschriebene Bedeutung im Kommissionsverfahren oder vor dem EU-Richter zu rügen84. In konsequenter Anwendung dieser Feststellung gelangte der EuGH im Urteil SGL Carbon zum Ergebnis, dass die Antwort eines Unternehmens auf ein Auskunftsersuchen der Kommission, das an sich verbotene Fragen enthält, weil sie ein Unternehmen zum Geständnis von Wettbewerbsverstößen zwingt, als freiwillige Zusammenarbeit des Unternehmens mit der Kommission zu deuten ist. Da ein Unternehmen nicht dazu verpflichtet ist, Auskünfte zu erteilen, die das Geständnis einer Zuwiderhandlung darstellen, kann die Antwort auf ein solche Fragen enthaltendes Auskunftsersuchen nur als freiwillige Zusammenarbeit betrachtet werden, die zu einer Bußgeldreduktion führen kann85. c) Ergebnis Aus der Analyse der Rechtsprechung der Unionsgerichte geht also hervor, dass die Geltung eines vollumfänglichen Auskunftsverweigerungsrechts bei Gefahr der Selbstbelastung im EU-Kartellverfahrensrecht nicht anerkannt wird. Die Kommission darf von den Unternehmen Informationen über die tatsächlichen Umstände einer untersuchten Zuwiderhandlung und darauf bezogene Dokumente verlangen, es sei denn ihr Auskunftsverlangen zwingt das unter Verdacht stehende Unternehmen zum Geständnis oder zu geständnisgleichen Antworten. Es ist immerhin die Kommission, die infolge des Grundsatzes „ei incumbit probatio qui dicit non qui negat“ die Beweislast (oder zumindest die „juristische Beweislast“ –
83 EuGH, Urteil v. 29.6.2006, Rs. C-301/04 P, SGL Carbon/Kommission, Slg. 2006, I-5943, Rdnr. 405. 84 EuGH, Urteil v. 29.6.2006, Rs. C-301/04 P, SGL Carbon/Kommission, Slg. 2006, I-5943, Rdnr. 406. 85 EuGH, Urteil v. 29.6.2006, Rs. C-301/04 P, SGL Carbon/Kommission, Slg. 2006, I-5943, Rdnr. 407–409. In der dem EuGH vorgelegten Sache beinhaltete das Auskunftsersuchen der Kommission neben rein tatsächlichen Fragen eine Aufforderung an SGL Carbon, Gegenstand und Ablauf sowie die Ergebnisse/Schlussfolgerungen mehrerer Treffen zu schildern, an denen SGL teilgenommen haben sollte, wobei klar war, dass die Kommission den Verdacht hatte, dass Gegenstand dieser Treffen die Einschränkung des Wettbewerbs war.
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§ 4 Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht § 4Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht
„legal burden of proof“ – im Gegensatz zur „evidential burden of proof“ – die apodiktische Beweislast –, die die betroffenen Unternehmen tragen86) im Kartellverfahren trägt87. 4. Kodifizierung der Orkem-Rechtsprechung in der VO 1/2003 Die Orkem-Rechtsprechung des EuGH hat Eingang in die Erwägungsgründe der VO 1/2003 gefunden hat. Erwägungsgrund 23 stellt klar, dass der Ermittlungshandlungen der Kommission ausgesetzte Unternehmen zwar nicht gezwungen sind, einen kartellrechtlichen Verstoß einzugestehen, dass sie jedoch Auskünfte (in Form von Antworten auf Fragen oder Vorlage von Dokumenten) liefern müssen, auch wenn solche Auskünfte den Beweis für die von der Kommission vermutete Zuwiderhandlung erbringen können. Die Gewährung eines umfassenden Aussageverweigerungsrechts im Kartellrecht wurde auch im Zuge der Vorarbeiten für die Verabschiedung der VO 1/2003 thematisiert. Die Kommission vertrat die Ansicht, dass die Vorschriften über das Auskunftsverlangen und andere Ermittlungsbefugnisse keine Ergänzung um ein Auskunftsverweigerungsrecht verlangen88.
IV. Die EGMR-Rechtsprechung zum Nemo-tenetur-Grundsatz Die Rechtsprechung des EGMR bezüglich des Auskunftsverweigerungsrechts ist nicht zuletzt von Bedeutung, weil sich der EuGH in seinem Orkem-Urteil genau auf diese Rechtsprechung berufen hat, indem er darauf hinwies, dass sich die Anerkennung eines Aussageverweigerungsrechts (zum damaligen Zeitpunkt) nicht aus der EGMR-Rechtsprechung ableiten ließ. Das Orkem-Urteil wurde im Jahre 1989 verkündet89. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der EGMR keine Gelegenheit gehabt, sich zum Auskunftsverweigerungsrecht wegen Gefahr der Selbstbelastung zu äußern. Dies änderte sich im Jahr 1993 mit dem Urteil in der Rechtssache Funke/Frankreich90, in dem der EGMR die Frage des Schutzes des Nemo-teneturPrinzips durch die EMRK bejahte.
86
Sibony/Barbier de la Serre, RTDeur 2007, 205 (211). Sibony/Barbier de la Serre, RTDeur 2007, 205 (211). 88 Vgl. die entsprechenden Erläuterungen der Kommission in ihrem Entwurf vom 27.9.2000, KOM (2000) 582 endg. 89 EuGH, Urteil v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Orkem SA/Kommission, Slg. 1989, 3283. 90 EGMR, Urteil v. 25.2.1993, Beschwerdenummer 10828/84, Funke./.Frankreich. 87
A. Allgemein zum Nemo-tenetur-Grundsatz
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1. Das Urteil „Funke“ Dem Verfahren vor dem Straßburger Gerichtshof lag ein französisches Zoll verfahren zugrunde, im Rahmen dessen der Beschwerdeführer von den Zollbehörden Frankreichs unter Androhung einer Geldbuße dazu gezwungen wurde, mündliche Auskünfte über seine Bankkonten zu erteilen und eine schriftliche Auflistung seiner Konten vorzulegen. Der EGMR stellte fest, dass der Beschwerdeführer den französischen Zollbehörden keine Auskünfte erteilen musste, die einen von ihm begangenen Verstoß gegen französische Rechtsvorschriften aufdecken könnten. Eine solche Verpflichtung würde bedeuten, selbstbelastende Beweise erbringen zu müssen, was eine Verletzung des in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten Nemotenetur-Prinzips darstellte. Der EGMR ist nicht nur bei der Feststellung der Geltung des Auskunftsverweigerungsrechts geblieben, sondern hat auch klargestellt, dass jede Bestrafung der Verweigerung der Auskunftserteilung eine Verletzung der in Art. 6 EMRK niedergelegten Garantien darstellt91. Aus dem Funke-Urteil geht auch hervor, dass das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung nicht nur im Strafverfahren, sondern auch im Verwaltungsverfahren gilt, da der Entscheidung ein französisches Verwaltungsverfahren zugrunde lag92. 2. Bestätigung der Funke-Rechtsprechung in weiteren Urteilen Die Feststellungen des EGMR im Urteil „Funke“ entwickelten sich zur festen Rechtsprechung, wie es sich aus den Urteilen „Saunders“93 und „J. B./Schweiz“94 ergibt. Das Urteil „Saunders“ scheint allerdings die „Funke“-Rechtsprechung zum Teil einzuschränken95. Unter „Funke“ erfasst das Auskunftsverweigerungsrecht die Offenlegung von Dokumenten, die zur Selbstbeschuldigung führen können96, wobei „Saunders“ den Anwendungsbereich des Grundsatzes nur auf solche Auskunftsverlangen der Verfolgungsbehörde beschränkt, die die Selbstüberführung als Folge haben97. Darüber hinaus erfasste das Nemo-tenetur im Sinne des Saunders-Urteils keine Dokumente, die bereits und unabhängig vom Willen des Betroffenen existieren und die auf Grundlage eines Durchsuchungsbefehls in die
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EGMR, Urteil v. 25.2.1993, Beschwerdenr. 10828/84, Funke./.Frankreich, Ziff. 41 ff. Kehl, S. 69. 93 EGMR, Urteil v. 17.12.1996, Beschwerdenr. 19187/91, Saunders./.Vereinigtes Königreich, Decisions & Reports 1996 – VI, 2044 ff. 94 EGMR, Urteil v. 03.05.2001, Beschwerdenr. 31827/96, J. B./.Schweiz,= NJW 2002, S. 499. 95 So Cumming, ECLR 2005, 375 (377); Willis, ECLR 2001, 313 (316). 96 EGMR, Urteil v. 25.2.1993, Beschwerdenr. 10828/84, Funke./.Frankreich, Ziff. 44. 97 EGMR, Urteil v. 17.12.1996, Beschwerdenr. 19187/91, Saunders./.Vereinigtes Königreich, Ziff. 69–71. 92
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§ 4 Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht § 4Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht
Hände der Verfolgungsbehörde gelangt sind98. Es lässt sich feststellen, dass der Anwendungsbereich des Auskunftsverweigerungsrechts im Sinne des „Saunders“Urteils die Zwangsvorlage von selbstbelastenden Dokumenten, die bereits und unabhängig vom Willen des Betroffenen existierten, nicht erfasst99. In „J. B./Schweiz“ scheint aber der EGMR den Anwendungsbereich des Nemo-tenetur erneut auf solche, bereits existierende Dokumente auszudehnen, die zur Überführung des Betroffenen eines quasi-strafrechtlichen Verfahrens führen können100. In einem späteren Urteil betonte der EGMR, dass das aus Art. 6 EMRK abgeleitete Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, nicht uneingeschränkt gilt101. 3. Der EGMR erkennt kein absolutes Auskunftsverweigerungsrecht an Der vom EGMR anerkannte Nemo-tenetur-Grundsatz ist allerdings nicht absolut. Der EGMR betonte, dass dieser Grundsatz nicht per se die Anwendung von Zwang auf eine Person für die Erlangung von Informationen außerhalb des Rahmens von strafrechtlichen Verfahren verbietet102. Als Beispiel führte der EGMR sein Urteil in der Sache Allen/Vereinigtes Königreich an, die den Fall des Zwangs eines Bürgers vom Finanzamt zur Vermögensangabe betraf103. In dem dem EGMR vorgelegten Fall machte der Beschwerdeführer eine Verletzung des Nemo-teneturGrundsatzes geltend, weil er vom englischen Finanzamt unter Androhung einer Geldbuße zur Vermögensangabe gezwungen wurde. Der EGMR wies die Beschwerde mit der folgenden Argumentation zurück: Einerseits gab es weder ein anhängiges noch ein voraussichtlich zu erwartendes („anticipated“) Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer. Der Beschwerdeführer behauptete nach Ansicht des EGMR nicht, dass die Informationen, die er dem Finanzamt geben musste, später in einem ihn belastenden (Straf-)Verfahren verwendet wurden. Vielmehr wurde der Beschwerdeführer wegen der vorsätzlichen falschen Vermögensangabe an das Finanzamt sanktioniert. Andererseits spielte es keine Rolle bei der Beurteilung des 98 EGMR, Urteil v. 17.12.1996, Beschwerdenr. 19187/91, Saunders./.Vereinigtes Königreich, Decisions & Reports 1996 – VI, 2044 ff., Ziff. 69. 99 So auch Meyer/Kuhn, WuW 2004, 880 (890). Für diese Auslegung auch GA L. A. Geel hoed, Schlussanträge v. 19.1.2006 – Rs. C-301/04 P SGL Carbon/Kommission, Slg. 2006, I-5918, Rdnr. 66. 100 EGMR, Urteil v. 03.05.2001, Beschwerdenr. 31827/96, J. B./.Schweiz, Ziff. 64–66, 71. Siehe auch Bellamy/Child, Rdnr. 3–036. 101 EGMR, Urteil v. 8.4.2004, Beschwerdenr. 38544/97, Weh./.Österreich, Ziff. 46 = JR 2005, S. 423; ÖJZ 2004, S. 853. Als Beteuerung seiner Aussage fügte der EGMR seine Ausführungen in den Urteilen Heaney and McGuinness./.Irland (2001), Ziff. 47, und Murray./.Vereinigtes Königreich (1996), Ziff. 47, hinzu. 102 EGMR, Urteil v. 4.10.2005, Beschwerdenr. 6563/03, Shannon./.Vereinigtes Königreich, Ziff. 32. 103 EGMR, Beschluss v. 10.9.2002, Beschwerdenr. 76574/01, Allen./.Vereinigtes Königreich, ECHR 2002-VIII.
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Falles, dass der Beschwerdeführer laut eigener Aussagen falsche Angaben gegenüber dem Finanzamt machen musste, um das Risiko nicht einzugehen, Verhaltensweisen offenzulegen, die wahrscheinlich zu einer Anklage geführt hätten. Nach Auffassung des EGMR reichte diese Tatsache nicht aus, um den Sachverhalt in den Anwendungsbereich des Auskunftsverweigerungsrechts zu bringen104. Der in „Allen“ vom EGMR untersuchte Fall ist also anders als die Pflicht zur Beantwortung von Auskunftsersuchen im EU-Kartellverfahren gelagert. In Allen ging es nicht um die Verwendung von belastenden Angaben in anschließenden Strafverfahren, die vom Betroffenen unter Ausübung von Zwang oder Androhung einer Zwangsmaßnahme im Vorverfahren gemacht wurden. Deswegen war auch nicht der Anwendungsbereich des Nemo-tenetur-Grundsatzes geöffnet. Anders verhält es sich mit den zur Beantwortung verpflichtenden Auskunftsersuchen der Kommission, da den zur Beantwortung der Auskunftsersuchen verpflichteten Unternehmen ein quasi-strafrechtliches Verfahren bevorsteht oder gegen sie bereits eingeleitet wurde (wenn die Mitteilung der Beschwerdepunkte bereits an das Unternehmen verschickt wurde). 4. Schlussfolgerung Aus alledem folgt, dass die EGMR-Rechtsprechung ein nicht absolutes Auskunftsverweigerungsrecht wegen Gefahr der Selbstbelastung gewährt. Bislang betrafen die vom EGMR entschiedenen Fälle, in denen sich der Straßburger Gerichtshof sich mit dem Aussageverweigerungsrecht befasst hat, lediglich natürliche Personen. Dieses Grundrecht könnte aber auch für juristische Personen gelten, und zwar nicht nur, falls eine natürliche Person nach dem funktionalem Unternehmensbegriff des EU-Kartellrechts gleichzeitig auch Unternehmen wäre und zur Offenlegung von selbstbelastenden Auskünften verpflichtet wäre105, sondern in sämtlichen Fällen, in denen ein Unternehmen zur Offenlegung von selbstbelastenden Dokumenten oder Auskünften im Rahmen eines strafrechtlichen Verfahrens im Sinne von Art. 6 EMRK verpflichtet ist. Der Anwendungsbereich des EMRKAuskunftsverweigerungsrechts ist aber insofern weiter als der des EU-Auskunftsverweigerungsrechts, dass er auch vor einem Zwang zur Vorlage bereits existierender belastender Dokumente schützt. Das Straßburger Gericht hat also die Geltung eines Verbots des Zwanges zur Selbstbelastung und eines daraus resultierenden Aussageverweigerungsrechts auf Grundlage von Art. 6 Abs. 1 EMRK auch in Verfahren, die als strafrechtlich im Sinne von Art. 6 EMRK zu qualifizieren sind, anerkannt. Die Rechtsprechung des EGMR ist maßgeblich für die Auslegung der Europäischen Menschenrechts 104 EGMR, Beschluss v. 10.9.2002, Beschwerdenr. 76754/01, Allen./.Vereinigtes Königreich, ECHR 2002-VIII, Ziff. 1, S. 5. 105 So aber Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), vor Art. 17–22, Rdnr. 45.
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konvention, da die EMRK nach der Auffassung des Gerichtshofs ein „lebendes“ Rechtsinstrument darstellt, das durch eine dynamische Auslegung den gesellschaftlichen Gegebenheiten und Rechtsschutzanforderungen angepasst wird.
V. Würdigung der EuGH-Rechtsprechung In der Rechtssache Orkem hat der EuGH die Frage behandelt, inwieweit im Voruntersuchungsverfahren106, d. h. in der Phase vor der Mitteilung der Beschwerdepunkte an das unter Verdacht eines Kartellverstoßes stehende Unternehmen, ein Auskunftsverweigerungsrecht bei Gefahr der Selbstbelastung besteht, und die Existenz eines solchen Rechts abgelehnt. Das Urteil des EuGH in der Rechtssache „Orkem“ wurde mehrheitlich in der Literatur kritisiert107. Der EuGH unterschied darin zwischen einem Geständnisverweigerungsrecht und einem Auskunftsverweigerungsrecht. Die Geltung des ersteren wird vom Gerichtshof anerkannt, die des anderen abgelehnt. Die Kommission darf nach der Auffassung der EU-Richter keine Fragen stellen, die ein Unternehmen zum Geständnis von kartellrechtlichen Verstößen zwingen, ist aber dazu berechtigt, Auskünfte und Dokumente zu verlangen, die später als Nachweis eines Kartellverstoßes herangezogen werden könnten. Wie es aber in der Literatur kritisch angemerkt wurde108, ist die vom EuGH gezogene Trennlinie nicht besonders scharf ist. Denn es ist nicht auszuschließen, dass die Lieferung von Nachweisen für einen Kartellverstoß durch den Zwang zur Offenlegung von Informationen qualitativ einem Geständniszwang entspricht, wenn die Beweise so stark sind und keinen Zweifel an die Begehung des Verstoßes ermöglichen. Weiterhin ist es der Kommission möglich, durch eine dafür geeignete Fragestellung, das Geständnisverweigerungsrecht zu umgehen und die Unter nehmen trotzdem zu einem Geständnis zu veranlassen109. Der EuGH hat die Geltung eines allgemeinen Auskunftsverweigerungsrechts unter anderem auch deswegen abgelehnt, weil sich aus der vergleichenden Analyse der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten kein Schluss ziehen ließe, dass das Auskunftsverweigerungsrecht als gemeinsamer Grundsatz zugunsten juristischer Personen und in Bezug auf Zuwiderhandlungen wirtschaftlicher Art an-
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Siehe zur Unterscheidung zwischen Voruntersuchungs- oder Ermittlungsverfahren und Hauptprüfverfahren die entsprechenden Ausführungen in § 1, II.1, S. 16 ff. 107 A. A. Jarass, S. 471 f., Rdnr. 32–33, der der EuGH-Rechtsprechung zustimmt und, obwohl er von der Geltung des Nemo-tenetur-Prinzips auch in strafrechtsähnlichen Verwaltungverfahren ausgeht, die Möglichkeit von gerechtfertigten Eingriffen in das Aussageverweigerungsrecht akzeptiert, damit die Kommission bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nicht unangemessen behindert wird (Rdnr. 33); zustimmend auch Meyer/Kuhn, WuW 2004, 880 (889). 108 Korah, S. 163; Pache, EuZW 2001, 352; Kehl, S. 67 f. 109 Kehl, S. 68.
A. Allgemein zum Nemo-tenetur-Grundsatz
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erkannt werde110. Dieses Argument ist nur bedingt stichhaltig, da die Anerkennung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes im Unionsrecht nicht davon abhängen kann, ob wichtige rechtsstaatliche Grundsätze in der Mehrheit der Mitgliedstaaten gelten oder nicht. Es sollte vielmehr darauf ankommen, inwieweit es sich um ein allgemeingültiges Prinzip liberalen Rechtsdenkens oder um ein bloßes rechtspolitisches Ziel einiger Mitgliedstaaten handelt111. Dagegen wird argumentiert, dass aus der Tatsache, dass in mehreren EUMitgliedstaaten juristischen Personen kein Auskunftsverweigerungsrecht gewährt wird, sich kein Argument für die Ablehnung eines solchen Rechts auf EU-Ebene ableiten lässt. Gleichzeitig ergibt sich aus dieser Tatsache auch nicht zwingend ein Argument für die Anerkennung eines solchen Rechts auf EU-Ebene112. Der EuGH hat sich aber öfters für die Gewinnung eines Grundsatzes des Unionsrechts auf eine begrenzte Anzahl oder sogar auf nur eine nationale Rechtsordnung gestützt, wie der prätorischen Entwicklung des Grundsatzes der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandanten (dem sogenannten „Anwalts privileg“113) im AM & S-Urteil114 zu entnehmen ist. Das Fehlen einer Regelung des Nemo-tenetur-Prinzips in einigen nationalen Kartellrechtsordnungen ist nach einer Literaturmeinung auch auf das mangelnde Bedürfnis einer solchen Regelung zurückzuführen, da keine Sanktionen für den Fall der Nicht-Erteilung von Auskünften in nationalen Kartellverfahren vorgesehen wurden. Es könnte aber auch im Zusammenhang mit den damals noch nicht einheitlich ausgeprägten Ermittlungsbefugnissen der nationalen Kartellbehörden stehen115. Nach derselben Literaturstimme wurden diese beiden Aspekte vom EuGH nicht hinreichend berücksichtigt. Es gibt allerdings immer noch Unterschiede bezüglich der Reichweite der Ermittlungsbefugnisse der nationalen Kartellbehörden, was auch in der VO 1/2003 berücksichtigt wird116. Wenn also die Ermittlungsbefugnisse der nationalen Wettbewerbsbehörden schwächer als diejenigen der Kommission ausgeprägt sind und kein Auskunftsverweigerungsrecht wegen drohender Selbstbezichtigung gewährt wird, bedeutet das nicht sofort, dass auch im EU-Kartellverfahren ein solches Recht nicht erforderlich sei117. Ein weiterer Kritikpunkt an der EuGH-Rechtsprechung bezieht sich auf die Nicht-Berücksichtigung der Judikatur des EGMR in Bezug auf das Aussagever-
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EuGH, Urteil v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Orkem SA/Kommission, Slg. 1989, 3283, Rdnr. 29. Ross, S. 99. 112 Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), vor Art. 17–22 VO 1/2003, Rdnr. 42. 113 Siehe § 6 „Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht“, S. 227 ff. 114 EuGH, Urteil v. 18.5.1982, Rs. 155/79, AM&S Europe Limited/Kommission, Slg. 1982, 1575. 115 Ross, S. 99 f. 116 Siehe zum Beispiel Art. 22 Abs. 1 VO 1/2003, wo verdeutlicht wird, dass die Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats „nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts“ tätig wird. 117 Kehl, S. 68. 111
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weigerungsrecht wegen drohender Selbstbezichtigung. Im Urteil „Orkem“ lässt sich der fehlende Bezug auf die EGMR-Rechtsprechung dadurch erklären, dass sich das Straßburger Gericht bis zum damaligen Zeitpunkt mit dem Aussageverweigerungsrecht nicht befasst hatte. Dieser Umstand änderte sich aber mit dem EGMR-Urteil „Funke“ aus dem Jahr 1993, dem die Urteile „Saunders“ und „J. B./ Schweiz“ in 1996 und in 2001 jeweils folgten. Dieser Argumentation könnte eingewendet werden, dass es sich in den Urteilen „Funke“ und „J.B/Schweiz“ um das Auskunftsverweigerungsrecht natürlicher Personen handelte und dass der EGMR das Auskunftsverweigerungsrecht schon auch im Verwaltungsverfahren, aber nur für natürliche, und nicht für juristische, Personen anerkannt hat118. Aus diesem Grund sei es zweifelhaft, ob daraus auch ein umfassendes Aussageverweigerungsrecht für juristische Personen hergeleitet werden kann, da der persönliche Betroffenheitsgrad der Beteiligten unterschiedlich ist119. Im „Orkem“-Urteil hat jedoch der EuGH betont, dass sich auch juristische Personen auf Art. 6 EMRK grundsätzlich berufen können120. Zu den von Art. 6 EMRK geschützten Rechten gehört auch das Aussageverweigerungsrecht bei Zwang zur Selbstbezichtigung. Der EGMR hat sich in seiner Rechtsprechung nur mit dem Aussageverweigerungsrecht von natürlichen Personen befasst, das schließt aber nicht aus, dass sich auch juristische Personen auf dieses Grundrecht berufen können. Eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Aussageverweigerungsrechts auch auf juristische Personen erscheint sogar geboten, wenn das „Menarini“-Urteil des EGMR in Betracht gezogen wird. In diesem Urteil stellte das EGMR fest, dass die im italienischen Kartellverfahren verhängten Geldbußen strafrechtlichen Charakter im Sinne von Art. 6 EMRK haben121. Angesichts der Ähnlichkeiten des italienischen und des EU-Kartellverfahrens liegt eine analoge Anwendung der Feststellungen des Menarini-Urteils auf das EU-Kartellverfahren nahe. Der im Sinne von Art. 6 EMRK strafrechtliche Charakter der Sanktionen im EU-Kartellverfahren würde verlangen, dass die Garantien von Art. 6 EMRK den Verfahrensbetroffenen in ihrem größtmöglichen Umfang gewährt werden. Ein weiterer Kritikpunkt an der „Orkem“-Rechtsprechung des EuGH bezieht sich auf deren Verstoß gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union122. Der Nemo-tenetur-Grundsatz ist mittelbar in Art. 48 Abs. 2 GRCH ver-
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Siehe auch Berger, EHRLR 2007, 514 (515), wo der Verfasser ausführt, dass „[…] the Court has been systematically attempting to forge a mature right of silence that permits individuals to resist State compulsion to provide self-incriminatory information“. 119 Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), vor Art. 17–22, Rdnr. 44. 120 Siehe zum Beispiel EuGH, Urteil v. 18.10.1989, Rs. 374/87, Orkem/Kommission, Slg. 1989, 3283, Rdnr. 30. 121 EGMR, Urteil v. 27.9.2011, Beschwerdenr. 43509/08, Menarini Diagnostics S.r.l./.Italien, Ziff. 44. 122 Schwarze/Weitbrecht, S. 88, Rdnr. 33.
A. Allgemein zum Nemo-tenetur-Grundsatz
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ankert123. Durch Art. 52 Abs. 3 GRCH, der die inhaltliche Kongruenz der sowohl in der EMRK als auch in der GRCH garantierten Rechte sicherstellt, ergibt sich die Notwendigkeit, den Umfang des Aussageverweigerungsrechts bei drohender Selbstbezichtigung an die EMRK-Vorgaben anzupassen. Würde der EGMR in einem künftigen Urteil die Geltung des Aussageverweigerungsrechts auch für juristische Personen ausdrücklich erklären, würde die Orkem-Rechtsprechung aufgrund von Art. 52 Abs. 3 GRCH als überholt gelten. Obwohl der EuGH in seiner Rechtsprechung davon ausgeht, dass der von der EU-Judikatur angebotene Schutz des Nemo-tenetur-Grundsatzes dem von der EMRK und der EGMR-Rechtsprechung gewährten entspricht, ergibt sich aus einer Reihe von Argumenten, dass die Reichweite des Auskunftsverweigerungsrechts in der Rechtsprechung der Unionsgerichte hinter der Reichweite desselben Rechts in der EGMR-Rechtsprechung zurückbleibt. Eine Anpassung der Schutzreichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes auf EU-Ebene an den EMRK-Vorgaben kann nur durch die Aufgabe der Orkem-Rechtsprechung und durch die Anerkennung vom EuGH eines umfassenden Auskunfts- und Mitwirkungsverweigerungsrechts herbeigeführt werden, wie nachstehend zu zeigen ist. Das EuG hat zwar in seinem „Mannesmannröhren-Werke“-Urteil Bezug auf Art. 6 Abs. 1 EMRK und die „Funke“-Rechtsprechung des EGMR genommen124. Das Gericht erster Instanz setzte sich aber nicht mit dem Inhalt der „Funke“Rechtsprechung auseinander, sondern argumentierte, dass die nach ständiger Rechtsprechung anerkannten Verteidigungsrechte im Unionsrecht den aus Art. 6 Abs. 1 EMRK hergeleiteten Verteidigungsrechten entsprechen125. Die Bezugnahme des EuG auf die Judikatur des EGMR kann als Versuch gedeutet werden, die Divergenz im Schutz der Betroffenen bezüglich des Auskunftsverweigerungsrechts zwischen EMRK und EU-Recht zu vermeiden126. Die Diskrepanz zwischen der Straßburger und der Luxemburger Rechtsprechung kann aber nicht so einfach geleugnet werden: Während der EuGH und das EuG nur ein Geständnisverweigerungsrecht für die Betroffenen eines EU-Kartellverfahrens anerkennen, leitet der EGMR ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht bei Gefahr der Selbst belastung aus Art. 6 EMRK her. Deswegen erscheint es geboten, das Auskunftsverweigerungsrecht weit auszulegen. Dadurch wird nicht nur ein höherer Grundrechtsschutz gewährt, sondern auch eine Harmonisierung der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR in Bezug auf das Auskunftsverweigerungsrecht erreicht. 123
So Voet van Voormizeele, in: Schwarze (Hrsg.), Art. 48 GRC, Rdnr. 9; a. A. Frenz, Rdnr. 5098, der die Auffassung vertritt, dass der Nemo-tenetur-Grundsatz sich aus Art. 47 Abs. 2 i. V. m. Art. 48 Abs. 1 EGC ergibt. 124 EuG, Urteil v. 20.2.2001, Rs. T-112/98, Mannesmannröhren-Werke AG/Kommission, Slg. 2001, II-729, Rdnr. 77. 125 EuG, Urteil v. 20.2.2001, Rs. T-112/98, Mannesmannröhren-Werke AG/Kommission, Slg. 2001, II-729. 126 So Kehl, S. 70.
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§ 4 Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht § 4Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht
VI. Plädoyer für eine weite Auslegung des Nemo-tenetur im EU-Kartellverfahren Der Nemo-tenetur-Grundsatz ist strafrechtlichen Ursprungs, kann aber gemäß der EGMR-Rechtsprechung auch in Verwaltungsverfahren Geltung beanspruchen. Dennoch weicht der EuGH von dieser EMRK-Rechtsprechung zum Zwecke der Wahrung der Effizienz der Ermittlungsbefugnisse der Kommission ab. Es stellt sich die Frage, inwiefern die Anerkennung eines umfassenden Auskunftsverweigerungsrechts wegen Gefahr der Selbstbelastung nötig für die Wahrung der Verteidigungsrechte der Unternehmen im EU-Kartellverfahren ist. Dabei ist zu beachten, dass sich der EuGH unwillig zeigt, seine Rechtsprechung über die Gewährung eines bloßen Geständnisverweigerungsrechts und keines umfassenden Aussageverweigerungsrechts zu ändern, da er bei der Abwägung der Schutzgüter das Interesse an der Effizienz der Ermittlungsbefugnisse der Kommission im Bereich des Wettbewerbs höher als das Interesse eines Unternehmens, sich nicht selbst belasten zu müssen, einstuft127. 1. Vollumfängliches Auskunftsverweigerungsrecht wegen des strafrechtlichen Charakters der Sanktionen im EU-Kartellbußgeldverfahren geboten Zur Beantwortung der Frage, inwieweit die Anerkennung eines umfassenden Auskunftsverweigerungsrechts im EU-Kartellecht geboten ist, ist es besonders wichtig, dass man sich zuerst über die Natur des europäischen Kartellverfahrens und seiner Sanktionen klar macht, nicht zuletzt darum, weil der EuGH für seine Ablehnung ersichtlich auch darauf abstellt, dass es sich beim Kartellverfahren im Endeffekt um ein Verwaltungsverfahren handelt und die für den Fall eines Verstoßes vorgesehenen Sanktionen laut Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 keinen strafrechtlichen Charakter haben128. Dennoch sind die Bußgelder im EU-Kartellverfahren, wie bereits erörtert, strafrechtlicher Natur und das EU-Kartellbußgeldverfahren als strafrechtlich im Sinne von Art. 6 EMRK zu bezeichnen. Angesichts der schwerwiegenden Folgen eines Kartellbußgeldverfahrens der EU-Kommission für Unternehmen (Sanktionen in Höhe von mehreren Hunderten von Millionen, Schadensersatzzahlungen an private Kläger, Reputationsverlust), der Gewährleistungen der Europäischen Grundrechtecharta, insbesondere in Art. 48 Abs. 2, und der EMRK, die nach dem künftigen Beitritt der EU zur EMRK bindendes Recht für die EU sein wird, ist eine Revidierung der Orkem-Rechtsprechung des EuGH, die das Auskunftsverweigerungsrecht auf ein Geständnisverweigerungsrecht im EU-Kartellverfahren beschränkt, geboten. Das bloße Geständnis 127
Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), vor Art. 17–22, Rdnr. 47. So Ross, S. 101.
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A. Allgemein zum Nemo-tenetur-Grundsatz
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verweigerungsrecht eines Unternehmens, wie es im Erwägungsgrund 23 der VO 1/2003 niedergelegt ist und wie es vom EuGH und EuG anerkannt wird, wird den Anforderungen des Schutzes der Grundrechte von Unternehmen, wie sie in der Grundrechtecharta und in der EMRK verankert sind, nicht gerecht. Sollte man dem EU-Kartellverfahren den quasi-strafrechtlichen Charakter absprechen, hätte das keine Auswirkung auf die festgestellte Anwendung des vollumfänglichen Nemo-tenetur-Grundsatzes (und nicht bloß eines Geständnisverweigerungsrechts) auf das EU-Kartellverfahren. Nach der herrschenden Literaturmeinung hat der EGMR in Funke indirekt festgestellt, dass das in Art. 6 EMRK verankerte Auskunftsverweigerungsrecht und das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, nicht nur in Strafverfahren im engeren Sinne aber auch in Verwaltungsverfahren gilt129. 2. Anpassung des Nemo-tenetur im EU-Kartellverfahren an das EMRK-Schutzniveau Ein wesentliches Argument des EuGH im Orkem-Urteil war, dass sich weder aus dem Wortlaut von Art. 6 EMRK noch aus der Rechtsprechung des EGMR ein Recht ableiten lasse, nicht gegen sich selbst als Zeuge aussagen zu müssen130. Im Jahr 1996 hat jedoch der EGMR im Urteil in der Sache „John Murray/Vereinigtes Königreich“ ausdrücklich festgestellt, dass Art. 6 EMRK, auch wenn es ein Schweigerecht nicht ausdrücklich erwähnt, das Schweigerecht im Falle einer Polizeivernehmung und das Prinzip des Verbots zum Zwang zur Selbstbelastung als internationale Rechtsgrundsätze, die dem Kern eines fairen Verfahrens angehören, gewährleistet131. Wie bereits erörtert erkennt der EGMR ein Aussageverweigerungsrecht bei Gefahr der Selbstbezichtigung und kein bloßes Geständnisverweigerungsrecht wie der EuGH an. Gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV sind die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionrechts. Ferner haben Chartagrundrechte gemäß Art. 52 Abs. 3 GRCH, soweit sie mit EMRK-Grundrechten übereinstimmen, die Bedeutung und Tragweite, die ihnen in der EMRK verliehen wird. Die Grundrechtecharta gewährleistet in Art. 48 Abs. 2 im Rahmen der Verteidigungsrechte eines Angeklagten auch das Schweigerecht132. Aus alledem folgt, dass das Schweigerecht in der ihm vom EGMR verliehenen Tragweite bindendes Recht für die EU-Institutionen darstellt, das vom EuGH bei seiner Entscheidungsfindung in seinem vollem Umfang zu berücksichtigen ist. Die Gewährleistung 129
Vgl. Schwarze/Weitbrecht, § 5, Rdnr. 33. EuGH, Urteil v. 18.10.1989, Rs. C-374/84, Orkem/Kommission, Slg. 1989, 3343, Rdnr. 30. 131 EGMR, Urteil v. 8.2.1996, Beschwerdenr. 18731/91, John Murray./.Vereinigtes Königreich, Ziff. 45. 132 Vgl. dazu Jarass, S. 471 f. 130
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vom EGMR eines erweiterten Auskunftsverweigerungsrechtes (und keines bloßen Geständnisverweigerungsrechtes) gebietet eine Abkehr von der Orkem-Recht sprechung des EuGH, so dass die Rechtsprechung der Unionsgerichte über das Aussageverweigerungsrecht in Einklang mit der EMRK gebracht wird und ein allgemeines Aussageverweigerungsrecht anerkennt133. Eine Pflicht zur Erweiterung der Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellrecht ergibt sich auch aus Art. 51 Abs. 3 GRCH. Diese Vorschrift sieht vor, dass Chartagrundrechte, die auch in der EMRK gewährleistet werden, die ihnen durch die EMRK verliehene Bedeutung und Tragweite haben. Wie bereits geschildert wurde, erkennt der EGMR in ständiger Rechtsprechung an, dass der Nemo-tenetur-Grundsatz zum Kerngehalt des in Art. 6 EMRK verankerten Rechts auf ein faires Verfahren gehört. Der Nemo-tenetur-Grundsatz gehört ferner zu den durch Art. 48 Abs. 2 GRCH gewährleisteten Verteidigungsrechten. 3. Uneingeschränkte Geltung des Nemo-tenetur-Grundsatzes auch für Unternehmen Ein wichtiges Argument des EuGH gegen eine Angleichung der Orkem-Rechtsprechung an den durch die EGMR gebotenen Schutz des Nemo-tenetur-Prinzips besteht darin, dass der EGMR ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht nur natürlichen Personen gewähre. Es ist zwar eine Tatsache, dass die einschlägige Straßburger Rechtsprechung (Funke, Saunders, Murray) sich mit Beschwerden von natürlichen Personen befasst hat. Der EGMR hat jedoch die Anwendung eines umfassenden Auskunftsverweigerungsrechts auf juristische Personen nicht ausdrücklich abgelehnt. Er hat bis heute keine Gelegenheit gehabt, sich mit der Frage der Anwendbarkeit des Nemo-tenetur-Grundsatzes auf juristische Personen auseinanderzusetzen. Juristische Personen können aber grundsätzlich Grundrechtsträger im EMRK-Rechtssystem sein134. Ein bestimmtes Grundrecht schließt auch juristische Personen in seinen persönlichen Schutzbereich ein, wenn es seinem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar ist135. Im Fall des Aussageverweigerungsrechts spricht nichts gegen seine (uneingeschränkte) Anwendbarkeit auf juristische Personen. Der strafrechtliche Charakter der Geldbußen im EU-Kartellverfahren gebietet die Anwendung strafprozessrechtlicher Grundsätze, zu denen auch der Nemo-tenetur-Grundsatz gehört. Darüber hinaus erkennen das EuG und der EuGH in ständiger Rechtsprechung bereits einen eingeschränkten Schutz von Unternehmen durch den Nemo-tenetur-Grundsatz im Kartellrecht in Form eines Geständnisverweigerungsrechts an.
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So Soyez, EWS 2006, 389 (392). Jarass, S. 45. 135 Grabenwarter/Pabel, § 17, Rdnr. 5. 134
A. Allgemein zum Nemo-tenetur-Grundsatz
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Es ist aber nicht ersichtlich, warum eine Übertragung der Feststellungen des EGMR in seiner Rechtsprechung über das Auskunftsverweigerungsrecht nicht ohne weiteres möglich ist, wie GA Geelhoed in den Schlussanträgen der Sache SGL Carbon/Kommission behauptet hat136. Es ist zwar zutreffend, dass der Nemotenetur-Grundsatz sich vorerst als strafprozessrechtliche Garantie entwickelt hat, die einem Angeklagten Schutz vor übermäßigen Eingriffen bei Ermittlungstätigkeiten der staatlichen Gewalt bieten soll. Darüber hinaus soll durch den Nemo-tenetur-Grundsatz der freie Willen des Beschuldigten geschützt werden, inwieweit er aktiv zur Aufklärung der Sache beitragen möchte oder nicht137. Dieser Schutzzweck des Verbots eines Zwangs zur Selbstbelastung verliert nichts von seiner Wichtigkeit im Falle, dass einem Unternehmen im Rahmen eines Kartellverfahrens die Begehung eines Wettbewerbsverstoßes vorgeworfen wird. Das EU-Kartellbußgeldverfahren hat nicht zuletzt wegen der strafrechtlichen Natur der Geldbußen (zumindest) strafrechtsähnlichen Charakter. Aus diesem Grund gelten auch in diesem Verfahren die strafrechtlichen Grundrechtsgarantien, die einen Beschuldigten vor der staatlichen Willkür schützen sollen. Wie bereits in dieser Arbeit gezeigt wurde beanspruchen im Rahmen des EU-Kartellverfahrens sowohl der Ne bis in idem-Grundsatz als auch das Prinzip der Unschuldsvermutung volle Geltung. Eine Ausnahme für den Nemo-tenetur-Grundsatz wäre nicht zu rechtfertigen. 4. Geringe Praktikabilität der in der EuGH-Rechtsprechung vorgenommenen Abgrenzung Die vom EuGH mit der Orkem-Rechtsprechung eingeführte Abgrenzung zwischen einerseits Auskünften über reine Tatsachen, die den Nachweis einer Zuwiderhandlung liefern können und die ein Unternehmen der Kommission bei Verlangen mitzuteilen hat, und unzulässigen Fragen, die ein Unternehmen zum Geständnis eines Wettbewerbsverstoßes zwingen würden, für den die Kommission den Nachweis zu erbringen hat, weist eine geringe Praktikabilität auf. In SGL Carbon/Kommission stellte der EuGH fest, dass die Kommission ein Unternehmen dazu verpflichten kann, „ihr alle erforderlichen Auskünfte über ihm eventuell bekannte Tatsachen zu erteilen und ihr erforderlichenfalls die in seinem Besitz befindlichen Schriftstücke, die sich hierauf beziehen, zu übermitteln, selbst wenn sie dazu verwendet werden können, den Beweis für ein wettbewerbswidriges Verhalten des betreffenden oder eines anderen Unternehmens zu erbringen“.138 Eine Grenze zieht der EuGH in den Fällen, in denen die Kommission von einem 136 Schlussanträge des Generalanwalts L. A. Geelhoed v. 19.1.2006 – Rs. C-301/04 P SGL Carbon/Kommission, Slg. 2006, I-5918, Rdnr. 63. 137 Siehe Meyer-Gossner/Schmitt, Einleitung, Rdnr. 29a. 138 EuGH, Urteil v. 29.6.2006, Rs. C-301/04 P, SGL Carbon/Kommission, Slg. 2006, I-5943, Rdnr. 41.
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Unternehmen, gegen das sich die Ermittlungen der Kommission richtet, Antworten zu erlangen versucht, durch die es das Vorliegen einer Zuwiderhandlung ein gestehen müsste, für die die Kommission den Beweis zu erbringen hat139. Für die Adressaten eines Auskunftsersuchens ist es aber oft schwer erkennbar, welche Fragen zu einer Selbstbelastung führen können und welche nicht140. Es kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass prima facie „harmlose“ Fragen über Tatsachen, wie die Fragen über die Teilnahme an bestimmten Treffen, eine ganz andere Bedeutung erlangen, wenn die Kommission bereits über einen Anfangsverdacht oder Beweise über den wettbewerbswidrigen Zweck dieses Treffens hat. Durch eine bejahende Antwort der Kommissionsfrage hätte das Unternehmen nicht bloß die Teilnahme am fraglichen Treffen bestätigt, sondern würde gleichzeitig die widerlegbare Vermutung seiner Beteiligung auch an der wettbewerbswidrigen Absprache begründen141. Die Schwere der Folgen wird umso deutlicher, wenn die Rechtsprechung des EuGH noch berücksichtigt wird, nach der auch ein einziges Treffen zwischen Wettbewerber ausreicht, bei dem sensible Informationen ausgetauscht wurden, um eine wettbewerbswidrige Koordinierung des Marktverhaltens anzunehmen142. Die Vermutung kann allerdings nur dadurch widerlegt werden, dass das Unternehmen nachweist, dass es ausdrücklich und unzweideutig von den getroffenen Absprachen im Rahmen des Treffens Abstand genommen hat143. Die Kommission scheint selber das soeben beschriebene Risiko der Selbstbelastung eines Unternehmens in der „Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Artikel 101 und 102 AEUV“144 einzuräumen. Im Abschnitt 139 EuGH, Urteil v. 29.6.2006, Rs. C-301/04 P, SGL Carbon/Kommission, Slg. 2006, I-5943, Rdnr. 42. 140 Vgl. auch Soyez, EWS 2006, 394. 141 Bezüglich der widerlegbaren Vermutung der Teilnahme an der wettbewerbswidrigen Absprache auch bei passiver Teilnahme an einem Treffen, wenn sich ein Unternehmen danach nicht öffentlich von den bei diesem Treffen eingegangenen Vereinbarungen distanziert, siehe EuGH, Urteil v. 11.1.1990, Rs. C-277/87, Sandoz prodotti farmaceutici SpA/Kommission, Slg. 1990, I-45, Rdnr. 11; EuG, Urteil v. 11.12.2003, Rs. T-66/99, Minoan Lines SA/Kommission, Slg. 2003, II-5515, Rdnr. 216; Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABl. EU v. 14.1.2011, C 11/1, Rdnr. 62. Bezüglich der Vermutung, dass auch ein einziges Treffen zwischen Wettbewerbern ausreicht, bei dem Informationen ausgetauscht wurden, um von einer Abstimmung des Marktverhaltens der Wettbewerber auszugehen, siehe EuGH, Urteil v. 4.6.2009, Rs. C-8/08, T-Mobile Netherlands BV, KPN Mobile NV, Orange Nederland NV und Vodafone Libertel NV/Raad van bestuur van de Nederlandse Mededingingsautoriteit, Slg. 2009, I-4529, Rdnr. 59, 60, 62 142 Vgl. EuGH, Urteil v. 4.9.2009, Rs. C-8/08, T-Mobile Netherlands BV, KPN Mobile NV, Orange Nederland NV und Vodafone Libertel NV/Raad van bestuur van de Nederlandse Mededingingsautoriteit, Slg. 2009, I-4529, Rdnr. 59. 143 Vgl. EuGH, Urteil v. 11.1.1990, Rs. C-277/87, Sandoz prodotti farmaceutici SpA/Kommission, Slg. 1990, I-45, Rdnr. 11; EuG, Urteil v. 10.3.1992, Rs. T-15/89, Chemie Linz AG/ Kommission, Slg. 1992, II-1275, Rdnr. 120; Horizontalleitlinien, Rdnr. 62. 144 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen.
A. Allgemein zum Nemo-tenetur-Grundsatz
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„Inhaltliche Abgrenzung des Auskunftsverlangens“ erläutert die Kommission, welche Auskünfte sie für erforderlich hält und deren Erteilung sie von einem Unternehmen verlangen kann. Erforderlich sind Auskünfte nach Ansicht der Kommission insbesondere dann, wenn sie es der Kommission ermöglichen, im Auskunftsverlangen genannte mutmaßliche Zuwiderhandlungen zu verifizieren145. Die Tatsache, dass die Kommission im Auskunftsersuchen die ermittelten mutmaßlichen Zuwiderhandlungen erwähnt, ändert nichts an dem oben genannten Risiko der Selbstbelastung, das das die Auskünfte vermittelnde Unternehmen trägt. Die Fragen der Kommission können sich immer noch nur auf die Teilnahme an gewissen Treffen beschränken, in denen wettbewerbswidrige Absprachen getroffen wurden. Die Bestätigung der Teilnahme an diesen Treffen durch das befragte Unternehmen gleicht einem Geständnis, da sie die widerlegbare Vermutung der Teilnahme an der wettbewerbswidrigen Vereinbarung begründet. Die einzige Möglichkeit, dieses Risiko für die Unternehmen einzudämmen wäre die vollumfängliche Geltung des Nemo-tenetur-Grundsatzes im Falle von Auskunftsersuchen, die durch Entscheidung der Kommission ergehen und zur Erteilung von Auskünften verpflichten. 5. Nachträglicher Schutz des rechtlichen Gehörs rechtfertigt nicht die Einschränkung des Nemo-tenetur-Grundsatzes Genauso wie die Unterscheidung zwischen Fragen nach Auskünften und Erzwingung eines Geständnisses vermag der Ansatz des nachträglichen, mittelbaren Schutzes des Unternehmens durch die Gewährung rechtlichen Gehörs nicht die Einschränkung des Auskunftsverweigerungsrechts zu rechtfertigen. Der EuGH vertritt in seinem Urteil in der Rechtssache SGL Carbon die Auffassung, dass eine Einschränkung des Nemo-tenetur-Grundsatzes durch die Wahrung der Verteidigungsrechte im gesamten Kartellverfahren und durch die Geltung des Anhörungsrechts gerechtfertigt wäre. Die Unternehmen haben nach dieser Auffassung im Rahmen der Ausübung des Anhörungsrechts (entweder im Kommissionsverfahren oder im Verfahren vor den Unionsgerichten) die Möglichkeit, die von der Kommission gemachte Auslegung der belastenden Dokumente zu rügen146. Das Argument des EuGH überzeugt nicht. Obwohl es insbesondere nach dem Inkrafttreten der VO 1/2003 einen intensiveren Schutz des Anhörungsrechts im Rahmen des Verwaltungsverfahrens vor der Kommission gibt147, kann die Wahrung
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Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 33. EuGH, Urteil v. 29.6.2006, Rs. C-301/04 P, SGL Carbon/Kommission, Slg. 2006, I-5943, Rdnr. 49. 147 Siehe insbesondere den Beschluss des Präsidenten der Kommission v. 13.10.2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren, ABl. EU v. 20.10.2011, L 275/29. 146
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des Anhörungsrechts nicht die Einschränkung des Auskunftsverweigerungsrechts rechtfertigen. Beim Anhörungsrecht und beim Recht, sich nicht selbst durch eine Aussage belasten zu müssen handelt es sich um zwei unterschiedliche Verfahrensgrundrechte mit unterschiedlichen Schutzbereichen148. Das Anhörungsrecht dient der Verwirklichung des Grundsatzes „audiatur et altera pars“ und garantiert, dass der Betroffene eines Kartellbußgeldverfahrens seinen Standpunkt zu den Vorwürfen der Kommission und zu den von der Kommission gesammelten belastenden Beweisstücken und Informationen äußern kann. Das Aussageverweigerungsrecht schützt dagegen davor, dass die Kommission ein Unternehmen im Rahmen des Vorprüf- oder des Hauptprüfverfahrens dazu zwingt, durch Offenlegung von belastenden Dokumenten und Informationen den Nachweis einer Zuwiderhandlung zu liefern, für den gemäß Art. 2 VO 1/2003 die Kommission die Beweislast trägt. Da also beide Verfahrensgrundrechte vor Eingriffen in unterschiedlichen, grundrechtlich geschützten Rechtspositionen des Betroffenen schützen, sind beide parallel und in vollem Umfang anzuwenden149. Die Gewährung eines Anhörungsrechts kann keine Einschränkung des Auskunftsverweigerungsrechts rechtfertigen, denn die Akzeptanz eines solchen Argumentes würde zu einer Aushöhlung der (Verfahrens-) Grundrechte führen, da alle Verfahrensfehler sich durch die Berufung auf die Möglichkeit der nachträglichen Rüge im Rahmen der Ausübung des Anhörungsrechts rechtfertigen ließen. Ein solches Argument wäre weder mit der in Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003 verankerten vollumfängliche Wahrung der Verteidigungsrechte im EU-Kartellverfahren noch mit der in Erwägungsgrund 37 der VO 1/2003 enthaltenen Postulat der vollen Wahrung der Grundrechte durch die VO 1/2003 vereinbar. 6. Keine Gefährdung der Effizienz der Ermittlungen der Kommission durch eine weite Auslegung des Nemo-tenetur-Grundsatzes In seinem Urteil in der Rechtssache SGL Carbon hat der EuGH die Anerkennung eines Geständnisverweigerungsrechts auch dadurch gerechtfertigt, dass die Anerkennung eines absoluten Auskunftsverweigerungsrechts zu einer ungerechtfertigten Behinderung der Kommission bei der Erfüllung ihrer Aufgabe, die Wettbewerbsregeln im Gemeinsamen Markt zu überwachen, führen würde150. Nach hier vertretener Ansicht vermag dieses Argument nicht eine Einschränkung des Nemo-tenetur-Grundsatzes zu rechtfertigen. Der Kommission stehen zwei beson-
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Soyez, EWS 2006, 393. Vgl. auch Soyez, EWS 2006, 393. 150 EuGH, Urteil v. 29.6.2006, Rs. C-301/04 P, SGL Carbon/Kommission, Slg. 2006, I-5943, Rdnr. 41. 149
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ders wirksame Instrumente zur Aufdeckung und Ermittlung von Wettbewerbs verstößen, sowie zur Sicherung von Beweismaterial: (i) die unangekündigten Nachprüfungen in Unternehmensräumlichkeiten gemäß Art. 20 VO 1/2003, sowie in anderen Räumlichkeiten, z. B. Wohnungen von Unternehmensleitern und Mitgliedern der Aufsichts- und Leitungsorgane, gemäß Art. 21 VO 1/2003, und (ii) die Kronzeugenregelung. a) Die unangekündigten Nachprüfungen in Unternehmens- und anderen Räumlichkeiten Die unangekündigten Nachprüfungen in Unternehmensräumlichkeiten durch Kommissionsbedienstete, die nach dem Erlass einer verbindlichen Nachprüfungsentscheidung gemäß Art. 20 Abs. 4 VO 1/2003 stattfinden (die sogenannten „dawn raids“), stellen ein besonders wirksames Instrument zur Ermittlung von Kartellverstößen. Gemäß Art. 20 Abs. 2 VO 1/2003 dürfen Kommissionsbedienstete alle Räumlichkeiten, Grundstücke und Transportmittel des unter konkretem Verdacht eines Kartellverstoßes stehenden Unternehmens betreten und dabei alle Bücher und sonstigen Geschäftsunterlagen des Unternehmens (egal in welcher Form) prüfen. Ferner dürfen die Kommissionsbeamten Kopien oder Auszüge aus diesen Büchern und Unterlagen anfertigen oder erlangen. Bei umfangreichen Durchsuchungen haben Kommissionsbediensteten die Möglichkeit, betriebliche Räumlichkeiten und Bücher oder Unterlagen jeder Art für die für die Nachprüfung erforderliche Dauer und in dem notwendigen Ausmaß zu versiegeln (Art. 20 Abs. 2 VO 1/2003). Es wird ersichtlich, dass die Kommission über besonders weit reichende Nachprüfungsbefugnisse in Fällen von „Vor-Ort“-Ermittlungen verfügt. Ferner werden diese Befugnisse von den Unionsgerichten weit ausgelegt151. Die Nachprüfungsbefugnisse der Kommission werden nicht durch den Nemo-tenetur-Grundsatz eingeschränkt (es sei denn, die Kommission macht Gebrauch von der in Art. 20 Abs. 2 Buchst. e VO 1/2003 niedergelegten Befugnis, Erläuterungen zu Tatsachen oder Unterlagen zu verlangen), da letzterer nur besagt, dass ein Beschuldigter in einem strafrechtlichen oder strafrechtsähnlichen Verfahren nicht gezwungen werden darf, aktiv die Sachaufklärung zu fördern152. Im Fall von Durchsuchungen in Unternehmensräumlichkeiten ist die Kommission die handelnde Partei und das Unternehmen hat eine eher passive Rolle. Aus alledem folgt, dass die Kommission nicht auf die zur Antwort verpflichtenden Auskunftsverlangen nach Art. 18 Abs. 3 VO 1/2003 angewiesen ist, um Material für die Substantiierung und den Nachweis eines Kartellverstoßes zu erlangen.
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So Weinhäupl, wbl 2006, 297 (303). Vgl. über den Inhalt des Grundsatzes „nemo tenetur“ Schild/Terhechte, in: Terhechte (Hrsg.), Rdnr. 8.32. 152
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b) Die Kronzeugenmitteilung Die Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen153 („Kronzeugenmitteilung“) ist auf geheime Absprachen oder abgestimmte Verhaltensweisen zwischen zwei oder mehreren Wettbewerbern über die Festsetzung von An- oder Verkaufspreisen, die Aufteilung von Produktions- oder Absatzquoten, die Aufteilung von Märkten einschließlich Angebotsabsprachen, Ein- und Ausfuhrbeschränkungen und/oder gegen andere Wettbewerber gerichtete wettbewerbsschädigende Maßnahmen (also auf Hardcore-Kartelle) anwendbar154. Die Kommission gewährt dem ersten Unternehmen, das ihr Beweismittel vorlegt, die es ihr nach ihrer Auffassung ermöglichen, gezielte Nachprüfungen im Zusammenhang mit einem mutmaßlichen Kartell durchzuführen oder einen schweren Verstoß gegen Art. 101 AEUV festzustellen, Bußgelderlass155. Wenn ein Unternehmen, das sich an die Kommission wendet, um mit ihr im Rahmen der Ermittlungen im Zusammenhang mit einem mutmaßlichen Kartell zusammenzuarbeiten, nicht die Voraussetzungen für einen Bußgelderlass erfüllt, kann ihm nach eine Ermäßigung der Geldbuße von der Kommission gewährt werden, wenn es Informationen und Beweisstücke der Kommission liefert, die einen Mehrwert im Vergleich zu den der Kommission bereits verfügbaren Informationen über die Kartellabsprache darstellen156. Die Wirksamkeit der Kronzeugenregelung als Instrument zur Aufdeckung von Kartellen wird nicht nur von der Literatur weitgehend anerkannt157, sondern auch empirisch durch ökonometrische Schätzungen auf Grundlage von OECD-Daten für eine große Anzahl von Ländern bestätigt158. Als Maßstab für den Erfolg eines Kronzeugenprogramms sollte nicht die bloße Anzahl der Kronzeugenanträge verwendet werden, da sie auch als Zeichen übermäßiger Großzügigkeit der Kartellbehörde und somit als die Abschreckung mindernder Faktor gedeutet werden könnte159. Für den Erfolg des Kronzeugenprogramms sollte vielmehr geprüft werden, ob die Kartellbehörde ohne einen Zuwachs ihrer Ressourcen öfter schwerwiegende Wettbewerbsverstöße durch höhere Geldbußen ahndet160. In Bezug auf die Kronzeugenregelung der Kommission kann der Erfolg an der größeren Anzahl von Kartellverstößen gemessen werden, die im Zeitraum nach Inkrafttreten des Kronzeugenprogramms im Vergleich zum Zeitraum davor geahndet wurden161. 153
ABl. EU v. 8.12.2006, C 298/17. Kronzeugenmitteilung, Rdnr. 1. 155 Kronzeugenmitteilung, Rdnr. 8. 156 Kronzeugenmitteilung, Rdnr. 23 ff. 157 Siehe statt aller Beumer/Karpetas, ECJ 2012, 123 (123). 158 G. Klein, abrufbar unter ftp://ftp.zew.de/pub/zew-docs/dp/dp10107.pdf. 159 W. Wils, World Compet. 2007, 25 (51). 160 W. Wils, World Compet. 2007, 25 (41). 161 In diesem Zusammenhang sollte auch das Settlement-Verfahren erwähnt werden, das mit der VO 622/2008 hinsichtlich der Durchführung von Vergleichsverfahren in Kartellfällen (ABl. EU v. 1.7.2008, L 171/3) und mit der Mitteilung der Kommission über die Durchführung von 154
A. Allgemein zum Nemo-tenetur-Grundsatz
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Es wäre nicht verkehrt zu behaupten, dass die Kronzeugenregelung sich seit 1996 zum wichtigsten Instrument der öffentlichen Durchsetzung des Wettbewerbsrechts auf EU-Ebene entwickelt hat. Schließlich fördert die Kronzeugenregelung mittelbar auch die Effizienz der Nachprüfungsbefugnisse der Kommission, da sie für an wettbewerbswidrigen Absprachen beteiligte Unternehmen einen Anreiz schafft, Beweismaterial aufzubewahren162. Das Kronzeugenprogramm stellt neben den Nachprüfungen in Unternehmensräumlichkeiten und dem Zwang von Unternehmen durch Androhung von Zwangsgeldern zur Beantwortung von Auskunftsersuchen die dritte Option der Kommission, um von Unternehmen Informationen über Wettbewerbsverstöße und Beweismaterial für solche Verstöße zu erlangen. Im Vergleich zu den ersten beiden Optionen weist das Kronzeugenprogram klare Vorteile auf. Im Gegensatz zu den Nachprüfungen kann das Kronzeugenprogramm so eingesetzt werden, um jegliche Auskunft über einen Kartellverstoß, und nicht bloß bereits existierende Unterlagen und vorhandene Beweisstücke zu erlangen163. Die Anerkennung eines vollumfänglichen Auskunftsverweigerungsrechts im Fall von zur Antwort verpflichtenden Auskunftsersuchen der Kommission würde weder die Möglichkeit der Kommission beschränken, schwerwiegende Wettbewerbsverstöße aufzudecken, noch den Anreiz der Kronzeugenregelung für Unternehmen und ihre Wirksamkeit bei der Aufdeckung von wettbewerbswidrigen Vereinbarungen mindern. Es ist zwar richtig, dass die Kronzeugenregelung keinen Ersatz zu den Nachprüfungen und den Auskunftsverlangen, sondern eher eine Ergänzung dieser Ermittlungsmöglichkeiten darstellt164. Für den Erfolg einer Kronzeugenregelung ist es besonders wichtig, dass den Unternehmen bewusst ist, dass die Kommission auch ohne ihre Zusammenarbeit, durch Nachprüfungen in Unternehmensräumlichkeiten und in anderen Orten, Beweismaterial für die Substan tiierung des Verdachts eines Wettbewerbsverstoßes erlangen kann165. Die Förderwirkung von den Nachprüfungen in Unternehmensräumlichkeiten und der Kronzeugenregelung funktioniert aber beidseitig. Nicht nur die bloße Existenz des Ermittlungsinstruments der Nachprüfungen erhöht das Risiko der Aufdeckung eines Kartells und somit den Anreiz der an einem Kartell beteiligten Unternehmen, mit der Kommission zu kooperieren, aber auch die KronzeugenVergleichsverfahren bei dem Erlass von Entscheidungen nach Artikel 7 und Artikel 23 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates in Kartellfällen (ABl. EU v. 2.7.2008, C 167/1) im Jahr 2008 eingeführt wurde, um die Kartellverfahren zu beschleunigen und der Kommission zu erlauben, ihre beschränkten Ressourcen so einzusetzen, dass mehr Wettbewerbsverstöße geahndet werden können. Das Settlement-Verfahren ist somit ein indirekter Nachweis des Erfolgs des Kronzeugenprogramms der Kommission, das zur Aufdeckung von einer Vielzahl von Kartellverstößen geführt hat. 162 So W. Wils, World Compet. 2007, 25 (41). 163 W. Wils, World Compet. 2007, 25 (40 f.). 164 W. Wils, World Compet. 2007, 25 (41). 165 Ebd.
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regelung erhöht die Wirksamkeit von Nachprüfungen. Dazu trägt insbesondere die Tatsache bei, dass Unternehmen von vornherein bereit wären, mehr Beweismaterial (das bei einer Nachprüfung eventuell erlangt werden kann) zu bewahren, um es später im Rahmen eines Kronzeugenantrags zu verwenden166. Diese Wechselwirkung zwischen der Kronzeugenregelung und den Nachprüfungen funktioniert, solange beide Instrumente der Kommission zur Verfügung stehen, und fördert die effektive öffentliche Durchsetzung des Kartellrechts. Nach hier vertretener Auffassung ist diese Wechselwirkung primär zwischen der Kronzeugenregelung und dem Ermittlungsinstrument der Nachprüfungen zu betrachten. In Fällen von Hardcore-Kartellen fängt die Ermittlungstätigkeit der Kommission in der Regel mit Nachprüfungen an, um den Vorteil einer unangemeldeten Durchsuchung zu nutzen und Beweismaterial zu sichern. Die Auskunftsersuchen werden an die Unternehmen meistens erst dann geschickt, nachdem die Nachprüfungen stattgefunden haben und nachdem sich die Kommission ein erstes Bild über die ermittelten Zuwiderhandlungen verschaffen hat. Insofern weisen Auskunftsersuchen eine Ergänzungsfunktion im Verhältnis zu den Nachprüfungen auf. Daraus könnte man schließen, dass die Anerkennung eines vollumfänglichen Auskunftsverweigerungsrechts für Unternehmen und ihre Vertreter im Fall von Auskunftsersuchen der Kommission die fördernde Wechselwirkung zwischen Nachprüfungen und Kronzeugenmitteilung nicht beeinflussen und die effektive Durchsetzung des Kartellrechts auf EU-Ebene nicht beeinträchtigen würde. In diesem Zusammenhang sollte noch berücksichtigt werden, dass die Kronzeugenregelung im Allgemeinen ihre Wirkung erzeugt, wenn eine Kartellbehörde glaubwürdig ihr Potenzial vorweist, wettbewerbliche Zuwiderhandlungen aufzudecken und zu ahnden. Dieses Potenzial kann auch durch die Kronzeugenregelung selbst erhöht werden. Die Kronzeugenregelung erhöht nämlich das Risiko, dass eins von den an der wettbewerbsrechtswidrigen Vereinbarung beteiligten Unternehmen die Absprache bei der Kommission auffliegen lassen könnte, um von der Bußgeldimmunität zu profitieren167. Darüber hinaus führt die Kronzeugenmitteilung, verglichen zu den Nachprüfungen und den Auskunftsersuchen, grundsätzlich zu mehr und qualitativ hochwertigerem Beweismaterial für die Kommission168. Während die Zusammenarbeit eines Unternehmens mit der Kommission im Rahmen der Kronzeugenregelung den Anreiz schafft, der Kommission quantitativ und qualitativ das Maximum an Beweismaterial vorzulegen, um die Bußgeldimmunität zu sichern. Auf der anderen Seite könnte die Verpflichtung zur Beantwortung eines Auskunftsersuchens und zur Offenbarung von selbstbelastendem Beweismaterial, auch trotz der Androhung von Zwangsgeldern, dazu führen, dass der Adressat des Auskunftsersuchens einen
166
W. Wils, World Compet. 2007, 25 (41). W. Wils, World Compet. 2007, 25 (47). 168 Vgl. W. Wils, World Compet. 2007, 25 (42). 167
A. Allgemein zum Nemo-tenetur-Grundsatz
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Teil der ihm verfügbaren Informationen doch für sich behält, um den Nachweis der Zuwiderhandlung durch die Kommission zu erschweren und das Risiko einer erheblichen Geldbuße am Ende des Kartellverfahrens zu verringern. 7. Zumutbarkeitsgrundsatz Die Notwendigkeit der Geltung eines vollumfänglichen Auskunftsverweigerungsrechts im EU-Kartellverfahren und nicht bloß eines Geständnisverweigerungsrechts ergibt sich auch aus dem Grundsatz der Zumutbarkeit. Es kann den Unternehmen, die unter Verdacht stehen, einen Kartellverstoß begangen zu haben, nicht zugemutet werden, zur Mitwirkung an einem Verfahren verpflichtet zu werden, das zu einer erheblichen Geldbuße führen kann, die wegen ihrer Höhe sogar die Existenz eines Unternehmens in Gefahr setzen könnte169. 8. Zwischenergebnis: Keine Pflicht zur Vorlage von inkriminierenden Dokumenten im Rahmen eines Auskunftsersuchens der Kommission Demgemäß bedarf es einer Änderung der Rechtsprechung des EuGH170, die im Bereich des Kartellrechts den Betroffenen nur ein Geständnisverweigerungsrecht gewährt, während der EGMR in seiner Rechtsprechung von einem Auskunftsverweigerungsrecht und einem Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, ausgeht. Unternehmen sollten das Recht haben, unter Berufung auf den Nemo-teneturGrundsatz die Vorlage solcher Dokumente zu verweigern, die sie selbst in Bezug auf einen Wettbewerbsverstoß belasten. Eine vollumfängliche Geltung des Nemotenetur-Grundsatzes im Fall von zur Antwort verpflichtenden Auskunftsersuchen der Kommission erhöht den Grundrechtsschutzstandard für Unternehmen im EUKartellverfahrensrecht. Die Erweiterung der Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im Fall von Auskunftsersuchen nach Art. 18 Abs. 3 VO 1/2003 ist sowohl wegen Art. 52 Abs. 3 GRCH als auch wegen der neueren Rechtsprechung des EGMR in Bezug auf das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, geboten. Die Anerkennung eines vollumfänglichen Nemo-tenetur-Grundsatzes beeinträchtigt nicht die Effektivität der Ermittlungstätigkeit der Kommission und der öffentlichen Durchsetzung des EU-Kartellrechts, da der Kommission mit den Nachprüfungsbefugnisse nach Art. 20 VO 1/2003 und dem Kronzeugenprogramm zwei Ermittlungsinstrumente zur Verfügung stehen, die die Aufdeckung von Kartellen und die Erlangung von Beweismaterial erlauben und zugleich fördern.
169
So Alvarez-Ligabue, S. 32 f. So auch Weiss, in Terhechte (Hrsg.), Rdnr. 6.19.
170
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§ 4 Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht § 4Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht
VII. Die Kronzeugenregelung und der Nemo-tenetur-Grundsatz Fraglich ist, ob der Einsatz des Ermittlungsinstruments der Kronzeugenregelung gegen das Verbot des Zwangs zur Selbstbezichtigung verstößt. Die im Jahre 1996 eingeführte Kronzeugenregelung, die nach dem Vorbild der US-amerikanischen „Leniency note“171 aufgebaut wurde, gewährt Unternehmen, die dazu bereit sind, einen von ihnen begangenen schweren Kartellverstoß zu gestehen und der Kommission Informationen über die Funktion des Kartells zu liefern, Bußgeldimmunität oder Minderung der Geldbuße. Der vollständige Erlass der Geldbuße wird dem Unternehmen gewährt, das sich als erstes an die Kommission wendet und mit der Lieferung von Beweismitteln an die Kommission zur Aufdeckung einer geheimen wettbewerbswidrigen Absprache führt. Die Kronzeugenregelung wurde ursprünglich mit Bedenken über ihre Übereinstimmung mit den Rechtstraditionen der Mehrheit der Mitgliedstaaten betrachtet172. Allerdings ist die Kronzeugenregelung eine reine Zweckmäßigkeitsregelung ist, die dem rechtspolitischen Zweck der Generalprävention dient173. In der Literatur wurden aber auch Bedenken über die Vereinbarkeit der Kronzeugenregelung mit dem Verbot des Zwangs der Selbstbezichtigung geäußert174. Insbesondere wurde behauptet, dass wegen des Anreizes eines vollständigen Erlasses bzw. einer Herabsetzung der Geldbuße viele Unternehmen quasi „gezwungen“ werden könnten, mit der Kommission zu kooperieren. Die Möglichkeit des Erlasses oder der Herabsetzung der Geldbuße erhöhe durch mittelbare Druckausübung die Bereitschaft der Unternehmen, auf das vom EuGH anerkannte Geständnisverweigerungsrecht teilweise oder ganz zu verzichten. Schließlich führe die Kronzeugenmitteilung zu einer unfairen Behandlung von denjenigen Unternehmen, die sich dafür entscheiden, die Vorwürfe der Kommission zu bestreiten und die deswegen härteren Sanktionen ausgesetzt seien, da die mit der Kommission kooperierenden Kartellsünder von einer Geldbuße verschont bleiben oder eine geringere Geldbuße zu bezahlen haben175.
171 Siehe die Leniency Note des Department of Justice vom 10.08.1993, abrufbar unter http:// www.justice.gov/atr/public/guidelines/0091.htm. 172 Siehe diesbezüglich die Stellungnahme des Europäischen Parlaments zur Kronzeugenregelung vom Jahre 1996, ABl. EG 1997 Nr. C 358, S. 55. 173 So ausdrücklich de Bronett, Art. 23, Rdnr. 105. 174 Schwarze/Bechtold/Bosch, abrufbar unter http://ec.europa.eu/competition/consultations/ 2008_regulation_1_2003/gleiss_lutz_de.pdf, S. 52; Soltesz, EWS 2000, 240 (241). 175 Soltesz, EWS 2000, 240 (241).
A. Allgemein zum Nemo-tenetur-Grundsatz
147
1. Rechtsprechung der Unionsgerichte Der EuGH und das EuG hatten Gelegenheit, sich mit der Frage der Vereinbarkeit der Kronzeugenmitteilung der Kommission mit dem Nemo-teneturGrundsatz zu befassen. Die Rechtswidrigkeit der Kronzeugenmitteilung wegen Verstoßes gegen, unter anderem, den Nemo-tenetur-Grundsatz wurde von den Klägerinnen in der Rs. „Schindler“ vorgetragen176. Die Klägerinnen, allesamt dem Schindler-Konzern angehörende Gesellschaften, machten geltend, dass die Kronzeugenmitteilung der Kommission gegen den Nemo-tenetur-Grundsatz verstoße, weil sie praktisch die Unternehmen dazu zwinge, mit der Kommission zu kooperieren und Wettbewerbsverstöße zu gestehen. Den Klägerinnen zufolge bestehe der Verstoß insbesondere darin, dass im Fall eines aufgeflogenen Kartellverstoßes meist mehrere am Verstoß beteiligte Unternehmen um den vollständigen Erlass der Geldbuße wetteifern und sich dabei gegenüber der Kommission geständig zeigen. Dabei wissen die Unternehmen nicht, ob ihre Zusammenarbeit mit dem vollständigen Erlass der Geldbuße honoriert wird177. Das EuG wiederholte die ständige Rechtsprechung der Unionsgerichte, dass Unternehmen von der Kommission nicht gezwungen werden dürfen, ihre Beteiligung an einer Zuwiderhandlung zuzugeben178. Das EuG betonte ausdrücklich, dass die Orkem-Rechtsprechung nicht als überholt betrachtet werden darf, da der EuGH sie nach Kenntnisnahme der Entwicklungen in der EGMR-Rechtsprechung bestätigt hatte179. Ferner betonte das EuG, dass das Recht eines Unternehmens, nicht gezwungen zu werden, eine Zuwiderhandlung zu gestehen, die Kommission nicht daran hindert, die freiwillige Zusammenarbeit eines Unternehmens zum Nachweis der Zuwiderhandlung bei der Bußgeldbemessung mildernd zu berücksichtigen180. Das EuG stellte auch klar, dass die Zusammenarbeit der Unternehmen mit der Kommission im Rahmen der Kronzeugenmitteilung völlig freiwillig erfolgt. Die Unternehmen sind keineswegs gezwungen, der Kommission Beweismaterial vorzulegen. Die Zusammenarbeit mit der Kommission ist das Ergebnis einer freien Entscheidung des Unternehmens, die nicht von der Kronzeugenmitteilung der Kommission vorgeschrieben wird181. Das EuG stellte ferner fest, dass die Kron 176
EuG, Urteil v. 13.7.2011, Rs. T-138/07, Schindler/Kommission, Slg. 2011, II-4819. EuG, Urteil v. 13.7.2011, Rs. T-138/07, Schindler/Kommission, Slg. 2011, II-4819, Rdnr. 148. 178 EuG, Urteil v. 13.7.2011, Rs. T-138/07, Schindler/Kommission, Slg. 2011, II-4819, Rdnr. 149. 179 EuG, Urteil v. 13.7.2011, Rs. T-138/07, Schindler/Kommission, Slg. 2011, II-4819, Rdnr. 151. 180 EuG, Urteil v. 13.7.2011, Rs. T-138/07, Schindler/Kommission, Slg. 2011, II-4819, Rdnr. 150. 181 EuG, Urteil v. 13.7.2011, Rs. T-138/07, Schindler/Kommission, Slg. 2011, II-4819, Rdnr. 153. Vgl. auch EuGH, Urteil v. 14.7.2005, Rs. C-65/02 P und C-73/02 P, ThyssenKrupp Stainless GmbH und ThyssenKrupp Acciai speciali Terni SpA/Kommisison, Slg. 2005, I-6773, Rdnr. 52. 177
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zeugenregelung weder von den sie in Anspruch nehmenden Unternehmen verlangt, den falschen Sachverhaltsvortrag anderer Unternehmen nicht zu bestreiten, noch das ein solches Bestreiten als mangelnde Kooperationsbereitschaft gedeutet werden könnte, die den Erfolg des Kronzeugenantrags eines Unternehmens be einträchtigen könnte182. Die Ausführungen des EuG in der Rs. Schindler stellten keine Neuigkeit dar, sondern wiederholten die ständige Rechtsprechung des EuGH. Der EuGH hat in seinem Urteil in der Rs. ThyssenKrupp im Jahr 2005 die Vereinbarkeit der Kronzeugenmitteilung der Kommission mit dem Nemo-tenetur-Grundsatz geprüft und schließlich bejaht183. Nach Auffassung des EuGH beruht das im Zuge der Zusammenarbeit mit der Kommission im Rahmen des Kronzeugenprogramms abgelegte Geständnis eines Unternehmens auf einer rein freiwilligen Entscheidung des betroffenen Unternehmens. Das Unternehmen ist keineswegs gezwungen, die von der Kommission zur Last gelegten Zuwiderhandlung einzuräumen184. Daraus ergibt sich nach Ansicht des EuGH, dass die Kommission keine Verteidigungsrechte der Unternehmen verletzt, wenn sie für eine Bußgeldreduktion „den Umfang der Zusammenarbeit des betreffenden Unternehmens mit ihr und auch das Ein geständnis der Zuwiderhandlung“ berücksichtigt185. 2. Vereinbarkeit der Kronzeugenmitteilung mit dem Nemo-tenetur-Grundsatz Der EuGH- und EuG-Rechtsprechung ist im Ergebnis zuzustimmen. Die Entscheidung eines Unternehmens, mit der Kommission im Rahmen der Kron zeugenmitteilung zum Zweck der Aufdeckung und des Nachweises eines Kartellverstoßes zusammenzuarbeiten, findet freiwillig und nach Abwägung der mit dieser Entscheidung verbundenen Risiken (hohe Geldbuße im Fall, dass die Kommission den Verstoß im Rahmen normaler Ermittlungen aufdeckt, private Schadensersatzklagen gegen das Unternehmen im Anschluss des Kommissionsverfahrens bei Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung) statt. Entscheidet sich ein Unternehmen für die Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung, verzichtet es teilweise und für die Dauer seiner Kooperation mit der Kommission auf sein Geständnisverweigerungsrecht (nach der bislang geltenden EuGH-Rechtsprechung) oder, nach hier vertretener Auffassung, auf sein Recht, sich nicht selbst belasten zu 182
EuG, Urteil v. 13.7.2011, Rs. T-138/07, Schindler/Kommission, Slg. 2011, II-4819, Rdnr. 155–156. 183 EuGH, Urteil v. 14.7.2005, verb. Rs. C-65/02 P und C-73/02 P, ThyssenKrupp Stainless GmbH und ThyssenKrupp Acciai speciali Terni SpA/Kommisison, Slg. 2005, I-6773, Rdnr. 50 ff. 184 EuGH, Urteil v. 14.7.2005, verb. Rs. C-65/02 P und C-73/02 P, ThyssenKrupp Stainless GmbH und ThyssenKrupp Acciai speciali Terni SpA/Kommisison, Slg. 2005, I-6773, Rdnr. 52. 185 EuGH, Urteil v. 14.7.2005, verb. Rs. C-65/02 P und C-73/02 P, ThyssenKrupp Stainless GmbH und ThyssenKrupp Acciai speciali Terni SpA/Kommisison, Slg. 2005, I-6773, Rdnr. 53.
A. Allgemein zum Nemo-tenetur-Grundsatz
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müssen. Das folgt daraus, dass, wenn der Grundrechtsträger in dem Grundrechtseingriff einwilligt, kein Grundrechtseingriff vorliegt186. Der EGMR hat entschieden, dass das Recht auf ein faires Verfahren grundsätzlich verzichtbar ist187. Die Verzichtserklärung muss aber eindeutig sein und nicht in Widerspruch zu öffentlichen Interessen stehen188. Das Argument, dass die Kronzeugenregelung einen unverhältnismäßig hohen Druck auf Unternehmen ausübt, auf das Auskunftsverweigerungsrecht und den Nemo-tenetur-Grundsatz zu verzichten, überzeugt nicht. Dies wäre zu bejahen, wenn die Kronzeugenmitteilung das Schweigen oder die Nicht-Kooperation eines Unternehmens im Rahmen des Kartellverfahrens als strafschärfenden Faktor berücksichtigen sollte189. Dies ist aber nicht der Fall. Die bei festgestelltem Verstoß gegen das Kartellverbot zu verhängende Geldbuße berechnet sich auf Grundlage von Art. 23 VO 1/2003 und den Leitlinien zur Festsetzung von Geldbußen190. Diese Gesetzestexte stufen nicht die Nicht-Kooperation eines Unternehmens im Rahmen der Kronzeugenmitteilung als erschwerenden Umstand ein, der zur Erhöhung des Bußgeldbetrags führen könnte. Die Kronzeugenregelung schafft lediglich einen finanziellen Anreiz für die Unternehmen, damit sie mit der Kommission zum Zweck der Aufdeckung und dem Nachweis von Kartellverstößen kooperieren. Das soll wiederum die Effektivität der öffentlichen Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts dienen. Einen unmittelbaren oder mittelbaren Druck auf die Unternehmen von der Seite der Kommission zur Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung gibt es nicht. Es liegt im Ermessen der Unternehmen, ob sie das Angebot der Kommission annehmen oder ob sie die Vorwürfe der Kommission bestreiten. Die zweite Variante, die Nicht-Zusammenarbeit, hat aber keine Auswirkung auf die Bemessung der Geldbuße, wenn es am Ende des Kommissionsverfahrens zur Verhängung einer Geldbuße kommen sollte. 3. Ergebnis Aus alledem folgt, dass die Kronzeugenregelung weder unmittelbar noch mittelbar Unternehmen dazu zwingt, auf den Schutz durch das Nemo-tenetur zu verzichten191. Die Entscheidung eines Unternehmens, die Kronzeugenregelung in Anspruch zu nehmen, erfolgt ganz freiwillig unter Zugrundelegung der Vor- und Nachteile einer solchen Entscheidung. 186
H. Jarass, § 6, Rdnr. 23. H. Jarass, § 6, Rdnr. 2; EGMR, Urteil v. 21.2.1990, Beschwerdenr. 11855/85, Håkansson and Sturesson./.Schweden, Ziff. 67. 188 Grabenwarter/Pabel, § 18, Rdnr. 33. 189 Vgl. Hetzel, S. 224. 190 Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. EU v. 1.9.2006, C 210/2. 191 So auch Säcker, WuW 2009, 362 (363); Schneider, S. 227; Hetzel, S. 225. 187
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§ 4 Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht § 4Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht
Somit kann einer in der Literatur vertretenen Ansicht, dass die Kronzeugenregelung der Kommission den Nemo-tenetur-Grundsatz verletze192, nicht beigepflichtet werden. Es wird insbesondere mit den in den letzten Jahren erhöhten Geldbußen argumentiert, die Unternehmen faktisch dazu zwingen würden, die Kronzeugenregelung in Anspruch zu nehmen. Darüber hinaus übe das Wettrennen um den ersten Platz im Rang der Kronzeugenanträge, der zum Erlass der Geldbuße führt, Zwang auf die Unternehmen aus, da mehrere davon ein vollständiges Geständnis der Zuwiderhandlung ablegen, in der Hoffnung eines Geldbußerlasses. Diese Ansicht verkennt aber, dass bei Vorliegen der in der Kronzeugenmit teilung festgelegten Voraussetzungen die Zusammenarbeit sämtlicher mit der Kommission kooperierenden Unternehmen durch eine Bußgeldreduktion belohnt wird. Die Tatsache, dass nur das erste Unternehmen, das sich an die Kommission wendet und ihr Informationen offenlegt, die zur Aufdeckung und zum Nachweis eines Kartells führen, Bußgeldimmunität bekommt, ändert nichts daran. Den Unternehmen, die sich für eine Zusammenarbeit entscheiden, ist doch bewusst, dass die Bußgeldimmunität und/oder die Bußgeldreduktion bis zum Abschluss des Verfahrens nicht garantiert sind, da sie von der vollumfänglichen, kontinuierlichen und zügigen Zusammenarbeit mit der Kommission abhängig ist193. Ferner sieht die Kronzeugenmitteilung die Möglichkeit vor, dass ein Unter nehmen, dem von der Kommission mitgeteilt wurde, dass es die Voraussetzungen für einen Bußgelderlass nicht erfüllt, die zur Begründung des Kronzeugenantrags offengelegten Beweismittel zurückziehen oder die Kommission darum bitten kann, dass sie die Beweismittel als eine die Geldbußreduktion rechtfertigende Zusammenarbeit betrachtet194. Daraus folgt, dass es ein Unternehmen, das sich für einen Verzicht auf den Schutz durch den Nemo-tenetur-Grundsatz entscheidet, um von der Kronzeugenregelung zu profitieren, doch nicht mit vollendeten Tatsachen zu tun hat, wenn ihm mitgeteilt wird, dass es die Voraussetzungen für einen Bußgelderlass nicht erfüllt. Dem Unternehmen steht es in einem solchen Fall frei, die offengelegten Beweismittel zurückzuziehen und die Anschuldigungen der Kommission zu bestreiten.
192 Siehe Schwarze/Bechtold/Bosch, abrufbar unter http://ec.europa.eu/competition/consulta tions/2008_regulation_1_2003/gleiss_lutz_de.pdf, S. 52. 193 Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. EU v. 8.12.2006, C 298/17, Rdnr. 12. 194 Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. EU v. 8.12.2006, C 298/17, Rdnr. 20.
A. Allgemein zum Nemo-tenetur-Grundsatz
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VIII. Das Settlement-Verfahren und der Nemo-tenetur-Grundsatz Das im Juli 2008 eingeführte Verfahren über den Vergleich („Settlement“), das nur auf schwerwiegende, horizontale Wettbewerbsverstöße anwendbar ist195, soll der Kommission ermöglichen, Kartellfälle schneller und effizienter zu bearbeiten196. 1. Zielsetzung und Aufbau des Settlement-Verfahrens Wesentliche Merkmale des Settlement-Verfahrens sind die Bußgeldreduktion in Höhe von 10 %, die den Unternehmen für den Abschluss eines Vergleichs mit der Kommission gewährt wird, und die Begrenzung des in den Geldbußleitlinien vorgesehenen197 Abschreckungsaufschlags auf einen Faktor von höchstens zwei198. Wenn ein Unternehmen mit der Kommission sowohl im Rahmen der Kronzeugenmitteilung als auch im Rahmen der Settlement-Mitteilung zusammenarbeitet, werden die Bußgeldermäßigung für den Vergleich und die Bußgeldermäßigung für die Kronzeugenbehandlung aggregiert199. Die „Gegenleistung“, die die am Settlement-Verfahren beteiligten Unternehmen für die Bußgeldreduktion erbringen müssen, besteht grundsätzlich in einer Erklärung, die Vergleichsausführungen, die die Unternehmen unterzeichnen und der Kommission abgeben müssen. Der Inhalt dieser Erklärung wird in der Settlement-Mitteilung näher konkretisiert200. Das vergleichende Unternehmen muss (i) die Zuwiderhandlung eingestehen, (ii) den Höchstbetrag der Geldbuße, den das Unternehmen zu zahlen bereit wäre, angeben, (iii) bestätigen, dass es über die Beschwerdepunkte der Kommission informiert wurde und dass es ausreichend Gelegenheit hatte, sich zu den Beschwerdepunkten zu äußern, (iv) auf eine erneute Akteneinsicht oder erneute Anhörung verzichten und (v) zustimmen, dass die Mitteilung der Beschwerdepunkte und die endgültige Entscheidung in einer bestimmten vereinbarten Amtssprache der EU dem Unternehmen zugestellt wird.
195 Siehe die VO 622/2008 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 hinsichtlich der Durchführung von Vergleichsverfahren in Kartellfällen, (die „Settlements-VO“), ABl. EU v. 1.7.2008, L 171/3 und die Mitteilung der Kommission über die Durchführung von Vergleichsverfahren bei dem Erlass von Entscheidungen nach Artikel 7 und Artikel 23 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates in Kartellfällen (die „Settlements-Mitteilung“), ABl. EU v. 2.7.2008, C 167/1. Siehe auch Wils, World Compet. 2008, 335 (339). 196 VO 622/2008 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 hinsichtlich der Durchführung von Vergleichsverfahren in Kartellfällen, (die „Settlements-VO“), ABl. EU v. 1.7.2008, L 171/3, Erwägungsgrund 4. 197 Bußgeldleitlinien der Kommission, Rdnr. 30. 198 Settlements-Mitteilung, Rdnr. 32. 199 Settlements-Mitteilung, Rdnr. 33. 200 Settlements-Mitteilung, Rdnr. 20.
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§ 4 Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht § 4Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht
Die oben beschriebenen Vergleichsausführungen sind von der Erklärung zu unterscheiden, die die Unternehmen abgeben können, nachdem die Kommission den Verfahrensparteien eine Frist zur Erklärung gesetzt hat, ob sie überhaupt beabsichtigen, sich an Vergleichsgesprächen zu beteiligen. Diese schriftliche Erklärung ist aber nicht als ein Geständnis der Beteiligung an einem Wettbewerbsverstoß oder als Anerkennung der Haftung für einen Wettbewerbsverstoß zu betrachten201. 2. Die Reichweite der Grundrechte im Settlement-Verfahren a) Die Verteidigungsrechte im Settlement-Verfahren Das Vergleichsverfahren beginnt, nachdem die interessierten Parteien seine Einleitung schriftlich beantragt haben, mit Vergleichsgesprächen zwischen der Kommission und den am Vergleich interessierten Parteien202. Im Rahmen dieser Gespräche informiert die Kommission die Verfahrenspartei über den Stand der Ermittlungen, ihre vorläufigen Feststellungen über die Natur, Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung, sowie über die herangezogenen Beweise. Ferner gewährt die Kommission der begehrenden Partei auf Antrag Einsicht in die nicht-vertrauliche Fassung der Akte, um dieser Partei die Möglichkeit zu geben, über Aspekte des Kartells wie Dauer, beteiligte Unternehmen usw. zu ermitteln203. Ziel dieser Gespräche ist es, dass die Kommission und die Verfahrensparteien zu einer Einigung über den Umfang der potentiellen Beschwerdepunkte und die Veranlagung der möglicherweise festzusetzenden Geldbuße gelangen204. Nach hier vertretener Auffassung sollte das so verstanden werden, dass die Kommission einen „Kernvorwurf“ den am Vergleich interessierten Parteien vorstellt, der nicht zur Verhandlungsdisposition der Parteien steht. Lediglich über Details der sich im Entwurfsstadium befindenden Beschwerdepunkte lässt sich in der Phase der Vergleichsgespräche verhandeln205. Trotz dieser Einschränkungen müssen die Verteidigungsrechte der Parteien während des Vergleichsverfahrens gewahrt werden. Der Anhörungsbeauftragte, an den sich die Parteien jederzeit wenden können, hat für die Wahrung der Verteidigungsrechte zu sorgen206. Obwohl Unternehmen, die an einem Vergleichsverfahren teilnehmen, ein Vergleichsersuchen nicht einseitig widerrufen dürfen207, werden die Verteidigungsrechte der Unternehmen dadurch gewahrt, dass vor dem Erlass der endgültigen Entscheidung im Vergleichsverfahren den Parteien die Möglichkeit gegeben werden muss, sich zu den erhobenen Beschwerdepunkten und zu den herangezoge 201
Settlements-Mitteilung, Rdnr. 11. Settlements-Mitteilung, Rdnr. 14 ff. 203 Settlements-Mitteilung, Rdnr. 16. 204 Settlements-Mitteilung, Rdnr. 17. 205 Vgl. Hirsbrunner, EuZW 2011, 12 (14). 206 Settlements-Mitteilung, Rdnr. 18. 207 Settlements-Mitteilung, Rdnr. 22. 202
A. Allgemein zum Nemo-tenetur-Grundsatz
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nen Beweismitteln zu äußern. Diese Möglichkeit sollte sich nicht auf eine äußere Form beschränken, sondern sollte substantiell sein und dazu führen können, dass die Kommission, wenn erforderlich, ihre ursprüngliche Argumentation und Sachverhaltsbeurteilung unter Einbeziehung der Argumente der Parteien ändert208. Ferner bedeutet die Teilnahme eines Unternehmens an einem Settlement- Verfahren, das zum Erlass einer endgültigen Entscheidung führt, nicht, das dieses Unternehmen daran gehindert ist, diese Entscheidung beim Gericht anzufechten. Wie die Settlement-Mitteilung klarstellt, unterliegen auch im Rahmen des Settlement-Verfahrens erlassene Entscheidungen der richterlichen Überprüfung nach Art. 263 AEUV209. Da aber zu den wesentlichen Merkmalen des Settlement- Verfahrens der Kommission gehört, dass sich die Unternehmen mit der Kommission auf eine bestimmte Fassung von Beschwerdepunkten einigen und dass die Unternehmen die ihnen zumutbare Bußgeldhöhe angeben, ist das Settlement- Verfahren von Einvernehmlichkeit und Einwilligung von der Seite der Unternehmen gekennzeichnet. Berücksichtigt man auch, dass die am Vergleichsverfahren beteiligten Unternehmen eine Erklärung diesbezüglich abgeben müssen, dass ihre Verteidigungsrechte im Rahmen des Vergleichsverfahrens gewahrt wurden, dürfte eine Klage gegen eine nach einem Settlement-Verfahren erlassene endgültige Entscheidung der Kommission geringe Erfolgschancen haben210. Das bedeutet aber nicht, dass, wenn die auf Grundlage des Settlement-Verfahrens erlassene Entscheidung mit einem Verfahrensfehler behaftet ist, der Auswirkungen auf die Wirksamkeit der Entscheidung haben könnte, die betroffenen Unternehmen von einer Klage gegen die fehlerbehaftete Entscheidung absehen sollten. In einem anderen Fall wären die Ausführungen der Settlement-Mitteilung über die Überprüfbarkeit der Settlement-Entscheidungen von den Gerichten der EU ins Leere laufen. Darüber hinaus wäre eine „Unantastbarkeit“ von Bußgeldentscheidungen, die auf Settlement-Verfahren fußen, unvereinbar mit dem Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes, wie er in Art. 47 GRCH und in Art. 6 EMRK verankert ist und wie er vom EuGH in ständiger Rechtsprechung anerkannt wird211. Die richterliche Überprüfbarkeit von auf Grundlage von Vergleichsverfahren erlassenen Bußgeldentscheidungen der Kommission räumt teilweise die grundrechtlichen Bedenken gegen das Settlement-Verfahren aus. Den Unternehmen steht es frei, Verfahrensfehler beim Gericht zu rügen und die Beseitigung einer ihrer Ansicht nach fehlerhaften Entscheidung zu beantragen. Dennoch ist wegen des einvernehmlichen Charakters des Settlement-Verfahrens davon auszugehen, dass die Fälle der Anfechtung einer Settlement-Entscheidung eher Ausnahmen bleiben werden.212 208
Settlements-Mitteilung, Rdnr. 24. Settlements-Mitteilung, Rdnr. 41. 210 So Hirsbrunner, EuZW 2011, 12 (13). 211 Siehe zum Beispiel EuGH, Urteil v. 28.7.2011, Rs. C-69/10, Brahim Samba Diouf/Ministre du Travail, de l’Emploi et de l’Immigration, Slg. 2011 I-7151, Rdnr. 48–49. 212 So Wils, World Compet.2008, 335 (340). 209
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§ 4 Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht § 4Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht
b) Der Nemo-tenetur-Grundsatz im Settlement-Verfahren Insbesondere bezüglich des Nemo-tenetur-Grundsatzes ist anzumerken, dass das Settlement-Verfahren von den Unternehmen verlangt, dass sie die Haftung für die von der Kommission ihnen vorgeworfene Zuwiderhandlung eingestehen213. Problematisch könnten die Vergleichsausführungen sein, die die Unternehmen, die sich für die Durchführung des Vergleichsverfahrens entscheiden, bei der Kommission gemäß der Settlement-Mitteilung214 abgeben müssen. Diese Erklärung muss nämlich ein „eindeutiges Anerkenntnis der Haftbarkeit der Parteien für die zusammenfassend dargelegte Zuwiderhandlung hinsichtlich ihres Ziels, ihrer möglichen Durchführung, des hauptsächlichen Sachverhalts, dessen juristischen Bewertung, der Rolle der Partei und der Dauer ihrer Teilnahme an der Zuwiderhandlung gemäß den Ergebnissen der Vergleichsgespräche“ enthalten. Eine Parallelität zur Nemo-tenetur-Problematik im Rahmen der Kronzeugenmitteilung wird ersichtlich: Man könnte behaupten, dass die Unternehmen mit dem Anreiz einer Bußgeldreduzierung (im Fall des Settlement-Verfahrens in Höhe von 10 %) zu einem Geständnis von wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlungen gezwungen werden. Man sollte aber beachten, dass anders als im Rahmen der Zusammenarbeit auf Grundlage der Kronzeugenmitteilung die Unternehmen im Vergleichsverfahren nicht dazu verpflichtet sind, selber die Nachweise einer Zuwiderhandlung zu erbringen, sondern bloß die Haftung für die von der Kommission ermittelte Zuwiderhandlung eingestehen müssen215. Der freiwillige Charakter der Entscheidung eines Unternehmens, die eigene Haftung für einen vorgeworfenen Wettbewerbsverstoß zu anerkennen, wird gewährleistet, wenn die Unternehmensentscheidung ohne jeglichen Zwang von der Kommission gefällt und wenn das Unternehmen die Gelegenheit hatte, über seine Teilnahme am Settlement nach einer Abwägung zwischen den Vor- und Nachteilen eines Settlement zu entscheiden. Zu den Vorteilen für die Unternehmen zählt nicht nur die Bußgeldreduktion um 10 %, die mit der Reduzierung der Geldbuße aus der Zusammenarbeit im Rahmen der Kronzeugenmitteilung kumulierbar ist, sondern auch eine Mitteilung der Beschwerdepunkte und eine Entscheidung, die an sich kürzer gefasst sind und nicht alle Tatsachen und der Kommission vorliegenden Beweisstücke offenlegen. Das könnte das Risiko von Follow-on-Schadensersatz klagen einigermaßen mildern216.
213
Vgl. Hirsbrunner, EuZW 2011, 12 (14). Settlements-Mitteilung, Rdnr. 20. 215 Vgl. Macchi di Cellere/Mezzapesa, ECLR 2009, 604 (606); Soltész, BB 2010, 2123 (2123). 216 A. A. Hirsbrunner, EuZW 2011, 12 (14), der die Auffassung vertritt, dass ein Unternehmen durch die Beteiligung an einem Settlement-Verfahren seine Aussichten in einem Schadensersatzprozess verschlechtern könnte, da das Unternehmen sich zur Haftung aus der Zuwiderhandlung bekennt. 214
A. Allgemein zum Nemo-tenetur-Grundsatz
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Solange der Verzicht auf den Schutz des Nemo-tenetur-Grundsatzes freiwillig ist, ist er unproblematisch217. Daraus folgt, dass die Vereinbarkeit des SettlementVerfahrens mit dem Nemo-tenetur-Grundsatz davon abhängt, dass die Kommission Unternehmen nicht zum Einstieg in das Settlement-Verfahren zwingt und dass die Unternehmen darüber informiert sind, dass ihre Beteiligung am Settle ment-Verfahren mit der Einschränkung einiger ihrer Verteidigungsrechte verbunden ist. Dass Settlements nicht durch eine Vortäuschung der Existenz gewichtiger Nachweise der Zuwiderhandlung erzwungen werden, hängt wiederum davon ab, dass Unternehmen vor der Entscheidung, ob sie sich auf ein Settlement einlassen, Akteneinsicht bekommen218. Tatsächlich gewährt die Settlement-Mitteilung den Unternehmen umfassende Einsicht in die Akte der Kommission, so dass die Unternehmen „ihren Beschluss zur Inanspruchnahme des Vergleichsverfahrens in Kenntnis des Sachverhalts fassen“ können219. Die Settlement-Mitteilung trifft eine weitere Vorkehrung zur Wahrung des vom Nemo-tenetur-Grundsatz ausgehenden Schutzes. Sollten die Vergleichsverhandlungen zwischen den Unternehmen und der Kommission aus irgendeinem Grund abgebrochen werden, verpflichtet sich die Kommission dazu, das in den Vergleichsausführungen enthaltene Anerkenntnis nicht als Beweismittel gegen ein der Unternehmen heranzuziehen, da es als zurückgezogen gilt. Die Unternehmen sind nicht mehr an ihre Vergleichsausführungen gebunden und können ihre Verteidigungsrechte vollumfänglich ausschöpfen220. Ein gewisses Risiko, dass die Kommission den Fall trotzdem im Hinblick auf die im Rahmen des Settlement-Verfahrens gewonnenen Erkenntnisse (insbesondere in Bezug auf die Haftung der betroffenen Unternehmen für den ihnen vorgeworfenen Wettbewerbsverstoß) urteilt, kann allerdings nicht komplett ausgeschlossen werden221. Dennoch gewährleisten das in der Settlement-Mitteilung verankerte Verbot der Berücksichtigung von Erkenntnissen aus einem abgebrochenen Settlement-Verfahren, sowie die Verteidigungsrechte und die Überprüfung der endgültigen Entscheidung der Kommission durch die Unionsgerichte, dass Unternehmen, die an einem abgebrochenen Settlement-Verfahren beteiligt waren, nicht durch den Verzicht auf den Schutz des Nemo-tenetur-Grundsatzes schlechter stehen, als Unternehmen, die von Anfang an keine Parteien des Settlement-Verfahrens waren.
217
Vgl. Wils, World Compet. 2008, 335 (349). So Wils, World Compet. 2008, 335 (348 f.). 219 Settlements-Mitteilung, Rdnr. 16. 220 Settlements-Mitteilung, Rdnr. 27. 221 Macchi di Cellere/Mezzapesa, ECLR 2009, 604 (608). 218
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§ 4 Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht § 4Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes im EU-Kartellverfahrensrecht
3. Ergebnis Ähnlich wie die Kronzeugenmitteilung führt auch das 2008 eingeführte Settlement-Verfahren der Kommission zu Bedenken bezüglich seiner Vereinbarkeit mit dem Nemo-tenetur-Grundsatz. Die Bedenken lassen sich aber durch den freiwilligen Charakter der Beteiligung am Settlement-Verfahren und durch das Fehlen jeglichen Druckausübung von der Kommission auf die Unternehmen, in das Settlement-Verfahren einzusteigen, ausräumen. Ein Abbruch des Settlement-Verfahrens bedeutet, dass die Kommission sich nicht mehr auf die Einräumung der Zuwiderhandlung berufen darf und dass die Parteien in das reguläre Verfahren übergehen, in dessen Rahmen sie ihre Verteidigungsrechte völlig ausschöpfen dürfen. Schließlich sind auch die auf Grundlage eines Settlement-Verfahrens ergehenden Entscheidungen der Kommission von den Unionsgerichten grundsätzlich überprüfbar.
B. Fazit Aus der GRCH, der EMRK und der EGMR-Rechtsprechung, die den Nemo-tenetur-Grundsatz so weit auslegt, dass auch die Pflicht zur Vorlage von bereits vorhandenen Dokumenten eine Verletzung dieses Grundsatzes darstellt, wenn diese Dokumente den zur Offenlegung Verpflichteten belasten, ergibt sich die Notwendigkeit der Anpassung des Schutzniveaus dieses Grundrechts die EMRK-Vorgaben. Vor allem erscheint es geboten, von der Anerkennung eines bloßen Geständnisverweigerungsrechts für Unternehmen im Rahmen des Kartellverfahrens zur Anerkennung durch die Unionsgerichte eines Auskunftsverweigerungsrechts bei Gefahr der Selbstbezichtigung überzugehen. Die Ermittlungsbefugnisse der Kommission werden durch die Gewährung an Unternehmen eines Schutzes durch den Nemo-tenetur-Grundsatz, der über das bloße Geständnisverweigerungsrecht geht, nicht beeinträchtigt. Bezüglich des Kronzeugenprogramms der EU-Kommission und des SettlementVerfahrens lässt sich feststellen, dass sie nicht gegen den Nemo-tenetur-Grundsatz verstoßen, da sie, obwohl sie die Unternehmen zu einem Eingeständnis des Begehens eines Wettbewerbsverstoßes mit dem Anreiz eines Bußgelderlasses bzw. einer Bußgeldreduzierung veranlassen, auf der freiwilligen Zusammenarbeit der Unternehmen basieren. Es handelt sich dabei um einen freiwilligen, rechtmäßigen Verzicht auf den durch das Nemo-tenetur gewährten Grundrechtsschutz.
§ 5 Das Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht A. Die erweiterten Nachprüfungsbefugnisse der Kommission gemäß VO 1/2003 Die Reform des europäischen Kartellverfahrensrechts mit der VO 1/2003 hat nicht nur zur Einführung eines neuen Systems der Prüfung von wettbewerbsrechtlich relevanten Absprachen geführt, sondern auch die Nachprüfungsbefugnisse der Kommission im Kartellverfahren im Vergleich zu der alten, in Art. 14 Abs. 1 VO 17/62 enthaltenen Regelung erheblich ausgeweitet. Die Nachprüfungsbefugnisse der Kommission werden nunmehr in den Artikeln 20 und 21 der VO 1/2003 präzisiert. Die wesentliche Neuerung im Vergleich zur alten Rechtslage stellt allerdings Art. 21 VO 1/2003 dar, der der Europäischen Kommission das Recht einräumt, Nachprüfungen auch in anderen Räumlichkeiten, außerhalb des Unternehmens sitzes, durchzuführen.
I. Nachprüfungen in Unternehmensräumlichkeiten gemäß Art. 20 VO 1/2003 Die in Art. 20 VO 1/2003 vorgesehene Befugnis der Kommission, Nachprüfungen in Unternehmensräumlichkeiten durchführen zu dürfen, entspricht der alten Regelung in Art. 14 VO 17/62. Bei Art. 20 VO 1/2003 handelt es sich um eine der Kernregelungen des europäischen Kartellverfahrens handelt, da dort die sogenannten „dawn raids“1 ihre rechtliche Grundlage finden. Die „dawn raids“, oder anders ausgedrückt, die „Vor-Ort“-Ermittlungen durch Bedienstete der Kommission, stellen ein wichtiges, Ermittlungsinstrument der Kommission dar, ohne das der Zugriff auf Beweismaterial für die Aufdeckung und Ahndung von Kartellen besonders schwierig wäre, da die Kartelle von Natur aus geheim sind und die Kartellanten meist Vorkehrungen treffen, um das Hinterlassen von Beweismaterial zu meiden. Gleichzeitig sind die „dawn raids“ nicht selten mit einem Reputationsverlust für das betroffene Unternehmen verbunden2.
1
Als „dawn raids“ werden die nicht vorangekündigten, gleichzeitig in den Räumlichkeiten mehrerer (oft in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässigen) Unternehmen durchgeführten Nachprüfungen der Kommission bezeichnet. 2 So Seitz/Berg/Lohrberg, WuW 2007, 716 (716).
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§ 5 Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht § 5Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht
Der Anwendungsbereich von Art. 20 VO 1/2003 umfasst alle Betriebsräumlichkeiten und unterscheidet sich somit von dem des Art. 21, der die Privaträume, wie die Wohnungen der Vorstandsmitglieder eines Unternehmens, deckt. Die deutliche Unterscheidung zwischen den beiden Regelungen kam erst im Laufe des Reformprozesses des Kartellverfahrens zustande, da im Verordnungsentwurf das Betretungsrecht für Privaträume nur als eine weitere Befugnis im Rahmen von Nachprüfungen bei Unternehmen vorgesehen war3. Die Kommission ist befugt, zur Erfüllung der ihr durch die VO 1/2003 übertragenen Aufgaben bei Unternehmen und Unternehmensvereinigungen alle erforderlichen Nachprüfungen vorzunehmen. Die durch die Hinzufügung des Begriffs „erforderlichen“ in Art. 20 Abs. 1 eingeführte Einschränkung bezieht sich auf den Zweck der Untersuchung4. Eine Nachprüfung muss für die Untersuchung des konkreten Sachverhalts erforderlich sein. Das bedeutet, dass die Kommission bezüglich der Anordnung einer Nachprüfung über einen großen Ermessensspielraum verfügt, was umso wichtiger erscheint, wenn man die eingeschränkte Möglichkeit der nationalen Gerichte berücksichtigt, die Gründe einer Nachprüfungsentscheidung der Kommission zu überprüfen. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit stellt dennoch eine Schranke der Nach prüfungsbefugnis der Kommission dar und kommt durch das Erfordernis eines Anfangsverdachts auf einen Wettbewerbsverstoß zum Ausdruck5. Die Kommission muss den genauen Gegenstand und Zweck der Nachprüfung in der Nachprüfungsentscheidung sowie die wesentlichen Merkmale des vermuteten Verstoßes und den Wirtschaftsbereich, in dem der Verstoß angeblich stattgefunden hat, angeben. Eine allgemein formulierte Nachprüfungsentscheidung wäre rechtswidrig6. Ferner darf die Kommission ihre Durchsuchung nicht auf andere Tätigkeiten des untersuchten Unternehmens in anderen als den in der Entscheidung beschriebenen Wirtschaftsbereichen erweitern, da das einer Ausforschung („fishing expedition“) entsprechen würde, die mit dem Recht auf Achtung der Privatsphäre von Unternehmen unvereinbar ist7. Obwohl Art. 20 VO 1/2003 bezüglich seines Inhalts schon der Vorgängerregelung in der VO 17/62 (Art. 14) entspricht, weist er trotzdem einige bedeutsame Änderungen auf. Als Beispiele können hier die Neugestaltung des Fragerechts in Art. 20 Abs. 2 lit. e VO 1/2003, die Möglichkeit der Versiegelung von Räumen gemäß Art. 20 Abs. 2 lit. d und die Regelung der Prüfungsbefugnisse des nationalen Richters (Art. 20 Abs. 7 und 8 VO 1/2003) erwähnt werden. 3
Art. 20 Abs. 2 lit. b VO-E. Vgl Darmon Raclet, in: Mourre (Hrsg.), S. 196. 5 Vgl. M. Sura, in: Langen/Bunte (Hrsg.), Art. 20, Rdnr. 5. 6 EuG, Urteil v. 14.11.2012, Rs. T-135/09, Nexan France SAS und Nexan SA/Kommission, veröffentlicht in der digitalen Sammlung, Rdnr. 42 ff. 7 EuG, Urteil v. 14.11.2012, Rs. T-135/09, Nexan France SAS und Nexan SA/Kommission, Rdnr. 64 ff. 4
A. Erweiterte Nachprüfungsbefugnisse der Kommission gemäß VO 1/2003
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1. Verfahren der Nachprüfung gemäß Art. 20 VO 1/2003 Der Kommission steht es offen, Nachprüfungen auf Grundlage entweder eines einfachen Prüfungsauftrages oder einer Prüfungsentscheidung durchzuführen. Es sollte betont werden, dass die Kommission nicht dazu verpflichtet ist, vor der Nachprüfung ein Auskunftsverlangen an die betroffenen Unternehmen zu richten. Das Auskunftsverlangen ergänzt meistens die Nachprüfung in dem Sinne, dass dadurch Erläuterungen zu den bei der Nachprüfung erlangten Informationen verlangt werden8. Ferner darf die Kommission frei zwischen den beiden Rechtsgrundlagen einer Nachprüfung wählen. Die Wahl zwischen Auftrag und Entscheidung wird von den Erfordernissen einer den Besonderheiten des Einzelfalls angemessenen Untersuchung ab9. Dabei werden allerdings die Schwere des vermuteten Wettbewerbsverstoßes sowie das Vorverhalten des betreffenden Unternehmens mitberücksichtigt10. Der Kommissionspraxis lässt sich entnehmen, dass es einen praktischen Grund gibt, wenn eine Nachprüfung auf einen Antrag oder auf eine Entscheidung gestützt wird. Ist es der erstere der Fall, wird dann vorher das Unternehmen über die Nachprüfung benachrichtigt, obwohl es eigentlich keine solche Verpflichtung seitens der Kommission gibt11. Die Kommission ist jedoch in den letzten Jahren dazu übergegangen, immer häufiger von Durchsuchungsbeschlüssen Gebrauch zu machen12. a) Nachprüfung auf Grundlage eines einfachen Auftrags Im Fall eines einfachen Nachprüfungsauftrags müssen die Kommissionsbediensteten dem Personal des betroffenen Unternehmens einen schriftlichen Prüfungsauftrag vorlegen, der Gegenstand und Zweck der Nachprüfung klar schildert und der auf die in Art. 23 VO 1/2003 vorgesehenen Sanktionen im Fall der NichtZusammenarbeit hinweist. Zusammen mit dem Prüfungsauftrag übergeben die Kommissionsbediensteten ein Merkblatt, das unter anderem erläutert, wie sich die Inspektoren der Kommission und ihre Begleitpersonen ausweisen und über welche Rechte die Unternehmen verfügen, wie zum Beispiel das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts. Der Hinweis auf den Bußgeldtatbestand des Art. 23 VO 1/2003 im Zusammenhang mit falschen oder irreführenden Angaben bei einfachen Prüfungsaufträgen 8
Klees, S. 324, Rdnr. 58. Vgl. EuGH, Urteil v. 26.6.1980, Rs. 136/79, National Panasonic (UK) Ltd./Kommission, Slg. 1980, 2033, Rdnr. 8–16. 10 Klees, S. 324, Rdnr. 58. 11 Klees, S. 325, Rdnr. 61. 12 Vgl. Kerse Khan, S. 148, Rdnr. 3–079. 9
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§ 5 Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht § 5Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht
stellt eine Neuerung im Vergleich zur Nachprüfungsregelung der VO 17/62. Die Unternehmen dürfen die auf einen einfachen Auftrag gestützte Nachprüfung ohne Angaben von Gründen verweigern13. Falls aber das Unternehmen der Durchführung der Nachprüfung zustimmt, unterliegt es dann derselben aktiven Kooperationspflicht wie die Unternehmen, bei denen die Nachprüfung durch Entscheidung angeordnet wurde14. b) Nachprüfung auf Grundlage einer Entscheidung Die Kommission kann für ihre Nachprüfung eine Entscheidung erlassen. Gemäß Art. 20 Abs. 4 VO 1/2003 muss die Entscheidung Gegenstand und Zweck der Nachprüfung angeben, sowie auf die im Zusammenhang mit Nachprüfungen stehenden und in den Artikeln 23 Abs. 1 Buchst. c bis e und 24 Abs. 1 Buchst. e VO 1/2003 vorgesehenen Sanktionen hinweisen und schließlich eine Rechtsmittelbelehrung beinhalten. Die Rechtsprechung des EuGH hat noch zwei Angaben zum wesentlichen Inhalt einer Durchsuchungsentscheidung hinzugefügt. Zum einen muss im Text der Entscheidung erwähnt werden, wonach gesucht wird, und zum anderen müssen die Punkte aufgeführt werden, auf die sich die Nachprüfung beziehen soll15. Das letzte Erfordernis dient dem Schutz der Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen, da sonst dieses Recht beeinträchtigt würde, wenn die Kommission den Unternehmen die bei einer Nachprüfung erlangten Beweise entgegenhalten könnte, die in keinem Zusammenhang mit Gegenstand und Zweck dieser Nachprüfung stehen16. Vor Erlass der Durchsuchungsentscheidung von der Kommission wird die nationale Wettbewerbsbehörde, in deren Hoheitsgebiet die Nachprüfung erfolgen wird, angehört. Diese Anhörung ist an keine Frist gebunden. Eine Anhörung des nachzuprüfenden Unternehmens erfolgt nicht, wie schon vom EuGH festgestellt wurde17, da eine solche den Überraschungscharakter und die Effektivität der unangemeldeten Nachprüfung konterkarieren würde. Die Durchsuchungsentscheidung wird dem Unternehmen erst unmittelbar vor dem Beginn der Durchsuchung bekannt gemacht, indem dem zuständigen Unternehmensansprechpartner eine be 13
M. Sura, in: Langen/Bunte (Hrsg.), Art. 20 VO Nr. 1/2003, Rdnr. 4. Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 20, Rdnr. 98. 15 EuGH, Urteil v. 26.6.1980, Rs. 136/79, National Panasonic (UK) Limited/Kommission, Slg. 1980, 2033, Rdnr. 26, 27; EuGH, Urteil v. 22.10.2002, Rs. C-94/00, Roquette F rères/ Directeur général de la concurrence, de la consommation et de la répression des fraudes, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 48. 16 EuGH, Urteil v. 22.10.2002, Rs. C-94/00, Roquette Frères/Directeur général de la con currence, de la consommation et de la répression des fraudes, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 48. 17 EuGH, Urteil v. 26.6.1980, Rs. 136/79, National Panasonic (UK) Limited/Kommission, Slg.1980, 2033, Rdnr. 17 ff. 14
A. Erweiterte Nachprüfungsbefugnisse der Kommission gemäß VO 1/2003
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glaubigte Abschrift der Entscheidung überreicht wird, worüber ein entsprechendes Protokoll gefertigt wird18. Wie bereits der EuGH anerkannt hat19, verfügt jedes Unternehmen schon im Voruntersuchungsverfahren über das Recht juristischen Beistand einzuholen. Das bedeutet allerdings nicht, dass das Unternehmen einen Anspruch darauf hat, dass die Nachprüfung erst nach dem Eintreffen eines Rechtsanwalts des Unternehmens beginnt. Die Kommission gewährt jedoch üblicherweise eine Wartezeit, bis der Rechtsanwalt eingetroffen ist, wenn zwei Bedingungen kumulativ erfüllt werden: a) durch die Wartezeit wird die Durchsuchung nicht erheblich verzögert oder behindert und b) die Unternehmensleitung garantiert, dass keine Dokumente entfernt oder vernichtet werden. Falls das Unternehmen über einen angestellten Rechtsanwalt verfügt, der anwesend ist, wird keine Wartezeit gewährt. Auf Ersuchen der Kommission unterstützt die nationale Wettbewerbsbehörde, in dessen Hoheitsgebiet die Durchsuchung durchgeführt werden soll, die Kommission bei der Durchsuchung. Die Möglichkeit der Unterstützung der Kommission bei der Durchführung von Nachprüfungen durch nationale Wettbe werbsbehörden wird in Art. 20 Abs. 5 VO 1/2003 geregelt. Wenn es sich die nationale Behörde oder die Kommission sich so wünschen, können Bedienstete der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörde oder von dieser entsprechend ernannte oder ermächtigte Personen die Kommissionsbediensteten bei der Durchführung der Nachprüfung aktiv unterstützen. Den Bediensteten der nationalen Behörde stehen in einer solchen Konstellation die Befugnisse des Art. 20 Abs. 2 VO 1/2003 zu. Bis zur Reform des EU-Kartellverfahrensrechts galt dagegen, dass die nationale Wettbewerbsbehörde bei der Unterstützung der Kommission alle (aber auch nur die) Befugnisse hatte, die ihr das nationale Kartellverfahrensrecht einräumte20. Hier ist allerdings zu betonen, dass die Durchsuchungsentscheidung das Unter nehmen lediglich zur Duldung der Durchsuchung verpflichtet und dass aus der Durchsuchungsentscheidung kein Recht auf gewaltsamen Zutritt der Unternehmensräumlichkeiten ausgeht21. Anders ausgedrückt gewährt Art. 20 Abs. 4 VO 1/2003 der Kommission lediglich eine Nachprüfungsanordnungs-, nicht aber auch eine Vollstreckungskompetenz bei Widerstand des Unternehmens22. Diese fehlende Befugnis wird durch die Pflicht des Mitgliedstaates zur Unterstützung nach Art. 20 Abs. 6 VO 1/2003 ausgeglichen. Falls also die Kommissionsbediensteten feststellen, dass sich ein Unternehmen einer durch Entscheidung 18
Klees, S. 326, Rdnr. 63. EuGH, Urteil v. 21.9.1989, Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rdnr. 16. 20 Klees, S. 327, Rdnr. 68. 21 Dieckmann, in: Wiedemann (Hrsg.), § 42, Rdnr. 25. 22 EuGH, Urteil v. 21.9.1989, Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rdnr. 31. 19
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§ 5 Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht § 5Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht
angeordneten Nachprüfung widersetzt, muss der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Nachprüfung stattfinden soll, laut Art. 20 Abs. 6 VO 1/2003 die erforderliche Amtshilfe leisten. Die Modalitäten der Gewährung der Amtshilfe richten sich nach nationalem Recht, dabei muss allerdings die Wirksamkeit des Vorgehens der Kommission sichergestellt werden23. Ferner sind die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts zu beachten, wie zum Beispiel das Erfordernis des Schutzes vor willkürlichen oder unverhältnismäßigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Privatsphäre einer natürlichen oder juristischen Person24. In Art. 20 Abs. 6 VO 1/2003 wird ausdrücklich der Einsatz vor Polizeikräften oder einer entsprechenden vollziehenden Behörde als Möglichkeit zur Gewährung von Unterstützung vorgesehen. Eine solche Unterstützung kann auch im Voraus angefordert werden, um einen zu erwartenden Widerstand des Unternehmens zu überwinden. Der EuGH hat klargestellt, dass ein vorsorgliches Ersuchen um Amtshilfe nur dann zulässig ist, wenn es Gründe für die Annahme gibt, dass der Nachprüfung widersprochen und versucht werden könnte, Beweismaterial zu verbergen und es dem Zugriff der Kommission zu entziehen25. Es ist wohl möglich, dass nach dem nationalen Recht für die Gewährung von Amtshilfe in Form von einem Polizeieinsatz, zum Beispiel, eine gerichtliche Genehmigung erforderlich ist. Dieser Fall wird in Art. 20 Abs. 7 VO 1/2003 geregelt, der die Amtshilfe leistenden Behörden der Mitgliedstaaten bzw. die Kommission dazu verpflichtet, die richterliche Verfügung bei dem zuständigen nationalen Gericht zu beantragen. Bei der Erteilung der Genehmigung wenden die nationalen Gerichte ihr nationales Verfahrensrecht an26, ihre Prüfungsbefugnisse werden jedoch in Art. 20 Abs. 8 VO 1/2003 festgelegt. Aufgrund der im Rahmen von Art. 4 Abs. 3 AEUV allgemein niedergelegten Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten und Union sind die nationalen Behörden grundsätzlich zur Unterstützung verpflichtet27. Die Kontrolle durch die nationalen Gerichte ist daher auf die Achtung des Willkürverbots und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu beschränken28. Das nationale Gericht kann nicht die Übermittlung der in den Akten der Kommission enthaltenen Informationen und Indizien verlangen, auf denen der Verdacht beruht29. Begründet
23 EuGH, Urteil v. 21.9.1989, Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rdnr. 33. 24 EuGH, Urteil v. 21.9.1989, Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rdnr. 33. 25 EuGH, Urteil v. 22.10.2002, Rs. C-94/00, Roquette Frères/Directeur général de la con currence, de la consommation et de la répression des fraudes, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 74. 26 Klees, S. 328, Rdnr. 72. 27 Schwarze/Weitbrecht, S. 61, Rdnr. 21. 28 EuGH, Urteil v. 22.10.2002, Rs. C-94/00, Roquette Frères/Directeur général de la con currence, de la consommation et de la répression des fraudes, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 40. 29 EuGH, Roquette Frères, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 62.
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wird dies vom EuGH mit Heranziehung der Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Wirksamkeit des Vorgehens der Kommission sicherzustellen30. Als Inspirationsquelle für Art. 20 Abs. 8 VO 1/2003 haben vor allem zwei Urteile des EuGH gedient: zum einen die Entscheidung in der Rechtssache „Hoechst“ aus dem Jahr 198931 und zum anderen das „Roquette Frères“-Urteil aus dem Jahr 200232. Gemäß Art. 20 Abs. 8 VO 1/2003 prüft das nationale Gericht die Echtheit der Kommissionsentscheidung und die Verhältnismäßigkeit der beantragten Zwangsmaßnahmen. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit wird aber nicht auf die Teilelemente der Notwendigkeit und der Begründetheit der Nachprüfung eingegangen. Diese beiden Merkmale sowie die Rechtmäßigkeitskontrolle der Nachprüfungsentscheidung dürfen ausschließlich von den Unionsgerichten geprüft werden33. 2. Die Befugnisse der Kommissionsbediensteten bei einer Nachprüfung im Einzelnen Den Kommissionsbediensteten und ihren Begleitpersonen stehen folgende Rechte im Rahmen einer Durchsuchung zu: a) das Betretungsrecht, b) das Recht, Geschäftsunterlagen zu prüfen und davon Kopien oder Auszüge zu erlangen, c) das Recht, betriebliche Räumlichkeiten, sowie Bücher und Unterlagen während der Nachprüfung zu versiegeln und d) das Recht, Fragen an das Betriebspersonal zu stellen. Die einzelnen Rechte werden jetzt näher analysiert. a) Das Betretungsrecht Das in Art. 20 Abs. 2 Buchst. a VO 1/2003 vorgesehene Betretungsrecht soll der Kommission ermöglichen, Beweismaterial für den Nachweis von Zuwiderhandlungen gegen Wettbewerbsregeln an Orten zu sammeln, an denen sich solches Material normalerweise befindet, nämlich in den Geschäftsräumen der Unternehmen. Dazu gehören Räume, Grundstücke und Transportmittel eines Unternehmens. Nicht erfasst werden dagegen Privaträume, die unter den Anwendungsbereich von Art. 21 VO 1/2003 fallen. Für die nähere Definition des Begriffs „Geschäftsräumlichkeiten“ werden keine Eigentums- oder Besitzverhältnisse herangezogen. Allein die funktionale Zuordnung des Raums zum Unternehmen wird untersucht, das die Nachprüfung zu dulden hat. Dabei ist zu betonen, dass die Aufbewahrung von 30
EuGH, Roquette Frères, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 35 und 63. EuGH, Urteil v. 21.9.1989, Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2859. 32 EuGH, Roquette Frères, Slg. 2002, I-9011. 33 EuGH, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rdnr. 35; EuGH, Roquette Frères, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 39. 31
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§ 5 Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht § 5Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht
Beweismaterial in einer Räumlichkeit alleine nicht ausreicht, um der Räumlichkeit den Charakter des Geschäftsraums zu verschaffen, da sonst die Regelung des Art. 21 VO 1/2003 leerlaufen würde. b) Das Recht, Geschäftsunterlagen zu prüfen Die Bediensteten der Kommission dürfen ferner die Bücher und die Geschäftsunterlagen des Unternehmens, egal in welcher Form sie sind, d. h. als Druck- oder elektronische Dokumente, prüfen. Das von der Nachprüfung betroffene Unternehmen ist verpflichtet, die angeforderten Bücher und Geschäftsunterlagen vollständig vorzulegen34. Die Kommission ist jedoch grundsätzlich nicht befugt, private Unterlagen zu prüfen35. Ein Problem besteht aber insoweit, dass Nachweise für wettbewerbswidriges Verhalten sich oft in dem ersten Anschein nach privaten Unterlagen (z. B. Notizen) befinden. Aus diesem Grund und weil die Trennung zwischen privaten und geschäftlichen Unterlagen aus praktischer Sicht schwer umsetzbar ist, besteht eine widerlegbare Vermutung, dass alle Unterlagen, die in den Unternehmensräumlichkeiten aufbewahrt sind, Geschäftsunterlagen sind36. Somit könnte behauptet werden, dass es im Ergebnis eine Vorlagepflicht für alle Dokumente gibt, die in den Unternehmensräumlichkeiten zu finden sind. Besteht ein Unternehmen darauf, dass gewisse Unterlagen privater Natur sind, kann die Kommission die strittigen Unterlagen, ohne sie vorher zu sichten, in einen versiegelten Umschlag schließen und sie an den Anhörungsbeauftragten weiterleiten, der darüber entscheidet, ob sie privater oder geschäftlicher Natur sind. Ist das Unternehmen mit der Entscheidung des Anhörungsbeauftragten nicht einverstanden, kann es die Entscheidung vor den Unionsgerichten anfechten. In die Problematik der Unterlagen, die von der Vorlagepflicht erfasst sind, ist auch das sogenannte „Anwaltsprivileg“ (legal privilege) einzubeziehen, d. h. der Ausschluss vom Einsichtnahmerecht der Kommission des Schriftverkehrs zwischen dem Unternehmen und einem selbständigen Rechtsanwalt. Anders als bei den Privatunterlagen, für die eine eingeschränkte Vorlagepflicht angenommen wird, um der Kommission die Beurteilung zu ermöglichen, inwieweit es sich tatsächlich um Privatunterlagen handelt, besteht bezüglich der Korrespondenz mit einem selbständigen Rechtsanwalt keine Vorlagepflicht37.
34
Art. 23 Abs. 1 Buchst. c VO 1/2003. Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 20 VO 1/2003, Rdnr. 49. 36 Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 20 VO 1/2003, Rdnr. 49. 37 Siehe diesbezüglich § 6 „Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht“, S. 210 ff. 35
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c) Das Recht, Kopien von Unterlagen anzufertigen Die Kommission verfügt, anders als zum Beispiel das Bundeskartellamt nach § 58 GWB, über kein Recht, Unterlagen zu beschlagnahmen. Als Ausgleich für diese fehlende Befugnis dürfen ihre Bediensteten Kopien oder Auszüge aus den Geschäftsbüchern und Unterlagen anfertigen38. Zu beachten ist, dass die Kommissionsbediensteten nicht berechtigt sind, die Erstellung von Kopien oder Auszügen von Unternehmensangestellten zu verlangen39. Am Ende der Nachprüfung erstellen sie eine Liste der kopierten Dokumente, von der das Unternehmen eine Ausfertigung bekommt, damit es sich ein Bild über den Kenntnisstand der Kommission verschaffen kann. d) Das Recht, Räumlichkeiten kurzfristig zu versiegeln Als Mittel zur Sicherung der effizienten Durchführung der Nachprüfung, insbesondere wenn sie mehr als einen Tag in Anspruch nimmt,40 wurde die Möglichkeit der Versiegelung von Räumlichkeiten, Büchern oder Unterlagen konzipiert und in Art. 20 Abs. 2 Buchst. d VO 1/2003 niedergelegt. Dieses Recht soll es den Kommissionsbediensteten ermöglichen, bei Nachprüfungen, die länger als einen Tag dauern, die Ermittlungen am nächsten Tag wiederaufnehmen zu können, ohne befürchten zu müssen, dass Unterlagen von den Unternehmensräumlichkeiten entfernt wurden oder dass der Inhalt von Unterlagen manipuliert wurde. Die Versiegelung sollte gemäß dem 25. Erwägungsgrund der VO 1/2003 die Zeit von 72 Stunden nicht überschreiten. Handelt es sich um die Versiegelung einer Räumlichkeit, sollten sich die Kommissionsbediensteten darum bemühen, die Sperrzeit aufs Minimum zu reduzieren, um den Betriebsablauf des Unternehmens nicht zu be einträchtigen. e) Das Recht auf Befragung der Unternehmensmitarbeiter Gemäß Art. 20 Abs. 2 Buchst. e VO 1/2003 dürfen die Kommissionsbediensteten von allen Vertretern oder Mitgliedern der Belegschaft des Unternehmens Erläuterungen zu Tatsachen oder Unterlagen verlangen, die mit Gegenstand und Zweck der Nachprüfung zusammenhängen und die Antworten der befragten Personen zu Protokoll nehmen. Man kann zwischen zwei Arten dieser Befugnis unterscheiden: Zum einen kann das Befragen der Vertreter oder der Mitglieder der Belegschaft eine Hilfefunktion haben, die die Kommissionsbediensteten bei der 38
So Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 20 VO 1/2003, Rdnr. 61. de Bronett, Art. 20, Rdnr. 25; Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 20 VO 1/2003, Rdnr. 61. 40 Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 20 VO 1/2003, Rdnr. 66. 39
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§ 5 Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht § 5Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht
sachgerechten Ausführung der Nachprüfung unterstützen sollte. Die verlangten Erläuterungen können sich zum Beispiel auf den Ort der Aufbewahrung von Geschäftsunterlagen beziehen oder darauf abzielen, den Zusammenhang zwischen dem Gegenstand der Nachprüfung und bestimmten Unterlagen näher zu definieren. Werden keine oder falsche und irreführende Erläuterungen gemacht, die die Nachprüfung hindern, gilt die Nachprüfung als nicht geduldet und darf die Kommission Geldbußen verhängen41. Das Verlangen von Erläuterungen kann ferner auch eine selbstständige Ermittlungshandlung darstellen. In diesem Fall nehmen die Kommissionsbediensteten Informationen, die Gegenstand und Zweck der Nachprüfung betreffen und die bei der Nachprüfung nicht in einem Datenträger gespeichert sind, um diese später als Beweismittel im Kartellverfahren einzusetzen42. Auch im Fall des Verlangens von Erläuterungen muss man zwischen der auf Grundlage eines einfachen schriftlichen Auftrags durchgeführten und der mit einer Entscheidung angeordneten Nachprüfung unterscheiden. Im ersteren Fall ist das Unternehmen, vorausgesetzt, dass es die Nachprüfung duldet, lediglich dazu verpflichtet, richtige, vollständige und nicht irreführende Erläuterungen zu geben. Gemäß Art. 23 Abs. 1 Buchst. d erster und zweiter Spiegelstrich VO 1/2003 kann die Kommission jede vorsätzliche oder fahrlässige Zuwiderhandlung gegen diese Pflicht der Unternehmen mit Geldbußen sanktionieren. Wird die Nachprüfung durch eine Entscheidung der Kommission angeordnet, muss das Unternehmen nicht nur die Durchsuchung dulden, sondern werden seine Vertreter und seine Belegschaft dazu verpflichtet, die von der Kommission verlangten Erläuterungen richtig, nicht irreführend und vollständig zu beantworten. Für den Fall eines Verstoßes gegen diese Pflicht gilt erneut Art. 23 Abs. 1 Buchst. d VO 1/2003. Das Verbot des Zwangs zur Selbstbezichtigung und der Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandanten stellen Schranken der Befugnis der Kommission dar, Erläuterungen zu Tatsachen und Unterlagen zu verlangen43. Ferner schränken Art. 18 und Art. 20 Abs. 2 Buchst. e VO 1/2003 die Reichweite der Befragungsbefugnis ein. Das bedeutet, dass die Kommission keine Erläuterungen verlangen darf, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Zweck und dem Gegenstand der Nachprüfung stehen44. Weiter gehende Fragen, die zur Aufklärung des Sachverhalts dienen und die sich aus der Gesamtbetrachtung des Beweismaterials ergeben, dürfen nur im Rahmen eines Auskunfts verlangens nach Art. 18 VO 1/2003 gestellt werden. Eine andere Auslegung würde
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de Bronett, Art. 20, Rdnr. 30, 36. de Bronett, Art. 20, Rdnr. 30. 43 Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 20 VO 1/2003, Rdnr. 74. 44 Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 20 VO 1/2003, Rdnr. 72. 42
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Art. 18 des Sinns und Zwecks berauben45. Die Kommission kann von der in Art. 24 Abs. 1 Buchst. e VO 1/2003 vorgesehenen Befugnis, Erläuterungen mit der Androhung oder Verhängung von Zwangsgeldern zu erzwingen, nur dann Gebrauch machen, wenn Erläuterungen nicht erteilt wurden, obwohl dafür eine Pflicht bestand, oder wenn Erläuterungen gemacht wurden, die offensichtlich falsch oder irreführend waren46. Adressaten des Verlangens der Kommission nach Erläuterungen können gemäß Art. 20 Abs. 2 Buchst. e VO 1/2003 die Vertreter oder die Mitglieder der Belegschaft des Unternehmens sein, das Gegenstand der Nachprüfung ist. Allerdings ist es zwischen solchen Mitgliedern der Belegschaft zu unterscheiden, die vom Unternehmen zur Erteilung von Erläuterungen ermächtigt wurden, und jenen, die keine Ermächtigung bekommen haben. Die von ermächtigten Mitgliedern der Belegschaft gemachten Erläuterungen sind, genauso wie diejenigen der satzungsmäßigen Vertreter des Unternehmens, für das Unternehmen bindend. Das Unternehmen kann dann vom in Art. 4 Abs. 3 VO 773/2004 festgelegten Recht auf Berichtigung, Veränderung oder Ergänzung von Auskünften Gebrauch machen, die von einem Mitglied der Belegschaft erteilt wurde, das dazu nicht vertraglich ermächtigt ist. Die Kommission kann grundsätzlich die Pflicht zur Erteilung von Erläuterungen nur gegen den Adressaten der Nachprüfungsentscheidung (also das Unternehmen) durchsetzen47. Eine Durchsetzung gegen Mitglieder der Belegschaft des Unternehmens ist nicht möglich. Das Verbot des Zwangs zur Selbstbezichtigung gilt allerdings auch im Fall einer Befragung nach Art. 20 Abs. 2 VO 1/200348. Der Nemo-tenetur-Grundsatz beansprucht auch insofern Geltung, als die Kommission durch die verlangten Erläuterungen das Unternehmen nicht dazu zwingen darf, einen Wettbewerbsverstoß einzuräumen, für den sie die Beweislast trägt49. Erteilt jedoch ein Unternehmen im Rahmen einer Nachprüfung, die auf Grundlage eines einfachen schriftlichen Auftrags durchgeführt wird, selbstbelastende Erläuterungen, verzichtet es freiwillig auf das Recht, sich nicht selbst eines unrechtmäßigen Verhaltens bezichtigen zu müssen. Das wurde von der Rechtsprechung der Unionsgerichte bestätigt50.
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Vgl. Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 20 VO 1/2003, Rdnr. 73. de Bronett, Art. 20, Rdnr. 36. 47 de Bronett, Art. 20, Rdnr. 32. 48 de Bronett, Art. 20, Rdnr. 34. 49 de Bronett, Art. 20, Rdnr. 34. 50 EuG, Urteil v. 20.4.1999, verb. Rs. T-305/94, T-306/94, T-307/94, T-313/94 bis T-316/94, T-318/94, T-325/94, T-328/94, T-329/94 und T-335/94, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./ Kommission, Slg. 1999, II-931, Rdnr. 456 f.; Urteil v. 15.3.2000, verb. Rs. T-25/95, T-26/95, T-30/95, T-31/95, T-32/95, T-34/95, T-35/95, T-36/95, T-37/95, T-38/95, T-39/95, T-42/95, T-43/95, T-44/95, T-45/95, T-46/95, T-48/95, T-50/95, T-51/95, T-52/95, T-53/95, T-54/95, T-55/95, T-56/95, T-57/95, T-58/95, T-59/95, T-60/95, T-61/95, T-62/95, T-63/95, T-64/95, T-65/95, T-68/95, T-69/95, T-70/95, T-71/95, T-87/95, T-88/95, T-103/95 und T-104/95, Cimenteries CBR u. a./Kommission, Slg. 2000, II-491, Rdnr. 735. 46
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§ 5 Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht § 5Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht
Das Verbot der Selbstbezichtigung ist nicht die einzige grundrechtliche Verbürgung, die beim Verlangen von Erläuterungen von der Kommission berücksichtigt werden muss. Alle Verteidigungsrechte der die Nachprüfung duldenden Unternehmen müssen von der Kommission und ihren Bediensteten geachtet werden. Das führt dazu, dass die in Art. 20 Abs. 2 Buchst. e VO 1/2003 genannten Personen jegliche von der Kommission verlangte Erläuterung verweigern dürfen, die die Verteidigungsrechte des Unternehmens verletzt. Wurden Erläuterungen trotzdem unter Verletzung der Verteidigungsrechte erlangt, dürfen sie nach hier vertretenen Ansicht nicht von der Kommission verwertet werden. Die Anordnung einer Durchsuchung im Rahmen eines Kartellverfahrens stellt eine Verfahrensentscheidung dar, die die Kommission grundsätzlich im Ermäch tigungsverfahren erlässt. Das bedeutet, dass ein oder mehrere Mitglieder der Kommission die Entscheidung im Namen des Kollegiums erlassen51. Eine Nachprüfung auf Grundlage von Art. 20 Abs. 3 VO 1/2003 kann also auch vom Wettbewerbskommissar alleine angeordnet werden. Diese Delegierung der Entscheidungsbefugnis vom Kollegium an den Kommissaren ist mit dem Kollegialitätsprinzip vereinbar, da es sich dabei um eine laufende Angelegenheit und nicht um eine Grundsatzentscheidung handelt52. Die Kommission erlässt eine Nachprüfungsentscheidung, ohne die beabsichtigten Adressaten vorher anhören zu müssen, da es sich dabei nicht um eine Entscheidung handelt, die das Abstellen einer Zuwiderhandlung anordnet oder die ein wettbewerbswidriges Verhalten feststellt und ahndet53. Nur wenn die Nachprüfung durch eine Entscheidung gemäß Art. 20 Abs. 4 VO 1/2003 angeordnet wird, ist die Kommission dazu verpflichtet, die nationale Kartellbehörde oder die zuständige Stelle, in dessen Hoheitsgebiet die Nachprüfung vorgenommen werden soll, vorher anzuhören54. Diese Anhörung ist informell und an keine besondere Frist gebunden55, d. h. sie kann auch unmittelbar vor dem Erlass der Kommissionsentscheidung stattfinden. Der EuGH hat bereits im Urteil „National Panasonic“ und in Bezug auf die alte Durchführungsverordnung (Art. 14 Abs. 3 VO 17/62) entschieden, dass die Kommission dazu berechtigt sei, direkt eine die Nachprüfung anordnende Entscheidung zu erlassen56. Diese unangemeldeten Nachprüfungen, die als „dawn raids“ 51 Siehe auch EuGH, Urteil v. 23.9.1986, Rs. 5/85, AKZO Chemie BV und AKZO Chemie UK Ltd/Kommission, Slg. 1986, 2585, Rdnr. 30–34. 52 EuGH, Urteil v. 23.9.1986, Rs. 5/85, AKZO Chemie BV und AKZO Chemie UK Ltd/ Kommission, Slg. 1986, 2585, Rdnr. 34–38. 53 EuGH, Urteil v. 26.6.1980, Rs. 136/79, National Panasonic/Kommission, Slg. 1980, 2033, Rdnr. 20–21. 54 Art. 20 Abs. 4 Satz 3 VO 1/2003. 55 EuGH, Urteil v. 23.9.1986, Rs. 5/85, AKZO Chemie BV und AKZO Chemie UK Ltd/ Kommission, Slg. 1986, 2585, Rdnr. 24. 56 EuGH, Urteil v. 26.6.1980, Rs. 136/79, National Panasonic/Kommission, Slg. 1980, 2033, Rdnr. 12.
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bekannt geworden sind, weil sie üblicherweise in den frühen Morgenstunden stattfinden, finden ausschließlich während der normalen Geschäftszeiten statt57. Die Nachprüfung kann gleichzeitig in mehreren Mitgliedstaaten stattfinden58. Diese erweiterten Ermittlungsbefugnisse der Kommission sind wichtige Instrumente für die Aufdeckung und Ahndung von Kartellen, da Kartelle in der Regel unter strenger Geheimhaltung funktionieren. Die Kommunikation zwischen den am Kartell teilnehmenden Unternehmen wird so gering wie möglich gehalten und die Absprache ist üblicherweise nur einigen Unternehmensmitarbeitern bekannt. Die Treffen, bei denen die wettbewerbswidrigen Absprachen getroffen werden, finden oft in neutralen Orten oder am Rand von Tagungen oder Ausstellungen statt. Mit solchen und ähnlichen Argumenten hat der ehemalige Wettbewerbskommissar Julian Joshua im Jahre 1983 die weiten Nachprüfungsbefugnisse der Kommission befürwortet und die Erforderlichkeit des Überraschungseffekts der Nachprüfungen bei Unternehmen gerechtfertigt59. 3. Ablauf einer Nachprüfung in einem Unternehmen Die Kommissionsbediensteten, die oft bei der Durchführung von Nachprüfungen von Mitarbeitern der jeweiligen nationalen Wettbewerbsbehörde unterstützt werden, teilen nach ihrem Eintreffen in den Unternehmensräumlichkeiten den Inhalt ihres Nachprüfungsauftrags oder der Nachprüfungsentscheidung einem Vertreter des Unternehmens mit und belehren gleichzeitig über die Rechte und Pflichten des zu durchsuchenden Unternehmens. Eine zur Vertretung des Unternehmens berechtigte Person muss den Empfang des Nachprüfungsauftrags oder der Entscheidung bescheinigen. Die Nachprüfung kann nicht dadurch verzögert werden, dass das Unternehmen die Nachprüfungsentscheidung nicht annimmt, da die Nachprüfungsentscheidung als ordnungsgemäß zugestellt gilt, auch wenn ihre Annahme verweigert wird. Die Kommissionsbediensteten sollten aber dem zu untersuchenden Unternehmen ausreichend Zeit lassen, damit die (externen) Rechtsanwälte des Unternehmens eintreffen und bei der Durchsuchung anwesend sind, um dem Unternehmen juristischen Beistand zu leisten. Das ergibt sich aus der Spruchpraxis der Unionsgerichte und dem anerkannten Recht auf Hinzuziehung eines juristischen Beistands, das auch im Rahmen der Voruntersuchung gilt60. Die
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Jones/Sufrin, S. 1063. Im Fall des Waschmittel-Kartells wurden beispielsweise gleichzeitig mehrere unangemeldete Nachprüfungsaktionen bei unterschiedlichen Unternehmen in unterschiedlichen Mitgliedstaaten durchgeführt. Siehe die nicht vertrauliche Fassung der Entscheidung im Fall COMP/39579 (Seite 5), abrufbar auf Englisch unter http://ec.europa.eu/competition/antitrust/ cases/dec_docs/39579/39579_2633_5.pdf. 59 Joshua, ELRev 1983, 3 (5). 60 EuGH, Urteil v. 17.10.1989, Rs. 85/87, Dow Benelux NV/Kommission, Slg. 1989, 3137, Rdnr. 27. 58
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Wartezeit muss ausreichend und angemessen sein, darf aber die Nachprüfung nicht unnötig vereiteln. Der Nachprüfungsauftrag oder die Nachprüfungsentscheidung müssen unbedingt den Gegenstand und den Zweck der Nachprüfung angeben, auf die Sanktionen hinweisen, die die Kommission bei Zuwiderhandlungen gegen die sich im Rahmen der Nachprüfung ergebenden Pflichten ergreifen kann61, und ferner den Zeitpunkt des Beginns der Nachprüfung festlegen und eine Rechtsmittelbelehrung beinhalten62. Die Angabe dieser Tatsachen im Text des Auftrags oder der Entscheidung soll es den Unternehmen ermöglichen, die Berechtigung der Nachprüfung nachzuvollziehen und ihre Mitwirkungspflicht (im Fall der Anordnung durch Entscheidung) zu erkennen. Vor allem dient aber die Angabe dieser zwingend vorgeschriebenen Bestandteile des Auftrags oder der Entscheidung dazu, die Verteidigungsrechte des Unternehmens zu wahren63. Nur wenn das Unternehmen sich im Klaren über Zweck und Gegenstand der Nachprüfung ist, kann es effektiv seine Verteidigungsrechte wahrnehmen. Dem Text des Nachprüfungsauftrags bzw. der Nachprüfungsentscheidung muss möglichst genau zu entnehmen sein, auf welche Punkte sich die Nachprüfung bezieht. Die Kommission muss natürlich nicht alle ihre „Karten“ offen legen; dennoch muss sie eindeutig machen, welchen Vermutungen sie nachzugehen beabsichtigt. Es ist der Kommission verboten, ausforschende Nachprüfungen („fishing expeditions“) durchzuführen64. Die Nachprüfung muss als Grundlage einen konkreten Verdacht für ein wettbewerbsrechtswidriges Verhalten haben. Die in Art. 20 Abs. 4 VO 1/2003 niedergelegte Erforderlichkeit der Angabe von Gegenstand und Zweck der Nachprüfung in der Nachprüfungsentscheidung ergibt sich aus Art. 296 AEUV (ex Art. 253 EGV), der die Begründungpflicht für alle Rechtsakte der EU-Organe statuiert. Aus dem Text der Nachprüfungsentscheidung müssen alle Tatsachen hervorgehen, von denen die Rechtmäßigkeit der Entscheidung abhängig ist, sowie alle Erwägungsgründe, die zum Erlass der Entscheidung geführt haben. Die Begründung muss der Natur des betreffenden Rechtsakts entsprechen und die Erwägungen der Kommission eindeutig wiedergeben, so dass der Adressat die Gründe für den Erlass der Entscheidung nachvollziehen kann und die Unionsgerichte ihre Prüfungsaufgabe wahrnehmen können. Daraus folgt, dass der Umfang der Begründungspflicht von Nachprüfungsentscheidungen nicht wegen Erwägungen eingeschränkt werden darf, die sich auf die Wirksamkeit der Ermittlungshandlungen der Kommission beziehen65. 61
Art. 20 Abs. 3 VO 1/2003. Art. 20 Abs. 4 VO 1/2003. 63 So EuGH, Urteil v. 21.9.1989, verb. Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rdnr. 29. 64 Siehe EuG, Urteil v. 14.11.2012, Rs. T-135/09, Nexans France und Nexans/Kommission, Rdnr. 64 ff.; Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 20 VO 1/2003, Rdnr. 7. 65 EuGH, Urteil v. 17.10.1989, Rs. 85/87, Dow Benelux NV/Kommission, Slg. 1989, 3137, Rdnr. 8. 62
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Unrechtmäßige Handlungen der Kommissionsbediensteten oder der Vertreter der nationalen Wettbewerbsbehörde, die Amtshilfe leistet, während der Nachprüfung haben keinen Einfluss auf die Gültigkeit der Nachprüfungsentscheidung als solche, aber nur auf die Verwertbarkeit der mit diesen Handlungen erlangten Beweisstücke66. Als Beginn der Nachprüfung gilt der Zeitpunkt, zu dem das Unternehmen sich bereit erklärt, die durch einfachen schriftlichen Auftrag angeordnete Nachprüfung zu dulden, oder, falls die Nachprüfung durch eine Entscheidung angeordnet wurde, der Zeitpunkt, in dem die Nachprüfungsentscheidung zugestellt wurde. Praktisch beginnt die Nachprüfung mit der Aushändigung der Entscheidung am Tag der Nachprüfung. Wird die Nachprüfung durch Entscheidung angeordnet, muss der Zeitpunkt des Beginns der Nachprüfung im Text der Entscheidung angegeben sein67. Nach dem Abschluss der Nachprüfung ist es der Kommission und ihren Bediensteten verboten, auf Grundlage desselben Nachprüfungsauftrags oder derselben Nachprüfungsentscheidung zu einem späteren Zeitpunkt eine erneute Nachprüfung durchzuführen. Ist eine Nachprüfung endgültig abgeschlossen, muss die Kommission für weitere Nachprüfungshandlungen eine neue Entscheidung erlassen68. Es gibt keine Regelung über die mögliche Höchstdauer einer Nachprüfung. Aus Art. 20 Abs. 2 Buchst. d VO 1/2003, der die Möglichkeit der Versiegelung von Räumlichkeiten und Unterlagen vorsieht, ergibt sich, dass es wohl möglich ist, dass eine Nachprüfung sich über mehrere Tage hinwegzieht. Die Dauer der Nachprüfung hängt von der Komplexität des jeweiligen Falles ab. Die Nachprüfung muss jedoch grundsätzlich so wenig wie möglich in den Betriebsablauf eines Unternehmens eingreifen. Eine Nachprüfung, die mehrere Tage dauert, kann nur schwerlich mit diesem Grundsatz in Einklang gebracht werden. Auf jeden Fall kann eine lange Nachprüfungsdauer in Bezug auf ihre Verhältnismäßigkeit gerichtlich geprüft werden. 4. Amtshilfe der nationalen Wettbewerbsbehörde Art. 20 Abs. 5 VO 1/2003 statuiert die Pflicht der nationalen Wettbewerbsbehörde, in deren Hoheitsgebiet die Nachprüfung durchgeführt werden soll, bei Bedarf die Nachprüfung aktiv zu unterstützen. Die Vorschrift des Art. 20 Abs. 5 VO 1/2003 räumt der Kommission die Möglichkeit ein, auf die personellen Ressourcen der nationalen Wettbewerbsbehörden zurückzugreifen, falls ihre eigenen Bediensteten nicht ausreichen oder sie nicht über die erforderlichen Sprach- oder Spezialkenntnisse (wie zum Beispiel IT-Kenntnisse) verfügen69. 66
de Bronett, Art. 20 VO 1/2003, Rdnr. 9. Art. 20 Abs. 4 S. 2 VO 1/2003. 68 de Bronett, Art. 20 VO 1/2003, Rdnr. 6. 69 de Bronett, Art. 20, Rdnr. 38. 67
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Die Bediensteten der nationalen Wettbewerbsbehörde, die einer Nachprüfung beistehen, verfügen gemäß Art. 20 Abs. 5 VO 1/2003 die in Art. 20 Abs. 2 VO 1/2003 genannten Nachprüfungsbefugnisse. Das bedeutet, dass auch ihre Ermittlungshandlungen dem EU-Kartellverfahrensrecht unterliegen70. Die in Art. 20 Abs. 2 Buchst. e) VO 1/2003 vorgesehene Befugnis der Kommission, von Unternehmensmitarbeitern Erläuterungen zu verlangen, kann aber nicht durch Unterstützung des Mitgliedstaats durchgesetzt werden, da die Unternehmensmitarbeiter nicht durch unmittelbaren Zwang zur Zusammenarbeit verpflichtet werden dürfen71. Im Falle, dass sich ein Unternehmen einer Nachprüfung widersetzt, muss der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Nachprüfung durchgeführt werden soll, gemäß Art. 20 Abs. 6 VO 1/2003 auf Verlangen der Kommission Amtshilfe leisten. Als Unterstützung wird in diesem Fall der Einsatz der Polizei oder einer entsprechenden vollziehenden Behörde verstanden. Die Amtshilfe soll der Kommission ermöglichen, ihren Prüfungsauftrag effektiv durchzuführen72. Die von den Mitgliedstaaten zu ergreifenden Maßnahmen zielen also darauf ab, den Widerstand des Unternehmens zu beugen und einen Zustand zu schaffen, als ob es seiner Pflicht zur Duldung der Nachprüfung unverzüglich, ununterbrochen und voll ständig nachkommen würde73. Da der Einsatz von nationalen Vollzugsorganen einen besonders schweren Eingriff in die Rechte des Adressaten der Nachprüfungsentscheidung darstellt, sehen die nationalen Rechtsordnungen oft besondere Verfahrensgarantien für einen solchen Eingriff vor. Dieser Tatsache trägt Art. 20 Abs. 7 VO 1/2003 Rechnung, der die Amtshilfe des Mitgliedstaats unter den Vorbehalt der vorherigen Einholung einer gerichtlichen Genehmigung stellt, wenn nach nationalem Recht eine erforderlich ist. Die Genehmigung kann auch vorsorglich beantragt werden, wenn die Kommission vermutet, dass es mit einem Widerstand des Unternehmens gegen die Nachprüfung zu rechnen ist. Der Inhalt und die Reichweite der Kontrolle der beantragten Zwangsmaßnahme durch das nationale Gericht wird in Art. 20 Abs. 8 VO 1/2003 definiert, der das Kondensat der Rechtsprechung der Unionsgerichten darstellt, wie sie sich insbesondere aus den Urteilen „Hoechst“74 und „Roquette Frères“75 ergeben. Die Kommission muss dem nationalen Gericht, bei dem die Genehmigung der Amtshilfe beantragt wurde, alle Informationen zur Verfügung stellen, die dem Gericht 70
de Bronett, Art. 20, Rdnr. 39. de Bronett, Art. 20, Rdnr. 40. 72 Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 20 VO 1/2003, Rdnr. 83. 73 de Bronett, Art. 20, Rdnr. 40. 74 Siehe EuGH, Urteil v. 21.9.1989, verb. Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rdnr. 35. 75 Siehe EuGH, Urteil v. 22.10.2002, Rs. C-94/00, Roquette Frères/Directeur général de la concurrence, de la consommation et de la répression des fraudes, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 35. 71
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erlauben werden, die die Nachprüfung anordnende Entscheidung zu prüfen. Dabei ist zu beachten, dass die Prüfungsbefugnis des nationalen Gerichts gemäß Art 20 Abs. 8 eingeschränkt ist. Das nationale Gericht prüft nur die Echtheit der Kommissionsentscheidung und vergewissert sich, dass die beabsichtigten Zwangsmaßnahmen weder willkürlich, noch unverhältnismäßig sind. Die Verhältnismäßigkeit wird geprüft, indem man die beabsichtigten Zwangsmaßnahmen in Bezug auf den Gegenstand der Nachprüfung abwägt76. Das Gericht darf nicht die Notwendigkeit der von der Kommission angeordneten Nachprüfung beurteilen. Die Rechtmäßigkeitskontrolle dieser Entscheidung gehört zur ausschließlichen Zuständigkeit der Unionsgerichte. Das nationale Gericht muss aber prüfen, ob die Entscheidung der Kommission echt ist und sich vergewissern, dass die beabsichtigten Zwangsmaßnahmen nicht willkürlich sind und dass sie in Bezug auf den Gegenstand der Nachprüfung verhältnismäßig sind77. Es handelt sich aber um eine eingeschränkte Verhältnismäßigkeitsprüfung, da das nationale Gericht nicht die Erforderlichkeit der Nachprüfung in Frage stellen darf78. Ferner muss das nationale Gericht dafür sorgen, dass die Verfahrensgarantien seiner Rechtsordnung bei der Durchführung der beantragten Zwangsmaßnahmen in vollem Umfang geachtet werden. Aber auch im Fall eines Richtervorbehalts muss die nationale Rechtsordnung aus Gründen der Effizienz der EU-Rechtsordnung und des Vorrangs des EU-Rechts derart ausgestaltet sein, dass das zuständige Gericht die Durchführung der Zwangsmaßnahme genehmigt, wenn es die formelle Gültigkeit der Nachprüfungsentscheidung und den nicht willkürlichen und verhältnismäßigen Charakter der beantragten Zwangsmaßnahme festgestellt hat79. Zur Beurteilung der beabsichtigten Nachprüfung kann das nationale Gericht ausführliche Erläuterungen zum Gegenstand der Nachprüfung von der Kommission oder von der nationalen Wettbewerbsbehörde verlangen. Die Kommission (und gegebenenfalls die nationale Wettbewerbsbehörde) müssen dem nationalen Gericht sämtliche für die Beurteilung der beantragten Nachprüfung erforderliche Informationen übermitteln. Gemäß Art. 20 Abs. 8 Satz 3 VO 1/2003 darf dennoch das nationale Gericht nicht die Übermittlung der in den Akten der Kommission enthaltenen Informationen verlangen. Dieses Verbot kann so ausgelegt werden, dass dem nationalen Gericht nicht erlaubt ist, die vollständige Übermittlung der Akte der Kommission zu beantragen. Bezüglich des Umfangs der Informationen, deren Übermittlung das nationale Gericht anfordern kann, hat der EuGH präzisiert, dass sie sich auf die wesentlichen Merkmale des behaupteten Verstoßes, auf die Mitwirkung des von der Nachprüfung betroffenen Unternehmens am Verstoß,
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Vgl. Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 20 VO 1/2003, Rdnr. 87. Art. 20 Abs. 8 VO 1/2003. 78 Vgl. de Bronett, Art. 20, Rdnr. 44. 79 EuGH, Urteil v. 21.9.1989, verb. Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rdnr. 35. 77
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§ 5 Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht § 5Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht
auf die Informationen und Indizien der Kommission, die ihren Verdacht begründen, und auf den Zweck der Nachprüfung beziehen können80. Die Amtshilfe des Mitgliedstaates kann auch im Nachhinein beantragt werden, nachdem die Bediensteten der Kommission festgestellt haben, dass sich das Unternehmen, gegen das der Durchsuchungsbeschluss angeordnet wurde, der Nachprüfung widersetzt. Die Kommissionsbediensteten nehmen das Verhalten des Unternehmens in ihr Protokoll auf, das weiterhin der zuständigen Behörde vorgelegt wird und auf dessen Grundlage die Unterstützung des Mitgliedstaats bei der Durchführung der Nachprüfung ersucht wird. Dieses Protokoll bildet die Grundlage für die Entscheidung der zuständigen nationalen Behörde, ob die Voraussetzungen für die Leistung der Amtshilfe vorhanden sind. Ist das der Fall, trifft der Mitgliedstaat die notwendigen Maßnahmen, damit die Bediensteten der Kommission und ihre Begleitpersonen ihren Nachprüfungsauftrag problemlos erfüllen können.
II. Nachprüfungen in anderen Räumlichkeiten gemäß Art. 21 VO 1/2003 Die mit Art. 21 VO 1/2003 eingeführte Möglichkeit der Kommission, Durchsuchungen auch in anderen Räumlichkeiten außerhalb der Geschäftsräume der Unternehmen durchzuführen, stellt eine wesentliche Erweiterung ihrer Ermittlungsbefugnisse dar, da in der alten Kartellverfahrensverordnung 17/62 eine solche Befugnis nicht vorgesehen war. Grund der Einführung von Art. 21 VO 1/2003 war die aus der Ermittlungspraxis gewonnene Erkenntnis der Kommission, dass wichtige Unterlagen und Schriftstücke, die als Beweismittel in einem Kartellverfahren dienen können, oft und aus Angst einer möglichen kartellrechtlichen Nachprüfung nicht in den Betriebsräumlichkeiten eines Unternehmens, sondern in den Privatwohnungen von Mitarbeitern des Unternehmens aufbewahrt wurden81. Die Möglichkeit der Durchführung von Durchsuchungen in privaten Räumlichkeiten ist nicht nur ein sehr wichtiges Instrument für die Aufdeckung von Kartellverstößen, sondern stellt gleichzeitig einen schweren Eingriff in die grundrechtlich geschützte Sphäre der Privatwohnung dar. Aus diesem Grund ist die Anordnung einer solchen Nachprüfung nur unter der Erfüllung von strengen Voraussetzungen erlaubt, die in Art. 21 Abs. 2 und 3 VO 1/2003 festgelegt werden. Eine Durchsuchung in einer privaten Räumlichkeit kann nicht aus Anlass eines jedweden Verstoßes gegen Art. 101 oder Art. 102 AEUV angeordnet werden. Ein begründeter Verdacht ist vielmehr erforderlich, dass ein schwerer Verstoß gegen 80 EuGH, Urteil v. 22.10.2002, Rs. C-94/00, Roquette Frères/Directeur général de la con currence, de la consommation et de la répression des fraudes, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 99. 81 Vgl. Erwägungsgrund 1 der VO 1/2003.
A. Erweiterte Nachprüfungsbefugnisse der Kommission gemäß VO 1/2003
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Art. 101 oder Art. 102 AEUV vorliegt und dass Dokumente oder Geschäftsunterlagen, die als Beweismittel für diesen schweren Verstoß dienen können, in anderen Räumlichkeiten aufbewahrt werden82. Der Begriff „schwerer Verstoß“ wird in der Verordnung nicht näher definiert. Man kann jedoch unter Hinweis auf die Leitlinien der Kommission für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen83 annehmen, dass Preiskartelle, Marktaufteilungsabsprachen und Marktabschottungspraktiken sowie Submissionsabsprachen als schwerwiegende Wettbewerbsverstöße gelten. Da es sich aber bei der Nachprüfung in einer privaten Räumlichkeit um einen schwerwiegenden Eingriff in grundrechtliche Positionen des Einzelnen handelt, muss das Tatbestandsmerkmal „schwerer Verstoß“ eng ausgelegt werden84. Ferner ist es für die Zulässigkeit einer Durchsuchung in einer privaten Räumlichkeit erforderlich, dass sie durch eine vorherige Entscheidung der Kommission angeordnet wird. Ein Nachprüfungsauftrag im Sinne von Art. 20 Abs. 3 VO 1/2003 reicht also nicht aus. In der Entscheidung müssen Gegenstand und Zweck, der Zeitpunkt der Nachprüfung sowie die Gründe, die die Kommission zum Erlass der Entscheidung veranlasst haben, angegeben werden. Die Nachprüfungsentscheidung kann von der Kommission nur erst nach der Anhörung der Wettbewerbsbehörde erlassen werden, in dessen Hoheitsgebiet die Durchsuchung durchgeführt werden soll85. Die Schwere des Eingriffs in das Grundrecht des Schutzes der Privatsphäre durch die Anordnung einer Durchsuchung in einer privaten Räumlichkeit wird auch dadurch deutlich, dass sie nur dann durchgeführt werden darf, wenn sie vorher vom zuständigen mitgliedstaatlichen Gericht genehmigt wurde86. Der Antrag auf Erteilung einer gerichtlichen Genehmigung wird in der Regel von der nationalen Kartellbehörde gestellt, die am Verfahren beteiligt ist, da sie vor dem Erlass der Nachprüfungsentscheidung angehört werden muss87. Aus Art. 21 Abs. 3 VO 1/2003 geht hervor, dass das den Antrag auf Genehmigung prüfende nationale Gericht über eine eingeschränkte Prüfungsbefugnis verfügt. Die Vorschrift entspricht im Allgemeinen derjenigen des Art. 20 Abs. 8 VO 1/200388, der den Prüfungsumfang des nationalen Gerichts im Falle der Genehmigung einer Durchsuchung in Geschäftsräumen regelt, stellt aber gleichzeitig der Kommission höhere Anforderungen für die Substantiierung einer Entscheidung für die Durchsuchung in einer privaten Räumlichkeit. Die Voraussetzungen, an denen die Verhältnismäßigkeit der die Nachprüfung anordnenden Entscheidung
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Art. 21 Abs. 1 VO 1/2003. ABl. EU v. 1.9.2006, C 210/2. 84 Bischke, in: MünchKommEuWettbR, Art. 21 VO 1/2003, Rdnr. 2. 85 Art. 21 Abs. 2 Satz 3 VO 1/2003. 86 Art. 21 Abs. 3 Satz 1 VO 1/2003. 87 Bischke, in: MünchKommEuWettbR, Art. 21 VO 1/2003, Rdnr. 4. 88 So auch Bischke, in: MünchKommEuWettbR, Art. 21 VO 1/2003, Rdnr. 5. 83
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§ 5 Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht § 5Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht
gemessen wird, entsprechen den Kriterien, die der EuGH im Urteil „Roquette Frères“ aufgestellt hat89 und die dann in die VO 1/2003 übernommen wurden. So darf das nationale Gericht die Echtheit der Entscheidung der Kommission sowie den unwillkürlichen Charakter und die Verhältnismäßigkeit der beabsichtigten Zwangsmaßnahmen prüfen. Die beiden letzteren werden an der Schwere des vermuteten Verstoßes, an der Wichtigkeit des gesuchten Materials, an der Beteiligung des betroffenen Unternehmens und an der begründeten Wahrscheinlichkeit gemessen, dass ermittlungsrelevante Bücher und Geschäftsunterlagen in den Räumlichkeiten aufbewahrt werden, für deren Nachprüfung die Genehmigung beantragt wird90. Es obliegt also dem nationalen Richter eigenverantwortlich zu entscheiden, ob und inwieweit die Kommission hinreichend dargelegt hat, dass die begründete Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins belastender Unterlagen in privaten Räumlichkeiten vorliegt91. Das Genehmigungsverfahren muss unabhängig davon befolgt werden, ob das nationale Recht eine entsprechende Entscheidungskompetenz des Gerichts vorsieht oder nicht92. Andererseits darf das mitgliedstaatliche Gericht weder die Notwendigkeit der Durchsuchung noch die Rechtmäßigkeit der Kommissionsentscheidung in Frage stellen. Letztere kann nur von den Unionsgerichten geprüft werden93. Trotzdem hat der nationale Richter einen größeren Beurteilungsspielraum im Vergleich zur Genehmigung einer Durchsuchung in Geschäftsräumlichkeiten, da die Voraussetzungen für das Stattgeben des Antrags qualifizierter als die in Art. 20 Abs. 8 VO 1/2003 sind94. Aus diesem Grund und aus dem Erfordernis der Darlegung von der Kommission der „begründeten Wahrscheinlichkeit“ sieht ein Teil des Schrifttums den präventiven Grundrechtsschutz der Betroffenen als hinreichend gewährleistet95, wobei andere Stimmen in der Literatur sich kritisch zu der eingeschränkten Prüfungsbefugnis des nationalen Richters äußern96. Für die Nachprüfungsbefugnis gemäß Art. 21 VO 1/2003 gilt auch das, was für die Nachprüfungskompetenz auf Grundlage von Art. 20 VO 1/2003 gilt: Sie begründet keine Befugnis zur Ergreifung von Maßnahmen unmittelbaren Zwangs97. Die Bediensteten der Kommission dürfen also keine Vollstreckungsakte vornehmen, falls der Betroffene sich der Durchsuchung widersetzt, sondern sind auf die Amtshilfe der nationalen Vollstreckungsbehörde (Polizei) angewiesen. 89 Siehe EuGH, Urteil v. 22.10.2002, Rs. C-94/00 Roquette Frères/Directeur général de la concurrence, de la consommation et de la répression des fraudes, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 39–51. 90 Art. 21 Abs. 3 VO 1/2003. 91 Nehl, in: Behrens/Braun/Nowak (Hrsg.), S. 98. 92 Nehl, in: Behrens/Braun/Nowak (Hrsg.), S. 97. 93 Art. 21 Abs. 3 Satz 4 VO 1/2003. 94 Nehl, in: Behrens/Braun/Nowak (Hrsg.), S. 98. 95 Zum Beispiel Nehl, in: Behrens/Braun/Nowak (Hrsg.), S. 98. 96 Siehe beispielsweise Bischke, in: MünchKommEuWettbR, Art. 21 VO 1/2003, Rdnr. 6. 97 Nehl, in: Behrens/Braun/Nowak (Hrsg.), S. 74.
B. Nachprüfungsbefugnisse der Kommission und das Recht auf Privatsphäre
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B. Die Nachprüfungsbefugnisse der Kommission und das Recht auf Achtung der Privatsphäre I. Art. 8 EMRK und die Nachprüfungsbefugnisse der Kommission Die Nachprüfungsbefugnisse der Kommission nach dem Systemwechsel im Kartellverfahrensrecht, wie sie insbesondere in den Artikeln 20 und 21 VO 1/2003 niedergelegt wurden, sind trotz mangelnder Befugnis zur Anwendung unmittelbaren Zwangs besonders weitreichend und stellen einen Eingriff in die grundrechtlichen Positionen der Unternehmen dar98. Es stellt sich die Frage, inwiefern die Unternehmen sich auf eine extensive Auslegung des Grundrechts der Unverletzlichkeit der Wohnung berufen können, um sich gegen diesen Eingriff in ihre Privatsphäre zu schützen. Da diese Frage sich im Kern der Problematik der Verteidigungsrechte der Unternehmen im Kartellverfahren befindet, wurde sie seit langem in der Literatur erörtert und bejaht99. Die Ausübung der sich aus Art. 20 und 21 VO 1/2003 ergebenden Nachprüfungsbefugnisse der Kommission stellt einen Eingriff ins Recht der Unverletzlichkeit der Wohnung (als Teilbereich des Grundrechts auf Achtung des Privatlebens und der Korrespondenz) dar, wie es in Art. 8 EMRK100 und in Art. 7 GRCH101 gewährleistet wird. Die Annahme eines solchen Eingriffs setzt aber voraus, dass man die Geschäftsräume eines Unternehmens unter den Begriff „Wohnung“ subsumiert, was zumindest ursprünglich vom EuGH verweigert wurde. Geht man von einer Geltung des Schutzes von Art. 8 EMRK auch für Geschäftsräume aus, wie es der EGMR in ständiger Rechtsprechung anerkennt, muss man überprüfen, inwieweit sich dieser Eingriff durch die in Art. 8 Abs. 2 EMRK niedergelegten Einschränkungsvoraussetzungen rechtfertigen lässt. Es muss also untersucht werden, ob die Nachprüfungen der Kommission in den Betriebsräumen eines Unter nehmens erforderlich in einer demokratischen Gesellschaft, von einem Gesetz vorgesehen sind und sie ein legitimes Ziel verfolgen.
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Nehl, in: Behrens/Braun/Nowak (Hrsg.), S. 74. So zum Beispiel Burrichter/Hauschild, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 14 VO 17/62, Rdnr. 17; Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 20 VO 1/2003, Rdnr. 86; Scholz, WuW 1990, 99 (101 f.). A. A. Pernice, NJW 1990, 2410 (2418). 100 Artikel 8 EMRK lautet: „(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz. (2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demo kratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straf taten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“ 101 Art. 7 EGC lautet: „Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familien lebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.“ 99
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§ 5 Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht § 5Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht
Oft haben sich Unternehmen in ihren Klagen vor den Unionsgerichten auf die weite Auslegung des Grundrechts der Unverletzlichkeit der Wohnung berufen, um die Nichtigerklärung einer Nachprüfungsentscheidung der Kommission zu erreichen. Damit haben sie den Unionsgerichten die Möglichkeit gegeben, sich zu diesem wichtigen Thema zu äußern. Der EuGH hat jedoch bis jetzt, im Gegensatz zum EGMR, die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Unverletzlichkeit der Wohnung auf Geschäftsräume offen gelassen102. Es soll nun untersucht werden, inwieweit Art. 7 GRCH eine solche weite Auslegung des Grundrechts der Unverletzlichkeit der Wohnung gebietet.
II. Art. 7 GRCH und die Nachprüfungsbefugnisse der Kommission 1. Der Regelungsgehalt von Art. 7 GRCH Vor der Verabschiedung der Charta der Grundrechte der EU gab es im EU-Recht keine ausdrückliche Grundlage für den Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung. Umso weniger gab es eine Rechtsgrundlage, auf die man sich stützen könnte, um einen Verstoß gegen die Unverletzlichkeit von Geschäftsräumen geltend zu machen. Das liegt an der ursprünglich primär wirtschaftlichen Ausrichtung der Rechtsordnung der (damaligen) Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die den den Mitgliedstaaten vorenthaltenen Bereich des Grundrechtsschutz nicht unmittelbar berührte. Die Grundrechtsschutzlücke hat der EuGH mit seiner Rechtsprechung zum Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung gefüllt103, bevor mit Art. 7 GRCH eine Grundlage für den Schutz der Privatsphäre im EU-Primärrecht geschaffen wurde104. Als Vorbild der in Art. 7 GRCH enthaltenen Regelung diente Art. 8 der EMRK, wie es sich aus den Erläuterungen zur Grundrechtecharta105 ergibt106. Aufgrund der 102 Siehe zum Beispiel EuGH, Urteil v. 22.10.2002, C-94/00, Roquette Frères SA/Directeur général de la concurrence, de la consommation et de la répression des fraudes, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 29, wo der EuGH in ähnlicher Weise wie in Bezug auf das Recht, nicht gezwungen zu werden, sich selbst zu belasten, die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR zum wesentlichen Element bei der Festlegung der Tragweite des Rechts auf Achtung der Privatsphäre erhebt, dennoch sich nicht dazu veranlasst sieht, die eigene Rechtsprechung an die Judikatur des EGMR anzupassen. 103 Siehe EuGH, Urteil v. 21.9.1989, Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rdnr. 17. 104 Als „Vorgänger“ von Art. 7 EGC könnte man Art. 6 der Erklärung des Europäischen Parlaments vom 12. April 1989 (ABl. EG 1989, C120/51) betrachten, der ein Grundrecht auf Achtung der Wohnung und unter anderem auch des privaten Postverkehrs statuiert. 105 Die Erläuterungen zur EGC haben keinen rechtlichen Status an sich, sind jedoch eine nützliche Auslegungshilfe für die Vorschriften der EGC. So die Präambel der Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. EU v. 14.12.2007, C 303/1. 106 Art. 7 EGC entspricht weitgehend dem Wortlaut von Art. 8 EMRK, mit Ausnahme von einigen redaktionellen Anpassungen, die der Modernisierung der Vorschrift dienten (Ersatz des
B. Nachprüfungsbefugnisse der Kommission und das Recht auf Privatsphäre
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Entsprechungsklausel von Art. 52 Abs. 3 GRCH, die vorsieht, dass von der Charta garantierte Grundrechte, die auch von der EMRK gewährleistet werden, die gleiche Bedeutung und Reichweite wie ihr EMRK-Pendant haben, kann man behaupten, dass der durch Art. 7 GRCH gewährte Grundrechtsschutz dieselbe Tragweite wie der durch Art. 8 EMRK angebotene Grundrechtsschutz hat. Dementsprechend kann auch der durch Art. 7 GRCH gewährte Schutz nur insoweit eingeschränkt werden, wie es die entsprechende EMRK-Vorschrift gestattet. Aus diesem Grund ist es wichtig, sich die Rechtsprechung der Unionsgerichte zum Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung anzuschauen, sie mit der entsprechenden Judikatur des Straßburger Gerichtshofs zu vergleichen und Gemeinsamkeiten und Divergenzen zu schildern. Dadurch kann man Erkenntnisse über den aus grundrechtlicher Sicht gebotenen und rechtspolitisch erwünschten Umfang des Schutzes der Unverletzlichkeit von Geschäftsräumen im EU-Kartellverfahrensrecht und über die Vereinbarkeit der Nachprüfungsbefugnisse der Kommission im Kartellverfahren mit den Schutzvorgaben von Art. 7 GRCH gewinnen. Zunächst ist anzumerken, dass das Grundrecht des Art. 7 GRCH vier unterschiedliche Teilrechte umfasst, die mit der Privatsphäre zusammenhängen107: Erstens wird durch Art. 7 GRCH das Privatleben geschützt, weiterhin gehört der Schutz des Familienlebens dazu, der sich teilweise mit dem des Privatlebens überschneidet. Ferner gilt der Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung als Teilrecht der grundrechtlichen Verbürgung von Art. 7 GRCH. Als eigenständiger Bestandteil des durch Art. 7 GRCH gewährten Schutzes erweist sich ferner der Schutz der vermittelten Kommunikation. Für die Existenz von diesen Teilrechten spricht auch die vom Präsidium des Konvents benutzte Formulierung in den Erläuterungen, in denen von „Rechten“ die Rede ist108. Dieselbe Struktur weist auch Art. 8 EMRK auf, der genauso von einem allgemeinen Grundrecht auf Achtung der Privatsphäre ausgeht, das in weitere Teilrechte aufgegliedert wird109. Es ist für die Qualität und Intensität des gebotenen Grundrechtsschutzes unerheblich, dass in beiden Vorschriften von einer „Achtung“ und nicht von einer „Gewährleistung“ des Schutzes der Unverletzlichkeit der Wohnung die Rede ist110. Beide Vorschriften gewährleisten den Schutz des Einzelnen gegen willkürliche Eingriffe der öffentlichen Gewalt in seine Privatsphäre, wobei dieser Schutz keine absolute Geltung beanspruchen kann, da er oft mit anderen gleichrangigen Schutzgütern kollidiert. Deswegen ist eine Abwägung erforderlich.
Begriffs „Korrespondenz“ durch den Begriff „Kommunikation“). So die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents. 107 Jarass, S. 151, Rdnr. 1. 108 ABl. EU vom 14.12.2007, C 303, S. 17–35. 109 Grabenwarter/Pabel, § 22, Rdnr. 5. 110 In diese Richtung gehend Tettinger, in: Stern/Tettinger, Art. 7, Rdnr. 5.
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§ 5 Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht § 5Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht
Aus der Tatsache, dass Art. 7 GRCH dem Schutzgehalt von Art. 8 EMRK entspricht111, ergibt sich bei der Auslegung von Art. 7 GRCH die Notwendigkeit einer engen Orientierung an der Rechtsprechung des EGMR112, was besonders wichtig für die hier durchgeführte Analyse ist, da, wie bereits oben kurz angesprochen, die EuGH-Rechtsprechung von der EGMR-Judikatur abweicht und da die Rechtsprechung der Unionsgerichte immer noch keine eindeutige Antwort darauf gegeben hat, inwieweit das Recht auf Achtung der Privatsphäre auch auf Geschäfts- und Betriebsräume anwendbar ist113. Von den Teilrechten des Rechts auf Achtung des Privatlebens hat der Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung besondere Bedeutung für den Bereich des EU-Kartellverfahrensrechts, worauf sich die nachfolgende Analyse konzentrieren wird. Zu untersuchen ist, inwieweit unter dem Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung auch die Unverletzlichkeit der Geschäftsräume subsumiert werden darf und ob sich Unternehmen im EU-Kartellverfahren auf einen solchen Schutz berufen können, um einen Missbrauch der Nachprüfungsbefugnisse der Kommission geltend zu machen. Als Wohnung im Sinne von Art. 7 GRCH werden alle Räume definiert, die der allgemeinen Zugänglichkeit durch eine räumliche Abschottung entzogen und zur Stätte privaten Lebens und Wirkens gemacht sind114. Die Gewährung des Grundrechts dient dazu, jedermann einen privaten räumlichen Bereich, ein „Rückzugsgebiet“ zu gewährleisten, in dem er unbeeinflusst von äußeren Vorgaben und Normen nach seinen persönlichen Vorstellungen leben kann115. Unklar ist jedoch, ob auch Geschäfts- und Betriebsräume als Wohnung zu verstehen sind und durch den Schutzbereich der Vorschrift erfasst werden. In der Literatur geht die hohe Meinung davon aus, dass zu den Grundrechtsträgern von Art. 7 GRCH nicht nur die natürlichen, sondern auch die juristischen Personen gehören und dass letztere sich auf den Schutz ihrer Privatsphäre berufen können116. Geht man von einer Grundrechtsträgerschaft von juristischen Personen in Bezug auf das Recht auf Achtung der Privatsphäre aus, muss man konsequenterweise auch den Schutz der Unverletzlichkeit von Geschäfts- und Betriebsräumlichkeiten durch Art. 7 GRCH bejahen, da der Hauptsitz eines Unternehmens eine entsprechende Funktion wie die Wohnung für natürliche Personen aufweist. 111 So EuGH, Urteil v. 14.2.2008, Rs. C-450/06, Varec S. A./Belgischer Staat, Slg. 2008, I-581, Rdnr. 48. 112 Tettinger, in: Stern/Tettinger, Art. 7, Rdnr. 7. 113 Siehe EuGH, Urteil v. 14.2.2008, Rs. C-450/06, Varec S. A./Belgischer Staat, Slg. 2008, I-581, Rdnr. 48, wo der EuGH die Auffassung vertrat, dass insbesondere in Anbetracht der EGMR-Rechtsprechung zum Recht auf Achtung der Privatsphäre nicht ausgeschlossen werden kann, dass die beruflichen und geschäftlichen Tätigkeiten natürlicher und juristischer Personen vom Schutzbereich des Art. 7 EGC ausgeschlossen sind. 114 Jarass, S. 163, Rdnr. 33. 115 Grabenwarter/Pabel, § 22, Rdnr. 23. 116 Tettinger, in: Stern/Tettinger, Art. 7, Rdnr. 9.
B. Nachprüfungsbefugnisse der Kommission und das Recht auf Privatsphäre
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Der Schutz der Unverletzlichkeit von Geschäfts- und Betriebsräumlichkeiten ist der bedeutendste Aspekt des Grundrechts auf Achtung der Privatsphäre für die Unternehmen im Rahmen des EU-Kartellverfahrens. Es ist allerdings kein Zufall, dass die meisten Gelegenheiten, die dem EuGH angeboten wurden, sich zur Geltung des Grundrechts der Unverletzlichkeit der Wohnung auch für Betriebsräumlichkeiten zu äußern, aus Fällen entsprangen, in denen die Rechtmäßigkeit von kartellrechtlichen Ermittlungsmaßnahmen der Kommission gerügt wurde. 2. Das Verhältnis zwischen Art. 7 GRCH und den Nachprüfungsbefugnissen der Kommission Jede Durchsuchungsmaßnahme der öffentlichen Gewalt muss im Lichte des Schutzes der Privatsphäre und der Unverletzlichkeit der Wohnung beurteilt werden. Bis zur Einführung der Möglichkeit von Nachprüfungen in anderen Räumlichkeiten als Geschäftsräumen durch Art. 21 VO 1/2003, hatte das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Privatwohnung eine eher geringe praktische Bedeutung im EU-Kartellverfahren, da die Nachprüfungsbefugnisse der Kommission gemäß Art. 14 Abs. 1 VO 17/62 auf Unternehmensräumlichkeiten beschränkt waren117. Dafür spricht auch die Tatsache, dass sich der EuGH erst 1989 im Urteil „Hoechst“ zum ersten Mal mit der Reichweite des Schutzes der Unverletzlichkeit der Wohnung im EU-Kartellverfahren befasst hat. Es dürfte aber insofern unstreitig sein, dass bei Nachprüfungen im Rahmen des Art. 21 VO 1/2003 das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Privatwohnung Geltung beansprucht. Das bedeutet, dass Eingriffe in die Privatsphäre einer Person aufgrund dieser Vorschrift nur dann als rechtmäßig und gerechtfertigt anzusehen sind, wenn sie die Voraussetzungen des Art. 8 EMRK und insbesondere seines zweiten Absatzes entsprechen. Der Eingriff muss also einen legitimen Zweck verfolgen und verhältnismäßig sein. Ferner muss er gesetzlich vorgesehen sein, in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und erforderlich für das wirtschaftliche Wohl des Landes oder die Aufrechterhaltung der Ordnung sein. Die Heranziehung von Art. 8 EMRK und der relevanten EGMR-Rechtsprechung für die Konkretisierung des Schutzbereichs und der Schranken ergibt sich aus Erwägungsgrund 37 der VO 1/2003, Art. 7 und 52 Abs. 3 GRCH. Der Schutz der Privatsphäre begründet ein Abwehrrecht des Einzelnen gegen staatliche Durchsuchungsmaßnahmen, die einen Eingriff in die Privatsphäre darstellen und nicht die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen eines solchen Eingriffs erfüllen. Unter den Begriff „Wohnung“ im Sinne von Art. 7 GRCH und Art. 8 Abs. 1 EMRK, deren Unverletzlichkeit geschützt wird, fallen sämtliche Räumlichkeiten, denen eine gewisse Privatsphäre anhaftet118. Die Vorschrift gewährleistet den 117
So Vocke, S. 77. Berndorff, in: Meyer (Hrsg.), Art. 7 GrCh, Rdnr. 22; ähnlich H.-D. Jarass, Art. 7, Rdnr. 35.
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§ 5 Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht § 5Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht
Schutz jeder für Wohnungszwecke genutzten Sphäre des privaten Lebensraums, deswegen können in den Schutzbereich sowohl wohnungsnahe Gebäude und Gebäudeteile (Garage, Keller) als auch Flächen im Freien (Innenhöfe) sowie Hausboote oder Wohnwagen einbezogen werden119.
III. Die Rechtsprechung des EGMR bezüglich der Unverletzlichkeit von Geschäftsräumen Im Gegensatz zu den Unionsgerichten, die unter das Grundrecht auf Achtung der Privatsphäre nur Privatwohnungen natürlicher Personen subsumieren, gewährt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den durch Art. 8 EMRK gebotenen Schutz der Privatsphäre auch juristischen Personen in Bezug auf ihre Geschäftsräume. Diese EGMR-Rechtsprechung ist nicht nur Ausfluss der dynamischen Auslegung der EMRK, die vom EGMR als ein „lebendes Instrument“ („living instrument“) betrachtet wird, um den durch sie angebotenen Schutz zu maximieren, sondern liegt auch zum Teil am in der französischen Fassung der EMRK verwendeten Begriff „domicile“, der eine weite Auslegung der Vorschrift von Art. 8 EMRK erlaubt120. Es erscheint zweckmäßig, die Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR in Bezug auf die Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK auf Geschäftsräume kurz zu schildern. 1. Das Urteil „Chappell“ Zum ersten Mal bot sich dem EGRM im Fall Chappell121 von 1989 die Möglichkeit, sich mit der Frage der Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK auf Geschäftsräume zu äußern. Der Beschwerdeführer, ein britischer Bürger, machte eine Verletzung von, unter anderem, Art. 8 EMRK geltend, da gleichzeitig von der englischen Polizei und von einem Detektiv in Zusammenarbeit mit einem Rechtsanwalt („solicitor“) Räumlichkeiten durchsucht worden, die dem Beschwerdeführer gleichermaßen als Wohn- und Geschäftsräume dienten. Die Europäische Kommission für Menschenrechte (im Folgenden „EKMR“) ließ in ihrer Stellungnahme offen, ob Geschäftsräume ausdrücklich unter den Schutz der Wohnung fallen122. Der Gerichtshof für Menschenrechte setzte sich nicht mit der Frage auseinander, ob Art. 8
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Grabenwarter/Pabel, § 22, Rdnr. 22. Vgl. EGMR, Urteil v. 16.4.2002, Beschwerdenr. 37971/97, Société Colas Est u. a./.Frankreich, Ziff. 40. 121 EGMR, Urteil v. 30.3.1989, Beschwerdenr. 10461/83, Urteil v. 30 März 1989, Chappell./. Vereinigtes Königreich. 122 Siehe die Stellungnahme der Kommission für Menschenrechte, veröffentlicht in: Arrêts et décisions, Série A-152, S. 29, Ziff. 96. 120
B. Nachprüfungsbefugnisse der Kommission und das Recht auf Privatsphäre
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EMRK auch Betriebsräumlichkeiten schützt, aber stellte fest, dass keine Verletzung von Art. 8 EMRK vorlag123. Aufgrund der Tatsache, dass der EGMR die Beschwerde nicht als unbegründet zurückwies, könnte man behaupten, dass er implizit den Schutz von Geschäftsräumen durch Art. 8 EMRK anerkannte. Andererseits ist es nicht ganz von der Hand zu weisen, dass im Fall Chappell die Privatwohnung als Geschäftsraum diente, wodurch die vorangegangene Vermutung relativiert wird. Fest steht aber, dass der Bericht der EKMR zum Fall Chappell zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in der Rs. Hoechst vor dem EuGH den Richtern in Luxemburg bereits zur Verfügung stand. Aus diesem Grund wurde argumentiert, dass der EuGH nicht gehindert war, zugunsten eines weiten Schutzes der räumlichen Privatsphäre gegenüber hoheitlichen Eingriffen zu urteilen124. Aber weder der Bericht der EKMR noch das Urteil des EGMR im Fall Chappell lassen eine konkrete Feststellung über die Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK auf Geschäftsräume zu. 2. Das Urteil „Niemietz“ Die ausdrückliche Anerkennung des Schutzes von Arbeits- und Geschäftsräumen durch Art. 8 EMRK folgte drei Jahre später, im Urteil Niemietz125, in dem der Straßburger Gerichtshof feststellte, dass auch Geschäftsräume unter den Schutz des Privatsphäre fallen. Im Fall Niemietz handelte es sich um die Durchführung einer Nachprüfung in einer Rechtsanwaltskanzlei. Nach Auffassung des EGMR erfasst die Achtung des Privatlebens bis zu einem gewissen Grad das Recht der Gründung und Entwicklung von Beziehungen zu anderen Menschen. Daraus folgt, dass es grundsätzlich keinen Grund gibt, die Berufs- oder Arbeitsaktivitäten vom Begriff des „Privatlebens“ auszuklammern, da die meisten Menschen während der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit die größte Möglichkeit bekommen, Kontakte mit der Außenwelt zu knüpfen126. Der Gerichtshof hat ferner ausgeführt, dass es nicht immer möglich ist, eindeutig zwischen privater und beruflicher Tätigkeit zu unterscheiden. Der EGMR hat seine Aussage unter anderem dadurch begründet, dass andernfalls ungleiche Behandlung dadurch entstehen würde, dass viele selbstständige Personen auch in ihren Privatwohnungen arbeiten oder in ihren Arbeitsräumen einen Teil ihres Privatlebens verbringen und dadurch die Grenzen zwischen Privatwohnung und Arbeitsplatz oft verschwimmen127.
123 EGMR, Urteil v. 30.3.1989, Chappell./.Vereinigtes Königreich, Beschwerdenr. 10461/83, Ziff. 67. 124 Marauhn, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), § 19, Rdnr. 25, S. 18. 125 EGMR, Urteil v. 16.12.1992, Beschwerdenr. 13710/88, Niemietz./.Deutschland. 126 EGMR, Urteil v. 16.12.1992, Beschwerdenr. 13710/88, Niemietz./.Deutschland, Ziff. 29. 127 EGMR, Urteil v. 16.12.1992, Beschwerdenr. 13710/88, Niemietz./.Deutschland, Ziff. 29.
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§ 5 Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht § 5Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht
Der Straßburger Gerichtshof hat im Niemietz-Urteil auch auf die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts128 Bezug genommen, das in ständiger Rechtsprechung hält, dass Art. 13 Abs. 1 GG auch die Unverletzlichkeit von Betriebsräumlichkeiten schützt129. Eine Ausdehnung des durch Art. 8 EMRK gebotenen Schutzes wäre nicht nur deswegen geboten, weil die Rechtsordnungen von einigen Konventionsparteien bereits einen solchen Schutz gewähren, sondern auch, weil eine weite Auslegung dem Hauptzweck dieser EMRK-Vorschrift dienen würde, das Individuum gegen jeden willkürlichen Eingriff der staatlichen Hoheitsgewalt zu schützen130. Eine solche weite Auslegung des Schutzes des Privatlebens, so dass der Begriff des Privatlebens auch die Geschäftsräume einschließt, würde die Interessen der Konventionsparteien nicht besonders beeinträchtigen, da sie immer noch dazu befugt wären, unter den Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 EMRK in das Recht auf Achtung des Privatlebens einzugreifen. Der EGMR stellte klar, dass die Eingriffsmöglichkeit der staatlichen Hoheitsgewalt weit gefasster im Falle einer Geschäftsräumlichkeit oder eines Arbeitsraums als im Fall einer Privatwohnung sein kann131. Mit dem Urteil in der Rechtssache Niemietz und die explizite Anerkennung der Geltung von Art. 8 EMRK auch für Geschäftsräume machte der EGMR einen wichtigen Schritt für ein höheres Grundrechtsschutzniveau in Bezug auf die Achtung des Privatlebens. Könnte man bezüglich des Urteils Chappell einwenden, dass es sich um die Nachprüfung in einer Räumlichkeit mit gemischtem Charakter handelte, greift dieser Einwand für den Fall Niemietz nicht mehr durch, da die Räumlichkeit, in der die Nachprüfung durchgeführt wurde, eine Rechtsanwaltskanzlei war. Jedoch waren die Beschwerdeführer sowohl im Fall Chappell als auch im Fall Niemietz natürliche Personen. Es war immer noch nicht vollständig geklärt, inwieweit sich auch juristische Personen auf das Recht auf Achtung des Privatlebens für den Schutz ihrer Betriebsräumlichkeiten berufen könnten. Eine Klärung dieser Frage fand erst im Urteil Société Colas Est132 im Jahr 2002 statt. An dieser Stelle und bevor man das Augenmerk auf das Urteil Société Colas Est richtet, ist es nützlich auf einen nicht unbedeutenden Unterschied in der Entwicklung der Recht sprechung des EGMR und des EuGH hinzuweisen. Obwohl die Unionsgerichte von früh an mit Sachverhalten zu tun hatten, in denen die Rechtmäßigkeit von Nachprüfungen in Betriebsräumlichkeiten beanstandet wurde, wurde dem EGMR 128 Insbesondere auf die Entscheidung vom 13. Oktober 1971, Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 32, S. 54. 129 EGMR, Urteil v. 16.12.1992, Beschwerdenr. 13710/88, Niemietz./.Deutschland, Ziff. 18 und 30. 130 EGMR, Urteil v. 16.12.1992, Beschwerdenr. 13710/88, Niemietz./.Deutschland, Ziff. 31. 131 EGMR, Urteil v. 16.12.1992, Beschwerdenr. 13710/88, Niemietz./.Deutschland, Ziff. 31. 132 EGMR, Urteil v. 16.4.2002, Beschwerdenr. 37971/97, Société Colas Est u. a./.Frankreich, S. 105.
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erst im Jahr 2002 und im Fall Société Colas Est die Möglichkeit angeboten, sich zur Geltung des Grundrechtes auf Achtung des Privatlebens auch für juristische Personen zu äußern. 3. Das Urteil „Société Colas Est“ Im Fall Société Colas Est handelte es sich um die Beschwerde eines französischen Bauunternehmens gegen eine Entscheidung des französischen Conseil de la Concurrence133, mit der eine Geldbuße gegen eine Reihe von Bauunter nehmen für Kartellabsprachen verhängt wurde. Der Entscheidung des Conseil de la Concurrence war eine gleichzeitige Durchsuchung in den Räumlichkeiten von nicht weniger als 56 Unternehmen vorausgegangen, die vorher nicht gerichtlich genehmigt worden war. Zum Zeitpunkt der Nachprüfungen sah das französische Wettbewerbsrecht keine besonderen Garantien gegen einen Missbrauch der Durchsuchungsbefugnis der französischen Wettbewerbsbehörde vor. Einer der Beschwerdegründe der Bauunternehmen bestand auch darin, dass die Durchsuchungen ohne vorherige gerichtliche Genehmigung durchgeführt worden waren. Der Straßburger Gerichtshof wiederholte zuerst seine Aussage vom Niemietz-Urteil in Bezug auf den Begriff „domicile“, der in der französischen Fassung der Konvention verwendet wird und der im Gegensatz zum englischen Begriff „home“ eine Auslegung erlaubt, die die Einbeziehung von Arbeitsräumlichkeiten ermöglicht134. Ferner führte der EGMR aus, dass die Konvention ein „lebendiges Instrument“ ist, das im Licht des aktuellen gesellschaftlichen Umfelds ausgelegt werden muss135. Bezüglich der von der Konvention den juristischen Personen verliehenen Rechte machte der EGMR darauf aufmerksam, dass er bereits früher in seiner Rechtsprechung das Recht eines Unternehmens auf Schadensersatz wegen immateriellen Schadens aufgrund einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK anerkannt hatte136. Bauend auf seine dynamische Auslegung der Konvention führte der EGMR aus, dass die Zeit dafür reif war, dass die von Art. 8 EMRK gewährten Rechte unter bestimmten Umständen so ausgelegt werden, dass sie das Recht auf Achtung der Unverletzlichkeit des Sitzes eines Unternehmens, seiner Filiale oder anderer Betriebsräumlichkeiten von ihm einschließen137. 133 Der Conseil de la concurrence war der Vorgänger der heutigen Wettbewerbsbehörde von Frankreich, der Autorité de la concurrence, die im August 2008 gegründet wurde. 134 EGMR, Urteil v. 16.4.2002, Beschwerdenr. 37971/97, Société Colas Est u. a./.Frankreich, Ziff. 40. 135 EGMR, Urteil v. 16.4.2002, Beschwerdenr. 37971/97, Société Colas Est u. a./.Frankreich, Ziff. 41. 136 EGMR, Urteil v. 16.4.2002, Beschwerdenr. 37971/97, Société Colas Est u. a./.Frankreich, Ziff. 41. 137 EGMR, Urteil v. 16.4.2002, Beschwerdenr. 37971/97, Société Colas Est u. a./.Frankreich, Ziff. 41.
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Der Straßburger Gerichtshof stellte fest, dass die französische Wettbewerbsbehörde über einen großen Ermessensspielraum bezüglich der Entscheidung der Erforderlichkeit, des Umfangs und des Zwecks ihrer Durchsuchungen verfügte. Die Bediensteten der französischen Wettbewerbsbehörde hatten die Räumlichkeiten der Beschwerdeführer ohne richterliche Genehmigung und ohne den Beistand eines Polizeiorgans mit Ermittlungsbefugnissen betreten. Unter diesen Umständen waren die durchgeführten Durchsuchungen unverhältnismäßig in Bezug auf die verfolgten Ziele, die in der Förderung des wirtschaftlichen Wohlstands des Landes und der Ahndung von Wettbewerbsverstößen lagen, auch wenn man annehmen würde, dass die Eingriffsmöglichkeit einer staatlichen Behörde in die Privatsphäre eines Unternehmens größer als diejenige in die Privatsphäre einer natürlichen Person ist138. Aus diesen Gründen stellte der EGMR eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest. 4. Das Urteil „Roemen und Schmit“ In Fall Roemen und Schmit/Luxemburg139 ging es unter anderem um die Rechtmäßigkeit im Lichte von Art. 8 EMRK der Durchführung von der Polizei einer Durchsuchung in der Kanzlei einer Rechtsanwältin mit dem Ziel, Beweismaterial für ein Strafverfahren gegen einen Journalisten zu beschlagnahmen. Der Gerichtshof berief sich auf das Niemietz-Urteil und wiederholte, dass der durch Art. 8 gewährte Schutz sich auch auf die Büroräume eines Mitglieds einer Berufskammer erstrecken kann140. Die Durchsuchung der Kanzlei und die Beschlagnahme eines Schriftstücks aus der Akte ihres Mandanten stellte nach Auffassung des EGMR eine Beeinträchtigung der Rechte der Beschwerdeführerin aus Art. 8 EMRK dar141. Da aber der erlassene Durchsuchungsbefehl zu weit gefasst war und den ermittelnden Organen eine unangemessene Durchsuchungsmacht verlieh, war die Beeinträchtigung unter den Gesichtspunkten von Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht zu rechtfertigen142.
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EGMR, Urteil v. 16.4.2002, Beschwerdenr. 37971/97, Société Colas Est u. a./.Frankreich, Ziff. 48–49. 139 EGMR, Urteil v. 25.2.2003, Beschwerdenr. 51772/99, Roemen und Schmit./.Luxemburg. 140 EGMR, Urteil v. 25.2.2003, Beschwerdenr. 51772/99, Roemen und Schmit./.Luxemburg, Ziff. 64. 141 EGMR, Urteil v. 25.2.2003, Beschwerdenr. 51772/99, Roemen und Schmit./.Luxemburg, Ziff. 65. 142 EGMR, Urteil v. 25.2.2003, Beschwerdenr. 51772/99, Roemen und Schmit./.Luxemburg, Ziff. 70 und 72.
B. Nachprüfungsbefugnisse der Kommission und das Recht auf Privatsphäre
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5. Das Urteil „Buck“ Die Feststellungen des EGMR in der Entscheidung Société Colas Est wurden im Jahr 2005 im Fall Buck/Deutschland143 bestätigt. In diesem Fall handelte es sich um die Beschwerde eines deutschen Bürgers wegen einer durch die Anordnung von Durchsuchungen in seiner Wohnung und in seiner Firma erlittenen Verletzung des in Art. 8 niedergelegten Schutzes der Unverletzlichkeit der Wohnung. Im Ausgangsverfahren ging es um die Rüge gegen eine verhängte Geldbuße wegen einer Überschreitung der Geschwindigkeitsgrenze. Die Geldbuße wurde gegen den Sohn des Beschwerdeführers verhängt, der angeblich zweimal mit dem Dienstwagen der Firma seines Vaters die Geschwindigkeitsgrenze überschritten habe. Der Sohn behauptete, dass er die Ordnungswidrigkeit nicht begangen habe und berief sich darauf, dass am Tag des Ereignisses etwa fünfzehn andere Personen den fraglichen Firmenwagen geführt haben könnten. Der Vater des Angeklagten weigerte sich, gegen die Angestellten seiner Firma auszusagen und das Amtsgericht, vor dem das Ordnungswidrigkeitenverfahren anhängig war, erließ daraufhin einen Beschluss, in dem die Durchsuchung der Geschäfts- und Wohnräume des Vaters des Angeklagten (und Beschwerdeführers vor dem EGMR) und die Beschlagnahme von bestimmten Unterlagen angeordnet wurde. Die Durchsuchung in den Wohn- und Geschäftsräumen des Beschwerdeführers wurde noch am Tag des Erlasses des Durchsuchungsbeschlusses von Polizeibeamten durchgeführt. Mehrere Dokumente wurden beschlagnahmt, fotokopiert und am nächsten Tag dem Beschwerdeführer im Original zurückgegeben. Aus den beschlagnahmten Dokumenten ergaben sich die Namen der bei der Firma angestellten Personen und der potenziellen Fahrer des Firmenwagens. Der Vater des Angeklagten legte Beschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluss ein, der jedoch vom LG Tübingen zurückgewiesen wurde. Nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs erhob der Beschwerdeführer (Vater des Verurteilten) Klage vor dem EGMR wegen Verletzung in seinem Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 8 EMRK) durch die angeordnete Nachprüfung in seinen Wohn- und Geschäftsräumen erhoben. Bevor man auf die Einzelheiten der Argumentation des EGMR eingeht, ist es wichtig zu erwähnen, dass die Nachprüfung im Hauptverfahren gegen eine Person angeordnet wurde, die einen Dritten im Verfahren darstellte. Ferner ist zu beachten, dass sowohl die Wohn-, als auch die Geschäftsräume dieser dritten Person durchsucht wurden. Der EGMR stellte fest, dass nach seiner ständigen Rechtsprechung der Begriff „Wohnung“ in Art. 8 Abs. 1 nicht nur die Privatwohnung einer Person erfasst, sondern dass er aufgrund des in der französischen Fassung benutzten Begriffs „domi-
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EGMR, Urteil v. 28.4.2005, Beschwerde Nr. 41604/98, Buck./.Deutschland,.
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§ 5 Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht § 5Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht
cile“ einen weiteren Sinn als der Begriff „Wohnung“ hat144. Deswegen ist der Begriff „Wohnung“ so auszulegen, als beinhalte er auch den eingetragenen Sitz eines von einer Privatperson geführten Unternehmens oder den eingetragenen Sitz einer juristischen Person, Niederlassungen und sonstige Geschäftsräume145. Dabei hat der Gerichtshof sich auf seine früheren Entscheidungen bezüglich der Anwendung von Art. 8 EMRK auf Geschäftsräume berufen. Auf Grundlage dieser Feststellung ist der EGMR zum Ergebnis gekommen, dass die Durchsuchungen in beiden Räumlichkeiten des Beschwerdeführers einen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens darstellten. Nach dieser Feststellung ging der Gerichtshof dazu über, die Rechtfertigungsgründe des Eingriffs zu prüfen. Er stellte fest, dass der Eingriff gesetzlich vorge sehen war und dass er einem legitimen Ziel diente. Bezüglich des Rechtfertigungstatbestandsmerkmales „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“ berief sich der EGMR auf seiner gefestigten Rechtsprechung, gemäß der der Begriff der „Notwendigkeit“ voraussetzt, dass der Eingriff einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und insbesondere in Bezug auf das rechtmäßig verfolgte Ziel verhältnismäßig ist146. Bei der Beurteilung der Notwendigkeit räumt der Gerichtshof den Vertragsstaaten einen gewissen Ermessensspielraum ein. Gleichwohl sind die Ausnahmen zu Art. 8 Abs. 2 EMRK eng auszulegen und die Konventionsparteien müssen überzeugend nachweisen, dass die Rechtsfertigungsgründe für einen Eingriff in einem bestimmten Fall erfüllt werden. Während aber der EGMR selbst anerkennt, dass zu den Kriterien, die über die Verhältnismäßigkeit der Anordnung einer Wohnungsdurchsuchung entscheidend sind, auch die Schwere der Tat zählt, wurde die (geringe, da Ordnungswidrigkeit) Schwere der Tat in diesem Fall überhaupt nicht berücksichtigt. 6. Zusammenfassung der Rechtsprechung des EGMR Der EGMR legt den Begriff „Wohnung“ autonom und weit aus. Unter Zugrundelegung des Begriffs „domicile“, der in der französischen Fassung der EMRK verwendet wird und der weiter als die entsprechenden Begriffe in den anderen Sprachfassungen („Wohnung“ in der deutschsprachigen, „home“ in der englischsprachigen Fassung) ist, gewährt er den Schutz von Art. 8 EMRK nicht nur privaten Miet- und Eigentumswohnung (was für die Nachprüfungsbefugnisse der Kommission in nicht betrieblichen Räumlichkeiten nach Art. 21 VO 1/2003 von Bedeutung ist), sondern auch Geschäftsräume, Büros von Selbständigen und Betriebsräumlichkeiten von juristischen Personen.
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EGMR, Urteil v. 28.4.2005, Beschwerde Nr. 41604/98, Buck./.Deutschland, Ziff. 31. EGMR, Urteil v. 28.4.2005, Beschwerde Nr. 41604/98, Buck./.Deutschland, Ziff. 31. 146 EGMR, Urteil v. 28.4.2005, Beschwerde Nr. 41604/98, Buck./.Deutschland, Ziff. 44. 145
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IV. Die Rechtsprechung der Unionsgerichte in Bezug auf die Reichweite von Art. 7 GRCH/ Art. 8 EMRK im EU-Kartellverfahrensrecht Der EuGH erkennt in ständiger Rechtsprechung das in Art. 8 EMRK und in den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten verankerte Recht auf Achtung des Privatlebens als Grundrecht der EU-Rechtsordnung an147. Dieses Recht umfasst alle einzelnen Teilbereiche der Privatsphäre148. Grundrechtsträger sind sowohl natürliche als auch juristische Personen, wie man den Schlussanträgen vom GA Cosmas zum Fall Adidas AG149 entnehmen kann. Darin stellte GA Cosmas fest, dass „der Schutz der Privatsphäre natürlicher und juristischer Personen einen wichtigen Platz in dem Wertesystem einnimmt, das durch die Rechtsordnung der Gemeinschaft geschaffen wurde“150. Die Analyse des Generalanwalts bezog sich im Allgemeinen auf den Schutz der Privatsphäre, die zum Beispiel auch den Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation enthält, und deswegen lässt sich nicht mit Sicherheit daraus schließen, dass auch die Unverletzlichkeit der Geschäftsräume mit erfasst wird. 1. Das EuGH-Urteil „National Panasonic“ Zum ersten Mal bot sich dem EuGH die Gelegenheit, sich mit der Frage der Geltung des Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 8 EMRK für Unternehmen zu befassen, im Fall „National Panasonic (UK) Limited“151 von 1980 an. Dabei handelte es sich um die Klage einer Gesellschaft englischen Rechts gegen die in ihren Geschäftsräumen durchgeführte Nachprüfung von Beamten der Kommission und von einem Bediensteten der englischen Wettbewerbsbehörde, die ohne vorherige Unterrichtung des Unternehmens stattgefunden hatte. Im Rahmen der Durchsuchung wurden auch Kopien von Geschäftsunterlagen gemacht und mitgenommen. GA Warner vertrat in seinen Schlussanträgen die Auffassung, dass die Unverletzlichkeit der Geschäftsräume grundrechtlich geschützt sei152, und berief sich dabei auf die Entscheidung in der Rechtssache „Acciaieria di Brescia“153, in der seines Erachtens der EuGH von der Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK auf 147
Vgl. Weiss, in: Weiss (Hrsg.), S. 43–72 (60). Crones, S. 126. 149 Schlussanträge von GA G. Cosmas v. 10.6.1999, Slg. 1999, I-7081 ff. 150 Schlussanträge von GA G. Cosmas v. 10.6.1999, Slg. 1999, I-7081 ff., Rdnr. 38. 151 EuGH, Urteil v. 26.6.1980, Rs. 136/79, National Panasonic (UK) Limited/Kommission, Slg. 1980, 2057 ff. 152 Schlussanträge des GA Warner vom 30.4.1980 zur Rs. 136/79 National Panasonic (UK) Limited/Kommission, Slg. 1980, 2061 (2068). 153 EuGH, Urteil v. 4.4.1960, Rs. 31–59, Acciaieria e Tubificio di Brescia/Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Sammlung der Rechtsprechung, Deutsche Ausgabe, 161 (180). 148
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Geschäftsräume ausgegangen ist. Nach Auffassung von GA Werner kann es „einer Behörde in einer „demokratischen Gesellschaft“ nicht gestattet sei, Privateigentum ohne besondere gesetzliche Erlaubnis zu betreten“154. Dennoch äußerte sich der EuGH in seinem Urteil in der Rs. National Panasonic nicht explizit zur Frage der Geltung des Art. 8 EMRK für Geschäftsräume155, weil er den Eingriff jedenfalls als gerechtfertigt betrachtete, da er der Aufrechterhaltung der Wettbewerbsordnung diente156. 2. Das EuGH-Urteil „Hoechst“ Im Fall Hoechst157 vom Jahr 1989 hat sich der EuGH zum ersten Mal in einem Urteil mit der Anwendbarkeit des Grundrechts auf Achtung der Privatsphäre auf Unternehmensräumlichkeiten auseinandergesetzt. Die Hoechst AG, eine Aktiengesellschaft deutschen Rechts, beanstandete die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen der Kommission, mit denen zuerst die Durchsuchung von Räumlichkeiten des Unternehmens angeordnet und im Anschluss ein Zwangsgeld gegen die Hoechst AG verhängt wurde, weil das Unternehmen die Nachprüfung gehindert hatte. Das Unternehmen machte die Verletzung der Verteidigungsrechte und insbesondere den Eingriff in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Geschäftsräume geltend. Der EuGH stellte jedoch fest, dass der Grundsatz der Unverletzlichkeit der Wohnung nur für die Privatwohnungen von natürlichen Personen, nicht aber für die Geschäftsräume von Unternehmen gilt. Seine Feststellung stützte er auf zwei Argumente: Zum einen herrschte in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten keine Einigkeit darüber, ob und inwieweit auch die Geschäftsräume gegen Eingriffe der Staatsgewalt geschützt werden158. Zum anderen lasse sich eine solche Anwendbarkeit auch nicht aus Art. 8 EMRK ableiten, dessen Schutzbereich nach Auffassung des EuGH im Hoechst-Urteil die freie Entfaltung der Persönlichkeit betreffe und deswegen nicht auf Geschäftsräume auszudehnen sei159. Nach dieser Argumentation bezog sich der EuGH auf die vorher erwähnte Auffassung von GA Cosmas in den Schlussanträgen im Fall Adidas AG, indem er feststellte, dass in allen nationalen Rechtsordnungen Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die 154 Schlussanträge des GA Warner v. 30.4.1980 zur Rs. 136/79 National Panasonic (UK)/ Kommission, Slg. 1980, 2061 (2068). 155 EuGH, Urteil v. 26.6.1980, Rs. 136/79, National Panasonic (UK) Limited/Kommission, Slg. 1980, 2057, Rdnr. 19. 156 EuGH, Urteil v. 26.6.1980, Rs. 136/79, National Panasonic (UK) Limited/Kommission, Slg. 1980, 2057, Rdnr. 20. 157 EuGH, Urteil v. 21.9.1989, verb. Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2859 ff. 158 EuGH, Urteil v. 21.9.1989, verb. Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2924, Rdnr. 17. 159 EuGH, Urteil v. 21.9.1989, verb. Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2924, Rdnr. 18.
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Sphäre der privaten Betätigung jeder – natürlicher oder juristischer – Person einer Rechtsgrundlage bedürfen und dass sie aus den gesetzlich vorgesehenen Gründen gerechtfertigt sein müssen160. Dieser Feststellung des EuGH im Hoechst-Urteil darf wohl entnommen werden, dass Geschäftsräume nach dem EU-Recht nicht als komplett ausgeschlossen vom Anwendungsbereich des Grundrechts auf Achtung der Privatsphäre angesehen werden dürfen161. Der Umfang dieses Schutzes ist aber noch ungewiss. 3. Das EuG-Urteil „Limburgse Vinyl Maatschappij“ Das EuG stellte in seinem Urteil in der Rs. Limburgse Vinyl Maatschappij von 2002 fest, dass es, soweit die Rügen und Argumente der Unternehmen mit den von Hoechst vorgetragenen übereinstimmten, keinen Grund gab, von der HoechstRechtsprechung des EuGH abzuweichen. Die Weiterentwicklung der Rechtsprechung des EGMR seit dem Hoechst-Urteil des EuGH hatte keine Auswirkung auf diese Feststellung162. Im Revisionsverfahren erübrigte sich nach Ansicht des EuGH eine Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit die Weiterentwicklung der Rechtsprechung des EGMR in Bezug auf das Recht auf Achtung der Privatsphäre eine Auswirkung auf den Ausgang der Rüge der Klägerinnen haben könnte, da die Rüge die Nachprüfungsentscheidungen der Kommission betraf, die Nachprüfungsentscheidungen aber selbst keinen Gegenstand des Rechtsmittels vor dem EuGH darstellten163. 4. Das EuGH-Urteil „Roquette Frères“ Zum zweiten Mal hat sich der EuGH bezüglich der Anwendbarkeit des Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung auf Geschäftsräume in seinem Urteil in der Rs. Roquette Frères164 im Jahr 2002 geäußert. Dem Verfahren vor dem EuGH lag ein Vorabentscheidungsersuchen der französischen Cour de cassation zugrunde. Das französische Unternehmen Roquette Frères hatte Klage gegen einen Beschluss des französischen Tribunal de grande instance (Landgericht) Lille erhoben, das eine Nachprüfung durch Bedienstete der Kommission und der französischen Wettbewerbsbehörde genehmigt hatte. Unter anderem hatte sich das Unter 160
EuGH, Urteil v. 21.9.1989, verb. Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2924, Rdnr. 18. 161 So Tettinger, in: Stern/Tettinger, Art. 7 EGC, Rdnr. 39, S. 297. 162 EuG, Urteil v. 20.4.1999, Rs. T- 305–307, 313–316, 318, 325, 328–329 und 335/94, Limburgse Vinyl Maatschappij NV u. a./Kommission, Slg. 1999, II-931, Rdnr. 420. 163 EuGH, Urteil v. 15.10.2002, Rs. C-238, 244–245, 247, 250, 251–252 und 254/99, Limburgse Vinyl Maatschappij NV u. a./Kommission, Slg. 2002, I-8375, Rdnr. 251. 164 EuGH, Urteil v. 22.10.2002, Rs. C-94/00, Roquette Frères SA/Directeur général de la concurrence, de la consommation et de la répression des fraudes, Slg. 2002, I-9011 ff.
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nehmen auch auf eine Verletzung des allgemeinen Grundsatzes des Schutzes vor willkürlichen oder unverhältnismäßigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung einer juristischen Person berufen. Nach dem damals geltenden französischen Recht waren Ermittlungen in Privaträumen nur unter Beachtung von Art. 66 der französischen Verfassung erlaubt, wonach der Schutz der individuellen Freiheit, insbesondere der Unverletzlichkeit der Wohnung, den Gerichten übertragen sei. Gemäß der Rechtsprechung des Conseil constitutionnel mussten dann die Gerichte die Begründetheit jedes Antrags zur Durchführung von Durchsuchungen in Privaträumen prüfen165. Die Kommission ersuchte die französischen Behörden um Amtshilfe gemäß Art. 14 Abs. 6 VO 17/62, um sicher zu stellen, dass das Unternehmen die angeordnete Nachprüfung dulden würde. Aufgrund dieses Ersuchens beantragten die französischen Behörden die gerichtliche Genehmigung der Nachprüfungsentscheidung der Kommission, die dann vom Präsidenten des Tribunal de grande instance Lille auch tatsächlich erteilt wurde. Das Unternehmen leistete keinen Widerstand gegen die Durchführung der Nachprüfung, machte jedoch Vorbehalte bezüglich der Erstellung von Kopien von einer Reihe von Dokumenten durch Kommissionsbedienstete. In seiner Beschwerde vor der Cour de cassation gegen den Genehmigungsbeschluss machte das französische Unternehmen unter anderem geltend, dass dem Gericht, dass die Nachprüfungsentscheidung der Kommission genehmigt hatte, keinerlei Informationen vorgelegt wurden, die die Begründetheit des Verdachts der Kommission nachweisen würden. Die Cour de cassation nahm in ihrem Vorabentscheidungsersuchen Bezug auf die Hoechst-Entscheidung des EuGH und machte gleichzeitig darauf aufmerksam, dass nach dem Hoechst-Urteil die Entscheidung des EGMR im Fall Niemitz veröffentlicht worden war, in der der Straßburger Gerichtshof festgestellt hatte, dass Art. 8 EMRK unter bestimmten Umständen auch Geschäftsräume erfasste. Die zweite Vorlagefrage der Cour de cassation bestand also darin, inwiefern das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, wie es als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannt und in Art. 8 EMRK niedergelegt war, anwendbar auf Geschäftsräume sei und inwieweit dieses Recht, falls anwendbar, dem nationalen Richter erlauben würde, den ihm vorgelegten Antrag auf Genehmigung der Nachprüfungsentscheidung wegen Unbegründetheit abzulehnen. Der EuGH wiederholte zuerst seine Aussage vom Hoechst-Urteil, dass der Schutz vor willkürlichen oder unverhältnismäßigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung einer natürlichen oder juristischen Person einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts darstelle166. Dieser Grundsatz sei von den zuständigen nationalen Behörden zu beachten, wenn 165
EuGH, Urteil v. 22.10.2002, Rs. C-94/00, Roquette Frères SA/Directeur général de la concurrence, de la consommation et de la répression des fraudes, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 6. 166 EuGH, Urteil v. 22.10.2002, Rs. C-94/00, Roquette Frères SA/Directeur général de la concurrence, de la consommation et de la répression des fraudes, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 27.
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die Kommission ihnen ein Amtshilfeersuchen gemäß Art. 14 Abs. 6 VO 17/62 vorlegt167. Ferner stellte der EuGH klar, dass bei der Bestimmung der Tragweite dieses Schutzes der Geschäftsräume von Unternehmen die nach dem Hoechst-Urteil ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu berücksichtigen sei, aus der sich ergebe, dass der von Art. 8 EMRK garantierte Schutz der Wohnung unter bestimmten Umständen auf Geschäftsräume ausgedehnt werden könnte168. Der EuGH bezog sich dabei explizit169 auf die EGMRUrteile Niemitz170 und Colas Est171, das auch ergangen war und das den Schutz der Geschäftsräume durch Art. 8 EMRK bestätigte172. Ferner betonte der Gerichtshof, dass die nationalen Gerichte nur die Verhältnismäßigkeit und die Willkürfreiheit der Nachprüfungsentscheidung der Kommission prüfen dürfen173. Die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Kommissionsentscheidung, die eine Nachprüfung in den Räumlichkeiten eines Unternehmens anordnet, sei eine ausschließliche Kompetenz der Unionsgerichte174. Nach Auffassung des EuGH sehe das EU-Recht genügend Garantien vor, die diese eingeschränkte Rechtmäßigkeitskontrollekompetenz der nationalen Gerichte kompensieren175. Um dem nationalen Gericht die Möglichkeit zu geben, die Verhältnismäßigkeit und die Willkürfreiheit der Kommissionsentscheidung zu prüfen, sei die Kommission dazu verpflichtet, dem Gericht Erläuterungen zu geben, aus denen hervorgeht, dass sie über substantiierte Informationen und Beweismaterial verfügt, die den Verdacht eines Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln begründen176.
167 EuGH, Urteil v. 22.10.2002, Rs. C-94/00, Roquette Frères SA/Directeur général de la concurrence, de la consommation et de la répression des fraudes, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 28. 168 EuGH, Urteil v. 22.10.2002, Rs. C-94/00, Roquette Frères SA/Directeur général de la concurrence, de la consommation et de la répression des fraudes, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 29. 169 EuGH, Urteil v. 22.10.2002, Rs. C-94/00, Roquette Frères SA/Directeur général de la concurrence, de la consommation et de la répression des fraudes, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 29. 170 EGMR, Urteil v. 16.12.1992, Niemitz./.Deutschland, Beschwerdenr. 13710/88. 171 EGMR, Urteil v. 16.4.2002, Société Colas Est u. a./.Frankreich, Beschwerdenr. 37971/97. 172 EGMR, Urteil v. 16.4.2002, Société Colas Est u. a./.Frankreich, Beschwerdenr. 37971/97, Ziff. 41. 173 EuGH, Urteil v. 22.10.2002, Rs. C-94/00, Roquette Frères SA/Directeur général de la concurrence, de la consommation et de la répression des fraudes, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 36. 174 EuGH, Urteil v. 22.10.2002, Rs. C-94/00, Roquette Frères SA/Directeur général de la concurrence, de la consommation et de la répression des fraudes, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 39. 175 EuGH, Urteil v. 22.10.2002, Rs. C-94/00, Roquette Frères SA/Directeur général de la concurrence, de la consommation et de la répression des fraudes, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 43–50. 176 EuGH, Urteil v. 22.10.2002, Rs. C-94/00, Roquette Frères SA/Directeur général de la concurrence, de la consommation et de la répression des fraudes, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 61.
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§ 5 Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht § 5Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht
5. Das EuGH-Urteil „Varec“ Im „Varec“-Urteil des EuGH, das auf eine Streitigkeit im Rahmen eines öffentlichen Vergabeverfahrens zwischen dem Unternehmen „Varec“ und dem belgischen Staat zurückging, stellte der EuGH fest, dass sich aus der EGMR-Rechtsprechung ergebe, dass der Begriff „Privatleben“ nicht dahin ausgelegt werden darf, dass die beruflichen und geschäftlichen Tätigkeiten natürlicher und juristischer Personen vom Recht auf Achtung des Privatlebens ausgeschlossen sind177. 6. Zusammenfassung der Rechtsprechung des EuGH Aus alledem geht hervor, dass der EuGH die EGMR-Rechtsprechung in Bezug auf die Reichweite des Grundrechts auf Achtung des Privatlebens wohl berücksichtigt. Dennoch sieht er sich nicht daran gebunden, da er sowohl im Roquette- als auch im Varec-Urteil offen gelassen hat, inwieweit das EU-Recht auch Geschäftsräume unter den Schutz des Privatlebens subsumiert. Der EuGH scheint sich nicht komplett vom ursprünglichen Verständnis des Schutzes der Unverletzlichkeit der Wohnung hauptsächlich als Raum privater freier Entfaltung der Persönlichkeit einer natürlichen Person losgelöst zu haben178. Insbesondere bezüglich der restriktiven Auslegung des Rechts auf Achtung der Privatsphäre im Bereich des Wettbewerbsrechts kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese restriktive Auslegung auf utilitaristische Überlegungen zurückzuführen sein könnte. Der EuGH scheint die Effektivität der öffentlichen Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts stärken zu wollen, indem er sich beim Grundrechtsschutz zurückhält179. Es bleibt also festzuhalten, dass der EuGH den Schutz der Privatsphäre grundsätzlich nur natürlichen Personen gewährt, während er diesen Schutz noch nicht ausdrücklich auf juristische Personen erweitert hat180. Insoweit besteht eine Schutzniveaudivergenz zwischen EU- und EMRK-Ebene bezüglich des Grundrechts auf Achtung der Privatsphäre181, obwohl Art. 7 GRCH denselben materiellen Gehalt und dieselbe Reichweite wie Art. 8 EMRK hat182. Bevor auf die Argumente eingegangen wird, die für eine weite Auslegung des Grundrechts auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahren sprechen, soll auch kurz geschildert werden, inwiefern Geschäftsräume in nationalen Rechts ordnungen von EU-Mitgliedstaaten unter den Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung fallen. 177
EuGH, Urteil v. 14.2.2008, Rs. C-450/06, Varec S. A./Belgien, Slg. 2008, I-581, Rdnr. 48. Siehe zu diesem Verständnis des EuGH, Marauhn, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), § 19, Rdnr. 24. 179 Marauhn, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), § 19, Rdnr. 246. 180 So auch Hilf/Hörmann, NJW 2003, 1 (8); Vocke, wistra 2004, 408 (411). 181 So im Ergebnis auch Calzado/de Stefano, in: Cardonnel/Rosas/Wahl (Hrsg.), S. 423–438 (426). 182 Wils, World Compet. 2011, 189 (201). 178
B. Nachprüfungsbefugnisse der Kommission und das Recht auf Privatsphäre
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V. Schutz der Unverletzlichkeit von Geschäftsräumen in nationalen Rechtsordnungen Die Gewährleistung eines Schutzes vor staatlichen Eingriffen auch für Geschäftsräume und Betriebsräumlichkeiten, wie er in Bezug auf die Privatwohnung garantiert ist, ist keine Selbstverständlichkeit, da traditionell nur die Privatwohnung als Teil der Privatsphäre zur Entfaltung der Persönlichkeit betrachtet wurde. Auf dieses herkömmliche Verständnis stützte sich der EuGH ursprünglich, um den Schutz der Privatsphäre auch auf betriebliche Räumlichkeiten auszudehnen. Der Schutz der Unverletzlichkeit von Geschäftsräumen ist auch in den verschiedenen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten äußerst umstritten, so dass man nicht von einer gemeinsamen verfassungsrechtlichen Tradition ausgehen könnte. Es gibt Rechtsordnungen, wie die deutsche zum Beispiel183, die unter den Schutz der Privatsphäre auch Betriebsräumlichkeiten subsumieren, andere, die den Schutz nur auf Wohnungen natürlicher Personen beschränken und solche, die keine klare Stellung beziehen. Das spanische Verfassungsgericht erkennt die Geltung der Unverletzlichkeit der Wohnung auch für Räumlichkeiten, die einer privaten oder öffentlichen Nutzung anderer als die Wohnung dienen. Dazu gehören aber nach Auffassung des spanischen Verfassungsgerichts nicht Räumlichkeiten wie eine Bar oder ein Betriebslager184. Der belgische Schiedsgerichtshof hat entschieden, dass die Durchsuchung einer Wohnung oder einer Betriebsräumlichkeit auch im Rahmen eines Steuerverwaltungsverfahrens einer richterlichen Genehmigung bedarf. Würde man den Betroffenen die Garantie der vorherigen gerichtlichen Kontrolle aberkennen, würde man gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Wohnung verstoßen185. Der belgische Schiedsgerichtshof bezieht die Geschäftsräume nicht explizit in den Anwendungsbereich der Unverletzlichkeit der Wohnung ein, aber die von ihm verwendete Terminologie („den Betroffenen“) scheint den Geschäftsräumen denselben Schutz zuzuerkennen, den Art. 15 der belgischen Verfassung den Privatwohnungen gewährt186. Der französische Conseil constitutionnel erkennt auch in ständiger Recht sprechung an, dass Geschäftsräume unter den Anwendungsbereich des Schutzes der Unverletzlichkeit der Wohnung fallen187. Nach alledem könnte man feststellen, dass die Verfassungsrichter in einer Reihe von Mitgliedstaaten den Schutz der Privatsphäre auch auf Geschäftsräume anwenden. 183 BVerfG, Urteil vom 13. Oktober 1971, Entscheidungssammlung des BVerfG, 32, S. 54. Auf dieses Urteil hat auch der EGMR in seinem Niemietz-Urteil Bezug genommen (Niemietz/ Deutschland, Beschw. 13710/88, Ziff. 18). 184 Déal, Cah. dr. eur. 2004, 157 (166). 185 Belgischer Cour d’arbitrage, Urteil 16/2001 v. 14.2.2001, Ziff. B.13.4, zitiert von Déal, Cah. dr. eur. 2004, 157 (167). 186 Déal, Cah. dr. eur. 2004, 157 (167). 187 Déal, Cah. dr. eur. 2004, 157 (167).
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§ 5 Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht § 5Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht
VI. Argumente für die Geltung des Grundrechts auf Achtung der Privatsphäre in Bezug auf Geschäftsräume im Rahmen des EU-Kartellverfahrens In der Literatur herrscht die Auffassung, dass unter den Schutz von Art. 8 EMRK und Art. 7 GRCH auch die gewerblichen Räume einer juristischen Person fallen188. Diese Auffassung stützt sich hauptsächlich auf die bereits geschilderte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteile Chappel, Niemitz, Société Colas Est, Buck). Auf der anderen Seite hat der EuGH in seiner Rechtsprechung noch keine klare Aussage darüber gemacht, inwieweit gewerbliche Räume einer juristischen Person vom Grundrecht auf Achtung der Privatsphäre erfasst sind. Es ist zwar eine Tatsache, dass der EuGH in seinem Varec-Urteil unter Berufung auf die EGMRRechtsprechung zu Art. 8 EMRK festgestellt hat, dass „der Begriff „Privatleben“ nicht dahin ausgelegt werden darf, dass die beruflichen und geschäftlichen Tätigkeiten natürlicher und juristischer Personen hiervon ausgeschlossen sind“189. Nach hier vertretener Auffassung ist diese Äußerung so zu verstehen, dass der EuGH zwar die Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR in Bezug auf die Reichweite von Art. 8 EMRK berücksichtigt, dass er sich dennoch von einer ausdrücklichen Anerkennung der Anwendbarkeit des Rechts auf Achtung der Wohnung auch auf Geschäftsräume zurückhält190. Deswegen erscheint es sinnvoll die rechtsdogmatischen Argumente kurz zu schildern, die für die Ausdehnung des Schutzes der Unverletzlichkeit der Wohnung auch auf Geschäftsräume herangezogen werden könnten. Zum einen wäre es rechtsmethodisch inkonsequent, einerseits der Kommission derart erweiterte Nachprüfungsbefugnisse einzuräumen, dass in bestimmten Fällen eine richterliche Genehmigung des Nachprüfungsauftrags erforderlich ist (siehe insbesondere Art. 20 Abs. 7 und Art. 21 Abs. 3 VO 1/2003), andererseits aber das Grundrechtsschutzniveau durch die Ausklammerung der Geschäftsräume aus der Reichweite des Grundrechts auf Achtung der Privatsphäre niedrig zu halten191. Das würde dazu führen, dass das Grundrechtsschutzniveau im EUKartellverfahren hinter den weitreichenden Befugnissen der Kommission und den Rechtsschutzerfordernissen bleiben würde. Ferner sprechen tatsächliche Gründe, d. h. die Veränderung des Realbereichs, für die weite Auslegung des Begriffs „Wohnung“ auch im Rahmen des EU-Grund 188 Siehe zum Beispiel in Bezug auf Art. 8 EMRK Meyer-Ladewig, Art.8, Rdnr. 87; in Bezug auf Art. 7 EGC Tettinger, in: Stern/Tettinger, Art. 7, Rdnr. 37. 189 EuGH, Urteil v. 14.2.2008, Rs. C-450/06, Varec S. A./Belgien, Slg. 2008, I-581, Rdnr. 48. 190 So auch Weiß, in: Weiß (Hrsg.), S. 43–72 (60), der feststellt, dass der Schutz von Geschäftsräumen immer noch strittig ist. A. A. Tettinger, in: Stern/Tettinger,Art. 7, Rdnr. 38; Déal, Cah. dr. eur. 2004, 157 (158 und 194). 191 Vgl. auch Ress/Ukrow, EuZW 1990, 499 (503).
B. Nachprüfungsbefugnisse der Kommission und das Recht auf Privatsphäre
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rechtsschutzes, so dass er auch Geschäftsräume erfasst. Die klassische Trennung zwischen Privatwohnung und Arbeits- oder Geschäftsräumen verschwimmt im Laufe der Zeit zunehmend. Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die Erscheinung neuer Arbeitsformen, wie zum Beispiel die Telearbeit, sowie die Eröffnung neuer Kommunikationsmöglichkeiten durch das Internet und den Mobilfunk bedeuten, dass man sowohl von zu Hause aus arbeiten als auch im Arbeitsraum einen Teil der Persönlichkeit und des Privatlebens entfalten kann. Aus diesem Grund ist es nicht mehr so einfach im Einzelfall zwischen Privatwohnung und Geschäftsräumen/Arbeitsräumen zu unterscheiden und entsprechend eine klare Linie zwischen Räumlichkeiten zu ziehen, die dem Schutz von Art. 8 EMRK/Art. 7 GRCH unterliegen, und solchen, die davon nicht erfasst sind. Das stellte der EGMR bereits im Niemietz-Urteil fest192 und, indem er seinem Ansatz folgte, die EMRK als lebendiges Instrument („living instrument“) zu betrachten, fasste er den Anwendungsbereich des Rechts auf Achtung der Wohnung weit und subsumierte darunter auch die Geschäftsräume. Für die Einbeziehung der Geschäftsräume in die von Art. 7 GRCH garantierte Unverletzlichkeit der Wohnung spricht auch die Tatsache, dass nach der Erhebung der Europäischen Grundrechtecharta zum EU-Primärrecht durch den Vertrag von Lissabon die vom EGMR vorgenommene Auslegung dieser EMRK-Rechte und Grundsätze, die auch durch die Charta geschützt werden, aufgrund der in Art. 52 Abs. 3 GRCH enthaltenen Homogenitätsklausel bindend für die Unionsgerichte und die anderen EU-Organe geworden ist193. Darüber hinaus spricht der in vielen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gewährte Schutz der Unverletzlichkeit von Geschäftsräume für die Erforderlichkeit der Harmonisierung der Rechtsprechung des EuGH mit der des EGMR in Bezug auf die Reichweite des Rechts auf Achtung der Wohnung. Einerseits ist der Schutz der Geschäftsräume Bestandteil des Grundrechts auf Achtung der Wohnung in vielen Rechtsordnungen von EU-Mitgliedstaaten. Andererseits unterliegt die Durchsuchung von Geschäftsräumen in den meisten Mitgliedstaaten, wie bereits GA Mischo in seinen Schlussanträgen im Fall Hoechst festgestellt hatte, aufgrund besonderer Vorschriften mehr oder weniger strengen Form – und Verfahrensvoraussetzungen194. Nun soll untersucht werden, wie sich eine erweiterte Auslegung des Schutzes der Unverletzlichkeit der Wohnung und die Einbeziehung der Geschäftsräume in den Schutzbereich von Art. 7 GRCH auf die Befugnisse der Kommission im Fall einer Durchsuchung auswirkt.
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EGMR, Urteil v. 16.12.1992, Beschwerdenr. 13710/88, Niemietz./.Deutschland, Ziff. 29. So auch Weiß, in: Weiß (Hrsg.), S. 43–72 (60). 194 Verbundene Schlussanträge des GA Mischo v. 21.2.1989, Hoechst AG, Dow Benelux NV, Dow Iberica SA, Alcudia SA und Empresa Nacional del Petroleo SA/Kommission, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Rs. 85/87 und verb. Rs. 97, 98 und 99/87, Slg. 1989, 2859, Rdnr. 103. 193
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§ 5 Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht § 5Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht
VII. Konsequenzen einer Einbeziehung der Geschäftsräume in den Schutzbereich von Art. 7 GRCH für die Nachprüfungsbefugnisse der Kommission 1. Änderungsbedarf bezüglich der Genehmigung einer Entscheidung über die Durchsuchung von Unternehmensräumlichkeiten Nach der aktuellen Rechtslage ist keine vorherige Genehmigung für den Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses für Unternehmensräumlichkeiten durch die Kommission erforderlich. Es ist aber fraglich, inwieweit dies mit den EMRK-Vorgaben vereinbar ist. a) Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der aktuellen Kommissionspraxis mit den EMRK-Vorgaben Die in Art. 20 und 21 VO 1/2003 geregelten Nachprüfungsbefugnisse der Europäischen Kommission greifen unmittelbar und besonders stark in die Unter nehmensprivatsphäre bzw. in die Sphäre der privaten Betätigung ein195. Bei den in Art. 20 und 21 VO 1/2003 niedergelegten Nachprüfungsbefugnissen der Kommission kommt nochmal das Spannungsverhältnis zwischen dem Gebot der effektiven administrativen Durchsetzung des materiellen Wettbewerbsrechts und dem Gebot des effektiven Schutzes der Grund- und Verteidigungsrechte der Unternehmen zum Ausdruck. Dieses Spannungsverhältnis wurde früh von den Unionsgerichten wahrgenommen, die aber bei der konkreten Abwägung zwischen der Effizienz der Kommissionsnachprüfungen und der Achtung der Privatsphäre von juristischen Personen ersterer den Vorrang zu geben scheinen. Eine ausdrückliche Einbeziehung der Geschäftsräume in den Schutzbereich von Art. 7 GRCH würde aber die Effektivität der Ermittlungen und der Ermittlungsbefugnisse der Kommission im Kartellverfahren weder einschränken noch gefährden. Wie der EGMR bereits in seinem Niemietz-Urteil festgestellt hat, rechtfertigt Art. 8 Abs. 2 EMRK (und somit Art. 7 GRCH) stärkere Eingriffe in Geschäftsräume als in Privaträume196. Daraus folgt, dass es keine Gefahr besteht, dass die Durchführung von Durchsuchungen durch die Kommission aufgrund des Schutzes der Geschäftsräume durch Art. 7 GRCH besonders erschwert oder sogar unmöglich gemacht wird. Dennoch sollte berücksichtigt werden, dass die in Art. 8 Abs. 2 EMRK statuierten Ausnahmen (und dementsprechend die Eingriffsmöglichkeiten der öffentlichen Gewalt in den Schutz der Geschäftsräume) grundsätzlich eng ausgelegt 195
Nowak, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Art. 20 VerfVO, Rdnr. 8. EGMR, Urteil v. 16.12.1992, Beschwerdenr. 13701/88, Niemietz./.Deutschland, Ziff. 31.
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werden müssen und dass die Erforderlichkeit eines Eingriffs in jedem Einzelfall überzeugend dargelegt werden muss197. Das Kriterium der gesetzlichen Grundlage des Eingriffs wird durch die Verankerung der Nachprüfungsbefugnis in Art. 20 VO 1/2003 erfüllt. Beim legitimen Ziel, das mit dem Eingriff verfolgt werden muss, handelt es sich um den Schutz des unverfälschten Wettbewerbs in der EU. Problematisch wird es aber, wenn es um die Frage geht, inwieweit die Nachprüfungen der Kommission in Unternehmensräumlichkeiten auch das Kriterium der „Erforderlichkeit in einer demokratischen Gesellschaft“ erfüllen198. Beim Kriterium der Erforderlichkeit in einer demokratischen Gesellschaft handelt es sich um eine Verhältnismäßigkeitskontrolle des Eingriffs der öffentlichen Gewalt199. Der Eingriff muss notwendig sein, um eins der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele (die öffentliche Sicherheit, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Aufrechterhaltung der Ordnung, die Verhütung von Straftaten, den Schutz der Gesundheit oder der Moral und den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer) zu verfolgen. Insbesondere muss die gesetzliche Regelung angemessene und wirksame Garantien gegen den Missbrauch der Eingriffsbefugnis der öffentlichen Gewalt vorsehen200. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit prüft der EGMR, inwieweit die Behörde über besonders weitreichende Befugnisse verfügt, die ihr die ausschließliche Zuständigkeit verleihen, die Zweckmäßigkeit, die Dauer und den Umfang der Nachprüfung zu bestimmen und ob vor der Durchführung der Nachprüfung ein Durchsuchungsbefehl von einem Richter erlassen wurde und inwieweit die Nachprüfung bei Anwesenheit der Polizei durchgeführt wurde201. Es ist fraglich, ob die aktuelle Rechtslage und Praxis bezüglich der Anordnung und Durchführung von Durchsuchungen durch die Kommission in Unternehmen, für die ein hinreichend begründeter Verdacht des Verstoßes gegen das EU-Kartellrecht bestehen muss, den Verhältnismäßigkeitstest von Art. 8 Abs. 2 EMRK bestehen würde202. Gemäß Art. 20 Abs. 7 VO 1/2003 ist die Genehmigung der Durchsuchungsanordnung der Kommission durch den nationalen Richter nur dann erforderlich, wenn eine solche Genehmigung für die Unterstützung der Kommissionsbediensteten durch die Polizei bei der Durchführung der Nachprüfung in den Unternehmensräumlichkeiten vom nationalen Recht vorgeschrieben ist. Dennoch verlangt die Rechtsprechung des EGMR, dass sowohl das nationale Gesetz als auch die nationale Verwaltungsvollzugspraxis auch im Fall von Nachprüfungen 197 EGMR, Urteil v. 16.4.2002, Beschwerdenr. 37971/97, Société Colas Est u. a./.Frankreich, Ziff. 47. 198 Vgl. Kerse/Kahn, Rdnr. 3–108, S. 167; Temple-Lang/Rizza, ECLR 2002, 413 (415); Théophile/Simic, JECLAP 2012, 511 (515). 199 Vgl. Meyer-Ladewig, Art. 8, Rdnr. 109. 200 EGMR, Urteil v. 16.4.2002, Beschwerdenr. 37971/97, Société Colas Est u. a./.Frankreich, Ziff. 48. 201 EGMR, Urteil v. 16.4.2002, Beschwerdenr. 37971/97, Société Colas Est u. a./.Frankreich, Ziff. 49. 202 Weiß, in: Weiß (Hrsg.), 61.
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§ 5 Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht § 5Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht
in Unternehmensräumlichkeiten einen angemessenen und wirksamen Schutz gegen Missbrauch der Durchsuchungskompetenz vorsehen, wenn die Ausübung dieser Kompetenz in das Recht auf Achtung der Wohnung eingreift203. Diese Garantien gegen den Missbrauch der Durchsuchungskompetenz gelten, wie der EGMR bereits anerkannt hat, trotz der Tatsache, dass die Eingriffsintensität im Fall der Durchsuchung von Geschäftsräumen stärker als im Fall von Privatwohnungen sein kann204. Bei den Durchsuchungen der Kommission in Unternehmensräumlichkeiten nach Art. 20 VO 1/2003 handelt es sich um besonders starke Eingriffe in das auch für Unternehmen geltende Recht auf Achtung der Privatsphäre, da sie durch die Nachforschungen in physischen Unterlagen und digitalen Dateien und durch die Befragungen von Mitarbeitern nicht nur den Betriebsablauf eines Unternehmens beeinträchtigen, sondern auch, weil sie als Teil des EU-Kartellverfahrens zu den schweren Konsequenzen des EU-Kartellverfahrens (Bußgelder nach Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003, Zwangsgelder nach Art. 24 VO 1/2003) führen können. Daraus folgt, dass die EGMR-Rechtsprechung über die erforderlichen Garantien zum Schutz gegen Missbrauch der unter besonderen Voraussetzungen erlaubten Eingriffs in der Privatsphäre auch im Fall von Nachprüfungen in Unternehmensräumlichkeiten gilt205. Damit eine Durchsuchung von Kommissionsbediensteten in Unternehmensräumlichkeiten im Rahmen des EU-Kartellverfahrens den Anforderungen der EGMR-Rechtsprechung in Bezug auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erfüllt und damit sie schließlich dem Grundrechtsschutzstandard von Art. 8 EMRK (und auch Art. 7 GRCH) entspricht, muss die Nachprüfungsanordnung der Kommission von einem Gericht genehmigt worden sein und die Nachprüfung in Anwesenheit der Polizei stattfinden. Im EU-Kartellverfahrensrecht stellt aber die vorherige Genehmigung des Durchsuchungsbeschlusses der Kommission durch ein Gericht keine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Nachprüfung dar, wenn das nationale Recht keine solche Genehmigungspflicht vorsieht. In Deutschland und Frankreich muss zum Beispiel eine richterliche Genehmigung auch für Durchsuchungen in Geschäftsräumen eingeholt werden206. Viele nationale Rechtsordnungen verlangen aber für die Durch 203 EGMR, Urteil v. 16.4.2002, Beschwerdenr. 37971/97, Société Colas Est u. a./.Frankreich, Ziff. 48. 204 EGMR, Urteil v. 16.4.2002, Beschwerdenr. 37971/97, Société Colas Est u. a./.Frankreich, Ziff. 49. 205 So Weiß, in: Weiß (Hrsg.), S. 43–72 (61). 206 In Bezug auf das grundsätzliche Erfordernis einer richterlichen Anordnung der Durchsuchung durch das Bundeskartellamt in Deutschland siehe Bechtold, § 59 GWB, Rdnr. 22. In Frankreich ist gemäß Art. L 450–4 des Code de commerce für jede Durchsuchung der nationalen Wettbewerbsbehörde in Unternehmensräumlichkeiten eine Genehmigung durch den Vorsitzenden des jeweiligen Tribunal de Grande Instance (Landgericht), in dessen Zuständigkeitsgebiet sich die zu untersuchenden Räumlichkeiten befinden (Der Text der Vorschrift auf französisch ist hier abrufbar: http://www.legifrance.gouv.fr/affichCodeArticle.do?cidTexte= LEGITEXT000005634379&idArticle=LEGIARTI000020632473&dateTexte=).
B. Nachprüfungsbefugnisse der Kommission und das Recht auf Privatsphäre
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führung von Nachprüfungen in Unternehmensräumlichkeiten durch die Polizei keine richterliche Genehmigung207. Da also die Einholung einer richterlichen Genehmigung vor der Durchführung einer Durchsuchung von Kommissionsbediensteten von einer entsprechenden, im nationalen Recht statuierten Pflicht abhängt, können die Durchsuchungen der Kommission in Unternehmensräumlichkeiten gegen Art. 8 EMRK verstoßen, wenn der Durchsuchungsbeschluss nicht richterlich genehmigt wurde und wenn die Durchsuchung ohne institutionelle Garantien gegen den Missbrauch der öffentlichen Gewalt (wie beispielsweise die Anwesenheit von Polizeibeamten) stattfindet208. Zusätzliche Bedenken in Bezug auf die Vereinbarkeit der Durchsuchungen der Kommission in Unternehmensräumlichkeiten im Rahmen des Kartellverfahrens mit den EMRK-Vorgaben entstehen durch die eingeschränkte Kontrollmöglichkeit, die dem nationalen Richter bezüglich der Durchsuchungsbeschlüsse der Kommission gemäß Art. 20 Abs. 8 VO 1/2003 zusteht. Der nationale Richter darf lediglich eine eingeschränkte Verhältnismäßigkeitsprüfung der Entscheidung der Kommission durchführen, die eine Durchsuchung anordnet. Das nationale Gericht prüft insbesondere die Echtheit der Entscheidung der Kommission, ob die beantragte Durchsuchung nicht willkürlich ist und inwieweit sie gemessen am Gegenstand zur Durchsuchung nicht unverhältnismäßig ist. Das nationale Gericht darf jedoch weder die Rechtmäßigkeit der Nachprüfungsentscheidung prüfen noch die Erforderlichkeit der Durchsuchung in Frage stellen. Das nationale Gericht darf auch nicht die Übermittlung der gesamten Kommissionakte verlangen, die ihm eine gründliche Beurteilung des Durchsuchungsbeschlusses der Kommission erlauben würde, sondern kann nur zusätzliche Informationen von der Kommission anfordern, die es für die eingeschränkte Verhältnismäßigkeitskontrolle der geplanten Durchsuchung braucht209. Aus der Sicht des EGMR scheint die eingeschränkte ex ante Kontrolle des Durchsuchungsbeschlusses der Kommission unproblematisch zu sein, solange die Möglichkeit besteht, dass ein Gericht die Rechtmäßigkeit des Durchsuchungsbeschlusses nach der Durchführung der Durchsuchung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht prüft. Das ergibt sich aus den Urteilen Funke210 und Ravon211 des EGMR. In Funke stellte der EGMR in Bezug auf Durchsuchungsmaßnahmen der französischen Zollbehörde fest, dass in Ermangelung einer vorherigen richterlichen Genehmigung die Einschränkungen und Bedingungen der Ausübung der Durchsuchungsbefugnis der Behörde als besonders lasch und nicht vollständig geregelt erschienen, um den Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu genügen212. In Ravon betonte der EGMR, dass den Betroffenen einer Durchsuchung 207
Weiß, in: Weiß (Hrsg.), S. 43–72 (61). Weiß, in: Weiß (Hrsg.), S. 43–72 (61). 209 Siehe Nowak, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Art. 20 VerfVO, Rdnr. 92–93. 210 EGMR, Urteil v. 25.2.1993, Beschwerdenr. 10828/84, Funke./.Frankreich. 211 EGMR, Urteil v. 21.2.2008, Beschwerdenr. 18497/03, Ravon u. a./.Frankreich. 212 EGMR, Urteil v. 25.2.1993, Beschwerdenr. 10828/84, Funke./.Frankreich, Ziff. 57. 208
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§ 5 Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht § 5Recht auf Achtung der Privatsphäre im EU-Kartellverfahrensrecht
ein effektiver Rechtsschutz gewährt werden muss, der sich sowohl auf die tatsächlichen als auch auf die rechtlichen Umstände der Durchsuchungsanordnung bezieht und dessen Gegenstand entweder der Nachprüfungsauftrag an sich oder die auf seiner Grundlage durchgeführten Maßnahmen ist. Das verfügbare Rechtsmittel muss bei Feststellung einer Unregelmäßigkeit beim Durchsuchungsbeschluss entweder die Durchführung der Durchsuchung verhindern können oder, falls die Durchsuchung bereits stattgefunden hat, eine geeignete Wiedergutmachung gewährleisten213. Die Ravon-Rechtsprechung wurde durch das Urteil im Fall „Canal Plus“ bestätigt214, in dem sich der EGMR mit der Rechtmäßigkeit eines durch die französische Wettbewerbsbehörde durchgeführten Dawn raid befasste. Aus den Ravon- und Canal Plus-Urteilen des EGMR folgt, dass es für die Zwecke der EMRK als ausreichend betrachtet werden kann, wenn die nationale Rechtsordnung eine ex post Kontrolle von Durchsuchungsbeschlüssen vorsieht, die sich in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erstreckt. Das Verlangen nach einem vollen kontradiktorischen Verfahren vor einer unangekündigten Nachprüfung in einem Unternehmen würde die Effizienz solcher Nachprüfungen erheblich beeinträchtigen, weil es sie dem Überraschungseffekt berauben würde215. Den Unternehmen, die von einer Durchsuchung der Kommission betroffen sind, steht es aber offen, nach Durchführung der Durchsuchung die Entscheidung der Kommission, die sie angeordnet hat, vor dem EuG anzufechten und die Erklärung ihrer Nichtigkeit zu beantragen, wenn die Kommissionsentscheidung unrechtmäßig war. Nach Maßgabe von Art. 263 Abs. 4 AEUV ist die Klage gegen den Durchsuchungsbeschluss der Kommission beim EuG gemäß Art. 263 Abs. 4 AEUV innerhalb zwei Monaten einzureichen. Das EuG prüft dann, inwieweit die Durchsuchungsentscheidung gegen wesentliche Formvorschriften verstößt, oder ob sie materielles EU-Recht verletzt oder ob die Kommission ihr Ermessen missbraucht hat216. Die Klage beim EuG gegen die Durchsuchungsentscheidung der Kommission hat keine aufschiebende Wirkung217. Das von der Durchsuchung betroffene Unternehmen muss, um eine aufschiebende Wirkung der Klage zu erreichen, einen separaten Antrag auf einstweilige Verfügung auf Grundlage von Art. 278 AEUV einreichen. Es ist aber fraglich, inwieweit das praktisch umsetzbar ist. Die erste Schwierigkeit ergibt sich aus der Akzessorietät des Antrags auf Aussetzung der Nachprüfung. Das von der Nachprüfung betroffene Unternehmen muss in dem Moment, in dem eine Nachprüfung bevorsteht und während die Kommissionsbediensteten bereits am Eingang der Unternehmensräumlichkeiten stehen, eine mehrseitige Klage gegen die Durchsuchungsentscheidung entwerfen und sie gleichzeitig mit dem Antrag auf Aussetzung der Nachprüfung einreichen. Es wird 213
EGMR, Urteil v. 21.2.2008, Beschwerdenr. 18497/03, Ravon u. a./.Frankreich, Ziff. 28. EGMR, Urteil v. 21.12.2010, Beschwerdenr. 29408/08, Société Canal Plus u. a./Frankreich, Ziff. 36. 215 So Berghe/Dawes, ECLR 2009, 407 (421). 216 Vgl. Pechstein, Rdnr. 546–561. 217 Art. 278 AEUV. 214
B. Nachprüfungsbefugnisse der Kommission und das Recht auf Privatsphäre
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aber ersichtlich, dass der Entwurf einer mehrseitigen Klage in den engen Zeitgrenzen einer unangekündigten Durchsuchung der Kommission praktisch nicht umzusetzen ist. Aber auch wenn man von der Umsetzbarkeit des Entwurfs einer Klage gegen den Durchsuchungsbeschluss und der sofortigen Einreichung eines Antrags auf Aussetzung der Durchsuchung ausgehen würde, würde das bedeuten, dass ein Richter am EuG jederzeit verfügbar sein sollte, um innerhalb kürzer Zeit zu beurteilen, ob von der Durchführung der Durchsuchung ein schwerer und nicht wieder gut zu machender Schaden für das betroffene Unternehmen entstehen würde. Für Unternehmen, deren Räumlichkeiten von der Kommission im Rahmen von Kartellermittlungen durchsucht wurden, bleibt also entweder die Möglichkeit, sich der Durchsuchung zu widersetzen, was mit einem Zwangsgeld nach Art. 24 VO 1/2003 geahndet werden könnte, und anschließend die die Durchsuchung anordnende Entscheidung der Kommission vor dem EuG anzufechten, oder sich der Durchsuchung zu fügen und den Durchsuchungsbeschluss erst nach ihrer Vollstreckung anzufechten. Eine Klage gegen den Durchsuchungsbeschluss kann zwar im letzteren Fall die Durchführung der Durchsuchung nicht abwenden, kann jedoch zur Feststellung der Rechtswidrigkeit des Durchsuchungsbeschlusses oder der Durchsuchung selbst führen. Obwohl das EMRK-Erfordernis einer ex post-Rechtskontrolle sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht im Fall von Entscheidungen der Kommission über die Durchführung von Durchsuchungen in Unternehmensräumlichkeiten erfüllt ist218, bleiben bestimmte Bedenken über die Vereinbarkeit der Durchsuchungen nach Art. 20 VO 1/2003 mit Art. 8 EMRK und mit der diesbezüglichen Rechtsprechung des EGMR bestehen. Die Bedenken ergeben sich hauptsächlich aus der Tatsache, dass die richterliche Genehmigung des Durchsuchungsbeschlusses der Kommission keine absolute Voraussetzung der Durchführung einer Durchsuchung darstellt. Die VO 1/2003 muss aber im Lichte der EU-Grundrechtecharta und, mittelbar, im Lichte der EMRK ausgelegt werden. Aus der Funke-Rechtsprechung des EGMR folgt, dass die vorherige richterliche Genehmigung eines Durchsuchungsbeschlusses der Kommission ein Erfordernis der Vereinbarkeit der Nachprüfungskompetenz der Kommission mit den Vorgaben der EMRK ist.
218 A. A. Berghe/Dawes, ECLR 2009, 407 (421 f.), die aber ihre diesbezügliche Argumentation nicht begründen.
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b) Lösungsansatz: Genehmigung des Durchsuchungsbeschlusses durch das EuG Diese Bedenken könnten durch die Einführung einer Pflicht der Kommission ausgeräumt werden, vor der Durchführung einer Durchsuchung in Unternehmensräumlichkeiten eine Genehmigung beim EuG im Rahmen eines ex parte-Verfahrens, ohne Anhörung des betroffenen Unternehmens zu beantragen219. Diese Lösung weist zwei Vorteile auf: Einerseits führt sie zu einer Vereinheitlichung des Verfahrens, da die Kommission nicht mehr das jeweils zuständige nationale Gericht aufsuchen muss, um da eine Genehmigung des Durchsuchungsbeschlusses zu beantragen und da im Fall von Durchsuchungen, die in mehreren Mitgliedstaaten gleichzeitig durchgeführt werden müssen, die Kommission nur einen Antrag auf Genehmigung ihrer Nachprüfungsanordnung stellen muss (Vorteil des „one stop shop“)220. Andererseits sichert diese Lösung den Vorrang des EU-Rechts vor dem nationalen Recht und gewährleistet eine einheitliche Anwendung des EURechts221. Würde man die Einholung einer richterlichen Genehmigung vom jeweiligen nationalen Gericht als Pflicht festschreiben, würde das dazu führen, dass die Rechtmäßigkeit eines Rechtsakts der EU von einem nationalen Gericht beurteilt werden würde. Dieser Gedanke, dass die Rechtmäßigkeit eines EU-Rechtsakts nur von den Unionsgerichten zu beurteilen ist, liegt allerdings hinter der Regelung von Art. 20 Abs. 8 VO 1/2003, die die eingeschränkte Verhältnismäßigkeit des nationalen Gerichts in den Fällen vorsieht, in denen nach nationalem Recht die vorherige richterliche Genehmigung des Durchsuchungsbeschlusses der Kommission erforderlich ist. Die Beantragung einer Genehmigung beim EuG, dem auch Zugang zur Akte der Kommission gewährt werden sollte, gewährleistet die Vereinbarkeit des Verfahrens für die Anordnung und Durchführung von kartellrechtlichen Durchsuchungen in Unternehmensräumlichkeiten mit den Grundrechtsschutzvoraussetzungen, die sich aus der EGMR-Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK ergeben. Durchsuchungen werden nämlich nur dann zulässig sein, wenn das EuG sie genehmigt hat. Somit wird sowohl eine ex ante- als auch eine ex post-Rechtskontrolle (im Falle der Rüge durch ein betroffenes Unternehmen) der Nachprüfungsentscheidung stattfinden. Die vorherige Genehmigung der Entscheidung über eine beabsichtigte Nachprüfung in Unternehmensräumlichkeiten durch das EuG wurde bereits vom GA Jean Mischo in den Schlussanträgen zu den Rechtssachen „Hoechst“ und „Roquette Frères“ vorgeschlagen222. 219
So Berghe/Dawes, ECLR 2009, 407 (422). Vgl. auch verb. Schlussanträge des Generalanwalts J. Mischo vom 21.02.1989, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rdnr. 148. 221 Berghe/Dawes, ECLR 2009, 407 (422). 222 Siehe Schlussanträge des Generalanwalts J. Mischo vom 20.09.2001, Rs. C-94/00, Roquette Frères SA gegen Directeur général de la concurrence, de la consommation et de la répression des fraudes, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 46; verb. Schlussanträge des Generalanwalts 220
B. Nachprüfungsbefugnisse der Kommission und das Recht auf Privatsphäre
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Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die vorgeschlagene Einführung einer Pflicht zur Einholung einer Genehmigung des Durchsuchungsbeschlusses durch das EuG keine wesentliche Änderung der Praxis der Kommission verursachen würde223. Bei diesem Änderungsvorschlag handelt es sich vorwiegend um ein formelles Erfordernis, das keinen Einfluss auf die praktische Wirksamkeit der Ermittlungsbefugnisse der Kommission hat, da mit der Genehmigung durch das EuG weder ein kontradiktorisches Verfahren eingeführt wird noch die materiellen Anforderungen an eine Nachprüfungsentscheidung der Kommission erhöht werden. Insbesondere muss die Kommission nicht in ihrer Entscheidung den Verdacht eines Verstoßes näher konkretisieren oder genauer angeben, nach welchen Dokumenten oder Informationsstücken sie sucht. Insofern ist dem EuG zuzustimmen, dass wegen des besonderen Charakters des Durchsuchungsbeschlusses (die Kommission kann oft in dieser Verfahrensphase die Natur des vermuteten Verstoßes nicht endgültig einstufen) eine besonders weit reichende Begründungspflicht des Durchsuchungsbeschlusses den Vorabcharakter der Nachprüfung nicht berücksichtigen und schließlich die Nachprüfungsbefugnis der Kommission kompromittieren würde224. Die Begründung des Durchsuchungsbeschlusses muss so ausgestaltet sein, dass sie dem betroffenen Unternehmen die Ausübung seiner Verteidigungsrechte und dem EuG eine Prüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung ermöglicht225. Insofern kann nur bedingt der Auffassung zugestimmt werden, dass es nur einen sehr engen Spielraum gebe, in dem eine Diskussion über die Anwendung von Art. 8 EMRK auf die Durchsuchungen der Kommission in Kartellverfahren gedeihen könnte, da die Befugnis der Kommission unangekündigte Durchsuchungen durchzuführen unbestritten sei und da diese Befugnis strengen Regeln unterliege, die das von der Durchsuchung betroffene Unternehmen schützen226. Diese Ansicht wurde in einem Zeitpunkt (1997) zum Ausdruck gebracht, als die EGMR-Rechtsprechung zum Schutz von Geschäftsräumen nach Art. 8 EMRK noch nicht vollständig entwickelt war (die damals aktuellste Entwicklung war die Verkündung des Urteils im Fall Niemietz) und berücksichtigt nicht die späteren Grundrechtsschutzentwicklungen auf EU-Ebene (Verabschiedung und Inkrafttreten der Grundrechtecharta, Pflichtbeitritt der EU zur EMRK) sowie das seitdem stets wachsende EMRK-Bewusstsein in den EU-Mitgliedstaaten227. J. Mischo vom 21.02.1989, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rdnr. 146–148. 223 In diese Richtung gehend Meyer/Kuhn, WuW 2004, 880 (882). 224 EuG, Urteil v. 26.10.2012, Rs. T-23/09, Conseil national de l’Ordre des pharmaciens (CNOP), Conseil central de la section G de l’Ordre national des pharmaciens (CCG)/Kommission, Slg. 2010, II-5291, Rdnr. 41. 225 EuG, Urteil v. 26.10.2012, Rs. T-23/09, Conseil national de l’Ordre des pharmaciens (CNOP), Conseil central de la section G de l’Ordre national des pharmaciens (CCG)/Kommission, Slg. 2010, II-5291, Rdnr. 39–41. 226 So Lenaerts/Vanhamme, CMLRev 1997, 531 (552). 227 Siehe diesbezüglich Forrester, ELRev 2009, 817 (824).
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Darüber hinaus kann das Argument der Wirksamkeit der Ermittlungsbefugnisse der Kommission nicht zur Ausschaltung des Grundrechtsschutzes der Unternehmen führen. Die Grundrechte, und nicht die Ermittlungsbefugnisse der Kommission, haben einen unantastbaren Kern, in den nicht eingegriffen werden darf. Vielmehr bedarf es einer Abwägung zwischen dem gebotenen Schutz der Grundrechte der Unternehmen und den Befugnissen der Kommission im Rahmen von Nach prüfungen in Kartellverfahren. 2. Änderungsbedarf bezüglich der richterlichen Genehmigung von Entscheidungen über Durchsuchungen in privaten Räumlichkeiten In Bezug auf das Verfahren zur richterlichen Genehmigung von Durchsuchungen in privaten Räumlichkeiten nach Art. 21 VO 1/2003 besteht auch Änderungsbedarf, da die derzeitige Ausgestaltung des Verfahrens trotz der Unterschiede im Verhältnis zum Verfahren der Durchsuchung in Unternehmensräumlichkeiten (das Verfahren nach Art. 21 VO 1/2003 verlangt einen begründeten Verdacht eines schweren Kartellverstoßes, einen begründeten Verdacht, dass relevante Dokumente in der Privatwohnung aufbewahrt sein könnten, sowie die Einholung der Genehmigung des nationalen Gerichts) nicht vollständig den Anforderungen der EMRK-Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK entspricht, wie sie durch Art. 7 und 52 Abs. 3 GRCH zum Tragen kommen228. Zwar sieht Art. 21 Abs. 3 VO 1/2003 vor, dass eine Entscheidung über die Durchführung einer Durchsuchung in anderen Räumlichkeiten nur mit der vorherigen Genehmigung des einzelstaatlichen Gerichts des betreffenden Mitgliedstaats vollzogen werden kann. Probleme des Verfahrens nach Art. 21 VO 1/2003 in Bezug auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundrecht der Unverletzlichkeit der Privatsphäre entstehen jedoch durch die eingeschränkte Kontrollbefugnis der nationalen Gerichte. Der Umfang der Kontrollbefugnis der mitgliedstaatlichen Gerichte in Fällen von Durchsuchungsbeschlüsse gemäß Art. 21 VO 1/2003 entspricht derjenigen in Verfahren nach Art. 20 VO 1/2003229. Das nationale Gericht darf prüfen, inwieweit die angeordnete Nachprüfung nicht willkürlich und nicht unverhältnismäßig ist (Art. 21 Abs. 3 VO 1/2003). Es handelt sich aber dabei um eine eingeschränkte Verhältnismäßigkeitsprüfung, die die Schwere des zur Last gelegten Verstoßes, die Wichtigkeit der gesuchten Dokumente, die Beteiligung des Unternehmens und die Wahrscheinlichkeit des Auffindens der gesuchten Dokumente berücksichtigt. Das mitgliedstaatliche Gericht, das zwar gemäß Art. 21 Abs. 3 VO
228
Vgl. Nowak, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Art. 21 VerfVO, Rdnr. 18; a. A. Weiß, ECLR 2011, 186 (193). 229 So Nowak, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Art. 21 VerfVO, Rdnr. 17; Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 21 VO 1/2003, Rdnr. 42.
C. Fazit
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1/2003 Erläuterungen von der Kommission aber keinen Zugang zu ihrer Akte verlangen kann, darf weder die Notwendigkeit der Durchsuchung in Frage stellen noch die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Kommission prüfen. Eine vollständige Vereinbarkeit des Verfahrens nach Art. 21 VO 1/2003 mit den EMRK- und GRCH-Vorgaben wäre durch eine uneingeschränkte Kontrolle der Verhältnismäßigkeit des Durchsuchungsbeschlusses der Kommission durch das mitgliedstaatliche Gericht zu gewährleisten. Der zentralisierte Ansatz einer Vorabkontrolle und Genehmigung des Durchsuchungsbeschlusses durch das EuG ist hier nicht vorzuziehen, da eine Durchsuchung in einer Privatwohnung, anders als im Fall einer Nachprüfung bei einem Unternehmen, immer mit der Amtshilfe des jeweiligen Mitgliedstaates durchgeführt werden muss. Aus diesem Grund erscheint es als der geeignetste Weg die Vereinbarkeit des Verfahrens nach Art. 21 VO 1/2003 mit Art. 7 GRCH zu sichern, den nationalen Gerichten die Möglichkeit einer uneingeschränkten Verhältnismäßigkeitskontrolle von Entscheidungen über die Durchsuchung von privaten Räumlichkeiten zu gewährleisten, indem man den mitgliedstaatlichen Gerichten vollen Zugang zur Kommissionsakte gewährt. Es ist nicht auszuschließen, dass eine uneingeschränkte Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die nationalen Gerichte die Effektivität der Ermittlungsbefugnisse der Kommission zum Teil beeinflussen könnte, da sie eventuell mehr Zeit in Anspruch nehmen würde. Eine uneingeschränkte Verhältnismäßigkeits kontrolle durch das nationale Gericht bedeutet aber keineswegs, dass die Kommission ihre Nachprüfungsbefugnis gar nicht oder nur unter schwersten Umständen ausüben kann. Im Fall von Durchsuchungen von Privatwohnungen sind aber Effektivitätseinbußen angesichts der besonders hohen Anforderungen der Rechtsprechung an der Rechtmäßigkeit eines Eingriffs in das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung, das stärker Privatwohnungen als Geschäftsräume schützt, gerechtfertigt. Darüber hinaus würde auch im Falle einer uneingeschränkten Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die nationalen Gerichte die Kompetenz der Rechtsmäßigkeitskontrolle der Kommissionsentscheidung bei den Unionsgerichten bleiben. Insofern besteht keine Gefahr einer divergierenden Auslegung von Art. 21 VO 1/2003.
C. Fazit Die Unionsgerichte haben bislang nicht ausdrücklich anerkannt, dass auch Geschäftsräume und Betriebsräumlichkeiten in den Schutzbereich von Art. 7 GRCH fallen, der das Recht auf Achtung der Privatsphäre schützt. Das führt zu einem niedrigeren Grundrechtsschutzniveau auf EU-Ebene verglichen mit dem entsprechenden EMRK-Standard, da der EGMR in mittlerweile ständiger Rechtsprechung bestätigt, dass auch Geschäftsräume vom Anwendungsbereich des Art. 8 EMRK gedeckt sind. Allerdings sind im Fall von Geschäftsräumen die Eingriffsmöglichkeiten größer als im Fall von Privatwohnungen. Der Bedarf einer aus-
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drücklichen Anerkennung der de lege ferenda erweiterten Tragweite des Schutzes der Privatsphäre durch Art. 7 GRCH in der Rechtsprechung der Unionsgerichte ergibt sich zuerst aus dem Gebot der größtmöglichen Erfüllung der Grundrechte. Ferner gebietet die Erweiterung der Ermittlungsbefugnisse der Kommission eine entsprechende Anpassung des Grundrechtsschutzes der Unternehmen, so dass das Postulat der Wahrung der Grundrechte und der Verteidigungsrechte im EU-Kartellverfahren, wie es in Erwägungsgrund 37 und Artikel 27 Abs. 2 VO 1/2003 verankert ist, stets erfüllt wird. Schließlich machen die Homogenitätsklausel des Art. 52 Abs. 3 GRCH und der geplante Beitritt der EU zur EMRK eine Angleichung des durch Art. 7 GRCH gewährten Grundrechtsschutzes an die EMRKVorgaben unumgänglich. Die Einbeziehung der Geschäftsräume in den Schutzbereich des EU-Grundrechtes des Schutzes der Privatsphäre bedeutet aufgrund der Möglichkeit, stärker in diesen Schutzbereich einzugreifen, dass keine Gefahr besteht, dass sich die Betriebsräumlichkeiten der Unternehmen in „uneinnehmbare Burgen“ für die Kommission entwickeln. Die Schrankenbestimmungen von Art. 8 Abs. 2 EMRK und Art. 52 Abs. 1 GRCH in Verbindung mit der Rechtsprechung des EGMR erlauben den Schluss, dass im Fall des Schutzes der Unverletzlichkeit von Geschäftsräumen als Teilaspekt des Schutzes der Privatsphäre eine größere Einschränkung des Grundrechtsschutzniveaus möglich ist. Daraus folgt, dass die Erweiterung des Schutzbereichs von Art. 7 GRCH auf Geschäftsräume kein besonderes Beeinträchtigungspotenzial für die Nachprüfungsbefugnisse der Kommission in sich birgt. Ferner bestehen Bedenken, inwieweit die aktuelle Praxis der Kommission bei der Anordnung von Durchsuchungen, die mit der Amtshilfe einer vollziehenden Behörde eines Mitgliedstaates stattfinden müssen, eine richterliche Genehmigung der Durchsuchung nur dann zu beantragen, wenn diese Genehmigung auch nach dem nationalen Recht erforderlich ist, mit den Vorgaben aus der Rechtsprechung zu Art. 8 Abs. 2 EMRK vereinbar ist. Zwar stützt sich die Praxis der Kommission auf Art. 20 Abs. 7 VO 1/2003. Dennoch verlangt die EGMR-Rechtsprechung, wie es im Funke-Urteil deutlich wurde, für die Verhältnismäßigkeit und die Rechtmäßigkeit der Nachprüfung, dass ihre Anordnung von einem Richter oder einer Justizbehörde genehmigt wird. Im Fall des EU-Kartellverfahrens könnte die Befugnis einer solchen ex-ante Genehmigung ohne vorherige Anhörung der Parteien dem EuG erteilt werden. Diese Lösung hätte den Vorteil, dass es eine zentrale Stelle für die Genehmigung solcher Nachprüfungsentscheidungen gäbe, die gleichzeitig mit der Rechtmäßigkeitskontrolle solcher Entscheidungen ex post (also im Fall einer gegen eine Nachprüfungsentscheidung gerichteten Nichtigkeitsklage) betraut ist. Darüber hinaus würde eine solche Zentralisierung die Durchführung des EU-Kartellverfahrens erleichtern und beschleunigen, da die Kommission im Fall gleichzeitiger Ermittlungen in mehreren Mitgliedstaaten nicht in mehreren Mitgliedstaaten um eine Genehmigung ihrer Durchsuchungsentscheidung ersuchen musste.
C. Fazit
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Im Fall von Nachprüfungen der Kommission in Privatwohnungen erscheint es aus Gründen der Vereinbarkeit mit den EMRK-Vorgaben erforderlich, den Prüfungsumfang des nationalen Richters bezüglich der Entscheidung der Kommission über die Durchsuchung so zu erweitern, dass er auch über die Notwendigkeit des Eingriffs in die geschützte Privatsphäre urteilen darf, indem ihm Einsicht zur vollständigen Kommissionsakte gewährt wird.
§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht A. Schutzzweck der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant I. Allgemeiner Schutzzweck des Anwaltsprivilegs Der Schutz der Vertraulichkeit der Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandanten (auch legal professional privilege („LPP“) oder Anwaltsprivileg genannt1) stellt eine besondere Form des Vertraulichkeitsschutzes dar2, der eine Verbürgung grundrechtlicher Natur ist, wie bereits festgestellt wurde3. Unter Anwaltsprivileg versteht man den Rechtsgrundsatz, gemäß dem die zwischen einem Anwalt und seinem Mandanten stattgefundene Kommunikation nicht Gegenstand einer gezwungenen Offenlegung im Rahmen von Gerichts- oder Verwaltungsverfahren sein kann4. GA Warner hat in seinen Schlussanträgen zum Fall AM & S den harten Kern des Rechts auf Vertraulichkeitsschutz zwischen Anwalt und Mandanten so definiert, dass „ein Anwalt nicht gezwungen werden kann, über Gespräche mit seinem Mandanten auszusagen“5. Da es aber im EU-Kartellverfahren keine Zeugenvernehmung gibt, kann als harter Kern dieses Rechts die Beschlagnahmefreiheit der Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandanten betrachtet werden6. Unternehmen teilen regelmäßig ihren Rechtsanwälten sensible, kartellrechtlich relevante Informationen mit, wenn sie juristischen Rat in Wettbewerbsangelegenheiten einholen. Damit dieser Austausch frei und offen stattfindet, ist es besonders wichtig, dass die 1 Diese beiden Begriffe haben sich in der Literatur durchgesetzt, obwohl es den zutreffenderen Terminus „legal confidence“ gibt, der dem deutschen „Vertraulichkeitsschutz zwischen Anwalt und Mandanten“ entspricht. 2 Skouris/Kraus, in: MünchKommEuWettbR, Einleitung, Rdnr. 389; siehe auch die Ausführungen des EuGH im Urteil v. 18.5.1982, Rs. 155/79, Australian Mining and Smelting/Kommission (im Folgenden: AM & S), Slg. 1982, 1575, Rdnr. 18, in dem der Gerichtshof dargelegt hat, dass sich die Unternehmen auf den Schutz der Vertraulichkeit (wie garantiert, unter anderem, von Art. 287 EGV [nunmehr Art. 339 AEUV]) berufen können, um die Vertraulichkeit ihrer Korrespondenz mit einem Anwalt zu schützen, da keine andere, besondere Rechtsgrundlage vorhanden war. 3 Siehe § 7 „Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht“, S. 258 ff. 4 Gippini-Fournier, Fordham Law Institute 2004, 587 (590). 5 Schlussanträge des GA Warner, Rs. 155/79, AM & S Europe Ltd/Kommission, Slg. 1982, I-1575 (1632). 6 Rethorn, in: FS für Alfred Söllner, S. 900.
A. Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant
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Unternehmen davon ausgehen können, dass ihre vertraulichen Informationen nicht der Kommission oder Dritten zugänglich gemacht werden kann. Der Schutz der Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandant ist aber nicht nur auf die Bedeutung der freien und ungehinderten Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant für die Durchführung eines fairen Verfahrens, sondern auch auf die besondere Rolle des Rechtsanwalts als vertraulichen Informationsbearbeiters auf Grund und im Rahmen gemeinsamen Wissens mit dem Mandanten zurückzuführen7. Die Notwendigkeit des Schutzes der Vertraulichkeit der Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandant ergibt sich ferner aus der Rolle des Rechtsanwalts als Mitgestalters der Rechtspflege8 und dem Erfordernis einer sinnvollen Ausübung des anwaltlichen Berufs. Ohne die Gewährung dieses Vertraulichkeitsschutzes wäre eine effiziente Ausübung der Tätigkeit des Rechtsanwalts kaum vorstellbar9. Der Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant befindet sich im Spannungsfeld zwischen dem Interesse der Kommission an der Aufklärung von Wettbewerbsverstößen (und mittelbar auch dem allgemeinen Interesse auf Beibehaltung eines funktionierenden Wettbewerbs) und dem rechtsstaatlichen Interesse an einer freien und unbehinderten Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant zur Gewährleistung einer effektiven Verteidigung10.
II. Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahren 1. Bestandsaufnahme des Anwaltsprivilegs im EU-Sekundärrecht Eine ausdrückliche Normierung des Anwaltsprivilegs lässt sich weder im Primär-, noch im Sekundärrecht der Europäischen Union finden11. Obwohl die Kommission früher nach Art. 11 und 14 VO 17/62 und jetzt gemäß Art. 18, 20 und 21 VO 1/2003 über das Recht verfügt, in Unterlagen eines Unternehmens Einsicht zu nehmen und Kopien von ihnen anzufertigen, wird der Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandanten in diesem Zusammenhang weder in der VO 1/2003 noch in der VO 773/2004 ausdrücklich erwähnt. Obwohl von einigen Literaturstimmen die Ansicht vertreten wird, dass der Rat den Vorschlag des Europäischen Parlaments bei der Verabschiedung der VO 17/62 für die Einführung des Schutzes vor Offenlegung aller Dokumente, die dem Anwalts 7
So die Bezeichnung von Rüpke, NJW 2008, 1121 (1121). Kehl, S. 122. 9 Weiß, S. 411. 10 So Pfromm/Hentschel, EWS 2005, 350 (351). 11 Lampert/Niejahr/Kübler/Weidenbach, Vorbemerkungen zu Art. 17–22, Rdnr. 346; Rethorn, in: FS für Alfred Söllner, S. 896. 8
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
privileg unterliegen, abgelehnt habe12, scheint diese Ansicht nicht der Entstehungsgeschichte der VO 17/62 zu entsprechen. Der Schutz der Vertraulichkeit der Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandant wurde in der Stellungnahme des Parlaments zum Entwurf der VO 17/62 nicht thematisiert. Auch in der neuen Kartellverordnung ist keine besondere Vorschrift über das Anwaltsprivileg zu finden. Deswegen könnte das Anwaltsprivileg auf Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003 gestützt werden, der die Wahrung der Verteidigungsrechte der Parteien im Rahmen des EUKartellverfahrens vorsieht. Eine explizite Regelung des Schutzes der Vertraulichkeit der Anwaltskorrespondenz im Unionsrecht beinhalten lediglich die Verfahrensordnungen des EuG und des EuGH13. Diese Vorschriften können aber nicht als mögliche Rechtsgrundlagen für die Anerkennung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Unionsrechts für den Schutz der Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandanten herangezogen werden, da einerseits ihr persönlicher Anwendungsbereich nur den Rechtsanwalt, und nicht seinen Mandanten, umfasst und andererseits, weil ihre Reichweite sich nur auf das Gerichtsverfahren vor den Unionsgerichten erstreckt14. 2. Bedeutung des Anwaltsprivilegs im EU-Kartellverfahren Seit dem Inkrafttreten der Kartellverfahrensverordnung 1/2003 und der Einführung des Systems der Legalausnahme kommt dem Schutz der Vertraulichkeit der Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandant eine noch größere Bedeutung zu, da die Unternehmen wegen der Selbstveranlagung ihres Wettbewerbsverhaltens noch stärker auf die Einholung juristischen Rates in Bezug auf ihr Marktverhalten und ihre Vereinbarungen angewiesen sind15. Das bedeutet, dass die Unternehmen nunmehr selber prüfen müssen, ob und inwieweit ihr Verhalten wettbewerbsrechtkonform ist, und dass sie aus diesem Grund mehr denn je auf fachkundige Informationen über das Wettbewerbsrecht und auf anwaltlichen Beistand angewiesen sind. Daher erweist sich als konsequent, dass die Kommission, die gemäß Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003 dazu verpflichtet ist, die Verteidigungsrechte der Unternehmen im Kartellverfahren in vollem Umfang zu schützen, nicht die Kommunikation zwischen Rechtsanwälten und ihren Mandanten dadurch hindert, dass privilegierte Schriftstücke beschlagnahmt und als Beweis im Kartellverfahren gegen die Unternehmen verwendet werden.
12 So zum Beispiel Kerse/Khan, S. 144, Rdnr. 3–022; a. A. Weiß, S. 406 f.; Alvarez-Ligabue, S. 122. 13 Vgl. Art. 32 Abs. 2 Buchst. a) der Verfahrensordnung des EuGH und Art. 38 Abs. 2 Buchst. a) der Verfahrensordnung des EuG. 14 Weiß, S. 408 f.; Alvarez-Ligabue, S. 124. 15 Vgl. Pfromm/Hentschel, EWS 2005, 350 (351); so auch Lotze, in: Schwerpunkte des Kartellrechts 2006, Referate des XXXIV. FIW-Seminars, 2008, S. 33–46 (33).
B. Das Anwaltsprivileg als Grundrecht
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Die Vertraulichkeit der anwaltlichen Korrespondenz wird durch die Ermittlungsbefugnisse der Europäischen Kommission und, konkreter, durch die ihr zustehenden Kompetenzen des Auskunftsverlangens gemäß Art. 18 VO 1/2003 und der Nachprüfungsbefugnisse gemäß Art. 20 und 21 VO 1/2003 tangiert. Nach ständiger Rechtsprechung der Unionsgerichte schützt das Anwaltsprivileg die Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Anwalt und Mandanten, sofern der Schriftverkehr zum einen im Rahmen und im Interesse des Rechts des Mandanten auf Verteidigung vor oder nach der Eröffnung eines kartellrechtlichen Verfahrens geführt wird und zum anderen von unabhängigen Rechtsanwälten ausgeht, d. h. von Anwälten, die nicht in einem festen Anstellungsverhältnis zum Mandanten sind16. Seine Wirksamkeit entfaltet das Anwaltsprivileg vor allem bei Nachprüfungen nach Art. 20 und 21 VO 1/2003, wenn die Kommission Unterlagen prüft und Kopien anfertigt, aber auch im Rahmen eines Auskunftsverlangens nach Art. 18 VO 1/2003, wenn mit dem Auskunftsverlangen die Übermittlung von solchen Dokumenten verlangt wird, die vom Anwaltsprivileg geschützt sind. Eine Ablehnung der Geltung des Anwaltsprivilegs im Falle der Auskunftsverlangen würde den gebotenen Grundrechtsschutz der Betroffenen eines Kartellverfahrens aushöhlen, da die Kommission die Möglichkeit hätte, auf Unterlagen zuzugreifen, die ihr beim Nachprüfungsverfahren unzugänglich sind17. Würde man der Kommission das Recht einräumen, Unterlagen aus der Kommunikation zwischen dem Anwalt und dem Unternehmen zu sichten, während das Unternehmen nicht zur Offenlegung selbstbelastender Unterlagen gezwungen werden darf, würde das einen Wertungswiderspruch in der Rechtsordnung darstellen18. Insoweit stellt das Anwaltsprivileg ein wichtiges Korrelat des Auskunftsverweigerungsrechts dar. Es soll nun untersucht werden, inwieweit das Anwaltsprivileg im Allgemeinen grundrechtliche Züge aufweist und ob es als Grundrecht zu qualifizieren ist.
B. Das Anwaltsprivileg als Grundrecht I. Anhaltspunkte in der EU-Grundrechtecharta Das Anwaltsprivileg ist mittelbar in der Europäischen Grundrechtecharta verankert19. Mehrere Vorschriften der Charta könnten als Rechtsgrundlagen des Anwaltsprivilegs herangezogen werden: Zum einen könnte man sich auf Art. 8 GRCH stützen, der den Schutz der personenbezogenen Daten statuiert. Bereits vor der Einführung der Grundrechtecharta wurde der Schutz der personenbezoge 16 EuGH, Urteil v. 18.5.1982, Rs. 155/79, American Mining and Smelting (AM & S)/Kommission, Slg. 1982, 1575, Rdnr. 18–28. 17 Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Vorbemerkungen zu Art. 17–22, Rdnr. 48. 18 Weiß, S. 413. 19 ABl. EU v. 30.3.2010, C 83/389.
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
nen Daten von der Rechtsprechung des EuGH20 durch Heranziehung des Rechts auf Achtung des Privatlebens anerkannt21. Der Schutz personenbezogener Daten schließt auch die Vertraulichkeit der Korrespondenz mit dem Anwalt ein22. Zum anderen könnte Art. 47 Abs. 2 S. 2 GRCH herangezogen werden, der das Recht gewährleistet, sich durch einen Anwalt beraten, verteidigen oder vertreten zu lassen. Bereits vor seinem Einzug in die Grundrechtecharta wurde dieses Recht in der Eu-GH-Rechtsprechung anerkannt, da es aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten hervorgeht23. Art. 47 Abs. 2 S. 2 GRCH kann als Grundlage des Schutzes der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwälten und ihren Mandanten im Rahmen der Rechtsberatung angesehen werden24. Zu erwähnen ist ferner, dass das in Art. 47 Abs. 2 GRCH statuierte Recht auf Verteidigerbeistand eine Neuheit der Grundrechtecharta im Vergleich zur EMRK darstellt25, da in der EMRK keine entsprechende Regelung zu finden ist. Es wäre aber richtiger, als Grundlage für den Vertraulichkeitsschutz der anwaltlichen Korrespondenz Art. 47 Abs. 2 i. V. m. Art. 41 Abs. 1 GRCH anzunehmen26, da der juristische Beistand und der ungestörte Zugang zur juristischen Beratung zu den Grundlagen eines fairen Verfahrens gehören. Ferner ist Art. 48 Abs. 2 GRCH, der die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet, von besonderer Bedeutung für das Anwaltsprivileg. Diese Vorschrift (wie auch Art. 48 Abs. 1 GRCH) gilt nicht nur für Verfahren, die zur Verhängung einer Strafe ausgerichtet sind, sondern auch für solche Verfahren, die zur Verhängung von strafrechtsähnlichen Sanktionen, wie zum Beispiel das Kartellverfahren, führen können27. Der EuGH hat durch seine Rechtsprechung die Geltung der Verteidigungsrechte auch für strafrechtsähnliche Verfahren anerkannt28. Die in Art. 48 Abs. 2 GRCH niedergelegten Verteidigungsrechte schließen auch das Recht auf ein faires Verfahren ein29, das wiederum das Recht auf einen Verteidiger beinhaltet. Es erscheint daher konsequent anzunehmen, dass sich die Gewährleistung anwaltlichen Beistands ohne Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant zu einer inhaltsleeren Hülse entwickeln würde. 20 EuGH, Urteil v. 20.05.2003, Rs. C-465/00, Rechnungshof/Österreichischer Rundfunk und andere und Rs. C-138/01, Christa Neukomm/Österreichischer Rundfunk und Rs. C-139/01, Joseph Lauermann/Österreichischer Rundfunk, Slg. 2003, I-4989, Rdnr. 71 ff. 21 Jarass, § 13, Rdnr. 1. 22 Streinz, in: Streinz (Hrsg.), Art. 8 EUGrCh, Rdnr. 3. 23 EuGH, Urteil v. 28.3.2000, Rs. 7/98, Krombach/Bamberski, Slg. 2000, I-1935, Rdnr. 38. 24 Jarass, § 40, Rdnr. 45, S. 458; davon scheint auch Blanke, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Art. 47 GRCh, Rdnr. 18, auszugehen. 25 Eser, in: Meyer (Hrsg.), Art. 47, Rdnr. 37. 26 So auch Kehl, S. 134. 27 Jarass, § 41, Rdnr. 19. 28 EuGH, Urteil v. 13.2.1979, Rs. 85/76, Hoffmann-La Roche/Kommission, Slg. 1979, 461, Rdnr. 9, Urteil v. 23.9.2003, Rs. C-78/01, BGL, Slg. 2003, I-9543, Rdnr. 52, Urteil v. 7.1.2004, Rs. 204/00, Aalborg Portland u. a./Kommission, Slg. 2004, I-123, Rdnr. 64. 29 Streinz, in: Streinz (Hrsg.), Art. 47 EUGrCh, Rdnr. 5.
B. Das Anwaltsprivileg als Grundrecht
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II. Anhaltspunkte in der EuGH-Rechtsprechung Der EuGH erkennt in ständiger Rechtsprechung an, dass die Mitgliedstaaten zur Beachtung der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts, zu denen nach der Rechtsprechung des EuGH auch die EU-Grundrechte zählen, verpflichtet sind, wenn sie im Anwendungsbereich der Verträge tätig werden30. Ein unionsrechticher Bezug wird auch in jenen Fällen angenommen, in denen mitgliedstaatliche Organe EU-Recht auf nationaler Ebene umsetzen und dabei als „verlängerter Arm“ der EU tätig werden. Als verlängerter Arm der EU gelten nach der Modernisierung des EU-Wettbewerbsrechts und dem dezentralen Vollzug der Art. 101 und 102 AEUV die nationalen Kartellbehörden und Gerichte, die zur Beachtung der EU-Grundrechte, wie sie sich insbesondere aus der Europäischen Grundrechtecharta ergeben, verpflichtet sind. In der Rechtsprechung des EuGH wird allerdings das „aus den gemeinsamen Grundsätzen und Vorstellungen der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten“ abgeleitete31 Anwaltsprivileg als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts und nicht als Grundrecht bezeichnet. Das ist unproblematisch, da die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des EU-Rechts gehören. Die Rechtsprechung des EuGH in Bezug auf das Anwaltsprivileg steht im Einklang mit der Rechtstradition des Common-law (aus der das Anwaltsprivileg in die EU-Rechtsordnung übergegangen ist), in der das Anwaltsprivileg als fundamentales Menschenrecht anerkannt wird32. Die Beratende Kommission der Anwaltschaften der Europäischen Gemeinschaften hat bereits im Rahmen des AM & S-Verfahrens vorgebracht, dass das Recht auf Vertraulichkeit der Mitteilungen zwischen Anwalt und Mandant als „Grund-, Verfassungs- oder Menschenrecht“ zu schützen sei33.
30 Siehe beispielsweise EuGH, Urt. v. 18.6.1991, Rs. C-260/89, Dimotiki Etairia Pliroforisis/ ERT, Slg. 1991, I-2925, 2964, Rdnr. 42; Urt. v. 4.10.1991, Rs. C-159/90, The Society for the Protection of Unborn Children Ireland Ltd/Stephen Grogan u. a., Slg. 1991, I-4685, Rdnr. 31. 31 EuGH, Urteil v. 18.5.1982, Rs. 155/79, AM & S Europe Ltd/Kommission, Slg. 1982, I-1575, Rdnr. 8. 32 So Kerse/Khan, S. 129, Rdnr. 3–043, die folgende Aussage von Lord Hoffmann in der Rechtssache R./Special Commissioner Ex parte Morgan Grenfell zitieren: „The legal pro fessional privilege is a fundamental human right long established in the common law. It is a necessary corollary of the right of any person to obtain skilled advice about the law. Such advice cannot be effectively obtained unless the client is able to put all the facts before the adviser without fear that they may afterwards be disclosed and used to his prejudice.“ 33 EuGH, Urteil v. 18.5.1982, Rs. 155/79, AM & S Europe Ltd/Kommission, Slg. 1982, I-1575, Rdnr. 8.
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
III. Anhaltspunkte in der EMRK und in der EGMR-Rechtsprechung Zieht man die EMRK in Betracht, die vom EuGH in ständiger Rechtsprechung als Inspirationsquelle für den Grundrechtsschutz in der EU herangezogen wird und der die EU gemäß Art. 6 Abs. 2 EUV beizutreten hat, ergeben sich weitere Argumente für eine grundrechtliche Qualität des Anwaltsprivilegs. Aus Art. 6 EMRK, das das Recht auf ein faires Verfahren statuiert, Art. 8 EMRK, das das Privat- und Familienleben schützt, aus Art. 10 EMRK, das die Meinungsfreiheit garantiert, und aus Art. 13, das den effektiven Rechtsschutz garantiert, ergeben sich sowohl Verpflichtungen des nationalen und europäischen Gesetzgebers zur Einführung eines Schutzes der Anwaltskorrespondenz, als auch Eingriffsmöglichkeiten, insbesondere dann, wenn die in Art. 8 Abs. 2 und 10 Abs. 2 EMRK festgelegten Voraussetzungen erfüllt werden. Die Einschränkungen müssen aber verhältnismäßig sein, oder, wie Art. 8 Abs. 2 EMRK vorsieht, „gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft für das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Aufrechterhaltung der Ordnung, die Verhütung von Straftaten und den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sein“. Es ist nicht sofort ersichtlich, warum Durchsuchungen der Büros von Unternehmensjuristen und deren Befragung im Rahmen der kartellrechtlichen Ermittlungen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind. Die für die Ermittlungen wichtigen Informationen könnten auch durch die Befragung von anderen Unternehmensbediensteten erlangt werden34. Weiterhin sind die in Art. 6 Abs. 3 EMRK festgelegten Verbürgungen (Recht auf Unterrichtung über die Beschuldigung, Recht auf Gewährung ausreichender Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung, Recht auf Zuziehung juristischen Beistands und Recht Zeugen zu laden und Belastungszeugen zu befragen) Teil der Garantie des fairen Verfahrens35. Der EGMR hat bereits festgestellt, dass sich aus Art. 6 Abs. 1 Buchst. c EMRK ein Recht auf ungestörte und unbewachte Kommunikation mit dem Verteidiger ergibt36. Darüber hinaus hat sich der EGMR mit dem Anwaltsprivileg in mehreren Fällen im Rahmen des Art. 8 EMRK über das Recht auf Achtung der Privatsphäre befasst37. In seinem Urteil im Fall Campbell stellte der EGMR fest, dass es im öffentlichen Interesse liegt, dass eine Person, die den Rat eines Rechtsanwalts einholen möchte, das unter Bedingungen machen darf, die eine umfassende und ungestörte Kommunikation gewährleisten. Aus diesem Grund sei das Verhältnis Mandant 34
So Seitz, EuZW 2004, 231 (234). Meyer-Ladewig, Art. 6 EMRK, Rdnr. 222. 36 EGMR, Urt. v. 28.11.1991, Beschwerdenr. 12629/87; 13965/88, S./.Schweiz, Ziff. 48. 37 Siehe z. B. EGMR, Urteil v. 25.03.1992, Beschwerdenr. 13590/88, Campbell./.Vereinigtes Königreich; Urteil v. 20.06.2000, Beschwerdenr. 33274/96, Foxley./.Vereinigtes Königreich; Urteil v. 07.06.2007, Beschwerdenr. 71362/01, Smirnov./.Russland. 35
B. Das Anwaltsprivileg als Grundrecht
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Rechtsanwalt grundsätzlich privilegiert38. Im Fall Foxley sah der EGMR in der Öffnung, der Einsichtnahme und Erstellung von Kopien aus der Korrespondenz im Rahmen eines Insolvenzverfahrens zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Rechtsanwalt einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK39. Der EGMR betonte, dass das Verhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandanten grundsätzlich privilegiert ist und dass die in diesem Zusammenhang stattgefundene Korrespondenz von privater und vertraulicher Natur ist40. Schließlich stellte der EGMR im Fall S mirnov fest, dass die Beschlagnahmung des persönlichen Notizblocks und des Computers eines Rechtsanwalts gegen Art. 8 EMRK verstößt41. Aus alledem folgt, dass sowohl Art. 6 Abs. 3 Buchst. c) i. V. m. Abs. 1 EMRK als auch Art. 8 EMRK als Rechtsgrundlage des Schutzes der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant in der EMRK betrachtet werden sollten42.
IV. Anhaltspunkte in nationalen Rechtsordnungen Das „legal privilege“ oder „Anwaltsprivileg“ wurde aus der angelsächsischen Rechtsfamilie in die Rechtstradition des kontinentalen Europas übertragen, wie es sich nicht zuletzt aus dem weit verbreiteten Begriff „legal privilege“ ergibt. Es wird nicht in allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gleich geregelt, d. h. ihm werden nicht in allen Mitgliedstaaten die gleiche Reichweite und derselbe Status zuerkannt. Im Vereinigten Königreich gilt es als „ein akzessorisches Prinzip, das die Grundprinzipien des freien Zugangs zu den Gerichten und zum Rechtsbeistands untermauert“43. In Frankreich ist das Anwaltsprivileg dagegen auf einfacher gesetzlichen Ebene geregelt und gilt grundsätzlich sowohl im Rahmen der Verteidigung als auch im Rahmen der einfachen Beratung44. Dennoch erkennt die Cour de Cassation in Bezug auf die Geltung des Anwaltsprivilegs im Bereich des 38 EGMR, Urteil v. 25.03.1992, Beschwerdenr. 13590/88, Campbell./.Vereinigtes Königreich, Ziff. 46. 39 EGMR, Urteil v. 20.06.2000, Beschwerdenr. 33274/96, Foxley./.Vereinigtes Königreich, Ziff. 46. 40 EGMR, Urteil v. 20.06.2000, Beschwerdenr. 33274/96, Foxley./.Vereinigtes Königreich, Ziff. 43. 41 EGMR, Urteil v. 07.06.2007, Beschwerdenr. 71362/01, Smirnov./.Russland, Ziff. 48 f. 42 So Spielmann, in: Protokolle der Tagung „Le secret professionel de l’ avocat dans la jurisprudence européenne“, Barreau de Bruxelles – CCBE 21./22.01.2010, S. 14, Rdnr. 43. 43 „An auxiliary principle serving to buttress the cardinal principles of unimpeded access to the courts and to legal advice“: So in R (Daly) v Secretary of State for the Home Department, House of Lords, 24. April, 23. Mai 2001, [2001] 2 AC 532, per Lord Bingham of Cornhill, Rdnr. 11, zitiert von Andreangeli, Competition Law Review 2005, 31 (33). 44 Art. 66–5 des Gesetzes Nr. 71–1130 v. 31.12.1971. Mehr dazu in „Le secret professionel de l’ avocat en France“, Protokolle der Tagung „Le secret professionel de l’ avocat dans la jurisprudence européenne“ organisiert durch CCBE und Barreau de Bruxelles am 21./22. Januar 2010 in Brüssel, S. 2.
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
Wettbewerbsrechts, dass die Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant, die nicht zum Zweck der Verteidigung stattfindet, von der Wettbewerbsbehörde beschlagnahmt werden kann45. Schließlich wird die Kommunikation zwischen dem hausinternen Unternehmensjuristen und dem Unternehmen in Frankreich vom Anwaltsprivileg nicht geschützt46. Im Gegensatz zum EU-Recht ist das Anwaltsprivileg in der deutschen Rechtsordnung auf gesetzlicher Ebene geregelt. § 43a Abs. 2 BRAO verpflichtet jeden zugelassenen Rechtsanwalt zur Verschwiegenheit. Diese Pflicht gilt sowohl für selbständige, als auch für Syndikusanwälte47. Dieser Pflicht könnte nicht nachgekommen werden, wenn dem Rechtsanwalt kein Zeugnisverweigerungsrecht zustehen würde. Deswegen sieht § 53 Abs. 1 Nr. 2 und 3 StPO vor, dass Rechtsanwälte zur Verweigerung des Zeugnisses über alles berechtigt sind, was ihnen in ihrer Eigenschaft als Rechtsanwalt anvertraut oder bekannt geworden ist. Das Zeugnisverweigerungsrecht für Rechtsanwälte wird durch das Beschlagnahmeverbot des § 97 StPO ergänzt, das für im Gewahrsam des Rechtsanwalts befindliche Unterlagen gilt, um eine Umgehung des Zeugnisverweigerungsrechts durch die Beschlagnahme von Unterlagen im Rahmen von behördlichen Ermittlungsmaßnahmen zu verhindern48. Da § 43a Abs. 2 BRAO die Verschwiegenheitspflicht für alle zugelassenen Rechtsanwälte statuiert, sollten auch das Zeugnisverweigerungsrecht und das Beschlagnahmeverbot zu Gunsten aller zugelassenen Rechtsanwälte gelten. Im Gegensatz zum EU-Anwaltsprivileg sind Dokumente, die vor der Verfahrenseinleitung erstellt wurden und die den im Verfahren ermittelten Sachverhalt betreffen, vom deutschen Anwaltsprivileg nicht erfasst49. Trotz der teilweise unterschiedlichen Reichweite wird der Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant heutzutage in fast allen Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten als allgemeines Rechtsprinzip an-
45 „Le secret professionel de l’ avocat en France“, Protokolle der Tagung „Le secret professionel de l’ avocat dans la jurisprudence européenne“ organisiert durch CCBE und Barreau de Bruxelles am 21./22. Januar 2010 in Brüssel, S. 13. 46 „Le secret professionel de l’ avocat en France“, Protokolle der Tagung „Le secret professionel de l’ avocat dans la jurisprudence européenne“ organisiert durch CCBE und Barreau de Bruxelles am 21./22. Januar 2010 in Brüssel, S. 13. 47 Gronemeyer/Slobodenjuk, EWS 2010, 308 (311). Der Begriff „Syndikusanwalt“ wird in der deutschen Literatur verwendet und bezeichnet den zur Anwaltschaft zugelassenen Unternehmensjuristen. Er ist griechischer Abstammung („σύνδικος (syndikos)“ = der Fürsprecher, Streithelfer) und bedeutet denjenigen, der in einem Gericht für jemanden plädiert. Man sollte zwischen dem „Syndikus“ – als dem internen Unternehmensjuristen ohne Zulassung zur Anwaltschaft – und dem „Syndikusanwalt“ mit Zulassung zur Anwaltschaft differenzieren. Im Falle des ersteren würde das Anwaltsprivileg mangels Zulassung zur Anwaltschaft keine Anwendung finden. 48 So Krauss, WuW 2013, 24 (25). 49 Siehe dazu und zum Schutzumfang des Anwaltsprivilegs im deutschen Kartellbußgeld verfahren Krauss, WuW 2013, 24.
B. Das Anwaltsprivileg als Grundrecht
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erkannt50. Für die Anerkennung der Geltung eines allgemeinen Grundsatzes des europäischen Gemeinschaftsrechts ist es nicht erforderlich, dass dieses Recht in den nationalen Rechtsordnungen, in denen es gewährt wird, dieselbe Reichweite aufweist51.
V. Weitere Argumente für die grundrechtliche Natur des Anwaltsprivilegs Ferner könnte das Anwaltsprivileg als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips betrachtet werden. Die Achtung der beruflichen Tätigkeit des Rechtsanwalts als Mitgestalters der Rechtspflege und die Gewährung eines freien, ungehinderten Zugangs zum juristischen Beistand für jeden Bürger/-in sind unabdingbare Merkmale eines Verfahrens, das dem Prinzip des Rechtsstaats entspricht. Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit stellt eine tragende Säule der Rechtsordnung der Europäischen Union, die auch als Rechtsgemeinschaft bezeichnet wird52. Ein Ausdruck dieser Rechtsstaatlichkeit ist der Schutz der Grundrechte auf EU-Ebene53, wie er zuerst prätorisch entwickelt und später vom europäischen Gesetzgeber in Form der Charta der Grundrechte der Europäischen Union herauskristallisiert wurde. Schließlich weist das Anwaltsprivileg eine enge Beziehung zum Anhörungsrecht auf, das zu den grundrechtlichen Verbürgungen zählt54. Eine effektive Inanspruchnahme des Rechts auf Anhörung setzt die Möglichkeit voraus, juristischen Rat einholen zu dürfen55. Der Rechtsanwalt hilft den Betroffenen eines Kartellverfahrens dabei, sich zu den tatsächlichen und rechtlichen Fragen des Falles zu äußern und ihre Verteidigung effektiv zu gestalten. Der effektive juristische Beistand setzt wiederum den Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandanten vor. Aus diesem Grund könnte man auch behaupten, dass das Anwaltsprivileg ein wichtiger Teilaspekt des Grundrechts auf rechtliches Gehör darstellt.
50
Alvarez-Ligabue, S. 126. In Deutschland ergibt sich das Anwaltsprivileg aus einer Reihe von gesetzlichen Vorschriften: zum Einen aus dem Berufsgeheimnis (§ 203 Abs. 1 StGB, § 43a Abs. 2 BRAO), zum anderen aus dem Recht der Zeugenaussageverweigerung (§ 53 Abs. 1 StPO) und aus dem Schutz der Dokumente und der Kanzlei eines Anwalts vor Durchsuchung und Beschlagnahme (§ 97 StPO). In Österreich ist § 9 der Rechtsanwaltsordnung die Rechtsgrundlage des Anwaltsprivilegs. 51 Alvarez-Ligabue, S. 126. 52 Siehe Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Art. 1 EGV, Rdnr. 44. Vgl. auch Art. 2 Satz 1 EUV: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte, die Minderheiten angehören“. 53 Vgl. Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Art. 1 EGV, Rdnr. 44. 54 Siehe Art. 41 Abs. 2 Buchst. a) und Art. 48 EGC. 55 Alvarez-Ligabue, S. 125.
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
VI. Ergebnis Aus alledem geht hervor, dass es sich beim Gebot eines umfassenden Schutzes der Vertraulichkeit der Anwaltskorrespondenz, auch wenn der EuGH diesbezüglich den Begriff „Grundrecht“ nicht verwendet, um eine grundrechtliche Verbürgung handelt56. Somit genießt das europarechtliche Anwaltsprivileg Vorrang vor europäischem Sekundärrecht und von nationalen Gewährleistungen desselben Rechts auf einfachgesetzlicher Ebene.
C. Einschränkungsmöglichkeit des Anwaltsprivilegs aus Gründen der Verfahrenseffizienz? Aus den vorangegangenen Überlegungen folgt, dass es sich beim Schutz der Vertraulichkeit der Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandant um eine Verbürgung mit grundrechtlichem Charakter handelt und zugleich um ein rechtsstaatliches Prinzip, dessen Grundlagen in Art. 47 Abs. 2 i. V. m. Art. 41 Abs. 1 und Art. 48 Abs. 2 GRCH und in Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 lit. c EMRK zu finden sind. Es stellt sich dann die Frage, inwieweit sich das Anwaltsprivileg aus Gründen der Effizienz des EU-Kartellverfahrens einschränken lässt. Das Anwaltsprivileg scheint mit dem Interesse der Kommission als Hüterin der Verträge im Allgemeinen und des funktionierenden Wettbewerbs in der Europäischen Union an der effektiven Aufdeckung und Ahndung von Wettbewerbsverstößen zu kollidieren. Zur wirksamen Erfüllung ihrer Aufgabe benötigt die Kommission Zugriff auf schwer zu erlangendes Beweismaterial, das theoretisch zumindest auch der Schriftverkehr zwischen Anwalt und Mandant darstellen könnte. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass in der Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandant wichtige Informationen über das eventuell wettbewerbswidrige Verhalten eines Unternehmens enthalten sind. Die Gewährung des Vertraulichkeitsschutzes führt aber dazu, dass der Kommission der Einblick in diesen Schriftverkehr verboten ist. Die Kommission darf weder durch ein Auskunftsverlangen noch durch eine Nachprüfung Einsicht in privilegiertem Schriftverkehr zwischen dem Anwalt und dem Mandanten verlangen. In Bezug auf die dadurch entstehende Behinderung der Ermittlungstätigkeit der Kommission stellt sich die Frage, inwieweit diese Behinderung durch die hervorgehobene Bedeutung des Anwaltsprivilegs gerechtfertigt ist, oder, ob die Reichweite des Anwaltsprivilegs eingeschränkt werden sollte.
56
So Schwarze, EuGRZ 1983, 117 (122 f.), der die Bedeutung des AM & S-Urteils „in der Erweiterung des Grundrechtskatalogs um ein neues Grundrecht und in der Entwicklung neuer verfahrensmäßiger Regeln zur Ausformung der gemeinschaftsrechtlichen Grundrechte“ sieht; Buntscheck, WuW 2007, 229 (240).
C. Einschränkungsmöglichkeit des Anwaltsprivilegs
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Würde man sich für eine Einschränkung des Anwaltsprivilegs entscheiden, würde das dazu führen, dass die anwaltliche Beratung nur unter besonderen Vorkehrungen zum Schutz gegen einen potenziellen Eingriff in ihre Vertraulichkeit und fast ausschließlich mündlich stattfinden hätte müssen57. Eine sinnvolle, hochwertige Rechtsberatung wäre nur schwer möglich, was Einbußen an der wichtigen rechtsstaatlichen Garantie der Verteidigung bedeuten würde. Im Hinblick auf das Erfordernis der Selbstveranlagung der Vereinbarkeit des Verhaltens eines Unternehmens mit dem Wettbewerbsrecht erscheint eine Einschränkung des Anwaltsprivilegs umso weniger vertretbar. Ferner darf nicht außer Acht gelassen werden, dass der Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant nicht nur dem Interesse des Mandanten an effektiver Verteidigung und dem Interesse des Anwalts an freier Ausübung seiner Berufstätigkeit, sondern auch gleichermaßen dem öffentlichen Interesse einer geordneten Rechtspflege dient58. Es könnte argumentiert werden, dass das Anwaltsprivileg auch dem öffentlichen Interesse der Einhaltung des EU-Wettbewerbsrechts dient. Das ist nicht nur auf die besondere Komplexität des EU-Wettbewerbsrechts59, sondern auch auf den Systemwechsel zur Legalausnahme zurückzuführen, der von den Unternehmen Eigenverantwortung und Selbsteinschätzung der Vereinbarkeit ihrer Aktivitäten mit dem EU-Wettbewerbsrecht verlangt. Die präventive Rechtsberatung durch einen Rechtsanwalt trägt also wesentlich zur Einhaltung der kartellrechtlichen Normen und zur effizienten Durchführung von Compliance-Programmen bei. Bei einer eventuellen Einschränkung des Anwaltsprivilegs wäre die Rechtsberatung lückenhaft und dieser Umstand würde dem öffentlichen Interesse zur Beachtung des Wettbewerbsrechts zuwiderlaufen. Deshalb handelt es sich bei der Frage Verfahrenseffizienz oder Schutz der Vertraulichkeit der Korrespondenz um ein Pseudodilemma. Das Anwaltsprivileg und die effiziente Wahrung des europäischen Kartellrechts gehen Hand in Hand, da eine Voraussetzung für die wirksame Durchsetzung des EG-Kartellrechts die Zusammenarbeit aller Beteiligten ist, zu denen auch die Rechtsanwälte zählen. Die Letzteren können ihrer Rolle nur dann gerecht werden, wenn die Vertraulichkeit der Rechtsberatung geschützt ist. Des Weiteren wird dem öffentlichen Interesse auf Aufdeckung und Ahndung von Kartellverstößen gerade auch durch die Anerkennung der Vertraulichkeit der anwaltlichen Korrespondenz gedient, wie bereits gezeigt wurde. Dennoch hat der Schutz der Vertraulichkeit der Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandanten keinen absoluten Charakter. Ein Unternehmen kann auf den 57
Kehl, S. 136. Kehl, S. 137. 59 Als Beispiel sei hier nur der EU-wettbewerbliche Rahmen für den Kfz-Sektor genannt, der bis zum 30.6.2013 durch zwei Verordnungen (VO 1400/02, VO 461/10), die ergänzenden KfzLeitlinien und den Leitfaden zur VO 1400/02 geregelt wird. 58
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
Schutz des Anwaltsprivilegs verzichten und den Schriftverkehr mit seinem Anwalt Dritten zugänglich machen. Falls die Kommission im Rahmen einer Durchsuchung Anwaltskorrespondenz bei einem Dritten findet, darf sie Einsicht in sie nehmen, da die Korrespondenz in einem solchen Fall nicht mehr vom Anwalts privileg erfasst wird60. Auf den Schutz der Vertraulichkeit der Korrespondenz kann allerdings nur das Unternehmen und nicht der Anwalt verzichten, worauf der EuGH bereits hin gewiesen hat61. Diese Feststellung ist Ausfluss der Natur des Anwaltsprivilegs im kartellrechtlichen Verfahren, das mehr auf die Schutzbedürfnisse der Verfahrenspartei und weniger auf die des Anwalts zugeschnitten ist62, und, das sich von der Natur des für Gerichtsverfahren geltenden Anwaltsprivilegs darin unterscheidet, dass letztere zumindest in gleichem Maß die Interessen des Anwalts an freier Ausübung seiner Tätigkeit schützt. Diese Feststellung über die Natur des kartellrechtlichen Anwaltsprivilegs lässt sich auch auf die Einstufung des Schutzes der Vertraulichkeit als Verteidigungsrecht stützen63. Nun soll untersucht werden, wie der EGMR und die Unionsgerichte das Anwaltsprivleg auslegen und inwieweit dabei seine grundrechtliche Qualität zum Ausdruck kommt.
D. Die Entwicklung des Schutzes der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant in der Rechtsprechung des EGMR und der Unionsgerichte I. Die EGMR-Rechtsprechung zum Anwaltsprivileg Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat wiederholt in seiner Rechtsprechung betont, dass das Recht eines Angeklagten, mit seinem Rechtsanwalt frei zu kommunizieren, zu den Grundvoraussetzungen eines fairen Verfahrens in einer demokratischen Gesellschaft gehört64. Im Urteil Campbell vom 25. März 199265, in dem es um die Einsicht in den Briefwechsel zwischen einem Gefängnisinsassen und seinem Rechtsanwalt ging, stellte der EGMR fest, dass „es 60
Bischke, in: MünchKommEuWettbR, Vor Art. 17 VO 1/2003, Rdnr. 18. EuGH, Urteil v. 18.5.1982, Rs. 155/79, AM & S Europe Ltd/Kommission, Slg. 1982, I-1575, Rdnr. 28. 62 Alvarez-Ligabue, S. 131. 63 Alvarez-Ligabue,S. 131. 64 EGMR, Urteil v. 28.11.1991, Beschwerdenr. 12629/87, S./Schweiz, Ziff. 48; Urteil v. 21.02.1975, Beschwerdenr. 4451/70, Golder/Vereinigtes Königreich, Ziff. 26. 65 EGMR, Urteil v. 25.03.1992, Beschwerdenr. 13590/88, Campbell./.Vereinigtes Königreich. 61
D. Rechtsprechung des EGMR und der Unionsgerichte
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offensichtlich ist, dass es im allgemeinen Interesse liegt, dass jede Person, die sich von einem Rechtsanwalt beraten lassen möchte, frei sein muss, es unter solchen Bedingungen zu tun, die ein umfassendes und unbehindertes Gespräch fördern. Aus diesem Grund ist das Verhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant grundsätzlich privilegiert“66. In seinem Urteil im Fall Foxley/Vereinigtes Königreich67 vom 30. Juni 2000 sah der EGMR einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK in der Öffnung, Ablesung und Anfertigung von einer Kopie der schriftlichen Kommunikation zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Rechtsanwalt im Rahmen eines Insolvenzverfahrens. Der Verstoß war in der Auffassung des Gerichtshofs nicht notwendig in einer demokratischen Gesellschaft. Der EGMR betonte unter Verweis auf das CampbellUrteil, dass das Verhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant grundsätzlich privilegiert sei und dass die daraus ergehende Korrespondenz unabhängig von ihrem Zweck privater und vertraulicher Natur ist68. Der vom EGMR gewährleistete Schutz der Vertraulichkeit der Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandanten ist aber nicht absolut. Er kann eingeschränkt werden, wenn geeignete und ausreichende Garantien gegen einen Missbrauch vorhanden sind. Eine gerechtfertigte Einschränkung des Grundsatzes der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant erblickte der EGMR in der präventiven Kontrolle der Korrespondenz zwischen einem Terrorismus verdächtigen, der in Untersuchungshaft saß, und seinem Rechtsanwalt69. Unter Berücksichtigung der vom Terrorismus ausgehenden Gefahr, der für die Kontrolle der Korrespondenz geltenden Garantien und des Ermessensspielraums der Vertragsstaaten kam der EGMR zum Schluss, dass der Eingriff angemessen zu den verfolgten Zwecken war, nachdem er darauf hingewiesen hatte, dass die Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen einem Gefangenen und seinem Verteidiger ein Grundrecht darstellt und die Verteidigungsrechte unmittelbar betrifft70. Die Achtung des Berufsgeheimnisses des Anwalts stellt eine Garantie des Rechts auf ein faires Verfahren dar71. Die Vorbereitung der Verteidigung setzt die ungehinderte Kontaktaufnahme zwischen Rechtsanwalt und Mandant voraus. Der EGMR hat sich vor allem in strafrechtlichen Fällen mit dem Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant auseinandergesetzt. Aus seinen Urteilen in den Fällen Campbell/Vereinigtes Königreich72, 66 EGMR, Urteil v. 25.03.1992, Beschwerdenr. 13590/88, Campbell./.Vereinigtes Königreich, Ziff. 46. 67 EGMR, Urteil v. 20.06.2000, Beschwerdenr. 33274/96, Foxley./.Vereinigtes Königreich. 68 EGMR, Urteil v. 20.06.2000, Beschwerdenr. 33274/96, Foxley./.Vereinigtes Königreich, Ziff. 43. 69 EGMR, Urteil v. 5.7.2001, Beschwerdenr. 38321/97, Erdem./.Deutschland. 70 EGMR, Urteil v. 5.7.2001, Beschwerdenr. 38321/97, Erdem./.Deutschland, Ziff. 65. 71 Spielmann, S. 11, Rdnr. 30. 72 EGMR, Urteil v. 25.03.1992, Beschwerdenr. 13590/88, Campbell./.Vereinigtes Königreich.
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
S./Schweiz73 und Modarca/Moldawien74 lässt sich feststellen, dass die Gespräche eines Mandanten mit seinem Rechtsanwalt ohne die Anwesenheit einer dritten Person stattfinden müssen, unbewacht sein müssen und in Räumen ohne Trennwände zwischen Anwalt und Mandant durchgeführt werden müssen. Der hohe Stellenwert des Schutzes des anwaltlichen Berufsgeheimnisses und der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant, die ihren Ursprung im strafrechtlichen Bereich findet, lässt sich ohne weiteres auf Verwaltungsverfahren mit strafrechtsähnlichem Charakter wie das Kartellverfahren der Europäischen Kommission übertragen. So beansprucht die Feststellung des belgischen Richters Jan de Meyer in seiner zustimmenden Stellungnahme im Urteil S./Schweiz vom 28. November 1991, dass „die Freiheit und die Unverletzlichkeit der Kommunikation eines Angeklagten mit seinem Rechtsanwalt zu den grundlegenden Garantien eines fairen Verfahrens gehören“75, auch im Kartellverfahren vor der EU-Kommission Geltung. Der Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant wurde in der Rechtsprechung des EGMR auch auf Art. 8 EMRK gestützt, der das Recht auf Achtung des Privatlebens gewährleistet. Im Fall Kopp/Schweiz76 handelte es sich um die Überwachung von Telefongesprächen des Beschwerdeführers, der auch Rechtsanwalt war. Der Gerichtshof befand, dass die Überwachung eine Verletzung des in Art. 8 EMRK garantierten Rechts auf Schutz des Privatund Familienlebens, der Wohnung und der Korrespondenz darstellt, die sich nicht durch die Einschränkungstatbestände des zweiten Absatzes dieser Vorschrift rechtfertigen ließen, da dem Beschwerdeführer „als Rechtsanwalt nicht mal das Mindestschutzniveau, wie vom rechtsstaatlichen Prinzip in einer demokratischen Gesellschaft erfordert, gewährt wurde“77. Die Überwachungsmaßnahme verletzte also Art. 8 EMRK, weil sie dem „besonderen Status der Rechtsanwälte“78 und „ihrer zentralen Rolle im juristischen Verfahren als Vermittler zwischen der Bürger und der Gerichte“79 keine Rechnung trug. Auch im Urteil Foxley/Vereinigtes Königreich hat der EGMR das Anwaltsprivileg unter Art. 8 EMRK subsumiert80. Der EGMR scheint den Schutz der Vertraulichkeit nicht nur für die Kommunikation zwischen einem Anwalt und seinem Mandanten, aber auch allgemeiner zwischen einem Verteidiger und seinem Mandanten anzuerkennen. Im Fall AB/Niederlande81 hat der Straßburger Gerichtshof den privilegierten Schutz der 73
EGMR, Urteil v. 28.11.1991, Beschwerdenr. 12629/87, S./Schweiz. EGMR, Urteil v. 10.5.2007, Beschwerdenr. 14437/05, Modarca./.Moldawien. 75 EGMR, Urteil v. 28.11.1991, Beschwerdenr. 12629/87, S./Schweiz. 76 EGMR, Urteil v. 25.03.1998, Beschwerdenr. 23224/94, Kopp./.Schweiz. 77 EGMR, Urteil v. 25.03.1998, Beschwerdenr. 23224/94, Kopp./.Schweiz, Ziff. 75. 78 EGMR, Urteil v. 21.03.2002, Beschwerdenr. 31611/96, Nikula./.Finnland, Ziff. 45. 79 EGMR, Urteil v. 21.03.2002, Beschwerdenr. 31611/96, Nikula./.Finnland, Ziff. 45. 80 EGMR, Urteil v. 20.06.2000, Beschwerdenr. 33274/96, Foxley./.Vereinigtes Königreich, Ziff. 27 ff. 81 EGMR, Urteil v. 29.01.2002, Beschwerdenr. 37328/97, AB./.Niederlande. 74
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Korrespondenz zwischen Rechtsanwalt und Mandant so weit ausgedehnt, dass er auch die Korrespondenz mit dem Vertreter des Beschwerdeführers vor Gericht (in diesem Fall ging es um einen ehemaligen Gefängnismitinsassen des Beschwerdeführers) umfasste. Der EGMR hat betont, dass „weder die Konvention, noch die Verfahrensordnung der Europäischen Kommission für Menschenrechte es zum damaligen Zeitpunkt als erforderlich vorsahen, dass die Vertreter der Beschwerdeführer zugelassene Rechtsanwälte sind“82. Daraus ergibt sich, dass der EGMR das Anwaltsprivileg besonders weit auslegt. Dadurch will er sichern, dass die Rechtsanwälte ihre Mission, die Leistung juristischen Beistandes, so effektiv wie möglich erfüllen können83. Wichtige Bedingung für die Erreichung dieses Ziels ist die Geheimhaltung des Inhalts der Kommunikation der Rechtsanwälte mit ihren Mandanten, da nur so angemessener juristischer Beistand und effektiver Zugang zu den Gerichten gewährleistet werden kann84. Das Anwaltsprivileg stellt eine vom EGMR anerkannte und geschützte grundrechtliche Verbürgung dar. Aus der einschlägigen Rechtsprechung geht hervor, dass es sowohl auf Art. 6 als auch auf Art. 8 EMRK gründet. Einerseits stellt der Schutz der Vertraulichkeit der Anwaltskorrespondenz eine unabdingbare Garantie eines fairen Verfahrens. Andererseits ist der Schutz dieser Vertraulichkeit eine Erscheinung des Privatlebens des Rechtsanwalts und seines Mandanten, die geachtet werden muss. Die in der EGMR-Rechtsprechung weite Auslegung des sich aus Art. 6 und 8 EMRK ergebenden Anwaltsprivileg ist ein Ausdruck der zweckgerichteten Auslegungsmethode der Konvention vom EGMR, der damit sicherstellen will, dass der Wesensgehalt der EMRK-Vorschriften nicht ausgehöhlt wird85.
II. Die Rechtsprechung der Unionsgerichte zum Anwaltsprivileg Da eine ausdrückliche Regelung des Schutzes der Vertraulichkeit der Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandant im Unionsrecht fehlte (und immer noch fehlt) und da dieses Recht bereits in einigen nationalen Rechtsordnungen festgeschrieben war, hat der EuGH die Chance ergriffen, diese Lücke im EURecht durch Rechtsfortbildung zu füllen. Im Jahre 1982 lieferte der Gerichtshof mit dem Urteil im Fall AM & S86 eine Leitentscheidung über das Anwaltsprivileg im kartellrechtlichen Kommissionsverfahren, in der der EuGH in einer 82
EGMR, Urteil v. 29.01.2002, Beschwerdenr. 37328/97, AB./.Niederlande, Ziff. 86. Andreangeli, CompLRev 2005, 31 (35). 84 EGMR, Urteil v. 21.02.1975, Beschwerdenr. 4451/70, Golder/Vereinigtes Königreich, Ziff. 26. 85 Andreangeli, CompLRev 2005, 31 (36). 86 EuGH, Urteil v. 18.5.1982, Rs. 155/79, AM & S Europe Ltd/Kommission, Slg. 1982, I-1575. 83
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
quasi-legislativen Funktion87 und durch Heranziehung der Methode der wertenden Rechtsvergleichung88 die Geltung des Anwaltsprivilegs anerkannte und seine Anwendungsvoraussetzungen festlegte. An diesem Punkt ist es angebracht zu merken, dass die Entscheidungspraxis der Kommission vor der Verkündung des AM & S-Urteils keine ablehnende Haltung bezüglich des Anwaltsprivilegs hatte89. Die Kommission legte besonderen Wert darin, dass sie selbst über die Qualifizierung der Schriftstücke als anwaltliche Korrespondenz entscheiden durfte, was natürlich ihrerseits eine Einsichtnahme in die strittigen Dokumente erforderte. Diesel Einsichtnahme bedeutete allerdings eine erhebliche Minderung des Vertraulichkeitsschutzes. 1. Das EuGH-Urteil vom 18.5.1982, AM & S/Kommission, Rs. 155/79 Dem Fall AM & S lag eine Entscheidung der Kommission zugrunde, mit der sie das Unternehmen „Australian Mining and Smelting Europe Limited“ (im Folgenden „AM & S“) verpflichtete, ihr bestimmte Dokumente offenzulegen, die nach der Auffassung des Unternehmens dem Schutz der Vertraulichkeit der Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandant unterlagen. Gegen die Entscheidung der Kommission reichte das Unternehmen Nichtigkeitsklage ein. Der EuGH äußerte sich in diesem Urteil zum Bestand und Umfang des Schutzes der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant im europäischen Kartellverfahren. Indem er die Methode der wertenden Rechtsvergleichung anwendete90 (die Verfahrensbeteiligten wurden vom Gerichtshof zur Stellungnahme darüber aufgefordert, inwieweit in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Schrifttum der verschiedenen Mitgliedstaaten der Schutz der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Anwalt und Mandant festgelegt oder anerkannt wurde), kam er zur Feststellung, dass die Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Rechtsanwalt und Mandant auch im europäischen Kartellverfahren geschützt werden müsse91. Der EuGH betonte in diesem Urteil, dass der Schutz der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Anwalt und Mandant als notwendige Ergänzung der Rechte der Verteidigung gewährleistet sein muss92. Diese Feststellung begründete 87 Für diese Bezeichnung siehe Generalanwalt Forwood, European Court of Justice case law on legal professional privilege, S. 4. 88 Rethorn, in: FS für Alfred Söllner, S. 896. 89 So Kehl, S. 115. 90 Für eine ausführliche Analyse der vom EuGH im Urteil AM & S durchgeführten Rechtsvergleichung siehe Rethorn, in: FS für Alfred Söllner, S. 893 ff. 91 EuGH, Urteil v. 18.5.1982, Rs. 155/79, AM & S Europe Ltd/Kommission, Slg. 1982, I-1575, Rdnr. 22. 92 EuGH, Urteil v. 18.5.1982, Rs. 155/79, AM & S Europe Ltd/Kommission, Slg. 1982, I-1575, Rdnr. 23.
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er durch Heranziehung von gemeinsamen Grundsätzen in den nationalen Rechtsordnungen. In allen Mitgliedstaaten werde das Recht gewährt, sich völlig frei an einen Rechtsanwalt wenden zu können, zu dessen beruflichen Aufgaben es gehört, unabhängige Rechtsberatung all denen zu erteilen, die danach fragen93. Zwar werde dieser Schutz nicht in allen Mitgliedstaaten hinsichtlich seiner Reichweite und seiner Anwendungsvoraussetzungen gleich garantiert, aber, so der EuGH, die Anwaltskorrespondenz werde unter vergleichbaren Bedingungen gewährt, wenn der Schriftwechsel zum einen im Rahmen und im Interesse des Rechts des Mandanten auf Verteidigung geführt wird und zum anderen von unabhängigen Rechtsanwälten ausgeht, das heißt von Anwälten, die nicht durch einen Dienstvertrag an den Mandanten gebunden sind94. Ferner stellte der EuGH fest, dass es zwei Gründe gibt, warum die Rechts ordnungen der Mitgliedstaaten diese Privilegierung der anwaltlichen Kommunikation gewähren: Zum einen sind Rechtsanwälte Mitgestalter der Rechtspflege, die „in völliger Unabhängigkeit“ und in „vorrangigem Interesse“ dem Mandanten die rechtliche Unterstützung zu gewähren haben, die dieser braucht, und zum anderen entspricht die Wahrung der Vertraulichkeit den Verteidigungsrechten95. Notwendiges Korrelat des Vertraulichkeitsschutzes sind die Berufs- und Standespflichten, die im allgemeinen Interesse von dazu ermächtigten Institutionen festgelegt sind und um ihre Einhaltung kontrolliert werden96. Aus diesen Gründen machte der EuGH die Geltung des Anwaltsprivilegs von zwei Bedingungen abhängig: a) Es muss sich um Schriftverkehr mit einem in der EU zugelassenen und niedergelassenen Rechtsanwalt handeln, der unabhängig ist, d. h. der nicht durch einen Dienstvertrag an den Mandanten gebunden ist. Das europarechtliche Anwaltsprivileg erfasst also nur die Rechtsberatung durch Anwälte, die in der EU praktizieren dürfen97. b) Der Schriftverkehr muss im Interesse des Mandanten und im Rahmen der Verteidigung geführt werden oder worden sein. Die Einschränkung des Schutzes durch die Festlegung der Voraussetzung eines unabhängigen Rechtsanwalts wurde vom EuGH mit dem konkreten Bild des Rechtsanwalts als Mitgestalter der Rechtspflege begründet, der in Unabhängigkeit
93
EuGH, Urteil v. 18.5.1982, Rs. I-1575, Rdnr. 18. 94 EuGH, Urteil v. 18.5.1982, Rs. I-1575, Rdnr. 21. 95 EuGH, Urteil v. 18.5.1982, Rs. I-1575, Rdnr. 20, 24 und 27. 96 EuGH, Urteil v. 18.5.1982, Rs. I-1575, Rdnr. 24. 97 de Bronett, Art. 20, Rdnr. 11.
155/79, AM & S Europe Ltd/Kommission, Slg. 1982, 155/79, AM & S Europe Ltd/Kommission, Slg. 1982, 155/79, AM & S Europe Ltd/Kommission, Slg. 1982, 155/79, AM & S Europe Ltd/Kommission, Slg. 1982,
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
dem Interesse des Mandanten dienen solle98. Indem der EuGH das Merkmal der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts hervorhob, klammerte er die unternehmensinternen Anwälte vom Vertraulichkeitsschutz aus. Somit wich der Gerichtshof von den Schlussanträgen der Generalanwälte Warner und Lynn ab, die für das Miteinbeziehen der fest angestellten Anwälte plädiert hatten99. Nach Ansicht des EuGH stellen die Berufs- und Standespflichten, denen ein unabhängiger Rechtsanwalt unterliegt, eine Gewährleistung seiner Unabhängigkeit dar, die auch den Schutz seiner Korrespondenz rechtfertigt100. Da aber zum damaligem Zeitpunkt die Unternehmensjuristen in den meisten Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten nicht den von Berufskammern festgelegten Standesregeln unterlagen, kam der EuGH zum Schluss, dass sich die Unternehmensjuristen grundsätzlich nicht auf den Schutz des Anwaltsgeheimnisses berufen können. Gemäß der Aussagen des EuGH im Urteil AM & S fallen unter den Begriff der Korrespondenz jene Schriftstücke, die nach Eröffnung des Verwaltungsverfahrens zwischen dem Rechtsanwalt und dem Unternehmen entstanden sind und die sich auf das laufende Verfahren beziehen. Ferner erstreckt sich der Schutz auch auf diejenigen schriftlichen Dokumenten, die vor Verfahrenseröffnung verfasst wurden, sofern diese mit dem Gegenstand des Verfahrens – das heißt aber nicht notwendigerweise mit dem Verfahren selbst – in Zusammenhang stehen101. Diese Erweiterung des Schutzumfangs wird durch die Notwendigkeit eines effektiven Schutzes rechtfertigt. 2. Beschluss des EuG vom 4.4.1990, Hilti/Kommission, Rs. T-30/89 Die Rechtsprechung des EuGH im Urteil AM & S wurde durch das EuG im Urteil Hilti102 bestätigt. Das deutsche Unternehmen Hilti hat im Rahmen einer Nichtigkeitsklage gegen eine Entscheidung der Kommission nach Art. 86 EWGV (nun Art. 102 AEUV) eine vertrauliche Behandlung für Unterlagen und Urkunden beantragt. Umstritten in diesem Fall war auch die Vertraulichkeit von Dokumenten, die unternehmensintern auf der Grundlage von Gutachten externer Rechtsanwälte entworfen worden waren. Es handelte sich dabei um firmeninterne Mitteilungen, die den Inhalt der Rechtsberatung durch externe Rechtsanwälte zusammenfassten. 98 EuGH, Urteil v. 18.5.1982, Rs. 155/79, Europe Ltd/Kommission, Slg. 1982, I-1575, Rdnr. 24. 99 So Seitz, EuZW 2004, 231 (231). 100 EuGH, Urteil v. 18.5.1982, Rs. 155/79, AM & S Europe Ltd/Kommission, Slg. 1982, I-1575, Rdnr. 24. 101 EuGH, Urteil v. 18.5.1982, Rs. 155/79, AM & S, Europe Ltd/Kommission, Slg. 1982, I-1575, Rdnr. 23. 102 EuG, Beschluss v. 4.4.1990, Rs. T-30/89, Hilti/Kommission, Slg. 1990, II-163.
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Das EuG gab dem Antrag auf Schutz der Vertraulichkeit dieser Dokumente statt, da das Anwaltsprivileg auch auf solche interne Schriftstücke anzuwenden ist, die lediglich den Wortlaut oder den Inhalt der Beratung durch einen unabhängigen Rechtsanwalt in Bezug auf die Verteidigung des Unternehmens wiedergeben103. Das EuG erweiterte insofern die Reichweite des Vertraulichkeitsschutzes rationae materiae, indem es ihn auch auf intern verfasste Zusammenfassungen der Beratung durch einen externen Rechtsanwalt, beharrte aber auch auf der vom EuGH eingeführten Einschränkung, dass sich der Vertraulichkeitsschutz lediglich auf von einem unabhängigen (also einen nicht durch einen Dienstvertrag an den Mandanten gebundenen) Rechtsanwalt stammende Schriftstücke bezieht. 3. Beschluss des Präsidenten des EuG vom 30.10.2003, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission, Rs. T-125/03 R und T-253/03 R Eine Wende in der Rechtsprechung der Unionsgerichte zugunsten der Einbeziehung der fest angestellten Rechtsanwälte in den Schutzbereich des europarechtlichen Anwaltsprivilegs schien wahrscheinlich nach einem im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erlassenen Beschlusses des Präsidenten des EuG im Fall Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals104. Bedienstete der Kommission führten im Februar 2003 eine Nachprüfung auf Grundlage der VO 17/62 in den Räumlichkeiten der Unternehmen Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals im Vereinigten Königreich durch. Dabei kam es zwischen den Kommissionsbeamten und den Vertretern der Unternehmen zu Meinungsverschiedenheiten darüber, inwieweit eine Reihe von Schriftstücken und E-Mails vom Anwaltsprivileg geschützt wäre. Da die Kommissionsbediensteten nicht im Stande waren, an Ort und Stelle darüber zu entscheiden, ob die fraglichen Schriftstücke dem Vertraulichkeitsschutz unterlagen, nahmen sie Kopien der streitigen Dokumente in einem versiegelten Umschlag mit. In Bezug auf die E-Mails, die der Generaldirektor von Akcros Chemicals mit dem unternehmensinternen Anwalt ausgetauscht hatte, der in den Niederlanden als Rechtsanwalt zugelassen war, vertrat die Kommission die Ansicht, dass sie nicht dem Vertraulichkeitsschutz unterlagen. Aus diesem Grund fügten die Kommissionsbediensteten Kopien der fraglichen E-Mails ihrer Akte hinzu. Diese beiden Gruppen von Unterlagen bezeichneten später die Unternehmen in ihrer Klage als Dokumente der Kategorie A und B. Mit ihrer Nichtigkeitsklage fochten die Unternehmen die Entscheidung der Kommission an, mit der sie die Rückgabe der Kopien der fraglichen Dokumente abgelehnt hatte, und beantragten auch einstweiligen Rechtsschutz.
103
EuG, Beschluss v. 4.4.1990, Rs. T-30/89, Hilti/Kommission, Slg. 1990, II-163, Rdnr. 18. EuG, Beschluss v. 30.10.2003, verb. Rs. T-125/03 und T-253/03, Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd/Kommission, Slg. 2003, II-4777. 104
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
In seinem Beschluss im Rahmen des Verfahrens für einstweiligen Rechtsschutz betonte das EuG, dass die Achtung der Verteidigungsrechte in jedem Verfahren, das zur Verhängung von Geldbußen führen kann, zu den fundamentalen Prinzipien des Gemeinschaftsrechts gehört105 und dass das Anwaltsprivileg für Schriftstücke ein Folgesatz der vollen Ausübung der Verteidigungsrechte ist106. Ferner stellte das EuG fest, dass die Grundsätze des AM & S-Urteils aus dem Jahr 1982 auf der Grundlage der damals geltenden Berufsregeln für Juristen beruhten und dass es Anzeichen dafür gebe, dass sich die Rechtslage in einigen Mitgliedstaaten und im Gemeinschaftsrecht derart geändert hatte, dass auch die bei einem Unternehmen fest angestellten Rechtsanwälte vom Anwaltsprivileg geschützt seien107. Weiterhin sei es denkbar, dass die Verbindung des Unternehmensjuristen zum Unternehmen nicht immer und grundsätzlich die Unabhängigkeit des Rechtsanwalts in der Ausübung seiner Rolle als Mitgestalter der Rechtspflege beeinflussen würde, wenn er an strenge Berufsregeln gebunden ist, die ihm besondere Pflichten auferlegen108. Der EuG-Präsident deutete ferner an, dass Dokumente, die im Rahmen eines kartellrechtlichen Präventivprogramms („compliance programme“) erstellt worden sind, ebenfalls unter den Schutzschirm des Anwaltsprivilegs fallen könnten, falls sie einzig und allein dem Zweck dienten, Rechtsberatung bei externen Rechtsanwälten einzuholen109. Sonst reiche nach Meinung des EuG die bloße Existenz eines kartellrechtlichen Präventivprogramms zur Rechtfertigung der Vertraulichkeit damit zusammenhängender Dokumente allein nicht aus110. Eine endgültige Klärung der Frage der Erweiterung der Reichweite des Anwaltsprivilegs auch auf Unternehmensjuristen blieb in diesem Fall jedoch aus, da der Präsident des EuG wegen der Wichtigkeit der aufgeworfenen Fragen ihre Beantwortung dem Hauptverfahren überlassen hat. Dieser Beschluss, der mittlerweile durch Beschluss des Präsidenten des EuGH wieder aufgehoben wurde111, da „die Möglichkeit einer rechtswidrigen Verwendung der Schriftstücke der Kate gorie A in einem von der Kommission durchgeführten Verfahren wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft nur theoretischen Charakter
105 EuG, Beschluss v. 30.10.2003, verb. Rs. T-125/03 und T-253/03, Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd/Kommission, Slg. 2003, II-4777, Rdnr. 99. 106 EuG, Beschluss v. 30.10.2003, verb. Rs. T-125/03 und T-253/03, Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd/Kommission, Slg. 2003, II-4777, Rdnr. 100. 107 EuG, Beschluss v. 30.10.2003, verb. Rs. T-125/03 und T-253/03, Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd/Kommission, Slg. 2003, II-4777, Rdnr. 122–123. 108 EuG, Beschluss v. 30.10.2003, verb. Rs. T-125/03 und T-253/03, Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd/Kommission, Slg. 2003, II-4777, Rdnr. 126. 109 So Seitz, EuZW 2004, 231 (232). 110 EuG, Beschluss v. 30.10.2003, verb. Rs. T-125/03 und T-253/03, Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd/Kommission, Slg. 2003, II-4777, Rdnr. 107. 111 EuGH, Beschluss v. 27.9.2004, Rs. C-7/04 P (R), Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd/Kommission, Slg. 2004, I-8739.
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hatte und jedenfalls wenig wahrscheinlich war“112, wurde in der Literatur dahin gehend gedeutet113, dass möglicherweise eine von vielen erwünschte114 Abkehr von den restriktiven AM & S-Grundsätzen bevorstand und dass die Unionsgerichte die Reichweite des Anwaltsprivilegs erweitern würde. Von einem Teil der Literatur115 wurden aber die Ausführungen des Präsidenten des EuG nur als das Ergebnis einer summarischen Prüfung des Sachverhalts im Rahmen eines Verfahrens einstweiligen Rechtsschutzes, die normalerweise nur die Erfolgsaussichten der Klage im Hauptverfahren prüft, ohne vertiefte Würdigung ergeht und das Ergebnis des Hauptverfahrens nicht vorwegnehmen kann. Trotz alledem wurden die Entscheidung des Gerichts erster Instanz im Hauptverfahren mit Spannung erwartet. 4. Urteil des EuG vom 17.9.2007, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission, verb. Rs. T-125/03 und T-253/03 Das EuG äußerte sich in seinem Urteil in der Rs. Akzo Nobel am 17.09.2007 erneut restriktiv zur Reichweite des Vertraulichkeitsschutzes der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant im EU-Recht. Das Urteil enttäuschte die Unternehmensanwälte, die auf eine Ausweitung des Anwaltsprivilegs gehofft hatten116. Das EuG führte aus, dass die Vertraulichkeit der Korrespondenz zwischen dem Rechtsanwalt und dem Mandanten dem Erfordernis entspreche, dass es dem Einzelnen möglich sein muss, sich völlig frei an einen Rechtsanwalt zu wenden, zu dessen beruflichen Aufgaben es gehört, unabhängige Rechtsberatung all denen zu erteilen, die ihr bedürfen, und dass sie als notwendige Ergänzung zur vollen Ausübung der Rechte der Verteidigung zu verstehen sei117. Hinsichtlich des bei einer Nachprüfung zu befolgenden Verfahrens bestätigte das Gericht, dass das Unternehmen den Kommissionsbediensteten alle zweckdienlichen Angaben zu machen hat, mit denen dargelegt werden kann, dass die Schriftstücke die Voraussetzungen des Vertraulichkeitsschutzes erfüllen, ohne den Inhalt der betreffenden Dokumente offenbaren zu müssen118. Deswegen darf das Unternehmen den Kommissionsbeamten 112
EuGH, Beschluss v. 27.9.2004, Rs. C-7/04 P (R), Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd/Kommission, Slg. 2004, I-8739, Rdnr. 40. 113 Vgl. beispielsweise Murphy, ECLR 2004, 447. 114 Beachtenswert ist, dass am Verfahren vor dem EuG für vorläufigen Rechtsschutz sich auch die CCBE (Council of the Bars and Law Societies of the European Union), die ECLA (European Company Lawyers Association) und die Niederländische Anwaltskammer (Alge mene Raad van de Nederlandse Orde van Advocaten) beteiligten, was die Bedeutung des Rechtsstreits nicht zuletzt für die Interessen von Rechtsanwälten bezeugt. 115 Siehe Sladic, ZEuS 2007, 533 (547). 116 So Meyer, EWS 2007, 455 (455). 117 EuG, Urteil v. 17.09.2007, verb. Rs. T-125/03 und T-253/03, Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd/Kommission, Slg. 2007, II-3523, Rdnr. 77. 118 EuG, Urteil v. 17.09.2007, verb. Rs. T-125/03 und T-253/03, Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd/Kommission, Slg. 2007, II-3523, Rdnr. 78.
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eine auch nur summarische Prüfung jener Dokumente verweigern, sofern eine solche oberflächliche Prüfung seiner Ansicht nach ohne Offenbarung des Inhalts der Schriftstücke nicht möglich wäre und sofern es dies gegenüber den Kommissionsbediensteten angemessen begründet ist119. Denkt die Kommission, dass das Unternehmen den vertraulichen Charakter der Dokumente nicht zweifelsfrei darlegt, dürfen dann die Beamten, die die Nachprüfung durchführen, eine Kopie des umstrittenen Schriftstücks in einen zu versiegelnden Umschlag legen und diesen im Hinblick auf die spätere Entscheidung über die Meinungsverschiedenheit mitnehmen. Dieses Vorgehen erlaubt sowohl den berechtigten Interessen der Kommission über die Erlangung und Versicherung von Beweismaterial als auch den Interessen der Unternehmen über Schutz der Vertraulichkeit von gewissen Dokumenten zu dienen120. Das Gericht macht darauf aufmerksam, dass die Kommission vom Inhalt des versiegelten Schriftstücks keine Kenntnis nehmen darf, bevor sie eine diesbezügliche Entscheidung erlassen hat, die das Unternehmen vor dem EuG im normalen Verfahren oder im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes anfechten kann121. Ferner betonte das Gericht, dass der Grundsatz des Schutzes der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant bereits dadurch verletzt wird, dass die Kommission vom Inhalt eines vertraulichen Dokuments Kenntnis nimmt. Die spätere Nicht-Verwendung von solchen Dokumenten als Beweismittel in einer Entscheidung stellt keine Wiedergutmachung des aus der Kenntnisnahme des Inhalts entstandenen Schadens dar122. Deswegen zog das Gericht die Schlussfolgerung, dass die Kommission die Vertraulichkeit bereits dadurch verletzt hatte, dass sie die Unternehmen zur Herausgabe der streitigen Dokumente gezwungen hatte und sie ihren Inhalt kursorisch überprüft hatte, obwohl die Rechtsanwälte der Unternehmen in begründeter Weise dargelegt hatten, dass eine solche Prüfung der Preisgabe des Inhalts dieser Schriftstücke gleichen würde. Die Kommission hatte dagegen vorgebracht, dass eine weite Auslegung des Anwaltsprivilegs in dem Sinn der späteren Kenntnisnahme des Inhalts eines umstrittenen Dokuments den Weg eines eventuellen Missbrauchs von der Seite der Unternehmen eröffnen könnte, da sich die Unternehmen auf einen angeblich vertraulichen Charakter eines Dokumentes berufen könnten, um das Verfahren zu verzögern und die Ermittlungen der Kommission unnötig zu erschweren123. Nach Ansicht des Ge 119 EuG, Urteil v. 17.09.2007, verb. Rs. T-125/03 und T-253/03, Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd/Kommission, Slg. 2007, II-3523, Rdnr. 81 f. 120 EuG, Urteil v. 17.09.2007, verb. Rs. T-125/03 und T-253/03, Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd/Kommission, Slg. 2007, II-3523, Rdnr. 83. 121 EuG, Urteil v. 17.09.2007, verb. Rs. T-125/03 und T-253/03, Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd/Kommission, Slg. 2007, II-3523, Rdnr. 85. 122 EuG, Urteil v. 17.09.2007, verb. Rs. T-125/03 und T-253/03, Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd/Kommission, Slg. 2007, II-3523, Rdnr. 86 f. 123 EuG, Urteil v. 17.09.2007, verb. Rs. T-125/03 und T-253/03 Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd/Kommission, Slg. 2007, II-3523, Rdnr. 89.
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richts verfüge aber die Kommission über die erforderlichen Rechtsinstrumente, um ein solches Verhalten zu ahnden, wie zum Beispiel Art. 23 Abs. 1 VO 1/2003. Ferner könnte ein solcher Missbrauch als erschwerender Umstand bei der Berechnung der eventuell wegen des Verstoßes zu verhängenden Geldbuße mitberücksichtigt werden124. Bezüglich der durch Vertraulichkeit geschützten Schriftstücke präzisierte das EuG die Rechtsprechung um ein weiteres Stück und erweiterte dadurch den sachlichen Anwendungsbereich des Anwaltsprivilegs125. Das EuG legte nämlich dar, dass interne Unterlagen eines Unternehmens, selbst wenn sie nicht zur Korrespondenz mit einem Rechtsanwalt gehören oder nicht für ihre Übergabe an einen Rechtsanwalt erstellt worden sind, gleichwohl unter den Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant fallen können, wenn sie ausschließlich zu dem Zweck ausgearbeitet worden sind, im Rahmen der Ausübung der Verteidigungsrechte die Rechtsberatung eines Anwalts einzuholen. Es genügt hingegen nicht für den Schutz, dass das Dokument mit einem Rechtsanwalt bloß besprochen wurde. Maßgeblich für die Gewährung des Schutzes ist auch der Zweck der Besprechung des Dokuments. Deswegen reicht alleine der Umstand, dass Dokumente im Rahmen eines Präventivprogramms („compliance programme“) verfasst wurden, nicht für ihren Schutz durch das Anwaltsprivileg aus, da solche Programme ihrem Umfang nach oft Aufgaben und Informationen beinhalten, die weit über die Ausübung der Verteidigungsrechte hinausgehen. An dieser Feststellung ändert auch die Tatsache nichts, dass Compliance-Dokumente meistens von externen Rechtsanwälten entworfen werden126. Bezüglich der wichtigen Frage über den persönlichen Anwendungsbereich des Anwaltsprivilegs blieb das Gericht auf Linie der bisherigen Rechtsprechung. Es wies nämlich das Vorbringen von Akzo Nobel über eine Erweiterung der Reichweite des Anwaltsprivilegs rationae personae zurück, indem es ausdrücklich betonte, dass die spezielle Anerkennung der Rolle unternehmensangehöriger Juristen und der Schutz der Kommunikation mit ihnen im Vergleich zu der Zeit des Urteils AM & S zwar deutlich gewachsen sei, dass sich aber dennoch insoweit in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaatlichen keine einheitlichen oder klar überwiegenden Tendenzen ausmachen ließen. Nach Ansicht des Gerichts rechtfertige die Entwicklung des EU-Wettbewerbsrechts seit dem Urteil AM & S, trotz der noch größeren Bedeutung einer kompetenten Rechtsberatung für die Unternehmen nach der Modernisierung des EU-Wettbewerbsrechts, keine Änderung dieser Rechtsprechung, da den Unternehmen frei stehe, sich an einen externen Rechtsanwalt zu wenden, dessen Kommunikation mit dem Unternehmensjurist vom Anwalts 124 EuG, Urteil v. 17.09.2007, verb. Rs. T-125/03 und T-253/03 Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd/Kommission, Slg. 2007, II-3523, Rdnr. 89. 125 So auch Seitz, EuZW 2010, 524 (525). 126 EuG, Urteil v. 17.09.2007, verb. Rs. T-125/03 und T-253/03, Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd/Kommission, Slg. 2007, II-3523, Rdnr. 117 ff, vor allem Rdnr. 122.
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privileg erfasst ist127. Der Ausschluss der Unternehmensjuristen vom Anwaltsprivileg verstoße weder gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung, weil sich Unternehmensjuristen aufgrund ihrer funktionellen Zugehörigkeit zu einem Unternehmen in einer unterschiedlichen Lage als externe Rechtsanwälte befinden128, noch gegen die Grundfreiheit des freien Dienstleistungsverkehrs129. Das EuG gelangte zu seiner Feststellung erst nach einer Prüfung der Vorschriften über das Anwaltsprivileg in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. In Ermangelung einer spezifischen Regelung in der VO 1/2003 musste das Gericht zuerst bestimmen, nach welchem Recht sich die anwendbaren Privilegien richten. Bereits die Frage, ob das Anwaltsprivileg dem materiellen Recht oder dem Verfahrensrecht zuzuordnen ist, wird in den nationalen Rechtsordnungen unterschiedlich beantwortet130. Das Gericht lehnte eine Bestimmung des europarechtlichen Anwaltsprivilegs auf Grundlage einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung ab, da in dieser Art und Weise die Reichweite der Ermittlungsbefugnisse der Kommission in den verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedlich ausfallen würden131. Das ist darauf zurückzuführen, dass der Anwendungsbereich des Anwaltsprivilegs in jedem Mitgliedstaat auf die Kompetenzen der nationalen Ermittlungsbehörden zugeschnitten ist und deswegen sich nicht unbedingt auf europäische Untersuchungen übertragen lässt. Eine solche Herangehensweise würde sich auch in solchen Fällen als problematisch erweisen, in denen der Sachverhalt grenzüberschreitend ist. Es wurde auch befürchtet, dass eine kumulative Anwendung der in Betracht kommenden Rechtsordnungen zu einem „Wettlauf nach unten“ führen würde, was nicht im Sinne des europäischen Wettbewerbsschutzes sein kann132. Das Gericht lehnte auch die vorgeschlagene Zwischenlösung ab, dass der Schutzbereich auch diejenige Syndikusanwälte deckt, die in ihrem Land als Rechtsanwälte zugelassen sind und den standesrechtlichen Berufsregeln unterliegen. Die Ablehnung wurde damit begründet, dass es zu einer Diskriminierung zu Lasten jener Unternehmen führen würde, die in Mitgliedstaaten ansässig sind, in denen der Schutz des Anwaltsprivilegs nicht für fest angestellte Rechtsanwälte gilt.
127
EuG, Urteil v. 17.09.2007, verb. Rs. T-125/03 und T-253/03, Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd/Kommission, Slg. 2007, II-3523, Rdnr. 173. 128 EuG, Urteil v. 17.09.2007, verb. Rs. T-125/03 und T-253/03, Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd/Kommission, Slg. 2007, II-3523, Rdnr. 174. 129 EuG, Urteil v. 17.09.2007, verb. Rs. T-125/03 und T-253/03, Akzo Nobel Chemicals Ltd und Akcros Chemicals Ltd/Kommission, Slg. 2007, II-3523, Rdnr. 174. 130 Meyer, EWS 2007, 455 (455). 131 Meyer, EWS 2007, 455 (455). 132 Meyer, EWS 2007, 455 (456).
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5. Urteil des EuGH v. 14.09.2010 in der Rechtssache C-550/07 P, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission Gegen dieses Urteil des EuG vom 17.9.2007 haben die Unternehmen Akzo und Akcros am 8.12.2007 Rechtsmittel beim EuGH eingelegt. GAin Kokott hat in ihren Schlussanträgen vom 29.4.2010 die Auffassung vertreten, dass der unionsrechtlich garantierte Schutz des Anwaltsgeheimnisses allein der Kommunikation eines Mandanten mit einem von ihm unabhängigen Rechtsanwalt zugutekommt133. Das Anwaltsprivileg diene nicht nur den Verteidigungsrechten des Mandanten, sondern resultiere aus der besonderen Funktion des Rechtsanwalts als „Organ der Rechtspflege“, der dem Mandanten in voller Unabhängigkeit und im Interesse der Rechtspflege rechtliche Unterstützung biete134. Ein Rechtsanwalt, der bei einem Unternehmen fest angestellt ist, weise nach Auffassung der GAin trotz seiner Anwaltszulassung nicht denselben Grad an Unabhängigkeit wie ein externer Rechtsanwalt auf, da der Syndikusanwalt strukturell, hierarchisch und funktional von seinem Arbeitgeber anhängig sei, was bei einem externen Rechtsanwalt im Verhältnis zu seinem Mandanten nicht der Fall sei135. GAin Kokott stellte fest, dass die viel stärkere wirtschaftliche Abhängigkeit des Syndikusanwalts von seinem Auftraggeber sowie die größere persönliche Identifizierung des Syndikusanwalts mit seinem Arbeitgeber gegen eine Erweiterung der Reichweite des Anwaltsprivilegs auf Unternehmensanwälte sprechen136. In seinem Urteil vom 14.09.2010 folgte der EuGH der Ansicht der GAin Kokott. Dadurch bestätigte er seine mittlerweile mehr als 25 Jahre alte AM&S-Rechtsprechung und erteilte den Rufen nach einer Erweiterung der Reichweite rationae personae des Anwaltsprivilegs auf Unternehmensanwälte eine klare Absage137. Der EuGH lehnte sämtliche Klagegründe der Beschwerdeführerinnen ab. Die Klägerinnen hatten vorgebracht, dass die vom EuG und vom EuGH vorgenommene Unterscheidung zwischen selbstständigen und fest angestellten Rechtsanwälten gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoße138. Der EuGH wiederholte zunächst die beiden Voraussetzungen für die Gewährung des Anwaltsprivilegs: Einerseits muss die Kommunikation im Rahmen der Ausübung der Verteidigungsrechte stattfin-
133 Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott vom 29.4.2010 – C-550/07P Akzo Nobel/Kommission, Slg. 2010, I-8301, Rdnr. 48. 134 Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott vom 29.4.2010 – C-550/07P Akzo Nobel/Kommission, Slg. 2010, I-8301, Rdnr. 48. 135 Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott vom 29.4.2010 – C-550/07P Akzo Nobel/Kommission, Slg. 2010, I-8301, Rdnr. 62. 136 Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott vom 29.4.2010 – C-550/07P Akzo Nobel/Kommission, Slg. 2010, I-8301, Rdnr. 71. 137 EuGH, Urteil v. 14.9.2010, Rs. C-550/07P, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemi cals/Kommission, Slg. 2010, I-8301. 138 EuGH, Urteil v. 14.9.2010, Rs. C-550/07P, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemi cals/Kommission, Slg. 2010, I-8301, Rdnr. 30.
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
den. Andererseits muss sie mit einem unabhängigen Rechtsanwalt stattfinden, der sich in keinem festen Anstellungsverhältnis mit dem Mandanten befindet139. Im Anschluss nahm der Gerichtshof Bezug auf die Schlussanträge der GAin Kokott und stellte klar, dass die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte nicht nur positiv, d. h. durch die Bindung an Standesregeln, sondern auch negativ, durch das Fehlen eines Anstellungsverhältnisses definiert werden muss. Ein Unternehmensjurist möge standesrechtlichen Regeln unterliegen, er genießt aber nicht denselben Unabhängigkeitsgrad wie ein selbstständiger Anwalt, da er weisungsgebunden ist und die Unternehmensstrategie sowie die Interessen seines Arbeitgebers auf jeden Fall berücksichtigen muss140. Nach Auffassung des EuGH ergibt sich aus dem Angestelltenverhältnis des Unternehmensanwalts eine Quasi-Pflicht, die Geschäftsstrategie seines Arbeitgebers zu berücksichtigen, die sich auf seine berufliche Unabhängigkeit negativ auswirkt141. Aus alledem folgt, dass der Unabhängigkeitsgrad von selbstständigen Rechtsanwälten doch unterschiedlich von dem der Unternehmensjuristen ist142. Ferner stellte der Gerichtshof fest, dass sich die Rechtslage der Unternehmensjuristen in den EU-Mitgliedstaaten nicht so entwickelt hatte, dass eine Abkehr von der AM&S-Rechtsprechung und die Anerkennung des Anwaltsprivilegs auch für unternehmensinterne Rechtsanwälte erforderlich war143. In einigen Mitgliedstaaten werde zwar mittlerweile das Anwaltsprivileg auch für Unternehmensjuristen anerkannt. Trotzdem sei es immer noch nicht möglich, eine allgemeine Tendenz für die Anerkennung des Anwaltsprivilegs für Unternehmensanwälte in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten festzustellen144. Dem Argument der Klägerinnen, dass die Modernisierung des EU-Kartellverfahrensrechts die Wichtigkeit der fest angestellten Unternehmensjuristen für die Vorbeugung von Kartellverstößen erhöht hat, erwiderte der EuGH, dass die VO 1/2003 die Gleichbehandlung von selbstständigen Rechtsanwälten und Unternehmensjuristen in Bezug auf das Anwaltsprivileg nicht verlangt, da dieser Grundsatz keinen Regelungsgegenstand dieser Verordnung darstelle145.
139
EuGH, Urteil v. 14.9.2010, Rs. C-550/07P, Akzo cals/Kommission, Slg. 2010, I-8301, Rdnr. 41. 140 EuGH, Urteil v. 14.9.2010, Rs. C-550/07P, Akzo cals/Kommission, Slg. 2010, I-8301, Rdnr. 41 und 47. 141 EuGH, Urteil v. 14.9.2010, Rs. C-550/07P, Akzo cals/Kommission, Slg. 2010, I-8301, Rdnr. 47. 142 EuGH, Urteil v. 14.9.2010, Rs. C-550/07P, Akzo cals/Kommission, Slg. 2010, I-8301, Rdnr. 49. 143 EuGH, Urteil v. 14.9.2010, Rs. C-550/07P, Akzo cals/Kommission, Slg. 2010, I-8301, Rdnr. 76. 144 EuGH, Urteil v. 14.9.2010, Rs. C-550/07P, Akzo cals/Kommission, Slg. 2010, I-8301, Rdnr. 71–73. 145 EuGH, Urteil v. 14.9.2010, Rs. C-550/07P, Akzo cals/Kommission, Slg. 2010, I-8301, Rdnr. 83 und 86.
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Ferner ließ der EuGH das von den Klägerinnen vorgebrachte Argument der Verletzung der Verteidigungsrechte nicht gelten lassen. Die Klägerinnen behaupteten, dass die Freiheit, den Rechtsanwalt, der das Unternehmen vertreten wird, ohne Rücksicht auf dessen beruflichen Status (selbstständig oder angestellt) auswählen zu dürfen, zu den Verteidigungsrechten gehöre. Zu den Verteidigungsrechten gehöre auch das Anwaltsprivileg146. Der Gerichtshof betonte zuerst, dass die Beachtung der Verteidigungsrechte einen fundamentalen Grundsatz des EU-Rechts darstellt, der regelmäßig in der Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt wurde und der in Artikel 48 (2) GRCH verankert ist147. Danach stellte der EuGH fest, dass, wenn sich Unternehmen bei ihrem fest angestellten Anwalt beraten lassen, sie nicht mit einer dritten unabhängigen Partei, sondern mit einem ihrer Angestellten zu tun haben. Daran ändern in Bezug auf die Unternehmensjuristen auch die sich aus der Kammermitgliedschaft eines Syndikusanwalts ergebenden Berufspflichten nichts148. Die Tätigkeit von Syndikusanwälten unterliege in mehreren Mitgliedstaaten Einschränkungen, wie zum Beispiel die eingeschränkte Prozessführungsbefugnis. Daraus folgt, dass, wer sich Rat bei Rechtsanwälten einholt, die für diese Berufsgruppe geltenden Berufsausübungsbedingungen und Einschränkungen, zu denen auch das Anwaltsprivileg gehört, akzeptieren müsse149. Aus diesen Gründen stellte der EuGH fest, dass keine Verletzung der Verteidigungsrechte vorlag150.
III. Aktuelle Reichweite des europarechtlichen Anwaltsprivilegs 1. Kommunikation zum Zwecke der Verteidigung und in Bezug auf das laufende Verfahren Der vom EuGH im Leiturteil AM & S formulierte Rechtsgrundsatz sieht vor, dass Schriftstücke, die zwischen einem Anwalt und seinem Mandanten gewechselt werden, den Schutz der Vertraulichkeit genießen, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen, die vom EuGH aufgestellt wurden. Geschützt vom Zugriff der Kommission auf Grundlage des EU-Anwaltsprivilegs ist demnach nicht nur der Schriftverkehr zwischen dem Unternehmen und einem unabhängigen Rechtsanwalt, der zum Zweck und im Interesse des Rechts auf Verteidigung des Unternehmens 146 EuGH, Urteil v. 14.9.2010, Rs. C-550/07P, Akzo cals/Kommission, Slg. 2010, I-8301, Rdnr. 93. 147 EuGH, Urteil v. 14.9.2010, Rs. C-550/07P, Akzo cals/Kommission, Slg. 2010, I-8301, Rdnr. 92. 148 EuGH, Urteil v. 14.9.2010, Rs. C-550/07P, Akzo cals/Kommission, Slg. 2010, I-8301, Rdnr. 94. 149 EuGH, Urteil v. 14.9.2010, Rs. C-550/07P, Akzo cals/Kommission, Slg. 2010, I-8301, Rdnr. 96. 150 EuGH, Urteil v. 14.9.2010, Rs. C-550/07P, Akzo cals/Kommission, Slg. 2010, I-8301, Rdnr. 95–96.
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
im Rahmen eines EU-Kartellverfahrens erfolgte oder erfolgt, sondern auch jede schriftliche oder mündliche Mitteilung zwischen Anwalt und Mandant zum Zwecke der Ausübung des Rechts auf Verteidigung151. Geschützt ist der Schriftverkehr in beiden Richtungen, sowohl vom Anwalt zum Unternehmen als auch vom Unternehmen zu Anwalt152. Als vertraulich gelten auch interne Dokumente des Unternehmens, in denen der Inhalt der von unabhängigen Rechtsanwälten erteilten Rechtsberatung wiedergegeben wird153. Vor Offenlegung ist allerdings nur dieser Schriftverkehr geschützt, der sich auf den von der Kommission gerade untersuchten Sachverhalt bezieht. Was den zeitlichen Aspekt der Geltung des Vertraulichkeitsschutzes betrifft, muss betont werden, dass vom Anwaltsprivileg nicht nur diejenigen Dokumente erfasst werden, die nach der Eröffnung des Ermittlungsverfahrens der Kommission verfasst wurden, sondern auch alle Schriftstücke, die vor der Eröffnung des Verfahrens entstanden sind, soweit sie einen Bezug zum untersuchten Sachverhalt aufweisen. Für den EuGH ist also nicht der Zeitpunkt des Entstehens, sondern der Zusammenhang der potenziell zu schützenden Korrespondenz zu einem Verfahren maßgeblich154. Der Zusammenhang muss nicht unbedingt direkt sein155. Deswegen fallen unter den Schutz auch solche Dokumente, die eine anwaltliche Einschätzung der Vereinbarkeit bestimmter Aktivitäten, Vertragsentwürfe, sonstiger kartellrechtlich relevanter unternehmerischer Vorgehensweisen oder die Risikoprognose bezüglich zu erwartender Bußgelder betreffen156. Vom Schutz erfasst wird also jede Korrespondenz, die im Rahmen und im Interesse des Mandanten auf Verteidigung geführt wird, auch wenn sie zeitlich vor der Eröffnung eines Kartellverfahrens entstanden ist, soweit dies im Hinblick und mit Bezug auf das von der Kommission eingeleitete Verfahren geschah157. Die Schriftstücke, die der Korrespondenz angehören, werden vom Schutz erfasst, unabhängig davon, ob sie sich in den Händen des Mandanten oder des Anwalts befinden158. Der Schriftverkehr, der sich in der Anwaltskanzlei befindet oder der da aufbewahrt wird, wird also vom Anwaltsprivileg erfasst und darf deswegen nicht von der Kommission beschlagnahmt oder eingesehen werden. Das EuGHUrteil im Fall AM & S enthält keine konkreten Ausführungen über den Schutz von Schriftstücken, die sich im Gewahrsam des Unternehmens befinden, aber, da es sich im Rechtsstreit (unter anderem) um Dokumente im Besitz des Unternehmens
151
Vgl. Sladic, ZEuS 2007, 534 (535). Weiß, S. 398, Fn. 1198. 153 EuG, Urteil v. 4.4.1990, Rs. T-30/89, Hilti, Slg. 1990, II-163, Rdnr. 16–18. 154 Pfromm/Hentschel, EWS 2005, 350 (352). 155 Kehl, S. 139. 156 Kehl, S. 139. 157 Pfromm/Hentschel, EWS 2005, 350 (352). 158 Rethorn, in: FS für Alfred Söllner, S. 893–935 (897); siehe auch Pfromm/Hentschel, EWS 2005, 350 (352). 152
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handelte, für die der EuGH keine Unterscheidung getroffen hat, kann man von einer Geltung des Schutzes auch für solche Unterlagen ausgehen. Träger des Rechts auf Schutz der Vertraulichkeit der Anwaltskorrespondenz sind sowohl natürliche als auch juristische Personen (unabhängig von ihrer Rechtsform)159, in erster Linie die Mandanten, aber auch die Rechtsanwälte160. Unter „Mandanten“ sind die juristischen Personen (Unternehmen) zu verstehen, deren Aktivitäten in kartellrechtlicher Hinsicht Gegenstand einer Untersuchung der Kommission sind. Unter den Begriff „Anwälte“ fallen alle Rechtsanwälte, die in einem Mitgliedstaat der EU als Rechtsanwalt zugelassen sind. Ausgeschlossen von der Reichweite des EU-Anwaltsprivilegs sind aber nach der EuGH-Rechtsprechung auch Rechtsanwälte, die in einem Dienstverhältnis zu ihrem Mandanten stehen (Unternehmensanwälte, Syndikusanwälte). Ausgeschlossen vom Schutz des EU-Anwaltsprivilegs ist auch der Schriftverkehr mit einem in einem Drittstaat zugelassenen Rechtsanwalt. Man sollte aber den Schutz auf Korrespondenz mit Rechtsanwälten aus EWR-Mitgliedstaaten (d. h. aus Island, Liechtenstein und Norwegen) ausdehnen161. 2. Ausdehnung der Reichweite auf nicht verfahrensbezogene Kommunikation? Es ist nicht klar, ob auch die Korrespondenz vom Schutz des Anwaltsprivilegs erfasst wird, die andere Sachverhalte und nicht den Gegenstand der Untersuchung betrifft. Die Beantwortung dieser Frage hängt von der Auslegung des Begriffs „Zusammenhang“ ab, den der EuGH für die Gewährung des Vertraulichkeitsschutzes fordert. Dieser Begriff kann sowohl verfahrensrechtlich als auch materiell rechtlich ausgelegt werden. Entscheidet man sich für die erste Möglichkeit, fallen dann unter den Vertraulichkeitsschutz nur ebenjene Dokumente, die einen Bezug zum formalen Gegenstand des Ermittlungsverfahrens aufweisen. Wählt man die materiell rechtliche Auslegung, werden auch solche Schriftstücke vom Vertraulichkeitsschutz erfasst, die die anwaltliche Beurteilung bestimmter Vertragsentwürfe oder Tätigkeiten über ihre Vereinbarkeit mit dem EU-Wettbewerbsrecht erhalten und die nicht unbedingt den gerade von der Kommission untersuchten Sachverhalt betreffen162.
159
Burrichter/Hennig, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Vorbemerkungen zu Art. 17–22, Rdnr. 63. 160 Nach Rethorn, in: FS für Alfred Söllner, S. 898, wird das Anwaltsprivileg im englischen Recht, aus dem sich der EuGH inspirieren lassen hat, als ein Recht des Mandanten, nicht des Anwalts verstanden; a. A. Kehl, für die „die Vertraulichkeit der Kommunikation primär im Interesse des Mandanten gewährleistet wird“, aber auch „im Reflex der ungehinderten anwaltlichen Berufsausübung dient“. 161 Dieckmann, in: Wiedemann (Hrsg.), § 42, Rdnr. 45. 162 Pfromm/Hentschel, EWS 2005, 350 (352).
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
Im Hinblick auf den Schutzzweck des Anwaltsprivilegs wäre es angebracht, sämtlichen Schriftwechsel zwischen einem Unternehmen und seinem Anwalt zur kartellrechtlichen Beurteilung der Aktivität des Unternehmens dem Anwaltsprivileg zu unterwerfen163. Der vorbehaltlose Zugang zu einem Rechtsanwalt, ohne befürchten zu haben, dass die eingereichten Informationen in die Hände der Kommission gelangen und von ihr als Beweismittel in einem Verfahren benutzt werden könnten, stellt eine unabdingbare Voraussetzung des in Art. 6 EMRK niedergelegten Rechts auf ein faires Verfahren. Die Einschränkung des Schutzes der Vertraulichkeit nur auf die den ermittelten Sachverhalt betreffende Korrespondenz schränkt die Reichweite dieses Prinzips besonders ein und erschwert die Ausübung der Anwaltstätigkeit zu Diensten eines effizienten Rechtsschutzes. Für die hier vertretene These der Geltung des Anwaltsprivilegs auch für den andere kartellrechtlich relevante Sachverhalte betreffenden Schriftverkehr zwischen Anwalt und Mandant spricht letztlich auch die Meinung des EuG-Präsidenten im (nun mehr aufgehobenen) Beschluss vom 30.10.2003, der dargelegt hat, dass die Verteidigungsrechte eines Unternehmens auch dann gefährdet werden könnten, wenn Dokumente, die der Vorbereitung auf die Wahrung von Verteidigungsrechten dienen, nicht vom Anwaltsprivileg erfasst würden164. 3. Geltung des EU-Anwaltsprivilegs auch in nationalen Verfahren zur Anwendung von Art. 101 AEUV Im Fall von Kartellverfahren, die von der Europäischen Kommission eingeleitet werden, müssen auch die EU-Grundrechte, darunter auch das Anwaltsprivileg, geachtete werden. Ein kartellrechtliches Verfahren auf Grundlage des materiellen EU-Wettbewerbsrechts kann aber nicht nur von der Kommission, sondern auch von einer nationalen Kartellbehörde eingeleitet werden, die gemäß Art. 3 Abs. 1 VO 1/2003 dazu verpflichtet ist, wenn die untersuchte Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen kann. Obwohl dann die nationale Kartellbehörde materielles EU-Recht anwendet, wird das Verfahren vom nationalen Verfahrensrecht geregelt. Das könnte in Bezug auf das Anwaltsprivileg zu einer Benachteiligung solcher Unternehmen führen, die ihren Sitz in einem Mitgliedstaat haben, in dem das Schutzniveau des Anwaltsprivilegs das EU-Niveau unterschreitet. Dennoch beanspruchen auch in einem nationalen Verfahren die EU-Grundrechte Geltung, solange materielles EU-Recht angewendet wird. Das heißt, dass die EU-Grundrechte alle nationalen Vorschriften verdrängen, die einen geringeren Schutzumfang gewähren. Das ist eine Folge des Anwendungsvorrangs des 163
So Bischke, in: MünchKommEuWettbR, vor Art. 17 VO 1/2003, Rdnr. 19. EuG, Beschluss v. 30.10.2003, verb. Rs. T-125/03 R und T-253/03 R, AKZO Nobel Chemicals und Akcros Chemicals, Slg. 2003, II-4777, Rdnr. 135, 136. 164
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EU-Rechts165, der beansprucht, dass eine nationale Rechtsnorm unangewendet bleibt, wenn sie einer Vorschrift des EU-Rechts widerspricht. Der Anwendungsvorrang gilt nicht nur gegenüber dem einfachen Recht, sondern grundsätzlich auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht166. Obwohl es grundsätzlich das Prinzip der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten gilt167, welches den Mitgliedstaaten, unter anderem, erlaubt, die Verwaltungsorganisation und die Kompetenzfestlegung nach eigenem Willen zu regeln, gibt es zwei Schranken des Grundsatzes der Verfahrensautonomie. Die erste Grenze des Grundsatzes der nationalen Verfahrensautonomie sind das Vereitelungs- und das Diskriminierungsverbot168. Als zweite Einschränkung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie erweist sich das Effektivitätsprinzip (oder Prinzip der vollen Wirksamkeit des EU-Rechts). Das Effektivitätsprinzip (oder auch Beeinträchtigungsverbot) besagt, dass die Anwendung des innerstaatlichen Rechts die Tragweite und die Wirksamkeit des EU-Rechts nicht praktisch unmöglich oder übermäßig erschweren darf. Ferner ergibt sich aus der Pflicht der loyalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten (Art. 4 Abs. 3 EUV) und dem Effektivitätsprinzip die Pflicht der innerstaatlichen Behörden, beim Vollzug von EU-Recht stets das Unionsinteresse zu berücksichtigen169. Das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts erfordert aber, dass das nationale Recht unionsrechtskonform ausgelegt wird, wenn und soweit ein entsprechender Auslegungsspielraum besteht170. Von der Betroffenheit des EU-Rechts kann man im Falle der Einleitung eines Verfahrens von einer nationalen Kartellbehörde auf Grundlage von Art. 101 AEUV ausgehen, da die nationale Kartellbehörde dann materielles EU-Recht anwendet. Da es also bei der Einleitung eines Verfahrens auf Grundlage von Art. 101 AEUV von einer nationalen Wettbewerbsbehörde um einen Vollzug von Unionsrecht handelt, kommt die Pflicht der Mitgliedstaaten zum Tragen, das EU-Recht und seine allgemeinen Rechtsgrundsätze gebührend zu berücksichtigen. Andernfalls wäre die praktische Wirksamkeit des EU-Rechts gefährdet. Eine Ablehnung der Geltung des europarechtlichen Anwaltsprivilegs in den Fällen eines auf Grundlage von Art. 101 AEUV von einer nationalen Wettbewerbs 165 Siehe zum Anwendungsvorrang EuGH, Urteil v. 9.3.1978, Rs. 106/77, Staatliche Finanzverwaltung/S.p.A. Simmenthal, Slg. 1978, 629, Rdnr. 17–18. 166 EuGH, Urteil v. 17.12.1970, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125, Rdnr. 3. 167 Siehe zu diesem Prinzip EuGH, Urteil v. 15.12.1971, verb. Rs. 51–54/71, International Fruit Company NV u. a./Produktschap voor groenten en fruit, Slg. 1971, 411, Rdnr. 3–4, und aus der neueren Rechtsprechung EuGH, Urteil v. 19.9.2006, verb. Rs. C-392/04 u. C-422/04, i-21 Germany u. Arcor, Slg. 2006, I-8559, Rdnr. 57. 168 A. Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), Art. 4 EUV, Rdnr. 59. 169 Siehe dazu EuGH, Urteil v. 20.9.1990, Rs. C-5/89, Kommission/Bundesrepublik Deutschland, Slg. 1990, I-3437, Rdnr. 19. 170 A. Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), Art. 4 EUV, Rdnr. 48.
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
behörde eingeleiteten Verfahrens hätte zur Folge, dass es die Gefahr von einer verfahrensmäßigen Ungleichbehandlung zwei materiell rechtlich gleich gestellter Unternehmen bestünde. Dies wird deutlicher, wenn man sich die Lage eines Unternehmens in einem von der Kommission eingeleiteten Verfahren und diejenige eines Unternehmens in einem von einer mitgliedstaatlichen Kartellbehörde eröffneten Verfahren vor Augen führt. Falls die Reichweite des Anwaltsprivilegs im Recht des Mitgliedstaates geringer als die des EU-Legal Privilege ist, würde das dem am Kommissionsverfahren teilnehmenden Unternehmen einen Vorteil verschaffen171. Ferner bestünde auch das Risiko, dass der EU-rechtliche Schutz der Vertraulichkeit der Korrespondenz umgangen werden könnte, falls sich die Kommission entscheiden würde, auf Grundlage von Art. 11 Abs. 6 VO 1/2003 den Fall nach sich zu ziehen172. Dann hätte nämlich die Kommission die Möglichkeit, auf Informationen zuzugreifen, die von der nationalen Kartellbehörde gesammelt wurden und zu denen der Zugang ihr laut EU-Recht verboten ist173. Die Sicherung der praktischen Wirksamkeit des EU-Rechts gebietet also die Anwendung des EU-Anwaltsprivilegs auch in nationalen Verfahren zur Anwendung von Art. 101 AEUV, wenn der auf nationaler Ebene gewährte Schutz der Vertraulichkeit von Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandant das EU-Niveau unterschreitet174.
IV. Würdigung der Rechtsprechung der Unionsgerichte zum Anwaltsprivileg 1. Ungerechtfertigte Beschränkung auf „unabhängige“ Rechtsanwälte Die Anerkennung der Geltung des Anwaltsprivilegs in der Unionsrechtsordnung vom EuGH und vom EuG stellt einen wichtigen Fortschritt für den Grundrechtsschutz auf EU-Ebene dar, besonders wenn man noch bedenkt, dass die Kommission in ihrer früheren Entscheidungspraxis in Kartellsachen nicht gezögert hat, von Rechtsberatern erstellte Rechtsgutachten als Beweismittel gegen ein Unternehmen heranzuziehen175. Dem Ansatz des EuGH im Urteil AM & S und des Gerichts in den Urteilen vom 17.9.2007 in den Rs. T-125/03 und T-253/03, den Begriff des europarechtlichen Anwaltsprivilegs autonom zu definieren, ist zuzustimmen, da er den Gepflogenheiten des EU-Rechts und der einheitlichen Festlegung der Gren 171
Pfromm/Hentschel, EWS 2005, 350 (355 f.). Siehe in Bezug auf diese Befugnis der Kommission Pace, S. 325, Rdnr. 37.1.3. 173 Pfromm/Hentschel, EWS 2005, 350 (356). 174 So Kapp/Schröder, WuW 2002, 555 (561); Pfromm/Hentschel, EWS 2005, 350 (357); so in Bezug auf das österreichische Kartellverfahren Gruber, ÖZK 2010, 103 (106). 175 Siehe dazu Weiß, S. 399 mit Verweis auf die Entscheidung der Kommission vom 16. Juli 1969 über ein Verfahren nach Artikel 85 des Vertrages (IV/26.623 – Internationales Chinin kartell), ABl. EG L 192/1969, S. 5, Rdnr. 37. 172
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zen der Kommissionsermittlungsbefugnisse Rechnung trägt. Der EuGH konnte nicht auf in sämtlichen Mitgliedstaaten gleichsam geltende allgemeine Rechtsgrundsätze für die Formulierung des europarechtlichen Anwaltsprivilegs zurückgreifen. Der europarechtliche Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant stellt eine eigenständige europäische Lösung dar176, die die unterschiedlichen Rechtslagen in den Mitgliedstaaten, das Prinzip des fairen Verfahrens und das öffentlichen Interesse für die Aufklärung von Wettbewerbsverstößen auszugleichen versucht. Die restriktive Rechtsprechung des EuGH in Bezug auf die persönliche Reichweite des Anwaltsprivilegs wird von vielen Stimmen in der Literatur als unangemessen bezeichnet177. Sie missachtet die Tatsache, dass Unternehmensjuristen in vielen EU-Mitgliedstaaten denselben standesrechtlichen Pflichten wie selbstständige Rechtsanwälte unterliegen und dass sie als ebenbürtige Organe der Rechtspflege zu betrachten sind. Sie verursacht eine Spaltung der kartellrechtlichen Beratung der Unternehmen, die sich in Bezug auf jeglichen Sachverhalt, der potenziell Gegenstand eines Kartellverfahrens werden könnte, an einen externen Rechtsberater wenden müssen, um sicherzustellen, dass die Kommission auf den entsprechenden Schriftwechsel keinen Zugriff haben wird178. Indem die EU-Rechtsprechung in Bezug auf das Anwaltsprivileg auf das Merkmal der fehlenden Unabhängigkeit von Unternehmensanwälten abstellt, um ihnen den Schutz durch das Anwaltsprivileg abzusprechen, behilft sie sich mit formalistischen Argumenten, die verkennen, dass auch selbstständige Rechtsanwälte eine gewisse Abhängigkeit von ihrem Mandanten entwickeln können, insbesondere wenn sie hauptsächlich einen finanzstarken Mandanten beraten oder wenn sie sich mit einem Mandanten aufgrund einer langjährigen Beziehung stärker persönlich identifizieren. Darüber hinaus ist das Argument nicht überzeugend, dass Unternehmensjuristen gerade aufgrund der großen Abhängigkeit von ihrem Arbeitgeber dazu tendieren würden, die kartellrechtlich problematischen Aspekte eines Marktverhaltens zu verheimlichen oder sogar im Fall einer Ermittlung vor der Kommission Beweismaterial geheim zu halten. In der Entscheidungspraxis der Kommission gibt es Beispiele dafür, dass Unternehmensjuristen die an dem Wettbewerbsverstoß beteiligten Mitarbeiter oder sogar den Vorstand auf die Zuwiderhandlung aufmerksam gemacht hatten und deren Abstellen angeraten hatten179. Bei der Frage der Geltung 176
So Kehl, S. 120. Klees, EWS 2011, 76 (79 m. w. N.). 178 Siehe Klees, EWS 2011, 76 (79). 179 Siehe zum Beispiel die Entscheidung der Kommission vom 14. Dezember 1984 betreffend ein Verfahren nach Art. 85 des EWG-Vertrags (Sache IV/30.809 –John Deere), ABl. EG, L 35/1985, S. 58, Rdnr. 21: „Deere and Company wusste, daß dieses Verhalten, insbesondere das vertragliche Exportverbot, sowohl den EG- als auch den nationalen Wettbewerbsregeln zuwiderlief. Der geschäftsinterne Rechtsberater informierte sie über diesen Sachverhalt. Die Geschäftsführung der Deere and Company in Moline sowie ein Vorstandsmitglied waren hierüber bestens unterrichtet.“ 177
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
des Anwaltsprivilegs für Unternehmensjuristen handelt es sich weniger um eine Rechtsfrage und mehr um eine Frage der Wertung der Rolle des Rechtsanwalts, der die Rechtsabteilung eines Unternehmens leitet180. Der persönliche Schutzbereich des europarechtlichen Anwaltsprivilegs, wie von der EuGH-Rechtsprechung auf selbständigen Rechtsanwälten beschränkt, die nach Ansicht des EuGH und des EuG das Erfordernis der Unabhängigkeit erfüllen, führt aber sowohl zu einer Lücke im EU-Grundrechtsschutz als auch zu Rechtsunsicherheit für die Betroffenen eines Kartellverfahrens und die fest angestellten Rechtsanwälte. Auf Grundlage der Akzo-Nobel-Rechtsprechung, die den Anwendungsbereich des Anwaltsprivilegs rationae personae einschränkt, hat die Kommission grundsätzlich Zugriff zum Schriftwechsel zwischen Unternehmen und ihren fest angestellten Rechtsanwälten181. Das wird nicht zuletzt durch eine Reihe von Entscheidungen der Kommission belegt, wie zum Beispiel die Entscheidungen in den Wettbewerbssachen „VW“182, „John Deere“183 und „SABENA“184, in denen die Kommission für den Beweis der wettbewerbsrechtlichen Verstöße sogar auf von Unternehmensjuristen erstellte Schriftstücke rechtlicher Beratung zurückgegriffen hat. Schließlich stellt die Ausklammerung der Unternehmensjuristen vom Schutz der Vertraulichkeit ihrer Korrespondenz auch aus einem weiteren pragmatischen Grund keine zufriedenstellende Rechtslage dar. Im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens der Kommission wegen des Verdachts eines Kartellrechtsverstoßes könnte gemäß Art. 20 Abs. 2 lit. e) VO 1/2003 der Unternehmensjurist als Zeuge von den Kommissionsbediensteten befragt werden, da er als fest angestellter Rechtsanwalt Mitglied der Belegschaft des Unternehmens ist, ohne dass er sich auf das Anwaltsprivileg und ein entsprechendes Aussageverweigerungsrecht berufen kann185. 2. Das Erfordernis der Unabhängigkeit der Rechtsanwälte Da die Unionsgerichte den Ausschluss der Unternehmensjuristen vom Anwaltsprivileg auf die fehlende Unabhängigkeit bei der Ausübung ihrer Berufstätigkeit stützen, erscheint es angebracht, das Erfordernis der Unabhängigkeit näher 180
So Seitz, EuZW 2010, 524 (526). Klees, EWS 2011, 76 (78). 182 Entscheidung der Kommission vom 28. Januar 1998 in einem Verfahren nach Artikel 85 EG-Vertrag (Sache IV/35.733 – VW), ABl. EG L 124/1998, S.60, Rdnr. 198–199. 183 Entscheidung der Kommission vom 14. Dezember 1984 betreffend ein Verfahren nach Art. 85 des EWG-Vertrags (Sache IV/30.809 -John Deere), ABl. EG, L 35/1985, S. 58, Rdnr. 21. 184 Entscheidung der Kommission vom 4. November 1988 betreffend ein Verfahren nach Art. 86 des EWG-Vertrags (Sache IV/32.318 – London European-SABENA), ABl. EG, L 317/1988, S. 47, Rdnr. 10. 185 Seitz, EuZW 2004, 231 (233). 181
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zu betrachten, indem man das Augenmerk auf die vom EuGH verwendete Definition richtet. Im Urteil „Wouters“186 stellte der EuGH fest, dass die Standespflichten verlangen, dass der Rechtsanwalt „in einer Position der Unabhängigkeit gegenüber staatlichen Stellen, anderen Wirtschaftsteilnehmern und Dritten befindet, von denen er sich zu keiner Zeit beeinflussen lassen darf. Er muss insoweit die Gewähr dafür bieten, dass sämtliche Handlungen, die er in einer Angelegenheit vornimmt, ausschließlich vom Interesse seines Mandanten bestimmt sind“187. In seinen Schlussanträgen zum Fall „Wouters“ hatte GA Léger festgestellt, dass „die Unabhängigkeit voraussetzt, dass der Rechtsanwalt seine Beratungs-, Beistands- und Vertretungstätigkeit im ausschließlichen Interesse seines Mandanten ausüben kann. Sie wirkt gegenüber der öffentlichen Gewalt, anderen Wirtschaftsteilnehmern und Dritten, von denen sich der Rechtsanwalt unter keinen Umständen beeinflussen lassen darf. Sie wirkt auch gegenüber dem Mandanten, der nicht zum Arbeitgeber seines Rechtsanwalts werden darf. Die Unabhängigkeit stellt eine wesentliche Garantie für den Bürger und für die Rechtsprechungsgewalt dar; der Rechtsanwalt hat daher die Pflicht, sich nicht an Geschäften oder gemeinsamen Vorhaben zu beteiligen, durch die seine Unabhängigkeit gefährdet werden könnte“188. In diesen Ausführungen lässt sich die doppelte Bedeutung der Unabhängigkeit finden: Unabhängigkeit im positiven Sinne, dass der Rechtsanwalt an Standes- und Berufspflichten gebunden ist, und Unabhängigkeit im negativen Sinne, dass der Anwalt nicht in einem festen Beschäftigungsverhältnis zum Mandanten steht. 3. Abkehr von der Akzo-Nobel-Rechtsprechung erscheint geboten Die Unternehmensjuristen haben jahrelang auf eine Erweiterung des persönlichen Schutzbereichs des Anwaltsprivilegs in der Rechtsprechung der Unionsgerichte gewartet, die aber auch nicht mit dem letzten Urteil in der Rechtssache Akzo Nobel erfolgte. Dennoch gibt es gute Gründe, die für eine Kursänderung in der EU-Rechtsprechung sprechen. Zum einen ist die Unterscheidung zwischen Unternehmensjuristen und selbständigen Rechtsanwälten in der Praxis eher formeller Natur, da auch selbstständige Rechtsanwälte in einem wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnis zu Großmandanten stehen können und nicht selten ihre ganze berufliche Tätigkeit einem einzigen Unternehmen widmen, was sie einem Syndikusanwalt quasi gleichstellt189. 186 EuGH, Urteil v. 19.2.2002, Rs. C-309/99, Wouters u.a/Algemene Raad van de Nederlandse Orde van Advocaten, Slg. 2002, I-1653. 187 EuGH, Urteil v. 19.2.2002, Rs. C-309/99, Wouters u.a/Algemene Raad van de Nederlandse Orde van Advocaten, Slg. 2002, I-1653, Rdnr. 102. 188 Schlussanträge des GA Léger in EuGH, C-309/99, Slg. 2002, I-1577, Rdnr. 181. 189 Meyer, EWS 2007, 455 (456).
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
Zum anderen lässt sich nicht allein anhand von einem zwischen einem Rechtsanwalt und einem Unternehmen bestehenden Arbeitsvertrag der Generalverdacht der Kommission bestätigen, dass der Unternehmensjurist, im Vergleich zu einem externen Rechtsanwalt, eher planmäßig zur Verheimlichung von Wettbewerbsverstößen missbrauchen lasse190. Letztendlich sind die Unternehmen wegen des Übergangs zum System der Legalausnahme auf eine besonders kompetente Kartellrechtsberatung angewiesen und die Rechtsanwälte, unabhängig davon, ob sie selbstständig oder fest angestellt sind, dazu verpflichtet, die Interessen ihrer Mandanten zu schützen. Eine offene, ohne Angst vor potenziellem Zugriff der Kommission stattfindende Kommunikation mit dem hauseigenen Juristen, der die betriebsinternen Vorgänge viel besser als ein externer Rechtsanwalt kennt, ist zwingend erforderlich, um den gesetzlichen Vorgaben des EU-Kartellrechts Genüge zu tun und der gesteigerten Selbstverantwortlichkeit, die der europäische Gesetzgeber den Unternehmen durch die Modernisierung des EU-Kartellrechts auferlegt hat, gerecht zu werden191. Angesichts der bedeutenden Rolle, die den Syndikusanwälten bei der kartellrechtlichen Beratung der Unternehmen und bei der Umsetzung nachhaltiger Compliance-Programme zukommt, ist die Einbeziehung der Syndikusanwälte in den Schutzbereich des Anwaltsprivilegs sicherlich zu befürworten, sofern sie den gleichen Standesregeln wie jeder unabhängige Rechtsanwalt unterliegen192. Immerhin liegt eine effektive anwaltliche Beratung etwa bei der „Selbstveranlagung“ oder der Erstellung von effektiven kartellrechtlichen Präventivprogrammen auch im Interesse der Allgemeinheit an der Einhaltung der Wettbewerbsegeln193.
E. Plädoyer für ein die Syndikusanwälte umfassendes Anwaltsprivileg I. Argumente für eine Erweiterung des Anwaltsprivilegs auf Unternehmensanwälte Angesichts der sich ändernden Berufspraxis, die zunehmend den Unternehmensjuristen dem externen Rechtsanwalt gleichstellt, des sich erweiternden Trends der Errichtung von Rechtsabteilungen in den Unternehmen und nicht zuletzt der Bedeutung der kompetenten und andauernden Rechtsberatung im Rahmen des modernisierten Kartellverfahrensrechts erscheint es sinnvoll für eine Erweiterung des persönlichen Anwendungsbereichs des Anwaltsprivilegs zu plädieren.
190
Meyer, EWS 2007, 455 (456). Meyer, EWS 2007, 455 (456). 192 Buntscheck, WuW 2007, 229 (232). 193 Buntscheck, WuW 2007, 229 (230). 191
E. Plädoyer für ein die Syndikusanwälte umfassendes Anwaltsprivileg
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1. Argument der fehlenden Unabhängigkeit der Unternehmensanwälte nicht überzeugend Das Argument der fehlenden Unabhängigkeit des fest angestellten Unternehmensjuristen, worauf bislang die ablehnende Haltung der Unionsgerichte bezüglich der Geltung des Anwaltsprivilegs gestützt wurde, überzeugt nicht. Als der EuGH im Jahr 1982 sein Urteil zum Fall AM & S verkündete und die Garantie des Schutzes der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant in die Gemeinschaftsrechtsordnung einführte, musste er unterschiedliche Rechtstraditionen in Einklang bringen, da es keine Übereinstimmung bezüglich der Ausgestaltung dieses Rechts in den nationalen Rechtsordnungen gab. Aus diesem Grund hat er das englische Recht nur in seinen Grundzügen übernommen, den europarechtlichen Schutz durch das Anwaltsprivileg niedriger im Vergleich zum englischen festgesetzt und für die Ausformung des Rechts das kontinentaleuropäische Bild des Rechtsanwalts als Vorbild genommen194. Diese Entscheidung des EuGH hatte als Folge, dass der Schutz der Vertraulichkeit nicht auf die Unternehmensjuristen erstreckt wurde. Mittlerweile hat sich aber die Berufslage der Unternehmensjuristen in mehreren Mitgliedstaaten in Richtung einer Angleichung mit der Berufslage der selbstständigen Rechtsanwälte geändert195. Darüber hinaus wird das Anwaltsprivileg in zwei EU-Mitgliedstaaten (im Vereinigten Königreich und in Deutschland) sowohl für selbständige Rechtsanwälte als auch für Unternehmensjuristen anerkannt196. Der in Deutschland zur Rechtsanwaltschaft zugelassene Syndikusanwalt ist ein Rechtsanwalt sowohl im Sinne der Bundesrechtsanwaltschaftsordnung (BRAO) als auch im Sinne der Strafprozessordnung (StPO)197. In Griechenland unterscheidet die Berufsordnung der Rechtsanwälte („Kodikas peri Dikigoron“) nicht zwischen Syndikusanwälten und selbstständigen Rechtsanwälten. Unternehmensjuristen sind nach griechischem Recht genauso wie ihre selbstständig tätigen Kollegen dazu berechtigt sind, ihren Arbeitgeber vor Gericht zu vertreten. Die Tendenz zur Gleichstellung von Syndikusanwälten mit externen Rechtsanwälten ist nicht nur im Vereinigten Königreich, in Deutschland und in Griechenland nachweisbar, sondern hat auch in anderen Mitgliedstaaten zu erkennen. Irland, Groß 194
Schwarze, EuGRZ 1983, 117 (123 f.). Zum Beispiel in den Niederlanden, in Portugal, in Spanien und in Griechenland dürfen die fest angestellten Rechtsanwälte der Anwaltskammer beitreten und unterliegen denselben Standesregeln wie die selbständigen Anwälte. Aus diesen Gründen wird ihre Kommunikation mit Mandanten in diesen Ländern als vom Schutz der Vertraulichkeit erfasst angesehen. So Andreangeli, CompLRev 2005, 31 (46). 196 So Rethorn, in: FS für Alfred Söllner, S. 893–935 (901). 197 Seitz, EuZW 2004, 231 (234). In Deutschland sind gemäß § 97 StPO vertrauliche Mit teilungen an einen Rechtsanwalt geschützt und von der Beschlagnahme frei, wenn sie sich im Gewahrsam des Rechtsanwaltes befinden. Schriftstücke im Gewahrsam des Mandanten dürfen beschlagnahmt werden, es sei denn, sie wurden erst nach Eröffnung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens abgefasst (BGH NJW 1973, 2035). 195
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
britannien, die Niederlande, Belgien, Spanien und Portugal haben mittlerweile fest angestellte Rechtsanwälte den für selbstständige Rechtsanwälte geltenden Berufsund Standesregeln unterworfen198. Zum anderen bedeutet eine Festanstellung bei einem Unternehmen genauso wenig wie ein Dauermandat, dass der Rechtsanwalt Abstriche bei seinen Berufspflichten machen muss199. Es ist zumindest denkbar, dass selbstständige Rechtsanwälte, die auf die Mandate eines finanzstarken Kunden angewiesen sind, noch „geeigneter“ wären, sich von deutlich formulierten, aber gleichzeitig rechtlich bedenklichen Wünschen dieses Großmandanten beeinflussen zu lassen, sollte dieser Mandant die weitere Zusammenarbeit an die Einhaltung seiner rechtlich problematischen Anweisungen knüpfen200. Die grundsätzlich geforderte Unabhängigkeit der Rechtsanwälte kann also sowohl bei selbständigen Rechtsanwälten als auch bei Unternehmensjuristen genauso eingeschränkt sein. Die Unabhängigkeit hängt dann vielmehr von der Persönlichkeit und dem Charakter des jeweiligen Rechtsanwalts ab. Schließlich lässt der Ausschluss der fest angestellten Rechtsanwälte vom Schutz des EU-Anwaltsprivilegs unter Berufung auf die fehlende Unabhängigkeit einen allgemeinen Verdacht über Syndikusanwälte existieren, dass letztere sich nicht immer an die standesrechtlichen Bestimmungen halten201. 2. Das eingeschränkte Anwaltsprivileg erschwert die kartellrechtliche Selbsteinschätzung des Verhaltens eines Unternehmens Ferner wirkt die Nicht-Gewährung des Anwaltsprivilegs für fest angestellte Rechtsanwälte einem der Ziele der VO 1/2003, der Förderung der Selbst-Ein haltung der EU-Wettbewerbsregeln, entgegen. Die Unternehmen sind verpflichtet, wenn sie ihre Anwaltskorrespondenz vor dem Zugriff der Kommission schützen wollen, die Dienste eines externen Rechtsanwalts in Anspruch zu nehmen, was aus doppelter Hinsicht problematisch sein könnte. Zum einen ist der externe Rechtsanwalt nicht immer so vertraut wie der Unternehmensjurist mit der Struktur, mit dem Tätigkeitsbereich und mit dem Marktsegment des Unternehmens. Die internen Unternehmensjuristen sind wegen ihrer Stellung in der Firma und ihres Vertrautseins mit der Struktur und dem Betriebsablauf des Unternehmens für die Sicherstellung der Einhaltung der Wettbewerbsregeln am besten geeignet202.
198
Kling/Thomas, S. 295, Fn. 61, m. w. N. Siehe Seitz, EuZW 2008, 204 (208). 200 Vgl. Alvarez-Ligabue, S. 134. 201 Murphy, ECLR 2009, 125 (132). 202 So Andreangeli, CompLRev 2005, 31 (39), m. w. N. 199
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Die Bedeutung der Unternehmensanwälte für die Selbstveranlagung der kartellrechtlichen Vereinbarkeit des Verhaltens eines Unternehmens ergibt sich aus dem geänderten Rollenverständnis der Unternehmensanwälte radikal. Während ihre Tätigkeit früher eher komplementär zu der der externen Rechtsanwälte war und sie sich hauptsächlich auf die Erstellung von Gutachten und die Koordinierung der externen Rechtsanwälte beschränkte, sind Unternehmensrechtsanwälte nunmehr für wichtige Bereiche wie Haftungsvermeidung, Risikomanagement und die Einhaltung der für die Tätigkeit des Unternehmens geltenden Regeln („Compliance“) zuständig203. Schließlich treten die Unternehmensanwälte in Wettbewerb mit externen Rechtsanwälten für die Rechtsberatung des Unternehmens auf204. Dieser Wettbewerb wird aber dadurch gehindert, dass Unternehmensanwälte vom Schutzbereich des EU-Anwaltsprivilegs ausgeschlossen sind. In Anbetracht des Zwecks des Anwaltsprivilegs, eine optimale Rechtsberatung durch den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen Anwalt und Mandanten zu ermöglichen, und angesichts der besonderen Verantwortung des Unternehmensanwalts für die Bereiche Haftungsreduzierung, Risikomanagement und Compliance erscheint es als ge boten, den Schutz des EU-Anwaltsprivilegs auf fest angestellte Rechtsanwälte zu erstrecken205. Schließlich besteht bei Beibehaltung der restriktiven Rechtsprechung des EuGH und bei den durch die VO 1/2003 erweiterten Ermittlungsbefugnissen der Kommission das Risiko, dass mit der Ablehnung der Geltung des Anwaltsprivilegs für Syndikusanwälte der Kommission eine Möglichkeit gegeben wird, um in den nunmehr stark verbreiteten unternehmensinternen Rechtsabteilungen Anlaufstellen für Beweismaterial für Wettbewerbsverstöße im Rahmen ihrer Ermittlungen zu finden. 3. Argumente für die Ausdehnung der persönlichen Reichweite des Anwaltsprivilegs aus der Zusammenarbeit im Rahmen des Europäischen Netzes der Wettbewerbsbehörden Weiterhin ergibt sich die Notwendigkeit der Ausdehnung des persönlichen Schutzbereichs des Anwaltsprivilegs auch aus der intensiveren Zusammenarbeit der nationalen Wettbewerbsbehörden und der Kommission im Rahmen des Europäischen Netzwerkes von Wettbewerbsbehörden (im Weiteren: „ECN“) und des in Art. 12 VO 1/2003 vorgesehenen Informationsaustausches zwischen den nationalen Kartellbehörden miteinander oder zwischen ihnen und der Kommission.
203
So Kremer/Voet van Vormizeele, AG 2011, 245 (246 ff.). Kremer/Voet van Vormizeele, AG 2011, 245 (249). 205 Siehe Kremer/Voet van Vormizeele, AG 2011, 245 (250 ff.). 204
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
Damit die in Art. 11 VO 1/2003 enge Zusammenarbeit der ECN-Mitglieder wirklich effektiv ist, ist es notwendig, dass die ECN-Mitglieder untereinander, d. h. sowohl im Verhältnis Kommission-nationale Wettbewerbsbehörde als auch im Verhältnis der nationalen Behörden untereinander Auskünfte austauschen können, die sie im Rahmen ihrer Ermittlungen eingeholt haben. Art. 12 VO 1/2003 sieht genau diese Befugnis der Mitglieder des ECN vor und stellt klar, dass auch vertrauliche Informationen ausgetauscht und als Beweismittel verwendet werden können. Die nationalen Kartellbehörden können die empfangenen Informationen auch in ihren eigenen Verfahren verwerten. Betrachtet man diese Möglichkeit in Zusammenhang mit dem unterschiedlichen Niveau der Gewährleistung des Anwaltsprivilegs in den Mitgliedstaaten und mit dem Fehlen einer allgemeinen Regelung über die Verwertungsmöglichkeit von im Rahmen des ECN ausgetauschten Informationen (mit Ausnahme der Regelung in Art. 12 Abs. 3 VO 1/2003, der den Fall der Verhängung einer Strafe gegen eine natürliche Person vorsieht), kommt sofort das Risiko zum Vorschein, das aus dieser Kombination für den Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant hervorgeht206. Es stellt sich die Frage, inwieweit eine Empfänger-Behörde Informationen verwerten darf, die sie über das Netzwerk erhalten hat und die sie unter Anwendung ihres nationalen Rechts nicht selber erlangt hätte können. In ihrer Bekanntmachung über die Zusammenarbeit im Rahmen des ECN stellt die Kommission klar, dass das Recht der die Informationen übermittelnden Wettbewerbsbehörde für die Frage maßgeblich ist, ob die Informationen an erster Stelle rechtmäßig erlangt wurden207. Diese Feststellung der Kommission nimmt das von den Bereichen des freien Warenverkehrs und der Niederlassungsfreiheit bekannte Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von Regelungen der nationalen Rechtsordnungen in das Netzwerk der Wettbewerbsbehörden auf und vermittelt den Eindruck, dass die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig erhobenen Informationen von der Empfängerbehörde ohne Bedenken verwertet werden können, auch wenn der Schutzstandard für vertrauliche Informationen in der Rechtsordnung der Empfängerbehörde höher ist. Dieses Verständnis würde zu einer Verletzung der notwendigen Rechtssicherheit führen, da die Unternehmen nicht wissen können, wie die von ihnen erhobenen Informationen im Rahmen des ECN verwertet werden können, da die Reichweite des Anwaltsprivilegs in den EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich ist208. Die grundsätzliche Verwertbarkeit von vertraulichen Informationen auch in Rechtsordnungen mit einem höheren Vertraulichkeitsschutzstandard könnte auch zur un 206
So auch Andreangeli, CompLRev 2005, 31 (43). Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden, ABl.EG 2004, C 101/03, Rdnr. 27. 208 van der Woude, in: Ehlermann/Atanasiu (Hrsg.), European Competition Law Annual 2002, S. 369–388 (384). 207
E. Plädoyer für ein die Syndikusanwälte umfassendes Anwaltsprivileg
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einheitlichen Anwendung und schließlich zu einer Umgehung von europarechtlichen Rechtsgrundsätzen führen, zu denen das Anwaltsprivileg gehört. Eine Empfängerbehörde könnte in den Besitz von Informationen gelangen, die in einem anderen Mitgliedstaat zwar rechtmäßig erhoben wurde, zu denen sie aber selbst keinen Zugriff hätte, da die Reichweite des Anwaltsprivilegs in ihrer Rechtsordnung höher ist. Dieses Risiko wird deutlicher im Fall von Rechtsordnungen wie die englische, die den Schutz des Anwaltsprivilegs nicht nur für den Schriftverkehr des Mandanten mit einem unabhängigen, sondern auch mit einem fest angestellten Rechtsanwalt gewährleisten. In solchen Rechtsordnungen können die nationalen Wettbewerbsbehörden, wie das englische Office of Fair Trading, den in einem anderen Mitgliedstaat als Beweismittel beschlagnahmten Schriftverkehr mit einem Unternehmensjuristen als Beweismittel in ihren Verfahren verwerten209. Andererseits ist der Schriftverkehr zwischen fest angestellten Rechtsanwälten und Unternehmen, die ihren Sitz in einem Mitgliedstaat mit erweitertem Anwaltsprivileg haben, besser geschützt, da nur die Kommission und nicht die nationale Wettbewerbsbehörde Einsicht in den Schriftverkehr mit dem Unternehmensjuristen bekommen kann. Ermittelt eine nationale Wettbewerbsbehörde selbstständig und ist sie von der nationalen Rechtsordnung dazu verpflichtet, das erweiterte Anwaltsprivileg zu achten, kann der verteidigungsbezogene Schriftverkehr zwischen dem Unternehmen und seinem internen Rechtsanwalt weder eingesehen noch verwertet werden. Dieser Umstand bedeutet einen höheren Schutz der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs von Unternehmen, die ihren Sitz in Mitgliedstaaten haben, die ein erweitertes Anwaltsprivileg gewährleisten. Er ist mit dem Charakter der EU als Rechtsgemeinschaft und mit den Postulaten der Rechtssicherheit und der NichtDiskriminierung schwer zu vereinbaren, weil er zur uneinheitlichen Anwendung des Anwaltsprivilegs, eines materiell-rechtlichen Grundsatzes des EU-Rechts führt. Ferner stellt dieser Umstand eine Verletzung der Diskriminierungsverbots dar, wie er unter anderem in Art. 18 AEUV und Art. 21 GRCH niedergelegt ist. Die Diskriminierung liegt im unterschiedlichen grundrechtlichen Schutz, den die Unternehmen genießen und der von der Schutzintensität des Anwaltsprivilegs in den nationalen Rechtsordnungen abhängig gemacht wird. Der unterschiedliche Schutzumfang des Anwaltsprivilegs in den Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten in Verbindung mit der grundsätzlich erlaubten Verwertbarkeit von Auskünften im Rahmen des ECN von Wettbewerbsbehörden, die nach Maßgabe ihres nationalen Rechts keinen Zugriff zum Schriftverkehr eines Unternehmens mit 209 Dies wird vom OFT selbst bestätigt, das in seinen Richtlinien über die Ermittlungsbefugnisse („Guidelines governing powers of investigation“) (Abs. 6.3) vorsieht, dass „Whilst UK privilege rules would apply to cases being investigated in the UK by the OFT on its own behalf under national and EC law, the OFT could be sent the communications of in-house lawyers by a NCA from another Member State where the communication of in-house lawyers are not privileged. Under those circumstances, the OFT may use the documentation received from another NCA in its investigation.“
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
seinem internen Rechtsanwalt, führt zu einer Diskriminierung auf Gründen der Staatsangehörigkeit, deren Verbot zu den tragenden Säulen der EU-Rechtsordnung gehört. Dieses Problem lässt sich durch die Erweiterung der persönlichen Reichweite des EU-Anwaltsprivilegs beheben, so dass das Anwaltsprivileg auch die verteidigungsbezogene Kommunikation mit einem Unternehmensjuristen umfasst. Da das Anwaltsprivileg zu den durch das EU-Recht geschützten Grundrechtsverbürgungen gehört, wird es in allen Verfahren nach Art. 101 AEUV Geltung beanspruchen, unabhängig davon, ob die Kommission oder eine nationale Wettbewerbsbehörde Art. 101 AEUV anwenden. Darüber hinaus wird ein erweitertes EU-Anwaltsprivileg eine Vorbildfunktion für nationale Rechtsordnungen entfachen und zu einer Harmonisierung der Reichweite des Anwaltsprivilegs in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten führen. Als zusätzliche Grundlage für eine solche Ausdehnung könnte auch die bereits geschilderte Rechtsprechung des EGMR dienen, der von einer breiteren Auslegung des Schutzes der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant auszugehen scheint, da er den „besonderen Status der Rechtsanwälte“ im Interesse sowohl der ordnungsgemäßen Rechtspflege als auch dem individuellen Recht auf juristischen Rat und Beistand als Teil eines fairen Verfahrens im Sinne von Art. 6 EMRK schützen will210. Die besondere Rolle, die die EMRK dabei spielen kann, wird nicht zuletzt auf Grund von Art. 52 Abs. 3 GRCH deutlich, der festlegt, dass die EMRK den Mindestschutzstandard für alle diese Rechte vorgibt, die in beiden Rechtsinstrumenten gewährleistet sind. Der Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant gehört zu dieser Kategorie von Grundrechten, da er sowohl in der EGMR- als auch in der EuGH-Rechtsprechung als allgemeiner Grundsatz und fester Bestandteil des Rechts auf ein faires Verfahren anerkannt wird und sich sowohl aus der EMRK als auch aus der Europäischen Grundrechtecharta hergeleitet werden kann. 4. Kein Missbrauchsrisiko aus einer eventuellen Ausweitung der persönlichen Reichweite des EU-Anwaltsprivilegs Im Falle des zur Anwaltschaft zugelassenen Unternehmensanwalts ist der EuGH-Rechtsprechung folgend die mangelnde Unabhängigkeit im Verhältnis zum Mandanten der Grund der Ablehnung der Geltung des Anwaltsprivilegs. Es wird befürchtet, dass der Unternehmensjurist wegen seines dienstvertraglichen Verhältnisses zum Mandanten leichter beeinflussbar wäre. Das hätte wiederum als Folge, dass er durch seine Beratung zur Verheimlichung von Wettbewerbsverstößen beitragen könnte, an denen sein Unternehmen-Arbeitgeber beteiligt ist. Dieser Umstand würde die Ermittlungstätigkeit der Kommission oder der nationalen Wettbewerbsbehörden angeblich erschweren. 210
So Andreangeli, CompLRev 2005, 31 (48).
E. Plädoyer für ein die Syndikusanwälte umfassendes Anwaltsprivileg
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Aus einer Erweiterung des Schutzbereichs des Anwaltsprivilegs rationae personae ergibt sich aber kein nennenswertes Risiko des Missbrauchs des Anwaltsprivilegs von den Unternehmen und einer entsprechenden Erschwerung der Ermittlungstätigkeit der Kommission, weil letztere dann Zugriff nur zu der Kommunikation zwischen Unternehmen hätte211. Das Missbrauchsrisiko, das es ohnehin auch im Fall der Kommunikation mit einem externen Rechtsanwalt geben kann, ist gering, da Dokumente nur dann vom Anwaltsprivileg geschützt sind, wenn sie zum Zwecke und im Interesse der Verteidigung des Mandanten in Bezug auf ein anhängiges oder zu erwartendes behördliches Verfahren erstellt wurden. Deswegen erscheint es eher unwahrscheinlich, dass Unternehmen jedes einzelne Dokument mit Wettbewerbsrelevanz über den Schreibtisch des Unternehmensanwalts „schleusen“ werden, um sich anschließend auf das Anwaltsprivileg berufen zu können und einen Zugriff der Kommission auf etwaige Dokumente, die einen Wettbewerbsverstoß belegen („smoking guns“), zu erschweren212. Ferner ist es nicht nachvollziehbar, aus welchem Grund ein Unternehmen freiwillig und bewusst Dokumente aufbewahren würde, die einen Wettbewerbsverstoß nachweisen, wenn es nicht beabsichtigt, einen Kronzeugenantrag zu stellen213. Abgesehen von gesetzlichen Aufbewahrungspflichten in Bezug auf bestimmte Dokumente scheint die Vorbereitung eines Kronzeugenantrags der einzige Grund zu sein, der ein Unternehmen zur Aufbewahrung von belastenden Dokumenten motivieren würde. In einem solchen Fall ist es aber offensichtlich, dass die einen Wettbewerbsverstoß belegenden Dokumente in der Regel freiwillig im Rahmen der Zusammenarbeit des Kronzeugen bei der Kommission eingereicht werden. Dadurch verringert sich das Risiko eines Missbrauchs des Anwaltsprivilegs, um bestimmte belastende Dokumente der Einsicht der Kommission zu entziehen. Schließlich greift das Argument einer potenziellen Beeinträchtigung der Ermittlungsbefugnisse der Kommission durch die Erweiterung der Reichweite des Anwaltsprivilegs nicht durch, weil die Grundrechte als Schranken der Ermittlungsbefugnisse – und nicht umgekehrt – dienen214.
211 So Weiß, EuR 2008, 546 (554); a. A. Schnichels/Resch, EuZW 2011, 47 (51), die behaupten, dass ein erweitertes Anwaltsprivileg die wirksame Durchsetzung des europäischen Wettbewerbsrechts beeinträchtigen würde. Auf das Missbrauchspotenzial weist auch Gippini-Fournier, Fordham Law Institute 2005, 587 (630 f.), hin. 212 So Klees, EWS 2011, 76 (81). 213 Seitz, EuZW 2010, 524 (526). 214 So Weiß, EuR 2008, 546 (554).
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
5. Argument aus dem Schutz der Dokumente des juristischen Dienstes der Kommission Schließlich wird ein zusätzliches Argument für die Ausdehnung des Schutzes des Anwaltsprivilegs rationae personae von dem Schutz der Vertraulichkeit herangezogen, den die Schriftstücke des juristischen Dienstes der Kommission im Allgemeinen genießen. Die Tatsache, dass Dokumente des juristischen Dienstes der Kommission, die von fest angestellten Juristen verfasst worden sind, dem Geheimnis der juristischen Beratung unterliegen und dem Zugang Betroffener von Wettbewerbsverfahren der Kommission entzogen sind, während die Korrespondenz mit fest angestellten Unternehmensjuristen während einer Nachprüfung der Kommission von Kommissionsbeamten gesichtet werden darf, schafft fest angestellte Rechtsanwälte zweier Geschwindigkeiten. Das Geheimnis der juristischen Beratung durch hausinterne Juristen wurde durch Art. 4 Abs. 2 VO 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten der EU-Organe215 intensiviert, da diese Vorschrift vorsieht, dass die EU-Organe den Zugang zu einem Dokument verweigern können, wenn durch dessen Verbreitung der Schutz von Gerichtsverfahren und der Rechtsberatung beeinträchtigt werden könnte216. Die Gründe für die Schaffung zwei Kategorien von fest angestellten Rechtsanwälten, mit und ohne Schutz der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs, sind nicht klar; es handelt sich doch in beiden Fällen um Rechtsanwälte-Juristen, die ihre Dienstleistungen dauerhaft einem einzigen Mandanten anbieten. 6. Argumente aus der internationalen Handhabung des Anwaltsprivilegs Als problematisch könnte sich letztlich die Beschränkung der Geltung des Vertraulichkeitsschutzes für den Schriftverkehr mit Rechtsanwälten, die in einem Mitgliedstaat der EU zugelassen sind. Rechtsanwälte aus Drittstaaten werden durch das EU-Anwaltsprivileg nicht erfasst, wobei die US-amerikanische Rechtsprechung, die als Beispiel genannt wird, die Geltung des „Client-Attorney Privilege“ auch auf Anwälte erstreckt hat, die nicht in den USA zugelassen sind217. Die aktuelle Rechtslage in Bezug auf das Anwaltsprivileg schadet ferner den in Drittstaaten ansässigen Unternehmen, in denen das Anwaltsprivileg auch für Unternehmensanwälte gilt (wie zum Beispiel in den USA). Solche Unternehmen sind nämlich dazu verpflichtet, die Dienste eines externen Rechtsanwalts in Anspruch zu nehmen, wenn sie ihre Informationen vor dem Zugriff der Europäischen Kommission schützen wollen218. 215
Näher dazu in § 7 über das Akteneinsichtsrecht, S. 259 ff. Sladic, ZEuS 2007, 533 (541). 217 Sladic, ZEuS 2007, 533 (544), Fn. 48. 218 Andreangeli, CompLRev 2005, 31 (39). 216
E. Plädoyer für ein die Syndikusanwälte umfassendes Anwaltsprivileg
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II. Lösungsansatz Aus den bereits erwähnten Argumenten ergibt sich die Notwendigkeit der Erweiterung der persönlichen Reichweite des EU-Anwaltsprivilegs, so dass es auch die Korrespondenz mit einem fest angestellten Rechtsanwalt umfasst. Eine von vielen Stimmen in Praxis und Literatur erhoffte Ausdehnung der persönlichen Reichweite des EU-Anwaltsprivilegs in Wettbewerbssachen durch die Rechtsprechung der Unionsgerichte blieb auch im Urteil vom 14.9.2010 im Fall Akzo Nobel aus219. Im Idealfall würde die Verankerung des Anwaltsprivilegs in der VO 1/2003 unter gleichzeitiger Erweiterung seines Anwendungsbereichs auf fest angestellte Rechtsanwälte, die denselben Berufs- und Standesregeln wie selbstständige Rechtsanwälte unterliegen, den besten Schutz der Verteidigung der Unternehmen im EU-Kartellverfahren gewährleisten. Da aber mit einer Novellierung der VO 1/2003 in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist, bleibt zu hoffen, dass die Unionsgerichte trotz des Akzo Nobel-Urteils von 2010 eine Wende in Bezug auf ihre Rechtsprechung zum Anwaltsprivileg einläuten, indem sie den persönlichen Anwendungsbereich auch auf Unternehmensjuristen erstrecken. Es wurde bereits gezeigt, dass die Gründe für eine Erweiterung der persönlichen Reichweite des EU-Anwaltsprivilegs vorliegen. Es stellt sich die Frage, auf Grundlage welcher Rechtskonstruktion die Unionsgerichte die Erweiterung der persönlichen Reichweite des Anwaltsprivilegs erreichen könnten, während sie auch gleichzeitig die Bindung der Rechtsanwälte an Berufs- und Standesregeln als Kriterium für die Geltung des Anwaltsprivilegs beibehalten. Die Unionsgerichte könnten auf die EGMR-Rechtsprechung hinweisen, die keine Unterscheidung zwischen selbstständigen und fest angestellten Rechtsanwälten bezüglich des Schutzes der Vertraulichkeit der Kommunikation mit den Mandanten trifft, und unter Berufung auf Art. 52 Abs. 3 GRCH die Geltung des Anwaltsprivilegs auch für Unternehmensjuristen anerkennen. Darüber hinaus könnten die Unionsgerichte, wie bereits in der Literatur unter Anlehnung an die amerikanische Praxis vorgeschlagen wurde220, einen funktionalen Test einführen, an Hand dessen beurteilt werden könnte, welche Kommunikation unter das Anwaltsprivileg fällt. Die zwei in diesem Test zu beantwortenden Fragen wären, ob eine Person über die notwendige Fachkompetenz (Ausbildung) verfügt, in rechtlichen Angelegenheiten zu beraten und ob es ihr vom Gesetz erlaubt ist, Rechtsrat zu bieten. Die durch die Richtlinien über die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit der Rechtsanwälte221 herbeigeführte gegenseitige Anerkennung der Be 219 EuGH, Urteil v. 14.9.2010, Rs. C-550/07P, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission, Slg. 2010, I-8301. 220 Siehe Andreangeli, CompLRev 2005, 31 (49–51). 221 Siehe insbesondere die Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde (ABl. EG Nr. L 77 S. 36); die Richtlinie 89/48/EWG des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom
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§ 6 Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht § 6Das Anwaltsprivileg im EU-Kartellverfahrensrecht
rufsausübungsvoraussetzungen für Rechtsanwälte in den EU-Mitgliedstaaten erleichtert wesentlich die Anwendung dieses funktionalen Tests222. Der einzige Mangel des funktionalen Tests in dieser Form ist, dass er keine Antwort auf die Bedenken des EuGH bezüglich der ethischen Integrität und der Unabhängigkeit der Unternehmensjuristen gibt, die bereits im AM & S-Urteil zu ihrem Ausschluss vom Schutzbereich des Anwaltsprivilegs führten. Es muss aus Gründen des öffentlichen Interesses an einer geordneten Rechtspflege sichergestellt werden, dass der fest angestellte Jurist den allgemeinen Berufs- und Standesregeln für Rechtsanwälte unterliegt, so dass einem eventuellen Missbrauch des Anwaltsprivilegs durch Unternehmen, die ihre fest angestellten Rechtsberater zur Verheimlichung wettbewerbswidrigen Verhaltens ihrerseits einsetzen könnten. Diesem geringen Risiko kann dadurch begegnet werden, dass der funktionale Test durch eine dritte Voraussetzung ergänzt wird. Die zu schützende Kommunikation muss die Kommunikation zwischen einer Rechtsberatung suchender Person und einer Person sein, die über die für das Angebot von Rechtsberatung erforderliche Ausbildung verfügt, die vom Gesetz die Befugnis hat, rechtsberatend tätig zu werden und die den im jeweiligen Mitgliedstaat geltenden Berufs- und Standesregeln unterliegt. Die Bindung an Berufs- und Standesregeln, die grundsätzlich im Fall einer Mitgliedschaft in einer Rechtsanwaltskammer angenommen werden kann, stellt eine Garantie für die Unabhängigkeit und für die ethische Integrität jeden Rechtsanwalts, da die Anwaltskammern für die Festlegung und die Einhaltung der Standesregeln zuständig sind. Da jedoch die nicht überall angeglichene Rechtslage der fest angestellten Rechtsanwälte der Ausweitung der persönlichen Schutzbereichs des europäischen Anwaltsprivilegs im EU-Kartellverfahren im Wege steht, wäre es nicht nur denkbar, sondern sogar wünschenswert, dass auf EU-Ebene in Zusammenarbeit mit dem Rat der Europäischen Anwaltschaften (CCBE) einheitliche Berufsregeln zur Gewährleistung der Unabhängigkeit von fest angestellten Rechtsanwälten erlassen werden, so dass auch der Gesetzesstand der gängigen Berufspraxis entspricht.
21. Dezember 1988 über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschließen (ABl. EG 1989 Nr. L 19 S. 16); die Richtlinie 77/249/EWG des Rates vom 22. März 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte (ABl. EG Nr. L 78 S. 17), die allesamt in Deutschland durch das Gesetz über die Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland umgesetzt wurden. 222 Andreangeli, CompLRev 2005, 31 (50).
F. Fazit
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F. Fazit Die Analyse hat gezeigt, dass es im EU-Recht trotz der fehlenden ausdrücklichen Rechtsgrundlage im Primär- und im Sekundärrecht einen weitgehenden Schutz der Vertraulichkeit der Korrespondenz zwischen Anwalt und Mandant gibt, dessen Konturen von der Rechtsprechung des EuGH und des EuG gezogen wurden. Die Ausklammerung der fest angestellten Rechtsanwälte mag in der Zeit der Verkündung des AM & S-Urteils angemessen gewesen sein, da die Lage der Unternehmensjuristen in den Mitgliedstaaten recht unterschiedlich war, entspricht aber nicht mehr den Rechtsschutzbedürfnissen nach der Modernisierung des EU-Kartellrechts und in Anbetracht der verstärkten Zusammenarbeit und des Informationsaustausches im Rahmen des Netzwerkes der Kartellbehörden (ECN) und birgt ein Risiko für die Gewährleistung der Verteidigungsrechte der Unternehmen im kartellrechtlichen Verfahren vor der Kommission. Es wird ersichtlich, dass die Zeit reif für eine Änderung dieser Regelung ist. Der EuGH hat die Möglichkeit, seine eigene Rechtsprechung weiter zu entwickeln und einen wesentlichen Beitrag zur Steigerung der Effektivität der Verteidigungsrechte der Unternehmen zu leisten, indem er den Schutz der Vertraulichkeit auch auf Schriftverkehr erstreckt, der von fest angestellten Rechtsanwälte stammt, die aber in ihren jeweiligen Mitgliedstaaten den allgemeinen Standesregeln für die Ausübung des anwaltlichen Berufs unterliegen, so dass eine für ihre Unabhängigkeit erforderliche Gewähr vorhanden ist.
§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht A. Das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen und Dritter I. Allgemein zum Zweck des Akteneinsichtsrechts Das Recht auf Akteneinsicht gehört zu den Verteidigungsrechten, die als Grundrechte Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des EU-Rechts sind, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat1. Es dient der Verwirklichung des Rechtsstaatsprinzips, das zu den grundlegenden Verfassungsprinzipien der Europäischen Union zählt2. Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips sind der Grundsatz des fairen Verfahrens, das Anhörungsrecht und die Vertraulichkeitsschutzregeln3. Das Akteneinsichtsrecht weist eine enge Verbundenheit mit diesen Teilerscheinungen des Rechtsstaatsprinzips auf. Von Bedeutung ist die Akteneinsicht zum einen im kartellrechtlichen Hauptprüfverfahren vor dem Erlass einer Entscheidung der Kommission. Sie ermöglicht dem Adressaten einer Mitteilung der Beschwerdepunkte Kenntnis vom Inhalt der Kommissionsakte und von den von der Kommission herangezogenen Beweisstücken zu nehmen sowie sich zu den Feststellungen der Kommission in der Mitteilung der Beschwerdepunkte zu äußern4. In diesem Sinne ermöglicht der Zugang des Betroffenen vom Kartellverfahren zur Kommissionsakte die Einsicht in entlastende Dokumente, die von der Kommission eventuell nicht berücksichtigt wurden5. Die Verletzung des Rechts auf Akteneinsicht im Verfahren vor dem Erlass einer Entscheidung kann grundsätzlich zur Nichtigerklärung der Entscheidung führen, wenn die Verteidigungsrechte beeinträchtigt worden sind6. Zum anderen ist die Akteneinsicht auch nach dem Erlass einer Kommissionsentscheidung wichtig, wenn der Betroffene die Entscheidung durch 1 EuGH, Urteil v. 25.10.2011, Rs. C-109/10 P, Solvay SA/Kommission, Slg. 2011, I-10329, Rdnr. 52. 2 Art. 2 EUV. Siehe dazu Weber, ZöR 2008, 267 (267 ff.). 3 Forbies-Pirie, World Compet. 2000, 107 (129). In Bezug auf das Vertraulichkeitsschutzgebot siehe in diesem Kapitel unter VIII.2, S. 288 ff. 4 EuG, Urteil v. 20.4.1999, verb. Rs T-305/94, T-306/94, T-307/94, T-313/94 bis T-316/94, T-318/94, T-325/94, T-328/94, T-329/94 und T-335/94, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./ Kommission, Slg. 1999, II-931, Rdnr. 1011. 5 de Bronett, Art. 27, Rdnr. 23. 6 EuGH, Urteil v. 25.10.2011, Rs. C-109/10 P, Solvay SA/Kommission, Slg. 2011, I-10329, Rdnr. 55.
A. Das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen und Dritter
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Rechtsmittel anfechten will7. Im Rahmen des Verfahrens vor den Unionsgerichten wird aber der Zugang zur Akte der Kommission nicht von den allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts über den Zugang zu den Dokumenten der Institutionen, sondern von der Satzung des EuGH und von der Verfahrensordnung des EuG geregelt8. Ferner ist die Akteneinsicht auch für Dritte wichtig, die ihre Ansprüche (wie zum Beispiel Schadensersatzansprüche) einklagen möchten. Das Akteneinsichtsrecht dient dem Prinzip der Waffengleichheit im Kartellverfahren9 und dem Schutz der Verteidigungsrechte.
II. Das Grundrecht auf Akteneinsicht Das Recht auf Akteneinsicht gehört zum Kreis der Verteidigungsrechte der Unternehmen im europäischen Kartellverfahrensrecht10. Grundlegende Bedeutung für das Akteneinsichtsrecht im EU-Wettbewerbsverfahren hat Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003, der vorsieht, dass die Verteidigungsrechte der Unternehmen beim Wettbewerbsverfahren der Kommission in vollem Umfang geschützt werden müssen. Den Unternehmen muss Einsicht in sämtliche Unterlagen gewährt werden, auf die die Kommission ihre Beschwerdepunkte stützt. Grenzen dieses Akteneinsichtsrechts sind die vertraulichen Informationen anderer Unternehmen und die internen Dokumente der Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden. Durch den klaren Bezug auf das Akteneinsichtsrecht im Rahmen der Garantie der Verteidigungsrechte erhebt die VO 1/2003 das Akteneinsichtsrecht zum Rang eines Verteidigungsrechts und gleichzeitig eines verfahrensrechtlichen Grundsatzes11. Da das Akteneinsichtsrecht sowohl eine Teilerscheinung als auch eine Voraussetzung des Anhörungsrechts darstellt12, das in Art. 41 Abs. 2 der Europäischen Grundrechtecharta niedergelegt ist, und da es zu den Verteidigungsrechten gehört, kann von seiner grundrechtlichen Qualität ausgegangen werden. 7
Craig, S. 326. EuGH, Urteil v. 17.12.1998, Rs. C-185/95 P, Baustahlgewebe/Kommission, Slg. 1998, I-8417, Rdnr. 90. 9 EuG, Urteil v. 20.4.1999, verb. Rs T-305/94, T-306/94, T-307/94, T-313/94 bis T-316/94, T-318/94, T-325/94, T-328/94, T-329/94 und T-335/94, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./ Kommission, Slg. 1999, II-931, Rdnr. 1012; Urt. v. 29.6.1995, Rs. T-30/91 Solvay SA/Kommission, Slg. 1995, II-1775, Rdnr. 83; Urteil v. 29.6.1995, Rs. T-36/91 Imperial Chemical Industries plc/Kommission, Slg. 1995, II-1847, Rdnr. 93. Der EGMR hat bereits anerkannt, dass das Prinzip der Waffengleichheit es gebietet, dass jede Partei die Möglichkeit hat, sich zu dem von der anderen Partei vorgelegten Beweismaterial effektiv zu äußern. Siehe dazu EGMR, Urteil v. 18.3.1997, Beschwerdenr. 21497/93 Mantovanelli./.Frankreich, Ziff. 33. 10 EuGH, Urteil v. 7.1.2004, verb. Rs. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P, Aalborg Portland A/S u. a./Kommission, Slg. 2004, I-123, Rdnr. 68. 11 In diese Richtung gehend auch Giannakopoulos, S. 124. 12 EuGH, Urteil vom 17.01.1984, verb. Rs. 43/82 und 63/82, VBVB und VBBB/Kommission, Slg. 1984, 19, Rdnr. 25. 8
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§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
Allerdings haben die Unionsgerichte das Akteneinsichtsrecht bislang nicht ausdrücklich als „Verfahrensgrundrecht“ anerkannt13. Die Unionsgerichte betonen, dass das Recht auf Akteneinsicht einen Ausfluss des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte darstellt14. Ursprünglich hat der EuGH aber gezögert, das Akteneinsichtsrecht als Teil der Verteidigungsrechte anzuerkennen. Den Anstoß zur akteneinsichtsfreundlichen Rechtsprechung der Unionsgerichte hat die Praxis der Kommission gegeben, die unter der VO 17/62 den Adressaten der Beschwerdepunkte Einsicht in die von ihr herangezogenen Dokumente gewährte15. Die Anerkennung des Akteneinsichtsrechts als Ausfluss der Verteidigungsrechte stellte eine positive Entwicklung im EU-Verwaltungsrecht dar, da mindestens in einem Mitgliedstaat (Vereinigtes Königreich) kein Recht auf Akteneinsicht vor dem Erlass der ersten Entscheidung gewährt wird16. Diese Entwicklung hielt Schritt mit der vollzogenen Erweiterung des Schutzes des Akteneinsichtsrechts in den meisten Mitgliedstaaten17.
III. Die Entwicklung des kartellrechtlichen Akteneinsichtsrechts in der Rechtsprechung Der Vorgänger der VO 1/2003 (die VO 17/62) enthielt keine Regelungen über das Akteneinsichtsrecht. Die Konturen dieses Rechts wurden in der Rechtsprechung der Unionsgerichte gezogen und fanden später Einzug in die Regelung des Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003 und in die erste Mitteilung der Kommission über das Akteneinsichtsrecht in Wettbewerbs- und Zusammenschlusskontrollverfahren18. Ursprünglich hat der EuGH das Akteneinsichtsrecht sehr restriktiv gehandhabt. Im Urteil „VBVB und VBBB“ vom Jahr 1984 stellte er fest, dass, obwohl die Wahrung des Anhörungsrechts verlangte, dass dem Betroffenen einer Kommissionsentscheidung die Möglichkeit gegeben wird, sich zu den die Entscheidung tragenden Dokumenten zu äußern, es keine Vorschrift gebe, die die Kommission dazu verpflichten würde, dem Betroffenen Einsicht in die Akte zu gewähren19. 13
Nehl, S. 227. Siehe auch Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Art. 41 GRCh, Rdnr. 16. EuGH, Urteil v. 1.7.2010, Rs. C-407/08 P, Knauf Gips KG/Kommission, Slg. 2012, I-6375, Rdnr. 22. 15 So Ritter, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 27 VO 1/2003, Rdnr. 17. 16 Craig, S. 326. In Großbritannien gibt es weiterhin kein Recht auf Zugang zu den Akten im Falle der Anfechtung einer Verwaltungsentscheidung. Der Adressat der Entscheidung muss einen Antrag auf „discovery“ stellen, dem nur unter strengen Bedingungen stattgegeben wird. Die Lage ist aber anders in einer Vielzahl von EU-Mitgliedstaaten, wo das Akteneinsichtsrecht zu den Verwaltungsverfahrensgrundsätzen zählt. 17 Hix, S. 17. 18 Mitteilung der Kommission über interne Verfahrensvorschriften für die Behandlung von Anträgen auf Akteneinsicht in Fällen einer Anwendung der Artikel 85 und 86 EG-Vertrag, der Artikel 65 und 66 EGKS-Vertrag und der Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates, ABl. EG 1997, C 23/3. 19 EuGH, Urteil v. 17.1.1984, verb. Rs. 43/82 und 63/82, VBVB und VBBB/Kommission, Slg. 1984, 19, Rdnr 25. 14
A. Das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen und Dritter
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Dem restriktiven Ansatz folgte zunächst auch das EuG, das in seinem „Hercules“-Urteil im Jahre 1991 die „VBVB und VBBB“ zitierte und betonte, dass die Kommission durch die Anerkennung eines Akteneinsichtsrechts in Wettbewerbssachen über die Anforderungen des EuGH hinaus gegangen war und dass die von der Kommission aufgestellten Regeln zur Inanspruchnahme dieses Akteneinsichtsrechts eine Selbstbindung der Kommission bedeuteten20. Daraus ergab sich nach Ansicht des Gerichts die Pflicht der Kommission, dem von einem Wettbewerbsverfahren betroffenen Unternehmen Einsicht in die Gesamtheit der sich in ihrem Besitz befindenden be- und entlastenden Dokumente zu gewähren, mit Ausnahme von Geschäftsgeheimnissen, vertraulichen Informationen und internen Schriftstücken21. Den Wendepunkt in der Rechtsprechung über die Akteneinsicht in Wettbewerbsverfahren bildet die Entscheidung des Gerichts im Fall Cimenteries CBR22. Zum ersten Mal stellte das EuG klar, dass die Akteneinsicht zu den Verfahrensgarantien gehört, die die Rechte der Verteidigung schützen und die eine effektive Ausübung des Anhörungsrechts sicherstellen. Das Akteneinsichtsrecht soll sicherstellen, dass sich die betroffenen Unternehmen gegen die ihnen durch die Mitteilung der Beschwerdepunkte zur Last gelegten Vorwürfe wirksam verteidigen können23. Das Gericht nahm im Fall Cimenteries CBR weder Bezug auf den restriktiven EuGH-Ansatz des Urteils VBVB und VBBB noch stützte es die Geltung des Akteneinsichtsrechts allein auf den Selbstbindungseffekt der Kommissionspraxis, wie es im Hercules-Urteil der Fall gewesen war. Bildet das Urteil Cimenteries CBR den Wendepunkt bei der Rechtsprechung für das Akteneinsichtsrecht im Kartellverfahren, so stellen die Urteile des EuG in den Fällen Solvay und ICI (die sogenannten Soda-Fälle)24 im Jahre 1995 den Meilenstein für das Akteneinsichtsrecht in seiner heutigen, umfassenden Ausprägung25. Solvays Klage richtete sich unter anderem gegen die Tatsache, dass die Kommission ihr keinen Zugang zu Unterlagen gewährt hatte, die nach Meinung des Unternehmens entlastend gewesen wären. Die Kommission hatte die Nichtgewährung der Einsicht dadurch gerechtfertigt, dass die nicht übermittelten Dokumente weder neue Angaben beinhalteten noch entlastende Beweiskraft für das betroffene Unternehmen hätten26. 20 EuG, Urteil v. 17.12.1991, Rs. T-7/89, Hercules Chemicals NV-SA/Kommission, Slg. 1991, II-1711, Rdnr. 52–53. 21 EuG, Urteil v. 17.12.1991, Rs. T-7/89, Hercules Chemicals NV-SA/Kommission, Slg. 1991, II-1711, Rdnr. 54. 22 EuG, Urteil v. 18.12.1992, verb. Rs. T-10/92, 11/92,12/92 und 15/92, Cimenteries CBR SA u. a./Kommission, Slg. 1992, II-2667. 23 EuG, Urteil v. 18.12.1992, verb. Rs. T-10/92, 11/92,12/92 und 15/92 Cimenteries CBR SA u. a./Kommission, Slg. 1992, II-2667, Rdnr. 38. 24 EuG, Urteil v. 29.6.1995, Rs. T-30/91, Solvay SA/Kommission, Slg. 1995, II-1775; Urteil v. 29.6.1995, Rs. T-36/91, ICI/Kommission, Slg. 1995, II-1847. 25 So auch Stoye, S. 58. 26 EuG, Urteil v. 29.6.1995, Rs. T-30/91, Solvay SA/Kommission, Slg. 1995, II-1775, Rdnr. 9–13.
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§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
Das EuG lehnte das Vorbringen der Kommission ab und statuierte den Grundsatz, dass die Kommission nicht alleine entscheiden kann, welche Schriftstücke für die Verteidigung eines Betroffenen im Wettbewerbsverfahren nützlich sein können. Sie muss vielmehr dem Rechtsanwalt des betroffenen Unternehmens die Möglichkeit geben zu prüfen, inwieweit potenziell erhebliche Schriftstücke, für die Verteidigung des Unternehmens dienlich sind27. Eine nach Gutdünken der Kommission gewährte Einsicht in nur Teile der Akte würde nach Ansicht des EuG gegen den in Wettbewerbssachen geltenden Grundsatz der Waffengleichheit verstoßen, gemäß dem in einer Wettbewerbssache das betroffene Unternehmen die im Verfahren herangezogenen Unterlagen in gleicher Weise wie die Kommission kennen muss28. Die Soda-Rechtsprechung in Bezug auf das Akteneinsichtsrecht hat sich gefestigt. Im neueren Cimenteries CBR-Urteil vom Jahr 2000 hat das EuG dargelegt, dass beim Akteneinsichtsrecht die vollständige Ermittlungsakte, mit Ausnahme von Dokumenten, die Geschäftsgeheimnisse und/oder vertrauliche Informationen anderer Unternehmen enthalten, und internen Schriftstücken der Kommission, zugänglich zu machen ist29. Diese Entwicklung der Rechtsprechung bedeutete die Stärkung der Verteidigungsrechte der Unternehmen im EU-Kartellverfahren. Die Einsicht in die gesamte Kommissionsakte ist besonders wichtig für die Verteidigung der Betroffenen im EU-Kartellverfahren, da sie auf dieser Weise prüfen können, ob die Kommission eventuell wichtige Unterlagen unberücksichtigt gelassen hat oder ob sie den Inhalt der in der Akte enthaltenen Dokumente falsch gedeutet hat30.
IV. Bestandsaufnahme des (kartellrechtlichen) Akteneinsichtsrechts im positiven Recht 1. Europäische Grundrechtecharta Mit Art. 41 Abs. 2, Buchst. b GRCH hat das Recht auf Akteneinsicht zum ersten Mal eine Verankerung im EU-Primärrecht gefunden. Es ist als eine besondere Erscheinungsform des Rechts auf Anhörung mit Blick auf schriftliche Informationen zu verstehen31. Das Akteneinsichtsrecht sollte nicht mit dem Recht aus Art. 42 27
EuG, Urteil v. 29.6.1995, Rs. T-30/91, Solvay SA/Kommission, Slg. 1995, II-1775, Rdnr. 81; Urteil v. 29.6.1995, Rs. T-36/91, ICI/Kommission, Slg. 1995, II-1847, Rdnr. 91. 28 EuG, Urteil v. 29.6.1995, Rs. T-30/91, Solvay SA/Kommission, Slg. 1995, II-1775, Rdnr. 83; Urteil v. 29.6.1995, Rs. T-36/91, ICI/Kommission, Slg. 1995, II-1847, Rdnr. 93. 29 EuG, Urteil v. 15.3.2000, verb. Rs. T-25/95 u. a., Cimenteries CBR SA u. a./Kommission, Slg. 2000, II-491, Rdnr. 143. 30 Schlussanträge des GA Léger vom 13.12.1994, Rs. C-310/93 P, BPB Industries plc und British Gypsum Ltd/Kommission, Slg. 1995, I-865, Rdnr. 111. 31 Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Art. 41 EGC, Rdnr. 16.
A. Das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen und Dritter
263
GRCH verwechselt werden, das das Recht der Unionsbürger sowie aller natürlichen und juristischen Personen mit Wohnsitz oder Sitz in den Mitgliedstaaten auf Zugang zu den Dokumenten der Institutionen der EU festlegt und das bereits gemäß Art. 255 EGV (nunmehr Art. 15 Abs. 3 AEUV) auf Primärrechtsebene verankert war. Während Art. 42 GRCH auf die Herstellung einer allgemeinen Verwaltungstransparenz abzielt und dem Demokratieprinzip dient, bezieht sich das Recht aus Art. 41 Abs. 2, Buchst. b GRCH auf Verwaltungsverfahren, dient den Verteidigungsrechten der Betroffenen eines Verwaltungsverfahrens und dem Rechtsstaatsprinzip. 2. EMRK Obwohl nun mit Art. 41 Abs. 2, Buchst. b GRCH eine ausdrückliche Grundlage mit Verfassungsrang32 des Rechts auf Akteneinsicht im EU-Recht besteht, erscheint es sinnvoll aufgrund der Klausel von Art. 52 Abs. 3 GRCH kurz auf die Reichweite des Akteneinsichtsrechts in der EMRK einzugehen. Eine ausdrückliche Grundlage des Akteneinsichtsrechts gibt es in der EMRK nicht. Dieses Recht ergibt sich aber aus Art. 6 EMRK, der das Recht auf ein faires Verfahren niederlegt. Gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. b EMRK muss dem Angeklagten ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung eingeräumt werden. Dazu gehört es, dem Beschuldigten zu ermöglichen, sich über das Ergebnis der Ermittlungen zu erkundigen. Daraus hat die Kommission für Menschenrechte das Recht auf Zugang zu den den Angeklagten betreffenden Akten abgeleitet33. Es wird generell akzeptiert, dass der Beschuldigte, spätestens ab Anklageeröffnung, ein Recht auf Einsicht in die Ermittlungsakte hat, das aber nicht sämtliche Dokumente der Akte erfasst34. Als Grenze des Rechts auf Zugang in die Akte wird die Pflicht auf Schutz der vertraulichen Informationen angesehen35. Es stellt sich aber die Frage, inwieweit Art. 6 Abs. 3 EMRK auf Verwaltungs- oder Verfahren wie das Wettbewerbsverfahren der Europäischen Kommission, Anwendung findet. Wie bereits gezeigt36, ist Art. 6 Abs. 3 Buchst. b EMRK gleichwohl auf das Kartellverfahren der Europäischen Kommission anwendbar. Unternehmen dürfen sich darauf berufen, weil das Grundrecht auf ein faires Verfahren aufgrund seiner Natur auch juristischen Personen zusteht und, ferner, weil Art. 34 EMRK die Individualbeschwerde nicht nur für natürliche Personen, aber auch für nichtstaatliche Organisationen und Personenvereinigungen vorsieht37.
32
Nehl, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), § 55, Rdnr. 1, S. 1470. Weiß, S. 296. 34 Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6, Rdnr. 128. 35 Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6, Rdnr. 128, Fn. 65. 36 Siehe § 3 „Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht“, III, S. 77 ff. 37 Frowein, in: Frowein/Peukert, S. 14, Rdnr. 3. 33
264
§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
Daraus wird auch die Parteifähigkeit von juristischen Personen im Rahmen der Individualbeschwerde abgeleitet38. 3. EU-Sekundärrecht a) Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003 Das Akteneinsichtsrecht des EU-Kartellverfahrens wird im EU-Sekundärrecht näher präzisiert. In der bis zum 30. April 2004 geltenden VO 17/6239 war kein ausdrückliches Recht auf Akteneinsicht festgelegt. Den betroffenen Unternehmen wurde nur ein Anhörungsrecht vor dem Erlass einer sie belastenden Entscheidung eingeräumt und die Möglichkeit anerkannt, zur Ausübung dieses Anhörungsrechts über die Beschwerdepunkte der Kommission schriftlich informiert zu werden40. Das prätorisch entwickelte Recht auf Akteneinsicht in Wettbewerbssachen fand Eingang in die neue Kartellverfahrensverordnung 1/2003. Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003 legt fest, dass „die Verteidigungsrechte der Parteien während des Verfahrens in vollem Umfang gewahrt werden müssen“. Die Vorschrift sieht weiterhin vor, dass „die Parteien Recht auf Einsicht in die Akten der Kommission haben, vorbehaltlich des berechtigten Interesses von Unternehmen an der Wahrung ihrer Geschäftsgeheimnisse“. Gemäß derselben Vorschrift sind von der Akteneinsicht Informationen ausgenommen, die von vertraulichem Charakter sind, sowie interne Schriftstücke der Kommission und der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten. Weiter präzisiert wird das Akteneinsichtsrecht in Art. 15 und 16 der Durchführungsverordnung 773/200441. Art. 15 Abs. 1 VO 773/2004 legt fest, dass den Parteien, an die eine Mitteilung der Beschwerdepunkte der Kommission gerichtet wurde, nach Zustellung der Beschwerdepunkte Akteneinsicht gewährt wird. b) Mitteilung der Kommission über die Akteneinsicht Der Umfang des Akteneinsichtsrechts sowie die Durchführung der Akteneinsicht wurden infolge der Soda-Rechtsprechung der Unionsgerichte durch eine Mitteilung der Kommission im Jahre 1997 näher konkretisiert42. Diese Mittei 38
Meyer-Ladewig, Art. 34, Rdnr. 7. ABl. EG 1962 Nr. 13/204. 40 Nehl, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), § 55, Rdnr. 4. 41 Verordnung (EG) Nr. 773/2004 der Kommission vom 7. April 2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel 81 und 82 EG-Vertrag durch die Kommission, ABl. EG L 123 vom 27.4.2004, S. 18–24. 42 Mitteilung der Kommission über interne Verfahrensvorschriften für die Behandlung von Anträgen auf Akteneinsicht in Fällen einer Anwendung der Artikel 85 und 86 EG-Vertrag, der Artikel 65 und 66 EGKS-Vertrag und der Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates, ABl. EG v. 23.01.1997, C 023/3. 39
A. Das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen und Dritter
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lung wurde im Jahre 2005 durch eine neue ersetzt43. Die Bekanntmachung von 2005 konkretisiert das in Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003 und in Art. 15 VO 773/2004 niedergelegte Akteneinsichtsrecht der Beteiligten im Kartellerfahren44. Sie regelt den Inhalt, den Zeitpunkt und das Verfahren der Akteneinsicht der Parteien bei der Kommission im EU-Kartell- und im EU-Fusionskontrollverfahren. Sie hat keinen rechtsverbindlichen Charakter, da sie keinen Akt der EU-Organe im Sinne von Art. 288 AEUV darstellt. Sie gehört dem sogenannten „soft-law“ an. Dennoch entfaltet sie einen Selbstbindungseffekt für die Kommission bei der Ausübung ihrer Befugnisse. Ferner stellt sie das Kondensat der sich aus der Rechtsprechung der Unionsgerichte und aus der Praxis der Kommission ergebenden Schlussfolgerungen in Bezug auf die Modalitäten der Gewährung von Akteneinsicht in Wettbewerbsverfahren dar45. c) Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen („best practices“) Schließlich gibt die Bekanntmachung der Kommission über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Art. 101 und 102 AEUV eine Zusammenfassung der Praxis der Kommission über die Gewährung der Akteneinsicht in Wettbewerbsverfahren wieder46. Für jede Frage, die im Rahmen eines kartellrechtlichen Verfahrens in Bezug auf die Akteneinsicht auftauchen könnte, ist der Anhörungsbeauftragte zuständig47.
V. Inhalt des Akteneinsichtsrechts im EU-Kartellverfahren Was den materiellen Gehalt des Akteneinsichtsrechts betrifft, muss man zwischen der Akteneinsicht des Betroffenen eines Wettbewerbsverfahrens, dem Beschwerdeführer und Dritten unterscheiden.
43 Mitteilung der Kommission über die Regeln für die Einsicht in Kommissionsakten in Fällen einer Anwendung der Artikel 81 und 82 EG-Vertrag, Artikel 53, 54 und 57 des EWR-Abkommens und der Verordnung (EG) Nr. 139/2004, ABl. EG vom 22.12.2005, C 235/7 (im Folgenden: „Mitteilung zur Akteneinsicht“). 44 Lampert/Weidenbach, WRP 2007, 152 (153). 45 Nehl, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), § 55, Rdnr. 16. 46 Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen, Rdnr. 92 ff. 47 Beschluss des Präsidenten der Europäischen Kommission vom 13. Oktober 2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren, ABl. EU v. 20.10.2011, L 275/29, Erwägungsgrund 15, Artikel 8; de Bronett, Art. 27 Rdnr. 10.
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§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
1. Akteneinsichtsrecht des Betroffenen Die Einsicht in die Akte soll dem Betroffenen ermöglichen, die Basis der Vorwürfe der Kommission zu ergründen, die zum Beweis der Vorwürfe herangezogenen Mittel zu beurteilen und auf entlastende Dokumente hinzuweisen, die von der Kommission eventuell nicht berücksichtigt oder falsch gedeutet wurden48. Unter dem Begriff „Akte“ sind alle Dokumente und aufgezeichneten Informationen zu verstehen, die die zuständige Dienststelle der Kommission, d. h. die Generaldirektion Wettbewerb, im Rahmen der Ausübung ihrer Befugnisse auf Grundlage der VO 1/2003 in Bezug auf den untersuchten Einzelfall gesammelt hat. Dabei ist zu beachten, dass für die Zwecke der Akteneinsicht des Betroffenen den Begriff „Akte“ weit fasst. Aus diesem Grund hat der Betroffene grundsätzlich Recht auf Einsicht in die Akte der Kommission, die die Gesamtheit der Dokumente oder Informationen umfasst, die tatsächlich oder eventuell fallbezogen und relevant sind, unabhängig von ihrem Standort bei der Kommission49. a) Verfahren der Akteneinsicht Jeder von der Kommission untersuchte Fall erhält eine eigene Fallnummer, unter die alle diesen Fall betreffenden Informationen zusammengestellt werden. Die Summe dieser angesammelten Informationen (egal in welcher Form sie aufgezeichnet sind, d. h. schriftlich oder elektronisch) stellt die Ermittlungsakte der Kommission dar. Diese Akte, mit Ausnahme der Geschäftsgeheimnisse anderer Unternehmen, der Informationen mit vertraulichem Charakter und der internen Dokumente der Kommission (wozu auch der Schriftverkehr zwischen der Kommission und anderen Wettbewerbsbehörden zählt), muss den am Verfahren beteiligten Unternehmen nach der Versendung der Beschwerdepunkte zugänglich gemacht werden, so dass sie im Stande sind, sich gebührend gegen die ihnen zur Last gelegten Beschwerdepunkte zu äußern50. Die Akteneinsicht erfolgt von Amts wegen. Für ihre Ausübung ist kein Antrag der Betroffenen erforderlich51. Dementsprechend sollte die Aussage der Kommission in der Mitteilung über die Akteneinsicht, dass die Akteneinsicht auf Antrag gewährt wird52, als gegenstandslos betrachtet werden. Das ist auch nur kon 48
So Carlton/Lawrence/McElwee, ECJ 2008, 401 (411 f.). Giannakopoulos, S. 129. 50 EuG, Urteil v. 15.3.2000, verb. Rs. T-25/95 u. a., Cimenteries CBR u. a./Kommission, Slg. 2000, II-491, Rdnr. 144; Urteil v. 29.4.2004, verb. Rs. T-236/01, T-239/01, T-244/01 bis T-246/01, T-251/01 und T-252/01, Tokai Carbon u. a./Kommission, Slg. 2004, II-1181, Rdnr. 38. 51 EuG, Urteil v. 29.6.1995, Rs. T-30/91, Solvay/Kommission, Slg. 1995, II-1775, Rdnr. 96; Urteil v. 29.6.1995, Rs. T-36/91, ICI/Kommission, Slg. 1995, II-1847, Rdnr. 106. 52 Mitteilung der Kommission über die Regeln für die Einsicht in Kommissionsakten in Fällen einer Anwendung der Artikel 81 und 82 EG-Vertrag, Artikel 53, 54 und 57 des EWR-Abkommens und der Verordnung (EG) Nr. 139/2004, ABl. EG vom 22.12.2005, C 235/7, Rdnr. 27. 49
A. Das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen und Dritter
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sequent angesichts der Tatsache, dass die Kommission den Betroffenen Einsicht in be- oder entlastende Dokumente gewähren muss, die nach der Gewährung der ersten Akteneinsicht nach der Mitteilung der Beschwerdepunkte bei der Kommission eingegangen sind. Ein Betroffener kann nur schwerlich Kenntnis von diesem Umstand haben und einen Antrag auf Akteneinsicht stellen, bevor die Kommission sich in einer Ergänzung der Mitteilung der Beschwerdepunkte auf die neuen Dokumente berufen hat. Bezüglich der praktischen Umsetzung der Akteneinsicht ist anzumerken, dass in den letzten Jahren eine Vereinfachung des Verfahrens stattgefunden hat. Obwohl es früher üblich war, den Parteien Einsicht in die Akte in den Räumlichkeiten der Kommission in Brüssel zu gewähren, hat es sich nun als gängige Praxis etabliert, zusammen mit der Mitteilung der Beschwerdepunkte einen elektronischen Datenträger (in der Regel eine CD-ROM) zu versenden, auf dem alle zugänglichen Dokumente der Ermittlungsakte gespeichert sind. Die Kommission verfügt aber grundsätzlich über einen Ermessensspielraum in Bezug auf die Festlegung der Modalitäten der Gewährung des Akteneinsichtsrechts53. b) Zeitliche Aspekte der Akteneinsicht Vor der Mitteilung der Beschwerdepunkte der Kommission an ein Unternehmen gibt es keinen Anspruch auf Einsicht in die Kommissionsakte. Das bedeutet, dass die Kommission nicht dazu verpflichtet ist, während der Untersuchungsphase die Unternehmen, die unter dem Verdacht der Begehung eines Wettbewerbsverstoßes stehen, über den aktuellen Stand ihrer Informationen zu informieren. Eine solche Pflicht könnte die Effizienz der von der Kommission durchgeführten Ermittlungen beeinträchtigen, da die von den Ermittlungen betroffenen Unternehmen Kenntnis vom Informationsstand der Kommission bekommen würden und somit beurteilen könnten, welche Informationen der Kommission vorenthalten werden sollten54. Die Gewährung des Akteneinsichtsrechts erst nach Erhalt der Mitteilung der Beschwerdepunkte dient auch der Abgrenzung des Akteneinsichtsrechts im Rahmen der Ausübung der Verteidigungsrechte oder der Gewährung rechtlichen Gehörs von anderen Verfahren der Offenlegung bestimmter Dokumente. Als solche, ihrer Natur nach ähnliche Verfahren, können die Akteneinsicht von Beschwerdeführern oder von Dritten im Kartellverfahren, sowie der Zugang der EU-Bürger zu Dokumenten der EU-Verwaltung gemäß Art. 15 AEUV und Art. 42 GRCH i. V. m. der VO 1049/2001 (der sogenannten „Transparenzverordnung“)55 angeführt werden. 53
Nehl, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), § 55, Rdnr. 19. EuG, Urteil v. 8.7.2004, Rs. T-50/00, Dalmine/Kommission, Slg. 2004, II-2395, Rdnr. 83 und 110. 55 Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, ABl. EG v. 31.5.2001, L 145/43. 54
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§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
Die Kommission gewährt den Betroffenen Einsicht in Dokumente, die neue beund entlastende Beweise in Bezug auf das den Betroffenen zur Last gelegte Verhalten enthalten und die nach der Übermittlung der Mitteilung der Beschwerdepunkte bei der Kommission eingegangen sind. Das gilt insbesondere dann, wenn die Kommission beabsichtigt, sich auf diese neue Beweise zu stützen56. Von der Rechtsprechung ungeklärt bleibt immer noch die Frage, inwieweit Einsicht in die Erwiderungen der anderen Verfahrensparteien auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte zu gewähren ist. In der Mitteilung der Kommission über die Gewährung des Akteneinsichtsrechts wird dies abgelehnt57. 2. Akteneinsichtsrecht des Beschwerdeführers Die Regelung des Akteneinsichtsrechts im EU-Sekundärrecht stellt das Kondensat der Rechtsprechung der Unionsgerichte dar, die den persönlichen Anwendungsbereich dieses Verteidigungsrechts stets eng definiert haben. Es ist dementsprechend nicht verwunderlich, dass die Regelung des Art. 27 Abs. 2 VO 1/1003 i. V. m. Art. 15 VO 773/2004 als Träger des Akteneinsichtsrechts ausdrücklich nur die betroffenen Parteien einer Mitteilung der Beschwerdepunkte nennt. Aufgrund der unterschiedlichen Stellung des Beschwerdeführers im EU-Kartellverfahren hat er nicht dieselben Rechte wie das Unternehmen, gegen das sich das Verfahren richtet58. Deswegen kommt dem Beschwerdeführer grundsätzlich kein Akteneinsichtsrecht im Sinne eines Verteidigungsrechts zu59, da er sich gegen keine Vorwürfe verteidigen muss und da er sonst durch die Akteneinsicht Zugang zu vertraulichen und ihm nicht zugänglichen Dokumenten bekommen könnte60. Art. 8 VO 773/2004 sieht nur ein eingeschränktes Akteneinsichtsrecht des Beschwerdeführers vor, wenn die Kommission ihm ihre Absicht mitteilt, die Beschwerde zurückzuweisen. Das EuG hat im Matra-Hachette-Urteil entschieden, dass Dritte keinen Anspruch auf Akteneinsicht auf derselben Grundlage wie die Adressaten der Beschwerdepunkte haben können61. Der Grundsatz des vollständig kontradiktorischen Ver 56 Mitteilung der Kommission über die Regeln für die Einsicht in Kommissionsakten in Fällen einer Anwendung der Artikel 81 und 82 EG-Vertrag, Artikel 53, 54 und 57 des EWRAbkommens und der Verordnung (EG) Nr. 139/2004, ABl. EG vom 22.12.2005, C 235/7, Rdnr. 27. 57 Mitteilung der Kommission über die Regeln für die Einsicht in Kommissionsakten in Fällen einer Anwendung der Artikel 81 und 82 EG-Vertrag, Artikel 53, 54 und 57 des EWRAbkommens und der Verordnung (EG) Nr. 139/2004, ABl. EG vom 22.12.2005, C 235/7, Rdnr. 27. 58 Siehe diesbezüglich EuGH, Urteil v. 17.11.1987, verb. Rs. 142 und 156/84, British-American Tobacco Company Ltd und R. J. Reynolds Industries Inc./Kommission, Slg. 1987, 4487, Rdnr. 19–20. 59 Mitteilung über die Akteneinsicht, Rdnr. 30. 60 So Ritter, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 27 VO 1/2003, Rdnr. 30. 61 EuG, Urteil v. 15.7.1994, Rs. T-17/93, Matra Hachette/Kommission, Slg. 1994, II-595, Rdnr. 34.
A. Das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen und Dritter
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fahrens gilt nur für die Betroffenen eines Verfahrens und nicht für den Beschwerdeführer62. Es ist ersichtlich, dass, wenn die Kommission eine Beschwerde als unbegründet zurückweist, nur weil sie keine Nachweise für den vermuteten Verstoß finden konnte, das Recht des Beschwerdeführers auf Akteneinsicht von geringer praktischen Bedeutung ist. Ganz anders ist aber die Wichtigkeit des Akteneinsichtsrechts einzustufen, wenn die Kommission auf Grundlage der Beschwerde ihre Beschwerdepunkte den betroffenen Unternehmen mitgeteilt hat63. In der Rechtsprechung der Unionsgerichte ist keine Grundlage für ein allgemeines Akteneinsichtsrecht des Beschwerdeführers zu finden, es wurde aber argumentiert, dass die Aussagen des EuG im Urteil Matra-Hachette für die Zuerkennung eines solchen, stark eingeschränkten, Akteneinsichtsrechts sprachen64. a) Mögliche Rechtsgrundlagen für das Akteneinsichtsrecht des Beschwerdeführers Eine Rechtsgrundlage für das eingeschränkte Akteneinsichtsrecht des Beschwerde führers findet man in Art. 6 Abs. 1 VO 773/200465. Gemäß dieser Vorschrift ist die Kommission verpflichtet, dem Beschwerdeführer eine nicht-vertrauliche Fassung der Mitteilung der Beschwerdepunkte zu verschicken und ihm eine Frist zu setzen, innerhalb dieser der Letztere die Möglichkeit haben soll, seinen Standpunkt zu den Beschwerdepunkten schriftlich bekannt zu geben. Die effektive Ausübung dieses Rechts auf Äußerung zu den Beschwerdepunkten verlangt aber implizit die Gewährung einer Einsicht in die Akte der Kommission, die natürlich der beson deren Stellung des Beschwerdeführers im Kartellverfahren und dem Schutz der Geschäftsgeheimnisse Rechnung trägt. Ferner gewährt Art. 8 Abs. 1 VO 773/2004 dem Beschwerdeführer Zugang zu diesen Dokumenten, auf welche die Kommission ihre Absicht stützt, die Beschwerde zurückzuweisen. Für die Grenzen des eingeschränkten Akteneinsichtsrechts des Beschwerdeführers gilt dasselbe wie für den Hauptbetroffenen, da die Verfahrensstellung des Beschwerdeführers nicht weiter gehen kann66. Grenzen werden auch der Verwertungsmöglichkeit der vom Beschwerdeführer gesichteten Dokumenten gesetzt. Art. 8 Abs. 2 VO 773/2004 sieht nämlich vor, dass der Beschwerdeführer Unterlagen, in die er Einsicht bekommen hat, 62
EuG, Urteil v. 15.7.1994, Rs. T-17/93, Matra Hachette/Kommission, Slg. 1994, II-595, Rdnr. 20. 63 Giannakopoulos, S. 138. 64 EuG, Urteil v. 15.7.1994, Rs. T-17/93, Matra Hachette/Kommission, Slg. 1994, II-595, Rdnr. 34. 65 Siehe auch Giannakopoulos, S. 139; a. A. Ritter, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 27 VO 1/2003, Rdnr. 30, der ein Recht des Beschwerdeführers auf Akteneinsicht ablehnt, da Letzterer sonst leichten Einblick in ihm unzugänglichen Unterlagen bekommen könnte. 66 Weiß, S. 306.
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§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
nur für Gerichts- und Verwaltungsverfahren zur Anwendung von Art. 101 und 102 AEUV verwenden darf. Eine Sanktion für den Verstoß gegen diese Vorschrift ist aber nicht vorgesehen67. Diese Vorschrift ist aber ein Beweisverwertungsverbot, dass insbesondere von nationalen Gerichten und Behörden berücksichtigt werden muss68. b) Begründung des eingeschränkten Akteneinsichtsrechts des Beschwerdeführers Das eingeschränkte Akteneinsichtsrecht des Beschwerdeführers wird durch die unterschiedliche Verfahrensstellung des Beschwerdeführers und durch seine damit einhergehende geringere Schutzbedürftigkeit gerechtfertigt. Die Teilnahme des Beschwerdeführers am Verfahren bezweckt weniger den individuellen Rechtsund Interessenschutz und mehr die Verfahrenseffizienz und die richtige Entscheidungsfindung durch die Kommission69. Die Beschwerdeführer müssen zwar die Möglichkeit haben, ihre berechtigten Interessen im Verwaltungsverfahren geltend zu machen. Dennoch entspricht ihre Stellung nicht derjenigen des Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte, dem ein Verstoß gegen das EU-Wettbewerbsrecht vorgeworfen wird.
VI. Die Problematik des Akteneinsichtsrechts sonstiger Dritter Es stellt sich die Frage, inwieweit Dritte, also weder die Verfahrensparteien noch der Beschwerdeführer, ein Recht auf Einsicht in die Akte der Kommission in Kartellsachen haben. Bei den Dritten wird es sich dann meistens um Unternehmen handeln, die durch ein Kartell einen finanziellen Schaden erlitten haben. Die Akteneinsicht Dritter hat im Zeitalter der privaten Durchsetzung („private enforcement“) des Kartellrechts an Wichtigkeit zugenommen. Natürliche oder juristische Personen, die aufgrund eines Kartellverstoßes einen Schaden erlitten haben, versuchen immer öfter auf dem Weg einer Schadensersatzklage ihren wirtschaftlichen Schaden auszugleichen. Für die Substantiierung ihrer Klagegründe sind sie auf Beweismaterial angewiesen, das sie nur im Ausnahmefall vom Kartellsünder bekommen werden. Beweismaterial für die Substantiierung ihrer Klage gibt es dennoch regelmäßig in der Akte der Europäischen Kommission, in die sie keine oder, wenn überhaupt, eine stark eingeschränkte und strengen Auflagen unterliegende Einsicht haben dürfen. Der Zugang zu dieser Akte und zu den sich darin befindenden
67
Weiß in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff, Art. 27 VerfVO, Rdnr. 22. So Bischke in: MünchKommEuWettbR, Art. 27 VO 1/2003, Rdnr. 27. 69 Nehl, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), § 55, Rdnr. 33, S. 1488. 68
A. Das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen und Dritter
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Beweisstücken ist aber oft entscheidend für die Substantiierung und den Erfolg einer Schadensersatzklage gegen Kartellanten70. 1. Herkömmlicher Ansatz: Grundsätzlich kein Akteneinsichtsrecht für sonstige Dritte Obwohl Dritten gemäß Art. 27 Abs. 3 VO 1/2003 ein Anhörungsrecht im kartellrechtlichen Verfahren gewährt werden kann, solange die Kommission es für erforderlich hält oder solange sie ein hinreichendes Interesse nachweisen können, wird ihnen grundsätzlich kein Akteneinsichtsrecht zuerkannt71. Eine Möglichkeit für Dritte, Einsicht in die Akte der Kommission in Wettbewerbssachen zu bekommen, besteht nach Art. 8 VO 773/2004 i. V. m. Art. 7 Abs. 2 Buchst. d des Mandats des Anhörungsbeauftragten72, allerdings nur wenn es für die wirksame Ausübung ihres Anhörungsrechts erforderlich ist73. Die Kommission verfügt in diesem Fall über einen weiten Ermessensspielraum. Die beiden Vorschriften können aber nicht als Rechtsgrundlage eines allgemeinen Akteneinsichtsrechts Dritter betrachtet werden74. Ferner hat das EuG im Urteil „Österreichische Sparkassen“ ausgeführt, dass ein Verbraucher (also ein Dritter für die Zwecke eines Wettbewerbsverfahrens der Kommission), der ein berechtigtes Interesse nachweisen kann, die Möglichkeit hat, eine nichtvertrauliche Fassung der Beschwerdepunkte zu erhalten, bevor eine Entscheidung ergeht und veröffentlicht wird. Ein berechtigtes Interesse gilt dann als nachgewiesen, wenn der Antragsteller darlegen kann, dass er durch die untersuchte Wettbewerbsbeschränkung in seinen wirtschaftlichen Interessen be einträchtigt wurde75. Die Voraussetzung der Darlegung eines berechtigten Interesses lässt sich nach Auffassung des EuG nicht von jedem Verbraucher oder von jeder Verbraucherorganisation erfüllen, so dass die Erweiterung des Rechts auf Zugang zu den Beschwerdepunkten nicht zu einer Popularklage führen würde76.
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Lampert/Weidenbach, WRP 2007, 152 (152). Bischke in: MünchKommEuWettbR, Art. 27 VO 1/2003, Rdnr. 28. So auch Ritter, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 27 VO 1/2003, Rdnr. 32. 72 Beschluss des Präsidenten der Europäischen Kommission vom 13. Oktober 2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren, ABl. EU v. 20.10.2011, L 275/29. 73 Sura, in: Langen/Bunte (Hrsg.), Art. 27 VO Nr. 1/2003, Rdnr. 48. 74 Bischke in: MünchKommEuWettbR, Art. 27 VO 1/2003, Rdnr. 28; Heidenreich, S. 125. 75 EuG, Urteil v. 7.6.2006, verb. Rs. T-213/01 und T-214/01, Österreichische Postsparkasse AG und Bank für Arbeit und Wirtschaft AG/Kommission, Slg. 2006, II-1601, Rdnr. 114. 76 EuG, Urteil v. 7.6.2006, verb. Rs. T-213/01 und T-214/01, Österreichische Postsparkasse AG und Bank für Arbeit und Wirtschaft AG/Kommission, Slg. 2006, II-1601, Rdnr. 116. 71
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§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
2. Akteneinsichtsrecht Dritter im EU-Kartellverfahren über die Transparenzverordnung (VO 1049/2001)? Aus diesem Grund gab es oft Versuche von der Seite kartellgeschädigter Unternehmen, für die Zwecke der Substantiierung einer kartellrechtlichen Schadensersatzklage ein Akteneinsichtsrecht auf allgemeine Grundsätze des Unionsrechts, wie zum Beispiel das Anhörungsrecht oder das verwaltungsrechtliche Transpa renzprinzip, zu begründen77. Die Unionsgerichte haben aber bislang diesen Ansatz grundsätzlich abgelehnt78. Eine Rechtsprechungswende schien das EuG-Urteil im Fall „Österreichische Banken“79 darzustellen. In diesem Urteil hat das Gericht eine Entscheidung der Kommission, mit der sie den Antrag eines Verbrauchervereins auf Zugang zu Dokumenten einer kartellrechtlichen Akte auf Grundlage der VO 1049/200180 („Transparenzverordnung“) abgelehnt hatte, für nichtig erklärt. Das EuG vertritt die Auffassung, dass die Kommission die Dokumente, in die Einsicht beantragt wurde, nicht hinreichend konkret und individuell geprüft hatte. Jedes Organ der EU, bei dem ein auf die Transparenzverordnung gestützter Antrag auf Zugang zu Dokumenten eingeht, ist nach dieser Entscheidung des EuG verpflichtet, den Antrag zu prüfen, auf ihn zu antworten und im Hinblick auf jedes Dokument zu untersuchen, ob in dieses Dokument Einsicht gewährt werden kann oder ob einer von den Ausnahmegründen gemäß Art. 4 VO 1049/2001 vorliegt. Eine abstrakte, generelle Prüfung seitens der Kommission reiche nicht aus81. Das EuG befasste sich überhaupt nicht mit der Problematik, inwieweit ein solcher Antrag auf Zugang zu Dokumenten einer kartellrechtlichen Akte auf Grundlage der Transparenzverordnung rechtmäßig sei und keine Umgehung der Akteneinsichtsvorschriften im Kartellrecht darstelle. Eine rechtsdogmatische Analyse der Anwendung der Transparenzverordnung im Kartellverfahren blieb leider aus. Vielmehr kann die Annullierung der Kommissionsentscheidung vom EuG wegen unzureichender Überprüfung des Antrags auf Zugang zu Dokumenten und mangelhafter Begründung der Kommissionsentscheidung so gedeutet werden, dass ein Antrag auf Zugang zur Kommissionsakte in Wettbewerbssachen auf Grundlage der Transparenzverordnung grundsätzlich zulässig sei. Das Urteil im Fall „Österreichische Banken“ und die prima facie daraus resultierende Möglichkeit Dritter auf Akteneinsicht im Kartellverfahren auf Grundlage 77
Vgl. Hempel, GCLR 2012, 50 (50). Bischke in: MünchKommEuWettbR, Art. 27 VO 1/2003, Rdnr. 28. 79 EuG, Urteil v. 13.4.2005, Rs. T-2/03, Verein für Konsumenteninformation/Kommission, Slg. 2005, II-1121. 80 Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, ABl. EG v. 31.5.2001, L 145/43. 81 EuG, Urteil v. 13.4.2005, Rs. T-2/03, Verein für Konsumenteninformation/Kommission, Slg. 2005, II-1121, Rdnr. 68–74. 78
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der Transparenzverordnung führte zu einem Streit in der Literatur82. Zum einen gab es Stimmen, die in der Heranziehung der Transparenzverordnung im Rahmen von Wettbewerbsverfahren einen Missbrauch des Schutzzweckes der Verordnung sahen, da sie in erster Linie dem öffentlichen Interesse und dem Demokratieprinzip und nicht privaten Anliegen potenzieller Schadensersatzkläger dienen sollte83. Zum anderen begrüßten andere Stimmen das EuG-Urteil und brachten das Argument vor, dass die private Durchsetzung des Kartellrechts nicht hauptsächlich privaten Anliegen diene, sondern primär der Durchsetzungskraft und der Effektivität des EU-Wettbewerbsrechts zugutekäme84. In der kartellrechtlichen Literatur scheint sich mittlerweile die Auffassung durchgesetzt zu haben, dass sich aus der Transparenzverordnung ein Recht Dritter auf Einsicht in die Akte der Kommission in Wettbewerbssachen ableiten lässt, obwohl das in dieser Verordnung statuierte Recht auf Zugang zu Dokumenten grundsätzlich anderen Bedingungen und Ausnahmeregelungen unterliegt und einem anderen Zweck als das Akteneinsichtsrecht im Kartellverfahren dient85. a) Struktur und Zweck der VO 1049/2001 Bevor man sich mit der Frage befasst, inwieweit sich ein Akteneinsichtsrecht für jedermann (also auch für Dritte) aus der Transparenzverordnung ergeben kann, erscheint es sinnvoll, das Augenmerk auf die Struktur, den Schutzzweck und den Inhalt dieser Verordnung zu richten. Grundlage der VO 1049/2001 ist Art. 255 EGV (nunmehr Art. 15 AEUV). Die Vertragsvorschrift verfügt über einen Recht setzungsauftrag an den EU-Gesetzgeber, der den Inhalt und die Grenzen des Rechtes jedes Unionsbürgers auf Zugang zu Dokumenten der EU-Institutionen konkretisieren muss. Aus diesem Grund gehörte Art. 255 EGV, genauso wie sein Nachfolger, Art. 15 AEUV, nicht zu den unmittelbar anwendbaren Vorschriften des EGV86. Aus dem in Art. 255 Abs. 2 EGV (nunmehr Art. 15 Abs. 3 Satz 2 AEUV) enthaltenen Gesetzgebungsauftrag ist die Transparenzverordnung 1049/2001 hervorgegangen. Ihr Ziel ist es, dem Recht auf Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten der EU-Institutionen größtmögliche Wirksamkeit zu verschaffen87. Der Zugang zu den Dokumenten der EU-Institutionen ist Ausdruck der Demokratisierung der EU und der endgültigen Abkehr auf EU-Ebene vom Prinzip der Geheimhaltung, das für eine lange Zeit in den öffentlichen Verwaltungen 82
Siehe beispielsweise Soltész/Marquier/Wendenburg, EWS 2006, 102 und die Erwiderung darauf von Tietje/Nowrot, EWS 2006, 486. 83 So Soltész/Marquier/Wendenburg, EWS 2006, 102 (105 f.). 84 So Tietje/Nowrot, EWS 2006, 486 (487). 85 Siehe zum Beispiel Bischke in: MünchKommEuWettbR, Art. 27 VO 1/2003, Rdnr. 28; Klees, § 5, Rdnr. 77; Bellamy & Child, S. 1254, Rdnr. 13.100; Lampert/Weidenbach, WRP 2007, 152 (163); Kleine, ZWeR 2007, 303 (317). 86 Schoo/Görlitz, in: Schwarze (Hrsg.), Art. 15 AEUV, Rdnr. 27. 87 4. Erwägungsgrund der VO 1049/2001.
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herrschte88. Die VO 1049/01 führt ein umfassendes Recht auf Zugang zu Dokumenten der EU-Organe ein, das nicht nur die von den Organen selbst erstellten, sondern alle sich in ihrem Besitz befindenden Dokumente umfasst89. Das bedeutet, dass unter „Dokumenten“ auch von Dritten erstellte Dokumente zu verstehen sind, die im Besitz der Organe sind90. Der Antrag auf Zugang bedarf keiner Begründung von der Seite des Antrag stellers; d. h. Letzterer muss kein besonderes rechtliches Interesse vorweisen91. Der von der Verordnung statuierte Grundsatz ist derjenige der Zugänglichkeit aller Dokumente. Jede Ausnahme muss zu den abschließend aufgelisteten Ausnahmetatbeständen gehören, die in Art. 4 der Verordnung festgelegt werden. Träger des Rechts auf Zugang zu Dokumenten der Organe sind alle Unionsbürger und -bürgerinnen, sowie jede natürliche oder juristische Person mit Wohnsitz oder Sitz in einem EU-Mitgliedstaat92. b) Die in der VO 1049/2001 vorgesehenen Ausnahmen vom Grundsatz des Zugangs zu den Dokumenten Das von der VO 1049/2001 eingeführte Recht auf Zugang zu Dokumenten beansprucht keinen absoluten Charakter, sondern ist Einschränkungen unterworfen, die in Art. 4 VO 1049/2001 festgelegt sind. Es wird zwischen zwei Kategorien von Ausnahmen unterschieden, den absoluten (Art. 4 Abs. 1 VO 1049/2001), bei denen der Zugang zu den Dokumenten stets zu verweigern ist, wenn die Voraussetzungen eines der Ausnahmetatbestände erfüllt sind, und den relativen (Art. 4 Abs. 2 VO 1049/2001). Bei den relativen Ausnahmetatbeständen ist abzuwägen, inwieweit ein überwiegendes öffentliches Interesse doch für die Offenlegung der beantragten Dokumente spricht93. Zu den absoluten Ausnahmen gehören der Schutz des öffentlichen Interesses oder der Privatsphäre und der Schutz der öffentlichen Sicherheit94. Zu den Ausnahmegründen, die gegen ein höher gelegenes öffentliches Interesse abgewogen werden können, gehören der Schutz der Geschäftsinteressen (was von besonderer Bedeutung in kartellrechtlichen Sachverhalten sein kann) und der Schutz von Gerichtsverfahren und der Rechtsberatung, sowie der Schutz des Zwecks von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten95. Da der 88
Saggio/Iannone, Riv. dir. eur. 1997, 547 (554). Art. 2 Abs. 3 VO 1049/2001. 90 So Schoo/Görlitz, in: Schwarze (Hrsg.), Art. 15 AEUV, Rdnr. 25. In diesem Zusammenhang sei auch angemerkt, dass es ein Recht auf Zugang zu bereits vorhandenen Dokumenten besteht und dass die Organe nicht zur Informationsbeschaffung verpflichtet werden können. So Gellermann, in: Streinz (Hrsg.), Art. 15 AEUV, Rdnr. 12. 91 Art. 6 Abs. 1 Satz 1 VO 1049/2001. 92 Art. 2 Abs. 1 VO 1049/2001. 93 So Schoo/Görlitz, in: Schwarze (Hrsg.), Art. 15 AEUV, Rdnr. 17. 94 Art. 4 Abs. 1 VO 1049/2001. 95 Art. 4 Abs. 2 VO 1049/2001. 89
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Grundsatz der größtmögliche Zugang zu den Dokumenten der EU-Organe ist, sind sämtliche in Art. 4 VO 1049/2001 vorgesehenen Ausnahmen eng auszulegen und anzuwenden96. c) Die Auslegung der Ausnahmetatbestände durch die Unionsgerichte In der neueren Rechtsprechung der Unionsgerichte wird die Tendenz sichtbar, dass immer stärkere Anforderungen an die Begründung der Verweigerung des Zugangs zu Dokumenten gestellt werden. Das war auch der Fall im Urteil „Verein für Konsumenteninformation/Kommission“, in dem das EuG befand, dass die Kommission einen Rechtsfehler dadurch begangen hatte, dass sie die beantragten Dokumente nicht konkret und individuell geprüft hatte, um zu klären, inwieweit ein Zugang auf Grundlage der Transparenzverordnung zu gewähren war. Das EuG erkannte aber an, dass die Kommission die Möglichkeit hat, wenn die Gewährung des Zugangs nach einer Einzelprüfung in einem konkreten Fall mit einem besonderen Arbeitsaufwand verbunden ist, der die ordnungsgemäße der Funktion der Verwaltung gefährden könnte, das Recht auf Zugang gegen den übermäßigen Arbeitsaufwand abzuwägen97. Nach Ansicht des EuG darf die Kommission von einer konkreten und individuellen Prüfung der Dokumente, zu denen Zugang beantragt wird, nur dann absehen, wenn sie zuerst alle möglichen Alternativen der Gewährung des Zugangs untersucht hat und hinreichend begründet dargelegt hat, warum sämtliche Alternativen der Zugangsgewährung unverhältnismäßig zum Arbeitsaufwand wären98. d) Heranziehung der Transparenzverordnung im Bereich des EU-Wettbewerbsrechts? Dem Urteil des EuG im Fall „MyTravel“99 lassen sich Argumente entnehmen, die für die These sprechen, das das EuG von einer allgemeinen Anwendung der Transparenzverordnung im Bereich des Wettbewerbsrechts ausgeht. Das Urteil betrifft zwar das Gebiet der EU-Fusionskontrolle; dennoch lassen sich die Ausführungen des Gerichts analog auch auf das Kartellrecht übertragen. Dem Urteil lag die Klage eines britischen Unternehmens, der MyTravel Group plc, gegen zwei Entscheidungen der Kommission auf Grundlage von Art. 4 VO 1049/01 zu 96
EuGH, Urteil v. 1.2.2007, Rs. C-266/05 P, Sison/Rat, Slg. 2007, I-1233, Rdnr. 63. EuG, Urteil v. 13.4.2005, Rs. T-2/03, Verein für Konsumenteninformation/Kommission, Slg. 2005, II-1121, Rdnr. 102. 98 EuG, Urteil v. 13.4.2005, Rs. T-2/03, Verein für Konsumenteninformation/Kommission, Slg. 2005, II-1121, Rdnr. 115. 99 EuG, Urteil v. 9.9.2008, Rs. T-403/05, MyTravel Group plc/Kommission, Slg. 2008, II-2027. 97
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grunde, mit denen ihre Anträge auf Zugang zu bestimmten Dokumenten der fusionskontrollrechtlichen Akte „Airtours plc (später MyTravel Group plc)/First Choice“ abgelehnt wurden100. Unter Berufung auf die Ausnahmetatbestände des Art. 4 VO 1049/01, da die meisten der beantragten Dokumente nach Auffassung der Kommission interne Schriftstücke darstellten, lehnte sie die Anträge für fast alle Dokumente ab. Das Gericht wiederholte zuerst seine ständige Rechtsprechung, gemäß der das Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten der Organe an den demokratischen Charakter der EU anknüpft und seine Ausnahmen eng auszulegen und anzuwenden sind, um dieses Recht zu seiner größtmöglichen Geltung zu verhelfen101. Aus diesem Grund reicht es nicht einfach aus, dass ein Dokument ein durch eine Ausnahme geschütztes Interesse betrifft, um den Zugang auf das Dokument abzulehnen. Vielmehr muss das Organ zuvor prüfen, ob erstens der Zugang zu dem Dokument das geschützte Interesse tatsächlich konkret verletzt hätte und ob zweitens – in den Fällen von Art. 4 Abs. 2 und 3 VO 1049/01 – nicht ein höherrangiges öffentliches Interesse bestünde, das die Offenlegung des betreffenden Dokuments rechtfertigen würde102. Bezüglich des ersten Kriteriums verlangte das EuG ferner, dass die Gefahr einer Beeinträchtigung eines geschützten Interesses absehbar und nicht rein hypothetisch ist103. Diese konkrete Prüfung sollte in Bezug auf jedes im Antrag genannte Dokument durchgeführt werden104. In Bezug auf das höherrangige öffentliche Interesse stellte das EuG klar, dass das besondere Interesse eines Antragstellers auf Zugang zu Dokumenten, die ihn persönlich betreffen, kein höherrangiges öffentliches Interesse darstelle105. Daran ändere sich auch nichts, wenn die angeforderten Dokumente für das Vorbringen eines Klägers im Rahmen einer Schadensersatzklage erforderlich sein sollten106. Die Kommission hatte im Rahmen des Verfahrens vor dem EuG hervorgebracht, dass Art. 17 Abs. 3 VO 802/2004 zur Durchführung der VO 139/2004 (Fusionskontrollverordnung) die in der Verwaltungsakte enthaltenen internen Dokumente von der geltenden Regelung des Zugangs zur Akte ausschließe, selbst wenn die 100
Die Kommission hatte den Zusammenschluss zwischen Airtours plc (später: MyTravel Group plc) und First Choice untersagt. Diese Entscheidung der Kommission wurde mit Urteil des EuG vom 6. Juni 2002 (T-342/99, Slg. 2002, II-2585) aufgehoben. Daraufhin legte die Airtours plc (im Juni 2003) Klage auf Schadensersatz gegen die Kommission ein, da sie durch die Kommissionsentscheidung Schaden erlitten habe. Im Rahmen dieses Verfahrens ergingen von der Seite des Unternehmens die beiden Anträge auf Zugang zu Dokumenten der fusionsrechtlichen Akte, die Gegenstand des Urteils in der Rs. T-403/05 sind. 101 EuG, Urteil v. 9.9.2008, Rs. T-403/05, MyTravel Group plc/Kommission, Slg. 2008, II-2027, Rdnr. 32. 102 EuG, Urteil v. 9.9.2008, Rs. T-403/05, Rdnr. 33. 103 EuG, Urteil v. 9.9.2008, Rs. T-403/05, Rdnr. 73. 104 EuG, Urteil v. 9.9.2008, Rs. T-403/05, Rdnr. 74. 105 EuG, Urteil v. 9.9.2008, Rs. T-403/05, Rdnr. 66. 106 EuG, Urteil v. 9.9.2008, Rs. T-403/05, Rdnr. 67.
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internen Dokumente in den Anwendungsbereich der VO 1049/2001 fielen107. Daraufhin stellte das EuG klar, dass aus keiner Bestimmung der Transparenzverordnung hervorging, dass der Zugang zu Dokumenten der Kommission davon abhängig gemacht werden kann, dass der Antragsteller ein an einem Zusammenschluss beteiligtes Unternehmen ist, das keinen Zugang zu internen Dokumenten gemäß Art. 17 Abs. 3 VO 802/2004 hat108. Vielmehr ergebe sich nach Auffassung des Gerichts aus Art. 2 Abs. 3 der Transparenzverordnung ein vom Tätigkeitsbereich unabhängiger Anspruch auf Zugang zu allen Dokumenten der Kommission109. Das EuG ging einen Schritt weiter und führte aus, dass die Tatsache, dass ein an einem Zusammenschluss beteiligtes Unternehmen laut Art. 17 Abs. 3 VO 802/2004 nicht über das Recht auf Zugang zu internen Dokumenten der Verwaltungsakte verfügt, nicht ausschließen kann, dass jede Person auf Grundlage des in der VO 1049/2001 verankerten Grundsatzes über das Recht auf Zugang zu solchen Dokumenten verfügt110. 3. Argumente gegen die Anwendung der VO 1049/2001 in Kartellsachen a) Unterschiedliche Zielsetzungen des Akteneinsichtsrechts und des Rechts auf Zugang zu Dokumenten Beim Recht auf Akteneinsicht und beim Recht auf Zugang zu Dokumenten handelt es sich nicht nur um einen terminologischen Unterschied. Das Akteneinsichtsrecht im Kartellverfahren und das Recht auf Zugang zu Dokumenten gemäß der VO 1049/2001 unterscheiden sich auch in der Zielsetzung unterscheiden111. Nach herrschender Meinung ist das Recht auf Zugang zu Dokumenten ein Ausfluss des Demokratieprinzips112, da es die Transparenz der Beschlussfassung der EU-Organe und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Verwaltung zu stärken versucht, während das Recht auf Akteneinsicht als Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips gilt, da es ein Korrelat des Anhörungsrechts und ein wichtiges Verteidigungsrecht darstellt. Es garantiert die Achtung des kontradiktorischen Prinzips im kartellrechtlichen Verwaltungsverfahren113. 107 EuG, Urteil v. 9.9.2008, Rs. T-403/05, MyTravel Group plc/Kommission, Slg. 2008, II-2027, Rdnr. 85. 108 EuG, Urteil v. 9.9.2008, Rs. T-403/05, MyTravel Group plc/Kommission, Slg. 2008, II-2027, Rdnr. 86. 109 EuG, Urteil v. 9.9.2008, Rs. T-403/05, Rdnr. 87. 110 EuG, Urteil v. 9.9.2008, Rs. T-403/05, Rdnr. 89. 111 Siehe dazu Mitteilung zur Akteneinsicht, Rdnr. 2. 112 Siehe beispielsweise M. Gellermann, in: Streinz (Hrsg.), Art. 15 AEUV, Rdnr. 1; Lampert/ Weidenbach, WRP 2007, 152 (153). Die Transparenz der Handlung der EU-Organe als Ausdruck des Demokratieprinzips ist in Art. 10 Abs. 3 EUV festgelegt. 113 Saggio/Iannone, Riv. dir. eur. 1997, 547 (556).
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§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
b) Argument aus dem Lex-posteriori-Grundsatz Ein weiteres Argument gegen die Anwendung der Transparenzverordnung in Wettbewerbsverfahren könnte sich aus dem Lex-posteriori-Grundsatz ergeben, der besagt, dass die Anwendung des früheren Rechts im Konfliktfall vom späteren Recht ausgeschlossen wird. Die kartellrechtliche Verfahrensverordnung (VO 1/2003) und die Durchführungsverordnung (VO 773/2004) wurden zeitlich nach der VO 1049/2001 erlassen. Gegen die Annahme einer Verdrängung des Rechts auf Zugang zu Dokumenten auf Grundlage der Transparenzverordnung durch das kartellrechtliche Akteneinsichtsrecht wegen des Lex-posteriori-Grundsatzes spricht allerdings die Mitteilung der Kommission zur Akteneinsicht in Wettbewerbs- und Fusionskontrollverfahren, die ein absichtliches Nebeneinander des Akteneinsichtsrechts und des Rechts auf Zugang zu Dokumenten nach der VO 1049/2001 zu suggerieren scheint114, da sie sich auf beide Rechte bezieht und auf ihre jeweils unterschiedlichen Zwecke hinweist115. Ferner ist die Anwendbarkeit des Lex-posteriori-Grundsatzes auch deswegen abzulehnen, weil es keinen echten Konfliktfall zwischen den beiden Rechten gibt. Während das Akteneinsichtsrecht im Kartellverfahren Einsicht in die Akte bis zum Abschluss des Kommissionsverfahrens garantiert, da davon ausgegangen wird, dass die Transparenzverordnung einen Zugang zu den Dokumenten der Kommissionsakte erst nach dem Abschluss des jeweiligen Wettbewerbsverfahrens gewährt, da die Gewährung von Zugang zur Kommissionsakte vor dem Abschluss des Verfahrens die Untersuchungstätigkeit gefährden würde116. Somit würde die Ausnahmeregelung von Art. 4 Abs. 2 dritter Spiegelstrich VO 1049/2001 greifen, wenn der Antragsteller kein überwiegendes öffentliches Interesse an der Offenlegung nachweisen kann. c) Argument aus dem Lex-specialis-Grundsatz Es wurde auch argumentiert, dass die Akteneinsichtsregeln im EU-Kartellverfahren die speziellere Regel im Verhältnis zur allgemeinen Transparenzverordnung darstellen und dass sie deswegen gemäß dem Lex-specialis-Grundsatz die VO 1049/2001 im Bereich des EU-Kartellverfahrens verdrängen117. Gegen dieses Argument spricht einerseits, dass sich der Anwendungsbereich der Transparenzverordnung auf sämtliche Dokumente der EU-Organe und Institutionen erstreckt118. Andererseits enthielt der Entwurf der Transparenzverordnung eine ausdrückliche 114
Kleine, ZWeR 2007, 305 (306). Mitteilung zur Akteneinsicht, Rdnr. 2. 116 So in Bezug auf das Beihilfenkontrolleverfahren der Kommission EuGH, Urteil v. 29.6.2010, Rs. C-139/07 P, Kommission/Technische Glaswerke Ilmenau GmbH, Slg. 2010, I-5885, Rdnr. 61; bezüglich des EU-Kartellverfahrens siehe de Bronett, Artikel 27, Rdnr. 35; Kleine, ZWeR 2007, 305 (306). 117 Vgl. Soltész/Marquier/Wendenburg, EWS 2006, 102 (104 f.). 118 Erwägungsgrund 9 der VO 1049/2001. 115
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Regelung, die die Transparenzverordnung für nicht anwendbar in Fällen erklärte, in denen es Sondervorschriften für den Zugang zu Dokumenten gab. Diese Vorschrift wurde aber nicht in die finale und veröffentlichte Fassung der Transparenzverordnung aufgenommen, was angesichts der Tatsache, dass es über die endgültige Fassung der Verordnung ausgiebige Verhandlungen gegeben hat, nicht als redaktionelles Versehen gedeutet werden kann119. Schließlich greift auch nicht das auf die Hendricks-Rechtsprechung gestützte Argument der Spezialität. In der Rechtssache Hendricks/Rat musste das EuG über die Klage eines Beamten des Rates gegen eine Entscheidung des Prüfungsausschusses entscheiden, die den Kläger von einem Auswahlverfahren des Rates ausschloss120. Der Kläger machte unter anderem einen Verstoß gegen Art. 255 EGV (nunmehr Art. 15 AEUV) geltend, weil der Prüfungsausschuss ihm keinen Zugang zu seiner korrigierten Prüfungsarbeit gewährt hatte. Das EuG wies die Klage ab und stellte unter anderem fest, dass die Transparenzverordnung die allgemeine Regelung war, deren Anwendbarkeit durch eine speziellere eingeschränkt oder sogar ausgeschlossen werden könnte121. Das war der Fall mit Art. 6 des Beamtenstatuts des Rates, der den geheimen Charakter der Arbeiten des Prüfungsausschusses vorsah122 und der nicht von der allgemeineren Regelung der Transparenzverordnung verdrängt werden konnte123. In Hendricks stellte das EuG ferner klar, dass der in der Transparenzverordnung statuierte allgemeine Grundsatz des Zugangs zu den Dokumenten der EU-Organe durch speziellere Regelungen über die Akteneinsicht verdrängt werden kann. Das dürfte grundsätzlich auch für das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht gelten. Dennoch setzt die Anwendung des Grundsatzes „lex specialis derogat legi generali“ eine Konkurrenz zwischen zwei Rechtsnormen voraus. Im Fall des Akteneinsichtsrechts im EU-Kartellverfahren und des Rechts auf Zugang zu Dokumenten auf Grundlage der Transparenzverordnung ist aber ein solcher Konflikt nicht vorhanden, da der Zweck und der zeitliche Anwendungsbereich der beiden Regelungen unterschiedlich ist: Während das kartellrechtliche Akteneinsichtsrecht als Verteidigungsrecht zu verstehen ist und bis zum Abschluss des Kartellverfahrens gilt, dient das Recht auf Zugang zu Dokumenten dem Transparenzgebot und dem Demokratieprinzip in der EU und gewährt ein Recht auf Zugang zu den Dokumenten erst nach dem Abschluss des Kartellverfahrens der Kommission124.
119
So Kleine, ZWeR 2007, 305 (307). EuG, Urteil v. 5.4.2005, Rs. T-376/03, M. Hendricks/Rat, Sammlung der Rechtsprechung – Öffentlicher Dienst 2005, I-A-00083. 121 EuG, Urteil v. 5.4.2005, Rs. T-376/03, Rdnr. 55. 122 EuG, Urteil v. 5.4.2005, Rs. T-376/03, Rdnr. 56. 123 EuG, Urteil v. 5.4.2005, Rs. T-376/03, M. Hendricks/Rat, Sammlung der Rechtsprechung – Öffentlicher Dienst 2005, I-A-00083, Rdnr. 57. 124 So auch Kleine, ZWeR 2007, 305 (307). 120
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d) Argument aus der Effizienz des Kronzeugenprogramms Gegen die Gewährung von Einsicht in die Akte der Kommission auf Grundlage der VO 1049/2001 für Nicht-Beteiligte am Kartellverfahren spricht auch das Argument der Effizienz des Kronzeugenprogramms der Kommission. Wenn kooperationsbereite Unternehmen nicht sicher sind, dass die von ihnen bei der Kommission eingereichten (selbst-)belastenden Auskünfte nicht über das Vehikel der Transparenzverordnung in die Hände von potentiellen Klägern gelangen können, die sie dann in Schadensersatzverfahren gegen sie als Beweismittel heranziehen könnten, könnte die Wirksamkeit des Kronzeugenprogramms der Kommission erheblich gemindert werden, da die potenziellen Kronzeugen von einer Zusammenarbeit mit der Kommission absehen könnten. Die Unternehmen stünden dann im Dilemma, entweder in der Hoffnung einer Bußgeldfreiheit und mit dem verbundenen Risiko möglicher Schadensersatzklagen von Kartellgeschädigten im Rahmen des Kronzeugenprogramms mitzuwirken, oder von der Kooperation im Rahmen der Kronzeugenregelung abzusehen, um das Risiko möglicher Schadensersatzklagen so weit wie möglich zu mindern. Ferner stellt sich die Frage, inwieweit das Tatbestandsmerkmal des „öffentlichen Interesses“, das in den zwei Ausnahmetatbeständen von Art. 4 Abs. 2 VO 1049/2001 als Ausnahme der Ausnahme der Nicht-Gewährung des Zugangs statuiert wird, durch das Interesse eines privaten Klägers an Schadensersatz für durch einen Kartellverstoß erlittenen wirtschaftlichen Schaden erfüllt wird. Die Benutzung des Begriffs „privater Kläger“ befindet sich bereits in sprachlicher Hinsicht im Gegensatz zum Begriff „öffentliches Interesse“. Andererseits könnte behauptet werden, dass die private Durchsetzung des Kartellrechts im Sinne der Courage-Rechtsprechung125 nicht an erster Stelle einem privaten Interesse diene, sondern dass sie zur Durchsetzungskraft der EU-Wettbewerbsregeln und zur Aufrechterhaltung eines funktionierenden Wettbewerbs im Binnenmarkt beitragen würde126. Bedenken gegen die Gewährung eines auch eingeschränkten Akteneinsichtsrechts für Dritte mittels der Transparenzverordnung könnten auch dadurch entstehen, dass die Kommission mit einem Beschluss vom 5.12.2001 den persönlichen Anwendungsbereich der Transparenzverordnung auf sämtliche natürliche und juristische Personen ausgeweitet hat, so dass auch Bürger oder Unternehmen aus Drittstaaten zugangsberechtigt sind127. Art. 2 Abs. 2 VO 1049/2001 sieht eine solche Erweiterung als fakultativ vor. Die Parallele, die sich hier zum Discovery-
125 EuGH, Urteil v. 20.9.2001, Rs. C-453/99, Courage Ltd/Bernard Crehan, Slg. 2001, I-6297. 126 Tietje/Nowrot, EWS 2006, 486 (487). 127 Beschluss der Kommission vom 5.12.2001 zur Änderung ihrer Geschäftsordnung mit Durchführungsbestimmungen zur VO 1049/2001, ABl. EG vom 29.12.2001, L 345/94.
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Verfahren128 des US-Kartellrechts abzeichnet, ist nicht zu leugnen. Die Transparenzverordnung könnte US-amerikanischen Unternehmen und deren Rechtsanwälten als trojanisches Pferd dienen, um das Hindernis des Fehlens eines Discovery-Verfahrens im EU-Kartellrecht zu überwinden. 4. Argumente für die Anwendung der VO 1049/2001 im Kartellverfahren Für die Anwendung der Transparenzverordnung in Wettbewerbssachen und die Begründung eines auf sie gestützten Zugangs zu Dokumenten der Kommissionsakte spricht eine Reihe von Argumenten, die nicht verkannt werden können. Den Argumenten der unterschiedlichen Zielsetzungen des Akteneinsichtsrechts und der Transparenzverordnung sowie der potentiellen Zweckentfremdung der VO 1049/2001, falls sie Anwendung im Kartellverfahren finden sollte, kann entgegnet werden, dass der Grundsatz der Transparenz der Verwaltungstätigkeit eine größere Tragweite hat, die das Recht auf Akteneinsicht im Kartellverfahren einschließt129. Was das rechtsmethodische Argument des Lex-speciali-Grundsatzes betrifft, ist anzumerken, dass eine Spezialitätsbeziehung von Rechtsnormen nicht zwangsläufig zur einer Verdrängung der allgemeineren durch die speziellere führt. Es ist durchaus denkbar, dass die spezielle die allgemeine Norm ergänzt oder modifiziert. Aus dem Wortlaut, der Systematik, der Entstehungsgeschichte und der Zielsetzung der Transparenzverordnung kann man zum Schluss gelangen, dass sie das kartellrechtliche Akteneinsichtsrecht ergänzt130. Diese Feststellung wird dadurch gestärkt, dass im Kartellverfahrensrecht kein Akteneinsichtsrecht für Dritte vorgesehen ist. Eine solche Regelung ist weder in der VO 1/2003 (oder in der VO 773/2004), noch in der Mitteilung zur Akteneinsicht zu finden. Aus dem Mangel einer ausdrücklichen Regelung sollte aber nicht sofort gefolgert werden, dass Dritte überhaupt kein Recht auf Zugang zu Dokumenten der Kommissionsakte in Wettbewerbsverfahren haben. Eine ausdrückliche Regelung fehlt bloß, weil das Kartellverfahrensrecht sich primär auf die Sicherung der Verfahrensrechte der Verfahrensbeteiligten konzentriert131. Weiterhin ist zu betonen, dass aus der Anwendung der Transparenzverordnung für die Begründung eines Akteneinsichtsrechts Dritter im Kartellverfahren keine Wertungswidersprüche zum Umfang desselben Rechts der am Verfahren Beteiligten nach dem Kartellverfahrensrecht entstehen. Das Akteneinsichtsrecht Drit 128 Im US-amerikanischen Recht sieht Rule 34 der Federal Rules of Civil Procedure ein Discovery-Verfahren vor, das eine umfassende Ausforschung der beim Prozessgegner befindlichen Beweismitteln ermöglicht. 129 So Saggio/Iannone, Riv. dir. eur. 1997, 547 (556). 130 Tietje/Nowrot, EWS 2006, 486 (487). 131 Lampert/Weidenbach, WRP 2007, 152 (154).
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§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
ter nach der Transparenzverordnung geht wegen der in Art. 4 VO 1049/2001 vorgesehenen Ausnahmen und aufgrund des unterschiedlichen Zeitpunkts, zu dem Einsicht in die Akte gewährt wird, nicht weiter als das Akteneinsichtsrecht der Beschwerdeführer132. Die Schaffung eines mittelbaren europäischen Discovery-Verfahrens durch die Annahme der Anwendbarkeit der Transparenzverordnung auf Wettbewerbssachen kann durch eine strikte Anwendung der in Art. 4 Abs. 1 und 2 VO 1049/2001 vorgesehenen Gründe der Ablehnung eines Antrags auf Zugang zu Dokumenten verhindert werden. Dasselbe gilt für solche Fälle, wo Verfahrensdritte Zugang zu Dokumenten beantragen, die vertrauliche Informationen oder Geschäftsgeheimnisse beinhalten. Die Kommission braucht nur auf den vertraulichen Charakter der erwünschten Dokumente hinzuweisen, um den Antrag abzulehnen. In diesem Fall weicht das allgemeine öffentliche Interesse auf Transparenz der Verwaltung vor dem ebenbürtigen öffentlichen Interesse, dass Geschäftsgeheimnisse oder vertrauliche Informationen nicht bekanntgegeben werden, zurück133. Der Schutz der Geschäftsgeheimnisse dient nicht nur den Interessen der Unter nehmen, sondern auch dem ordnungsgemäßen Funktionieren des Marktes, das im öffentlichen Interesse liegt134. Das EuG scheint selbst von einer Geltung der Transparenzverordnung auch in Wettbewerbssachen auszugehen. Dafür spricht nicht nur seine Entscheidung im Fall „Verein für Konsumenteninformation“, in dem das Gericht die Geltung als factum anzunehmen scheint, sondern auch seine Ausführungen im Fall „Bank Austria Creditanstalt“135. Im letzteren Urteil hat das EuG nämlich die Ansicht vertreten, dass das Kartellverfahrensrecht „der Veröffentlichung von Informationen nicht entgegenstehe, auf deren Kenntnis die Öffentlichkeit auf Grund des Rechts auf Zugang zu Dokumenten Anspruch hat“136. Ferner ist die Aussage des Gerichts im My Travel-Urteil, dass die Tatsache, dass ein an einem Zusammenschluss beteiligtes Unternehmen gemäß Art. 17 Abs. 3 VO 802/2004 nicht über das Recht auf Zugang zu internen Dokumenten der Verwaltungsakte verfügt, nicht ausschließen kann, dass jede Person auf Grundlage des in der VO 1049/2001 verankerten Grundsatzes über das Recht auf Zugang zu solchen Dokumenten verfügt137, von besonderer Bedeutung, da sie eine ausdrückliche Bestätigung der Anwendbarkeit der Transparenzverordnung als Rechtsgrundlage für das Akteneinsichtsrecht Dritter im Fusionskontrollrecht darstellt. Dabei darf nicht 132
Lampert/Weidenbach, WRP 2007, 152 (154). Saggio/Iannone, Riv. dir. eur. 1997, 547 (555). 134 Siehe auch Saggio/Iannone, Riv. dir. eur. 1997, 547 (550). 135 EuG, Urteil v. 30.5.2006, Rs. T-198/03, Bank Austria Creditanstalt/Kommission, Slg. 2006, II-1429. 136 EuG, Urteil v. 30.5.2006, Rs. T-198/03, Bank Austria Creditanstalt/Kommission, Slg. 2006, II-1121, Rdnr. 75. 137 EuG, Urteil v. 9.9.2008, Rs. T-403/05, MyTravel Group plc/Kommission, Slg. 2008, II-2027, Rdnr. 89. 133
A. Das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen und Dritter
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außer Acht gelassen werden, dass sowohl das Fusionskontrollrecht als auch das Kartellrecht Teilgebiete des EU-Wettbewerbsrechts sind. Die Übertragung dieser Rechtsprechung auf das Gebiet des Kartellrechts dürfte über das Vehikel der Analogie liegt nahe, da das EuG ausgeführt hat, dass die Vorschriften der Transparenzverordnung einen Anspruch auf Zugang zu Dokumenten aus allen Tätigkeitsbereichen der Europäischen Kommission statuieren. Natürlich ist sich das EuG den Folgen bewusst, die die Gewährung eines uneingeschränkten Akteneinsichtsrechts für jedermann bei der Ausübung der Kompetenzen der Kommission haben könnte. Aus diesem Grund, und obwohl das Gericht die Ausnahmetatbestände der Transparenzverordnung eng auslegt und anwendet, nimmt das EuG die Gewährleistung eines freien Raumes der Kommission zur unvoreingenommenen Beschlussfassung besonders ernst138. 5. Zwischenergebnis In Anbetracht der Bedeutung, die die Europäische Kommission der privaten Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts beimisst, der Wichtigkeit des Zugangs zu der Akte der Kommission für auf Schadensersatz klagende Unternehmen, um ihre Klage zu substantiieren, und des Fehlens einer Regelung der Akteneinsicht Dritter im Kartellverfahren durch die VO 1/2003 ist der Anerkennung eines eingeschränkten Akteneinsichtsrechts für Dritte auf Grundlage der VO 1049/2001 nach Abschluss des Kommissionsverfahrens, wie vom EuG anerkannt, zuzustimmen. Allerdings unterliegt dieses Recht auf Akteneinsicht großen Einschränkungen, die seinen Umfang erheblich reduzieren. Die Einschränkungen sind in Art. 4 Abs. 1 und 2 VO 1049/2001 vorgesehen. Es ist hervorzuheben, dass der Zugangsverweigerungsgrund „Beeinträchtigung des Untersuchungszwecks“ nicht immer zutreffen kann, einfach weil die Einsicht des Dritten in die Akte abstrakt dazu führen kann, dass sich Unternehmen aus Angst vor potenziellen Schadensersatzklagen von der Teilnahme an Kronzeugenprogrammen absehen könnten. Allerdings gebietet der Schutz von Untersuchungstätigkeiten gemäß Art. 4 Abs. 2, 3. Spiegelstrich VO 1049/2001, dass das Akteneinsichtsrecht den Dritten erst nach dem Erlass der Kommissionsentscheidung im jeweils vorliegenden Fall gewährt wird139. Aufgrund der Aussagen des Gerichts im Urteil „Österreichische Banken“ darf man davon ausgehen, dass das Recht auf Akteneinsicht und das Recht auf Zugang zu Dokumenten sich darin unterscheiden, wenn man die unterschiedliche Zielsetzung unbeachtet lässt, dass das erste die Akteneinsicht vor dem Erlass der Kom-
138 Siehe zum Beispiel EuG, Urteil v. 9.9.2008, Rs. T-403/05, MyTravel Group plc/Kommission, Slg. 2008, II-2027, Rdnr. 94, 100, 104. 139 Lampert/Weidenbach, WRP 2007, 152 (163).
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§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
missionsentscheidung garantiert, wobei das zweite zur Akteneinsicht erst nach Erlass der Entscheidung berechtigt140. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Kommission sich auf in Art. 4 VO 1049/2001 enthaltene Ausnahmen beruft, um potenzielle Ansprüche auf Akteneinsicht abzuwehren und die Effizienz ihrer Kronzeugenpolitik zu sichern. Die Kronzeugenregelung stellt deutlich klar, dass die öffentliche Bekanntmachung von Unterlagen auf Grund gewisser öffentlicher und privater Interessen im Sinne von Art. 4 VO 1049/2001 sogar nach dem Fällen der Entscheidung der Kommission verhindert werden kann141. Dies entspricht nicht nur dem Wunsch, sondern auch der Praxis der Kommission, die sehr oft Ansprüche auf Zugang zu ihren Kartellermittlungsakten unter Hinweis auf das Ermittlungs- und Aufklärungs interesse ablehnt und auf den erforderlichen umfassenden Schutz ihrer Kronzeugen verweist142. Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass sich diese Praxis der Kommission in einem gewissen Spannungsverhältnis zur von ihr geförderten privaten Durchsetzung des Kartellrechts durch Schadensersatzklagen befindet. Die Kommission kann also nicht mit Berufung auf diese Ausnahmegründe den Zugang Dritter zur kartellrechtlichen Akte komplett sperren. Die rigide Anwendung der Ausnahmen trägt aber wesentlich dazu bei, ihre oft kollidierenden Interessen, wie die Aufdeckung von Kartellen mit Hilfe von Kronzeugen und den Erfolg der privaten Durchsetzung des Kartellrechts, in Einklang zu bringen.
VII. Folgen der Verletzung des Akteneinsichtsrechts Das Recht auf Akteneinsicht für Betroffene des EU-Kartellverfahrens steht in direktem Zusammenhang mit dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und leitet seinen Existenzgrund durch ihn her143. Die Verletzung des Akteneinsichtsrechts stellt einen Verfahrensfehler dar. Als wesentlicher Verfahrensfehler ist sie aber nur dann zu bezeichnen, wenn sie sich konkret auf die Ausübung der Verteidigungsrechte der Unternehmen ausgewirkt hat144. 140 So Ritter, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 27 VO 1/2003, Rdnr. 39; EuG, Urteil v. 13.4.2005, Rs. T-2/03, Verein für Konsumenteninformation/Kommission, Slg. 2005, II-1121, Rdnr. 74. In diesem Fall ging es um die Akteneinsicht zum Zweck der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen, nachdem die Kommissionsentscheidung schon ergangen war. 141 Siehe Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen (Kronzeugenregelung), ABl. EU vom 8.12.2006, C-298/17, Rdnr. 40. 142 Lampert/Weidenbach, WRP 2007, 152 (161). 143 Schlussanträge des GA Leger v. 13.12.1994 in der Rs. C-310/93 P – BPB Industries und British Gypsum/Kommission, Rdnr. 97. 144 EuG, Urteil v. 14.12.2006, T-210/01, General Electric/Kommission, Slg. 2005, II-5575, Rdnr. 632; Urteil v. 15.3.2000, verb. Rs. T-25/95 u. a., Cimenteries CBR u. a./Kommission, Slg. 2000, II-491, Rdnr. 852–860.
A. Das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen und Dritter
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Die Verweigerung der Akteneinsicht ist gegenüber dem Verfahrensbeteiligten eine vorbereitende, das Verwaltungsverfahren nicht abschließende Verfahrenshandlung, die die Rechtslage des Verfahrensbeteiligten nicht unmittelbar und irreversibel beeinträchtigt. Aus diesen Gründen ist die Verweigerung der Akteneinsicht nicht selbstständig anfechtbar. Sie kann nur im Rahmen einer gegen die das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung gerichtete Nichtigkeitsklage mit angefochten werden145. Die komplette und rechtswidrige Verweigerung der Akteneinsicht führt dazu, dass die das Verfahren abschließende Entscheidung an einem wesentlichen Verfahrensfehler leidet und somit aufgehoben werden muss146. Die Kommission muss dann das Verfahren entweder einstellen oder es wiederholen, indem sie der betroffenen Partei Akteneinsicht gewährt147. Wurde dagegen Akteneinsicht nicht ordnungsgemäß gewährt, kann nicht sofort die Aufhebbarkeit der das Verfahren abschließenden Entscheidung angenommen werden148. Die Verteidigungsrechte gelten nur dann als verletzt, wenn die vorenthaltenen Dokumente auch konkret geeignet gewesen sind, einen Beitrag zur Verteidigung des Klägers zu leisten. Das ist dann zu bejahen, wenn eine – auch entfernte – Möglichkeit besteht, dass der Ausgang des Verwaltungsverfahrens anders gewesen wäre, falls der Kläger Einsicht in die vorenthaltenen Unterlagen im Verfahren bekommen hätte149. Ferner muss es einen objektiven Zusammenhang der vorenthaltenen Dokumente mit dem gegen den Kläger erhobenen Vorwurf geben150. Falls es sich bei den vorenthaltenen Schriftstücken um Dokumente handelte, die sich nicht in der Ermittlungsakte der Kommission befanden, ist für die Annahme einer Verletzung des Akteneinsichtsrechts und einer Rechtswidrigkeit der das Verfahren abschließenden Entscheidung der Kommission zusätzlich erforderlich, dass das Unternehmen im Rahmen des Kartellverfahrens Zugang zu diesen Dokumenten beantragt hatte151. Hat das Unternehmen nicht ausdrücklich Einsicht in die sich außer der Ermittlungsakte der Kommission befindenden Dokumente beantragt, tritt dann Verwirkung ein152.
145
EuG, Beschluss v. 5.12.2001, Rs. T-219/01 R, Commerzbank/Kommission, Slg. 2001, II-3501, Rdnr. 33–38. 146 de Bronett, Art. 27 VO 1/2003, Rdnr. 31; Ritter, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 27 VO 1/2003, Rdnr. 35. 147 EuG, Beschluss v. 5.12.2001, Rs. T-216/01 R, Reisebank-Österreichische Banken, Slg. 2001, II-3481, Rdnr. 49. 148 de Bronett, Art. 27 VO 1/2003, Rdnr. 31. 149 EuG, Urteil v. 29.6.1995, Rs. T-30/91, Solvay/Kommission, Slg. 1995, II-1775, Rdnr. 68; Urteil v. 29.6.1995, ICI/Kommission, Slg. 1995, II-1847, Rdnr. 78; Urteil v. 15.3.2000, verb. Rs. T-25/95 u. a., Cimenteries CBR u. a./Kommission, Slg. 2000, II-491, Rdnr. 247 und 383. 150 EuG, Urteil v. 15.3.2000, verb. Rs. T-25/95 u. a., Cimenteries CBR u. a./Kommission, Slg. 2000, II-491, Rdnr. 247 und 383. 151 Sura, in: Langen/Bunte (Hrsg.), Art. 27 VO Nr. 1/2003, Rdnr. 43 in fine. 152 EuG, Urteil v. 15.3.2000, Rs. T-25/95 u. a., Cementeries CBR u. a./Kommission, Slg. 2000, II-495, Rdnr. 383; Urteil v. 30.9.2003, Rs. T-191/98 u. a., Atlantic Container Line AB u. a./ Kommission, Slg. 2003, II-3275, Rdnr. 340.
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§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
Es ist somit festzuhalten, dass gemäß der bisherigen Rechtsprechung der EUGerichte nicht jede Verletzung des Akteneinsichtsrechts zur Rechtswidrigkeit der das Verfahren abschließenden Entscheidung und zu ihrer Aufhebbarkeit führt. Die Unionsgerichte überprüfen die Umstände jedes Einzelfalls und beurteilen die Rechtmäßigkeit der Entscheidung an Hand der in der Rechtsprechung festgelegten Kriterien. Das wichtigste davon ist die durch die fehlende oder mangelhafte Gewährung der Akteneinsicht verursachte Verletzung der Verteidigungsrechte eines Unternehmens. Bei Nicht-Übermittlung belastender Dokumente kann von einer Verletzung der Verteidigungsrechte ausgegangen werden, wenn allein die nicht übermittelten Dokumente einen Beschwerdepunkt stützen153. Bei Nicht-Übermittlung entlastender Dokumente kann eine Verletzung der Verteidigungsrechte angenommen werden, wenn das betroffene Unternehmen darlegt, dass die Nicht-Offenlegung der fraglichen Dokumente den Verfahrensablauf und den Inhalt der Kommissionsentscheidung zu Ungunsten dieses Unternehmens beeinflussen konnte154. Stellt ein EU-Gericht eine solche Verletzung der Verteidigungsrechte fest, führt das zur Aufhebung der Kommissionsentscheidung durch das EU-Gericht.
VIII. Grenzen des Akteneinsichtsrechts Das Recht auf Akteneinsicht beansprucht in seiner grundrechtlichen Qualität keine absolute Geltung, sondern ist bestimmten Einschränkungen unterworfen. Diese Einschränkungen ergeben sich hauptsächlich aus zwei Prinzipien: aus dem Gebot der administrativen Funktionsfähigkeit und aus dem Gebot des Schutzes der Vertraulichkeit von Informationen, die die Verwaltung von den Verwalteten bekommen hat. In der Verwaltungspraxis der Kommission erhalten diese Prinzipien eine konkretere Ausgestaltung. So lässt sich das Gebot der administrativen Funktionsfähigkeit in den Schutz der Vertraulichkeit der internen Dokumente der Kommission, sowie in die verfahrensmäßige Ausgestaltung des Zeitpunkts, des Orts und der sonstigen Modalitäten der Einsichtnahme analysieren. Eine Einschränkung des Rechts auf Akteneinsicht aus Gründen der administrativen Funktionsfähigkeit ist jedoch nur in engen Grenzen zulässig. Das Gebot des Schutzes der Vertraulichkeit von Informationen wird wiederum durch den Schutz der Berufsund Geschäftsgeheimnisse konkretisiert. Diese Gebote wurden in Form von eng auszulegenden und anzuwendenden Ausnahmen vom Transparenzgrundsatz zuerst in die Wettbewerbsjudikatur der Unionsgerichte ausgearbeitet und haben später Einzug in die sekundärrechtliche
153
EuGH, Urteil v. 7.1.2004, verb. Rs. C-204/00 P u. a., Aalborg Portland u. a./Kommission, Slg. 2004, I-123, Rdnr. 71. 154 EuGH, Urteil v. 7.1.2004, verb. Rs. C-204/00 P u. a., Aalborg Portland u. a./Kommission, Slg. 2004, I-123, Rdnr. 75.
A. Das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen und Dritter
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Normierung des EU-Wettbewerbsrechts gefunden155. Art. 27 Abs.2 VO 1/2003, der das Recht auf Akteneinsicht garantiert, legt gleichzeitig auch die Grenzen dieses Rechts fest. Gemäß dieser Vorschrift sind vertrauliche Informationen sowie interne Schriftstücke der Kommission und der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten von der Einsichtnahme ausgeschlossen. Danach werden einige Beispiele solcher interner Schriftstücke aufgeführt, zu denen die Korrespondenz zwischen der Kommission und den mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden oder zwischen den nationalen Wettbewerbsbehörden selbst gehört. 1. Die Interna der Kommission Interne Schriftstücke haben naturgemäß keinen be- oder entlastenden Charakter und gehören dementsprechend nicht zum Beweismaterial, auf das die Kommission ihre rechtliche Würdigung stützt156. Daher kann auch ihre Ausnahme vom Akteneinsichtsrecht die wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte der Betroffenen nicht beeinträchtigen157. Als internes Schriftstück der Kommission kann jedes Dokument bezeichnet werden, das von einem Mitglied des Gremiums, einem Bediensteten oder einer Arbeitsgruppe der Kommission erstellt wurde. Zu den internen Schriftstücken der Kommission zählen insbesondere Entwürfe und sonstige Arbeitspapiere, dienstliche Ermittlungsaufträge und Anweisungen zur Bearbeitung einer Sache, Stellungnahmen oder Beurteilungsvermerke der Kommissionsdienststellen oder anderer beteiligter Behörden158. Unter den Begriff „interne Schriftstücke“ fällt insbesondere die Korrespondenz zwischen der Kommission und den mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden, einschließlich der gemäß Art. 11 und Art. 14 VO 1/2003 erstellten Schriftstücke. Daraus folgt, dass auch diese Korrespondenz von der Akteneinsicht gemäß Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003 ausgenommen ist. Als intern ist ferner der Schriftverkehr der Kommission mit anderen Behörden der Mitgliedstaaten (in Bezug auf das fragliche Verwaltungsverfahren)159, mit der EFTA-Überwachungsbehörde sowie grundsätzlich auch der Schriftverkehr der Kommission mit Wettbewerbsbehörden von Drittstaaten160 einzustufen. In Ausnahmefällen soll nach Entfernung vertraulicher Angaben Einsicht in solche Schriftstücke eines Mitgliedstaats, der EFTA-Überwachungsbehörde oder eines 155 In diesem Zusammenhang sollte auch der in Art. 339 AEUV (ex Art. 287 EGV) statuierten Grundsatz der Amtsverschwiegenheit erwähnt werden, der seit der Gründung der EWG, später EG und nun EU gilt. 156 Mitteilung zur Akteneinsicht, Rdnr. 12. 157 Mitteilung zur Akteneinsicht, Rdnr. 12. 158 Mitteilung zur Akteneinsicht, Rdnr. 12. 159 So EuG, Beschluss v. 10.12.1997, Rs. T-134/94 u. a., NMH Stahlwerke u. a./Kommission, Slg. 1997, II-2293, Rdnr. 36; Urteil v. 1.4.1993, T-65/89, BPB Industries Plc und British Gypsum Ltd/Kommission, Slg. 1993, II-389, Rdnr. 33. 160 Mitteilung zur Akteneinsicht, Rdnr. 15.
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§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
EFTA-Staates gewährt werden, wenn diese Schriftstücke Vorwürfe gegen Verfahrensbeteiligte enthalten oder Teil des Beweismaterials im Verfahren selbst sind161. Protokolle, die die Kommission von Treffen mit den Betroffenen oder mit anderen Personen oder Unternehmen anfertigt, werden von der Kommission grundsätzlich auch als intern behandelt. Wurden aber die Protokolle der Treffen von den daran beteiligten Personen oder Unternehmen gebilligt, müssen sie zur Akte genommen werden. Den anderen Verfahrensbeteiligten ist Einsicht in eine nicht vertrauliche Fassung der Protokolle zu gewähren. Diese gebilligten Protokolle können auch als von der Kommission als Nachweis der zur Last gelegten Zuwider handlung herangezogen werden162. 2. Geschäftsgeheimnisse Als zweite Schranke des kartellrechtlichen Akteneinsichtsrechts gelten gemäß Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003 die Geschäftsgeheimnisse anderer Unternehmen. In dieser Ausnahme manifestiert sich erneut der im Kartellverfahrensrecht omnipräsente Konflikt zwischen dem Gebot der Effektivität und dem Gebot der Legitimität der Verwaltung163. Die Kommission ist einerseits zum Nachweis von kartellrechtlichen Verstößen sehr oft auf die Verwertung von Informationen angewiesen, die dem Vertraulichkeitsschutz unterliegen. Andererseits wird die Ermittlungstätigkeit der Kommission einer ständigen Legitimitätskontrolle unterzogen, deren fester Bestandteil auch die Prüfung des Schutzes der Vertraulichkeit ist. a) Grundrechtlicher Schutz der Geschäftsgeheimnisse Bei dem Schutz der Geschäftsgeheimnisse handelt es sich um ein grundrechtliches Gebot, dass nicht nur in Deutschland164, sondern auch auf EU-Ebene verfassungsrechtlich gewährt wird. Für die konstitutionelle Natur des Vertraulichkeitsschutzes auf EU-Ebene spricht nicht nur Art. 339 AEUV165, sondern auch 161 Mitteilung zur Akteneinsicht, Rdnr. 15; EuG, Beschluss v. 10.12.1997, Rs. T-134/94 u. a., NMH Stahlwerke u. a./Kommission, Slg. 1997, II-2293, Rdnr. 51–52. 162 EuG, Urteil v. 30.9.2003, verb. Rs. T-191/98, T-212/98 bis T-214/98, Atlantic Container Line AB u. a./Kommission, Slg. 2003, II-3275, Rdnr. 349–357. Siehe auch die Mitteilung zur Akteneinsicht, Rdnr. 13. 163 Analytisch dazu, aber bezogen auf das GWB-Kartellverfahren, Schmidt, S. 5 ff. 164 Siehe dazu Schmidt, S. 21. Bezüglich des Schutzes der Geschäftsgeheimnisse auf Grundlage von Art. 14 GG siehe illustrativ Brammsen, DöV 2007, 10 ff., der für einen Schutz der Geschäftsgeheimnisse als inhaltsbeschränktes Informationseigentum unter Art. 14 GG plädiert (S. 17). 165 Jaeckel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Art. 339 AEUV, 45. EL, Rdnr. 4 spricht von einer quasi-konstitutionellen Dimension des Vertraulichkeitsprinzips, da es primärrechtlich verankert ist.
A. Das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen und Dritter
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Art. 41 Abs. 2 GRCH, der das Akteneinsichtsrecht unter Wahrung des Schutzes der Berufs- und Geschäftsgeheimnisse garantiert. Der in Art. 339 AEUV statuierte Amtsverschwiegenheitsgrundsatz bildet das Pendant zu der in Art. 337 AEUV vorgesehenen Auskunftspflicht gegenüber der Kommission. Die in den beiden Vorschriften enthaltenen Normen bringen das Spannungsverhältnis zwischen den Grundsätzen der Vertraulichkeit und der Transparenz zum Ausdruck, das stets vorsichtige Abwägungen von den EU-Organen verlangt166. Die Amtsverschwiegenheit ist eine Voraussetzung für die effektive Ausübung der Aufgaben der Europäischen Kommission, unter anderem auch im Bereich des EU-Wettbewerbsrechts. Ohne einen wirksamen Vertraulichkeitsschutz lässt sich ein effektiver Informationsaustausch zwischen der Kommission und den Verwalteten nicht vorstellen. Ein fehlender Vertraulichkeitsschutz würde die Aufdeckung von Kartellen negativ beeinflussen. Das Gebot der Amtsverschwiegenheit dient zwei Schutzzwecken gleichzeitig: Einerseits schützt es grundrechtsrelevante Interessen des EU-Bürgers, wenn er z. B. personenbezogene Daten oder Geschäftsgeheimnisse einer EU-Institution übermittelt, und andererseits fördert es das Vertrauen der Verwalteten in die vertraulichkeitswahrende Arbeitsweise der EU-Organe167. Das Wettbewerbsrecht ist eins der Hauptgebiete, auf die der Amtsverschwiegenheitsgrundsatz Anwendung findet, da die Kommission in diesem Bereich über weitreichende Nachprüfungsbefugnisse verfügt, in direkten Kontakt mit den Unternehmen kommt und Kenntnis von sensiblen Informationen erlangt, deren Weiterreichen zu Auswirkungen auf den Wettbewerb und zu wirtschaftlichen Schäden für die von der Offenlegung betroffenen Unternehmen führen könnte. Auf dieser Erkenntnis basierend sieht Art. 339 AEUV vor, dass die Geheimhaltungspflicht insbesondere für Auskünfte über Unternehmen sowie deren Geschäftsbeziehungen oder Kostenelemente gilt168. b) Sekundärrechtliche Regelung des Schutzes der Geschäftsgeheimnisse Eine konkretere Erscheinungsform des Grundsatzes der Amtsverschwiegenheit ist die in Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003 vorgesehene Ausklammerung solcher Dokumente von dem Akteneinsichtsrecht, die dem Vertraulichkeitsschutz unterliegen und die unter die Kategorie der Geschäftsgeheimnisse der Unternehmen fallen169. Diese Vorschrift konkretisiert den vom EuGH anerkannten Grundsatz, 166
Jaeckel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Art. 339 AEUV, 45. EL, Rdnr. 4. Jaeckel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Art. 339 AEUV, 45. EL, Rdnr. 3. 168 Jaeckel, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Art. 339 AEUV, 45. EL, Rdnr. 14. 169 Siehe auch Art. 15 Abs. 2 VO 773/2004 und vgl. Art. 4 VO 1049/2001, die das Beinhalten von Geschäftsgeheimnissen eines Unternehmens als Grund für die Verweigerung der Einsicht in ein Dokument vorsehen. 167
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§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
dass Geschäftsgeheimnisse auch im Rahmen von Verfahren zur Durchsetzung von Art. 101 und 102 AEUV geschützt werden müssen170. Die Nichteinsehbarkeit von Geschäftsgeheimnisse beinhaltenden Schriftstücken schützt das berechtigte Interesse eines Unternehmens, dass bestimmte strategische Informationen über seine wesentlichen Interessen und den Stand oder die Entwicklung seiner Geschäfte nicht an Dritte gelangen. Die sekundärrechtlichen Vorschriften über den Schutz der vertraulichen Informationen und der Geschäftsgeheimnisse dienen auch dem Schutz von Unternehmen vor falschen Beschuldigungen, die Wettbewerber als Mittel einsetzen könnten, um später während des Ermittlungsverfahrens Einsicht in die Geschäftsgeheimnisse ihrer Konkurrenten zu bekommen171. Als Dokumente, die Geschäftsgeheimnisse beinhalten, gelten solche Dokumente172, die Informationen bezüglich einer wirtschaftlichen Tätigkeit beinhalten, die nur einer Person oder einem geschlossenen Personenkreis bekannt sind173 und für die ein legitimes Interesse an der Vertraulichkeit geltend gemacht werden kann, da ihre Preisgabe an die Öffentlichkeit, sogar nur an einen Dritten, einen ernsthaften Nachteil für den Auskunftsgeber oder einen Dritten bedeuten würde174. Weiterhin müssen die Interessen, die durch die Offenlegung der Information verletzt werden können, schützenswert sein175. Zu den Geschäftsgeheimnissen gehören z. B. der industrielle und kommerzielle Know-how, strategische Entscheidungen über Investitionen und Kapazitäten, Lieferanten-, Händler- und Kundenlisten176. Ferner stellen Informationen über Herstellungs- und Vertriebskosten, über Marktanteile, über die Verkaufspolitik oder die interne Struktur des Unternehmens Geschäftsgeheimnisse im Sinne von Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003 dar177. Die Kommission geht aber davon aus, dass Informationen über Umsatz, Absatz, Marktanteile der Betroffenen und ähnliche Angaben, die älter als fünf Jahre sind, nicht länger vertraulich behandelt werden müssen178. Der Begriff der Geschäftsgeheimnisse
170 EuGH, Urteil v. 24.6.1986, Rs. 53/85, AKZO Chemie/Kommission, Slg. 1986, 1985, Rdnr. 28; Urteil v. 19.5.1994, Rs. C-36/92, NV Samenwerkende Elektriciteits-Produktie bedrijven (SEP)/Kommission, Slg. 1994, I-1911, Rdnr. 36; EuG, Urteil v. 18.9.1996, Rs. T-353/94, Postbank NV/Kommission, Slg. 1996, II-921, Rdnr. 87. 171 So Weiß, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Art. 27 VerfVO, Rdnr. 24. 172 Vgl. dazu EuG, Urteil v. 14.12.2005, Rs. T-210/01, General Electric/Kommission, Slg. 2005, II-5575, Rdnr. 630; Urteil v. 17.12.1991, Rs. T-7/89, SA Hercules Chemicals NV/ Kommission, Slg. 1991, II-1711, Rdnr. 54; Mitteilung der Kommission zur Akteneinsicht, Rdnr. 17. 173 EuG, Urteil v. 12.10.2007, Rs. T-474/04, Pergan Hilfsstoffe für industrielle Prozesse GmbH/Kommission, Slg. 2007, II-4225, Rdnr. 65; Gumbel, S. 204. 174 EuG, Urteil v. 12.10.2007, Rs. T-474/04, Pergan Hilfsstoffe für industrielle Prozesse GmbH/Kommission, Slg. 2007, II-4225, Rdnr. 65. 175 EuG, Urteil v. 12.10.2007, Rs. T-474/04, Pergan Hilfsstoffe für industrielle Prozesse GmbH/Kommission, Slg. 2007, II-4225, Rdnr. 65 176 Mitteilung zur Akteneinsicht, Rdnr. 17. 177 Mitteilung zur Akteneinsicht, Rdnr. 17. 178 Mitteilung zur Akteneinsicht, Rdnr. 22.
A. Das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen und Dritter
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sollte aber grundsätzlich weit ausgelegt werden179, was den Interessen der Unternehmen in hohem Maße entspricht. Dennoch sind Dokumente, die von Dritten erlangt wurden und die Geschäftsgeheimnisse beinhalten, nicht automatisch von der Akteneinsicht ausgeschlossen. Die Zielsetzungen der Akteneinsicht und des Vertraulichkeitsschutzes lassen sich in solchen Fällen auch dadurch in Einklang bringen, dass eine nicht-vertrauliche Fassung des fraglichen Dokumentes erstellt wird oder sein Inhalt zusammengefasst wird180. Um als Geschäftsgeheimnis eingestuft werden zu können, dürfen die im Doku ment enthaltenen Angaben nicht offenkundig sein181. Aus diesem Grund können allgemein bekannte Informationen keinen Vertraulichkeitsschutz beanspruchen, da sie dem Wortsinn nach nicht als „Geheimnis“ qualifiziert werden können. Der EuGH hat aber entschieden, dass eine Information auch dann als Geschäftsgeheimnis gilt, wenn sie einem größeren Kreis von Personen bekannt ist, der aber abgegrenzt und gegenüber Dritten zur Verschwiegenheit verpflichtet ist182. Der EuGH stellte bereits in seiner Rechtsprechung zur VO 17/62 fest, dass der Schutz der Geschäftsgeheimnisse einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts darstelle183 und dass die Geschäftsgeheimnisse einen besonders weitgehenden Schutz vor Offenlegung genießen184. Da es sich bei dem öffentlichen Interesse an Ahndung von Kartellzuwiderhandlungen und beim privaten Interesse an Wahrung der Geschäftsgeheimnisse um zwei gleichrangige Interessen handelt185, die abgewogen werden müssen, um beiden gerecht zu werden, führt der weitgehende Schutz der Geschäftsgeheimnisse wie vom EuGH anerkannt zu einer gewissen Spannung zwischen den Geboten der Effektivität der Verwaltung und dem Vertraulichkeitsschutz.
179 Sura, in: Langen/Bunte (Hrsg.), Art. 27 VO Nr. 1/2003, Rdnr. 36; Bischke, in: MünchKommEurWettbR, Art. 27 VO 1/2003, Rdnr. 16; Kehl, S. 183; EuGH, Urteil v. 24.6.1986, Rs. 53/85, AKZO Chemie BV und AKZO Chemie UK Ltd/Kommission, Slg. 1986, 1965, Rdnr. 24–28; Urteil v. 17.11.1987, verb. Rs. 142 u. 156/84, British American Tobacco Company Ltd und R. J. Reynolds Industries, Slg. 1987, 4487, Rdnr. 21. 180 EuG, Urteil v. 29.6.1995, Rs. T-31/91, Solvay SA/Kommission, Slg. 1995, II-1775, Rdnr. 92; EuG, Beschluss v. 19.6.1996, verb. Rs. T-134/94, T-136/94, T-137/94, T-138/94, T-141/94, T-145/94, T-147/94, T-148/94, T-151/94, T-156/94 und T-157/94, NMH Stahlwerke GmbH u. a./Kommission, Slg. 1996, II-537, Rdnr. 24. 181 Vgl. EuG, Beschluss v. 19.6.1996, verb. Rs. T-134/94, T-136/94, T-137/94, T-138/94, T-141/94, T-145/94, T-147/94, T-148/94, T-151/94, T-156/94 und T-157/94, NMH Stahlwerke GmbH u. a./Kommission, Slg. 1996, II-537, Rdnr. 40. 182 EuGH, Urteil v. 29.10.1980, verb. Rs. 209 bis 215 und 218/78, Heintz van Landewyck SARL u. a./Kommission (FEDETAB Vereinbarungen), Slg. 1980, 3125, Rdnr. 46. 183 EuGH, Urteil v. 24.6.1986, Rs. 53/85, Akzo, Slg. 1986, 1965, Rdnr. 28. Aus der neueren Rechtsprechung siehe EuGH, Urteil v. 19.5.1994, Rs. C-36/92 P, Slg. 1994, I-1911, Rdnr. 37; Urteil v. 14.2.2008, Rs. C-450/2006, Varec SA/Belgien und Diehl Remscheid, Slg. 2008, I-581, Rdnr. 49. 184 EuGH, Urteil v. 24.6.1986, Rs. 53/85, Akzo, Slg. 1986, 1965, Rdnr. 28. 185 Vgl. Weiß, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Art. 27 VerfVO, Rdnr. 24.
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§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
c) Abwägung zwischen dem Schutz der Geschäftsgeheimnisse und der Effektivität der Ermittlungstätigkeit der Kommission Es wurden verschiedene Konzepte vorgeschlagen, die den Vertraulichkeitsschutz und die Pflicht der Kommission zur Wahrung des Wettbewerbs im Binnenmarkt im Einklang bringen könnten. Es wäre möglich, in jedem einzelnen Fall eine besondere Abwägung der beteiligten Interessen vorzunehmen, was die Rechtssicherheit negativ beeinflussen würde. Ferner setzt eine Abwägung zwei diametral entgegengesetzten Prinzipien voraus, was in diesem Fall nicht zutrifft, da der Vertraulichkeitsschutz und die effektive Wahrnehmung der Kommissionskompetenzen in einem Punkt komplementär sind, da die Kommission auf die freiwillige Kooperation der Unternehmen angewiesen ist186. Aus diesen Gründen ist das Konzept der Einzelfallabwägung abzulehnen. Die zweite Lösung, um beiden Interessen gerecht zu werden, wäre die Offenlegung der unter den Geschäftsgeheimnisschutz fallenden Dokumente nur an die Anwälte der Betroffenen. Zwei Voraussetzungen sollten aber dabei erfüllt sein: Zum einen dürfen die Rechtsanwälte die Angaben keineswegs an ihre Mandanten weiterleiten und zum anderen muss die effektive Verteidigung des Unternehmens dadurch möglich bleiben187. Diese Lösung wahrt die Vertraulichkeit der Geschäftsgeheimnisse vor den Wettbewerbern und vermeidet gleichzeitig, dass Dokumente mit Geschäftsgeheimnissen wegen fehlender Offenlegung nicht verwertet werden können188. Dabei handelt es sich aber um eine mittelbare Akteneinsicht, die den hohen Erfordernissen der Wahrung der Verteidigungsrechte nicht entspricht. Der Einwand gegen die Offenlegung an die Rechtsanwälte hängt auch damit zusammen, dass die Rechtsanwälte, auch wenn sie über eine lange Erfahrung in Kartellsachen verfügen, vielleicht doch nicht so vertraut mit den Verhältnissen der jeweiligen Industriebranche sind, wie dies der Mandant selbst wäre. Das führt dazu, dass sie den Inhalt eines Schriftstücks nicht immer nach denselben Maßstäben wie der sachkundige Betroffene beurteilen können. Letztlich sind die Rechtsanwälte zur umfassenden und loyalen Zusammenarbeit mit ihren Mandanten verpflichtet, was sich mit der Vorenthaltung bestimmter, für die Mandatserfüllung wichtiger Informationen schwer vereinbaren lässt. Eine dritte Möglichkeit, um das Gebot des Vertraulichkeitsschutzes mit der Pflicht zur Wahrung des Wettbewerbs in Einklang zu bringen, besteht in der Offenlegung einer nicht vertraulichen Fassung oder Zusammenfassung des unter den Geschäftsgeheimnisschutz fallenden Dokumentes. Diese Lösung wird auch von der Kommission praktiziert. Dieser Lösung könnte entgegengesetzt werden, dass 186
Weiß, S. 309. Weiß, S. 309. 188 Weiß, S. 309. 187
A. Das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen und Dritter
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die Kommission diejenige ist, die die Dokumente zusammenfasst. Das wäre aus der Sicht der Unternehmen nicht zufriedenstellend, da es auf Unternehmensseite Bedenken im Hinblick auf die Unparteilichkeit der Kommission gibt189. Die Kommission könnte den Vertraulichkeitsschutz niedriger einstufen, um für den Nachweis eines Verstoßes unabdingbare Informationen von der Einsichts-und Verwertungssperre des Schutzes von Geschäftsgeheimnissen frei zu machen. Dieser Einwand gegen die Gewährung von Einsicht in nicht vertrauliche Fassungen der Dokumente ist nicht zutreffend. Es sind die Unternehmen und nicht die Kommission, die die nicht-vertraulichen Fassungen der Geschäftsgeheimnisse enthaltenden Unterlagen vorbereiten und bei der Kommission einreichen190. Das Unternehmen ist auch dazu verpflichtet, der Kommission eine kurze Beschreibung des Inhalts der entfernten, vertraulichen Teile zu übermitteln191. Die Bedenken gegen die Unparteilichkeit der Kommission sind ebenso wenig begründet, da im Falle einer Meinungsdivergenz über den vertraulichen Charakter eines Dokuments im ersten Stadium der Anhörungsbeauftragte, als ein unparteiischer Dritter, und im zweiten Stadium das EuG entscheidet. Aus diesen Gründen ist das Konzept der Erstellung einer nicht vertraulichen Fassung des Schriftstücks, wie es auch von der Kommission anerkannt und praktiziert wird, im Vergleich zu den beiden anderen Konzepten, der Einzelfallabwägung und der Offenlegung an die Rechtsanwälte, vorzuziehen. Ferner ist zu beachten, dass Unternehmen, deren Geschäftsgeheimnisse sich in den Händen der Kommission befinden, auf den Vertraulichkeitsschutz verzichten können192. Die Grenze eines solchen Verzichts stellen solche Fälle dar, wo der Verzicht selbst ein wettbewerbswidriges Verhalten darstellen würde. Das ist der Fall, wenn der Austausch von Geschäftsgeheimnissen selbst wettbewerbswidrig ist. Ein Verzicht auf den Schutz würde bedeuten, dass die Wettbewerber über den Umweg der Akteneinsicht dieses Verbot umgehen könnten und Geschäftsgeheimnisse austauschen würden193. d) Entscheidung über das Vorliegen eines Geschäftsgeheimnisses Es stellt sich die Frage, wer über das Vorliegen eines schützenswerten Geschäftsgeheimnisses bzw. einer vertraulichen Information entscheidet. Früher wurde von einigen Stimmen in der Literatur die Auffassung vertreten, dass der Auskunftserteiler selber über die Einstufung einer Angabe als Geschäftsgeheim 189
Weiß, S. 310. Siehe Mitteilung zur Akteneinsicht, Rdnr. 36. Vgl. die alte Mitteilung zur Akteneinsicht,
190
1.3.
191
Art. 16 Abs. 3 VO 773/2004; Mitteilung zur Akteneinsicht, Rdnr. 36. Gumbel, S. 205. 193 Gumbel, S. 205. 192
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§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
nis entscheiden kann194. Die Qualifizierung einer Information hing allein vom subjektiven Willen des Informationsträgers ab. Diese Ansicht gilt als überholt, nicht zuletzt wegen des Wortlauts von Art. 27 Abs. 2 Satz 1 VO 1/2003, der den Schutz der Geschäftsgeheimnisse unter dem Vorbehalt eines berechtigten Interesses gewährleistet. Dieser Vorbehalt betont eine gewisse Objektivität bei der Einordnung einer Information als Geschäftsgeheimnis195. Es hat sich also zu Recht die Ansicht durchgesetzt, dass die jeweilige Ermittlungsbehörde für die Entscheidung der Geheimhaltungsbedürftigkeit zuständig sein sollte196. Die Kompetenz der Kommission, selber zu beurteilen, ob Unterlagen Geschäftsgeheimnisse beinhalten, wurde auch vom EuGH sowohl in der Leitentscheidung „AKZO“197 als auch später im Urteil „SEP“198 bestätigt. Im AKZO-Urteil wurde vom EuGH das Verfahren skizziert, das bei Meinungsverschiedenheiten zwischen der Kommission und den Verfahrensbeteiligten über den vertraulichen Charakter eines Dokumentes zu befolgen ist199. Bevor die Kommission eine Entscheidung über den vertraulichen oder nicht-vertraulichen Charakter trifft, muss sie das betroffene Unternehmen hierzu anhören. Wenn sie beabsichtigt, Informationen offen zu legen, die vom Unternehmen, das sie vorgelegt hat, als vertraulich angesehen werden, teilt sie dem Unternehmen ihre begründete Absicht schriftlich mit und gewährt ihm eine mindestens zweiwöchige Frist, damit es sich zu den Punkten schriftlich äußert200. Beharrt das Unternehmen auf seinen Einwänden gegen die Offenlegung, erlässt die Kommission diesbezüglich eine hinreichend begründete, formelle Entscheidung, die gerichtlich überprüfbar ist und die dem Unternehmen zu übermitteln ist201. Die Offenlegung der Dokumente darf erst eine Woche nach der Zustellung der Entscheidung stattfinden, damit dem Unternehmen die Möglichkeit gegeben wird, gegen die vorhergenannte Ent scheidung Klage und Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz einzulegen, so dass das EuG die von der Kommission vorgenommene Beurteilung überprüfen und die Offenlegung der Informationen eventuell aussetzen kann202. Indem der EuGH im „AKZO“-Urteil die Verfahrenserfordernisse bei Meinungsdiskrepanzen über die Klassifizierung eines Dokuments als vertraulich aufstellte, 194
Siehe diesbezüglich Kehl, S. 187, m. w. N. Kehl, S. 188. 196 Siehe z. B. Kerse/Khan, Rdnr. 4–072. 197 EuGH, Urteil v. 24.6.1986, Rs. 53/85, AKZO Chemie BV und AKZO Chemie UK Ltd/ Kommission, Slg. 1986, 1965 ff. 198 EuGH, Urteil v. 19.5.1994, Rs. C-36/92 P, Samenwerkende Elektriciteits-Produktiebedrijven (SEP) NV/Kommission, Slg. I-1994, 1911 ff. 199 EuGH, Urteil v. 24.6.1986, Rs. 53/85, AKZO Chemie BV und AKZO Chemie UK Ltd/ Kommission, Slg. 1986, 1965, Rdnr. 29. 200 Weiß, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Art. 27 VerfVO, Rdnr. 28. 201 EuGH, Urteil v. 24.6.1986, Rs. 53/85, AKZO Chemie BV und AKZO Chemie UK Ltd/ Kommission, Slg. 1986, 1965, Rdnr. 29. 202 EuGH, Urteil v. 24.6.1986, Rs. 53/85, AKZO Chemie BV und AKZO Chemie UK Ltd/ Kommission, Slg. 1986, 1965, Rdnr. 29. 195
A. Das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen und Dritter
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hat er eine bis zum damaligen Zeitpunkt bestehende Rechtsschutzlücke geschlossen und einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Rechtsposition der auskunftspflichtigen Unternehmen im Kartellverfahren geleistet203. Diese richterrechtliche Schöpfung fand später Eingang in Art. 8 des Beschlusses über das Mandat des Anhörungsbeauftragten204 und in die Mitteilung der Kommission über die Akteneinsicht205. Dank dieser Entwicklung verfügen die Unternehmen nicht nur über nachträglichen Rechtsschutz, namentlich die Schadensersatzklage gemäß Art. 340 AEUV, sondern auch über ex ante-Rechtsschutz, indem sie die formelle Entscheidung des Anhörungsbeauftragten anfechten und gegebenenfalls auch einstweiligen Rechtsschutz und die Aussetzung des Vollzugs der Entscheidung nach Art. 278 AEUV beantragen. e) Das Verfahren des Schutzes der Geschäftsgeheimnisse nach Art. 16 VO 773/2004 Weitere Einzelheiten des Schutzes der Geschäftsgeheimnisse werden in Art. 16 VO 773/2004 geregelt. Gemäß dieser Vorschrift werden Unterlagen, die Geschäftsgeheimnisse oder vertrauliche Informationen enthalten, von der Kommission nicht mitgeteilt oder zugänglich gemacht (Art. 16 Abs. 1). Behauptet ein Unternehmen, dass die von ihm vorgelegten Unterlagen vertrauliche Informationen beinhalten, muss es diese Dokumente unter Angabe von Gründen kenntlich machen und eine nicht vertrauliche Fassung dieser Dokumente vorlegen (Art. 16 Abs. 2). Eine nicht-vertrauliche Zusammenfassung kann auch die Kommission von den Unternehmen für solche Dokumente verlangen, die ihrer Ansicht nach vertrauliche Informationen beinhalten (Art. 16 Abs. 3). Meistens werden die Unternehmen schon selbst aus eigenem Interesse nicht-vertrauliche Zusammenfassungen von „sensiblen“ Dokumenten einreichen206. Die Kommission hat auch die Möglichkeit, den Unternehmen eine Frist (die gemäß Art. 17 Abs. 3 VO 773/2004 mindestens zwei Wochen betragen muss) zu setzen, innerhalb derer sie die Gründe für das Vorliegen eines Geschäftsgeheimnisses oder nicht vertrauliche Fassungen vorlegen müssen (Art. 16 Abs. 3). Kommen die Unternehmen diesen Verpflichtungen nicht nach, darf die Kommission annehmen, dass die Unterlagen keine Geschäftsgeheimnisse beinhalten (Art. 16 Abs. 4).
203
Kehl, S. 188. Beschluss des Präsidenten der Europäischen Kommission vom 13. Oktober 2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren, ABl. EU v. 20.10.2011, L 275/29. 205 Mitteilung der Kommission über die Regeln für die Einsicht in Kommissionsakten in Fällen einer Anwendung der Artikel 81 und 82 EG-Vertrag, Artikel 53, 54 und 57 des EWRAbkommens und der Verordnung (EG) Nr. 139/2004, ABl. EU v. 22.12.2005, C 325/07, Rdnr. 42. 206 So Weiß, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Art. 27 Verf-VO, Rdnr. 27. 204
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§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
Es sollte aber in diesem Zusammenhang betont werden, dass die Kommission gemäß Art. 16 Abs. 1 VO 773/2004 von Amts wegen verpflichtet ist, Geschäftsgeheimnisse zu achten. Wenn es sich bei den eingereichten Unterlagen ganz offensichtlich um Geschäftsgeheimnisse handelt, obwohl das die Auskunft einreichende Unternehmen das nicht kenntlich macht, kann sie sich nicht auf einen Fristablauf stützen, um die Dokumente mit den Geschäftsgeheimnissen offenzulegen207. 3. Sonstige vertrauliche Informationen Als vertraulich können solche Informationen bezeichnet werden, die, obwohl sie keine Geschäftsgeheimnisse darstellen, ein Unternehmen oder eine Person schädigen können, falls sie offengelegt werden208. Als Beispiel für vertrauliche Informationen können betriebsinterne Schriftstücke genannt werden, wie zum Beispiel in Auftrag gegebene Marktstudien, um deren vertrauliche Behandlung gebeten wurde209. Zu den vertraulichen Informationen, die schützenswert sind, kann auch die Identität eines Informanten der Kommission gehören. Der Schutz seiner Anonymität kann es also erfordern, dass ein Dokument, welches seine Identität preisgibt, von der Akteneinsicht ausgeschlossen wird210. Hat eine vertrauliche Information be- oder entlastenden Charakter für einen der Betroffenen, verhindert ihr vertraulicher Charakter grundsätzlich nicht ihre Offenlegung211. Die wichtigsten Kriterien, anhand deren die Kommission beurteilt, inwieweit eine als vertraulich eingestufte Information offengelegt werden darf, sind ihr Beweiswert, ihre Unerlässlichkeit für den Nachweis der vermuteten Zuwiderhandlung, die Schwere der vorgeworfenen Zuwiderhandlung und inwieweit die Offenlegung der Information dem Unternehmen Schaden zufügen könnte212. Der allgemeine Vorrang der Effektivität der Verwaltung gegenüber dem Schutz der Geschäftsgeheimnisse, wie er in Art. 27 Abs. 2 Satz 5 VO 1/2003 niedergelegt 207
Weiß, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Art. 27 VerfVO, Rdnr. 27. Erwägungsgrund 13, VO 773/2004; EuGH, Urteil v. 6.4.1995, Rs. C-310/93 P, BPB Industries plc und British Gypsum Ltd/Kommission, Slg. 1995, I-865, Rdnr. 26. 209 Siehe die frühere Bekanntmachung der Kommission zur Akteneinsicht, ABl. EG v. 23.1.1997, C 23/3, A.1. 210 Mitteilung der Kommission zur Akteneinsicht, Rdnr. 19. Der Schutz der Anonymität von Informanten der Kommission wurde insbesondere nach dem Fall „Stanley Adams“ verstärkt. Im Laufe des Verfahrens gegen Mitglieder des Vitaminkartells wurde der Name von Stanley Adams, dem Informanten der Kommission, fahrlässig offenbart. Dies führte zu Vergeltungsmaßnahmen von der Seite des (Ex-)Arbeitgebers von Adams, die die kurze Inhaftierung von Adams in der Schweiz wegen angeblicher Spionage und seine wirtschaftliche Ruinierung als Ergebnis hatten. Adams erhob später vor einem englischen Gericht Schadensersatzklage gegen die Europäische Kommission; das Gericht sprach ihm £500.000 als Schadensersatz zu. 211 Siehe Art. 27 Abs. 2 Satz 5 VO 1/2003; Art. 15 Abs. 3 VO 773/2004; Mitteilung der Kommission zur Akteneinsicht, Rdnr. 24. 212 Mitteilung der Kommission zur Akteneinsicht, Rdnr. 24. 208
B. Einsicht in die Kronzeugenakte?
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ist, kann aber keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, da er den Kern des grundrechtlich garantierten Schutzes der Geschäftsgeheimnisse tangiert und somit der Verpflichtung des EU-Gesetzgebers zum Schutz der Verteidigungsrechte213 entgegensteht. Deswegen ist eine teleologische Einschränkung dieser Vorschrift erforderlich, so dass dem Grundrechtsschutz Rechnung getragen wird. Bei der Abwägung zwischen dem Nachweis einer kartellrechtlichen Zuwiderhandlung und dem Schutz der Geschäftsgeheimnisse anderer Unternehmen ist der Schutz der Geschäftsgeheimnisse vorzuziehen. Daraus folgt, dass nur solche Schriftstücke von der Kommission als Beweismittel herangezogen werden, die auch offengelegt werden können214. Wenn die Verwertung von Schriftstücken dritter Unternehmen von dem Vertraulichkeitsschutz oder dem Schutz der Geschäftsgeheimnisse gehindert wird, dann darf der Vorwurf der Kommission nicht auf diese Unterlagen begründet werden. Ein weitreichender Schutz der Geschäftsgeheimnisse und der vertraulichen Informationen fördert im Allgemeinen auch die öffentliche Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts, da die Unternehmen sich einfacher für eine Kooperation mit der Kommission im Rahmen des EU-Kronzeugenprogramms entscheiden, wenn sie davon ausgehen können, dass ihre Geschäftsgeheimnisse wegen ihres potenziell be- oder entlastenden Charakters offengelegt werden.
B. Einsicht in die Kronzeugenakte? Eng verbunden mit der Problematik der Grenzen des Akteneinsichtsrechts für Dritte ist die Frage, inwieweit sie Einsicht in die Kronzeugenakte der Kommission bekommen können. Zu dieser Akte gehören nicht nur die Erklärungen, die die im Rahmen des Kronzeugenprogramms kooperierenden Unternehmen abgeben, sondern auch die von ihnen eingereichten Dokumente, die ihre mündlichen Aus führungen ergänzen und belegen. Diese Frage soll in den folgenden Ausführungen näher untersucht werden.
I. Problemstellung Kronzeugenprogramme haben nicht nur die Art und Weise geändert, wie Wettbewerbsbehörden weltweit wettbewerbswidrige Absprachen aufdecken, untersuchen und ahnden215, sondern auch Klägern in kartellrechtlichen Schadensersatzverfahren Hoffnung auf eine verwertbare Beweisquelle für die Substantiierung ihrer Klagen gegen Kartellanten gemacht. Im Zeitalter zunehmender privater Durchsetzung des Kartellrechts im Wege von Schadensersatzklagen häufen sich die Fälle, bei denen Kartellgeschädigte Einsicht in den Kronzeugenantrag und 213
Siehe diesbezüglich Erwägungsgrund 32 und Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003. So Weiß, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Art. 27 VerfVO, Rdnr. 20. 215 So Breathnach, ECLR 2013, 12 (12). 214
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in die mit ihm eingereichten Unterlagen eines Unternehmens verlangen, um ihre Schadensersatzansprüche gegen die Kartellmitglieder substantiieren zu können. Kartellgeschädigte erhoffen sich davon, in der Kronzeugenantragsakte Informationen zu finden, mit denen sie ihrer Beweislast im Schadensersatzprozess nachkommen. Dabei entsteht ein Spannungsfeld zwischen der von der Kommission propagierten Förderung der privaten Durchsetzung des Kartellrechts und der Effektivität des Kronzeugenprogramms (und im weiteren Sinne der sogenannten öffentlichen Durchsetzung („public enforcement“) des Kartellrechts). Die Bereitschaft eines Unternehmens, mit der Kommission zusammenzuarbeiten und einen Kartellverstoß zu gestehen, könnte erheblich verringert werden, wenn der (finanzielle) Vorteil einer Bußgeldimmunität oder -reduzierung durch ein erhöhtes Risiko der Zahlung von Schadensersatz wegen Verschlechterung der Beweislage in zivilrechtlichen Schadensersatzverfahren wettgemacht wäre. Dabei sollte allerdings berücksichtigt werden, dass es im EU-Sekundärrecht keine ausdrückliche Rechtsgrundlage für das Kronzeugenprogramm der Kommission gibt. Die VO 1/2003 sieht ein solches Ermittlungsinstrument nicht vor. Als Rechtsgrundlage des Kronzeugenprogramms der Kommission dient eine Mitteilung der Kommission aus dem Jahr 2006216, die auch dessen Einzelheiten regelt. Diese Mitteilung ist aber, wie sämtliche Mitteilungen der Kommission im Bereich des EU-Wettbewerbsrechts, kein verbindlicher Rechtsakt, da sie nicht im abschließenden Katalog der verbindlichen EU-Rechtsakte in Art. 288 AEUV aufgeführt ist. Sie ist vielmehr ein Text mit Soft-law-Charakter, der die Selbstbindung der Verwaltung an eine bestimmte Praxis festlegt.
II. Die rechtliche Lage Grundsätzlich ist der Inhalt der Akte der Kommission in einem Kartellverfahren nicht Dritten zugänglich. Der Zugang Dritter zur Akte ist die Ausnahme und erfolgt unter Erfüllung besonderer Voraussetzungen. Art. 28 VO 1/2003 sieht unter anderem vor, dass „unbeschadet des Austauschs und der Verwendung der Informationen gemäß den Artikeln 11, 12, 14, 15 und 27 sind die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten und ihre Beamten, ihre Bediensteten und andere unter ihrer Aufsicht tätigen Personen sowie die Beamten und sonstigen Bediensteten anderer Behörden der Mitgliedstaaten verpflichtet, keine Informationen preiszugeben, die bei der Anwendung dieser Verordnung erlangt oder ausgetauscht haben und die ihrem Wesen nach unter das Berufsgeheimnis fallen“. Auf Antrag gewährt die Kommission den Parteien, an die sie eine Mitteilung der Beschwerdepunkte gerichtet hat, Einsicht in die Akte217. Die Akteneinsicht dient der vollständigen Wahrung der Verteidigungsrechte der Betroffenen im Kartellverfah 216 Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. EU v. 8.12.2006, C 298/17. 217 Art. 15 Abs. 1 VO 773/2004.
B. Einsicht in die Kronzeugenakte?
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ren218. Allerdings dürfen die gesichteten Unterlagen nur im Rahmen von Gerichtsoder Verwaltungsverfahren zur Anwendung von Art. 101 und 102 AEUV verwendet werden219. Aus Art. 15 Abs. 4 VO 773/2004 ergibt sich ferner, dass die von den Betroffenen gesichteten Unterlagen in parallelen nationalen Verfahren für die Anwendung von Art. 101 und 102 AEUV verwendet werden können. Zu diesen Verfahren gehören auch Schadensersatzklagen vor Zivilgerichten220. Darüber hinaus gibt es in der VO 1/2003 eine Reihe von Vorschriften (Art. 11 – Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten, Art. 12 – Informationsaustausch und Art. 15 – Zusammenarbeit mit Gerichten der Mitgliedstaaten), die die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch zwischen der Kommission einerseits und den nationalen Wettbewerbsbehörden und Gerichten andererseits regeln. Diese Vorschriften der VO 1/2003 werden in der Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden näher konkretisiert221. Die Mitteilung ist aber ein Text mit Soft-law-Charakter, durch den die Kommission ihre Selbstbindung an eine bestimmte Verwaltungspraxis erklärt, von der die Kommission nicht ohne Angabe von Gründen abweichen darf222. Soft law hat per definitionem nicht dieselbe Bindungswirkung wie eine in einer Verordnung enthaltene Regelung, da es nicht durchsetzbar ist223. Darüber hinaus regelt die Mitteilung über die Zusammenarbeit nur die Übermittlung des Kronzeugenantrags an eine Wettbewerbsbehörde und nicht die Offenlegung an Dritte, wie Kläger in einem zivilrechtlichen Schadensersatzverfahren. Diesbezüglich fehlt jegliche Regelung im EU-Sekundärrecht und im Instrumentarium der Kommissionsmitteilungen. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass Kläger, insbesondere aus den USA, immer öfter versuchen, Einsicht in die Kronzeugenanträge in Kommissionsakten zu bekommen. In Bezug auf den Kronzeugenantrag und etwaige Dokumente, die mit dem Kronzeugenantrag von einem Unternehmen bei der Kommission eingereicht wurden, sieht die Bekanntmachung über die Zusammenarbeit vor, dass solche Infor 218
Mitteilung zur Akteneinsicht, Rdnr. 1. Art. 15 Abs. 4 VO 773/2004. 220 Vandenborre, ECLR 2011, 116 (117). 221 Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden („Bekanntmachung über die Zusammenarbeit“), ABl. EU v. 27.4.2004, C 101, S. 43. 222 Vgl. Weiß, EWS 2010, 257 (258). Schweda, WuW 2004, 1133–1144, vertritt die Auf fassung, dass sich eine beschränkte Bindungswirkung auch für nationale Wettbewerbsbehörden und Gerichte aus der Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten ergebe (S. 1140 f.). Dennoch sehen die Leitlinien oft in ihrem Text vor, dass sie für mitgliedstaatliche Behörden und Gerichte nicht bindend sind (siehe zum Beispiel die Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. EU v. 27.04.2004, C 101/97, Rdnr. 4. Eine Bindungswirkung für nationale Behörden und Gerichte lehnt auch Thomas ab, EuR 2009, 423 (435). 223 Vgl. Schwarze, EuR 2011, 3 (5). 219
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§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
mationen nur mit Einverständnis des Antragstellers einem anderen Netzmitglied nach Art. 12 VO 1/2003 übermittelt werden dürfen224. Von diesem Grundsatz der Zustimmung des Antragstellers gibt es drei an besondere Bedingungen geknüpfte Ausnahmen. Zum einen ist kein Einverständnis erforderlich, wenn bei der die Informationen empfangenden Behörde von demselben Antragsteller bereits ein Kronzeugenantrag in Bezug auf dieselbe Zuwiderhandlung eingegangen ist und wenn der Antragsteller zum Zeitpunkt der Übermittlung der Informationen nicht mehr die Möglichkeit hat, die der empfangenden Behörde vorgelegten Informationen zurückzuziehen225. Andererseits ist kein Einverständnis erforderlich, wenn die die Informationen empfangende Behörde eine schriftliche Zusage abgegeben hat, dass weder sie noch eine dritte Behörde die ihr übermittelten oder zu übermittelnden Informationen dazu verwenden wird, um Sanktionen gegen das Unternehmen, das sich zur Kooperation bereit erklärt, gegen jede andere natürliche oder juristische Person, die durch die begünstigende Behandlung abgedeckt ist, oder gegen einen aktuellen oder ehemaligen Mitarbeiter der oben genannten Rechtssubjekten zu verhängen226. Aus alledem geht hervor, dass die Vertraulichkeit des Kronzeugenantrags und der ihn begleitenden, vom Unternehmen vorgelegten Beweismaterialien keinen absoluten Schutz genießt. Zu beachten ist insbesondere, dass Art. 12 Abs. 1 VO 1/2003 pauschal vorsieht, dass für die Zwecke der Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV die Kommission und die Wettbewerbsbehörden befugt sind, einander tatsächliche oder rechtliche Umstände einschließlich vertraulicher Angaben mitzuteilen und diese Informationen als Beweismittel zu verwenden. Zu den vertraulichen Angaben, die mitgeteilt werden dürfen, gehören auch der Kronzeugenantrag eines Unternehmens sowie die zusammen mit dem Antrag vorgelegten Beweismaterialien.
III. Handhabung der Vertraulichkeit von Kronzeugenanträgen durch die Kommission Die Kommission hat in Fällen mit Drittstaatsbezug stets versucht, die Vertraulich keit von Kronzeugenanträgen und begleitenden Beweismaterialien auf Grundlage des Prinzips der Gegenseitigkeit („comity of nations“) zu schützen. Der amerikanische Oberste Gerichtshof („Supreme Court“) hat das Prinzip der Gegenseitigkeit als „die Hochachtung, die souveräne Staaten gegenseitig entgegenbringen, indem sie die Reichweite ihrer Rechtsordnungen einschränken“ („the respect sovereign nations afford each other by limiting the reach of their laws“) definiert227. In zahl 224
Bekanntmachung über die Zusammenarbeit, Rdnr. 40. Bekanntmachung über die Zusammenarbeit, Rdnr. 41. 226 Bekanntmachung über die Zusammenarbeit, Rdnr. 41, Abs. 2. 227 Hartford Fire Insurance v California, 509 U. S. 764, 817 (1993), zitiert von Petrasincu, ECLR 2011, 356 (364). 225
B. Einsicht in die Kronzeugenakte?
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reichen Fällen, in denen Kronzeugen in kartellrechtlichen Schadensersatzprozessen in den USA verklagt worden sind, intervenierte die Kommission als amicus curiae, um die Kronzeugen zu unterstützen. In ihren Schreiben vertrat die Kommission regelmäßig die Auffassung, dass die Vorlage der Kronzeugenanträge in Widerspruch zur Wirksamkeit ihres Kronzeugenprogramms stünde und dass sie ihrer Möglichkeit Kartelle zu entdecken und zu ahnden erheblich beeinträchtigen würde228. Das Argument der international comity konnte sich nicht in allen Fällen durchsetzen. Im US-amerikanischen Schadensersatzverfahren gegen Mitglieder des Methionin-Kartells konnte die Offenlegung der verlangten Dokumente dadurch gehindert werden, dass die Kläger bereits im Besitz einer geschwärzten Kopie der Unternehmenserklärung („corporate statement“) waren, dass sie auch andere Möglichkeiten hatten, an die erwünschten Informationen zu kommen und dass den Interessen der Kommission auf Grundlage des Prinzips der Gegenseitigkeit große Bedeutung beigemessen wurde229. Im Rahmen eines Schadensersatzverfahrens gegen Mitglieder des Vitamin- Kartells in den USA wollten die Kläger Einsicht in die im Rahmen des Kronzeugenprogramms der Kommission abgegebenen Unternehmenserklärungen bekommen. Die Kommission argumentierte, dass die Offenlegung im Rahmen von US-amerikanischen Zivilverfahren von freiwillig abgelegten Erklärungen und freiwillig eingereichten Unterlagen die Zusammenarbeit der Unternehmen im Rahmen des EU-Kronzeugenprogramms erheblich mindern würde. Das Gericht lehnte die Behauptung der Kommission mit dem Argument ab, dass die Kommission damals selbst die kooperierenden Unternehmen darauf hinwies, dass die freiwillig vorgelegten Informationen offengelegt werden könnten. Darüber hinaus handelte es sich beim Vitaminkartell um eine weltweite wettbewerbswidrige Absprache und die in den Unternehmenserklärungen enthaltenen Informationen waren von Belang für die USA. Schließlich konnten die Kläger nicht anderweitig zu den Informationen gelangen. Aus diesen Gründen wurde die Offenlegung angeordnet und ihre Rechtsmäßigkeit später auch vom Landgericht („District Court“) bestätigt230. Im US-amerikanischen Schadensersatzverfahren gegen Mitglieder des Kartells für Kautschukchemikalien wurde vom zuständigen Gericht dem Argument der Kommission beigepflichtet, dass die Offenlegung der Kronzeugenerklärungen auch nach dem Abschluss der Ermittlungen die Durchführbarkeit und die Wirksamkeit ihres Kronzeugenprogramms beeinträchtigen würde. Nach Ansicht des
228 Siehe z. B. die schriftliche Stellungnahme der Kommission vom November 2011 vor dem englischen High Court of Justice in einem Verfahren gegen Mitglieder des Kartells der gasisolierten Schaltanlagen, Rdnr. 17 f., abrufbar unter http://ec.europa.eu/competition/court/amicus_ curiae_2011_national_grid_en.pdf. 229 Petrasincu, ECLR 2011, 356 (364). 230 Petrasincu, ECLR 2011, 356 (364).
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§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
Gerichts überwogen die Interessen der Kommission jegliche Nützlichkeit der Kronzeugenerklärungen für die Kläger231. Aus den oben genannten Beispielen ergibt sich, dass das Prinzip der Gegen seitigkeit („international comity“) es nicht in allen Fällen vermag, vor einer Anordnung zur Offenlegung der im Rahmen eines Kronzeugenantrags eingereichten Beweismaterialien (auch des „corporate statement“) zu schützen. Insbesondere in Bezug auf die USA ist anzumerken, dass die Frage der Offenlegung des Kronzeugenantrags im Rahmen eines Schadensersatzprozesses noch nicht vom Supreme Court entschieden wurde232. In der Europäischen Union wurde die Frage einer möglichen Pflicht zur Offenlegung von Dokumenten einer Kronzeugenakte bei der Kommission, soweit ersichtlich, in der Praxis nicht gestellt. Das könnte zum Teil daran liegen, dass die private Durchsetzung des Kartellrechts in der Europäischen Union eine im Verhältnis zur US-amerikanischen viel kürzere Geschichte hat. Es ist aber nicht auszuschließen, dass Kartellgeschädigte insbesondere nach dem Pfleiderer-Urteil des EuGH233 versuchen werden, Zugang zu Dokumenten eines Kronzeugenverfahrens bei der Kommission zu bekommen. Wie der dem Pfleiderer-Urteil zugrunde liegende Sachverhalt zeigt, in dem ein angeblich von einem Dekorpapierkartell geschädigtes Unternehmen Einsicht in die beim Bundeskartellamt vorliegende Kronzeugenakte eines Unternehmens beantragte, versuchen Kartellgeschädigte bereits immer öfter, eine Schadensersatzklage durch Zugang zur Kronzeugenakte der nationalen Wettbewerbsbehörde zu substantiieren.
IV. Das Pfleiderer-Urteil des EuGH 1. Der Sachverhalt, der zum Vorlageverfahren geführt hat Das Bundeskartellamt verhängte im Januar 2008 Geldbußen gegen eine Reihe von Dekorpapierhersteller wegen Preisabsprachen234. Pfleiderer AG („Pfleiderer“), ein Unternehmen, das Dekorpapier von den mit den Geldbußen belegten Unternehmen bezogen hatte, hatte umfassende Einsicht in die Akte des Bundeskartellamtes beantragt, um eine Schadensersatzklage vorbereiten zu können. Unter den Dokumenten, für die Einsicht beantragt worden war, befanden sich auch Dokumente aus der Kronzeugenakte. Das Bundeskartellamt weigerte sich, Zugang zu Dokumenten der Kronzeugenakte zu gewähren, und gewährte Einsicht nur in die 231
Petrasincu, ECLR 2011, 356 (365). Petrasincu, ECLR 2011, 356 (365). 233 EuGH, Urteil v. 14.6.2011, Rs. C-360/09, Pfleiderer AG/Bundeskartellamt, Slg. 2011, I-5161. 234 Siehe die Pressemitteillung des Bundeskartellamts v. 5.2.2008 auf http://www.bundeskartell amt.de/wDeutsch/archiv/PressemeldArchiv/2008/2008_02_05.php. 232
B. Einsicht in die Kronzeugenakte?
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Bußgeldbescheide. Daraufhin focht Pfleiderer die teilweise ablehnende Entscheidung des Bundeskartellamts beim AG Bonn an. Das AG Bonn ordnete am 3.2.2009 an, dass das Bundeskartellamt Pfleiderer auf Grundlage von § 406 e Abs. 1 StPO i. V. mit § 46 Abs. 1 OWiG Einsicht in die Akte zu gewähren hatte, da Pfleiderer „Verletzter“ im Sinne dieser Vorschriften sei. Nach einer Anhörungsrüge setzte das AG Bonn die Vollstreckung des Beschlusses aus und legte dem EuGH Fragen über das Verhältnis der Vorschriften über die Zusammenarbeit im Rahmen des Netzes europäischen Wettbewerbsbehörden zum Recht auf Akteneinsicht eines Dritten im Kartellverfahren235. Insbesondere wollte das AG Bonn wissen, inwieweit die Art. 11 und 12 VO 1/2003 und Art. 10 Abs. 2 EGV (nunmehr Art. 4 Abs. 3 EUV) i. V. m. Art. 3 Abs. 1 lit. g (Art. 3 EUV i. V. m. Protokoll Nr. 31 zum EUV und zum AEUV) dahin gehend auszulegen seien, dass Kartellgeschädigten zur Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche keine Einsicht in Kronzeugenanträge und von Kornzeugenantragstellern in diesem Zusammenhang freiwillig herausgegebene Informationen und Unterlagen zu gewähren sei, die eine nationale Wettbewerbsbehörde nach Maßgabe eines nationalen Kronzeugenprogramms im Rahmen eines auf die Durchsetzung von Art. 81 EGV (nunmehr Art. 101 AEUV) gerichteten Bußgeldverfahrens erhalten hat. 2. Schlussanträge des GA Mázak In seinen Schlussanträgen vom 16.12.2010236 stellte GA Mázak fest, dass Kartellgeschädigten grundsätzlich keine Einsicht in Kronzeugenanträge gewährt werden dürfe. Dabei differenzierte der GA zwischen Dokumenten, die der Behörde im Rahmen von Kronzeugenanträgen vorgelegt werden, und Dokumenten, die im Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Bußgeldimmunität oder -reduzierung bereits im Besitz der Wettbewerbsbehörde waren. In Bezug auf die Dokumente der ersten Kategorie sei die Einsichtnahme abzulehnen, während in die bereits existierende Dokumente Einsicht zu gewähren sei237. 3. Das Urteil des EuGH Der EuGH übernahm in seinem Urteil nicht die von GA Mázak vorgeschlagene Differenzierung. Der EuGH wies zuerst darauf hin, dass die Kronzeugenmit teilung der Europäischen Kommission nur für die Kommission bindend sei. Ferner nahm der EuGH Bezug auf seine Courage-Rechtsprechung, gemäß der jedermann ein Recht darauf hat, Ersatz für durch wettbewerbswidriges Verhalten
235
Vorlagebeschluss des AG Bonn v. 4.8.2009, Az: 51 Gs 53/09, abrufbar unter www.juris.de. Schlussanträge des Generalanwalts Jan Mazák v. 16.12.2010, Slg. 2011, I-5161. 237 Schlussanträge des GA Mazák, Rs. C-360/09, Rdnr. 46 f. 236
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§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
erlittenen Schaden zu bekommen238. Andererseits könnte die Wirksamkeit der Kronzeugenprogramme durch die Offenlegung von Dokumenten an Personen, die eine Schadensersatzklage erheben wollen, beeinträchtigt werden, da die kooperationsbereiten Unternehmen von einer Zusammenarbeit mit der Wettbewerbsbehörde aus Angst vor möglichen zivilrechtlichen Folgen in verschiedenen Mitgliedstaaten absehen würden239. Da das Kronzeugenregelungsmodell des ECN trotz der möglichen Auswirkungen der Kronzeugenmitteilung der Kommission auf die Praxis der nationalen Wettbewerbsbehörden keine verbindliche Wirkung für die Gerichte der Mitgliedstaaten entfalte und da es an einer verbindlichen, einheitlichen unionsrechtlichen Regelung im Bereich der Kronzeugenprogramme fehle, obliege es den Mitgliedstaaten, die nationalen Vorschriften über den Zugang zu Dokumenten, die Kronzeugenverfahren betreffen, zu erlassen und anzuwenden240. Dabei müssen die Mitgliedstaaten die Grundsätze der Äquivalenz und der Wirksamkeit des Unionsrechts beachten. Die von ihnen erlassenen Vorschriften und getroffenen Maßnahmen dürfen weder die Verwirklichung des Unionsrechts praktisch unmöglich machen, noch die wirksame Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV beeinträchtigen241. Darüber hinaus müssen die nationalen Gerichte bei der Prüfung eines Antrags einer Schadensersatz begehrenden Person auf Einsicht in die Dokumente einer Kronzeugenakte darauf achten, dass die Erlangung des Schadensersatzes durch die anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften nicht praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert wird. Eine Abwägung zwischen den die Offenlegung der Dokumente rechtfertigenden Interessen und des Schutzes der Vertraulichkeit der vom Kronzeugen freiwillig eingereichten Informationen sei unter Berücksichtigung der maßgeblichen Gesichtspunkte des Einzelfalles geboten242.
V. Auswirkungen des Pfleiderer-Urteils Das Pfleiderer-Urteil räumte leider die Unsicherheit über die Möglichkeit einer Offenlegung eines Kronzeugenantrags und der ihn begleitenden Dokumente und Informationen nicht aus. Von einigen Literaturstimmen wurde dem EuGH fehlender Mut vorgeworfen, da er keine klare Aussage zum Vertraulichkeitsschutz der
238 EuGH, Urteil v. I-5161, Rdnr. 28. 239 EuGH, Urteil v. I-5161, Rdnr. 26–27. 240 EuGH, Urteil v. I-5161, Rdnr. 23. 241 EuGH, Urteil v. I-5161, Rdnr. 24. 242 EuGH, Urteil v. I-5161, Rdnr. 30–31.
14.6.2011, Rs. C-360/09, Pfleiderer AG/Bundeskartellamt, Slg. 2011, 14.6.2011, Rs. C-360/09, Pfleiderer AG/Bundeskartellamt, Slg. 2011, 14.6.2011, Rs. C-360/09, Pfleiderer AG/Bundeskartellamt, Slg. 2011, 14.6.2011, Rs. C-360/09, Pfleiderer AG/Bundeskartellamt, Slg. 2011, 14.6.2011, Rs. C-360/09, Pfleiderer AG/Bundeskartellamt, Slg. 2011,
B. Einsicht in die Kronzeugenakte?
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Kronzeugenanträge gemacht hat243. Es ist zwar zutreffend, dass das Pfleiderer-Urteil nicht als ein Beispiel von Rechtsaktivismus des EuGH im Sinne von Urteilen wie Van Gend & Loos und Frankovich betrachtet werden kann. Der EuGH hat insbesondere wegen der fehlenden Regelung im EU-Recht über den Schutz des Inhalts der Kronzeugenakte davon abgesehen, den nationalen Richtern die Kriterien aufzulisten, die sie bei der Abwägung zwischen dem Schutz der Vertraulichkeit des Kronzeugenantrags und des Interesses möglicher Geschädigter an Offenlegung berücksichtigen sollten. Dies ist gerade angesichts der fehlenden Regelung auf EU-Ebene und der nicht vereinheitlichten nationalen Kartellverfahrensregeln zu begrüßen, da der EuGH sonst den nationalen oder europäischen Gesetzgeber durch sein eigenes Urteil ersetzen würde244. Das Dilemma in Pfleiderer, mit dem der EuGH konfrontiert war, tangiert die grundsätzliche Frage des Verhältnisses zwischen öffentlicher und privater Durchsetzung des Wettbewerbsrechts. Die Entscheidung, wie dieses Spannungsverhältnis zu regeln ist, muss vom Gesetzgeber, also von der Politik auf EU- und nationaler Ebene getroffen werden245. Die fehlende Rechtssicherheit bezüglich des von den Behörden gewährten Vertraulichkeitsschutzes für im Rahmen eines Kronzeugenantrags vorgelegten Informationen könnte Auswirkungen auf den Erfolg von Kronzeugenprogrammen haben, da die Unternehmen einen geringeren Anreiz haben könnten, mit den Behörden zusammenzuarbeiten. In der Regel entscheidet sich ein Unternehmen für die Kooperation mit einer Wettbewerbsbehörde, nachdem es die Vorteile (mögliche Bußgeldimmunität oder wesentliche Bußgeldreduktion) gegen die Nachteile (erhöhtes Risiko von Schadensersatzklagen und von Zahlung von Schadensersatz) abgewogen hat246. Wenn das Risiko von Schadensersatzklagen durch die mögliche Akteneinsicht Geschädigter in die Kronzeugenakte steigt, ist es nicht ganz von der Hand zu weisen, dass die Bereitschaft von Unternehmen mit den Wettbewerbsbehörden zu kooperieren nachlassen könnte. Die Kooperationsbereitschaft könnte nicht nur qualitativ, im Sinne einer geringeren Motivierung zur Stellung von Kronzeugenanträgen, sondern auch quantitativ negativ beeinflusst werden. Unternehmen, die sich für eine Kooperation mit einer Wettbewerbsbehörde entscheiden, würden eventuell die ihnen verfügbaren und für den Verstoß relevanten Informationen vor dem Hintergrund künftiger Schadensersatzprozesse filtrieren. Das würde wiederum die offene und volle Zusammenarbeit zwischen den kooperierenden Unternehmen und der Wettbewerbsbehörde, die Voraussetzung für den Erlass oder die Reduktion des Bußgelds ist, beeinträchtigen247.
243
So Geiger, ECLR 2011, 535 (535). Vgl. Temple-Lang, Competition Law Insight, Juli 2011, 3 (4). 245 Vgl. Mäger/Zimmer/Milde, WuW 2011, 935 (939). 246 Seitz, EuZW 2011, 598 (601). 247 Seitz, EuZW 2011, 598 (601). 244
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§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
Schließlich würden uneinheitliche Regelungen auf EU- und auf nationaler Ebene in Bezug auf den Zugang zur Akte des Kronzeugen zu einem Risiko der uneinheitlichen Anwendung von Art. 101 und 102 AEUV innerhalb des Europäischen Netzes der Wettbewerbsbehörden führen, worauf auch GA Mazák in seinen Schlussanträgen hinwies248. GA Mazák bezog sich insbesondere auf Kapitel IV der VO 1/2003, das unter dem Titel „Zusammenarbeit“ eine Abweichung vom Prinzip der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten in Form von Vorschriften über die koordinierte und effektive Funktionsweise des Systems der parallelen Zuständigkeiten einführt249. Insbesondere im Hinblick auf das ECN-Modell für Kronzeugenprogramme, das keine bindende Wirkung hat, und auf das Fehlen einer gesetzlichen Regelung auf EU-Ebene wären nationale Regelungen, die die Akteneinsicht Dritter, wie Kartellgeschädigter, in die Kronzeugenakte erlauben, nicht mit den Vorschriften der VO 1/2003 über die Zusammenarbeit zwischen den europäischen Wettbewerbsbehörden vereinbar250.
VI. Das Donau-Chemie-Urteil des EuGH Der EuGH blieb der Pfleiderer-Rechtsprechung auch im Donau-Chemie- Urteil251 treu. Bei diesem Urteil handelte es sich grundsätzlich um die dem EuGH durch das Oberlandesgericht Wien vorgelegte Frage über die Vereinbarkeit von § 39 Abs. 2 des österreichischen Kartellgesetzes (KartG) mit dem EU-Recht im Hinblick auf die Ausführungen im Pfleiderer-Urteil, das eine Abwägung zwischen dem Interesse der Wettbewerbsbehörden an der Nicht-Gefährdung der Effektivität ihrer Kronzeugenprogramme und dem Recht jedermanns, Ersatz des Schadens zu verlangen, der ihm durch einen Wettbewerbsverstoß entstanden ist, verlangt. Diese Regelung sieht Folgendes vor: „In die Akten des Kartellgerichts können am Verfahren nicht als Partei beteiligte Personen nur mit Zustimmung der Parteien Einsicht nehmen“. Der EuGH betonte unter Berufung auf das Pfleiderer-Urteil, dass die nationalen Gerichte im Rahmen der Prüfung des Antrags eines Kartellgeschädigten auf Zugang zu Dokumenten einer Kartellverfahrensakte zwischen dem Offenlegungsinteresse und dem Vertraulichkeitsschutz von Informationen abzuwägen haben252. Eine solche Abwägung sei erforderlich, da jede starre Regel – entweder in Form eines allgemeinen Zugangs zu den Dokumenten der Kartellverfahrensakte oder in Form einer absoluten Verweigerungs des Zugangs zu diesen – die wirksame 248
Vgl. Schlussanträge des GA Mazák, Rs. C-360/09, Rdnr. 24 und 27. Schlussanträge des GA Mazák, Rs. C-360/09, Rdnr. 24. 250 Schlussanträge des GA Mazák, Rs. C-360/09, Rdnr. 27. 251 EuGH, Urteil v. 6.6.2013, Rs. C-536/11, Bundeswettbewerbsbehörde/Donau Chemie u. a., noch nicht veröffentlicht in der amtlichen Sammlung. 252 EuGH, Urteil v. 6.6.2013, Rs. C-536/11, Bundeswettbewerbsbehörde/Donau Chemie u. a., Rdnr. 30. 249
B. Einsicht in die Kronzeugenakte?
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Anwendung von Art. 101 AEUV und von daraus abgeleiteten Rechten (wie das Recht jedermanns Ersatz für durch Wettbewerbsverstöße erlittenen Schaden zu verlangen) beeinträchtigen könnte253. Es könne nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass eine allgemeine Verweigerung des Zugangs zu den Dokumenten der Verfahrensakte den Kartellgeschädigten um seine einzige Möglichkeit bringt, seine Schadensersatzklage zu substantiieren254. Andererseits könnte ein allgemeiner Zugang zur Verfahrensakte schutzwürdigen Interessen wie unter anderem dem öffentlichen Interesse an der Wirksamkeit der Politik zur Ahndung von Wettbewerbsverstößen entgegenwirken255. In Bezug auf die nationalen Kronzeugenprogramme, die Teil der Politik zur Ahndung von Wettbewerbsverstößen sind, stellte der EuGH klar, dass eine pauschale Berufung auf die von der Gewährung von Zugang zur Verfahrensakte ausgehenden Gefahr für die Effektivität solcher Kronzeugenprogramme die Verweigerung des Zugangs nicht zu rechtfertigen vermag256. Die nationale Wettbewerbsbehörde muss vielmehr darlegen, dass es eine Gefahr gibt, dass ein bestimmtes Dokument konkret das öffentliche Interesse an der Wirksamkeit des nationalen Kronzeugenprogramms beeinträchtigen könnte. Nur in einem solchen Fall sei die NichtOffenlegung des Dokumentes gerechtfertigt257. Auf Grundlage dieser Überlegungen stellte der EuGH fest, dass die fragliche Regelung des österreichischen Kartellgesetzes nicht mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz vereinbar sei, da sie dem nationalen Gericht keine Möglichkeit zur Abwägung gab258. Auch wenn der EuGH nicht auf die Ausführungen des GA Jääskinen bezüglich der grundsätzlich nicht zu gewährenden Einsicht bei Kronzeugenerklärungen259 eingeht, stellt das Donau-Chemie-Urteil eine begrüßenswerte Klarstellung der in Pfleiderer propagierten Einzelfallabwägung zwischen dem Interesse des Einzelnen auf Zugang zur Verfahrensakte zur Substantiierung einer Schadensersatzklage und des Schutzes der Wirksamkeit von Kronzeugenprogrammen. Der EuGH stellt klar, dass dringende Gründe des Schutzes der Wirksamkeit von Kronzeugen programmen bei jedem Schriftstück vorliegen müssen, in welches die Einsicht ver 253 EuGH, Urteil v. 6.6.2013, Rs. C-536/11, Bundeswettbewerbsbehörde/Donau Chemie u. a., Rdnr. 31. 254 EuGH, Urteil v. 6.6.2013, Rs. C-536/11, Bundeswettbewerbsbehörde/Donau Chemie u. a., Rdnr. 32. 255 EuGH, Urteil v. 6.6.2013, Rs. C-536/11, Bundeswettbewerbsbehörde/Donau Chemie u. a., Rdnr. 33. 256 EuGH, Urteil v. 6.6.2013, Rs. C-536/11, Bundeswettbewerbsbehörde/Donau Chemie u. a., Rdnr. 46. 257 EuGH, Urteil v. 6.6.2013, Rs. C-536/11, Bundeswettbewerbsbehörde/Donau Chemie u. a., Rdnr. 48. 258 EuGH, Urteil v. 6.6.2013, Rs. C-536/11, Bundeswettbewerbsbehörde/Donau Chemie u. a., Rdnr. 49. 259 Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen vom 7. Februar 2013, Rs. C-536/11, Bundeswettbewerbsbehörde/Donau Chemie u. a., noch nicht veröffentlicht in der amtlichen Sammlung, Rdnr. 55.
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§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
weigert wird260. Es bleibt allerdings offen, wann eine Gefahr der Beeinträchtigung nationaler Kronzeugenprogramme nicht mehr allgemein und latent ist, sondern konkret wird. Das dürfte nach hier vertretener Auffassung bei einer potenziellen Offenlegung von Kronzeugenerklärungen der Fall sein.
VII. Ausblick – Lösungsansatz Die Urteile in den Rs. Pfleiderer und Donau Chemie haben zu einer Lage bezüglich der Möglichkeit der Offenlegung von Kronzeugeninformationen geführt, die Ähnlichkeiten zur Lage im US-amerikanischen Rechtssystem aufweist. Dort muss das Bezirksgericht („trial court“) die Argumente für und gegen die Anordnung der Offenlegung von Kronzeugenanträgen, die bei der Kommission eingereicht wurden, in jedem einzelnen Fall abwägen261. Entgegen Auffassungen in der Literatur, dass das AG Bonn Pfleiderer Einsicht in die Kronzeugenakte des Bundeskartellamts gewähren und dadurch die Bedeutung Deutschlands als Forum für kartellrechtliche Schadensersatzklagen stärken würde262, hat das AG Bonn mit Beschluss vom 18.1.2012 Pfleiderer eine Einsicht in die Bonusanträge der Kronzeugen im Dekorpapierkartell verweigert, weil eine Einsicht die Attraktivität des Kronzeugenprogramms des Bundeskartellamts und somit die Effektivität der Durchsetzung des Wettbewerbsrechts gefährden würde263. Dennoch gab das AG Bonn dem Antrag von Pfleiderer teilweise statt, indem es das Bundeskartellamt anordnete, Pfleiderer Einsicht in nicht-vertrauliche Fassungen sämtlicher vom Bundeskartellamt sichergestellten Asservate zu gewähren264. Auf EU-Ebene und in den Mitgliedstaaten, die über ein kartellrechtliches Kronzeugenprogramm verfügen, ist nach den EuGH-Urteilen in Pfleiderer und Donau Chemie mit einer Zunahme der Anträge potenzieller Kartellgeschädigter auf Einsicht in die Kronzeugenakte zu rechnen. Insbesondere ist zu erwarten, dass die uneinheitlichen Kronzeugen- und Akteneinsichtsregelungen zu einem ForumShopping von kartellgeschädigten Unternehmen zu Gunsten von solchen Rechtsordnungen führen wird, die eine Einsicht in die Kronzeugenakte erlauben265. Wegen des Fehlens einer europarechtlichen Regelung, die die Frage der Offenlegung von Informationen, die von Kronzeugen vorgelegt wurden, abschließend und ein 260
EuGH, Urteil v. 6.6.2013, Rs. C-536/11, Bundeswettbewerbsbehörde/Donau Chemie u. a., Rdnr. 47. 261 Temple-Lang, Competition Law Insight, Juli 2011, 3 (4). 262 Seitz, EuZW 2011, 598 (602). 263 AG Bonn v. 18.1.2012, Az: 51 Gs 53/09, abrufbar unter www.juris.de; siehe auch die Pressemitteilung des Bundeskartellamts v. 30.1.2012, abrufbar unter http://www.bundeskartell amt.de/wDeutsch/download/pdf/Presse/2012/2012-01-30_PM_Pfleiderer-neu.pdf. 264 AG Bonn v. 18.1.2012, Az: 51 Gs 53/09, abrufbar unter www.juris.de. 265 Vandenborre/Blanco Thomas, ECLR 2011, 488 (489).
C. Fazit
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heitlich für alle Rechtsordnungen regelt, wird die Unsicherheit der an den Kronzeugenprogrammen Beteiligten bezüglich des Schicksals von sie belastenden und von ihnen selbst vorgelegten Informationen wachsen. Das könnte die Inanspruchnahme der Kronzeugenprogramme durch die Unternehmen weniger attraktiv machen266. Ferner ist zu erwarten, dass die Urteile in Pfleiderer und in Donau Chemie die Bereitschaft der Akteneinsicht-Begehrenden etwaige ablehnende Entscheidungen der Kommission vor dem EuG anzufechten verstärken wird267. Um unterschiedliche Standards der Akteneinsicht in den einzelnen EU-Mitglied staaten zu vermeiden, die sich unausweichlich wegen der Unterschiede der nationalen Rechtsordnungen ergeben werden, wäre eine gesetzliche Regelung der Einsicht in die Kronzeugenakte einer Wettbewerbsbehörde auf EU-Ebene die erstrebenswerte Lösung. Nach hier vertretener Ansicht sollte die einzuführende Regelung das Akteneinsichtsrecht Dritter in Unternehmenserklärungen („corporate statements“) zu Gunsten des effet-utile der Kronzeugenprogramme und der NichtGefährdung der öffentlichen Durchsetzung des Wettbewerbsrechts einschränken. Trotzdem sollte die einzuführende Regelung im Einklang mit dem Recht jedermanns auf Ersatz des Schadens aus einem Wettbewerbsverstoß stehen268, wie es in den EuGH-Urteilen Courage und Manfredi festgelegt wurde.
C. Fazit Unternehmen, die Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte sind, sind ab dem Moment des Erhalts der Mitteilung Träger eines umfassenden Rechts auf Einsicht in die kartellrechtliche Akte der Kommission. Dieses Recht, das sowohl in der Europäischen Grundrechtecharta als auch im EU-Sekundärrecht niedergelegt ist, formt eine Teilerscheinung des Anhörungsrechts und gehört zu den Verfahrensgrundrechten. Der Hauptbeteiligte im kartellrechtlichen Verfahren hat gemäß Art. 27 Abs. 2 VO 1/2003 ein Recht auf Einsicht in alle Dokumente der Kommissionsakte. Darunter fallen alle be- und entlastenden Dokumente mit Ausnahme solcher, die Geschäftsgeheimnisse oder vertrauliche Informationen beinhalten oder die interne Schriftstücke der Kommission darstellen. Der Schutz von Geschäftsgeheimnissen hat auch grundrechtliche Qualität und wird besonders geachtet, nicht zuletzt, weil er einen großen Beitrag zum Erfolg des Kronzeugenprogramms und dadurch zur Ahndung von Wettbewerbsverstößen leistet. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Vertraulichkeitsschutz nicht zurücktreten kann, falls es für die Begründung von Beschwerden gegen Unternehmen 266
So Temple-Lang, Competition Law Insight, Juli 2011, 3 (4). Vgl. Mäger/Zimmer/Milde, WuW 2011, 942. 268 Temple-Lang, Competition Law Insight, Juli 2011, 3 (4). 267
310
§ 7 Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht § 7Das Akteneinsichtsrecht im EU-Kartellverfahrensrecht
notwendig ist. Die Kommission ist in einem solchen Fall bemüht, die aufeinander treffenden Interessen in Einklang zu bringen, indem sie nicht vertrauliche Fassungen von Unterlagen offenlegt. Der Schutz von nicht einsehbaren Dokumenten wird durch die Einbeziehung des Anhörungsbeauftragten und des Gerichts erster Instanz noch mehr gestärkt. Für jeden Verstoß der Kommission gegen den Vertraulichkeitsschutzgrundsatz bleibt den Unternehmen der Weg der Schadensersatzklage gemäß Art. 340 AEUV offen.
§ 8 Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht A. Der Ne bis in idem-Grundsatz als Ausfluss der Rechtssicherheit Der Ne bis in idem-Grundsatz stellt eine wesentliche Grundlage des Rechtsstaats dar. Er gehört zu den allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts sowie zu den in der Europäischen Grundrechtecharta verankerten Grundrechten (Art. 50)1. Obwohl der materiell rechtliche Gehalt und der Anwendungsbereich dieses Grundrechts in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen teilweise unterschiedlich ausfällt2, besteht der Kerngehalt dieses aus dem römischen Recht stammenden Grundsatzes darin, dass keine Person aufgrund einer Straftat, wegen der sie bereits rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden darf. Der Ne bis in idem-Grundsatz erfüllt einen doppelten Zweck. Einerseits bietet er einer Person Rechtsschutz gegen den staatlichen jus puniendi an, im Falle, dass diese Person bereits verfolgt und rechtskräftig bestraft oder freigesprochen wurde. Andererseits gewährleistet er die Rechtssicherheit und die Achtung des res judicata3. Somit weist der Ne bis in idem-Grundsatz eine Doppelfunktion als objektiver Verfahrenssatz und zugleich als subjektives Justizgrundrecht des Einzelnen auf.4 Das Verbot der Mehrfachbestrafung weist im Allgemeinen keine transnationale bzw. internationale Geltung auf. Mit Ausnahme von Art. 50 GRCH und Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (im Folgenden: SDÜ), die die Geltung des Ne bis in idem-Prinzips auf die ganze EU erstrecken, beschränken die Vorschriften anderer Grundrechtsschutzinstrumenten, wie zum Beispiel Art. 14 VII des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (im Folgenden: „IPbpR“) und Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention (im Folgenden: „7. ZP-EMRK“), seinen Anwendungsbereich
1
Siehe EuGH, Urteil v. 15.3.1967, Rs. 18/65 und 35/65, Gutmann/Kommission, Slg. 1966, 154, 178, Urteil v. 15.10.2002, Rs. C-238/99 P, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, Slg. 2002, I-8375, Rdnr. 59, EuG, Urteil v. 29.4.2004, Rs. T-236/01, Tokai Carbon u. a./ Kommission, Slg. 2004, II-1181, Rdnr. 130. 2 Eilmansberger, EWS 2004, 49 (50). 3 Wasmeier/Thwaites, ELRev 2006, 565 (565 f.). Siehe auch Luchtman, SEW 2011, 281 (282). 4 Siehe in Bezug auf den Charakter des Ne bis in idem als Justizgrundrecht Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), Art. 6 EUV, Rdnr. 31.
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§ 8 Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht § 8Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht
auf den innerstaatlichen Bereich5. Die fehlende transnationale Wirkung des Verbots der Mehrfachbestrafung liegt daran, dass es keinen allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz gibt, der es Behörden oder Gerichten unterschiedlicher Staaten untersagt, eine Person wegen derselben Tat zu verfolgen und zu sanktionieren6. Andererseits weisen Wettbewerbsverstöße oft (nicht zuletzt wegen der Vernetzung der globalen Wirtschaft und der internationalen Aktivität von Unternehmen) Auswirkungen in mehreren Ländern auf. Aus diesem Grund sehen viele Rechtsordnungen für ihre wettbewerbsrechtlichen Regelungen eine extraterritoriale Erweiterung ihres Anwendungsbereichs vor7. Somit werden von den Wettbewerbsregeln einer nationalen Rechtsordnung nicht nur die Zuwiderhandlungen erfasst, die von Unternehmen mit Sitz im Land dieser Rechtsordnung begangen wurden, sondern auch Verstöße von Unternehmen mit Sitz in einem Drittstaat, die sich auf dieses Land auswirken. Das führt dann zwangsläufig zu einer Überschneidung von nationalen Ermittlungs- und Sanktionsbefugnissen, die angesichts der fehlenden allgemeinen transnationalen Wirkung des Ne bis in idem-Grundsatzes die Gefahr einer mehrfachen kartellrechtlichen Sanktion für die Unternehmen erhöht8. Es stellt sich die Frage, inwieweit die rechtskräftige Aburteilung eines Sachverhalts in einer Jurisdiktion die erneute Verfolgung desselben Wettbewerbsverstoßes in einer anderen Rechtsordnung ausschließt.
B. Die Quellen des Ne bis in idem-Grundsatzes in der EU-Rechtsordnung I. Art. 50 GRCH Art. 50 GRCH statuiert das Recht jedes EU-Bürgers, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden. Die Vorschrift enthält somit eine grundlegende rechtsstaatliche Vorgabe für das Strafverfahren, die auch in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gilt, und statuiert gleichzeitig ein einklagbares Recht9. Obwohl die Europäische Union über eine wenig ausgeprägte Kompetenz im Bereich des Strafrechts verfügt, ist die Geltung des Ne bis in idem-Grundsatzes entscheidend für die Errichtung und die reibungslose Funktion des Binnenmarkts, da sonst sein Fehlen sich negativ auf die Inanspruchnahme der Grundfreiheiten des EU-Rechts auswirken würde10. 5 So Kyritsaki, Armenopoulos 2009, 337 (337). In Bezug auf die EMRK siehe auch MeyerLadewig, Art. 4 Prot. Nr. 7 EMRK, Rdnr. 2. 6 de Bronett, Art. 23, Rdnr. 18; Ryngaert, SEW 2006, 441. 7 Die diesbezügliche Regelung des deutschen Wettbewerbsrechts ist in § 130 Abs. 2 GWB enthalten. 8 Vgl. auch Kuck, WuW 2002, 689 (689). 9 Jarass, § 42, Rdnr. 24. 10 So Wasmeier/Thwaites, ELRev 2006, 565 (567).
B. Die Quellen des Ne bis in idem-Grundsatzes in der EU-Rechtsordnung
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Das europäische Ne bis in idem entfaltet sowohl eine horizontale Wirkung zwischen den Verfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten als auch eine vertikale Wirkung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten11. Art. 50 GRCH schützt aber nicht vor einer Doppelverfolgung oder Doppelbestrafung in Fällen, in denen die eine Verfolgungsbehörde ihren Sitz in der EU und die andere in einem Drittstaat hat. Bis auf die durch das Verbot der Doppelbestrafung Verpflichteten (die Charta-Vorschrift gilt für alle EU-Mitgliedstaaten) entspricht die Chartavorschrift Art. 4 des 7. ZP-EMRK12. Daraus ergibt sich, dass Art. 50 GRCH dieselbe Reichweite wie Art. 4 des 7. ZP-EMRK hat und somit nicht nur auf Strafen stricto sensu, sondern auch auf strafrechtsähnliche Sanktionen, wie die Bußgelder im EUKartellverfahren, anwendbar ist13. Gemäß Art. 50 GRCH findet der Ne bis in idem-Grundsatz nicht nur innerhalb der Gerichtsbarkeit eines Staates, wie das der Fall mit Art. 4 Prot. des 7. ZPEMRK ist, sondern auch zwischen den Gerichtsbarkeiten mehrerer Mitgliedstaaten Anwendung. Dieser Grundsatz entspricht und entspringt dem Acquis communautaire. Die Vorschrift statuiert aber kein absolutes Verbot der Doppelverfolgung- und Bestrafung. Die Eingriffsmöglichkeiten in dieses Recht werden von der horizontalen Klausel des Artikels 52 Abs. 1 der Charta abgedeckt. Dem ersten Anschein nach spielt Art. 50 GRCH keine Rolle im europäischen Verwaltungsverfahren und dementsprechend auch nicht im Kartellrechtsverfahren, da sich diese Vorschrift gemäß ihrem Wortlaut ausdrücklich auf „Straftaten“ und „Strafverfahren“ bezieht. Dieser Eindruck könnte durch die Erläuterungen des Präsidiums verstärkt werden, in denen von „durch ein Strafgericht verhängten Strafen“ die Rede ist14. Gegen diesen Eindruck sprechen sowohl die Rechtsprechung des EuGH als auch die des EGMR, die zu berücksichtigen ist, da sich der Konvent bei der Erarbeitung dieser Chartavorschrift auf Art. 4 des 7. ZPEMRK gestützt hat15. Die Unionsgerichte haben den Ne bis in idem-Grundsatz oft auch auf das EU-Sanktionsrecht, insbesondere im Fall der Verhängung eines Bußgelds, angewandt16. Das EuG hat sich dabei ausdrücklich auf Art. 50 GRCH
11
Siehe auch die Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents, ABl. 2004 C 310/453, sowie Jarass, § 42, Rdnr. 31. 12 Siehe die Erläuterung zu Art. 50, die in den aktualisierten Erläuterungen zur Charta der Grundrechte beinhaltet ist, wie sie zusammen mit der Charta in der Fassung vom 12. Dezember 2007 verkündet wurden (ABl. EU Nr. C 303, S. 1). 13 Luchtman, SEW 2011, 281 (288). 14 Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents, ABl. 2004 C 310/453. 15 Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents, ABl. 2004 C 310/458. 16 EuGH, Urteil v. 15.10.2002, verb. Rs. C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P und C-254/99 P, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, Slg. 2002, I-8375, Rdnr. 59; EuG, Urteil v. 20.4.1999, verb. Rs. T-305/94, T-306/94, T-307/94, T-313/94 bis T-316/94, T-318/94, T-325/94, T-328/94, T-329/94 und T-335/94, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, Slg. 1999, II-931, Rdnr. 96; Urteil v. 20.3.2002, Rs. T-17/99, KE KELIT Kunststoffwerk GmbH/Kommission, Slg. 2002, II-1647, Rdnr. 111.
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§ 8 Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht § 8Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht
gestützt17, da die Charta bereits vor ihrer Verrechtlichung durch den Vertrag von Lissabon eine Ausstrahlungsfunktion hatte. Die Geltung des Mehrfachbestrafungverbots in strafrechtsähnlichen Verfahren wurde auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in einer Reihe von Urteilen bestätigt, die fast ausnahmslos Verkehrsverstöße betrafen18. Deswegen ist die in Art. 23 VO 1/2003 vorgenommene Klärung über den nicht strafrechtlichen Charakter der Bußgeldentscheidungen der Kommission nicht maßgeblich für die Anwendung des Ne bis in idem-Grundsatzes auf kartellrechtliche Verfahren vor der Kommission. Der Ne bis in idem-Grundsatz gehört zu den Verfahrensgrundrechten der Parteien im Kartellrechtverfahren19. Maßgeblich für die Geltung rechtsstaatlicher Garantien ist nicht die Bezeichnung einer staatlichen Maßnahme, sondern allein ihr (ggf. strafender) Charakter). Art. 50 GRCH könnte durch das grundsätzliche Verbot mehrfacher Verfolgung die effektive Koordinierung der Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den nationalen Kartellbehörden im Rahmen des ECN, des europäischen Netzes der Wettbewerbsbehörden, sowie die Harmonisierung von Kronzeugenregelungen und Bußgeldpolitiken fördern20.
II. Art. 54 SDÜ 1. Der materiellrechtliche Gehalt der Vorschrift Im Gegensatz zum IPbpR und zur EMRK, die lediglich eine innerstaatliche Geltung des Ne bis in idem-Grundsatzes gewährleisten, entfalten die diesbezüglichen Regelungen auf EU-Ebene, Art. 50 GRCH und Art. 54 SDÜ21, eine transnationale Wirkung und erfassen die Verfolgung oder Sanktionierung derselben Tat von zwei verschiedenen Mitgliedstaaten. Art. 54 SDÜ lautet: 17
EuG, Urteil v. 9.7.2003, Rs. T-223/00, Kyowa Hakko Kogyo Co. Ltd und Kyowa Hakko Europe GmbH/Kommission, Slg. 2003, II-2553, Rdnr. 104; Urteil v. 29.4.2004, verb. Rs. T-236/01, T-239/01, T-244/01 bis T-246/01, T-251/01 und T-252/01, Slg. 2004, II-1181, Rdnr. 137. 18 EGMR, Urteil v. 21.2.1984, Beschwerdenr. 8544/79, Özturk./.Germany, Ziff. 52; Urteil v. 29.5.2001, Beschwerdenr. 37950/97, Franz Fischer./.Österreich, Ziff. 25–29. 19 Schlussanträge des GA Ruiz-Jarabo Colomer, Rs. C-187/01 und C-385/01, Gözütok und Brügge, Slg. 2003, I-1345, Rdnr. 45 ff., 57; Schlussanträge des GA Ruiz-Jarabo Colomer, Rs. C-213/00 P, Italcementi – Fabbriche Riunite Cemento SpA/Kommission, Slg. 2004, I-230, 256 ff., Rdnr. 96, und Rs. C-217/00 P, Buzzi Unicem SpA/Kommission, Slg. 2004, I-230, 267, 312 ff., Rdnr. 170 ff. 20 Wils, World Compet. 2003, 131 (148). 21 Schengen-Besitzstand – Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, ABl. L 239 vom 22.9.2000, S. 19.
B. Die Quellen des Ne bis in idem-Grundsatzes in der EU-Rechtsordnung
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„Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“
Das Schengener Durchführungsübereinkommen wurde ursprünglich als ein völkerrechtliches Rechtsinstrument außerhalb des Rahmens des damaligen Gemeinschaftsrechts konzipiert und nur von einigen EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet22. Mit dem Amsterdamer Vertrag wurde der Schengener Besitzstand Bestandteil des EU-Rechts, da es in den Titel VI über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit des EUV eingegliedert wurde, und dementsprechend bindend nicht nur für die Schengen-Unterzeichnerstaaten, sondern auch für alle EU-Mitgliedstaaten23. Ferner redet die SDÜ-Vorschrift von „Sanktion“, während in Art. 50 GRCH die Begriffe „Straftat“ und „Strafverfahren“ benutzt werden. Daraus könnte man schließen, dass eine grammatikalische Auslegung einer Ausweitung der Wirkung des in Art. 54 SDÜ enthaltenen Rechtsgrundsatzes auch auf das Gebiet des EU-Kartellrechts nicht entgegensteht. Auf der anderen Seite wird das Verbot der Doppelbestrafung im SDÜ unter gewissen Vorbehalten gewährleistet24, was in Bezug auf die Verbürgung desselben Rechtsgrundsatzes in der Grundrechtecharta nicht der Fall ist. 2. Die Auslegung des Art. 54 SDÜ durch den EuGH Der EuGH hatte in mehreren Fällen die Gelegenheit, sich mit der Auslegung des in Art. 54 SDÜ statuierten Ne bis in idem-Grundsatzes zu befassen. Dabei lieferte er einige Grundsatzentscheidungen, die die Reichweite dieses Prinzips festlegen, den Begriff derselben Tat weit auslegen und die Entwicklung des Ne bis in idem-Postulats von einem Verfahrensrecht zu einem transnationalen Grundrecht konsolidieren25. Bereits die Aufwertung des Prinzips von einem innerstaatlichen Rechtsgrundsatz zu einem transnationalen Gebot stellt einen qualitativen Fortschritt dar. Die de lege lata Ausweitung der Reichweite des Prinzips rationae materiae, so dass es vollwertig in strafrechtsähnlichen Verfahren angewandt wird, wäre der nächste erforderliche Schritt. Das erste Urteil, in dem sich der EuGH zum Ne bis in idem-Grundsatz im Sinne des SDÜ äußerte, war der Fall Gözütok und Brügge26. Dieses Urteil geht auf ein 22 Die ursprünglichen Signataren waren die BENELUX-Staaten, die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. 23 Obschon das Vereinigte Königreich und Irland das Schengener Durchführungsübereinkommen nicht unterzeichnet haben, haben sie die Geltung von dessen Art. 54–58 in ihren Rechtsordnungen akzeptiert. Ferner findet das SDÜ dank der entsprechenden Assoziierungsübereinkommen in Norwegen und Island Anwendung. 24 Siehe Art. 55–58 SDÜ. 25 Wasmeier/Thwaites, ELRev 2006, 565 (567). 26 EuGH, Urteil v. 11.2.2003, verb. Rs. C-187/01 und 385/01, Gözütok und Brügge, Slg. 2003, I-1345.
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§ 8 Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht § 8Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht
Vorabentscheidungsersuchen auf Grundlage des (nunmehr aufgehobenen) Art. 35 EUV zurück. Im Ausgangsverfahren handelte es sich um die Frage, inwieweit Art. 54 SDÜ es verbiete, dass eine Person von einem Mitgliedstaat wegen derselben Tat verfolgt wird, in Bezug auf die schon das Verfahren in einem anderen Mitgliedstaat auf Grundlage einer Staatsanwaltsentscheidung ausgesetzt worden war. Der EuGH bejahte die Frage und stellte klar, dass für die Geltung des Ne bis in idem-Prinzips nicht unbedingt ein Gerichtsurteil notwendig sei, sondern dass es auch genüge, dass das Verfahren aufgrund der Entscheidung einer Behörde ausgesetzt wurde, die dazu befugt ist, eine Rolle in der Verwaltung der Strafjustiz der betroffenen nationalen Rechtsordnung zu spielen27. Der EuGH folgte dem Cassis de Dijon-Ansatz der gegenseitigen Anerkennung, indem er urteilte, dass, wenn eine weitere Verfolgung aufgrund des nationalen Rechts des Staates der ersten Entscheidung ausgeschlossen ist, diese Folge für alle Mitgliedstaaten gelten sollte28. Die Wichtigkeit des Urteils „Gözütok und Brügge“ liegt darin, dass es nicht nur die immanente Verknüpfung zwischen dem Ne bis in idem-Grundsatz und der Freizügigkeit zum Ausdruck bringt, sondern auch darin, dass der EuGH in diesem Urteil betonte, dass seine Auslegung von Art. 54 SDÜ die einzige sei, die dem Zweck und dem Effet-utile von Art. 54 SDÜ gerecht wird29. Ferner ergibt sich aus dem Gözütok und Brügge-Urteil, dass Art. 54 SDÜ auch ohne gerichtliche Erstentscheidung, die den Fall aburteilt, anwendbar sein kann30. Eine weitere Etappe in der Auslegung des Ne bis in idem-Grundsatzes stellte die Entscheidung „Van Esbroeck31“ im Jahr 2006. In diesem Fall präzisierte der EuGH den zeitlichen Anwendungsbereich des Ne bis in idem-Prinzips, indem er feststellte, dass der Ne bis in idem-Grundsatz auch in solchen Fällen einschlägig sei, in denen ein Strafverfahren gegen eine Person für Taten eröffnet wird, für die sie schon in einem anderen Staat verurteilt wurde, auch wenn im Zeitpunkt der Verurteilung das SDÜ noch nicht in Kraft getreten war und im Zeitpunkt der Eröffnung des zweiten Verfahrens das SDÜ galt32. Bezüglich des Begriffs „idem“ stellte der EuGH fest, dass der Begriff „dieselbe Tat“ als die Identität der materiellen Handlungen, als das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen zu verstehen sei. Eine Gleichheit der rechtlichen Qualifizierung dieser Taten in den verschiedenen Mitgliedstaaten oder eine Gleichheit des geschützten rechtlichen Interesses sei nicht
27
EuGH, Urteil v. 11.2.2003, verb. Rs. C-187/01 und 385/01, Gözütok und Brügge, Slg. 2003, I-1345, Rdnr. 28. 28 EuGH, Urteil v. 11.2.2003, verb. Rs. C-187/01 und 385/01, Hüseyin Gözütok und Klaus Brügge, Slg. 2003, I-1345, Rdnr. 30, 33, 34 und 40. 29 EuGH, Urteil v. 11.2.2003, verb. Rs. C-187/01 und 385/01, Gözütok und Brügge, Slg. 2003, I-1345, Rdnr. 35. 30 Stein, NJW 2003, 1162 (1164). 31 EuGH, Urteil v. 9.3.2006, C-436/04, Van Esbroeck, Slg. 2006, I-2333. 32 EuGH, Urteil v. 9.3.2006, C-436/04, Van Esbroeck, Slg. 2006, I-2333, Rdnr. 43.
B. Die Quellen des Ne bis in idem-Grundsatzes in der EU-Rechtsordnung
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erforderlich33. Der EuGH bekräftigte seine Feststellung durch einen Vergleich mit dem unterschiedlichen Wortlaut von entsprechenden Vorschriften völkerrechtlicher Rechtsinstrumente, wie zum Beispiel Art. 4 des 7. ZP-EMRK, der den Begriff „Straftat“ verwendet. Aber auch der EGMR kam bei der Auslegung von Art. 4 des 7. ZP-EMRK zum Ergebnis, dass das „idem“ sich auf die „wesentlichen Elemente“ der Tat und nicht auf die rechtliche Qualifikation dieser Tat bezieht34. Nach dem Verständnis des EuGH steht also die der Natur der EU inhärente Vielfalt der rechtlichen Qualifikationen einer Tat der einheitlichen Anwendung des Ne bis in idem-Grundsatzes nicht entgegen35. Um für mehr Rechtssicherheit im Binnenmarkt zu sorgen, legte der EuGH das Ne bis in idem-Prinzips weit aus36. Im Jahr 2006 verkündete der EuGH noch ein Urteil zum in Art. 54 SDÜ statuierten Verbot der Mehrfachbestrafung wegen derselben Tat37. Der EuGH entschied, dass das Ne bis in idem auch auf die Entscheidung des Gerichts eines Mitgliedstaats Anwendung findet, mit der ein Angeklagter rechtskräftig wegen Verjährung der Straftat freigesprochen wurde. Das Ne bis in idem-Prinzip gelte in diesem Fall ungeachtet des Mangels einer Harmonisierung oder Angleichung der mitgliedstaatlichen Verjährungsregeln, da die Anwendung von Art. 54 SDÜ nicht von einer solchen Harmonisierung abhängig gemacht werde dürfe38. Der EuGH hat seine Feststellung vom „Van Esbroeck“-Urteil wiederholt, dass nämlich der Ne bis in idem-Grundsatz das Bestehen eines gegenseitigen Vertrauens der Vertragsstaaten in ihre jeweilige Strafjustizsysteme voraussetzt und dass jeder von ihnen die Anwendung des in anderen Mitgliedstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Durchführung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde39. In seinem Urteil vom 18.7.2007 im Fall „Kraaijenbrink“40 bestätigte der EuGH seine bisherige Rechtsprechung betreffend die Auslegung des Begriffs „derselben Tat“ im Sinne von Art. 54 SDÜ, der als ein Komplex konkreter Umstände verstanden wird, die in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbunden sind. Dabei präzisierte der EuGH, dass verschiedene Taten nicht schon deshalb als „dieselbe Tat“ im Sinne von Art. 54 SDÜ zu betrach 33
EuGH, Urteil v. 9.3.2006, Rs. C-436/06 Van Esbroeck, Slg. 2006, I-2333, Rdnr. 27, 30 und
35.
34 EGMR, Urteil v. 29.5.2001, Beschwerdenr. 37950/97, Franz Fischer./.Austria, Ziff. 25, 29 und 31. 35 Wasmeier/Thwaites, ELRev 2006, 565 (573). 36 So Kühne, JZ 2006, 1019 (1020). 37 EuGH, Urteil v. 28.9.2006, Rs. C-467/04, Giuseppe Francesco Gasparini u. a., Slg. 2006, I-9199. 38 EuGH, Urteil v. 28.9.2006, Rs. C-467/04, Giuseppe Francesco Gasparini u. a., Slg. 2006, I-9199, Rdnr. 29 und 31. 39 EuGH, Urteil v. 28.9.2006, Rs. C-467/04, Giuseppe Francesco Gasparini u. a., Slg. 2006, I-9199, Rdnr. 30. 40 EuGH, Urteil v. 18.7.2007, Rs. C-367/05, Kraaijenbrink, Slg. 2007, I-6619.
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§ 8 Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht § 8Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht
ten sind, weil ein nationales Gericht feststellt, dass diese Taten durch einen einheitlichen Vorsatz verbunden sind41. Die Vorschriften des SDÜ zum Ne bis in idem-Prinzip finden keine direkte Anwendung auf das EU-Kartellverfahren, weil sie sich nur auf das Strafrecht stricto sensu beziehen42. Art. 54 SDÜ ist jedoch auch auf Bußgelder anwendbar, da in seinem Wortlaut von einer „Sanktion“ die Rede ist43. Die zu Art. 54 SDÜ ergangene EuGH-Rechtsprechung, die besonders verfolgtenfreundlich ist44, hat eine gewisse Ausstrahlungsfunktion auf die Auslegung des Ne bis in idem-Grundsatzes in anderen Bereichen des EU-Rechts, nicht zuletzt deswegen, weil das im SDÜ statuierte Ne bis in idem für das gesamte EU-Territorium gilt und somit eine transnationale Wirkung aufweist. Das in Art. 54 SDÜ verankerte Ne bis in idem stellt also eine Norm dar, die eine mehrfache Verfolgung und Sanktionierung derselben Tat (desselben Sachverhalts) innerhalb der EU verbietet45.
III. Die EuGH-Rechtsprechung Bereits vor der Proklamierung der Charta der Grundrechte und vor dem Inkrafttreten des SDÜ war das Verbot der Mehrfachbestrafung wegen derselben Straftat bereits von der Rechtsprechung anerkannt. Der EuGH erkennt in ständiger Rechtsprechung an, dass das Ne bis in idem-Prinzip zu den allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts zählt, der in wettbewerbsrechtlichen Verfahren, die auf die Verhängung von Geldbußen gerichtet sind, zu beachten ist46. Als Rechtserkenntnisquelle für das europäische Ne bis in idem zog der EuGH Art. 4 Abs. 1 7. ZP-EMRK heran47.
41
EuGH, Urteil v. 18.7.2007, Rs. C-367/05, Kraaijenbrink, Slg. 2007, I-6619, Rdnr. 36. Luchtman, SEW 2011, 281 (283). 43 So Böse, EWS 2007, 202 (205 f.). 44 So ausdrücklich Böse, EWS 2007, 202 (204). 45 Luchtman, SEW 2011, 281 (286). 46 Siehe aus der neueren Rechtsprechung EuGH, Urteil v. 14.2.2012, Rs. C-17/10, Toshiba Corporation u. a./Úřad pro ochranu hospodářské soutěže, veröffentlicht in der digitalen Sammlung, Rdnr. 94; Urteil v. 29.6.2006, Rs. C-289/04 P, Showa Denko KK/Kommission („Grafitelektroden“), Slg. 2006, I-5859, Rdnr. 50. 47 Siehe beispielsweise EuGH, Urteil v. 15.10.2002, verb. Rs. C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P und C-254/99 P, Limburgse Vinyl Maatschappij NV (LVM) u. a./Kommission, Slg. 2002, I-8375, Rdnr. 59. Siehe auch Klees, WuW 2006, 1222 (1223). 42
C. Das Ne bis in idem in der EMRK – Art. 4 des 7. ZP-EMRK
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C. Das Ne bis in idem in der EMRK – Art. 4 des 7. ZP-EMRK I. Inhalt des Art. 4 Abs. 1 7. ZP-EMRK und Geltung in den EMRK-Signatarstaaten In der EMRK wird das Verbot der Doppelbestrafung in Art. 4 Abs. 1 des 7. Zusatzprotokolls geregelt. Diese Vorschrift sieht Folgendes vor: „1. Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden. 2. Absatz 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist.“
Der in der EMRK verankerte Ne bis in idem-Grundsatz gilt nur für Strafverfahren in einem und demselben Staat48. Obwohl sämtliche EU-Mitgliedstaaten Vertragsparteien der EMRK sind, haben nur 24 von ihnen das 7. ZP-EMRK ratifiziert49. Angesichts der Gewährleistung des Ne bis in idem auch durch Art. 50 GRCH kann die Qualität des Verbots der Doppelbestrafung als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts nicht bezweifelt werden50. Ferner ist für die Anerkennung der Geltung eines Grundrechts als allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts nicht erforderlich, dass es in sämtlichen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen garantiert ist und denselben materiell rechtlichen Gehalt aufweist. Der EuGH geht allerdings von einer weiten Auslegung des Begriffs „Verfassungstradition“ aus und orientiert sich an den Zweck und die Effektivität des Unionsrechts, um die Reichweite der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts festzulegen. Aus diesen Gründen ist für die Bindungswirkung des Ne bis in idem-Prinzips im EU-Recht unerheblich, dass nicht alle EU-Mitgliedstaaten das 7. ZP-EMRK ratifiziert haben. Darüber hinaus hat der EuGH bereits festgestellt, dass „das Ne bis in idem-Prin-
48 EKMR, Entscheidung v. 21.10.1993, DR 75, 127 Nr. 3 – Baragiola./.Schweiz. Das Verbot der Doppelbestrafung wegen derselben Straftat ist kein universelles Rechtsprinzip und wird deswegen auf internationaler Ebene zumeist durch besondere (sowohl bilaterale als auch multilaterale) völkerrechtliche Übereinkommen geregelt. Die transnationale Wirkung des Verbots der Doppelbestrafung wird auf EU-Ebene einerseits durch Art. 50 EGC und andererseits durch Art. 54–58 des Schengener Durchführungsübereinkommens (im Folgenden: SDÜ) garantiert. 49 Siehe die Liste unter http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ChercheSig.asp?NT=117 &CM=8&DF=&CL=ENG, zuletzt aufgerufen am 6.10.2012. Deutschland und die Niederlande haben das Protokoll unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert. Das Vereinigte Königreich hat das Protokoll nicht unterzeichnet. 50 So Wils, World Compet. 2003, 131 (133).
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§ 8 Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht § 8Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht
zip zu den fundamentalen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts zählt, das auch in Art. 4 Abs. 1 des 7. Zusatzprotokolls der EMRK niedergelegt ist“51.
II. Anwendbarkeit des Art. 4 Abs. 1 7. ZP-EMRK auch auf strafrechtsähnliche Sanktionen Dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 7. ZP-EMRK könnte entnommen werden, dass die Konvention nur das Recht gewährleistet, nicht zwei Mal wegen derselben Straftat verfolgt oder bestraft zu werden. Der Begriff „Straftat“ sollte aber nicht eng, sondern eher in der weiten Fassung verstanden werden, die der EGMR auf Grundlage einer autonomen Auslegung von Art. 6 EMRK für den Begriff „strafrechtliche Anklage“ entwickelte und gemäß der auch strafrechtsähnliche Verfahren von Art. 6 EMRK erfasst werden52. Diese Auslegung des Verbots der Doppelbestrafung vom EGMR erweist sich als besonders interessant und wichtig auch für den hier untersuchten Bereich der Reichweite der Grundrechte im Allgemeinen und des Ne bis in idem-Grundsatzes insbesondere im EU-Kartellverfahren. In Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 wird vorgesehen, dass die Geldbußen, die von der Kommission gegen ein Unternehmen verhängt werden können, keinen strafrechtlichen Charakter haben. Diese Aussage des Gesetzgebers reicht aber alleine nicht, um den wahren Charakter dieser Sanktionen zu bestimmen. Vielmehr ist es notwendig, sich auf die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bezüglich der Auslegung des Begriffs „strafrechtlich“ zu stützen. Die Analyse der diesbezüglichen Straßburger Rechtsprechung wurde an anderer Stelle dieser Arbeit bereits durchgeführt53, deswegen beschränkt man sich hier auf eine kurze Zusammenfassung. Für die Annahme des Vorliegens einer strafrechtlichen Anklage und für die Geltung der Gewährleistungen von Art. 6 EMRK genügt es, wenn die Tat als strafrechtlich im Sinne der Konvention einzustufen ist, weil sie in einer allgemeingeltenden Vorschrift vorgesehen ist, die sowohl abschreckenden, als auch punitiven Charakter hat, oder, wenn sie mit einer Strafe sanktioniert wird, die aufgrund ihrer Natur und ihres Schwere grades im Allgemeinen der strafrechtlichen Sphäre zuzuordnen ist54. Angesichts dieser mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des EGMR ist es schwierig, den im Rahmen eines kartellrechtlichen Verfahrens der Kommission verhängten Geldbußen den strafrechtlichen Charakter im weiten EMRK-Sinne ab-
51 EuGH, Urteil v. 15.10.2002, verb. Rs. C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P und C-254/99 P, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, Slg. 2002, I-8375, Rdnr. 59. 52 Siehe auch Luchtman, SEW 2011, 281 (282). 53 Siehe § 3 „Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht“, III.3, S. 83 ff. 54 EGMR, Urteil v. 25.8.1987, Beschwerdenr. 9912/82, Lutz./.Deutschland, Series A, no 123, Ziff. 55; Urteil v. 24.2.1994, Beschwerdenr. 12547/86, Bendenoun./.Frankreich, Ziff. 47.
C. Das Ne bis in idem in der EMRK – Art. 4 des 7. ZP-EMRK
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zusprechen. Trotz des Wortlauts von Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 sind die im Kartellverfahren der Kommission vorgesehenen Geldbußen aufgrund ihres sowohl abschreckenden, als auch punitiven Charakters und wegen ihrer während der letzten Jahre stets steigenden Höhe als Sanktionen mit strafrechtlichem Charakter im Sinne der EMRK zu qualifizieren. Dieses Argument könnte auch in Bezug auf nationale Verfahren zur Anwendung von Art. 101 und 102 AEUV Geltung beanspruchen55.
III. Auslegung des Art. 4 Abs. 1 7. ZP-EMRK in der EGMR-Rechtsprechung Bislang hat sich der EGMR in ca. 15 Fällen mit der Auslegung und der Reichweite des in Art. 4 des 7. ZP-EMRK niedergelegten Ne bis in idem-Prinzips befasst. In vielen von diesen Fällen handelte es sich im Sachverhalt um Verkehrsdelikte oder um Ordnungswidrigkeiten, für die sowohl eine Strafe von einem Strafgericht auferlegt wurde als auch eine verwaltungsrechtliche Sanktion verhängt wurde56. Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die Begriffe „strafrechtlich“, „Straftat“ und „Strafverfahrensrecht“ im Rahmen von Art. 4 des 7. ZP- EMRK genauso weit verstanden werden müssen, wie es im Kontext von Art. 6 EMRK der Fall ist57. Allerdings steht das Ne bis in idem in engem Zusammenhang mit dem Gebot des fairen Verfahrens58. Von besonderem Interesse für die hier durchgeführte Analyse ist das Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Franz Fischer/Österreich59. Der Gerichtshof stellte fest, dass eine Verletzung von Art. 4 Abs. 1 des 7. ZP-EMRK auch dann vorliegt, wenn eine Person zwei Mal wegen zwei Taten verfolgt wird, deren Grundbestandteile überlappen60. Das Verbot der Doppelverfolgung und Doppelbestrafung deckt also nach der Auffassung des EGMR nicht allein solche Fälle, bei denen es sich um eine und dieselbe Tat handelt, sondern auch Fälle, bei denen die wesentlichen Merkmale von zwei Sachverhalten weitgehend gleich sind. Ferner stellte der EGMR im Fischer-Urteil klar, dass eine Verletzung des Ne bis in idem-Prinzips auch dann vorliegt, wenn am Ende der erneuten Verfolgung einer Straftat die im ersten Verfahren auferlegte Sanktion bei der Zumessung der Strafe im zweiten Verfahren mitberücksichtigt oder eventuell auch von der zweiten Strafe 55
Siehe Wils, World Compet. 2003, 133. Siehe z. B. EGMR, Urteil v. 16.6.2009, Beschwerdenr. 13079/03, Ruotsalainen./.Finnland; Urteil v. 25.6.2009, Beschwerdenr. 55759/07, Maresti./.Kroatien; Urteil v. 30.7.1998, Beschwerdenr. 25711/94, Oliveira./.Schweiz; Urteil v. 21.9.2006, Beschwerdenr. 59892/00, Maszni./.Rumänien; Urteil v. 30.5.2002, Beschwerdenr. 38275/97, W. F./.Österreich. 57 Wils, World Compet. 2003, 134. 58 EGMR, Urteil v. 20.7.2004, Beschwerdenr. 50178/99, Nikitin./.Russland, Ziff. 35. 59 EGMR, Urteil v. 29.5.2001, Beschwerdenr. 37950/97, Franz Fischer./.Österreich. 60 EGMR, Urteil v. 29.5.2001, Beschwerdenr. 37950/97, Franz Fischer./.Österreich, Ziff. 25. 56
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§ 8 Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht § 8Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht
abgezogen wird. Die Begründung für diese Feststellung liegt darin, dass das Ne bis in idem-Prinzip nicht nur die Doppelbestrafung, sondern auch die Doppelverfolgung einer und derselben Tat verbiete61. Diese Feststellung des Straßburger Gerichtshofs betrifft unmittelbar die Rechtsprechung des EuGH über die Anwendung des Ne bis in idem-Prinzips im EU-Kartellrecht, da der EuGH regelmäßig das Anrechnungsprinzip aus Billigkeitsgründen anwendet, wenn die von der Kommission geahndete Wettbewerbsverletzung durch die Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats oder eines Drittstaats bereits sanktioniert wurde. Eine wichtige Etappe in der Entwicklung der EGMR-Rechtsprechung zum Ne bis in idem stellt das Urteil in der Sache „Serguei Zolotoukhine/Russland“ vom 10. Februar 2009 dar62. Der Beschwerdeführer machte eine Verletzung des Ne bis in idem-Grundsatzes geltend, weil er wegen eines Hausfriedensbruchs in Zusammenhang mit Widerstand gegen die Staatsgewalt in einem Ordnungswidrigkeitenund in einem Strafverfahren bestraft wurde. Der EGMR stellte einstimmig eine Verletzung des Ne bis in idem-Grundsatzes fest. Der Gerichtshof nahm zunächst Bezug auf seine ältere, das Verbot der Doppelbestrafung betreffende Rechtsprechung und wiederholte, dass die rechtliche Qualifizierung einer Tat im nationalen Recht nicht das einzige Kriterium für die Anwendbarkeit des Ne bis in idem im Sinne von Art. 4 Abs. 1 des 7. ZP-EMRK sein darf. Sonst wäre die Anwendung dieser Vorschrift vom Ermessen der Konventionsparteien abhängig, was zu mit dem Sinn und dem Zweck der Konvention unvereinbaren Ergebnissen führen würde. Der in Art. 4 Abs. 1 des 7. ZP-EMRK verwendete Begriff „Strafverfahren“ muss nach ständiger Rechtsprechung im Lichte der allgemeinen Grundsätze ausgelegt werden, die auch für die Begriffe „Strafanzeige“ und „Strafe“ in den Artikeln 6 und 7 jeweils gelten63. Bezüglich der Identität der Tat als Voraussetzung der Anwendbarkeit vom Ne bis in idem stellte der Gerichtshof fest, dass er in seiner früheren Rechtsprechung unterschiedliche Ansätze verfolgt hatte, die mal auf die Identität des Sachverhalts unabhängig von seiner rechtlichen Qualifikation, mal aber auch auf die rechtliche Qualifikation mit der Begründung abgestellt hat, dass sie zu unterschiedlichen Zuwiderhandlungen führen könnte. Diese Ansatzvielfalt führe zur Rechtsunsicherheit, die mit Art. 4 des 7. ZP-EMRK unvereinbar sei; deswegen sei es notwendig zu klären, wie „dieselbe Straftat“ im Sinne der Konvention auszulegen ist64.
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EGMR, Urteil v. 29.5.2001, Beschwerdenr. 37950/97, Franz Fischer./.Österreich, Ziff. 30. EGMR, Urteil v. 10.2.2009, Beschwerdenr. 14939/03, Serguei Zolotoukhine./.Russland, abrufbar auf Französisch unter: http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/view.asp?item=1&portal= hbkm&action=html&highlight=zolotoukhine&sessionid=60741823&skin=hudoc-fr. 63 EGMR, Urteil v. 10.2.2009, Beschwerdenr. 14939/03, Serguei Zolotoukhine./.Russland, Ziff. 52. 64 EGMR, Urteil v. 10.2.2009, Beschwerdenr. 14939/03, Serguei Zolotoukhine./.Russland, Ziff. 78. 62
D. Die Rechtsprechung der Unionsgerichte zum Ne bis in idem-Grundsatz
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Nach einer Analyse der Tragweite des Ne bis in idem-Grundsatzes in anderen internationalen Menschenrechtsinstrumenten, wie der IPbpR, die Europäische Grundrechtecharta und die Amerikanische Menschenrechtskonvention65, stellte der Gerichtshof fest, dass Art. 4 des 7. ZP-EMRK so verstanden werden sollte, dass er die erneute Verfolgung oder Bestrafung einer Person wegen einer zweiten Zuwiderhandlung verbietet, wenn dieser zweite Verstoß seinen Ursprung in derselben Tat oder in einer Tat, die im Wesentlichen dieselben Züge aufweist66. Der Ne bis in idemGrundsatz beansprucht dann Geltung, wenn eine neue Verfolgung stattfindet, und die erste Freispruch- oder Verurteilungsentscheidung rechtskräftig geworden ist67.
D. Die Rechtsprechung der Unionsgerichte zum Ne bis in idem-Grundsatz Die erste Entscheidung, in der sich der EuGH zur Reichweite des Ne bis in idem-Prinzips im europäischen Wettbewerbsrecht äußerte, und gleichzeitig das Leiturteil für die Reichweite des Verbots der Doppelbestrafung im Kartellverfahren vor der Kommission, ist das Urteil „Walt Wilhelm“68 aus dem Jahre 1969. In seinem Urteil legte der EuGH das Mehrfachbestrafungsverbot ganz restriktiv aus und betrachtete die Möglichkeit der doppelten Sanktionierung als zulässig, da die von der Kommission und den nationalen Kartellbehörden verhängten Sanktionen verschiedene Rechtsgüter schützten69. Wie der EuGH im selben Urteil feststellte, ergebe sich die Möglichkeit von Doppelsanktionen „aus dem besonderen System der Zuständigkeitsverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten auf kartellrechtlichem Gebiet“70. Als einziger Anwendungsbereich des Ne bis in idem-Prinzips blieb nach diesem Urteil die Konstellation einer erneuten Verfolgung oder Sanktionierung derselben wettbewerbsrechtswidrigen Tat seitens der Kommission, da die Anwendung des Ne bis in idem im Fall einer doppelten Sanktionierung durch die Kommission und durch die Kartellbehörde eines Drittstaates von der Rechtsprechung auch abgelehnt wird71. 65 EGMR, Urteil v. 10.2.2009, Beschwerdenr. 14939/03, Serguei Zolotoukhine./.Russland, Ziff. 79. 66 EGMR, Urteil v. 10.2.2009, Beschwerdenr. 14939/03, Serguei Zolotoukhine./.Russland, Ziff. 82. 67 EGMR, Urteil v. 10.2.2009, Beschwerdenr. 14939/03, Serguei Zolotoukhine./.Russland, Ziff. 83. 68 EuGH, Urteil v. 13.2.1969, Rs. 14–68, Walt Wilhelm u. a./Bundeskartellamt, Slg. 1969, Rdnr. 11. 69 EuGH, Urteil v. 13.2.1969, Rs. 14–68, Walt Wilhelm u. a./Bundeskartellamt, Slg. 1969, Rdnr. 11; Urteil v. 14.12.1972, Rs. 7/72, Boehringer Mannheim/Kommission, Slg. 1972, 1281, Rdnr. 3. 70 EuGH, Urteil v. 13.2.1969, Rs. 14–68, Walt Wilhelm u. a./Bundeskartellamt, Slg. 1969, Rdnr. 11. 71 Siehe z. B. EuGH, Urteil v. 29.6.2006, Rs. C-289/04 P, Showa Denko KK/Kommission, Slg. 2006, I-5859, Rdnr. 56.
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§ 8 Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht § 8Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht
Die einzige vom EuGH anerkannte Begünstigung eines Unternehmens im Falle einer Doppelsanktionierung von der Kommission und einer mitgliedstaatlichen Kartellbehörde ist die Anwendung des sogenannten Anrechnungsprinzips. Das Anrechnungsprinzip könnte als eine „entwaffnete“ Erscheinungsform des Ne bis in idem-Grundsatzes bezeichnet werden. Nach Auffassung des EuGH erscheint es aus Billigkeitsgründen erforderlich, dass die Kommission, bzw. die nationale Kartellbehörde, bei der Festsetzung der neuen Geldbuße die Sanktionen berücksichtigt, die gegen das Unternehmen für dieselbe Tat bereits verhängt worden sind72. In Erweiterung der Walt-Wilhelm-Rechtsprechung führte das EuG aus, dass die Anwendung des Ne bis in idem von der dreifachen, kumulativ geltenden Voraussetzung der Identität des Sachverhalts, des Zuwiderhandelnden und des geschützten Rechtsguts abhing73. Ferner stellte das Gericht fest, dass das Verbot der Doppelbestrafung im Verhältnis zwischen der EU und Drittstaaten erst recht nicht in Geltung käme und dass die frühere Verhängung einer Sanktion in einem Drittstaat bei der Verhängung einer Geldbuße durch die EU-Kommission nicht berücksichtigt werden müsse74. In der Konstellation einer doppelten Sanktionierung durch die Kommission und eine Drittstaatswettbewerbsbehörde wäre also die Anrechnung der als ersten verhängten Geldbuße keine Pflicht. Die enge Auslegung des Ne bis in idem-Prinzips im EU-Kartellverfahren wurde durch den EuGH in der Entscheidung bezüglich des weltweiten Chininkartells im Jahre 1972 bestätigt. Das deutsche Unternehmen Boehringer Mannheim, das wegen seiner Teilnahme am Chininkartell von der Kommission bebußt worden war, hatte die Entscheidung unter anderem auch deswegen angefochten, weil sich die Kommission geweigert hatte, eine in den USA gegen Boehringer Mannheim bereits verhängte Geldbuße aufgrund desselben Kartells bei der Berechnung ihrer Geldbuße zu berücksichtigen. Der EuGH bestätigte die Entscheidung der Kommission und führte aus, dass, obwohl die die Verurteilung begründenden Tatsachen ihren Ursprung in demselben Bündel von Absprachen hatten, trotzdem anderen Zwecken dienten und in unterschiedlichen Gebieten ihre Auswirkungen entfalten hatten. Ferner habe Boehringer nach Auffassung des EuGH nicht nachgewiesen, dass die Verurteilung in den USA auch die Auswirkungen der Absprachen in anderen Ländern betraf und mitsankionierte75. Da also die Auswirkungen der wettbewerbswidrigen Absprachen in den verschiedenen Territorien unterschiedliche „Tatsachen“ darstellten, war die Kommission nicht dazu verpflichtet, 72
EuGH, Urteil v. 13.2.1969, Rs. 14–68, Walt Wilhelm u. a./Bundeskartellamt, Slg. 1969, Rdnr. 11; EuG, Urteil v. 6.4.1995, Rs. 149/89, Sotralentz/Kommission, Slg. 1995, II-1127, Rdnr. 29; siehe auch Kling/Thomas, Rdnr. 90. 73 EuG, Urteil v. 27.9.2006, Rs. T-329/01, Archer Daniels Midland/Kommission, Slg. 2006, II-3255, Rdnr. 290. 74 EuG, Urteil v. 27.9.2006, Rs. T-59/02, Archer Daniels Midland/Kommission, Slg. 2006, II-3627, Rdnr. 63. 75 EuGH, Urteil v. 14.12.1972, Rs. 7/72, Boehringer Mannheim/Kommission, Slg. 1972, 1281, Rdnr. 4–5.
D. Die Rechtsprechung der Unionsgerichte zum Ne bis in idem-Grundsatz
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die von Drittstaaten verhängten Geldbußen bei der Verhängung ihrer Geldbuße zu berücksichtigen. In ständiger Rechtsprechung weist der EuGH darauf hin, dass die Anwendung des Grundsatzes Ne bis in idem von der dreifachen Voraussetzung der Identität des Sachverhalts, des Zuwiderhandelnden und des geschützten Rechtsguts abhängt.76 Die Existenz unterschiedlicher – wenn auch benachbarter – Produktmärkte stellt ein relevantes Kriterium für die Bestimmung des Umfangs und damit der Identität der Zuwiderhandlungen gegen Art. 101 AEUV dar77. Im Boehringer-Urteil scheint der EuGH implizit anzunehmen, dass eine Anwendung des Ne bis in idem denkbar wäre, die aber an der Nichterfüllung der Anwendungsvoraussetzungen dieses Grundsatzes scheitert, da die Auswirkungen der wettbewerbsbeschränkenden Absprachen zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt hatten und nicht in denselben Gebieten stattgefunden hatten78. Im Graphitelektroden-Urteil stellte der EuGH fest, dass das Ne bis in idem auch in Fällen der Identität des Sachverhalts nicht zum Tragen kommt, wenn ein Wettbewerbsverstoß sowohl von einer Drittstaatsbehörde als auch von der Kommission geahndet wurde. Das liegt an der besonderen Zielsetzung des EU-Wettbewerbsverfahrens und am speziellen Charakter des auf EU-Ebene geschützten Rechtsguts, nämlich des Schutzes des freien Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes79. Aus diesen Gründen kam der EuGH zum Schluss, dass das Ne bis in idem daher nicht für Sachverhalte gilt, in denen die Rechtsordnungen und die Wettbewerbsbehörden von Drittstaaten im Rahmen ihrer eigenen Zuständigkeiten eine Rolle gespielt haben80. In seinem Urteil im Fall „Toshiba“ stellte der EuGH erneut auf die unterschiedlichen Auswirkungen eines weltumspannenden Kartells auf unterschiedliche Gebiete ab, um eine Identität des Sachverhalts abzulehnen und somit eine die doppelte Ahndung des Kartells präkludierende Anwendung des Ne bis in idem auszuschließen81. Der EuGH kam zum Schluss, dass „der Grundsatz ne bis in idem es der nationalen Wettbewerbsbehörde des betroffenen Mitgliedstaats nicht verwehrt, gegen an einem Kartell beteiligte Unternehmen Geldbußen zu verhängen, um die Auswirkungen des Kartells im Hoheitsgebiet dieses Staates vor seinem 76 EuGH, Urteil v. 14.12.2012, Rs. C-17/10, Toshiba Corporation u. a./Úřad pro ochranu hospodářské soutěže, veröffentlicht in der digitalen Sammlung, Rdnr. 97; Urteil v. 7.1.2004, verb. Rs. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P, Aalborg Portland u. a./Kommission, Slg. 2004, I-123, Rdnr. 338. 77 EuG, Urteil v. 19.5.2010, Rs. T-11/05, Wieland-Werke AG u. a./Kommission, Slg. 2010, II-86, Rdnr. 83. 78 So Ryngaert, SEW 2006, 442 (442 in fine). 79 EuGH, Urteil v. 10.5.2007, Rs. C-328/05 P, SGL Carbon AG/Kommission, Slg. 2007, I-3921, Rdnr. 27. 80 EuGH, Urteil v. 10.5.2007, Rs. C-328/05 P, SGL Carbon AG/Kommission, Slg. 2007, I-3921, Rdnr. 28. 81 EuGH, Urteil v. 14.12.2012, Rs. C-17/10, Toshiba Corporation u. a./Úřad pro ochranu hospodářské soutěže, Rdnr. 98.
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Beitritt zur Union zu ahnden, wenn diese Auswirkungen mit den Geldbußen, die den Mitgliedern des Kartells mit einer vor der Entscheidung der nationalen Wettbewerbsbehörde erlassenen Entscheidung der Kommission auferlegt wurden, nicht geahndet werden sollten“82.
E. Würdigung der restriktiven Auslegung des Ne bis in idem-Grundsatzes durch den EuGH Die restriktive Auslegung und Anwendung des Ne bis in idem-Grundsatzes von den Unionsgerichten erscheint fragwürdig, wenn man die Reform des EUWettbewerbsrechts in Betracht zieht, die zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 101 AEUV und zur Schaffung eines Netzwerkes der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden und der Kommission geführt hat. Das Risiko einer doppelten Verfolgung und Sanktionierung eines Wettbewerbsverstoßes ist in Anbetracht des Fehlens einer klaren Regelung in der VO 1/2003 nicht zu unterschätzen, da es nicht auszuschließen ist, dass sich zwei Wettbewerbsbehörden mit demselben Sachverhalt aufgrund des Auswirkungsprinzips befassen. Die Möglichkeit einer Doppelbestrafung erweist sich ferner als ein Umstand, der sich negativ auf den Erfolg der verschiedenen Kronzeugenprogramme auswirken könnte, da viele Unternehmen wegen der Gefahr der Einleitung eines neuen Verfahrens in einem anderen Mitgliedstaat von der Inanspruchnahme solcher Programme absehen könnten. Die Effizienz der Kartellbekämpfung würde darunter besonders leiden, da die Rolle der Kronzeugen („Whistleblowers“) bei der Aufdeckung von schwerwiegenden Wettbewerbsverstößen besonders wichtig ist.
F. Gefahr einer Doppelverfolgung oder/ und Sanktionierung im EU-Kartellrecht Im Gebiet des EU-Wettbewerbsrechts bedeutet das Ne bis in idem-Prinzip, dass ein Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens, in Bezug auf das es in einer früheren, rechtskräftigen Entscheidung sanktioniert oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, nicht erneut verurteilt oder verfolgt werden darf83. Daraus folgt, dass eine bestandskräftige erste Entscheidung, mit der der Verstoß eines Unternehmens gegen EU-Wettbewerbsrecht festgestellt oder nicht festgestellt wird, die Kommission auch dann daran hindert, ein neues Bußgeldverfahren in 82 EuGH, Urteil v. 14.12.2012, Rs. C-17/10, Toshiba Corporation u. a./Úřad pro ochranu hospodářské soutěže, Rdnr. 103. 83 EuGH, Urteil v. 14.12.2012, Rs. C-17/10, Toshiba Corporation u. a./Úřad pro ochranu hospodářské soutěže, Rdnr. 98; siehe auch EuG, Urteil v. 20.4.1999, Rs. T-305/94, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, Slg. 1999, II-931, Rdnr. 96.
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Bezug auf denselben Verstoß einzuleiten, wenn neue, bislang unberücksichtigte Tatsachen bekannt wurden84. Damit das Verbot der Mehrfachbestrafung eingreift, müssen die drei vom EuGH aufgestellten Kriterien für das Bejahen „derselben Straftat“ kumulativ erfüllt werden. Es ist also erforderlich, dass der Sachverhalt, der Zuwiderhandelnde und das geschützte Rechtsgut identisch sind85. Dienen das mitgliedstaatliche und das Verfahren bei der Kommission unterschiedlichen Schutzzielen (im Sinne von unterschiedlichen Rechtsgütern, die geschützt werden), ist eine Doppelbestrafung möglich86. Die Beweislast für das Vorliegen einer das Ne bis in idem verletzenden Doppelbestrafung im Sinne des Ne bis in idemPrinzips liegt beim betroffenen Unternehmen87. Das Risiko einer Doppelbestrafung bei der Anwendung von EU-Wettbewerbsrecht könnte sich vor allem in den folgenden drei Konstellationen ergeben: a) doppelte Ahndung desselben Verstoßes durch die EU-Kommission, b) doppelte Ahndung desselben Verstoßes durch die Kommission und die Wettbewerbsbehörde eines EU-Mitgliedstaates und c) doppelte Ahndung desselben Verstoßes durch die Kommission und die Wettbewerbsbehörde eines Drittstaates. Diese Konstel lationen und die Frage, inwieweit der Ne bis in idem-Grundsatz in diesen Fällen eingreift, werden nachfolgend untersucht.
I. Doppelte Ahndung eines Wettbewerbsverstoßes durch die Kommission Im Fall der Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts von der Kommission besteht die Möglichkeit einer Doppelsanktionierung desselben Sachverhalts von der Kommission grundsätzlich nicht. Das EuG hat entschieden, dass „die Kommission gegen ein Unternehmen wegen eines Verhaltens, zu dem das Gericht oder der Gerichtshof bereits festgestellt hat, dass die Kommission dessen Wettbewerbswidrigkeit nachgewiesen oder nicht nachgewiesen hat, keine Ermittlungen nach den Verordnungen 17 und 99/63 wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft führen oder eine Geldbuße verhängen darf“88. Ferner erkennt die Kommission selber an, dass Geldbußen so festgelegt werden müssen, dass dieselben Sachverhalte nicht mehrfach mit Strafen belegt werden89. 84
So Kuck, WuW 2002, 689 (690); Klees, WuW 2006, 1222 (1224). EuGH, Urteil v. 7.1.2004, Rs. C-204/00 P, Aalborg Portland u. a./Kommission, Slg. 2004, I-123, Rdnr. 338. 86 EuG, Urteil v. 6.4.1995, Rs. 149/89, Sotralentz/Kommission, Slg. 1995, II-1127, Rdnr. 29. 87 EuGH, Urteil v. 14.12.1972, Rs. 7/72, Boehringer Mannheim/Kommission, Slg. 1972, 1281, Rdnr. 5. 88 EuG, Urteil v. 20.4.1999, Rs. T-305/94, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, Slg. 1999, II-931, Rdnr. 96. 89 Entscheidung der Kommission vom 17.12.1975 (IV/26.999-Chiquita), ABl. EG v. 9.4.1976, L 95/1 (17). 85
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§ 8 Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht § 8Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht
Sollten neue Tatumstände nach Erlass der Bußgeldentscheidung aufgedeckt werden, die bei der Festsetzung der Geldbuße unberücksichtigt geblieben waren, oder sollte die Anwendung einer Rechtsvorschrift infolge fehlerhafter Rechtsanwendung unterblieben sein, verbietet der Ne bis in idem-Grundsatz, dass die Kommission ein Verfahren erneut einleitet und eine weitere Sanktion verhängt90. Das Ne bis in idem-Prinzip kommt dennoch nicht zum Tragen, wenn die Kommission nach Aufhebung ihrer ursprünglichen Entscheidung aus formellen Gründen eine neue Entscheidung erlässt. Grund dafür ist, dass in diesem Fall kein neues, zweites Verfahren eröffnet wird, sondern das alte weitergeführt wird91. Rechtsdogmatisch lässt sich dieses Ergebnis dadurch erklären, dass es keine formell rechtskräftige, das Verfahren abschließende Entscheidung gibt92. Die Frage, inwieweit das Ne bis in idem einem erneuten Tätigwerden der Kommission gegen ein Unternehmen entgegensteht ergibt sich aber vor allem dann, wenn die ursprüngliche Entscheidung der Kommission von den Unionsgerichten aufgehoben wurde. Die Entscheidung kann von den Gerichten entweder wegen Verfahrensfehler oder wegen unzureichender Beweisführung von der Kommission für nichtig erklärt werden. 1. Erlass einer zweiten Entscheidung nach Aufhebung der ersten wegen Verfahrensmängel Im Fall des Polypropylen-Kartells hat die Kommission eine erste Entscheidung im Jahre 1988 erlassen, mit der sie Geldbußen gegen Kartellmitglieder verhängte. Der EuGH bestätigte das Urteil des EuG, das die Kommissionsentscheidung aufgrund von Formfehlern bei der Ausfertigung der Entscheidung (keine Mitwirkung des Kollegiums bei der Abfassung des Rechtsaktes) aufgehoben hatte93. Im Anschluss an dieses Urteil hat die Kommission eine zweite Entscheidung erlassen, die ordnungsgemäß vom Kollegium abgefasst wurde und die Geldbußen in derselben Höhe mit der aufgehobenen Entscheidung gegen die Mitglieder des Polypropylene-Kartells verhängte94. Der Gerichtshof bestätigte die neue Kommissionsentscheidung im PVC II-Urteil95. Er stellte klar, dass der Ne bis in idem 90
Vgl. Kuck, WuW 2002, 689 (690). EuG, Urteil v. 20.4.1999, Rs. T-305/94, LVM/Kommission, Slg. 1999, II-931 (975), Rdnr. 96. 92 Kuck, WuW 2002, 689 (691). 93 EuGH, Urteil v. 15.6.1994, Rs. C-137/92 P, Kommission/BASF u. a., Slg. 1994, I-2629, Rdnr. 77. 94 Siehe Entscheidung der Kommission vom 27. Juli 1994 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des EG-Vertrags (IV/31.865, PVC), ABl. EG. v. 14/09/1994, L 239/14. 95 EuGH, Urteil v. 15.10.2002, verb. Rs. C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P und C-254/99 P, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission („PVC II“), Slg. 2002, I-8375. 91
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Grundsatz die Wiederaufnahme eines Sanktionverfahrens in Bezug auf dasselbe wettbewerbswidrige Verhalten nicht hindert, wenn die erste Entscheidung wegen Verfahrensfehler aufgehoben wurde, ohne dass das Gericht den zur Last gelegenen Sachverhalt materiell rechtlich geprüft hat. Eine Nichtigerklärung der Entscheidung stelle keinen Freispruch im strafrechtlichen Sinne dar96. Der Ne bis in idemGrundsatz verbiete daher nur eine neue sachliche Würdigung des Vorliegens der Zuwiderhandlung, die dazu führen würde, dass entweder -falls die Verantwortlichkeit erneut zu bejahen wäre – eine zweite, zusätzliche Sanktion oder – falls die in der ersten Entscheidung verneinte Verantwortlichkeit in der zweiten Entscheidung bejaht wird – eine Sanktion verhängt wird97. Es zeigt sich also, dass der Ne bis in idem-Grundsatz die Kommission nicht daran hindert, ein Verfahren erneut aufzunehmen und eine zweite Entscheidung zu erlassen, die dasselbe wettbewerbswidrige Verhalten sanktioniert, wenn die erste Entscheidung aus formalen Gründen von den Unionsgerichten aufgehoben wurde, ohne dass die Unionsgerichte eine Entscheidung in der Hauptsache getroffen haben. 2. Erlass einer zweiten Entscheidung nach Aufhebung der ersten wegen mangelnder Beweisführung Die Ausführungen des EuGH im PVC II-Urteil suggerieren, dass der Ne bis in idem-Grundsatz eine zweite Entscheidung bezüglich desselben Sachverhalts verbietet, wenn die erste Entscheidung aufgehoben wurde, weil die Kommission den Verstoß rechtlich nicht hinreichend dargelegt hat. Das würde einer erneuten Verfolgung nach einem Freispruch entsprechen, die gemäß Art. 50 GRCH und Art. 4 Abs. 1 des 7. ZP-EMRK verboten ist. Dennoch sieht Art. 4 (2) des 7. ZP-EMRK die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens vor, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist. Diese Einschränkung des Ne bis in idem-Grundsatzes dürfte gemäß Art. 52 Abs. 3 GRCH auch für das in Art. 50 GRCH verankerte Ne bis in idem gelten. Es stellt sich die Frage, inwieweit die Kommission ein neues Verfahren gegen dasselbe Unternehmen über denselben Verstoß eröffnen darf, wenn nach der ersten, rechtskräftigen Bußgeldentscheidung neue Tatsachen bekannt geworden sind, die bei der ersten Entscheidung nicht berücksichtigt wurden. Die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens muss auf jeden Fall gesetzlich vorgesehen sein, da sie eine Einschränkung eines Grundrechts sowohl nach Maßgabe der EMRK als auch nach der GRCH darstellt. Es wurde argumentiert, dass Art. 25 Abs. 6 VO 1/2003, der eine Aussetzung der Verfolgungsverjährung 96
EuGH, PVC II, Rdnr. 62. EuGH, PVC II, Rdnr. 61.
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während eines vor den Unionsgerichten anhängigen Verfahrens vorsieht, eine indirekte, doch hinreichend bestimmte Rechtsgrundlage im Sinne von Art. 4 Abs. 2 des 7. ZP-EMRK darstellt98. Art. 9 Abs. 2 Buchst. a) VO 1/2003 biete dagegen keine geeignete Grundlage für diese Einschränkung des Ne bis in idem, obwohl diese Vorschrift ausdrücklich die Wiederaufnahme vorsieht, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt geändert haben, da Art. 9 VO 1/2003 nur für mit Verpflichtungszusagen abgeschlossenen Verfahren gilt99. Dennoch ist die Möglichkeit eines erneuten Aufrollens des Verfahrens im Fall von neuen Tatsachen abzulehnen. Einerseits erfasst Art. 25 Abs. 6 VO 1/2003 nur solche Fälle, in denen sich die Verzögerung aus einem objektiven, nicht von der Kommission zu vertretenden Grund ergibt100. Andererseits schadet die Möglichkeit des erneuten Aufrollens erheblich der Rechtssicherheit und droht den Schutzgehalt des Ne bis in idem auszuhöhlen. Der Ermittlungstätigkeit der Kommission wären praktisch keine Grenzen mehr gesetzt. Darüber hinaus hätte die Kommission die Möglichkeit, ihre mangelhafte Beweisführung und die darauf basierende Aufhebung einer Entscheidung von den Unionsgerichten ohne gravierende Konsequenzen umzugehen, indem sie sich auf neue Tatsachen beruft, die eine Wiederaufnahme des Verfahrens erfordern. Das würde praktisch bedeuten, dass das sich aus Art. 2 VO 1/2003 ergebende Risiko des non liquet für die Kommission ins Leere laufen würde. Aus alledem folgt, dass der Ne bis in idem-Grundsatz eine Schranke der Möglichkeit der Kommission darstellt, nach einem rechtskräftigen Bußgeldbescheid erneut ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße gegen dasselbe Unternehmen wegen desselben Verstoßes zu eröffnen, weil neue Tatsachen hervorgekommen sind, die im ursprünglichen Verfahren unberücksichtigt geblieben waren101.
II. Doppelte Ahndung eines Verstoßes durch die Kommission und eine nationale Wettbewerbsbehörde Bereits in seinem Leiturteil aus dem Jahr 1969 in der Rechtssache „Walt Wilhelm“ hat der EuGH festgestellt, dass die alte Kartellverfahrensverordnung 17/62 die Möglichkeit nicht ausschloss, dass eine kartellrechtswidrige Absprache Gegenstand von zwei parallel von der Kommission und von einer nationalen Kartellbehörde durchgeführten Verfahren werden könnte. Diese Möglichkeit sei auch nicht vom Ne bis in idem ausgeschlossen, da die Idem-Voraussetzung in Anbetracht der unterschiedlichen Zielsetzungen der EU- und der nationalen Wett 98
Wils, World Compet. 2003, 131 (142). So Wils, World Compet. 2003, 131 (142). 100 de Bronett, Art. 25, Rdnr. 12. 101 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), vor Art. 23 VO 1/2003, Rdnr. 247. 99
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bewerbsrechtsordnungen nicht erfüllt sei, da das EU-Wettbewerbsrecht den Akzent eher auf die Auswirkungen auf den zwischenstaatlichen Handel setzt102. Aber spätestens seit dem Fischer-Urteil103 des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahre 2001 dürfte die Unvereinbarkeit der Walt-WilhelmRechtsprechung mit dem Ne bis in idem-Grundsatz offenbar sein. Der EGMR hat in dieser Entscheidung festgestellt, dass ein Verstoß gegen das Verbot der Doppelbestrafung nicht nur bei mehrfacher Verfolgung und Bestrafung wegen derselben Zuwiderhandlung, sondern auch bei mehrfacher Verfolgung und Bestrafung von zwei Zuwiderhandlungen vorliegt, deren wesentliche Bestandteile überlappen104. Das trifft auf die Durchsetzung der Art. 101 und 102 AEUV und der nationalen Wettbewerbsregeln zu, da der einzige Unterschied dadurch entsteht, dass die europarechtlichen Wettbewerbsvorschriften für ihre Anwendbarkeit auf die Auswirkungen auf den zwischenstaatlichen Handel abstellen. Darüber hinaus sind die Wettbewerbsbehörden dazu verpflichtet, auf Fälle, die den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen können, auch Art. 101 und 102 AEUV parallel zu ihren nationalen Wettbewerbsvorschriften anzuwenden105. Insbesondere in Bezug auf das Kartellverbot des Art. 101 AEUV hat es eine Angleichung der entsprechenden nationalen materiell rechtlichen Rechtsvorschriften gegeben. Dieser Umstand dürfte die Anwendbarkeit des Ne bis in idem-Grundsatzes in Fällen paralleler Verfahren der Kommission und einer mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörde noch erforderlicher gestalten. Ferner geht aus dem Fischer-Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte hervor, dass eine bloße Anrechnung der ersten Strafe bei der Verhängung der zweiten den Anforderungen des Ne bis in idem-Grundsatzes nicht gerecht wird, da dieses Prinzip nicht nur die mehrfache Bestrafung, sondern auch die mehrfache Verfolgung wegen derselben Zuwiderhandlung verbietet106. Das liegt daran, dass das Ne bis in idem keine bloße Verfahrensregel, sondern ein fundamentales Recht der EU-Bürger darstellt107. Aufgrund von Art. 11 Abs. 6 VO 1/2003 ist jedenfalls die parallele Verfolgung eines Verstoßes durch die Kommission und durch eine nationale Kartellbehörde unwahrscheinlich108. Entscheidet sich die Kommission für die Einleitung eines Verfahrens, so entfällt damit die Zuständigkeit der Wettbewerbsbehörden der Mit 102 EuGH, Urteil v. 13.2.1969, Rs. 14/68, Wilhelm/Bundeskartellamt, Slg. 1969, 3, Rdnr. 3 und 11. 103 EGMR, Urteil v. 29.5.2001, Beschwerdenr. 37950/97, Franz Fischer./.Österreich. 104 EGMR, Urteil v. 29.5.2001, Beschwerdenr. 37950/97, Franz Fischer./.Österreich, Ziff. 25. 105 Art. 3 Abs. 1 VO 1/2003. 106 EGMR, Urteil v. 29.5.2001, Beschwerdenr. 37950/97, Franz Fischer./.Österreich, Ziff. 30; vgl. auch die Schlussanträge des GA Colomer v. 11.2.2003, Rs. C-213/00 P, Italcementi/Kommission, Slg. 2004, I-230, Rdnr. 96. 107 Schlussanträge des GA Colomer v. 11.2.2003, Rs. C-213/00 P, Italcementi/Kommission, Slg. 2004, I-230, Rdnr. 96. 108 Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), vor Art. 23 VO 1/2003, Rdnr. 254.
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gliedstaaten für die Anwendung der Artikel 101 und 102 AEUV. Die Möglichkeit der Einleitung eines zweiten Verfahrens, nachdem die Kommission nationale Wettbewerbsbehörde ihr eigenes abgeschlossen hat, ist aber von der VO 1/2003 nicht ausgeschlossen109. Das wurde neulich auch vom EuGH in seinem ToshibaUrteil bestätigt, der den Fall eines Anfang 2006 eröffneten Kommissionverfahrens in Bezug auf Verstöße, die sich auf den EWR ausgewirkt hatten, und eines ein paar Monate später eröffneten Verfahrens der tschechischen Wettbewerbsbehörde in Bezug auf die Auswirkungen derselben Verstöße in Tschechien betraf110.
III. Mehrfache Ahndung eines Verstoßes durch mehrere nationale Wettbewerbsbehörden Art. 13 VO 1/2003 trifft Vorkehrungen für den Fall, dass sich mehrere nationale Kartellbehörden mit demselben wettbewerbsrechtlichen Verstoß befassen. Ziel dieser Vorschrift, die die Möglichkeit der Aussetzung des Parallelverfahrens oder der Zurückweisung der Beschwerde von einer Behörde vorsieht, wenn sich eine nationale Wettbewerbsbehörde bereits des Falles angenommen hat, ist die effiziente Einteilung der Ressourcen des durch die VO 1/2003 geschaffenen Netzwerks der Wettbewerbsbehörden und die Vermeidung von unnötigen Doppelermittlungen111. Dennoch ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 13 Abs. 1 VO 1/2003 („[…] so stellt der Umstand, dass eine Behörde den Fall bereits bearbeitet, für die übrigen Behörden einen hinreichenden Grund dar, ihr Verfahren auszusetzen oder die Beschwerde zurückzuweisen“), dass diese Vorschrift keine Pflicht zur Aussetzung des Verfahrens oder zur Zurückweisung der Beschwerde einführt. Das Netzwerk der europäischen Wettbewerbsbehörden arbeitet unter der Prämisse, dass jeder Fall nur von einer Behörde bearbeitet werden sollte112. Die Kommission äußerte sich in ihrem Entwurf der VO 1/2003 diesbezüglich folgendermaßen: „Es ist jedoch weder erforderlich noch zweckmäßig, andere Wettbewerbsbehörden zur Aussetzung oder Einstellung ihrer Verfahren zu verpflichten. Es ist Sache des Netzes, in der Praxis dafür zu sorgen, dass die vorhandenen Ressourcen optimal eingesetzt werden“113. Aber auch in der Literatur wurde darauf hingewiesen, dass die in Art. 13 VO 1/2003 enthaltene Regel kein zwingendes Recht darstellt114. Mit dem Fall sollte sich die am besten platzierte Behörde befassen. Andere nationale Wettbewerbsbehörden sollten, müssen aber nicht, ihre eigenen Verfahren einstellen. In Ermangelung einer Regel, die die am besten geeignete Behörde genau bestimmt, wäre es wenig sinnvoll, eine Pflicht zur Aussetzung oder Einstellung des 109
Wils, World Compet. 2003, 144. EuGH, Urteil v. 14.2.2012, Rs. C-17/10, Toshiba Corporation u. a./Úřad pro ochranu hospodářské soutěže. 111 de Bronett, Art. 13, Rdnr. 1. 112 Siehe Erwägungsgrund 18 der VO 1/2003. 113 KOM (2000) 582 endg., S. 14. 114 Ritter, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 13 VO 1/2003, Rdnr. 1. 110
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Parallelverfahrens einzuführen, da nur die nicht geeigneten Behörden zur Aussetzung oder Einstellung des Verfahrens verpflichtet wären115. Obwohl es keine Pflicht zur Aussetzung oder Einstellung eines Parallelverfahrens durch eine nationale Behörde gibt, hat das Netzwerk der Europäischen Wettbewerbsbehörden nach der Auffassung der Kommission seit seiner Einführung effizient funktioniert. Deswegen ist es, soweit ersichtlich, bislang nicht zu einer Führung von Parallelverfahren der Kommission und einer nationalen Wettbewerbsbehörde oder von zwei nationalen Wettbewerbsbehörden116. Falls es trotz der diesbezüglichen Regelungen in der VO 1/2003 zu Parallelverfahren der Kommission und einer nationalen Wettbewerbsbehörde kommen sollte, wäre eine Berufung des von den Parallelverfahren betroffenen Unternehmens auf den Ne bis in idem-Grundsatz durchaus denkbar, da auch die doppelte Verfolgung, und nicht nur Bestrafung, vom Anwendungsbereich dieses Grundsatzes erfasst wird.
IV. Doppelte Ahndung eines Verstoßes durch die Kommission und die Wettbewerbsbehörde eines Drittstaates Die Anwendung des Kartellrechts wird maßgeblich durch das Auswirkungsprinzip geprägt. Letzteres besagt, dass der das Auswirkungsprinzip anwendende Staat dazu berechtigt ist, Unternehmen aufgrund der durch die Teilnahme an einem Kartell entstehenden Auswirkungen auf sein Territorium zu ahnden. Für die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV ist es unerheblich, wo die wettbewerbsbeschränkende Absprache getroffen wurde oder wo die an einer solchen Absprache teilnehmenden Unternehmen ihren Sitz haben, solange ihr Verhalten Auswirkungen innerhalb des Binnenmarktes hat. Das Auswirkungsprinzip war die tragende Säule des Urteils „Walt Wilhelm“, in dem der EuGH eine doppelte Ahndung eines Kartellverstoßes durch die Kommission und durch eine nationale Wettbewerbsbehörde als grundsätzlich vereinbar mit dem Ne bis in idem erachtete, da das europäische und das jeweilige mitgliedstaatliche Kartellrecht die Wettbewerbsverstöße nicht nach den gleichen Gesichtspunkten beurteilen, da das EURecht auf die Beeinträchtigung des Handels zwischen der Mitgliedstaaten durch den Verstoß abstellt117. Es lässt sich festhalten, dass eine außerhalb der EU getroffene Preisabsprache, die sich auf Abnehmer und auf den Wettbewerb im Binnenmarkt auswirkt, die Anwendbarkeit von Art. 101 Abs. 1 AEUV begründet. Das Auswirkungsprinzip gilt 115
Wils, World Compet. 2003, 145. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Bericht über das Funktionieren der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates, KOM (2009) 206 endg., Rdnr. 30. 117 EuGH, Urteil v. 13.2.1969, Rs. 14–68, Walt Wilhelm u.a/Bundeskartellamt, Slg. 1969, 1, Rdnr. 3. 116
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auch im US-amerikanischen Wettbewerbsrecht, allerdings in Form der im Fall „Alcoa“ aus dem Jahr 1945 eingeführten „effects doctrine“, die später auch im „Foreign Trade Antitrust Improvement Act“ verankert wurde118. Im Zeitalter von global agierenden Unternehmen können wettbewerbsbeschränkende Absprachen schnell Auswirkungen auf beide Seiten des Atlantiks entfalten, die, falls entdeckt, mit Geldbußen sowohl auf EU-Ebene als auch auf US-Ebene geahndet werden können. Es liegt dann auf der Hand, dass die Gefahr einer doppelten Sanktionierung wegen derselben Tat (der Teilnahme an einer Kartellabsprache) besonders hoch ist. Abhilfe in dieser Hinsicht schafft auch nicht das am 23. September 1991 unterzeichnete Kooperationsabkommen zwischen der EU und den USA über die Anwendung ihrer Wettbewerbsregeln119. Der EuGH erkennt in ständiger Rechtsprechung an, dass ein international tätiges Kartell insbesondere dadurch gekennzeichnet ist, dass die Rechtsordnungen von Drittstaaten in deren jeweiligem Hoheitsgebiet zur Anwendung kommen120. Die Regelungen anderer Rechtsordnungen im Bereich des Wettbewerbs dienen nicht nur besonderen Zwecken und Zielsetzungen, sondern prägen auch maßgeblich das jeweilige materielle Wettbewerbsrecht und führen zu unterschiedlichen verwaltungs-, straf- oder zivilrechtlichen Rechtsfolgen, wenn die Behörden der Drittstaaten einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht festgestellt haben121. Daraus folgt, dass die Kommission, wenn sie gegen den durch ein Unternehmen begangenen Wettbewerbsverstoß vorgeht, zum Schutz des freien Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts tätig wird, der auch nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ein zentrales Element des Binnenmarkts ist122. Da der freie Wettbewerb auf dem Binnenmarkt ein eigenständiges Rechtsgut mit besonderem Charakter darstellt, können die von der Kommission auf Grundlage ihrer Befugnisse vorgenommenen Beurteilungen erheblich von denjenigen der Behörden von Drittstaaten abweichen123. Der EuGH hat im Urteil „SGL Carbon“ nicht nur die vom Ne bis in idemGrundsatz ausgehende Sperrwirkung für die Einleitung eines weiteren Kartellverfahrens seitens der Kommission, sondern auch eine Verpflichtung der Kommis-
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Yomere, S. 237. Abkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und der Regierung der Vereinigten Staaten über die Anwendung ihrer Wettbewerbsregeln, ABl. 1995 L 95/45, ergänzt durch das Abkommen über die Anwendung der „Positive-Comity“-Grundsätze bei der Durchsetzung ihrer Wettbewerbsregeln, ABl. 1998 L 173/26. 120 EuGH, Urteil v. 10.5.2007, Rs. C-328/05 P, SGL Carbon/Kommission, Slg. 2007, I-3921, Rdnr. 25. 121 EuGH, Urteil v. 10.5.2007, Rs. C-328/05 P, SGL Carbon/Kommission, Slg. 2007, I-3921, Rdnr. 26. 122 Siehe Prot. Nr. 31 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb, ABl. EU v. 17.12.2007, C 306/154. 123 EuGH, Urteil v. 10.5.2007, Rs. C-328/05 P, SGL Carbon/Kommission, Slg. 2007, I-3921, Rdnr. 27. 119
G. Plädoyer für eine weite Auslegung des Ne bis in idem
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sion, bereits von Drittstaaten verhängte Geldbußen bei der Bemessung der von ihr zu verhängenden Geldbuße anzurechnen, abgelehnt124. Die Kommission sei weder aus Gründen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes noch aufgrund des Billigkeitsgedankens dazu verpflichtet, bei der Ahndung eines internationalen Kartells die bereits von Drittstaatsbehörden gegen ein Unternehmen verhängten Geldbußen in ihren Bußrahmen einzubeziehen. Die Walt-Wilhelm-Kriterien greifen im Fall von Drittstaatssanktionen nicht ein, da sie eigens für die besonderen Gegebenheiten des Binnenmarkts entwickelt wurden, um der Wechselbeziehung zwischen den Mitgliedstaatsmärkten und des Systems der Zuständigkeitsverteilung zwischen den mitgliedstaatlichen Kartellbehörden Rechnung zu tragen125. Ferner würde eine Pflicht zur Berücksichtigung vorher in Drittstaaten verhängter Bußgelder den Abschreckungscharakter der durch die Kommission verhängten Sanktionen mindern126.
G. Plädoyer für eine weite Auslegung des Ne bis in idem im EU-Kartellverfahrensrecht Die Ablehnung der Geltung des innergemeinschaftlichen Doppelbestrafungsverbots vom EuGH im Walt-Wilhelm-Urteil im Jahre 1969 stützte sich auf die damalige Zuständigkeitsverteilung auf dem kartellrechtlichen Gebiet zwischen der (damaligen) Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten127. Insoweit folgte der EuGH der Auffassung von GA Roemer in den Schlussanträgen der Rs. Walt Wilhelm. GA Roemer hat ausgeführt, dass von einem Ausschluss erneuter Strafverfolgung nur dann gesprochen werden könne, wenn der zunächst entscheidenden Instanz die volle Gerichtsbarkeit zustehe128. Das sei aber im Gemeinschaftsrecht nicht der Fall, da eine nationale Wettbewerbsbehörde nach Eröffnung eines Kommissionsverfahrens nur den Unrechtsgehalt eines Verstoßes erfassen könne, der sich aus dem nationalen Wettbewerbsrecht ergebe, während es der Kommission obliege, die gemeinschaftsrechtlichen Aspekte zu würdigen129. Aus diesem Grund käme höchstens eine Pflicht der Kommission in
124 EuGH, Urteil v. 10.5.2007, Rs. C-328/05 P, SGL Carbon/Kommission, Slg. 2007, I-3921, Rdnr. 34. 125 Schlussanträge des GA Tizzano, v. 7.6.2005, Rs. C-397/03 P, Slg. 2005, I-4429, Rdnr. 106–107. 126 Argument aus EuGH, Urteil v. 29.06.2006, Rs. C-289/04 P, Showa Denko KK/Kommission, Slg. 2006, I-5859, Rdnr. 61. 127 EuGH, Urteil v. 13.2.1969, Rs. 14–68, Walt Wilhelm u. a./Kommission, Slg. 1969, 1, Rdnr. 11. 128 Schlussanträge des GA Roemer vom 19.12.1968 in der Rs. 14–68 Walt Wilhelm u. a./ Kommission, Slg. 1969, 1 (25). 129 Schlussanträge des GA Roemer vom 19.12.1968 in der Rs. 14–68 Walt Wilhelm u. a./ Kommission, Slg. 1969, 1 (25).
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Betracht, die bereits von nationalen Wettbewerbsbehörden verhängten Geldbußen zu berücksichtigen130.
I. Weite Auslegung im Fall der Verfolgung/ Sanktionierung durch die Kommission und eine mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörde Die Anknüpfung der Geltung des Ne bis in idem-Grundsatzes im Bereich des Kartellrechts an die Befugnis der als erste befassten Wettbewerbsbehörde, die kartellrechtlichen Vorschriften der nachfolgenden Behörde vollumfänglich anzuwenden, ist zutreffend131. Sie ergibt sich aus der allgemein anerkannten innerstaatlichen Geltung des Doppelbestrafungsverbots. Die innerstaatliche Geltung ist beispielsweise in Art. 4 des 7. ZP-EMRK niedergelegt, worauf das EuG im Urteil „SGL Carbon“ verwiesen hat132. Der BGH und das BVerfG erkennen auch in ständiger Rechtsprechung an, dass ein ausländisches Urteil nicht zum Strafklageverbrauch für die Gerichte der Bundesrepublik Deutschland führen kann, da es keinen völkerrechtlichen Ne bis in idem-Grundsatz gibt133. Dennoch ergibt sich ein Strafklageverbrauch aus den Vorschriften des SDÜ für Fälle, die in seinen Anwendungsbereich fallen, wenn die Person, gegen die sich die erneute Verfolgung richten muss, rechtskräftig abgeurteilt und die Sanktion bereits vollstreckt worden ist oder gerade vollstreckt wird134. Eine zusätzliche Frage ergibt sich aus der Tatsache, dass die VO 1/2003 die territoriale Zuständigkeit der nationalen Wettbewerbsbehörden, die gleichzeitig Mitglieder des Europäischen Netzwerks der Wettbewerbsbehörden sind, nicht ausdrücklich erweitert. Das bedeutet, dass Art. 5 VO 1/2003, das die Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden für die Anwendung von Art. 101 und 102 AEUV statuiert, nicht ausdrücklich vorsieht, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden dafür zuständig sind, die Auswirkungen eines Wettbewerbsverstoßes auf die gesamte Europäische Union in ihrer Sanktionierung des Verstoßes zu berücksichtigen. Diese Zuständigkeit liegt nach wie vor primär bei der Euro päischen Kommission. Andererseits sollte berücksichtigt werden, dass das nationale Wettbewerbsrecht auch strengere Sanktionen für die Ahndung einer wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlung vorsehen kann, die bis zu Haftstrafen für natürliche Personen 130 Schlussanträge des GA Roemer vom 19.12.1968 in der Rs. 14–68 Walt Wilhelm u. a./ Kommission, Slg. 1969, 1 (26). 131 Immenga/Jüttner, ZWeR 2006, 400 (406). 132 EuG, Urteil v. 29.4.2004, verb. Rs. T-236/01, T-239/01, T-244/01 bis T-246/01, T-251/01 und T-252/01, Tokai Carbon u. a./Kommission, Slg. 2004, II-1181, Rdnr. 135. 133 Meyer-Gossner/Schmitt, Einleitung, Rdnr. 177 mit Verweis auf BGH StV 86, 292 und BVerfG StraFo 08, 151; Immenga/Jüttner, ZWeR 2006, 400 (406). 134 Meyer-Gossner/Schmitt, Einleitung, Rdnr. 177a; siehe auch Art. 54 SDÜ.
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reichen können. In Bezug auf die Sanktionierungsmöglichkeiten einer nationalen Wettbewerbsbehörde gibt es das Mindesterfordernis, dass sie bei vergleichbarer Schwere und Dauer eines Verstoßes eine Sanktionierung zumindest analog dem EU-Recht erlauben135. Gegen die Berücksichtigung sämtlicher Auswirkungen auf die EU durch eine nationale Wettbewerbsbehörde könnte man einwenden, dass sie das Risiko einer uneinheitlichen Anwendung und einer suboptimalen Fallverteilung innerhalb des Europäischen Netzes der Wettbewerbsbehörden erhöht. Wenn es der jeweiligen Rechtsordnung eines Mitgliedstaates überlassen wäre, sämtliche Auswirkungen eines Wettbewerbsverstoßes in der EU zu ahnden, würde das zu Rechtsunsicherheit für die Kartellverfahrensbeteiligten führen und die Tendenzen eines ForumShopping im Hinblick auf die Rechtsordnung mit dem mildesten Sanktionen system verstärken. Diese Rechtsunsicherheit lässt sich dadurch beheben, dass Art. 13 VO 1/2003, das jetzt nur die Möglichkeit einer Zurückweisung der Beschwerde oder einer Aussetzung des Verfahrens vorsieht, wenn eine andere Behörde sich eines Falls bereits angenommen hat, in einer künftigen Novellierung der VO 1/2003 so geändert wird, das es mit dem Ne bis in idem-Grundsatz vereinbar ist. Insbesondere nach dem Inkrafttreten der VO 1/2003 und nach der Einführung der Pflicht von mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden, bei Kartellfällen mit EU-Bezug das EU-Wettbewerbsrecht anzuwenden, und aufgrund der hohen Stellenwerts des Wettbewerbs in der Rangliste der EU-Politikbereiche, ist deutlich geworden, dass sich aus Art. 101 und 102 AEUV eine immanente Befugnis der nationalen Wettbewerbsbehörden ergibt, die EU-weiten Auswirkungen einer wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlung zu würdigen136. Die Anerkennung der systemimmanenten Pflicht einer Wettbewerbsbehörde, die Mitglied des Europäischen Netzwerks der Wettbewerbsbehörden ist, sämtliche Auswirkungen eines Kartells auf den Binnenmarkt zu ahnden, steht im Einklang mit der Tatsache, dass alle ECN-Mitglieder dasselbe materielle Recht anwenden (Art. 101 und 102 AEUV), wenn sie natürlich keine ausschließlich nationalen Fälle prüfen. Sinn und Zweck des ECN ist die effiziente Allokation der Kartellfälle zwischen den Behörden und die optimale Durchsetzung des Wettbewerbsrechts in der EU. Es ist deshalb konsequent davon auszugehen, dass die Anerkennung einer Pflicht aller anderer ECN-Mitglieder, von der Einleitung oder der Fortführung eines Verfahrens abzusehen, nachdem die Behörde bestimmt wurde, die sich eines Falls annehmen wird, zum effizienteren Einsatz der Ressourcen des ECN, zu einer besseren Durchsetzung des Wettbewerbsrechts und zu mehr Rechtssicherheit für die Betroffenen eines Kartellverfahrens führen wird.
135 Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden (ABl. EU v. 27.4.2004, C 101/43), Rdnr. 2. 136 So Yomere, S. 225.
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§ 8 Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht § 8Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht
Eine Möglichkeit, um dieser immanenten Pflicht zur Ahndung der Gesamtauswirkungen eines Kartells im Binnenmarkt nachzukommen und gleichzeitig dem Ne bis in idem-Grundsatz Geltung zu verschaffen, wäre Art. 13 VO 1/2003 in Übereinstimmung mit dem Ne bis in idem-Grundsatz so auszulegen, dass andere ECN-Mitglieder, die ein Parallelverfahren in Bezug auf dieselbe Zuwiderhandlung eingeleitet haben, dieses Verfahren einstellen müssen, und nicht bloß können, sobald eine ECN-Behörde eine Bußgeldentscheidung in einem Kartellfall erlassen hat137. Zu diesem Zweck wäre die Klarstellung vom EuG und vom EuGH wünschenswert. Ein weitreichender Schritt wäre natürlich der Einbau einer Klarstellung bezüglich der vollumfänglichen Anwendung des Ne bis in idem-Grundsatzes in die VO 1/2003 im Rahmen einer künftigen Novellierung letzterer. Dennoch gibt es bis heute keine Anzeichen von der Seite der Kommission, dass eine Neufassung der VO 1/2003, insbesondere um sie den nach der Anwendung des Systems der Legalausnahme gewonnenen Erkenntnissen anzupassen, in die Wege geleitet ist. Trotz einer Gegenstimme in der Literatur, die für die bloße Anrechnung des ersten Bußgelds von der zweiten Behörde, die sich mit demselben Wettbewerbs verstoß befasst, argumentiert138, auch wenn beide mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörden das EU-Wettbewerbsrecht durchsetzen, ist der Meinung in der Literatur zuzustimmen, die für die volle Anwendung des Verbots der Doppelverfolgung und Doppelbestrafung in einem solchen Fall plädiert139. In diesem Zusammenhang sollte noch erwähnt werden, dass die VO 1/2003 lediglich die Bindungswirkung einer Entscheidung der Kommission für die nationalen Gerichte und Wettbewerbsbehörden vorsieht140. Die Kartellverfahrensverordnung enthält jedoch keine Ausführungen in Bezug auf die Wirkung der Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde für die Kommission und die anderen Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten. Dieses Schweigen scheint bewusst und im Einklang mit der Tatsache zu sein, dass gemäß Art. 13 VO 1/2003 eine nationale Wettbewerbsbehörde ihr Verfahren einstellen kann, und nicht muss, wenn sich eine andere mitgliedstaatliche Behörde eines Falles angenommen hat. Dennoch ergibt sich aus dem Postulat des Ne bis in idem-Grundsatzes die Erforderlichkeit, dass auch die Entscheidung einer mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörde, mit der ein Verfahren abgeschlossen wird, Bindungswirkung für die Kommission und die anderen mitglied staatlichen Wettbewerbsbehörden entfaltet, wenn die die Entscheidung erlassene Wettbewerbsbehörde auch EU-Wettbewerbsrecht angewendet hat141. Diese Auslegung erscheint geboten, weil der Ne bis in idem-Grundsatz eine zweite Verfolgung und eine zweite Sanktionierung desselben wettbewerbswidrigen Verhaltens in der EU verbietet, ohne dass dabei eine Rolle spielt, ob die erste Sanktion von 137
Weiß, in: Weiß (Hrsg.), S. 69. Schild/Terhechte, in: Terhechte (Hrsg.), 8.29. 139 Siehe zum Beispiel Weiß, in: Weiß (Hrsg.), S. 69; Immenga/Jüttner, ZWeR 2006, 400 (411). Vgl. auch Soltész/Marquier, EuZW 2006, 102 (107). 140 Art. 16 VO 1/2003. 141 Weiß, in: Weiß (Hrsg.), S. 69. 138
G. Plädoyer für eine weite Auslegung des Ne bis in idem
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der Kommission oder von einer mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörde verhängt wurde142. Die volle Anwendbarkeit des Ne bis in idem-Grundsatzes ist auch dann geboten, wenn ein Verhalten sowohl gegen EU- als auch gegen nationales Kartellrecht verstößt. Das EuG lehnt die Anwendung des Ne bis in idem-Grundsatzes ab, wenn dasselbe Verhalten gegen nationales und EU-Wettbewerbsrecht verstößt und eine zweite Ahndung wegen der Durchführung Parallelverfahren absehbar ist. Nach Ansicht des EuG ergibt sich die Zulässigkeit dieser doppelten Ahndung aus dem besonderen System der Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten auf kartellrechtlichem Gebiet und aus den unterschiedlichen Zielen, denen das EU- und das nationale Verfahren dienen143. Dieser Ansicht ist aber entgegenzuhalten, dass Art. 4 Abs. 1 des 7. ZP-EMRK nicht auf „dieselbe Zuwiderhandlung“ abstellt, sondern eher auf die wiederholte Verfolgung und Ahndung einer Zuwiderhandlung, die bereits abgeurteilt wurde144. Der Ansatz des Gerichtshofs für Menschenrechte unterscheidet sich von dem des EuG insofern, dass für den EGMR nicht die Identität der von den Rechtsordnungen verfolgten Ziele, sondern die Identität der wesentlichen Elemente einer Zuwiderhandlung maßgeblich für die Anwendung des Ne bis in idem ist145. In Anbetracht der Regelung von Art. 52 Abs. 3 GRCH, die in Bezug auf diejenigen Chartagrundrechte, die auch von der EMRK gewährleistet werden, vorsieht, dass sie die ihnen von der EMRK verliehene Bedeutung und Tragweite haben, wäre der EGMR-Ansatz auch von den Unionsgerichten bei entsprechender Heranziehung von Art. 50 GRCH anzuwenden. In diesem Zusammenhang ist auch auf das Urteil des EuG vom 2011 in der Rechtssache „ThyssenKrupp“146 hinzuweisen. In diesem Urteil hat das EuG Bezug auf die doppelte Verfolgung und Sanktionierung eines Wettbewerbsverstoßes von der Kommission und von einer nationalen Wettbewerbsbehörde genommen und klargestellt, dass eine solche doppelte Verfolgung und Sanktionierung vom Ne bis in idem-Grundsatz verboten ist, weil, wenn die Kommission und die nationale Wettbewerbsbehörde auf Grundlage der ihnen durch Art. 5 und 14 VO 1/2003 verliehenen Zuständigkeiten tätig werden, den Schutz desselben Rechtsguts be zwecken. Das geschützte Rechtsgut ist in beiden Fällen der freie Wettbewerb innerhalb des Gemeinsamen Marktes147. 142
Weiß, in: Weiß (Hrsg.), S. 69. EuG, Urteil v. 9.7.2003, Rs. T-224/00, Archer Daniels Midland/Kommission, Slg. 2003, II-2597, Rdnr. 86. 144 EGMR, Urteil v. 29.5.2001, Beschwerdenr. 37950/97, Franz Fischer./.Österreich, Ziff. 25; Weiß, in: Weiß (Hrsg.), S. 69. 145 Weiß, in: Weiß (Hrsg.), S. 69. 146 EuG, Urteil v. 13.11.2011, verb. Rs T-144/07, T-147/07, T-148/07, T-149/07, T-150/07 und T-154/07, ThyssenKrupp Liften Ascenseurs BV u. a./Kommission, Slg. 2011, II-5129. 147 EuG, Urteil v. 13.11.2011, verb. Rs T-144/07, T-147/07, T-148/07, T-149/07, T-150/07 und T-154/07, ThyssenKrupp Liften Ascenseurs BV u. a./Kommission, Slg. 2011, II-5129, Rdnr. 162. 143
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§ 8 Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht § 8Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht
Aus diesen Ausführungen des EuG ergibt sich aber, dass das EuG eine doppelte Verfolgung und Ahndung desselben wettbewerbswidrigen Verhaltens durch zwei nationale Wettbewerbsbehörden, die EU-Wettbewerbsrecht anwenden, als durchaus möglich und vereinbar mit dem Ne bis in idem betrachtet. In seinem Urteil in der Rechtssache „Toshiba“ betonte der EuGH, dass die wettbewerbsrechtlichen Vorschriften auf EU- und auf nationaler Ebene Wettbewerbsverstöße auch nach Inkrafttreten der VO 1/2003 unter unterschiedlichen Aspekten beurteilen148. Dennoch lässt diese Rechtsprechung den Sinn und Zweck der parallelen Anwendung von EU- und mitgliedstaatlichem Wettbewerbsrecht sowie die Systematik des Europäischen Netzwerkes der Wettbewerbsbehörden außer Betracht. Aus der systemimmanenten Pflicht jeder mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörde, die EU-weiten Auswirkungen des von ihr geprüften Wettbewerbsverstoßes zu berücksichtigen und zu ahnden, ergibt sich eine Identität des geschützten Rechtsgutes in den Fällen, in denen die Kommission und eine mitgliedstaatliche Kartellbehörde oder zwei mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörden Art. 101 und 102 AEUV auf denselben Sachverhalt anwenden. Ferner ergibt sich aus Art. 51 Abs. 1 GRCH, dass mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörden an der Grundrechtecharta gebunden sind, wenn sie EU-Wettbewerbsrecht anwenden149. Aus diesem Grund greift in Fällen von Parallelanwendung des EU-Wettbewerbsrechts auf denselben Sachverhalt durch zwei mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörden der Ne bis in idemGrundsatz ein.
II. Anrechnungspflicht für in Drittstaaten verhängte Geldbußen Im Fall der doppelten Verfolgung und/oder Sanktionierung desselben wettbewerbswidrigen Verhaltens, das Auswirkungen sowohl in der EU als auch in einem Drittstaat hat, kommt das Ne bis in idem-Prinzip nicht zum Tragen. Der Grund ist, dass das EU- und das Drittstaatskartellverfahren unterschiedlichen Zielen dienen. Während die Kommission sich darum kümmert, im Binnenmarkt einen unverfälschten Wettbewerb zu erhalten, interessiert sich die Wettbewerbsbehörde des jeweiligen Drittstaates für den Schutz des jeweiligen nationalen Marktes150. Aus diesem Grund kann es vorkommen, dass die durch die Kommission vorgenommene Beurteilung eines wettbewerbswidrigen Verhaltens von der Beurteilung durch die Behörden eines Drittstaats erheblich abweicht151. 148 EuGH, Urteil v. 14.2.2012, Rs. C-17/10, Toshiba Corporation u. a./Úřad pro ochranu hospodářské soutěže, in der digitalen Sammlung veröffentlicht, Rdnr. 81–82. 149 Siehe auch Wils, World Compet. 2011, 189 (209). 150 EuG, Urteil v. 9.7.2003, Rs. T-224/00, Archer Daniels Midland/Kommission, Slg. 2003, II-2597, Rdnr. 90. 151 EuGH, Urteil v. 29.06.2006, Rs. C-289/04 P, Showa Denko KK/Kommission, Slg. 2006, I-5859, Rdnr. 55.
G. Plädoyer für eine weite Auslegung des Ne bis in idem
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Es stellt sich aber die Frage, wie im Rahmen des EU-Kartellverfahrens vorzugehen ist, wenn im Drittstaatswettbewerbsverfahren eine Geldbuße gegen ein Unternehmen wegen Beteiligung an einer wettbewerbswidrigen Absprache bereits verhängt wurde. Wie bereits erörtert, erkennt der EuGH in ständiger Rechtsprechung an, dass die Kommission auf Grundlage der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Billigkeit die bereits im Ausland verhängten Geldbußen im Rahmen des Ermessens bloß berücksichtigen kann152. Eine diesbezügliche Pflicht der Kommission gebe es nicht, da es weder einen völkerrechtlichen Ne bis in idem-Grund satzes mit transnationaler Geltung noch einen völkerrechtlichen Anrechnungsgrundsatz im Fall bereits verhängter Sanktionen gebe153. Es ist zwar dem EuGH zuzustimmen, dass es keinen völkerrechtlichen Grundsatz gibt, der die Anrechnung einer im Ausland verhängten Geldbuße bei der Festlegung der Höhe einer Kartellgeldbuße von der Kommission vorschreibt. Auch die bilateralen, völkerrechtlichen Abkommen zwischen der EU und den USA von 1991 und von 1998 über die Anwendung der „Positive Comity“-Grundsätze bei der Durchsetzung der Wettbewerbsregeln der beiden Rechtsordnungen statuieren keinen transnational geltenden Ne bis in idem-Grundsatz, sondern regeln eher praktische Aspekte der Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den US-amerikanischen Wettbewerbshütern (der „Federal Trade Commission“ und dem „Department of Justice“)154. Dennoch könnte dahingehend argumentiert werden, dass ein völkerrechtlicher Ne bis in idem-Grundsatz überhaupt nicht erforderlich ist, um eine Pflicht der Kommission zur Berücksichtigung von in Drittstaaten verhängten Bußgeldern anzuerkennen. Diese Pflicht ergibt sich direkt aus dem europarechtlichen Ne bis in idem, der einen allgemeinen Grundsatz des EU-Rechts darstellt und als solcher von der Kommission in ihren Entscheidungen geachtet werden muss. In diesem Zusammenhang sollte darauf hingewiesen werden, dass das mitgliedstaatliche Ne bis in idem die nationalen Wettbewerbsbehörden dazu verpflichtet, bereits verhängte Geldbußen bei ihrer Bußgeldbemessung zu berücksichtigen. Die Ablehnung einer solchen Pflicht der Kommission würde zu einem niedrigeren Grundrechtsschutz auf EU-Ebene führen155.
152 EuGH, Urteil v. 29.06.2006, Rs. C-289/04 P, Showa Denko KK/Kommission, Slg. 2006, I-5859, Rdnr. 60; Urteil v. 29.06.2006, Rs. C-308/04 P, SGL Carbon AG/Kommission, Slg. 2006, I-5977, Rdnr. 36. 153 EuGH, Urteil v. 29.06.2006, Rs. C-289/04 P, Showa Denko KK/Kommission, Slg. 2006, I-5859, Rdnr. 58. 154 Abkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika über die Anwendung ihrer Wettbewerbsregeln, ABl. EG v. 27.4.1995, L 95/47; Abkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika über die Anwendung der „Positive Comity“-Grundsätze bei der Durchsetzung ihrer Wettbewerbsregeln, ABl. EG v. 18.6.1998, L 173/28. 155 Canenbley/Rosenthal, ECLR 2005, 178 (183).
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§ 8 Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht § 8Der Grundsatz „Ne bis in idem“ im EU-Kartellverfahrensrecht
Eine Anrechnungspflicht könnte sich aber aus rechtsstaatlichen Gründen ergeben. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das zu den allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts gehört156, könnte als Grundlage einer Anrechnungspflicht dienen, da die Nicht-Anrechnung einer im Ausland bereits verhängten Geldbuße zu einer unverhältnismäßig hohen Sanktionierung im Inland führen könnte157. Darüber hinaus könnte das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Schranke der stets wachsenden extraterritorialen Durchsetzung des Wettbewerbsrechts dienen. Die Anerkennung einer solchen Funktion des Verhältnismäßigkeitsprinzips erscheint erforderlich angesichts der Tatsache, dass weltweit tätige Unternehmen unterschiedlichen Wettbewerbsrechtsordnungen unterliegen und demnach dem Risiko mehrfacher Sanktionen ausgesetzt sind. Schließlich könnte die Anerkennung des Verhältnismäßigkeitsprinzips als Schranke der extraterritorialen Durchsetzung des Wettbewerbsrechts als Anreiz für eine effizientere Zusammenarbeit zwischen den Wettbewerbsbehörden dienen158. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ergibt sich wiederum aus dem Rechtsstaatsprinzip, das der EU- und den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen inhärent ist. Das Rechtsstaatsprinzip (und darüber hinaus das Verhältnismäßigkeitsgrundsatz) ist der rote Faden des Tätigwerdens der hoheitlichen Gewalt und deswegen kommt es auch im Kartellverfahren zum Tragen. Das sich daraus ergebende Anrechnungsgebot erfordert dementsprechend keinen besonderen völkerrechtlichen Ne bis in idem-Grundsatz als Grundlage seiner Geltung im EU-Kartellverfahren. Es ist auch nicht ersichtlich, warum die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes die Abschreckungswirkung von Bußgeldsanktionen im EU-Kartellrecht beeinträchtigen könnte. Das Anrechnungsgebot würde zu verhältnismäßigen, aber nicht zu weniger abschreckenden Sanktionen führen. Darüber hinaus hängt die abschreckende Wirkung der kartellrechtlichen Bußgelder nicht ausschließlich von ihrer Höhe ab. Die Verhängung von Bußgeldern gegen Unternehmen wegen wettbewerbswidrigen Verhaltens führt auch zu einer Stigmatisierung der sanktionierten Unternehmen und zu einem Reputationsverlust. An diesem Punkt mag auch die Frage dahingestellt bleiben, ob im Zeitalter der immer häufigeren privaten Durchsetzung des Kartellrechts durch Schadenersatzklagen die Achtung der kartellrechtlichen Vorschriften alleine durch die Abschreckungswirkung von besonders hohen Geldbußen sichergestellt wird.
156 EuGH, Urteil v. 13.11.1990, Rs. C-331/88, The Queen gegen Minister of Agriculture, Fisheries and Food und Secretary of State for Health, ex parte: Fedesa u. a., Slg. 1990, I-4023, Rdnr. 13. 157 So Immenga/Jüttner, ZWeR 2006, 400 (409). 158 Canenbley/Rosenthal, ECLR 2005, 178 (185).
H. Fazit
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H. Fazit Der Ne bis in idem-Grundsatz erlangt im Zeitalter des Netzwerks der europäischen Wettbewerbsbehörden und der unmittelbaren Anwendung des EU-Wettbewerbsrechts durch mitgliedstaatliche Wettbewerbsbehörden eine besondere Bedeutung. Die restriktive Auslegung des Ne bis in idem durch die Unionsgerichte entspricht nicht den neuen Gegebenheiten bei der öffentlichen Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts und bleibt hinter den durch die GRCH und die EMRK gestellten Anforderungen an Grundrechtsschutz zurück. Deswegen erscheint es geboten, eine sich durch das Ne bis in idem ergebende Sperrwirkung für die Verfolgungs-/Sanktionierungstätigkeit der Kommission oder einer mitgliedstaatlichen Kartellbehörde anzunehmen, wenn sämtliche Auswirkungen eines Wettbewerbsverstoßes auf den Binnenmarkt durch einen Wettbewerbshüter in der EU bereits geahndet wurden. Darüber hinaus erscheint aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit und der Verhältnismäßigkeit geboten, im Falle der Sanktionierung durch die Kommission von wettbewerbsrechtswidrigem Verhalten, das bereits in einem Drittstaat wegen seiner lokalen Auswirkungen Gegenstand einer Sanktion gewesen ist, von einer Pflicht der Kommission auszugehen, die im Drittstaat verhängte Geldbuße bei der Berechnung der Geldbuße im EU-Kartellverfahren zu Gunsten des Unternehmens zu berücksichtigen.
§ 9 Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht A. Die Unschuldsvermutung als rein strafrechtliches Prinzip I. Inhalt des Prinzips der Unschuldsvermutung Das Prinzip der Unschuldsvermutung („in dubio pro reo“) findet seinen Ursprung und gleichzeitig seinen traditionellen Anwendungsbereich im Straf(-prozess)recht. Es handelt sich dabei um einen von allen Rechtsstaaten anerkannten Rechtsgrundsatz, der bereits in Art. 11 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 niedergelegt wurde. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung verlangt, dass jeder Adressat von Vorwürfen, die sich auf mögliche Rechtsverstöße beziehen, bis zum Beweis seiner Schuld als unschuldig betrachtet und behandelt wird. Für seine Bezeichnung als schuldig und für die Einwirkung der Konsequenzen eines Schuldzuspruchs bedarf es einer rechtskräftigen Feststellung der Schuld1. Die Unschuldsvermutung verbietet nicht nur jede förmliche Feststellung sondern auch jede Anspielung auf die Verantwortlichkeit einer des Verstoßes angeklagten Person in einer das Verfahren abschließenden Entscheidung, wenn diese Person nicht alle Garantien für die Ausübung der Verfahrensrechte im Rahmen eines normalen Verfahrensablaufs, der auf eine Entscheidung über die Begründetheit der Beanstandung zielt, hat ausnutzen können2.
II. Auswirkungen des Prinzips der Unschuldsvermutung Aus dem Prinzip der Unschuldsvermutung ergeben sich, unabhängig davon, worauf man sich für die Begründung dieses Grundsatzes stützt, d. h. auf die Menschenwürde, das Rechtsstaatsprinzip oder das allgemeine Persönlichkeitsrecht, sowohl das Verbot, eine noch nicht verurteilte natürliche oder juristische Person als schuldig zu bezeichnen oder zu behandeln, als auch die Pflicht des Staates, die Beweise für den Nachweis der Schuld eines Angeklagten selber zu erbringen3. 1 Siehe Art. 48 Abs. 1 EGC. Vgl. auch Eser, in: Meyer (Hrsg.), Art. 48, Rdnr. 5; Blanke, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Art. 48 GRCh, Rdnr. 3. 2 EuG, Urteil v. 6.10.2005, verb. Rs. T-22 und T-23/02, Sumitomo Chemical Co. Ltd und Sumika Fine Chemicals Co. Ltd/Kommission, Slg. 2005, II-4065, Rdnr. 106. 3 Eser, in: Meyer (Hrsg.), Art. 48, Rdnr. 12.
A. Die Unschuldsvermutung als rein strafrechtliches Prinzip
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Gelingt es dem Staat nicht, die Schuld eines Angeklagten nachzuweisen, kommt der Grundsatz „in dubio pro reo“ zur Geltung, der den Freispruch des Angeklagten gebietet. Eine weitere Folge der Geltung der Unschuldsvermutung ist, dass sowohl die Beweisführungslast (die formelle Beweislast) als auch das Risiko der Unaufklärbarkeit (der materiellen Beweislast) beim Staat und nicht beim Angeklagten liegt4. An diesem Punkt wird deutlich, dass die Beweislastregelung (im Strafverfahren) dem Unschuldsvermutungsprinzip entspringt. Diese Folge der Unschuldsvermutung ist von besonderem Belang für die in Art. 2 VO 1/2003 enthaltene Beweislastregelung für das europäische Kartellverfahrensrecht, die der Kommission oder der nationalen Wettbewerbsbehörde oder der sich auf die Zuwiderhandlung berufenden Partei (in der privaten Kartellrechtsdurchsetzung) die Beweislast aufbürdet. Andererseits ist gemäß derselben Vorschrift diejenige Partei verpflichtet, die sich auf Art. 101 Abs. 3 AEUV beruft, die Erfüllung der Voraussetzungen dieser Vorschrift darzulegen.
III. Anwendbarkeit der Unschuldsvermutung im EU-Wettbewerbsrecht In Anbetracht sowohl des strafrechtlichen Ursprungs und Hauptanwendungsbereichs der Unschuldsvermutung als auch der fehlenden Kompetenz der Europäischen Union in der strafrechtlichen Materie mag der erste Anschein verwundern, dass in einer Erörterung über die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahren auf das Prinzip der Unschuldsvermutung eingegangen wird, obwohl es strafrechtlichen Ursprungs ist. Der Wortlaut von Art. 23 Abs. 5 VO 1/2003 („Die nach den Absätzen 1 und 2 getroffenen Entscheidungen haben keinen strafrechtlichen Charakter“), spricht dafür, dass die strafprozessualen Garantien von Art. 6 EMRK und von den Artikeln 47–50 GRCH keine Anwendung im EU-Kartellverfahrensrecht finden, da dieses über keinen strafrechtlichen Charakter verfügt. Die Geltung von fundamentalen verfahrensrechtlichen Garantien im Wettbewerbsverfahren vor der Kommission wird aber heutzutage sowohl von der Rechtsprechung5 als auch von der Literatur6 anerkannt. Dasselbe gilt auch für grundlegende strafprozessuale Gewährleistungen im EU-Bußgeldrecht7. Die Rechtsprechung der Unionsgerichte begründet die Geltung dieser Garantien im 4 So Eser, in: Meyer (Hrsg.), Art. 48, Rdnr. 12. Vgl. Sibony/Barbier de la Serre, RTDeur 2007, 205 (220). 5 Siehe z. B. EuGH, Urteil v. 21.09.1989, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst AG/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rdnr. 16. 6 So Feddersen, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), 26. EL, nach Art. 83 EGV, Art. 23 VO 1/2003, Rdnr. 20. 7 Vgl. Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Vorbemerkungen zu Art. 23 ff., Rdnr. 38–39. Siehe auch Slater/Thomas/Waelbroeck, ECJ 2009, 97 (114).
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§ 9 Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht § 9Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht
EU-Recht mit Hinweis auf die entsprechenden Gewährleistungen der EMRK, die für alle Mitgliedstaaten rechtsverbindlich ist und deren wesentliche Elemente in Form von allgemeinen Rechtsgrundsätzen Bestandteile der EU-Rechtsordnung bilden8. Da also das EU-Kartellverfahren auch zur Verhängung einer (oft besonders) schweren Geldbuße führen kann und da es, wie bereits analysiert9, ein Verwaltungsverfahren mit strafrechtsähnlichen Zügen ist10, müssen in diesem Verfahren auch rein strafrechtliche Prinzipien Anwendung finden11, wie zum Beispiel die Unschuldsvermutung, das Verbot der Doppelbestrafung wegen derselben Straftat („ne bis in idem“) oder das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung („nemo tenetur se ipsum accusare“).
B. Die Geltung der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht I. Die Geltung der Unschuldsvermutung im EU-Recht im Allgemeinen Aus der Rechtsprechung des EuGH, aus Art. 48 GRCH und Art. 6 Abs. 2 EMRK ergibt sich, dass das Grundrecht der Unschuldsvermutung auch im EU-Recht gilt. Nach ständiger Rechtsprechung gehört die Unschuldsvermutung, wie sie sich namentlich aus Art. 6 Abs. 2 EMRK und aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt, zu den Grundrechten, die in der EU-Rechtsordnung geschützt werden12. Das in 6 Abs. 2 EMRK und in Art. 48 Abs. 1 GRCH verankerte Prinzip der Unschuldsvermutung ist ein Grundrecht und kein bloßer Grundsatz, das dem Einzelnen Rechte einräumt, deren Achtung der Unionsrichter gewährleistet13. Träger des Grund-
8
EuG, Urteil v. 9.7.2003, Rs. T-224/00, Archer Daniels Midland/Kommission, Slg. 2003, II-2597, Rdnr. 39; EuGH, Urteil v. 22.10.2002, Rs. C-94/00, Roquette Frères SA/Directeur général de la concurrence, Slg. 2002, I-9011, Rdnr. 23; Urteil v. 7.1.2004, verb. Rs. C-204/00 u. a., Aalborg Portland AS/Kommission, Slg. 2004, I-123, Rdnr. 64. 9 Siehe § 3 „Die Reichweite der Grundrechte im EU-Kartellverfahrensrecht“, III.3, S. 83 ff. 10 In einigen Mitgliedstaaten werden die kartellrechtlichen Verfahren ausdrücklich als strafrechtliche Verfahren im Sinne der EMRK anerkannt. Das ist zum Beispiel der Fall für Verfahren unter dem Competition Act 1998 im Vereinigten Königreich. So Gray/Lester/Darbon/Facenna/Brown/Holmes (Hrsg.), S. 128, Rdnr. 415. 11 So bezogen auf das kartellrechtliche Bußgeldverfahren Schwarze, WuW 2009, 6 (9). 12 EuG, Urteil v. 6.10.2005, verb. Rs. T-22 und T-23/02, Sumitomo Chemical Co. Ltd und Sumika Fine Chemicals Co. Ltd/Kommission, Slg. 2005, II-4065, Rdnr. 104; EuGH, Urteil v. 8.7.1999, Rs. C-199/92 P, Hüls/Kommission, Slg. 1999, I-4287, Rdnr. 149; EuGH, Urteil v. 8.7.1999, Rs. C-235/92 P, Montecatini/Kommission, Slg. 1999, I-4539, Rdnr. 175. 13 EuG, Urteil v. 8.7.2008, Rs. T-48/05, Franchet und Byk/Kommission, Slg. 2008, II-1585, Rdnr. 209.
B. Die Geltung der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht
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rechts sind nicht nur die natürlichen, sondern auch die juristischen Personen und Personenvereinigungen14. In der EU-rechtlichen Literatur wird davon ausgegangen, dass der Anwendungsbereich des Unschuldsvermutungsprinzips nicht nur im engen strafprozessualen Sinn zu verstehen ist, sondern dass er auch alle Verfahren umfasst, die strafrechtsähnlichen Charakter haben, wie insbesondere das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht und das europäische Verwaltungssanktionsrecht15. Der EuGH und das EuG führen in ständiger Rechtsprechung aus, dass das Prinzip der Unschuldsvermutung auch auf Verfahren wegen des Verstoßes gegen die EU-Wettbewerbsregeln, die zur Verhängung von Geldbußen oder Zwangsgeldern führen können, anwendbar ist16. Der EGMR hat in seiner Rechtsprechung bereits anerkannt, dass eine Beeinträchtigung der Unschuldsvermutung nicht nur von einem Gericht, sondern auch von anderen Trägern der öffentlichen Gewalt ausgehen kann17. Diese Feststellung des Gerichtshofs für Menschenrechte dürfte auch für die Europäische Kommission Geltung beanspruchen, die für den Bereich des Europäischen Wettbewerbsrechts sowohl als Anklage- als auch als Entscheidungsinstanz fungiert. Die Bindung der Kommission an das Prinzip der Unschuldsvermutung ergibt sich aus Art. 48 Abs. 1 der Grundrechtecharta, auf die die VO 1/2003 verweist.
II. Rechtsgrundlage der Unschuldsvermutung im EU-Recht 1. Anerkennung der Unschuldsvermutung in der Rechtsprechung der Unionsgerichte Bis die Charta der Grundrechte zum Rang des EU-Primärrechts durch Art. 6 Abs. 1 EUV (in der Fassung des Lissaboner Vertrags) erhoben wurde, bestand in der EU-Rechtsordnung keine ausdrückliche, geschriebene Grundlage des Prinzips der Unschuldsvermutung. Umso weniger gab es eine positivrechtliche Grundlage für die Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahren18. Das Grundrecht wurde, wie es mit Grundrechten im EU-Recht oft der Fall gewesen ist, richterrechtlich formuliert und ausgeprägt. Der EuGH hat das Prinzip der Unschuldsvermutung als 14
Blanke, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Art. 48 GRCh, Rdnr. 1. Eser, in: Meyer (Hrsg.), Art. 48, Rdnr. 11. 16 EuG, Urteil v. 6.10.2005, verb. Rs. T-22 und T-23/02, Sumitomo Chemical Co. Ltd und Sumika Fine Chemicals Co. Ltd/Kommission, Slg. 2005, II-4065, Rdnr. 105; EuGH, Urteil v. 8.7.1999, Rs. C-199/92 P, Hüls/Kommission, Slg. 1999, I-4287, Rdnr. 150; EuGH, Urteil v. 8.7.1999, Rs. C-235/92 P, Montecatini/Kommission, Slg. 1999, I-4539, Rdnr. 176. 17 EGMR, Urteil v. 10.2.1995, Beschwerdenr. 15175/89, Allenet de Ribemont./.Frankreich, Ziff. 35–36. 18 Gumbel, S. 253. 15
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§ 9 Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht § 9Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht
Bestandteil der Grundrechte des Unionsrechts (damals noch Gemeinschaftsrechts) anerkannt, der sich insbesondere aus Art. 6 Abs. 2 EMRK ergibt19. In den Entscheidungen Solvay20 und ICI21 hat das EuG ausgeführt, dass die Unschuldsvermutung im Kartellverfahren zugunsten eines betroffenen Unternehmens gelte22. Für die Herausarbeitung des EU-Grundrechts der Unschuldsvermutung hat sich der EuGH auf Art. 6 Abs. 2 EMRK gestützt23. Der EuGH hat allerdings durch die Heranziehung von Art. 6 Abs. 2 EMRK nicht die Unschuldsvermutung, wie sie in der EMRK gewährleistet wird, einfach in die EU-Rechtsordnung übernommen, sondern ein eigenständiges EU-Grundrecht ausgearbeitet, das inhaltlich der EMRK-Gewährleistung entspricht. Die unionsrechtliche Unschuldsvermutung bietet nach Auffassung des EuGH einen gleichwertigen Schutz mit der entsprechenden EMRK-Garantie. Diesem Argument des EuGH kann jedoch entgegengebracht werden, dass diese allgemeinen Rechtsgrundsätze des EU-Rechts hinter formalisierten und justiziablen strafrechtlichen Garantien zurückbleiben könnten24. Aus diesem Grund erscheint es geboten, repressive oder präventive – und somit nicht nur restitutive – Verwaltungssanktionen als strafähnlich zu qualifizieren25, damit dann auch die strafrechtlichen Garantien Anwendung finden. 2. Positivierung in Art. 48 Abs. 1 GRCH Der in der Rechtsprechung der Unionsgerichte entwickelte Rechtsgrundsatz der Unschuldsvermutung fand später Eingang in die Europäische Grundrechtecharta. Obwohl es ursprünglich Bedenken über die Einbeziehung von strafrechtlichen Verfahrensprinzipien in die Charta wegen der fehlenden strafrechtlichen Kompetenz der EU gab, wurden sie in Anbetracht der sich abzeichnenden Tendenz einer Strafrechtsharmonisierung in der EU und einer entsprechenden zukunftsweisenden Funktion der Grundrechtecharta dennoch in den Text der Charta aufgenommen26.
19 EuGH, Urteil v. 8.7.1999, Rs. C-199/92 P, Hüls AG/Kommission, Slg. 1999, I-4287, Rdnr. 149 f.; Urteil v. 8.7.1999, Rs. C-235/92, Montecatini SpA/Kommission, Slg. 1999, I-4539, Rdnr. 175 f.; EuG, Urteil v. 8.7.2004, Rs. T-67/00, JFE Engineering Corporation/Kommission, Slg. 2004, II-2501, Rdnr. 178. 20 EuG, Urteil v. 29.6.1995, Rs. T-30/91, Solvay SA/Kommission, Slg. 1995, II-1775. 21 EuG, Urteil v. 29.6.1995, Rs. T-36/91, Imperial Chemical Industries pcl (ICI)/Kommission, Slg. 1995, II-1847. 22 EuG, Urteil v. 29.6.1995, Rs. T-30/91, Solvay SA/Kommission, Slg. 1995, II-1775, Rdnr. 73; Urteil v. 29.6.1995, Rs. T-36/91, Imperial Chemical Industries pcl (ICI)/Kommission, Slg. 1995, II-1847, Rdnr. 83. 23 Siehe EuGH, Urteil v. 8.7.1999, Rs. C-199/92 P, Hüls AG/Kommission, Slg. 1999, I-4287, Rdnr. 149. 24 Eser, in: Meyer (Hrsg.), Art. 48, Rdnr. 11. 25 So Schwarze, EuZW 2003, 261 (261). 26 Eser, in: Meyer (Hrsg.), Art. 48, Rdnr. 3.
B. Die Geltung der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht
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Dieser Entscheidung ist zu verdanken, dass nunmehr in Art. 48 Abs. 1 GRCH eine ausdrückliche Rechtsgrundlage des Prinzips der Unschuldsvermutung im Primärrecht der EU zu finden ist. Die Charta der Grundrechte und somit auch der Grundsatz der Unschuldsvermutung hatte bereits vor ihrer Erhebung zum EU-Primärrecht eine Ausstrahlungsfunktion bis in die Rechtsprechung des EuGH und des EuG hinein entwickelt27. Gemäß der Erläuterungen des Konventspräsidiums entspricht Art. 48 Abs. 1 GRCH materiell rechtlich Art. 6 Abs. 2 EMRK28. Die Unschuldsvermutung verbietet, dass eine noch nicht rechtskräftig verurteilte Person als schuldig bezeichnet oder behandelt wird. Auf die Unschuldsvermutung können sich sowohl natürliche als auch juristische Personen berufen. Sie gilt in strafrechtlichen und strafrechtsähnlichen Verfahren29.
III. Die Rechtsprechung der Unionsgerichte zur Anwendung der Unschuldsvermutung im Kartellverfahren In den Entscheidungen in den Rechtssachen „Hüls“ und „Montecatini“ hat der EuGH die Geltung des Prinzips der Unschuldsvermutung als Teil der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts im Kartellverfahren anerkannt30. Der EuGH ist zu dieser Feststellung gelangt, ohne sich mit dem Charakter des Kartellverfahrens näher auseinanderzusetzen, obwohl sich GA Vesterdorf in seinen Schlussanträgen zur Rechtssache „Rhône-Poulenc“ zehn Jahre vor der Verkündung des Hüls-Urteils mit der Anwendung von strafprozessualen Grundsätzen im Kartellverfahren befasst hatte und den strafrechtlichen Charakter der Sanktionen im EU-Kartellverfahren bejaht hatte31. Umso verwunderlicher erscheint die Begründung des Gerichtshofs in Bezug auf die Geltung der Unschuldsvermutung, weil der EuGH sich 27 Im Urteil in der Rs. „max.mobil“ (EuG, Urteil v. 30.1.2002, Rs. T-54/99, max.mobil Telekommunikation Service/Kommission, Slg. 2002, II-313, Rdnr. 48) hat das EuG die Grundrechtecharta insoweit als rechtlich relevant betrachtet, als ihre Regelungen zur Bekräftigung von bereits durch Auslegungsarbeit und Rechtsvergleichung anerkannten allgemeinen europäischen Rechts- und Verfassungsgrundsätze. Im Urteil über die Familienzusammenführungsrichtlinie (EuGH, Urteil v. 27.6.2007, Rs. C-540/03, Parlament/Rat, Slg. 2006, I-5769, Rdnr. 38) hat der EuGH die Charta noch mehr aufgewertet, indem er sie zum Kontrollmaßstab für sekundäres Gemeinschaftsrecht erhebt, falls dieses sekundäre Recht in seiner Begründung auf sie verweist. Siehe auch Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Vorbemerkungen zu Art. 23 ff., Rdnr. 40. 28 Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents, ABl. EG v. 16.12.2004, C 310/ 451 ff., 457. 29 Voet van Vormizeele, in Schwarze (Hrsg.), Art. 48 GRC, Rdnr. 4. 30 EuGH, Urteil v. 8.7.1999, Rs. C-199/92 P, Hüls AG/Kommission, Slg. 1999, I-4287, Rdnr. 149; Urteil v. 8.7.1999, Rs. C-235/92 P, Montecatini SpA/Kommission, Slg. 1999, I-4539, Rdnr. 175. 31 Schlussanträge des GA Vesterdorf vom 10.7.1991 zur Rechtssache T-1/89, Rhône-Poulenc/Kommission, Slg. 1991, II-869 (884 ff.).
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§ 9 Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht § 9Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht
selbst im Urteil Hüls auf Art. 6 EMRK als Rechtserkenntnisquelle bezieht32, in dem die Garantien für das Strafverfahren im weiten Sinne niedergelegt werden, ohne selber eine Aussage über die Natur des EU-Kartellverfahrens zu machen. Ohne den strafrechtlichen Charakter der Geldbußen im EU-Kartellverfahren anzuerkennen33, betonte der EuGH in Hüls, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung angesichts der Art der fraglichen Zuwiderhandlungen sowie der Art und der Schwere der verhängten Sanktionen im EU-Kartellverfahren anwendbar ist34. Für die Begründung seiner Ansicht berief sich der EuGH explizit auf die Urteile Öztürk35 und Lutz36 des EGMR37. Der Richterspruch in der Rechtssache Hüls wurde später mehrfach durch weitere Urteile sowohl des EuGH als auch des EuG bekräftigt38, so dass heutzutage von einer ständigen Rechtsprechung gesprochen werden kann, die die volle Geltung des Prinzips der Unschuldsvermutung im europäischen Kartellverfahrensrecht anerkennt. In der Rechtssache Pergan hat sich das EuG nicht nur darauf beschränkt, die Geltung der Unschuldsvermutung in kartellrechtlichen Verfahren, die zur Verhängung einer Geldbuße oder von Zwangsgeldern führen können, zu be teuern, sondern hat sich auch auf Art. 48 Abs. 1 GRCH als bekräftigende Erkenntnisquelle der Unschuldsvermutung berufen39.
32 EuGH, Urteil v. 8.7.1999, Rs. C-199/92 P, Hüls AG/Kommission, Slg. 1999, I-4287, Rdnr. 149. 33 Nach Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 23 VO 1/2003, Rdnr. 330, hat der EuGH in seinem „Evonik-Degussa“-Urteil (C-266/06 P, Rdnr. 38) anerkannt, dass Geldbußen Verwaltungsunrecht sanktionieren sollen, dass sie aber keinen strafrechtlichen Charakter haben. Das ergibt sich aber nicht aus dem zitierten Urteil. Das EuG erkennt dagegen im Urteil Compagnie maritime belge SA/Kommission an, dass nicht mal die in Art. 19 Abs. 4 VO 4056/86 (die aufgehobene Gruppenfreistellungsverordnung für die Schifffahrtskonferenzen) vorgesehenen Sanktionen strafrechtlichen Charakter haben. So EuG, Urteil v. 1.7.2008, Rs. T-276/04, Compagnie maritime belge SA/Kommission, Slg. 2008, II-1277, Rdnr. 66. 34 EuGH, Urteil v. 8.7.1999, Rs. C-199/92 P, Hüls AG/Kommission, Slg. 1999, I-4287, Rdnr. 149. 35 EGMR, Urteil v. 21.2.1984, Beschwerdenr. 8544/79, Öztürk./.Deutschland. 36 EGMR, Urteil v. 25.8.1987, Beschwerdenr. 9912/82, Lutz./.Deutschland. 37 EuGH, Urteil v. 8.7.1999, Rs. C-199/92 P, Hüls AG/Kommission, Slg. 1999, I-4287, Rdnr. 150. 38 Siehe zum Beispiel die Urteile EuG, Urteil v. 12.10.2007, Rs. T-474/04, Pergan Hilfsstoffe für industrielle Prozesse GmbH/Kommission, Slg. 2007, II-4225; Urteil v. 6.10.2005, Rs. T-22 und T-23/02, Sumitomo Chemical Co. Ltd und Sumika Fine Chemicals Co. Ltd/Kommission, Slg. 2005, II-4065; verb. Rs. T-67/00, T-68/00, T-71/00 und T-78/00, JFE Engineering Corporation u. a./Kommission, Slg. 2004, II-2501; EuGH, Urteil v. 8.7.1999, Rs. C-235/92, Montecatini SpA/Kommission, Slg. 1999, I-4539. 39 EuG, Urteil v. 12.10.2007, Rs. T-474/04, Pergan Hilfsstoffe für industrielle Prozesse GmbH/Kommission, Slg. 2007, II-4225, Rdnr. 75.
C. Folgen der Geltung der Unschuldsvermutung im Kartellverfahrensrecht
351
IV. Die Rechtsprechung des EGMR zur Anwendung von Art. 6 Abs. 2 EMRK auf Ordnungswidrigkeitenverfahren In seinem Urteil in der Rechtssache Hüls hat sich der EuGH auf die Entscheidungen des EGMR in den Fällen Öztürk und Lutz bezogen, um seine Feststellung über die Anwendung des Prinzips der Unschuldsvermutung im kartellrechtlichen Bußgeldverfahren zu bekräftigen. Aus diesem Grund erscheint es hier angebracht, die vom EuGH herangezogene Straßburger Judikatur kurz zu untersuchen. Im Fall Öztürk, in dem es um die Qualifizierung einer Verletzung der Straßenverkehrsordnung als Straftat im weiten Sinne von Art. 6 EMRK ging, entschied sich der EGMR unter Berufung auf die von ihm früher aufgestellten Kriterien im Urteil Engel40, dass es für die Anwendung der Konventionsgarantien nicht auf die rechtliche Qualifizierung einer Tat vom nationalen Gesetzgeber ankomme und stellte fest, dass Taten, die unter deutschem Recht als Ordnungswidrigkeiten einzustufen sind, unter den Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK (also, auch unter den Anwendungsbereich des in Art. 6 Abs. 2 EMRK niedergelegten Prinzips der Unschuldsvermutung) fallen41. Im Fall Lutz, in dem es sich wieder um die Anwendung von Art. 6 Abs. 2 EMRK auf eine Ordnungswidrigkeit handelte, bezog sich der Gerichtshof für Menschenrechte explizit auf das Öztürk-Urteil und bestätigte sein früheres Judikat. Im Fall Société Stenuit vom Jahr 1992 stellte die Kommission für Menschenrechte fest, dass die im französischen Wettbewerbsrecht vorgesehenen Geldbußen unter den Begriff der Strafe im Sinne von Art. 6 EMRK fielen und dass ein wettbewerbsrechtliches Verfahren, das zu einer solchen Sanktion führen kann, an den Garantien von Art. 6 EMRK zu messen ist42.
C. Die Folgen der Geltung der Unschuldsvermutung im europäischen Kartellverfahrensrecht Im europäischen Kartellverfahrensrecht gibt es drei wichtige Bereiche, in denen das Prinzip der Unschuldsvermutung in Erscheinung tritt und einen maßgeblichen Einfluss auf den Ausgang des Kartellerfahrens hat. Zum einen verbirgt sich der Grundsatz „in dubio pro reo“ hinter der Beweislastregelung für das Kartellverfahren vor der Kommission und vor den nationalen Kartellbehörden, wenn sie EU-Wettbewerbsrecht anwenden. Es ist allerdings festzuhalten, dass das Prinzip
40
EGMR, Urteil v. 8.6.1976, Beschwerdenr. 5100/71, 5101/71, 5102/71, 5354/72 und 5370/72, Engel u. a./.Niederlande, Ziff. 82. 41 EGMR, Urteil v. 21.2.1984, Beschwerdenr. 8544/79, Öztürk./.Deutschland, Ziff. 49–56. 42 EGMR, Urteil v. 27.2.1992, Société Stenuit./.Frankreich, Ziff. 7.
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§ 9 Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht § 9Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht
der Unschuldsvermutung ein Kernelement beim Aufbau von Beweisregeln im EUKartellrecht darstellt43. Zum anderen funktioniert die Unschuldsvermutung als eine Schranke der Tätigkeit und der Entscheidungskompetenz der Kommission im EU-Kartellverfahren, da sie in ihren Entscheidungen und Pressemitteilungen vorsichtig mit den Angaben über mögliche Kartellanten umgehen muss, deren angeblicher Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln noch nicht rechtskräftig festgestellt wurde. Ferner kommt das Prinzip der Unschuldsvermutung im Rahmen des Kronzeugenprogramms der Kommission in Betracht, da die Unschuldsvermutung zu Bedenken gegenüber der Rechtmäßigkeit des Leniency-Programms in seiner heutigen Ausgestaltung führt. Auf die konkreten Auswirkungen der Unschuldsvermutung in diesen Bereichen wird im Folgenden näher eingegangen.
I. Die kartellverfahrensrechtliche Beweislast und die Unschuldsvermutung Die konsequente Anwendung des Prinzips der Unschuldsvermutung im Bereich des EU-Wettbewerbsrechts würde bedeuten, dass es der Kommission obliegt, alle konstitutiven Tatbestandsmerkmale eines Verstoßes gegen die EU-Wettbewerbsregeln nachzuweisen. Diese Pflicht der Kommission kann wiederum in doppelter Hinsicht ausgelegt werden: Entweder hat die Kommission nur die positiven Tatbestandsmerkmale nachzuweisen (und das Unternehmen muss dann die Erfüllung des Befreiungstatbestands beweisen) oder die Kommission muss sowohl die Erfüllung der Belastungstatbestandsmerkmale als auch die Nichterfüllung der Befreiungstatbestandsmerkmale darlegen44. Eine grammatikalische Auslegung des Prinzips der Unschuldsvermutung würde zum Ergebnis führen, dass die Kommission sowohl die positiven Elemente – die Tatbestandsmerkmale, deren Erfüllung für die Begehung des Verstoßes erforderlich ist –, als auch die negativen Tatbestandsmerkmale – ebenjene, deren Nichterfüllung für die Begehung des Verstoßes notwendig sind – nachzuweisen hat45. Eine Stimme in der Literatur plädiert dafür, dass die Kommission bei ihren Ermittlungen auch entlastende Tatsachen/Momente zu berücksichtigen habe46. Soweit es sich nur um die Berücksichtigung der entlastenden Tatsachen und nicht um die Beweislast der Rechtfertigungstatbestandsmerkmale von Art. 101 Abs. 3 AEUV handelt, behält dieser Satz seine Gültigkeit. Denn aus Art. 2 VO 1/2003 ergibt sich, dass der EU-Gesetzgeber die Beweislastverteilung so wollte, dass die Behörde (im Rahmen eines Verwaltungs- oder Bußgeldverfahrens) oder der Kläger (im Rahmen 43
Parret, ECJ 2008, 169 (177). So Sibony/E. Barbier de la Serre, RTDEur 2007, 205 (220). 45 Vgl. Sibony/E. Barbier de la Serre, RTDEur 2007, 205 (220). 46 Gumbel, S. 252 f. 44
C. Folgen der Geltung der Unschuldsvermutung im Kartellverfahrensrecht
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eines kartellrechtlichen Schadensersatzverfahrens), lediglich die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 1 AEUV, und nicht auch das Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV, nachzuweisen hat. Solange man sich im Anwendungsbereich von Art. 101 Abs. 3 AEUV befindet, ist die Stellung des Gesetzgebers und der Rechtsprechung klar und einheitlich: Das Unternehmen, das sich auf die Befreiungstatbestandsmerkmale von Art. 101 Abs. 3 AEUV beruft, muss auch beweisen, dass diese Voraussetzungen tatsächlich vorliegen. Diese vom EuGH entwickelte Regel etablierte sich als ständige Rechtsprechung und fand Eingang in die Vorschrift des Artikels 2 VO 1/2003, die die Beweislast im Verfahren wegen einer Zuwiderhandlung gegen Art. 101 Abs. 1 oder 102 AEUV regelt. Solange die Regel des Art. 2 VO 1/2003 in Verwaltungsoder Zivilverfahren angewendet wird, ist sie grundrechtlich unproblematisch und entspricht auch der Logik und der Prozessökonomie: Die Partei, die sich auf den Rechtsvorteil von Art. 101 Abs. 3 AEUV beruft, ist auch grundsätzlich am besten in der Lage, die Informationen beizubringen, aus denen deutlich hervorgeht, dass die Voraussetzungen der Vorschrift, wie zum Beispiel Effizienzsteigerungen, tatsächlich vorliegen47.
II. Die Beweislastregelung des Art. 2 VO 1/2003 und die Unschuldsvermutung 1. Inhalt der Beweislastregelung Art. 2 VO 1/2003 verteilt auf den ersten Blick deutlich die Beweislast in allen mitgliedstaatlichen und EU-Verfahren zur Anwendung der EU-Wettbewerbsregeln, da er eine einheitliche Anwendung des Wettbewerbsverfahrensrechts gewährleisten soll. Die Behörde oder die Partei, die eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 oder 102 AEUV geltend machen, muss darlegen und nachweisen, dass ein Verstoß gegen das Kartell- bzw. Missbrauchsverbot vorliegt. Es ist anzumerken, dass grundsätzlich zwischen zwei Arten von Beweislast unterschieden wird: der materiellen und der formellen. Erstere betrifft das Risiko der Unaufklärbarkeit („non liquet“), Letztere wiederum die Beweisführungslast, die normalerweise mit einer Beibringungslast gekoppelt ist48. Art. 2 VO 1/2003 regelt nur die materielle Beweislast, antwortet also auf die Frage, wer das Risiko des „non liquet“ trägt49. Über die formelle Beweislast macht die Vorschrift keine Vorgaben. Angesichts der Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes sowohl im EUrechtlichen als auch in den nationalen Verwaltungsverfahren erscheint dies auch
47
Begründung der Kommission zum Entwurf der VO 1/2003, KOM (2000) 582 endg., S. 16. So Schmidt, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 2 VO 1/2003, Rdnr. 3. 49 Sura, in: Langen/Bunte (Hrsg.), Art. 2 VO Nr. 1/2003, Rdnr. 5. 48
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§ 9 Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht § 9Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht
konsequent, da die Behörden selber die Nachweise für die Fundierung ihrer Vorwürfe beibringen müssen50. Art. 2 VO 1/2003 stellt im Verhältnis zur VO 17/62 eine Neuigkeit dar, da bis zum Inkrafttreten der VO 1/2003 keine Vorschrift im EU-Recht über die Beweislast oder den Grad der Beweisführung zu finden war51. Allerdings oblag es den Unternehmen auch vor dem Inkrafttreten der VO 1/2003 zu beweisen, dass ihre Vereinbarungen die Freistellungskriterien erfüllen. Bei dieser Pflicht blieb es auch in der neuen Kartellverfahrensverordnung, da die Unternehmen immer noch nach Art. 2 S. 2 VO 1/2003 die Beweislast dafür tragen, dass die Freistellungsvoraus setzungen dieser Vorschrift tatsächlich erfüllt werden52. Die in Art. 2 VO 1/2003 aufgestellte Beweislastregelung lässt die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes unberührt, der besagt, dass die Kommission gemäß dem Grundsatz einer guten Verwaltung von Amts wegen aufgrund jeder bei ihr eingereichten Beschwerde ermitteln muss53. Das wird vom europäischen Gesetzgeber im 5. Erwägungsgrund der VO 1/2003 ausdrücklich klargestellt. Der Untersuchungsgrundsatz gilt auch für das deutsche Bundeskartellamt und bleibt unberührt von der Regelung des Art. 2 VO 1/2003. Die Vorschrift regelt nur, wer im Falle eines non liquet die materielle Beweislast zu tragen hat, und schränkt nicht die Pflicht der nationalen Kartellbehörden ein, den ihnen vorgebrachten Sachverhalt im Hinblick sowohl auf Art. 101 Abs. 1, als auch auf Art. 101 Abs. 3 AEUV aufzuklären. 2. Rechtstheoretische Grundlagen der Vorschrift Die Regelung der Beweislast in Art. 2 VO 1/2003 findet kein Pendant in der alten Kartellverfahrensverordnung 17/62. Trotzdem entspricht sie den vom EuGH unter dem Regime der VO 17/62 herausgearbeiteten Beweislastregeln. In dieser Vorschrift kommt zivilprozessuales Denken zum Ausdruck54. Sie stellt einen Ausdruck des in den meisten Rechtsordnungen geltenden Prinzips „actori incumbit probatio“ dar, der dem Beschwerdeführer die Beweislast aufbürdet55. Der Grundgedanke dieser Vorschrift des EU-Kartellverfahrensrechts entspricht dem bereits im Zivilprozessrecht geltenden Prinzip „ei incumbit probatio qui dicit non qui ne-
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Schmidt, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 2 VO 1/2003, Rdnr. 3. Parret, ECJ 2008, 169 (173); siehe auch Böge/Bardong, in: MünchKommEUWettbR, Art. 2 VO 1/2003, Rdnr. 1. 52 Böge/Bardong, in: MünchKommEUWettbR, Art. 2 VO 1/2003, Rdnr. 1. 53 Böge/Bardong, in: MünchKommEUWettbR, Art. 2 VO 1/2003, Rdnr. 3 und 19. Dieser Grundsatz galt auch im Rahmen des Freistellungsverfahrens. Siehe Bechtold/Bosch/Brinker, Art. 2 VO 1/2003, Rdnr. 4. 54 So Schmidt, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 2 VO 1/2003, Rdnr. 9. 55 Parret, ECJ 2008, 169 (173). 51
C. Folgen der Geltung der Unschuldsvermutung im Kartellverfahrensrecht
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gat“56. Der Kläger ist also verpflichtet, die Wahrheit seiner Behauptungen zu beweisen. Der Beklagte, der sich zu seiner Verteidigung auf eine Tatsache beruft, muss wiederum, in Anwendung des Prinzips „reus in excipiendo fit actor“, alle diese Beweise antreten, die die Stichhaltigkeit seiner Behauptungen unterstützen57. Aufgrund des Zusammenspiels dieser wechselt die Beweislast daher mehrmals die Seite. 3. Zielsetzung der Vorschrift Art. 2 VO 1/2003 soll eine einheitliche Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV gewährleisten und in Bezug auf die Tatsachenfeststellung die durch das Entfallen des Freistellungsmonopols geschaffene Unsicherheit reduzieren58. Ferner wollte die Kommission mit der in Art. 2 VO 1/2003 vorgenommenen Klarstellung einer falschen Auslegung der unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 101 Abs. 3 AEUV vorbeugen. Es hätte nämlich angenommen werden können, dass die Beweislast für die Voraussetzungen von Art. 101 Abs. 3 AEUV auf die Kartellbehörde ver schoben wäre59. Ein solches Ergebnis hätte jedoch auch durch die Berufung auf die praktische Wirksamkeit („effet utile“) von Art. 101 AEUV vermieden werden können, da eine Beweislastverschiebung die Anforderungen für Kläger und Kartellbehörden überdehnen und die Durchsetzung von Art. 101 AEUV übermäßig erschweren würde60. 4. Anwendungsbereich Gemäß Erwägungsgrund 5 der VO 1/2003 erstreckt sich der Anwendungsbereich von Art. 2 VO 1/2003 sowohl auf Verwaltungs- und Bußgeldverfahren der Kommission als auch auf nationale Verwaltungs- oder Zivilverfahren zur Anwendung von Art. 101 und 102 AEUV61. Die Vorschrift regelt weder das anwendbare Beweismaß in den mitgliedstaatlichen Verfahren noch die Aufklärungspflichten der nationalen Kartellbehörden und Gerichte. Beides bleibt gemäß dem Grund-
56 „Die Beweisführung trägt derjenige, der einen Anspruch geltend macht, nicht aber der, der den Anspruch bestreitet“. 57 Mehr dazu in Sibony/E. Barbier de la Serre, RTDEur 2007, 205 (217 f.). 58 Schmidt, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 2 VO 1/2003, Rdnr. 1 und 5. 59 Siehe dazu Monopolkommission, 28. Sondergutachten: Kartellpolitische Wende in der Europäischen Union? Zum Weißbuch der Kommission vom 28.4.1999, Rdnr. 60. 60 Dalheimer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), nach Art. 83 EGV, Art. 2 VO 1/2003, 26. EL, März 2005, Rdnr. 2. 61 Erwägungsgrund 5, VO 1/2003; vgl. Schmidt, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 2 VO 1/2003, Rdnr. 4. Keine Anwendung hingegen findet die Beweislastregel in Fusionskontrollverfahren und in Verfahren, in denen der Sachverhalt nach dem nationalen materiellen Wettbewerbsrecht gewürdigt wird.
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§ 9 Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht § 9Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht
satz der nationalen Verwaltungsautonomie von den einschlägigen nationalen Vorschriften geregelt. 5. Geltung von Art. 2 Satz 2 VO 1/2003 auch in Bußgeldverfahren? Wegen des nicht differenzierenden Wortlauts von Art. 2 Satz 2 VO 1/2003 wird die Geltung der Beweislastregelung auch für unionsrechtliche und nationale Bußgeldverfahren zur Anwendung von Art. 101 und 102 AEUV angenommen62. Die in Art. 2 VO 1/2003 enthaltene Beweislastregelung entspricht der EuGH-Rechtsprechung. Der Gerichtshof hat im Urteil „Aaalborg Portland“ die in Art. 2 VO 1/2003 niedergelegte Verteilung der Beweislast auch für Bußgeldentscheidungen gebilligt63. Ferner betrachten die Unionsgerichte die von der Kommission angenommene gestufte Beweislast bei der Teilnahme an Treffen von Kartellanten als vereinbar mit dem Prinzip der Unschuldsvermutung64. Wenn Unternehmen an Sitzungen teilgenommen haben, bei denen Kartellabsprachen getroffen wurden, geht die Kommission davon aus, dass auch das betroffene Unternehmen bei der Absprache mitgewirkt hat. Dem Unternehmen obliegt dann die Beweislast dafür, dass es am Treffen teilgenommen hat, ohne wettbewerbswidrige Ziele zu verfolgen und dass es die anderen teilnehmenden Unternehmen auf die Wettbewerbswidrigkeit des Abgesprochenen aufmerksam gemacht hat65. Die Anwendung der in Art. 2 Satz 2 VO 1/2003 enthaltenen Beweislastregel in kartellrechtlichen Bußgeldverfahren ist allerdings nur schwer vereinbar mit der EGMR-Rechtsprechung zum Prinzip der Unschuldsvermutung, wie sie insbesondere im Urteil Öztürk zum Ausdruck kam. Gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs für Menschenrechte beansprucht die Unschuldsvermutung auch in Ordnungswidrigkeitenverfahren Geltung. Die Anwendung von Art. 2 Satz 2 VO 1/2003 in nationalen Bußgeldverfahren über die Anwendung von Art. 101 oder 102 AEUV würde einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 EMRK bedeuten, da auf solche Verfahren strafrechtliche Prinzipien anwendbar sind und die Auferlegung an den Betroffenen der Beweislast bezüglich des Vorliegens der Art. 101 Abs. 3 AEUV-Kriterien mit der Unschuldsvermutung nicht vereinbar ist. 62
Siehe zum Beispiel Bechtold/Brinker/Bosch/Hirschbrunner, Art. 2 VO 1/2003, S. 186, Rdnr. 17; Schmidt, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 2 VO 1/2003, Rdnr. 19. 63 EuGH, Urteil v. 7.1.2004, verb. Rs. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P, Aalborg Portland A/S u. a./Kommission, Slg. 2004, I-123, Rdnr. 78 f. 64 EuG, Urteil v. 3.3.2011, Rs. T-110/07, Siemens AG/Kommission, Slg. 2011, II-477, Rdnr. 43–48; siehe auch Böge/Bardong, in: MünchKommEUWettbR, Art. 2 VO 1/2003, Rdnr. 20. 65 EuGH, Urteil v. 8.7.1999, Rs. C-199/92 P, Hüls/Kommission, Slg. 1999, I-4287, Rdnr. 149.
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Die Bedenken tauchen in Bezug auf die Anwendung der Beweislastregel sowohl in nationalen Kartellbußgeldverfahren als auch im Bußgeldverfahren vor der Kommission auf. Als problematisch in Bezug auf die Geltung der Unschuldsvermutung erweist sich die in Art. 2 Satz 2 VO 1/2003 enthaltene Beweislastregelung auch im Hinblick auf ihre Anwendung in nationalen kartellrechtlichen Bußgeldverfahren mit strafrechtlichem oder strafrechtsähnlichem Charakter, wie zum Beispiel im deutschen Ordnungswidrigkeitenverfahren66. Denn dem Wortlaut von Art. 2 VO 1/2003 folgend beansprucht die darin enthaltene Regel auch in solchen Verfahren Geltung, in denen Art. 101 AEUV angewendet wird. Diese Geltung wird einerseits durch die im 8. Erwägungsgrund der VO 1/2003 enthaltene Erklärung eingeschränkt, dass die VO 1/2003 insgesamt nicht für nationale Rechtsvorschriften gilt, auf deren Grundlage gegen natürliche Personen strafrechtliche Sanktionen in Bezug auf Wettbewerbsverstöße verhängt werden können. Gleichzeitig wird aber auch die Schranken-Schranke eingeführt, die besagt, dass die letztgenannte Einschränkung nicht gelten soll, wenn die strafrechtlichen Sanktionen als Mittel dienen, um die für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln durchzusetzen67. Dennoch beansprucht in nationalen strafrechtlichen oder strafrechtsähnlichen Verfahren, nicht zuletzt aufgrund der Bindung der Mitgliedstaaten an die EMRK, der verfassungsrechtliche Grundsatz „in dubio pro reo“ Geltung. Angesichts des sekundärrechtlichen Charakters von Art. 2 VO 1/2003 und des Mangels an einer ausdrücklichen und umfassenden strafrechtlichen Kompetenz der EU erscheint es zweifelhaft, dass Art. 2 VO 1/2003 die Prozess- und Beweislastregeln der nationalen Gerichte zu ändern vermag68. Aus grundrechtlicher Sicht ist auch die Anwendung der in Art. 2 Satz 2 VO 1/2003 niedergelegten Beweislastumkehr in Bußgeldverfahren vor der Europäischen Kommission problematisch. Es verstößt nämlich gegen den auch in strafrechtsähnlichen Verfahren geltenden Grundsatz der Unschuldsvermutung, von Unternehmen zu verlangen, dass sie bei Vorliegen eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV die Erfüllung der Freistellungsvoraussetzungen von Art. 101 Abs. 3 AEUV selber nachweisen69. Die Pflicht der EU-Institutionen, und im hier untersuchten Fall der Kommission, den Grundsatz der Unschuldsvermutung zu achten, ergibt sich aus der Bindung der EU-Institutionen an die Grundrechte, wie sie insbesondere in der Grundrechtecharta statuiert sind. Aufgrund der Klausel in Art. 52 Abs. 3 GRCH und von Art. 6 Abs. 3 EUV haben sich die EU-Organe an die Unschuldsvermutung zu halten, so wie sie in der Charta niedergelegt ist und so wie sie durch die EMRK näher konkretisiert wird. Das Prinzip der Unschuldsvermutung hat in fast allen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen Verfassungsrang. Darüber hinaus wird es in Art. 6 Abs. 2 der 66
So Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Art. 2 VerfVO, Rdnr. 4. 8. Erwägungsgrund VO 1/2003, ABl. EU v. 4.1.2003, L 1/1. 68 Kerse/Kahn, S. 305, Rdnr. 5–105. 69 Vgl. Sura, in: Langen/Bunte (Hrsg.), Art. 2 VO Nr. 1/2003, Rdnr. 7. 67
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§ 9 Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht § 9Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht
EMRK verankert, die für alle EU-Mitgliedstaaten bindend ist. Beide Aussagen treffen auch für Deutschland zu. Aus diesen Gründen hat die deutsche Delegation bei der Verabschiedung der VO 1/2003 versucht, ihren Rechtsstandpunkt und ihre Erwiderung zur Endfassung von Art. 2 VO 1/2003 durch Abgabe einer Protokoll erklärung70 zum Ausdruck zu bringen. Gemäß der deutschen Protokollerklärung sei Art. 83 EG (nunmehr Art. 103 AEUV) keine ausreichende Rechtsgrundlage für die Einführung oder Änderung strafrechtlicher bzw. strafprozessualer Regelungen (denen in Deutschland ordnungswidrigkeitenrechtliche Regeln gleichgestellt sind). Aus diesem Grund blieben nach Meinung der deutschen Delegation der Untersuchungsgrundsatz und die Unschuldsvermutung im Bußgeldverfahren von den durch Art. 2 VO 1/2003 aufgestellten Beweislastregeln unberührt. 6. Vorrang der Unschuldsvermutung gegenüber Art. 2 Satz 2 VO 1/2003 in kartellrechtlichen Bußgeldverfahren Die Unionsgerichte haben soweit ersichtlich zu der angeführten Problematik noch keine Stellung bezogen. Ein Teil der Literatur lehnt die Anwendung von Art. 2 VO 1/2003 auf strafrechtliche oder strafrechtsähnliche Verfahren, wie das deutsche Ordnungswidrigkeitenverfahren, ab71. Andere Stimmen in der Wissenschaft plädieren dafür, dass Art. 2 VO 1/2003 bei der Verhängung von Geldbußen im Hinblick auf Art. 6 Abs. 2 EMRK und auf Art. 48 Abs. 1 GRCH restriktiv ausgelegt wird72. Art. 2 Satz 2 VO 1/2003 gilt grundsätzlich auch für EU- oder nationale Bußgeldverfahren unter dem Vorbehalt des Schutzes des höherrangigen Prinzips der Unschuldsvermutung. Kommt es zu einem Konflikt, dann muss Art. 2 VO 1/2003 zurücktreten. Diese Lösung des Konflikts scheint in Einklang mit dem Effektivitätsgebot des EU-Rechts zu sein und ist deswegen der absoluten Nichtanwendung der Vorschrift im Bußgeldverfahren vorzuziehen. Der Meinung der deutschen Delegation, wie sie in der Protokollerklärung zum Ausdruck kam, ist somit beizupflichten73, obwohl die Kritik an der Wahl der Rechtsgrundlage im EU-Primärrecht nicht zutrifft, da Art. 103 Abs. 2 lit. a AEUV sich ausdrücklich auf die Verhängung von Bußgeldern bezieht. Die Geltung von 70
Abgedruckt in Schwarze/Weitbrecht, S. 269. Klees, § 5, Rdnr. 27; Schwarze/Weitbrecht, § 11, Rdnr. 38; Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, Art. 2 VO 1/2003, Rdnr. 29. 72 Böge/Bardong, in: MünchKommEUWettbR, Art. 2 VO 1/2003, Rdnr. 20; so auch Schmidt, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 2 VO 1/2003, Rdnr. 16 und 39. 73 So Schmidt, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 2 VO 1/2003, Rdnr. 12. A. A. Dalhei mer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), nach Art. 83, Art. 2 VO 1/2003, 26. EL, März 2005, Rdnr. 13–14, der die deutsche Protokollerklärung als zu stark orientiert an einzelstaatlichen Begriffsbildungen betrachtet und darauf hinweist, dass auch nach deutschem Recht die bloße Behauptung der Voraussetzungen eines Verteidigungsgrundes für die Erfüllung der Mitwirkungspflicht des Angeklagten nicht ausreicht. 71
C. Folgen der Geltung der Unschuldsvermutung im Kartellverfahrensrecht
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Art. 2 VO 1/2003 wird in Bußgeldverfahren vor den nationalen Kartellbehörden oder vor den Gerichten von der Geltung übergeordneter Verfassungsgrundsätze, wie der Unschuldsvermutung, verdrängt. Zu einer solchen Verdrängung dürfte wegen der Verankerung der Unschuldsvermutung in der Europäischen Grundrechtecharta auch im Kommissionsbußgeldverfahren kommen. Da die Unschuldsvermutung in Art. 48 Abs. 1 GRCH gewährleistet wird und da die Kartellverfahrensverordnung gemäß Erwägungsgrund 37 in Übereinstimmung mit den Rechten und Prinzipien der Charta auszulegen und anzuwenden ist, sollten richtigerweise keine Geldbußen im Verfahren vor der Kommission verhängt werden können, wenn die Kommission nicht hinreichend dargelegt hat, dass die Voraussetzungen von Art. 101 Abs. 3 AEUV nicht erfüllt sind. Ansonsten würde ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung vorliegen74. Praktisch reicht es aber nicht, dass sich ein Unternehmen bloß auf Art. 101 Abs. 3 AEUV beruft, um sich von den Vorwürfen der Kommission zu befreien. Insofern bestehen Ähnlichkeiten zur Lage im deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht75. Einige Darlegungspflichten bestehen weiterhin für das betroffene Unternehmen. Trotz der eher beschränkten praktischen Relevanz der angeführten Problematik, da im Fall von Wettbewerbsverstößen, die zur Eröffnung eines Bußgeldverfahrens führen, die Erfüllung der Einzelfreistellungsvoraussetzungen von Art. 101 Abs. 3 AEUV eher die Ausnahme ist76, gibt es einen Konflikt des sekundären EURechts mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung, der sowohl von den nationalen Verfassungen, als auch von der EMRK geschützt wird. Ferner sind Beweislast fragen unter der neuen Kartellverfahrensverordnung, nicht zuletzt aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 101 Abs. 3 AEUV und des „more economic approach“ bedeutender als unter der VO 17/6277, so dass ein solcher Konfliktpunkt als unerwünscht erscheint. Aus diesen Gründen wäre es sinnvoll, diesen Konflikt bei einer eventuellen Novellierung der Kartellverfahrensverordnung zu beheben, indem der europäische Gesetzgeber klarstellt, dass die Beweislastregel von Art. 2 VO 1/2003 keine Anwendung auf Kartellverfahren findet, die zur Verhängung einer Geldbuße führen. Die deutsche Protokollerklärung kann allerdings keine einseitige Änderung der Rechtslage herbeiführen. Bis zur Novellierung der VO 1/2003 kann der EuGH Abhilfe leisten, indem er den strafrechtsähnlichen Charakter des kartellrechtlichen Bußgeldverfahrens ausdrücklich anerkennt und Art. 2 VO 1/2003 in Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung auslegt. Es bleibt somit festzuhalten, dass in Verfahren, die zur Verhängung einer Geldbuße führen, die (materielle) Beweislast bezüglich Art. 101 Abs. 3 AEUV auf Grund des Prinzips der Unschuldsvermutung, das aufgrund von Art. 48 Abs. 2 GRCH und 74
So Sura, in: Langen/Bunte (Hrsg.), Art. 2 VO Nr. 1/2003, Rdnr. 7. Schmidt, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 2 VO 1/2003, Rdnr. 39. 76 Schmidt, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 2 VO 1/2003, Rdnr. 39. 77 Siehe dazu Schmidt, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 2 VO 1/2003, Rdnr. 7. 75
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§ 9 Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht § 9Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht
Art. 6 Abs. 2 EMRK zu den in der EU garantierten Grundrechten gehört78, von der Kommission getragen wird79.
III. Die Auswirkungen des Prinzips der Unschuldsvermutung auf die Entscheidungsbefugnis der Kommission Aus der Geltung des Prinzips der Unschuldsvermutung ergibt sich für die Bediensteten und Mitglieder der Kommission die Pflicht, dass sie bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben im Bereich der Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts nicht von der vorgefassten Meinung ausgehen, dass das unter Verdacht stehende Unternehmen den noch nachzuweisenden Kartellverstoß begangen hat. Die Kommission ist allerdings nicht daran gehindert, die Öffentlichkeit über laufende Kartellverfahren zu informieren. Die Geltung der Unschuldsvermutung stellt jedoch eine Schranke dieser Öffentlichkeitsarbeit dar und muss von der Kommission geachtet werden, so dass keine Aussagen über die vom Verfahren betroffenen Unternehmen gemacht werden, die mit der Unschuldsvermutung unver einbar sind. Ferner muss das Prinzip der Unschuldsvermutung auch bei der Verfassung und Veröffentlichung der Kommissionsentscheidungen in Kartellverfahren berücksichtigt werden, wie das EuG in seinem Urteil in der Rechtssache Pergan klarstellte80. Gemäß der EuGH-Rechtsprechung entfaltet nur der verfügende Teil einer Kommissionsentscheidung Rechtswirkungen und kann Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein, während der begründende Teil der Entscheidung nicht mit einer Klage gemäß Art. 263 Abs. 4 AEUV angefochten werden kann. Die Begründung einer Entscheidung kann nur dann auf ihre Rechtmäßigkeit hin vom Unionsrichter überprüft werden, solange sie als Begründung einer beschwerenden Maßnahme die tragenden Gründe für den verfügenden Teil dieser Maßnahme darstellt81 und wenn diese Begründung insbesondere geeignet ist, den materiellen Gehalt des verfügenden Teils der fraglichen Maßnahme zu ändern82.
78 EuGH, Urteil v. 17.12.98, Rs. C-185/95 P, Baustahlgewebe/Kommission, Slg. 1998, I-8417, Rdnr. 149–159. 79 Sura, in: Langen/Bunte (Hrsg.), Art. 2 VO Nr. 1/2003, Rdnr. 7. 80 EuG, Urteil v. 12.10.2007, Rs. T-474/04, Pergan Hilfsstoffe für industrielle Prozesse GmbH/Kommission, Slg. 2007, II-4225, Rdnr. 46. 81 EuG, Urteil v. 12.10.2007, Rs. T-474/04, Pergan Hilfsstoffe für industrielle Prozesse GmbH/Kommission, Slg. 2007, II-4225, Rdnr. 73; EuGH, Beschluss v. 28.1.2004, Rs. C-164/ 02, Niederlande/Kommission, Slg. 2004, I-1177, Rdnr. 21; EuG, Urteil v. 19.3.2003, Rs. T-213/00, CMA CGM u. a./Kommission, Slg. 2003, II-913, Rdnr. 186. 82 EuG, Urteil v. 20.11.2002, Rs. T-251/00, Canal+/Kommission, Slg. 2002, II-4825, Rdnr. 67 und 68.
C. Folgen der Geltung der Unschuldsvermutung im Kartellverfahrensrecht
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Die Erwähnung eines Unternehmens im begründenden Teil einer Entscheidung der Kommission, mit der ein Verfahren nach Art. 101 AEUV abgeschlossen wird, obwohl dieses Unternehmen dann im verfügenden Teil nicht auftaucht (aufgrund von Verjährung des ihm zur Last gelegten Verstoßes oder wegen Mangels an Beweisen) würde gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung verstoßen. Denn, obwohl dieses Unternehmen förmlich kein Adressat der Entscheidung ist, weist der begründende Teil der Entscheidung auf seine Schuld hin, ohne dem betroffenen Unternehmen die Möglichkeit zu gewähren, die Entscheidung vor den Unionsgerichten anzufechten. Dieser Konflikt zwischen der Entscheidungsbefugnis der Kommission und der Unschuldsvermutung scheint rechtsprechungsbedingt zu sein. Aus diesem Grund ließe er sich auch einfach beheben, wenn sich die Unionsgerichte für eine Kursänderung in der Rechtsprechung entscheiden würden und die gerichtliche Anfechtbarkeit der Begründungen von Kommissionsentscheidungen anerkennen würden.83 Auf der anderen Seite ist das EuG der Auffassung, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung es nicht verbiete, dass die Verantwortlichkeit der eines Verstoßes angeklagten Person am Ende eines vollständig durchgeführten Verfahrens festgestellt wird, in dem alle Formen beachtet wurden und die Verfahrensrechte daher in vollem Umfang ausgeübt werden konnten. Dies gelte selbst denn, wenn der Verstoß nicht geahndet werden kann, weil die entsprechende Befugnis der zuständigen Behörde verjährt ist84. In Anbetracht der schwerwiegenden Folgen (insbesondere der potenziellen Schadensersatzansprüche Kartellgeschädigter), die eine solche Konstellation für ein betroffenes Unternehmen haben kann, kann dieser Rechtsprechung nicht uneingeschränkt zugestimmt werden. Vielmehr gebietet die Unschuldsvermutung, dass ein Unternehmen, dessen Schuld nur mittelbar im begründenden Teil einer Kommissionsentscheidung festgestellt wird, die Möglichkeit hat, die Entscheidung anzufechten.
IV. Die Kronzeugenregelung und das Prinzip der Unschuldsvermutung 1. Die Kronzeugenregelung als Instrument der Kartellrechtsdurchsetzung Das Kronzeugenprogramm der Kommission gehört zu den Hauptinstrumenten einer effektiven Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts. Die große Bedeutung des Kronzeugenprogramms wird nicht zuletzt daran deutlich, dass die Kommis 83
Siehe Wegener, EuR 2008, 716 (720). EuG, Urteil v. 6.10.2005, Rs. T-22 und T-23/02, Sumitomo Chemical Co. Ltd und Sumika Fine Chemicals Co. Ltd/Kommission, Slg. 2005, II-4065, Rdnr. 107. 84
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§ 9 Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht § 9Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht
sion im Laufe der Jahre trotz der durch die VO 1/2003 ausgeweiteten Durchsuchungsrechte schwerer an Beweismaterial für die Ahndung von Wettbewerbsrechtsverletzungen gelangt und dass sie für die Aufdeckung von sogenannten „Hardcore“-Wettbewerbsverstößen in zunehmender Weise auf die von den Unternehmen im Rahmen der freiwilligen Zusammenarbeit mit der Kommission offengelegten Informationen angewiesen ist85. Allerdings ist es kein Zufall, dass die Kronzeugenregelung der Kommission bis dato zweimal novelliert wurde86, so dass ihre Wirksamkeit bei der Aufdeckung von schwerwiegenden Wettbewerbsverstößen erhöht wird87. Ferner erweist sich die Kronzeugenregelung im EU-Wettbewerbsrecht aufgrund der hohen Geldbußen, die von der Kommission verhängt werden, als besonders wichtig, da die Zusammenarbeit mit der Kommission für die Unternehmen als einziger Weg zur Vermeidung einer schweren Sanktion erscheint, wenn ein Wettbewerbsverstoß aufgedeckt wird88. 2. Beurteilung der Kronzeugenregelung anhand strafrechtlicher Grundsätze Darüber hinaus stellt die Kronzeugenmitteilung der Kommission einen wichtigen Referenztext für Bußgeldentscheidungen im EU-Wettbewerbsrecht dar. Obwohl sie dem Soft law zuzuordnen ist und bindend in erster Linie nur für die Kommission ist, erlangt sie für die kooperierenden Unternehmen quasi Gesetzesbedeutung. Da die verhängten Geldbußen sich nunmehr auf Millionenhöhe bewegen und sie sowohl einen punitiven als auch generalpräventiven Charakter aufweisen, müssen ihre Rechtsgrundlagen, d. h. sowohl Art. 23 VO 1/2003 als auch die Leitlinien der Kommission über die Bußgeldfestsetzung und den Bußgelderlass für ihre Rechtmäßigkeit am Maßstab der elementaren strafrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Grundsätzen gemessen werden89. Daraus folgt, dass auch die Kronzeugenmitteilung, als wesentliches Element bei der Festsetzung von Geld bußen, im Lichte dieser Grundsätze bewertet werden muss. Zu diesen Grundsätzen gehört auch das Prinzip der Unschuldsvermutung.
85
Zum zweiten Punkt zustimmend Schwarze, WuW 2009, 6 (11). Die erste Kronzeugenregelung stammte aus dem Jahr 1996 (Mitteilung der Kommission über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. EG Nr. C 207 vom 18. Juli 1996, S. 4 ff.). Zum ersten Mal wurde sie im Jahre 2002 überarbeitet (Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. EG Nr. C 45 vom 19. Februar 2002, S. 3 ff.). Zum zweiten Mal wurde sie dann in 2006 überarbeitet (Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung in Kartellsachen vom 7. Dezember 2006, ABl. EG v. 8.12.2006, C 298/17 ff.). 87 Albrecht, WRP 2007, 417 (417). 88 So Schwarze, WuW 2009, 6 (11). 89 Hetzel, S. 155. 86
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Die Funktion und die Effektivität von Kronzeugenprogrammen basieren auf dem durch sie geschaffenen Anreiz eines Bußgelderlasses oder einer Bußgeldermäßigung im Falle der Zusammenarbeit mit einer Wettbewerbsbehörde, die zur Aufdeckung eines schweren Wettbewerbsverstoßes führt. Dieses Immunitätsversprechen zwingt die Unternehmen faktisch zur Offenlegung von Informationen, mit denen Wettbewerbsverstöße nachgewiesen werden können und die in der Regel einer Selbstbelastung gleichkommen, da sie im Regelfall größtenteils das sie einreichende Unternehmen betreffen. Es ist aber gleichwohl möglich, dass die eingereichten Informationen auch dritte Unternehmen betreffen oder sogar belasten. Das Missbrauchspotenzial wird sofort erkennbar, da ein mit der Kommission kooperierendes Unternehmen versuchen könnte, einen Wettbewerber durch die Übermittlung irreführender Informationen oder durch haltlose Äußerungen in den mündlichen Erklärungen gegenüber der Kommission zu belasten. Gegen diese Vorwürfe, die von einem Konkurrenten und nicht von der Wettbewerbsbehörde vorgebracht wurden, muss sich dann das dritte Unternehmen verteidigen. Das Problem, und gleichzeitig der Unterschied zur Erhebung der Vorwürfe von einer Behörde ist dabei, dass die durch die Aussagen des dritten Unternehmens geschaffene Lage für das belastete Unternehmen praktisch unübersehbar ist, so dass der planmäßige Einsatz von legitimen Verteidigungsrechten erschwert wird90. 3. Eingriff in die Unschuldsvermutung durch die Kronzeugenregelung Im Ergebnis bedeutet dieser Umstand eine Gefährdung der uneingeschränkten Geltung von fundamentalen Grundsätzen des Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahrens, die sich nicht im Einklang mit dem Gebot der Achtung der Grundrechte im EU-Kartellverfahren befinden. Das durch die Aussage des Kronzeugen belastete dritte Unternehmen muss den Beweis dafür erbringen, dass es sich wettbewerbskonform verhalten hat, während die Wettbewerbsbehörde von ihrer Aufgabe des Nachweises des Wettbewerbsverstoßes befreit wird91. Das führt aber zu einer materiellen Beweislastumkehr, die der grundlegenden Garantie der Unschuldsvermutung entgegensteht und die der allgemeinen Beweislastregel im europäischen Wettbewerbsrecht widerspricht. Diese in Art. 2 VO 1/2003 verankerte Regel besagt, dass der Kläger in einem Kartellverfahren (unabhängig davon, ob es sich um eine Behörde oder einen Privaten handelt) den Beweis des geltend gemachten Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht erbringen muss92. Die durch die Inanspruchnahme des Kronzeugenprogramms hervorgerufene Beweislastumkehr erscheint als eine Bedrohung des Wesensgehalts der Verteidi 90
Schwarze, WuW 2009, 6 (10). Schwarze, EuR 2009, 171 (189). 92 Stürner, in: Basedow (Hrsg.), S. 163 (184). 91
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§ 9 Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht § 9Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahrensrecht
gungsrechte, da die von einem Wettbewerber im Rahmen eines Kronzeugenprogramms erhobenen Vorwürfe für den Betroffenen zunächst schwer einschätzbar und praktisch unübersehbar sind. Dieser Umstand erschwert wiederum den im Voraus strategisch geplanten Einsatz von Verteidigungsmitteln von den betroffenen Unternehmen93. 4. Lösungsansatz: Die Kronzeugenmitteilung muss dem Gesetzesvorbehalt unterstellt werden Die Rechtmäßigkeit der Kronzeugenregelung der Kommission wurde soweit ersichtlich bislang vor den Unionsgerichten nicht beanstandet94. In der Theorie mehren sich aber die Stimmen, die, nicht zuletzt aufgrund der Beweislastumkehr, rechtsstaatliche Bedenken bezüglich der Kronzeugenmitteilung äußern95. Für die Vereinbarkeit einer solchen Regelung mit den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit genügt es aber nicht, dass die Regelung die Verwaltungseffizienz steigert. Es ist vielmehr erforderlich, dass die die Verwaltungseffizienz steigernden Maßnahmen sowohl inhaltlich als auch formell den rechtsstaatlichen Geboten entsprechen96. Dafür ist es notwendig, dass die Anwendung der Kronzeugenregelung im euro päischen Wettbewerbsrecht dem Gesetzesvorbehalt unterstellt wird97. Der Grundsatz des Gesetzesvorbehalts, der zusammen mit dem Grundsatz des Gesetzesvorrangs die tragenden Säulen der Rechtmäßigkeit der Verwaltung bilden, besagt, dass die Verwaltung im Vorbehaltsbereich nur aufgrund einer entsprechenden gesetzlichen Ermächtigung tätig werden darf98. Wegen des besonderen Charakters der EU-Rechtsordnung, die sich auf zwischenstaatliche Verträge stützt, gilt der Gesetzesvorbehalt im EU-Recht nicht in seiner aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bekannten Ausprägung, die aus einer rechtsstaatlichen und einer demokratischen Komponente besteht. Stattdessen spricht man vom Grundsatz des Vertragsvorbehalts, nach dem alle Maßnahmen der EU-Organe stets einer vertraglich vorgesehenen Grundlage bedürfen99. Im Sinne dieses Vertragsvorbehalts verlangt der EuGH für Eingriffe der Verwaltung in die Privatsphäre Einzelner stets eine Rechtsgrundlage im primären oder sekundären EU-Recht100.
93
Schwarze, EuR 2009, 171 (194). Hetzel, S. 175. 95 Hetzel, S. 157 f.; Dannecker/Biermann, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Art. 23 VO 1/2003, Rdnr. 233. 96 Schwarze, EuR 2009, 171 (189). 97 Schwarze, EuR 2009, 171 (196). 98 So von Danwitz, S. 12, m. w. N. 99 Hetzel, S. 183. 100 EuGH, Urteil v. 21.9.1989, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Farbwerke Hoechst/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rdnr. 19. Siehe auch von Danwitz, S. 347. 94
D. Fazit
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Aus der Geltung des Grundsatzes des Gesetzesvorbehalts im EU-Recht in Form des Vertragsvorbehalts ergibt sich das Erfordernis, dass der europäische Gesetzgeber die Konturen des Kronzeugenprogramms durch einen Gesetzgebungsakt regelt und dass man von der Praxis der Regelung des Leniency-Programmes durch administrative Leitlinien (ergo soft law, ohne formelle rechtliche Bindungswirkung) der Kommission absieht. Nur in dieser Art und Weise kann dem Postulat des EuGH in der Rechtssache Hoechst begegnet werden, gemäß dem natürlichen und juristischen Personen Schutz gegen willkürliche oder unverhältnismäßige Eingriffe der Verwaltung zu bieten ist101. Dieses Postulat stellt zugleich einen zentralen rechtsstaatlichen Grundsatz dar102.
D. Fazit Das in Art. 6 Abs. 2 EMRK und 48 Abs. 1 GRCH verankerte Prinzip der Unschuldsvermutung gilt trotz seines rein strafrechtlichen Ursprungs auch im europäischen Kartellverfahrensrecht, wie es auch von den Unionsgerichten in ständiger Rechtsprechung anerkannt wird. Die Unschuldsvermutung ist kein bloßer Verfahrensgrundsatz, sondern ein subjektives Grundrecht, das seinen Trägern, die auch juristische Personen sein können, einklagbare Rechtspositionen verleiht. Die Geltung der Unschuldsvermutung im EU-Kartellverfahren wird auch in der Rechtsprechung der Unionsgerichte anerkannt, obwohl diese sich weigern, dem kartellrechtlichen Bußgeldverfahren strafrechtsähnlichen Charakter zuzusprechen. Darüber hinaus kann eine restriktive Auslegung der in Art. 2 VO 1/2003 enthaltenen Beweislastregel dazu beitragen, den rechtsstaatlichen Bedenken, die sich aus dem Prinzip der Unschuldsvermutung ergeben, in Bezug auf die Geltung dieser Regelung in nationalen Kartellbußgeldverfahren begegnen. Das bedeutet, dass die Anwendung der Beweislastregelung von Art. 2 VO 1/2003 zurücktreten muss, wenn es einen Konflikt mit dem Grundrecht der Unschuldsvermutung gibt. Ferner übt das Prinzip der Unschuldsvermutung beachtlichen Einfluss auf die Entscheidungskompetenz der Kommission aus. Ihre Bediensteten müssen ihre Aufgaben im Rahmen der Kartellaufsicht in einer solchen Art und Weise wahrnehmen, die dem Prinzip der Unschuldsvermutung gebührend Rechnung trägt. Das bedeutet, dass es der Kommission untersagt ist, in ihren Pressemitteilungen Unternehmen „an den Pranger“ zu stellen, wenn sie nicht im verfügenden Teil der Entscheidung aufgeführt werden. Die Unschuldsvermutung wirkt sich ferner auch auf die Rechtsprechung der Unionsgerichte bezüglich der Anfechtbarkeit vom begründenden Teil einer Kommissionsentscheidung aus. Es ist erforderlich, dass der EuGH und das EuG die 101 EuGH, Urteil v. 21.9.1989, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Farbwerke Hoechst/Kommission, Slg. 1989, 2859, Rdnr. 19. 102 Schwarze, EuR 2009, 171 (196).
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grundsätzliche Anfechtbarkeit vom begründenden Teil einer Entscheidung anerkennen, sodass ein in diesem Entscheidungsteil erwähntes Unternehmen nicht ohne Rechtsschutz bleibt, falls es keine Möglichkeit hatte, im Verfahren in anderer Weise seine Verteidigungsrechte vorzustellen. Schließlich führt die Geltung der Unschuldsvermutung zu grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Bedenken in Bezug auf die Leitlinien der Kommission über die Bußgeldberechnung und den Erlass von Bußgeldern. Nicht nur kann die Inanspruchnahme der Kronzeugenregelung zu einer im Hinblick auf die Unschuldsvermutung unzumutbaren Beweislastumkehr für ein durch die Aussagen des Kronzeugen belastetes Drittunternehmen führen, sondern wird auch der Einsatz von Verteidigungsmitteln vom beschuldigten dritten Unternehmen besonders erschwert, da die Lage für dieses unübersichtlich ist. Aus rechtsstaatlicher Hinsicht bedarf es für eine solche Belastung einer gesetzlichen Grundlage, die nicht in Form der Kronzeugenmitteilung zu finden ist, da letztere nur den Charakter von Soft-law hat und nur die Selbstbindung der Kommission an ihren Inhalt garantieren kann. Um die Achtung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung zu sichern ist es deswegen notwendig, das Kronzeugenprogramm der Kommission dem Gesetzesvorbehalt zu unterstellen. Ein Tätigwerden des EU-Gesetzgebers in Richtung des Erlasses eines EU-Gesetzgebungsaktes, der die Grundlagen des Kronzeugenprogramms der Kommission regelt, ist erforderlich.
Thesen-Nachwort Der rege grundrechtliche Diskurs im Bereich des EU-Wettbewerbsrechts ist das Ergebnis des Dialogs zwischen den obersten Gerichten in Europa, den Unions gerichten, dem EGMR und den mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten, der Wissenschaft und der Praxis. Dieser Dialog wird dadurch gefördert, dass der freie und funktionierende Wettbewerb zu einem der wichtigsten Politikziele der Europäischen Union gehört, da er der Wohlfahrt der Unionsbürger dienen muss. Es geht also nicht um den Wettbewerb als Selbstzweck, sondern um den Wettbewerb im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft, der durch die effiziente Allokation der Ressourcen zum Gemeinwohl beiträgt. Darüber hinaus wird der grundrechtliche Dialog im EU-Wettbewerbsrecht dadurch vorangebracht, dass die öffentliche Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts durch die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten einen starken Eingriff in geschützte Rechtspositionen der Unternehmen darstellt. Die Auswirkungen der öffentlichen Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts, die in engem Zusammenhang mit den weit reichenden Ermittlungsbefugnissen der Kommission stehen, können für ein betroffenes Unternehmen vom Reputationsverlust bei Kunden, Geschäftspartnern und Anlegern bis zur Existenzgefährdung reichen. Die Existenz eines Unternehmens wird nicht selten durch die Höhe der gegen das Unternehmen wegen eines Wettbewerbsverstoßes verhängten Geldbuße bedroht. Ein effektiver Grundrechtsschutz ist bei derart weiten Ermittlungs- und Eingriffsmöglichkeiten der Kommission von erheblicher Bedeutung. Die Grundrechte sind der Garant der Rechtsstaatlichkeit; ihre Achtung gewährleistet die Fairness des EU-Kartellverfahrens. Der grundrechtliche Diskurs hat zur Verbesserung der Fairness des Verfahrens vor der Kommission beigetragen1. Somit ist die Heranziehung der Grundrechte von Unternehmen, die Betroffene eines Kartellverfahrens sind, grundsätzlich kein Ausdruck einer etwaigen Instrumentalisierung der Grundrechte in dem Sinne, dass die Grundrechte zu einem Marktinstrument werden2, welches Unternehmen erlaubt, sich über die Wettbewerbsregeln hinwegzusetzen. Die Heranziehung der Grundrechte in Unternehmensklagen gegen Ent 1 J. Almunia, damaliger Vizepräsident der Kommission und Wettbewerbskommissar, stellte im Rahmen eines am 8.6.2012 gehaltenen Vortrags Folgendes fest: „Our system has evolved over the years to guarantee the highest standards of fairness and impartiality.“ Der Vortrag mit dem Titel „Antitrust enforcement: challenges old and new“ ist hier abrufbar: http://europa.eu/ rapid/press-release_SPEECH-12-428_en.htm. 2 Auf dieses Risiko weist Andriantsimbazovina, Cah. dr. europ. 2012, 767 (778), hin.
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scheidungen der Kommission im Gebiet des Wettbewerbsrechts ist vielmehr im Rahmen der Ausübung der Verteidigungsrechte der Unternehmen zu deuten. Sie führt zu einer fruchtbaren Grundrechtsrechtsprechung der Unionsgerichte, die die genauen Konturen der Befugnisse der Kommission bei der Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts zieht und die EU-Rechtsordnung bereichert. Obwohl das Niveau des Grundrechtsschutzes in der EU im Allgemeinen als hoch einzustufen ist, ist damit zu rechnen, dass die grundrechtliche Argumentation von Kartellverfahrensbetroffenen weiterhin fester Bestandteil von Klagen gegen Kommissionsentscheidungen bleiben wird. Das ist zum Teil auf die Wirkung der Europäischen Grundrechtecharta auf den Grundrechtsschutz in der EU zurückzuführen. Eine Rolle dürften aber gleichwohl die weiterhin bestehenden Defizite des EU-Grundrechtsschutzes spielen. Insbesondere der in die Wege geleitete Beitritt der EU zur EMRK und die de facto Erhebung des EGMR zum spezialisierten Spruchkörper für sich aus der Anwendung des EU-Rechts ergebende Grundrechtsfragen verlangen eine Anpassung der Auslegung von bestimmten Grundrechten durch die Unionsgerichte an das EMRK-Schutzniveau. Die vorliegende Arbeit weist auf diese Bereiche im Rahmen des EU-Kartellverfahrens hin, in denen der Grundrechtsschutz hinter dem Niveau zurückbleibt, das die Fairness des Verfahrens und die Postulate der GRCH (und mittelbar der EMRK) verlangen. Darüber hinaus enthält sie Vorschläge und Konzepte über die Erhöhung des Grundrechtsschutzes im EU-Kartellverfahren, die sich in Form von Thesen wie folgt zusammenfassen lassen: –– Die Bußgelder im EU-Kartellverfahren sind strafrechtlicher Natur, da sie repressiven und präventiven Zwecken dienen und mit einem erheblichen Maß an Stigma verbunden sind. Sie sind dem harten Kern des Strafrechts im Sinne von Art. 6 EMRK und der „Jussila“-Rechtsprechung des EGMR zuzuordnen. Daraus folgt, dass die strafprozessrechtlichen Garantien des Art. 6 EMRK auf das EU-Kartellbußgeldverfahren vollumfänglich anwendbar sind. –– Es ist eine Erweiterung der Reichweite des Nemo-tenetur-Grundsatzes geboten, so dass Unternehmen, die Adressaten eines zur Antwort verpflichtenden Auskunftsersuchens sind, unter Berufung auf diesen Grundsatz rechtmäßig die Vorlage solcher Dokumente verweigern dürfen, die sie selbst in Bezug auf einen Wettbewerbsverstoß belasten. Der Schritt vom aktuell gewährten Geständnisverweigerungsrecht zum Auskunftsverweigerungsrecht wird die Ermittlungstätigkeit nicht unangemessen erschweren, da die Kommission in Form der Nachprüfungsbefugnisse von Art. 20 VO 1/2003 und der Kronzeugenregelung über zwei wichtige Instrumente für die Beweiserhebung in Kartellfällen verfügt. Da ein Verzicht auf den vom Nemo-tenetur-Grundsatz angebotenen Schutz möglich ist, gibt es in Bezug auf das Kronzeugenprogramm und das Settlement-Verfahren, die beide auf der Einräumung eines Verstoßes durch ein Unternehmen basieren, keine Bedenken in dieser Hinsicht.
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–– Das Recht auf Achtung der Privatsphäre, wie es in Art. 7 GRCH und in Art. 8 EMRK niedergelegt ist, schützt auch Geschäftsräume. Allerdings sind im Fall von Geschäftsräumen stärkere Eingriffe als im Fall von Privatwohnungen möglich. Dennoch ergibt sich aus der EMRK-Rechtsprechung die Notwendigkeit, dass Durchsuchungsbeschlüsse der Kommission stets vor ihrer Umsetzung durch ein Gericht auf ihre Verhältnismäßigkeit hin geprüft werden. Das EuG könnte diese Prüfung durchführen, unter der Voraussetzung dass ihm Einsicht in die Kommissionsakte gewährt wird. –– Der umfassende Schutz der Vertraulichkeit der Korrespondenz eines Mandanten mit seinem Rechtsanwalt stellt eine grundrechtliche Verbürgung dar, die sich aus der Garantie eines fairen Verfahrens und aus dem Leitbild des Rechtsstaates ableiten lässt. Die durch den EuGH vorgenommene Beschränkung des Anwaltsprivilegs nur auf selbständige Rechtsanwälte ist nicht mehr angemessen, da sie nicht der Tatsache Rechnung trägt, dass Unternehmensanwälte mittlerweile größtenteils denselben Standesregeln wie ihre selbständig tätigen Kollegen unterliegen und verkennt die besondere Rolle von Unternehmensanwälten bei der Einhaltung des EU-Wettbewerbsrechts durch ein Unternehmen. Eine Erweiterung der Reichweite des EU-Anwaltsprivilegs auf Unternehmensanwälte erscheint geboten. Ein funktionaler Test könnte bestimmen, dass die Kommunikation mit einem Rechtsanwalt, der über die für das Angebot von Rechtsberatung erforderliche Ausbildung verfügt, der die vom Gesetz die Befugnis hat, rechtsberatend tätig zu werden und der den im jeweiligen Mitgliedstaat geltenden Berufs- und Standesregeln unterliegt, vom EU-Anwaltsprivileg geschützt wird. –– In Bezug auf das Recht Dritter auf Einsicht in die Akte der Kommission wurde festgestellt, dass ein solcher Anspruch bis zum Erlass der Kommissionsentscheidung grundsätzlich nicht besteht. Allerdings ist die Anerkennung eines eingeschränkten Akteneinsichtsrechts für Dritte nach Abschluss des Kommissionsverfahrens auf Grundlage der VO 1049/2001 in Anbetracht der besonderen Bedeutung der privaten Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts und der Wichtigkeit des Zugangs zur Kommissionsakte für Kartellgeschädigte zur Substantiierung ihrer Klage erforderlich. Von der Einsicht ausgenommen sollten insbesondere die von Unternehmen im Rahmen eines Kronzeugenprogramms abgegebenen Erklärungen sein. Ein derartiger Schutz für die sogenannten „corporate statements“ ist durch die Erforderlichkeit gerechtfertigt, die Effektivität von Kronzeugenprogrammen als Instrument der öffentlichen Wettbewerbsrechtsdurchsetzung zu wahren. Die richterrechtliche Regelung der Problematik sollte als Vorbild für eine gesetzliche Regelung der Einsicht in die Kronzeugenregelung dienen, die sowohl dem öffentlichen Interesse an der Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts als auch dem Recht jedermanns auf Ersatz des erlittenen Schadens Rechnung trägt. –– Das in Art. 50 GRCH verankerte Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden, erlangt besondere Bedeutung im Rahmen des Europäischen Netzwerks der Wettbewerbsbehörden und der de-
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zentralen Anwendung von Art. 101 AEUV. Die restriktive Auslegung des Ne bis in idem-Grundsatzes durch die Unionsgerichte im Bereich des EU-Wettbewerbsrechts bleibt hinter den durch die GRCH und die EMRK gestellten Anforderungen an den Grundrechtsschutz zurück. Deswegen erscheint eine Erweiterung der Reichweite des Ne bis in idem-Grundsatzes im EU-Wettbewerbsrecht insofern erforderlich, dass dieser Grundsatz die Verfolgungs-/Sanktionierungs tätigkeit der Kommission oder einer mitgliedstaatlichen Kartellbehörde hindert, wenn die Wettbewerbsbehörde eines EU-Mitgliedstaates oder die Kommission sämtliche Auswirkungen eines Wettbewerbsverstoßes auf den Binnenmarkt bereits geahndet wurden. Ferner ergibt sich aus dem Ne bis in idem-Grundsatz i. V. m. den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und der Verhältnismäßigkeit eine Pflicht für die Kommission, bereits in einem Drittstaat gegen ein Unternehmen verhängte Bußgelder bei der Bemessung der Geldbuße zu berücksichtigen, die gegen dieses Unternehmen wegen desselben Wettbewerbsverstoßes nach EU-Recht verhängt wurden. –– Die Unschuldsvermutung gilt auch im EU-Kartellverfahren. Ihre Geltung dient als Schranke der Tätigkeit der Kommission bei der Wahrnehmung ihrer Rolle als Wettbewerbshüterin. Entscheidungen der Kommission dürfen grundsätzlich keine Ausführungen zu einem Unternehmen und seine Rolle bei einem Wettbewerbsverstoß beinhalten, wenn das Unternehmen diese Ausführungen nicht anfechten kann, weil sie z. B. nicht im verfügenden Teil der Entscheidung enthalten sind. Aus diesem Grund ist es auch erforderlich, dass der begründende Teil einer Kommissionsentscheidung anfechtbar ist. Durch die Geltung der Unschuldsvermutung wird auch eine gesetzliche Rechtsgrundlage für das Kronzeugenprogramm der Kommission erforderlich. Für die Legitimierung einer durch die Erklärung eines Kronzeugen hervorgerufenen Beweislastumkehr zu Lasten eines dritten beschuldigten Unternehmens reicht ein Text mit Soft-lawCharakter wie die Kronzeugenmitteilung nicht aus. Die Anpassung derjenigen Grundrechte an das EMRK-Schutzniveau, welche hinter dem EMRK-Schutzniveau zurückbleiben, wird sich auch auf das EU-Kartellverfahren auswirken. Die Anpassung sollte allerdings die Effizienz der öffentlichen Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts durch die Kommission nicht kompromittieren. Dieses Risiko ist jedoch gering, da sowohl die EMRK als auch die GRCH die Möglichkeit des Eingriffs in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen vorsehen. Schließlich ist die Gewährleistung eines hohen Grundrechtsschutzes nicht nur für die sich auf diesen Schutz berufenden Parteien von Vorteil. Transparente und faire Verfahren sind ausschlaggebend für ein effizientes und glaubwürdiges System zur öffentlichen Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts3. 3
So Italianer, Generaldirektor der Generaldirektion Wettbewerb, in einem Vortrag v. 18.10.2011 mit dem Titel „Best Practices for antitrust proceedings and the submission of economic evidence and the enhanced role of the Hearing Officer“, abrufbar unter http://ec.europa. eu/competition/speeches/text/sp2011_12_en.pdf.
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Sachverzeichnis Achtung der Privatsphäre 26, 30, 32, 157, 158, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 190, 191, 194, 196, 198, 200, 207, 216, 369 Allgemeine Rechtsgrundsätze 64 amicus curiae 301 Amtsverschwiegenheit 287, 289 Anfangsverdacht 36, 37, 41, 138 Anhörungsrecht 31, 67, 72, 73, 140, 219, 258, 264, 271, 272 Anrechnungsprinzip 322, 324 Anwendungsvorrang 241 audiatur et altera pars 140 Ausforschungen von Unternehmen 36 Auskunftsersuchen 26, 36, 37, 38, 42, 43, 110, 114, 122, 123, 124, 125, 129, 139, 143, 144, 145 Auskunftsverlangen 42, 117, 119, 122, 125, 126, 127, 139, 141, 143, 159, 213, 220 Auskunftsverweigerungsrecht 43, 72, 110, 113, 118, 119, 124, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 145, 149, 368 Aussageverweigerung 111 Auswirkungsprinzip 333 Befragung der Unternehmensmitarbeiter 165 Beschlagnahmerecht 40 Betretungsrecht 158, 163 Beweisführung 328, 329, 330, 354, 355 Beweismaterial 35, 36, 37, 42, 46, 141, 143, 144, 145, 147, 157, 162, 163, 186, 193, 220, 232, 243, 249, 259, 270, 287, 362 Brechen eines Siegels 40 Bußgeld – Haftung der Muttergesellschaft 50 comity of nations 300 Compliance 221, 233, 246, 249 Dienstleistungsfreiheit 55, 255 Discovery 280, 282
Diskrepanzen im Grundrechtsschutz 62 Diskriminierung 55, 234, 251 domicile 182, 185, 188 Drittwirkung 69 Durchsuchung in Unternehmensräumlichkeiten 204, 206 Effektivitätsprinzip 241 Effet-utile 57, 96, 316 EFTA-Gerichtshof 100 Ermächtigungsverfahren 37, 168 Ermittlungsphase – Voruntersuchung 35 EU-Grundfreiheiten 58, 64 Gesetzesvorbehalt 364, 366 Geständnisverweigerungsrecht 24, 119, 130, 133, 134, 135, 145, 146, 148, 156, 368 Gleichbehandlung 234, 236 Grundrechte – Begriff 66 Grundrechtecharta –– Erarbeitung 58 –– Verrechtlichung 61 Grundrechtskonkordanz 24 Grundrechtsschranken 66 Hardcore-Kartellverstöße 100 Homogenitätsklausel 24, 30, 103, 106, 109, 197, 208 in dubio pro reo siehe Unschuldsvermutung Kartellverfahren 35 Kommissionsakte 31, 45, 207, 209, 258, 262, 267, 272, 278, 281, 309, 369 Kriminalisierung 90, 91 Kronzeugenmitteilung 26, 46, 52, 91, 123, 142, 144, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 154, 156, 303, 362, 364, 366 Kronzeugenprogramm 91, 143, 145, 298, 308, 361, 366, 368, 370
386
Sachverzeichnis
living instrument 182, 197 manifest error of assessment 72 Menschenrechte 18, 23, 24, 25, 43, 56, 63, 64, 68, 69, 81, 83, 85, 109, 112, 115, 182, 193, 196, 219, 222, 225, 263, 314, 320, 321, 331, 339, 344, 347, 351, 356 Mitteilung der Beschwerdepunkte 44 Mitwirkungspflicht 38, 118, 121, 170, 358 Nachprüfungen in anderen Räumlichkeiten 34, 40, 174, 181 Nachprüfungsauftrag 37, 38, 170, 174, 175, 202 Nachprüfungsentscheidung 37, 38, 39, 141, 158, 163, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 175, 178, 192, 193, 201, 204, 205, 208 Nemo-tenetur 24, 43, 77, 107, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 117, 121, 122, 123, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 139, 140, 141, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 154, 155, 156, 167, 368 Netzwerk der europäischen Wettbewerbs behörden 33, 332 nulla poena sine lege 103 Optimierungsgebot 64 Ordnungswidrigkeit 187, 188, 351 Präventivwirkung 79 private enforcement 270, 382 Recht auf Akteneinsicht 46, 48, 103, 258, 259, 260, 262, 264, 277, 281, 283, 284, 286, 287, 303 Recht auf ein faires Verfahren 34, 81, 103, 149, 214, 216, 263 Rechtsberatung 214, 221, 227, 228, 230, 231, 233, 238, 246, 249, 254, 256, 274, 369 Rechtsgemeinschaft 219, 251 Rechtsgrundsätze – allgemeine 57 Rechtsstaatsprinzip 102, 263, 342, 344, 382 Rechtsvergleichung – wertende 57 recidivism 92 Repressivwirkung 79
Schengener Durchführungsübereinkommen 315 Schutzniveaudivergenz 194 Schutz personenbezogener Daten 214 Selbstbindungseffekt 261, 265 Selbstveranlagung 212, 221, 246, 249 Settlement-Verfahren 25, 142, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 368 Stigma 89, 93, 98, 99, 100, 368 Strafklageverbrauch 336 strafrechtliche Anklage 85, 94, 97, 98, 100, 115, 117, 320 Syndikusanwälte 218, 234, 239, 246, 248, 249 Transparenzprinzip 272 Transparenzverordnung 267, 272, 273, 275, 277, 278, 279, 280, 281, 282 Übermittlung der Akte 173 Unschuldsvermutung 30, 32, 67, 80, 103, 107, 137, 344, 345, 346, 347, 348, 349, 350, 351, 352, 353, 356, 357, 358, 359, 360, 361, 362, 363, 365, 366, 370 Unternehmensjuristen siehe Syndikus anwälte Verbot der Doppelbestrafung siehe ne bis in idem Verbot des Zwangs zur Selbstbezichtigung siehe nemo tenetur Verfassungsprinzipien 74, 258 Verfassungsüberlieferungen 56 Vergleichsausführungen 151, 152, 154, 155 Vergleichsverfahren siehe Settlement-Verfahren Verpflichtungszusagen 35, 36, 44, 51, 52, 53, 78, 330 Verschwiegenheitspflicht 218 Verteidigerbeistand 214 Verteidigungsrechte – Begriff 69 Vertrag von Lissabon 21, 25, 60, 61, 63, 104, 106, 197, 314 Vertraulichkeitsschutz 210, 214, 228, 229, 239, 288, 289, 291, 292, 293, 297, 304, 306, 309 Verwaltungssanktionen 88, 93, 95, 348, 380
Sachverzeichnis Verwaltungsverfahren 45, 67, 69, 70, 71, 72, 77, 79, 80, 85, 88, 92, 93, 127, 132, 134, 135, 210, 224, 263, 270, 277, 285, 287, 299, 313, 346, 353 Verwaltungsvollzug 71 Verzichtserklärung 149
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Waffengleichheit 103, 259, 262 Wesensgehalt 29, 108, 225 Wiederholungstäterschaft siehe recidivism Wirtschaftsverfassung 21, 22, 28 Zutritt der Unternehmensräumlichkeiten 161