Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte [1 ed.] 9783428504275, 9783428104277


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Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte [1 ed.]
 9783428504275, 9783428104277

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Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 889

Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte

Herausgegeben von Bernd Schünemann Jörg Paul Müller Lothar Philipps

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte / Hrsg.

Bernd Schünemann ... - Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 889) ISBN 3-428-10427-7

Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10427-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort Der vorliegende Sammelband geht auf ein Symposium zurück, das zu Ehren von Heinrich Scholler anläßlich seines 70. Geburtstages am 27. und 28. November 1999 vom Institut fur Rechtsphilosophie und Rechtsinformatik der Ludwig-Maximilians-Universität München veranstaltet worden ist und auf dem das Thema des „Menschenbildes im Recht" von Freunden, Kollegen und Schülern Heinrich Schollers in kaleidoskopartiger Weise betrachtet worden ist. Die daraus entstandene, durch die interdisziplinären, internationalen und interkulturellen Perspektiven vielfältig façettierte Diskussion war nicht nur kongenial zu der ebenso weltbürgerlichen wie in ihrer bayerischen Heimat fest verankerten Persönlichkeit Heinrich Schollers und seines die Grenzen der juristischen Dogmatik immer wieder sprengenden, die philosophischen und geschichtlichen Grundlagen des Rechts ebenso wie die Rechtsethnologie einbeziehenden und damit im besten Sinne umfassend hermeneutischen Lebenswerkes, sondern wurde auch von allen Teilnehmern als ein Musterbeispiel dafür empfunden, wie ein ebenso fundamentaler wie diffuser Begriff vom Schlage des „Menschenbildes im Recht" erst und gerade dadurch klare Konturen erhält, dass man ihn ohne voreilige dogmatische Festlegungen aus allen in Betracht kommenden Richtungen analysiert. Für die Veröffentlichung in dem vorliegenden Band konnte ich als geschäftsführender Herausgeber noch weitere Beiträge aus dem Kreis der Heinrich Scholler verbundenen und gleich ihm die Rechtswissenschaft in der Totalität ihrer Methoden und Perspektiven betreibenden Wissenschaftler gewinnen, darunter Arthur Kaufmann, dessen letzte Arbeit hier posthum veröffentlicht werden kann. Durch die Gliederung und Anordnung der einzelnen Beiträge hoffe ich deutlich zu machen, dass und wie trotz der Verbesonderung vieler Themen die stets fortschreitende Erweiterung des Blickfeldes eine Familienähnlichkeit aller einzelnen Abhandlungen bewahrt, die dadurch auch in ihrer Gesamtheit einen eigenständigen Beitrag zur conditio humana im Recht erbringen wollen und sollen. Bei der redaktionellen Arbeit, die bei der Edition so vielfältiger, aus zahlreichen Sprachen übersetzter Beiträge verhältnismäßig aufwändig war, bin ich von Frau Petra Köpf, der ich auch an dieser Stelle herzlich danke, in vorbildlicher Weise unterstützt worden. München, im April 2002

Bernd Schünemann

Inhaltsverzeichnis I. Zum Menschenbild unter dem Grundgesetz Das „Menschenbild des Grundgesetzes" in der Falle der Postmoderne und seine überfallige Ersetzung durch den „homo oecologicus" Von Bernd Schünemann

3

Was heißt „Wesensgehalt" der Grundrechte? Überlegungen zu Artikel 19 Absatz 2 Grundgesetz Von Arthur Kaufmann

23

Die Begrenzung des Spenderkreises im Transplantationsgesetz als Problem der paternalistischen Einschränkung menschlicher Freiheit Von Ulrich Schroth

35

Π. Die europäische Perspektive Der historische Entwicklungsweg der Menschenrechte als Erscheinung von Widerspruch und Notwendigkeit Von Danilo Castellano

47

Neue Formen der Grundrechtsgewährleistung in der Schweiz und in Großbritannien Von Jörg Paul Müller

63

Die Religionsfreiheit als Verfassungswert in Ungarn Von AntalAdam

73

Die gerichtliche Prüfung des slowenischen Verfassungsgerichts hinsichtlich des Legalitätsprinzips, der Verhältnismäßigkeit und des freien Ermessens Von Lovro Sturm

81

Vili

Inhaltsverzeichnis m . Weltweite Entwicklung

Die Tragweite der Gewissensfreiheit angesichts der Nationalhymne und Nationalflagge Von Hiroshi Nishihara

99

50 Jahre Menschenrechte in Taiwan: Rückblick und Prognosen Von Chen Shan Li

117

Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte in Brasilien: zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit Von Ingo Wolf gang Sarlet

139

Wahlen und Regierungswechsel im Prozeß der Modernisierung Marokkos Von Jürgen Theres

163

Die Orientierung an dem passenden Rechtssystem als die Hauptaufgabe der mongolischen Rechtsreform Von Biraa Tschimid

179

Rechtsfamilien - ihre Widerspiegelung in der Mongolei Von Jugneegiin Amaarsanaa

199

Homo Oeconomicus as Menschenbild: Reforms in Indonesia By Paul H. Brietzke

205

Structure of Legal Education Reform in the Developing World: A Case Study from Indonesia 1993 - 2000 By Cliff F. Thompson

217

IV. Die historische und rechtsethnologische Dimension Das Allgemeine Landrecht als Naturrechtssurrogat: Zur Behandlung des § 10 I I 17 ALR in Rechtsprechung und Literatur im ausgehenden Konstitutionalismus (Die Kreuzbergurteile des Preußischen Oberverwaltungsgerichts) Von Peter Krause

233

Inhaltsverzeichnis

IX

Gleichheit und Staatsangehörigkeit im jungen griechischen Nationalstaat Von Michael Tsapogas

259

International Human Rights versus National Sovereignity: The Challenges of Alexandre Garabédian's Case in Ethiopia By Bairu Tafla

265

Ausgleichsprinzipien in polykephalen Gesellschaften Afrikas Von Hermann Amborn

273

Familie und Individuum in der afrikanischen Gesellschaft: Zu Gewohnheitsrecht und modernem Recht in Kamerun und Südafrika Von Ulrich Spellenberg

291

Geschichten der Coquille Von Irmgard und Wolf gang Fikentscher

311

V. Eine frühe Evolutionstheorie der menschlichen Gesellschaft Jean-Jacques Rousseau, ein Memetiker avant la lettre Von Lothar Philipps Autorenverzeichnis

319 327

I. Zum Menschenbild unter dem Grundgesetz

Das „Menschenbild des Grundgesetzes64 in der Falle der Postmoderne und seine überfallige Ersetzung durch den „homo oecologicus"

V o n Bernd

Schünemann

I. Ein kritischer Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 1. Ob es ein „Menschenbild des Grundgesetzes" i m Grundgesetz selbst gibt (und in welcher Weise man sich dessen Existenz vorstellen müßte), ist eine schwierige und auch sehr umstrittene 1 Frage. Ohne Zweifel existiert diese Denkfigur aber in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,

und

zwar in Gestalt einer ganzen Reihe von bald kumulativ, bald substituierend verwendeten Formeln, die möglicherweise nicht dem Sinn, sondern nur der Formulierung nach unterschiedlich sind und etwa folgendermaßen lauten: „ D e r Mensch ist eine eigenverantwortliche Persönlichkeit ( i m Sinne eines freien und selbstbestimmten Individuums), die sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft frei entfaltet (in der sozialen U m w e l t und ihr gegenüber entwickelt). Der ein1 Die heftigste Kritik findet sich bei Ridder: DuR 1979, 123 f.; ders.: Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, 1975, S. 154. Vom Inhalt her kritisch bereits Hamann: BB 1955, 105 ff.; ferner Nipperdey/Wiese in: Bettermann/Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. IV/2, 1962, S. 741, 773; Lerche: Werbung und Verfassung, 1967, S. 139 ff. Kritisch zum methodologischen Nutzen Forsthoff in: Festgabe für Carl Schmitt, 1968, S. 185, 192; Denninger: Staatsrecht 1, 1973, S. 21; Geis: Kulturstaat und kulturelle Freiheit, 1990, S. 174. Umfassend kritisch auch Becker: Das 'Menschenbild des Grundgesetzes' in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1996, S. 94 f., 125 ff. Freilich überwiegen die Befürworter, und inzwischen ist auch ein Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie des Europäischen Gemeinschaftsrechts ermittelt worden, vgl. Geiger in: FS für Faller, 1984, S. 3 f f ; Häberle: Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988; Kratzer (Hrsg.): Das Menschenbild des Grundgesetzes, 1996; Bergmann: Das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1995; Brenner: Rahmenbedingungen des Menschenbildes im Gemeinschaftsrecht, in: FS für Leisner, 1999, S. 19 ff.; ferner H. Huber in: ders. (Hrsg.), Rechtstheorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht, 1971, S. 76 ff.; Kopp in: FS für Obermayer, 1986, S. 53 ff.; Bumke in: Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, 2000, S. 197 ff.; im Prinzip auch P. Huber: Jura 1998, 505 ff.

4

Bernd Schünemann

zelne ist eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit. Der Mensch ist kein isoliertes souveränes Individuum, sondern lebt in der Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person. Er ist kein selbstherrliches Individuum, sondern eine in der Gemeinschaft stehende und ihr vielfaltig verpflichtete Persönlichkeit. Das Wertesystem des Grundgesetzes findet seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde. Der Einzelmensch wird nach der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes nicht als isoliertes souveränes Einzelwesen, sondern als verantwortlich lebendes Glied der Gemeinschaft aufgefaßt. Er ist ein geistig-sittliches Wesen, das darauf angelegt ist, in einer gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Freiheit sich selbst zu bestimmen und zu entfalten, und muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des allgemein Zumutbaren vorsieht, vorausgesetzt, daß die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt" 2 . 2. Es ist offensichtlich, daß die Probleme dieses „Menschenbildes" bereits auf einer fundamentalen, nämlich der methodologischen Ebene beginnen und auf dieser Ebene abermals fundamental sind, weil schon die Einordnung dieses Gebildes enorme Schwierigkeiten bereitet. Nach Geiger 3 geht es dabei nicht um einen Rechtsbegriff, sondern um ein Strukturprinzip der Verfassung; nach Kopp 4 hingegen um einen zentralen Begriff des geltenden deutschen Rechts im Sinne einer verbindlichen Richtschnur für die Auslegung und Anwendung auch des einfachen Rechts; Pernthaler 5 sieht darin den „legitimierenden Einheitsbezug allen Rechts". Einen ganzen Strauß von Umschreibungen finden wir schließlich bei Häberle, der darin einen Formalbegriff, eine kulturelle Kategorie, einen interdisziplinären Brückenbegriff, einen Synthese-Begriff, einen Typus, eine Schlüsselkategorie, einen Zentralbegriff, ein Leitbild (das dem Verfassunggeber vorgeschwebt habe, von ihm aber auch in einzelnen Artikeln positiviert worden sei), eine verbindliche, zugleich dem Grundgesetz immanente und transzendente Gerechtigkeitsmaxime, eine unbewußte Kulturtradition, einen Konnex-Begriff mit dem positiven Recht, einen sowohl normativen als auch empirischen Begriff, eine rechtspolitische Maxime, einen juristischen In-

2 Die Zahl der einschlägigen Entscheidungen ist Legion, vgl. nur BVerfGE 4, 7, 15 f.; 7, 198, 205; 7, 320, 323; 12, 45, 51; 45, 187, 227; 47, 327, 369; BVerfG DVB1. 1993, 601, 602; eingehende Darstellung bei Becker (Fn. 1), S. 80 ff., daselbst auch S. 49 ff. zur Verwurzelung der Judikatur im Konzept Wintrichs sowie eine Zusammenstellung der einschlägigen Entscheidungen auf S. 17 f. 'A.a.O. (Fn. 1), S. 8. 4 A.a.O. (Fn. 1), S. 55. 5 AöR 94(1969), 31, 39 f.

Das „Menschenbild des Grundgesetzes"

5

terpretationsgesichtspunkt bzw. -topos, einen für die Verfassungsinterpretation offenen Begriff aus dem großen Vorrat an verschiedenen Menschenbildern und etwas „Fragmentarisches" wie alle Juristenarbeit erblickt. 6 Zwar könnte nicht nur wegen des Hölderlin-Zitats am Ende dieser Charakterisierung 7 der Verdacht aufkeimen, daß es sich dabei weniger um eine methodologische Analyse als um Gedankenlyrik handele, aber dieses Verdikt wäre voreilig. Vielmehr ist Häberles Beschreibung sogar - vielleicht ungewollt - kritisch, denn wenn das „Menschenbild" alles ist, so ist es nichts, oder, anders formuliert, ein Gemeinplatz. 3. Will man mehr daraus machen, müßte man dem Menschenbild probeweise eine spezifischere Stellung im Rechtssystem zuweisen, wofür eine Qualifikation als Rechtsgrundsatz in dem Sinne in Frage kommt, wie er von Esser als Gegenstück zur subsumtionsfähigen Rechtsnorm analysiert sowie von Dworkin und Alexy aufgegriffen und als „Optimierungsgebot" ausgedeutet worden ist.8 Ich halte es auch für durchaus möglich und aussichtsreich, ein Menschenbild des deutschen Verfassunggebers von 1949 als fundamentales Rechtsprinzip zu konzipieren, und zwar im Sinne der auch in den Formeln des Bundesverfassungsgerichts immer wieder auftauchenden „sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit", also im Sinne der Selbstbestimmung und Mündigkeit, wie sie als Erbe der Aufklärung* jedenfalls die abendländische Entwicklung geprägt haben und für das Grundgesetz historisch zusätzlich durch dessen Frontstellung gegen die Führerideologie des Dritten Reiches abgesichert sind. Ein solches Menschenbild wäre trotz seines hohen Abstraktionsgrades auch keinesfalls inhaltslos, sondern würde gegenüber dem mündigen Individuum jede paternalistische Bevormundung durch den Staat ausschließen und damit also ein Recht auf Freitod 10 ebenso einschließen wie ein Recht auf Rausch.11 Dabei ist es selbstverständlich, daß der freie und mündige Mensch, der in der Gesellschaft mit anderen Menschen zusammenlebt, auf deren Freiheit und Mündigkeit, also

6

A.a.O. (Fn. 1), S. 73-77. Häberle (Fn. 1), S. 77: „Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen". 8 Esser: Grundsatz und Norm in der Entwicklung des Privatrechts, 1990, S. 39 ff.; 93 ff.; 132 ff.; Dworkin : Bürgerrechte ernst genommen, 1984, S. 54 ff.; Alexy: Theorie der Grundrechte, 1986, S. 71 ff. 9 In kürzester Form verstanden im Sinne der Kantschen Umschreibung als Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, s. Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, 1784, Akademie-Ausgabe, Bd. VIII, S. 35. 10 Sogar im Ergebnis für ein diesbezügliches Grundrecht Bottke: Suizid und Strafrecht, 1982, S. 55; ders.: GA 1982, 346, 350 ff.; ders. in: Bottke u. a. (Hrsg.), Lebensverlängerung aus medizinischer, ethischer und rechtlicher Sicht, 1995, S. 44, 96 und 106; Günzel: Das Recht auf Selbsttötung pp., 2000, S. 19, 99; w.N.b. Lackner/Kühl: StGB, 24 2001, Rn. 9 vor § 211; anders die h.M., siehe Kunig in: v. Münch/Kunig, Grundgesetzkommentar, 5 2000, Art. 1 Rn. 36 und Art. 2 Rn. 50 m.w.N. 7

11

Dazu näher sogleich anschließend im Text.

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Bernd Schünemann

auf die „Rechte anderer", Rücksicht nehmen muß, wie dies schon in Kants allgemeiner Definition des Rechts12 und in der entsprechenden Schranke der allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommt. Aber wenn man das Menschenbild als das Rechtsprinzip der freien Selbstbestimmung konzipieren will, dessen Gehalt per defmitionem festliegt, darf man die Gegenrechte nicht schon in den Begriff aufnehmen, denn wenn man konfligierende Optimierungsgebote unter ein und demselben Terminus zusammenfaßt, bleibt dieser Terminus so lange unbestimmt, wie der Konflikt nicht durch die Gewinnung einer Demarkationslinie aufgelöst ist, die sich den widerstreitenden Prinzipien selbst auf semantischem Wege noch nicht entnehmen läßt. Genau diese methodologische Fragwürdigkeit (ich würde auch nicht zögern, das als einen methodologischen Fehler zu qualifizieren) zeichnet nun aber die Menschenbild-Rechtsprechung des BVerfG aus, die zwei genau entgegengesetzte Prinzipien in ein und derselben Formel ohne Demarkationslinie zusammenfugt und dadurch eine methodisch unfruchtbare Kombination herstellt: Indem die freie Selbstverwirklichung des Individuums direkt mit der Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft bzw. mit der Verantwortung ihr gegenüber bzw. mit der Gemeinschaftsgebundenheit bzw. mit den zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens vorgesehenen Schranken verknüpft wird, „springt" das BVerfG sogleich auf die Ebene des Konflikts und der Abwägung widerstreitender Prinzipien. Weil diese Ebene ja früher oder später bei der Rechtsgewinnung doch erreicht werden muß, könnte man das Überspringen der logisch vorrangigen Ebene für eine läßliche Sünde halten, wenn dadurch nicht auf der einen Seite die heuristisch unerläßliche primäre Ausreizung des „Mündigkeitsprinzips" unterbleiben würde, während auf der anderen Seite die erst anschließend durchzuführende, hochgradig dezisionistische Abwägung mit den Selbstverwirklichungsinteressen der anderen (also mit den „gesellschaftlichen Anforderungen") in das schiefe Licht einer Bildbeschreibung, also quasi der Ausleuchtung einer scheinbar schon vorher existierenden Balance, gerückt würde. Es ist somit letztlich die Suggestion einer schon vorher existierenden Harmonie, die den methodologischen Haupteinwand gegen die MenschenbildRechtsprechung des BVerfG auslöst und die auch durchaus angreifbare inhaltliche Konsequenzen hat, nämlich infolge der ungenügenden Ausreizung des Mündigkeitsprinzips eine nicht legitimierbare Ausdehnung paternalistischer Dezisionen zwar nicht notwendig macht, aber jedenfalls ermöglicht. Durch die zusätzliche Weichenstellung im Elfes- Urteil, in Art. 2 Abs. 1 GG zwar die grundrechtliche Garantie der allgemeinen Handlungsfreiheit zu sehen, diese aber gleichzeitig zur Disposition des einfachen Gesetzgebers zu stellen

12

Kant: Die Metaphysik der Sitten, 21798, S. 34, wo zwar als Begrenzung der Willkür des einen die „Willkür des anderen" bezeichnet wird, der Inbegriff der Bedingungen fur deren Vereinigung aber als „Recht".

Das „Menschenbild des Grundgesetzes"

7

und dessen Kontrolle allein dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu überantworten, 13 hat das BVerfG dem Gesetzgeber wie auch sich selbst einen paterna listischen Freiraum geschaffen, dessen Umfang es je nach der weitgehend zu seiner Disposition stehenden Intensität der Verhältnismäßigkeitsprüfung letztlich nach eigenem Ermessen bestimmt, wofür die Cannabis- Entscheidung14 ein instruktives Beispiel bietet: Hätte das BVerfG das Rechtsprinzip des mündigen Individuums zunächst einmal auf der ersten Prüfungsstufe ausgereizt, so wäre es um die Feststellung nicht herumgekommen, daß die Entscheidung, ob man ein Leben in Nüchternheit oder im (gelegentlichen) Rausch führen will, ebenso zur freien Lebensgestaltung des einzelnen gehört wie die Auswahl des Rauschmittels und daß deshalb der Staat, sofern dafür kein konterkarierendes Rechtsprinzip angegeben werden kann, nicht die Befugnis besitzt, das Rauschmittel (nämlich Alkohol statt Haschisch) unter Berufung auf bestimmte Traditionen oder religiöse Gepflogenheiten vorzuschreiben. 15 Natürlich hätte das noch nicht das Endergebnis der verfassungsrechtlichen Prüfimg bedeutet, die sich nunmehr der Untersuchung konfligierender und ebenfalls in der Verfassung verankerter Rechtsgrundsätze hätte zuwenden müssen, beispielsweise des Schutzes Unmündiger, Unerfahrener oder Widerstandsunfähiger vor Verführung oder Ausnutzung oder vielleicht auch des Schutzes des Sozialstaats vor seiner Pervertierung und Kompromittierung durch eine (ganze Bevölkerungsgruppen ergreifende) Herbeiführung gesundheitlicher Verelendung. Und damit hätte sich sicher auch eine Begründung der staatlichen Drogenverkehrshoheit sowie eine Beschränkung der Drogenabgabe unter den Gesichtspunkten von Art und Menge der Droge, Persönlichkeit des Konsumenten und Risiko der unkontrollierten Weiterverbreitung legitimieren lassen. Die Nonchalance, mit der das BVerfG ein „Recht auf Rausch" verneint und die in all ihren Konsequenzen geradezu eklatante Ungleichbehandlung von Alkohol einerseits, sonstigen Drogen andererseits toleriert hat, 16 ist aber erst dadurch möglich geworden, daß das BVerfG (bezeichnenderweise ohne die hier unmittelbar einschlägige „Menschenbildfrage" überhaupt anzusprechen!) eine dem einzelnen seine Lebensführung vorschreibende, paternalistische Gesetzgebung für ohne weiteres zulässig erklärt und lediglich durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz limitiert hat, wobei die illiberalen Auswirkungen dieses Konzepts durch dessen Überstülpung auch noch auf das Strafrecht besonders deutlich werden. 17

13

BVerfGE 6, 32 ff. BVerfGE 90, 145, 171 ff. 15 So aber BVerfGE 90, 145, 197, wobei die Berufung auf die religiöse Tradition des Meßweines im Hinblick auf die Bekenntnisfreiheit von Art. 6 GG wie auch die zunehmende Ausbreitung des Islam auf deutschem Staatsgebiet befremdlich anmutet. 16 BVerfGE 90, 145, 195 ff. 17 Näher dazu und zu dem befremdlicherweise dafür dem BVerfG sogar noch im strafrechtlichen Schrifttum gezollten Beifall kritisch Schünemann in: FS für Roxin, 14

2 Schünemann u. a.

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Bernd Schünemann

I I . Die Antiquiertheit des tradierten Menschenbildes in der postmodernen Gesellschaft Insgesamt ist somit den Kritikern der Menschenbild-Rechtsprechung des BVerfG darin Recht zu geben, daß deren methodologische Fragwürdigkeiten die Gefahr illiberaler inhaltlicher Auswirkungen auslösen, die sich in der Judikatur des BVerfG auch schon wiederholt realisiert hat. Doch handelt es sich dabei, aufs Ganze gesehen, um keinen typischen Zug, weil die individuelle Freiheit zwar nicht methodisch, aber inhaltlich in der Rechtsprechung des BVerfG durchaus dominiert. Die weitaus folgenreichere Schwäche des vom BVerfG dem Grundgesetz subintellegierten Menschenbildes ist meiner Meinung nach deshalb in ganz anderen Zusammenhängen zu suchen, als sie im bisherigen Schrifttum behandelt worden sind. Seit dem Erlaß des Grundgesetzes haben sich nämlich Mensch und Gesellschaft sowie deren technischökonomische Basis so tiefgreifend gewandelt, daß sowohl die positive Seite des Menschenbildes, nämlich die Bestimmung des Menschen zu einer ausgereiften, eigenverantwortlichen Persönlichkeit, als auch die negativen Begrenzungen durch die Bedürfnisse lediglich der in der Dimension der Gleichzeitigkeit gedachten Mitmenschen (der „Gemeinschaft") partiell obsolet geworden sind. 1. Die nach der bisherigen Analyse das Menschenbild als Rechtsprinzip konstituierende, gewissermaßen „positive" Seite der „eigenverantwortlichen Persönlichkeit im Sinne eines freien und selbstbestimmten Individuums" 18 hat, wie bereits bemerkt, bei der Gestaltung des Grundgesetzes fraglos eine zentrale Rolle gespielt und kommt auch in Art. 1 GG, unabhängig von den enormen methodologischen Schwierigkeiten bei der Konkretisierung dieser Generalklausel, 19 ebenso fraglos zum Ausdruck. Wir begegnen dieser Vorstellung vom Menschen auch heute noch täglich, indem sie die übliche Trivialitätsent-

2001, S. 1, 28 ff.; ders.: Das System des strafrechtlichen Unrechts - Rechtsgutsbegriff und Viktimodogmatik als Brücke zwischen dem System des Allgemeinen Teils und dem Besonderen Teil, in: Schünemann (Hrsg.), Strafrechtssystem und Betrug, 2002. 18 Vgl. nur nochmals BVerfGE 7, 198, 205; 45, 187, 227; 47, 327, 369; im übrigen sind die einschlägigen Fundstellen auch in der „einfachen" Judikatur und Literatur Legion, vgl. nur Würtenberger: Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft, r l 959, S. 71. 19 Dürig in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 1 Rn. 1 ff.; Höfling in: Sachs, Grundgesetz, 2 1999, Art. 1 Rn. 6 ff.; Kunig in: v. Münch/Kunig (Fn. 10), Art. 1 Rn. 22; Dreier in: ders., Grundgesetz, 1996, Art. 1 Rn. 33 ff., 99; Starck in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner Grundgesetz, 4 1999, Art. 1 Rn. 13 ff., 24 ff.; Häberle HdbStR 1, 2 1995, § 20 Rn. 41 ff.; Benda in: HdbVerfR, 21994, § 6 Rn. 14 ff.; Stern: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1988, Bd. I I I / l , S. 22 ff.; Pieroth/Schlink: Grundrechte. Staatsrecht II, ,7 2001, Rn. 353 ff.; Enders: Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, S. 385 f.; Geddert-Steinacher: Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, S. 22 ff.; Ipsen: JZ 2001, 989, 990 ff.

Das „Menschenbild des Grundgesetzes"

9

wicklung ideologischer Positionen20 durchgemacht hat und heute in den Floskelschatz von Politikern, Festtagsrednern und Leitartikelschreibern eingegangen ist. Die wirkliche kulturelle Entwicklung ist dagegen ganz anders verlaufen, nämlich fort von dem in Wahrheit ja zum kulturellen Arsenal des 19. Jahrhunderts gehörenden Idealbild der Persönlichkeit als „höchstem Glück der Erdenkinder" 21 und hin zur Massenkultur der postmodernen, spätindustriellen Gesellschaft mit ihren vier großen Insignien: Alles ist vorfabriziert und produziert und degeneriert dadurch zum billigen Konsumgut; alles ist beliebig und degeneriert dadurch zum „rasenden Stillstand" des sinnlosen Kreislaufs einer rein ökonomisch kalkulierten Mode; alles wird in Unterhaltung verwandelt und verliert damit den Ernst der wirklichen Persönlichkeitsentfaltung; Öffentlichkeit und Nachbarschaft zerfallen in eine Sequenz massenmedial erzeugter Scheinwelten, durch die zuletzt ein in seiner Privatheit vereinzeltes, narzistisches, larmoyantes und egoistisches Individuum zurückbleibt, dessen in Wahrheit infantile Lebensformen durch den massenmedial verbreiteten Nebel der längst sinnentleerten kulturellen Parolen des 19. Jahrhunderts bemäntelt werden und dem auf diese Weise die manipulative und industrielle Erzeugung seiner nur scheinbar individuellen Lebensform verborgen bleibt. 22 Die postmoderne Gesellschaft hat damit als „Erlebnisgesellschaft" 23 die von Nietzsche dem Übermenschen verheißene Ästhetisierung des Lebens, also mit anderen Worten die Abschaffung moralischer Kategorien als primärer Leitbilder, für den millionenfachen Alltag geschafft, freilich nur in der Scheinwelt der Konsumgesellschaft und (worauf ich sogleich näher eingehen werde) radikal auf Kosten der ökologischen Gerechtigkeit, weil nur der globale Raubbau an den ökologischen Ressourcen die Kosten der heutigen Gesellschaft decken kann, die hinter der längst sinnentleerten Maske der individuellen Selbstverwirklichung nichts anderes als eine krude Mischung aus Konsum und Kapitalismus, hedonistischem Unterhaltungszwang und Verdrängungskultur in einer in Wahrheit zutiefst inhumanen Welt darstellt.

20 Vgl. zu dieser allgegenwärtigen Erfahrung nur Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 11/1992, S.31. 21 Aus Goethes „West-östlichem Divan", Buch Suleika, dort übrigens normativ und nicht deskriptiv formuliert. 22 Wegen dieser Thesen ist hier natürlich kein Nachweis, sondern nur eine Verweisung auf den kulturphilosophischen Hintergrund möglich, vgl. etwa Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I und II, 7./4. Aufl. 1992; Virilio: Rasender Stillstand, (dt. Ausgabe) 1992; Welsch: Unsere postmoderne Moderne, 1993; Krenzlin (Hrsg.), Zwischen Angstmetapher und Terminus. Theorien der Massenkultur seit Nietzsche, 1992; Postman: Wir amüsieren uns zu Tode, (dt. Ausgabe) 1985; ders.: Das Technopol, (dt. Ausgabe) 1992; Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, (dt. Ausgabe) 1983; Hunziker: Medien, Kommunikation und Gesellschaft, 1988. 23 Dazu Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, 1996.

2*

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Bernd Schünemann

2. Zwar könnte man auf die Idee kommen, diese gewissermaßen al fresco gemalte Skizze der postmodernen Gesellschaft als eine empirische Aussage gegenüber den normativen Festlegungen des Grundgesetzes für irrelevant zu erklären und eine darauf gestützte Kritik an der fortbestehenden Brauchbarkeit des tradierten Menschenbildes für einen naturalistischen Fehlschluß zu halten. Aber das wäre zu einfach. Zum ersten setzt auch jede normative Aussage die empirische Realisierbarkeit voraus, nach dem Grundsatz „Sollen impliziert Können" 24 . Und zum anderen muß man es natürlich für eine reine, d. h. gar nicht ernst gemeinte Ideologie erklären, wenn eine Gesellschaft ein Menschenbild proklamiert, das sie in der alltäglichen Wirklichkeit ihrer eigenen Existenz und Selbstdarstellung geradezu mit Füßen tritt. Dazu im einzelnen: Wenn eine Gesellschaft Werte proklamiert und im Munde führt, nach denen sie in Wahrheit nicht lebt, so bedeutet das eine fundamentale Heuchelei. Wenn gemäß der hier aufgestellten These sogar unser heutiges verfassungsrechtliches Fundament mit Heuchelei durchsetzt ist, muß man sich darauf gefaßt machen, daß auch die Rechtskultur im übrigen beträchtliche hypokritische Elemente aufweist. Und dies möchte ich nun in der Tat auch behaupten und, bevor ich mich dem wichtigsten Demonstrationsfeld zuwende, vierfach exemplifizieren. (1) An dem Ziel der Wiedervereinigung als verfassungsrechtlicher Pflicht wurde auch dann noch verbal festgehalten, als sich die praktische Politik längst auf die endgültige Petrifizierung der deutschen Teilung eingerichtet hatte.25 (2) Als sich dann unerwartet durch den Zusammenbruch des SED-Regimes die nunmehr als „deutsche Einigung" bezeichnete Wiedervereinigung doch noch ereignete, wurde bei der strafrechtlichen Aburteilung der während des SEDRegimes begangenen schlimmsten Untaten die Fiktion aufrecht erhalten, das strafrechtliche Rückwirkungsverbot würde hierbei beachtet.26 (3) In der Abtreibungsfrage hat sich nach langwierigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Standpunkt durchgesetzt, daß die Schwangere in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft über das Lebensrecht des Embryos frei disponieren kann; die diesbezügliche Gesetzgebung ist jedoch als eine solche zum Schutze des Embryos camoufliert worden, wobei die Benutzung von Euphemismen wie des „Schwangerschaftsabbruchs" (statt Abtreibung) und der „Schwangerenhilfe" die Heuchelei besonders deutlich machen und die dreimonatige Schutzlosigkeit des Fötus im Mutterleib gegenüber der über sein Fortleben entscheidenden Schwangeren in einem fast schon grotesken Verhältnis zum intensiven

24

H. Albert: Traktat über kritische Vernunft, 3 1975, S. 76. Dazu Murswiek: Das Staatsziel der Einheit Deutschlands nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989. 26 Das Schrifttum hierzu ist Legion, zu meinem eigenen Standpunkt m.w.N. Schünemann in: FS für Grünwald, 1999, S. 657, 658 ff.; ders. in: Materialien der EnqueteKommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit", hrsg. vom Deutschen Bundestag, Bd. II/2, 1999, S. 1304, 1311 ff. 23

Das „Menschenbild des Grundgesetzes"

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Schutz des in vitro gezeugten embryonalen Zellkliimpchens durch das ESchG27 und die ihm im Schrifttum inflationär zugebilligte Menschenwürde steht.28 (4) Und ein besonders eklatantes Beispiel bilden schließlich die nach dem Muster von Austauschverhältnissen organisierten Urteilsabsprachen im Strafverfahren, die das geschriebene Gesetz eklatant mißachten und damit sogar eine richterliche Rechtsbeugung en gros darstellen, durch eine ganze Serie hypokritischer Manöver aber für mit dem geltenden Recht vereinbar erklärt worden sind. 29

I I I . Die ökologische Grundnorm 1. Die folgenschwerste Heuchelei spielt sich jedoch auf einem anderen Felde ab und wird unmittelbar durch das vom BVerfG dem Grundgesetz subintellegierte Menschenbild ermöglicht, und zwar durch dessen „negative" Seite der vom BVerfG beschriebenen Begrenzung, genauer gesagt durch die Beschränktheit dessen, was das BVerfG als Begrenzung nennt. Denn diese besteht ja (nur) in der „Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit" der Person, also im Blick auf die Mitmenschen oder (in der Ausdrucksweise Kants) auf die „Willkür der anderen". Das ist offensichtlicher Ausdruck eines rein anthropozentrischen Weltbildes, in dem Tiere oder die natürliche Umwelt als solche keinen Eigenwert besitzen. Über die Berechtigung einer solchen Konzeption, die in der Aufklärung den Menschen erkennbar an Stelle eines persönlichen Gottes zum Maß aller Dinge erklärte, mochte man im 18. und 19. Jahrhundert moralisch streiten, aber es hing damals bei einer konsequentialistischen Betrachtungsweise nicht sehr viel davon ab, weil alle wirklich gefährlichen Übergriffe des Individuums über kurz oder lang auf Gegenrechte eines anderen Individuums trafen - so wie ja selbst die Tierquälerei als Verletzung der Gefühle empfindsamerer Menschen qualifiziert und dadurch im Zaum ge-

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Gesetz zum Schutz von Embryonen vom 13.12.1990, BGBl. I, S. 2746. Vgl. nur aus dem unübersehbaren Schrifttum zu den horrenden inneren Widersprüchen der dafür maßgeblichen Entscheidung BVerfGE 88, 203 ff. Dreher/Tröndle: Strafgesetzbuch, 47 1995, Rn. 12 ff. vor § 218; zu den davon zu findenden Abweichungen des SFHÄndG Lackner in: Lackner/Kühl (Fn. 10), Rn. 20 ff. vor § 218; zur de-factoWirkungslosigkeit des Lebensschutzes durch das geltende Recht Philipp: ZfL 2000, 71; zu der vom Gesetzgeber nicht einmal in Erwägung gezogenen Möglichkeit, das Beratungskonzept im Sinne einer „Krisenintervention" auszugestalten, Schünemann: ZRP 1991, 379 ff.; zur Richtigstellung des Wertverhältnisses von intrauterinem Fötus und in vitro gezeugtem Embryo sowie zum Fehlgebrauch des Menschenwürdearguments durchschlagend Ipsen: JZ 2001, 990 ff. m.z.w.N. 28

29 Das einschlägige Schrifttum ist kaum noch übersehbar, vgl. die Nachweise bei Schünemann: Wohin treibt der deutsche Strafprozeß?, ZStW 114 (2002), Heft 1 Fn. 90, und zu meinem eigenen Standpunkt im einzelnen Schünemann in: FS für Rieß, 2002, S. 525 ff. m.z.w.N.

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halten werden konnte. 30 Auch das hat sich aber im Zuge der industriellen Entwicklung des 20. Jahrhunderts grundlegend geändert, weil die menschliche Zivilisation nunmehr die Möglichkeiten zur Zerstörung der gesamten natürlichen Umwelt und letztlich sogar der Lebensgrundlagen künftiger Generationen besitzt, so daß sich gebieterisch die Frage stellt, ob ein Menschenbild richtig sein kann, in dem die Rücksichtnahme auf Tiere, die natürliche Umwelt oder spätere Generationen noch nicht bedacht worden ist. Ich möchte das mit aller Entschiedenheit verneinen und folgende Gegenthesen aufstellen: Aus der Kombination des individualistischen, nur anthropozentrisch begrenzten Menschenbildes des Grundgesetzes mit der letztlich in einer ökonomischen Raserei endenden normativen Blindheit der postmodernen Gesellschaft, die in der gegenwärtig ablaufenden Globalisierung ihre letzte Steigerung findet, ergibt sich die fatale Konsequenz, daß während der Veranstaltung einer ebenso unablässigen wie heuchlerischen ökologischen „Medienshow" gleichzeitig eine permanente radikale Zerstörung der ökologischen Ressourcen des Erdballes stattfindet. Ich möchte dem die Pflicht zur Bewahrung der Umwelt als überpositive universelle Grundnorm jeder Rechtsordnung entgegensetzen und für den Fall, daß man im Menschenbild auch dessen Schranken mitberücksichtigen will, 3 1 dessen Beschränkung auf den „homo oecologicus" einfordern. 2. Diese „Grundnorm-These" könnte auf den ersten Blick günstigstenfalls als ein Wagnis oder eine Verwegenheit, eher schon als ein Ausdruck rechtstheoretischer Naivität erscheinen. Denn die darin proklamierte Erneuerung eines Naturrechtsdenkens, das von Zeit und Ort unabhängig ist und sich nicht auf eine formale Grundnorm beschränkt, sondern ein anspruchsvolles inhaltliches Postulat aufstellt, scheint die definitiven Resultate der Kritik am sog. naturalistischen Fehlschluß und an absolut geltenden Werten und Normen zu ignorieren und außerdem mit dem weithin herrschenden, gemäßigt positivistischen Begriff der Rechtsgeltung unvereinbar zu sein.32 Zudem scheint die These der gegenwärtig vorherrschenden Entwicklung des Rechtsdenkens entgegengesetzt und damit reaktionär zu sein, denn diese Entwicklung zielt auf die Anerkennung der Universalität der Menschenrechte33 und damit der Rechte des

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Siehe § 360 Abs. 1 Nr. 13 RStGB und zum Rechtsgut Frank: Das Strafgesetzbuch für das deutsche Reich, ,7 1926, § 360 Anm. XIII. 31 Wie es unter I. als methodologisch fragwürdig erkannt wurde, aber der Rechtsprechung des BVerfG und der herrschenden Auffassung entspricht. 32 Zum naturalistischen Fehlschluß vgl. nur grundlegend Hume: A Treatise of Human Nature, (dt. Ausgabe) 1906, S. II/211; Ellscheid: Das Problem von Sein und Sollen in der Philosophie Immanuel Kants, 1967; Radbruch: Rechtsphilosophie, 3 1932, S. 6 ff., 191; Moore: Principia Ethica, (dt. Ausgabe) 1996, S. 39 ff., 75 f.; zum gemäßigt positivistischen Geltungsbegriff von Alexy s.u. Fn. 47. 33 Vgl. Bielefeldt: Philosophie der Menschenrechte, 1998; Dieter: Problematik der Menschenrechte, 1995; Hinkmann: Philosophische Argumente für und wider die Uni-

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Individuums, die bei Anerkennung einer Pflicht zur Bewahrung der Umwelt als universeller Grundnorm jeder Rechtsordnung ins zweite Glied zurückversetzt würden. Und schließlich muß sie im Munde eines deutschen Autors besonders eigenartig wirken, weil erstens die Würde des Individuums in Art. 1 GG an der Spitze der deutschen Verfassung steht, während der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen erst in vielfältig eingeschränkter Weise in Art. 20 a GG am Ende des Grundrechtskataloges erwähnt wird; und weil zweitens neuerdings gerade in Deutschland den Umweltgütern der Status als Rechtsgüter, die eines Schutzes auch durch das Strafrecht würdig und bedürftig sind, von vielen einflußreichen Autoren mit Entschiedenheit bestritten wird. 34 In der Tat zögere ich nicht, bei der Entfaltung meiner Ausgangsthese eine Umwertung aller heute dominierenden Werte zu proklamieren und die im Sinne der Rechte des Individuums verstandenen Grund- und Menschenrechte, deren Entfaltung seit der Aufklärung den kostbarsten Schatz der abendländischen Rechtskultur repräsentiert, als die Totengräber der natürlichen Umwelt zu qualifizieren, die damit für die am Horizont der Gegenwart bereits sichtbare Apokalypse der weitgehenden Vernichtung der bis heute erreichten natürlichen Evolution verantwortlich sein werden. Der notwendigste und dringlichste Diskurs der Postmoderne besteht deshalb darin, die Rechte des Individuums, des völlig entfesselten Prometheus, an die ihnen nur gebührende zweite Stelle zu verweisen und von jenem Wahn Abschied zu nehmen, der in der Selbstverwirklichung des Individuums das letzte Ziel des Rechts erblickt. 3. Bevor ich auf diese nach meiner Meinung überfällige Umwertung aller heutigen Werte im einzelnen zu sprechen komme, möchte ich meinen überpositiven Grundansatz kurz begründen und ihn dabei gegen die metaethischen und rechtspositivistischen Einwände verteidigen. a) Wir kennen aus der normativen Ethik eine ganze Reihe von Versuchen, Pflichten des Menschen zur Schonung und Bewahrung der natürlichen Umwelt zu begründen. Am weitesten gehen holistische Argumente, die die Unterscheidung von Mensch und Natur überhaupt für unangemessen erklären, etwa in Gestalt der deep-ecology-Bewegung oder der Gaia-Hypothese von James

versalität der Menschenrechte, 1996; Höffe: Vernunft und Recht, 1998, S. 49 ff.; Maier: Wie universal sind die Menschenrechte?, 1997; Rorty: Wahrheit und Fortschritt, 2000, S. 241 ff.; Tönnies: Der westliche Universalismus, 2001. 34 Vgl. vor allem Hassemer: Neue Kriminalpolitik, 1989, S. 46; ders. in: Scholler/Philipps (Hrsg.), Jenseits des Funktionalismus, 1989, S. 90, 93 ff.; ders. ZRP 1992, 378, 383; Hohmann: Das Rechtsgut der Umweltdelikte, 1991, S. 188 ff.; ders. GA 1992, 76 f f ; Herzog: Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge, 1991, S. 141 ff.; P.-A. Albrecht, Backes und Rüther in: 12. Strafverteidigertag, 1989, S. 36 ff., 128 ff., 153 ff.; zur Kritik Schünemann in: FS für Triffterer, 1996, S. 437 ff.; ders. GA 1995, 201, 206 ff.; ders. in: Kühne/Miyazawa, Alte Strafrechtsstrukturen und neue gesellschaftliche Herausforderungen in Japan und Deutschland, 2000, S. 15, 22 ff.

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Lovelock. 35 Neben dieser radikalsten Form der ökozentrischen Betrachtungsweise gibt es natürlich eine ganze Anzahl gemäßigter ökozentrischer Konzepte bis hin zu dem die relativ weiteste Anerkennung genießenden pathozentrischen Argument, daß der Respekt für das Wohlbefinden der Menschen auf die empfmdungsfähige Natur ausgedehnt werden müsse.36 Der von diesem Argument abgedeckte ökologische Schutzbereich ist allerdings eher bescheiden, weil er nur die Empfindungen gerade lebender Kreaturen betrifft und deshalb die Zerstörung eines Ökosystems wie etwa eines Tropenwaldes oder eines Korallenriffs gestatten würde, sofern man nur den darin gerade lebenden empfindungsfähigen Tieren eine Art Gnadenbrot einräumen würde. Im Vergleich dazu gibt es deshalb eine ganze Reihe von anthropozentrischen Argumenten für Naturschutz, die einen extensiveren Schutzbereich zur Folge haben, beispielsweise das sog. basic-needs-Argument 37 oder der Hinweis auf die ästhetische Notwendigkeit der Naturerfahrung für ein gutes menschliches Leben.38 Eine überzeugende Begründung für die Pflicht der jeweils lebenden Menschen zur umfassenden Bewahrung der natürlichen Umwelt dürfte jedoch mit keiner einzigen der genannten Argumentionsstrukturen gelingen. Die ökozentrischen Konzepte sind in letzter Konsequenz nichts anderes als Ökoreligionen, zu denen sich natürlich jeder einzelne bekennen kann, deren intersubjektive Verbindlichkeit aber nicht nachweisbar ist. Außerdem ist ausgerechnet das pathozentrische Argument, welches sich im Vergleich mit den sonstigen ökozentrischen Konzeptionen der größten Anerkennung erfreut, eher Tierschutz als Artenschutz und deshalb zu einem Schutz der natürlichen Evolution als solcher ungeeignet. Die anthropozentrischen Konzeptionen haben ihre zentrale Schwäche wiederum in dem Verhältnis zu den künftigen Generationen, weil eine intergenerationelle ökologische Gerechtigkeit schwerlich als eine allgemeinverbindliche moralische Norm begründet werden kann, 39 die nämlich eine nur religiös begründbare Pflicht zur Zeugung von Nachkommenschaft vorauszusetzen scheint. b) Diese Unmöglichkeit einer Letztbegründung der ökologischen Ethik gilt nun allerdings nach meiner Meinung nicht für das Recht, durch dessen bloße Existenz nämlich die unter moralischen Aspekten durchaus konsistent durchführbare Lebensform eines reinen Individualismus ausgeschlossen wird. Meine These lautet, daß Staat und Recht nur unter der Prämisse ihrer Fortdauer über die Lebensspanne der gerade lebenden Menschen hinaus widerspruchsfrei ge55

Vgl. dazu m.w.N. v. d Pfordten: Ökologische Ethik, 1994, S. 114 ff., 186 f. Dazu näher m.w.N. Krebs in: Nida-Rümelin (Hrsg.), Angewandte Ethik, 1996, S. 354 ff. 17 Vgl. dazu Krebs (Fn. 35), S. 367 ff. 38 Vgl. dazu abermals m.z.N. Krebs (Fn. 35), S. 370 ff. 39 Vgl. dazu einerseits Nida-Rümelin (Fn. 35), S. 823 f.; andererseits Leist (Fn. 35), S. 401 ff. 36

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dacht werden können. Denn beide sind Institutionen, die zur Bewältigung der Zukunft angelegt sind, und der Gesellschaftsvertrag als Legitimationsmodell für Staat und Recht umfaßt zwangsläufig die noch nicht geborenen Kinder der Vertragspartner, weil sich niemand auf einen Gesellschaftsvertrag einlassen würde, bei dem die willkürliche Tötung von Neugeborenen zur Disposition der Mehrheit stünde. Die innere Logik des Gesellschaftsvertrages erfordert also die Erstreckung auf die künftigen Generationen, so daß das Prinzip des gleichen Lebensrechts aller Menschen, dessen universelle Geltung in räumlicher Hinsicht heutzutage unbestritten ist, um die zeitliche Dimension ergänzt werden muß. Wenn man die „intergenerationelle ökologische Gerechtigkeit" dagegen für den Bereich von Staat und Recht ablehnen wollte, würde man dem Staat genau jene überindividuelle Legitimation nehmen, die in der Idee der Gerechtigkeit als Generalisierbarkeit steckt und den gemeinsamen Grundansatz aller Gerechtigkeitstheorien darstellt, sei es der Goldenen Regel,40 sei es des Kategorischen Imperativs, 41 sei es des Rawls'schen Gerechtigkeitskonzepts mit dem Prinzip der Chancengleichheit und dem Schleier des Unwissens,42 sei es schließlich des allgemeinen Konzepts vom Gesellschaftsvertrag. 43 Denn die Goldene Regel und der Kategorische Imperativ sind von vornherein so formuliert, daß sie nicht auf den Kreis der zu einem bestimmten Zeitpunkt zufällig gerade lebenden Menschen beschränkt, sondern durch ihre abstrakte Fassung auch für die Zukunft und damit auch für das Verhältnis zu den künftigen Generationen gültig formuliert sind. Der Schleier des Unwissens im Sinne von Rawls deckt naturgemäß gerade auch die Frage ab, ob man als Glied der jetzt lebenden oder einer künftigen Generation geboren wird. Und ein Gesellschaftsvertrag, dessen Reichweite sich auf die zufällig gerade lebenden Individuen beschränken würde, würde sich selbst schon dadurch ad absurdum führen, daß er durch jeden Todesfall und jede Geburt seine Geltung verlieren würde. Außerdem könnte man, wenn man die Idee der Universalisierbarkeit überhaupt preisgibt, nicht mehr begründen, warum andere Nationen oder andere Rassen in den Gesellschaftsvertrag einbezogen werden sollen. 40 Vgl. hierzu Philippides: Die „Goldene Regel" religionsgeschichtlich untersucht, 1929; Dehle: Die Goldene Regel, 1962; Roetz: Die chinesische Ethik der Achsenzeit, 1992, S. 219 f f , Hruschka in: FS für Arthur Kaufmann, 1993, S. 129 ff.; ders. JZ 1987, 941 ff.; Spendel in: FS für v. Hippel, 1967, S. 491 ff.; Liu in: Scholler/Philipps (Fn. 33), S. 175 ff. 41 Zu den verschiedenen Fassungen des Kategorischen Imperativs vgl. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, 1787, ed. Karl Vorländer, 1967, S. 54; ders.: Grundlegung zur Metaphisik der Sitten, 1785, ed. Valentiner, 1994, S. 52, 66 f. Vgl. hierzu aus der kaum noch übersehbaren Diskussion lediglich Wittmann in: FS für Arthur Kaufmann, 1993, S. 363 ff.; Kaulbach: Immanuel Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", 2 1996, S. 32 ff.; Singer: Verallgemeinerung in der Ethik, (dt. Ausgabe) 1975, S. 256 ff. 42 Rawls : Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, S. 81 ff. 41 Vgl. nur aus jüngster Zeit die umfassende Darstellung bei Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994.

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Die Ableitung der ökologischen Grundnorm aus der Maxime der Generalisierbarkeit als Fundamentalprinzip der Gerechtigkeit entfällt deshalb lediglich bei Staats- und Rechtstheorien vom Schlage Nozicks, 44 deren Horizont sich in der Herleitung individueller Rechte erschöpft. Weil es jedoch ohne Anerkennung des Prinzips der Generalisierbarkeit keine tragfähige Letztbegründung für die Existenz individueller Rechte gibt, brauche ich auf solche offensichtlich defizitären Konzepte nicht weiter einzugehen, deren große Resonanz etwa in den USA eher ein weiterer Beweis für den pathologischen Zustand der postmodernen Gesellschaft darstellt. 4. Zur Präzisierung der ökologischen Grundnorm möchte ich vorschlagen, als Gegenstandsbereich den schon seit langem, etwa seit der Stockholmer Erklärung über die menschliche Umwelt von 1972,45 eingebürgerten Begriff der natürlichen Ressourcen zu benutzen und dazu nicht nur Bodenschätze und die Intaktheit der Umweltmedien Boden, Luft und Wasser, sondern auch gewachsene Naturlandschaften, den in der Evolution entstandenen Schatz an Tier- und Pflanzenarten sowie selbstverständlich die schützende Ozonschicht und das im großen und ganzen menschenfreundliche Weltklima zu zählen. Ferner sollte man zwischen erneuerbaren und nicht erneuerbaren (erschöpßaren) Ressourcen unterscheiden und dementsprechend das Recht der gerade lebenden Generation zur Ausbeutung der natürlichen Ressourcen wie folgt definieren und limitieren: Während die erneuerbaren Ressourcen zur freien Verfügung der lebenden Generation stehen und in diesem Sinne als ihr Eigentum angesprochen werden können, bei dessen Gebrauch lediglich kraft des pathozentrischen Argumentes auf die Würde der fühlenden Kreatur Rücksicht genommen werden muß, ist die gerade lebende Generation bezüglich der erschöpfbaren (einschließlich der sich nur in geologischen Zeiträumen erneuernden) Ressourcen (also auch aller fossilen Energieträger!) zu deren Schonung für die künftigen Generationen verpflichtet und muß sich deshalb bei deren Nutzung auf einen verhältnismäßigen Anteil beschränken. Weil der Verbrauch einer natürlichen Ressource nicht nur durch die bisher im Zentrum des Umweltrechts stehende Verschmutzung, sondern ebenso sehr durch den schlichten Verbrauch erfolgt, muß die traditionelle Fokussierung auf die Freisetzung von Giften beseitigt und der normale tägliche Ressourcenverbrauch ganz genau so unter die Limitierung durch die ökologische Grundnorm gestellt werden. Daraus ergeben sich übrigens weitreichende Konsequenzen für die Dogmatik des Umweltrechts und insbesondere auch des Umweltstrafrechts, auf die ich in dieser rechtsphilosphischen Betrachtung nicht näher einzugehen vermag. Ich möchte deshalb nur

44 Nozick : Anarchie, Staat, Utopie, (dt. Ausgabe o. J.), und zur Kritik Kersting (Fn. 42), S. 292 ff., bes. 316 ff.; Koller: Neue Theorien des Sozialkontrakts, 1987, S. 157 ff. 45 UN-Doc A/CONF. 48/14 (1972), auch in: 11 I L M 1416 (1972), und dazu etwaSwpanich: Yearbook of Environmental Law, 1992, S. 94 ff.

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ganz knapp dazu bemerken, daß der nicht enden wollende Streit um die Struktur des Rechtsguts im Umweltstrafrecht von dem skizzierten Ansatz her ganz einfach zu entscheiden ist: Die Umweltdelikte sind danach den Vermögensdelikten im weiteren Sinne zuzuordnen, und das geschützte Rechtsgut ist unmittelbar das einzelne ökologische Gut, so daß die Kontroverse zwischen einer anthropozentrischen und einer ökozentrischen Rechtsgutsperspektive jede Bedeutung verliert. 46 5. Nach dieser Skizzierung der ökologischen Grundnorm möchte ich mich als nächstes mit dem naheliegenden Einwand auseinandersetzen, daß es nach der doppelten Widerlegung des Naturrechts zunächst durch Hume und Kant und in unseren Zeiten durch die analytische Sprachphilosophie und die Metaethik 4 7 geradezu naiv sei, eine dritte, nunmehr ökologische Renaissance des Naturrechts zu predigen. Meiner Meinung nach ginge diese Kritik schon deshalb fehl, weil ich die ökologische Grundnorm nicht aus der Natur des Menschen oder aus irgendeiner anderen deskriptiven Aussage, sondern aus Überlegungen zum Apriori jeder in sich konsistenten Theorie von Staat und Recht abgeleitet habe, so daß man mir den üblichen methodologischen Fehler des naturalistischen Fehlschlusses nicht vorwerfen kann. Und in inhaltlicher Hinsicht trennen die ökologische Grundnorm von den früheren Inhalten sei es des christlichen, sei es des rationalistischen, sei es des nach 1945 erneuerten Naturrechts Welten. Denn es geht bei der ökologischen Grundnorm nicht um die hochgradig kontingente Regelung des täglichen Zusammenlebens, sondern um das Verbot von Mord und Raub an künftigen Generationen und damit der Menschheit schlechthin und damit um jene fundamentalen Voraussetzungen jeder denkbaren Rechtsordnung, die auch von den Kritikern des Naturrechts inhaltlich niemals in Zweifel gezogen worden sind. 6. Der letzte Einwand, mit dem ich mich schon vorab beschäftigen möchte, könnte aus dem Begriff des Rechts und der Rechtsgeltung hergeleitet werden. Nach dem etwa unlängst von Alexy 4 8 reformulierten eingeschränkt positivistischen Rechtsbegriff ist eine Norm nur dann eine Rechtsnorm, wenn sie gemäß einer im großen und ganzen sozial wirksamen Verfassung gesetzt ist, so daß also ein Mindestmaß an Geltung zum Begriff des Rechts gehören und eine ausschließlich aus dem Naturrecht abgeleitete Rechtsnorm kein geltendes Recht sein würde. Ich kann offenlassen, ob diese Qualifikation der faktischen Rechtsgeltung zwar nicht als hinreichende, aber doch als notwendige Bedingung von

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Vgl. dazu näher meine Arbeiten, a.a.O. (Fn. 33). Vgl. Alexy: Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 53 ff.; Ayer: Sprache, Wahrheit und Logik, 1970, S. 135 ff.; Hare : Die Sprache der Moral, 1972, S. 114 ff.; Kaulbach: Ethik und Metaethik, 1974; Moore: Principia Ethica, 1903, S. 40; Stevenson: Ethics and Language, 1944. 48 Alexy: Begriff und Geltung des Rechts, 1992, S. 201. 47

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Recht wirklich aus der zirkulären Rechtsbegründung des Positivismus herausführt, da es für meine Zwecke völlig ausreicht, daß die ökologische Grundnorm die Bedingungen der Geltung von jeglichem staatlich gesetzten Recht angibt, so daß die Mißachtung der Grundnorm also selbst dann, wenn sie auf einem staatlichen Gesetz beruhte, nicht rechtmäßig sein könnte. Um dies durch einen Vergleich mit der sogenannten Radbruchschen Formel zu erläutern, die in der letzten Zeit bei der Aufarbeitung des Unrechts totalitärer Staaten so vielfach strapaziert worden ist: 49 Handlungen, die die ökologische Grundnorm mißachten, können auch durch den Gesetzgeber nicht erlaubt werden, weil der Widerspruch durch die von der ökologischen Grundnorm festgelegten Gerechtigkeitsanforderungen eo ipso unerträglich ist. Daraus folgt weiter, daß ein Eintreten für die von der ökologischen Grundnorm geschützten Objekte vom Staat nicht unter Strafe gestellt werden kann, woraus ich, ohne daß ich das hier weiter begründen kann, im Ergebnis ein umfassendes Widerstandsrecht zur Bewahrung der unveräußerlichen ökologischen Güter ableiten möchte.

IV. Die ökologische Realität und normative Perversion der postmodernen Gesellschaft 1. Daß die gegenwärtig den Globus beherrschende entwickelte Industriegesellschaft, die im Zuge der ja nicht etwa jetzt erst einsetzenden, sondern sich nur enorm beschleunigenden Globalisierung einen neuen Ausbreitungsschub erfährt, die ökologische Grundnorm permanent und massiv verletzt, bedarf keiner allzu umfänglichen Darlegung. Selbstverständlich läßt die von mir skizzierte Grundnorm erhebliche Konkretisierungsspielräume übrig, so daß man in weiten Bereichen des menschlichen Verhaltens darüber streiten könnte, ob es mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit, 50 das letztlich hinter der von mir skizzierten ökologischen Grundnorm steht, zu vereinbaren ist oder nicht. Es gibt aber genügend Beispielsfälle exorbitanten Ausmaßes, die eine geradezu habituelle Mißachtung der ökologischen Grundnorm durch die heutige Industriegesellschaft belegen. Hierbei ziehe ich noch alle diejenigen Verbrauchsformen an sich nicht erneuerbarer ökologischer Ressourcen ab, bei denen man mit einer gewissen Plausibilität von einer zukünftigen Substituierbarkeit ausgehen kann, weil ein stattfindender oder einzukalkulierender technischer Fortschritt die homogene Vergleichskategorie verändert und dementsprechend das

49 Seidel: Rechtsphilosophische Aspekte der „Mauerschützen"-Prozesse, 1999, S. 140 f f , 205 ff. und passim; w.N. bei Schünemann in: Pawlowski/Roellecke (Hrsg.), Der Universalitätsanspruch des demokratischen Rechtsstaates, ARSP-Beiheft Nr. 65, 1996, S. 109 Fn. 50. 50 Vgl. nur aus der unübersehbaren Literatur v. Weizsäcker/A. Lovins/L. Lovins: Faktor vier - der neue Bericht an den Club of Rome, 1995.

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Verbrauchskontingent der noch auf einem niedrigeren technischen Niveau lebenden Epoche erweitert. Auch dann bleiben immer noch zahlreiche riesige Verbrauchsformen unserer heutigen Gesellschaft übrig, bei denen die definitive Zerstörung nicht erneuerbarer Ressourcen feststeht oder zumindest eine so konkrete Gefahr darstellt, daß es unverantwortlich ist, das betreffende Risiko einzugehen. An erster Stelle nenne ich die Gefährdung der Ozonschicht und des Weltklimas durch die immer noch freigesetzten FCKW-Gase und den immer noch im weltweiten Maßstab zunehmenden Kohlendioxydausstoß, danach die Auslöschung von Tierarten, die Verseuchung weiter Teile der Erde mit Radioaktivität und die Zerstörung ganzer Vegetationszonen wie etwa um den Aralsee in der ehemaligen Sowjetunion. Weitere Beispiele bieten der Raubbau an den in menschlichen Zyklen nicht erneuerbaren Ressourcen wie etwa dem Erdöl, die Abholzung der tropischen oder auch der borealen Wälder ohne entsprechende Aufforstungsmaßnahmen oder die Zerstörung der Korallenriffe, welche Zerstörungsformen übrigens wieder in einer direkten Rückkoppelung mit der Gefährdung des Weltklimas stehen. Als weitere Gruppe nenne ich eine Konsumform, die fur einen vergleichsweise geringfügigen Nutzen enorme Ressourcen verbraucht, etwa die Verwendung von Treibnetzen in der Hochseefischerei, die im Interesse der Papierindustrie erfolgende Anpflanzung von Eukalyptusplantagen mit ihren dauerhaften zerstörerischen Konsequenzen für die Fruchtbarkeit des Bodens und den Wasserverbrauch. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen, wobei auch leicht auszuführen wäre, daß die permanente Thematisierung ökologischer Themen bisher per saldo für die Umwelt nur wenig gebracht hat und unter dem Prinzip des „Zu spät und zu wenig" steht. Gerade jetzt ist es evident, daß der neue Globalisierungsschub infolge der damit verbundenen exponentiellen Zunahme des Verbrauchs ökologischer Ressourcen und des Ausstoßes von Schadstoffen die schneckengleichen Fortschritte, die im internationalen Maßstab beim Schutz der Umwelt allenfalls erzielt werden,51 gewissermaßen mit Schallgeschwindigkeit überholt. 2. Für die rechtliche Beurteilung entscheidend ist nun, daß alle diese gravierenden und habituellen Verletzungen der ökologischen Grundnorm nicht etwa der verbrecherischen Attitüde von Einzelpersonen entspringen, sondern geradezu das Credo unserer heutigen postmodernen Gesellschaft darstellen und die in ihr in Wahrheit ausschließlich dominierenden Werte widerspiegeln, nämlich, wie schon eingangs ausgeführt, die Idee der Freiheit und Selbstverwirklichung des Individuums.

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Vgl. nur Brown und French , in: World Watch Institute Report (Hrsg.), der Welt 2000, (dt. Ausgabe) 2000, S. 41 ff., 252 ff. sowie das Scheitern des magipfels von Den Haag am 26.11.2000 und demgegenüber die Realität lt. span: Der Klima-GAU, 1998; EPCC-Bericht der UNO vom Januar 2001, dazu sche Zeitung vom 23.1.2001, S. 1.

Zur Lage sog. KliR. GelbSüddeut-

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V. Die notwendige Umwertung der herrschenden Werte 1. Wenn man meiner Diagnose, die ja im Grunde nicht einmal besonders originell ist, sondern nur einige heute geläufige Einsichten kombiniert, bis zu diesem Punkt folgt, so ergibt sich als zwingende Konsequenz die Notwendigkeit zu einer Umwertung der gegenwärtig herrschenden Werte, indem die ökologische Grundnorm, die beispielsweise in Deutschland in Art. 20 a GG ein durch vielfältige Einschränkungen verkümmertes Hinterwäldlerdasein fristet, an die erste Stelle gerückt wird, während die Idee der Selbstverwirklichung des Individuums ausdrücklich unter den Vorbehalt desjenigen Ressourcenanteils gestellt wird, der bei Beachtung der intergenerationellen ökologischen Gerechtigkeit nur verfügbar ist. Im Begriff der Menschenwürde kann diese Umwertung der zentralen Werte mühelos bewältigt werden, weil es naheliegenderweise zur Würde des Menschen gehört, sich der Beschränktheit der von ihm nutzbaren Ressourcen bewußt zu sein, so daß die Überschreitung der dadurch vorgegebenen Grenzen ein würdeloses Verhalten darstellt, das nicht zur Selbstverwirklichung, sondern zur Pervertierung des Individuums führt. 2. Diese Vertauschung in der Reihenfolge zwischen der Bewahrung der Umwelt und der Selbstverwirklichung des Individuums scheint auf den ersten Blick nicht besonders aufregend zu sein. Bei genauer Betrachtung liegt darin aber nach meiner Einschätzung eine Revolution der Mentalität, die nicht weniger tiefgreifend ist als die Ersetzung der Kantischen Pflichtethik durch Nietzsches Konzept des Übermenschen. Die Abschaffung der Moral und die Ästhetisierung des menschlichen Lebens, die in meinem Verständnis den Inbegriff von Nietzsches Philosophie ausmachen,52 sind, ebenfalls nach meinem Verständnis, auf der ersten Stufe in der faschistischen Ideologie und auf der zweiten Stufe in der postmodernen Gesellschaft so gründlich realisiert worden, wie sich dies Nietzsche selbst niemals träumen lassen konnte und wie es insbesondere der ideologische Überbau der postmodernen Gesellschaft naheliegenderweise nicht wahrhaben will. Weil die „Grüne Bewegung" in den Gesellschaften des Westens bis heute im wesentlichen aus der ehemaligen Anti-Atomkraft-Bewegung sowie den unterschiedlichsten gesellschaftskritischen Subkulturen gespeist wird, hat die auf der ökologischen Grundnorm beruhende Lebensform bis heute nicht nur in der herrschenden Kultur bestenfalls ephemere Eindrücke hinterlassen, sondern ist sogar in vielfältiger Weise zur Magd solcher Forderungen und Bedürfhisse geworden, die sich in subkulturellen Lebensformen als Zerrbild

52 Entscheidend dafür sind Nietzsches Konzepte des „Übermenschen" und des „Willens zur Macht", deren Bedeutung jedoch durch seine „Entnazifizierung" nach 1945 m.E. in der Interpretationsgeschichte stark verdunkelt worden ist. Zu den nahezu unbegrenzten Interpretationsmöglichkeiten vgl. nur Penzo: Der Mythos vom Übermenschen, 1992; Joisten: Die Überwindung der Anthropozentrizität durch Friedrich Nietzsche, 1994.

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des herrschenden Konzepts der individuellen Selbstverwirklichung wiederfinden. Pointiert gesprochen, lassen sich deshalb etwa politische Repräsentanten der Grünen Bewegung dringende ökologische Desiderate abkaufen, wenn als Gegenleistung einige Schwulen- oder Lesbenreferate in den Ministerien eingerichtet werden. Unterdessen gehen die globalen Zerstörungen und Verheerungen, die die postmoderne Gesellschaft an den natürlichen Ressourcen der Erde anrichtet, unvermindert weiter. Spätere Generationen, wenn sie dazu noch in der Lage sein werden, werden das Ausmaß der ökologischen Verbrechen, die heute zum Alltag unserer Gesellschaft gehören, nicht weniger gravierend einschätzen als die schier unvorstellbaren Verbrechen, die auf der ersten Stufe der Abschaffung der Moral in den faschistischen Systemen, allen voran der Nazidiktatur, begangen worden sind. Daß die Revolution der Mentalität, die erforderlich ist, bevor die ökologische Grundnorm in der herrschenden Kultur unserer heutigen Gesellschaft wirklich internalisiert wäre, überhaupt noch rechtzeitig gelingen könnte, ist extrem unwahrscheinlich. Natürlich wird auch der vorliegende Beitrag dazu realiter nichts Wesentliches beitragen können. Ich habe mich nur um den philosophischen Nachweis bemüht, daß die Inkorporierung ökologischer Gemeinplätze in das umfassende Talkshow-System der postmodernen Kultur nicht mit der naturrechtlich gebotenen Umwertung der heute herrschenden Werte verwechselt werden darf.

Was heißt „Wesensgehalt" der Grundrechte? Überlegungen zu Artikel 19 Absatz 2 Grundgesetz Von Arthur Kaufmann

I. Die Bestimmung des Art. 19 Abs. 2 GG, wonach „in keinem Falle ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden" darf, gehört zu den rätselhaftesten in unserer Rechtsordnung. Soweit ersichtlich, wird nirgendwo sonst auf das „Wesen" rekurriert. Dabei gibt es viele gute Köpfe, die gesagt haben, daß es so etwas wie „Wesen", „Wesenheit", „Wesensgehalt" oder zumindest eine „Wesenserkenntnis" gar nicht gibt. Niklas Luhmann bringt es kurz und bündig auf den Punkt: „Das Wesen des Wesens ist unbekannt"1. Und schon viel früher hat das einer, von dem man es vielleicht nicht annimmt, Thomas von Aquin, ebenso plakativ erklärt: „Principia essentialia nobis sunt ignota" („Die Wesensgründe der Dinge sind uns unbekannt"2). Und speziell die Phänomenologie, die wie keine andere Disziplin das Wesen und die Wesenserkenntnis (die rechtsphilosophisch berühmt-berüchtigte „Wesenschau") einsichtig machen wollte, ist bekanntlich gescheitert.3 Wenn es so steht, kann man eigentlich schon hier die Überlegungen abbrechen, denn Art. 19 Abs. 2 GG läuft alsdann leer. Aber die Praxis steht unter dem Zwang, dieser Bestimmung dennoch einen Sinn abzugewinnen, mit dem man judizieren kann. Der Begriff des „ Wesensgehalts " ist so schillernd wie der Begriff des „Naturrechts aus dessen Repertoire er stammt. Und das Naturrecht, jedenfalls das rationalistische, lief ja insofern auch leer, als mittels seiner sehr abstrakten Prinzipien nicht eine einzige Rechtsnorm in ihrem Inhalt als richtig nachgewiesen werden konnte. Man hätte denken sollen, daß dieses Naturrecht mit Ausgang des 18. Jahrhunderts endgültig verabschiedet worden sei. Aber der dann

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N. Luhmann: Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, 1965, S. 59 f. 2 Thomas von Aquin: Kommentar zu Aristoteles, De anima, 1,1. Nr. 15. 3 Vgl. A. Kaufmann: Das Schuldprinzip. Eine strafrechtlich-rechtsphilosophische Untersuchung, 2 1976, bes. S. 68 ff. 3 Schünemann u. a.

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aufkommende Positivismus hat ja, wie wir wissen, auch versagt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es darum noch einmal ein Aufflackern des Naturrechtsgedankens, die viel zitierte „ Naturrechtsrenaissance " als eine Antwort auf die Perversion des Rechts in der Zeit der Diktatur. 4 Und in diese Zeit fiel die Entstehung des Grundgesetzes. Mit der Formel vom „Wesensgehalt der Grundrechte" sollte deren willkürlicher Aushöhlung ein Riegel vorgeschoben werden. So weit, so gut. Es fragt sich nur, ob dieses lobenswerte Ziel auf solche Weise überhaupt zu erreichen ist. Nach der „ewigen Wiederkehr des Naturrechts" folgte auch hier die „ewige Wiederkehr des Positivismus". Die Naturrechtsrenaissance war Epoche. Das konnte nicht anders sein. Ihr hätte aber nicht ein Neopositivismus folgen dürfen; das war anachronistisch. Mit seiner Hilfe läßt sich das Rätsel des Art. 19 Abs. 2 GG schon gar nicht lösen. Es kann sich somit nur um einen dritten Weg Jenseits von Naturrecht und Positivismus" handeln;5 so es überhaupt eine Antwort auf die Frage gibt, was die Bezeichnung „Wesensgehalt der Grundrechte" sinnvollerweise bedeuten kann. Gemeint ist sicher etwas, das unverfügbar, der Disposition des Staates, des Gesetzgebers, der Rechtsprechung und überhaupt eines jeden, der Recht zu gewinnen trachtet, entzogen ist. Aber was ist unverfügbar? Ist dafür „Wesensgehalt" das richtige Wort? (Ein „Begriff ist es streng genommen nicht). Und wenn es einen „Wesensgehalt" gibt, dann muß es auch einen „Nicht-Wesensgehalt" geben. Wie lassen sich „Wesensgehalt" und „Nicht-Wesensgehalt", „Kernbereich" und „Randbereich" eines Grundrechts trennen? Soll damit die alte Unterscheidung von primärem und sekundärem Naturrecht Wiederaufleben? Oder ist in Art. 19 Abs. 2 GG das gemeint, was man landläufig unter „Wesen" versteht, etwa wenn man vom „deutschen Wesen" spricht - oder ist eben das gerade nicht gemeint? Für die Praxis ergibt sich hier das Problem, wieweit sich solche „Umdeutungen" noch mit dem Wortlaut des Art. 19 Abs. 2 GG in Einklang bringen lassen. Unser Problem ist das indessen nicht. Wir müssen dem Wesensgehalt-Artikel nicht auf Biegen und Brechen einen Sinn abgewinnen. Wir lassen jetzt zuerst einmal die wichtigsten der bisher vorgelegten Lösungsversuche Revue passieren.

4

Vgl. A. Kaufmann: Die Naturrechtsrenaissance der ersten Nachkriegsjahre - und was daraus geworden ist, in: FS für Sten Gagnér, 1991, S. 105 ff. Weitere Nachweise bei A. Kaufmann: Rechtsphilosophie,21997, S. 31 f. 5 Dazu nähert. Kaufmann: Rechtsphilosophie (Fn. 4), S. 40 ff.

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II. 1. Als erste betrachten wir die „«absolute Wesensgehaltstheorie", die hauptsächlich von Herbert Krüger und Peter Häberle vertreten wird 6 und der auch das Bundesverfassungsgericht zuneigt.7 Danach ist der Wesensgehalt eines Grundrechts unabhängig von der Situation und den konkreten Gegebenheiten. Zu keiner Zeit und unter keinen Umständen darf in ein Grundrecht so tief eingegriffen werden, daß überhaupt nichts mehr übrig bleibt. Das ist das Entscheidende: Es muß etwas „übrig bleiben", nämlich der „Kern" des Grundrechts (eventuell auch etwas vom „Nicht-Wesensgehalt", von der „Schale"). Dieser Standpunkt hat den Vorteil, daß er mit dem Wortlaut des Art. 19 Abs. 2 GG noch am ehesten vereinbar ist. Aber er ist bedauerlicherweise nicht durchführbar. Der „Wesensgehalt" ist nicht etwas, das man von den anderen Teilen eines Grundrechts abtrennen könnte. Wie sähe das etwa beim Recht auf Freiheit aus? Außerdem ist stets das ganze Grundrecht geschichtlich bedingt, es gibt nicht einen übergeschichtlichen („unantastbaren") und einen geschichtlichen („antastbaren") Teil. 2. Die „,relative Wesensgehaltstheorie" hat der Bundesgerichtshof so formuliert: „Ein Grundrecht wird durch einen gesetzlichen Eingriff in seinem Wesensgehalt angetastet, wenn durch den Eingriff die wesensmäßige Geltung und Entfaltung des Grundrechtes stärker eingeschränkt würde, als dies der sachliche Anlaß und Grund, der zu dem Eingriff geführt hat, unbedingt und zwingend gebietet. Der Eingriff darf also nur bei zwingender Notwendigkeit und in dem nach Lage der Sache geringstmöglichen Umfang vorgenommen werden und muß zugleich von dem Bestreben geleitet sein, dem Grundrechte gleichwohl grundsätzlich und im weitestmöglichen Umfange Raum zu lassen."8 Es findet also eine Abwägung der im Einzelfall miteinander konkurrierenden Werte oder Interessen statt, wobei der Grundrechtsschutz soweit zurücktreten muß, als höhere Interessen und Werte es erfordern. In diesem Rahmen gilt der „Wesensgehalt" des betreffenden Grundrechts als nicht angetastet, auch wenn von dem fraglichen Grundrecht nichts übrig bleibt. Doch wenn nichts übrig bleibt, ist auch kein Wesensgehalt mehr da - war denn überhaupt jemals ein solcher da? Die meisten Relativisten nehmen denn auch an, der Art. 19 Abs. 2 GG habe nur deklaratorische Bedeutung, da er nicht über das hinausginge, was schon aus dem Übermaßverbot, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dem Güterab-

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H. Krüger: Der Wesensgehalt der Grundrechte i. S. des Art. 19 GG, in: DÖV 1955, 597 ff.; P. Häberle: Die Wesensgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1962, S. 66 u. ö. 7 Siehe etwa BVerfGE 16, 194 ff., 201: es bestehe eine „absolute" Grenze, deren Überschreitung den Wesensgehalt des Grundrechts (hier körperliche Unversehrtheit) antasten würde. 8 BGHSt 4, 375 ff., 377 (es handelt sich um ein Gutachten des 1. Zivilsenats).

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wägungsprinzip folgt. 9 Das Bundesverfassungsgericht hat denn auch klugerweise fast nie auf Art. 19 Abs. 2 GG zurückgegriffen, vielmehr die Erlaubtheit von Grundrechtseingriffen meistens unter dem Gesichtspunkt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes beurteilt. 3. Nach allem hat es den Anschein, daß Art. 19 Abs. 2 GG entweder nicht anwendbar oder überhaupt überflüssig ist. Aber da gibt es noch die „institutionelle Wesensgehaltstheorie", wonach dieser Satz des Grundgesetzes nicht das subjektive Recht des einzelnen Grundrechtsträgers meint, sondern die objektive Grundrechtsnorm, nicht eine Garantie der Rechtsperson, sondern nur eine Garantie des Rechtsinstituts. Nehmen wir als Beispiel die lebenslange Freiheitsstrafe. Geht man davon aus, daß Art. 19 Abs. 2 GG dem Grundrechtsträger Schutz vor einer Aushöhlung seines Rechts gewähren will, dann fuhrt nichts an der Konsequenz vorbei, daß die lebenslange Freiheitsstrafe verfassungswidrig ist; was allenfalls verbleibt, ist die Hoffnung auf Strafaussetzung oder Begnadigung, doch dieser Rest kann niemals den „Wesensgehalt" des Rechts auf Freiheit ausmachen. Für die Institutstheorie spricht denn auch nur ein einziges ernst zu nehmendes Argument, nämlich das argumentum e contrario: Die von der herrschenden Meinung getragene Auffassung, Art. 19 Abs. 2 GG bezwecke den Schutz der Grundrechte des einzelnen, führe entweder „zu völlig untragbaren Ergebnissen" oder aber sie könne „nur durch arge Klimmzüge korrigiert werden"; so wäre beispielsweise ein völliger Entzug des Eigentums durch Enteignung unzulässig, desgleichen absolute Berufsverbote und nicht anders die lebenslange Inhaftierung - und dies könne doch nicht sein.10 Daß man sich indessen so aus der Not, Art. 19 Abs. 2 GG retten zu müssen, retten will, ist zwar verständlich, kann aber nicht davon überzeugen, daß durch diese Bestimmung nicht der Schutz des subjektiven Grundrechts gewollt ist. Der institutionellen Theorie muß ja auch noch mehr als der von ihr attakkierten subjektiven Theorie der Vorwurf gemacht werden, daß bei ihr der Grundrechtsschutz nur noch eine Farce ist. Art. 19 Abs. 2 GG will ja gerade auch Minderheitenschutz gewähren, was bei der institutionellen Betrachtung völlig außer Betracht bleibt. Zudem liegt ihr eine zu sehr statische, ungeschichtliche Betrachtungsweise zugrunde. Horst Schüler-Springorum erkennt in der „institutionellen Methode" zutreffend „traditionalistische Züge", denn „Institution" meine „zunächst einmal etwas Bestehendes", und sie als Rechtsbe-

9 Siehe etwa E. von Hippel: Grenzen und Wesensgehalt der Grundrechte, 1965, S. 62; Klein in: von Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, 1. Bd., 2 1957, S. 564. 10 S. Hendrichs in: I. von Münch, Grundgesetz - Kommentar, 1. Bd. 31985, Art. 19 Rn. 24.

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griff nehmen, hieße „von vornherein ein Übergewicht zugunsten bestehender Einrichtungen schaffen" 11.

III. Der Vorwurf, an den Art. 19 Abs. 2 GG mit einem allzu statischen, allzu traditionalistischen, allzu ungeschichtlichen Denken heranzugehen, ist indessen nicht nur an die Adresse der „Institutstheorie" zu richten, er gilt nahezu der ganzen Literatur und Judikatur zur Frage der Wesensgehaltsgarantie. In der Auffassung nämlich, was „Wesensgehalt" im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG ist, stimmen fast alle in einem Punkt auffällig überein: Der „Wesensgehalt" sei, was immer darunter im einzelnen zu verstehen sein möge, jedenfalls etwas Substantielles. Stellvertretend für viele andere zitiere ich Hendrichs, nach dem der „Wesensgehalt" eines Grundrechts „den absolut feststehenden Grundrechtskern" darstellt, der „von den Eigenschaften gebildet wird, die ihre Natur und Grundsubstanz ausmachen"12. Vor allem nach dieser substantiellen Auffassung muß bei dem Grundrechtseingriff „etwas übrig bleiben". Aber auch diese Theorie muß scheitern. Denn es gibt keinen „unumstößlichen", „absolut feststehenden", „wesensidentischen", „substantiellen" „Wesensgehalt" der Grundrechte. Über das „Wesen" ist viel philosophiert worden. Auch im Zusammenhang mit Art. 19 Abs. 2 GG hat man sich Gedanken darüber gemacht, ob ihm ein metaphysischer, ein phänomenologischer, ein logischer usw. Wesensbegriff zugrunde liege.13 Aber gefunden hat man nichts, was dem prästabilierten Anspruch auf Objektivität, Absolutheit, Beständigkeit genügt hätte. Man hat überhaupt kein „Wesen" gefunden. 14 Die Suche nach dem „Wesensgehalt" der Grundrechte ist sinnlos. Niemand kann sagen, was dieser „Wesensgehalt" ist. Wohl aber können wir einiges darüber sagen, was die Grundrechte - und überhaupt das Recht - „wesensmäßig" nicht sind. Vor allem: Sie sind keine Substanzen, es gibt nichts Substantielles

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H. Schüler-Springorum: Strafvollzug im Übergang. Studien zum Stand der Vollzugsrechtslehre, 1969, S. 95. 12 Hendrichs (Fn. 10), Art. 19 Rn. 25. 13

Vgl. E. Zivier: Der Wesensgehalt der Grundrechte, 1960, S. 48 ff. Hier korrigiere ich mich selbst. In meinem „Schuldprinzip" (Fn. 3) habe ich versucht, durch Annahme objektiver Wesens- und Wertgehalte in der Rechtsphilosophie weiterzukommen. 14

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an ihnen, auch keinen substantiellen Kern. Treffend sagt es Werner Maihofer: „Ordnung ist ein Gefüge von Entsprechungen, von Dingen oder Personen." 15 Recht ist nicht Substanz. Somit bleibt bei einem Grundrechtseingriff auch nichts übrig, was man als einen meßbaren, zählbaren, wägbaren „Wesensgehalt" bezeichnen könnte. Daß dem „Lebenslänglichen" noch eine Chance auf ein paar Jahre Freiheit bleibt, kann - so bedeutsam das für ihn auch sei - die lebenslange Freiheitsstrafe noch nicht dem Verdikt des Art. 19 Abs. 2 GG entrücken. Aber worauf kommt es dann an? Grundsätzlicher: Was ist das Grundrecht? Was ist das Recht? In neuerer Zeit wird der substanzontologischen Rechtsauffassung vor allem Rechtsauffassung entgegengestellt. Ihr hauptsächlicher die funktionalistische Repräsentant ist Niklas Luhmann. In bezug auf unser Thema formuliert Luhmann seinen Standpunkt so: „Die Wesensgehaltssperre des Art. 19 Abs. 2 GG bietet... kaum eine Hilfe, denn der Wesensbegriff ist ebenfalls durch die Auflösung der ontologischen Denkvoraussetzungen unseres Philosophierens betroffen und zur 'Leerformer geworden." Demgegenüber plädiert er für eine „funktionale Persönlichkeitstheorie" und meint: „Es ist nicht schwer, von hier aus die Begriffe Freiheit und Würde (aber wie gesagt: funktionell, nicht substantiell) und mit Bezug auf empirische Forschungen zu bestimmen." Wie das konkret aussieht, erfahren wir zum Beispiel an der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG: Art. 14 GG „schützt den einzelnen nicht in seiner Persönlichkeit und nicht in seinem spezifischen Sachbedarf, er garantiert ihm weder Nahrungs- und Witterungsschutz, noch eine Mindestausrüstung mit kulturellen Symbolen, sondern er gewährleistet seine Teilnehmerrolle am Kommunikationssystem der Wirtschaft, weil ohne diese Garantie das Kommunikationssystem nicht generalisiert werden kann." „ A u f diese Teilnahme am Wirtschaftssystem und nicht auf eine Minimalausstattung mit Gütern kommt es dem Art. 14 GG an: sonst wäre die Wieviel-Frage und die Gleichheitsfrage nicht zu umgehen ..." „Nur in seiner spezifischen Rolle als Teilnehmer an der Geldwirtschaft wird der Eigentümer geschützt, und das nicht um seiner Persönlichkeit willen (die ja keinerlei Kriterium für den Umfang des Schutzes abgibt), sondern um der Funktionsfähigkeit des Wirtschaftssystems willen ..." „So sehr der einzelne nach wie vor sein Herz an bestimmte Sachen hängen mag, das Wesen des Eigentumsrechts ist der jeweilige Geldwert..." „Die Verfassung gibt keinen Wertschutz, sondern nur einen Funktionsschutz."16

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M. Maihofer: Vom Sinn menschlicher Ordnung, 1956, S. 64. - Zur eigenen Auffassung nähert. Kaufmann: Vorüberlegungen zu einer juristischen Logik und Ontologie der Relationen. Grundlegung einer personalen Rechtstheorie, in: RTh 17 (1986), 257 ff.; ders.: Rechtsphilosophie (Fn. 4), S. 292 ff. 16 N. Luhmann: Grundrechte (Fn. 1), S. 59, 60 f , 120 ff.

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Man kann dieser Theorie eine gewisse Folgerichtigkeit nicht absprechen, aber man kann auch nicht ihre extreme Einseitigkeit übersehen. Vor allem fragt sich, ob das Rechtssubjekt wirklich nicht um seiner Persönlichkeit willen geschützt wird, sondern nur in seiner Rolle als funktionierender Teilnehmer am Gesamtsystem. Ist die Konsequenz der Abkehr vom substanzontologischen Denken ein derartiger Funktionalismus, für den das Seiende völlig in der Gesamtheit seiner Beziehungen aufgeht, so daß es keine Polarität mehr gibt zwischen dem, was in Bezug steht, und dem Bezug selbst, sondern allein der Bezug als solcher übrig bleibt, der dadurch verselbständigt wird und so gleichsam als neue Form der Substanz erscheint? Ist die totale Fungibilität des Rechts, seine beliebige Ersetzbarkeit, das letzte Wort? Das ist durchaus nicht die unausweichliche Konsequenz. Luhmann setzt „ontologisch" mit „substantiell" gleich und kennt als Gegensatz dazu nur das „Funktionale". Er verfehlt so den Bereich des „Relationalen". Die relationale Methode vermengt nicht das in Bezug stehende Seiende (das nicht Substanz sein muß) und den Bezug selbst, sondern unterscheidet Relatio und Relata und vermag so dem Dilemma von völliger Versteinerung des Seienden (des Rechts) durch ein starres substanzontologisches Denken auf der einen Seite und totaler Fungibilität des Seienden (des Rechts) durch ein funktionales, nicht ontologisches Denken auf der anderen Seite zu entrinnen. Von hier aus eröffnet sich ein neues Verständnis des Rechts - und damit auch der Grundrechte. Recht ist Relation, Bezug, Entsprechung. Der Mensch in seiner Vereinzelung hat Leben, Freiheit, Besitz nur als Güter, nicht als Rechte. Ein Recht kann gar nicht sinnvoll ohne Bezug (Relation) zu anderen Rechten und Rechtssubjekten gedacht werden. „Recht" ist nicht dann gegeben, wenn ein bestimmter „Zustand" geschaffen ist, sondern wenn das „rechte Verhältnis" besteht zwischen den Personen sowie den Personen und den Dingen. Insofern ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - der „rechten Entsprechung", der „iustitia distributiva" - der ursprünglichste Rechtsgrundsatz, als solcher freilich rein formal. Entscheidend ist, was in rechter Entsprechung zueinander stehen muß. Und wenn wir dem oben gekennzeichneten Dilemma von völliger Versteinerung des Rechts einerseits und totaler Fungibilität des Rechts andererseits entgehen wollen, müssen wir etwas „Rechtshaltiges" ausmachen, das nicht beliebig manipulierbar ist und das jede Rechtserscheinung als solche identifiziert, das aber wesentlich nicht Ding, nicht Substanz ist. Dieses ursprünglich Rechtshaltige kann nur die Person sein. Person ist nicht zuerst Gegenstand, sondern Beziehung. Der Mensch ist auf den anderen verwiesen, dessen Verstehenswelt geht in den eigenen Verstehenshorizont mit ein. Daher läßt sich der Mitmensch nicht subsumieren unter den Bereich des Gegenständlichen, sondern er bildet mit mir einen gesellschaftlich-geistigen Raum, der für mein eigenes Personsein mit konstruktiv ist. Für personales Denken ist Person das Andersartige gegenüber dem dinglichen

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Sein: relationales Sein. Es geht hier, was man beachten muß, um den relationalen Begriff der Person, nicht um den sittlichen. In diesem Sinne ist Person tür das Recht Relatum: Es gibt kein Recht, das nicht zumindest mittelbar ein Recht der Person wäre. Person bestimmt aber auch die Relation: Was jeweils das „rechte Verhältnis" ist, kann nur von der menschlichen Person her definiert werden. Recht ist somit das Schnittpunktphänomen von Gegenstand und Beziehung, von Statik und Dynamik, in der Person ist die Relationalität, die Struktureinheit von Relatio und Relata konkret verwirklicht - aber ohne daß deshalb, wie im Funktionalismus, die Unterschiedenheit in der Einheit preisgegeben wird. In dem vorliegenden relationalen Ansatz manifestiert sich auch die Verbindung von sachhaltigem und prozeduralem (formalem) Denken. Mit Genugtuung stelle ich fest, daß dies auch Heinrich Scholler, zu dessen Ehre ich diesen kleinen Beitrag schreibe, so sieht. Von diesem Ausgangspunkt aus, sagt er, „ist es nur systemrichtig, wenn Kaufmann die traditionelle Substanzontologie angreift und zu einer 'relational-personalen' Ontologie gelangt." Und er fugt, im Anschluß an Gustav Radbruch, hinzu: „Die Richtigkeit einer Norm war ... nie (ich ergänze: nur) eine Form- oder Verfahrensfrage, sondern ein inhaltliches Problem." 17

IV. Die vorstehend skizzierte „personalistische Theorie", die, weil Person Relatio und Relata in einem ist, weder eine „absolute" noch eine „relative", sondern eine „relationale Theorie" ist, ist nicht gänzlich neu. In der Literatur gibt es einige Ansätze, etwa bei Konrad Hesse und Denninger. Und auch das Bundesverfassungsgericht erkennt den relationalen Charakter des Grundrechtsschutzes: „Worin der unantastbare Wesensgehalt eines Grundrechts besteht, muß für jedes Grundrecht aus seiner besonderen Bedeutung im Gesamtsystem der Grundrechte ermittelt werden." 18 Grundrechte (und überhaupt Rechte) bekommen ihren „positiven" Inhalt aus dem Bezug, in dem sie konkret stehen. Ein absoluter, genereller, für immer feststehender Inhalt, ein „Wesensgehalt", ist nicht vorhanden. 19 Was etwa Eigentum in einem personalistischen Verständnis ist, deckt sich nicht mit dem Begriff der „absoluten Sachherrschaft" im Sinne des § 903 BGB; das ist auch

17

H. Scholler: Rechtsvergleichung als Vergleich von Rechtskulturen. Ein Beitrag zu Gustav Radbruchs Rechtsvergleichung, in: Strafgerechtigkeit. FS für Arthur Kaufmann, 1993, S. 743 ff., 759. 18 BVerfGE 22, 180 ff., 219. 19 Vgl. Denninger in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, 1. B d , 1984, Art. 19 Rn. 10.

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verschieden von der funktionalistischen Deutung des Eigentums als der Voraussetzung dafür, daß das Gesamtsystem der Wirtschaft funktioniert; was Eigentum ist, ergibt sich vielmehr „aus der Gesamtheit der es betreffenden Vorschriften, bezogen auf den Gedanken des persönlichen Freiheitsraumes als deren Sinnmitte, wobei die soziale Schranke, die sich aus dem Erfordernis des Zusammenlebens in der Rechtsgemeinschaft ergibt, mitzudenken ist. 20 Das „Wesen" des Eigentums ist nicht Substanz und auch nicht Geldwert, Eigentum ist „der Kreis, den meine Wirksamkeit erfüllt, nichts darunter und nichts drüber" (Goethe21). Eigentum ist actio, ist Tätigkeit, ist Selbstverwirklichung als Person. Wer nichts sein eigen nennt, kann nicht im Vollsinne Person sein. Dabei ist vor aller Gleichmacherei zu warnen. Was des Menschen „Wirksamkeit erfüllt", ist von Mensch zu Mensch sehr verschieden, so daß auch der nach einem Grundrechtseingriff zu verbleibende „Rest" von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sein kann. Nie aber darf ein Mensch so sehr aller persönlichen Habe beraubt werden, daß ihm ein Leben als Person und in Würde nicht mehr möglich ist. Entsprechendes gilt fur das Grundrecht auf Freiheit. Wann der „Wesensgehalt" dieses Grundrechts angetastet ist, läßt sich nicht abstrakt ausmachen, weil es einen solchen „Wesensgehalt" als einen substantiellen „Bestandteil" eben nicht gibt. Es gibt ihn immer nur „in bezug a u f . In bezug auf einen Bürger, der an einer rechtmäßigen Demonstration teilgenommen und sich dabei korrekt verhalten hat, ist eine einwöchige Untersuchungshaft unverhältnismäßig. In bezug auf einen des Raubes Verdächtigen ist dies sicher nicht der Fall. Und ob für einen Mörder die lebenslange Freiheitsstrafe noch von der Verfassung gedeckt ist, hängt, wie schon gesagt, primär nicht davon ab, ob noch eine Chance auf einen Rest Freiheit bleibt, und schon gar nicht davon, ob die Väter des Grundgesetzes die lebenslange Freiheitsstrafe als fortbestehend erachtet haben. Entscheidend ist, wie der Vollzug dieser Strafe ausgestaltet ist. Ein inhumaner Vergeltungsvollzug, in dem der „Lebenslängliche" nur als eine Nummernexistenz dahinvegetiert, ohne Möglichkeit, seine Persönlichkeit, seine Fähigkeiten, seine Bedürfnisse wenigstens in einem bescheidenden Maß zu entfalten, wäre auch dann ein unverhältnismäßiger und daher verfassungswidriger Grundrechtseingriff, wenn nach fünfzehn oder zwanzig Jahren die Entlassung in Aussicht steht.

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So K. Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 61991, S. 228. J. W. v. Goethe: Prometheus (Hamburger Ausgabe), 4. Bd., 10 1981, S. 176. Siehe auch A. Schopenhauer: Kleines Schopenhauer-Brevier, 1988, S. 143: Eines Menschen Eigentum ist „bloß das durch seine Kräfte bearbeitete". Es gehört einem nur, was man umsorgt. In diesem Sinne auch B. Brecht: Der kaukasische Kreidekreis, 6. Auftritt: „Daß da gehören soll, was da ist, denen, die für es gut sind, also/Die Kinder den Mütterlichen damit sie gedeihen." Bei Brecht ist es nicht die Mutter, der das umstrittene Kind zugesprochen wird, anders bei Salomo. 21

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Indessen erschöpft sich darin das Problem noch nicht. Alle Grundrechte und Grundpflichten einer Person (wie überhaupt alle Rechte und Pflichten) sind eingebettet in das Gefüge der Grundrechte und Grundpflichten der anderen Personen. Nur von einer rigoristischen Gerechtigkeitsauffassung wie derjenigen Kants aus muß „der letzte im Gefängnis befindliche Mörder hingerichtet werden" 22 , selbst wenn das für die Mitmenschen keinerlei Sinn hat. Nach unserem Standpunkt ist dagegen nicht nur zu fragen, ob die Schuld des Mörders einen solchen „Ausgleich" durch „lebenslänglich" erfordert, zu fragen ist vielmehr auch, ob Belange der Mitmenschen, etwa Sicherheitsbedürfnis oder Stärkung der rechtstreuen Gesinnung, diese Strafe notwendig machen. Auch das muß im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des Übermaßverbotes beachtet werden. Dabei wird man zu sehr differenzierten Ergebnissen kommen. Gegenüber dem ungefährlichen „Gelegenheitsmörder" ist „lebenslänglich" unverhältnismäßig, gegenüber dem hochgefährlichen Sexualverbrecher hingegen ist Sicherungsverwahrung ohne Aussicht auf Freiheit eine zulässige Grundrechtsbeschränkung (aber freilich nur, sofern die Ausgestaltung des Vollzugs verantwortet werden kann). Nach der „relationalen Theorie" ist das Grundrecht in seiner konkreten geschichtlichen Unbeliebigkeit geschützt und nicht nur in seinem „minimalen Wesensgehalt" bzw. „residualen Kernbereich". Für relationales Denken kann es - es sei ausdrücklich wiederholt - einen solchen substantiellen „Restgehalt", den man als einen „Bestandteil" von dem übrigen „Grundrechtsteil" abtrennen und verobjektivieren könnte, überhaupt nicht geben. Denn das relationale Denken überbrückt nicht nur den Gegensatz von „absolut" und relativ", sondern auch den von „objektiv" und „subjektiv", eben weil Person Relatio und Relata ist. Was konkret zu schützen ist, läßt sich daher nicht einfach als eine objektive Größe aus dem Grundgesetz eliminieren. Zudem ist zu bedenken, daß die Wertentscheidungen, die hier zu treffen sind, auch (aber gewiß nicht nur) von der Persönlichkeit derer, die sie fällen, geprägt sind, und daß diese auch nicht nur einen rationalen Gehalt haben, sondern allemal, mehr oder weniger, zugleich emotional besetzt sind. 23 Ein Hauptproblem ist dabei, ob es echte Erkenntnisse von Normativem, Werthaftem gibt. 24

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1. Kant: Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe S. 333. Dazu eingehend A. Kaufmann: Das Verfahren der Rechtsgewinnung. Eine rationale Analyse, 1999, bes. S. 80 ff. 24 Hierzu nähert. Kaufmann: Rechtsphilosophie (Fn. 4), S. 287 ff. 23

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V. Was bleibt von Art. 19 Abs. 2 GG? Er ist keine „Norm", die man „anwenden", unter die man gar „subsumieren" könnte. Er ist, wie Krüger ganz richtig sagt, ein Appell des Verfassungsgebers" 25, eine Mahnung, die dem Menschen als personale Grundausstattung zustehenden Rechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit, Eigentum ... nicht stärker zu beeinträchtigen, als dies im Hinblick auf die Belange aller unerläßlich ist, er ist eine Mahnung, daß die Grund- und Menschenrechte nicht zur beliebigen Disposition stehen. Mehr als eine solche symbolische Funktion", als die Bekräftigung des Rechtswillens der Verfassungsgeber, ist dem Art. 19 Abs. 2 GG nicht zu entnehmen. Er enthält insbesondere keinerlei Regel, keinerlei Anhalt, wo im Einzelfall die Grenzen eines Grundrechtseingriffs verlaufen. Man folgere nicht, daß hier alles im Unverbindlichen bleibe. Nur wer „konkret" und „geschichtlich" mit „beliebig" verwechselt, könnte das annehmen. Was dem Menschen in seiner geschichtlichen Existenz zukommen muß, um Person sein und Person werden zu können (und das ist allemal mehr als nur die „Menschenwürde"), ist, bei aller Variationsbreite des Einzelfalles, letztlich nicht disponibel. Das vermöchte konsequent nur der zu bestreiten, der hinsichtlich der Marterung und Tötung von Millionen Juden zu sagen wagte, es sei ihnen das „suum", das „Ihrige" zuteil geworden. Wer den Grundrechtsschutz personalistisch versteht, wird in der menschlichen Personalität immer eine - wiewohl nicht abstrakt festlegbare - Grenze erlaubter Eingriffe finden, und er wird diesen Grundrechtsschutz auch für Not- und Krisenzeiten behaupten, weil selbst der Krieg kein hinreichender Grund ist, auch nur einen einzigen Menschen unter das Niveau des Personseins zu drücken.

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Vgl. H. Krüger: Allgemeine Staatslehre, 21966, S. 536 f.

Die Begrenzung des Spenderkreises im Transplantationsgesetz als Problem der paternalistischen Einschränkung menschlicher Freiheit

Von Ulrich Schroth

§ 8 Abs. 1 S. 2 TPG läßt die Entnahme von Organen, die sich nicht wiederbilden können, nur zu dem Zwecke der Übertragung auf Verwandte ersten oder zweiten Grades, Ehegatten, Verlobte oder andere Personen, die dem Spender in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen, zu. § 19 Abs. 2 TPG bedroht denjenigen, der gegen diese Regel verstößt, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe. Wir wollen uns im Folgenden mit Inhalt und Legitimität dieses strafrechtlichen Tatbestandes beschäftigen, der eine erhebliche Auswirkung auf die Praxis der Lebendspende in Transplantationszentren hat. Er verbietet zunächst einmal die Fremdlebendspende, auch dann, wenn der Spender sich freiwillig zu einer Fremdlebendspende entschließt und absolut altruistisch handelt. Er untersagt im Regelfall die Cross-Spende. Bei der Cross-Spende spenden sich Ehepaare vor allem die Niere wechselseitig, weil sie aus medizinischen Gründen diese ihrem jeweiligen Ehepartner nicht spenden können. Möglich ist die Cross-Spende nur dann, wenn zwischen den Paaren sich über einen gewissen Zeitraum eine enge persönliche Verbundenheit eingestellt hat. Mittelbare Folgewirkung dieses Verbots ist, daß für die transplantierenden Ärzte ein Zustand erheblicher Rechtsunsicherheit entstanden ist; sie müssen nämlich, bevor sie Organe entnehmen, feststellen, ob es zwischen Spenderpaaren eine besondere familiäre bzw. persönliche Verbundenheit gibt. Gerade die Frage, ob Personen sich in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen, ist nicht immer einfach zu klären, zumal bisher unklar ist, welche Beziehungen unter diesen Begriff zu subsumieren sind. Ist in allgemeinen Lebensverhältnissen fraglich, ob ein spezifisches Verhalten strafbar ist, so kann Rechtsunterworfenen zumeist zugemutet werden, daß sie Handlungen unterlassen. Transplantationen zu unterlassen, ist für Ärzte jedoch häufig keine sinnvolle Handlungsalternative, da Transplantationen helfen, Leben zu retten oder

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Ulrich Schroth

jedenfalls helfen, den Gesundheitszustand eines Patienten erheblich zu verbessern. Die Frage, die uns hier beschäftigen soll, ist, worin eine derartige Norm ihre Legitimation findet. 1 Der Gesetzgeber hat dieses Verbot, das strafbewehrt ist, wie folgt legitimiert: Einerseits hat er behauptet, dieses Verbot diene dem Schutz des Menschen vor sich selbst; weiter wird vom Gesetzgeber angeführt, diese Vorschrift habe die Freiwilligkeit der Lebendspende zu sichern, und schließlich soll nach Auffassung des Gesetzgebers diese Regelung helfen, jede Form des Organhandels auszuschließen. Im vergangenen Jahr ist der Versuch gescheitert, dieses Verbot durch Verfassungsbeschwerden außer Kraft zu setzen. Das Bundesverfassungsgericht hat in umfassender Weise Stellungnahmen zu den Verfassungsbeschwerden eingeholt. Im Ergebnis wurde aber die Verfassungsbeschwerde abgewiesen.2 Die angefochtenen Vorschriften wurden als (noch) verfassungsmäßig erklärt. Wir wollen uns im Folgenden mit den zentralen Argumenten, die dieses Verbot begründen sollen, auseinandersetzen. Die These, daß mündige, hinreichend aufgeklärte Bürger, die einsichtsfähig sind, mit strafrechtlichen Mitteln vor sich selbst in ihrer gesundheitlichen Integrität geschützt werden müssen, ist fraglich. Diese Regel ist paternalistisch. 3 Mit paternalistischen Verboten versucht der Gesetzgeber die Freiheit eines Rechtsgutinhabers einzuschränken, und zwar zu dessen Wohle. Paternalistische Regelungen sind problematisch, zumal wenn sie strafrechtlich abgesichert werden. Setzen wir uns mit einigen grundsätzlichen Einwänden gegen den Paternalismus auseinander.

1 Zur Problematik vgl. Gutmann: Gesetzgeberischer Paternalismus ohne Grenzen? Zum Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zur Lebendspende von Organen, NJW 1999, 3387-3389; Gutmann/Schroth: Recht, Ethik und die Lebendspende von Organen - Der gegenwärtige Problemstand in der Transplantationsmedizin (Beitrag des WorkShops der Arbeitsgruppe Lebendspende vom 19.11.1999); Seidenath: Lebendspende von Organen - Zur Auslegung des § 8 Abs. 1 Satz 2 TPG, MedR 1998, 253; Schroth: Stellungnahme zu dem Artikel von Seidenath, MedR 1999, 67; Schroth: Die strafrechtlichen Grenzen der Lebendspende, in: Roxin/Schroth/Knauer/Niedermair (Hrsg.), Medizinstrafrecht, 2 2001, S. 271 ff. 2 Vgl. BVerfGE NJW 1999, 3399. Zu dieser Entscheidung: Gutmann (Fn. 1), 3387 ff.; Seidenath: MedR 2000, 33 ff.; Schroth: Die strafrechtlichen Tatbestände des Transplantationsgesetzes. Aporien einer paternalistischen Gesetzgebung, JZ 1997, 1149 ff. 3 Zum Paternalismusproblem eindrucksvoll: Eidenmüller: Effizienz als Rechtsprinzip, 1995, § 9; Enderlein: Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996, § 1 - § 8, m. w. N.

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Geht man - wie Kant 4 - davon aus, daß jede Handlung „Recht" ist, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz bestehen kann, so setzt rechtlicher Zwang voraus, daß er zur Verhinderung der Freiheit eines „anderen" eingesetzt wird. Dies bedeutet, rechtlicher Zwang ist nicht zu Lasten eines Individuums zulässig, um dessen Wohl zu fordern. Es kann dahinstehen, ob dieser Rechtsbegriff zu eng ist. Jedenfalls weist ein derartiger Rechtsbegriff darauf hin, daß paternalistische Eingriffe nur in Ausnahmefällen zulässig sein dürfen. Die Bestrafung eines Dritten, der auf Verlangen des Inhabers eines individuellen Rechtsguts handelt, kann nur in Ausnahmefällen zulässig sein, da die Verletzung eines individuellen Rechtsguts nur dann vorliegt, wenn man gegen den Willen des individuellen Rechtsgutträgers handelt. Beispielsweise erscheint es zulässig, einen Dritten zu bestrafen, auch wenn der Rechtsgutinhaber verlangt, getötet zu werden, da der Gesetzgeber zu Recht auf dem Standpunkt steht, daß die Entscheidungsreife eines Rechtsgutinhabers bei existenziellen Entscheidungen gesichert werden muß. Diese ist nämlich nur dann gegeben, wenn der Rechtsgutinhaber den Wunsch nach Tötung auch selbst vollzieht. Mit § 216 StGB garantiert der Gesetzgeber nicht nur die Entscheidungsreife des Tötungsentschlusses,5 sondern bringt auch die Tabuisierung des Lebens zum Ausdruck. Dieses darf nicht von Dritten angetastet werden. Ein derartiger Paternalismus erscheint jedoch bei Verletzungen der Körperintegrität nicht angemessen. Risiken für den Körper, und zwar auch erhebliche Risiken, darf man an sich eingehen. Zum Beispiel ist Berufsboxen erlaubt, genauso wie Formel-1-Rennen. Auch körperliche Eingriffe zu Forschungszwecken sind legitim. Nur in Ausnahmefällen, wenn Entscheidungen für eine Verletzung der Körperintegrität gegen die guten Sitten verstoßen (§ 228 StGB), ist eine Einwilligung in die Verletzung der Körperintegrität unwirksam. Eine freiwillige Entscheidung für eine Organspende, die keine Lebensgefährdung beinhaltet und altruistische Absichten verfolgt, verstößt jedoch nicht gegen die guten Sitten. Bei der Paternalismuskritik wird weiter darauf abgestellt, daß es das grundsätzliche Recht einer Person sei, ihre Angelegenheiten selbst zu bestimmen. Der Kern der Paternalismuskritik Feinbergs6 ist der Autonomiegedanke, d. h.

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Kant: Metaphysik der Sitten. Gesammelte Schriften der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Bd. 6 (1907), S. 230 ff. 5 Hierzu grundlegend Jakobs: Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, 1998. 6 Feinberg: Harm to Self, 1986, S. 85 ff.; weiterführend Gutmann: „Die Vorstellung, es könne ein legitimes Anliegen des sozialen Rechtsstaates zu sein, erwachsene, einsichtsfähige und hinreichend informierte Menschen gegen ihren Willen vor sich selbst zu schützen, ... sieht sich einem grundsätzlichen Legitimationsdefizit gegenüber, weil sie Menschen nicht als Personen ernst nimmt und sich an der für Rechtsstaaten fundamentalen Annahme vergeht, daß Grundrechte die Funktionen haben, Spielräume für die

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das Prinzip, daß Bürger nach ihren eigenen Präferenzen ihre Angelegenheiten regeln können. Auch diese Paternalismuskritik weist in die richtige Richtung. Das Strafrecht schützt zentral individuelle Rechtsgüter. Individuelle Rechtsgüter zeichnen sich dadurch aus, daß der Rechtsgutträger, wenn er autonom ist, über sie verfügen darf. Er bestimmt, wie mit ihnen umzugehen ist. Eine Verletzung oder Gefährdung der individuellen Rechtsgüter, kann, wenn er über diese verfügen darf, nur angenommen werden, wenn ein Dritter gegen den Willen des Rechtsgutträgers handelt. Gegen einen rechtlichen Paternalismus wird schließlich argumentiert, daß unter dem Deckmantel des wohlmeinenden Paternalismus die Gefahr einer diktatorischen Bevormundung des einzelnen entsteht.7 Auch dieser Gefahr muß wirksam entgegengetreten werden. Paternalismus kann nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zulässig sein. Strafrechtlich paternalistische Verbote sind in noch engeren Grenzen als begründet anzuerkennen. Strafrecht dient nämlich der Verhinderung sozialschädlichen, nicht selbstschädigenden Verhaltens. Paternalismus wird in der neueren Diskussion unter zwei Aspekten für akzeptabel gehalten:8 Es muß sich um ein Regelungssystem handeln, das entweder dazu dient, die Autonomie des Rechtsgutinhabers zu sichern oder dazu, Unverfügbares in seiner Unverfügbarkeit zu erhalten. Der Autonomiesicherung dient es beispielsweise, wenn die Rechtswirksamkeit der Einwilligung von einschränkenden Bedingungen abhängig gemacht wird. So ist etwa das Verlangen der Rechtsordnung, daß der Arzt seinen Aufklärungspflichten nachkommt, autonomiesichernd. Legitim ist die Einwilligung in den Heileingriff nur dann, wenn der Patient weiß, in was er einwilligt. Eine Begrenzung des Spenderkreises dient dagegen nicht der Autonomiesicherung. Man kann in verwandtschaftlichen Fällen genauso autonom handeln wie bei der Fremdspende. Und umgekehrt muß man sagen, daß auch in verwandtschaftlichen Verhältnissen Unfreiwilligkeit möglich ist, genau wie bei der Fremdspende. Eine Begrenzung des Spenderkreises kann auch nicht mit der Idee legitimiert werden, Unverfügbares zu sichern. Wie ich an anderer Stelle dargelegt habe, dient das Organhandelsverbot nicht dem Schutz der Menschenwürde. 9

eigenverantwortliche Suche nach den je individuellen Maßstäben des richtigen und gelungenen Lebens zu garantieren." So Gutmann (Fn. 1), 3388. 7 Vgl. Eidenmüller (Fn. 3), § 9 b. K Hierzu Eidenmüller (Fn. 3), § 9 c, m. w. N. 9 Zum Thema Menschenwürde und Transplantationsgesetz vgl. Schroth (Fn. 2), 1150; weiter ders.: Das Organhandelsverbot, in: FS für Claus Roxin zum 70. Geburts-

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Man kann deshalb auch die These, eine Begrenzung des Spenderkreises sei legitim, da sie mittelbar dem Schutz der Menschenwürde dient, indem sie Organhandel verhindert, nicht aufrechterhalten. Fraglich erscheint es auch, ob mit der Behauptung, der in eine Körperverletzung Einwilligende verletze seine Menschenwürde, eine Strafbarkeit begründet werden kann. Eine derartige strafbewehrte Begrenzung des Spenderkreises schränkt umgekehrt die Autonomie, die grundrechtlich abgesichert ist, in grundlegender Weise ein. Die Richter Hirsch, Niepler und Steinberger 10 haben in einer „dissenting opinion" völlig zu Recht formuliert: „Die Bestimmung über seine leiblich-seelische Integrität gehört zum ureigensten Bereich der Personalität des Menschen. In diesem Bereich ist er aus der Sicht des Grundgesetzes frei, seine Maßstäbe zu wählen und nach ihnen zu leben und zu entscheiden." Eben diese Freiheit zur Selbstbestimmung wird durch Art. 2 Abs. 1 GG besonders hervorgehoben und verbürgt. Nimmt man diese treffende Aussage beim Wort, so muß gefolgert werden, daß ein Schutz der körperlichen Integrität des Organspenders gegen dessen Willen grundrechtlich nicht legitim ist. Wer geglaubt hatte, es bestünde Konsens darüber, daß der Rechtsgutinhaber nach seinen Maßstäben über seine Rechtsgüter entscheiden kann, sieht sich nunmehr enttäuscht. Das Bundesverfassungsgericht sieht es als Gemeinwohlinteresse an, daß der einzelne in seiner körperlichen Integrität vor sich selbst geschützt werden muß, selbst dann, wenn er mit seiner Entscheidung für einen Eingriff mit begrenztem Risiko hilft, anderen Bürgern das Leben zu retten. 11 Bisher hatte das Bundesverfassungsgericht eine andere Position vertreten. Ein Grundrechtsverstoß dadurch, daß das Nichttragen von Schutzhelmen als Ordnungswidrigkeit geahndet werden kann, wurde abgelehnt, da der Fahrer beim Fahren ohne Helm keineswegs nur sich selbst schade, sondern die Folgen dieses hohen Risikos auch die Allgemeinheit schwer belasteten.12 Die Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes wurden nur deshalb als legitim angesehen, da sie Verhaltensweisen unter Strafen stellten, die insoweit sozialschädlich seien, da sie nicht hinreichend entscheidungsföhige Kinder und Jugendliche an die Sucht heranführten. 13

tag, 2001, S. 869 ff. Allgemein zur Menschenwürde Neumann: Die Tyrannei der Würde, ARSP 1997, 153 ff. 10 BVerfGE 52, 131, 174 f.; dazu Gutmann: Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, 1999, Kapitel 1.2.4.4. m. w. N. 11 BVerfGE NJW 1999, 3399 ff. 12 BVerfGE 59, 275. 13 BVerfGE 90, 145, 174; dazu Gutmann: Gesetzgeberischer Paternalismus ohne Grenzen?, NJW 1990, 387. 4 Schünemann u. a.

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Die strafbewehrte Begrenzung des Spenderkreises ist indirekt paternalistisch. Das heißt, sie ordnet bei Verletzung des Verbots nicht die Bestrafung des Rechtsgutträgers, sondern des Arztes an, der sich dem Willen des Rechtsgutträgers unterordnet, um einem Dritten Hilfe zukommen zu lassen. Mit dieser Anordnung verletzt der Gesetzgeber eine angemessene Bestimmung der Strafwürdigkeit von Verhalten. Die Güter „freiwillige Entscheidung des Rechtsgutträgers" und „Organhandelsausschluß", die mit der Begrenzung des Spenderkreises über den Gesetzgeber verfolgt werden, werden bereits über die §§ 223 ff. StGB sowie über die §§ 17 i. V. m. 18 TPG geschützt. Mit der Strafrechtsnorm § 8 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 19 Abs. 2 TPG werden auch Ärzte mit Strafe bedroht, die ein Organ entnehmen, obwohl der Organspender freiwillig und altruistisch entschieden hat, sein Organ einem anderen zur Verfugung zu stellen, weil die abstrakte Gefahr besteht, daß Dritte sich eventuell strafbar gemacht haben könnten. Dies bedeutet, der Verdacht, daß Dritte Normen übertreten haben, begründet bei der strafbewehrten Begrenzung des Spenderkreises die Strafbarkeit des Arztes, der das Organ entnimmt. In einem Strafrechtssystem, das Rechtsgüter schützt, ist nur ein Verhalten strafwürdig, durch das der Handelnde Rechtsgüter verletzt, konkret oder jedenfalls abstrakt gefährdet. Einen Arzt für eine abstrakte Gefahr haftbar zu machen, daß ein Dritter eventuell Rechtsgüter verletzt, erscheint kaum angemessen. Legitim ist ein indirekter Paternalismus nur dann, wenn dem Normadressaten im Hinblick auf die Verletzung von Rechtsgütern ein zumindest gefährdendes Verhalten vorgeworfen werden kann. Der Verdacht, daß Dritte Normen übertreten haben könnten, kann nicht die Strafbarkeit eines Bürgers begründen. Als weiterer Schutzzweck des § 8 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 19 Abs. 2 TPG wird angeführt, daß die Freiwilligkeit der Organspende gesichert werden müsse. § 8 Abs. 1 S. 2 TPG ist jedoch nicht geeignet, die Freiwilligkeit der Lebendspende zu sichern. § 8 Abs. 1 S. 2 TPG begrenzt Organspende bei Organen, die sich nicht wiederbilden können. Spender und Empfänger müssen demnach in einem familiären oder familienähnlichen Beziehungsgeflecht leben. Gerade hier sind aber psychische und faktische Abhängigkeiten gegeben, die die Freiwilligkeit der Organspende in Frage stellen. Die Möglichkeit der Pression ist hier ungleich größer als zwischen einander fremden Personen. Freiwillig im Sinne von Freiheit von äußerem Zwang und Druck kann in familiären Zusammenhängen weniger vermutet werden als bei der altruistischen Fremdspende. Bei Fremden besteht nämlich keinerlei gegenseitige Erwartungshaltung, die die Freiwilligkeit des Handelns einschränken kann oder jedenfalls beeinträchtigen könnte. Weiter wird für die Strafrechtsnorm des § 8 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. § 19 TPG angeführt, daß sie Gefahren eines verdeckten Organhandels begegnen solle. Auch diese Argumentation verfängt nicht. Die Möglichkeit, sich im Austausch für die Hingabe eines Organs eine Gegenleistung versprechen zu lassen, ist gerade innerhalb verwandtschaftlicher oder verwandtschaftsähnlicher Beziehungen vielfältiger als außerhalb solcher Beziehungen.

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Durch die Notwendigkeit, daß vor jeder Lebendtransplantation eines Organs, das sich nicht wiederbildet, eine Kommission dazu Stellung nimmt, ob Verdachtsmomente gegeben sind, die auf Organhandel bzw. Unfreiwilligkeit schließen lassen, wird mit Effizienz ausgeschlossen, daß in Deutschland Organe übertragen werden, die Gegenstand eines verbotenen Organhandels waren. Es ist deshalb absolut überflüssig, den Organhandel auch noch dadurch ausschließen zu wollen, daß man den möglichen Spenderkreis begrenzt. Die Norm des § 8 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 19 Abs. 2 TPG läßt sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes durch Bestrafung abstrakt gefährlichen Handelns legitimieren. Das strafbewehrte Organhandelsverbot ist seinerseits bereits ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Es dient dazu, die Gefahren, die durch Organhandel drohen, nämlich Ausbeutung des Organempfängers, zu bekämpfen, sowie der Gefahr der Selbstkorrumpierung von Organempfängern und Organspendern durch Geld Einhalt zu gebieten. Wenn nun der Gesetzgeber durch § 19 Abs. 2 i. V. m. § 8 Abs. 1 S. 2 TPG die altruistische freiwillige Lebendspende fremder Personen verbietet, um Organhandel auszuschließen, so sanktioniert er damit das Vorfeld des Vorfeldes des Rechtsgüterschutzes. Eine solche Sanktionierung des Vorfeldes des Vorfeldes des Rechtsgüterschutzes ist jedoch keine Bestrafung sozialschädlichen Verhaltens mehr. Strafrechtliche Normen sind nur legitim, wenn sie sozialschädliches Verhalten unter Strafe stellen. Nun zum Inhalt der strafbewehrten Begrenzung des Spenderkreises. 14 Die Entnahme von Organen, die sich nicht wiederbilden können, ist nach § 8 Abs. 1 S. 2 TPG nur zulässig zum Zwecke der Übertragung auf Verwandte ersten und zweiten Grades, Ehegatten, Verlobte oder Personen, die dem Spender in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen. Der Begriff der Verwandtschaft richtet sich nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches. Auch Ehegatten können einander Organe spenden. Vorausgesetzt wird, daß die Ehe gültig ist. Ebenso können sich Verlobte ein sich nicht wiederbildendes Organ spenden. Ausreichend für die Verlobung ist ein gegenseitig und ernstlich gemeintes Eheversprechen. Auf die zivilrechtliche Gültigkeit des Versprechens kommt es nicht an. Unklar ist jedoch, wann davon ausgegangen werden kann, daß sich Organspender und Organempfänger in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen.15 Der Gesetzgeber verlangt

14 Vgl. Seidenath: Lebensspende von Organen - Zur Auslegung des § 8 Abs. 1 S. 2 TPG, MedR 1998, 253 ff.; hierzu Schroth: MedR 1999 (Fn. 1), 67 ff.; Gutmann/Schroth (Fn. 1). 15 Ich selbst bin der Auffassung, daß die Norm des § 8 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 19 Abs. 2 TPG nicht dem gesetzlichen Bestimmtheitsgebot entspricht, da sie sich nicht unter teleologischen Aspekten angemessen interpretieren läßt. Zum Bestimmtheitsgebot vgl. Roxin Strafrecht A T I, M998, S. 92 ff. m. w. Ν.; Schroth: Präzision im Strafrecht,

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einmal eine besondere persönliche Verbundenheit zwischen Organspender und Organempfänger und verlangt weiter das offenkundige Nahestehen dieser Personen in eben dieser Beziehung. Von einer persönlichen Verbundenheit kann man nur sprechen, wenn zwischen Organspender und Organempfänger Zusammengehörigkeitsgefühle bestehen. Eine persönliche Verbundenheit ist etwas anderes als geistige Verbundenheit. Sie besteht daher nicht schon dann, wenn Personen das gleiche Schicksal hatten oder auch nicht dann, wenn sie sich geistig besonders nahe stehen, sondern eben dann, wenn Zusammengehörigkeitsgefühle vorhanden sind, die in der biographischen Geschichte von Organspender und Organempfänger wurzeln. Existieren gegenseitige Zusammengehörigkeitsgefühle, die durchaus auch mit Aggression vermischt sein können, so machen diese aus einer Verbundenheit eine persönliche Verbundenheit. Eine besondere persönliche Verbundenheit soll nach der Auffassung des Gesetzgebers gegeben sein, wenn eine gemeinsame Lebensplanung mit innerer Bindung besteht bzw. eine Bindung über einen längeren Zeitraum gewachsen ist. Abgestellt wird damit auf eine biographisch gewachsene persönliche Verbundenheit, nicht unbedingt über einen langen, aber immerhin über einen nicht unerheblichen Zeitraum. Eine Verbindung zwischen Organspender und Organempfänger über eine gemeinsame Nacht kann sicherlich noch keine besondere persönliche Verbundenheit begründen. Die Fragen, die mit einer solchen Begrifflichkeit auftauchen, sind nicht unerheblich. Einmal stellt sich die Frage, ab welchem Zeitraum eine besondere persönliche Verbundenheit angenommen werden kann. Meines Erachtens reicht bereits ein Zeitraum von ca. sechs Wochen aus, wenn die Beziehung über diese Zeit besonders intensiv war. Bei weniger intensiver Verbundenheit wird man einen längeren Zeitraum fordern müssen. In einer homosexuellen Gemeinschaft kann natürlich ebenfalls eine derartige Verbundenheit entstehen, die in der Lage ist, die Organspendeberechtigung zu begründen. Sie unterscheiden sich in nichts von heterosexuellen Gemeinschaften. Auch bei einem heimlichen Liebesverhältnis zwischen Organspender und Organempfänger kann meines Erachtens von einer besonderen persönlichen Verbundenheit ausgegangen werden, jedenfalls wenn es einige Zeit gedauert hat. Auch hier dürften im Regelfall Zusammengehörigkeitsgefühle existieren, wobei nicht erforderlich ist, daß diese nach außen getragen werden. Ob bei einer Schwägerschaft eine besondere persönliche Verbundenheit anzunehmen ist, erscheint fraglich, da ja Verwandtschaftsverhältnisse an sich in § 8 Abs. 1 S. 2 TPG abschließend geregelt sind. Trotzdem wird man annehmen müssen, daß eine derartige Verbundenheit bestehen kann, wenn die Schwägerschaft mit einer intensiven Freundschaft einhergeht. Rein platonische Freundschaftsbeziehungen, die von

in: Rechtskultur als Sprachkultur, S. 93 m. w. N. Zum Thema Transplantationsgesetz und Bestimmtheitsgebot vgl. Schroth (Fn. 2), 1149 ff.

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tiefen Solidaritätsgefühlen getragen sind, können, wenn sie einige Zeit gedauert haben, ebenfalls eine persönliche Verbundenheit begründen. Von besonderer persönlicher Verbundenheit ist jedenfalls dann auszugehen, wenn die Freundschaftsbeziehung von gegenseitigem Verantwortungsgefühl getragen wird. Verantwortungsgefühle sind insoweit ein Zwilling der Zusammengehörigkeitsgefühle. Bei Cross-Spender-Paaren wird man erst dann von einer persönlichen Verbundenheit ausgehen können, wenn intensivere Kommunikation über einen nicht unerheblichen Zeitraum stattgefunden hat. 16 Lediglich das einmalige Inden-Urlaub-Fahren reicht sicherlich zur Begründung einer besonderen persönlichen Verbundenheit nicht aus. Indem der Gesetzgeber nämlich besondere persönliche Verbundenheit zwischen Organspender und Organempfänger verlangt, fordert er, daß die Organspende Ausdruck einer Solidaritätsbeziehung ist, die in lebensgeschichtlichen Zusammenhängen von Organspender und Organempfänger wurzelt. Er will nicht die Organspende für bloße „Zweckgemeinschaften" ermöglichen, sondern erwartet stets die besonderen Zusammengehörigkeitsgefühle zwischen Organspender und Organempfänger. Der Gesetzgeber verlangt weiter, daß sich Organspender und Organempfänger in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen müssen. Aus dem Kontext des Gesetzgebungsverfahrens ergibt sich meines Erachtens, daß die Bedingung, daß eine derartige Verbundenheit offenkundig sein muß, die Funktion erfüllt, dem Arzt, der das Organ entnehmen soll, Aufklärungsarbeit zu ersparen. Ist dies richtig, so liegt eine Offenkundigkeit dann vor, wenn die besondere persönliche Verbundenheit für den Arzt offenliegt. Weiter ist eine Offenkundigkeit anzunehmen, wenn es Organspender und Organempfänger gelingt, dem Arzt glaubhaft zu vermitteln, daß gegenseitige Zusammengehörigkeitsgefühle bzw. Verantwortlichkeitsgefühle, die im Biographischen wurzeln, existieren. Organspender und Organempfänger müssen insofern Überzeugungsarbeit leisten. Gelingt es ihnen, dem Arzt zu vermitteln, daß ihre Zusam-

16 Anders Seidenath. M. E. ist die These Seidenaths, bereits eine Schicksalsgemeinschaft (wenn also etwa zwei Ehepaare das gleiche Krankheitsschicksal haben) könne eine besondere persönliche Verbundenheit bei der Cross-Spende zwischen Organspender und Organempfänger begründen, kaum vertretbar. Hiergegen spricht einerseits der Wille des Gesetzgebers, andererseits der Wortlaut. Schicksalsgemeinschaften sind gerade nicht von persönlicher Verbundenheit geprägt. Soweit Seidenath diese Auffassung von mir, die ich im MedR 1999 (Fn. 1) begründet habe, als polemisch bezeichnet (vgl. Seidenath MedR 2000, 34 f f ) , erscheint mir dieses kaum weiterführend. Argumentationen, die auf eine tradierte Begrifflichkeit rekurrieren sowie auf den Willen des Gesetzgebers, können ja vielleicht falsch sein, sicherlich sind sie jedoch nicht polemisch. Bei Schicksalsgemeinschaften aufgrund dieser Tatsache von persönlicher Verbundenheit zu sprechen, mag ja vielleicht zu einem gewünschtem Ergebnis führen, stellt jedoch die gesetzgeberische Wertentscheidung auf den Kopf.

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mengehörigkeitsgefühle im Biographischen wurzeln, so ist die besondere persönliche Verbundenheit, die eine Organspende erlaubt, offenkundig. Insgesamt ist die strafbewehrte Begrenzung des Spenderkreises bei Organen, die sich nicht wiederbilden können, eine fragwürdige Regelung. Sie ist materiell nicht begründet, verfassungsrechtlich bedenklich und inhaltlich kaum zu präzisieren, da eben der Schutzzweck undeutlich und wenig geeignet ist, den Inhalt näher zu kennzeichnen. Sie ist vom Übereifer der Gesundheitspolitiker geprägt, die Organhandel auf jeden Fall ausschließen wollen, obwohl die Begrenzung des Spenderkreises hierfür nur ein begrenzt taugliches Mittel darstellt. Die Konsequenz dieses Verbots, nämlich die altruistische Lebendspende zu verbieten, sowie die Cross-Spende weitgehend auszuschließen, ist ethisch nicht legitimierbar. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz hat in einem Schreiben an das Bundesverfassungsgericht, in dem es um die Verfassungsmäßigkeit von § 8 Abs. 1 S. 2 TPG ging, daraufhingewiesen, daß eine anonyme Lebendspende im Einzelfall ethisch gerechtfertigt sein kann. 17 Er hat aber gleichzeitig erklärt, daß der Gesetzgeber entsprechendes Handeln nicht generell ermöglichen muß. Damit ist die These aufgestellt, daß der Staat auch ethisch legitimiertes Handeln verbieten und sogar bestrafen kann. Mit einem liberalen Strafrechtsverständnis, das auf weltanschaulich neutraler Grundlage steht, ist eine derartige These nicht kompatibel: Strafrecht hat die Aufgabe, sozialschädliches Verhalten zu sanktionieren, nicht Verhalten, das ethisch legitimiert ist.

17 Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz K. Lehmann in einem Schreiben vom 15.03.1999 in dem Verfahren des BVerfG 1 BvR 2181/98.

II. Die europäische Perspektive

Der historische Entwicklungsweg der Menschenrechte als Erscheinung von Widerspruch und Notwendigkeit

V o n Danilo

Castellano

I. These U m die Bedeutung des Titels für mein Statement von Anfang an klar zu machen, halte ich es für zweckmäßig, meine These gleich hier vorzustellen: Die Menschenrechte

zeigen i n ihrem historischen Entwicklungsverlauf, d. h. in ih-

rer schrittweisen und progressiven Verwirklichung in immer stärkerem Maße einen i n der ursprünglichen Option zu ihren Gunsten eingeschlossenen Widerspruch auf, der zwingend überwunden werden muß. Die Forderung nach Überwindung ist ein Zeichen für die Notwendigkeit, die Ausgangskonzeption der Menschenrechte,

so, wie sie sich historisch durchgesetzt haben, zu über-

denken.

I I . Die Menschenrechte Es ist bekannt, daß die Menschenrechte Rechten

des Menschen ,1

nicht gleichzusetzen sind m i t den

Denn ihr Ursprung ist in der modernen

Natur-

1 Die Literatur zu diesem Thema ist höchst umfangreich und ihre Sprache mißverständlich. Oft werden die beiden Ausdrücke unterschiedslos verwendet. Deshalb ist es wichtig, „zum Begriff vorzustoßen" und sich nicht auf Worte zu beschränken. Es gibt Autoren, welche die Menschenrechte auf Rechte des Menschen reduzieren. (Zu dieser These siehe auch ζ. Β. N. Bobbio: L'età dei diritti, Torino 1990, und D. Pasini: I diritti dell'uomo, Napoli 1979). Andere Autoren haben den Versuch einer sowohl konzeptuellen als auch verbalen Unterscheidung zwischen den beiden Ausdrücken unternommen. Der italienische Philosoph Antonio Rosmini hat die Rechte des Menschen festgemacht an der „Erreichung des wahren menschlichen Guten" und an der „sozialen Freiheit", die Menschenrechte hingegen an der Forderung nach jedem Mittel, welches das Individuum (auch fälschlicherweise) für geeignet hält oder erklärt zur Erreichung seiner objektiven Perfektion. Das bringt es nach Rosminis Ansicht dazu, die außersoziale Unabhängigkeit einzufordern, d. h. jene negative Freiheit, die es im hypothetischen „Naturzustand" genösse (vgl. A. Rosmini in: M. D'Addio [Hrsg.], Filosofia della politica, Mailand 1972, S. 206-226). Andere Autoren bevorzugen einfach den Ausdruck Rechte des Menschen,

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Danilo Castellano

rechtstheorie

zu finden, die von der Freiheit als negativer Freiheit

ausgeht und

konsequenter-, aber fälschlicherweise die Meinung vertritt, der Schutz des Individuums könne auf den Individualismus gegründet werden und die Ausübung der politischen Macht könne und müsse auf der Grundlage eines „Gesellschaftsvertrags" gerechtfertigt werden. Seit der erstmaligen Erklärung

der Menschenrechte

i m Jahre 1689 läßt sich

die Entwicklung des Menschenbildes verfolgen, das diese Erklärung

postuliert;

es ist eine Evolution innerhalb der Konzeption selbst, die in der gegenwärtigen Zeit - wie ich noch ausführen werde - einerseits aufzeigt, daß der Weg der Geschichte Richtung Westen (um einen von Hegel 2 bevorzugten Ausdruck zu verwenden) i m modernen Nihilismus endet, und andererseits, daß der Nihilismus einzig und allein unter Aufgabe derjenigen Voraussetzungen, auf welchen er fußt und deren K i n d er ist, überwunden werden kann.

gestehen dabei allerdings ein, daß er in der aktuellen Kultur von Zweideutigkeit gekennzeichnet ist (vgl. z.B. S. Cotta: Il diritto naturale e l'universalizzazione del diritto, in: Diritto naturale e diritti dell'uomo all'alba del X X I secolo, Quaderni di Justitia-40, Mailand 1993, S. 33). Wieder andere halten eine theoretische Abklärung für unnütz, vielleicht sogar schädlich, da sich die Menschenrechte auf ideologische Weltanschauungen 'gründeten' und deshalb widersprüchlich seien (vgl. J. Maritain: Introduction aux textes réunis par l'U.N.E.S.C.O., jetzt in: J. und R. Maritain: Oeuvres complètes, vol. IX, Freiburg/Paris 1990, S. 1204 ff.). Zuletzt gibt es noch Autoren, welche die Meinung vertreten, daß die Menschenrechte, Kinder der Modernität, Utopien und insofern weit von der Essenz des Rechts und der menschlichen Natur entfernt seien (vgl. M. Villey: Le droit et les droits de l'homme, Paris 1983). Die mißverständliche Sprache sowie die fehlende theoretische Abklärung haben oft zu Irrtümern gefuhrt. So wird z. B. gegenwärtig angenommen, daß sich die katholische Kirche die Thesen der rationalistischen Naturrechtsphilosophie zu eigen gemacht habe, indem sie häufig den im positiven Sinne gleichbedeutenden Ausdruck Menschenrechte und menschliche Rechte verwendet. Vgl. zu dieser Frage E. Cantero Nunez: La concepción de los derechos humanos en Juan Pablo II, Madrid 1990. 2

Die Geschichte der Welt - schrieb Hegel - sei der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, der zudem notwendige Fortschritt, der sich von Osten nach Westen hin vollzieht, so daß seiner Ansicht nach Amerika das Land der Zukunft ... ist (vgl. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, it. Übers. G. Calogero/C. Fatta (Hrsg.), Lezioni sulla filosofia della storia, Bd. I, Firenze 1941, 1967, S. 47 und 233). Es gibt keinen Zweifel daran, daß die Entwicklung hin zum Nihilismus unabdingbar ist, wenn man von der Annahme ausgeht, daß die Doktrin der Freiheit die von Luther aufgestellte ist (vgl. ebd., Bd. III, S. 147) und daß deshalb der Mensch von sich aus dazu bestimmt ist, frei zu sein (ebd., S. 152). Die Auffassung der lutherischen Freiheit fuhrt folgerichtig zu der z. B. von Rorty vertretenen Position, d. h. zu einem bestimmten modernen nordamerikanischen Denken.

Menschenrechte als Widerspruch und Notwendigkeit

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I I I . Die „Konzeption" des Menschen in der modernen Naturrechtsphilosophie Das moderne Naturrecht, angefangen von Hobbes bis Locke, von Rousseau bis zu demjenigen unserer Tage, versteht - wenn auch in unterschiedlichen Zusammenhängen und m i t mitunter erheblichen Unterschieden - den Menschen als 'Freiheit', wobei Freiheit als absolut verstanden w i r d und somit als eine sich selbstbestätigende Macht. Der Mensch ist somit keine aktualisierte Essenz oder, besser gesagt, sein Wesen ist die Freiheit selbst, die negative Freiheit.

Folge-

richtig w i r d in unserer Zeit behauptet, daß die Existenz (des Menschen) der Essenz vorausgeht und sie bestimmt (Sartre 3 ) oder daß der Mensch ein postmetaphysisches Subjekt ist, genauer gesagt, reines Subjekt, da er lediglich w i l l oder, besser, w e i l er umfassend wollen kann, da er nicht mehr durch eine metaphysische Ordnung gebunden ist (Rorty 4 ). Der Mensch ist also nichts weiter als der Entwurf, den er sich von sich selbst schafft, dessen Kenntnis erst als Folge seiner Verwirklichung möglich wird: Das Wahre ist die „Tatsache"; die „Tatsache" ist „ w i r k l i c h " ; das „ W i r k l i c h e " ist „rational". 5 Nicht mehr und nicht nur in 3 Vgl. J. P. Sartre: L'être et le néant, Paris 1943, it. Übers. L'essere e il nulla, Mailand 1965, 1975, bes. Parte quarta und hier bes. S. 533 ff. 4 Rorty besteht auf seiner Auffassung, daß die Subjektivität in der Autonomie des Selbst besteht. In dem Bewußtsein, sich in eine Beziehung der Kontinuität (wenn auch nicht der Identität) beispielsweise zu Nietzsche und Heidegger zu stellen, akzeptiert er die Definition von Autonomie als Selbsterfindung. Das menschliche Subjekt ist deshalb ein zufalliges Produkt von konkreten und zufalligen Kräften (vgl. R. Rorty: Essays on Heidegger and Others, Philosophical Papers, Bd. II., Cambridge 1991, it. Übers. A. G. Gargani [Hrsg.], Scritti filosofici, Bd. II, Bari/Rom 1993, S. 262 ff.). Jede Person hat demnach das Recht darauf, die verschiedensten Ziele zu erreichen, d. h. den Endzweck jedes subjektiven Entwurfs. Deshalb scheint der Schluß gerechtfertigt: Die menschlichen Rechte bestünden in der Garantie darauf, die Entwürfe (jeglicher Art) verwirklichen zu können, d. h. in der Garantie, die eigene Selbstfindung umsetzen zu können, die ein privater Entwurf ist und bleibt, für den es niemals Gründe oder Rechtfertigungen geben muß. 5 Die Identifikation von „Tatsache" mit „Rationalität" ist ein theoretischer Fehler, der wiederum die Konsequenz eines anderen Fehlers ist: Realität mit Zweckmäßigkeit zu verwechseln, fuhrt notwendigerweise auch dazu, das Irrationale fiir rational zu halten. In der Hegeischen „Philosophie" findet sich daher das Kriterium-Nichtkriterium des zeitgenössischen schwachen Denkens. Das Fehlen eines authentischen Kriteriums jedoch (d. h. eines nicht subjektivistischen und ideologischen Kriteriums) zur Feststellung der Wirklichkeit und somit zur Feststellung des Guten und des Bösen, des Rechten und des Unrechten, bringt es mit sich, daß die Durchsetzung jeglicher Entscheidung des Individuums (und somit auch das entsprechende Durchsetzungsvermögen) als Recht betrachtet wird. Dies ist - bekanntlich - die These von Rorty, nach der die Normalität metaphysisch nicht existiert (vgl. R. Rorty: La priorità della democrazia sulla filosofia, in: G. Vattimo [Hrsg.], Filosofia 86, Bari/Rom 1987, S. 23-50), aber auch jene des zeitgenössischen Personalismus, der behauptet, daß das Bewußtsein (auch jenes, welches im Licht dieser Einstellung gesehen zu Recht eigentlich als falsch definiert wird) stets das Recht auf Affirmation habe. Dies ist eine nicht nur im philosophischen Bereich verbreitete Meinung (für bibliographische Beispiele und der Kritik an ähnlichen Thesen

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der Hegeischen Sichtweise, sondern auch in jener, ihr nur augenscheinlich antithetischen, des gegenwärtigen „schwachen Denkens". Die Annahme der Essenz des Menschen als negative Freiheit ist somit gleichzusetzen mit der Auffassung vom Menschen als einfacher Behauptung und Entfaltung einer - außer vom Gesichtspunkt der Berechnung aus - nicht rationell geregelten Macht, als „Erzählung" seiner selbst, seines historischen „Werdens". Der Mensch hat insofern keine Natur, sondern lediglich (anthropologisch verstandene) Kultur: eine Kultur als einfaches „Produkt", d. h. als Praxis, die von der Wahrheit der Wesen und auch von jeglicher Theorie abzusehen vorgibt.

IV. Konsequenzen Diese Annahme hat selbstverständlich Folgen, sowohl im Bereich des öffentlichen Rechts als auch in demjenigen des privaten Rechts. Was das öffentliche Recht angeht, so soll hier vorwegnehmend betont werden, daß die moderne Naturrechtsphilosophie in die Menschenrechtserklärung von 1689 Eingang gefunden hat: Wenn auch mit Zweifeln und Vorbehalten (und vielleicht auch über die Intention ihrer Väter hinausgehend), bezeichnet sie nicht nur den Übergang von einer Monarchie von Gottes Gnaden zu einer Monarchie, deren Legitimierung durch das Volk und die Nation zu suchen ist und deren Macht - angeblich - auf einem bilateralen Pakt zwischen der Herrscherfamilie und dem Parlament beruht. Sie stellt in der Tat eine radikale Wende dar, sanktioniert durch den Treueschwur Wilhelms von Oranien auf die Menschenrechtserklärung, der in den Theorien von Locke den archimedischen Punkt für den Kampf gegen die Stuarts und die Eroberung der Macht in England gefunden hatte. Es ist richtig, daß Lords und Gemeine unter Berufung auf die Tradition ihres Landes ihren Anspruch auf Vertretungsrechte geltend machten. Richtig ist allerdings auch, daß die Art, wie diese Vertretung aufgefaßt wird, eine Neuerung im Vergleich zur Vergangenheit darstellt, da für sie der Anspruch erhoben wird, die „ganze" und „freie" Nation zu vertreten, d. h. da sie (zumindest potentiell) „losgelöst" von jeglicher Subordinationspflicht und fähig ist, sich frei zu entfalten: A u f diese Weise wird die Theorie Lockes von der Vertretung voll und ganz übernommen und außerdem im selben Jahr auch durch die Verkündigung der Bill zur Duldung der Protestanten und zur Nichtduldung der Katholiken bestätigt.

vgl. D. Castellano: Personalismo contemporaneo e responsabilità, jetzt in ders.: La razionalità della politica, Neapel 1993, S. 189 ff.), sondern auch im Bereich der katholischen Theologie (zu der falschen These vgl. z. B. R. Fabris: Missione della Chiesa e diritti umani, in: R. Fabris/A. Papisca, Pace e diritti umani, Padua 1989, S. 80).

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Ganz ohne Zweifel stellt somit die Menschenrechtserklärung Vorbedingung für alle nachfolgenden dar.

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von 1689 die

Diese Menschenrechtserklärung macht den unüberbrückbaren Konflikt deutlich, der in der modernen Naturrechtsphilosophie zwischen Freiheit und Macht zu beobachten ist. Politische Gewalt kann von diesem Augenblick an nur noch mit der Zustimmung des ihr Unterworfenen „legitim" ausgeübt werden. Dieser Konsens jedoch - das sollte beachtet werden - ist nicht die klassische Form der Zustimmung, d. h. die gemeinsame Wiederfindung von Wahrheit und Gutem, die unabhängig vom Konsens selbst existierten. Moderner Konsens ist schlichte Einwilligung zu einem beliebigen Entwurf. Sie ist ein Akt bloßen Willens, nicht geleitet von der Rationalität. Sie setzt die Option zugunsten des Rationalismus voraus, dessen Intention es ist, die Welt unbesehen ihrer Ordnung zu ordnen. Mit anderen Worten: Die Lockesche Vertretung unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von der Hobbesschen Souveränität oder derjenigen, wie sie anschließend von Rousseau theoretisiert wird in dem Versuch, Freiheit und Macht miteinander zu versöhnen, oder, besser gesagt, in dem Versuch, aus der politischen Macht einen Akt staatsbürgerlicher Freiheit zu machen. Der „Gesellschaftsvertrag" ist für Rousseau bekanntlich das Werkzeug für diese „Befreiung", für welche die politische Gestalt, die es schafft, zur conditio sine qua non der Freiheit wird. Welcher Freiheit? Jener negativen natürlich, welche sich angeblich in „realer" Form in der Gesellschaft und nach dem Verzicht auf den hypothetischen Naturzustand verstärkt wiederfindet. Der Schritt von Rousseau zu Hegel ist kurz: Für beide genießt der Staat dieselbe negative Freiheit, die auch der Mensch im Naturzustand genießt. Im Unterschied zum Naturzustand jedoch, in welchem der Mensch unter den unvermeidlichen Folgen der Ungleichheit leidet, hätte der Bürger im Staat die Gleichheit, die bezeichnenderweise sowohl in der Erklärung von Philadelphia im Jahr 1776 als auch in den französischen Menschenrechtserklärungen von 1789 und 1793 als eines der vorrangigsten und unveräußerlichen Menschenrechte ausgerufen wird. Von der Menschenrechtserklärung von 1789 zur nachfolgenden von 1793 läßt sich allerdings eine Entwicklung erkennen: Der erste Artikel der Menschenrechtserklärung von 1793 schreibt in der Tat fest, daß Gleichheit, ebenso wie Freiheit, Sicherheit und Eigentum etc. ein Grundrecht des Menschen in der Gesellschaft ist. Ein italienischer Autor (Francesco Gentile) hat nicht zu Unrecht in diesem Zusammenhang auf die Tatsache hingewiesen, daß die in der zuletzt zitierten Menschenrechtserklärung proklamierten Rechte nicht diejenigen des natürlichen Menschen sind, sondern die Rechte des Menschen, zu dem er in der Gesellschaft geworden war. 6 Anders gesagt: Die 6 Vgl. F. Gentile: Intelligenza politica e ragion di Stato, Mailand 1983, 2 1984, S. 7778. Es soll daraufhingewiesen werden, daß der „natürliche Mensch" der modernen Naturrechtsphilosophie ein „abstrakter" Mensch ist, d. h. der Mensch, wie man ihn sich im hypothetischen „Naturzustand" vorstellt, nicht der wirkliche Mensch. Von einem gewis-

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Menschenrechte wären gleichzusetzen mit denjenigen des Staatsbürgers, mit den sogenannten Bürgerrechten. Es sind, genau gesagt, diejenigen Rechte, welche der Souverän - ob nun als Staat, wie bei Rousseau oder Hegel, oder als Volk, wie in den modernen Demokratien - sich selbst zuerkennt: Die Rechte, welche von diesem Standpunkt der Betrachtung aus flatus vocis sind, wären vom juristisch-metaphysischen Gesichtspunkt aus nichts anderes als die vom stets konkreten Willen des Staates oder des durch den Staat konkret gewordenen Willens des Volkes durchgesetzte Anerkennung (Theorie der nur mittelbar geschützten Rechte). Der Mensch wird somit nicht als solcher anerkannt, sondern nur insofern er Staatsbürger ist. Die Anerkennung der in nachfolgenden anderen Erklärungen proklamierten sogenannten sozialen Rechte ändert nichts an dem Sinn dieser Frage. Häufig prallten die individualistische Auffassung und die sozialistische Auffassung der Menschenrechte zusammen, was aber nicht heißt, daß sie hinsichtlich der Grundlagen der Menschenrechte selbst unterschiedlich sind, obwohl sie bezüglich der Auffassung vom Menschen, allerdings innerhalb der politisch-juristischen Weltanschauung selbst, teilweise differieren. Im Gegenteil, - wie ich bereits an anderer Stelle versucht habe darzulegen7 und wie ich während einer Podiumsdiskussion, an der auch Heinrich Scholler teilnahm, darlegen konnte8 - glaubte man meiner Ansicht nach in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts einem Übel durch ein anderes begegnen zu können, um den Schrecken des von Rousseau und Hegel abgeleiteten totalitären Staats zu entrinnen: Der vor allem im politisch-juristischen Bereich herrschende moderne Personalismus (der mit dem klassischen nichts gemein hat) hat die Position des starken Totalitarismus ins Gegenteil verkehrt, ist aber immer noch dem Nihilismus verhaftet, der die Grundlage sowohl des starken als auch des schwachen Totalitarismus bildet. Der moderne Personalismus hat zwar - das ist richtig - die Rechte der Person gegenüber dem Staat eingeklagt und aus dem Staat ein Werkzeug zur Verwirklichung der Wünsche des Individuums gemacht. Aber durch die Erhebung der negativen Freiheit zum höchsten aller Werte hat er sowohl zur Auflösung der politischen Gemeinschaft beigetragen (indem er sich im wesentlichen die These vom Staat als Prozeß , wie sie sen Blickwinkel aus kann man die Durchsetzung der Menschenrechtserklärung von 1793, die auch weiterhin den Fehler macht, eine Utopie zu verfolgen, als Unterstreichung eines Bedürfnisses sehen: jenes der Rückkehr zum Wirklichen (um einen Ausdruck von Gustave Thibon zu verwenden), auch wenn die Beschränkung des Menschen auf den Staatsbürger ein Hindernis fur diese Rückkehr darstellt. 7 Vgl. D. Castellano: Il problema della persona umana nell'esperienza giuridicopolitica: (I) Profili filosofici, in: „Diritto e società", Padua, Nr. 1/1988, S. 107-154, und ders.: Il 'concetto' di persona umana negli Atti dell'Assemblea costituente e l'impossibile fondazione del politico, in: D. Castellano (Hrsg.), La decadenza della Repubblica e l'assenza del politico, Bologna 1995, S. 37-71. 8 Vgl. D. Castellano , La persona umana nella problematica giuridica europea, in: D. Castellano (Hrsg.), La crisi dell'identità nella cultura europea contemporanea, Neapel 1992, S. 137-162.

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ζ. B. von Bentley9 vertreten wird, zu eigen macht und somit den Konflikt, wie Dahrendorf 10 lehrt, zum Königsweg der Einforderung von Ansprüchen, jeglichen Anspruchs, der mit Menschenrecht verwechselt wird, erhebt) als auch zur Aufdeckung der unmenschlichen Wirklichkeit, die angeblich den Rechten zugrunde liegt, d. h. die „Möglichkeit", „Druck" auszuüben, der letztendlich auch zur Gewalt werden kann.

V. Aporien In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, daß einige beispielsweise im italienischen Parlament eingebrachte und von diesem anschließend auch verabschiedete Gesetzesentwürfe unter anderem auch festhalten, daß das „pluralistische Prinzip der modernen Verfassungen nicht nur und nicht so sehr bedeutet, daß der Staat die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit innerhalb und mittels einer Vielfalt vermittelnder Gesellschaftsgruppen anerkennt, garantiert, schützt und fördert, sondern hauptsächlich, daß den unverletzbaren Rechten eines jeden einzelnen Menschen umfassend Respekt zuzugestehen ist." Und zu diesen gehört - wie einige Abgeordnete und Senatoren der Christdemokraten zu Beginn der 80er Jahre schrieben - vor allem das Recht auf freie Gewissensentscheidung, die nicht durch die Beschlüsse der jeweiligen Mehrheit, die ein ordentliches Gesetz einführt, verletzt werden dürfe, wie auch die innersten persönlichen ethischen und religiösen Auffassungen keiner Nötigung unterworfen werden dürften, solange diese Auffassungen anderen Gesellschaftsmitgliedern nicht zum Schaden gereichten. 11 Auch wenn man einmal alles andere außer Betracht läßt, so ist doch festzuhalten, daß hier das Gesetz mit dem Beschluß der jeweiligen Mehrheit identifiziert wird. Sie ist deshalb in erster Linie auch keine rationale Ordnung (wobei ich Rationalität im klassischen Sinne meine), sondern eine beliebige Anordnung, begleitet von bloßer Effektivität; eine Anordnung, die de facto rational oder auch irrational sein kann, de jure aber lediglich eine Entscheidung ist, das heißt, ein von rationalen Argumenten nicht begründeter Imperativ.

9 Zu den Thesen Bentleys siehe die Seiten von A. Passerin d'Entrèves : La Dottrina dello Stato, Turin 1967, S. 91 ff. Zur Rezeption, Kritik und Weiterentwicklung der Bentley'sehen Thesen in Italien vgl. D. Castellano : La razionalità (Fn. 5), S. 108 ff. 10 Vgl. R. Dahrendorf: Intervista sul liberalismo e l'Europa, hrsg. von V. Ferrari, Bari/Rom 1978, S. 8; ders.: Legge e ordine, Mailand 1981, S. 132. 11 Gesetzesvorlage Nr. 623, dem Senat der Italienischen Republik vorgelegt am 23. März 1984 durch einige Senatoren der Christdemokratischen Partei. Eine analoge These war von einer Abgeordnetengruppe derselben Partei unterstützt worden, die den Gesetzesvorschlag Nr. 22 eingereicht hatte, der wiederum am 20. Juli 1983 der Abgeordnetenkammer vorgelegt worden war.

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Festgestellt werden soll zudem auch, daß das Gewissen nicht aufgefaßt wird als Ausdruck eines „objektiven", das Subjekt transzendierenden Gesetzes, sondern als erwünschte und willentliche Kohärenz mit „den eigenen, innersten ethischen und religiösen Auffassungen". Es handelt sich eigentlich um Überzeugungen, wie die italienischen Abgeordneten und Senatoren selbst schreiben, denen immer das Recht auf Durchsetzung zukommt, abgesehen von denjenigen Fällen, in denen sie anderen Gesellschaftsmitgliedern zum Schaden gereichen würden. Heinrich Scholler hat bemerkt, daß „auf der konstitutionellen Ebene innerhalb des Katalogs der freiheitlichen Grundrechte die Gewissensfreiheit zu einem unbeschränkten Recht geworden ist." 12 Weiterhin behauptet Scholler, laut den Ausführungen Boehmers in diesem Zusammenhang, daß das Prinzip der subjektiven Freiheit, der Glaubens- und Gewissensfreiheit, und das der Unabhängigkeit des Subjekts auf die protestantische Doktrin zurückgeht: Sie ist Ausdruck der Unabhängigkeit des Geistes, des absoluten Selbstbewußtseins.13 Er stellt jedoch auch fest, daß das Gewissen sich nur dort „entspannen" kann, wo die Verfassung oder ein untergeordnetes Gesetz dem Gewissen (selbst) einen Freiraum zusichert. 14 Nur in diesem Falle „ist der Vorbehalt des allgemeinen, d. h. für alle gültigen Gesetzes gegenüber dem Gewissen aufgehoben." 15 Das positive Recht, also das Gesetz, ist, auch wenn es auf einer höheren Stufe steht, demzufolge der Ursprung der Anerkennung des „Freiraums" für das Gewissen, verstanden als absolutes Selbstbewußtsein. Die Gewissensfreiheit ist somit ein Recht und vielleicht ein unbegrenztes Recht nur dann, wenn es von der Rechtsordnung anerkannt ist und somit tatsächlich ein durch das Recht selbst „Geschaffenes" wurde. Abgesehen von den Betrachtungen Schollers, die allein schon wegen ihrer wertvollen hermeneutischen Angaben einer aufmerksamen Betrachtung wert sind, ist festzustellen, daß dies in völliger Übereinstimmung steht mit der ratio der Souveränität, auch wenn diese in ihrer Ausübung durch die Verfassung geregelt wird - unter anderem ein Ergebnis der Souveränität selbst. Offen bleibt somit - vom Standpunkt des modernen Naturrechts aus gesehen - die Frage nach der Vereinbarkeit von Gewissensfreiheit und Recht, vor allem wenn das Recht, wie zum Beispiel das Zivil- und das Strafrecht, unvermeidlich das Gewissen „anspricht" (was somit kein absolutes Selbstbewußtsein ist) und etwas vorschreibt oder verbietet. Auch wenn man die - unter einigen Aspekten

12

H. Scholler: Ambivalenza nel rapporto fra diritto e coscienza, in: „Behemoth", S. 27. Rom, Nr. 8, Juli-Dezember 1990, V. Jahr, Bd. 11 Vgl. Scholler (Fn. 12), S. 26. 14 Scholler (Fn. 12), S. 25. 15 Scholler (Fn. 12), S. 25.

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inakzeptable - These zugrunde legt, daß das Gesetz nur dazu dient, das gesellschaftliche Miteinander in seiner momentanen Form zu garantieren, scheint die angesprochene Frage eine Aporie darzustellen, die zur Kenntnis genommen werden muß, wenn das Recht nicht reduziert werden soll auf ein bloßes Instrument gesellschaftspolitischer Kontrolle, die auf der willkürlichen Grundlage blinder Macht ausgeübt wird. Dies würde letzten Endes aus dem Recht selbst ein Werkzeug für die organisierte Ausübung der Gewalt derjenigen, die zufällig im Besitz der Macht sind, über die Schwächeren machen.

VI. Schwierigkeiten Die „Anerkennung" der Gewissensfreiheit (die nicht die Freiheit des Gewissens ist) 16 als „unbeschränktes Recht" scheint dennoch einer der beiden Wege zu sein, auf dem sich die Gesetzgebung und folglich auch die Rechtsprechung bewegen, die zur Rechtfertigung für ihre Entscheidungen immer häufiger das sogenannte „personalistische Prinzip" anrufen, in dessen Namen - wie einer der ehemaligen Präsidenten des italienischen Verfassungsgerichts 17 bemerkte es als unabdingbar und kohärent betrachtet wird, jegliche Bezugnahme auf Gott und auch auf die säkularisierten „weltlichen Religionen" aus der Verfassung zu verbannen. Es handelt sich hierbei um keinen Einzelfall. Die Meinung, daß die italienische Verfassung eine „serienmäßig hergestellte" Verfassung ist, ist verbreitet. So sehr, daß sie beispielsweise (abgesehen von einigen besonderen Ausdrucksformen) „perfekt auf der Linie liegt mit der nahezu zeitgleichen

16

Zur konzeptionellen Unterscheidung zwischen der ersten und der zweiten vgl. D. Castellano : La razionalità (Fn. 5), S. 25-44. 17 Vgl. z. B. F. Casavola: Fondamento etico dell'ordinamento costituzionale, in: AA. VV., Diritti dell'uomo e leggi (in)umane, Padua 1998, S. 46. Casavola hatte dieselbe These in der Begründung einiger von ihm verfaßter Urteilssprüche des italienischen Verfassungsgerichts vertreten (vgl. z. B. die Urteile Nr. 203 vom 12. April 1989 und Nr. 13 vom 14. Januar 1991). Seiner Ansicht nach hatte sich die Verfassung der Italienischen Republik keine Ideologie zu eigen gemacht. Aus diesem Grunde sei der italienische Staat ein „neutraler" Staat. Die Verfassung habe eine Pilatus-Republik geschaffen, in welcher „das gemeinsame Erbe" von einer „rationalen, anerkannten Ethik" her komme (vgl. ders.: Fondamento [s. ο.], S. 47). Es kann jedoch nur eines von beiden sein. Entweder ist die rationale Ethik anerkannt, da sie ja rational ist (und die Verfassung hätte dann in diesem Fall die Anerkennung/Beitritt/Einwilligung zur Rationalität festgelegt und kodifiziert und somit auch zur Wahrheit und hätte insofern keinen „neutralen" Staat geschaffen), oder aber sie ist nur in jenem besonderen historischen Moment tatsächlich anerkannt (was bedeuten würde, daß es eine soziologisch rationale Ethik wäre und nur insofern und nur in dem Maße gültig, als sie auf Konsens trifft). Die These ist widersprüchlich. Zu Widersprüchen in dieser Hinsicht kam es auch während der verfassunggebenden Versammlung (vgl. zu diesem Argument D. Castellano: La razionalità [Fn. 5], S. 104 ff.). 5 Schünemann u. a.

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deutschen Verfassung" 18 und als Modell für die später entstandene spanische Verfassung dient. Noch einmal soll festgestellt werden, daß die „rationalisierten" Verfassungen eine Vision des Menschen als Individuum anerkennen, 19 das seine soziale „Dimension" vorrangig dazu benutzt, jedes seiner „Bedürfnisse", seiner Wünsche in Übereinstimmung mit der Gewissensfreiheit 20 zu verwirklichen. Auf diese Weise wurde in Italien nicht nur das Kriegsdienstverweigerungsrecht aus Gewissensgründen als subjektives Recht anerkannt, sondern auch ein gleiches Recht hinsichtlich des freiwilligen Schwangerschaftsabbruchs theoretisiert, und zwar nicht ausgehend von der Unverletzlichkeit des ungeschriebenen Gesetzes (Verweigerung des Gewissens), sondern aufgrund des Rechts auf individuelle Kohärenz mit den eigenen Ansichten. In anderen Ländern wurde beispielsweise das Recht auf „Hilfe zum Selbstmord" anerkannt, d. h. das Recht auf Beihilfe des Staates in der vom Betroffenen gewünschten Form als Recht der Person. Lassen Sie mich jedoch aus Beispielsgründen kurz auf die aktuelle italienische Gesetzgebung (und folglich auf die Rechtsprechung) bezüglich des Gebrauchs von Rauschmitteln eingehen, denn sie zeigt besonders klar, daß das Individuum als Selbstbewußtsein einer leeren Identität verstanden wird. Was wiederum mit einer entsprechenden Art der Auffassung der eigenen Rechte einhergeht. Der Gebrauch von Rauschmitteln ist nicht strafbar. Das bedeutet, daß der Mensch ein Recht auf den willkürlichen Gebrauch der negativen Freiheit hat. Und so ist auch die Anwendung des in früheren Gesetzes Vorschriften 21 eingeführten Kriteriums mit dem Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 171 vom 5. Juni 1993 weggefallen, das - aufgrund eines Referendums - formal die Abschaffung des Tabellenwerts für die durchschnittliche Menge an 18

Vgl. F. Casavola: Il fondamento (Fn. 17), S. 48. Nach kompetenter Meinung gehen die menschlichen Rechte der westlichen europäischen Verfassungen von drei verschiedenen Menschenbildern aus (vgl. P. G. Grasso: La persona nel Diritto costituzionale: uomo e cittadino, in: D. Castellano [Hrsg.], Persona e diritto, Udine 1990, S. 47 ff.). Deshalb stellt der Autor richtigerweise selbst fest, daß die drei Rechtskategorien im westeuropäischen Verfassungswesen den drei Auffassungen des Menschen entsprechen und vom Laizismus und der Säkularisation gekennzeichnet sind (vgl. ebd., S. 52). Der Individualismus hingegen ist ihre Voraussetzung. 20 Eigentlich gesprochen hat das Individuum unter diesem Blickwinkel keine soziale „Dimension". Es tritt nur aus Berechnung in die Gesellschaft ein. Die Gesellschaft, bes. die politische Gesellschaft, wird folgerichtig erdacht, aufgebaut und akzeptiert nur insofern, als sie der Verwirklichung des Plans nützt, für welchen man in die Gesellschaft „eintritt". Dies ist der Grund dafür, daß jeglicher Wunsch zu einem Rechtsanspruch wird. 21 Vgl. Gesetz Nr. 685 vom 22. Dezember 1975, Gesetz Nr. 162 vom 26. Juni 1990, Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 309 vom 9. Oktober 1990. 19

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Rauschmitteln, die ein Individuum für den „persönlichen Gebrauch" zu sich nehmen kann, verfügte. Es ist richtig, daß das Kassationsgericht anfangs versucht hat, dieses Kriterium beizubehalten, indem es „durch das Fenster hereinholte, was zur Tür hinausgejagt worden war". Der Erste Senat des Kassationsgerichts für Strafsachen (Urteil Nr. 1616 vom 5. Oktober 1994) vertrat in der Tat die Auffassung, daß die Abschaffung des Tabellenwerts es „dem Richter nicht verwehrt, nach eigenem Ermessen zu beurteilen, ob die Menge an im Besitz einer Person befindlichen Rauschmitteln als persönlicher Bedarf gelten kann oder nicht: Liegt diese Menge objektiv und deutlich höher als der persönliche Bedarf des Besitzers für einen begrenzten Zeitraum, kann der Richter folglich - so die Argumentation des Gerichts - begründeterweise, unter Bewertung des Sachverhalts (außer bei Nachweis des legalen Besitzes), davon ausgehen, daß die im Besitz gehaltene Menge nicht mit dem alleinigen Besitz zu Zwecken des persönlichen Gebrauchs des Rauschmittels zu rechtfertigen ist." Abgesehen von dem allgemeinen Verweis auf den „begrenzten Zeitraum", der die Beurteilung unter dem Gesichtspunkt ihrer (beanspruchten) Objektivität vage und zu sehr dem persönlichen Ermessen anheimgestellt erscheinen läßt, muß festgestellt werden, daß 1) beinahe zur gleichen Zeit ein anderer Senat desselben Kassationsgerichts für Strafsachen (der VI., Urteil Nr. 317 vom 4. Oktober 1994) es - in Bestätigung eines Prinzips juristischer Kultur - zur Aufgabe der Anklage machte, den nicht zum persönlichen Gebrauch bestimmten Zweck des Drogenbesitzes zu beweisen; 2) genau der gleiche Senat (der VI., Urteil Nr. 3013 vom 31. Januar 1996) außerdem eine fehlende Drogenabhängigkeit als Indiz, eine Verkaufsabsicht hinter dem Besitz von Rauschmitteln zu beweisen, als irrelevant bezeichnete; 3) die Vereinigten Senate des Kassationsgerichts für Strafsachen (Urteil Nr. 4 vom 28. Mai 1997) präzisierten, daß typische Anhaltspunkte für die Verkaufsabsicht die Menge, die Qualität und die Zusammensetzung der Substanz sein können, auch in Bezug auf die Einkommenssituation des im Besitz des Rauschmittels Befindlichen und seiner Familienangehörigen (eigene Hervorhebung). Dieses Kriterium, das grundsätzlich schon einmal vom IV. Senat des Kassationsgerichts für Strafsachen vorgeschlagen worden war (Urteil Nr. 5786 vom 5. März 1997), stellt nicht nur für die Anklage, sondern auch für die Verteidigung einen Vorteil dar: Die wirtschaftliche Lage des Angeklagten und/oder seiner Familienangehörigen kann auf diese Weise den Besitz selbst einer großen Menge hochwertiger Drogen „zum persönlichen Gebrauch" „rechtfertigen". Nun ist es dessen aber noch nicht genug. Die Vereinigten Senate des italienischen Kassationsgerichts für Strafsachen haben in der genannten Sitzung vom 28. Mai 1997 die Straflosigkeit des Erwerbs und des Besitzes von Rauschmitteln zum persönlichen Gebrauch bestätigt, die von Anfang an auf Rechnung 5*

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und für andere, vom Betroffenen verschiedene Personen, erfolgen, wenn die Identität dieser Personen von Anfang an klar ist und diese ihrem Wunsch nach Erwerb der Rauschmittel zum eigenen Gebrauch Ausdruck geben (Urteil Nr. 4 vom 28. Mai 1997). Die zitierte, die gesetzlichen Vorschriften kohärent interpretierende Rechtsprechung wirft in erster Linie die Frage der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz auf: Im Licht der Erklärung der Menschenrechte scheinen die Thesen des modernen Personalismus gerechtfertigt, nach denen zu schließen wäre, daß - zumindest im Hinblick auf diese Frage - ein Recht auf staatlich verabreichte Drogen besteht. Es ist jedoch nicht dies, was ich aufdecken möchte. Worauf es meiner Ansicht nach viel eher ankommt, ist die Tatsache, daß die negative Freiheit, die als Natur des einfach nur wollenden Subjekts gilt, in einer wahren Aporie endet: Aus keinem wie auch immer gearteten Grund kann also eine Norm Rechtfertigung finden, die als solche eine Beschränkung für den Gebrauch der negativen Freiheit darstellt. Die Auffassung des Menschen in der modernen Naturrechtsphilosophie ist im wesentlichen nihilistisch und zutiefst widersprüchlich, wie insbesondere eine gegenwärtige doktrinäre Ausrichtung zeigt und die sozialen und juristischen Erfahrungen unserer Tage unterstreichen.

V I I . Der zweite Weg der Gesetzgebung Bevor ich zum Abschluß komme, möchte ich auch noch kurz darauf eingehen, daß es, laut einigen anderen Autoren 22 , verschiedene „Generationen" der Menschenrechte gibt, die ebenso vielen Auffassungsweisen vom Menschen entsprechen: Von der ersten, „philosophischen" Phase habe es einen Übergang gegeben zu einer zweiten, in der es zur Verwirklichung des zuvor nur „gedachten" Rechts gekommen sei; dieser wiederum sei - ab der UNOMenschenrechtserklärung von 1948 - eine dritte Phase gefolgt, in „welcher sich die Rechte sowohl universal als auch positiv durchsetzen" 23. Diese Phase dauere immer noch an. Und in dieser Phase seien Menschenrechte anerkannt und garantiert worden, die in den vorhergehenden Phasen weder anerkannt noch geschützt gewesen seien, unter anderem z. B. das Recht auf Gesundheit. Die Anerkennung und der Schutz dieses Rechts haben vor allem zur Einführung eines nationalen (oder regionalen) Gesundheitswesens in vielen Ländern geführt. Gegenwärtig bildet dieses Recht die Grundlage für die Ausübung unterschiedlicher Machtbefugnisse nationaler oder lokaler Behörden: So wurden z. B. aus Gründen des Gesundheitsschutzes Umweltgesetze erlassen; es kam 22 23

Z. B. laut N. Bobbio (Fn. 1), S. 22 ff. Ebd., S. 23.

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zur Beschränkung einiger, früher unbeschränkt anerkannter Rechte (so wurden Regelungen zur Beheizung von Häusern und Wohnungen erlassen; es wurden Grenzwerte für den Abgasausstoß eingeführt; es wurden, bei Eintreten bestimmter Bedingungen, Beschränkungen für den Straßenverkehr in den Städten eingeführt und so weiter). A l l dies - wie gesagt - ist aus Gründen des Gesundheitsschutzes erforderlich. Die Gesundheit jedoch ist keine Ansichtssache, auch wenn sie, in gewisser Hinsicht, von subjektiven Überzeugungen abhängig sein kann. Selbst die Straffreiheit für den Schwangerschaftsabbruch aus medizinischer Indikation wurde in Italien mit der Notwendigkeit, die Gesundheit der Mutter zu schützen, begründet. 24 Ein in vieler Hinsicht strittiges Urteil, das jedoch, ebenso wie die Umweltgesetze, eine Notwendigkeit aufzeigt, die nicht von der Ausübung der negativen Freiheit durch den Menschen abhängt. Auf diese Weise berühren die Menschenrechte die Problematik der natürlichen Ordnung, besonders die Frage der Essenz des Menschen, die weder Ergebnis der Geschichte noch der Kultur noch der Macht noch der wirtschaftlichen Lage ist, auch wenn diese und andere Faktoren die existentiellen und somit zufälligen Aspekte beeinflussen können und auch beeinflussen. Dieses Zusammentreffen stellt das Aufscheinen eines Bedürfnisses dar in Form der notwendigen Aufgabe der Menschenrechte und deren Voraussetzung für die Anerkennung der Rechte des Menschen, die nichts anderes sind als die Anerkennung seiner Pflichten, Pflichten, die mit der Existenz als Menschen und den subjektiven Entscheidungen eines jeden von uns zusammenhängen.

V I I I . Schlußfolgerung Wie erwähnt, hat die „Rückkehr" des 20. Jahrhunderts zu den Menschenrechtserklärungen, besonders nach der Erfahrung mit einer besonderen Form des Totalitarismus, eine Bedeutung. Wichtig ist sicherlich anzuerkennen, daß die Essenz des Menschen nicht vom Staat abhängig ist. Einer der Vordenker des zeitgenössischen starken Totalitarismus hatte feststellen können, daß, im Gegenteil, „der Mensch alles, was er ist, dem Staat zu verdanken hat; nur in ihm findet er seine Essenz. Alle Werte, alles geistige Sein erhält er nur über den Staat"25, da er „gezwungen" wird von den „Schwierigkeiten" der sogenannten Doktrin der Freiheit, das heißt, von der Freiheit des Wollens, die - in sich und für sich bestimmt - nichts weiter ist als das Sich-selbst-bestimmen.26 Nun muß diese Freiheit, welche die rationalistische Naturrechtstheorie als Freiheit auffaßt, einfach überwunden werden. Dies erkennen auch die Befürworter des so24 25 26

Urteil Nr. 27 des Verfassungsgerichts, 18. Februar 1975. G. W. F. Hegel (Fn. 2), Bd. I, S. 105. Vgl. ebd., Bd. IV, S. 198.

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genannten „Naturzustands" an, der Hegel - und nicht nur Hegel - wie der „Zustand der Ungerechtigkeit, der Gewalt, des zügellosen natürlichen Instinkts, unmenschlicher Handlungen und Gefühle" 27 vorkommt. Dieses Überwinden jedoch kann weder durch einen teilweisen oder völligen Verzicht des Individuums auf die negative Freiheit erfolgen noch durch die hegelsche Mediation, die nach dem Urteil des deutschen Philosophen das Bewußtsein und den Willen der Freiheit nach seinem Begriff ans Licht bringen würden: Genau dies ist es, was unter diesem Blickwinkel ein Problem darstellt, da es der „Begriff 4 einer Annahme ist (und somit kein Begriff, weil pseudo-rationalistischer Begriff eines bloßen, absurden Anspruchs). Mit anderen Worten, um nicht in eine wie auch immer geartete Form des Totalitarismus zu verfallen bzw. um aus ihr herauszukommen, ist es nötig, die Auffassung der Freiheit als der negativen Freiheit aufzugeben, die am Ursprung der historischen Menschenrechtserklärungen steht. Es genügt nicht, einen Schritt vor die Menschenrechtserklärung von 1793 zu tun. Es ist nötig, die Annahmen fallen zu lassen und statt dessen die Aufmerksamkeit auf die Realität zu richten. Und der Rechtsstaat genügt auch nicht, damit man nicht in den Totalitarismus verfällt. Der Rechtsstaat reicht in der Tat nicht aus, die menschliche Person effektiv zu schützen. Obwohl er einen verfahrensmäßigen Schutz darstellt, ist er absolut ungeeignet für die Bestätigung und/oder die Verteidigung der Rechte des Menschen. Denn er ist der Staat, in dem man nichts gegen das Gesetz, aber alles mit ihm unternehmen kann. Es ist klar, daß das Problem auf das Gesetz übergeht: Wenn es - wie jegliche Souveränitätstheorie behauptet - eine beliebige, von Zweckmäßigkeit begleitete Anordnung wäre, fände man sich erneut vor jener Aporie der negativen Freiheit. Unterschiedliche moderne Rechtsordnungen beweisen jedoch, daß die negative Freiheit, selbst bei einem Rechtsstaat, keine Grenzen findet (außer eben den verfahrensmäßigen) in der Verletzung der menschlichen Person. Es genügt, an die Legalisierung des freiwilligen Schwangerschaftsabbruchs in verschiedenen Staaten zu denken, um zu verstehen, wie häufig auch in einem Rechtsstaat ein Grundrecht verletzt wird, nämlich dasjenige auf Leben eines unschuldigen menschlichen Wesens. Im Licht auch dieser Fragen wird die Notwendigkeit einer Rückkehr zur klassisch verstandenen Rationalität klar: Von den Menschenrechten muß ein Übergang zu den Rechten des Menschen vollzogen werden. Hierzu muß die Natur des Menschen und das Wesen des Rechts abgeklärt werden. Denn es genügt nicht, zu behaupten, daß die Rechte des Menschen „lebendiger Ausdruck des Rechtsprinzips im Subjekt, in jedem einzelnen Subjekt" sind. 28 Um so mehr, wenn - wie D'Agostino zu vertreten scheint - das Recht unter dem formalen Aspekt bezugsmäßiger Universalität ermittelt wird. 29 Diese

27 28 29

Ebd., Bd. I, S. 112. F. D ' Agostino : Filosofia del diritto, Turin 1996, S. 240. Vgl. ebd.

Menschenrechte als Widerspruch und Notwendigkeit

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Perspektive stellt nämlich noch nicht die Überwindung der Menschenrechte dar, wie sie vom philosophischen Liberalismus und den Lehrmeinungen, die hierin ihren Ansatz finden, verstanden werden. Sie stellt mit anderen Worten nicht die Überwindung der Modernität (axiologisch verstanden) dar, auf deren Altar so manches authentische Menschenrecht geopfert wurde und immer noch geopfert wird.

Neue Formen der Grundrechtsgewährleistung in der Schweiz und in Großbritannien*

V o n Jörg Paul

Müller

I. Einleitung I n Heinrich Schollers wissenschaftlichem Werk nehmen die Grundrechte der Verfassung, ihr Schutz durch Verfassungsgerichtsbarkeit 1 und die Rechtsvergleichung 2 eine zentrale Stelle ein: Gewissensfreiheit 3 , Gleichheit auch als soziale Chancengleichheit 4 , sodann der Vergleich verschiedener Rechtskulturen gerade auch i m H i n b l i c k auf die Implementation der heute global anerkannten Menschenrechte 5 sind Schwerpunkte; sie finden auch Ausdruck i m praktischen W i r k e n des Jubilars, etwa in der Bemühung u m einen Menschenrechtsdialog m i t der Türkei 6 oder m i t dem Fernen Osten, vor allem m i t der Mongolei 7 .

* Ich danke Herrn lie. iur. Mike Schupbach für die Betreuung des Manuskripts. 1 Heinrich Schollerl Dieter Birk: Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit, 1983. 2 Heinrich Scholler: Rechtsvergleichung als Vergleich von Rechtskulturen. Ein Beitrag zu Gustav Radbruchs Rechtsvergleichung, in: Fritjof Haft u. a. (Hrsg.), Strafgerechtigkeit. Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag, 1993, S. 743-759; Heinrich Scholler (Hrsg.): Die Einwirkung der Rezeption westlichen Rechts auf die sozialen Verhältnisse in der fernöstlichen Rechtskultur, 1993. 3 Heinrich Scholler: Die Freiheit des Gewissens, 1958; Heinrich Scholler: Das Grundrecht der Freiheit des Gewissens in Artikel 4 Absatz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 1956. 4 Heinrich Scholler: Die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot oder als Gebot der Chancengleichheit, 1969. 5 Heinrich Scholler: Geschichte, Theorie und System der Menschenrechte als universelle Rechte, in: Hanns-Seidel-Stiftung e.V. (Hrsg.), Menschenrechte und nationale Sicherheit. Dokumentation eines internationalen Symposiums in Ulaan Baator 1996, 1998, S. 43-58. 6 Heinrich Schollerl Silvia Tellenbach (Hrsg.): Westliches Recht in der Republik Türkei 70 Jahre nach der Gründung, 1996. 7 Heinrich Scholler: Grundrechte und Polizeibefugnisse in der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zur mongolischen Republik, in: Hanns-Seidel-Stiftung e.V. (Hrsg.), Menschenrechte (Fn. 5), S. 134-156.

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Jörg Paul Müller

Der folgende Beitrag will die Rechtsvergleichung im Grundrechtsbereich vor allem anhand von zwei Entwicklungen weiterführen: In der Schweiz und in Großbritannien hat der Grundrechtsgedanke in der neuesten Verfassungsgebung umfassenden Ausdruck gefunden. In beiden Ländern ist die neue Aktualität der Grundrechte wesentlich auf den Einfluss der internationalen Konventionen, namentlich der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der beiden UNO-Pakte zurückzuführen. Es zeichnet sich also um die Jahrtausendwende m. E. ein Wiederaufleben des Bewusstseins von den Grundrechten als überragender Legitimitätselemente ab, also ein Höhepunkt, wie wir ihn bisher nur im 18. Jahrhundert, vor allem in den USA und in Frankreich erlebt haben. Es scheint, wie wenn Art. 16 der Déclaration des Droits de l'Homme et du Citoyen von 17898 in der Gegenwart zu neuer Geltung kommen würde, in dem Sinn, dass sich das Grundgesetz eines Staates nur Verfassung (constitution) nennen darf, wenn in ihm Grundrechte angemessen gesichert sind. In ähnlicher Richtung ist das ungebrochene Bemühen um die Schaffung einer GrundrechtsCharta der Europäischen Union (EU) zu würdigen 9.

I I . Die neue schweizerische Bundesverfassung von 1999 In der Volksabstimmung vom 18. April 1999 haben die Mehrheit der Stimmberechtigten, die zur Urne gingen, mit der Mehrheit der Kantone die neue Bundesverfassung der Schweiz akzeptiert. 10 Ihr hervorragendes Merkmal ist der Grundrechtsteil. Er ist im Wesentlichen das Ergebnis zweier Entwicklungen: Einerseits stellt er eine klassische Kodifikation gefestigten richterlichen Fallrechts 11 dar; anderseits spiegelt er die - jedenfalls nach schweizerischem 8

„Toute société dans laquelle la garantie des droits n'est aussurée, ni la séparation des pouvoirs déterminée, n'a point de constitution". 9 Zur neuesten Entwicklung vgl. Ingolf Pernice: Eine Grundrechte-Charta für die Europäische Union, in: DVB1. 2000, 847 ff.; die Charta ist im Internet in elf Sprachen abrufbar, in deutsch unter http://db.consilium.eu.int/dfdocs/DE/04422de.pdf (Stand September 2000). 10 BB1 1999 V 5986 f. Für einen Überblick zur neuen schweizerischen Bundesverfassung vgl. Rainer J. Schweizer: Die erneuerte schweizerische Bundesverfassung vom 18. April 1999, in: JöR N.F. 48 (2000), 263 ff., mit dem Text der neuen Bundesverfassung auf S. 281 ff. (Anhang). Vgl. auch Martin Kayserl Dagmar Richter: Die neue schweizerische Bundesverfassung, in: ZaöRV 59/4 (1999), 985 ff., ebenfalls mit dem Text der BV im Anhang auf S. 1064 ff. 11 Seit 1960 hat das Bundesgericht als ungeschriebene Grundrechte der Bundesverfassung anerkannt: Eigentumsgarantie (BGE vom 11. Mai 1960 in ZB1 1961, 69 ff.), Meinungsfreiheit (1961; BGE 87 I 114 ff.), Persönliche Freiheit (1963; BGE 89 I 92 ff.), Sprachenfreiheit (1965; BGE 91 I 480 ff.), Versammlungsfreiheit (1970; BGE 96 I 219 f f ) , nach überwiegender Ansicht auch die Wahl- und Abstimmungsfreiheit (BGE 121 I 138 ff.) sowie zuletzt das Grundrecht auf Existenzsicherung (1995; BGE 121 I

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Recht - überragende Bedeutung des internationalen Vertragsrechts wider, 12 dem im Rahmen der Bundesverfassung unmittelbare Geltung, ohne jede Transformation, zuerkannt wird. 13 Besonders interessant für einen Vergleich mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sind (1) die normative Entfaltung der Menschenwürde und (2) die Grundrechtsschranken.

1. Die normative Entfaltung der Menschenwürde Die Garantie der Menschenwürde steht auch in der neuen Bundesverfassung an der Spitze des Grundrechtskatalogs. Dabei handelt es sich weder um bloßes naturrechtliches Dekor noch um ein abstraktes Prinzip oder eine Referenz an eine vergangene Epoche idealistischer Philosophie. Es geht um die Verankerung eines juristischen Fundaments, das im gesamten Grundrechtskatalog seinen Niederschlag findet. Die starke Verschränkung mit dem Menschenwürdesatz kommt vor allem in folgenden Garantien zum Ausdruck: a) Unmittelbar auf die Garantie der Menschenwürde folgt ein in dieser Art für eine Verfassung neuartiges Diskriminierungsverbot, das neben dem Gleichheitssatz als eigenständiger Grundrechtsgehalt statuiert ist (Art. 8 Abs. 2 BV). Die Bestimmung enthält zunächst ein allgemeines Diskriminierungsverbot (und nicht ein Verbot des Benachteiligens oder Privilegierens), das nur im Zusammenhang mit der Menschenwürde als Verbot jeder unwürdigen Herabminderung, Ausgrenzung oder Stigmatisierung sinnvoll interpretiert werden kann. 14

367 ff.). Gewisse Verfahrensgarantien hat das Bundesgericht aus Art. 4 a BV abgeleitet (so das Verbot von Rechtsverweigerung, Rechtsverzögerung und überspitztem Formalismus, Anspruch auf rechtliches Gehör u. a.). 12 Einige Grundrechtsbestimmungen sind in Struktur oder sogar Wortlaut entsprechenden Bestimmungen der EMRK nachgebildet: Art. 13 BV (Schutz der Privatsphäre) lehnt sich eng an Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) an, Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) wurde in Art. 10 Abs. 1 BV und Art. 3 EMRK (Verbot der Folter) in Art. 10 Abs. 3 BV integriert, Art. 31 BV (Freiheitsentzug) wurde durch Art. 5 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) inspiriert, die anderen Verfahrensgarantien von Art. 30 und 32 BV haben Teilgehalte von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) kodifiziert und Art. 41 BV (Sozialziele) übernimmt die Zielvorgaben des UNO-Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966. 13 Vgl. dazu Jörg Paul Müller: Verfassung und Gesetz. Zur Aktualität von Art. 1 Abs. 2 ZGB, in: recht 2000, 119 ff. 14 Jörg Paul Müller: Grundrechte in der Schweiz. Im Rahmen der Bundesverfassung von 1999, der UNO-Pakte und der EMRK, Bern 3 1999, S. 411 ff., insb. 414 sowie ders.: Die Diskriminierungsverbote nach Art. 8 Abs. 2 der neuen Bundesverfassung, in: Ulrich Zimmerli (Hrsg.), Die neue Bundesverfassung, Bern 2000, S. 106 ff.

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Aber auch die einzelnen Diskriminierungstatbestände 15 stellen in der BV nicht nur Verbote einer „Anknüpfung" dar, sondern sind im Sinne eines materiellen Diskriminierungsbegriffs zu verstehen; dies ermöglicht, die Behinderung - neben Geschlecht, Rasse oder Herkunft - als Diskriminierungstatbestand einzubeziehen. Die Schweizer Lösung hat den Vorteil, für alle wirklich oder potentiell diskriminierten Gruppen auch Förderungsmaßnahmen zu ermöglichen. 16 b) Menschenwürde muss auch in zentralen Bereichen sozialer Gestaltung verwirklicht werden: Inmitten klassischer Grundrechtsgarantien findet sich im neuen Text erstmals ein soziales Grundrecht, das jedem Mensch minimale Grundlagen in seiner sozialen Existenz zusichert. 17 In breiterem Umfang findet die elementare Staatsaufgabe der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit in den „Sozialzielen" von Art. 41 Ausdruck. Obwohl eine unmittelbare Begründung von Rechtsansprüchen verneint wird, muss die Verfassungsgarantie doch bei der Auslegung anderer Grundrechte und Verfassungsbestimmungen mit berücksichtigt werden. 18 c) Einen starken inneren Bezug zur Menschenwürde hat die neue „absolute" Garantie eines Kerngehalts jeden Grundrechts (Art. 36 Abs. 4 BV). Dieser erhält seine Konturen wesentlich aus dem Gedanken, dass jedes Einzelgrundrecht auch eine Konkretisierung 19 der Menschenwürde bedeute.20 Zum Glück ist bis heute in der schweizerischen Lehre und Praxis keine Tendenz sichtbar, die Konkretisierung des Kerngehalts auf eine bloße Verhältnismäßigkeitsprüfung zu reduzieren. 21 Auch das Verständnis der Menschenwürde selber weist schweizerische Besonderheiten auf, die auch mit den in der Schweiz besonders ausgeprägten Institutionen der sog. direkten Demokratie in Beziehung stehen. Menschenwürde wird konsequent in einem umfassenden Kantischen Sinn gedacht: als Ausdruck menschlicher Autonomie, die nicht nur moralische, sondern auch politische

15 Gegenüber dem Art. 3 Abs. 3 GG sind in Art. 8 Abs. 2 BV besonders genannt: „Alter", „soziale Stellung", „Lebensform" (worunter die sexuelle Orientierung eines Menschen fällt). 16 Jörg Paul Müller: Grundrechte (Fn. 14), S. 447 ff. 17 Art. 12 B V (Recht auf Hilfe in Notlagen) knüpft mit der Garantie eines „menschenwürdigen Daseins" ausdrücklich an Art. 7 BV (Menschenwürde) an. 18 Jörg Paul Müller: Grundrechte (Fn. 14), S. 425 f., 436 ff. 19 Zur unterschiedlichen Konkretisierung der Menschenwürde bei verschiedenen Grundrechtsgarantien vgl. Jörg Paul Müller: § 38. Allgemeine Bemerkungen zu den Grundrechten, in: Jean-François Aubert/Jörg Paul Müller/Daniel Thürer (Hrsg.), Staatsrecht der Schweiz: ein Handbuch, Zürich 2000. 20 Dazu ausführlich Markus Schef er: Die Kerngehalte von Grundrechten, Bern 2001. 21 Im einzelnen Jörg Paul Müller: Allgemeine Bemerkungen (Fn. 19), Rz. 57 ff. Am weitesten in Richtung einer Relativierung des Kerngehalts gehen Andreas Auer!Giorgio Malinverni!Michel Hottelier: Droit constitutionnel suisse, vol. II, Bern 2000, S. 120.

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Bedeutung hat, und sich im Anspruch auf Selbst- oder Mitgesetzgebung im demokratischen Gemeinwesen äußert. 22 Darum ist folgerichtig, etwa den Kerngehalt der Meinungsfreiheit nicht nur im Anliegen der Unversehrtheit persönlicher, individueller Entfaltung zu sehen, sondern auch aus der Garantie einer unaufgebbaren demokratischen Partizipation an den öffentlichen Meinungsbildungsprozessen zu entfalten. d) Grundrechte sind nach dem Konzept der Bundesverfassung Garantien konkreter persönlicher Entfaltung und sozialer Einbettung; die Einzelpositionen sind aus geschichtlichen Bedrohungen und qualifizierten Schutzbedürfnissen hervorgegangen. Weder die Grundrechte insgesamt noch die Bestimmungen über den Persönlichkeitsschutz 23 können auf die Gewährleistung einer allgemeinen - und damit notwendigerweise formalen - Handlungsfreiheit gegenüber dem Staat reduziert werden. 24 Grundrechtliche Freiheit ist immer konkrete Entfaltungsmöglichkeit oder persönlicher Schutz geschichtlicher Menschen und nicht nur abstraktes „Verteilungsprinzip" der Macht im Rechtsstaat.25 e) Im Bereich der Wirtschaftsverfassung kommen klarer als bisher die verzum Ausdruck: Diese hat einen schiedenen Aspekte der Wirtschaftsfreiheit menschenrechtlichen Gehalt, der sich in der Berufswahlfreiheit (Art. 27 Abs. 2 BV) äußert; der bundesstaatliche Aspekt, d. h. die Garantie eines einheitlichen Wirtschaftsraumes Schweiz kommt mehr in den „Grundsätzen" des Art. 94 BV zum Ausdruck, und der Verfassungsentscheid für die marktorientierte Privatwirtschaft (mitsamt der Unternehmens- und Konsumfreiheit) ist im objektiven Gestaltungsprinzip („Grundsatz") der Wirtschaftsfreiheit verankert (Art. 27 i. V . m . Art. 94 B V ) 2 6 .

2. Grundrechtsschranken Eigene Wege geht der neue Schweizer Verfassungstext auch in der Normierung von Grundrechtsschranken. Es finden sich keine für die einzelnen Grundrechte spezifischen Schranken (bzw. Beschränkungsmöglichkeiten), sondern es 22

Jörg Paul Müller: Grundrechte (Fn. 14), S. 1 ff., sowie ders.: Der politische Mensch - Menschliche Politik, Basel/Genf/München 1999, S. 179 ff. 23

Art. 10, 13,31 BV. In den Formulierungen des Bundesgerichts schützt die Persönliche Freiheit denn auch nur jene „Freiheiten, die elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung darstellen"; statt vieler BGE 118 Ia 305 E4a S. 315 (St. Galler Waffenverordnung) und Jörg Paul Müller: Grundrechte (Fn. 14), S. 7 f. 25 So aber Carl Schmitt: Verfassungslehre, 51970, S. 126 f. 26 Unterschiedliche Bezüge zur Menschenwürde sind auch im Entwurf einer EUGrundrechtscharta sichtbar: Auch sie unterscheidet zwischen einer Berufsfreiheit (Art. 15) und einer Unternehmerischen Freiheit (Art. 16). 24

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sind in Art. 36 allgemeine Kriterien erwähnt, die insgesamt oder einzeln immer zu beachten sind, wenn der Schutzbereich eines Freiheitsrechts geschmälert oder der Wirkungsbereich einer anderen Garantie (etwa einer Verfahrensgarantie, einer Konkretisierung des Gleichheitssatzes oder eines sozialrechtlichen Anspruchs) bestimmt werden soll. 27

I I I . Internationale Garantien und nationale Grundrechte

1. Verhältnis Völkerrecht - Landesrecht in der Schweiz In der Schweiz ist das Verhältnis Völkerrecht - Landesrecht 28 grundsätzlich unbestritten im Sinne eines automatischen Vorrangs des Völkerrechts vor dem Landesrecht entschieden.29 Unsicherheiten sind wie in anderen Staaten wegen der zunehmenden und umfassenden Imprägnierung des Landesrechts durch staatsvertragliche Bestimmungen aufgetaucht. 30 Der grundsätzliche Vorrang des Völkerrechts wurde vor allem durch die sog. „Schubert"-Praxis in Frage gestellt, wonach es dem Gesetzgeber offenstehen muss, eine staatsvertragliche Bindung nachträglich zurückzudrängen. 31 Dieser Relativierung des innerstaatlichen Primats des Völkerrechts wirkt eine neue Tendenz der höchstrichterlichen Rechtsprechung entgegen: Staatsverträgen mit menschenrechtlichen Garantien wird ein besonderer Vorrang eingeräumt. 32 Dies bedeutet insbesondere, dass die von der Schweiz ratifizierten Garantien der EMRK (und ebenso der UNOPakte) gegenüber anderem Völkerrecht eine privilegierte Stellung genießen.

27

Jörg Paul Müller: Allgemeine Bemerkungen (Fn. 19), Rz. 49 ff. Aus der neueren Literatur vgl. statt vieler Thomas Cottier/Maya Hertig: Das Völkerrecht in der neuen Bundesverfassung: Stellung und Auswirkungen, in: Ulrich Zimmerli (Hrsg.), Die neue Bundesverfassung, Bern 2000, S. 1 ff. 29 So auch für den Vorrang eines früheren Staatsvertrages gegenüber einem späteren Bundesgesetz der leading case Frigerio, BGE 94 I 669 E6a S. 678 f.; dazu Jörg Paul Müller!Luzius Wildhaber: Praxis des Völkerrechts, Bern 3 2000, S. 167 f. Vgl. dazu auch Kayserl Richter (Fn. 10), 1024 ff. 30 Vgl. zu diesem Problemkreis Heinrich Scholler (Fn. 5), S. 47, 51 f. 31 BGE 99 Ib 39 E4 S. 44 f. (Schubert); vgl. dazu Walter Kälin: Schubert und der Rechtsstaat oder: Sind Bundesgesetze maßgeblicher als Staatsverträge?, in: ZSR 1993/1, 73 ff. 32 BGE 125 I I 417 ff. (PKK): „Diese Konfliktregelung drängt sich umso mehr auf, wenn sich der Vorrang aus einer völkerrechtlichen Norm ableitet, die dem Schutz der Menschenrechte dient" (E4c S. 425); vgl. auch BGE 123 II 193 ff. (Flughafenverfahren) und die zusammenfassende Darstellung in Jörg Paul Müller: Verfassung und Gesetz (Fn. 13), 124 f. 28

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2. Die Grundrechtsgesetzgebung 1998 in Großbritannien Eine i m Ergebnis ähnliche Entwicklung ist in Großbritannien zu beobachten: I m Jahre 1998 hat sich das britische Parlament nach zahlreichen Anläufen 3 3 entschlossen, die E M R K in die britische Verfassungsordnung 34 einzubetten, damit die Konventionsrechte auch in Großbritannien unmittelbar Rechte und Pflichten für den Einzelnen begründen können. 3 5 Das Unterhaus hat die E M R K in der Form eines Parlamentsgesetzes, des Human Rights Acts 1998 ( H R A 1998), in das britische Recht inkorporiert. Er trat am 2. Oktober 2000 in Kraft. Für Kollisionen zwischen Forderungen der Konvention und Parlamentsgesetzen (primary legislation) 3 6 sieht der H R A 1998 folgende Grundsätze v o r : 3 7 (1) Gerichte und Behörden sind verpflichtet, Parlamentsgesetze so weit wie möglich in Übereinstimmung m i t den Konventionsrechten zu interpretieren

und

anzuwenden. „So far as it is possible to do so, primary legislation and subordinate legislation must be read and given effect in a way which is compatible with the Convention rights." 38 (2) Kann durch Auslegung den Anforderungen der Konvention nicht entsprochen werden, so sieht der H R A 1998 ein interessantes Verfahren vor. Die 33

Einen konzisen Überblick zu den bisherigen Anstrengungen, die EMRK in das britische Recht zu inkorporieren, geben Rainer Grote: Die Inkorporierung der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998, in: ZaöRV 1998, 327 ff., und Andrew Clapham: The European Convention on Human Rights in the British Courts. Problems Associated with the Incorporation of International Human Rights, in: Philip Alston (ed.), Promoting Human Rights Through Bills of Rights. Comparative Perspectives, Oxford 1999, S. 117 ff. 34 Zum britischen Verfassungsverständnis vgl. Marius Baum: Rights Brought Home, in: EuGRZ 2000, 282 ff; vgl. auch Grote (Fn. 33), 309 f. 35 Obwohl Großbritannien die EMRK schon 1951 ratifiziert hat, konnten sich die Betroffenen aufgrund des dualistischen Systems - im Gegensatz zum schweizerischen Monismus - innerstaatlich nicht direkt auf die Normen der EMRK berufen. Die Garantien der EMRK wurden von den Gerichten aber bereits vor der Inkorporierung in das Landesrecht bei der Auslegung von Gesetzen berücksichtigt, dazu Clapham (Fn. 33), S. 95 ff. 36 Für „subordinate legislation" gilt eine andere Regelung: Konventionswidrige „subordinate legislation" kann grundsätzlich von den Gerichten für nichtig erklärt werden. Eine solche Nichtigkeitserklärung ist nur dann untersagt, wenn das der „subordinate legislation" zugrundeliegende Ermächtigungsgesetz die Aufhebung der erlassenen Vorschriften verbietet; dazu Grote (Fn. 33), 341. 37 Der HRA 1998 besteht aus zwei Hauptteilen: Zunächst werden unter dem Titel „Arrangement of sections" konkrete Regeln aufgeführt, die im Falle eines Konfliktes zwischen den materiellen Bestimmungen der inkorporierten EMRK und widersprechenden Parlamentsgesetzen Anwendung finden. Unter dem Titel „Schedules" werden die materiellen Bestimmungen der EMRK wiedergegeben. 38 Section 3(1) HRA 1998.

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Gerichte 39 haben beim Konflikt zwischen dem Wortlaut eines Gesetzes und einer Anforderung der EMRK im Urteil die Konventionswidrigkeit festzuhalten: Das Gericht muss im Entscheid eine ^declaration of incompatibility " formulieren, die dem Justizminister zur Kenntnis zu bringen ist. 40 Er kann nun vom Parlament eine Gesetzesänderung in einem beschleunigten Verfahren verlangen. 41 (3) Die Bestimmungen des HRA 1998 sehen auch eine präventive Kontrolle von Parlamentsgesetzen bezüglich ihrer Übereinstimmung mit den materiellen Garantien der EMRK vor: 42 Jedes Gesetz muss vor der zweiten Lesung im Parlament vom zuständigen Minister auf seine Grundrechtskonformität überprüft und das Ergebnis dem Parlament fur seine Beratungen mitgeteilt werden. Der HRA 1998 findet auf alle EMRK-Garantien Anwendung; es ist aber unverkennbar, dass ein Anliegen der Parlamentarier war, der Gedankens-, Gewissens· und Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) und insbesondere der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) ein ganz besonderes Gewicht zu verleihen: Etwa in Konflikten zwischen Pressefreiheit und dem Schutz der Privatsphäre wird den Interessen der Presse ein gewisses Mehrgewicht zugesprochen.43

IV. Schluss Die geschilderten Entwicklungen in der Schweiz und in Großbritannien zeigen nicht nur eine neue Relevanz der Grundrechte im Verfassungsstaat, sondern auch eine stärkere Porosität der Landesrechte gegenüber dem Völkerrecht, soweit dieses menschenrechtliche Garantien enthält. Vielleicht könnte die stärkere Einordnung des nationalen Rechts in den internationalen Menschenrechtsschutz, wie wir sie in Großbritannien und der Schweiz beobachten, für 19 Einzig die oberen Gerichte sind zu einem solchen Vorgehen ermächtigt: Section 4 (5) HRA 1998. 40 Die „declaration" hat keinen Einfluss auf die Gültigkeit des widersprechenden Parlamentsgesetzes: Section 4 (6a) HRA 1998. 41 Zu diesem Verfahren siehe Section 4 und 10 des HRA 1998. Mit diesem Verfahren trägt der HRA 1998 zugleich dem traditionellen Verfassungsprinzip der Parlamentssouveränität und dem politischen Anliegen einer lückenlosen Durchsetzung der EMRKGarantien Rechnung. Lord Chancellor Irvine hat dies als „willfull manifestation of legislative shizophrenia" bezeichnet. Siehe dazu Stefan Schieren: Der Human Rights Act 1998 und seine Bedeutung für Großbritanniens Verfassung, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 4/1999, 1008. Vgl. auch Grote (Fn. 33), 342; Clapham (Fn. 33), S. 150 f. 42

Section 19; dazu Grote (Fn. 33), 347 ff. Section 12 und 13, insb. S. 12 (4): „The court must have particular regard to the importance of the Convention right to freedom of expression ..." Vgl. dazu Baum (Fn. 34), 302. 43

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Deutschland Impulse geben, wo das Grundgesetz und die Verfassungsgerichtsbarkeit noch weithin als alleiniger Hort der Grundrechte im souveränen Staat verstanden werden.

6 Schünemann u. a.

Die Religionsfreiheit als Verfassungswert in Ungarn Von Antal Adam

I. Die Religion und die Religionsfreiheit 1. Die Religion kann man als die Gesamtheit von bestimmten in ein System geordneten und erklärten Glaubenssätzen, sowie der sich an sie anschließenden Verhaltensnormen definieren. Als ein weiteres Element der Religion ist auch die Zugehörigkeit der Gläubigen zu einer Konfessionsgemeinschaft, d. h. zu der entsprechenden Kirche zu betrachten. Die Glaubenssätze und die diesbezüglichen Verhaltensregeln umfassen die Persönlichkeit des Menschen und spielen sowohl eine bestimmende Rolle für das Bewußtsein der Menschenwürde als auch für die jeweilige Entfaltung und Verwirklichung der Persönlichkeit. Aus diesen kurzgefaßten Feststellungen läßt sich u. a. erkennen, daß die Religion eine Variante der Weltanschauung ist. Die Weltanschauung hat daneben jedoch auch eine religionslose oder atheistische, materialistische und der Religion gegenüber gleichgültige Untergliederung. 2. Die Religionsfreiheit gilt in Ungarn als ein völkerrechtlich und auch verfassungsrechtlich garantiertes Grundrecht, das ohne Rücksicht auf die staatsbürgerliche Zugehörigkeit jedermann zusteht. Für die Religionsfreiheit als Grundrecht können zahlreiche, annähernd zwanzig, Teilberechtigungen angegeben werden. A u f der Grundlage der Religionsfreiheit ist ein jeder berechtigt 1) zur Annahme einer Religion, 2) zu deren Wahl, 3) zu deren Änderung, 4) zu deren Verlassen, 5) zu ihrer Ausübung, und zwar öffentlich oder im privaten Kreis, gemeinsam mit anderen oder individuell, durch bestimmte religiöse Handlungen oder in anderer Weise, 6) zum öffentlichen Bekenntnis, 7) zur Weglassung des Bekenntnisses, 8) zur individuellen Aneignung der Kenntnisse über eine Religionslehre, 9) zur Teilnahme am Religionsunterricht, 10) zur Geltendmachung des Verbots der staatlichen Registrierung der Religionszugehörigkeit, 11) zur gemeinsamen Gründung einer Religionsgemeinschaft oder Kirche unter den vorgeschriebenen Bedingungen, 12) zur Teilnahme am Glaubensleben und an den Zeremonien einer Kirche, 13) zur Wahl der religiösen Erziehung seiner Kinder in der Schule, 14) zur religiösen Bekräftigung seines amtlichen Eides, 15) zur Beanspruchung der Nichtanwendung einer benachtei6*

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An tal Adam

ligenden Behandlung, d. h. einer Diskriminierung, 16) zur Verweigerung des Waffendienstes aus auf die religiöse Überzeugung zurückgreifenden Gewissensgründen und statt dessen zur Übernahme eines verbindlichen Zivildienstes, 17) zur staatlichen Unterstützung und zum Schutz der sich aus der Religionsfreiheit ergebenden Rechte bei deren Verwirklichung. Ich möchte gleich bemerken, daß diese Aufzählung nicht als vollständig und abgeschlossen anzusehen ist, zumal sich eine jede der aufgeführten Komponenten noch detaillieren läßt, bzw. daß außer den genannten weitere Formen der Verwirklichung der Religionsfreiheit anzuführen wären. Es ist aber auch unter Berücksichtigung der aufgezählten Teilberechtigungen nicht zu bestreiten, daß die Religionsfreiheit einerseits ein individuelles, andererseits ein gemeinschaftliches Freiheitsrecht darstellt. Die den Kirchen zugesicherten Rechte schließen sich aber zum größten Teil den aufgeführten individuellen oder gemeinschaftlichen Teilberechtigungen der Religionsfreiheit an, doch finden wir unter ihnen auch besondere, mit diesen nur in einem weiteren Zusammenhang stehende, den Organen und den Priestern der Kirche(n) zukommende Rechte. Die Gewährleistung der Religionsfreiheit und die Bestimmung ihrer Geltung durch Gesetz und andere Rechtsnormen, deren Wahrnehmung durch die Kirche sowie ihre individuelle Befolgung insgesamt machen die Religion, die Religionsfreiheit, die Kirche zu einer im Rahmen staatlicher Normen existierenden und geltenden, wertvollen, verfassungsmäßigen Institutionengruppe. 3. Die Gewissens- und Religionsfreiheit wird allgemein auch in den internationalen Pakten und in den nationalen Grundgesetzen zusammen mit der Gedankenfreiheit festgelegt. Die in der berühmten französischen Deklaration über die Rechte des Menschen und der Bürger vom 26. August 1789 erklärte Gedankenfreiheit ist auf der Basis der Aufklärung entstanden und war auf zwei Ziele gerichtet. Sie wandte sich gegen die Lösung der christlichen Religionen, wonach bestimmte Gedankeninhalte schon an sich verboten waren und zur Sünde erklärt wurden. Zugleich bedeutete und bedeutet die Gedankenfreiheit die Freiheit zur Meditation, d. h. zum Herausbilden des Denkens und der Überzeugung. Diese Komponente schließt sich unmittelbar der Gewissensfreiheit an, zumal diese mit der Freiheit der Gestaltung des Bekenntnisses und der Befolgung der Überzeugung gleichbedeutend ist. Gegenstand und Inhalt der Überzeugung weisen eine nahezu unaufzählbare Mannigfaltigkeit auf. Von den Überzeugungen verschiedenen Inhalts kann aber die Überzeugung in Fragen der Weltanschauung, der Religion, der Moral, der Politik, der Wissenschaft und der Kunst hervorgehoben werden. Aufgrund der vorangehenden Darlegungen ist festzustellen, daß die Religionsfreiheit eine nach ihrem Gegenstand bezeichnete Unterkategorie der Gewissensfreiheit ist. Auf die Gewissensfreiheit als Grundlage, und nicht die Religionsfreiheit als Grundlage, kann jedermann seine Weltanschauung bauen, die

Die Religionsfreiheit als Verfassungswert in Ungarn

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atheistisch, materialistisch oder in religiöser Hinsicht gleichgültig sein kann. Aufgrund der Gewissensfreiheit - unter Berufung auf Gewissensgründe - ist ein nichtreligiöser Staatsangehöriger zur Verweigerung des Waffendienstes beim Militär berechtigt. Bei den wissenschaftlichen Untersuchungen über das Wesen der Religion ist es eine umstrittene Frage, ob eine in absoluter Weise individuelle, von den in ein System gefaßten Religionen abweichende, eine Befolgung seitens anderer Personen nicht beanspruchende, jedoch einen Glauben voraussetzende Auffassung von religiösem Charakter - unter Berücksichtigung des umrissenen Begriffes der Religion - als Religion betrachtet werden kann. Ich bin der Ansicht, daß eine derartige, in absoluter Weise individuelle, auf einem Glaubensprinzip beruhende Auffassung nicht als Religion anzusehen ist, da sie der Manifestierung des Anspruches auf eine Befolgung durch andere sowie des Bestehens einer religiösen Gemeinschaft und der Angehörigkeit zu einer solchen ermangelt. Die Herausbildung einer solchen individuellen Glaubenskonzeption ist gleichfalls nicht durch die Religionsfreiheit, sondern durch die über deren Bereich hinausgehende Gewissensfreiheit gewährleistet. 4. Es läßt sich kaum bezweifeln, daß die Religion eine besondere persönliche Sache ist. Trotzdem kann die Religion nicht ausschließlich als private Angelegenheit angesehen werden. Die Zugehörigkeit zu einer Religion und zu einer Kirche, die Befolgung einer Religion, die Tätigkeit der Kirche bzw. der Kirchen war in den vergangenen Epochen der Geschichte nicht bloß eine private Sache und ist es auch heute, unter den Bedingungen des modernen Verfassungsstaates, nicht. Es ist allgemein bekannt, daß die Religionen in allen bedeutenden Kulturkreisen der Erde bei der Gestaltung der Geschichte und der Gesellschaft eine bestimmende Rolle gespielt haben und zur Entwicklung der Wissenschaften, der Künste, der Kultur, der staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen beigetragen haben. Die Religionen haben oft die Grundlage für die nationale Identität geschaffen und diese gestärkt. In mehreren Ländern hatten sie zur Entstehung des Patriotismus, in manchen Fällen des übersteigerten Nationalbewußtseins beigetragen. In der Religions- und Kirchengeschichte fehlte es nicht an blutigen Religionskriegen, an grausamen Bestrafungen der Ketzer und am Mißbrauch der Kirchenmacht. Solchen Erscheinungen begegnet man leider auch in unseren Tagen. Die Zusammenhänge zwischen Politik und Kirche veranschaulicht auch die Tatsache, daß politische Parteien - unabhängig von ihrer weltanschaulichen Auffassung - zum Zweck ihrer politischen Unterstützung dem Profil der religiösen Schichten und der Rücksichtnahme auf deren Ansprüche zunehmend Aufmerksamkeit widmen.

I I . Die Religion als Verfassungswert 1. Es ist eine natürliche Äußerung des zum Bewußtsein erwachten Menschen, daß er sich über seine Umwelt ein Werturteil bildet, das Verhalten ande-

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rer Menschen und sein eigenes Verhalten beobachtet und beurteilt. So ist er imstande, zwischen dem für ihn Vorteilhaften, Günstigen und dem für ihn Nachteiligen einen Unterschied zu machen sowie die günstigen Erscheinungen und die für ihn nützlich zu verwendenden Phänomene und Gegenstände nach einer bestimmten Rangstellung zu ordnen. Eine stabile individuelle Wertanschauung und eine beständige gemeinschaftliche Wertordnung bildet sich jedoch erst später, im Ergebnis einer länger andauernden, konsequenten Übung heraus. Hierzu ist unerläßlich, daß sich die Wertanschauung im Menschen internalisiert, d. h. seinen Geist, seine Gesinnung, Gefühle und Äußerungen durchdringt, und auch in der Gemeinschaft verinnerlicht wird, d. h. sich an der Gemeinschaft orientiert, zu einer Gewohnheitsordnung wird, wodurch die Gemeinschaft von ihren Mitgliedern die Beachtung der Wertordnung erwartet, ja sogar im gegebenen Fall ihre Mitglieder mit Hilfe verschiedener Mittel und Methoden zur Befolgung der gemeinschaftlichen Wertauffassung veranlaßt. Unabhängig davon, worauf sich auch immer die individuelle Wertanschauung oder die gemeinschaftliche Wertauffassung bezieht, ist es ihnen doch gemeinsam, daß sie stets eine beeinflussende, regulative Wirkung haben. Es ist somit selbstverständlich, daß sämtliche Normengruppen, insbesondere die religiösen, moralischen sowie die Anstandsregeln ihren Ursprung in Werten haben und auf Werte gerichtet sind. 2. Die in der Verfassung des Staates enthaltenen Normen beziehen sich zum größten Teil auf Werte, auf deren Begründung, Entwicklung, Wahrung und Schutz die verfassunggebende Gewalt bedacht war. Die durch die verfassungsmäßigen Rechtsstaaten unseres Zeitalters zu verwirklichenden und zu schützenden Werte sind zu einem erheblichen Anteil von den Traditionen der europäischen Kultur bestimmt - vor allem durch die politische und moralische Kultur der griechische Antike, durch die Prinzipien des römischen Rechts, durch die aus den göttlichen Geboten (ius divinum), den Gesetzmäßigkeiten der Natur oder aus der Vernunft hergeleiteten Grundsätze des Naturrechts, durch die moralischen Normen der jüdisch-christlichen Religionen, durch die Lehren der Renaissance, der Reformation, der Aufklärung, durch die sozialistisch geprägten Ideen - und zuletzt auch bestimmt von den völkerrechtlichen Abkommen, die nach dem zweiten Weltkrieg in Anbetracht der Grausamkeiten der Kriege, der blutigen Mißbräuche der Diktaturen in internationaler Zusammenarbeit geschlossen und in denen wichtige Grundsätze, Verbote, Grundrechte und andere Werte formuliert worden sind. Von den Verfassungswerten des verfassungsmäßigen Rechtsstaates kommt mithin den demokratischen Grundsätzen, den Verboten gegen besonders gefährliche Formen des Mißbrauchs sowie den Menschen- und Bürgerrechten, bestimmten Grundpflichten und anderen Werten eine herausragende Bedeutung zu. Obwohl diese Werte in Anbetracht der verpflichtenden völkerrechtlichen Abkommen und der Gegebenheiten des jeweiligen Landes durch die verfassunggebende Gewalt festgelegt werden, gelten sie doch als von jedermann zu beachtende, gemeinsame Werte, zumal sie die Vielfalt der Auffassungen, Reli-

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gionen, Interessen und Bestrebungen garantieren. Die Pluralität ist sehr weitläufig, abwechslungsreich und veränderlich. Diese Vielfalt hat aber sehr wesentliche, nicht zu übersehende Schranken. Sie erlaubt nämlich nicht, daß ein Anschauungssystem zur Macht gelangt, das sich die Aufhebung der Geltung der Pluralität zum Ziel setzt. Die verfassungsmäßigen Werte kommen aber nicht immer parallel und problemlos zur Geltung. Es kommt vor, daß Verfassungswerte, wenn sie durchgesetzt werden, miteinander konkurrieren und kollidieren. Auch besteht die Möglichkeit, daß ein Verfassungswert nicht durch einen gleichrangigen Wert, sondern lediglich durch einen einfacheren, rechtlich festgehaltenen Wert eingeschränkt oder durch einen nicht als rechtlich geltenden - wirtschaftlichen, kulturellen, künstlerischen oder sonstigen - Wert beeinträchtigt wird. Die Verletzung eines religiösen Wertes ist in dem Fall als am dramatischsten anzusehen, wenn dies durch ein rechtlich ausdrücklich verbotenes und als Unwert geltendes Verhalten, also durch eine Straftat oder eine Ordnungswidrigkeit verursacht wird. Die Wertkollisionen oder die durch verbotene Handlungen herbeigeführten Wertverletzungen werden allgemein im gerichtlichen Verfahren oder - bei Ordnungswidrigkeiten - im Verwaltungsverfahren beurteilt. Die Auflösung von Kollisionen zwischen den in der Verfassung enthaltenen und zumeist durch Rechtsnormen übermittelten Werten fällt aber in die Kompetenz des Verfassungsgerichtes. In der Mehrheit der durch das Verfassungsgericht beurteilten Fälle kollidieren Verfassungswerte oder durch völkerrechtliche Abkommen geschützte Werte. Deshalb ist die Behauptung begründet, daß der Verfassungsgerichtsbarkeit überwiegend die Aufgabe zukommt, verfassungsrechtlich geschützte Werte zueinander ins Verhältnis zu stellen. Dieses „in Relation setzen" ist aber im allgemeinen mit der Bestimmung der Rangstellung von Werten verbunden. Das Recht auf Äußerung der Religion betrachten der in Straßburg tätige Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und auch das Verfassungsgericht der Republik Ungarn als einen Rechtswert von herausragender Tragweite. Beide Gerichtshöfe wenden bei ihren Entscheidungen in Fragen der Kollision zwischen der Religionsfreiheit und anderen Werten das Kriterium der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit an. 3. Für die religiöse Pluralität ist es in theoretischer und zumeist auch in praktischer Hinsicht am günstigsten, wenn der zum Schutz der Verfassungswerte berufene Staat weltanschaulich neutral ist und diese Neutralität auch hinsichtlich der Religionen zur Geltung kommt. Wenn er sich also zu keiner Weltanschauung bekennt und sich mit keiner einzigen Religion identifiziert, zugleich aber die durch die zuständigen staatlichen Behörden bestimmungsgemäß registrierten, also nicht verfassungswidrigen und die allgemeinen Gesetze des Staates anerkennenden Religionen, Kirchen und deren Pluralität und Gleichberechtigung als schutzbedürftige Werte betrachtet. Somit ist der Staat ihnen gegenüber nicht gleichgültig und bietet ihnen zu ihrer Existenz, ihrer Tätigkeit und zur Ausübung der Religion eine institutionelle Unterstützung. Erfahrungs-

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gemäß ist aber der Staat zu einem solchen Verhältnis zur Religion und den Kirchen und zu einer solchen Aktivität insbesondere dann imstande, wenn in der Verfassung die Trennung von Kirche und Staat vorgeschrieben ist und wenn dieses Erfordernis angemessen zur Geltung kommt. Diese Feststellung veranlaßt dazu, uns - in einem gleichfalls skizzenhaften Überblick - mit der Frage des Verhältnisses zwischen den Kirchen und dem Staat auseinanderzusetzen.

Ι Π . Das Verhältnis des Staates zu den Kirchen Das Verhältnis des Staates zu den Kirchen war im Laufe der Geschichte und ist auch in unserer Zeit durch eine Vielzahl von Varianten gekennzeichnet. Man denke beispielsweise an das byzantinische Staatskirchentum, an den sogenannten Cäsaropapismus, an das fränkische, englische und skandinavische Staatskirchentum, an die von Papst Gregor VII. und Papst Bonifaz VIII. angekündigte und angestrebte Kirchenstaatlichkeit, an das Konzept der „beiden Schwerter", an den diesem gegenüber stehenden Gallikanismus, an die territorialen Systeme der „Eigenkirche" und den Grundsatz „Cuius regio, eius religio", an die Staatskirche, Nationalkirche, an die dominante Stellung der Mehrheitskirche, an die privilegierte öffentlich-rechtliche Position der historischen Religionen und Kirchen. Vom theoretischen und praktischen Standpunkt her hat in weiten Kreisen die Auffassung Anerkennung gefunden, daß in einem verfassungsmäßigen Rechtsstaat die Religionsfreiheit, die weltanschauliche, religiöse und kirchliche Pluralität sowie deren formale Gleichberechtigung ein konsistentes, d. h. widerspruchsfreies und ein kohärentes, aufeinander aufbauendes, wertvolles System bilden sollten. Was bedeutet nämlich das als wertvoll zu bezeichnende, also günstige System der aufgezählten Komponenten? Diese Komponenten bilden ein integrierbares System, in dem die Selbständigkeit der Kirchen und des Staates vorteilhaft zur Geltung kommen kann. Aufgrund der ungarischen Verfassung und der diesbezüglichen Judikatur des Verfassungsgerichtes sollte in Ungarn dieses System besonders folgende Prinzipien einschließen: 1. Der in Glaubensfragen neutrale und von den Kirchen getrennte Staat darf zu Glaubenssätzen nicht Stellung nehmen, er darf sich in das innere Leben der Kirchen nicht einmischen, er darf in inneren Angelegenheiten der Kirche nicht entscheiden, sich mit keiner der Kirchen organisatorisch verflechten und zur Durchführung kirchlicher Normen keinen Zwang anwenden. Außerdem darf der Staat nicht die Eintreibung kirchlicher Steuern übernehmen. 2. Es ist zu betonen, daß in einem modernen Rechtsstaat, so auch in Ungarn, die Separation nicht zur Isolation zwischen Staat und Kirche führen kann. Es handelt sich hierbei um ein partnerschaftliches Verhältnis von autonomen Be-

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teiligten. Das Mittel hierzu in zahlreichen Angelegenheiten von öffentlichem Interesse ist die Zusammenarbeit und die gegenseitige Unterstützung. Die gegenseitige Unterstützung baut aber in der Regel nicht auf materieller oder finanzieller Äquivalenz auf, sondern auf einer spirituellen, politischen und kulturellen Interessiertheit höheren Ranges und dient Zielen des Gemeinwohls. Dieses Verhältnis kann sich außerdem im Bestreben nach der Wahrung des Gleichgewichts im Wettbewerb, in der Kritik und in gegenseitiger Stimulierung äußern. Die Zusammenarbeit von Staat und Kirche hat in Ungarn traditionell zahlreiche Formen und Bereiche. Diese Bereiche werden auch im Gesetz IV vom Jahre 1990 über die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie über die Lage der Kirchen aufgeführt. In diesem Rahmen werden die Kirchen berechtigt, Lehrund Erziehungsanstalten, soziale, kulturelle Anstalten, Institutionen für den Gesundheitsschutz, Kinder- und Jugendschutz sowie für den Sport zu gründen und aufrechtzuerhalten. Eine herausragende Rolle kommt den Kirchen in der Seelsorge, der moralischen Erziehung, bei der Bekämpfung der Kriminalität sowie der Rauschgiftsucht und schließlich bei der Entwicklung von Fertigkeiten und Fähigkeiten zu, die für ausgeglichene, korrekte menschliche Beziehungen förderlich sind. Trotz der aufgeführten Merkmale der Beziehungen zwischen dem Staat und den Kirchen sind die letzteren keine Körperschaften des öffentlichen Rechts. Sie dürfen keine Befugnisse der öffentlichen Machtorgane ausüben. 3. Meine Darlegungen über das Verhältnis zwischen Kirche und Staat in Ungarn möchte ich mit einer kurzen Analyse von drei zeitgemäßen Problemen dieses Themenbereiches schließen. Das erste Problem hängt mit der Gleichberechtigung der Kirchen, das zweite mit der Gründung neuer Kirchen und das dritte mit dem Stand des Staatskirchenrechtes zusammen. a) Die Gleichberechtigung der Kirchen bedeutet die allgemeine, formale Gleichberechtigung der Kirchen vor dem Gesetz hinsichtlich der Ausübung der Religionsfreiheit. Diese Gleichberechtigung schließt nicht aus, daß die sich in der Größenordnung der einzelnen Kirchen zeigenden tatsächlichen Unterschiede berücksichtigt werden, andererseits hindert die Gleichberechtigung den Staat nicht daran, daß den Kirchen, die in den mit ihnen geschlossenen Kooperationsabkommen zusätzliche Aufgaben bzw. die Wahrnehmung zusätzlicher Aufgabenbereiche übernommen haben, ergänzende staatliche Unterstützungen gewährt werden. b) Die historischen Kirchen sowie bestimmte politische Kräfte und auch mehrere Fachleute haben schon seit längerer Zeit den Anspruch geäußert, daß man für die Gründung neuer Kirchen künftig präziser bestimmte und zugleich strengere Voraussetzungen vorschreiben sollte. Es kann nicht in Abrede gestellt werden, daß die geltende Regelung in Ungarn sehr großzügig, liberal und zudem auch ungenau ist. Demnach können bereits einhundert natürliche Personen eine neue Kirche gründen. Zur staatlichen Anerkennung einer neuen Kirche,

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d. h. zu ihrer Eintragung beim Komitatsgericht ist bloß die Einreichung der von den Gründern angenommenen Satzung erforderlich, in der Frage des Konzeptes der Glaubenssätze wird aber nur eine Erklärung verlangt, die besagt, daß die Glaubenssätze nicht gegen die Verfassung und die Gesetze verstoßen. Meinerseits halte ich Forderung nach einer Erhöhung der Zahl der Antragsteller zur Gründung einer neuen Kirche für begründet, doch möchte ich bemerken, daß eine diesbezügliche Neuregelung keine rückwirkende Geltung haben dürfte. Auch halte ich es für angezeigt, daß bei der Gründung einer neuen Kirche die Gründer verpflichtet werden, durch ihren Vertreter auch eine Konzeption über die Glaubenssätze bei dem zur Eintragung zuständigen Gericht einzureichen. Im Anschluß daran würde das Gericht unter Beachtung des Gutachtens einer Expertenkörperschaft - bestehend aus Vertretern der anerkannten Kirchen und aus Fachleuten der Religionswissenschaften - darüber entscheiden, ob die im Antrag umrissenen Glaubenssätze als Religion gelten und ob sie nicht den Verfassungswerten entgegenstehen. Die Eintragung könnte - mit einer sich auf das Territorium des ganzen Landes erstreckenden Zuständigkeit - in die Kompetenz des Hauptstädtischen Gerichtes verwiesen werden. Ich bin auch mit der Vorstellung einverstanden, wonach es für die Erlangung der Rechtspersönlichkeit der inneren Organe der neuen Kirche nicht genügt, daß diese inneren Organe nur in der Satzung der neuen Kirche aufgezählt werden. Für die Erlangung der Rechtspersönlichkeit der inneren Organisationseinheiten wäre gleichfalls eine Eintragung bei Gericht erforderlich. c) Das Staatskirchenrecht umfaßt all jene besonderen Bestimmungen von Rechtsnormen, welche der Staat im Einklang mit dem Recht auf Religionsfreiheit zum Schutz der Religionsausübung erläßt, und zwar in bezug auf den schulischen Religionsunterricht, die Tätigkeit der von den Kirchen aufrechterhaltenen Ausbildungs- und sonstigen Anstalten, die Seelsorge in den Krankenhäusern, Gefangnissen und bei den Streitkräften, weiterhin in bezug auf die die Kirchen bzw. die geistlichen Personen betreffende Sozialversicherung, Besteuerung, den Militärdienst und das Versammlungs- und Vereinigungsrecht. Der Feststellung, wonach in diesem Normenmaterial noch immer bedeutsame Rechtslücken, unzeitgemäße und miteinander nicht im Einklang stehende Vorschriften zu finden sind, kann man zustimmen. Somit scheint der Anspruch, daß der Rechtsstoff des Staatskirchenrechts zusammengefaßt und in Zusammenarbeit mit den Vertretern der Kirchen analysiert, bewertet und schließlich modernisiert werden sollte, rational und begründet zu sein.

Die gerichtliche Prüfung des slowenischen Verfassungsgerichts hinsichtlich des Legalitätsprinzips, der Verhältnismäßigkeit und des freien Ermessens

Von Lovro Sturm

I. Einleitung Im Jahre 1991 wurde Slowenien ein unabhängiger, international anerkannter Staat, im Prozeß der Transition aus dem ehemaligen totalitären politischen System in ein modernes politisches und rechtliches System mit freiheitlicher und demokratischer Gesellschaftsordnung. Die Verfassung der Republik Slowenien aus dem Jahre 1991 (Amtsblatt der RS, Nr. 33/91) führte das Prinzip der Gewaltenteilung ein und wies dem Verfassungsgericht die Stellung des höchsten Organs der Justizbehörde zum Schutz der Verfassungs- und Gesetzmäßigkeit und zum Schutz der Menschenrechte zu. Die Kompetenzen des slowenischen Verfassungsgerichts sind denen des deutschen Bundesverfassungsgerichts ähnlich. Unter anderem entscheidet es beispielsweise über die Aufhebung verfassungswidriger Gesetze, über die Aufhebung oder Ungültigmachung der Verwaltungsvorschriften, es entscheidet über die Verfassungsbeschwerden wegen Menschenrechtsverletzung. Die Verfassungsbestimmungen zu den Kompetenzen und zum Verfahren wurden durch das Verfassungsgerichtsgesetz (Amtsblatt der RS, Nr. 15/94) analysiert. Das Verfassungsgericht beschloß seine Geschäftsordnung am 14. Mai 1998 (Amtsblatt der RS, Nr. 49/98). Das Verfassungsgericht setzt sich aus neun Mitgliedern einschließlich des Präsidenten zusammen. Die Verfassungsrichter werden auf Vorschlag des Präsidenten der Republik von der Staatsversammlung gewählt. Den Präsidenten des Verfassungsgerichts wählen die Verfassungsrichter untereinander mit einer Amtszeit von drei Jahren. Die Amtsperiode der Verfassungsrichter dauert neun Jahre, die Verfassungsrichter können nicht ein zweites Mal gewählt werden.

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I I . Die Bindung der Verwaltung an das Gesetz (Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung) Der Grundsatz einer strengen Bindung der Verwaltung an das Gesetz gilt in der slowenischen Rechtsdoktrin bereits seit über 30 Jahren. Das Legalitätsprinzip wird in der Rechtstheorie in dem Sinne festgesetzt, daß die Beziehungen zwischen der Gesetzgebungs- und Vollzugsgewalt als eine inhaltliche Bindung der Exekutive an das Gesetz bestimmt sind. Das Gesetz muß als Grundlage von Verwaltungsvorschriften und konkreten Verwaltungsakten dienen, diese Handlungen müssen allerdings auch inhaltlich durchgehend im gesetzlichen Rahmen erfolgen. Bei ihren Rechtsgeschäften sind die Regierung und die Verwaltung inhaltlich an den Willen des Gesetzgebers gebunden und müssen die Wertkriterien bei dem Vollzug des Gesetzes berücksichtigen. Der Sinn und die Kriterien müssen im Gesetz klar ausgedrückt werden oder daraus unmißverständlich hervorgehen. Wenn der Gesetzgeber im Gesetz die Regierung oder die Verwaltung zum Erlaß von Verwaltungsvorschriften ermächtigt, diese Vollmacht aber durch inhaltliche Kriterien nicht ergänzt hat, bedeutet eine solche Handlung die Unterlassung der obligatorischen Rechtsregelung seitens des Gesetzgebers und steht daher mit der Verfassungsordnung nicht im Einklang. Die Bedingung für die Errichtung eines demokratischen Rechtsstaates ist die Existenz einer transparenten Rechtsordnung. Das Gesetz darf die Kompetenz des Gesetzgebers nicht delegieren, das heißt, es darf die originäre Rechtsregelung nicht der Verwaltung überlassen. Das muß dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben, der aber diese seine Funktion dann auch in vollem Maße auszuüben hat.1 Der Einstellung der slowenischen Rechtstheorie gemäß hat das Verfassungsgericht in seiner gerichtlichen Prüfung eine konsequente Beachtung des Legalitätsprinzips durchgesetzt. Innerhalb von sechs Jahren seit Inkrafitreten der neuen Verfassung (1992-1997) hat das Verfassungsgericht 45 verschiedene abstrakte Verwaltungsakte (Verwaltungsvorschriften) mit Wirkung ex tunc bzw. ex nunc aufgehoben. Außer Kraft gesetzt bzw. rückwirkend aufgehoben hat das Verfassungsgericht 15 Regierungsakte und 30 verschiedene Verwaltungsvorschriften der Minister oder anderer Verwaltungsbehörden. Außerdem setzte es im besagten Zeitraum noch sechs Gesetze teilweise außer Kraft, da die Rechtsbestimmungen die Verwaltung ohne inhaltlich bestimmte Kriterien ermächtigten. Das Verfassungsgericht stützte sich dabei auf den 2. Absatz des Verfassungsartikels 120, nach dessen Bestimmung die Verwaltung ihre Arbeit selbständig im Rahmen und aufgrund der Verfassung und der Gesetze vollzieht. 1

154.

Lovro Sturm: Omejitev oblasti (Die Begrenzung der Macht), Ljubljana 1999, S.

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Das Prinzip der Bindung des Verwaltungshandelns an das Gesetz (Legalitätsprinzip) ist einer der bedeutendsten Grundsätze der Verfassung. Das Legalitätsprinzip des Verwaltungshandelns ist allerdings noch an einige andere Verfassungsgrundsätze gebunden. Im Demokratieprinzip (Verfassungsartikel 1) äußert sich auch die Forderung an die unmittelbar gewählten Parlamentsabgeordneten, die wichtigsten Entscheidungen zu treffen, vor allem jene, die sich auf die Staatsbürger beziehen. Das hat zur Folge, daß die vollziehende Gewalt (die Regierung und die Verwaltung) nur auf inhaltlicher Grundlage und im Gesetzesrahmen, nicht aber aufgrund eigener Vorschriften oder sogar eigener Funktion im System der Gewaltenteilung rechtlich funktionieren darf. In dieser Hinsicht hat der Gesetzesvorrang als Vorrang des Gesetzgebers gleichzeitig auch eine bedeutende Rolle bei der Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Gesetzgebungs- und der Vollziehungsgewalt gemäß dem Prinzip der Gewaltenteilung (Verfassungsartikel 3). Nach der Forderung des Prinzips des Rechtsstaates (Verfassungsartikel 2) werden die Rechtsverhältnisse zwischen dem Staat und den Staatsbürgern durch allgemein gültige Gesetze geregelt. Sie bestimmen nicht nur den Rahmen und die Grundlage des verwaltungsrechtlichen Handelns, sondern dieses Handeln wird für die Staatsbürger bekannt, übersichtlich und auch voraussehbar, was ihre Rechtssicherheit natürlich erhöht. Das Rechtsstaatsprinzip (Art. 5 Abs. 1 der Verfassung) fordert, daß die Grund- und Menschenrechte nur vom Gesetzgeber eingeschränkt werden dürfen, wenn und insofern ihm die Verfassung das ermöglicht, und nicht von der vollziehenden Gewalt. Eine entsprechende Begründung verfaßte das Verfassungsgericht in Sachen Patentna pisarna, d. o. o., OdlUS IV, 51.2 Dazu folgen einige Beispiele der Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Darstellung beginnt mit den Beispielen, in denen die Gesetzesbestimmungen wegen ihrer Unbestimmtheit aufgehoben wurden. In Sachen Peter Urbane, OdlUS I, 102, hat das Verfassungsgericht den Artikel 41 des Staatsbürgerschaftsgesetzes aufgehoben. In diesem Artikel war weder eine Entscheidung nach freiem Ermessen vorgesehen, noch war sie durch eine Interpretation nach den Regeln der Rechtswissenschaft aus dem Gesetzestext heraus zu entwickeln. Das Verfassungsgericht urteilte daher, daß diese Bestimmung mit dem 2. Absatz des Verfassungsartikels 120 nicht im Einklang stehe. In Sachen Oberster Gerichtshof (Zarko Petan), OdlUS III, 123, hat das Verfassungsgericht den Artikel 31 des Rundfunkgesetzes aufgehoben. Das Oberste Gericht als Antragsteller der abstrakten Normenkontrolle behauptete in seinem Antrag, die angefochtene Bestimmung nicht anwenden und die Gesetzmäßigkeit des auf Grundlage einer solchen Gesetzesbestimmung gefaßten

2

OdlUS: - Odlocbe in sklepi Ustavnega sodisca, Uradna zbirka, Ljubljana, zvezki I VIII, 1992-1999. [Die Bescheide und Beschlüsse des Verfassungsgerichts, Amtssammlung Bd. I—VIII, Ljubljana 1992-1999.]

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Beschlusses nicht überprüfen zu können. Eine solche Unsicherheit bei der Anwendung der angefochtenen Bestimmung weist überzeugend genug auf die Mängel der Bestimmung hin, weswegen sie nicht den Grundsätzen entspricht, die das Rechtsstaatsprinzip an den Gesetzgeber stellt. Das Verfassungsgericht stimmte in seiner Entscheidung mit dem genannten Standpunkt völlig überein. In Sachen Abanöna Borzno posredniSka hi§a, d. d., OdlUS V, 155, hat das Verfassungsgericht den Artikel 48 des Effektenmarktgesetzes aufgehoben. In diesem Artikel erteilte der Gesetzgeber der Effektenmarktagentur 3 die Befugnis, die Bedingungen für den Entzug der Genehmigung von Börsenmaklern, ihren Geschäften mit Wertpapieren nachzugehen, zu bestimmen. Damit wurde das Recht zur Regelung der Fragen, die eigentlich die Materie des Gesetzes sind und die deshalb der Gesetzgeber hätte selbst regeln oder zumindest deren Grundlage bestimmen müssen, in vollem Umfang auf die Verwaltung übertragen. In Sachen Anamarija Gluhar, OdlUS VI, 157, stellte das Verfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit einer Reihe einzelner Bestimmungen verschiedener Steuergesetze fest. Die aufgehobenen Gesetzesbestimmungen überließen der Regierung ohne festgelegten Gesetzesrahmen die Zuständigkeit für die Bestimmung von Steuerermäßigungen bzw. Pflichten der Steuerpflichtigen. Es folgen nun Beispiele von Verwaltungsvorschriften. In Sachen Breda Sturm, OdlUS I, 105, hat das Verfassungsgericht den Artikel 6 der Ordnung des Innenministers über die Ausübung des Identitätsausweisgesetzes aufgehoben. Diese Ordnung schrieb nämlich als Bedingung für die Ausstellung des Identitätsausweises den obligatorischen Fingerabdruck vor. Eine derartige Bestimmung widerspricht nämlich den Bestimmungen der Verfassung und des Personaldatenschutzgesetzes. Diese Entscheidung des Verfassungsgerichts hatte zur Folge, daß die Personen, die den Identitätsausweis erhalten, ihren Fingerabdruck nicht mehr abgeben mußten. Die ausführlichste und vollständigste Begründung gab das Verfassungsgericht in den bereits erwähnten Sachen Patentna pisarna, d. o. o., OdlUS IV, 51. Das Verfassungsgericht hob einzelne Bestimmungen der Ordnung über das Verfahren zur Anerkennung des Modells bzw. Musters auf, die jeglicher Gesetzesgrundlage entbehrten.

I I I . Der allgemeine Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit Die Verhältnismäßigkeit als grundlegendes Verfassungsprinzip stellte sowohl für das Verfassungsgericht als auch für die slowenische Rechtsdoktrin eine wichtige Neuerung dar. Tatsache ist, daß einzelne Elemente der Verhältnis-

3

Agencija za trg vrednostnih papirjev.

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mäßigkeit - wenn auch unter anderem Namen - in der Rechtstheorie und in einigen Verwaltungsgesetzen bereits bekannt waren. Das Prinzip der Anwendung des mildesten Mittels kannte beispielsweise schon das Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz des Königreichs Jugoslawien aus dem Jahre 1930 und das spätere Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz der Republik Jugoslawien aus dem Jahre 1956. Auch die Rechtstheorie vertrat den Standpunkt, daß die Verwaltung die für den Bürger mildere und günstigere Maßnahmen zu ergreifen hat, falls die Absicht des Gesetzes durch unterschiedliche - mildere oder strengere - Maßnahmen zu verwirklichen ist.4 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeines Verfassungsprinzip, das alle Staatsorgane bindet, wurde allerdings erst vom Verfassungsgericht definiert. Eine systematische Darstellung der Verhältnismäßigkeit gab das Verfassungsgericht in Sachen Lek, d. d., OdlUS IV, 67, im Jahre 1995, als es die Verfassungsmäßigkeit des Artikels 5 des Gesetzes über die Bildung von Firmeneigentum beurteilte. Wenn es zum Eingriff des Gesetzgebers in die verfassungsgeschützten Rechte des einzelnen kommt, ist Gegenstand einer weiteren Prüfung, ob dieser Eingriff verfassungsmäßig gewesen ist. Dabei muß man die Beschränkungen berücksichtigen, welche die Verfassung für die Rechte des einzelnen vorsieht: Zuerst die allgemeine Beschränkung dieser Rechte durch die Rechte anderer, dann den Schutzbereich des Rechts und schließlich die zulässige Einschränkung des Rechtes aus Gründen des Gemeinwohls. An diesem Punkt der verfassungsgerichtlichen Prüfung beginnt der Test der Verhältnismäßigkeit bzw. das Übermaß verbot und die entsprechende Abwägung, ob die im Gesetz bestimmten Maßnahmen mit seiner Absicht in Einklang stehen. Die Maßnahme muß durch das Ziel begründet werden, und zwar in dem Sinne, daß sie im geringstmöglichen Maße die Rechte und Interessen der betroffenen Subjekte beeinflußt. Die Maßnahmen müssen zur Erreichung der Ziele des Gesetzgebers geeignet, ihre Anwendung muß hinsichtlich objektiver Interessen von Staatsbürgern notwendig sein, und sie dürfen nicht außerhalb jedes vernünftigen Verhältnisses zum gesellschaftlichen Nutzen bzw. zum politischen Wert dieser Ziele stehen. Der Gesetzgeber kann auch dann in die verfassungsgeschützten Positionen von Bürgern eingreifen, wenn damit ein anderes verfassungsgemäßes Ziel verwirklicht wird als das zunächst beabsichtigte. Dabei darf er in diese Positionen nur insofern eingreifen, als dies für die Verwirklichung des Ziels unvermeidbar notwendig ist. Der Gesetzgeber muß beim Ordnen des Verhältnisses der verfassungsgeschützten Güter, die miteinander kollidieren, den Grundsatz berücksichtigen, daß das von ihm gewählte Mittel zur Erlangung des legitimen Ziels als solches rechtmäßig und für das Erreichen dieses Ziels geeignet sein muß. Weiter muß das gewählte Mittel zur Erreichung des Ziels notwendig sein, das heißt so beschaffen, daß das Ziel auf eine Art und

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Sturm (Fn. 1), S. 131 ff.

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Weise, die weniger in die verfassungsgeschützten Positionen eingreifen würde, nicht zu erreichen wäre; und schließlich muß der Eingriff, also der Betroffenheitsumfang des geschützten Gutes, im (politisch-wertmäßigen) Gleichmaß mit dem Wert der gesteckten Ziele des Gesetzgebers stehen. Die Ziele des Gesetzgebers müssen bestimmbar, vernünftig und verfassungslegitim sein. In der vorliegenden Sache bezog das Verfassungsgericht den Standpunkt, daß der Gesetzgeber das mögliche und notwendige gesetzgebende Mittel ergriffen hatte, das das Erreichen der gesteckten Ziele eben noch ermöglichte, und ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen dem Wert dieser Ziele und dem Gewicht der Eingriffe gewahrt habe. Der Eingriff des Gesetzgebers sei unter den in der Entscheidung bestimmten Bedingungen nicht unverhältnismäßig. Die Verhältnismäßigkeit als Kriterium bei der Prüfung konkreter Gerichtsentscheidungen benutzte das Verfassungsgericht erstmals am 7. Juli 1995 in der Entscheidung hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde OdlUS IV, 131, wodurch im Verfahren der Verfassungsbeschwerde die Untersuchungshaftentscheidungen des Obergerichts und des Kreisgerichts in Köper aufgehoben wurden. Das Gericht hätte bei der Anordnung der Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr bei Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips erwägen müssen, ob im konkreten Fall die Gefährdung menschlicher Sicherheit, die wegen der Freilassung des Beschuldigten hätte entstehen können, einen so großen bzw. gewichtigen Eingriff in das verfassungsrechtlich verbürgte Recht auf Sicherheit darstellte, daß sie den Eingriff in das Recht des Beschuldigten auf persönliche Freiheit aufwog, zumal diesem noch nicht bewiesen wordensei, die vorgeworfene Straftat wirklich begangen zu haben, und außerdem nicht mit Sicherheit „vorherzusagen" möglich sei, ob er solche Straftaten auf freiem Fuße noch wiederholen würde. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangte, daß vor der Anordnung eines Eingriffs in Verfassungsrechte folgendes beurteilt werden müsse: Erstens, ob der Eingriff zur Erreichung des erwünschten, verfassungsmäßigen Ziels überhaupt angemessen ist (dieser erste Schritt kann bei der Prüfung der Zulässigkeit von Eingriffen bei gerichtlichen Anordnungen der Untersuchungshaft ausgelassen werden, da diese Prüfung bereits vom Gesetzgeber durchgeführt wurde); zweitens, ob der Eingriff nötig („unausweichlich notwendig") ist, so daß das erwünschte Ziel auf keine andere Weise, also durch die Anwendung milderer Mittel, zu erreichen ist (von den im Artikel 192 des Strafrechtsverfahrengesetzes vorgesehenen Mitteln - obwohl ausdrücklich nur „zur Sicherung der Anwesenheit des Beschuldigten und für die erfolgreiche Durchführung des Strafverfahrens" vorgesehen - käme als milderes Mittel, der Wiederholungsgefahr vorzubeugen, bei einigen Straftaten allenfalls die Bürgschaft in Frage); und drittens, ob der Eingriff im vernünftigen Gleichmaß mit dem Ziel, also mit jenem Wert, der durch den Eingriff eigentlich geschützt werden sollte, und mit der vernünftigerweise zu erwartenden Wirkung einer solchen Verhaftung steht (d. h. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne).

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In Sachen Hermej Gobec, OdlUS V, 40, hat das Verfassungsgericht eine ganze Reihe von Bestimmungen des StrafVerfahrensrechtsgesetzes aufgehoben. In seiner Begründung stellt es fest, daß aufgrund des Verfassungsartikels 20 „Die Untersuchungshaft muß für die Sicherheit der Menschen unvermeidbar notwendig sein" - in der Verfassung selbst die Verhältnismäßigkeit bereits ausdrücklich integriert sei. Außerdem werde sie auch als allgemeines Verfassungsprinzip anerkannt, das sich vom Rechtsstaatprinzip ableitet. Dieses verlange vom Gesetzgeber, daß er bei der Bestimmung der Bedingungen für die Haftanordnung den Gerichten einerseits das Ermessen erleichtert, ob der Eingriff notwendig ist, so daß das erwünschte Ziel mit milderen Mitteln nicht zu erreichen ist; andererseits verpflichtet es den Gesetzgeber, die Möglichkeit einer Haftanordnung auf die Fälle zu beschränken, in denen ein solcher Eingriff im vernünftigen Gleichmaß mit dem Ziel, also mit jenem Wert, der durch den Eingriff eigentlich geschützt werden sollte, und mit der vernünftigerweise zu erwartenden Wirkung dieser Untersuchungshaft steht. Keine Bestimmung des Strafverfahrensrechtsgesetzes stellt dem Gericht irgendwelche milderen Mittel für dieselbe Absicht, also für die Beseitigung bzw. die Verringerung der Wiederholungsgefahr, zur Verfügung. Damit allerdings verletzte der Gesetzgeber das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das auch von ihm verlangt, bei der Verfolgung eines verfassungsmäßigen Ziels (in diesem Fall der Sicherheit der Menschen) die Mittel, mit denen er in die Menschenrechte eingreifen kann, auch nach dem verhältnismäßigen Kriterium der unvermeidbaren Notwendigkeit auszuwählen. Die Prüfung nach dem Kriterium der unvermeidbaren Notwendigkeit verlangt, daß der Gesetzgeber diejenigen in den Fachkreisen bekannten Alternativmittel ermöglicht, die mit der Verhältnismäßigkeit im Einklang und für die Erreichung des einzelnen gesetzgebenden Ziels angemessen sind. Dabei muß er beurteilen, ob mit der eventuellen Alternativlösung das verfolgte Ziel auf eine mildere Weise, die die menschliche Freiheit weniger einschränkt, zu erreichen möglich ist. Solche milderen Mittel, mit denen es in einigen Fällen möglich wäre, die Sicherheit der Menschen zu erreichen, dabei aber die persönliche Freiheit des Beschuldigten weniger zu verletzen, sind in der Theorie allgemein bekannt und in einigen anderen Gesetzen auch verwirklicht. Das sind beispielsweise die Meldepflicht beim Polizeiamt, das Verbot für den Beschuldigten, ohne gerichtliche Genehmigung einen bestimmten Ort zu verlassen, das Verbot, sich einer bestimmten Person zu nähern, die Kontrolle und Hilfe einer vom Gericht bestimmten Behörde, der Hausarrest und andere Maßnahmen, mit denen man die Wiederholungsgefahr herabsetzen kann und womit man gleichzeitig weit sanfter als mit einer Untersuchungshaft in die Freiheit des Beschuldigten eingreift. Der Gesetzgeber stellte den Gerichten keines der angeführten Mittel zur Verfügung. Um die Sicherheit der Menschen zu gewährleisten, sah er nur das Mittel vor, das am stärksten von allen möglichen Mitteln in die persönliche Freiheit des Beschuldigten eingreift. Damit verletzte er das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. 7 Schünemann u. a.

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In der Verfassungsbeschwerde OdlUS V, 69, hat es das Verfassungsgericht abgelehnt, über die Untersuchungshaft einer unter dem Verdacht des schweren Diebstahls und anderer Straftaten stehenden Person, die vom Obersten Gerichtshof angeordnet wurde, Beschluß zu fassen. Man müsse nämlich berücksichtigen, daß das Vermögen eine existenzielle Lebensgrundlage bedeuten könne. Aus der Formulierung des Artikels 20 der Verfassung, „für die Sicherheit der Menschen unvermeidbar notwendig", könne geschlossen werden, daß auch die Verhütung von Eigentumsdelikten unvermeidbar notwendig ist, wenn und soweit die Sicherheit der Menschen durch diese gefährdet wird. Das Gericht müsse bei der Entscheidung über die Untersuchungshaft bei Anwendung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit allerdings überlegen, ob im konkreten Fall die Gefährdung menschlicher Sicherheit, die im Fall der Freilassung des Beschuldigten entstehen könnte, einen so großen bzw. gewichtigen Eingriff in deren Verfassungsrecht auf Sicherheit darstellt, daß sie den Eingriff ins Recht des Beschuldigten auf persönliche Freiheit aufwiegt, zumal ihm noch nicht bewiesen worden ist, daß er die vorgeworfene Straftat wirklich begangen hat, und außerdem nicht mit Sicherheit vorherzusagen möglich ist, ob er solche Straftaten auf freiem Fuße wiederholen würde. Aus der Begründung des angefochtenen Beschlusses des Obersten Gerichtshofes gehe hervor, daß es zwischen dem Verfassungsrecht, das durch die mögliche Straftat gefährdet ist, und dem Recht des Beschwerdeführers auf persönliche Freiheit abgewogen hatte. Die unvermeidbare Notwendigkeit der Haftanordnung wurde bereits vom Kreisgericht anläßlich früherer Verlängerungen der Haftstrafe festgestellt. Das Verfassungsgericht bestätigte nun den Beschluß des Obersten Gerichtshofes, denn im konkreten Fall sei die Gefahr für Rechtsverletzungen so groß, daß sie den Entzug der persönlichen Freiheit des Beschwerdeführers rechtfertigte. In Sachen Römisch-katholische Diözese Maribor und andere, OdlUS V, 174, hat das Verfassungsgericht am 5. Dezember 1996 bei der Entscheidung über die Aufhebung des Gesetzes über die Durchführung der Reprivatisierung 5 die strengst mögliche Prüfung formuliert. Mit dem angegriffenen Gesetz wird in die sich aus dem Transitionsgesetz ergebenden Rechte der Bürger eingegriffen. Das Verfassungsgericht ging nun davon aus, daß die Gründe, Motive, Absichten und Ziele des Gesetzgebers nicht nur bestimmbar, sachlich berechtigt und verfassungslegitim sein müssen, sondern auf sie gegründete Mittel auch im demokratischen Staat unvermeidbar sein müssen, insofern sie von einem notwendigen öffentlichen Bedürfnis geboten werden. Die Eingriffe des Gesetzgebers müssen gemäß dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit angemessen und unvermeidbar notwendig für die Erreichung des Ziels des Gesetzgebers und proportional zu dem Wert der gesteckten Ziele des Gesetzgebers (Begründungspunkt 15) sein. Der Gesetzgeber ist zuständig, die Ausführung von Vorschrif-

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Reprivatisierung, eigentlich Restitution.

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ten zu begleiten und sie sich zu eigen zu machen. Im Falle wesentlicher oder schwererer Probleme bei deren Ausführung kann er auch nötige Maßnahmen ergreifen. Das Prinzip der Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit und des Rechtsvertrauens verlangt, daß die Gesetze als allgemeine und abstrakte Vorschriften für längere Zeit beschlossen werden. Das Reprivatisierungsgesetz ist im Hinblick auf seine Absicht ein Systemgesetz, in dem alle Grundprinzipien des Reprivatisierungsprozesses klar definiert worden sind, die gemäß dem Rechtsstaatsprinzips nur dann geändert werden können, wenn die erwähnten besonderen Bedingungen und Umstände vorliegen. In Sachen Polizeigewerkschaft Sloweniens, OdlUS VI, 9, ging es um das Gesetz über die Tätigkeit von Detektiven. Es bestimmt, daß Antragsteller, die in den letzten zwei Jahren Aufgaben für das Innenministerium oder den Geheimdienst verrichtet hatten, keine Lizenz für die Berufsausübung erhalten. Das Verfassungsgericht stellte fest, daß diese Einschränkung es früheren Amtspersonen unmöglich macht, die Detektivtätigkeit irgendwo in Slowenien auszuüben, doch hielt es an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes fest, weil nur mit seiner Hilfe ein legitimes Ziel des Gesetzgebers erreicht werden kann. Das Recht auf Persönlichkeitsschutz und Persönlichkeitsrecht wie auch das Recht auf Personaldatenschutz sind bedeutende Verfassungsrechte. Die Verletzungen dieser Rechte, die bei Ausübung privater Detektivtätigkeit mit Gebrauch von Daten und Kontakten aus dem früheren Dienst auftreten können, können sehr schwerwiegend sein. Bereits die Möglichkeit einer schweren Verletzung dieser Rechte ist im Gleichmaß mit der vorliegenden Einschränkung der Freiheit eines Teils der früher mit Amtsbefugnissen ausgestatteten Personen. Das Gesetz ist für die Erreichung des Ziels notwendig, denn es sieht nicht so aus, daß es möglich wäre, das besagte Ziel auf irgendeine andere Weise zu erreichen. Diese Einschränkung ist nur vorübergehend - sie dauert zwei Jahre - und stellt somit eine vertretbare Einschränkung dar. Es liegt folglich auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne vor. In Sachen OdlUS VI, 21, hat das Verfassungsgericht auf Antrag der Regierung der Republik Slowenien hin die Anordnung der Stadtgemeinde Ljubljana hinsichtlich der Festlegung der Miete für reservierte Parkflächen aufgehoben. Das Verfassungsgericht stimmte der Bestimmung der Anordnung zu, daß der Mieter für die Parkplätze eine angemessene Vergütung für das Recht auf exklusiven Gebrauch des reservierten Parkplatzes zahlen muß. Allerdings darf die Vergütung nicht im klaren Mißverhältnis zu dem Wert des Privilegs stehen, das aus dem individuellen Gebrauch von Gemeingut hervorgeht. Die Stadtgemeinde Ljubljana bestimmte einen Preis, der den Wert eines exklusiven Gebrauchs des Parkplatzes weit überstieg. Im Vergleich mit der früheren Anordnung ging es um eine mehr als 22-fache Erhöhung der bestehenden Parkplatzmiete im Stadtzentrum und um eine 16-fache Erhöhung dieser Miete außerhalb der Innenstadt. 7*

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In Sachen Darko Keiman, OdlUS V, 27, hat das Verfassungsgericht den Artikel 28 des Rechtsanwaltschaftsgesetzes aufgehoben. Diese Entscheidung ist interessant, weil dabei ein unangemessenes Mittel des Gesetzgebers ohne vernünftige Verbindung mit dessen Motiv festgestellt wurde. Im Rahmen der Einschätzung der Verhältnismäßigkeit stellte sich zunächst die Frage, ob in diesem Fall die Maßnahme aus Artikel 28 für die Erreichung des gesteckten Ziels überhaupt angemessen (entsprechend) ist. Das Verfassungsgericht bezog die Stellung, daß der Bürostandort des Rechtsanwaltes, der die Partei vertritt, irrelevant ist. Die Festlegung der Lokation ist fur die Erreichung des behandelten Gesetzesziels ein unangemessenes (nicht entsprechendes) Mittel. Man muß auch den relativ kleinen Abstand zwischen einzelnen Städten in Slowenien in Betracht ziehen. Die dargestellte Argumentation über die Unverhältnismäßigkeit des Mittels gibt hinreichend Grund zu der Entscheidung, daß die besagte Vorschrift nicht mit dem Verfassungsartikel 49 (Freiheit der Arbeit) übereinstimmt. Eine weitere verfassungsrechtliche Prüfung des unangemessenen Mittels aus dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit bzw. Erforderlichkeit bezüglich des gesteckten Zieles und des Gewichtes der Maßnahme war daher nicht nötig. Aus den gleichen Gründen hat das Verfassungsgericht in Sachen Stefan Toth, OdlUS VI, 56, den 2. Absatz des Artikels 9 der Novelle zum Behinderten· und Rentenversicherungsgesetz aufgehoben. Es stellte fest, daß mit der beschlossenen Lösung eine neue Ungleichbehandlung der Versicherten eingetreten war. In Sachen Miha Brejc und andere, OdlUS VI, 158, hat das Verfassungsgericht Artikel 150-156 des Strafverfahrensrechtsgesetzes über die Anwendung besonderer Polizeimethoden und -mittel aufgehoben. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt vom Gesetzgeber, daß er bei der Bestimmung der Bedingungen für einen Eingriff einen Ermessensspielraum einräumt, der zur Überlegung zwingt, ob ein Eingriff überhaupt nötig und ob das erwünschte Ziel nicht mit milderen Mitteln zu erreichen ist. Gleichzeitig stellt er den Gesetzgeber vor die Pflicht, die Möglichkeit des Eingriffs ins Privatrecht auf die Fälle zu begrenzen, in denen ein solcher Eingriff im vernünftigen Gleichmaß mit dem Ziel steht, also mit jenem Wert, der mit dem Eingriff gesichert werden soll, und mit der vernünftigerweise zu erwartenden Wirkung dieses Eingriffs. Nur für den Fall, daß dem Recht, für dessen Schutz der Eingriff erlaubt wird, wegen seiner Bedeutung ein absoluter Vorrang zukommt, kann auch ein sehr weitgehender Eingriff in das Grundrecht zulässig sein, ansonsten muß der Eingriff in das Grundrecht umgekehrt proportional zu seiner eigenen Bedeutung und proportional zur Bedeutung des zu schützenden Rechts sein. Mit anderen Worten, nicht jeder Eingriff, der zwar nötig ist, um das geschützte Recht ganz zu sichern, ist a priori zulässig, wenn auch das einzuschränkende Grundrecht einen entsprechend starken Schutz verdient. Beim Zusammenstoß solcher Rechte dürfen nur diejenigen Eingriffe zugelassen werden, die das zu schützende Recht nicht absolut, sondern nur verhältnismäßig gegenüber dem einzu-

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grenzenden Grundrecht schützen (die zwei Rechte begrenzen sich dann also gegenseitig).

IV. Freies Ermessen Die slowenische Verwaltungsrechtstheorie beschäftigte sich am meisten mit der Anwendung des freien Ermessens bei den konkreten Rechtsakten. Unter Anlehnung an deutsche Autoren besteht sie auf der Unterscheidung zwischen dem Ermessen und den unbestimmten Rechtsbegriffen. Der Unterschied wird auch seitens des positiven Rechts anerkannt. Bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Ermessensverwaltungsakten begrenzt sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit auf die Feststellung des Machtmißbrauchs, der Vollmachtsüberschreitung oder der Willkür. Bei den unbestimmten Rechtsbegriffen besteht sie auf der vollen gerichtlichen Prüfung ihrer Auslegung und Anwendung. Im Rahmen der Verfassungsgerichtsbarkeit hat das Verfassungsgericht im Jahre 1992 durch die Entscheidung OdlUS I, 101, den Artikel 28 des Staatsbürgerschaftsgesetzes der Republik Slowenien aufgehoben (Amtsblatt der RS, Nr. 1/91-1, 30/91-1, 38/92). Nach den Bestimmungen des aufgehobenen Artikels brauchte die Verwaltung in ihrer Entscheidung nicht die Gründe anzuführen, die sie bei der Entscheidung leiteten. Das Verfassungsgericht bezog bei seinem Urteil die Stellung, daß diese Tatsache dem Betroffenen nicht genug Möglichkeit gibt, der Entscheidung im Rechtsstreit begründet und erfolgreich zu widersprechen. Sie garantiert ihm also keinen wirksamen Rechtsschutz. Deshalb steht diese Rechtsbestimmung im Gegensatz zum Artikel 25 der Verfassung und zu den Rechtsstaatsprinzipien des Artikels 2. Bei den Entscheidungen über die Verfassungsbeschwerden hat das Verfassungsgericht am 11. Juli 1996 für die Rechtsdoktrin eine bedeutende prinzipielle Entscheidung in Sachen B. P., OdlUS V, 184, gefällt. In der Begründung nannte es ausführlich die Verfassungsbestimmungen, die neben dem bereits erwähnten 2. Absatz des Artikels 120 direkt oder indirekt den Grundsatz der Bindung der Verwaltung an das Gesetz aufstellen: Die Bindung der Verwaltung an die Verfassung und an das Gesetz wird indirekt auch in den Verfassungsbestimmungen über den Rechtsstaat (Art. 2), über die Gewaltenteilung (Art. 3 Abs. 2) und im Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten (Art. 5 Abs. 1) gesehen. Bezüglich der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist auch die rechtliche Gleichstellung (Art. 22), das Recht auf Rechtsschutz (Art. 23) und das Recht auf Rechtsmittel (Art. 25) zu erwähnen. Eine besondere Bedeutung beim freien Ermessen haben auch die Beachtung des Gleichheitsprinzips (Art. 14) und die Beachtung des allgemeinen Verfassungsprinzips der Verhältnismäßigkeit. Auch eine Gerichtskontrolle dieser Akte ist gesichert. Der Rechtsakt darf angefochten werden, wenn in einem solchen Akt das Gesetz oder eine andere

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allgemeine Vorschrift nicht richtig angewendet worden ist. Bei der Prüfung der Entscheidungen, die nach freiem Ermessen gefällt wurden, kontrolliert das Gericht, ob die Entscheidung ihrer Absicht gemäß ist und ob sie sich in den Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung befindet. Dabei geht es nicht nur um die Fälle des Ermessensmißbrauchs, wenn ein Verwaltungsorgan bewußt oder aber aus Versehen sein Ermessen nicht im Sinne des Gesetzes anwendet oder wenn es bei seiner Entscheidung von anderen Motiven und Interessen geleitet wird, als vom Gesetz vorgesehen, sondern auch um die Fälle der Ermessensüberschreitung, wenn ein Verwaltungsorgan irrtümlicherweise glaubt, Recht auf Entscheidungen nach freiem Ermessen zu haben, oder wenn es eine Rechtsfolge auswählt, die vom Gesetz nicht ermöglicht wird. Das Verwaltungsorgan ist nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz aus den Verfassungsartikeln 14 und 22 an die Entscheidungsmaximen früherer vergleichbarer Fälle gebunden. Unbegründet darf es in weiteren vergleichbaren Fällen nicht anders als in den vorhergehenden Fällen entscheiden. Damit die betroffene Person wirksam die Entscheidung des Verwaltungsorgans anfechten und das Gericht die Richtigkeit der Ermessensausübung beurteilen kann, muß die Verwaltungsentscheidung begründet werden. Aus dieser Begründung muß klar hervorgehen, ob das Verwaltungsorgan genau und ausreichend detailliert den konkreten Tatbestand festgestellt hat. Es müssen die Abwägungen angeführt werden, die die Verwaltung bei ihrer Entscheidung nach freiem Ermessen geleitet haben. Lediglich die Angabe, daß das Verwaltungsorgan nach freiem Ermessen gehandelt hat, genügt nicht. Je weniger die Ermessensentscheidung von rechtlichen Erwägungen geleitet wird, desto detaillierter und anspruchsvoller muß die Begründung der Ermessensausübung sein. Das wichtigste Kriterium muß das Kriterium des Wesentlichen sein: Das Verwaltungsorgan muß wesentliche Gründe anführen, die sich auf den einzelnen Fall beziehen. Die Begründung darf kurz, allerdings nicht nur allgemein gehalten sein. Im Gegensatz zum freien Ermessen, bei welchem der Gesetzgeber den Rahmen der zulässigen Rechtsfolgen festlegt, definieren die unbestimmten Rechtsbegriffe den Gesetzestatbestand. Bei der Bestimmung des Tatbestandes kann das Gesetz mehr oder weniger bestimmte Begriffe anwenden. Die Rechtsprechung hat die Kompetenz, die Richtigkeit des festgestellten Sachverhalts, und - ungeachtet dessen, inwieweit der Gesetzgeber unbestimmte Begriffe bei der Beschreibung des Sachverhalts anwandte - auch die Kompetenz, die Beurteilung des Sachverhalts zu überprüfen. Etwas anders verhält es sich bei der Beurteilung der Übereinstimmung des festgestellten Sachverhalts mit dem gesetzlichen Tatbestand, also bei der Subsumtion des Sachverhalts unter eine Rechtsnorm mit unbestimmten Rechtsbegriffen. Volle Kontrolle kann hier in bestimmten Fällen zu steif sein. Der Gesetzgeber benutzt in gewissen Fällen unbestimmte Rechtsbegriffe, weil er alle Rechtslagen, die er regeln möchte, im voraus nicht klar vorhersehen kann.

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Auch der unbestimmten Rechtsbegriffe kann er sich - ähnlich wie der Ermächtigung zur Entscheidung nach freiem Ermessen - also dann bedienen, wenn er der Verwaltung einen gewissen Ermessensraum überlassen möchte, damit diese bei Beachtung aller wesentlicher Umstände des konkreten Falls angemessener entscheiden kann. Das gilt vor allem in den Fällen finaler und prognostischer Entscheidungen, auf dem wirtschaftlich-finanziellen Gebiet, bei der Raumplanung und -Ordnung und bei den partizipatorischen Verfahren. In solchen Fällen gäbe die volle gerichtliche Prüfung nicht immer die Sicherheit, daß eine höhere Stufe der Gerechtigkeit erreicht wird. Die gerichtliche Prüfung kann daher in diesen Fällen verhaltener sein und kann sich vor allem auf die Beurteilung der Frage begrenzen, ob das Verwaltungsorgan die Kriterien zur Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffes nicht im klaren Widerspruch zu den Wertbestimmungen des Gesetzes angewendet hat. Um so strenger muß deshalb in diesen Fällen auch die Prüfung der Beachtung von Verfahrensregeln sein. Das schließt auch die Forderung nach der Begründung der Verwaltungsentscheidung ein, die dabei um so schwerwiegender und überzeugender sein muß, je verhaltener die gerichtliche Prüfung ist. Bei der Bestimmung der Grenzen und der Absicht der Ermächtigung zur Entscheidung nach freiem Ermessen muß man außer der Ermächtigungsgrundlage auch ihren Kontext, andere Gesetzesbestimmungen und eine eventuelle Regelung in anderen Gesetzen mit vergleichbarem Regelungsgegenstand berücksichtigen. Die Verwaltungsentscheidung darf nicht pauschal und unbestimmt sein. Die Verfassung statuiert in den Artikeln 22 und 23 den Grundsatz des fairen Verfahrens. In Artikel 23 sichert sie das Recht auf den unabhängigen, unparteiischen und gesetzmäßigen Richter, der über Rechte, Pflichten und die Anklage ohne unnötige Verzögerung entscheiden muß. Der Artikel 22 sichert die minimale Prozeßstellung des einzelnen Verfahrensbeteiligten. Das Verfassungsgericht hat bereits entschieden, daß das Verfassungsrecht in Artikel 22 dem einzelnen im Verwaltungsverfahren garantiert, vom Verwaltungsorgan die Möglichkeit zu bekommen, sich über die Tatsachen und Umstände, die für eine Entscheidung von Bedeutung sind, äußern zu können (Entscheidung in Sachen I. M. - OdlUS V, 182),. Ein faires (Rechts-)Verfahren verlangt auch die Bekanntmachung der Entscheidung an die Person, über deren Rechte, Pflichten oder Rechtsinteressen das Verwaltungsorgan entschieden hat, und die Mitteilung der Gründe dieser Entscheidung. Jede Entscheidung der Verwaltung wird einer nachträglichen Kontrolle ihrer Rechtmäßigkeit unterworfen. Das Verwaltungsorgan hat bei einer Entscheidung nach freiem Ermessen und in einigen Fällen der unbestimmten Rechtsbegriffe zwar einen gewissen Spielraum für die Beurteilung, jedoch müssen auch diese Entscheidungen sich im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung bewegen und mit deren Absicht übereinstimmen. Damit das Gericht die Rechtmäßigkeit der Verwaltungsentscheidung, getroffen nach freiem Ermessen, beurteilen kann, müssen in ihr der maßgebliche Sachverhalt angeführt sein sowie die Be-

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weise, die die Existenz dieser Tatsachen begründen, und die Erwägungen, von denen das Verwaltungsorgan bei seiner Entscheidung geleitet wurde. In den Fällen, in denen die Verwaltung zu einer Entscheidung nach freiem Ermessen ermächtigt ist, hat der einzelne kein Recht darauf, die Entscheidung mit einem bestimmten Inhalt zu verlangen. Er hat allerdings das Recht zu verlangen, daß das zuständige Organ über seine Rechte, Pflichten oder sein Rechtsinteresse richtig und gesetzmäßig entscheidet. Daher hat er auch ein Recht darauf, die Gründe zu kennen, die das zuständige Organ zu einer bestimmten Entscheidung geführt haben. Andernfalls würden Rechtsmittel, die im Falle einer zwar richtigen, aber nur mangelhaft begründeten, für den Bürger nicht nachvollziehbaren Entscheidung eingelegt werden, allein deshalb erfolglos bleiben, weil eine ausreichende Begründung nachgeschoben wird. Die Stufe der Genauigkeit, mit der die Entscheidung begründet werden muß, bestimmt sich danach, was eine wirksame Rechtsverteidigung gegen die Entscheidung in jedem einzelnen Fall erfordert. Das Verfassungsgericht hat in der Verfassungsbeschwerde A. R., OdlUS VI, 87, die Kriterien für die Begründung der Verwaltungsentscheidung, getroffen nach freiem Ermessen, ergänzt. Jede Verwaltungsentscheidung ist einer nachträglichen Prüfung ihrer Rechtsrichtigkeit unterworfen. Damit das Gericht die Rechtmäßigkeit der Verwaltungsentscheidung, getroffen nach freiem Ermessen, beurteilen kann, müssen darin der hypothetische Tatbestand, der für die gesetzmäßige und richtige Entscheidung wichtige Sachverhalt (die Theorie bezeichnet das als „den Sachverhalt"), weiter die Beweise, die die Existenz dieser Tatsachen begründen, und das Ermessen, von denen das Verwaltungsorgan bei seiner Entscheidung geleitet wurde, enthalten sein. Im Falle einer mangelhaften Begründung einer an sich richtigen Entscheidung könnten nämlich eingelegte Rechtsmittel sonst nicht erfolgreich sein. Die Begründung ist eine Art Dialog, ein Zwiegespräch mit den Beteiligten. Diese Eigenschaft zeigt sich unter anderem auch darin, daß die Verwaltung eine umfassende Angabe aller Gründe für die etwaige Verwerfung der Forderung der Beteiligten vorbringen muß. Die Begründung muß auch diejenigen Ablehnungsgründe beinhalten, denen der Betroffene nicht einmal widersprochen hat. Bei den tatsächlichen Gründen geht es um den Sachverhalt. Die dialogische Natur der Verwaltungsentscheidung wird auch durch den Umstand bewiesen, daß man Tatsachen bzw. tatsächliche Umstände, die die Beteiligten vorgetragen haben, anführen muß, auch wenn sie vom Verwaltungsorgan nicht berücksichtigt wurden. Die Gründe rechtlicher Natur, die von den sachlichen Gründen getrennt werden müssen, kommen durch die Subsumtion des Sachverhalts unter die Rechtsnorm zum Ausdruck. Aus den Ermessensentscheidungen muß hervorgehen, welche Ermessenskriterien bei der Entscheidung angewendet wurden, deshalb müssen aus der Begründung alle Erwägungen des Verwaltungsorgans klar erkennbar sein. Die Beteiligten haben das Recht auf eine Begründung, doch dieses Recht kann nicht in dem Sinne verstanden werden, daß

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die Beteiligten deshalb berechtigt wären, eine bestimmte und konkrete Begründung zu verlangen, sondern das Verwaltungsorgan muß nur die sogenannten tragenden, also wesentlichen Gründe für die Entscheidung nach freiem Ermessen anführen.

V. Zusammenfassung Nach der Verselbständigung der Republik Slowenien im Jahre 1991 begann das Verfassungsgericht als höchste Justizbehörde zum Schutz der Verfassungsmäßigkeit und der Rechtmäßigkeit und zum Schutz der Menschenrechte zu fungieren. Die Zuständigkeiten des Verfassungsgerichts sind denen des deutschen Bundesverfassungsgerichts ähnlich, daher überrascht es nicht, daß das slowenische Verfassungsgericht, das sehr bald schon feste Kontakte mit dem deutschen Bundesverfassungsgericht knüpfte, die Referenzfälle aus der deutschen verfassungsgerichtlichen Praxis sorgfältig erforscht und dabei auch die deutsche Rechtswissenschaft zum Vorbild genommen hatte. Die dargestellten ausgewählten Beispiele von Entscheidungen des slowenischen Verfassungsgerichts bestätigen die vollkommene Durchsetzung der Bindung der Verwaltung an das Gesetz. Das Verfassungsgericht hat nicht nur diejenigen Verwaltungsvorschriften, die inhaltlich die Bindung der Verwaltung an das Gesetz nicht beachteten, sondern auch die Gesetzesbestimmungen, die die Verwaltung ohne jede inhaltlich bestimmten Kriterien zum Handeln ermächtigten, aufgehoben. Die einzelnen Elemente des Prinzips der Verhältnismäßigkeit waren in der slowenischen Rechtsübung bereits bekannt. Mit der Durchsetzung der freien demokratischen Ordnung und des Rechtsstaates nach dem Erlaß der Verfassung am 25. Dezember 1991 und mit den Entscheidungen des Verfassungsgerichts bekam es den Verfassungsrang eines allgemeinen Verfassungsgrundsatzes, der alle Staatsorgane verpflichtet: den Gesetzgeber, die Exekutivgewalt, die Gerichte und andere Hoheitsträger, sowohl bei ihren realen Handlungen und Eingriffen als auch bei deren allgemeinen Rechtsvorschriften und konkreten Rechtsakten. In Anlehnung an deutsche und österreichische Autoren unterscheidet die slowenische verfassungsrechtliche Theorie zwischen Ermessen und unbestimmten Rechtsbegriffen. Den Unterschied erkennen auch das positive Recht und die Verfassungsrechtsjudikatur an. Bei der gerichtlichen Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten nach Ermessen wird die verwaltungsgerichtliche Kontrolle auf die Feststellung des Machtmißbrauches oder der Überschreitung der Machtbefugnis und der Willkür begrenzt. Bei den unbestimmten Rechtsbegriffen insistiert sie auf voller Bewertung ihrer Gesetzmäßigkeit. Das slowenische Verfassungsgericht verlangt bei der Kontrolle von Verwaltungsakten nach Ermessen auch die Beachtung der Verhältnismäßigkeit und Gleich-

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heit und die Beachtung der Menschenrechte. Auch die Verwaltungsakte nach Ermessen müssen triftig und überzeugend genug begründet werden. Die Berufung allein auf die Ermächtigung zur Entscheidung nach freiem Ermessen ist keine ausreichende oder inhaltlich überzeugende Begründung.

I I I . Weltweite Entwicklung

Die Tragweite der Gewissensfreiheit angesichts der Nationalhymne und Nationalflagge Von Hiroshi Nishihara

I. Einleitung Heinrich Scholler hat durch seine zahlreichen Schriften einen wesentlichen Beitrag zur theoretischen Entwicklung der Gewissensfreiheit geleistet. Dieses Grundrecht zeichnet sich dadurch aus, daß es in den letzten 50 Jahren seinen Inhalt weitestgehend erweitert hat. Es hat sich von der Glaubensfreiheit losgelöst und säkularisiert; es hat sodann die Beschränkung auf den Schutz des freien forum internum überwunden und einen Verhaltensbezug gewonnen; es hat darüber hinaus recht gegenwartsspezifische Bedeutungen angenommen, in der die Bereitstellung der Handlungsalternativen durch den Staat sowie der Grundsatz der staatlichen Neutralität gegenüber verschiedenen Weltanschauungen zum Verfassungsgebot erhoben wird. Der Beitrag Schollers liegt sowohl am Anfang dieser ganzen Entwicklung 1 als auch an ihren Wendepunkten in den sechziger und späteren Jahren.2 Bis hin zu den Beiträgen aus neuester Zeit 3 bemüht sich Scholler dabei konsequent, den vorrangig zu gewährleistenden Ausstrahlungswirkungen des

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Siehe Heinrich Scholler: Die Freiheit des Gewissens, 1958. Im Vorwort dieses Buchs schreibt Theodor Maunz, daß „dem Thema [gemeint ist: die Gewissensfreiheit Anmerkung von HN] bisher nur selten größere Aufmerksamkeit gewidmet worden ist". Angesichts des gegenwärtigen Diskussionsstands ist es kaum vorstellbar, daß sich die Gewissensfreiheit einst, vor den Leistungen des Jubilars, in dieser Lage befand. 2 Zu den erweiterten Bedeutungen siehe insbesondere Heinrich Scholler: Gewissen, Gesetz und Rechtsstaat, DÖV 1969, 526 ff.; ders.: Gewissensfreiheit des einzelnen Anspruch der Gesellschaft, in: J. Horstmann (Hrsg.), Gewissen. Aspekte vieldiskutierten Sachverhaltes, 1983, S. 77 ff. Zur funktionalen Bedeutung vgl. weiter u. a. Niklas Luhmann: Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, AöR 90 (1965), 275 ff.; Adalbert Podlech: Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, 1969; ErnstWolfgang Böckenförde: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, VVDStRL 28 (1970), 33 ff., jetzt in: ders.: Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 200 ff. 3

Vor allem Heinrich Scholler: Die staatliche Warnung vor religiösen Bewegungen und die Garantie der Freiheit der Religion, in: FS für Kriele, 1997, S. 321.

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Art. 4 Abs. 1 GG Geltung zu verschaffen und sie beispielsweise in der gewissensbezogenen Stufentheorie als Abwägungskriterium fruchtbar zu machen. Diese Betrachtungsweise orientiert sich an der sachgerechten Innen-/AußenDifferenz hinsichtlich des Betätigungsfelds des individuellen Gewissens und ermöglicht eine theoretisch fundierte Güterabwägung in einem Bereich, in dem die Diskussion allzu oft von dem vernunftgeprägten Weg abrückt. Darüber hinaus bemüht er sich, im Zusammenhang mit dem quasi-institutionellen Bedeutungskern des Art. 4 Abs. 1 GG das Toleranzgebot und das „Prinzip der NichtIdentifikation" 4 wirksam gedeihen zu lassen. Somit versucht Scholler, die vom individuellen Gewissen getragene Autonomie des einzelnen als Grundlage eines gesunden sozialen Zusammenlebens in der pluralistischen Gesellschaft sicherzustellen. Seine Leistungen haben auch außerhalb des deutschen Rechtskreises Anerkennung gefunden. Dies gilt auch für Japan. Dort wurde zunächst seine Theorie der Geheimsphäre schnell rezipiert. Dies war für die dort herrschende Verfassungslehre besonders wichtig, weil sie von Anfang an bei der Sicherstellung des Rechts darauf abstellte, nicht zu einem Bekenntnisakt bezüglich seiner sittlichen bzw. weltanschaulichen Position gezwungen zu werden. 5 Sodann hat die Rezeption der Theorie Schollers neue Dimensionen eröffnet, als der Verhaltensbezug der Gewissensfreiheit in Form eines Gebotes zur Freistellung bei gesetzlich erzwungenen Gewissenskonflikten und Bereitstellung von Handlungsalternativen zunehmend Beachtung gefunden hat, zumal das von ihm zugrunde gelegte Neutralitätsgebot in weltanschaulicher Hinsicht einen Vergleich mit dem Trennungsprinzip von Staat und Religion 6 und dadurch eine theoretische Vertiefung ermöglicht hat. Die diesbezügliche Diskussion hat sich in Japan neuerdings zugespitzt, als der Erlaß eines Nationalflaggen- und Nationalhymnengesetzes 1999 parlamentarisch vorgeschlagen und angenommen wurde. Das Gesetz definiert in lediglich zwei Paragraphen, daß die Sonnenrundfahne die Nationalflagge, das Lied Kimigayo die Nationalhymne ist und normiert keine diesbezügliche Verpflichtung gegenüber den Bürgern. Dennoch berührt das Gesetz vielfach die Gewissensfreiheit, indem es als Auslegungsmaxime bei der Interpretation anderer Rechtsnormen herangezogen wird und den Konformitätszwängen im Sinne eines Patriotismus royalistischer Prägung einen demokratisch-rechtsstaatlichen

Herbert Krüger: Allgemeine Staatslehre, 21966, S. 178 f. Zum dort in den Vordergrund gestellten Schweigerecht vgl. Hiroshi Nishihara: Nationalhymne als Problem des Rechts auf eine tolerante Schule in Japan, in: C.-D. Classen/A. Dittmann/F. Fechner (Hrsg.), FS für Thomas Oppermann zum 70. Geburtstag, 2001. 6 Zu diesem Prinzip Hiroshi Nishihara: Die Trennung von Staat und Religion in der japanischen Verfassung, Der Staat 39 (2000), 86 ff. 4

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Anschein gibt. In dieser Situation kommt es darauf an, ob die staatlich erzwungene Ehrung der Nationalflagge und der Nationalhymne ein Problem der Gewissensfreiheit sein kann. Im gegenwärtigen Japan wird diese Frage dahingehend behandelt, ob der Staat die Bürger zu einer bestimmten Haltung gegenüber Staat und Staatssymbolen verpflichten kann.7 Das Problem reicht jedoch, konsequent durchdacht, weit über diese Fragestellung hinaus, weil es letzten Endes um das Wesen der Zugehörigkeit und Unterworfenheit des einzelnen zu Staat und staatlicher Rechtsordnung geht.

I I . Das Nationalflaggen- und Nationalhymnengesetz als Produkt der Legitimationskrise Bevor auf die Tragweite der Gewissensfreiheit gegenüber dem staatlich erzwungenen Patriotismus eingegangen werden kann, ist hier eine kurze Darstellung notwendig, warum in Japan im ausgehenden 20. Jahrhundert eine Patriotismusdiskussion geführt werden mußte und das Nationalflaggen- und Nationalhymnengesetz im Jahr 1999 zustande kam. Um die Antwort hier vorwegzunehmen, ist dieses Gesetz im Zusammenhang mit der Legitimationskrise des gescheiterten Sozialstaates zu sehen. Die Erkenntnis hat sich inzwischen durchgesetzt, daß im Prozeß der Globalisierung und neuliberalistischen Reform der Staat nicht mehr seine Rechtfertigung in den sozialstaatlichen Leistungen für die Bürger suchen kann. Sie veranlaßte nun die Regierung zu einem Versuch, eine Fundierung des staatlichen Daseins zielbewußt in das (Unter)Bewußtsein des Staatsbürgers einzupflanzen. Der japanische Sozialstaat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellte auf die Ermöglichung einer ausgewogenen Wirtschaftsentwicklung ab. In Verfolgung dieses Ziels entstand eine bürokratische Herrschaft über die Wirtschaft, die jedoch nicht als solche, sondern eher als notwendige Maßnahme zur Verwirklichung der sozialen Grundrechte, insbesondere des Rechts der Bevölkerung auf ein armutfreies Leben, verstanden worden ist.8 Diese Struktur des paternalistischen Schutzes hat in den neunziger Jahren angefangen zu zerfallen, als im Laufe der Globalisierung die Zentralbehörden zunehmend die Kontroll-

7 Das wichtigste Kampffeld besteht im zeremoniellen Gebrauch der Nationalhymne und Nationalflagge in der Schule. Zu den Bemühungen, die Grenze einer solchen Schulpraxis anhand der Gewissensfreiheit der Schüler und des Rechts auf eine ideologisch tolerante Schule zu ziehen, siehe Nishihara (Fn. 5). 8 Hiroshi Nishihara: Funktionen der sozialen Grundrechte im japanischen Verfassungssystem, ZaöRV 57 (1997), 837.

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macht über den Wirtschaftsprozeß verloren. 9 So mußte die Regierung eine Reihe von Deregulierungswellen einleiten. Während dieser Strukturreform erfuhr die japanische Gesellschaft einen enormen Anstieg der Arbeitslosenzahl, der zu Angst und Unsicherheit in der Bevölkerung führte. In diesem Strukturwandel kann der japanische Staat gegenwärtig die weitere Entwicklungslinie nicht mit genügender Klarheit entwerfen. Einerseits zeigen sich neue Tendenzen, die in ihrer Gesamtheit auf die Herstellung einer neuen Struktur der Bürgerpartizipation in einer gleichberechtigten Partnerschaft mit dem Staat zielen. 10 Andererseits befürchten die Bürokratie und die etablierten Power-Eliten Machtverluste und versuchen, eine autoritäre Struktur aufrechtzuerhalten. Das Nationalflaggen- und Nationalhymnengesetz gehört zu den Gegenzügen der alten Machtzentren. Die konservative Regierung sucht einen Ausweg aus der Legitimationskrise in einer neuen staatlichen Rolle, nämlich als Hüter der Sicherheit. Beispielsweise im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Jugendkriminalität wird die Notwendigkeit einer verstärkten moralischen Unterweisung der Kinder in der Schule mit Nachdruck befürwortet. Dabei nimmt der Staat die Verantwortung für die moralische Entwicklung der Kinder für sich in Anspruch und versucht, eine Leitidee des sozialen Zusammenlebens aufzustellen. Hier ist freilich ein Konflikt mit dem elterlichen Erziehungsrecht vorprogrammiert, aber die Regierung versucht, sich über die darauf basierende Kritik hinwegzusetzen, indem sie auf die sich im allgemeinen verringernde Erziehungsfähigkeit der Familie hinweist. Die verstärkte Einflußnahme der zentralen Schulbehörde auf die schulische Erziehung im Sinne der patriotischen und nationalistischen Gesinnung ist als Folge dieser staatlichen Bemühung zu verstehen. Da dies als Instrument für die Aufrechterhaltung der überlieferten autoritären Struktur ins Feld geführt wird, verfolgt die staatliche Einflußnahme auf die moralische Erziehung nicht das Ziel der gewissensgeleiteten Autonomie des demokratiefahigen Bürgers, sondern das Ideal eines gehorsamen Untertans. So gelang es den Konservativen im August 1999, das Nationalflaggen- und Nationalhymnengesetz aufgrund der neu gegründeten Koalition zu verabschieden. Da die Sonnenrundfahne für die Nachbarländer den imperialistischen Angriff Japans in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts symbolisiert und das Lied, das das Gebet für die ewige Herrschaft der Kaiserfamilie über Japan zum Inhalt hat, damals als eines der wichtigsten Instrumente der militaristischkollektivistischen Indoktrination in der Schule eingesetzt wurde, hatte man bisher darauf verzichtet, ihnen eine ausdrückliche Rechtsgrundlage zu verleihen. 9 Zu dieser Struktur des japanischen Sozialstaates und zum Überwindungsprozeß dieser Struktur vgl. Sung-Soo Kim/Hiroshi Nishihara: Vom paternalistischen zum partnerschaftlichen Rechtsstaat, Baden-Baden 2000, S. 25 ff. 10 Kim/Nishihara (Fn. 9), S. 19 ff.

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So stellten sie lediglich gewohnheitsrechtlich Staatssymbole dar. Nunmehr wird dieser Status gesetzlich festgelegt. Obwohl das Gesetz keine Verpflichtung zur Ehrung der Staatssymbole beinhaltet, wird es in der Praxis als Grundlage eines Verhaltensgebots herangezogen. Dies ist vor allem beim gemeinsamen Gesang von Kimigayo bei festlichen Gelegenheiten in der Schule der Fall. Der staatliche Lehrplan verpflichtet die Schulleitung seit der Fassung von 1989 dazu, bei festlichen Gelegenheiten die Nationalflagge zu hissen und gemeinsam die Nationalhymne zu singen. Diese Verpflichtung stieß jedoch auf den Widerstand der Lehrer. Ein Teil der Lehrergewerkschaft sah in dieser Verpflichtung die Wiederkehr einer staatlichen Indoktrination zugunsten der royalistisch-kollektivistischen Gesinnung und versuchte, soweit die Lehrer über die konkrete Ausführung einer festlichen Veranstaltung aufgrund ihrer Befugnisse mitentscheiden durften, die Durchsetzung dieser Verpflichtung zu verhindern. Vor dem Nationalflaggen- und Nationalhymnengesetz konnte sich diese Gruppe von Lehrern darauf berufen, daß damals diese angeblichen Staatssymbole in der Bevölkerung keine breite Anerkennung besessen hätten. Dieses Argument ist jedoch nun nicht mehr tragfähig. Das zentrale Bildungsministerium und die regionalen Schulaufsichtsbehörden verstärkten daraufhin die Kontrolle über den vorschriftsgemäßen Symbolgebrauch. In der gegenwärtigen Schulpraxis wird die Verweigerung des Mitsingens der Nationalhymne durch Schüler noch toleriert. Aus der antidemokratischen Konnotation dieses Liedes sind Fälle denkbar, in denen ein Kind und/oder die Eltern aufgrund ihrer Weltanschauung Kimigayo nicht mitsingen wollen. Diese Verweigerung durch die Schüler wird als Ausübung des Grundrechts der Gewissensfreiheit angesehen, das in Art. 19 der japanischen Verfassung zusammen mit der Gedankenfreiheit gewährleistet ist. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die Verweigerung durch einen Lehrer ebenfalls toleriert wird. Die Schulaufsichtsbehörde macht manchmal - je nach der personalen Zusammensetzung - von ihrer Kontrollmacht Gebrauch und bestraft die Lehrer, die während des gemeinsamen Gesangs schweigend sitzen bleiben, mit einem Gehaltsabzug. Dies sogar auch dann, wenn der Sicherstellung der freiwilligen Teilnahme der Schüler an dem gemeinsamen Gesang nicht Genüge getan worden ist, ja nicht einmal das Vorhandensein eines Verweigerungsrecht den Kindern bekanntgegeben worden ist. Im schlimmsten Fall folgen systematische Benachteiligungen für die verweigernden Schüler, so daß ein Lehrer die Schüler nicht ohne Sorge um ihre spätere Lage auf die Möglichkeit einer Verweigerung hinweisen kann. Wenn sich in dieser Situation ein Schüler trotzdem weigert mitzusingen, kann ein Lehrer nur durch seine eigene Verweigerung zum Ausdruck bringen, daß die Verweigerung die Ausübung eines Grundrechts darstellt und nicht vorzuwerfen ist. 8 Schünemann u. a.

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Es handelt sich hierbei wirklich um einen Fall von zivilem Ungehorsam. Dennoch ist es hier nicht angebracht, allgemein von der Gewissensfreiheit der Lehrer zu sprechen, weil das Verhalten eines Lehrers im Rahmen der schulischen Veranstaltungen unter Umständen auch eine doktrinierende Wirkung haben kann. Vielmehr kommt es in erster Linie darauf an, inwieweit die Gewissens- und Gewissensbildungsfreiheit der Kinder ernst genommen werden soll. Es ist mit anderen Worten danach zu fragen, inwieweit der Erziehung zum Patriotismus ein Vorrang vor dem individuellen Gewissen zukommen soll.

I I I . Integration und Staatssymbole 1. Nationalflagge und Kruzifix Ein Teil der Verfassungsdogmatik, der der demokratischen Bewegung der Lehrergewerkschaft nahesteht, verficht die These, daß die Veranstaltung eines gemeinsamen Gesangs von Kimigayo und das Aufhissen der Nationalflagge die freie Bildung des individuellen Gewissens stören würden und daher insbesondere in der Schule verfassungswidrig seien. Um dies zu veranschaulichen, zieht dieser Teil Parallelen zwischen der japanischen Diskussion über die Staatssymbole und dem Kruzifix-Beschluß des deutschen Bundesverfassungsgerichts. In diesem Beschluß wird ein Eingriff in die Glaubensfreiheit dahingehend konstatiert, daß die Schüler während des Unterrichts ohne Ausweichmöglichkeit mit einem religiösen Symbol konfrontiert und so gezwungen werden, „unter dem Kreuz" zu lernen. Dabei geht es vom Entscheidungsrecht des einzelnen aus, welche religiösen Symbole er anerkennt und verehrt und welche er ablehnt; hinzukommt die freiheitssichernde Wirkung des Rechts aus Art. 4 Abs. 1 GG in Lebensbereichen, die vom Staat in Vorsorge genommen worden sind. Diese Wirkung sei in einer vom Staat geschaffenen Lage anzuerkennen, in der der einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluß eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen dieser sich manifestiere, und den Symbolen, in denen er sich darstelle, ausgesetzt sei.11 Beim Kruzifix handelt es sich eindeutig um ein religiöses Symbol, bei Staatssymbolen in den meisten Fällen nicht. Dennoch ist der Vergleich insoweit berechtigt, als der japanischen Nationalhymne und Nationalflagge der religiöse Charakter nicht insgesamt abzusprechen ist. Unter der alten Reichsverfassung vom 1889 stützte sich die Kaiserherrschaft auf eine Staatsgründungsmythologie, die dem Kaiser die Gottesgleichstellung als Folge seiner unmittel-

n

BVerfGE 93, 1 (16, 18).

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baren Abstammung von den Staatsgründungsgöttern einräumte. Das Lied Kimigayo wurde damals wirklich als heilige Hymne des religiösen Staatsschintoismus behandelt.12 Eine Vergleichbarkeit des Kruzifixes mit der Sonnenrundfahne besteht auch hinsichtlich ihrer sozialen Funktion. Der christliche Glaube findet in Deutschland nicht nur aufgrund seiner Bedeutung als prägendes Kulturgut Eingang in die Schule, sondern auch als tragender Pfeiler der sittlichen Erziehung. Dies kommt im systematischen Verständnis des Religionsunterrichts (Art. 7 Abs. 3 GG) am besten zum Ausdruck, wenn beispielsweise in diesem Unterrichtsfach eine „Chance der Freiheit, der Freiheit zur Realisation eines Wertbewußtseins, das das formale Ethos des demokratischen Staates in seinem humanen Bekenntnis zur Pluralität nicht vermitteln kann und das doch die ethische Basis des Menschen auch als civis bildet" 13 , erblickt wird. Diese Bedeutung des Christentums beschränkt sich nicht auf den Religionsunterricht, wenn etwa die Erziehung der Jugendlichen von Verfassungs wegen „im Geist der christlichen Nächstenliebe" - wie es in Art. 12 Abs. 1 der Verfassung des Landes BadenWürttemberg heißt - erfolgen soll. Die Vermittlung der sittlichen Wertmaßstäbe setzt das Vorhandensein eines ethischen Bezugsrahmens voraus. Die Berufung auf das Verantwortungsbewußtsein funktioniert in der Schule nur dann, wenn Klarheit besteht, wem gegenüber der einzelne verantwortlich ist. In einer christlich geprägten Gesellschaft wie Deutschland kann man daher nicht auf die Verantwortlichkeit vor Gott gänzlich verzichten. In einer eher säkularen Sozietät wie Japan ist es dagegen schwieriger, den ethischen Bezugsrahmen festzulegen. In der heutigen Diskussion wird von der Nationalflagge und Nationalhymne erwartet, „das Öffentliche" zu repräsentieren, dem der einzelne schicksalhaft unterworfen ist und von der Verantwortung verlangt wird. Wäre das demokratische Bewußtsein weit verbreitet gewesen, daß das Öffentliche gerade durch die Mitwirkung des einzelnen gleichsam von unten gebildet würde, wäre die Staatshymnendiskussion gar nicht zustande gekommen. Angesichts der Schwäche der gesamten Bevölkerung in demokratischer Gesinnung ergriffen die Konservativen die Chance, das Öffentliche autoritär von oben sichtbar zu machen, damit die moralische Unterweisung der Jugendlichen erst wirksam wird. Das Kruzifix und die Sonnenrundfahne haben also gemeinsam, daß sie den letzten Bezugspunkt eines sittlichen Systems darstellen. Diese Bedeutung der

12 Zur Geschichte des Staatsschintoismus als altes Herrschaftsinstrument siehe Nishihara (Fn. 6), 88 ff. 13 Christoph Link: Religionsunterricht, in: E. Friesenhahn/U. Scheuner (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 1975, S. 546. Ähnlich etwa Axel Frhr. von Campenhausen: Erziehungsauftrag und staatliche Schulträgerschaft, 1967, S. 144 f.

8*

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Symbole im Klassenzimmer führt aber zu einem Spannungsverhältnis mit dem Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit, weil die Wahl des sittlichen Systems in einem pluralistischen Staat grundsätzlich dem einzelnen anheimgestellt ist.

2. Das Recht des Staates auf Selbstdarstellung durch Symbole Bei all diesen Ähnlichkeiten ist der Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts nicht unmittelbar auf den Flaggenfall anzuwenden. Diese Unanwendbarkeit gründet sich nicht darauf, daß beim Kruzifix die Glaubensfreiheit, bei Staatssymbolen dagegen höchstens die Gewissensfreiheit tangiert wird; denn letztere unterbindet auch die staatliche Einflußnahme durch eine erzwungene Konfrontation mit einem weltanschaulichen Symbol. Der Unterschied zwischen dem Kruzifix und den Staatssymbolen besteht vielmehr darin, daß sich der Staat wegen des verfassungsrechtlichen Neutralitätsgebots nicht mit einem religiösen Symbol identifizieren kann. Dies ist dagegen nicht der Fall, wenn er sich für seine eigene Selbstdarstellung eines Staatssymbols bedient. Insbesondere in einer Demokratie, die von der aktiven Unterstützung seitens der Bevölkerung abhängig ist, ist der Staat berechtigt, Anhaltspunkte für ein staatsbürgerliches Bewußtsein anzubieten. Das Bundesverfassungsgericht proklamiert dieses Recht des Staates in einem Beschluß über die Bundesflaggencollage. Dieses Recht, vorausgesetzt in Art. 22 GG, verleiht dem strafrechtlichen Schutz des Staatssymbols in § 90 a StGB den Verfassungsrang, der bei der verfassungsmäßigen Einschränkung der Freiheit der Kunst in Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG notwendig sei.14 Diese Aussage bezieht sich freilich auf die unmittelbar verfassungsgesetzlich legitimierte Farbe Schwarz-Rot-Gold. Das Bundesverfassungsgericht stellt dabei gleichzeitig fest, daß der Staat nicht ein beliebiges Symbol schaffen dürfe. Damit ist vor allem Schwarz-Weiß-Rot gemeint, das unter der Weimarer Verfassung als wirksame Angriffswaffe im Kampf gegen die Republik und Verfassung eingesetzt wurde. Somit besteht das staatliche Recht zur Symbolführung nicht allgemein, sondern nur im Zusammenhang mit Symbolen, die in ihrem Sinngehalt die verfassungsrechtliche Grundordnung der freiheitlichen Demokratie repräsentieren können. Gerade in diesem Gesichtspunkt versucht ein Teil der japanischen Dogmatik, die verfassungsrechtliche Legitimität der japanischen Staatssymbole in Abrede zu stellen. Die Nationalhymne gehöre zum absolutistisch-monarchischen Gedankenkreis, die Nationalflagge zum militaristischen Kollektivismus, so daß

14

BVerfGE 81, 278 (293).

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die beiden demokratisch nicht zu rechtfertigen seien. Wäre dieses Argument richtig, könnte sich die japanische Regierung nicht auf das verfassungsmäßige Recht berufen, sich dieser Symbole zu bedienen. Inwieweit eine antidemokratische Tendenz in diese Symbolen hineingelesen werden kann, ist jedoch eine Frage der subjektiven Interpretation. Auch wenn sich die politische Kraft, die nach dem Nationalflaggen- und Nationalhymnengesetz strebte, die Überwindung der freiheitlichen Demokratie durch die Totalrevision der japanischen Verfassung zum Ziel setzt, ist es schwierig, die Symbole selbst als verfassungsfeindlich zu bezeichnen. Zumindest angesichts des Art. 1 der japanischen Verfassung, der dem Kaiser die Stellung des Symbols vom japanischen Staat und von der Integration der japanischen Bevölkerung einräumt, können Kimigayo und die Sonnenrundfahne eine mittelbare verfassungsrechtliche Begründung beanspruchen. Somit ist auf die Frage zurückzukommen, inwieweit das Recht des Staates, Symbole zum Zweck der Selbstdarstellung zu verwenden, gegenüber der Gewissensfreiheit des einzelnen einen Bestand haben kann und soll. In der deutschen Literatur wird teilweise die verfassungsunmittelbare Stellung dieses Rechts bezweifelt, wenn vorgebracht wird, daß nun - entgegen der früheren Position des Bundesverfassungsgerichts - nicht das Grundgesetz, sondern das Bundesverfassungsgericht bestimme, welche Werte verfassungsrechtlich geschützt seien.15 In dieser Kritik geht es eigentlich um die Relativierung der privilegierten Position der vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte in Art. 5 Abs. 3 GG im Gegensatz zu denen in Art. 5 Abs. 1 GG, ein Problemfeld, auf das hier nicht näher eingegangen werden kann. Diese Beobachtung bringt jedenfalls zum Ausdruck, daß das staatliche Recht der Symbolbenutzung nicht als solches verfassungspositivistisch zu begründen ist, sondern von einer allgemeineren Staatsauffassung bedingt wird.

3. Staatssymbole als Faktor sachlicher Integration? Das Bundesverfassungsgericht geht bei der Konstatierung des staatlichen Rechts auf Symbolbenutzung davon aus, daß der Zweck der Staatssymbole darin bestehe, „an das Staatsgefühl der Bürger zu appellieren" 16. Aus dieser Bedeutung der Staatssymbole heraus entwickelt Thomas Württemberger die Notwendigkeit eines strafrechtlichen Symbolschutzes. Ihm zufolge werde durch Verunglimpfung der staatlichen Symbole das Ansehen des Staates unter-

15 16

Christoph Gusy: Anm., JZ 1990, 641. BVerfGE 91, 278 (293). Vgl. Krüger (Fn. 4), S. 226.

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graben; Angriffe auf das Ansehen von Staat und Verfassung seien in der Demokratie gleichbedeutend mit Angriffen auf deren Existenz.17 A l l diesen Argumentationen liegt die integrierende Wirkung der Staatssymbole zugrunde, die Rudolf Smend im Rahmen seiner Integrationstheorie hervorgehoben hat. Er sah in der Festsetzung der Reichsfarben in Art. 3 WRV eine Bestimmung, die die Eigentümlichkeit der Verfassung ausmache.18 Der staatsrechtliche Inhalt dieser Norm liege in der Aussage mit integrierender Funktion, daß „das deutsche Volk als solches in diesem Symbol und in den durch dieses Symbol repräsentierten Werten von Verfassungs und Rechts wegen eins sein soll" 19 . Da nach seiner Theorie der Staat im Prozeß beständiger Erneuerung und dauernden Neuerlebens der Gesamtheit, ja im Prozeß der Integration existiert und die Verfassung die Rechtsordnung des Integrationsprozesses ist, gehört die Funktion der Reichsfarbe, das Staatsethos zu symbolisieren, zu den wichtigsten Verfassungsnormen. 20 Die „Integration" im Smendschen Sinne stellt jedoch nicht nur ein empirisches Faktum dar, sondern schreibt darüber hinaus auch praktische Normen vor. Wenn die Integration eine Übereinstimmung der gesamten Bevölkerung über eine bestimmte Welt der Werte voraussetzt, wird die Homogenität in dieser Wertauffassung normativ erwartet. Dieses methodologische Vorverständnis erklärt, warum Württemberger, gleichsam in einem Beeinträchtigungswahn verhaftet, in einer reinen Symbolverunglimpfung eine unmittelbare Bedrohung der Staatsexistenz sieht. Die Verunglimpfung stößt nämlich gerade die normative Erwartung um, die aufgrund der Verfassung in der Bevölkerung geteilt werden sollte. Diese Argumentation bringt jedoch die Gefahr des Gewissenszwangs mit sich. Da es in dieser Position letzten Endes um die Aufrechterhaltung der Homogenität der Wertanschauungen geht, kann sie keine einzige Verunglimpfung tolerieren. Diese ist für sie nicht wegen der Auswirkung strafbar, die die Unterstützung des Staates und der Verfassung durch den Rest der Bevölkerung gefährdet, sondern deswegen, weil die Verunglimpfung die Abweichung von der verfassungsrechtlich erwarteten Homogenität zum Ausdruck bringt. Konsequent durchdacht ist diese Auffassung nicht mit der Position des Bundesverfassungsgerichts vereinbar, die im Konfliktfall eine fallbezogene Abwägung der Freiheit der Kunst mit dem Schutzzweck des § 90 a StGB verlangt.

17

Thomas Württemberger:

Kunst, Kunstfreiheit und Staatsverunglimpfung, JR 1979,

311. 18 19 20

Smend: Staatsrechtliche Abhandlungen, 2 1968, S. 261 f. Smend (Fn. 18), S. 94. Smend (Fn. 18), S. 136, 189.

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Die Position des Bundesverfassungsgerichts ist also nicht als unmittelbare Folge der Smendschen Integrationstheorie zu erklären. In diesem Zusammenhang bringt Roman Herzog, der auch am Bundesflaggenbeschluß als Präsident des Bundesverfassungsgerichts beteiligt war, einen alternativen theoretischen Rahmen für die Ermittlung des durch Symbolschutz verfolgten Interesses. Er stellt ausdrücklich auf die integrierende Kraft ab, die „der Staat selbst durch seine Verfassung und seine politischen Leistungen entfaltet", und warnt vor einer Verwechslung des Begriffs mit der Funktion der Staatssymbole. Nicht alles, was der Integration des Staates bzw. Staatsvolkes diene, habe deshalb schon den Charakter eines Staatssymbols, und umgekehrt sei die integrierende Wirkung, die von Staatssymbolen erwartet werde, in erster Linie von der Integrationskraft abhängig, die vom Staat selbst, seinem Charakter und seiner eigenen Integrationskraft ausgehe.21 In dieser Position ist zwar die Notwendigkeit des Symbolschutzes nicht allgemein in Zweifel gezogen, aber die diesbezügliche Argumentation auf eine vernunftorientierte Grundlage gestellt, indem der Beeinträchtigungswahn als Ausgangspunkt abgelehnt wird. Damit versucht Herzog, die inhaltsbezogene Diskussion über die zu verwirklichenden Staatstätigkeiten in die Mitte der demokratischen Legitimation zu stellen und den manipulierenden Gebrauch der Staatssymbole aus diesem Legitimationszusammenhang zu bannen. Mit dieser Feststellung wirft Herzog die Frage auf, ob die integrierende Funktion als solche eine verfassungsrechtliche Bedeutung hat. Diese Frage stellt zugleich eine grundlegende Kritik an der Integrationstheorie Smends und ihren gegenwärtigen Nachhallwirkungen dar. Die Integrationstheorie hob die Bedeutung der einheitsstifienden Zeremonie mit durchgeplantem Einsatz von emotionellen Integrationstechniken wie der Teilnahme am gemeinsamen Rhythmus und zur Akklamation hervor und setzte solche Faktoren etwa mit der Gewährleistung der Grundrechte funktional gleich. In der heutigen Diskussion orientiert sich die positive Beurteilung der Staatssymbole nicht an der integrierenden Wirkung selbst, sondern höchstens am Staatsgefühl im Sinne des „Willens zur Verfassung" 22. Damit wird die Entscheidung zugunsten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausdrücklich zugrunde gelegt. Diese Orientierung darf jedoch nicht den Sachverhalt verdunkeln, daß der Appell an die Bürger auf Hervorrufen eines entsprechenden Wertbewußtseins abzielt, wie dies Württemberger zum Ausdruck bringt. 23 Bei aller Notwendigkeit des demokratischen Wertbewußtseins seitens

21 Roman Herzog: Art. 22, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 33. Lfg., 1997, Rn. 2. 22 Beispielsweise Württemberger (Fn. 17), 311. 23 Württemberger (Fn. 17), 311.

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der Bürger ist doch anzuerkennen, daß dieser Appell in erster Linie auf der emotionalen Ebene fungiert und nicht aufgrund der vernünftigen Diskussion über die Leistungen des Staates. Insoweit ist dieser Appell nicht sauber vom Begriff der Manipulation zu trennen. Wenn man dabei beobachtet, daß der einzelne Mensch im Falle einer Manipulation zu einem Objekt staatlicher Beeinflussung degradiert wird, anstatt als souveräner Bürger des Staates geachtet zu werden, dann ist leicht erkennbar, daß diese Manipulation ein systemfremdes Moment in der freiheitlichen Demokratie darstellt. Dies alles hängt mit dem Dilemma eines freiheitlichen Staates zusammen: Die Demokratie setzt die demokratische Gesinnung auf Seiten der Bürger voraus, die jedoch nicht vom Staat erzwungen werden darf. 24 Es ist fraglich, ob die als notwendig erachtete Gesinnung durch staatliche Manipulation hervorgerufen werden darf, weil eine solche Einwirkung von Seiten des Staates die freie Diskussion über die zu erfolgenden Staatsleistungen hemmt, aufgrund derer allein die Legitimität eines demokratischen Staates sich bewähren kann.25 Wenn in dieser Situation ein emotionaler Manipulationsversuch Verfassungsstatus erhält und somit zur Einschränkung der fundamentalen, vorbehaltlos zu gewährleistenden Grundrechten herangezogen wird, findet hierin eine kaum zu rechtfertigende Verabsolutierung des Einheitsgefühls statt. Darin läßt sich schon der erste Schritt zum Selbstmord der freiheitlichen Demokratie erkennen. In bezug auf die Einschränkung der Freiheit der Kunst zum Zweck des Symbolschutzes urteilt das Bundesverfassungsgericht, daß bei einer fallbezogenen Abwägung dem Mittel der satirischen Verfremdung (Einkleidung) ein größerer Freiraum zukommt als ihrem eigentlichen Inhalt (Aussagekern). 26 Hier fragt Friedhelm Hufen, was geschähe, wenn sich der Angriff dem Inhalt nach unmittelbar auf Staat und Verfassung bezöge: Gehöre es mit anderen Worten nicht gerade zu den Kennzeichen der durch die Flagge symbolisierten freiheitlichen Ordnung, daß sie durch künstlerische Angriffe nicht zu gefährden sei, sondern sich gerade in der Toleranz diesen Angriffen gegenüber bewähre? 27 Die Beantwortung dieser Frage verlangt eine Stellungnahme zum Problem, wie freiheitlich die freiheitliche Demokratie deutscher Prägung sein kann.

24 Das fundementale Dilemma brachte Böckenförde schon längst zum Ausdruck. Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders.: Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 112. Vgl. auch Joseph Isensee: Demokratischer Rechtsstaat und staatsfreie Ethik. Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 11 (1977), S. 104 f. 25 Neuerdings hebt Mori hervor, daß die Freiheit, alles bezweifeln zu dürfen, zur stärksten Überzeugung über die Legitimation der verfassungsmäßigen Grundordnung führen kann. Toru Mori : Die Meinungs- und Kunstfreiheit und der Strafschutz der Staatssymbole, JÖR n.F. 48 (2000), 136. 26 BVerfGE 81, 278 (295). 27 Friedhelm Hufen: Anm., JuS 1991, 690.

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4. Gewissensfreiheit, staatliche Neutralität und demokratische Gesinnung Wenn vom fundamentalen Dilemma der freiheitlichen Demokratie ausgegangen wird, konzentriert sich das Problem auf die Frage, ob und inwieweit der Staat fur die Verbreitung und Aufrechterhaltung der demokratischen bzw. freiheitlichen Gesinnung tätig werden darf. Das Spektrum der denkbaren Alternativen reicht vom unmittelbaren Gewissenszwang bis hin zur völligen Indifferenz. Es ist ein großes Verdienst Schollers, die Bedeutung der quasi-institutionellen Bedeutung der Gewissensfreiheit in diesem Zusammenhang herausgearbeitet zu haben: Schließlich müßte erwähnt werden, daß das Grundgesetz entgegen einer wohl mißgedeuteten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keine allgemeine Bürgerpflicht zur Verteidigung der Verfassung und des Staates auferlegt. Es tut dies eben deshalb nicht, weil auf dem Prinzip der Gewissensfreiheit und der mit ihr verbundenen Regelung der Neutralität, Rechtsstaatlichkeit und der Toleranz eine solche Verteidigungspflicht in das Innere der Bürger eingreifen würde, das von solchen Reglementierungen freigehalten werden soll. 8

Daraus folgt, daß eine - wie immer geartete - demokratische Gesinnung auf keinen Fall vom einzelnen erzwungen werden darf. Die integrierende Funktion oder die Bedeutung der wertbezogenen Homogenität stellt keinen Grund für die Beschränkung der individuellen Gewissensfreiheit dar. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts soll der Umfang der Freiheit der Kunst im Konfliktfall mit dem Schutz staatlicher Symbole durch fallbezogene Abwägung bestimmt werden. Da die Gewissensfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG ohne Vorbehaltsklausel gewährleistet ist, ist dieser Grundsatz auch für sie anwendbar, aber nur soweit, als Formen der äußeren Gewissensbetätigung in Frage stehen. Wenn es dagegen darum geht, ob die Beibehaltung bzw. Übernahme eines bestimmten Gewissensinhalts unmittelbar zu einer rechtlichen Pflicht erhoben werden darf, kommt der Gewissensfreiheit ein absoluter Vorrang zu. Dies ändert sich nicht, auch wenn sich die erzwungene Position verfassungsunmittelbar als demokratische bzw. freiheitliche Gesinnung rechtfertigen kann. Wenn es aber nicht um einen Zwang, sondern um ein Angebot einer Identifikationshilfe 29 geht, ist die Grenze nicht mehr so einfach zu ziehen. In diesem Bereich kommt es erstens darauf an, inwieweit sich die sittliche Position auf

28

Heinrich Scholler: Gewissensfreiheit des einzelnen (Fn. 2), S. 96. Häberle versteht die verfassungsimmanenten Erziehungsziele (Peter Häberle: Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981, S. 73) sowie Staatssymbole, insbesondere Feiertage (ders.: Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987, S. 29; ders.: Verfassung als Kulturwissenschaft, 2 1998, S. 981 f.) als „Angebote", die vom Staat vorgeschlagen, aber nicht erzwungen werden dürfen. 29

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eine verfassungsrechtliche Wertentscheidung berufen kann, und zweitens darauf, ob und inwieweit der einzelne faktisch eine abweichende Position bilden kann. Ein typisches Beispiel bietet das Problem der Erziehungsziele. Die diesbezügliche Diskussion in den siebziger Jahren läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß Werte um so eher zur Grundlage schulischer Erziehung herangezogen werden können, je verfassungsunmittelbarer sie sich ableiten lassen. Joseph Isensee, der ebenfalls von dem oben genannten Dilemma des freiheitlichen Staates ausgeht, erkennt dem „von der Verfassung apostrophierten Sittengesetz" die Bedeutung als legitime Grundlage des Erziehungsprogramms in der staatlichen Schule zu, fügt aber gleichzeitig hinzu, daß auch die verfassungsunmittelbaren Erziehungsziele nach den Erfordernissen der weltanschaulichen Neutralität zu interpretieren seien und keinen Rechtstitel zu „Proselytenmacherei" geben würden und ebensowenig der Versuch zulässig wäre, die besonderen Leitbilder einer gesellschaftlichen Gruppe über das Medium der Schulhoheit zur Staatsmoral zu erheben und der Allgemeinheit zu oktroyieren. 30 Ähnlich hebt Hans-Ulrich Evers, der grundsätzlich die Pflicht zur inneren Anerkennung der Verfassungsgrundwerte postuliert, dennoch hervor, daß die Erziehung zur Bejahung der Grundwerte des Grundgesetzes für den Schüler nur zumutbar sei, wenn dieser Erziehungsauftrag nicht absolut gesetzt, sondern der viel weitergreifenden Aufgabe, dem Schüler zu seiner Selbstentfaltung zu verhelfen, untergeordnet werde. 31 Wenn also die staatliche Schule in erzieherischer Hinsicht nicht völlig von einer standpunktlosen Indifferenz geprägt sein kann und sich mindestens mit den Grundwerten der Verfassung identifizieren muß, verlangt doch die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Gewissensfreiheit mit ihrer quasiinstitutionellen Bedeutung im Sinne des Neutralitäts- bzw. Toleranzgebots, daß die Übernahme eines bestimmten Wertgehaltes nicht in einer Weise oktroyiert werden darf, in der die verantwortungsbewußte Autonomie aufgrund des individuellen Gewissens ausgeschaltet würde. 32 Das Neutralitätsgebot findet zwar im Bereich der verfassungsrechtlichen Wertentscheidung seine Grenze, aber gibt dennoch Leitlinien für die Wahrnehmung der erzieherischen Aufgabe innerhalb der grundsätzlich zur Neutralität verpflichteten Schule. 30

Isensee (Fn. 24), S. 113 f. Hans-Ulrich Evers: Die Befugnis des Staates zur Festlegung von Erziehungszielen in der pluralistischen Gesellschaft, 1979, S. 106 f., 111. 32 Vgl. in diesem Zusammenhang die von Oppermann hervorgehobene Bedeutung der Toleranz. Thomas Oppermann: Nach welchen rechtlichen Grundsätzen sind das öffentliche Schulwesen und die Stellung der an ihm Beteiligten zu regeln?, Gutachten C zum 51. Deutschen Juristentag, 1976, C 107; ders.: Zum Grundrecht auf eine tolerante Schule, RdJB 1977, S. 44; ders.: Schule und berufliche Ausbildung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1981, S. 346. Zur Bedeutung des Neutralitäts- und Toleranzgebots in der Schule vgl. Nishihara: Gewissensfreiheit in der Schule, Der Staat 32 (1993), 574 f. 31

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IV. Staatliches Angebot einer Identifikationshilfe und die Gewissensfreiheit Was ergibt sich aus diesen theoretischen Überlegungen, wenn sie auf den japanischen Flaggen- und Hymnenstreit angewandt werden? Als erstes ist hier daran festzuhalten, daß ein unmittelbarer Zwang zur Übernahme einer bestimmten ethischen Position auf einen unzulässigen Eingriff in die Gewissensfreiheit des einzelnen hinausläuft. Dies gilt auch für Fälle, in denen die verweigernde Gewissensposition eines einzelnen in äußerem Verhalten in Erscheinung tritt und diesem Verhalten Nachteile folgen. Wenn bei einer festlichen Gelegenheit in der Schule die Nationalhymne gemeinsam gesungen werden soll, können die verweigernden Schüler sich auf ihre Gewissensfreiheit berufen und ruhig sitzen bleiben. Dies gilt um so mehr, weil der Text von Kimigayo den Wunsch zum Ausdruck bringt, es gedeihe ewig die kaiserliche Herrschaft über Japan, und darin antidemokratische und antiegalitäre Momente erkennbar macht. Soweit es jedoch um das Verbot eines Gewissenszwangs geht, sind solche Momente nicht das Entscheidende. Vielmehr gilt das Indoktrinationsverbot unabhängig davon, was dadurch oktroyiert wird. Nur der einzelne selbst darüber befindet, wie er sein Verhältnis zu Staat und Staatssymbolen gestalten will, weil die Identität des einzelnen als Mitglied einer umfassenderen Gemeinschaft - sei es des Staates, sei es einer ethnischen Gruppe, sei es aber auch einer globalen Friedensordnung - den Kern seiner Persönlichkeit bildet. Zwang darf also auf keinen Fall ausgeübt werden. 33 Eine weitere Frage lautet, ob und inwieweit die staatliche Einflußnahme auf die sittliche Haltung der Kinder anhand der Staatssymbole verfassungsrechtlich zulässig ist. Wenn die Freiwilligkeit der Teilnahme am gemeinsamen Gesang sichergestellt ist, besteht keine Zwangssituation. Wenn die Nationalflagge jeden Tag vor dem Schulgebäude flattert, wird eine erzieherische Auswirkung dadurch verfolgt, aber diese Einwirkung läßt sich nicht als rechtlicher Zwang identifizieren. Darf der Staat eine solche Einflußnahme ausüben? Bei der Beantwortung dieser Frage kommt es nun erstens auf die verfassungsrechtliche Legitimität der vermittelten Wertgehalte, dann zweitens auf die Art und Weise der Beeinflussung an. Wenn eine verfassungsfeindliche Ideologie durch Symbole den Kindern eingepflanzt werden soll, ist ein solcher Versuch eine Verletzung der Pflicht zur Verfassungstreue seitens der Schulverwaltung, Schulleitung und der Lehrer. Wenn dagegen der vermittelte Standpunkt im Rahmen der verfassungsunmittelbaren Grundwerte steht, ist es dem Staat erlaubt, diesen Wertgehalt durch ein Symbol zu veranschaulichen. Was ein konkretes Symbol symbolisiert, läßt sich dabei nicht ausschließlich im We33 Was in diesem Zusammenhang einen Zwang darstellt, ist eine komplizierte Frage. Vgl. zu diesem Fragenkomplex Nishihara (Fn. 4).

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ge einer juristischen Interpretation ermitteln, so daß die Beurteilung liber diese Frage eher dem politischen Prozeß anheimzustellen ist. Die Gefährdungslage der Gewissensfreiheit der Schüler bei der Einführung der Staatssymbole in die schulischen Erziehungstätigkeiten bringt die Lehrer in eine schwierige Situation. Als staatliche Amtsträger dürfen sie sich nicht überall unmittelbar auf ihre Gewissensfreiheit berufen, auch wenn sie nicht mit dem zu vermittelnden Wertgehalt einverstanden sind. Dennoch trägt das individuelle Gewissen eine kardinale Verantwortung. Indoktrinationsversuche sind dem Staat verwehrt. Wenn trotzdem die Schulaufsichtsbehörde den Lehrern befiehlt, die Schüler mit allen Mitteln beispielsweise zum Mitsingen der Nationalhymne zu veranlassen, dann entsteht unter Umständen ein ernsthafter Normenkonflikt. Einerseits sind die Lehrer verpflichtet, Grundrechte der Schüler zu achten und vor Eingriffen zu schützen. Andererseits ist der Gehorsam gegenüber der Anordnung der Schulaufsichtsbehörde für sie Pflicht, auch wenn sie eine Grundrechtsverletzung zum Inhalt hat. In der deutschen Rechtslehre hat sich die These entwickelt, daß sich ein Beamter seiner Verantwortung nicht mit der Behauptung entziehen kann, er habe nur einem Befehl des Vorgesetzten Folge geleistet. Diese These, die die Bestrafung von Kriegs- und NSDAP-Verbrechern erst ermöglichte, wurde zuletzt im Mauerschützenprozeß nochmals vom Bundesgerichtshof festgestellt. 34 Die Beamten sind also verpflichtet, ihr Gewissen zu betätigen, auch wenn sie im Amt handeln.35 Dies gilt auch für die Lehrer. Wenn ein Lehrer sein Gewissen ausschaltet und sich geflissentlich mit der angeordneten Indoktrination beschäftigt, ist er selbst für den Eingriff in die Gewissensfreiheit der Schüler verantwortlich. In dieser Situation gewinnt die Gewissensfreiheit der Lehrer eine zusätzliche Bedeutung. Wenn ein Lehrer deswegen seine ablehnende Haltung gegenüber Staatssymbolen vor den Schülern äußerlich erkennbar macht, weil dies allein erstens seinem individuellen Gewissen entspricht und zweitens dafür notwendig ist, die Schüler vor einer unzulässigen Beeinflussung zu schützen, verhält er sich rechtmäßig. In der gegenwärtigen Lage in Japan ist diese Rechtmäßigkeit in Theorie und Praxis nicht

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BGHSt 39, 1 (15 ff.). Es ist aber gleichzeitig darauf hinzuweisen, daß die Pflicht zur Anspannung des Gewissens, die ein in der deutschen Strafrechtslehre anerkanntes Kriterium für die Ermittlung des strafbaren Verbotsirrtums ist (BGHSt 2, 194 [201]; Schönke/Schröder/ Cramer : Strafgesetzbuch. Kommentar, 2001, § 17 Rn. 14), nicht dahingehend verstanden werden darf, daß ein Strafrichter den Inhalt seines Gewissens verabsolutieren und beurteilen kann, wie der Angeklagte sein Gewissen hätte betätigen sollen, weil es einem staatlichen Gewissenszwang gleichkäme. Der Inhalt des Gewissens ist von Mensch zu Mensch verschieden, und das Grundrecht der Gewissensfreiheit schützt das Gewissen jedes einzelnen mit dieser Inhaltsheterogenität vor einem staatlichen Homogenitätszwang. 35

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allgemein anerkannt. Ob sie im weiteren Verlauf der diesbezüglichen Prozesse anerkannt wird, stellt einen Prüfstein dafür dar, ob der Staat die Gewissensfreiheit des einzelnen wirklich ernst nimmt, mindestens ernster nimmt als die Homogenität im Bewußtsein der Untertanenverpflichtungen.

50 Jahre Menschenrechte in Taiwan: Rückblick und Prognosen

Von Chen Shan Li

Vorwort Seitdem die Vollversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet hat, sind 50 Jahre vergangen. Im Vorwort dieser Erklärung hofft man, neben der Erwähnung des Gedankens der Menschenrechte durch den Schritt, „die Erklärung der allgemeinen Menschenrechte zu verkünden, ein Ziel zu schaffen, nach welchem alle Völker und Staaten gemeinsam eifrig streben, dass die Erklärung zu einer immerwährenden Parole für alle Menschen und gesellschaftlichen Organisationen wird, dass man deren Grundsätze mit allen Kräften registriert und dieselben zur Anerkennung der Menschenrechte und der Freiheit anspornen (wird und dadurch die Menschenrechte) nach und nach wirkungsvolle Anerkennung erhalten und befolgt werden, dass die Völker der Mitgliedstaaten und jene der von denselben verwalteten Territorien samt und sonders ewigen Schutz genießen."1 Das letzte halbe Jahrhundert ist fast zur Gänze dadurch gekennzeichnet, dass die Guomindang-Regierung nach Taiwan übergewechselt ist und dieses Stück Land verwaltet. In der oben erwähnten Deklaration, 2 die unser Staat als einer der ersten mitunterzeichnet hat,3 werden hohe Erwartun1 Qiu Hongda/Chen Chunyi (Hrsg.): Nachschlagedokumente bezüglich des gegenwärtigen internationalen Rechtes, San Min Verlag, Taiwan 1996, S. 370. 2 Da die UN-Charta der UN-Voll Versammlung keinerlei Legislativrechte einräumt und die UNO durch die Charta die Welt-Menschenrechte festgelegt hat und es sich besonders um die erwähnte politische Reputation bzw. Mitteilung sowie Forderung von Moral handelt, haben die Mitgliedstaaten gegenüber jeder einzelnen Bestimmung nur moralische Obligationen und keine rechtlichen Verpflichtungen. Jedoch sind die Charta und deren Normen Fundament aller Verträge zum Schutz der Menschenrechte. Mithin hat sie realen Einfluss auf Verfassungen und auf die konstitutionelle Regierungsform aller Staaten. Vgl. Li Mengben: Abhandlung über Basischarakteristik und gesetzliche Wirkungskraft der Charta der Welt-Menschenrechte. Gesammelte wissenschaftliche Schriften der Chengchi-Universität, Taiwan 1998, S. 333 f. 3

Im Justiz-Yuan Verfassungsgericht Resolutionserklärungssatz Nr. 372 seitens des Mitglieds Su Junxiong ist erklärt: „Die Welt-Menschenrechtsdeklaration betrifft die

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gen gesteckt. W i e w e i t hierzulande die Menschenrechte beachtet und eingehalten werden, darüber sollen sowohl ein Rückblick gegeben als auch Prognosen erstellt werden. D a die Frage der Menschenrechte nicht nur Recht und Gesetz, sondern viele Bereiche w i e Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Religion, Philosophie etc. betrifft, ist diese Abhandlung ein Bericht, in dem die Behandlung der Menschenrechtsfrage i n den letzten 50 Jahren in Taiwan gründlich betrachtet wird. Es sprengt den Rahmen der Arbeit, alle Vorkommnisse in zeitlicher Reihenfolge darzustellen 4 bzw. alle individuellen Aspekte der Menschenrechte gleichermaßen zu berücksichtigen 5 und i m Einzelnen zu überprüfen. Infolgedessen habe ich den hinsichtlich der konstitutionellen Umstrukturierung so wichtigen 5. M a i 1991 als ungefähre Trennungslinie gesetzt. 6 Die Abhandlung beinhaltet einen von m i r ausgewählten Bereich, der die Internationalisierung der Gewährleistung der Menschenrechte, die Änderung der Verfassung, die Auslegung derselben sowie das W i r k e n anderer Gewalten umfasst.

Mitgliedsstaaten selbst sowie deren regierte Völker. Zur Erhaltung der Form der demokratischen, konstitutionell regierten Staaten sollen die Staaten alles tun, um die Pflicht zum Erhalt der internationalen Menschenrechte zu erfüllen." Obgleich unser Land derzeit kein Mitgliedstaat der UNO ist, ist es doch ein Mitgliedsland der Demokratien mit konstitutioneller Verfassung und hat demzufolge in puncto Menschenrechte dem internationalen Standard zu entsprechen. Als die Republik China 1971 aus der UNO austrat, hat die Regierung den Wunsch verkündet, der UNO wieder beizutreten und die in deren Charta bekannt gemachten Ziele sowie Prinzipien zu befolgen. 4 Zu einer geordneten Darstellung der Menschenrechte in Taiwan siehe Wei Tingchao: Buch der Berichte der Menschenrechte in Taiwan 1949-1996, WenyingtangVerlag, Taiwan 1997. 5 Wie ζ. B. die Reihenfolge von Gleichberechtigungs-, Freiheits-, Leistungsrecht und dem Recht zur Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen oder die jährlich veröffentlichten Berichte über die Menschenrechte in Taiwan durch die Gesellschaft für Menschenrechte in Taiwan, 1997. 6 Diskussionen darüber in Chen Xinmin: 50 Jahre Gewährleistung der Grundmenschenrechte, in: Juristische Zeitschrift Yuedan, Nr. 36, April 1997, S. 119 f.; Lin Shantian: 50 Jahre Rechtssystem in Taiwan (1945-1995), in: Rechtssystem der Erklärung des Kriegsrechts, Rechtssystem zur Mobilmachung zur Unterdrückung der Rebellion, Rechtssystem nach dem Ende der Mobilmachung zur Unterdrückung der Rebellion, publiziert in: Aufsatzsammlung über das Rechtssystem in Taiwan aus 100 Jahren, Publikation der Taiwanesischen Juristischen Gesellschaft, 1996, S. 82-127. Ausserdem: Aufsatzsammlung über die Neubewertung und Zukunftsaussichten des Rechtssystems nach Beendigung der Mobilmachung zur Unterdrückung der Rebellion, Taiwanesische Juristische Gesellschaft, April 1991.

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I. Die Menschenrechte in Taiwan im Zusammenhang mit der Internationalisierung der Gewährleistung der Menschenrechte 1. Die Internationalisierung der Gewährleistung der Menschenrechte befindet sich im Einklang mit der Idee des „Internationalen Grundrechtskonstitutionalismus." Abgesehen davon, dass in diesem gefordert wird, dass alle Staaten der Erde die Menschen- oder Grundrechte in ihren Verfassungen verankern sollen, erreichen dieselben in Form einer weltweiten Dimension ihre Internationalisierung. 7 Mit anderen Worten besteht in diesem Staat die Hoffnung, dass die Idee des „Internationalen Grundrechtskonstitutionalismus" in der Verfassung verwirklicht wird und die Prinzipien der Menschenrechte für die Gewalten unseres Landes bindend werden. Im Sinne der Internationalisierung kann die Menschheit hoffentlich die Gewährleistung derselben sicherstellen. Jedoch herrscht zwischen Ideal und Realität oft eine tiefe Kluft; die Menschenrechte wurden in Taiwan während der Zeit der Mobilmachung zur Unterdrückung der Rebellion (10. Mai 1948 bis 1. Mai 1991) brutal außer Kraft gesetzt. Aus dem Gedanken der Volkssouveränität heraus, sollten Menschenrechte die Kompetenzen von Verwaltung, Legislative und Justiz durch Gesetze genau festsetzen. 8 Das Gegenteil war der Fall. Die damaligen öffentlichen Gewalten Verwaltung, Legislative und Justiz setzten den Präsidenten ins Zentrum und beschränkten selbst, mittelbar oder unmittelbar die Menschenrechte. Vor allem diejenigen, die die Macht der Regierung beschränkten oder dieser ideologisch widersprachen, wurden zur Gänze außer Kraft gesetzt. Vor allem die Menschenrechte, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit gewährleisten sollten und eine freie Wahl garantierten, wurden beseitigt. Jegliche Einwände gegen die Regierung oder die Äußerung anderer politischer Standpunkte wurden sofort als „politische Vergehen" betrachtet.9 Darüber hinaus galten Organisatio-

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Klaus Stern: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/I, Allgemeine Lehren der Grundrechte, 1988, § 62 I 2. Nach Ansicht von Lin Ziyi ist dies der Aufbau einer „eingeschränkten Regierung, Maßnahmen zum Schutz gegen willkürliche Entscheidungen der Regierung, um die Grundmenschenrechte des Volkes zu schützen." Siehe Lin Ziyi : Machtverteilung und Entwicklung der Verfassung, Yuedan Verlag, Taiwan 1993, Kapitel 6. Ansonsten Li Honhxi: Die Krise des konstitutionellen Systems und der Niedergang des Menschenrechtsgedankens; und: Konstitution und Verfassung, Rechtswissenschaftswerk des Jihgen Verlags, Taiwan 1997, S. 1 ff. 8

So ausdrücklich im Grundgesetz, Art. 1 Abs. 3. Zu dieser Zeit verneinte die Regierung vehement die Existenz einer „politischen Strafe", einer „Gewissensstrafe" oder einer „Gedankenstrafe", doch ist dies aus der Beseitigung von Widerstand in Art. 100 des Strafrechts, der vom Legislativ-Yuan aufgestellten „Ordnung des 228-Zwischenfalls und Entschädigungsbestimmungen", „Wiedergutmachungsbestimmungen fur erlittenen Schaden des Volkes während der Proklamation des Kriegsrechts" und „Entschädigungsbestimmungen für unfaire Gerichtsprozesse bezüglich Rebellion und Spionage zur Zeit der Proklamation des Kriegsrechts" entstanden. Im Besonderen ist im Einstellungsgesetz öffentlich Bediensteter nach der 9

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nen der Regierung, Schulen, Militär und Gefängnisse als „Räume außerhalb der Gesetze." Mithin gab die Justiz automatisch ihre Kompetenz preis, alle Verwaltungen ohne Gesetz zu kontrollieren. Natürlich unterstanden die Befugnisse der Exekutive in diesen dunklen Jahren nicht der Kontrolle des Volkes, also der Legislativgewalt, so dass der Justiz-Yuan nicht in der Lage war, Gerechtigkeit zu schaffen. So gab es fast keine Mitsprachefunktion im Hinblick auf die politische Willensbildung und die Machtausübung oder die Regierungsgewalt. 10 Nur auf den Druck ausländischer Menschenrechtsorganisationen hin wurde von der taiwanesischen Regierung ein Erklärungsversuch unternommen, der darauf hinauslief, dass die Kulturwelten in Ost und West ganz unterschiedlich seien: Die östliche und die westliche Welt hätten verschiedene gesellschaftliche und politische Systeme, die Ideologien der südlichen und der nördlichen Welt seien ungleich. Demzufolge habe jedes Land seine speziellen menschenrechtlichen Anforderungen. Falls dieselben allenthalben in gleichem Ausmaß verstärkt würden, so dass der internationale Standard der Menschenrechte so weit gehe, sich in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten einzumischen und mithin die Situation einer sogenannten „Intervention in die Innenpolitik" entstehe, würde daraufhin alles daran gesetzt, dieselbe mittels internationaler Politik mit allen Mitteln zu schwächen. Gleichzeitig meinte die chinesische kommunistische Regierung auf dem Festland, die westlichen Staaten nützten die Menschenrechte von jeher aus, zwängten China deren Wertvorstellungen auf und machten aus den Menschenrechten ein außenpolitisches Kontrollwerkzeug ihres Hegemoniaistrebens. Jede Forderung nach Verbesserung der Menschenrechte sei nichts anderes als Einmischung in innere Angelegenheiten. Jedes Mal also, wenn Taiwan seit 1949 wegen der schlechten Menschenrechtssituation internationale Kritik erhielt, die in den jährlich verfassten Jahresberichten von Amnesty International 11 geäußert wurde, erklärte die Regierung meist, „die Situation unseres Landes ist anders, die Umstände können nicht gleichgesetzt werden", oder suchte ähnliche Ausflüchte. Dass die damali-

Korrektur in § 28 (negative Qualifikation eingestellter öffentlich Bediensteter) Abs. 3 festgesetzt: „Gerichtsfalle bezüglich Verbrechen von Hochverrat bzw. Verbrechen von Landesverrat, die nach der Urteilsverkündung oder in der Fahndung nachweislich noch nicht abgeschlossen sind, sollen nach der Zeit der Mobilmachung zur Unterdrückung der Rebellion beendet werden." Alle diese oben angeführten Worte beweisen das unzulängliche Vertrauen in die Regierung. 10 Selbstverständlich hat man in dieser Zeit nach Ausflüchten gesucht, wie dass das Kriegsrecht in Taiwan nur zu drei Prozent angewandt werde und die Menschenrechte mithin eingehalten und respektiert würden. Diese Sprechweise hat keinerlei objektive Grundlage, da die Regierenden die rechtliche Macht hatten, die erklärten 97 Prozent zu jeder Zeit rückgängig zu machen. Und es brauchte dafür kein Grund angegeben zu werden. 11 Wei Tingchao (Fn. 4), Anhang 2, Internationale Amnestie-Organisationen, Bericht über Menschenrechte in Taiwan, 1976-1996, S. 277-344.

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ge Bewahrung der Menschenrechte in Taiwan gegenüber dem internationalen Standard weit zurückblieb, ist klar erkennbar und eine unbestreitbare Tatsache. In den letzten Jahren, nach der Liberalisierung der Politik besserten sich die Verhältnisse. Internationaler Kritik steht man nunmehr offener gegenüber. Unser Volk ist eifrig bemüht, die Lage der Menschenrechte Schritt für Schritt zu verbessern, und setzt sich für die Erhaltung des Friedens ein. Man ist in der Tat bestrebt, das System des Ausnahmezustands der letzten 40 Jahre sowie die „provisorische Mobilmachung zur Unterdrückung von Rebellionen" der letzten 46 Jahre aufzuarbeiten. Solch eine friedliche Entwicklung ist begrüßenswert. Die chinesische Regierung, die die Aufrechterhaltung der Menschenrechte ignoriert, aber bereits internationale „Verträge für Wirtschafts-, Gesellschafts- und Kulturrecht" und den „Internationalen Vertrag für zivile und politische Rechte" unterzeichnet hat, wird von uns scharf kritisiert. Was auch die wirklichen Ziele der chinesischen Regierung sein mögen und ob sie dieselben auch in die Praxis umsetzt, wir selbst sollten die politische Umsetzung der Menschenrechte internationalen Standards noch mehr beschleunigen und somit die Menschenrechtsfrage in Taiwan zu einem Wettkampf zwischen beiden Ufern der Taiwan-Straße machen. Man kann sagen, dass Taiwan in Zukunft alle nur erdenklichen Kräfte aufbieten muss, um den Trend zur Entwicklung der Menschenrechte beizubehalten und mit größter Energie den Anordnungen der Welt-Menschenrechtskonventionen Folge leisten muss.12 Geschieht dies nicht, hat unser Land keine Chance, in den Kreis der fortschrittlichsten Zivilisationsstaaten einzutreten. 2. Nach dem, was zuvor über das Voranschreiten der Sicherung der internationalen Menschenrechte gesagt wurde, werden nun konkrete Diskussionsgegenstände ins Auge gefasst. Als erstes die Frage des Umweltschutzes. Obgleich der Umweltschutz zweifelsohne ein Verfassungsbereich eines Landes ist, der den Schutz der Existenz eines Volkes sowie die Rechte der Gesellschaft betrifft, überschreiten die notwendigen Kompetenzen für einen effektiven Umweltschutz zu Gunsten der Ge-

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Im Justiz-Yuan, Verfassungsgericht, Erklärungssatz Nr. 372 ist exakt ausgesagt: „Hinsichtlich Würde und Schutz der Persönlichkeit sowie der Garantie der persönlichen Sicherheit ist in der Deklaration der Welt-Menschenrechte veröffentlicht, was dem Grundgedanken der Erhaltung der Freiheitsrechte unseres Landes entspricht." Ferner ist in Art. 25 GG verfassungsmäßig im Wesentlichen festgesetzt: „Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen unmittelbare Rechte und Pflichten für die Bewohner des Bundesgebietes." Demzufolge benötigt unser Land allgemeine Prinzipien sowie konkrete Bestimmungen, wie sie in den europäischen Menschenrechtsverträgen festgesetzt sind und zu deren Schutz Europa einen Gerichtshof geschaffen hat, dessen Verantwortung darin besteht, Klagefalle hinsichtlich Menschenrechtsverletzungen anzuhören. 9*

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samtheit der Menschen die nationalen Landesgrenzen. Das Anwachsen des Ozonlochs, das globale Ansteigen der Temperatur und andere Fragen bedürfen möglichst rasch einer globalen Lösung. Nur wenn es gelingt, auf diese Fragen Lösungen zu finden, können wir unsere Umwelt schützen und das Ziel der „Universalen Deklaration der Menschenrechte" erreichen, das wie folgt lautet: „Die Existenz in einer gesunden Umwelt ist das Recht der gesamten Menschheit." Ein zweiter Punkt ist die Menschenrechtsfrage der Ausländer. Eine wesentliche Grundlage der sogenannten Menschenrechte muss ein universales Jedermannsrecht sein, das die Landesgrenzen überschreitet. Die Verfassung eines Landes, gleichgültig, ob sie rein hoheitlich sich souverän entwickelt oder bestimmte Gruppeninteressen berücksichtigt, reicht noch nicht so weit, dass auch der Ausländer als volles Rechtssubjekt anerkannt und behandelt wird. Speziell gilt dies für das Recht zur Versammlung und Vereinigung. Daher gibt es noch ein Gefälle zwischen internationalem Standard und dem Souveränitätsrecht eines Landes. Der Import vieler ausländischer Arbeitskräfte, das Einreisen von Festlandchinesen wie Überseechinesen stellt die Kompromissfähigkeit unseres Volkes im Konflikt zwischen „charakterlich höchster Anteilnahme" und „höchstem praktischen Vorteil" auf die Probe. (Das am 21. Mai 1999 erlassene und gleichzeitig in Kraft getretene „Gesetz zur Landesein- und Ausreise und das Einwanderungsgesetz" haben keinesfalls den Schutz der Menschenrechte als Schwerpunkt.) Drittens stellt sich die Frage des kollektiven Selbstbestimmungsrechts. Der Zusammenbruch der alten Sowjetunion, die Einigung Europas, die Wiedervereinigung Deutschlands, die Frage der Selbständigkeit Quebecs in Kanada usw., das alles betrifft die Frage der Anwendung des seitens der Freiheit des Volkes bestimmten Kollektivrechts. Das Recht auf Selbstbestimmung jeder Person gehört zur Kernidee der Menschenwürde und dem Entfaltungsrecht der Persönlichkeit. Jeder Staat und jede Körperschaft hat ebenso ein Recht auf Selbstbestimmung. So wie dies im „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte" (IPBPR), Teil I Art. 1 Abs. 1, bekräftigt ist: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung." Zum Schutz dieser internationalen Menschenrechte müssen wir uns kritisch mit verschiedenen Gedankenströmungen auseinandersetzen und daraus Schlüsse ziehen, welcher Weg zu begehen ist. Viertens: die Frage der Naturwissenschaft und Technik im Zusammenhang mit den Menschenrechten. Die rapide Entwicklung der Technologie, die explosionsartige Verbreitung von Informationen hinsichtlich Privatangelegenheiten, der Durchbruch der Genforschung, speziell die Tatsache, dass auf dem Gebiet der genetischen Fortpflanzung die Würde der gesamten Menschheit auf dem Spiel steht, das alles sind Streitfragen, die die internationalen Menschenrechte

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betreffen. Auch Tieren, obwohl diese nicht zur „Menschheit" gehören, muss deren Existenz, deren Recht zu leben, deren Recht, nicht gequält zu werden, gewährleistet werden. Vor allem der Artenschutz seltener Tierarten sollte möglichst rasch Diskussionsgegenstand werden und nicht ignoriert werden.

I I . Die Änderung der Verfassung und das taiwanesische Menschenrechtsbewusstsein Man kann sagen, dass die Leistungen auf dem Gebiet der Verfassungsänderungen den Willen des gesamten Volkes widerspiegeln. Doch stehen alle Verfassungsänderungen innerhalb der letzten 50 Jahre meist eng im Zusammenhang mit der Staatsgewalt und haben mit Volks- bzw. Menschenrecht nur sehr wenig zu tun. Als vor dem Rücktritt des gesamten ersten Volksabgeordnetenkongresses die „Zeitbeschränkten Verordnungen während des Zeitraumes der Mobilmachung zur Unterdrückung der kommunistischen Rebellion" ins Leben gerufen wurden, bewertete man die Legitimation der Vertreter vor allem als „ohne Lizenz errichtete Gebäude"13. „Objektiv betrachtet ist dies kein Teil der Verfassung, das Ganze ist überhaupt keine Verfassung. 14 Zur Unterdrückung der Rebellion wird mittels Anwendung des Kriegsrechts die Periode des Kriegsrechts stabilisiert." Somit wurden die Menschenrechte kurzerhand eingeschränkt. Eine Entwicklung, deren Ergebnis jeder vorhersehen konnte. Vor allem die Beseitigung der Gewaltenteilung und des Verfassungsrechts führte zum Missbrauch von Gewalt und schädigte die Menschenrechte.15 Demzufolge stellten die Paragrafen hinsichtlich der vorübergehenden Periode der Mobilmachung zur Unterdrückung der Rebellion in Wahrheit eine Überschreitung der „Grenzen der Verfassungsänderung" dar und bildeten eine „gegen die Verfassung verstoßende Verfassung." Der inhaltliche Wert der Verfassung sowie de13 Li Hongxi: Einschätzung der demokratischen Regierungsformen, in: „Zeitbeschränkte Verordnung zur Zeit der Mobilmachung zur Unterdrückung der Rebellion" (Fn. 7), S. 229. 14 Xu Zongli: Fragen zu den Gesetzen der Zeitbeschränkten Verordnung zur Zeit der Mobilmachung zur Unterdrückung der Rebellion, in: ders.: Recht und Staatsgewalt, Ausgewählte Werke der Nationalen Taiwan-Universität (71), Taiwan 1992, S. 429. 15 In der Theorie üben der Präsident der Exekutive und der Exekutiv-Yuan gemeinsam die Macht der Exekutive aus. Jedoch hatte in dem genannten Zeitraum der Präsident viel weiter gehende Befugnisse und der Exekutiv-Yuan war stark beschränkt in den seinen. Es gab kein System der „checks and balances". Die Machtkonzentration auf den Präsidenten machte sich so bemerkbar, dass Konferenzen zur Sicherheit des Landes einberufen wurden. In diesen Konferenzen wurden die Prinzipien für die Mobilmachung zur Unterdrückung der Rebellion festgesetzt. Der Präsident führte den Vorsitz. An den Konferenzen nahmen die Vorsitzenden der fünf Konstitutionsorgane, der Innen-, der Aussen-, der Finanz- und der Wirtschaftsminister, der Stabchef, der Generalsekretär der Konferenz für die Sicherheit des Landes und vom Präsidenten bestimmte Personen teil. Alle Teilnehmer sollten die Resolutionen der Konferenzen gutheißen.

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ren Ordnung wurden verzerrt, und die die „Verfassungsänderungen" betreffenden Abschnitte hatten hinsichtlich des Erhalts der Menschenrechte nicht die geringste Bedeutung. Die vier Verfassungsänderungen nach dem Ende der Unterdrückung der Rebellion änderten nichts an dieser Stärkung des Staates und der Schwächung der Menschenrechte. Alle Schwerpunkte der Verfassungsänderungen liegen auf dem Gebiet der Installation von Staatsgewalt. Alles beruht auf dem Ausbau der Befugnisse des Präsidenten, des Volkskongresses sowie des Exekutiv-Yuan und der Schwächung der Legislativrechte. Für eine günstige Entwicklung der Menschenrechte fehlen noch die Ausgeglichenheit sowie die materielle Gewaltenteilung. Was den Schutz der Rechte der Bevölkerung betrifft, kam es nur im Artikel 10 in beschränktem Ausmaß zu Grundsätzen der Staatspolitik, was keinen speziellen Beitrag zum Erhalt der Menschenrechte darstellt.

1. Zweck des Volksbegehrens und des Volksentscheids Recht zum Volksbegehren heißt, dass das Volk an die gesetzgebenden Behörden Forderungen stellt, Gesetze zu verabschieden. Diese Rechte sind seitens der Volksgemeinschaft und mittels Vertretern eines Abgeordnetenparlaments direkt ausgeübte Volksrechte. Falls Trägheit herrscht oder wenn das Volk kein Vertrauen hat, dann ist dies ein Armutszeugnis der indirekten Demokratie. Daher ist es erforderlich, dass das Volk seine Souveränität wiedererlangt und selbst eine Entscheidung trifft. Obschon es sich als sehr schwierig erweist, Gesetze zu beschließen, ist dies das letzte Mittel innerhalb eines Systems, um Revolutionen außerhalb dieses Systems zu vermeiden. Referenden sind das Recht des Volkes gegenüber der Staatspolitik, Gesetzesentwürfen oder Maßnahmen der Regierung und geben der Allgemeinheit die Möglichkeit, das System zu befürworten oder abzulehnen. Dies gilt besonders im Fall von speziellen Problemen. Bei großen Differenzen der Volksmeinungen oder Differenzen in Organisationen der Regierung, die nur schwer beizulegen sind, kann das Volk nach Stellung eines Antrags und Diskussion desselben seine Meinung mittels einer Wahlabstimmung kundtun. Selbstverständlich vermag ein solches System die Funktionen einer repräsentativen Regierung nicht zu ersetzen, ist aber eine wichtige Einrichtung zu deren Ergänzung. Das Ausüben von Volksbegehren und Volksentscheiden zerfällt gemäß unserer Verfassung in zwei Bereiche: in den des Gesamtstaats und in den Bereich der Regionen. Dies ist getrennt in den Artikeln 17, 27, 123 und 136 der Verfassung verankert. Was den Gesamtstaat betrifft, ist dies in Art. 27 Abs. 2 festgesetzt: „Bis die Hälfte der Kreise und Städte des Gesamtstaats die beiden politischen Rechte des Volksbegehrens und des Volksentscheids eingeführt haben, werden diese beiden Rechte von der Nationalversammlung über die in den Ziffern 3 (Verfassungsänderung) und 4 (Referendum des vom Legislativ-Yuan

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vorgelegten Verfassungsänderungsentwurfes) des vorstehenden Absatzes genannten Fälle hinaus geregelt und ausgeübt." Im Verfassungsartikel soll das Wort „Gesamtstaat", bevor es mittels Verfassungsänderung „eingefroren" wird, das Festland in der Erklärung mitenthalten. Falls das so ist, dann handelt es sich hierbei lediglich um ein Blatt Papier. Der Bereich des Hoheitsgebiets unseres Staats entspricht mithin praktisch dem unseres Volkes, und von dem Recht dieses Volkes sollte die nächste Verfassungsänderung über den Gesetzeserlass ausgehen und nicht indirekt seitens des Volkes via Volkskongress. 16 Hinsichtlich der regionalen Selbstverwaltung übt das Volk Volksbegehren und Volksentscheid aus, wie es im Örtlichen Selbstverwaltungsgesetz, Abschnitt 16, § 1, Abschnitt 2 festgelegt ist: „Hinsichtlich des Gegenstandes der örtlichen Selbstverwaltung bedeutet dies das Recht der Ausübung des Volksbegehrens und des Referendums." Jedoch gelten nur die vom Legislativ-Yuan verabschiedeten Gesetze, und wegen der Unterlassung der Gesetzgebung hat das Volk immer noch kein „Recht des Volksbegehrens." Dies ist der Grund, dass die Gesetzgebung kontinuierlich nachlässig agiert. Ursache und Wirkung bleiben gleich, und es ist für das Volk nicht leicht, sich dagegen aufzulehnen. Ein wichtiges Merkmal für Volksbegehren und Volksentscheid ist, dass dieselben über die Verfassungsebene hinausgehen. Wir meinen vielleicht oft, dass „Volkspolitik" und Recht, das vom Volk selbst ausgeht, das System behindert. Jedoch handeln wir bereits gegen das Verfassungssystem, indem wir das Volk in der Möglichkeit der Ausübung der direkten Volksrechte beschränken.

2. Die Art und Weise des Eindringens der Menschenrechte in die Verfassung Die Entwicklung der neuzeitlichen Menschenrechte hat ihre Wurzeln in der ständigen Weiterentwicklung des Denkens in den Naturwissenschaften, der Philosophie und der Politik. Die Forderung des Eingangs von Menschenrechten in die Verfassung erfordert eine historische Anstrengung. Obwohl der Eingang der Menschenrechte in die Verfassung diese in deren Wesen nicht beeinflusst, ist die symbolische Bedeutung keineswegs unerheblich. Der erste Zeitabschnitt 16 Im Jahre 1966 wurden die Paragrafen zur Mobilmachung zur Unterdrückung der Rebellion ergänzt. Es wurde bestimmt, auf welche Weise die Nationalversammlung Einberufungen vornehmen kann, Volksbegehren und Volksentscheid. Vor der Beseitigung dieser provisorischen Paragrafen wurde das zweite Referendum jedoch nie in Anwendung gebracht. Zur gleichen Zeit erließ die Nationalversammlung „Maßnahmen zur Anwendung der zwei Referenden." Hierin wurde in § 3 die Anwendung des Volksbegehrens seitens der Nationalversammlung festgelegt. In diesen Maßnahmen, §§ 4 und 5, wurde überdies verfugt: „Die Nationalversammlung wendet Volksbegehren hinsichtlich gesetzgebender Richtung an. Sie fordert den Präsidenten offiziell auf, sich an den Legislativ-Yuan zu wenden."

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der Menschenrechte umfasst die Verwirklichung der Rechte bezüglich Gleichberechtigung, der Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten sowie der Abwehrfunktion der Freiheitsrechte. Hierbei zeigt sich der große Einfluss naturrechtlicher Gedanken von Rousseau sowie anderer Philosophen Ende des 18. Jahrhunderts. Der zweite Zeitabschnitt der Menschenrechte erhält Beachtung hinsichtlich der Anspruchsrechte in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur und lässt sich im 20. Jahrhundert ansiedeln. Nach Verwirklichung dieser Rechte kann vom dritten Abschnitt gesprochen werden, in welchem besonders Gemeinschafits- und Gruppenrechte wie Umweltrecht, Selbstbestimmungsrecht und Entwicklungsrecht immer mehr gefördert werden. 17 Streng genommen sind die taiwanesischen Menschenrechte in den letzten 50 Jahren im ersten Abschnitt stehen geblieben und befinden sich derzeit auf dem Weg zum zweiten Abschnitt. Der Rückstand sollte so rasch wie möglich wettgemacht werden. Als Resultat der letzten vier Verfassungsänderungen kann gesehen werden, dass der Erhalt der Menschenrechte inhaltlich gut erweitert und als Staatspolitik klassifiziert wurde, namentlich im Artikel 10, zum Beispiel Absatz 5 (Schutz der Menschenwürde der Frau, Bewahrung der persönlichen Sicherheit der Frau, Beseitigung geschlechtlicher Diskriminierung, Förderung der tatsächlichen Gleichstellung von Mann und Frau). Der neunte Absatz enthält Klauseln zum Schutz der taiwanesischen Ureinwohner. In der Tat können wir das Augenmerk auch noch auf andere Menschenrechtsgarantien richten wie ζ. B. Menschenwürde, Umweltschutz u. a. Wenn nur formal Menschenrechtsgarantien in die Verfassung eingefügt werden, so ist dies noch keine Garantie, dass die Staatspolitik damit kongruent ist. Diese Klauseln haben dann nur die Funktion von Staatszielbestimmungen, also eine politische Funktion. Zusammengefasst kann man sagen, dass unser Staat nur auf die hoheitliche Pflichterfüllung ausgerichtet ist. Soweit die Menschenrechte in Form von Katalogen oder Menschenrechtsgenealogien in die Verfassung aufgenommen wurden, zeigt dies, dass sie bereits subjektiv-rechtlichen Menschenrechtscharakter haben und nicht mehr nur reine Programmsätze sind.

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Li Mengbin, S. 337. Deng Yansen: Von den internationalen Menschenrechtsgesetzen. Über Basis und Umstände der Verwirklichung der Gesundheitsrechte, DongwuUniversität, Zeitschrift der Rechtswissenschaften, S. 61-62. Ferner in: Li Hongxi: Überblick über Situation und Entwicklung der modernen internationalen Menschenrechte. In dieser Arbeit findet sich eine uneinheitliche Klassifikation. Genaueres in dem genannten Werk, S. 92-94.

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3. Gründung des Wertsystems vom Schutz der Menschenrechte in der Verfassung Angesichts der Tatsache, dass die Demokratie lange Zeit in Fesseln lag, ist das Wissen des Durchschnittsbürgers über die Verfassung größtenteils auf die Normen des Präsidialsystems, des Kabinettsystems und auf die Trennung von Zentral- und Regionalmacht beschränkt. Das Hauptaugenmerk liegt bei den meisten Autoren auf der Organisation, insbesondere der Zuteilung der Funktionen der Staatsgewalt. Dabei übersehen sie, dass alle Rechte des Staates vom Volk ausgehen; die Organisation der Staatsgewalt, die Teilung und Zuordnung der Gewalten und deren Funktion sind nur rechtstechnische Maßnahmen. Die Realisierung der Menschenrechte und die Wohlfahrt des Volkes sind das Ziel der Verfassung und der Rechtsgarantien. So ist die Verfassung Grundlage und Garantie der Volksrechte. Das muss im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert werden. Gibt es keine Möglichkeit der Realisierung der Rechtsgarantien, beschäftigen die Politiker sich mit sich selbst und mit der Stärkung der Parteienpositionen. Sie kümmern sich dann nicht um die Probleme des Menschenrechtsschutzes, was bedeutet, dass die Bürger eines Tages ihrer Situation bewusst werden und sich ganz außerhalb des Staates vorfinden. Merken sie dann, dass trotz der Verfassungsänderungen keine Änderung in der Lebenswelt und ihrer Situation eingetreten ist, so ist diese Situation ein weiteres Hindernis des Schutzes und der Realisierung der Menschenrechte.

I I I . Die Auslegung der Verfassung und der Schutz der Menschenrechte in Taiwan Der Justiz-Yuan hat anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Verfassungserklärung im September 1998 Feierlichkeiten und ein wissenschaftliches Symposium abgehalten. Die Verfassungserklärung wurde von jeher als ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der Verfassung und des Verfassungsbewusstseins angesehen. Die Lebendigkeit des Verfassungslebens macht die Verfassung zu einem lebendigen Dokument des Volkes und seiner Stimme. Jedoch erfolgte die Geltendmachung der Verfassungsrechte am Anfang eher passiv. Im abgelaufenen halben Jahrhundert erklärte das Verfassungsgericht die Funktion des Zur-Geltung-Bringens der Wahrung der Menschenrechte, namentlich nach der Aufhebung des Ausnahmezustandes, was mit der Demokratisierung der taiwanesischen Politik in totalem Zusammenhang steht.18

18 „Vor 1972 (Erklärungssätze 1-134) können die Grund- und Menschenrechtserklärungen nicht nur an den Fingern einer Hand abgezählt werden, auch gibt es keinerlei Reklamationen hinsichtlich solcher Erklärungen, die gegen die Verfassung verstoßen. Von 1972 bis 1985 (Erklärungssätze 135-200) hat das Verfassungsgericht im Zusam-

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Die öffentlichen Bekanntmachungen, die das Verfassungsgericht des JustizYuan (das höchste Justizorgan des Staates) in der Verfassung zum Schutz der Menschenrechte nach und nach gemacht hat, können als erheblich angesehen werden. 1 9 Besonders der fünfte und der sechste Absatz bezüglich der Garantie der Menschenrechte leisten einen großen Beitrag. Hier realisiert sich ein Gerechtigkeitsgrundsatz, den man wie folgt formulieren kann: Was dem V o l k ursprünglich gehört hat, soll dem V o l k zurückgegeben werden. Es wurde vor allem als Werkzeug der Politik benutzt und entfremdet. A u c h nach der Aufhebung des Ausnahmezustandes blieb die Situation gleich und basierte auf dem „ n i c h t informieren, nicht die Wahrheit sagen". M a n kann dies als noch wertvoller ansehen. Darum folgen diesbezüglich einige Rückblicke und auch einige Prognosen.

1. Das Ende der Freiheitsbeschränkung des Volkes M i t B l i c k auf die in der Verfassung angeführten Rechte und Freiheiten können w i r von Beschränkung derselben seitens der Legislative sprechen. Demzufolge können manche Erklärungen des Verfassungsgerichts, die m i t Menschen-

menhang mit den Erklärungen sehr viele Maßnahmen zur Bewahrung gegenwärtig geltender Verordnungen erlassen (wie Erklärungssatz Nr. 194). Einige gegenwärtig geltende Verordnungen sind bereits für verfassungswidrig erklärt worden (Erklärungssatz Nr. 166). Nach 1986 wurde das Gebaren des Verfassungsgerichts noch enthusiastischer. Nicht nur wurde damit begonnen, verfassungswidrige Erlasse zu beanstanden (Erklärungssatz Nr. 210), die Prüfung auf Verfassungswidrigkeit anhand der Grundrechte wurde allmählich zur wichtigsten Aufgabe des Verfassungsgerichts. Von den bis Ende Dezember 1997 aufgesetzten 78 Erklärungsdekreten stehen nur 6 in Zusammenhang mit Problemen hinsichtlich des Regierungssystems (Erklärungssätze Nr. 381, 387, 388, 391, 419 und 421). Eines befasst sich mit der Frage des nicht obligatorischen Rederechts von Mitgliedern der Legislative (Erklärungssatz 435), der Rest sind alles Erklärungen hinsichtlich der Grundrechte." Aus zweiter Hand zitiert von Ye Junrong: Die Entwicklung des Staates und die Änderung der Verfassung, Funktion der Verfassungserklärungen des Verfassungsgerichts, vom Justiz-Yuan, OHG Verfassungserklärungen, 50 Jahre Forschungssymposium, 19. Sept. 1998, S. 21. 19 Unten sind nur die wichtigen Erklärungen hinsichtlich des Verfassungsrechts aufgelistet; Gleichberechtigungsrecht: 193, 194, 205, 211, 224, 228, 340, 341, 354, 365, 369, 398, 403, 405, 410, 412, 429, 452, 455, 460. Persönliche Freiheit: 90, 130, 166, 233, 251, 271, 300, 384, 392, 436. Gegen Zivilpersonen dürfen keine militärischen Gerichtsprozesse geführt werden: 272, 392, 436. Recht zur Freizügigkeit: 265, 345, 398, 443, 454. Freiheit der Rede, der Lehre, des Abfassens und der Veröffentlichung von Druckschriften: 364, 380, 407, 414, 450. Versammlungs- und Vereinsfreiheit: 214, 373, 445. Existenzrecht: 203, 263, 422, 476. Arbeitsrecht: 172, 191, 203, 206, 222, 333, 335, 348, 404, 412, 462. Recht auf Hab und Gut: 37, 148, 180, 190, 200, 204, 215, 216, 217, 225, 236, 241, 253, 263, 285, 286, 311, 312, 317, 344, 347, 349, 350, 356, 358, 359, 361, 369, 370, 374, 377, 385, 386, 400, 414, 422, 425, 432, 434, 438, 440, 444, 451. Ausser dem erwähnten materiellen Recht gibt es noch Verfahrensrecht, insbes. über „due process of law". Näheres Augenmerk auf: 384, 392, 396, 418, 436, 446.

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rechten in großem Zusammenhang stehen, erneut aufgezeigt und kritisch diskutiert werden, d. h. Nr. 194 und Nr. 263 (die einzigen, die mit der Todesstrafe in Zusammenhang stehen) sowie Nr. 265 (Recht auf Rückkehr von Landsleuten in die Heimat). Die Gesetzgebung unseres Landes gestattet die Todesstrafe. Das gibt dem Gericht das Recht, anderen Personen legal das Recht auf Leben zu entziehen. Die einzige Grundlage hierfür ist wahrscheinlich Art. 23 der Verfassung: „Die in den vorstehenden Artikeln angeführten Freiheiten und Rechte dürfen nur insoweit gesetzlich beschränkt werden, als sie die Freiheiten anderer Personen hindern oder beeinträchtigen oder wenn es zur Behebung eines dringenden Notstandes, zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung oder zur Förderung des öffentlichen Wohles erforderlich ist." Demnach können zwar die Freiheitsrechte des Einzelnen beschränkt werden, doch kann das Grundrecht auf Leben, oder sagen wir konkret: das Leben an sich, nicht beschränkt oder entzogen werden. Das Verfassungsgericht hat mit Resolution Nr. 194 eine Erklärung verabschiedet, die besagt: „Dealer sind streng nach Gesetz mit dem Tod zu bestrafen, speziell während der Periode der Unterdrückung der Rebellion, als Erfordernis und Festlegung zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Gesellschaftsordnung im Staat. Dies steht in absolut keinem Widerspruch zu Art. 23 der Verfassung." Und ebenso in keinem Widerspruch zu den Aussagen in Art. 7 der Verfassung (Gleichheit vor dem Gesetz).20 Gleichzeitig ist in Erklärungssatz Nr. 263 festgesetzt: „Die Vorschrift zur Bestrafung von Banditen ist ein spezielles Gesetz"; in § 2 Abs. 1 Nr. 9 heißt es: „Die Absicht, eine Person zum Zweck der Lösegelderzielung zu entführen, wird - ohne Ansehen der Umstände und Folgen des Verbrechens - nach dem Gesetz mit der Todesstrafe geahndet." Die Gesetzgebung ist besonders streng festgelegt: Handelt es sich um ein geringfügiges Delikt, haben die Gerichte das ursprüngliche Strafmaß des Strafgesetzbuches (§ 59) abzuwägen und in abgeschwächter Form anzuwenden. Ist das Lösegeld noch nicht bezahlt und niemand zu Schaden gekommen, ist das Strafgesetzbuch gem. § 347 Abs. 5 in abgeschwächter Form anzuwenden. Damit wird eine schwere Strafe vermieden, was in keinem Widerspruch zur Verfassung steht. Besteht die Befürchtung, dass eine Friedensverletzung vorliegt, dann muss die Gesetzgebung sämtliche Volksrechte einer Beschränkung unterwerfen können. Diese beiden Erklärungen zeigen deutlich den Widerspruch: Die Gesetzgebung ist streng oder die Gesetzgebung ist sehr streng! Denn eine wirklich strenge Gesetzgebung steht mit dem Geist der Verfassung im Widerspruch.

20 Bestimmungen über die Beseitigung von Rauschgift, § 5 S. 1, vom 27. Juli 1992 revidiert in: Handel, Transport, Herstellung von Drogen, Opium oder Mohn wird mit Todesstrafe oder lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.

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Diese beiden Erklärungen streichen den Schwindel „die Gesetzgebung ist von Grund auf streng" und „die Gesetzgebung ist sehr streng" heraus, denn wirklich strenge Gesetzgebung steht mit dem Geist des Artikels 23 der Verfassung im Widerspruch. Ein solches Strafrechtssystem verletzt das persönliche Verantwortungsprinzip. Jede gesetzliche Strafe muss mit der Schwere der Straftat sowie dem Verantwortungsbereich des Verbrechers in einem genau passenden Verhältnis stehen. Daher lehnt das Strafrecht des Rechtsstaates die Form der sogenannten absoluten Strafen ab und wendet nur relative Strafen an. Mithin lässt es allein dem Richter die Möglichkeit, Verbrechenshergang und Verbrechensverantwortung abzuwägen und zu überprüfen. Jedoch ist die Todesstrafe ein untrügliches Zeichen für die Konkretisierung einer absoluten gesetzlichen Strafe, was mit den Grundsätzen des Rechtsstaates in Widerspruch steht.21 Laut Zeitungsberichten hat das Komitee zur Verbesserung von Strafprozessen einen Entwurf für eine „spezielle Klausel zur Einlage von Berufung" vorgelegt. Danach können frühere Entscheidungen revidiert werden. In diesem Zusammenhang sollten wir überlegen, ob die Todesstrafe verfassungskonform ist. Gegenwärtig haben mehr als 100 Staaten die Todesstrafe abgeschafft. Es kann sein, dass sich in Zukunft das Verfassungsgericht mit dieser Frage befasst und sich mit den Rechten des menschlichen Lebens auseinandersetzen muss. Selbstverständlich muss ein Krimineller, dem ein Verbrechen nachgewiesen worden ist, seiner angemessenen Strafe zugeführt werden. Man kann unmöglich behaupten, dass lebenslange Haft- bzw. Gefängnisstrafe als oberste Grenze nicht genügt. Darüber hinaus ist in Nr. 265 Folgendes erklärt: „Während der Periode der Mobilmachung zur Unterdrückung der Rebellion ist im Landessicherheitsgesetz § 3 Abs. 2 Nr. 2 bezüglich der Einreisebeschränkungen festgelegt, dass die Gewährleistung der gesellschaftlichen Ordnung sehr bedeutend ist, was in keinem Widerspruch zur Verfassung steht. Nach der Rechtsverordnung kann solchen Bewohnern keine Einreisegenehmigung erteilt werden, die in den Sicherheitszonen leben [wörtlich: unfreies Land]." Die zuständigen Behörden halten 21

Maunz/Dürig: Grundgesetz, Kommentar, 21994, Art. 102 Rn. 9. Erklärung des Verfassungsgerichts, die besagt, „allein die Todesstrafe" ist verfassungsmäßig. „Allein" kann noch „Ausnahme" bedeuten, man kann auch sagen „alle möglichen Tricks anwenden". Das Verfassungsgericht hat auch noch den Erklärungssatz Nr. 476 ausgegeben und erklärt: „Die Bestimmungen über die Beseitigung von Rauschgift", „Bestimmungen zur Verhütung von Schaden durch Drogen" genügen als Grundlage „hinsichtlich der legalen Entscheidung von Todesstrafe oder lebenslanger Gefängnisstrafe, basierend auf speziellem Gesetz, welches die Schädigung durch Drogen streng verbietet sowie unter Strafe stellt und überdies die Aufrechterhaltung der Sicherheit des Landes und der Gesellschaftsordnung sowie des Allgemeinwohls für notwendig erachtet und somit weder mit Art. 23 der Verfassung noch mit Art. 15 der Verfassung im Widerspruch steht." Aus einer „Güterabwägung" darauf zu schließen, die Todesstrafe sei verfassungskonform, kann einen Menschen nur schwer überzeugen. Existenzrecht in Schutz des Lebensrechts zu übertragen, ist ungeeignet.

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unbeirrt an den Tatsachen fest, während sie die oben erwähnten Gesetze ausüben. Es ist zu überlegen, ob dieses Gesetz zur Gewährung der Sicherheit des Landes angesichts der Gesetzgebung noch zeitgemäß ist. Die Ein- und Ausreisefreiheit ist eingeschränkt, und diese Beschränkungen sind ein Symbol fur die Souveränität des Staates. Wichtig ist aber, dass sich das Verbot auf Ausländer (incl. NichtStaatsangehöriger) konzentriert. Geht es um Landsleute, gibt es auch Anordnungen, eine Einreiseerlaubnis zu erteilen, gemäß den Bestimmungen der Welt-Menschenrechte (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte), Art. 3 Nr. 2: „Jeder Mensch hat das Recht, in jedwedes Land zu reisen, sowie das Recht, in sein Ursprungsland zurückzukehren." Des Weiteren ist Landsleuten die Rückkehr ins Heimatland gestattet. Darüber hinaus ist in Art. 2 Nr. 4 des „Gesetzes über die Beziehungen des Volkes an beiden Ufern" festgesetzt: „Was taiwanesische Staatsangehörige betrifft, können sie als Staatsbürger der VR China behandelt werden, sobald sie sich dort ohne Unterbrechung 4 Jahre lang aufhalten." 22 Die Beschränkung ihrer Einreise bedeutet, dass die Gesetzgebung die Anordnung „Landsleute haben das Recht, in ihre Heimat zurückzukehren" limitiert. Wenn nun die Sicherheit des Staates oder die Gesellschaftsordnung von Bedeutung sind, können solche Einreisen genehmigt werden. Wenn die Gesetzgebung dieses Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht überdenkt und dagegen noch mehr „Schwarze Namenslisten" über Personen anlegt, dann erreicht sie damit nichts. So unterlässt das Verwaltungsgericht die Nachprüfung des Handlungsermessens und stellt nur eine oberflächliche Würdigung an, was sehr bedauert werden muss. Die Erklärungssätze Nr. 443 und 444 beziehen sich auf das Wohnen.

2. Die Verstärkung des Menschenrechtsschutzes durch Interpretation der Grundrechts-Generalklausel in der Verfassung Wenn es fur Menschenrechte keine Möglichkeit gibt, positiv in die Verfassung Eingang zu finden, soll das Verfassungsgericht die zusammengefassten Entscheidungen in Verfassungsartikel 22 anwenden (alle sonstigen Freiheiten und Rechte der Menschen genießen sämtlich den Schutz der Verfassung, soweit sie nicht die gesellschaftliche Ordnung oder das öffentliche Wohl stören). Was die Stärkung des Schutzes der Menschenrechte betrifft, ist es sinnvoll, die unten angeführten Punkte zu analysieren.

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Die Rechtsverordnung fur die Beziehungen der Taiwanesen und Festlandchinesen wurde (revidierte Veröffentlichung vom 6. Mai 1998) in § 5 Abs. 2 detailliert festgesetzt: „In dieser Rechtsverordnung (§ 2 Nr. 4) ist ausgesagt: Wer sich nach dem Festland begibt und dort ohne Unterbrechung länger als 4 Jahre wohnt, d. h. an keinem Tag innerhalb von 4 Jahren nach Taiwan zurückgekehrt ist oder nicht mehr als 30 Tage in einem Drittland verbracht hat, ist straffällig."

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Das Verfassungsgericht wendet Verfassungsartikel 22 zum Schutz der Menschenrechte an, der in zwei Teile zerfällt. Erstens ist in Erklärungssatz Nr. 242 dargelegt: „Wird das Land mit einem schweren Ereignis konfrontiert, mit Bigamie bei Trennung von Mann und Frau, unbestimmt, ob Wiedervereinigung möglich ist, so ist dies mit einem gewöhnlichen Bigamiefall absolut nicht gleichzusetzen. In einem solchen Fall, wo die Eheverbindung vor langer Zeit geschlossen wurde, ist sie unter Anwendung der Entscheidung in § 992 BGB zu annullieren, was Familienleben und zwischenmenschliche Beziehungen stark gefährdet. Mit anderen Worten: Dies steht mit der Regelung des Art. 22 der Verfassung, der die Freiheit und die Rechte des Volkes schützt, in einem gewissen Widerspruch." Zweitens ist in Erklärungssatz Nr. 399 erklärt: „Das Namensrecht ist eine Art Persönlichkeitsrecht. Der Name einer Person ist deren persönliche Manifestation. Mithin ist jedwede Namensgebung Freiheit des Volkes und soll gemäß Art. 22 der Verfassung geschützt werden." Das Verfassungsgericht kann sich auf die Entscheidung in Art. 22 der Verfassung berufen, in dem die Inhalte des angemessenen „Familienrechts" 23 und anerkennenswerte Persönlichkeitsrechte garantiert sind. Ferner ist in der Erklärung des Erklärungssatzes Nr. 364 hervorgehoben: „Angesichts der Art und Weise, wie in Rundfunk und Fernsehen Standpunkte zum Ausdruck kommen, ist gemäß Art. 11 der Verfassung der Bereich der Meinungsfreiheit zum Ausdruck gebracht." Auch ist hier das Recht der freien Meinungsäußerung betont und der Zugang des Volkes zu Informationen garantiert. Ebenso wird hier das Institut der Freiheit der Wissenschaft gewährleistet. Mit anderen Worten: Die Hochschulbildung soll Forschungsfreiheit, Lehrfreiheit, Freiheit des Studiums sowie andere Bestimmungen beinhalten. Jeder Schritt in Richtung „Freiheit" ist, soweit er nicht neue Menschenrechte schafft oder „Verfassungsänderungen" hervorruft, es wert, willkommen geheißen zu werden (Erklärungssätze Nr. 450 und 462). Ebenso verfährt das Verfassungsgericht in Erklärungssatz Nr. 414 hinsichtlich der Werbung für Medikamente. Das gleiche gilt gemäß Erklärungssatz Nr. 445 hinsichtlich der Versammlungsfreiheit. Betrachtet man Versammlungsfreiheit zu dem Zweck, Demonstrationen als Meinungsäußerung durchführen zu können, so kann durchaus eine erhebliche Wirkung hinsichtlich des Schutzes von Menschenrechten festgestellt werden. Das Verfassungsgericht gibt in Erklärungssatz Nr. 372 bekannt, dass die „Bewahrung der Menschenwürde" sowie die „Garantie der persönlichen Si23 In der Deklaration der Welt-Menschenrechte (Art. 16 Nr. 3) ist festgelegt: „Die Familie ist die natürliche Grundeinheit der Gemeinschaft, wodurch sie unter Schutz der Gesellschaft sowie des Staates stehen soll." Im Deutschen Grundgesetz Art. 6 Abs. 1 ist bestimmt: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung."

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cherheit" grundlegende Konzepte in der Verfassung unseres Landes sind. „Um die Freiheit jeder Person zu verwirklichen, ist deren Persönlichkeit sowie deren Würde zu schützen." Aus diesen Entscheidungen sollte sich ein Grundsatz des allgemeinen Schutzes der Persönlichkeitsentfaltung und der Menschenwürde ergeben. 24 Ferner ist in Erklärungssatz Nr. 371 ausgesagt, dass dies nicht nur Entscheidungssache der Richter des Obersten Gerichtshofs sowie des Obersten Verwaltungsgerichts ist, sondern auch des Richters jedes anderen Gerichts. Gibt es hierbei zweifelhafte Interpretationen, die mit der Verfassung in Widerspruch stehen, muss erst die Verfassung durch das Verfassungsgericht interpretiert werden, bevor ein Urteil gesprochen werden kann. Der Richter muss unter Abwägung der prinzipiell gleichgewichtigen Verfassungsnormen über die Frage des Verstoßes gegen eine Verfassungsnorm entscheiden. Dazu bedarf es einer genauen Kenntnis der in der Verfassung verwirklichten Werte sowie einer entsprechenden Bildung im öffentlichen Recht. Natürlich erwarten wir, dass die Justiz die letzte Verteidigungslinie der Gerechtigkeit sowie der letzte Mechanismus zur Wahrung der Menschenrechte ist. Dies kann in dieser kurzen Darstellung nicht entwickelt werden.

3. Selbstbeschränkung des Verfassungsgerichts und der Schutz der Menschenrechte Obgleich den Artikeln 78, 170 und 171 der Verfassung bereits zu entnehmen ist, dass das Verfassungsgericht das Recht besitzt, verfassungswidrige Gesetze für null und nichtig zu erklären, können verfassungswidrige Entscheidungen durch verfassungskonforme bzw. gesetzgebungsfreundliche Interpretation aufrecht erhalten werden. Die Rechtsordnung droht in ein Chaos zu geraten, wenn durch die Verfassungsgerichtsbarkeit verfassungswidrige Normen nicht beseitigt werden können und deshalb weiterhin angewandt werden. Im Hinblick auf die Exekutive stellt es eine Herausforderung des Grundsatzes des Vorrangs des Gesetzes dar. 25 Was die Lage der Verfechter einer flexiblen Verfassung betrifft, dürfen diese nicht unvorsichtig sein.26

24 Chen Shan Li: Menschenwürde in der Bedeutung der Verfassung, November 1991; Vergleichende Rechtswissenschaft in Taiwan, nachgedruckt in: Würde und Vernunft und der Aufbau des Rechtssystems, Abhandlung des Seminars zur Jahresversammlung, damals „Mitteilungen des Rechtsanwalts", seit März 1992 „Rechtsanwaltsmagazin". 25

Resolution des Verfassungsgerichts, in Erklärungssätzen Nr. 218, 224, 251, 289, 300, 313, 365, 366, 367, 373, 380, 384, 436, 454, 455, 457, 491 26 Seit kurzem konzentriert sich das Verfassungsgericht darauf, dass verfassungsmäßige Gesetze und Verordnungen u. U. ihre Wirkungskraft verlieren. „Solange die Gesetze noch nicht exakt bestimmt sind, soll bezüglich des praktischen Pensionsgesetzes für öffentliche Bedienstete analog geschlossen werden, dass zu bestimmen ist, dass Unter-

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Was die Theorie der Machtverteilung betrifft, hat die Ausübung der Justizhoheit leichte Beschränkungen. Falls deren Entscheidungen oder Erklärungen die festgesetzten Domänen der Ausübung der Rechte der Gesetzgebung sowie der Exekutive m i t einschließen, kann eine Zurückhaltung bzw. Selbstbeschränkung ratsam sein. Hinsichtlich der Rechte der Gesetzgebung gibt es die Selbstkontrolle des Parlaments (in den Erklärungssätzen Nr. 342, 381 und 435 festgelegt), die Gestaltungsfreiheit seitens der Gesetzgebung (oder das Ermessen der Gesetzgebung). 2 7 Was die Rechte der Exekutive betrifft, gibt es das Verwaltungsermessen. 2 8 Was diese A r t von Fragen betrifft, gehen die Meinungen weit auseinander. I n dieser Darstellung soll nicht überstürzt die Gestaltungsfreiheit der Legislative oder das Vorliegen eines gesetzesfreien oder nicht nachprüfbaren Raumes i m Sinne sog. Gerichtsfreier Hoheitsakte angenommen werden.

stützungsgesetze u. a. für öffentliche Bedienstete hinsichtlich Antragsrecht auf Pensionsgeld oder Unterstützungsgeld in ihrem Wirkungszeitraum abgeschafft sind. Was die Unterbrechung der Wirkung und deren Nichtvervollkommnung betrifft, sollen, solange die betreffenden Bestimmungen noch nicht fixiert sind, die Bestimmungen des BGB gelten und selbiges mit diesen konform gehen." Erklärungssatz Nr. 466 wiederum sagt aus: „Die betreffenden Behörden sollen die totale Revision des Verwaltungsprozessrechtssystems schnellstens vollenden. Solange die in gegenseitigem Zusammenhang stehenden Rechtssysteme noch nicht voll ausgearbeitet sind, soll der Bevölkerung ein wirkungsvoller Weg zu juristischer Unterstützung gewiesen werden. Was damit in Zusammenhang stehende Zahlungsvorteile betrifft, solange hinsichtlich des Widerspruchsverfahrens noch kein Ergebnis zur Verwirklichung vorliegen kann, soll ein Antrag an den Allgemeinen Gerichtshof um Unterstützung in einem Gerichtsprozess gestellt werden können. So kann dem Willen der Verfassung entsprochen werden." Doch ob dies die neuen Probleme der „Trägheit der Legislative" zu lösen vermag, ist noch fraglich. 27

Cheng Zhongmo: Formulierung des Ausdrucks „Ermessen" im öffentlichen Recht, in: Sammlung von Abhandlungen berühmter gegenwärtiger Juristen - 40 Jahre Jubiläumsausgabe des Beginns des Erscheinens der juristischer Zeitschriftenserie, Januar 1996. Ou Guangnan: Abhandlung „Das Ermessen der Legislative" und „Die Grenzen der juristischen Prüfungen", Das Zeitalter der Konstitution, Bd. 24, Serie 1, Juli 1998. Neueste Ausdrucksformen in: „Der Bereich der Freiheitsgestaltung der Legislative". Deren Entwicklung in den Resolutionen des Verfassungsgerichts des Justiz-Yuan, Erklärungssätze Nr. 204, 228, 246, 299, 302, 337, 418, 445. Ferner: Tang Dezong: Interpretationenforschung von Erklärungen zum Verfassungsgericht, aufgenommen vom gleichen Autor, Neue Abhandlungen zur Gewaltverteilung, 1998, S. 211-217. 28 Das Verfassungsgericht des Justiz-Yuan hat im November 1993 in Erklärungssatz Nr. 328 hauptsächlich gerichtsfreie Hoheitsakte sowie Theorien von politischen Fragen aufgeworfen und meint, gerichtsfreie Hoheitsakte bzw. politische Fragen unterlägen keinerlei gerichtlicher Prüfung. Des Weiteren wurde in dem im Oktober 1995 formulierten Erklärungssatz Nr. 387 eine gegenteilige Meinung verlautbart. Neuestens ist in Erklärungssatz Nr. 419 ausgesagt: „Angesichts der Frage, wie die Angelegenheit des Präsidenten des Exekutiv-Yuan geregelt werden soll, der ohne Grund von seinem Amt zurücktritt, ist das Ermessensrecht des Staatspräsidenten auch ein gerichtsfreier Hoheitsakt. Die Theorie ist keine Sache, die der Justiz-Yuan auf Verfassungskonformität prüfen kann."

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IV. Die Situation anderer öffentlicher Gewalten zum Schutz der Menschenrechte Theorie und Wirklichkeit der Verfassung In der Theorie sind jene öffentlichen Mächte, die die Fähigkeit besitzen, die Menschenrechte zu schützen, die Legislative sowie die Exekutive. Denn nur wenn der Gesetzgeber Gesetze zum Schutz der Menschenrechte ausarbeitet, kann die Exekutive dieselben ausführen. Jedoch verhält es sich in der Praxis anders. Nicht nur aufgrund historischer Erfahrungen, sondern auch aufgrund von Prognosen kann man nicht optimistischer Erwartung sein. Dieser Widerspruch zwischen rechtstheoretischem Ansatz und der Wirklichkeit ist punktuell im Rahmen der Verfassungsentwicklung der letzten 50 Jahre in Taiwan nachzuprüfen. Durch äußeren Einfluß hat die Macht der Legislative zweifellos eine Schwächung erfahren. Das Problem der Unterlassung durch den Gesetzgeber kann im vorgegebenen System Taiwans auf diese Weise nicht gelöst werden.

1. Der Einfluss der Legislative Solange der Legislativ-Yuan als „Abteilung des Exekutiv-Yuan" verspottet worden war, er keinerlei Möglichkeit zum Schutz der Menschenrechte besessen hatte und bevor die Gesetzgeber neu gewählt worden waren, war keine Besserung der Zustände in Sicht. Doch jetzt, wo der Präsident vom Volk gewählt wird, hat sich die Macht der Zentralverwaltung verlagert, und die Erwartung, dass die Legislative die Initiative zum Schutz der Menschenrechte ergreift, ist in der Tat nur schwer nachzuvollziehen. Obgleich es sich so verhält, sind hinsichtlich des Beginns eines Menschenrechtsschutzes doch zwei „Erwartungen" auszunehmen. a) Angemessene Verwirklichung analog zum Naturrecht: Das vom Rechtsstaat abgeleitete „Gesetz" bedeutet in seinem Kern außer Zweckmäßigkeit und Sicherheit, dass es mit den Erfordernissen der Gleichheit bzw. Gerechtigkeit exakt übereinstimmen muss. Die Gesetzgeber können in der Tat die Normen der allgemeinen Grundsätze sowie Prinzipien des Rechts stärken und erweitern (beinhaltet Konzepte der Gerechtigkeit) sowie Prinzipien des Naturrechts (wie die Menschenwürde) angemessen konkretisieren. Dies ist mit Blick auf den Schutz der Menschenrechte vergleichsweise leicht zu erreichen. b) Initiative für die Verbesserung von Gesetzen ergreifen, die mit dem Schutz der Menschenrechte nicht übereinstimmen: Es ist nicht notwendig, dass, falls mehr als die Hälfte der Abgeordneten meinen, ein Gesetz sei verfassungswidrig, die Legislative trotzdem den Antrag auf eine Verfassungsinterpretation beim Verfassungsgericht einreicht. 29 Wenn das Verfassungsgericht die Gestaltungsfreiheit der Gesetzgebung (so ζ. B. bei gerichtsfreien Hoheitsakten) zur 10 Schünemann u. a.

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Grundlage nimmt, besteht die Gefahr eines Eigentores. Falls ein derartiges Resultat entsteht, können keine Basisgesetze zur Verwirklichung des Schutzes von Menschenrechten ins Leben gerufen werden, was absolut unpassend wäre.

2. Der Einfluss der Exekutive Im Zeitalter einer durchweg konstitutionellen Regierung ist der Einfluss der Exekutive auf die Menschenrechte nur begrenzt, so dass die Gefährdung und die Verletzung der Menschenrechte wegen der Gleichgewichtslage sich selbst reduziert. Was vergangen ist, ist vergangen. Die, die den zukünftigen Weg weisen wollen, müssen das Konzept „Schlechtes Gesetz ist Gesetz" beseitigen. Sollte dieses Konzept nicht aus dem Bewußtsein vertrieben werden, so wird keine reale, gesetzeskonforme Exekutive geschaffen. Dies kann den Wert des Strebens nach Gerechtigkeit erschüttern. Der Einfluss der Exekutive betrifft die ausführende Gewalt. Obschon sich die Exekutiv-Organisationen hinsichtlich des Widerstandes gegenüber schlechten Gesetzen in Bedrängnis befinden, sind sie beim eifrigen Regieren durch das Gesetz nicht aufbauend präsent. Nachfolgende Beispiele sollen Zeugnis der Problematik geben: a) Gutes Anwenden der gegenseitigen Kontakte von Exekutive und Legislative; die Initiative für Vorschläge ergreifen; Verbesserung oder Abschaffung von menschenrechtsverletzenden Gesetzen. Dies ins Leben zu rufen, dazu hat die Kontrolle der Exekutive die Befugnis. b) Reales Respektieren der Justiz; gesetzeswidrige rechtliche Weisungen sofort und entschlossen nicht mehr anwenden. Dies sind besonders bereits vom Verfassungsgericht erklärte oder seitens der Justiz gefällte Urteile, die in ihren Aussagen gegen die Gesetze der Menschenrechte verstoßen. c) Entschlossenes Schützen der Meinungs-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit sowie anderer Freiheiten des Volkes, unbehinderte Volksmeinung, die Manifestation der tatsächlichen Volksmeinung, so dass rechtsverletzende Gesetze kaum noch Existenzmöglichkeit besitzen. d) Gutes Anwenden gediegener Gesetzesvollstreckung, so dass, solange schlechte Gesetze noch nicht abgeschafft sind, deren unheilvolle Wirkung möglichst verringert werden kann.

29 Erklärungssatz Nr. 365 beispielsweise sagt aus, dass, falls Eltern noch nicht volljähriger Kinder hinsichtlich derselben in ihren Ansichten differieren, die Ansicht des Vaters als gesetzeskonform zu gelten hat.

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V. Schlusswort Das Volk an sich ist der Zweck, der Staat ist erst das Mittel zu demselben. Denn der Staat setzt die Existenz des Volkes voraus. Staatliche Organisationen und rechtliche Beschränkungen entstehen alle mit dem Einverständnis des Volkes und unterliegen der Kontrolle des Volkes. Liegt demgegenüber das Staatsrecht sowohl über den Menschenrechten als auch den Bürgerrechten, dann präsentiert sich dieses Staatsrecht als dieser Vorstellung diametral entgegengesetzt. Das Staatsvolk ist an sich in seinem allgemeinen Bewusstsein aus dem Schlaf erwacht, kann aber aus historischer Erfahrung nichts im Handumdrehen vollenden. Was die besonderen Menschenrechte dieses Volkes betrifft, muss es um diese kämpfen, erst dann kann es dieselben erlangen. Laut und kräftig muss um die Menschenrechte gekämpft werden. Diese Abhandlung will dazu vernünftig aufrufen. Ist der Wille für die Menschenrechte vorhanden und schöpft man zur Anwendung derselben alle Möglichkeiten aus, wird die Idee der Menschenrechte propagiert und durch ihre praktische Anwendung weiter ins Bewusstsein der Menschen eindringen. Wir müssen dem Lauf der Zeit Rechnung tragen, für uns selbst, aber auch für künftige Generationen.

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Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte in Brasilien: zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit

Von Ingo Wolfgang Sarlet

I. Einleitende Bemerkungen Mit der oben angedeuteten Thematik, mit der sich auch der Jubilar mehrmals tiefgreifend befasst hat,1 behandeln wir bewusst eine insbesondere aus deutscher Sicht vielleicht fur manche schon veraltete oder sogar unwichtige Diskussion. Dennoch zeigen gerade die gegenwärtigen Entwicklungen, dass auch für den europäischen Raum die Problematik der sozialen Grundrechte, zumindest aber was das Anliegen soziale Sicherheit und Sozialstaatlichkeit betrifft und mithin das gewählte Thema doch weiterhin zur Tagesordnung gehören. In dieser Hinsicht sei hier kurz auf die Strömungen in Richtung eines auch soziale Rechte enthaltenden, gesamten und verbindlichen Grundrechtskatalogs für Europa, aber auch auf die schon durchgeführte Revision der europäischen Sozialcharta hingewiesen, die natürlich auch auf die deutsche Rechtsordnung einen gewissen Einfluss ausübt.2 Darüber hinaus sollte die Anerkennung eines ungeschriebenen, obwohl aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 und Art. 20 GG (Sozialstaatsklausel) abgeleiteten grundrechtlichen Anspruches auf ein menschenwürdiges

1 Vgl. Heinrich Scholler: Die sozialen Grundrechte in der Paulskirche, in: Der Staat 13 (1974), 51 ff. Ders. : Verfassung und das Recht auf Arbeit, in: Rechenschaftsbericht & Rede zur 49. Ordentlichen Gesamt-Mitgliederversammlung des Arbeitgeberverbandes der deutschen Glasindustrie e.V. in München, 1995. 2 Was die sozialen Grundrechte in Europa angeht, vgl. u. a. die Beiträge von Bernd von Maydell: Die europäische Charta sozialer Grundrechte, in: Die sozialen Grundrechte in der EG, Berlin 1990 (insbes. über die neue europäische Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989), S. 123 ff. Auch Bernd Schulte: Der verfassungsrechtliche und verfassungsgerichtliche Schutz sozialer Rechte - ein Problemaufriss, Vortrag vom 12.10.1994, Budapest, S. 2 ff. Über diese Entwicklungen vgl. auch den bekannten Bericht des Ausschusses der Weisen (Berichterstatter JeanBaptiste Foucault): Für ein Europa der Bürgerrechte und der sozialen Rechte, Brüssel 1996, und Anne Corden!Catherine Duffy: Human Dignity and social exclusion, in: Rob Sykes/Pete Alcock (Hrsg.), Developments in European Social Policy, Bristol 1998, S. 95 ff.

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Existenzminimum,3 aber etwa auch ein Grundrecht auf Gesundheit4 nicht vollkommen vergessen werden. Wenn allerdings im Rahmen der sozialen Grundrechte in der Tat die Problematik in Deutschland zumindest anders gelagert ist als in anderen Staaten so der Fall Brasiliens - , ist die verfassungsrechtliche Relevanz, gerade was die Entscheidung des GG für die Sozialstaatlichkeit angeht, weiterhin klar und deutlich im positiven Verfassungsrecht ausgesprochen. Deswegen scheint es doch nicht völlig uninteressant zu sein - auch aus deutscher Perspektive - , die Problematik der sozialen Grundrechte und des Sozialstaats in einem Entwicklungsland wie Brasilien kurz darzustellen, wobei der Einfluss des deutschen Verfassungsrechts und der Verfassungslehre mit berücksichtigt werden soll, abgesehen von einigen rechtsvergleichenden Aspekten, die im Laufe dieses Beitrags hervorgehoben werden. Vor allem soll nach einer kurzen Darstellung der Sozialstaatlichkeit in der brasilianischen Verfassung die Problematik der sozialen Grundrechte und ihrer Verwirklichung behandelt werden, so dass im letzten Abschnitt schließlich einiges über die Krise des Sozialstaats, der sozialen Grundrechte und des wachsenden Abstands zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit erwähnt werden soll. Hierbei handelt es sich um eine Krise, die sich natürlich auch für die deutsche Verfassungsordnung schon seit Jahren bemerkbar macht, wobei hier ein kurzer Hinweis auf die nicht unwesentlichen Reformen im Bereich des sozialen Leistungssystems und die dementsprechende Problematik des sozialen Rückschritts wohl ausreichen müsste.5

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In der deutschen Lehre war es wohl Otto Bachof (Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, in: VVDStRL Nr. 12 [1954], 42-^13), der als erster auf die Möglichkeit der Ableitung einer positiven Gewährleistung des Existenzminimums hingewiesen hat. In der Rechtsprechung wurde ein solcher Anspruch ursprünglich durch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwGE 1, 159, 161 ff.) anerkannt. Auch das Bundesverfassungsgericht hat - obwohl etwa zwanzig Jahre später - einen grundrechtlichen Anspruch auf Hilfeleistung zur Sicherung eines menschenwürdigen Daseins für zulässig gehalten (vgl. BVerfGE 40, 121, 133). 4

Hierzu u. a. Otfried Seewald: Gesundheit als Grundrecht, 1982. Aus der kaum zu bewältigenden Literatur vgl. hier nur beispielsweise Bernd Schulte: Wie sicher ist die soziale Sicherung? International-vergleichende Perspektive, in: B. Riedmüller/M. Rodenstein (Hrsg.), Wie sicher ist die soziale Sicherung?, 1989, S. 321 ff. Auch N. Blüm/H. F. Zacher (Hrsg.): 40 Jahre Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland, 1989. 5

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I I . Konturen des Sozialstaats in der brasilianischen Verfassung von 1988 Wenn man sich auch fragen kann und sollte, ob Brasilien, abgesehen von einer rechtspositiven Perspektive, de facto auch ein Sozialstaat ist, so fällt es trotzdem schwer - abgesehen von einigen Gegenmeinungen und nicht wenigen Verfassungsänderungen in den letzten Jahren - , zu verneinen, dass die brasilianische geltende Verfassung eine klare Entscheidung fur die Sozialstaatlichkeit getroffen hat. Dieses lässt sich schon anhand der brasilianischen Verfassungsentwicklung seit 1934 begründen und hat sehr viel mit dem deutschen Verfassungsrecht gemeinsam. In der Tat hat das brasilianische positive Verfassungsrecht, vor allem was die Sozialstaatlichkeit und die Grundrechtsordnung im Allgemeinen betrifft, an das Vorbild der Weimarer Verfassung (1919) angeknüpft, 6 aber auch einen nicht geringen Einfluss des Bonner Grundgesetzes erfahren, obwohl zum Thema soziale Grundrechte und soziale Sicherheit der Einfluss von Weimar wesentlich tiefgreifender war und geblieben ist.7 Natürlich hat sich der Verfassungsgeber von 1988 nicht mehr direkt auf die Weimarer Verfassung gestützt, sondern sich hauptsächlich dem gegenwärtigen portugiesischen und spanischen Verfassungsrecht angeschlossen.8 Der Ursprung des brasilianischen Sozialstaats wurzelt aber in Weimar, so dass im Bereich Sozialstaatlichkeit die heutige Verfassung von 1988 - im Vergleich zu Deutschland - eigentlich der Weimarer Verfassung näher steht als dem Grundgesetz.

6 Nach Meinung von Pinto Ferreira (A Constituiçào Brasileira de 1934 e seus Reflexos na Atualidade, in: RIL Nr. 95 [1987], 17) handelte es sich bei der brasilianischen Verfassung von 1934 um ein süd-amerikanisches Ebenbild der Weimarer Verfassung. 7 Vgl. Paulo Bonavides: Der brasilianische Sozialstaat und die Verfassungen von Weimar und Bonn, in: Klaus Stern (Hrsg.), 40 Jahre Grundgesetz, 1990, S. 279 ff., nach dessen Ansicht die brasilianische Verfassungsgeschichte in drei große Phasen eingeteilt werden kann: a) der Konstitutionalismus der Monarchie (1822-1889), wo sich der vorwiegende Einfluss des französischen und englischen Verfassungsdenkens besonders widerspiegelte; b) der Konstitutionalismus der sog. „Ersten Republik" (1891-1930), der sich durch die Übernahme des amerikanischen Föderalismus und Präsidentialismus auszeichnete; und c) der Konstitutionalismus des Sozialstaates (seit 1934), wo - bis zum heutigen Stand - der Einfluss der deutschen Verfassungen von Weimar und Bonn stark zum Ausdruck kam. 8 Über den Einfluss ausländischer Verfassungen auf die gegenwärtige brasilianische Verfassung vgl. Ana Lucia Lyra Tavares: A Constituiçào Brasileira de 1988: subsidios para os comparatistas, in: RIL Nr. 109 (1991), 88 ff. Der vorwiegend portugiesische Einfluss war allerdings schon im ersten Entwurf der sog. Komission „Afonso Arinos" zu bemerken, da - so Jorge Miranda : Transiçào Constitucional e Anteprojeto da Comissäo Afonso Arinos, in: RDP Nr. 80 (1987), 253 ff. - insgesamt über 30 aus der portugiesischen Verfassung übernommene Bestimmungen ausfindig gemacht wurden.

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Was das geltende positive Verfassungsrecht angeht, so ist in der brasilianischen Verfassung von 19889 - im Gegensatz zum Grundgesetz und zur spanischen Verfassung - keine ausdrückliche Bestimmung, in der das Wort Sozialstaat (auch in Verbindung mit den Bestimmungen über den Bundesstaat, die Republik und den Rechtsstaat) erwähnt wird, ausfindig zu machen. Art. 1 der brasilianischen Verfassung enthält lediglich eine ausdrückliche Fundamentalnorm, die klarstellt, dass die brasilianische Republik ein Bundesstaat und ein demokratischer Rechtsstaat ist. Die Entscheidung für die Sozialstaatlichkeit als eines der obersten Verfassungsprinzipien und als Fundamentalnorm lässt sich daher erst anderen Bestimmungen entnehmen. Schon in Art. 1 Abs. III und IV steht fest, dass diesem demokratischen Rechts- und Bundesstaat die Menschenwürde und die sozialen Werte der Arbeit und der Freizügigkeit zugrunde liegen. Art. 3 der brasilianischen Verfassung von 1988 enthält darüber hinaus folgende grundlegenden Staatsziele: 1. die Errichtung einer freien und gerechten Gesellschaft; 2. die Gewährleistung der nationalen Entwicklung; 3. die Abschaffung der Armut und der Ausgrenzung sowie die Minderung der regionalen und sozialen Ungleichheiten; 4. die Förderung des Allgemeinwohls, ohne Vorurteile, was Herkunft, Rasse, Geschlecht, Farbe, Alter angeht, und ohne irgendwelche Art der Diskriminierung. Bereits hier könnte man schon davon ausgehen, dass die soziale (materielle) Gerechtigkeit und die soziale Sicherheit zweifellos im Verfassungsprogramm enthalten sind, wobei damit auch schon die dirigierenden, in gewisser Hinsicht aber auch utopischen Elemente des brasilianischen Verfassungsrechts zum Ausdruck kommen, ohne dass zu diesem Punkt hier Stellung genommen wird. Zu diesen Verfassungsbestimmungen und zur Darstellung des in der Verfassung verankerten Sozialstaats zählen natürlich sowohl der ausführliche Katalog sozialer Grundrechte (Art. 6 bis 11) als auch die weiteren Regelungen der Verfassung in den beiden letzten Titeln, wo jeweils die Wirtschaftsverfassung (Art. 170-192) und die soziale Verfassungsordnung (Art. 193-232) einschließlich des Systems der sozialen Sicherheit näher geregelt sind - Bestimmungen, auf die wir nachstehend - zumindest teilweise - etwas tiefgreifender eingehen werden. In Art. 170 bV wurden die Grundlagen und Ziele der Wirtschaftsverfassung festgelegt, nämlich dass die wirtschaftliche Ordnung auf der Wertung der menschlichen Arbeit und der Freizügigkeit basiert und im Rahmen der sozialen Gerechtigkeit allen eine menschenwürdige Existenz zu gewähren beabsichtigt, insbesondere unter Beachtung folgender Prinzipien: 1. nationale Souveränität; 2. Privateigentum; 3. Sozialgebundenheit des Eigentums; 4. freier Wettbewerb;

9

det.

Nachstehend wird für die brasilianische Verfassung die Abkürzung „ b V " verwen-

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5. Verbraucherschutz; 6. Umweltschutz; 7. Minderung der regionalen und sozialen Ungleichheiten; 8. Vollbeschäftigung; 9. Unterstützung der kleinen Unternehmen. Trotz einiger Wiederholungen der im ersten Titel der Verfassung bereits enthaltenen Staatsziele zeigt der Verfassungstext - jetzt im Rahmen der Wirtschaftsverfassung - , dass auch Brasilien (obwohl auf einem anderen Weg als die sog. deutsche „soziale Marktwirtschaft") den Versuch unternommen hat, Freizügigkeit und soziale Gerechtigkeit, aber auch Kapital und Eigentum mit Arbeit und Menschenwürde zu verknüpfen. 10 Schon die erwähnten Verfassungsbestimmungen - abgesehen von anderen Beispielen, die in Fülle herangezogen werden könnten - fuhren zwangsläufig zu einem kaum bestreitbaren programmatischen 11 und dirigierenden 12 Charakter, darüber hinaus aber auch zu dem pluralistischen und kompromissbehafteten Akzent der brasilianischen Verfassung, 13 da sie in ihrem Text nicht immer harmonisierbare politische Kräfte und den nicht geringen Druck der verschiedenen Segmente der Gesellschaft in Kauf nehmen musste. Nach dem Vorbild der portugiesischen Verfassung von 1976 und im Anschluss an die Lehre des portugiesischen Verfassungsrechtlers Gomes Canotilho kann deshalb auch die brasilianische Verfassung - als dirigierende Verfassung - zugleich als „eine Garantie des Bestehenden und ein Programm für die Zukunft" 14 bezeichnet werden. Es scheint deshalb unbestreitbar - wenigstens in positivrechtlicher Perspektive - , dass Brasilien ein Sozialstaat ist. Was für ein Sozialstaat Brasilien ist, und was man eigentlich unter dem Begriff Sozialstaat versteht oder verstehen kann, bleibt aber hier (noch) - teilweise - offen. Obwohl in Anbetracht der Literatur und der spezifischen Verfassungsordnungen eigentlich schon immer von verschiedenen Modellen im Rahmen der Sozialstaatlichkeit die Rede war, und wenn man sich auch nie richtig einigen

10 Zu diesem Aspekt, vor allem was die Entscheidung für den Kapitalismus als Wirtschaftssystem und die sozialen Elemente der Wirtschaftsverfassung angeht, vgl. Eros Roberto Grau: A Ordern Econòmica na Constituiçào de 1988, Säo Paulo 1991, S. 285 ff. 11 Nach Meinung von Tércio Sampaio Ferraz Jûnior (Constituiçào de 1988 - Legitimidade, Vigência e Eficâcia e Supremacia, Sào Paulo 1989, S. 58) handelt es sich bei der Verfassung von 1988 um die programmatischste aller brasilianischen Verfassungen. 12 Über den dirigierenden Charakter der brasilianischen Verfassung vgl. v. a. Flävia Piovesan: Proteçào Judicial contra Omissöes Legislativas, Säo Paulo 1995, S. 34 ff. 13 Vgl. zu diesem Punkt v. a. Josaphat Marinho: Urna Perspectiva da Nova Constituiçào Brasileira, in: RF Nr. 303 (1988), 101 ff. 14 Joaquim José Gomes Canotilho: Constituiçào Dirigente e Vinculaçào do Legislador, Coimbra 1982, S. 151, der allerdings - und nicht nur, was den Gedanken einer Bindung des Gesetzgebers an die Verfassungsdirektiven angeht - einen starken Einfluss der deutschen Verfassungslehre, vor allem aber von Peter Lerche, anerkennt.

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konnte, was den Begriff Sozialstaat (vor allem aber seinen Inhalt) angeht, werde ich mir erlauben - für den Zweck dieser Darstellung - , an das Sozialstaatverständnis von Hans Friedrich Zacher anzuknüpfen, auch, weil es meines Erachtens wesentlich im Einklang mit dem brasilianischen positiven Verfassungsrecht steht, was auf jeden Fall - wie schon angedeutet - noch nichts über die Verfassungswirklichkeit aussagt. Andererseits soll und vor allem kann hier nicht auf die Diskussion eingegangen werden, ob eigentlich heute noch von einem Sozialstaat die Rede sein kann. Was Brasilien betrifft, spricht man in der Literatur von einem Unterschied zwischen dem Sozialstaat (da auch eine Diktatur ein Sozialstaat sein kann) und dem demokratischen Rechtsstaat, dieser als eine Art „verbesserte" Form des Sozialstaats verstanden, weil er zugleich die demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätze mit dem Anliegen sozialer (materieller) Gerechtigkeit verbindet. 15 Abgesehen von der Richtigkeit dieser These, bleibt das hier von uns gewählte Konzept Zachers auf jeden Fall - auch im Sinne der eben dargestellten Meinung - für Brasilien aktuell. In der Tat, insbesondere in Anbetracht des starken Ausbaues der Demokratie und der rechtsstaatlichen Grundsätze im brasilianischen positiven Verfassungsrecht 16 - auf die hier nicht näher eingegangen werden kann - , scheint es nicht nur möglich, sondern auch nützlich, dass wir uns auch in terminologischer Hinsicht einigen und von einem brasilianischen sozialen (und natürlich auch demokratischen) Rechtsstaat sprechen können, der im Sinne des bekannten Beitrags von Zacher über das soziale Staatsziel im GG als „ein Sozialstaat, der sich in den Verfahren, Formen und Grenzen des Rechtsstaates verwirklicht, und ein Rechtsstaat, der offen ist dafür, vom sozialen Zweck erfüllt und in Dienst genommen zu werden" beschrieben werden kann. 17 Dass in Brasilien nicht nur die 15

Zu diesem Thema vgl. in der brasilianischen Literatur u. a. Lenio L. Streck/José L. Bolzan de Morais: Ciência Politica e Teoria Geral do Estado, Porto Alegre 2000, S. 83 ff. 16 Neben der schon erwähnten ausdrücklichen Entscheidung des Verfassungsgebers (Art. 1 bV), dass Brasilien ein demokratischer Rechtsstaat ist, sollte auch die Verbürgung des Gewaltenteilungprinzips (Art. 2 bV), insbes. aber der umfangreiche Grundrechtskatalog aufgezeichnet werden. Nur im Titel II der Verfassung (abgesehen davon, dass laut Art. 5 § 2 bV andere Grundrechte - sogar ungeschriebene - nicht ausgeschlossen sind), sind es 6 Artikel, wobei die beiden wichtigsten Artikel (5 und 7) zusammen nicht weniger als 112 Absätze (und dementsprechend verbürgte Grundrechte) enthalten, unter denen (insbes. in Art. 5 mit seinen 77 Absätzen) alle wichtigen Freiheits- und Gleichheitsrechte, Verfahrensgarantien, Schutz des Lebens, Eigentums, Verbot von Folter und Todesstrafe u. a. ausdrücklich verbürgt wurden. Einen guten und kritischen Überblick, was die Grundrechte in der brasilianischen Verfassung betrifft, bietet Andreas Krell: 10 Jahre brasilianische Bundesverfassung: Rechtsdogmatische und rechtssoziologische Aspekte der Entwicklung des Grundrechtsschutzes, in: Verfassung und Recht in Übersee, 1. Quartal 1999, 7 ff. 17

Vgl. Hans-Friedrich

Zacher: Das soziale Staatsziel, in: HBStR I, S. 1102 (Rn. 96).

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sozialstaatlichen und sozialgrundrechtlichen Versprechungen der Verfassung, sondern auch (und auch gerade deshalb) die rechtsstaatlichen und demokratischen Grundsätze noch kaum etwas mit der Verfassungswirklichkeit zu tun haben, bleibt hier kurz erwähnt und soll später behandelt werden, da im nächsten Abschnitt die spezifische Problematik der sozialen Grundrechte - als Hauptanliegen dieser Arbeit - berücksichtigt wird.

I I I . Die sozialen Grundrechte als Grundlage der Sozialstaatlichkeit und der sozialen Sicherheit in der brasilianischen Verfassung 1. Der brasilianische soziale Grundrechtskatalog: ein Gesamtüberblick Dass die Grundrechte im Allgemeinen und die Menschenwürde (in deren Dienst die ersteren eigentlich stehen) den Kern und in gewisser Hinsicht das „alpha und omega" des brasilianischen sozialen und demokratischen Rechtsstaats bilden, liegt auf der Hand und braucht hier nicht vertieft zu werden und entspricht darüber hinaus der herrschenden Meinung sowie der Stellung der jeweiligen Bestimmungen im Verfassungsgefüge. 18 Mit Recht hat diesbezüglich Klaus Stern darauf hingewiesen, dass die Grundrechte die Verfassung - und deswegen gewissermaßen auch die gesamte Rechtsordnung - regieren und determinieren. 19 Sie - die Grundrechte - können darüber hinaus als conditio sine qua non eines demokratischen Verfassungsstaates betrachtet werden 20 und bil-

18

Vgl. u. a. Francis Delpérée : O Direito à Dignidade Humana, in: Direito Constitucional - Estudos em Homenagem a Manoel Gonçalves Ferreira Filho, Säo Paulo 1999, und Jorge Miranda: Manual de Direito Constitucional, Bd. IV, Coimbra 3 2000, S. 181, wobei hier der tiefgreifende Einfluss der deutschen Verfassungslehre registriert werden sollte. Aus der deutschen Literatur, vgl. beispielsweise Adalbert Podlech: Anmerkungen zu Art. 1 Abs. 1 GG, in: R. Wassermann (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Alternativ Kommentar), Bd. I, 2 1989, S. 281, und Wolfram Höfling, Anmerkungen zu Art. 1 Abs. 3 GG, in: M. Sachs (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, 1996. Im brasilianischen Schrifttum vgl. u. a. José Afonso da Silva: A Dignidade da Pessoa Humana corno Valor Supremo da Democracia, in: Revista de Direito Administrativ© Nr. 212 (1998), 89 ff., und Càrmen Lùcia Antunes Rocha: Ο Principio da Dignidade da Pessoa Humana e a Exclusäo Social, in: Interesse Publico Nr. 04 (1999), 23 ff. 19 Klaus Stern: Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: IsenseeKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 1992, § 108, S. 21 Rn. 31, im Anschluss an den Gedanken, dass die Grundrechte (im Sinne der Virginia Bill of Rights von 1776) zugleich als „basis and foundation of government" betrachtet werden können. 20 Vgl. Hans-Peter Schneider: Peculiaridad y Funcion de los Derechos Fundamentales em el Estado Constitucional Democratico, in: REP Nr. 07 (1979), 23.

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den - wie es der berühmte Art. 16 der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 schon deutlich voraussagte - zwangsläufig den materiellen Kern jeder Verfassungsordnung, die einen Anspruch auf Anerkennung ihrer Legitimität erhebt. 21 Was die sozialen Grundrechte (welche nach herrschender Lehre in Brasilien auch ihre Grundlage in der Menschenwürde finden) 22 als Hauptanliegen dieses Beitrags angeht, wurden in der früheren brasilianischen Verfassungsentwicklung weder die Menschenwürde noch die sozialen Grundrechte als solche in den Verfassungen vorgesehen. Zwar enthielten die brasilianischen Verfassungen seit 1934 (mit einigen Ausnahmen schon die Verfassung von 1824)23 verschiedene Regelungen im Bereich der sozialen Sicherheit. Sie wurden aber erst in der geltenden Verfassung, ausdrücklich und ohne Zweifel, in den Katalog der Grundrechte aufgenommen, so dass ihre Grundrechtsqualität - heutzutage nur gegen den Wortlaut der Verfassung - eigentlich nicht mehr bestritten werden sollte, was natürlich die Kontroverse um die Wirksamkeit und Verwirklichung insbesondere der sozialen Grundrechte nicht ausschließt. Die in Deutschland im Rahmen der Wiedervereinigung geführte Diskussion um Zweck und Form einer verfassungsrechtlichen Positivierung sozialer Grundrechte bzw. Staatszielbestimmungen hat für Brasilien keinen größeren Wert, da die Entscheidung längst gefallen ist. 24 Dies ist aber nur teilweise korrekt, da es in Brasilien nicht wenige Stimmen gibt (hauptsächlich im Bereich der Politik und der wirtschaftlichen Kräfte), die für eine Abschaffung oder wenigstens eine Flexibilisierung der sozialen Grundrechte plädieren, vor allem was die Sozialversicherung und Arbeitsverfassung betrifft, so dass zum Thema Grundrechtsschutz gegen Verfassungsänderung, aber auch zum Thema Wirksamkeit und Verwirklichung, die Argumente für und gegen soziale Grundrechte eine gewichtige Rolle spielen können und ein Rückgriff auf die deutsche Literatur kaum zu umgehen ist. Zurück zum Katalog der sozialen Grundrechte zeigt sich, dass sie - nach dem im luso-brasilianischen Schrifttum schon rezipierten Vorschlag Alexys - in zwei große Grundrechtsgruppen bzw. Grundrechtsfunktionen eingeteilt werden 21 In dieser Hinsicht vgl. u. a. Winfried Brugger: Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte, 1997, S. 5 ff. 22 Vgl. hierzu v. a. Edilsom Pereira Nobre Jünior: Ο Direito Brasileiro e ο Principio da Dignidade da Pessoa Humana, in: Jus Navegandi - http:/www.jus.com.br, S. 8 ff. 23 In der Verfassung von 1824 wurde ausdrücklich die Gewährleistung öffentlicher Hilfe (eine Art Recht auf Sozialhilfe), aber auch ein Recht auf kostenfreien Grundschulunterricht (Art. 179, X X X I und X X X I I ) vorgesehen. 24 Auf diese Diskussion bin ich selbst schon näher eingegangen. Vgl. hierzu Ingo Wolfgang Sarlet: Die Problematik der sozialen Grundrechte in der brasilianischen Verfassung und im deutschen Grundgesetz - Eine rechtsvergleichende Untersuchung, 1997, S. 437 ff.

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können: 1. soziale Abwehrrechte (die portugiesische Literatur spricht hier von sozialen Freiheiten) 25; und 2. soziale Leistungsrechte (hier die Leistungsrechte im weiteren und im engeren Sinne mit eingeschlossen).26 Die erste Gruppe umfasst daher alle sozialen Grundrechte, die - im gleichen Sinne wie die klassischen Freiheitsrechte - vorwiegend als negative Rechte gestaltet worden sind, da sie primär auf Unterlassungspflichten des Staates zielen, in der Hinsicht, dass aus dem Grundrecht ein Recht hergeleitet werden kann mit dem Inhalt, dass die jeweiligen Grundrechtsadressaten bestimmte grundrechtlich geschützte Interessen respektieren und Eingriffe unterlassen oder nur unter bestimmten Voraussetzungen vornehmen. 27 Hierzu zählen ζ. B. verschiedene typische Freiheits- und Gleichheitsrechte, die als soziale Grundrechte vom Verfassungsgeber behandelt wurden, da sie gewissen sozialen Gruppen (insbesondere den Arbeitnehmern) wegen ihrer schwächeren Stellung gegenüber den Trägern sozialer Macht einen besonderen Schutz gewähren sollen, 28 was zugleich auch zeigt, dass es sich bei all diesen Grundrechten - vor allem was die Grundrechte der Arbeiter betrifft - um ausdrücklich und unmittelbar drittgerichtete Grundrechte handelt.29 Hierzu zählen u. a. das Streikrecht (Art. 9 bV), die freie Bildung von und die Mitgliedschaft in Gewerkschaften (Art. 8 bV) und die spezifischen Diskriminierungsverbote im Arbeitsverhältnis (Art. 7 Abs. X X X - X X X I V bV), um einige der wichtigsten Beispiele aufzuzeigen. Was die sozialen Leistungsrechte angeht, sollte man hier - wieder im Sinne Alexys 30 - besser von Leistungsrechten im weiteren Sinne sprechen, da nicht nur Rechte auf materielle (konkrete) Leistungen, sondern auch die sogenannten Rechte auf Schutz und auf Organisation und Verfahren (also auch Rechte auf 25

Vgl. hierzu José Carlos Vieira de Andrade: Rapport sur la protection des droits fondamenteaux au Portugal, Coimbra 1994, S. 4. 26 Vgl. Robert Alexy: Theorie der Grundrechte, 2. Aufl., S. 402 ff. In Portugual v. a. Joaquim José Gomes Canotilho , Direito Constitucional e Teoria da Constituiçao, Coimbra 1999, S. 383 ff. Für Brasilien vgl. Ingo Wolfgang Sarlet: A Eficâcia dos Direitos Fundamentais, Porto Alegre 1998, S. 158 ff., und zuletzt auch Gilmar F. Mendes/Inocência Màrtires Coelho/Paulo G.G. Branco : Hermenêutica Constitucional e Direitos Fundamentais, Brasilia 2000, S. 139 ff. und S. 200 ff. 27 In dieser Richtung, u. a. die Formulierung von Gerrit Manssen: Staatsrecht I, Grundrechtsdogmatik, München, S. 13 Rn. 39. Auch die in der deutschen Verfassungslehre und Rechtsprechung ausgearbeitete Definition der Abwehrrechte wurde mittlerweile auch in Brasilien - wenigstens durch einen Teil der Lehre - übernommen. In dieser Hinsicht vgl. Ingo Wolfgang Sarlet (Fn. 26), S. 167 ff., und zuletzt Gilmar F. Mendes/Inocêncio M. Coelho/Paulo G.G. Branco (Fn. 26), S. 140 ff. 28 Zu diesem Punkt vgl. Ingo Wolfgang Sarlet: Os Direitos Fundamentais Sociais na Constituiçào de 1988, in: Ingo W. Sarlet (Hrsg.), Direito Pùblico em Tempos de Crise, Porto Alegre 1999, S. 146 ff. 29 Vgl. u. a. Gilmar F. Mendes/Inocêncio M. Coelho/Paulo G.G. Branco (Fn. 26), S. 171. 30 Robert Alexy (Fn. 26), S. 402 ff.

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normative Leistungen), welche üblicherweise einem „status positivus libertatis" zugeordnet werden 31 , im Katalog der sozialen Grundrechte positiviert wurden, vor allem unter den „Rechten der Arbeiter". Typische Schutzrechte sind in Art. 7 Abs. I (Schutz des Arbeitsverhältnisses gegen arbiträre Entlassung im Rahmen des Gesetzes), aber auch in Art. 7 Abs. X (Schutz des Gehaltes nach Maßgabe des Gesetzes), in Art. 7 Abs. XX (Schutz des Arbeitsmarktes der Frauen durch spezifische Förderung im Rahmen des Gesetzes) und in Art. 7 Abs. X X V I I (gesetzlicher Schutz gegen Automatisierung) enthalten. Als Recht auf Organisation und Verfahren kann z. B. Art. 7 Abs. X I eingestuft werden, da diese Bestimmung, neben dem Recht der Arbeiter auf Beteiligung am Gewinn der Unternehmen (hier ein soziales Leistungsrecht), auch die Mitwirkung an der Verwaltung des Unternehmens, wieder nach Maßgabe des Gesetzgebers, vorsieht. In Art. 6 bV, aber auch unter den Rechten der Arbeiter (Art. 7 bV) sind, wie bereits angekündigt, eine Fülle von Leistungsrechten im engeren Sinn vorgesehen, welche auch den Kern des verfassungsrechtlichen Systems sozialer Sicherheit bilden. Hierzu zählen die schon erwähnten Rechte auf Erziehung, Gesundheit, Arbeit, Freizeit, Sicherheit, Sozialversicherung, Schutz der Mutterschaft und Kindheit, Sozialhilfe und letztens (in diesem Jahr durch eine Verfassungsänderung eingeführt) auch ein soziales Leistungsrecht auf Wohnung. Unter den Rechten der Arbeiter (Art. 7 bV) sollten hier auch einige erwähnt werden, nämlich das Recht auf Arbeitslosenversicherung (Abs. II), das Recht auf ein Mindestgehalt (Abs. IV), das Recht auf ein 13. Monatsgehalt (Abs. VIII), das Recht auf ein Familiengehalt für Abhängige (Abs. XII), das Recht auf eine Rente (Abs. XXIV). Es sollte hier noch geklärt werden, dass die zitierten Beispiele längst nicht den umfangreichen Katalog sozialer Grundrechte erschöpfen. Allein im Kapitel der sozialen Grundrechte sind etwa 50 spezifische Grundrechte ausdrücklich vorgesehen, obwohl man leicht von noch mehr Grundrechtsnormen sprechen könnte, davon ausgehend - wieder im Anschluss an Alexy 3 2 - , dass Norm und Text sich unterscheiden und dass in einer bestimmten Grundrechtsbestimmung (Text) mehr als eine Grundrechtsnorm (und in dieser Hinsicht auch mehr als ein Grundrecht) enthalten sein kann. Wichtig ist hier hinzuzufügen, dass Art. 6 bV eigentlich nur als eine Art Generalklausel im Rahmen der sozialen Grundrechte betrachtet werden kann, ohne 31 Vgl. den Vorschlag von Dietrich Murswiek: Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, in: Isensee-Kirchhof (Fn. 13), S. 245 ff. 32 Robert Alexy (Fn. 26), S. 39 ff. Zum Unterschied zwischen Text, Norm und Rechten in der brasilianischen und portugiesischen Literatur (mit starkem Einfluss der deutschen Rechtsdogmatik) vgl. Eros Roberto Grau: A Ordern Econòmica na Constituiçào de 1988, S. 164 ff., und Joaquim José Gomes Canotilho (Fn. 26), S. 1126 ff.

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näheres über den Inhalt der dort enthaltenen Grundrechte zu regeln. So wird ζ. B. das in Art. 6 bV generell vorgesehene Recht auf Arbeit (welches - auch in Brasilien - in der Regel nicht als ein subjektives Recht auf eine Arbeitsstelle verstanden wird) durch die verschiedenen, teilweise schon erwähnten spezifischen Grundrechte der Arbeiter (Art. 7 ff. bV), aber auch durch andere Verfassungsbestimmungen (es sei hier das soziale Staatsziel der Vollbeschäftigung [Art. 170 Abs. V I I I bV] erwähnt) näher umschrieben. Die Rechte auf Sozialversicherung, Gesundheit und Sozialhilfe sowie auch die Rechte auf Erziehung, Schutz der Mutterschaft und Kindheit werden ausfuhrlich im Titel der sozialen Ordnung (Art. 193-232) geregelt, so dass der konkrete Inhalt der in Art. 6 bV enthaltenen sozialen Grundrechte erst nach Lektüre dieser Vorschriften außerhalb des Grundrechtskatalogs verständlich wird. 33 Nach herrschender Ansicht - obwohl nicht ohne gewisse Auseinandersetzung - wird im brasilianischen Verfassungsrecht (sowie auch in Portugal und anscheinend auch in Deutschland) eine materielle Offenheit des Grundrechtskatalogs vertreten. 34 In der Tat findet diese Meinung schon im Verfassungstext ihre Rechtfertigung, da - laut Art. 5 § 2 bV - die in der Verfassung ausdrücklich positivierten Rechte nicht andere Rechte ausschließen, die von den Verfassungsprinzipien abgeleitet werden können oder in den von Brasilien unterzeichneten internationalen Abkommen enthalten sind. Dass diese Bestimmung, und demzufolge die materielle Offenheit des Grundrechtskatalogs, auch die sozialen Grundrechte umfasst, liegt auf der Hand und wird durch weitere Verfassungsbestimmungen belegt.35 Sie kann auf jeden Fall im Wege einer systematischen und teleologischen Auslegung leicht begründet werden. In diesem Zusammenhang enthält Art. 6 bV selbst schon eine klare Aussage in der Hinsicht, dass die in ihm beschriebenen sozialen Grundrechte „in der Form der Verfassung gewährleistet sind", was als deutlicher Hinweis auf die Bestimmungen im Titel der sozialen Ordnung verstanden wird, da dort die einzelnen sozialen Grundrechte näher geregelt werden. Auch Art. 7 bV, in dem die wichtigsten Rechte der Arbeiter aufgeführt werden, sagt klar und deutlich: „Es sind Rechte der Arbeiter, neben anderen, die der Verbesserung ihrer sozialen Stellung dienen." Dies alles bedeutet, dass neben den im Titel II der brasilianischen Verfassung ausdrücklich als Grundrechte positivierten sozialen Rechten auch andere Verfassungsbestimmungen soziale Grundrechte im materiellen und formellen 33

So die treffende Bemerkung von Andreas Krell (Fn. 16), S. 11. Hierzu vgl. Ingo Wolfgang Sarlet (Fn. 24), S. 75 ff. Tiefgreifender ders. (Fn. 26), S. 81-137. Im portugiesischen Schrifttum vgl. v. a. Jorge Miranda (Fn. 18), S. 162 ff., und Joaquim José Gomes Canotilho (Fn. 26), S. 379 ff. 34

35

85 ff.

Vgl. zu diesem Punkt Ingo Wolfgang Sarlet (Fn. 24), S. 79 ff.; ders. (Fn. 26), S.

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Sinn enthalten. Darüber hinaus sollte davon ausgegangen werden (trotz einiger Gegenmeinungen und der Rechtsprechung des brasilianischen obersten Gerichtshofs) 36, dass laut Art. 5 § 2 bV auf internationaler Ebene verbürgte soziale Grundrechtspositionen Verfassungsrang haben.37 Schließlich kann auch von der Möglichkeit der Ableitung ungeschriebener sozialer Grundrechte ausgegangen werden. 38 Welche Bestimmungen außerhalb des Grundrechtskatalogs in der Tat auch Grundrechtsnormen enthalten, welche Kriterien darüber hinaus herangezogen werden müssen, um diese Grundrechtspositionen auf dem Weg der Auslegung ausfindig zu machen, ist weiterhin umstritten und bildet ein Problem für sich, welches wir hier nicht behandeln können. 39 Es sei hier nur kurz darauf hingewiesen, dass die brasilianische Verfassung, anders als das Grundgesetz, keine ausdrückliche Regelung enthält, wie es Fall der sogenannten grundrechtsgleichen Rechte ist (Art. 93 Nr. 4a in Verbindung mit Art. 101, 103 und 104 GG), welche auch mittels einer Verfassungsbeschwerde verfassungsgerichtlich durchgesetzt werden können und wo die Entscheidung, was die Grundrechtsnatur betrifft (zumindest im formalen Sinn), klar und deutlich vom Verfassungsgeber getroffen wurde. Wichtig ist, um diesen Abschnitt zu Ende zu führen, die Feststellung, dass im Bereich der Grundrechte (innerhalb und außerhalb des Katalogs), aber insbesondere, was die Sozialstaatlichkeit und die sozialen Grundrechte betrifft, die brasilianische Verfassung ein komplexes und gemischtes Bündel von Verfassungsnormen enthält, das hinsichtlich ihres Inhaltes und der Form ihrer Positivierung keine homogene Gruppe bildet. 40 Dass diese Vielfalt auch für die Problematik der Wirksamkeit und Verwirklichung der sozialen Grundrechte von eindeutiger Relevanz ist, liegt auf der Hand und soll nachstehend entsprechend berücksichtigt und näher behandelt werden. 36 Der Supremo Tribunal Federal (Oberstes Brasilianisches Gericht, welches auch die Funktion eines Bundesverfassungsgerichts ausübt) hält - gegen den Sinn des Art. 5 § 2 bV und entgegen der h. M. im Schrifttum - weiterhin an seiner Rechtsprechung fest, dass internationale Abkommen (auch was Menschenrechte betrifft) den gleichen Rang wie ein einfaches Gesetz haben. In dieser Richtung vgl. José Francisco Rezek: Direito Internacional Pùblico, Säo Paulo 1994, S. 103 f. 37 Über den Verfassungsrang international verbürgter Grundrechte vgl. u. a. Flävia Piovesan: Direitos Humanos e ο Direito Constitucional Internacional, Säo Paulo 1996, S. 90 ff. 38 Vgl. Ingo Wolfgang Sarlet (Fn. 24), S. 75 ff.; ders. (Fn. 26), S. 87 ff. 39 Es handelt sich v. a. um ein Problem der Auslegung und der Konstruktion eines materiellen Grundrechtsbegriffs. In diesem Zusammenhang hat man - im portugiesischen Schrifttum - mit Recht auf die Menschenwürde hingewiesen, welche als Maßstab zur Identifizierung von Grundrechtspositionen außerhalb des Grundrechtskatalogs herangezogen werden kann und sollte. (Vgl. in dieser Hinsicht vor allem José Carlos Vieira de Andrade: Os Direitos Fundamentais na Constituiçao Portuguesa de 1976, S. 83 ff.) 40 So schon Ingo Wolfgang Sarlet (Fn. 26), S. 199 ff. In der gleichen Richtung auch Andreas Krell (Fn. 16), S. 13.

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2. Das Problem der Wirksamkeit und Verwirklichung der sozialen Grundrechte im brasilianischen Verfassungsrecht Zentrale Bedeutung für die Verwirklichung der verfassungsrechtlich verankerten Sozialstaatlichkeit hat die Problematik der Wirksamkeit und Verwirklichung (Effektivität) der entsprechenden sozialen Grundrechtsnormen bzw. der weiteren sozialrechtlichen Bestimmungen der Verfassung, ein Thema, mit dem sich brasilianische Lehre und Rechtsprechung schon seit längerer Zeit befassen und bei dem bis heute eine tiefe Kontroverse besteht.41 Zu diesem Punkt ist es wichtig, eine weitere Bestimmung der Verfassung zu berücksichtigen, nämlich Art. 5 § 1 bV, nach dessen Wortlaut die Grundrechtsnormen der Verfassung unmittelbare Anwendbarkeit haben. In Anbetracht der Tatsache, dass im Grundrechtskatalog auch Leistungsrechte enthalten sind, stellt sich natürlicherweise die Frage, ob auch diese Grundrechtsnormen ohne einen Gesetzgebungsakt direkt von den Gerichten und der Verwaltung angewendet werden können und vor allem, ob für den Einzelnen ein subjektives Recht anerkannt werden kann, insbesondere im Bereich der sogenannten sozialen Leistungsgrundrechte. Da der Verfassungsgeber - anders als in Portugal und Spanien42 - keinen ausdrücklichen Unterschied zwischen den sozialen Leistungsgrundrechten und den weiteren Grundrechtsnormen gezogen hat, schließen wir uns der Meinung an, welche in Art. 5 § 1 bV eine Art Generalklausel sieht, die für das gesamte Grundrechtssystem der Verfassung gilt. 43 Dieses rechtfertigt sich schon deshalb, weil unter den sozialen Grundrechten - wie bereits dargestellt - viele typische Abwehrrechte existieren, über deren unmittelbare Anwendbarkeit (Wirkung) und subjektiv-rechtlichen Charakter prinzipiell keine Zweifel bestehen.44

41

Zu dieser Diskussion vgl. Ingo Wolfgang Sarlet (Fn. 26), S. 207 ff. Sowohl die portugiesische Verfassung von 1976 als auch die spanische Verfassung von 1978 unterscheiden ausdrücklich zwischen den sog. negativen Grundrechten und den sozialen Leistungsgrundrechten (so auch die allgemeinen Grundsätze der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung) in dem Sinne, dass letztere keine unmittelbare Anwendung haben und prinzipiell eine Konkretisierung durch den Gesetzgeber verlangen. Zu diesem Punkt vgl. unter vielen José Casalta Nabais: Direitos Fundamentais na Constituiçào Portuguesa, in: Boletim do Ministério da Justiça Nr. 400 (1990), 21 ff., und fur Spanien - Francisco Fernandez Segado: La Teoria Juridica de los Derechos Fundamentales en la Constitución Espaflola de 1978 y su Interpretación por el Tribunal Constitucional, in: Revista de Informaçào Legislativa Nr. 121 (1994), 80. 43 So etwa Flàvia Piovesan (Fn. 12), S. 90. 44 Vgl. Luis Roberto Barrosos Meinung (Ο Direito Constitucional e a Efetividade de suas Normas, S. 105 ff), die wohl auch ohne Zweifel der ganz überwiegenden Ansicht in der deutschen, portugiesischen und spanischen Lehre und Rechtsprechung entspricht, so dass wir hier auf weitere Literaturhinweise verzichten. 42

11 Schünemann u. a.

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Trotz Gegenmeinungen ist andererseits leicht zu vertreten, dass die verfassungsrechtliche Aussage für die unmittelbare Anwendbarkeit aller Grundrechte nicht zwingend zu einer gleichen Anwendbarkeit und Wirksamkeit führt, 45 obwohl die brasilianische herrschende Lehre davon ausgeht, dass alle Verfassungsnormen einen gewissen Grad an Wirksamkeit (hier als die mögliche Entfaltung rechtlicher Folgen verstanden) entfalten und in dieser Hinsicht auch einer Verwirklichung zugänglich sind. 46 Abgesehen davon darf man nicht vernachlässigen, dass nicht alle Verfassungsnormen im Bereich der Sozialstaatlichkeit Grundrechtsqualität haben, so dass in diesen Fällen Art. 5 § 1 bV nicht einschlägig ist. Darüber hinaus spielt die gesetzliche Regelung der meisten Verfassungsbestimmungen - auch was die sozialen Grundrechte angeht - eine nicht unerhebliche Rolle, insbesondere wo es um die Anerkennung subjektiver Rechte geht und die üblichen Einwände gegen originäre soziale Leistungsrechte, auf die noch kurz eingegangen wird, prinzipiell keinen bzw. einen geringen Einfluss haben. Auf jeden Fall soll hier berücksichtigt werden, dass es sich hinsichtlich einer gesetzgeberischen und verwaltungsrechtlichen Regelung in der Regel um eine direkte oder zumindest indirekte Konkretisierung der Verfassung handelt, was wiederum - abgesehen von der Anerkennung derivativer Leistungsansprüche47 - auch für die Problematik des sozialen Rückschritts wichtig ist. Ohne hier näher auf diese spezifische Problematik eingehen zu können, möchten wir nur daran festhalten - um auch persönlich Stellung zu nehmen dass Art. 5 § 1 bV (und damit beschreiten wir eine Art Mittelweg) wegen der Vielfältigkeit der Grundrechtsnormen zwangsläufig prinzipiellen Charakter aufweist, da sich ansonsten (falls man von einer Regel der unmittelbaren Anwendbarkeit spricht) die Problematik der Wirksamkeit mit einer ersichtlich nicht haltbaren „alles oder nichts"-Logik lösen müsste, was von sich aus schon im Konflikt mit dem Doppelcharakter der Grundrechte als Regeln und Prinzipien stehen würde, so dass wir auch in diesem Punkt der Lehre Alexys folgen. 48 In dieser Hinsicht vertreten wir die Ansicht, dass Art. 5 § 1 bV nicht bedeuten kann, dass alle Grundrechtsnormen (insbesondere die sozialen Leistungsgrundrechte) unmittelbar subjektive Rechte für den Einzelnen begründen, sondern vielmehr, dass allen Grundrechtsnormen - auch den sozialen Grundrechten

45

In dieser Hinsicht vgl. u. a. José Carlos Vieira de Andrade (Fn. 39), S. 253 ff. Vgl. v. a. José Afonso da Silva: Aplicabilidade das normas constitucionais, Säo Paulo 1982, S. 42 ff. 47 Über die Unterscheidung zwischen originären und derivativen sozialen Grundrechten (oder Leistungsansprüchen) vgl. v. a. den bekannten Beitrag von Wolfgang Martens: Grundrechte im Leistungsstaat, in: VVDStRL Nr. 30 (1972), 21 ff. 48 Über die Prinzipien-Regeln-Struktur der Grundrechtsnormen vgl. Robert Alexy (Fn. 26), S. 71 ff. 46

Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte in Brasilien

153

in ihrer leistungsrechtlichen Dimension - die größtmögliche Wirksamkeit und Verwirklichung verliehen werden soll, dieses aber wiederum die Anerkennung von subjektiven Leistungsrechten prinzipiell nicht ausschließt.49 Nur so aber ist es m. E. möglich, anhand des konkreten Falls und der spezifischen Grundrechtsnorm zugleich der Bedeutung und dem Sinn des Art. 5 § 1 bV entgegenzukommen und darüber hinaus auch die Komplexität und unterschiedliche Struktur der Grundrechtsnormen zu berücksichtigen. Damit sind wir zwar einen Schritt weiter gekommen, haben allerdings zum Problem „subjektive Rechte auf soziale Leistungen" noch keine Stellung genommen. Wo es sich um rein normative Leistungen handelt, was insbesondere bei den Schutzrechten der Fall ist, geht (auch in Brasilien) die herrschende Meinung m. E. zu Recht davon aus, dass fur den Einzelnen kein subjektives Recht, zumindest nicht im Sinne eines Rechts auf Erlass eines Gesetzes besteht.50 Abgesehen davon könnte man noch immer von der umstrittenen Möglichkeit einer Einzelfalllösung ausgehen, da im brasilianischen positiven Verfassungsrecht (Art. 5 Abs. L X X I bV) fur die Fälle einer Unterlassung des Gesetzgebers oder der Verwaltung (wenn ihr die normative Regelung obliegt) eine spezifische Individualklage vorgesehen ist (das sogenannte „Mandado de Injunçâo"). Nach dem Wortlaut der entsprechenden Verfassungsbestimmung kann der Einzelne vor Gericht und im konkreten Fall die Durchsetzung des in der Verfassung enthaltenen, aber nicht geregelten Grundrechts erhalten, ohne dass damit dem Gesetzgeber (bzw. der Verwaltung) eine Normsetzung aufgezwungen werden kann. 51 Trotz der eindeutigen Entscheidung des Verfassungsgebers wurde dem Mandado de Injunçâo, abgesehen von einigen Ausnahmen, in der Regel keine große Bedeutung zugeschrieben. Vor allem hat das brasilianische Supremo Tribunal Federal 52 (Oberstes Bundesgericht) die Möglichkeit einer Durchsetzung des nicht geregelten Verfassungsrechts verneint und das Mandado de Injunçâo der abstrakten Normenkontrolle im Rahmen einer Unterlassung des Gesetzgebers lediglich gleichgestellt, so dass sich das Gericht in den meisten Fällen dar-

49

Vgl. hierzu auch Flavia Piovesan (Fn. 12), S. 92, im Anschluss an die Lehre des portugiesischen Verfassungsrechtlers Gomes Canotilho. 50 Im brasilianischen Verfassungsrecht vgl. Barroso (O Direito Constitucional e a Efetividade de suas normas, S. 100 ff.), obwohl ihm die Terminologie Rechte auf Schutz (und staatliche Schutzpflichten) anscheinend nicht bekannt ist. ' l Über die Mandado de Injunçào-Klage vgl. u. a. Clémerson Merlin Clève: A Fiscalizaçào Abstrata da Constitucionalidade no Direito Brasileiro, Säo Paulo 1999, S. 361 ff. 52 Der Supremo Tribunal Federal ist zugleich das oberste Bundesgericht, übt jedoch vor allem die Funktion eines Bundesverfassungsgericht aus, da ihm - laut Art. 102 bV die Wahrung der Verfassung (guarda da Constituiçào) obliegt. 11

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auf beschränkt, die Unterlassung festzustellen, und die Entscheidung dem Gesetzgeber überlässt. 53 Im Bereich der Rechte auf konkrete sozialstaatliche Leistungen muss jedoch - wie bereits erwähnt - zwischen den bereits vom Gesetzgeber geregelten sozialen Grundrechten (wo nach Maßgabe des jeweiligen Gesetzes prinzipiell für den Einzelnen auch in Brasilien ein subjektives Recht anerkannt wird) und den im deutschen Schrifttum sogenannten originären, unmittelbar von der Verfassung abgeleiteten, subjektiven Leistungsrechten unterschieden werden. Gerade was die letzte Alternative angeht - originäre subjektive Leistungsrechte - , besteht weiterhin eine intensive Auseinandersetzung, die sich schon lange nicht mehr auf die juristische Ebene beschränkt, sondern zu immer stärkeren Konflikten zwischen Gesetzgeber und Rechtsprechung, vor allem aber zwischen der Judikative und der Verwaltung führt. Gerade wegen der mangelnden Mittel und den entsprechenden Leistungsdefiziten, die vor allem im Bereich des Gesundheitswesens, Erziehung, Wohnung, Mutter- und Kinderschutz immer akuter zu spüren sind, werden die Gerichte in Brasilien immer öfter mit derartigen Klagen beschäftigt, wo es im Prinzip darum geht, dem Einzelnen, bei fehlender oder mangelnder gesetzlicher Regelung, die in der Verfassung versprochenen Leistungen zu gewähren. Während die obersten Gerichte noch eine vorwiegend zurückhaltende Meinung vertreten, zeigt sich in den unteren Instanzen (erste und zweite Instanz) eine deutliche Tendenz, vor allem was das Recht auf Gesundheit betrifft, zur Anerkennung eines subjektiven originären sozialen Grundrechts. 54 Da man, abgesehen von einer verfassungsrechtlichen Positivierung, im Falle eines Rechtes auf Gesundheit schon immer von dem Recht auf Leben (und auf ein menschenwürdiges Leben) sprechen könnte und auf diesem Weg sogar ein ungeschriebenes Recht auf Gesundheit anerkennen könnte, muss eben die Entscheidung getroffen werden, ob nicht doch, wenigstens in Extremfällen, zumindest was das Recht auf Gesundheit und andere existenzrelevante soziale Grundrechtspositionen betrifft, der Einzelne ein subjektives Recht hat. Natürlich liegt es in diesem Zusammenhang auf der Hand, dass wegen der finanziellwirtschaftlichen Relevanz der sozialen Leistungsrechte (wo es sich um konkrete sozialstaatliche Leistungen handelt) die üblichen und schon klassischen Ein-

53

Hierzu auch u. a. Clémerson Merlin Clève (Fn. 51 ), S. 380 f. Hier sei beispielsweise eine große Menge von Entscheidungen der ersten Instanz, aber auch des Oberlandesgerichtes vom brasilianischen Bundesland Rio Grande do Sul erwähnt, welche dem Einzelnen einen direkt auf der Verfassung beruhenden Anspruch gegen den Staat auf Medikamente und andere Leistungen im Rahmen der Gesundheit zuerkennen. Vgl. hier die Berufung Nr. 598018182, entschieden am 22.10.98 (Berichterstatter Vasco Della Giustina ), und die Berufung Nr. 598526481 vom 11.06.99 (Berichterstatter Luiz Felipe Brasil Santos). 54

Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte in Brasilien

155

wände eines Vorbehalts des Möglichen und der fehlenden Kompetenz (demokratische Legitimation) der Rechtsprechung zur Festlegung des Leistungsgegenstandes und demzufolge zur Entscheidung im Bereich der Anwendung öffentlicher Mittel nicht zu übersehen sind. 55 Die in Deutschland im Wesentlichen auf einem Minimalstandart basierenden Lösungen (wie ζ. B. die Vorschläge von Breuer und Starck) 56 haben in dieser Hinsicht - wie es Alexy gut dargestellt hat - weiterhin den Nachteil, dass auch im Bereich eines minimalen Leistungsniveaus dem Staat immer noch die entsprechenden Mittel fehlen können,57 was sich allerdings im Fall Brasiliens (wie in den meisten Entwicklungsländern) leicht zeigen lässt. Auch eine gesetzliche Regelung schließt natürlich aus sich selbst die Möglichkeit einer Knappheit bzw. eines Nichtvorhandenseins der Mittel zur Erfüllung der beanspruchten sozialen Leistung nicht aus, verdrängt jedoch zumindest die weiteren Einwände einer notwendigen Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers in diesem Bereich. Deshalb - trotz aller erheblichen Gegenargumente - scheint die von Alexy vorgeschlagene „Abwägungslösung" eine interessante und vor allem - insbesondere für Brasilien - eine verfassungskonforme und rationale Alternative zu bieten, so dass im konkreten Fall zwischen der existentiellen Notwendigkeit einer bestimmten sozialen grundrechtlich-verbürgten Leistung und den kollidierenden Verfassungsgrundsätzen des Parlamentsvorbehalts, des Gewaltenteilungsprinzips und des Vorbehalts des Möglichen eine - im Sinne Hesses - sogenannte „praktische Konkordanz" hergestellt werden sollte. 58 Mit anderen Worten: Immer wenn ein bestimmtes soziales Grundrecht auf soziale Leistungen als subjektives Recht zur Erhaltung des Lebens, der Menschenwürde und von anderen relevanten Verfassungsgütern zwingend notwendig ist, da es ansonsten zur Opferung (oder zumindest einer endgültigen und gravierenden Gefährdung) des vom sozialen Grundrecht gedeckten Verfassungsguts führt, sollte das subjektive Recht des Einzelnen - wenn auch nicht im gewünschten Maße auch ohne oder im Falle einer mangelnden gesetzlichen Regelung anerkannt

55

Zu diesen Einwänden und ihrer Disskussion vgl. in Brasilien (mit Berufung auf die deutsche Lehre) mein A Eficâcia dos Direitos Fundamentais (Fn. 26), S. 256 ff. 56 Vgl. Rüdiger Breuer: Grundrechte als Anspruchsnormen, in: FS für das BVerwG, 1978, S. 91 ff., und Christian Starck: Staatliche Organisation und staatliche Finanzierung als Hilfen zur Grundrechtsverwirklichung?, in: BVerfG und GG, Bd. II, 1976, S. 21 ff. (obwohl der Ausnahmecharakter von subjektiven Leistungsrechten hier noch stärker betont wird). 57 Vgl. Robert Alexy (Fn. 26), S. 466. 58 Vgl. Robert Alexy (Fn. 26), S. 465 ff. Im brasilianischen Schrifttum vgl. im Sinne einer „Abwägungslösung" (obwohl nicht auf die sozialen Grundrechte reduziert) Juarez Freitas: Tendências Atuais e Perspectivas da Interpretaçào Constitucional, in: AJURIS Nr. 76 (2000), 397 ff., im Anschluss u. a. an Konrad Hesse.

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werden, natürlich nie ohne entsprechende Berücksichtigung der Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Darüber hinaus sollte auch nicht vergessen werden - wie es das Bundesverfassungsgericht schon in der bekannten „numerus clausus"-Entscheidung angedeutet hat - , dass die im konkreten Fall durchzuführende Verhältnismäßigkeitsprüfung die Frage berücksichtigen muss, was eigentlich der Einzelne vernünftigerweise vom Staat an Leistungen zu erwarten hat. 59 Was die brasilianische Verfassungsordnung und Verfassungspraxis betrifft, erlangt die Problematik der Verwirklichung der sozialen Grundrechte - insbesondere bezüglich des Rechtes auf Gesundheit (auch die Sozialhilfe als Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum könnte hier erwähnt werden) - eine besonders dramatische Dimension. Kurz und klar gesagt, kann die Verweigerung einer gewissen sozialen Leistung durch den Richter durchaus einem Todesurteil gleichgestellt werden. Wenn nicht einmal - wenigstens nicht nach dem brasilianischem positiven Verfassungsrecht - ein Massenmörder zum Tode verurteilt werden kann, wie soll man - auch bei angeblich fehlenden finanziellen Mitteln 60 - jemandem, dessen einzige Straftat die Armut ist, das Recht auf Leben und eine menschenwürdige Existenz (wenigstens aber das Recht auf eine Existenz) verweigern?! Obwohl die letzten Ausführungen übertrieben scheinen mögen, gehört es leider immer mehr zur täglichen Ordnung in Brasilien, dass trotz einer ausfuhrlichen gesetzlichen Regelung immer öfter solche Fälle vor Gericht gebracht werden, so dass - zumindest seitens der Verwaltung - auch der Einwand gegenüber einer wachsenden Politisierung der Justiz immer stärker vorgetragen wird. Ohne auf diese spezifische Problematik näher einzugehen, sei kurz erwähnt, dass - im Rahmen der Verwirklichung und insbesondere der gerichtlichen Durchsetzung sozialer Leistungsgrundrechte - die Gerichte (und selbst die Verfassung) nicht selten sogar für die Unregierbarkeit Brasiliens verantwortlich gemacht werden, was zu verschiedenen Maßnahmen in Richtung einer Reduzierung der Richtermacht führte, wobei die meisten noch nicht in Kraft getreten sind. Insbesondere ist hier zu erwähnen, dass seit relativ kurzer Zeit die Richter und Gerichte einem gesetzlichen Verbot unterliegen, gegen die Verwaltung (Bund, Länder und Munizipien) einstweilige Verfügungen zu erlassen. Ein Verbot, welches durch die meisten Richter und Gerichte als verfassungswidrig bezeichnet wird, leider aber - im Rahmen eines abstrakten Normenkontrollverfahrens - vorläufig (da die endgültige Entscheidung noch nicht getroffen wurde) von dem Supremo Tribunal Federal für verfassungskonform gehalten wurde.

59

Vgl. BVerfGE 33, 303, 333. Da üblicherweise die staatlichen Behörden im Rahmen der Klageerwiderung den Einwand nicht entsprechend belegen. 60

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Wenn man bedenkt, dass die öffentliche Gewalt allein für die Klageerwiderung 60 Tage Zeit hat, sieht man sofort, zu welchen Konsequenzen eine solche Entscheidung führen kann, ζ. B. im Falle einer zum Überleben dringend notwendigen Leistung. Trotzdem - vor allem was ein subjektives Recht auf Gesundheit angeht - weigern sich die meisten Richter und Gerichte, dieser Entscheidung zu folgen, und selbst das Supremo Tribunal Federal scheint in letzter Zeit doch ein wenig zurückhaltend in dieser Sache, sei es, weil es in verschiedenen Fällen die Entscheidungen - wenigstens bis jetzt - der unteren Instanzen nicht aufgehoben hat, sei es, weil es sich bei der gerichtlichen Gewährleistung eines subjektiven Rechts auf Gesundheit meistens um gesetzlich geregelte Leistungen handelt und es deshalb nicht um einen direkten Verstoß gegen die Verfassung geht. 61

IV. Die Krise der sozialen Grundrechte und des Sozialstaats in Brasilien: einige Bemerkungen über Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit Obwohl verschiedene Aspekte im letzten Abschnitt nicht oder nur teilweise berücksichtigt wurden, konnten die zentralen Punkte der Kontroverse um die Wirksamkeit und Verwirklichung der sozialen Grundrechte kurz dargestellt werden. Abgesehen von der ausdrücklichen Entscheidung des Verfassungsgebers für die sozialen Grundrechte und für deren normative Kraft und abgesehen von der Tendenz in Richtung der Anerkennung von subjektiven Leistungsgrundrechten des Einzelnen gegen die öffentliche Gewalt sollte aber trotzdem nicht vergessen werden, dass eine positiv-rechtliche Gewährleistung von sozialen Grundrechten allein nicht die Lösung für die sozialen Probleme bietet, da Wohlstand sicherlich auch „trotz und außerhalb der Verfassung" 62 möglich ist. In dieser Hinsicht, wie Brunner es schon formuliert hat, „ist der Realitätsgehalt der sozialen Grundrechtsidee hüben und drüben von dem Niveau der einfachen Sozialgesetzgebung und dem wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entwicklungsstand abhängig."63 Es erklärt sich deshalb sehr leicht, dass verschiedene Staaten (und Brasilien ist sicherlich eines der besten Beispiele), die in ihren Verfassungen einen umfangreichen Katalog sozialer Grundrechte enthalten, was die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit angeht, oft weit hinter Ländern stehen, die obwohl sie auf eine verfassungsrechtliche Positivierung sozialer Grundrechte

61 Mit diesen Entscheidungen zeigt sich deutlich eine Tendenz seitens des Supremo Tribunal Federal in Richtung einer Relativierung der vorläufigen Entscheidung, welche die Möglichkeit von einstweiligen Verfugungen gegen die öffentliche Gewalt prinzipiell ausgeschlossen hat. 62 So zutreffend Jörg-Paul Müller: Soziale Grundrechte in der Verfassung?, 2 1981, S. 53. 63 Georg Brunner: Die Problematik der sozialen Grundrechte, 1971, S. 36.

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verzichtet haben - trotzdem eine aktive Sozialpolitik betreiben und einen effektiven sozialen Rechtsstaat aufgebaut haben.64 In diesem Zusammenhang sollte hier noch hinzugefugt werden, dass gerade in Brasilien in letzter Zeit die Kluft zwischen den in der Verfassung positivierten Versprechungen - vor allem im Bereich der sozialen Grundrechte - und der Verfassungswirklichkeit immer größer wird und die sozialen und wirtschaftlichen Umstände zwangsläufig zu einem wachsenden Verwirklichungsdefizit der sozialen Grundrechte fuhren, den auch der Gesetzgeber und die Gerichte - abgesehen von konkreten Einzelfallösungen - nicht hinreichend überwinden können. Nur um einige Informationen über die brasilianische Wirklichkeit zu vermitteln, sei hier beispielsweise erwähnt, dass im Bereich des Gesundheitswesens Brasilien im letzten Jahr (1999) Platz 125 unter etwa 175 Staaten erreichte. Das gesetzlich festgelegte Mindestgehalt (welches auch im Rahmen der Leistungen im Bereich der sozialen Sicherheit als Richtschnur benutzt wird) beträgt heute (August 2000) etwa 170 DM, obwohl das eigentlich notwendige Mindestgehalt (fur die Grundbedürfhisse einer Familie mit zwei Kindern) nach Angaben eines bekannten Forschungsinstituts zumindest 1.200 D M betragen müsste. Es liegt deshalb auf der Hand, dass in Brasilien von einer Krise der Grundrechte die Rede sein kann, vor allem - aber nicht ausschließlich - , was die Verwirklichung der sozialen Grundrechte betrifft. Gerade in Entwicklungsländern wie Brasilien zeigen sich die negativen Auswirkungen der wirtschaftlichen Globalisierung und des sogenannten Neoliberalismus wohl am stärksten, was, neben einer wachsenden sozialen Ausgrenzung und sozialwirtschaftlichen Not, auch zu einer Schwächung des Staates fuhrt, die sich wiederum in einer Reduzierung der Leistungsfähigkeit der öffentlichen Hand, insbesondere im Bereich der Sozialstaatlichkeit, widerspiegelt. 65 In diesem Zusammenhang hat Boaventura Santos, ein bekannter portugiesischer Soziologe, auf die Bildung - vor allem in den Entwicklungsländern - eines sogenannten „sozialen Faschismus", der sich unter anderen Merkmalen gerade wegen der starken sozialen Ausgrenzung als eine Art sozialer „Apartheid" bezeichnen lässt, hingewiesen.66 Dass diese Effektivitätskrise der sozialen Grundrechte direkten Einfluss auf die Ausübung der klassischen Abwehrrechte hat, lässt sich leicht darlegen, da die wachsende Armut und mangelnde soziale Sicherheit nicht nur reale Freiheit und

64

So auch Georg Brunner (Fn. 63), S. 37. Vgl. hierzu José Eduardo Faria: Democracia e Governabilidade: os Direitoss Humanos à Luz da Globalizaçào Econòmica, in: J. E. Faria (Hrsg.), Direito e Globalizaçao Econòmica: implicaçôes e perspectivas, Sào Paulo 1996, S. 127 ff. 66 Vgl. Boaventura Souza Santos: Reinventar a Democracia: entre o PréContratualismo e ο Pós-Contratualismo , Coimbra 1998, S. 23 ff. 65

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Gleichheit (wenigstens im Sinne einer Chancengleichheit67) gefährdet, sondern auch zu einer immer größeren Kriminalität und sozialen Unruhe fuhrt, welche wiederum weitere Aggressionen gegen Leben, körperliche Unversehrtheit, Eigentum, Privatsphäre usw. mit sich bringt. Deswegen scheint es nicht übertrieben, neben einer Krise der Sozialstaatlichkeit von einer Krise der Grundrechte im Allgemeinen zu reden. Eine Krise, die sich allerdings nicht auf die Verwirklichung begrenzt, sondern auch als eine Identitäts- und Vertrauenskrise bezeichnet werden kann. 68 Ohne dass wir uns hier länger mit diesen Aspekten beschäftigen, ist es durchaus möglich, in diesem Zusammenhang die Lehre von Dieter Grimm heranzuziehen, da er mit Recht (obwohl unter viel freundlicheren Umständen als in Brasilien) darauf hingewiesen hat, dass der rechtliche Erfolg nicht mit der bloßen Geltung der Norm eintreten kann, wenn für die Grundrechtseffektivität (und dies nicht auf die sozialen Grundrechte beschränkt) eine Untätigkeit des Staates nicht ausreicht (und dass sie durchaus nicht genügt, scheint auf der Hand zu liegen), sondern mehr oder weniger staatliche Aktivität erforderlich ist, weshalb er zu dem Schluss kommt, dass sich das Effektivitätsproblem der Grundrechte nicht mehr ausschließlich innerhalb des juristischen Systems lösen lässt, sondern zur Frage einer planvoll betriebenen Grundrechtspolitik wird. 69 Wenn jedoch davon ausgegangen werden kann und sollte, dass auch die beste Verfassung (und die in ihr positivierten sozialen Grundrechte und Staatszielbestimmungen) nicht in der Lage ist, alle Erwartungen des Einzelnen von sich selbst aus zu erfüllen, 70 darüber hinaus auch nicht als eine Art sozialstaatliche Lebensversicherung betrachtet werden kann, 71 so bedeutet dies wohl nicht, gerade was Verfassungsordnungen wie die von Brasilien betrifft, dass die in der Verfassung verankerten sozialen Grundrechte und weitere sozialstaatliche Programme und Staatsziele nicht ernst genommen werden sollen und können. In der Tat, trotz der unübersehbaren Kluft zwischen dem positiven Verfassungs-

67 Vgl. zu diesem Thema v. a. das ausschlaggebende Werk von Heinrich Scholler: Die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot oder als Gebot der Chancengleichheit, 1969. 68 Zur Krise der Grundrechte in Brasilien vgl. Ingo Wolfgang Sarlet (Fn. 28), S. 131 ff. 69 Vgl. Dieter Grimm: Grundrechte und soziale Wirklichkeit, in: W. Hassemer/W. Hoffmann-Riem/J. Limbach (Hrsg.), Grundrechte und soziale Wirklichkeit, 1982, S. 72, der sich wiederum auf die Lehre von Peter Häberle: Grundrechte im Leistungsstaat, in: VVDStRL Nr. 30 (1972), 103 ff., beruft. 70 Dies der auf der Lehre von Karl Loewenstein basierende Hinweis von Jörg-Paul Müller (Fn. 62), S. 53. 71 Vgl. Peter Häberle (Fn. 69), 110.

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recht und der Verfassungswirklichkeit und abgesehen von den mangelnden Mitteln üben die sozialen Grundrechte eine durchaus wichtige Funktion aus, so dass ihre (von manchen gewünschte) Beseitigung im Rahmen einer Verfassungsreform - zumindest in Brasilien - nicht nur gegen die sogenannten „Ewigkeitsklauseln" der Verfassung verstoßen würde und deshalb verfassungswidrig wäre, 72 sondern darüber hinaus auch nicht notwendig und wünschenswert ist. Bestimmt sind es nicht die sozialen Grundrechte und Staatsziele, welche aus Brasilien ein angeblich unregierbares Land machen, sondern die wachsende Armut und wirtschaftliche Abhängigkeit. Darüber hinaus handelt es sich eigentlich vor allem um ein Problem der adäquaten und verhältnismäßigen Anwendung dieser Grundrechte, insbesondere da, wo es um die Anerkennung eines subjektiven Rechts auf soziale Leistungen geht, aber natürlich auch, was die verfassungsgerichtliche Prüfung von Maßnahmen des Gesetzgebers oder der Regierung im Rahmen der Sozialstaatlichkeit betrifft. Gerade wegen der wachsenden sozialen Ausgrenzung und Unsicherheit bilden die sozialen Grundrechte und ihre Verwirklichung, auch im Rahmen eines Mindeststandarts - vor allem was die Absicherung einer menschenwürdigen Existenz angeht - , weiterhin ein vorrangiges Ziel fur Staat und Gemeinschaft, und dies bestimmt nicht nur in Brasilien und anderen Entwicklungsländern. Darüber hinaus sollte beachtet werden, dass die Grundrechte im Allgemeinen neben ihrer rechtlich-normativen Bedeutung auch eine wichtige „utopische Dimension" aufweisen, da sie ein reales und konkretes Emanzipierungsprojekt enthalten, ohne welches sie ihre Funktion als Legitimationskriterien eines demokratischen (und sozialen) Rechtsstaats einbüßen würden. 73 Letztendlich scheint es möglich zu behaupten, dass die sozialen Grundrechte nicht nur als Privilegien oder gar als Launen betrachtet werden sollten, sondern als eine dringende Notwendigkeit, da ihre Nichtbeachtung und fehlende (oder mangelnde) Erfüllung stark die grundlegendsten Werte des Lebens, der Freiheit und der Gleichheit gefährden. In dieser Hinsicht zeigt sich klar und deutlich, dass die Aufgabe, die Grundrechte ernst zu nehmen (Dworkin), zwangsläufig auch davon abhängt, ob die sozialen Grundrechte, vor allem aber die gleiche Würde

72 Vgl. Mauricio Antonio Ribeiro Lopes: Poder Constituinte Reformador: limites e possibilidades darevisäo constitucional brasileira, Säo Paulo 1993, S. 183 ff. 73 So die zutreffende Lehre von Antonio Enrique Pérez Luho: Derechos Humanos y Constitucionalismo em la Actualidad, in: A. E. Pérez Lufio (Hrsg.), Derechos Humanos y Constitucionalismo ante el tercer Milenio, Madrid 1996, S. 15.

Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte in Brasilien

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aller Menschen (wie es schon die Menschenrechtserklärung von 1948 formulierte) von der Gemeinschaft und der Rechtsordnung aller Staaten ernst genommen werden.

Wahlen und Regierungswechsel im Prozeß der Modernisierung Marokkos

Von Jürgen Theres

I. Einleitung Marokko ist ein Land der Gegensätze, wobei dem Gegensatz zwischen Islam und westlicher Gedankenwelt die größte Bedeutung zukommt. Es ist ein islamisches Land, in dem der Koran auch heute noch als Basis für die sozialen, kulturellen und familiären Beziehungen dient. Mit dem Vorverständnis einer säkularisierten, liberalen Gesellschaft ist es nicht einfach, das politische System Marokkos zu erfassen. Die marokkanischen Verfassungsinstitutionen sind zwar nach westlichem Vorbild weitgehend auf liberaler und demokratischer Grundlage errichtet, sie funktionieren jedoch teilweise noch gemäß der islamischen und autoritären Tradition des Maghzen1. Insoweit könnte man aus dem Blickwinkel eines uniformierten ausländischen Beobachters die verfassungsmäßigen Institutionen als Fassade bezeichnen, hinter der allein die sich auf informellen Beziehungen zur Staatsführung begründende Machtausübung zählt. Dies wäre jedoch eine Einschätzung, die statisch einen Teilaspekt der gesellschaftspolitischen Realität stark überbewerten würde. Mit diesem Artikel, der sich insbesondere mit den bemerkenswerten Wahlvorgängen zu den demokratischen Verfassungsinstitutionen der letzten Jahre befaßt, soll ein Beitrag zu einer differenzierteren Betrachtung geleistet werden. Die dieser Veröffentlichung zugrundeliegenden Forschungsarbeiten wurden im Rahmen der Aktivitäten des Projektes „Rechts- und Verwaltungsreform in Marokko und Mauretanien" der Hanns-Seidel-Stiftung gemacht, dessen Büro der Verfasser leitet. Hierbei wurde das Projekt seit über zehn Jahren erfolgreich von Heinrich Scholler, dem Lehrer des Verfassers, beratend und aktiv unterstützt. So konnten in Zusammenarbeit mit ihm viele Kolloquien, Vorträge und Seminare veranstaltet werden, mit denen Elemente der europäischen Rechts-

1 Als Maghzen (arab. Speicher) wird die traditionelle Verwaltung der marokkanischen Sultane bezeichnet.

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Jürgen Theres

und Verwaltungswissenschaften in die Diskussion der marokkanischen Reformvorhaben eingeführt wurden. Diese Arbeiten fanden auch ihren Niederschlag in zahlreichen französischsprachigen Publikationen von Heinrich Scholler, auf die in der Anmerkung hingewiesen wird. 2 Wegen der langjährigen persönlichen und fachlich-projektbezogenen Unterstützung gilt ihm unser Dank und unsere Anerkennung. Zunächst soll in aller Kürze die gesellschaftspolitische Entwicklung Marokkos dargestellt werden, da ohne den politischen Kontext, innerhalb dessen Wahlvorgänge stattfinden, diese nicht verständlich wären.

I I . Die Anfänge der Staatswerdung Die gesellschaftspolitische Ordnung Marokkos wurde seit der Islamisierung im 8. Jahrhundert von den einzelnen Stammesorganisationen geprägt, die ein geistliches und teilweise auch weltliches gemeinsames Oberhaupt, den Sultan, anerkannten. Dieser eher lockere Zusammenschluß bezog sich im wesentlichen auf die Abwehr äußerer Feinde und verlieh den jeweiligen Sultanen nur begrenzte Machtbefugnisse. 3 Die politische Organisation innerhalb der Stämme war weitgehend autonom und wurde traditionell durch die Versammlung der Clanchefs geregelt. Insoweit herrschte eine beschränkt partizipative, oligarchische Ordnung, in der gesellschaftspolitische Entscheidungen durch Wahlen getroffen wurden. 4 Der Sultan als Repräsentant der Zentralgewalt brauchte zur Festigung seiner Macht die Zustimmung der Vertreter der Stämme, die sog. Huldigung (Beya). Insoweit fußte die Macht der Sultane auch auf einem partizipatorischen Element. Seit 1631 herrscht in Marokko in ununterbrochener Linie die Dynastie der Alaouiten, zu deren Abkömmlingen auch der jetzige König Mohammed VI. gehört. Diese beachtliche Kontinuität des Herrschaftssystems in Verbindung 2 Heinrich Scholler: Les fonctions de contrôle dans le droit constitutionnel allemand, in: REMALD 32 mai-juin 2000, 53-64; Heinrich Scholler: La juridiction constitutionnelle et la jurisprudence, in: Revue de la recherche juridique droit prospectif Ν . X V I I I 55 Presses universitaires d'Aix-Marseille 1993/4, 1164-1172; Heinrich Scholler: Le régionalisme comme réponse moderne au problème du pluralisme, in: La société de concordance, Publications de l'université libanaise XI, Beyrouth 1986, 55-61; Heinrich Scholler: Conditions générales requises pour la décentralisation et l'administration communale autonome, compte tenu de la situation en Afrique, in: Revue Juridique Politique et Economique du Maroc, N. 24, 1990, 185-200. 1

Vgl. Jürgen Theres: Marokko, in: DES/GTZ Verwaltungsprofile 1992, 20 f. Vgl. Georges Vedel (Hrsg.): L'édification d'un Etat moderne, Albin Michel 1986, S. 40. 4

Marokko: Wahlen und Regierung

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mit der religiösen Führerschaft des Königs (Führer der Gläubigen), die im Bewußtsein weiter Kreise der Bevölkerung verankert ist, trägt erheblich zur innenpolitischen Stabilität bei. Diese Kontinuität wurde auch durch die von 1912 bis 1956 bestehende französische Protektoratsherrschaft nicht ernsthaft unterbrochen, zumal der damalige Sultan Mohammed V. sich an die Spitze der Unabhängigkeitsbewegung setzte.5

I I I . Nach der Unabhängigkeit Nach der Unabhängigkeit versprach der damalige Sultan, einen modernen, liberalen 6 und partizipativen 7 Rechtsstaat auf dezentraler Grundlage 8 zu errichten. Darin sollten nach europäischem Vorbild, aber im Einklang mit der bestehenden Kultur Marokkos, die einzelnen staatlichen Kompetenzen zwischen den Staatsorganen, d. h. dem König, der Regierung, dem Parlament und einer unabhängigen Justiz, aufgeteilt werden. Nach dem frühen Tod Mohammeds V. im Jahre 1961 ließ sein Sohn, König Hassan II., der Vater des jetzigen Königs, in einem Referendum über den von ihm vorgelegten Verfassungsentwurf zur Schaffung einer konstitutionellen Monarchie abstimmen. Die erste marokkanische Verfassung wurde 1962 von der Bevölkerung fast einstimmig angenommen, womit erstmalig in der Geschichte Marokkos die Monarchie auch eine moderne, formal-demokratische Legitimation erhielt. 9 Nach dieser Verfassung wurde Marokko eine konstitutionelle, demokratische und soziale Monarchie mit islamischer Staatsreligion. Ein Mehrparteiensystem war zwingend vorgeschrieben, und die gewählten Volksvertreter tagten in einem Zweikammer-Parlament (chambre des représentants und chambre des conseillers), deren Einflußmöglichkeiten durch die dominierende Stellung des Königs jedoch beschränkt waren. Die durch das Erbe der kolonialen Verwaltungsstrukturen und aufgrund ihrer allseits geachteten Rolle im Unabhängigkeitskampf gestärkte Monarchie begründete prinzipiell ihre über die weltlichen Institutionen herausgehobene

5 Vgl. Sigrid Faath: Marokko - Die innen- und außenpolitische Entwicklung seit der Unabhängigkeit, in: Mitteilungen des Deutschen Orient-Instituts Nr. 31, Hamburg 1987, Bd. I, S. 27 f. 6 Code des libertés publiques 1958. 7 Erste beratende Versammlung 1956. x Gesetz zur Gemeindeorganisation 1960. 9 Vgl. Sigrid Faath (Fn. 5), S. 99 f.

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Jürgen Theres

Stellung weiterhin durch ihre prophetische Abstammung und durch das islamische Erbe. Die Verfassung regelt insoweit im wesentlichen Probleme der innerstaatlichen Organisation. Sie ist somit ein Akt der sich auf ein religiöses Prinzip berufenden Macht, aber nicht die Quelle dieser Macht. Insoweit haben die durch die Referenden erfolgten Zustimmungen des Volkes zu den Verfassungsartikeln im Hinblick auf die Monarchie selbst nur eine eher deklamatorische Legitimationswirkung.

IV. Die weitere Entwicklung Die weitere Entwicklung des modernen marokkanischen Verfassungsstaates war von mehr oder weniger schweren politischen Krisen gekennzeichnet.10 Das erste gewählte Parlament wurde bereits nach eineinhalb Jahren, 1965, aufgelöst und der Ausnahmezustand erklärt, der alle staatliche Macht in den Händen des Königs bündelte. Vorausgegangen waren schwerwiegende Auseinandersetzungen mit den politischen Parteien, die unter anderem eine stärkere demokratische Teilhabe an der Macht verlangten. 11 Erst im Rahmen der von allen politischen Parteien mitgetragenen, nationalen Bewegung zur friedlichen Besetzung des von den Spaniern aufgegebenen Saharagebietes kam es zu einem Ausgleich zwischen den politischen Parteien und dem Palast. So konnte sich erst 1977 nach Parlamentswahlen das Parlament konstituieren. Seit diesem Zeitpunkt konnten größere politische Krisen durch intensive Konsensgespräche zwischen dem Palast, den politischen Parteien und den gesellschaftlichen Kräften vermieden und 1984, 1992, 1993 und 1997 weitere Wahlen durchgeführt werden.

V. Umstrittene Wahlvorgänge Alle Wahlen bis 1993 wurden von der damaligen Opposition aufs heftigste kritisiert. Der Regierung und insbesondere dem die Wahlen organisierenden Innenministerium wurde vorgeworfen, massiv in die Wahlabläufe eingegriffen, beachtliche Geldmittel zur Wählerbeeinflussung eingesetzt, die Wahlergebnisse verfälscht und auch sonstige Manipulationen zum Nachteil der Opposition begangen zu haben.

10 11

Vgl. Georges Vedel (Fn. 4), S. 40. Vgl. Jürgen Theres (Fn. 3), S. 26 f.

Marokko: Wahlen und Regierung

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Dies erfolgte vor dem Hintergrund sich verschärfender sozialer Krisen. Die im Rahmen des Sanierungsprogramms der Weltbank und des internationalen Währungsfonds dem Lande in den 80er Jahren auferlegten Maßnahmen wirkten sich in einer Stagnation und einer Verschlechterung des Lebensstandards weiter Kreise der Bevölkerung aus.12 Geburtenstarke Jahrgänge und eine durch die Erfolge im Gesundheitswesen angestiegene Anzahl von Jugendlichen im Erwerbsalter führten zudem zu einer wachsenden Arbeitslosigkeit insbesondere der Jugendlichen, die im Rahmen der Landflucht in die Städte gezogenen waren. So kam es 1989 zu blutigen Revolten in den Armenvierteln von Fes und Tanger sowie einem von fast allen Gewerkschaften unterstützten Generalstreik 13 . Diese soziopolitische Krise wurde durch den zunehmenden Vertrauensverlust der Bevölkerung in die regierenden, konservativen, vom Palast unterstützten Parteien verschärft. Um eine Beschädigung der Monarchie zu vermeiden, bemühte sich der Palast seit Beginn der 90er Jahre, die Kontakte zur Opposition zu intensivieren und zu verbessern. Diese Klimaverbesserung und vorsichtige Annäherung zwischen der mehrheitlich sozialistischen Opposition und dem Palast wurde einerseits durch das Ende des Ost-West-Konfliktes und dem damit zusammenhängenden, weitgehenden Verlust der Vision eines zentralistisch-bürokratischen Entwicklungsstaates begünstigt. Andererseits gewann die Monarchie als stabilisierender Faktor beim Übergang zu modernen Staats- und Wirtschaftsstrukturen in Anbetracht der fundamentalistisch-retrograden Entwicklung in Algerien neue Sympathien bei der kritischen Intelligenz des Landes. Insoweit hatten die beginnende Globalisierung und die politische Entwicklung in der Region nicht unerhebliche Auswirkungen auf die innenpolitische Situation.

VI. Der erste Versuch eines Regierungswechsels Nach intensiven Konsensgesprächen auch mit der Opposition wurde 1992 eine Verfassungsänderung per Referendum angenommen, die unter anderem folgende wichtige demokratisch-rechtsstaatliche Fortschritte enthielt: 1. Marokko bestätigt im Vorwort der Verfassung seine Anerkennung der Menschenrechte, so wie diese allgemein anerkannt sind. Damit fand die Liberalisierung und Entspannung im Bereich der Menschenrechte auch in der Verfassung ihren Niederschlag.

12

Vgl. Jürgen Theres: Recht und Verwaltung - unterschätzte Problemfelder einer nachhaltigen Entwicklung, in: E+Z, Jg. 37 (1996), S. 91 f. " 14.11.1989. 12 Schünemann u. a.

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2. Der König ernennt die Minister nur auf Vorschlag des Premierministers. 3. Die neue Regierung muss ihr Regierungsprogramm im Parlament zur Abstimmung stellen. Erhält sie keine Mehrheit, erfolgt eine neue Regierungsbildung. Die direkten Parlamentswahlen im Juni 1993 wurden von den damaligen Oppositionsparteien mit weitem Vorsprung gewonnen, so daß diese sich berechtigte Hoffnungen auf die Regierungsübernahme machten. Die indirekten Wahlen, die durch Wahlkollegien der Gemeinderäte, der Repräsentanten der Berufsorganisationen und der Gewerkschaften durchgeführt wurden und ein Drittel der Parlamentssitze betrafen, fielen jedoch entgegen den Erwartungen zugunsten der bisherigen Regierungsparteien aus, so daß die Opposition die Mehrheit im Parlament knapp verfehlte. Diese warf daraufhin dem Innenministerium erneut massive Wahlfälschung zugunsten der Regierungsparteien vor, die den dringend notwendigen Regierungswechsel verhindere und die Demokratie in Marokko in Frage stelle.14

V I I . Die Vorbereitungen zum aktuellen Regierungswechsel Als Folge des von vielen Mitgliedern der Opposition empfundenen Wahlbetruges gab es ernstzunehmende Stimmen der wichtigsten Oppositionsparteien, die ankündigten, in Zukunft nicht mehr am parlamentarischen System teilnehmen zu wollen. Die Verlagerung der Proteste auf eine außerparlamentarische Opposition war in Anbetracht der schwierigen sozioökonomischen Lage für das System nicht ungefährlich. Nach vielen Konsensgesprächen zur Lösung dieser politischen Krise wurde 1996 im Einvernehmen mit allen politischen Kräften eine Verfassungsänderung angenommen, die folgende wesentliche Neuerung enthielt: Neben dem Parlament wurde eine zweite Kammer, die sog. Ratskammer (270 Sitze) geschaffen, in der die indirekt gewählten Vertreter der Gemeinden, der Berufs Vertretungen und der Gewerkschaften tagen. Diese zweite Kammer wurde mit großer Machtfülle ausgestattet, da sie im Gesetzgebungsverfahren zu allen Gesetzen ihre Zustimmung geben muß. Das Parlament (325 Sitze) selbst, das die Regierung bildet, setzt sich ausschließlich aus direkt gewählten Vertretern zusammen.15

14

Vgl. Rkia El Mossadeq: Jeu de consensus et développements constitutionnel et électoral au Maroc, in: Annuaire de Γ Afrique du Nord, Bd. XXXI, 1992, S. 444 f. 15 Vgl. Constitution du Royaume révisée par référendum du 13 septebre 1996, Artikel 36-38.

Marokko: Wahlen und Regierung

169

Auf gesetzlicher Ebene wurde ein neues Wahlgesetz beschlossen, das einheitlich fur alle Wahlen demokratische Verfahrensgrundsätze festlegte. Auch die Wahlkreise wurden im Hinblick auf die Bevölkerungswanderung in die Städte neu aufgeteilt. 1997 wurde eine neue Nationale Wahlkommission geschaffen, in der, unter Vorsitz des Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, Mitglieder der Regierung und Vertreter aller Parteien Streitigkeiten bei den Wahlvorgängen außergerichtlich schlichten können. Gleichzeitig koordiniert diese die vergleichbare Arbeit der lokalen Wahlkommissionen auf Provinz- bzw. Präfekturebene, die jeweils von einem Richter geleitet werden. In seiner Rede vom 11.10.1996 sicherte der König ausdrücklich zu, daß er mit all seinem Prestige und den ihm verfassungsmäßig zustehenden Rechten dafür sorgen werde, daß alle zukünftigen Wahlen in Marokko transparent und korrekt durchgeführt werden.

V I I I . Die Parlamentswahlen vom 14.11.1997 Die Wahlen vom 14.11.1997 waren, wie oben dargestellt, das Ergebnis eines langen und schwierigen politischen Prozesses, in dem im Dialog und im weitgehenden Konsens mit allen politischen Kräften demokratischere und rechtsstaatlichere Regelungen zur Erlangung, zur Ausübung und zum Wechsel der Teilhabe an der politischen Macht in Marokko vereinbart wurden. Hintergrund dieses erstaunlichen Vorganges war einerseits die sozioökonomische Krise, andererseits aber auch die Erkenntnis, daß ohne stärkere demokratische Partizipation wichtiger politischer Gruppierungen die Monarchie mittelfristig in einer globalisierten Welt nicht gesichert werden kann. Diese stärkere Beteiligung der bisherigen Opposition an der Macht dürfte dem Palast um so leichter gefallen sein, als in Anbetracht des fundamentalistischen Bürgerkrieges in Algerien die Monarchie als stabilisierende und aufgeklärte Kraft zur Zeit von sozialistischen Kräften nicht mehr in Frage gestellt wird.

IX. Die teilnehmenden politischen Parteien Die marokkanische Parteienlandschaft hat sich seit der Unabhängigkeit immer mehr aufgesplittert, der Höhepunkt dieser Entwicklung wurde vor diesen Wahlen erreicht. Bevor auf die an den Wahlen teilnehmenden Gruppierungen eingegangen wird, ist zu erwähnen, daß 1997 erstmals eine islamistische Partei kurz vor den Wahlen zugelassen wurde, die zunächst unter dem Mantel der MPCD (Mouvement Populaire Constitutionnel et Démocatique - Volksbewegung für Ver12»

170

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fassung und Demokratie) und dann als PJD (Partie de la Justice et de Développement - Partei der Gerechtigkeit und des Fortschritts) fungierte. Damit wurde der Versuch gemacht, die gemäßigten islamistischen Kräfte in das parlamentarische System zu integrieren und so von den radikaleren zu trennen. Heute finden sich innerhalb dreier großer Blöcke folgende Parteien wieder: Die Koutla wurde 1992 als Parteienbündnis von den wichtigsten Oppositionsparteien USFP (Sozialdemokraten), L'Istiqual (National-Konservativen), PPS (Parti du progrès et du socialisme), OADP (Organisation pour l'action démocratique et populaire) gegründet, um ihre Forderungen nach einer stärkeren Demokratisierung und Korrektheit der Wahlvorgänge zu unterstreichen. Die Wifaq wurde 1993 als Antwort der konservativen Kräfte auf dieses Bündnis der Oppositionsparteien durch die damaligen Regierungsparteien UC (Union Constitutionnelle), dem MP (Mouvement Populaire) und der PND (Parti National Démocrate) als Parteienbündnis gegründet. Der dritte Block, das Zentrum, ist ein eher lockerer Zusammenschluß der restlichen Parteien.

X. Die Wahlberechtigten Am 14. November 1997 fanden nach langer technischer, verfassungsmäßiger und politischer Vorbereitung unter großer Erwartung die Parlamentswahlen statt. Wahlberechtigt waren alle die Marokkaner, die sich im Vorfeld in die Wählerlisten hatten eintragen lassen. Infolge eines fehlenden bzw. unvollständigen Einwohnerregisters müssen vor Wahlen Wählerlisten erstellt werden. Darüber hinaus hatte die Verwaltung sich sehr bemüht, möglichst alle Personen im wahlberechtigten Alter zu erfassen.

XI. Der Ablauf Die Wahl verlief im wesentlichen ruhig, die großen Parteien hatten in alle Wahlbüros Beobachter entsandt. Ausländische Wahlbeobachter waren nicht anwesend. Dies wurde jedoch durch die Beobachtungen dreier nationaler Menschenrechtsorganisationen kompensiert, die seit dem Beginn der 90er Jahre über einen erheblich größeren Freiraum in ihren politischen Betätigungen verfügen. Diese hatten bereits im Vorfeld dafür Sorge getragen, daß Entscheidungen, die die Wahl betrafen, kritisch beobachtet und publik gemacht wurden. Die erweiterten Freiräume und teilweise Anerkennung der Arbeit der politischen Nichtregierungsorganisationen durch die Regierung ging mit der zunehmenden Demokratisierung einher, worin sich der Wunsch der Regierung nach

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einer größeren Liberalisierung und dadurch nach Anerkennung durch das Ausland ausdrückte. Diese Organisationen hatten in Zusammenarbeit mit ausländischen Institutionen eine große Rolle dabei gespielt, die Menschenrechtssituation in Marokko entscheidend zu verbessern. Seit 1990 ist die Regierung darum bemüht, die Menschenrechte verstärkt zu respektieren und sogenannte „Altfälle" durch Entschädigungszahlungen bzw. Renten zu regeln. 16 Ein weiteres wichtiges Element der Kontrolle der Wahlvorgänge stellte die unabhängige Presse dar. Zwar war die Presse schon in den letzten 20 Jahren, abgesehen von drei Tabuthemen,17 relativ frei, sie hatte sich jedoch im Rahmen des Demokratisierungsprozesses der 90er Jahre noch größere Freiheiten erkämpfen können. In dieser Presse wurden Verstöße gegen die Wahlgesetze, aber auch Unregelmäßigkeiten einzelner Parteien oder Kandidaten aufgedeckt und offen angeprangert. Insbesondere die Wochenpresse scheute sich nicht, einzelne Verstöße der Verwaltung, der politischen Parteien oder der Kandidaten ohne Zensur offenzulegen. Insoweit stellte die freie, nicht parteigebundene Presse einen wichtigen Faktor der sozialen Kontrolle des Wahlvorgangs dar.

ΧΠ. Ergebnisse Die Wahlbeteiligung war mit 58 % nominell die geringste in der Geschichte Marokkos. Diese Aussage muß jedoch relativiert betrachtet werden, wenn man bedenkt, daß erstmalig in der Geschichte versucht wurde, die wahlberechtigte Bürgerschaft Marokkos möglichst umfassend zu erfassen und die Wahlbeteiligung korrekt auszuzählen. Sehr erstaunlich war, daß von etwa 7,5 Millionen Urnengängern über eine Million ungültig gewählt hatte. Während man zunächst darüber spekulierte, daß die hohe Zahl der ungültigen Stimmen mit der mangelnden Vertrautheit vieler Bürger mit dem Wahlvorgang zusammenhängen könnte, dürfte die einleuchtendere Erklärung jedoch in dem Stimmenkauf liegen, auf den weiter unten eingegangen wird. 18 Besonders enttäuschend war die geringe Wahlbeteiligung bei den Erstwählern und den Jugendlichen, die in besonderem Maße von der sozialen Krise und der Arbeitslosigkeit betroffen sind. Das Wahlergebnis hatte für die einzelnen Blöcke folgende Ergebnisse: 16

Vgl. amnesty international news release MDE vom 29.02.1999. Monarchie, Islam, Saharafrage. 18 Vgl. Fatiha Layadi/Narjis Rerhaye: Maroc - Chronique d'une démocratie en devenir, Eddif 1998, S. 216. 17

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Parlamentssitze

In %

WIFAQ

100

30,77

uc

50

15,38

MP

40

12,30

PND

10

3,07

KOUTLA

102

31,38

USFP

57

17,53

PI

32

9,84

PPS

9

2,76

OADP

4

1,23

ZENTRUM

97

29,85

RNI

46

14,15

MDS

32

9,84

MNP

19

5,84

DIVERSE

26

8,00

FFD

9

2,76

MPCD

9

2,76

PSD

5

1,53

PA

2

0,61

PDI

1

0,30

Politische Partei

Von den 325 gewählten Abgeordneten wurden nur zwei Sitze an Frauen vergeben. Damit erreichten die Frauen, trotz der von einigen Parteien angekündigten 20 %igen Beteiligung nur ein äußert schlechtes Ergebnis. Bemerkenswert ist, daß die neu zugelassene Partei der Islamisten (MPCD) mit neun Sitzen ein überraschend gutes Ergebnis erzielte.

Marokko: Wahlen und Regierung

173

Χ Π Ι . Unregelmäßigkeiten Trotz der vielfältigen Garantien, die alle am Wahlprozeß Beteiligten hinsichtlich korrekter und fairer Wahlen abgegeben hatten, kam es zu Unregelmäßigkeiten. Diese waren jedoch in ihrer Tragweite in keiner Weise mit denjenigen vorhergehender Wahlen vergleichbar, so daß insgesamt festgestellt werden muß, daß 1997 in Marokko die korrektesten Wahlen seiner Geschichte durchgeführt wurden. Die Verwaltung war sehr darum bemüht, den politischen Parteien und den Wahlbeobachtern keinen Vorwand zu geben, ihr eine Einflußnahme vorzuwerfen. Die Zurückhaltung ging sogar soweit, daß die politischen Parteien der Verwaltung vorwarfen, nicht aktiv genug dafür gesorgt zu haben, daß unfaires Verhalten, Wählerbeeinflussungen und unzulässige Einflußnahmen mächtiger lokaler Vertreter für einzelne Wählergruppen unterbunden wurden. So wurde der Verwaltung eine „negative Neutralität'' angelastet, nachdem sich nach den bisherigen Wahlen zumindest die Verlierer immer über eine aktive Einmischung der Verwaltung zugunsten bestimmter Gruppierungen beschwert hatten. Die schwersten Unregelmäßigkeiten wurden von politischen Parteien selbst begangen. Obwohl der Stimmenkauf nach den Wahlgesetzen eindeutig zu den illegalen Praktiken zählt, wurden massiv, insbesondere auf dem Land, Stimmen gekauft. Der Einsatz von Geld für Festveranstaltungen, Wahlkampagnen oder Stimmenkauf nahm solche Ausmaße an, daß sich viele Kandidaten erheblich verschuldeten. Gleichzeitig beweist jedoch das große Interesse an den Abgeordnetenmandaten, welches Prestige und welche Bereicherungsmöglichkeiten damit verbunden sind. Insgesamt kann festgestellt werden, daß die Parlamentswahlen von 1997 weitgehend korrekt verliefen und lediglich der Einsatz von Geld durch die Kandidaten in einem bisher nicht gekannten Ausmaße die Wahlen kennzeichnete.

X I V . Wahlanfechtungen Nach dem Wahlgesetz können Unregelmäßigkeiten vor dem Wahlgang vor den seit 1993 bestehenden Verwaltungsgerichten geltend gemacht werden. Nach erfolgtem Wahlgang ist alleine das Verfassungsgericht (Conseil Constitutionnel) für Verletzungen des Wahlvorganges zuständig. Diesem wurden 340 Wahlanfechtungen vorgelegt, von denen 119 angenommen wurden. Diese haben zu einer Annullierung der Wahlen in vier Wahlkreisen geführt.

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XV. Die neue Regierung Als Ergebnis der Wahl konnte festgestellt werden, daß weder die bisherigen Regierungsparteien, die Wifaq, noch die bisherigen Oppositionsparteien, die Koutla, allein über eindeutige Mehrheiten verfugten. Aus diesem Grunde begannen schwierige Koalitionsverhandlungen, die sich dadurch verkomplizierten, daß 15 politische Parteien im Parlament vertreten sind. Der König vergab nach der Wahl dem Parteiführer der USFP (Sozialdemokraten) den Auftrag, eine Regierung zu bilden. Nach fünfmonatigen Verhandlungen konnten die bisherigen Oppositionsparteien, die Koutla, zusammen mit einigen Parteien der Mitte eine sieben Parteien umfassende, tragfähige Regierung bilden, die im Parlament bei der Abstimmung ihres Regierungsprogrammes die notwendige Mehrheit erhielt. Die Regierung setzt sich aus 31 Ministern und neun Staatssekretären zusammen. Vier Minister dieser Regierung (Justiz-, Innenminister, Minister für islamische Angelegenheiten und Außenminister) wurden mit Einverständnis des neuen Premierministers unmittelbar vom König ernannt. Die neue Regierung hat die schwierige Aufgabe, einerseits die schwerwiegenden Strukturreformen zur Anpassung des Landes an die Bedingungen der Weltwirtschaft durchzuführen und gleichzeitig angesichts der leeren Staatskassen diese Strukturanpassungen sozial so abzufedern, daß es im Lande zu keinen Unruhen kommt. Die Erwartungen der Bevölkerung an die Regierung sind groß, wobei die aufgeklärteren politischen Kreise sich insbesondere die im neuen Regierungsprogramm angekündigte, verstärkte rechtsstaatliche Entwicklung wünschen.

X V I . Widerstreitende Menschenbilder und Ausblick Wenn Art. 1 der marokkanischen Verfassung von der konstitutionellen, demokratischen und sozialen Monarchie spricht, dann enthält dieser Begriff zumindest in dem Begriffspaar demokratische Monarchie zwei konfligierende Menschenbilder. Das hierarchische traditionelle, auf Befehl und Gehorsam dem Souverän gegenüber ausgerichtete marokkanische Menschenbild und das okzidentale, vor allem auf Frankreich ausgerichtete Bildungsziel und Menschenbild einer demokratisch begründeten und verantworteten Autorität. Die neuen Bestimmungen des marokkanischen Wahlrechtes verstärken das Element des demokratischen okzidentalen Menschenbildes und können so durch diesen Begriff der demokratischen Monarchie den innewohnenden Widerspruch verstärken. Das demokratische Prinzip wird besonders dadurch im neuen Wahlrecht unterstrichen, daß es neue unabhängige Mechanismen der Kontrolle und Anfechtung von Wahlentscheidungen gibt. Mit der Verstärkung der Gewaltenteilung und der Juridiflzierung der Wahlnachprüfung wird die demokratische

Marokko: Wahlen und Regierung

175

Verantwortlichkeit und Entscheidungsgewalt wesentlich erhöht. Mit Mohammed VI. ist auch nach dem Tode seines Vaters, Hasan II., eine neue Bewegung in das Selbstbild der Monarchie und ihr Selbstverständnis getreten. Bisher galt der Monarch immer als ein Anker der Tradition, wenn die Gefahren einer zu rasch explodierenden Evolution die Gesellschaft bedrohten. Eine solche Gefahr könnte das neue Wahlrecht deshalb heraufbringen, weil das traditionelle Menschenbild nicht nur in der Person des Monarchen, sondern auch im Selbstverständnis der traditionellen Gesellschaft erschüttert werden könnte. Allerdings muß die Frage aufgeworfen werden, ob sich nicht hinter den Begriffen der demokratischen und sozialen Monarchie Wertvorstellungen verbergen, die im islamischen Kontext interpretiert werden müssen. Es könnte naheliegen, daß diese okzidentalen Begriffe der Demokratie und des Sozialstaates Übersetzungen sind von islamischen Äquivalenten. Die Brüderlichkeit ist ein Zentralpunkt islamischer Solidarität, und die Versammlung der Gläubigen spielte in der Geschichte des Islams immer eine Rolle, die wohl manchmal stärker, manchmal aber auch schwächer zu Tage trat. Eine andere Interpretation könnte dahin gehen, dass die Modernisierung des demokratischen Wahlrechts in Marokko eine stärkere Annäherung an westliche politische Wertvorstellungen darstellt. Allerdings wäre diese Annäherung nicht so zu verstehen, dass sie als Überfremdung von außen an die marokkanische Gesellschaft herangetragen oder aufgezwungen wird. Es würde sich dann nämlich um die Beschreibung eines Prozesses innerhalb der islamischen Rechtskultur handelt, die manche als islamische Säkularisierung, andere als Modernisierung oder als Evolutionsprozess bezeichnen. Heinrich Scholler ist diesen Fragen in Äthiopien nachgegangen, wo ein ähnlicher Prozeß der Verwestlichung des Rechts und des damit verbundenen Menschenbildes stattgefunden hat. Es spielt dabei keine große Rolle, daß Äthiopien kein islamischer Staat ist, sondern zur Hälfte christlich und nur zur anderen Hälfte islamisch geprägt ist. Die Modernisierungs- und Säkularisierungs-Wellen haben Äthiopien in einem Zustand erreicht, der verglichen mit Marokko in dem nordafrikanischen Lande schon zur Jahrhundertwende überholt war. Der Zusammenbruch der äthiopischen Monarchie 1974 und die 17jährige Herrschaft unter Mengistu Haile Mariam sind dafür ein Beweis, daß es eben keinen Anpassungprozeß an das vom modernen Recht vorausgesetzte moderne Menschenbild gegeben hat. Die marokkanische Monarchie hatte dem gegenüber mehrere Generationen Zeit, eine Wandlung im Menschenbild vorzubereiten. In Marokko hat aber inzwischen ebenfalls über die Demokratisierung des Wahlrechtes ein Linksruck stattgefunden, der auch hier eine rapide Veränderung androhen könnte. Erste Anzeichen dafür zeigt die nunmehr das Parlament beherrschende Mehrheitsfraktion der Sozialdemokraten oder Sozialisten. Ihr Gesetzesentwurf die Frauenrechte betreffend sollte mit der mehr oder weniger nur theoretischen Gleichstellung der Frau ernst machen. Die Diskussion, die um dieses Gesetz entstanden ist, zeigt, daß im Streit der beiden Menschenbilder ein drittes Menschenbild evtl. Sieger sein könnte. Denn mit der

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stärkeren Demokratisierung des Wahlrechtes droht auch die Gefahr, daß antidemokratische traditionelle Kräfte islamistischer Prägung vom Wahlrecht Gebrauch machen könnten, um das Weiterwachsen des okzidentalen Menschenbildes zu verhindern oder doch wenigstens zu bremsen. Die wirkliche Gleichstellung der Frau ist hierfür selbstverständlich das entscheidende Kriterium für den Wandel eines Menschenbildes. War bisher die Modernisierung in Marokko unter Hassan II. wesentlich auf die Wirtschaft gerichtet, so lag in der Erweiterung des Modernisierungsspektrums auch auf die Gesellschaft und damit auf die Relation Mann/Frau eine notwendig innere Konsequenz. Liefe diese Evolution aber zu rasch, könnten die gegnerischen Kräfte gerade mit Hilfe dieses modernen demokratischen nachprüfbaren Wahlrechtes den Prozeß nicht nur zum Stehen bringen, sie könnten vielmehr sogar eine Umkehrung einleiten. Deshalb wird die im Jahre 2002 anstehende Wahl das Entscheidende aussagen, welches der drei Menschenbilder den Sieg davontragen wird oder wenigstens gestärkt aus dem Kampf der Welt- und Menschenbilder hervorgeht. Die Frage, ob das okzidentale Menschenbild das neue Wahlrechtssystem hervorgebracht hat oder ob dieses neue Wahlrechtssystem erst dieses moderne Menschenbild verstärken wird, ist offen. Es ist aber sicher, daß ein gegenseitiges Beeinflussen ständig stattfindet, und schon die nächsten Wahlen werden eine größere Aussagekraft haben, die eine stärkere und dauerhaftere Wirkung auf Staat und Gesellschaft haben wird. In der Diskussion um das Menschrechtsverständnis des Islam wird das Wahlrecht weniger thematisiert als das Gleichheitsproblem zwischen Mann und Frau. Dennoch ist gerade das Wahlrecht der Motor, der die gesellschaftlichen Probleme und vor allem die Probleme der Gleichberechtigung in das politische Forum der parlamentarischen und damit der politischen Öffentlichkeit bringt. Das seit vielen Jahren diskutierte und zum Teil realisierte Problem der Dezentralisierung kann ebenfalls neben dem Wahlrecht als Element eines veränderten Menschenbildes angesehen werden. Die neugeschaffenen Regionen sollten nach der berühmten Rede Hassans II. dem deutschen Vorbild des Bundesstaates nachgebildet werden. Natürlich ist ein Strukturproblem, wozu auch die Frage Zentralismus und Dezentralisierung gehört, nicht unmittelbar Ausdruck eines Menschenbildes. Dennoch verbirgt sich hinter den beiden Strukturmodellen des französischen Zentralstaates und des deutschen Föderalismus dennoch mittelbar auch ein Menschenbild, das unlängst von einem marokkanischen Gelehrten als der Kampf zwischen Jakobinertum und bündischer Gedankenwelt bezeichnet wurde. Marokko bewegt sich also zur Zeit im Einflußbereich dreier verschiedener Menschenbilder, des französischen, des modernen islamischen und des radikal-islamistischen. Es könnte nun noch ein viertes Menschenbild hinzutreten, nämlich das der deutschen Subsidiarität, also das bündische Bild des deutschen Föderalismus.

Marokko: Wahlen und Regierung

177

Insgesamt kann festgestellt werden, daß Marokko mit den demokratischen und rechtsstaatlichen Reformen der 90er Jahre und der Wahl von 1997 einen großen Schritt zur Verbesserung der rechtsstaatlich-demokratischen Verhältnisse getan hat. Damit wurde ein weiteres Stück Weges zu einer modernen konstitutionellen Monarchie zurückgelegt, der unter dem jungen König Mohammed VI. mit neuem Elan weiter verfolgt werden wird. Dieser Prozeß ist sicher noch nicht abgeschlossen und nicht endgültig gefestigt. Die demokratische Entwicklung und die weitgehend korrekten Wahlen haben jedoch entscheidend dazu beigetragen, die demokratisch-rechtsstaatlichen Aspekte des marokkanischen Staatswesens zu verstärken. Es darf aber nicht vergessen werden, daß bei einer Analphabetenrate von über 50 % das Interesse großer Bevölkerungsteile sich eher auf die Verbesserung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse als auf rechtsstaatliche, demokratische Fortschritte richtet und daß diese gegenüber demagogischen Agitationen nicht unempfänglich sein dürften. Außerdem bleiben diese Bevölkerungsschichten stark der Tradition verhaftet, und der Wandel der soziopolitischen Verhältnisse kann, wenn man die Erfahrung anderer Länder beobachtet, nicht ohne Berücksichtigung ihrer kulturellen Rahmenbedingungen erfolgen. Es ist jedoch kaum zu erwarten, daß Marokko, das sich sowohl wirtschaftlich als auch politisch nach Europa ausrichtet, bei weiterhin stabilen Verhältnissen wieder hinter den erreichten Grad der politisch-demokratischen Entwicklung zurückfällt, ohne daß dies schwerste Konsequenzen sowohl fur das politische Klima als auch fur die wirtschaftliche Entwicklung des Landes haben würde. Insoweit bleibt zu hoffen, daß dieses Beispiel eines demokratischrechtsstaatlichen Wandels im Rahmen von soziokultureller Stabilität nicht nur in der Region Nachahmer findet.

Die Orientierung an dem passenden Rechtssystem als die Hauptaufgabe der mongolischen Rechtsreform Von Biraa Tschimid

I. Einleitung Mein Vortrag ist kein wissenschaftliches Gutachten oder wissenschaftlicher Bericht. Er will auch keine allgemein bekannten Tatsachen hervorheben. Vielmehr hat er zum Ziel, auf der Grundlage der allgemeinen Theorie die Fragen zu berühren, die infolge der Demokratisierung unseres Landes, der Mongolei, vor dem „Rechtsleben" entstanden sind, sowie das Interesse eigener Forscher zu wecken, deren Aufmerksamkeit zu konzentrieren und die Meinung der ausländischen Wissenschaftler zu sondieren. Das ist der Grund, weshalb ich meinen Vortrag „Die Orientierung an dem passenden Rechtssystem ..." genannt habe. Ich habe mir ausgerechnet, dass die Diskussion der Wissenschaftler über dieses Thema ihren Nutzen dadurch bringen wird, dass man auf die in den neunziger Jahren angefangene Rechtsreform zurückblickt, die Fehler und Erfolge bewertet und in Zukunft die Reform auf dem richtigen Wege und konsequent durchführt. Dazu hier einige Erläuterungen: 1990 hat die Mongolei auf die totalitäre politische Ordnung verzichtet, die Planwirtschaft abgelöst und den Weg der Entwicklung zu einem Rechtsstaat gewählt, der die Menschenrechte achtet, eine demokratische Ordnung und Marktwirtschaft hat. Dies war die wichtigste Ursache und Voraussetzung für die Reform des Rechtssystems, was heute allgemein anerkannt ist. Deswegen steht nicht diese Frage im Mittelpunkt der Diskussion, sondern man muß sich auf den Gang der Rechtsreform, deren heutige Entwicklung und Stand konzentrieren und die künftige Entwicklung richtig bestimmen. Zunächst muß die Frage aus wissenschaftlicher und politischer Sicht geklärt werden, an welchem Rechtskreis sich das neue mongolische, nationale Rechtssystem orientieren wird? Dies ist wichtig für die weitere gesunde Entwicklung. Die Voraussetzungen für die Rechtsreform in der Mongolei waren 1990 1992 gereift. Im März 1990 wurde die Herrschaft einer Partei gestürzt und in der Verfassung der politische Pluralismus des Mehrparteiensystems verankert. Dies läutete die Sternstunde der Reformen ein. Im Mai desselben Jahres wurde

180

Biraa Tschimid

auch ein selbständiges Gesetz „Ergänzungsgesetz zu der Verfassung der Mongolei" verabschiedet, welches den Rohbau des neuen politischen Systems errichtet hat. Entsprechend diesem Gesetz fanden 1990 erste demokratische Wahlen statt, und ein ständiges Parlament (Baga Hural) wurde gebildet. Dieses Parlament hat 35 neue Gesetze verabschiedet und viele Gesetzesänderungen und -ergänzungen vorgenommen, die das Privateigentum proklamierten und die neuen Wirtschafts-, Finanz-, Kreditbeziehungen unter den Bedingungen der Marktwirtschaft bestimmten. In diesen Gesetzen ist die offizielle Konzeption der Rechtsreform deutlich zu erkennen. Das waren die ersten Schritte, die an den Wurzeln des alten Systems gerüttelt haben. Auf dieser Grundlage, gestützt „auf die Wissenschaftstheorie der Verfassung und auf die Mobilisierung des geistigen Vermögens der Mongolei ...", wurde weitergebaut. Mit der Verabschiedung der neuen Verfassung am 13.01.1992 war die rechtliche Basis dieser Reform geschaffen. Gemeinsam mit der Verfassung ist das Übergangsgesetz am 16.01.1992 verabschiedet worden, das die gleiche Rechtskraft besaß. In § 5 dieses Gesetzes hat man die Bestimmungen für die Zeit „von der Verfassung der M V R (Mongolischen Volksrepublik) bis zum Inkrafttreten der Verfassung der Mongolei" getroffen, mit anderen Worten bis zur völligen Ablösung des alten Rechtssystems und bis „zur Änderung der Gesetze in Anpassung an die Verfassung der Mongolei". Damit wurden wichtige Schritte für die Rechtsreform getan. Die 1992 und 1996 gewählten Parlamente haben nicht zu unterschätzende Arbeit hinsichtlich der Reform der Gesetzgebung und anderen Bereiche des Rechtslebens geleistet. Nach Angaben des statistischen Dienstes hat nach der Verabschiedung der Verfassung das neue Parlament von Juli 1992 bis Juli 1996 177 neue Gesetze und 144 Gesetzesänderungen und -ergänzungen verabschiedet. Das jetzige Parlament hat in der Zeit von Juli 1996 bis 20.01.2000, d. h. bis zum Ende der Herbstsitzungsperiode, 160 neue Gesetze, 247 Gesetzesänderungen und -ergänzungen verabschiedet. Damit wurden die alten Gesetze durch neue ersetzt und viele neue Gesetze, entsprechend den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen, verabschiedet. Auch die Regierung hat im Rahmen ihrer Befugnisse viele Rechtsvorschriften erlassen. Damit waren der Status des Gesetzgebers, der Exekutive und der Gerichte entsprechend der neuen Verfassung gesetzlich definiert und die Struktur- und Tätigkeitsveränderungen einigermaßen vorgenommen. In diesem Prozeß ging die Rechtsreform gut voran, aber nicht ganz ohne Fehler, wie man heute feststellen kann. Erstens: Die Rechtsreform verlief bis Ende 1997 sieben Jahre lang ohne ein theoretisch, methodisch begründetes Programm und ohne eine Konzeption aus der Sicht des Rechtskreissystems. Hier wurden Gesetze entsprechend dem Ermessen und der Interessenlage nicht juristischer (professioneller) Einrichtungen, Behörden ausgearbeitet und beschlossen, was sich natürlich in der Qualität widerspiegelte.

Rechtssystem und Rechtsreform

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Die Gesetze wurden nicht systematisiert nach Rechtsbereich, Unterbereich und Institution. Es gab viele Gesetze, die inhaltlich nicht abgestimmt waren, mit Abweichungen bei den Begriffsdefinitionen, zum Teil mit dem Charakter von Rechtsvorschriften. Insbesondere die rechtliche Festlegung und Definition der zentralen staatlichen und örtlichen Einrichtungen und Unternehmen wurden voneinander kopiert und damit deren Befugnisse erweitert. Solche Gesetzesbestimmungen gab es vermehrt. Es stimmte fast, wenn es hieß: Jedes Ministerium, jede Behörde hat ihr eigenes Gesetz. Dies war nicht unbedingt ein Gütezeichen, sondern eher umgekehrt. Da die früheren Satzungen der Einrichtungen jetzt als Gesetze verabschiedet wurden, fehlt es heute an Gesetzesbestimmungen, die aus der Sicht der Anpassung komplizierter gesellschaftlicher Verhältnisse, etwa der Wahrung der Menschenrechte, die Fragen des Verhältnisses Staat - Bürger mit Hilfe eines geschmeidigen Mechanismus richtig definieren würden. Oft findet man, dass Bestimmungen ähnlicher Gesetze einander negieren. Noch eine bedauernswerte Tatsache besteht darin, dass man die Gesetze, die in anderen Ländern oder bei uns früher als Gesetzbücher angesehen wurden, einfach zerlegt hat, wie beim Metzger das Fleisch. Dies ist eine zu regelnde Frage - man hat hier die Methodik der Gruppierung von Verhältnissen verletzt und ist auf Quantität gerichtet, was zum Schluss zu einer „Gesetzeswüste" fuhrt. Zweitens: Eine sehr zu beachtende Frage ist, dass infolge der rasanten Entwicklung der Außenbeziehungen unsere Politiker, Forscher und Beamten sehr viel ins Ausland reisen, viele Gesetze vieler Länder kennenlernen und sie, ohne sie gründlich zu erforschen, als Vorlage nehmen, was nicht unbedingt einen guten Einfluss ausübt. Man muss keine Scheu haben, um zu sagen, dass Entwürfe mit Hilfe der ausländischen Berater von internationalen und nichtstaatlichen Organisationen entstehen, die aus Ländern mit unterschiedlichen Rechtssystemen kommen. Dadurch sind in unserer Gesetzgebung und in der Rechtspsychologie sehr unterschiedliche Strukturen entstanden, die nicht zusammenpassen. Nimmt diese Entwicklung weiter zu, so wird unser Rechtssystem, wie unsere Nomaden sagen würden, wie die „Kuhniere" ein Mischmasch vieler Familien und infolgedessen in eine Krise geraten. Heute heißt ζ. B. Eigentumsrecht örtliches, Aimags- bzw. Soumseigentum. Im Gesetz über die Autostraßen steht, dass die örtlichen Autostraßen „Eigentum des Hauptmanns" wären; im Zivilgesetz heißt es, „teilbares Gesamtgut", im Genossenschaftsgesetz „Gesamthandgemeinschaft". Solche Abweichungen gibt es viele, und das liegt daran, dass die Gesetze anderer Länder hier von Nichtjuristen wortwörtlich abgeschrieben werden und dass die Meinung der Berater, die nur ihr eigenes System genau kennen, als göttlicher Rat gilt.

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Obwohl wir die parlamentarische Republik als Staatsform gewählt haben, haben wir aus England die Praktiken der konstitutionellen Monarchie, mit Schattenregierung usw., übernommen; wir haben aber auch die Verfassung nach dem Kontinentalsystem und die Beamtenordnung dazu; nichtsdestotrotz haben wir aus Australien und Neuseeland das Modell des Haushaltsvertrages entlehnt. Wir haben einerseits das angelsächsische Rechtssystem übernommen, denn wir haben wie in den USA einen General Court, andererseits haben wir das kontinentale Rechtssystem, denn aus Deutschland und Frankreich entlehnten wir Regelungen aus der Verfassung und der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Wenn diese Einstellung zunimmt, dann ist es nicht anders, als wenn man dem afrikanischen Strauß die Flügel vom antarktischen Pinguin anschrauben will. Und überhaupt: Wenn jeder, der etwas gesehen hat, dies mitbringt und, ohne es gut zu verstehen, wortwörtlich abschreibt und verwendet, so ist das wie die Legende vom Kamel, das deswegen aus dem Zwölf-Jahre-Kalender herausgeflogen ist, weil es die Merkmale aller zwölf Tiere in sich vereint hatte. Wenn ich bedenke, dass Kamele in der Mongolei immer weniger werden und bald ins Rote Buch kommen oder gar vom Aussterben bedroht sind, müssen wir uns bemühen, dass dies nicht unserem Staat passiert. Um solchen Entgleisungen und Abweichungen früh vorzubeugen, müssen die Grundvoraussetzungen des nationalen Rechtssystems verstanden und deren Rechtsfamilie und Rechtskreis richtig gewählt und konsequent eingehalten werden. Drittens: Im Januar 1998 hat der große Staatshural das Programm zur Rechtsreform verabschiedet und deren Verwirklichungspläne und die durchzuführenden Arbeiten beschlossen. Dies war eine sehr unterstützenswerte Angelegenheit. Nach diesem Plan sind in den nächsten zwei Jahren ca. 170 Gesetzesentwürfe auszuarbeiten, darunter 50 neue Gesetze, die anderen sind Ergänzungen und Änderungen zu den größeren Gesetzen. Das wird ein neuer wichtiger Schritt zur Ablösung der Vorreformära, zur Beseitigung von deren Fehlern und eine gewaltige Arbeit werden. An diese Arbeit muss unbedingt mit einer konkreten Konzeption, vor allem aus der Sicht der nationalen Struktur und der dazugehörigen Rechtsfamilie, herangegangen werden. Aber die oben erwähnten Anomalien sind immer noch da. Heute heißt es in dem Kommentar zu den Entwürfen des Zivilgesetzes und der ZPO, ausgearbeitet vom Justizministerium, dass man „den Entwurf des Zivilgesetzes an die Errungenschaften und Standards des römisch-germanischen Rechtssystems heranzubringen" versucht hat. Im Gegensatz dazu heißt es im Kommentar des Finanzministeriums zum Entwurf des Haushaltsfinanzierungsgesetzes, dass man die Erfahrungen Australiens und Neuseelands als Grundlage genommen habe und man dementsprechend viele der heute gültigen Gesetze ändern müsse. Aus den hier genannten Gründen sehen wir es als wichtig an, dass man über die Wege der Wahl und der Einhaltung des passenden Rechtssystems forschen und diskutieren und dies auf die Ebene der Staatspolitik bringen muss.

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I I . Die Gründe für die Wahl des Rechtssystems Jede Frage aus der Sicht des Systems zu betrachten, ist eine Voraussetzung für die erfolgreiche Regelung und Führung der komplizierten gesellschaftlichen Verhältnisse. Hat man kein festes System, keine Rangfolge, so ist dies eine Grundvoraussetzung für die großen Fehler in der Staatspolitik. Das hat beim Recht besondere Gründe. Auf die Frage „wieso?" kann man leicht antworten. Die Mongolei hat sich vor acht Jahren von den Anomalien befreit und hat den Weg der Entwicklung, entsprechend den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Menschheit, gewählt und dies in ihrer Verfassung verankert. Das stärkste Mittel, das die Bewegung, das Leben des Landes in die entsprechenden Bahnen lenkt und vor Entgleisungen bewahrt, ist die Gesetzgebung, das Recht: - Die Gesellschaft ist ein kompliziertes System der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Verhältnisse und dessen wichtigster Regulator ist das Recht. - Diese Bedeutung nimmt im Rechtsstaat immer zu. - Rechtssysteme weisen je nach Rechtskreis ihre Besonderheiten auf. Im Allgemeinen existieren Rechtsquellen wie Gesetze, Verwaltungsakte, Gewohnheits- und Traditionsnormen, Präzedenzfälle und Verträge. Für die Mongolei überwiegt die Bedeutung von Gesetzen. Dies ist auch ein Merkmal der Staatspolitik. Heute sprechen alle großen und kleineren Politiker von der „Staatspolitik". Aber viele verstehen darunter etwas Geschriebenes, ein Dokument mit der Überschrift „Politik". Auch die Bestimmung in der Verfassung darüber, dass der Große Staatshural die Grundlagen der Staatspolitik im In- und Ausland, der „Finanz-, Kredit-, Steuer- und Geldpolitik" bestimmt, ist seit 1992 so verstanden und angewendet worden. Dabei muss die Staatspolitik durch das Gesetz definiert sein, um offiziell und bindend verwirklicht zu werden. Die Grundlagen der Staatspolitik bestimmt der Große Staatshural. Dies kann in Form eines Gesetzes erfolgen, da der Große Staatshural das Gesetzgebungsorgan ist. Wenn aus dieser Sicht das Gesetz schon die Staatspolitik ist, kann es ohne eine wissenschaftliche Definition des Rechtssystems und des Rechtskreises keine richtige, weise, einheitliche Politik geben und diese folglich auch nicht eingehalten werden. Den Begriff „ nationales Rechtssystem " kann man in zweierlei Hinsicht auslegen: im weiten und im konkreten Sinne. Hier wollen wir ihn in seinen drei Grundbestandteilen betrachten: Gesetzesnormen, Praxis, Rechts Verständnis (Theorie, Anschauung + Psychologie). Damit wird das Rechtssystem zum Ursprung der Norm (im Kontinentalsystem), es ist breiter als das System der Gesetzgebung und ist deren oberstes Niveau und zugleich deren bestimmende Basis. Deswegen ist die richtige Entwicklung des Rechtssystems eine direkte Vor13 Schünemann u. a.

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aussetzung für die richtige Verfestigung des Gesetzgebungssystems und dessen Entwicklung. Das nationale Rechtssystem entsteht einerseits nicht aus dem Nichts, bleibt andererseits nicht auf einer Stelle stehen. Es hat eigene geschichtliche Traditionen und ist ein lebendiger Körper, der sich unter Einflüssen der politischen, wirtschaftlichen, geistigen und sozialen Voraussetzungen des jeweiligen Landes und der Außenwelt entwickelt. Das logische Denken der Mongolen spiegelt sich in volksmundlichen Sprichwörtern wider. Die zwei Wörter „bunte Welt" besagen viel. Diese zwei Wörter betreffen auch das Recht. Jedes Land der Welt hat sein eigenes Rechtssystem, mit eigenen Besonderheiten. Es gibt kaum zwei Länder, deren Rechtssysteme sich so ähneln würden, als ob sie in einer einzigen Form der Massenproduktion gegossen wären - höchstens vielleicht bei föderativen, aber sicherlich nicht bei souveränen Staaten. Ich erinnere mich, einmal gelesen zu haben, dass auch die USA (1 + 50 =) 51 nationale Rechtssysteme haben. Ich gebe zu, ich habe nicht „alle Länder der Welt", wie mancher sagen würde, erforscht. Aber dazu ist die Rechtsvergleichung da. Der Bereich der Wissenschaft, der sich Rechtsvergleichung nennt, hat die nationalen Rechts- und Gesetzgebungssysteme erforscht und sie nach bestimmten Merkmalen in Rechtskreise zusammengefasst. Obwohl die nationalen Rechtssysteme ihre Besonderheiten haben, haben sie auch ihre Gemeinsamkeiten, bedingt durch ursprüngliche geschichtliche Bedingungen, Methoden, gesetzliche Techniken und durch Ähnlichkeiten im politischen System, in der Religion, Sprache, Kultur, durch Wechselverhältnissen der Nationen untereinander. So haben ζ. B. Rechtssysteme der kontinentaleuropäischen Länder ihre Ursprünge im alten römischen Rechtssystem, die Rechtssysteme der USA, Englands und dessen Kolonien nehmen ihre Ursprünge vom angelsächsischen System und haben sich unter dessen Einflüssen entwickelt. Nach diesen Merkmalen werden die nationalen Rechtssysteme verschiedenen Rechtskreisen zugeordnet. Aus dem oben Erwähntem ist es ersichtlich, dass sich ein nationales Rechtssystem unter den Einflüssen des großen Rechtskreises entwickelt. Um diese Gesetzmäßigkeit kam auch die Mongolei nicht herum, es geht auch nicht anders. Das hat auch die Entwicklung des Rechtssystems in der Mongolei unter den Einflüssen des sowjetischen Rechts in den Jahren von 1920 bis 1990 gezeigt. In den Werken der allgemeinen Rechtstheorie und der Rechtsvergleichung werden für die Unterscheidung der Rechtskreise verschiedene Merkmale herangezogen. In Abhängigkeit davon haben die Wissenschaftler eigene Meinungen betreffend Anzahl der Rechtskreise auf unserem Planeten und der Zugehörigkeit der Staaten zu diesen. Der russische Wissenschaftler Ju. A. Tichomitov meint, die Mongolei habe ein östliches Rechtssystem, das seinen Ursprung in der Religion hat. Wenn er damit das Rechtssystem vor 80 Jahren oder gar in der Zeit vor der mandschurischen

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Herrschaft (1691 n. Chr.) meint, dann könnte es stimmen. Aber man muss sich vor Augen halten, dass vor 80 Jahren Religion als „Opium" angesehen wurde und infolgedessen die Klöster fast völlig vernichtet wurden. Religionsvorschriften wurden bedeutungslos und unfähig, an Stelle des Rechts gesellschaftliche Verhältnisse zu regeln. Es gibt abweichende Meinungen wie diese, aber viel verbreiteter ist die Ansicht, dass die Rechtssysteme der Länder unseres Planeten in vier Rechtskreise aufgeteilt werden können: - Traditionsrechts- oder angelsächsisches Rechtssystem, - kontinentales oder römisch-germanisches Rechtssystem, - Religionsrechtssystem, - sozialistisches oder ideologisiertes Rechtssystem. Das Religionsrechtssystem, das seine Ursprünge in der feudalen oder noch früheren Epoche, in den Glaubensdogmen, der Glaubenslehre und den Traditionen hat, ist überwiegend in islamischen Ländern verbreitet. Und das ideologisierte Rechtssystem war, geschichtlich gesehen, in den Ländern mit autoritärer oder totalitärer Ordnung verbreitet. Ein Beispiel dazu ist das sozialistische Rechtssystem, zu dem bis vor kurzem die Mongolei gehörte. Aus den Gründen der weiteren Orientierung und der Wahl des Rechtskreises sollen, meiner Ansicht nach, die beiden Rechtssysteme hier nicht näher betrachtet werden. Bei dieser Betrachtung darf man nicht der Versuchung erliegen, einen bestimmten Rechtskreis oder ein bestimmtes Rechtssystem hervorzuheben und nur dessen Besonderheiten Beachtung zu schenken. Vielmehr muss man dem Grundsatz folgen, dass alle Rechtskreise, alle nationalen Rechtssysteme den gleichen Status haben, um aus diesem Grundsatz heraus den für die Mongolei passendsten Rechtskreis zu bestimmen. Hierzu ist es methodisch richtig, wenn man die Ursprünge in den geschichtlichen Traditionen sieht und erklärt. Bezüglich der rechtsgeschichtlichen Traditionen kann man sagen, dass die moderne Mongolei äußerst ungünstige Bedingungen und Einflüsse hatte. Grund dafür ist, dass die Mongolei kein Land ist wie ζ. B. England, die USA oder die Länder Westeuropas, die die Möglichkeit hatten, in ihren Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen - Feudalismus und Kapitalismus - ununterbrochen ihr klassisches Rechtssystem zu entwickeln. Vielmehr ist sie ein Land, das seine alten Traditionen Jahrzehnte lang über Bord geworfen hat und dem System gefolgt ist, welches heute als Anomalie angesehen wird. Sie musste notgedrungen dem System den Verzicht erklären und hat wenig Möglichkeiten, wie ζ. B. Rußland oder Länder Osteuropas, die vom Sozialismus zur Demokratie und Marktwirtschaft übergegangen sind, an ihre früheren (kapitalistischen) Rechtssysteme und Anschauungen anzuknüpfen und ihre damaligen Rechtssysteme zu rekonstruieren und zu erneuern. Aus historischer Sicht gibt es dafür zwei Gründe: 13*

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Erstens hat die Mongolei, ganz allgemein betrachtet, in ihrer Geschichte seit dem Staat, den Tschingis Khan gegründet hat, bis 1990 zwei rechtsgeschichtliche Strukturen erlebt. Seit dem Ende des 12. Jahrhunderts bis 1920 war sie ein Land mit feudalem Recht, das sich über viele Geschlechter mongolischer Herrscher entwickelt hat. Gotteslehre, königliche Erlasse, Glaubens- und Klosternormen waren Bestandteil des Systems und der vielen Bereiche des Rechtssystems. Es ist auch verständlich, dass dies zur Leibeigenschaft passte. Es ist auch wahr, dass die Gotteslehre und die Religionsnormen eine wichtige rechtliche Bedeutung für die Regelung der gesellschaftlichen Verhältnisse hatten. Außerdem hat die Wirkung der nationalen Tradition in den 220 - 260 Jahren der mandschurischen Herrschaft über die Mongolei, durch Aufzwingung des mandschurisch-chinesischen Rechts, sehr nachgelassen, ja, wurde sogar unterbrochen. Es wurde versucht, in der Zeit des Bogdokhans die mongolische Rechtsordnung wieder zu beleben und wiederherzustellen, was durch ausländische Besetzung zu Fall kam. Doch dann kam die Volksrevolution. Was passierte dann? Zweitens: Seit der Volksrevolution bis zur demokratischen Revolution 1990 gehörte die Mongolei im Grunde zu dem sozialistischen (sowjetischen) Rechtssystem. Eine besondere Seite der Rechtsentwicklung in der „sozialistischen" Mongolei ist die, dass im Rahmen der Staatspolitik bei der Herausbildung der letzten Form des Rechts die wertvollen Rechtstraditionen aus der Khanepoche als „grausam" primitiv bezeichnet und verworfen wurden, dafür aber die sowjetischen Formen Beachtung fanden. Dies war im Sinne der Annäherung an die europäische Rechtskultur über das russische, sowjetische Recht ein Fortschritt, letztendlich aber ein Riesendesaster, eine Anomalie. Deswegen war es unmöglich, nach der demokratischen Revolution 1990, das „sozialistische" Rechtssystem als Ganzes zu übernehmen. Das mustergültige sowjetische Recht war auch am Ende. Dies alles zusammen führte dazu, dass man um die Schaffung eines neuen Rechtssystems nicht herumkam. Das war mit der wichtigste Grund für die Wahl eines neuen Rechtssystems. Aber das heißt nicht, dass die Einrichtung eines neuen Rechtssystems bei Null beginnen oder ein ganz neuer Rechtskreis erfunden werden musste. Man kann nicht sagen, dass die altmongolischen, mittelalterlichen, spätkhanzeitlichen Traditionen und geschriebenen Gesetze wiederverwendet werden müssen, aber man muss die wertvollen Aspekte aus Traditionsgründen übernehmen. Zumindest kann man Regelungen wie ζ. B. Achtung des Gesetzes, Stellung des Landes über das eigene Leben, Verehrung und Liebe zur Heimat - zu Bergen und Seen - , die Achtung der Staatsbeamten vor ihrem Amt, deren Verantwortlichkeit bei Nachlässigkeit, mit neuen Inhalten übernehmen. Und aus dem Recht dieser Zeit kann man viele Normen, die sich seit unzähligen Generationen zu den Traditionsnormen entwickelt haben, wie ζ. B.

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Erledigung der Staatsfeierlichkeiten, Heiraten, Pferderennen, Neujahrsfeierlichkeiten, Jagd, mit Hilfe der Gesetze übernehmen. Diese werden die gleiche Bedeutung bei der Regelung der gesellschaftlichen Verhältnisse haben wie die Rechtsnormen. Nur in diesem Sinne können manche Ideen aus berühmten mittelalterlichen Gesetzen übernommen und neu definiert werden. Ansonsten muss man das aber auch nicht übertreiben, indem man „das große Staatsgesetz" aus der Zeit Tschingis Khans fast für eine Verfassung hält. Das Recht ist vergänglich. Zugehörig zu dem römisch-germanischen Rechtssystem zu sein, heißt nicht, dass man die alten römischen Gesetze abschreibt und anwendet. Vielmehr heißt es, dessen Theorie, Methodik, allgemeine Struktur, Kategorien usw. anzuwenden. Auch das angelsächsische Recht hat die Präzedenzfälle vom 12. oder 13. Jahrhundert von Zeit zu Zeit angewendet. Nimmt man dem sozialistischen Rechtssystem den Film der KlassenIdeologie, so muss man sagen, dass vieles, besonders aus der zivilrechtlichen Gesetzgebung, hinsichtlich der Struktur, der Kategorien und der Technik verbessert übernommen werden kann. Daraufkomme ich noch zurück.

I I I . Fragen der Zugehörigkeit des mongolischen Rechtssystems zu einem Rechtskreis Wie oben erwähnt, ist es bei der Gestaltung eines neuen Rechtssystems theoretisch und methodologisch äußerst wichtig, die Zugehörigkeit zu einem Rechtskreis zu klären. Dies ist keine Frage des Ermessens, und es ist erst recht kein willkürlich zu lösendes Problem. Es ist eine Frage der Einschätzung und Erwägung aufgrund exakt wissenschaftlicher Kriterien. Aus diesem Standpunkt heraus wollen wir nun die beiden bedeutenden Rechtskreise vergleichen.

1. Ist eine Zugehörigkeit zum angelsächsischen Rechtskreis möglich? Dieser Rechtskreis ist ein duales System des Gewohnheits- (common law) und Billigkeitsrechts (equity), und zu diesem gehören Großbritannien, Amerika und dessen ehemals abhängige Länder. Als Hauptkriterium dieses Rechtskreises wird, im Gegensatz zu anderen Rechtskreisen, der Gerichtspräzedenzfall oder die Normen der praktischen Rechtsprechung betrachtet. Mit anderen Worten sind seine Hauptquelle nicht vom Staat erlassene Gesetze, sondern die Rechtsprechung der Gerichte, wodurch er sich von anderen Rechtskreisen unterscheidet. Ebenso kennt er keine voneinander getrennten Rechtszweige, wie das im Kontinentalrecht der Fall ist, und er verfügt über die Besonderheit, die Gewohnheitsnormen in den Vorder-

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grund zu stellen und die Verfahrensnormen denen des materiellen Rechtes vorzuziehen. In einem Rechtsfall kann man sehen, wie - beruhend auf Rechtsbewußtsein, Kenntnis und Qualifikation der obersten Richter eines bestimmten Landes durch Erfahrung geprägte Normen, die sich in Jahrhunderte alter Praxis fortentwickelt haben, für die Entscheidung neuer Fälle und Probleme angewandt werden. Um an diesem System festzuhalten, das jahrhundertelang wiederholt, praktisch geprägt sowie durch häufige Reformen verbessert wurde, werden entsprechende Normen, Rechtsbewußtsein und qualifizierte Juristen benötigt sowie eine feste Rechtsbasis, vor allem aber die Gerichtspraxis. Nach einer Aussage von Pollock, des prominenten englischen Rechtshistorikers, füllten die englischen Präzedenzfälle, von denen die ältesten aus dem Mittelalter stammten, im Jahr 1916 nicht weniger als 6540 Bände, und er fugt hinzu, dass sie nicht weniger als 25.000 Bände ausmachen würden, wenn die Fälle aus den USA und den englischen Kolonien dazu kämen. Aber hat die Mongolei eine solche jahrhundertelange Tradition und so viele Quellen? Außer der in „ der geheimen Geschichte der Mongolen " erwähnten und somit schriftlich festgehaltenen Rechtsgewohnheit, dass die im „blauen Buch" enthaltenen Entscheidungen des obersten Reichsrichters Schihihutag rechtsverbindlich und von allen zu befolgen seien, und außer der Sammlung der Entscheidungen des Hauptstadtgerichts „Ulaan Hatsart" aus den Anfangszeiten des Bogd-Khan-Reiches gibt es bei den Mongolen kaum überlieferte Rechtsprechung der früheren Generationen. In einer solchen Situation ist es nicht angebracht, mit den guten alten Zeiten generell zu prahlen bzw. ohne Grund alles schlecht darzustellen. Bis Mitte der zwanziger Jahre war in der ganzen Mongolei ein von der öffentlichen Verwaltung getrenntes Gerichtswesen nicht vorhanden. Einzige Ausnahmen bildeten die Streitschlichtungsstellen in der Hauptstadt und in Hiagt. Zudem gab es damals keine Juristenausbildung, keine rechtswissenschaftlichen Einrichtungen. Unter solchen Umständen wäre es sicherlich vermessen, in der Mongolei die Errichtung eines Rechtssystems vorzuschlagen, das sich an common law und equity orientiert. Natürlich ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass im Verhältnis zu unseren einzelnen Rechtszweigen und -formen eine balancierte Verwendung und Übernahme von einzelnen nützlichen Regelungen, Methoden und Techniken aus den im angelsächsischen Recht entwickelten Ländern für den jeweiligen Mikrobereich der Rechtsverhältnisse in der Mongolei erfolgen kann. Es scheint wichtig zu sein, dass man bei der Berücksichtigung und Verwendung von Erfahrungen aus dem fremden Rechtskreis nicht die Differenzen, sondern die Ähnlichkeiten, Annäherungs- und Berührungspunkte in den Vordergrund stellt.

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Nach meinem Verständnis findet seit dem 19. Jahrhundert eine Annäherung und Angleichung des angelsächsischen Rechts an das kontinentaleuropäische Recht statt, nicht umgekehrt. Insbesondere ist nach der Annahme der geschriebenen US-amerikanischen Verfassung 1787 Bewegung in dem angelsächsischen Rechtssystem eingetreten, wobei das USA-Recht einen besonderen Platz darin belegt. Die englischen Gesetze nach 1832, die im Rahmen der rechtlichen Reformen in Großbritannien entstanden, nehmen eine bedeutende Stellung im englischen Recht ein. Einige Forscher bemerkten, dass in Großbritannien zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Rahmen der parlamentarischen Kompetenz umfangreiche Kodifizierungen vollzogen wurden und dadurch das englische Recht eine rasche Entwicklung nahm, die in Richtung Annäherung an das kontinentaleuropäische Rechtssystem ging. E. Anners von der Stockholmer Universität schreibt: „Das britische Parlament hat in dem Zeitraum von 1870 bis 1934 insgesamt 109 Gesetze verabschiedet, was in der Tat eine zeitgemäß angepasste Kodifizierung des alten Statuten-Materials darstellte. Auf diese Weise ist man schleichend an das kontinentale Recht näher herangekommen." Unter diesen Gesetzen werden das Handelsgesetzbuch mit 748 Paragraphen, das Gesetz über das Meeresrecht, Familien- und Ehegesetz sowie das Eigentumsgesetz von dem Autor als Beispiel genannt. Man messe in der modernen internationalen Praxis dem angelsächsischen Handels- und Meeresrecht große Bedeutung bei. Es wäre für uns von Nutzen, sich für den anderen Rechtskreis zu interessieren und seine Erfahrungen zu bearbeiten. Dabei soll unser Interesse nicht vordergründig den Präzedenzfällen und der Praxis gelten, sondern es soll sich auf die Annäherung zweier Rechtskreise und ihrer Gesetzgebung beziehen. Die einsetzende Annäherung der Rechtskreise ist evident und verständlich, weil Staaten durch die Integration der Volkswirtschaften, Erweiterung des internationalen Handels, Schaffung eines internationalen Kommunikations- und Informationsnetzwerkes, Schließung multilateraler privatrechtlicher Verträge, Vermehrung von UN-Konventionen und anderer internationaler Dokumente ihre Rechtssysteme gegenseitig beeinflussen und aus diesen und anderen Gründen sich ihre nationalen Rechtssysteme mehr und mehr angleichen. Die Ursache der Annäherung und Angleichung der nationalen Rechtssysteme liegt in der Integration. Dies wird am Beispiel der Europäischen Union sehr deutlich. Es wird dort sogar von der Schaffung einer einheitlichen europäischen Verfassung gesprochen. Den Integrationseffekt bezüglich der Rechtsangleichung hat man auch in der Mongolei im Rahmen der sozialistischen Integration stark zu spüren bekommen. Trotz der Annäherung von Rechtskreisen und der „Blutvermischung" zwischen den nationalen Rechtssystemen bleibt der eigentliche Unterschied als bestimmendes Kriterium bestehen. Er wird auch weiterhin bestehen bleiben. Die umfassende Berücksichtigung dieses Unterschiedes ist die Voraussetzung für

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die Aufrechterhaltung nationaler Besonderheiten der jeweiligen Länder, ihrer Selbständigkeit und Zivilisation.

2. Kann das mongolische Recht als zugehörig zum römisch-germanischen Rechtskreis angesehen werden? Nach Ausführungen eines der Begründer der Rechtsvergleichung, René David, sei „das erste in der modernen Welt uns begegnete Rechtssystem" das römisch-germanische Recht, das einen sehr wichtigen Platz in der Rechtswissenschaft, in der juristischen Praxis und in der Rechtskultur einnimmt. Dieser Rechtskreis umfasst die nationalen Rechtssysteme südamerikanischer Staaten, der Länder des kontinentalen Europa sowie mehrerer afrikanischer Staaten. Das allgemein anerkannte Zentrum dieses Rechtssystems liegt im kontinentalen Europa. Nach dem oben genannten Autor existiert ferner in den USamerikanischen Staaten wie Lousiana, Nevada, Texas, die vormals französische bzw. spanische Kolonien waren, neben dem angelsächsischen Recht das römisch-germanische Recht. Darüber hinaus werden von den europäischen Ländern Frankreich, Italien, Spanien, Belgien, Luxemburg und Niederlande zu den Staaten mit römischen Rechtszügen gezählt; die Rechtssysteme von Deutschland, der Schweiz und Österreich gehören demnach zur germanischen Rechtsfamilie. Dennoch gehören die zwei Gruppen wegen ihrer gemeinsamen römischen Quellen zu einem Rechtskreis. Das charakteristische und bestimmende Merkmal dieses Rechtskreises besteht darin, dass die vom Gesetzgeber verabschiedeten schriftlichen Gesetze und andere normative Akte als die primären Rechtsquellen gelten und diese von den Rechtsanwendern als solche benutzt und befolgt werden. Auch die Juristenausbildung stellt dementsprechend ein dazu angepasstes vollkommenes Gefüge dar. Nach René David werden Entstehung und Entwicklung des römischgermanischen Rechts seit dem 13. Jahrhundert bis in die heutige Zeit in drei Epochen eingeteilt. Hier kann ich diese Entwicklungsepochen aus Zeitgründen nicht zurückverfolgen und erörtern. Aus dem notwendigen Bedürfnis und der aktuellen Bedeutung für die Mongolei sollte man sich das Entwicklungsstadium des Übergangs von Naturrechtstheorien zum Rechtspositivismus etwas näher betrachten. Ende des 18. Jahrhunderts, Anfang des 19. Jahrhunderts ereigneten sich im kontinentalen Europa siegreiche bürgerliche Revolutionen gegen die Monarchien. Die alten feudalen Rechte wurden weitgehend abgelöst durch die naturrechtlich begründeten Rechtssätze, was in der Regel durch die verstärkte Kodifizierung geschah.

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In dieser Zeit erfolgte die Systematisierung des Rechts in den meisten europäischen Ländern, es entstanden große Gesetzbücher: in Frankreich 1804 der Code Napoleon, in Deutschland 1896 das BGB, in der Schweiz 1887-1907 das ZGB. Diese Gesetzeswerke gelten mit einigen Änderungen auch in der heutigen Zeit und wurden in vielen anderen Ländern nachgeahmt. Auch unser Land hat den Braten dieser Zivilgesetzbücher längst gerochen. In den meisten europäischen Ländern ging die Entwicklung dahin, dass dort die parlamentarische Regierungsform zum Zuge kam, dass die Gewaltenteilung zum Prinzip des Staatsaufbaus wurde und demnach sich die Gesetzgebungstätigkeit aktiv entfaltete. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts herrscht dort die Konzeption der Rechtsstaatlichkeit, so dass diese in den Verfassungen ihren Niederschlag fand. Bei dem gegenwärtigen römisch-germanischen Rechtskreis handelt es sich um eine Gesamtheit von nationalen Rechtssystemen, die aber jeweils ihre Besonderheiten aufweisen. Trotzdem sind folgende Gemeinsamkeiten festzustellen: - Es wird zwischen Recht und Gesetz unterschieden, dieser Unterschied wird auch beachtet. - Rechtsprinzipien werden vielem zugrunde gelegt (Achtung und Einhaltung des Gesetzes, Gewaltenteilung...). - Gesetze und Rechtsvorschriften, vor allem Gesetzbücher und andere geschriebene Rechtsnormen gelten als primäre Rechtsquellen und werden auch angewendet. - Gesetze und Rechtsvorschriften bestehen aus präzise formulierten Normen und weisen einen hohen Grad an Abstraktion auf, die durch rechtstheoretische und logische Schlüsse die Realität und Gesetzmäßigkeiten fast vollständig erfassen. - Richter und andere Rechtsanwender benutzen und befolgen in erster Linie die materiellen und prozessualen Gesetze und nicht die Gewohnheitsnormen und kasuistische Präzedenzfälle. Sie stützen sich hauptsächlich auf naturund positivrechtliche pluralistische Lehren. - Es besteht ein Juristenstand, der auf der Grundlage des traditionellen römischen „Universitätsrechts" und nach der speziellen modernen Universitätsbildungsweise ausgebildet wird. Was würde man am Ende sehen können, wenn man diese maßgeblichen Merkmale und Kriterien mit den mongolischen Rechtstraditionen und Voraussetzungen vergleichen würde? Erstens, hinsichtlich der Traditionen und der Rechtsrudimente aus der Zeit vor 1990, zu denen ich bereits oben Stellung bezogen habe: Den wichtigen Zweig der Rechtswissenschaft wie die Rechtsvergleichung betrachten wir als

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eine Einheit von Methodik, Theorie und Praxis. Aus dieser Sicht der Dinge waren die mongolischen Politiker nach der Volksrevolution 1921 dabei, sich am Recht westlicher Länder wie Deutschland und Österreich zu orientieren, indem man auch Verfassungen dieser Länder ins Mongolische übersetzen ließ. Zu der Zeit hat sich auch Rußland von seinem ehemaligen kapitalistischen Recht, das kontinental-europäisch geprägt war, nicht vollständig trennen können. Das bezieht sich insbesondere auf das russische Privatrecht. Unter solchen Umständen kamen in der Mongolei 1924-1929 das Zivilgesetzbuch, 1926-1929 das Strafgesetzbuch, 1926 die Strafprozessordnung und andere Kodifizierungen zustande. Man kann leicht feststellen, dass in diesen Gesetzeswerken in bestimmtem Umfang Kategorien und Prinzipien des kontinental-europäischen Rechts, Strukturen, Methoden und Techniken dortiger Gesetze ihren Niederschlag gefunden haben. Deswegen wurden diese Gesetze später auch im negativen Lichte scharf kritisiert. Die gemeinsame außerordentliche 3. Plenartagung des ZK der MRVP, der Kontrollkommission der MRVP, und der 17. Kleine Staatshural beschlossen 1932, die bislang kapitalistisch orientierten mongolischen Gesetze und Rechtsvorschriften gemäß den sozialistischen Prinzipien zu ändern. Es gibt Nachweise, dass demnach zwischen 1932 und 1935 insgesamt 700 mongolische Gesetze und Rechtsvorschriften geändert, ergänzt bzw. novelliert wurden. Dies ist ein Beweis dafür, dass nicht die ganze Gesetzgebung von damals auf einen Schlag sozialistisch geworden ist, sondern auch mit den kapitalistischen Elementen vermischt gewesen war. Die großen Kodifizierungen von 1924-1930 bilden die Grundlage des modernen mongolischen Rechts und waren kontinentaleuropäisch geprägt. Mit anderen Worten gesagt, die Mongolei hat nicht sprunghaft den Sozialismus erreicht. Ich möchte hinzufügen, dass in der Mongolei der zwanziger und dreißiger Jahre die Kleinwarenwirtschaft vorherrschend war, in der das Privateigentum den bestimmenden Platz belegte, so dass im Finanz-, Kredit- und Steuerwesen die marktwirtschaftlichen Instrumente über Gesetze zum Zuge kamen. Gesetzliche Regelungen zum Privateigentum und zum Vertrag, zur Pacht, Luxussteuer und zum Bankkredit hatten ihren festen Platz in der damaligen Gesetzgebung. Diese wurden dann in der sozialistischen Wirtschaft abgeschafft. Es wäre nicht falsch, diese Rechtstraditionen nun ohne Beimischung der kommunistischen Ideologie und des Klassenmantels, ohne Zielrichtung der sozialistischen Planwirtschaft im Hinblick auf Strukturen, Technik und Methoden zu berücksichtigen. Nach der Ablösung der Zwangsehe aus der feudalistischen Zeit sind das Prinzip der Freiwilligkeit der Eheschließung, die Monogamie und die Gleichberechtigung der Ehepartner als die tragenden Säulen des damaligen mongolischen Familienrechts etabliert und haben heute ihre Geltung nicht verloren. Aber die propagandamäßige Bezeichnung „sozialistische Ehe" muss weggefallen.

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Bezüglich der Klassifizierung der Gesetzgebung in grundlegende Rechtszweige wie Verfassungs-, Verwaltungs-, Finanz-, Zivil-, Arbeits-, Strafrecht sowie in angewandte Rechtsgebiete, bezüglich der Technik und Methoden dieser Klassifizierung können mehr verwandtschaftliche Bindungen des mongolischen Rechts zum römisch-germanischen Rechtskreis beobachtet werden. Zweitens: Die Konzeption der neuen Verfassung von 1992, die die Grundlagen des Gesellschafts- und Staatsaufbaus der demokratischen Mongolei festlegt und die Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft verstärkt, das System der staatlichen Leitung und der Selbstverwaltung festigt, ist die juristische Basis unseres neuen Rechtssystems. Über den Grad der Entsprechung unserer grundlegenden Verfassungsprinzipien mit dem römisch-germanischen Recht kann man Schlussfolgerungen ziehen, inwieweit das mongolische Recht dem genannten Rechtskreis zugehörig sei. Folgende Prinzipien liegen der Verfassung der Mongolei zugrunde, ich darf diese kurz erwähnen: 1.

Beachtung und Einhaltung des Gesetzes ist das verankerte Grundprinzip der staatlichen Tätigkeit (Art. 1 Abs. 2 MV). Das heißt nicht, dass eine Gesetzesdiktatur bestehe, sondern man läßt sich von dem Gesetz als Kern des neuen Rechtsbewusstseins leiten. Das heißt auch, dass man seine legitimen Interessen durch und mit Gesetz schützt.

2.

Vor dem oben genannten Hintergrund ist die Gestaltung des Rechtsstaates und der zivilen Gesellschaft als Staatsziel festgelegt (Präambel, Art. 2 und andere Artikel MV).

3.

Natürliche Rechte und Freiheiten des Menschen wurden proklamiert; das Prinzip ihrer Gewährleistung durch den Staat wurde verfestigt (Abschnitt II MV).

4.

Das Verfassungsgebot der sozial ausgerichteten Marktwirtschaft, die sich auf verschiedene Formen des Privat- und öffentlichen Eigentums sowie auf die Vielschichtigkeit der Wirtschaftssektoren stützt, deutet auf die Sozialstaatlichkeit hin (Art. 5, 6 MV).

5.

Festlegung und Befolgung des Prinzips der Unabhängigkeit der Richter und ihrer Bindung lediglich ans Gesetz (Abschnitt III, Teil 4 MV).

6.

Festlegung der örtlichen Selbstverwaltung und Verankerung der rechtlichen Garantien ihrer relativen Selbständigkeit (Abschnitt IV MV).

7.

Einfuhrung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle nach dem kontinentaleuropäischen Muster und die Errichtung eines eigenständigen Verfassungsgerichts (Abschnitt V MV).

8.

Proklamierung und Verankerung des Prinzips des Vorranges der Verfassung (Artikel 70 MV).

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Diese prinzipielle Verfassungskonzeption zeigt, dass das mongolische Recht von seiner verfassungsrechtlichen Begründung her zum römisch-germanischen Rechtskreis gehört. Drittens: Das Rechtsbewusstsein als eine Komponente dieses Systems und die Rechtsideologie als seine Oberstufe basierten früher ausschließlich auf der marxistisch-leninistischen Ideologie, wobei die Rechtsanschauungen und doktrinen des Westens, wie die göttlichen oder liberalen, naturrechtlichen oder positiven, abgelehnt und hinter dem „Eisernen Vorhang" zurückgehalten wurden. Mit der Abschaffung des Monopols einer Ideologie und der Anerkennung des Pluralismus ergab sich das Erfordernis, das Rechtsbewusstsein und demzufolge auch die Wissenschaft und Bildung radikal zu reformieren. Die Forscher haben nachgewiesen, dass die Entwicklungsrichtung der fachlichen Ausbildung vom Gegenstand, von der Anschauung, Lehre, den Methoden, der Basis und von der Zusammensetzung der Lehrkräfte abhängt. Traditionell gehört die Mongolei vorwiegend zu den Ländern mit europäischer Rechtsbildung. Deshalb ist das Rechtsinstitut der Mongolei bemüht, seinen Studienplan und sein Studienprogramm nach dem Vorbild der Länder des römisch-germanischen Rechtes zu gestalten und sich deren Theorien und Methoden anzueignen. Es ist hier auch zu erwähnen, dass die Erfahrung des Rechtsinstituts von den Rechtsfakultäten der anderen Hochschulen als Muster übernommen wird. Das bedeutet, dass eine neue Generation von Juristen heranwächst, die die Konzeptionen und Grundsätze des kontinentalen Rechts in die Praxis unseres Landes umsetzen wird. Die frühere Generation sollte auch in diese Richtung umdenken. Gleichzeitig erweitert sich die Ausbildung der Juristen nach anderen Arten der Rechtssysteme, insbesondere nach dem angelsächsischen Recht, was nicht nur die Rechtskultur und die rechtswissenschaftlichen Erkenntnisse fordert, sondern auch die Rechtsvergleichung entwickelt und damit im hohen Maße die Rechtspraxis in der Mongolei beeinflusst. Hinsichtlich der Rechtsideologie und des Rechtsbewusstseins wird heute die Festigung der Ansichten für die Einhaltung und Achtung der Gesetze, insbesondere der Verfassung, für das Allerwichtigste gehalten. In dieser Hinsicht ist die Praxis und Erfahrung der westlichen Länder sehr wichtig. Gesetz ist Gesetz. Wenn ein Gesetz schon verabschiedet ist, steht es jedem frei, seine Meinung dazu zu äußern und es zu beurteilen. Aber es muss hart gekämpft werden, um Ansichten und Verhaltensweisen so zu bilden, dass die Gesetze strikt eingehalten und geachtet werden. Was für eine Einwirkung würde es haben, wenn sich Politiker und Staatsmänner bemühten, selbst vorbildlich zu handeln und andere Menschen zu führen nach dem Grundsatz, wenn „das Parlament die Verfassung, die Exekutive

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und Judikative die Verfassung und andere Gesetze strikt einhalten, wird sich der Staat zu einem Rechtsstaat entwickeln". Es ist zu beklagen, dass es aber einige gibt, die vergessen haben, dass sie einen Eid auf die Verfassung geleistet haben, um sie zu schützen und zu bewahren, doch nun die Verfassung nach Gutdünken interpretieren und dem Volk vormachen, dass es nicht anders gehe, als sie zu ändern. Diejenigen, die die Verfassung negieren, kritisieren ζ. B., dass das Fehlen einer Bestimmung über die Stadtreinigung in der Verfassung große Schwierigkeiten bereite („Unen" 1999, Ν 108). Die Verfassung ist aber keine Straßenverkehrsordnung und auch keine Geschäftsordnung der Behörden. Vieles, was „unklar" erscheint, kann man in den organischen Gesetzen detailliert regeln. Dies ist anderen Rechtssystemen zu entnehmen, aus ihnen zu lernen und zu erfahren. Am Ende unserer Verfassung gibt es einen Erlass mit zwei Ausrufen: „Nehmt zur Kenntnis" und „Haltet inne". „Nehmt zur Kenntnis" ist selbstverständlich. Aber die Bedeutung von „Haltet inne" darf man nicht vergessen und nicht so verstehen, dass dies alles klar auf der Hand liegt. In der Verfassung der BRD steht, „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung". Dies ist ein klarer Imperativ zur Achtung der Verfassung des Staates.

IV. Vorbeugen gegenüber Fehlern Integration in einen Rechtskreis bedeutet nicht einfach eine direkte Nachahmung und Anwendung der dazugehörigen Gesetze, Verordnungen und jeglicher Rechtsinstrumente anderer Länder. Das nationale Rechtssystem und sein Mechanismus werden nur dann wirksam (effektiv), wenn die allgemeinen Merkmale und grundsätzlichen Konzeptionen entsprechend den spezifischen Bedingungen und Besonderheiten des jeweiligen Landes angewendet werden. Andererseits ist das Rechtswesen ein Ausdruck der Souveränität des jeweiligen Staates. Demzufolge darf man darunter nicht eine direkte Nachahmung, Anwendung sowie den „Export" des Rechtswesens anderer Länder verstehen. Aber mit Ausnahme der Einhaltung des Völkerrechts, ist es nicht ausgeschlossen, dass im bestimmten Rahmen die Gesetze frei aus unterschiedlichen Traditionen verflochten und integriert werden können. Anders gesagt, das mongolische nationale Rechtssystem soll nicht ein isoliertes, sondern ein geöffnetes und unter Berücksichtigung anderer Erfahrungen ein flexibles System der Selbstbereicherung sein. Ein Verharren auf „mongolischer Art und Weise" bringt uns von der Weltzivilisation ab und kann zu einem Untergang fuhren.

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Es ist ein Fehler, die Übernahme von Recht aus einem anderen Rechtskreis nur als einen mechanischen Vorgang, eine Übersetzung oder technische Arbeit zu betrachten. Dabei ist vielmehr die richtige Forschungsmethode, tiefe Erkenntnis und schöpferische Einstellung entscheidend. Es gibt Fakten von schwerwiegenden Fehlern, die wegen Übersetzungsfehlern aufgetreten sind. 1963 wurde das Zivilgesetz nach dem Vorbild des damaligen Zivilgesetzes von Sowjetrussland erarbeitet. Man hat den Begriff „plastisches Kunstwerk" im Kapitel über das Urheberrecht als Plastikwerk falsch übersetzt und ließ das Gesetz auch so verabschieden. Ein Fall aus jüngster Zeit: Die Mehrwertsteuer wurde übersetzt als „ die Steuer des vermehrten Wertes", und die Rekapitalisierung wurde verstanden als Reorganisation, was zur falschen Definition des SubjektStatus führte. Gesetzesentwürfe wurden mit solch schwerwiegenden rechtstheoretischen Fehlern dem Parlament vorgelegt. In der letzten Zeit gab es ab und zu unverständliche Gesetzesentwürfe, die aus dem Englischen und Japanischen übersetzt wurden. Außerdem besteht beim Vergleich und der Beurteilung der Gesetze vieler Länder eine hohe Fehlerwahrscheinlichkeit wegen Anwendung falscher Forschungsmethoden. Einige Forscher haben betont, dass es folgende Fehlerfälle gebe, insbesondere bei der Beurteilung der allgemeinen Erkenntnis: 1.

Fehler treten auf, wenn bei der Auswahl des Objektes die Hauptkriterien nicht definiert sind. Bei der Erarbeitung eines Gesetzentwurfes über die Kommunalverwaltung könnte man auf die Erfahrungen mit dem Gesetz desjenigen Landes zurückgreifen, welches zu demselben Rechtskreis gehört. Aber wenn man die Hauptkriterien, wie historische Tradition, Bevölkerungsdichte, die Mischung von Nationalitäten, territoriale Größe, natürliche und wirtschaftliche Bedingungen, Verkehr und Kommunikation nicht berücksichtigt, kann man den Begriff der Kommune gesetzlich nicht bestimmen.

2.

Wenn man ohne Berücksichtigung der realen gesellschaftlichen Bedingungen (Zivilisation, rechtliche Traditionen, Kultur- und Bewusstseinsstand) Recht kopiert, ist es wahrscheinlich, dass Fehler auftreten werden.

3.

Ebenso werden Fehler auftauchen, wenn man nicht berücksichtigt, ob sich die konkreten juristischen Konzeptionen den eigenen Landesbedingungen anpassen (ζ. B. Festlegung einer präsidialen Republik - aber ohne all das, was dazu gehört, zu berücksichtigen und anzupassen).

Wenn man die Begriffe oder die verschiedenen Rechtsstrukturen eines Rechtssystems nicht berücksichtigt, wie Rechtsgebiet, Kreis, Bereich, Unterbereich, Art, Teil (Institut), treten Fehler auf. Während im römisch-gemanischen Recht ζ. B. die Regelung der Familienbeziehungen ein zivilrechtliches Institut ist, ist es bei uns ein spezieller Rechtsbereich, was man berücksichtigen muss.

Rechtssystem und Rechtsreform

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Fehler treten auf, wenn man fachspezifische Rechtsbegriffe, Grundsätze, Termini, Modelle falsch und unvollständig versteht. Es werden die feinen Unterschiede ζ. B. zwischen „erfüllen, ausführen, einhalten und durchführen", zwischen Juristische Person, Person und natürliche Person", zwischen „Aufgaben, Pflichten und Regelpflichten", zwischen „Macht, Machtbefugnis, Bevollmächtigt und Rechtsfähigkeit", zwischen „Sachen, Gegenstände, Reichtum, Vermögen und Eigentum" und zwischen „Mensch und Bürger" nicht beachtet. Man kann schon nicht mehr zwischen Staatsmacht, Staatsgewalt und Regierung unterscheiden. Man bringt Rechtsregeln mit Rechtsformen durcheinander. Viele weitere Beispiele könnten aufgezählt werden. Es entstehen Fehler und Widersprüche, wenn man den Zusammenhang und das Gleichgewicht zwischen den Komponenten des Rechtssystems, darunter den Methoden und Instrumenten, nicht berücksichtigt. Um solche Fehler zu vermeiden, ist es angebracht, durch den Vergleich von Rechtstheorie und Rechtslehre auf der Grundlage detaillierter Forschung der wissenschaftlichen Methodik zu entscheiden, was aus den Erfahrungen anderer Länder in einer den allgemeinen und spezifischen Bedingungen angepassten Form zu übernehmen ist oder was nicht. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass dabei qualifizierte Juristen eine wichtige Rolle spielen. In der letzten Zeit hört man oft von Leuten mit juristischer Nebenausbildung oder von Leuten in anderen Berufen, die im gesetzgebenden Organ oder seinen Ausschüssen arbeiten und die dies landesweit verkünden, dass der Juristenberuf ein Nebenberuf, ein Zweit- oder Zusatzberuf sei und dass diejenigen, die einige Gesetze auswendig gelernt haben, den qualifizierten Berufsjuristen gleichzusetzen seien. Demgegenüber ist an die Aussage von Anners zu erinnern „Jura ist eine Art von Ingenieurskunst" oder an Ciceros Worte „Ein Gesetz ist ein nicht sprechender Richter, ein Richter ist ein sprechendes Gesetz". Demnach ist nochmals zu betonen, dass die Rechtsbildung und -qualifikation, die auf dem Kontinentalrecht beruht, aus der altrömischen „Glossatoren-Schule", aus dem „Universitätsrecht" und aus dieser Rechtsanschauung, die viele Strömungen erlebte, stammt und dass der Juristenberuf ein antiker, angesehener und moderner Spezialberuf ist. Aber man darf nicht vergessen, dass unsere Juristen entsprechend den hohen Anforderungen qualifiziert sein müssen. Es ist erforderlich, dass sich der Juristenberuf von anderen Berufen abhebt. Wie ein Gelehrter einmal sagte, ein Jurist ist ein Ingenieur, der Gesetze erarbeiten, interpretieren und anwenden kann. Es besteht ein besonderes Erfordernis, die juristische Bildung, Rechtsberufsausbildung und jede Form der Weiterqualifizierung zu reformieren und auf Weltniveau zu bringen. Das ist ein notwendiger Bestandteil bei der richtigen Wahl und Vervollkommnung des Rechtssystems.

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Es ist heute nicht zu verheimlichen, dass die Ausbildung der Juristen zum Profitwettbewerb wird, dass ca. 20 Hochschulen, darunter Hochschulen für Wirtschaft und Fremdsprachen, juristische Fakultäten eröffnen, „gestrige Studenten morgen schon Lehrkräfte werden", und dass im Abend-, Fern- und Intensivstudium in ein bis zwei Jahren „formale" Juristen-Diplome vergeben werden. Dies ist eine Abnormität, die zum Verlust des Ansehens des Juristenberufs, zur Negierung des Rechtswesens führt. Deshalb ist es erforderlich, nach deutschem Vorbild in den staatlichen Hochschulen qualifizierte Juristen auszubilden und ein staatliches Auswahlverfahren für Juristen einzuführen. Daneben kann man an den Weg denken, dass andere Hochschulen mit Genehmigung eine Rechtsgrundausbildung anbieten und dass die weitere Hauptausbildung zum Juristen an staatlichen Hochschulen im zwei- bis dreijährigen Studium absolviert wird.

Rechtsfamilien - ihre Widerspiegelung in der Mongolei Von Jugneegiin Amaarsanaa

I. Der Begriff „Recht" ist ein Ausdruck von politischen Aufgaben und deren Normen. Jede politisch organisierte Gesellschaft schafft ihr eigenes Recht, und dies hängt von verschiedenen Faktoren ab wie der Entwicklung des jeweiligen Landes, Philosophie, Ideologie, Glaubwürdigkeit des Volkes und dessen Interessen. In diesem Sinne wird Recht Widerspiegelung einer Gesellschaft. Jede Entwicklungsstufe und jedes Land, unabhängig von seinem politischen System, hatte und hat ein eigenes Rechtssystem mit eigenen Besonderheiten, Aufgaben, Pflichten und eigener Ideologie. Zum Beispiel unterscheiden sich die Rechtssysteme von Frankreich, der Schweiz, Indien, Japan, Rußland und den USA alle voneinander. Obwohl für jedes Land sein eigenes Recht mit seinen Besonderheiten gilt, gibt es für die verschiedenen Rechtsformen selbstverständlich ähnliche Eigenschaften und wechselseitige Beziehungen zueinander hinsichtlich der Politik, Kultur und der juristischen Technik. So kann man alle Rechtsformen der Welt zusammenfassen und sie als das Rechtssystem der Welt bezeichnen. Das Rechtssystem der Welt in Familien aufzuteilen, ist einer der Grundstoffe des vergleichenden Rechts. In Werken des vergleichenden Rechts wurden verschiedene Begriffe wie „Rechtssystem der Welt", „Familie des Rechtssystems" und „Hauptfamilie des Rechtssystems" häufig angewandt. Laut Meinungen von Forschern gibt es einige Kategorien für die Aufteilung des Rechtssystems in mehrere Hauptfamilien. (Weil diese Familien ihrerseits wiederum in „Unterfamilien" eingegliedert werden, habe ich hier bewußt die Silbe „Haupt-" gewählt.) Die meisten Forscher stützen sich in ihren Arbeiten über die Aufteilung des Rechtssystems auf das Privatrecht (nach unserer Gewohnheit Zivilrecht). Dabei wird das öffentliche Recht (public law) überhaupt nicht berücksichtigt. Aber wir müssen bei der Aufteilung des Rechtssystems das öffentliche Recht unbedingt miteinbeziehen. 14 Schünemann u. a.

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Die auf das Privatrecht (es ist zutreffender und kommt der Wahrheit etwas näher, wenn wir uns daran gewöhnen würden, vom Privat- und öffentlichen Recht zu reden, zu schreiben und zu lehren, denn Art. 5 der Verfassung der Mongolei besagt, daß es zwei Eigentumsformen, und zwar das Privat- und das öffentliche Eigentum, gibt) gestützten und dem römisch-germanischen Recht angehörenden Länder Lateinamerikas stehen angesichts ihres öffentlichen Rechts dem Verfassungsrechtssystem der USA sehr nahe. Die ersten Bemühungen, das Rechtssystem in Rechtsfamilien aufzuteilen, wurden seit Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa vorgenommen. So hat A. Esmein (Paris, 1905) das Rechtssystem aufgrund der historischen Entstehung der verschiedenen Völker, der jeweiligen Gesellschaftsstruktur und anderer besonderen Eigenschaften, H. Levy-Ullman (Paris, 1922) aufgrund der Rechtsquellen, Armijon-Nolde-Wolf (Paris, 1951) aufgrund der Entstehung des Rechts und dessen Ähnlichkeiten und Unterschieden zu anderen Rechtssystemen, Schnitzer (Bale, 1960) aufgrund der Kulturen und deren Kreise, K. Zweigert (Leyden, 1965) aufgrund der juristischen Technik (historische Entwicklung des Rechtssystems, Rechtsquellen und deren Interpretationsmethodik und ideologische Faktoren seien hier gemeint) untergliedert. In der heutigen Zeit wird die Aufteilung des Rechtssystems nach René David, die sich auf Ideologie und juristische Technik gestützt hat, häufig angewandt. Er hat das Rechtssystem in folgende Familie aufgeteilt: 1) römisch-germanisches Recht; 2) sozialistisches Recht (in seinen letzten Arbeiten hat er aber unterstrichen, daß dies aus historischer Sicht betrachtet werden muß); 3) Common Law; 4) Religions- bzw. Traditionsrecht. Seit 1990 sind auf der ganzen Welt grundlegende Änderungen in Politik, Wirtschaft und Ideologie vollzogen worden. Es ist schwer zu sagen, ob das sozialistische System in puncto Charakter und Inhalt als selbständiges System noch existiert. Aus diesem Grunde könnte man das Rechtssystem der heutigen Welt (grob) in folgende vier Familien aufteilen: a) kontinentales Recht; b) Common Law ; c) islamisches Recht; und d) Traditionsrecht.

II. Das kontinentale Recht ist ein Privatrechtssystem (Zivilrechtssystem), das seinen Ursprung im römischen Recht hat. Man hat es kontinentales Recht genannt, weil es zunächst auf dem europäischen „Kontinent" entstanden ist und sich im Laufe der Geschichte durch den Kolonialmechanismus auf andere Länder übertragen hat. Die Bezeichnung „römisch-germanisches Recht" scheint mir nicht optimal zu sein. Das wird dann deutlich, wenn man einerseits die Geschichte dieses Rechtssystems und andererseits die Rechtssysteme von Österreich und den skandinavischen Ländern genauer betrachtet.

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Das kontinentale Recht ist ein geschriebenes Recht (lex scripta), und die anderen Quellen (wie ζ. B. Traditionsrecht) haben Hilfseigenschaften. Außerdem erlaubt es im großen und ganzen nicht, daß Rechtsnormen von Gerichten festgesetzt werden. Das kontinentale Recht kann wie folgt untergliedert werden: 1) französisches Recht; 2) österreichisches Recht; 3) deutsches Recht; 4) schweizerisches Recht; 5) das Recht der skandinavischen Länder; 6) das Recht der ehemaligen europäischen sozialistischen Ländern und 7) das gemischte Recht (das Recht Südafrikas, Israels, der Philippinen, Schottlands, des Staates Louisiana in den USA, des Staates Quebec in Kanada). Solch ein gemischtes Recht entwickelte sich seit 1950 auch in Japan und Südkorea. Das Common Law bzw. das anglo-amerikanische Recht ist in seiner Entstehung und Eigenschaft ein Recht des Gerichts (judge made law). Seine Quellen sind a) Common Law und b) Billigkeitsrecht. Das anglo-amerikanische Recht akzeptiert zwar das geschriebene Recht/Gesetze als Quelle, aber eben nur als Grundlage für das Gericht, Normen festzusetzen. Mit anderen Worten entsteht ein Gesetz erst, wenn darüber ein Gericht vorher eine „Erklärung" abgegeben hat. Das Common Law kann in a) englisches (einschließlich des Vereinigten Königreiches) und b) amerikanisches Recht untergliedert werden. Diese Untergliederung stammt aus folgender Fragestellung: Gibt es in den USA ein Bundes-Common-Law oder hat jeder Bundesstaat sein eigenes Common Law? Der Begriff eines Bundes-Common-Laws war früher sehr verbreitet. Erst im Falle „Eric Railroad Company v. Tompkins" hat das Oberste Gericht der USA 1938 entschieden, daß neben dem Bundes-Common-Law auch ein Common Law für Bundesstaaten (in diesem Falle war es der Bundesstaat Pensylvania) existieren kann. Aber aufgrund der politischen Einheit der USA hat das Recht des Gerichts ein relativ einheitliches Niveau (Unifizierung) erreicht. Das islamische Recht ist wie eine Predigt aufgebaut. Die Verbreitung des islamischen Rechts steht nicht unbedingt im direkten Zusammenhang mit der geographischen Lage von islamischen Völkern. Einige islamische Nationen (nordafrikanische Berber, Ioruba von Nigeria, Indonesien usw.) folgen ζ. B. nicht dem islamischen Recht. In islamischen Ländern ist das islamische Recht durch den Staat offiziell anerkannt. Die Besonderheit des islamischen Rechts besteht darin, daß es in bestimmten Kreisen, wie ζ. B. Familienrecht, Erbrecht und Geschenkrecht, als eine Institution des Zivilrechts funktioniert. Beim Eigentums- und Handelsrecht wenden islamische Staaten abhängig von der Besonderheit ihrer Entwicklung entweder das kontinentale oder das englische Recht an.

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Das islamische Recht wird, wie die islamische Religion, in a) das Recht der Sunniten (orthodox) und b) das Recht der Schiiten (heterodox) unterteilt, und in letzteres fallen der Irak und Iran. In den meisten islamischen Ländern wird das Recht der Sunniten angewandt, dessen Hauptquellen der aus wenigen Rechtsnormen bestehende Koran, die islamischen Predigten, die die alltäglichen Beziehungen koordinierende Sunna, das als Grundlage im islamischen Meinungsaustausch geltende Ijma (consensus omnium) und das Prinzip der Anwendung auf Ähnlichkeiten (qijas) sind. Diese Quellen werden nicht direkt als Grundlage (Basis) angewandt, und dies ist ihre besondere Eigenschaft. Mit anderen Worten: Seit dem 2. Jahrhundert des islamischen Kalenders (Khijra), das entspricht dem 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, gelten vier selbständige Lehren der Sunniten wie Malekit, Ganofit, Schafeiit und Ganbalit fur jedes islamische Land verschieden, in eigener Art und Weise. Das Traditionsrecht steht in großem Umfang mit dem Religionsrecht (islamische Predigt und kanonisches Recht ausgenommen) in Verbindung. In vielen Ländern Afrikas gilt das Stammesgewohnheitsrecht. Dieses Recht existiert nicht allein, sondern koordiniert im Zusammenhang mit dem Recht des jeweiligen ehemaligen Kolonialherrscherlandes und dem islamischen Recht die gesellschaftlichen Verhältnisse. Das Recht der Hindus in Indien regelt, wie das islamische Recht, zum größten Teil die alltäglichen Beziehungen des Privatmenschen, und nach der englischen Koloniezeit nahm das englische Common Law die Hauptstellung in Indien ein.

III. Das Recht der Mongolei besitzt als ein Teil des Weltrechtssystems viele seiner Eigenschaften, und trotzdem gibt es hier aus Sicht der historischen Entwicklung eigene Besonderheiten. Im mongolischen Reich von 1101-1206 bestand das mongolische Recht im Grunde genommen aus dem Gewohnheitsrecht. Im Reich der Großen Mongolei von 1206-1260 galt immer noch das Gewohnheitsrecht, aber seine Grundeigenschaften und Inhalte hatten sich erheblich geändert. Der Schamanismus hatte bei Staatsführung und Gesellschaftsstabilisierung eine große Rolle gespielt. Außerdem war die Verbreitung von Christentum, Islamismus und Buddhismus zu verzeichnen. Man hatte auch nicht die Absicht, Gesetze, Sitten und Religionen von besetzten Ländern zu ändern. In der Zeit vom 13.-14. Jahrhundert (1260-1388), in der die Mongolen die Yan-Dynastie gegründet haben, wurden mehrere Gesetze erlassen, und das „Ikh Zasag"-Gesetz von Dschingis Khan hatte immer noch seine Gültigkeit. In der

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Zeit vom 14.-18. Jahrhundert fand die Zerstreuung des mongolischen Feudalismus statt, und es existierten gleichzeitig mehrere Königreiche. Obwohl in der Mongolei seit dem 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts die Herrschaft von Mandschuren bestand und zahlreiche, die mandschurische Staatspolitik vertretende Gesetze erlassen wurden, war der Einfluß des Gewohnheitsrechts immer noch stark. Die Besonderheit dieser Periode bestand darin, daß erstens die Lehre von Konfuzius nicht eingeführt werden konnte und zweitens der Buddhismus sehr stark eingedrungen war. Obwohl der Einfluß des Buddhismus auf die Traditionen und Sitten sehr groß war, konnte er nicht als Rechtsnorm fungieren. Man kann sagen, daß sich seit 1920 grundsätzliche Änderungen im mongolischen Recht vollzogen haben. Seit diesem Zeitpunkt waren die direkten Einflüsse des russischen Rechts enorm. Diese Einflüsse wurden immer größer, nachdem die sowjet-russischen Politiker zur Verabschiedung der ersten mongolischen Verfassung einen großen Beitrag geleistet hatten. Seit etwa 1945, als die Mongolei in den Kreis des sozialistischen Systems einbezogen wurde, verwirklichte sich das sozialistische Recht in realer Weise. Dieser Prozeß dauerte bis 1990 an. Obwohl das mongolische Recht dem sozialistischen Rechtssystem angehörte, ist dessen ursprüngliche Basis im kontinentalen Recht zu suchen. Im Jahre 1992, in der die neue Verfassung verabschiedet wurde, hat sich der mongolische Staat von dem sozialistischen Recht losgesagt und das Prinzip der Hochachtung der Gesetze als sein oberstes Gebot erklärt. Dies beweist eindeutig, daß das mongolische Recht dem kontinentalen Recht angehört. In der heutigen Zeit, in der die Globalisierung in das Leben der Menschheit eindringt und der Übergang in die freie Marktwirtschaft sich in starkem Maße vollzieht, befindet sich die Mongolei auf dem Wege zur Demokratie und der Menschenrechtsgarantie im Gleichschritt mit anderen Nationen der Erde. Seit 1990 ist die Mongolei in die Weltbank, in die Asiatische Entwicklungsbank und die Welthandelsorganisation als Mitglied eingetreten. In diesem Zusammenhang sind auch zahlreiche Gesetze verabschiedet worden. Bei der Ausarbeitung der Gesetze über Konkurs, Verbot von Wettbewerbswidrigkeiten, Finanzbuchhaltung, Bodenschätze, Erwerb von Produkten und Dienstleistungen, Wertpapiere und Firmen haben ausländische Projekte und Expertenratschläge (USA, Australien, Neuseeland usw.) ihre Beiträge geleistet. So gesehen empfangen wir im Wirtschaftsbereich große Unterstützung von Common-LawLändern. Die Hanns-Seidel-Stiftung (Verwaltungs- und Verfassungsrecht), GTZ (Zivilrecht) und Konrad-Adenauer-Stifiung (Verfassungsrecht) führen ihre Projekte durch. Dies zeigt, daß das kontinentale Recht in Bereichen wie des Verfassungsrechts und der staatlichen Organisation einen bedeutenden Platz einnimmt.

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Aber in der gesetzgebenden Praxis kann man einige Inkonsequenzen entdecken. Zum Beispiel steht im Gesetz über den öffentlichen Dienst (1995), das sich auf die Gesetzespraxis von Rußland, Deutschland, Japan sowie auf Besonderheiten des eigenen Landes stützt, daß die Ämter - angefangen vom Ministerpräsidenten bis zu Bürgermeistern von Aimags, Sums und Bags - politische Ämter sein müssen. Dies verstößt aber gegen den Grundgedanken und das Grundprinzip der Verfassung. Das Rechtsstudium an Hochschulen und Universitäten erfolgt nach dem Prinzip des kontinentalen Rechts. Aber das Zentrum für Fortbildung der Juristen und das College für Wirtschaft haben ihre Lehrpläne nach dem CommonLaw-Prinzip ausgearbeitet. Dies hat sicherlich Auswirkungen auf die Praxis der Gesetzesanwendung. In dieser kurzen Abhandlung habe ich versucht, auf die Entwicklung des Rechtssystems der Welt und des mongolischen Rechts sehr allgemein einzugehen. Dabei hatte ich nicht die Absicht, zu beurteilen, ob das eine System gut oder das andere System schlecht ist. Wir können am Beispiel des in den letzten Jahren sehr stark an Form und Entwicklung gewachsenen europäischen Rechts sehen, daß es nicht unbedingt erforderlich ist, strenge Grenzen zwischen dem Kontinentalrecht und dem Common Law zu ziehen. Als letztes möchte ich kurz auf das 1998 vom Parlament beschlossene „Programm für die Rechtsreform der Mongolei" eingehen: Darin steht nämlich, daß in der Mongolei ein pragmatisches Rechtssystem angestrebt werden muß, das auf Kontinentalrecht gestützt, an die Besonderheiten des eigenen Landes angepaßt (nationale Besonderheit, Tradition, Geschichte, Kultur, nationales Interesse, Lebensgewohnheit der Mongolen, nationale Sicherheit) sowie für die weltweite Globalisierung geeignet ist.

Homo Oeconomicus as Menschenbild: Reforms in Indonesia By Paul H. Brietzke

I. Introduction We assemble to honor a colleague fully as noble as he is scholarly. That "Heinz" Scholler and I have remained fast friends, despite our having written books and articles together, testifies to his tolerance and attitudes that are humanistic as well as humane. Casting about for a topic with which to honor him, I had to draw upon my current experiences as Legal Advisor, Ministry of Justice, Republic of Indonesia. On the one hand, there is the excitement of my playing a small role in building what may become the world's third largest democracy. But the dark side of my experiences involves hangovers or hold overs from an elitist, rather authoritarian and human rights-abusing, Indonesian past. The Chinese have a curse rather than a blessing: "May you live in interesting times." Times in Indonesia are certainly interesting, and they are best portrayed through a mix of politics, economics, law, and culture that German colleagues might identify with the work of Max Weber - except that I ' l l be brief and omit the many footnotes that otherwise disfigure much of my (and Weber's) work. Also, I won't bore you with all of the analyses that support my Law and Economics-style arguments. In an earlier article, 1 I showed how the Indonesian economic crisis - more severe and longer lasting than most others in Asia - and the political crisis that led to the collapse of Soeharto's New Order regime and the struggle for Reformasi, occurred at the same time (late 1997 to the present) and for the same reasons.2 While some needed reforms have begun, much remains to be done. The 1

Paul Brietzke/Thomas Timberg: An Economic Reform Agenda for Indonesia? Law and Policy in International Bus, 1999. 2 The currency (Rupiah or Rp.) was floated in August 1997, the Government requested IMF assistance in October, and 16 ailing banks were closed in November. In January 1998, rising prices and fears of shortages led to panic buying, and the Government agreed to IMF-sponsored institutional reforms and financial sector reforms - which included the guaranteeing of deposits in weakened banks. In March, President Soeharto

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current structure of the Indonesian economy has less to do with the economic productivity of businesses over time than with their political productivity: the unstable and grossly unequal power positions that emerged during colonialism and Soeharto's New Order. More rapid economic growth, and especially development, will result from a greater economic pluralism in Indonesia: economic sectors and institutions3 growing more equal in the terms of trade (largely as dewas selected for a seventh five-year term. In April, bankruptcy law amendments, privatization of some state-owned enterprises, and steps toward the restructuring of corporate debts were announced. Riots, arson, looting, and rape rocked Jakarta and other cities in April and May, and Soeharto resigned an May 21. President Habibe, and his "First Development Cabinet" took office. In June, the "Frankfurt Agreement" was reached with foreign banks, in a largely failed attempt to deal with trade credit, interbank obligations, and corporate debt. Foreign donors pledged $ 7,0 billion in assistance, in Paris in July. After further reforms, the IMF announced Indonesia was in compliance with an economic stabilization and reform program that was later staunchly criticized as too deflationary. By October, the Rp. strengthened, from 15,00 to 7,00 = U.S.S 1. Violent clashes between students and security forces began near Parliament in November. A modest economic recovery, fostered by successful and rather democratic election on June 7, 1999, is jeopardized by a massive banking scandal and violence in Ache, Muluku, and East Timor. 3 Like many other economies, Indonesia's can be described in terms of nine sectors, each characterized by the distinctive legal regime which describes the sector's institutions: markets (property and contracts law, competition policy, etc.); foreign-dominated (especially multinational) corporations (which are often immune to regulation under domestic law), some with politicians', bureaucrats' or Government participation; domestic companies, some with foreign investors or politicians', bureaucrats' or Government participation; Government-controlled and - regulated enterprises; cooperatives and other nonprofit organizations; individual proprietorships of larger than cottage size; (near-)subsistence farming, fishing, forestry, and handicrafts/cottage industry; the international sector of trade and aid, debt, and equity inflows; and labor and consumers (see Brietzke/Timberg [n. 1]). This focus on institutions and an institutional economics echoes a growing consensus, in Indonesia and among development theorists, that institutional capital is more important than the other forms of capital, viewed through a matrix of democratic-bureaucratic-legal system development (see Michael Trebilcock: What Makes Poor Countries Poor?, in: Edgardo Buscaglia/William Rati iff/Robert Cooter [eds.], The Law and Economics of Development, Greenwich 1997, pp. 15, here: pp. Π Ι 8, 40). An institution involves formalized actors and repeated transactions that transform inputs (resources) into some valued output: democracy or (other) marketplace exchanges, for example. An institution has a history, a cultural context, and an interchangeable wealth and power. This power is used to resist changes, to change other institutions and environments, and to otherwise shape and restrict the choices of other individuals and institutions. For example, democracy is stabilized through institutions that decrease the stability of political cartels, and reduce the transaction costs of resistance to tyranny (see Robert Cooter: The Rule of State Law versus the Rule-of-Law State, in: Edgardo Buscaglia/William Ratliff/Robert Cooter (eds.), The Law and Economics of Development, Greenwich 1997, pp. 101, here: p. 135 ed subs.; Robert Goodin: Institutions and their Design, in: Robert Goodin (ed.), The Theory of Institutional Design, Cambridge U. Press. 1998, pp. 1, here: pp. 7, 12; Trebilcock , p. 45). Good institutions are at least as important as good laws and personnel, given the institutional context of underdevelopment and unfavorable repetitons of behavior (Ann & Robert Seidman : Beyond Contested Elections, in: Harv. J. on Legis 34, 1997, 6-7).

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fined by law) that govern their exchanges. This pluralism would: diversify economic risks; take advantage of differences in the institutions' ability to adjust to crises and other changes, to use various technologies, and to raise capital by various means; make it more difficult for a particular elite to dominate Government and the economy; and, above all, increase the number of viable niches in the economy - especially for the poor and powerless. Indonesia should aim for a legal framework which promotes economic activity - reduces risks and transaction costs by contractual means, etc. - across institutions and sectors: a "level playing field" or conscious legal neutrality, except as legal discriminations enable the poor and powerless efficiently to create or enter more productive economic institutions. Legal reforms should be like a (democratic) handicapping of an economic 'horserace': lighten the load on all of the institutional 'horses', to make them run better, but lighten the load even more on those which have fallen behind because of particularly heavy burdens carried in the past. The regulatory burden on all of the Indonesian horses is currently so heavy that the wonder is their being able to run at all.

I I . Iurisprudentia Most Festschrift contributions have a theoretical section that attempts to open a common ground with the other participants, and with past analyses by the honoree. I will try to do this in the form of five "precepts" to guide economic reforms in Indonesia - and, indeed, elsewhere. The Menschenbild is developmental, of course: promoting the growing respect for dignity and other human rights that is inseparable from both democratization and reductions in poverty. First Precept : all institutions fail precisely because they are human and based on human law interacting with self-interest and culture {infra). Just as divorces are a marriage failure, there are market failures, bankruptcies (enterprise failures), bureaucratic failures (over-regulation and corruption, for example), and political failures (East Timor and corruption, for example). Even constitutions are known to fail on occasion. The reformist implications seem clear: design the best institutions you can (infra ); recognize that growth, development, and the other transitions that a country like Indonesia experiences put enormous strains on institutions, so refrain from imposing unnecessary (especially regulatory) strains on them; give institutions a chance to develop, by reforming them as part of a coherent and sequenced plan (infra), rather than changing them every few years - Indonesian bankruptcy laws, for example; and then live with the (much-reduced) institutional failures that will inevitably remain. The goal of the designs and plan is to minimize the net of failures throughout the economy and society.

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From this perspective, politics and the state are neither (nearly) all-bad nor (nearly) all-good. Rather, they will fail about as often as other institutions, and they are thus the problem and the solution (to development problems, for securing other human rights, etc.) in roughly equal measures. The policy goal is to suppress the governmental mischief wherever possible, and to advance the governmental remedy wherever necessary. It is fortunate that a private process of institutional reform is also going on, a process which can also be strengthened through legal reforms. While marketplace exchanges obviously involve contracts, actors can also use contracts to create market surrogates (enterprises, such as companies or political parties), to achieve their aims and reduce risks and transaction costs in the process. Second Precept : Like others, Indonesians should (democratically) decide what is private activity, and thus subject to private law, and what is public activity, and thus subject to public law. The policy problem is that almost any large allocation or reallocation of resources acquires a public character because of its impact on development prospects. Lawyers frequently tie themselves in knots, while making the elaborate public/private law distinctions that should be matters of analytical convenience only. But economists do exactly the same thing, with their macro/microeconomics distinction that neatly overlaps with the lawyers' dichotomy. For example, the regulation of pollution is an unwelcome interference from the factory owner's, private law (broad property rights, infra, for example), microeconomics perspective. But the same regulation may be a necessary corrective for failures in markets, and in individual and organizational behavior, from the community's, public law, macroeconomic perspective. Which perspective should be adopted in which circumstances, since lawyers and economists are unwilling and unable to collapse their cherished dichotomies into a single standard? This analytical dualism causes much confusion, in Indonesia and elsewhere. For example, Indonesian bankruptcy law reform is essential to economic growth and strengthening markets: in addition to an ease of entry, there should be ease of exit from markets - so that the failures' assets can be reassembled for productive purposes. But bankruptcy reform is a private law, microeconomic solution: designed to be under private creditors' negotiation and control. Contrary to the beliefs of some, it will thus provide little or no relief from the macroeconomic consequences of Indonesia's economic Crisis: the massive currency devaluations, etc. that led to business failures on a scale with which no bankruptcy law on earth could cope. The main reformist implication of this second precept is to highlight the importance of reforms in administrative law and institutions {infra). However, in Indonesia and elsewhere, elites are constantly trying to change what is private and what is public in self-serving ways which masquerade as "the national interest." How, politically are Indonesians going to determine which justifications

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for change are valid, and which are merely an elites' "business as usual?" All democracies struggle with this challenge, of defining the national interest/common good in ways which command an informed consensus. The third precept is as easy to state as it is difficult to explain: law tends to over-determine what it under-categorizes. This jurisprudential insight struck me while considering Indonesian reforms, probably because a traditional civil law/regulatory system like Indonesia's offers an extreme example of tendencies present in all legal systems. A civil law system attempts to create a highlyprized coherence and consistency by exhaustively enumerating institutional types and functions - i.e., by fully stipulating all statuses - in advance. Due to a failure of legal changes to keep pace with economic changes, the categories of statuses permitted by the law are insufficiently rich to facilitate the many niche activities that characterize a complex modern economy. In other words, Indonesian law under-categorizes economic activity and, apparently to regulate activities in detail and to conserve coherence and consistency, Indonesian law permits relatively little private law reform (supra): the "customizing" of institutions and transactions by the parties, to achieve their aims through contractual means that reduce risks and transaction costs. Arguably, Indonesian law thus over-determines what it under-categorizes. Absent legal reforms, Douglas North's 4 "institutional sclerosis" will continue to plague Indonesia - and many other countries as well. Useful reforms would eliminate many (inefficient, unnecessary, and corruption-provoking) business licensing requirements, permit cheap limited-liability partnerships and closelyheld corporations, and allow non-governmental, perhaps non-profit, organizations to conduct business in their own names. Combining the first three yields a fourth precept : design and redesign institutions to embody clear goals , a good fit ' with other institutions , and the best incentives and organizations that selectively adapt and adopt existing cultures. Complex analyses based on organization theory are presented elsewhere5 and are thus not repeated here, but brief mention will be made of cultural issues that are presumably of more interest to the assembled colleagues. Such issues used to be treated simply, as a need to respond to "Asian values", but the public increasingly realizes how these values are manipulated in self-serving ways by their pre-democratic advocates. Some cultural changes are desirable and even essential to an institutional and general development in Indonesia, but there are also many ways of designing institutions, and re-designing those responding to archaic forms of colonial (Dutch) and Javanese culture, so as to respond to (democratically-expressed) Indonesian needs and desires. 4 5

Quoted by Michael Trebilcock [n. 3], p. 45. Paul Brietzke: Democratization and ... Administrative Law, in: Okla. L. Rev. 1999.

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The often-agonizing ferment Indonesians are experiencing - economic recession, unrest and violence, marketization, democratization - can have two contradictory effects. It makes people seek renewal or a sense of direction in some traditional (especially religious) way of doing things, while also exposing shortcomings in these ways and encouraging certain kinds of cultural experimentation. Policymakers can seek to bend such contradictions in developmental directions, and I argue6 that the best place to start is the bureaucracy - by turning repressive colonial institutions into a civil service . Like other institutional actors, bureaucrats resist change. But they are also potent change-agents, once their culture is transformed: through reformed incentives, organizations and ideologies, and an improved education and training. I close with a fifth precept: the need to devote attention and resources to the effective implementation of reforms. Otherwise, a mismatch arises, between ambitious changes in substantive Indonesian laws and an underdeveloped institutional capacity to apply them - especially through courts and administrative bureaux (infra). As Portia says: " I f to do were as easy as to know what were good to do, chapels had been churches and poor men's cottages princes' palaces." (Shakespeare, Merchant of Venice, I, ii, 13-15.) Predictable enforcement is required for a stable institutional environment. Predictability requires marked reductions in corruption, effective incentives (adequate pay, for example), appropriate institutions, modernizing cultures among the implementors, and adequate training and investigative and managerial resources. 7

I l l · The Plan, Briefly The complex analyses Indonesians might want to consider, as bases for a reform process legitimated by a newly-elected and hopefully-democratic Government (infra), are discussed in Brietzke/Timberg (n. 1). A sketch of some likely reforms (admittedly, compiled by a foreigner) is offered here, to suggest the magnitude and scope of the political problems the new Government will face. This plan is divided into five parts: 1., 2., and 3. are the most important and time- and resource-consuming reforms. Ideally, they would begin immediately, since the success of other reforms depends on them: see the fifth precept, supra. 4. describes important, sector-by-sector reforms that can arguably be pursued in almost any order, perhaps in response to political priorities, provided the consistency of the overall plan is kept in mind. 5. describes those reforms 6

Paul Brietzke (η. 1 und 5). Timothy Lindsey: An Overview of Indonesian Law, in: Timothy Lindsey (ed.), Indonesian Law and Society, Melbourne 1999, pp. 1, here: p. 8; William Ratliffe/ Edgardo Buscaglia : Judicial Reform. Institutionalizing Change in the Americas, in: Buscaglia/Ratliff/Cooter (n. 3), pp. 313, here: p. 314. 7

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partly beyond Indonesians' control, with effects flowing indirectly from the reform efforts described in 1.-4. 1. Judicial Reforms : The independent judiciary projected for Indonesia is dangerous, unless it is made more transparent and accountable through an effective judicial commission, etc. A German-style Constitutional Court is also needed, but perhaps only after the Constitution is amended and thus capable of withstanding a searching scrutiny. 2. Reforms in administrative law and agencies: Indonesia has little law that applies beyond a specific agency or a specific regulatory task. Such a transparent and general public law - see the second and fourth precepts, supra - should be developed so as to promote efficiency and an accountability to the public, along with a deregulation and a selective re-regulation. The agency structure of the Indonesian bureaucracy should be modernized, to account for Government's new, democratic roles. This massive task should not be undertaken in the absence of sustained commitment from the new Government. 3. Corruption flourishes in the absence of judicial and administrative transparency and accountability. Reforms in 1. and 2. will thus reduce corruption: e.g., bribery is sometimes "efficient" - a cost-effective way to defeat regulations and judicial procedures so inefficient that they should be eliminated or replaced. But more is needed. While a good beginning has been made, there is much more to be done in legal terms. 4. Sector-by-sector reforms:

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a) Barriers to entry into Indonesian markets , many of which are still fragile, thin or fragmented during the transition from a command economy, are best reduced, and markets strengthened and made more dynamic in the process, through a restrained implementation of the new Competition Law by the Commission. Especially important is the removal of regulatory barriers, such as those granting special privileges to cooperatives (infra) and other middlemen. Barriers to exit from markets can be reduced through an effective bankruptcy law (supra), and a useful Corporate Reorganization Draft Law is being prepared. b) To strengthen markets and increase efficiency, redesign archaic contracts and property laws, and remove administrative law restraints on using these private laws: see 2. and the third precept, supra. Actors could then engage in private law reform by customizing their transactions and creating market surrogates (supra).

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See n. 3.

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c) Indonesia's Companies Law is cumbersome, unrealistic (full of legal fictions, for example), and otherwise inefficient. Models from other countries suggest likely "corporate governance" reforms: increased duties of disclosure, to provide the information that promotes transparency, accountability, and sensible regulation; "international standard" auditing requirements, as essential to this disclosure; expanded fiduciary duties, owed by company managers to creditors, shareholders, employees, and perhaps consumers and citizens injured by pollution; the locus standii needed to enforce these fiduciary duties in a court; and a shrinking of that which shields a company from responsibility for, e.g., inefficiency - the "business judgement rule" that goes by various names. These reforms would lead to a more transparent and dynamic Stock Exchange, but separate reforms of the securities laws should also be considered. Increased regulatory burdens would admittedly result, but almost all existing regulations could be replaced during administrative reforms (2., supra) - in a net deregulation. d) Intermediaries are the enterprises that are particularly underdeveloped in countries like Indonesia: banks, less formal and smaller-scale lenders like credit unions, insurance companies, equity brokers on the Stock and Commodities Exchanges, and even coops and the creative use of contracts (supra) that is currently truncated in Indonesia: see precept three - over-determination. Details on reforms cannot even be summarized here, but they revolve around the relatively new economics of risk management, parallel reforms in administrative law (2., supra), and a more effective secured transactions law. e) State-owned enterprises (SOEs) should be privatized where this will contribute to both Government revenues and an increased competition. Other SOEs should be effectively reorganized, and many could be run under performancebased contracts by managers from the private sector. These SOEs should cease being the prime beneficiaries of Governmental regulations (II, supra). f) A formalization and deregulation of informal proprietorships (informal businesses of larger than cottage size) is probably the quickest Crisis 'fix', the easiest enhancement of an economic pluralism, a major control over corruption because it eliminates many bribe-opportunities (2. & 3., supra), and a partial response to the demands of Indonesian populists. But populist policies of State allocation of funds for proprietorships would increase the inefficiency of markets and proprietorships alike. A better and cheaper regulation of the less formal end of the intermediaries sub-sector (4.d), supra) is a better solution. g) Cooperatives have important potential roles to play in a pluralistic economy, roles which are impossible so long as coops are corrupted to serve elite purposes. In Brietzke/Timberg (n. 1), I detail limited state roles and a legal accountability to coop members, rather than the special privileges and subsidies that create inefficiencies without benefiting coop members in the long run.

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h) Adat (customary) institutions in the subsistence sector, all but ignored by State law and by banks, have important roles to play in development. Legal reforms must obviously be sensitive to local needs and cultures. An individualization of adat land tenures and institutions, sponsored by the World Bank, could be complemented by legal adoption (and some adaptation) of communal tenures and institutions. This process, and a non-regulatory Government assis(n. 1). tance, are sketched in Brietzke/Timberg i) The restrained but effective implementation of the new Consumer Protection and Competition Laws would increase consumer welfare, a popular way of gaining votes in a democracy. Effective implementation of existing environmental laws would reduce the involuntary consumption of pollution that injures all Indonesians. Labor law reforms should set the criteria for recognition of trade unions, criteria which impose responsibilities as well as rights, to increase the stability of business expectations and to foster unions as valued members of the new civil society {infra). 5. International efforts to regulate multinational corporations (MNCs) have made little progress, and Indonesian efforts to "tame" them would only reduce the inflow of capital and technology while the MNCs keep their secrets and produce relatively more in other, less restrictive countries. Similarly, there is little progress in international-level exchanges of information about, and a modest regulation of, competition and the debt and equity transfers that can jump in and out of Indonesia at the click of a computer mouse. The best Indonesians can do is effectively to implement reforms like those in 1 .-4., to convince foreigners that a more transparent and congenial economic climate is worth supporting. But the new Government does have important roles to play in trade promotion and finance. While a start has been made, the relevant (WTO, etc.) reforms must be implemented effectively. Even if a conscious legal neutrality is pursued {supra), there will be failures in economic institutions (first precept, supra) that Government can and should do little to fix. The protectionism of the past has failed and, in a democracy, economic actors are autonomous: they have a right to fail as well as to succeed, free of elite interference and a State paternalism.

IV. Some Political Considerations Ideally, movement toward an Indonesian democracy will be used to build a consensus around further developmental reforms, and especially around the implementation of reforms in the face of opposition from vested interests. The new Government has an historic opportunity to legitimate its policies, in ways denied its less democratic predecessors, but an explosion of pent-up party and citizen demands will likely make it difficult to adhere to a consistent reform plan (supra).

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Article 2 of Indonesia's 1999 Competition Law requires that business activities be "based on economic democracy ..." What does this mean, when a political democracy is still evolving, and when the larger private and public institutions will likely remain rigidly hierarchical: "do what I tell you", or face an unpleasant like getting fired. (The "Motherhood" clause b in the Preamble to this Law defines economic democracy as "equal opportunity for every citizen to participate ... in a fair, effective and efficient business environment ...") Further, how does this goal relate to, and get balanced against, the other goals listed in Articles 2-3, the jurisprudence of this Law: efficiency, "equilibrium" between business and public interests, equality of opportunity among businesses of various scales, and the "people's [consumers' and laborers'?] welfare?" I argue that the reform plan, supra , offers a useful synthesis of these worthy but partly-contradictory goals. Perhaps the most distinctive feature of democracy is the demands citizens make, for the recognition of rights known to be irrelevant in pre-democratic states. Free speech, press, association, and participation are rights near and dear. But economists expect citizens to also demand the property rights that are stipulated imperfectly in existing Indonesian laws, and not at all in the 1945 Constitution or the international human rights covenants which Indonesia has ratified. Will this be a broadly Indonesian concern, since property rights provoke intense interest and disputes in other democracies? In other democracies, many citizens demand very broad property rights in theory - "that's my ricefield (or ancestral forest)" - only to reject outright the unequal distribution of wealth and power that necessarily flows from implementing these strong rights in practice. (The fondness of the wealthy for strong property rights is easy to understand, but the poor support them as well - to keep and develop what little they have, in hopes of getting more through hard work.) This intransitive preference, as economists might describe it, endangers political stability since, among other things, Government cannot afford or effectively implement the "welfare" programs needed to protect those with little or no property. The only apparent escape from this (the economist Kenneth Arrow's) dilemma is democratically to implement community standards which limit property rights: to pollute, for example. These limited but more democratic rights in turn serve to limit governmental power - "Government can't do that to my property" - and to legitimate the power these rights limit. Such a process involves a delicate balance: a government which takes too many rights away through over-regulation - becomes undemocratic and reduces incentives to invest and produce, while a government with too few property rights retained cannot regulate sensibly or engage in the limited redistributions characteristic of a social democracy.

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In a rather jurisprudential way, this analysis serves as a Weberian "ideal type" of policymaking in Indonesia, one which extends beyond property rights. But in the real world, vote-maximizing democracies tend to please the majority by taking privileges away from the minority. While this might result in an equalization of the legal terms of trade in Indonesia (an increased economic pluralism, supra), public inattention and its lack of full understanding of the issues enable elites to manipulate the policy dialogue in self-serving ways: see the second precept, supra. This places a great deal of pressure on underdeveloped media and civil society organizations, to shape the public debate effectively. Papers delivered at a Tokyo Conference blamed the Asian crisis in large measure on the absence of civil society organizations, involved in development processes as a check-and-balance running from society to government and the economy.9 The hope is that strong and independent civil society organizations will obtain information about, support, and closely monitor the pockets of reform that always exist in a system subject to many political distractions. 10 For example, pornography is a legitimate social concern in Indonesia. But opponents of reform should not be allowed to use it to curb a free political discussion in the media; that would be the pornography of power. An NGO (non-governmental organization)-led "democracy from below" would help make the economy work for ordinary people, by mobilizing the previously unorganized or unorganizable, through institutions that are accountable to them, rather than to some elite politician. Even in a highly-regulated place like Hong Kong, consumer organizations play important roles in promoting competition and trade liberalization. 11 A final and distinctively legal value that deserves a strong political constituency in Indonesia is the rule of law that is tied to an independent and competent judiciary and Parliament. As the second of six demands on a huge banner, hung on Jakarta's landmark Welcoming Statue by the Student Forum in June 1999, put it: "Respect the Supremacy of Law" ("Tegakkan Supremasi Hukum"). 12 This rule of law would displace socio-economic hierarchies and a Dutch model of Guided Democracy, in the mediation of rights and reforms. 13 Fitzpatrick says 9 Emil Salim: Empowering Civil Society in Asian Countries, in: Jakarta Post, July 6, 1999, 4. 10 Thomas Car others: The rule of Law Revival, Foreign Affairs 95 (Mar./Apr.), 1998, 77 (2), here: 105; Amartya Sen: The History and Roles of Democracy, in: Jakarta Post, Mar. 11, 1999, 5; Tom Ulen: Law's Contribution to Economic Growth, in: Buscaglia/Ratliff/Cooter (n. 3), pp. 59, here: p. 102. 11 World Bank: Competition Policy in a Global Economy (summary of a Mar. 1997 New Delhi Conference), 1998, 9. 12 "Go With Reform Missions", in: Jakarta Post, June 6, 1999, 1 (photo). 13 See Carothers (n. 10), 95-97; Gary Goodpaster: The Rule of Law, Economic Development and Indonesia, in: Lindsey (ed.), Indonesian Law (n. 7), pp. 21, here: p. 22;

15 Schünemann u. a.

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that Indonesians love syncretic compromises. 14 We hope that the compromises over economic reforms (Weberian exercises; see the property rights discussion, supra) can be structured into a consistent plan, to give Indonesians the laws they have long deserved.

Lindsey (n. 7), p. 8; Todung Mulya Lubis : The Rechtsstaat and Human Rights, 1999, in: Lindsey (ed.), Indonesian Law (n. 7), pp. 171, here: p. 171. 14 Daniel Fitzpatrick : Beyond Dualism. Land Acquisition and Law in Indonesia, in: Lindsey (ed.), Indonesian Law (n. 7), pp. 74 pp., here: p. 75.

Structure of Legal Education Reform in the Developing World: A Case Study from Indonesia 1993-2000 By Cliff F. Thompson

I. Introduction In population, Indonesia is the fourth largest country on the globe, and first among Islamic nations. From 1993 to 2000, the Government of Indonesia and USAID sponsored the ELIPS Project in law reform, one component of which was legal education. In 2000, this is a "bridge" program by the same sponsors which may lead to another large project to begin in 2001. Worldwide, there is no known legal education development project with the scale of the ELIPS Project. The ambition and complexity of the changes exceed experience elsewhere, and may be of interest to others. No public account of this education project has appeared in the United States or Europe. I feel it is particularly appropriate for the report to be published in honor of "Heinz" Scholler, whose many contributions to the law include assistance with legal education reform. Indeed, since our collaboration dates back 30 years, when we worked closely together in Ethiopia, whatever ideas I could pass to Indonesians are part of the sum of experience I shared with him and a small number of other colleagues. It should also be noted that although the ELIPS Project emphasized economic law, the Indonesian faculty members and lawyers who advanced their skills quickly moved into additional fields, most notably into advocacy for human rights. The Asian financial crisis beginning in the third quarter of 1997, reinforced by the fall of President Soeharto in May 1998, stirred an increase in the national recognition of the need for law reform. The forces previously opposed to basic change in the legal system had been perhaps less of a burden on Legal Education development than on the other components of ELIPS - new economic laws, legal information systems, and government procurement contracts.

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Although an old guard of professors and professionals will always have some who resist alterations in their system and a rapid advance of their juniors, the overall response to ELIPS's legal education efforts was enthusiastic. Teachers were thirsty for knowledge of new fields of global economic law, and had no doubts about the need of rule by laws in a democratic society. Since Independence, the government's periodic enlightenment in economic policy had not been matched by real reform in the legal system. The law schools, however, remained islands of hope. There are 26 public law schools, seven of which are called the "leading" schools, in part because they offer Masters and Doctoral programs in addition to the basic law degree (SH). Similar to all countries except the USA and Canada, the first law degree in Indonesian universities is at the undergraduate level. The other 19 schools range from quite strong to weak in resources. Additionally, there are some 175 private law schools, many of merit, although nearly all draw heavily on the part-time teaching by faculty from the public schools. The most intense period for ELIPS's Legal Education (LE) development was from 1993, when it actually began, until 1998, although important publication projects have continued to present. Throughout this period, the primary contractor for ELIPS was Checchi & Co. in Washington, D.C. This short summary will continue with sections on Need; Methods of Implementation ; Overall Results ; Selected Themes ; and Conclusion .

II. Need The fundamental need for the LE component was to help insure that law reforms would have the human resources to maintain and advance them. Otherwise, it would be like having an architectural plan for a building without sufficient people to build it. One of ELIPS's strengths was the recognition of this need, since around the world there have been many law reform projects which wrongly took it for granted that adequately educated actors were available. An authoritative estimate in 1993 was that the Law Faculty of the University of Indonesia (FH-UI) had only 10 faculty who could be considered relatively knowledgeable in economic law, even if broadly defined, and that the other "leading" law schools would, on the average, have fewer than five such experts. The situation in the remaining 19 public law schools was even weaker. Yet it was this small group which had overwhelming obligations to 1) change the course of education for the new generation of students while also providing short-term training; 2) draft new laws; 3) and, increasingly, since the rise of democratic government, occupy positions of significant authority.

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I I I . Method of Implementation Throughout, planning and programs originated in the established public law schools. To the extent possible, therefore, "institutionalization and