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German Pages 292 [304] Year 1955
B U C H R E I H E D E R AN GLIA Z E I T S C H R I F T FÜR E N G L I S C H E P H I L O L O G I E 6. B A N D GERHARD MÜLLER-SCHWEFE DAS PERSÖNLICHE M E N S C H E N B I L D MATTHEW ARNOLDS IN DER D I C H T E R I S C H E N GESTALTUNG
Das persönliche Menschenbild Matthew Arnolds in der dichterischen Gestaltung VON
GERHARD
MÜLLER-SCHWEFE
MAX NIEMEYER VERLAG / TÜBINGEN
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Alle Rechte vorbehalten © by Max Niemeyer Verlag Tübingen 1955 Printed in Germany Druck W. Büxenstein GmbH., Berlin SW 61
IN MEMORIAM
ARTHUR LANCELOT SOAMES
INHALTSOBERSICHT
TEIL I:
D I E D I C H T U N G ALS G R U N D L A G E
7
1. Die Doppelseitigkeit des bisherigen Arnold-Bildes: Kritiker oder Dichter 2. Arnolds dichterisches Hauptanliegen: der Mensch 3. Grundlagen und Ziel einer neuen Interpretation der Dichtung TEIL II: 1. 2. 3. 4.
DIE SPRACHLICHE BEWÄLTIGUNG NISSES VON WELT UND MENSCH
TEIL IV: 1. 2. 3. 4. TEIL V: 1. 2. 3. 4. 5.
ERLEB-
Das Bemühen um das rechte Wort Die Sprache als Spiegel der negativen Weltschau Sprachliche Mittel zur Darstellung des Menschen Sprachliche Wandlungen in der Aussage vom Selbst
TEIL III: 1. 2. 3. 4. 5.
DES
7 15 17
23 24 50 54 63
D I E „WAHL D E R G E G E N S T Ä N D E "
81
Historische Gestalten Gestalten aus der Mythologie Gestalten aus dem persönlichen Erlebnisbereich Menschendeuter und Menschenführer Das Ich als Subjekt und Objekt der Dichtung
82 95 104 135 143
WESEN UND SITUATION DES NOLDS DICHTUNG
MENSCHEN
IN
AR-
Mensch und Natur Der bedrohte Mensch Der Mensch in der Gemeinschaft Der Mensch im Widerspruch mit sich selbst SELBSTERLEBNIS
UND STRUKTUR DER DICHTUNG
Wirklichkeitssdiichten in Arnolds Dichtung Bildgedichte in ihrem Verhältnis zur Vorlage Wesen und Funktion der Vergleiche Die Diskontinuität der Bilder und ihre Bedeutung Symbolische Landschaft und Selbsterlebnis
151 152 165 168 183 193 194 211 222 232 240
SCHLUSS: ARNOLDS STELLUNG IM GEISTIGEN GEFÜGE SEINER ZEIT
261
A N H A N G : NACHWEIS DER 5£LF-KOMPOSITA BEI CLOUGH . .
273
S C H R I F T T U M S V E R Z E I C H N I S mit Arnold-Bibliographie f ü r 1946 - 53
274
REGISTER
285
VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN
Abb. 1 : gegenüber S. 214 Tafel No. VII aus George Cruikshank: The Bottle, in eight plates (London, 1847). Der von Cruikshank beigefügte Text unter der Tafel lautet: "The husband, in a state of furious drunkenness, kills his wife with the instrument of all their misery." Abb. 2: gegenüber S. 216 Bildnis des First Earl of Arundel und eines seiner Enkel, gemalt von A. Van Dyck. Verbleib des Bildes unbekannt. Reproduktion aus L. Cust: Sir Anthony Van Dyck (Catalogue of Van Dyck's Paintings) (London, 1910). Abb. 3: gegenüber S. 217 Arnolds Vatican Cupid: Torso des Eros von Centocelle, sogenannter Genio del Vaticano, im Vatikanischen Museum (Galleria delle Statue). Nach W. Amelung: Die Skulpturen des Vatikanischen Museums, Bd. I I : Tafeln (Berlin, 1908), Tafeln 45. Abb. 4: gegenüber S. 218 Reproduktion des Stiches Henri Heine, von Ch. Gleyre: aus: Revue des Mondes, XIV (1852), gegenüber Seite 5.
Deux
Abb. 5: gegenüber S. 258 J. R. Cozens: Fluelen. Lake of Lucern (1776). Reproduktion nadi R. Spindler: Die Alpen in der englischen Literatur und Kunst (Beitr. zur Engl. Philologie XXI, Leipzig 1932), p. 9.
I. Teil VERSCHIEDENE WEGE ZU ARNOLDS DICHTUNG 1. Die Doppelseitigkeit
des bisherigen
Arnoldbildes:
Kritiker oder
Dichter
Die Belebung des Interesses an der Kultur und den geistigen Problemen des Victorianismus und die damit einhergehende Neuwertung dieser Epoche hält seit nunmehr zwanzig Jahren an. Sie hatte schon bis 1948 zu einer solchen Anhäufung neuen Materials für die Zeit zwischen 1830 und 1880 geführt, daß damals K. B. S m e l l i e voll Stolz feststellen konnte: We probably know more intimately than we know of any other period what the Victorians themselves were thinking, and at the same time we know more about what was actually happening at the time they were thinking than we know of any other period1). Inzwischen ist die Flut der Forschungsergebnisse weiter angewachsen und hat zugleich im Engländer von heute das Bewußtsein der inneren Verwandtschaft mit der victorianischen Epoche verstärkt. Neben der rein historischen, soziologischen und geistesgeschichtlichen hat auch die literarhistorische Forschung beträchtlichen Anteil an der Vermittlung neuer Einblicke in Leben und Geist der Victorianer. Doch wenn man den engeren Bereich der Literatur überschaut, muß eines ins Auge fallen: Das Interesse hat sich bisher in einem erstaunlich hohen Maße auf die biographische — und damit vielfach verbunden die psychologische und soziologische — Aufhellung der großen und kleinen literarisch bemerkenswerten Persönlichkeiten beschränkt, unter Vernachlässigung des dichtungsgeschichtlichen und des dichtungswissenschaftlichen Bereichs2). Zweifellos hat das eine ganz natürliche Ursache: Durch die Öffnung vieler bisher verschlossen gebliebener Familienarchive und privaten Sammlungen ist die Möglichkeit gegeben, *) Ideas and Beliefs of the Victorians — an historic revaluation of the Victorian Age (1949) p. 433 — Verlagsorte in allen Literaturhinweisen, sofern nicht besonders angegeben, London. 2 ) Ein Blick auf eine beliebige Bibliographie der literarischen Publikationen aus diesen Jahren demonstriert diese Einseitigkeit: vergl. z. B. The Year's Work in Literature, 1949 (ed. John Lehmann, 1950). 7
biographische Lücken zu schließen und die Korrektur falscher Eindrücke vorzunehmen. Uber diesen biographischen und literarhistorischen Bemühungen, in die der sozialgesdiichtliche Aspekt häufig stark hineingezogen wird, wird aber, so scheint es, das eigentlich dichtungswissenschaftliche Anliegen unerlaubt stark zurückgestellt3). Die Dichtung der Victorianer wird vielfach nicht als Dichtung ernst genommen, sondern nur als willkommenes Mittel zur Erhellung der Persönlichkeiten und der Zeitverhältnisse ausgewertet 4 ). Solche Vernachlässigung der Dichtung läßt sidi zwar damit entschuldigen, daß — gemessen an den großen Vorbildern aus anderen Epochen — die dichterische Leistung der Victorianer allgemein als „zweitrangig" eingeschätzt wird. Es erhebt sich jedoch die Frage, ob damit nidit der Deutung eines Phänomens, welches neue Einsichten in das Werden und Sein von Dichtung und zugleich in das geistige Gefüge einer Epoche vermittelt, ausgewichen wird. Unter dem Verdikt der Zweitrangigkeit als Dichter hat auch Matthew Arnold in der Dichtungsgesdiichte stets gestanden. Dieses Urteil wurde begünstigt durch die Beobachtung, welch tiefgreifende Wirkung nicht der D i c h t e r Arnold, sondern der K r i t i k e r gehabt hat. So steht im Ganzen seine Wirkung, Nachwirkung und Einschätzung im Zeichen eines Zwiespaltes: Zu seinen Lebzeiten ist — wenn man von geringen Schwankungen und persönlichen Sonderheiten absehen will — Arnold in erster Linie als Kulturund Religionskritiker beachtet worden. Seine Belehnung mit dem Lehrstuhl für Dichtung an der Universität Oxford im Jahre 1857 ist noch kein Zeichen dafür, daß die Wirkung seiner Dichtung sehr weit gedrungen wäre. Der Einfluß des Kritikers beginnt sich entscheidend zu verstärken, als sich seit 1864 die Spalten der National Review, des Cornhill Magazine, sowie der Magazine von Fräser und Macmillan seinen kritischen Aufsätzen öffnen. H. W. G a r r o d faßt die Einschätzung, die Arnold bei seinen Zeitgenossen fand, in den Worten zusammen: At the time of which I speak he passed, I think without much question, for the first of English critics, our first man of letters. But the power of his poetry was much less widely felt. Common opinion, at least while he lived, hardly brought him into the rank of the 3) Ein Musterbeispiel (1950).
f ü r diese Richtung
ist
Jack L i n d s a y :
Charles
Dickens
4) Dieser V o r w u r f trifft auch d i e unter dem vielversprechenden Titel The Reinterpretation of Victorian Literature von J o s e p h E. Baker herausgegebene Sammlung von A u f s ä t z e n (Princeton U . P. 1950), welche die Dichtung im engeren Sinne völlig unberücksichtigt läßt.
8
great
poets.
The student
of poetry
ingly — the third place among below both Tennyson
and
conceded
to him — perhaps
the poets of his age, putting
him
grudgdecisively
Browning5).
Allerdings hatte Arnold eine Zeitlang großen Anhang unter der jungen Generation der Gebildeten. Der Grund dafür lag weniger in der hohen Meinung von seinem poetischen Talent, sondern, wie C. E.
Montague
aus eigenem Erleben einleuchtend erklärt, darin, daß Arnold sie die delicate fascination
of doubt,
the tremours
of spiritual
trouble
gelehrt und ihnen
das Faszinierende an dem geistigen Verfallsprozeß der Zeit gezeigt habe 6 ). Solche Wirkung der Arnold'sdien Dichtung schwand zwar mit dem Wandel der geistigen Strömungen gegen die Jahrhundertwende hin mehr und mehr, und für Arnolds Gedichtbände scheint nicht wirksam geworden zu sein, was er selbst einst über den Verkauf guter Bücher an Gladstone schrieb: author
has to create, as Wordsworth
enjoyed7).
said, the taste by which
Their
he is to be
Aber die Dichtung ist von dort an doch mit dem Odium be-
haftet geblieben, daß sie als überall durchklingende Töne Zweifel, Melandiolie und Pessimismus anschlage.
U m 1900 ist Arnold als Dichter-
persönlidikeit fast vergessen. Doch der Kultur- und Religionskritiker steht hoch im Range: There it must grow,
is to-day a cult of Matthew
Arnold;
it is
growing;
stellt W . H . D a w s o n 1 9 0 4 8 ) fest. J e mehr sich die geistige
5 ) H. W. Garrod: The Poetry of Matthew Arnold, I, in: Poetry and the Criticism of Life (Harvard U. P. 1931) p. 26; vergl. auch C. E. Montague: Last Essays III, in: London Mercury 19 (1929) pp. 278—284; abgedruckt in A Writer's Notes on His Trade (1930), seit 1949 als Pelican A 219, pp. 116—126. — Eine Untersuchung über Arnold im Urteil seiner Zeit, zu der reiches Material vorliegt, könnte zeigen, daß sich die Beschäftigung der geistig interessierten Kreise mit ihm in zwei .verschiedenen Bereichen abspielt: für die einen bedeutet er eine Art Nothelfer, der in seinen vornehmlich religiös orientierten Schriften die Befreiung aus inneren Zweifeln (spiritual deliverance) bringt — wie er es sich zum Ziel gesetzt hatte. Andere sehen in ihm den Kritiker des sozialen Gefüges der englischen Gesellschaft, dem man es dann schuldig ist, auch seiner Dichtung einige Beachtung zu schenken. — Eine Monographie über Criticisms of Arnold's Poetry as Touchstones of Nineteenth-Century Literary Taste wurde von E. Hertzberg angekündigt (Research in Progress 1949, P. M. L. A. L X I V (1949) p. 154, No. 2158. 6 ) C.E.Montague: A Writer's Notes (Pelican) p. 119—Ob aus diesem Grunde die Studenten von California University in den letzten zwanzig Jahren gleichbleibend Arnolds Dover Beach als ihr most favorite poem angegeben haben? 7 ) Brief an Gladstone vom 3. 4. 1882 (Brit. Mus. Add. MSS. 44 475, f. 5; inkorrekt abgedruckt bei J . Morley: The Life of William Ewart Gladstone (3 vols. London 1903) vol. I I . p. 541). 8 ) W. H. Dawson: Matthew Arnold and his relation to the thought of our time (New York—London 1904) p. III.
9
Konstellation veränderte, desto mehr wurde das Urteil über Arnold als Gesamterscheinung im geistigen Felde des mittleren Victorianismus konventionell. Wie sehr Arnolds
Anliegen nicht nur in Vergessenheit geraten,
sondern auch unerfüllt geblieben sind, bezeugt T. S. E 1 i o t im Jahre 1 9 2 0 : If
he
were
perform
our
again9).
exact
contemporary,
he would, find
all his labour
Erst mit dem Beginn der dreißiger Jahre dieses
to
Jahr-
hunderts scheint man sich wieder um ein neues Verständnis dieses Propheten einer
Kulturerneuerung
zu bemühen.
1930
wird von T. S. Eliot
eine
„Wiederbelebung des Interesses an Arnold in unserer Zeit" festgestellt 10 ). Eliots eigenes Urteil über den Kritiker fällt allerdings mit dem allgemeinen Urteil nicht ganz zusammen: Der Mangel an Schärfe in den Definitionen und
die
Unfähigkeit
zu
zusammenhängenden
logischen
Auseinander-
setzungen bedingen, so meint Eliot, daß man Arnolds Schriften mit Ausnahme von Culture
and
Anarchy
und Friendship's
noch ganz lesen könne. We go to him for refreshment of a kindred
Garland
and for
point of view of our own, but not as disciplesn).
kaum
companionship Fast gleich-
9 )T. S.Eliot: The Sacred Wood. Essays on Poetry and Criticism (1920) 4th edition (1934), p. X I . Nicht aus Zufall registriert gerade T . S. Eliot das Zeiturteil über Matthew Arnold mit besonderer Aufmerksamkeit. Denn ihn verbinden — trotz aller zum Teil scharfen Kritik — enge Fäden mit Arnold. Ein Vergleich zwischen Arnold und Eliot — dessen ins einzelne gehende Durchführung einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben muß — kann auf folgenden Grundlinien aufbauen: Arnold und Eliot sind beide Dichter und Kritiker zugleich, in einer Zeit kultureller und sozialer Krisen. Für beide hat die Dichtung eine (aus der puritanischen Tradition ableitbare) Erziehungsfunktion. Sowohl Arnold als auch Eliot können als Exponenten der über die Cambridger Platonisten und Milton bis in die Gegenwart fortgesetzten Tradition des christlichen Humanismus in England verstanden werden (siehe dazu neuerdings: Paul Meissner: England im Zeitalter von Humanismus, Renaissance und Reformation (Heidelberg 1952) p. 229. Mit der Anwendung des Epithetons christlich auf Arnold wird man allerdings vorsichtig sein müssen.) — Schließlich empfingen Arnold wie Eliot in Frankreich Einflüsse, die ihr geistiges Profil wesentlich bestimmten. — Freilich wird man auch eine Reihe von tiefgreifenden Gegensätzen zwischen Arnold und Eliot aufzuzeigen haben, sobald man die Einzelheiten des dichterischen und kritischen "Werkes vergleicht. (Vgl. T. Arakawa: T. S. Eliot's Interpretation of Arnold and Pater, in: Studies in Engl. Lit. (Imperial Univ. of Tokyo) X I I I (1933), pp. 161—181; M. L. S. Loringr T.S.Eliot on Matthew Arnold, in: Sewanee Review X L I I I (1935) pp. 479—488; Jan Gregor: The Critic and the Age: Some Observations on the Social Criticism of Matthew Arnold and T . S . E l i o t , in: Dublin Review C C X X V I I (1953), pp. 394—404.) 10) A revival of interest in Arnold in our time. ,Arnold and Pater', in: The Eighteen-Eighties, ed. W. de La Mare (Cambridge 1930), abgedruckt in Selected Essays 3rd. ed. (1932), p. 394.
**) Loc. cit.
10
zeitig bestätigt H. W. G a r r o d , daß Arnolds kritische Schriften „aus der Mode gekommen" seien. Doch fügt er hinzu: I rejoice to see populär judgment steadily hardening to a preference for bis poetry12). In jüngster Zeit wird das Interesse an Arnold besonders lebendig: H a r o l d N i c o 1 s o n bezeichnet ihn 1946 als to the modern mind ... one of the most interesting of the Victorians13). Zwei Erklärungen für diese Modernität schlägt er vor: Einmal stellte Arnold ein Musterbeispiel für den Konflikt zwischen Charakter und Umwelt dar, der die Gegenwart besonders stark interessiere. Weiter habe Arnold zeit seines Lebens in der Terminologie des 19. Jahrhunderts Probleme aufzuzeigen versucht, die erst im 20. Jahrhundert akut oder allgemein sichtbar geworden seien. Nach diesem berufenen Urteil scheint also das Interesse an dem Dichter wieder durch psychologische und geistesgeschichtliche Interessen überlagert zu werden. — Dieser Wechsel spiegelt sich auch, wie zu zeigen sein wird, in der eigentlichen Arnoldforschung deutlich wieder. Grundzug in der Wirkungsgeschichte Arnolds ist also, daß Kritiker und Dichter ständig gegeneinander ausgespielt werden. Sie scheinen zwei völlig verschiedene Erscheinungsweisen der gleichen Persönlichkeit zu repräsentieren. Diese Verschiedenartigkeit liegt offenbar nicht nur in der Natur der Sache — weil Dichtung und Kulturkritik sich zwangsläufig sowohl verschiedener Ausdrucksmittel bedienen als auch sich an verschiedene Seiten des menschlichen Wesens wenden —. Aus den Ergebnissen der Forschung, die sich mit Matthew Arnold als Gesamtpersönlichkeit beschäftigt hat, muß man auch entnehmen, daß dieser Zwiespalt in der Wirkung auf einen Zwiespalt im W e s e n Arnolds zurückgeht: Offenbar wandelt sich der D i c h t e r im Verlaufe seiner Entwicklung zum K u l t u r k r i t i k e r . Beide Seiten des in dieser Wandlung zum Ausdruck kommenden Wesens stehen im Konflikt miteinander. Dieser Konflikt fordert geradezu zur psychologischen Analyse heraus, und er erscheint als Widerstreit zwischen Willen und Gefühl, zwischen moralischem Ernst und Auslieferung an die Leidenschaften, aktiver Gestaltung des Lebens und meditativ-kontemplativer )
12
Poetry and the Criticism of Life, p. 27.
) Harold Nicolson: Ort Re-reading Matthew Arnold (Giff Edmond Memorial Lecture, Read June 26th, 1946, in: Essays by Divers Hands, Transactions of the Royal Society of Literature, N. S. Vol. X X I V (1948), pp. 124—134), — vgl. auch John Holloway: Matthew Arnold and the Modern Dilemma (in: Essays in Criticism I (1951) pp. 1—16), der die Modernität von Arnolds Diditungstheorie herausarbeitet. 13
11
Erfassung des Seins 1 4 ). Der gleiche Zwiespalt kommt, so sieht es die Forschung, nicht nur in der Teilung des Schaffens in zwei mehr oder weniger deutlich gegeneinander abgrenzbare Perioden — eine dichterische und eine kritische — zum Ausdruck, sondern sei auch in der Dichtung selbst erkennbar. Gerade auf Arnold scheint die auf der Grundlage der Freud'schen Psychologie durchgeführte Einteilung in „Persönlichkeit" und „Charakter" anwendbar zu sein: der diesen beiden Stufen entsprechende Ausdruck in Dichtung und kritischen Schriften, wie er bei Arnold deutlich abgrenzbar zu sein scheint, könnte eine solche Wandlung von der Persönlichkeit zum Charakter zu erkennen geben. Solange sich Arnold dem Strom der Eindrücke, Gefühle und Erfahrungen überließ, konnte er Dichtung von hohem formalem Rang schaffen. Sobald aber bestimmte Impulse zugunsten eines regulativen sittlichen Prinzips unterdrückt wurden, schwand mehr und mehr die dichterische K r a f t , und der Schwerpunkt der Produktivität verlagerte sich auf die kritische Arbeit 1 5 ). Von anderen wird der Zwiespalt unter stilgeschichtlichen und geistesgeschichtlidien Blickpunkten als Gegensatz zwischen romantischer und klassischer Kunst- und Lebensauffassung zu erhellen versucht 16 ). So ist Arnold zum Gegenstand von Versuchen geworden, welche die Eigenart seiner P e r 1 4 ) Dazu besonders: Louis Bonnerot: Matthew Arnold. Poète. Essai de Biographie Psychologique (Paris 1947) und K . E . B r o w n : Matthew Arnold. A Study in Conflict (Toronto-Chicago 1948), der als Ziel seiner Untersuchung angibt, to illuminate Arnold's writings by tracing a lifelong conflict within his personality (p. V I I I ) . 15) Die hier angedeutete Auslegung des Zwiespalts in Arnold wird in Anwendung von Herbert Reads Form in Modern Poetry (1948) gegeben. Read bezieht sie in erster Linie auf Wordsworth. Daß die Wandlung von personality zu character für Arnold jedenfalls in dieser Form nicht feststellbar ist, wird im Folgenden deudich werden (s. auch insbesondere Teil I I I und V). In diesem Sinne war Arnold stets ein character. l f l ) Arnold selbst ist sich des Gegensatzes zwischen classicism und romanticism durchaus bewußt gewesen. Unter Bezugnahme auf die Kritik an seinem D r a m a Merope schreibt e r : It is singular what irritation the dispute between classicism and romanticism seems always to call forth (Brief an seine Mutter, 3. Jan. 1858, Letters I, p. 58). E r selbst äußert sich aber bezeichnenderweise nirgends zu diesem Streit. Unter classical versteht er — im Gegensatz zu provincial — eine geistige Stufe where alone the best and highest intellectual work can be said to begin. (Essays in Criticism (I), 1865, p. 60.) — Vgl. G. Saintsbury : Matthew Arnold (Edinburgh—London 1899), W . H . H u d s o n : Matthew Arnold, Studies in Interpretation (New Y o r k 1896), pp. 1 5 3 — 2 2 1 ; G. W . E. Russell: Matthew Arnold (Literary Lives Series, 1904); auch Bonnerot hat dieses Gegensatzpaar, wenn auch unter psychologischem Aspekt, zur Charakterisierung Arnolds verwendet. Siehe ferner: B. Ifor Evans: Matthew Arnold and the Later Nineteenth Century,
12
s ö n l i c h k e i t unter Auswertung biographischen Materials und durch psychologische Interpretation seines Werkes zu erklären trachten. Diese Bemühungen werden ergänzt durch eine Reihe von umfangreichen und tiefgründigen Arbeiten, die sich ganz auf das W e r k Arnolds beschränken, um daran eine g e i s t e s g e s c h i c h t l i c h e Einordnung vorzunehmen. Damit wird zugleidi die Frage nach den geistigen Einflüssen auf Arnolds Werke gestellt. Unter Berücksichtigung seiner Tätigkeit als „Ihrer Majestät Schulinspektor" wird das Werk dann als zeitgeschichtliches und kulturgeschichtliches Dokument verstanden 17 ). Solche Untersuchungen befassen sich mit dem D i c h t e r in Arnold meist nur beiläufig Trotz aller gründlichen und viele Einzelheiten aufhellenden Durchleuchtung von Arnolds Wesen und Werk unter den verschiedensten Perspektiven bleibt das Gesamtergebnis unbefriedigend. Dieses Gefühl, es sei in dem Bemühen um ein klärendes Verständnis des g a n z e n Arnold noch etwas versäumt worden, rührt vor allem anderen daher, daß das Verhältnis zwischen der Dichtung, der dichterischen Existenz und dem Menschen bei Arnold bisher allenfalls unter psychologischen Gesiditspunkten gesehen worden ist. Audi die Dichtung als Gesamtheit wurde bisher nur als ein Mittel zur Klärung anderer Bereiche untersucht. Wenn aber Arnolds Dichtung als solcher Gerechtigkeit widerfahren soll, muß sie gesehen werden unter dem Blickpunkt der ihr eigenen Seinsweise, indem ihrer Eigengesetzlichkeit und ihrer Eigenständigkeit Rechnung getragen wird. Sie wird dann zwangsläufig vom „Material" für biographische, geistesgeschichtlidie, soziologische oder psychologische Studien zum Ausgangspunkt und Endpunkt einer Untersuchung, die ihrer Eigenart als „ästhetisches" (d. h. auf Wirkung abgestelltes) Phänomen Rechnung trägt. Freilich wird als Einwand geltend gemacht werden, daß Arnold eben kein „großer Dichter" gewesen sei und deshalb das Interesse sich zwangsläufig auf seine kulturkritischen Schriften, auf seine Persönlichkeit und auf den für den Psychologen reizvollen Zwiein: Tradition and Romanticism. B. Yeats { N e w York—London Standpunkt aus hat neuerdings Romantik (Diss. Tübingen 1949)
Studies in EnglLsh Poetry from Chaucer to W. 1940). — Vom ästhetisdi-literargeschiditlidien W. P. Rothermel Matthew Arnolds Stellung zur untersucht.
17 ) Einige der wichtigsten Arbeiten sind: M.S.Steinmetz: Die ideengeschichtliche Bedeutung Matthew Arnolds (Diss. Tübingen 1932); C.Stanley: Matthew Arnold (Toronto 1938); L. Trilling: Matthew Arnold (London—New York 1939, 2. Aufl. 1949). — Die erzieherischen Gedanken und ihre Auswirkungen untersucht -zum erstenmal umfassend W. F. Connell: The Educational Thought and lnfluence of Matthew Arnold (1950).
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spalt im Menschen gerichtet habe. Demgegenüber ist die Frage in den Vordergrund zu stellen: Warum war Arnold kein großer Dichter? Im psychologischen Feld scheint die Antwort einfach zu sein: Arnold dichtete zu sehr in reflektierender Aussage über sich selbst. Doch betrifft eine solche Antwort nicht den Bereich der Dichtung. E. D. H. J o h n s o n 1 8 ) hat neuerdings den Versuch unternommen, den Grad der dichterischen Vollkommenheit, wie bei Tennyson und Browning, so auch bei Arnold aus der Spannung zu bestimmen, die zwischen dem künstlerischen Anliegen und den Konzessionen an den Zeitgeist im Dichter erwachsen sind. So verfolgt er in Arnolds Dichtung die verschiedenen Stufen des Konfliktes between the public conscience of the man of letters who comes forward as the accredited literary spokesman of his world, and the private conscience of the artist who conceives that his highest allegiance must be to his own aesthetic sensibilities19). Dieses Mißverhältnis zwischen den soziologischen Zeitverhältnissen und dem aesthetischen Bewußtsein, welches zu einer Entfremdung des Dichters gegenüber dem Zeitgeist führte, ist aber keineswegs allein für das dichterische Versagen Arnolds verantwortlich zu machen. Denn unter den bedeutenden victorianischen Dichtern trifft am allerwenigsten auf ihn zu, daß seine Gedichte auch nur annähernd angemessen gewürdigt werden könnten, wenn man sie als Demonstrationsbeispiele für eine ästhetische Theorie erläutert. In erster Linie aus der Funktion, welche die Dichtung für das innere Wachstum Arnolds hatte, lassen sich ihre Lebensbedingungen ableiten. Für diesen Werdeprozeß sind die bewußt vertretenen ästhetischen Anschauungen äußeres Anzeichen, aber weder das einzige noch auch nur das wichtigste. Entscheidend für den Grad der dichterischen Vollendung ist so das Verhältnis zwischen der Wirklichkeit im Dichter (Ich) und außerhalb von ihm (Welt und Mensch) und ihre dichterische Gestaltung als Wortkunstwerk. Im Hinblick auf solche Gestaltung der Wirklichkeit ist die Frage zu stellen, warum Arnold keine große Dichtung geschaffen habe. Das Ergebnis dieser Befragung trägt damit zugleich bei zur Klärung der alten, aber immer wieder neuen Frage, was Dichtung sei und unter welchen Lebensbedingungen sie wächst. Damit fällt der Schwerpunkt auf die Dichtung, nicht auf den Dichter. Doch wird man das Licht, das so auch den Dichter und den Menschen in neuer Weise erhellt, als willkommen hinnehmen, zumal es wieder tiefere Schichten der Dichtung beleuchtet. 18 The Alien Vision of Victorian Poetry. (Princeton Studies in English No. 34, 1952). 1 9 ) Loc. cit. p. IX—X.
14
2. Arnolds
dichterisches Hauptanliegen:
Der Mensch
Für Arnolds Dichtung muß allerdings eine Sonderlage zagestanden werden: Er selbst hat das oft wiederholte Wort geprägt: Poetry is a Criticism of Life. Damit ist — was immer sonst noch mit diesem Wort gemeint sein mag — ausgesprochen, daß Dichtung eine ethische Funktion hat (die nicht mit didaktischer oder moralischer Zweckbestimmung ohne weiteres gleichgesetzt werden darf). Das bedeutet aber, daß die Aufgabe der Dichtung in unmittelbarer Beziehung zum M e n s c h e n v e r s t ä n d n i s gesehen werden muß, welches in solcher Dichtung zum Ausdruck kommt. Wirklichkeit und Ideal im Menschenbild sind, wie Life und Criticism, einander zugeordnete Begriffspaare. Wirklichkeit und Ideal begegnen sich in lebendiger Spannung nirgends so sehr wie in der Dichtung. Zudem ist Dichtung Schauplatz der Begegnung zwischen Bewußtem und Unbewußtem, zwischen Gewolltem und Gemußtem: beide haben in gleicher Weise, wenn auch in verschieden starkem Ausmaß, Anteil an der m a t e r i a l e n wie der s t r u k t u r e l l e n Seite der Dichtung 20 ). Insbesondere aber ist von ihnen die Gestaltung des Menschenbildes bei einem Dichter, dessen zentrales Anliegen d a s e i g e n e I c h und d i e M a n i f e s t a t i o n d e s M e n s c h l i c h e n in der Welt ist, abhängig. Hier ist hundertfach die Beantwortung der Doppelfrage versucht worden: Was ist der Mensch — und was soll er werden? 21 ) So laufen alle Versuche, Matthew Arnold mit ideengeschichtlichen, genetischen oder biologisch-evolutionistischen Methoden, unter biographischen, sprachlichen oder gar statistischen Gesichtspunkten ergründen zu wollen, ins Leere, es sei denn, 20) Die Unterscheidung zwischen „materialer" und „struktureller" Seite der Dichtung geht zurück auf Reni Wellek and Austin W a r r e n : Theory of Literature (New Y o r k 1949) wo diese Aufteilung als brauchbar vorgeschlagen wird: This distinction is by no means a simple renaming of the old pair, content and form. It cuts right across the old boundary lines. 'Materials' include elements formerly considered part of the content, and parts formerly considered formal. 'Structure' is a concept including both content and form so far as they are organized for aesthetic purposes. The work of art is, then, considered as a whole system of signs, or structure of signs, serving a specific aesthetic purpose, (p. 141) Diese Aufgliederung drückt sich im methodischen Aufbau der vorliegenden Untersuchung deutlich aus: Teil II bis I V sind den verschiedenen Aspekten der materialen Seite gewidmet, während Teil V die strukturelle — als die wesentliche — Seite der Dichtung unter Verwertung der unter dem materialen Aspekt gewonnenen Ergebnisse behandelt. Damit wird zugleich eine bestimmte Interpretationsmethode auf das Gesamtwerk eines Dichters angewendet, die für besonders angemessen gehalten wird. 2 1 ) Diese Doppelfrage geht auch durch die Eintragungen in den als Grundakkord hindurch.
2
Müller-Schwefe
Note-Books
15
das Verhältnis zwischen dem Menschen als Dichter und seiner Diditung werde nicht nur als Problem der menschlichen Existenz, sondern auch mindestens ebenso sehr als dichtungswissenschaftliches Problem gesehen. Denn die Dichtung ist des Dichters Geschöpf. Aber dieses macht sich selbständig; ja, es ist oft mehr als sein Schöpfer und führt über diesen hinaus. Der Mensch selbst soll jedoch nicht als Tatsache verstanden werden, sondern zugleich als Forderung an sich selbst und an seine Mitmenschen, oder — mit O r t e g a y G a s s e t s Formulierung — nicht als Partizipium, sondern als Gerundivum. In diesem Sinne ist seine Dichtung immer — was sonst sie noch sein mag — das Kind der Sehnsucht nach dem Vollkommenen.22) So führt die Dichtung in besondere Bereiche des geistigen Daseins. Ihre Eigenart liegt aber noch tiefer in ihrem Wesen begründet: Längst gilt für die Dichtung, was den Erkenntnisbegriff der modernen Philosophie kennzeichnet, nämlich daß sie nicht Objekterkenntnis oder Seinserkenntnis vermittelt, sondern Daseinsdeutung ist. Während Soziologie, Psychologie und Anthropologie den Menschen als ein Objekt erscheinen lassen und dementsprechend ihre Methoden auf das Verhältnis zwischen Dichter und Dichtung anwenden, überschreitet Dichtung als solche die Grenze des „objektiv" Erkennbaren im Medium der Sprache. Daraus ergeben sich ganz besonders für das Werk eines Dichters, dessen Hauptgegenstand und Hauptziel der Mensch selber ist, in zwiefacher Hinsicht Folgerungen: Die Dichtung als geistiges Phänomen kann in ihren tiefsten Bereichen nicht nur als „statisches" Objekt der forschenden Erkenntnis verstanden werden, sie muß zugleich in ihrer Einbezogenheit in die Wirklichkeit als nie fertiges ständiges Geschehen erfahren werden. Dieser Wirklichkeit steht der Dichter selbst nicht gegenüber, sondern sie vollzieht sich an ihm und in ihm. Daher ist Diditung nicht nur „Zustand", sondern zugleich Prozeß und Vorgang solcher Wechselbeziehung zwischen Dichter und Wirklichkeit. Unter diesem Blickwinkel eröffnet sich für das Verständnis des Menschen als „Gegenstand" der Dichtung eine ganz neue Dimension. Daraus ergibt sich ferner, daß die S p r a c h e viel weniger an den Augenblick gebundene punktuelle Wirklichkeit wiedergibt, als das bisher von der Sprachwissenschaft, wenigstens in ihren Bemühungen um die Dichtung, berücksichtigt wurde. Die Sprache bewahrt einen geschichtlich gewachsenen Erkenntnisgehalt. Das bedeutet, daß der Dichter nicht nur als Schöpfer (Sprachschöpfer) anzusehen ist, sondern durch die schon vor ihm vorhan22
16
) Emil Brunner: Der Mensch im Widerspruch
(Berlin 1937) p. 172.
denen Sprachinhalte hineingezwungen wird in einen Erkenntnis- und Erfahrungsprozeß, welcher ihn in die Wirklichkeit als einen Vorgang, nidit als einen abgeschlossenen Zustand, hineinnimmt. Die nachfolgenden Interpretationen sind aus dem Versuch erwachsen, die Dichtung Matthew Arnolds auf diese Wechselbeziehung zwischen Dichter, Dichtung und Wirklichkeit hin zu befragen. Da Arnolds Dichtung vornehmlich vom Menschen handelt, wurde anfänglich die Frage nach Auffassung und Gestaltung des Menschen in der Dichtung gestellt. Dabei wurden die Prosaschriften als unentbehrlich in weitem Umfange mit herangezogen. Es sollte aber nicht eigentlich eine Untersuchung des Menschenbildes vorgenommen werden, sondern die d i c h t e r i s c h e V e r w i r k l i c h u n g d e r A u f f a s s u n g u n d E r f a h r u n g v o m M e n s c h e n im Mittelpunkt stehen. Bald wurde jedoch klar, daß damit noch nicht das eigentlich Problematische an der dichterischen Verwirklichung und ihren Grenzen bei Arnold aufgefunden war. Vielmehr drängte sich immer stärker die Erkenntnis auf, daß nicht nur für die Persönlichkeit Arnolds — wie das schon von anderer Seite geklärt worden war —, sondern in ganz besonderem Maße für seine Dichtung das Problem des Selbsterlebnisses und der Selbstverwirklichung entscheidend ist. Dazu kam, daß es sich als unmöglich erwies, die Dichtung als etwas Fertiges und Zuständliches aufzufassen. Erst durch den Versuch, sie in ihren ständigen Wechselbeziehungen zum Werdeprozeß des Menschen in ihrer gegenständlichen und strukturellen Seite aufzuhellen, ließen sich tiefere Einblicke gewinnen, die dem Verständnis des Verhältnisses zwischen Dichtung und Dichter als Menschen und damit dem Verständnis der Dichtung selbst zugute kamen. 3. Grundlagen und Ziel einer neuen Interpretation
der Dichtung
Es liegt im Wesen einer solchen, den Beziehungen zwischen Mensch und Werk nachspürenden Untersuchung, daß ihre Grundlagen so breit wie irgend möglich sein müssen. In dieser Hinsicht konnten die Voraussetzungen für Matthew Arnold weitgehend erfüllt werden. Das dichterische Werk liegt seit der Veröffentlichung von The Poetical Works of Matthew Arnold durch C. B. T i n k e r und A. F. L o w r y (O. U. P. 1950) in einer Ausgabe vor, die außer den beiden frühen Preisgedichten auch die acht von Arnold nach ihrer ersten Veröffentlichung zurückgezogenen Gedichte enthält. Leider entspricht allerdings die Ankündigung, diese Ausgabe enthalte Arnold's complete poetical works nicht den Tatsachen: Es fehlen nicht nur die fragmen2*
17
tarischen und unveröffentlichten Gedichte (wohl weil sie von den Herausgebern der Poetical
'Works bereits in ihrem Kommentar veröffentlicht wor-
den waren), sondern audi die Homerübersetzungen 2 2 a ). Nicht nur der Vollständigkeit halber hätte man auch gern gesehen, wenn das früheste bekannte Gedidit Arnolds in englischer Sprache, Lines Written hurst,
July
12, 1836,
on the Seashore
aufgenommen worden wäre
22b
at
Eagle-
). Gerade die ersten
Schritte auf dem Wege eines Dichters sind oft — im Zusammenhang des Ganzen betrachtet — aufschlußreich, ohne daß man in ihnen stets gleich die Ankündigung des Genies zu sehen brauchte. Das ein weiteres J a h r zurückliegende Gelegenheitsgedichtchen Natalis
Dies
Bonnensis23),
das der Drei-
zehnjährige zum dritten Wiegenfest seiner kleinen Sdiwester Fan als Lateinaufgabe schrieb, kann allenfalls biographisches Interesse beanspruchen und wird in den Poetical
Works
nicht vermißt. D a die wichtigsten Teile des Yale
Manuscript
und der Yale Papers,
geplanten
Gedichte und einige Gedichtentwürfe,
zu Lucretius
vor allem die Liste der für 1849urtd 1851 (?) ferner die
Fragmente
von Tinker und Lowry bereits veröffentlicht wurden 2 4 ), konnte
auf die Einsichtnahme der wenigen noch nicht veröffentlichten Notizen Arnolds 2 5 ), die sich in den Vereinigten Staaten von Amerika befinden, ohne Beeinträchtigung des Gesamtbildes von Arnold verzichtet werden. Audi für Einzelheiten einiger früher Gedichte sind aus den unveröffentlichten Notizen noch kaum wesentliche Aufschlüsse zu erwarten. Als Grundlagen für diese Untersuchung wurden alle diese poetischen Werke, Fragmente und Jugend22a) Zugänglich in 'Essays by Matthew Arnold' (Oxford University Press, 1925), das die drei Homervorlesungen Arnolds sowie F. W . Newmans Antwort
und Arnolds 'Last Words' enthält. 22b
) Zum erstenmal abgedruckt bei I . E . Seils: Matthew
Arnold
and
France
(Cambridge 1935), pp. 257 f. 23) Dieses unveröffentlichte Gedicht, erhalten in einer Abschrift copied by Mr. Hill (Arnolds Privatlehrer für Latein) for Mrs Arnold (Arnolds Mutter), befindet sich im Besitz von Miss Dorothy W a r d und wurde freundlichst zur Einsichtnahme zur Verfügung gestellt.
M
) Siehe C. B. Tinker and H. F. Lowry:
A Commentary
zitiert als 2S
The Poetry
of Matthew
Arnold.
(1940, 2nd impression 1950) pp. 8 — 1 7 et passim, im Folgenden
Commentary.
) Es handelt sich in erster Linie um meist unzusammenhängende Notizen im
Yale Manuscript
aus den Jahren 1847 bis 1852 (cf. Commentary,
p. 9 f.) und
um das große Notizbuch mit der Aufschrift „Mythologica", in dem Arnold einigen dreißig Seiten Notizen aus seiner Lektüre für das geplante Drama cretius zusammengetragen hat (cf. Commentary, p. 341). Der wichtigste Teil, darin enthaltenen Fragmente des Lucretius, wurden von Tinker und Lowry gedruckt ( C o m m e n t a r y , pp. 3 4 5 — 3 4 7 ) .
18
auf Ludie ab-
gedidite einbezogen. Der kritische Apparat von Tinker und Lowry gestattet es nunmehr auch, Textvarianten durch die verschiedenen Gedichtbände von 1849 bis 1888 hindurch zu verfolgen, dazu audi Abweichungen aus den Handschriften, soweit solche erhalten sind. Die Herausgeber der Poetical Works vermerken im Apparat zwar Veränderungen in der Schreibweise, verzichten aber auf die Angabe von Varianten in der Groß- und Kleinschreibung einzelner Wörter, die vielfach bei Arnold sehr bemerkenswert sind. Es mußten also, soweit das möglich war, durch Vergleich aus den Manuskripten oder den verschiedenen Ausgaben, welche Arnold selbst besorgte, die Unterschiede festgestellt werden. — Es versteht sich bei der Zielsetzung dieser Arbeit, daß die P r o s a s c h r i f t e n nicht außer acht gelassen werden durften. Für diese fehlt jedoch nicht nur eine kritische Ausgabe, sondern auch ein vollständiger Abdruck aller kritischen Werke, vor allem der politischen Kommentare der letzten drei Lebensjahre, die seit ihrer ersten Veröffentlichung in The National Review und in The Nineteenth Century nicht wieder abgedruckt wurden 26 ). Nicht allgemein zugänglich sind auch die Reports, die Arnold nach seinen Informationsreisen über das Schul- und Bildungswesen auf dem Kontinent sowie über das Elementarschulwesen in England dem Parlament erstattete 27 ). Sie sind insofern wichtig, als aus ihnen immer wieder zu entnehmen ist, daß Arnold seine „dienstliche" Tätigkeit stets in Verbindung mit seinem Hauptanliegen sieht und durchführt. Auch wenn er sich zu rein technischen und äußerlichen Fragen äußert, sieht er den Zusammenhang zum Allgemeinen und Grundsätzlichen. Hier liegt — für die Persönlichkeit Arnolds — Größe und Grenze zugleich. Angeregt durch die Studien von E. K. B r o w n wurde den verschiedenen Fassungen der Prosaschriften Aufmerksamkeit geschenkt28). Seit der soeben erfolgten Veröffentlichung der gesamten Note-Books29) ist auch die ganze Fülle der Arnold'schen 2e) Es handelt sich um The Nadir of Liberalism (Nineteenth Century, May 1886), The Zenith of Conservatism (loc. cit. Jan. 1887), From Easter to August (loc. cit. Sept. 1887) und Disestablishment in Wales (National Review, March 1888). — Wenig beachtet wurde auch Arnolds Beitrag Schools zu T . H . Ward's The Reign of Queen Victoria. A Survey of Fifty Years of Progress, Vol.11 (1887),pp. 2 3 8 — 2 7 9 , die Einleitung On Poetry zum 1. Bd. von The Hundred Greatest Men (1879) sowie die wichtige Preface zu Merope (1858), die Tinker und Lowry im Gedichtband, der Merope enthält, nicht mit abdrucken. 27
) Bibliographie siehe W . F. Connell, loc. cit. pp. 288 f.
) E . K . Brown, (Paris 1935). 28
Studies
in
the
Text
of
Matthew
Arnold's
Prose
Works
29) The Note-Books of Matthew Arnold, edited by H . F. Lowry, K. Young and W . H . Dunn (1952). Einsetzend mit dem Jahr 1852, enthalten die ersten Notiz-
19
Lesefriidite zugänglich. Sie gewähren einen umfassenden Einblick nicht nur in den weiten Bereidi des geistigen Interessengebietes, sondern auch vor allem in den Prozeß der ständigen Selbstkontrolle und sittlichen Weiterbildung. Die Note-Books sind, das darf nicht vergessen werden, keineswegs als Materialsammlungen für die Gedichte oder Essays gedacht. Was in sie aufgenommen wurde, drückt auch nicht immer Arnolds eigene Anschauung oder Zustimmung zu der im Zitat ausgesprochenen Meinung aus. Es handelt sidi vielmehr um Worte und Gedanken, die Arnold bei der Lektüre eines Buches als der besonderen Erwägung wert ausschrieb, weil sie zu einem ihn beschäftigenden Problem beitrugen oder ihn in ihrem sittlichen Grundton in seinem Bemühen um das Selbst direkt ansprachen. — Die beiden mitveröffentlichten sogenannten General Note-Books enthalten die sehr aufschlußreichen Listen der zu lesenden oder gelesenen Bücher und wichtige Anhalte für die Datierung vieler poetischer Pläne, auf Grund deren sich manches Gedicht nach Zeit der Entstehung und Vollendung festlegen läßt. Damit ist eine wichtige Grundlage für die Beobachtungen einer etwaigen Entwicklung bei Arnold gegeben. Die K o r r e s p o n d e n z Arnolds wurde ebenfalls möglichst vollständig gesichtet. Die bereits veröffentlichten Briefe 30 ) wurden vielfach, vor allem, soweit es sich um Familienbriefe handelt, mit den Handschriften verglichen, die sich im Besitz von Miss Dorothy Ward befinden. Damit konnten die aus persönlichen Rücksichten in den Ausgaben von R u s s e l l und W h i t r i d g e für notwendig erachteten Auslassungen, die oft für die Beurkalender nur wenige Eintragungen. Für 1853 und 1855 fehlen sie ganz. — Der praktische Zweck, den diese Kalender für Arnold erfüllen, geht aus dem veröffentlichten T e x t nicht hervor: Sie dienten Her Majesty's Inspector of Schools als Tagebuch zur Eintragung offizieller Verpflichtungen, enthalten Angaben über die Schülerzahlen vieler von ihm inspizierten Klassen, verzeichnen geographisches, historisdies und mathematisches Prüfungsmaterial für die Inspektionen und schließlich noch die genauen privaten Einnahmen und Ausgaben Arnolds. Vgl. Note-Books, p. X ) . — Nachträglich erweist sich, wie unzuverlässig die frühere, auszugsweise Veröffentlichung Matthew Arnold's Notebooks, with a Préfacé by the Hon. Mrs. Wodehouse ( 1 9 0 3 ) war. 3 0 ) Siehe die Bibliographie bei L. Bonnerot, Matthew Arnold, pp. 546 ff. Zu ergänzen sind: Smith, Goldwin: A Selection from Goldwin Smith's Correspondence, ed. A. Haultain (New Y o r k 1913) p. 102: Letter dated Jan. 13, 1886; Sainte-Beuve: Lettres inédites d'Arnold à Sainte-Beuve (aus den Jahren 1854 bis 1864), in: L. Bonnerot: Matthew Arnold, pp. 5 1 7 — 5 8 3 ; Mundella, A. J . and Miss: 10 Letters of Matthew Arnold to A. ]. Mundella and Miss Mundella, 6th March, 1882—26th November, 1886, in: W . F. Connell: The Educational Thought and Influence of Matthew Arnold, pp. 2 8 2 — 2 8 5 .
20
teilung der privaten Sphäre aufschlußreich sind, ergänzt werden. Das betrifft in erster Linie die Familienbriefe aus den Handschriften, wie sie in den Unpublished Letters gedruckt wurden 31 ). Ferner wurde der Briefwechsel zwischen Arnold und Gladstone über die von A r m y t a g e veröffentlichten Briefteile hinaus32) aus den Handschriften des Britischen Museums herangezogen33). — Nicht nur von besonderem Reiz, sondern auch von großem Wert für die Beurteilung des „privaten" Matthew Arnold war die Einsichtnahme in das von dem jungen Matthew und seinen Geschwistern in frühen Jahren mit Beiträgen ausgestattete Foxhow Magazine und die Briefe, die Arnold als Vater an seine Kinder schrieb. Beides befindet sich unveröffentlicht im Besitz von Miss Dorothy Ward. Last not least ist mit besonderer Dankbarkeit zu erwähnen, daß durch die persönliche Begegnung mit des Dichters Großnichte Miss Dorothy Ward (Tochter von Mrs. Humphry Ward, deren Vater Matthews Bruder Thomas war) noch ein lebendiger Kontakt mit der Familie Matthew Arnolds möglich war. Manche deutliche Erinnerung an „Uncle Matt" und die Erläuterung von Einzelheiten aus der Familientradition heraus ist mehr als eine schöne Beigabe für das Gesamtverständnis des Menschen Matthew Arnold geworden, das die nachfolgenden Untersuchungen weitergeben wollen. So ergibt sich für die Untersuchung eine breite Grundlage, die nicht nur Arnolds gesamtes Werk, sondern auch wesentliche Zeugnisse seines privaten Lebens umfaßt. Sie haben, auch wenn sie im Gange der folgenden Ausführungen nur zum Teil als direkte Belege zu Worte kommen, sich für die Erfassung der Persönlichkeit Matthew Arnolds insgesamt ausgewirkt. Alle diese Zeugnisse aber wurden nicht zu dem Zweck verwendet, Lücken in Arnolds Biographie zu füllen, sondern als Hilfsmittel zur angemessenen und gerechten Interpretation des dichterischen Werkes und des dichterischen Vermögens, das sich darin zu erkennen gibt. Für den Gang der Darlegungen sind folgende Gesichtspunkte maßgeblich gewesen: Die Untersuchung wird sinnvoller Weise vom Wort der Dichtung ausgehen und zunächst klären, mit welchen sprachlichen Mitteln der Dichter von sich selbst und vom Menschen spricht. Durch diese — vielleicht 31) Unpublished Letters of Matthew Arnold, ed. A.Whitridge (New Häven 1932). 3 2 ) W. H. Armytage: Arnold and Gladstone: Some New Letters, in: University of Toronto Quarterly X V I I I (1949), pp. 217—226. 3 3 ) Manuscripts Department of the British Museum, Add. Mss. 44 392 (f. 109); 44 395 (f. 174); 44 403 (f. 107); 44 412 (ff. 226 u. 237); 44 419 (f. 281); 44 427 ff. 3 u. 19); 44 470 (f. 182); 44 471 (f. 284); 44 475 (f. 5); 44 485 (f. 312).
21
überraschende — Anordnung soll zweierlei zum Ausdruck gebracht werden: Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Dichtung, deren Hauptmedium das Wort in Klang, Bild, Assoziation und Rhythmus ist, nicht der Gedanke. Das Wort ist das letzte Ziel alles dichterischen „Bemühens" — wenn man von einem solchen sprechen will. Dazu kommt — vom Hörer-Leser der Dichtung aus gesehen —, daß das Wort das erste ist, das dem Leser oder Hörer entgegentritt, wenn er Dichtung begegnet. Zweifellos aber gehen Begegnung mit dem Wort und Vermittlung des Gemeinten im Wort eng zusammen. Daher bedarf die Klärung des Wortes einer Ergänzung durch die Feststellung, nach welchen Gesichtspunkten der Dichter seine Gegenstände auswählte und was diese für die Aussage über Ich und Menschen bedeuten. Damit können unter s p r a c h l i c h e n und p s y c h o l o g i s c h e n Gesichtspunkten Einblicke gewonnen werden in das Verhältnis zwischen dem Dichter und seiner Dichtung. Sie müssen vertieft werden durch die Beantwortung der Frage nach dem Wesen des Menschen und nach seiner Situation in Zeit und Welt. Das scheint eine vorwiegend anthropologisch orientierte Frage zu sein. Doch steht jedesmal das Bewußtsein im Hintergrund, daß es sich um D i c h t u n g handelt. Deshalb lautet auch die alle Perspektiven sammelnde Schlußfrage, in der Objektives und Subjektives zusammengesehen werden: in welchem Verhältnis steht in Arnolds Dichtung die strukturelle Bewältigung zu seinem dichterischen Grundanliegen: der Gestaltung des persönlichen Menschenbildes als eines Mittels zur Formung und Bildung des Selbst?
22
II. Teil DIE SPRACHLICHE BEWÄLTIGUNG DES ERLEBNISSES VON WELT U N D M E N S C H Das Wort als vollkommenstes Ausdrucksmedium des menschlichen Geistes hat eine dreifache Funktion: es ist einerseits Sinnvermittler und Bedeutungsträger und dient als solches der Bezeichnung einer Sache. Nicht nur Substantiva, sondern auch Verba und Adjektiva sowie andere Hilfswörter sagen in diesem Sinne einen sachlichen Bezug aus, der im Wort selbst liegt und unabhängig von der syntaktischen Verbindung und vom Sprechenden ist. Doch liegt in der Auswahl des Wortes durch den, der sich seiner bedient, bereits ein Hinweis darauf, in welchem Sachbereich der Sprechende geistig beheimatet ist. Uber diese materiale Funktion hinaus ist jedes Wort ein geistiges Wesen: Durch seine Beziehungen zu anderen Wörtern, seinen Gegensatz zu solchen, die sachlich Gleiches aussagen, aber ihrer historischen, sozialen, gefühlsmäßigen oder geistigen Zugehörigkeit nach verschieden sind, ist es in einer ganz bestimmten geistigen Umwelt angesiedelt. Die Auswahl der Wörter unter dem Gesichtspunkt ihres geistigen Wesens — vom Sprechenden bewußt oder unbewußt vollzogen — kennzeichnet in ihrem Zusammenspiel das, was man gemeinhin unter „Stil" versteht. Es leuchtet ein, daß der Wortgebrauch als Stil in einem noch unmittelbareren und leichter erkennbaren Abhängigkeitsverhältnis zur redenden Person steht. J e enger dieses Verhältnis ist, um so stärker wird der Stil von der Persönlichkeit bestimmt, desto intensiver durchdringt das Ich die geistige Verbindung der Wörter untereinander. J e schwächer es ist, um so eher wird sich der Redende vom Wort zwingen lassen, nicht nur von seinem geistigen Wesen, sondern auch in höherem Maße von seinem Sachbezug. Neben der sachlichen und geistigen hat das Wort eine ästhetische Funktion. Durch seinen Klang, durch visuelle oder akustische Assoziationen, die es wachruft, sowie in der Verbindung mit anderen Wörtern zu rhythmischen und bildhaften Einheiten „wirkt" es. Diese Funktion des Wortes gilt in 23
einem ganz besonderen Sinne für alle Dichtung. Das Verhältnis zwischen dem „Sprechenden" und dem Wort als ästhetischer Wirkung ist besonders schwer zu bestimmen, weil der Anteil des Unbewußten am Zustandekommen der ästhetischen Wirkung sich weithin der Kontrolle entzieht. Doch kann gesagt werden, daß die ästhetische Funktion des Wortes in besonders starkem Maße durch die Persönlichkeit dessen geprägt wird, der sich des Wortes bedient. Freilich stehen hier Tradition und persönliche Eigenart in wediselvoller Spannung, deren Verschiedenheiten den einzelnen Dichtungsepochen ihr besonderes Gepräge verleihen. In der Dichtung gilt für alle drei Grundfunktionen des Wortes ohne Einschränkung, daß sie erkennen lassen, in welcher Weise der Dichter die ihm begegnende Wirklichkeit bewältigt. Matthew Arnold stellt in seiner Dichtung ausschließlich die W i r k l i c h k e i t i n i h r e r D r e i t e i l u n g a l s I c h , M i t m e n s c h u n d W e l t dar. Unter dem Gesichtspunkt der materialen Funktion des Wortes soll seine Dichtung zunächst darauf hin befragt werden, in welcher Weise sich die sprachliche Bewältigung des Erlebnisses von Welt und Mensch erkennen läßt und in welchem Maße die Auswahl der Wörter über den für Arnold charakteristischen Sachbereich Aufschluß gibt. 1. Das Bemühen um das rechte
Wort
Arnolds Verhältnis zum Wort als dem Grundelement der Dichtung läßt sich auf drei Ebenen beobachten: Als Kritiker hat er in t h e o r e t i s c h e n Ä u ß e r u n g e n seine Gedanken über die Bedeutung des Wortes niedergelegt1). Aus ihnen ist zu entnehmen, daß Arnold das Einzelwort gegenüber der Funktion der Wörter in ihrem Zusammenwirken als Stil wenig beachtet. Stil allgemein und im besonderen das, was er als Grand Style bezeichnet, wird von ihm kaum nach sprachlichen, sondern meist nach moralischen Gesichtspunkten beurteilt 2 ). — Ein anderes ist Arnolds B e m ü h e n u m d a s r e c h t e W o r t i n der eigenen Dichtung: Hier wird offenbar, welche Bedeu1 ) Hauptquellen sind: The Literary Inflnence of Academies (zuerst im Cornhill Magazine August 1864), wo Arnold sich über die Wichtigkeit von orthographischen Fragen und Wortwahl äußert; On Translating Homer (1861/62) und Last Words on Translating Homer (1862) und On the Study of Celtic Literature (zuerst im Cornhill Magazine 1866 als Artikelserie). — In mannigfachen Äußerungen durch die Jahre hin bezieht sich Arnold meist weniger auf die Bedeutung des Einzelwortes als auf die Möglichkeiten des Stiles als Ganzem. 2) So rühmt Arnold an Sophokles: ...what is valuable is not so much his contribution to psychology and the anatomy of sentiment, as the grand moral effects produced by s t y l e . Tor the style is the expression of the nobility of the Poet's character . . . (Brief an Clough, etwa l . M ä r z 1849, Clough-Letters, p. 101).
24
tung er dem richtig gewählten Wort beimißt, welche Mittel er anwendet, um zum passenden Wort zu finden, und unter welchen Gesichtspunkten er das Wort wählt. Darüber geben nicht nur die Veränderungen in den verschiedenen Fassungen seiner Gedichte Auskunft, sondern auch die Hilfsmittel, die Arnold bei der Komposition benutzt. Die dritte Ebene, auf der sein Verhältnis zum rechten Wort erst in vollem Umfange übersehen und gewertet werden kann, liegt im Bereich der abgeschlossenen und fertig gegenübertretenden Dichtung selbst: Das E n d e r g e b n i s von Arnolds Bemühungen — es war bei Arnold immer viel „Bemühen" dabei — erlaubt erst ein gerechtes Urteil über deren Erfolg. Während am Gebrauch der Hilfsmittel in erster Linie der rationale Prozeß der Wortwahl verfolgt werden kann, manifestiert sich in der vollendeten Dichtung der ganze Vorgang des Dichtens in seiner Vielschichtigkeit der rationalen, emotionalen und imaginativen Elemente. Entsprechend der Auffassung, daß der Schwerpunkt von Arnolds gesamtem Schaffen, auch dem dichterischen, auf der moralisch-ethischen und erzieherischen Seite zu suchen sei, hat die bisherige Forschung es kaum für der Mühe wert gehalten, die sprachliche Seite seiner Dichtung einer eingehenderen Untersuchung zu würdigen. Auf die Bedeutung der sprachlichen Form der Prosawerke hat zum erstenmal E. K. Brown in seinen Studies in the Text of Matthew Arnold's Prose Works (Paris 1935) hingewiesen. Browns Beobachtungen beziehen sich aber hauptsächlich auf die Wandlungen der EssayTexte in den verschiedenen Fassungen von der ersten bis zur letzten von Vgl. dazu die Definition des Grand Style in On Translating Homer — Last Words: . . . the grand style arises in poetry, when a noble nature, poetically gifted treats with simplicity or severity a serious subject. (Oxford Essays, p. 399); ferner: But the grand style ... is something more than touching and stirring; it can form the character, it is edifying (On Translating Homer, II. lecture, loc. cit. p. 284). — Im interessanten Kontrast dazu steht Arnolds Charakterisierung von M a c a u l a y s Stil in dessen Essay on Milton: A style to dazzle, to gain admirers everywhere, to attract imitators in multitude! A style brilliant, metallic, exterior; making strong points, alternating invective with eulogy, wrapping in a robe of rhetoric the thing it represents; not, with the soft play of life, following and rendering the thing's very form and pressure. . . A reader who wants rhetoric, a reader who wants a panegyric on Milton, a panegyric on the Puritans, will find what he wants. A reader who wants criticism will be disappointed. A French Critic on Milton (1877), in: Mixed Essays, p. 238 f. — Der Gegensatz dazu in der Arnoldschen Forderung ist ebenso wichtig: But a disinterested reader, whose object is not to hear Puritanism and Milton glorified but to get at the truth about them, will surely be dissatisfied (loc. cit. p. 242). — Arnolds eigener Prosastil ist natürlich weit davon entfernt, nur dem Ziel der unbeeinflußten und objektiven Wahrheitsfindung zu dienen! Theorie und Praxis klaffen gerade hier weit auseinander.
25
Arnold selbst revidierten Auflage unter psychologischen Gesichtspunkten. Das sich aus den Vergleichen ergebende Material erlaubt manche Rückschlüsse auf die angewandte Sorgfalt und auf die Gesichtspunkte, unter denen Arnold seine Texte veränderte. Folgende Grundlinien lassen sich erkennen: Neben verhältnismäßig seltenen sachlichen Berichtigungen oder Änderungen 3 ) und Modifikationen, die den organischen Zusammenhang betreffen 4 ), handelt es sich vielfach um Verdeutlichungen von erwähnten Personen und um Auslassungen, die Arnold von seinem
„künstlerischen Gewissen" eingegeben
wurden 5 ). — Die eigentlich linguistische Seite der Prosawerke, die essayistische Kunst Arnolds als sprachliches Phänomen und die Bedeutung des Wortes für diese Kunst ist bisher noch nicht untersucht worden 6 ). 3 ) Am einschneidendsten sind die sachlichen Veränderungen in den fünf verschiedenen Fassungen von St. Paul and Protestantism. — Zuerst erschienen die Teile als St. Paul and Protestantin (Cornhill Magazine, Okt. u. Nov. 1869) und Puritanism and the Church of England (Cornhill Magazine, Febr. 1870). Im Mai 1870 erschien die erste, mit Vorrede versehene Auflage, im Dezember des gleichen Jahres die zweite mit Veränderungen und Umstellungen. Die dritte, 1875 gedruckte Auflage war erneut verändert. Die 1887 aufgelegte Populär Edition versah Arnold mit einer neuen Vorrede, fügte den im April 1885 in der Contemporary Review veröffentlichten Aufsatz A Comment on Christmas ein und unterwarf den Text der übrigen Essays wiederum einigen sachlichen Veränderungen. 4 ) In der Vorrede zu Literature and Dogma z. B. läßt Arnold einen bedeutsamen, 14 Seiten umfassenden Abschnitt über die Bedeutung der Kultur für den Gebrauch der Bibel und für die Religionskritik überhaupt, den die erste Auflage {1873) enthielt, in der Volksausgabe (1883) ganz fallen (cf. Brown, loc. cit. Chp. VI).
°) Cf. Brown, p. 25, wo dieser vor allem für Culture and Anarchy volle Beobachtungen mitteilt.
einige wert-
e) Die Voraussetzung dazu: eine kritische Gesamtausgabe der Prosawerke, wie sie schon Brown forderte, ist allerdings auch noch nicht erfüllt. Auch der ältere Versuch Lewis E.Gates' (Matthew Arnold, in: Three Studies in Literature, New York 1899, pp. 124—221), den Prosastil Arnolds in seinen charakteristischen Merkmalen zu erfassen, geht über die sprachliche Seite hinweg und wird vom psychologischen Aspekt beherrscht: Er sieht in der nicht ganz geglückten Vereinigung widerstrebender Elemente in den Essays, in der immer wieder heraushörbaren leichten Überbetonung der Geringwertigkeit der eigenen Person und dem Anflug von Unnatürlichkeit in seiner Geschwätzigkeit (flippancy), die den Leser in Liebenswürdigkeit einhüllen will, vor allem einen Ausfluß der tief eingewurzelten Verachtung für die „Bestie Mensch", der er nach außen schön tat. — Linguistische und stilistische Analysen der essayistischen Kunst fehlen für die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts noch fast völlig. Auch für die anschließenden Jahrzehnte gibt es keine zusammenfassenden Darstellungen (cf. E. Partridge, in: PartridgeClark: British and American English since 1900 (1951) pp. 148 ff.
26
Audi die Bemühungen um Sprache und Wort des dichterischen Werkes sind über Anfänge nicht hinausgekommen. Als einzige Gesamtuntersudiung liegt B. G r o o m s 7 ) Stilcharakterisierung mit einer kurzen Zusammenstellung der für Arnold kennzeichnenden Wörter vor, auf die sich B o n n e r o t s 8 ) psychologische Analyse des Arnoldschen Stiles gründet. Beide Arbeiten jedoch, wie audi die meist nur im Vorbeigehen vorgenommenen Stilkennzeichnungen in anderen Darstellungen von Arnolds Gesamtpersönlidikeit und Gesamtwerk, gehen an der Tatsache vorbei, daß eine Untersuchung des Verhältnisses zum Wort — wenn sie nicht nur einen Beitrag zur Psychologie, sondern zum Verständnis der Dichtung liefern soll — den geistigen Reichtum des Dichters (the richness of his mind,)9) enthüllen soll in dem ganz besonderen Sinne, daß im Verhältnis zum Wort sich die geistige und gestalterische Bewältigung des „Materials" zu erkennen gibt. Eindrücklichster Beweis dafür, wie sehr sich Arnold um das „richtige" Wort bemüht hat, ist eine Briefstelle aus dem Jahre 1881, in der er auf einen nicht mehr vorhandenen Brief seiner Schwester Frances Bezug nimmt. In diesem hatte sie nach der Herkunft einiger von Arnold in dem soeben veröffentlichten Gedicht Westminster Abbey gebrauchter Wörter gefragt. Arnold antwortete: You will find all the words you mention in your volumes of 10 Richardson's Dictionary ). Hier wird zum ersten und einzigen Male in Arnolds Briefen erwähnt, daß er sich beim Dichten eines Lexikons bedient hat. Es handelt sich um das 1835—1837 bei Bell und Daldey in London in zwei Bänden erschienene New Dictionary of the English Language von C h a r l e s R i c h a r d s o n 11 ), das in zahlreichen Auflagen große Verbreitung fand und trotz seiner — wie Arnold in dem zitierten Brief selbst 7 ) B. Groom: On the Diction of Tennyson, Browning and Arnold (S. P. E. Tract N o . LIII, 1939); Arnold: pp. 137—149. 8 ) L. Bonnerot: Matthew Arnold Cinquième Partie: Le Refuge de l'Art, pp. 409—516. 9 ) Arnold spricht in einem Brief an Clough über das Verhältnis von Stil und Sachgehalt: . . . the matter is the expression of the richness of his (= the poet's) mind . [plough-Letters, p. 101.) 10 ) Brief ohne genaue Datierung, jedoch, wie aus der Bezugnahme auf die in der Januar-Nummer 1882 von The Nineteenth Century erfolgte Veröffentlichung des Gedichtes Westminster Abbey zu entnehmen ist, offensichtlich Ende Januar / Anfang Februar 1882 geschrieben (siehe Letters II, p. 197). lx ) Charles Richardson (1775—1865) wurde zuerst bekannt durch seine Illustrations to English Philology (1815), in denen er eine kritische Überprüfung von Dr. Johnsons Dictionary vornahm. — Das in seinem eigenen Lexikon verfolgte Prinzip, die ursprüngliche und eigentliche Bedeutung eines Wortes auf Grund der Etymologie herauszustellen, sprach Arnold ganz besonders an und wurde von
27
bemerkt — z. T. recht ungenauen Definitionen und weithin zweifelhaften etymologischen Erklärungen ein immerhin bedeutsamer Vorläufer des 'New English Dictionary' war. Seine besondere Eigenheit besteht darin, daß es eine reiche, bis dahin unbekannte Fülle von Belegen aus dem gesamten englischen Schrifttum (Dichtung ebenso wie theoretische Schriften) anführt. Darin lag für Arnold sein Hauptreiz. Es fand sich damals in jedem gebildeten Hause und zwar auch — wie Arnold wußte — im Besitz seiner Schwester Frances im Landsitz der Familie in Fox How. pronomen y our
volumes
Ob das Personal-
als Plural ausgelegt werden darf und so zu der
Annahme berechtigt, daß das Lexikon nicht persönlicher Besitz der Sdiwester war, sondern dem Familienbesitz im gemeinsamen Heim zuzurechnen ist, läßt sich nicht entscheiden. Wenn das letztere der Fall gewesen wäre, hätte man damit einen gewissen Grund zu der Annahme, daß die Bände schon lange zum Hausbesitz gehörten und folglich Arnold selbst aus seinem Jugendaufenthalt in Fox How und den späteren Ferienaufenthalten vertraut waren. Sobald er auf eigenen Füßen stand, vielleicht schon in Oxford, sicher aber dann während seiner Londoner Zeit als Privatsekretär von Lord Lansdowne, schaffte er sich, so könnte man weiter folgern, die unentbehrlichen Bände dann selbst an. Leider gibt das Verzeichnis der Arnold selbst gehörenden Bücher im Anhang der Note-Books
(pp. 637—645) keine Auskunft über
diese Frage. Doch darf als sicher angenommen werden, daß Arnold das Lexikon seit längerer Zeit besaß. Glaubhaft nachweisen läßt sich die Benutzung des Lexikons für das Jahr 1871: in dem zuerst in der Juli-Nummer des Cornhill Dogma
Magazine
veröffentlichten ersten Kapitel von Literature
(unter dem Titel Religion
die drei Wörter mind, memory
Given)
und remain seien von einer Wurzel herzu-
leiten und hätten als gemeinsamen Grundgehalt the notion of staying, ing12).
and
stellt Arnold die Vermutung auf, attend-
Die Verbindung dieser drei Wörter miteinander und ihre fälschliche
Herleitung und Verknüpfung mit dem lateinischen manere
entnahm Arnold
Richardsons Ausführungen über diese Zusammenhänge sub verbo memory,
wo
die gleichen Verbindungen hergestellt werden 13 ). Dafür, ob Arnold beim ihm aufgenommen (s. u.). — Die veraltete Schreibweise und die vielfach fehlerhaften etymologischen Ableitungen trugen dem Werk schon bald nach dem ersten Erscheinen manche Kritik ein (cf. D.N.B, vol. XVI, pp. 1107 f.). — Neuauflagen des Lexikons erschienen 1837, 1838, 1839, 1844, 1849, 1855, 1856, 1859 (mit Supplement) u. ö. 12) 13
28
Literature and Dogma, p. 21.
) Volume II, p. 1275.
Dichten zu dieser oder einer früheren Zeit das Lexikon schon zu Rate gezogen hat, lassen sidi keine Anhaltspunkte gewinnen. Aus einem Brief an Clough vom März 1849 geht hervor, daß Arnold die Möglichkeit der sachlichen Information durch ein technisches Wörterbuch vertraut ist. Clough hatte ihn darauf hingewiesen, daß das Wort shuttle (Weberschiffchen) in den Zusammenhang des Webens, nicht des Spinnens gehörte, in dem es Arnold in The Forsaken Merman gebraucht hatte. 1 believe you are right about shuttle also: but I will look in the technological diet: one is sadly loose by default of experience, about spinning and weaving, with a great poetical interest in both occupations1*). Allerdings hat Arnold die Zusage, sich zu informieren, erst viel später erfüllt: bis 1877 bleibt die Lesart Till the shuttle falls from her hand, / And the whizzing wheel stands still bestehen; erst danach ändert er in the spindle drops ... Die Notwendigkeit der sachlichen Information scheint also Arnold doch nicht so dringlich gewesen zu sein. Immerhin hat die Briefstelle besonderen Wert als frühester Beleg für den Gebrauch derartiger Informationsquellen für die Dichtung. Für die späteren Jahre läßt sich die Benutzung weiterer sprachlicher Hilfsmittel feststellen. Allerdings dienten sie ihm, soweit sich nachweisen läßt, nur bei der Abfassung seiner Prosaschriften. In God and the Bible (1875) 15 ) führt Arnold zur Erläuterung seiner Bemühungen um die einstmals konkrete Grundbedeutung des jetzt abstrakten Begriffes being16) aus, er habe „zuerst in Sanskrit-Lexika nach Information" gesucht. Nachdem er aber sich hier — „wahrscheinlich wegen unserer eigenen Unkenntnis und Unerfahrenheit im Sanskrit" — vergeblich umgesehen hätte, habe er eines Tages zufällig in G e o r g C u r t i u s ' Buch Grundzüge der griechischen Etmologie (3. Auflage, Leipzig 1869) Hilfe gefunden und weiterhin sich bei E r n e s t R e n a n De l'origine du langage (4. Auflage) 17 ) Auskunft über die hebräischen Grundlagen des Wortes geholt. Ferner erwähnt er noch Littre's )
14
Clough-Letters,
p. 107.
God and the Bible (1875), pp. 7 5 — 7 7 . l e ) Arnold bemüht sich klarzumachen, daß das W o r t being ursprünglich nur auf die natürliche Seite des Lebens (animal existence) angewendet worden sei. In seiner eigenen dichterischen Praxis verwendet er es aber durchweg im Sinne von „Wesen des Menschen, geistige Existenz" ( z . B . The Buried Life, 3 7 ; The Scholar Gipsy, 143) oder „Dasein, Verlauf des Lebens mit moralischem Endziel" (z. B. Empedocles on Etna, I. 2, 196; A Southern Night, 85). 1 7 ) Arnold gibt ausdrücklich an, er habe die 4. Auflage benutzt. Die Herausgeber der Note-Books irren also, wenn sie in der List of Books (p. 643) angeben, Arnold habe wahrscheinlich die 2. Auflage von 1858 benutzt.
29
admirable new dictionary18) der französischen Sprache, das er bis auf den letzten, noch nicht erschienenen Band, in Händen hatte. Wie die Note-Books ausweisen, hat Arnold dieses Dictionaire offenbar häufiger zur Klärung wichtiger Begriffe und Definitionen herangezogen 19 ) als zur rein sprachlichen Information. — Das früheste direkte Zeugnis für die Beschäftigung mit Sprachstudien ist die Eintragung in die Liste der gelesenen Bücher für Februar 1853: Grimm über den Ursprung der Sprache20). Alle diese englischen, deutschen und französischen sprachlichen Hilfsmittel sind ein eindrückliches Zeugnis Für Arnolds weitgreifende geistige Regsamkeit. Sie werden durchweg unter e i n e m Gesichtspunkt zu Rate gezogen: Die Auskünfte zur Definition oder Etymologie, die sie vermitteln, dienen als geistige Stützen eines von Arnold gefaßten Gedankens. Der gegenwärtige verhärtete Zustand der Sprache wird durch sie gewissermaßen erweicht; aber es kommt Arnold nicht an auf eine Rückkehr zum alten Wortgebrauch, mit dem zugleich etwa eine alte „Sache" wieder aufgenommen werden sollte. Es läuft vielmehr immer auf eine Klärung der Begriffe durch ihre verdeckten oder vergessenen geistigen Verbindungen hinaus, jedoch ohne wirkliche Bezugnahme auf die in der geschichtlichen Wandlung erkennbare und durch sie bedingte Wesenheit eines Wortes. Allerdings wird man trotzdem Arnold wenigstens die theoretische Einsicht in das Wesen der Sprache nicht ganz absprechen dürfen: Der Gedanke, daß sich die Sprache unter dem Drude eines großen nationalen Lebens21) gebildet habe, verrät solches Wissen. Von einer anderen Seite zeigt sich Arnolds Verhältnis zum Wort in der D i c h t u n g . Da sie Prüfstein für solches Verhalten ist, muß ihm be18 ) God and the Bible, p. 77. Es handelt sich um Emilie Littré: Dictionaire de la langue française, 4 vols. Paris 1863—1873. 19 ) Siehe Note-Books von 1874 (p. 214) 'Métaphysique' und (p. 215) 'Substance' sowie von 1877 (p. 284) 'point de repère'. 20 ) Note-Books, p. 553. — J a c o b G r i m m s Vortrag Über den Ursprung der Sprache (gelesen in der Berliner Akademie der Wissenschaften am 9. Jan. 1851, zuerst gedruckt Berlin 1852, enthalten in den von Karl Müllenhofi herausgegebenen „Kleineren Schriften" (Berlin 1864) Bd. I, pp. 255—298), hat bezeichnenderweise auf Arnolds Auffassung von der Sprache keinen besonderen Einfluß ausgeübt. Daß die Sprache wie ein Baum gewachsen sei und die Lage der Sprachforschung ähnlich wie die läge und der gegenständ der naturforschung sei (loc. cit. p. 260), war Arnold, der ganz vom Geistigen her an sprachliche Probleme herantrat, ein fremder Gedanke. — Aber auch ganz konkrete Ableitungen wie die Zurückführung des Wortes Mensch auf die Wurzel man = denken (Grimm loc. cit. p. 275) nimmt Arnold nirgends auf, obwohl sie seinem Bedürfnis nach Aufdeckung geistiger Urbedeutungen besonders entgegenkommt. 21 ) ... under the pressure of a great national life! A Trench Critic on Goethe, Mixed Essays, p. 282.
30
sonderes Gewicht beigelegt werden. In dem schon zitierten Brief an die Schwester Frances vom Jahre 1882 äußert sich der Dichter über den Gebrauch einzelner Wörter in Westminster Abbey: It is curious what 22 happened about cecity ). The word came into my mind as so suitable in that place that I determined to use it, as its formation from c e c i t a s (sic) in Latin and cécité in French is as regular and simple as that of levity, from I ev it as in Latin and lévite in French. Then I thought I would look in Richardson for the word, though really not expecting to find it there, and / found that the word had been used by the great Hooker. Those Elizabethans had indeed a sense for diction23). Pullulate is used by the Cambridge Platonists a good deal24); let25) as a noun substantive is thorough good English, being used several times by Shakespeare26). But look in your Richardson; he is bad for definitions, but a treasure for his passages in illustrations. — Aus diesem wichtigen Zitat lassen sich drei Stufen in dem Prozeß der Wahl des Wortes cecity ablesen: Zunächst fällt dem Dichter das Wort als „passend" ein; dann folgt die Reflexion, die bestätigt, daß das Wort nach Bildung und Form „erlaubt" sei. Als dritte Stufe wird die Autorität befragt: In Richardson's Dictionary sucht Arnold nicht nach der etymologischen Herkunft: die hatte er selber schon gefunden. Er sucht nach Belegen für den Gebrauch des Wortes. Eine willkommenere Autorität als 22
)
Westminster
Abbey,
154/55:
What had our Arthur gain'd After light's term, a term of
to stop and cecity.
see,
2 3 ) A r n o l d f a n d in Richardson's Dictionary ein Zitat aus Hooker's Sermon on Pride: In him (seil, the Babylonian) unreasonable cecity and blindesse trampled all laves both of God and nature under feet. Wilfulnesse tyrannised oner reason, and brutish sensualitie ouer will. Solche Sätze konnten A r n o l d freilich erwärmen, ganz abgesehen v o n der Diction.
**) Westminster And
Abbey, pullulating
160: rites externe
and
vain?
A u d i f ü r den Gebrauch dieses W o r t e s f ü h r t Richardson Belege an; doch hatte A r n o l d diese Kenntnis sicher aus eigener Lektüre. 25
)
Westminster Wait
Abbey,
170:
for the leaven
to work,
the let to
end.
Bei Shakespeare finden sich (wenn man die Stelle aus Rom. Sc J u l . 1 1 , 2, 2 9 nadi Q u i mitrechnet) drei Belege d a f ü r . Im übrigen d ü r f t e das W o r t als Substantiv in der idiomatischen Koppelung any let or hindrance zu A r n o l d s Zeit w o h l kaum noch als thorough good English benutzt worden sein. (cf. N.E.D. sub 'let' sb.) 26)
3
Müller-Schwefe
31
»den großen Hooker" konnte er sich gar nicht wünschen27). Das in diesem Zusammenhang ziemlich überraschende Lob der Elisabethaner wegen ihres sense for diction kann man für diese Wortbildung des Humanismus (erster Beleg 1528 cf. N. E. D.), die Arnold gewissermaßen nachvollzogen hat, kaum gelten lassen. — Soll man nun diese Art der Wortwahl, welche die eigene Erfindung erst durch die etymologische Kontrolle und die Autorität bestätigen lassen muß, als für Arnold typisch ansehen? Die Antwort auf diese Frage ist nicht ganz leicht. Die Nachbarbeispiele (pullulate und let) legen es nahe, zum mindesten den dritten Schritt als für Arnolds Verfahren konstituierend anzusehen: Die Cambridger Platonisten28) und Shakespeare, beide in ihrer Art weniger als Stilisten denn als geistige und moralische Vorbilder für Arnold bedeutsam, sind ihm willkommene Zeugen für die Verwendung zweier vom 19. Jahrhundert im übrigen als archaisch empfundener Wörter. Sowohl cecity als auch pullulate und let unterscheiden sich aber von den archaischen Ausdrücken, die durch die Patina ihres Alters zugleich als „poetisch" empfunden werden: alle drei sind weder durch ihre Lautform noch durch in der Bedeutung liegende Assoziationen als irgendwie besonders »dichterisch" zu bezeichnen. Es wird so deutlich, daß das dichterische Empfinden für den ästhetischen Gehalt eines Wortes bei Arnold weiterhin ersetzt wird durch die Reflexion und gelehrte Information, die im wesentlichen nur auf Feststellung der formalen, etymologischen und geistigen Bezüge eines Wortes hinausläuft. Dieses praktische Verfahren deckt sich insofern mit Arnolds Theorie vom Grand Style, als die geistige und moralische Begründung für die „Wirkung" von Wort und Stil für Arnold auf der gleichen Ebene liegen. Es wird darauf zu achten sein, ob hier ein Zug sichtbar wurde, der durch das ganze dichterische Schaffen hindurchläuft oder ob er sich be2 7 ) Arnold besaß Richard Hookers Werke (3 vols., O x f o r d 1820); in den NoteBooks notiert er sich nur einmal einen Satz daraus (Note-Books, 1885 p. 413, wiederholt p. 4 2 3 ) ; in den religiös-kritischen Schriften taucht sein Name gelegentlich auf. St. Paul and Protestantism (1870) stellt er ein W o r t von Hooker voran. Arnolds Aufmerksamkeit wurde wahrscheinlich auf ihn gelenkt durch W a 11 o n s Biographie, die er kannte und auf Grund deren er Hooker auch wohl das Ephitheton great beilegt. 28) Vgl. die zahlreichen Zitate, die Arnold aus Henry Mores Werken (nach Waltons Biographie) in seinen Note-Books festhält, zum Teil sogar mehr als einmal: (Note-Books pp. 113, 114, 157 (185), 157, 158 (186), 159, (232, 536), 159, 160, 232 (536), 498. — John Smith's Select Discourses besaß Arnold selbst. Auch daraus finden sich in den Note-Books zahlreiche Zitate (Note-Books pp. 89, 92 (93), 107, 109, 119, (122), 110/11, 112, 132). 1882 gab Arnold The Natural Truth of Christianity. Selectiones from Select Discourses of John Smith, M.D. heraus.
32
schränkt auf die späten Gedichte (Westminster Abbey, aus dem die Beispiele stammen, wurde 1881 komponiert), als den Dichter bereits — wie vielfach behauptet wurde — die „Inspiration" verlassen hatte. Eine Prüfung des Wortmaterials ergibt dazu folgende Aufschlüsse: Arnolds Selbstcharakterisierung I feel rather as a reformer in poetical matters29) kann sich wohl schwerlich auf eine Reform im Gebrauch des Wortschatzes beziehen. Freilich trifft die Feststellung B a t e s o n s s o ) , Arnold habe Stil und Sprache seiner Zeit angenommen, nicht die Sachlage und ist auch schon von L. Bonnerot heftig bestritten worden31). Doch ist für die Wortwahl festzustellen, daß Arnold weder in bemerkenswertem Umfange reformerisch zurückgriff auf altes poetisches Wortgut noch neuernd gewirkt hat. Zu der Liste der verhältnismäßig wenigen Wörter „poetischen" oder „archaischen" Charakters, die Groom aufführt (Jrith für firth; gulph; sheen; marges; prore; wots; main; steeds; amain; morn; eterne; drear; eves; teen; •wroth; fröre)32), ist zu ergänzen foray, ein Wort dessen verbaler Gebrauch durch W. Scott wiederbelebt wurde33), das Arnold aber als Substantiv verwendet (Sohrab and Rustum, 273); dazu kommt dight, das, aus dem Mittelenglischen kommend, im Neuenglischen bald unterging und erst im Sprachschatz der Romantik wieder aufkam. Der verhältnismäßig geringe Einfluß des Wortschatzes der Romantiker, insbesondere Wordsworths34), ist überraschend. Man möchte auch hierin einen Hinweis sehen, daß Weg und Medium der Einflußnahme bei Arnold weniger über das konkrete Wort als vielmehr über die geistige Konzeption vor sich ging. Das ließe sich für das Verhältnis Arnolds zu W o r d s w o r t h im einzelnen an interessanten Belegen aufzeigen35). Wie immer die Einstellung Arnolds zu den sprachlichen 2 9 ) Undatierter Brief, wahrscheinlich 1849, an seine Schwester „ K " , kurz nach der Veröffentlichung von The Strayed Reveller and other Poems, vgl. Unpublished Letters, p. 15. 30
) F. W . Bateson: English
Poetry
and English Language
(Oxford 1934) p. 106.
) L . Bonnerot: Matthew Arnold, p. 495. 3 2 ) Groom, loc. cit. p. 142. Groom führt auch let und cecity kaum als poetic diction bezeichnet werden können. 31
33
auf, die jedoch
) Ridiardson führt es in seinem Lexikon nicht an.
) Zu Arnolds geistigem Verhältnis zur Romantik siehe: W . P . Rothermel: Matthew Arnolds Verhältnis zur Romantik: die Ausgestaltung und Fortwirkung seines Konfliktes im 19. und 20. Jahrhundert. (Diss. Tübingen 1949). Die stilistische und sprachliche Seite wird von R. nicht einbezogen. Audi eine Untersuchung des Wortmaterials fehlt noch. ^ Hier muß die Feststellung genügen, daß der Einfluß in Wortgebung, Einzelmotiven und Manier sich auf die früheren Gedichte beschränkt. — A Southern Night ( 1 8 6 1 ) mit Anklängen an To the Daisy bildet eine späte Ausnahme. In den M
3»
33
Anliegen in Theorie und Praxis gewesen sein mag, e i n e s unterscheidet ihn grundlegend: das lebendige Gefühl der Romantiker für das Wesen eines Wortes und für seine dichterische Wirkung ist bei ihm verloren. Das läßt sich zeigen an der Verwendung des Wortes romantic selbst. Es tritt nur einmal auf, in dem Gedicht A Southern Night, das in der Stimmung eigenartig zwiespältig ist. In der Tonart der Elegie wird hier des toten Bruders William gedacht. Der Widersinn, der in der Unangemessenheit seines Grabplatzes liegt, führt zur Charakterisierung eines Grabes by the waters of
romance,
über dem der nächtliche Mond steht, als — a grave for knight or sage, Romantic, solitary, still. (113/14) Das Wort romantic hat hier nichts von der Dynamik und Bildhaftigkeit, die die Vorstellungskraft herausfordert, wie sie bei der englischen Vorromantik in zunehmendem Maße zu beobachten ist. Bei Arnold steht das Wort fast als Synonym neben solitary und still und beschreibt eine Landschaft, für die nicht das Bewegte, sondern die mit dem Sentiment erfühlte Ruhe kennzeichStanzas in Memory of Edward Quillinan (27. Dez. 1851 gedichtet), die Wordsworths Schwiegersohn gelten, fehlt audi sachlich jede Bezugnahme auf Wordsworth, was überraschend ist. — Audi das Verhältnis zu Wordsworth als Dichter ist ein Beispiel für Arnolds Mangel an Übereinstimmung zwischen theoretischer Einsicht und praktischer Bewährung als Dichter. In der Einleitung zu der von Arnold besorgten Gedichtauswahl von Wordsworth (1879, bereits kurz zuvor abgedruckt in Macmillan's Magazine, Juli 1879; später in Essays in Critiscism, Second Series, 1888; Zitate hier nach E. i. C. II ed. S. R. Littlewood, 1947), die einen Wendepunkt in der Wordsworth-Interpretation des 19. Jahrhunderts bedeutet, hat Arnold seine Absicht nach drei Richtungen festgelegt: Er will in seiner Auswahl die besten Dichtungen von den minderwertigen Dichtungen trennen; den Dichter vor denen retten, die ihn auf den Thron des Dichter-Philosophen setzen und schließlich mit der Auswahl demonstrieren, daß Wordsworths wahre Größe in seiner Naturlyrik lag und in der völligen Schlichtheit (plainness) seines Stiles. Wordsworths zentrale Bedeutung liegt für Arnold in der Übermittlung des Gefühls der Freude ( 0 / joy in widest commonalty spread, zitiert Arnold). Wordsworths eigene Anordnung der Gedichte nach „einem Plan geistiger Physiologie" (a sdieme of mental physiology, p. 81) und die Betonung seiner philosophischen Ideen, wie sie Leslie Stephen (z. B. in Wordsworth's Ethics, 1879) vertrat, hielt Arnold für völlig verfehlt. (Vgl. dazu: J . D. Wilson, Leslie Stephen and Matthew Arnold as Critics of Wordsworth, Cambridge U.P. 1939). Dazu steht Arnolds eigene Dichterpraxis, auf Grund deren ihm selbst der Titel eines poet-philosopher mit größerer Berechtigung als Wordsworth zugelegt werden könnte, in unübersehbarem Gegensatz. Die Divergenz zwischen der ästhetischen Seite der Dichtung und der Auffassung poetry is at bottom a criticism of life (p. 85) ist es gerade, die in Arnolds Dichtung immer wieder an die Grenze des Dichterischen überhaupt führt, — was zu zeigen Anliegen der vorliegenden Untersuchungen ist.
34
nend ist. Ähnliches findet sich schon bei Dr. Johnson: When night shadows a romantic
over-
scene, all is stillness, silence, and quiet; the poets of the
grove cease their melody,
the moon towers
over the world
in gentle
jesty .. . 3 6 ). — Offensichtlich ist, daß Arnold das Wort romantic
ma-
ohne ratio-
nale Assoziationen und Reflexionen verwendet 3 7 ). Es gibt eine Stimmung wieder 3 8 ). — Als nur der Dichtersprache angehörend sind weiterhin zu vermerken: sire (im Sinne von „Vater"); lave; verdant; lack!39).
Audi der Gebrauch v o n westering
sowie der Ausruf good
in „westering sun", der im Sinne
von „die s i n k e n d e Sonne" bei den Romantikern (schon bei Cowper, später bei Wordsworth, Southey u. a.) zu finden ist, entstammt dieser Schicht. Mitunter kommt eine alte Form, die poetisches Wortgut geworden ist, auch 36 ) The Aventurer, No. 108, Nov. 17, 1753; (nach L. P. Smith: Words and Idioms, p. 79). — Zur Geschichte des Wortes romantic siehe L. P. Smith, loc. cit. pp. 66—87 und F. Baldensperger in: Harvard Studies and Notes in Philology and Literature X I X (1937) pp. 13—105. 37 ) Angesichts des heute geläufigen Gebrauchs dieses Wortes als eines literarhistorischen oder stilkritischen Terminus darf nicht vergessen werden, daß Arnold, und seine Zeitgenossen mit ihm, noch nicht assoziativ 'Romantic Movement* oder 'Romantic Revolt' verbanden. Der erste englische Beleg für die Verwendung des Begriffes romanticism im Sinne von the distinctive qualities or spirit of the romantic school in art, literature and music stammt aus dem Jahre 1844 (N.E.D. sub 'Romanticism, 3'). Arnold bedient sich dieses Ausdruckes zum ersten Mal in einem Brief vom 3. Januar 1858 im Zusammenhang mit einer Besprechung seines eben veröffentlichten Dramas Merope: It is singular what irritation the dispute between classicism and romanticism seems always to call forth. In der Vorrede zu Merope (Dezember 1857) hatte er von England als this stronghold of the romantic school gesprochen und die Gegensätze zwischen Romantik und Klassik definiert (Merope p. VIII). — Arnold scheint in der Verwendung des Wortes romantic auch unbeeinflußt durch Senancourt (siehe Obermann, Lettre XXXVIII, 3ème Fragment: 'De l'expression Romantique, et du Ranz de Vaches', Paris 1863, pp. 143—147). Hier wird der Begriff 'romanesque' gegenübergestellt und als „tiefe Seelen- und echte Empfindungsfähigkeit ansprechend" charakterisiert: Le romantique suffit seul aux âmes profondes, à la véritable sensibilité. Diesen erweiterten Sinn hat es bei Arnold nicht. 38 ) Ähnlich wird das Wort bei Clough verwendet: These airy blisses, skiey joys / Of vague romantic girls and boys. (Dipsychus IV, 270/1; Poems, ed. Lowry etc. p. 246). Hier erhält das Wort romantic durch seine Nachbarschaft zu vague die Bedeutung von unklar, unbestimmt, romantisch-schwärmerisch, bezieht sich also — anders als bei Arnold — auf den subjektiven, inneren Zustand, nicht auf die objektive Gegebenheit der Landschaft. — Vgl. auch Adorable dreamer, whose heart has been so romantic! Das sagt Arnold von dem Anhänger der „schönen Stadt Oxford", deren mittelalterlicher Zauber und unaussprechlicher Charme zum wahren Ziel der Vollkommenheit ruft (Essays in Criticism 1865, Preface p. XVIII—XIX). 39 ) Tristram and Iseult II, 125, nach N.E.D. nur bis 1807 belegt; Arnolds Tristram and Iseult wurde 1852 zuerst veröffentlicht.
35
um des Reimes willen gelegen, wie etwa corse in Poor Matthias (83) als Reim zu remorse gebraucht wird. Arnolds Streben nach Einfachheit der Sprache und des Wortmaterials, das nur selten durchbrochen wird, ist begleitet von einem Mangel an assoziativen Nebenbedeutungen und einer Einlinigkeit, die sich gelegentlich bis in die Niederungen der platten Alltagsphrase begibt. Einige Beispiele aus vielen lassen deutlich werden, in welcher Richtung solche Verirrungen liegen: In Tristram and heult heißt es von den schlafenden Kindern der Isolde Weißhand, daß deren Finger sich im Traume hastig schließen, als haschten sie nach einem Schmetterling: This stir they have, and this alone; f But else they are so still! (I, 349 f.) Nicht weniger unglücklich, weil als abgegriffene Kleinmünze des Alltags in der Sinngebung blaß und ohne das Moment der Unmittelbarkeit, wirkt die Scheinfrage, an die vom Dichter einstmals Geliebte gerichtet: Or is it overf — art thou dead? (The Terrace at Berne, 25). In der sonst an Lebendig-Geschautem und ins Bildhafte Übertragenem so besonders reidien Elegie Thyrsis fällt die Komposition gleich im Anfang — wie ein Flugzeug in ein Luftloch — ab in die Platitude: Here came I often, often, in old days — Thyrsis and I; we still had Thyrsis then. (9/10)
Immerhin unterläßt Arnold, was er an Wordsworth so tadelnswert findet: ... to render a platitude endurable by making it pompous!10). Das fast gänzliche Fehlen von doppeldeutigen und mehrschichtigen Wörtern ist ebenfalls kennzeichnend für Arnolds Dichtung. Es liegt nahe, darin ein Merkmal des auf Ernsthaftigkeit und moralische Eindeutigkeit abgestellten Grand Style zu sehen, das dem Victorianer wohl anstehe. In diesem Sinne wären wohl mit Arnold sein Freund Clough ebenso wie Tennyson, William Morris und — auf amerikanischer Seite — Emerson und Longfellow verwandt, auch wenn sie stilistisch anders eingestuft sind. Es darf aber nicht übersehen werden, daß es sich bei der Verwendung von mehrschichtigen Wörtern nicht um eine sittliche Vormundschaft über die rational bestimmte Wortgebung handelt, sondern um einen der Imagination Raum gebenden Prozeß, der sich der rationalen Kontrolle entweder ganz entzieht oder sich ihr erst im Stadium der sekundären Reproduktion stellt. So verstanden, gewinnt das Fehlen solcher Mehrschichtigkeit besondere Bedeutung für die Beurteilung des dichterischen Prozesses. Arnold scheint in dieser Hinsicht vordergründig rational bestimmt zu sein. Der Mangel an mehrdeutiger Bezogenheit von Wörtern ) A French Critic on Milton, in Mixed Essays, p. 267.
40
36
läßt aber vielleicht nodi einen anderen Schluß zu: Mehrschichtigkeit eines Wortes wird, wie William Empson deutlich gemacht hat 41 ), erst wirksam, wenn sie auf die Einheit des Satzteiles, des Satzes oder des ganzen Gedichtes bezogen ist. Gerade diese Beziehung des Teiles auf das Ganze kleineren oder größeren Umfanges fehlt aber Arnold weithin. Dem entspricht der Mangel an Einwirkung der Gesamtkonzeption auf die Einzelteile. Unter dem Gesichtspunkt einer Unterscheidung zwischen symbolischem (symbolic) und emotivem (emotive) Wortgebrauch, wie sie seit Ogden und Richards üblich ist 42 ), müßte man Arnolds Wortgebrauch als im höchsten Grade emotiv bezeichnen. Solche Wirkung liegt freilich im Wesen von Dichtung allgemein und Lyrik im besonderen. Deshalb ist für diese eine Ergänzung der Gruppierung durch den dritten Begriff „imaginativ" notwendig: darunter ist die Verbindung des Wortgebrauches, der eine Tatsache feststellt (symbolic) und desjenigen, der auf den Ausdruck und die Erweckung einer Gefühlsreaktion abgestellt ist (emotive) in einer tieferen Region zu verstehen, in der weder vom Verstand noch vom Gefühl, sondern von der Imagination, welche das Wesen d?s Dichterischen bestimmt, in ihrer Mehrschiditigkeit der Wortgebrauch gesteuert wird. Von solchem imaginativen Wortgebrauch ist bei Arnold wenig festzustellen. Seine N o t — er leidet selbst darunter — ist zudem die Diskontinuität der Gedanken — wie sie das Gedicht Despondency ausspricht: Thoughts light, like gleams, my spirit's sky, But they will not remain. (5/6) 4 3 )
Aber auch die Vorteile der Einfachheit (simplicity), die für Arnold Charakteristikum des Grand Style ist, wirken sich in der Wortwahl aus: Selten und nie ohne Vorbild versteigt sich der Dichter zu Wortungetümen oder verschrobenen Ausdrücken. Circumambient in Mycerinus (53) ist ein solches Wort, das als Epitheton zu gloom sicher angeregt wurde durch Byrons circumambient foam, vielleicht auch durch Carlyles circumambient eternity 41
) Seven Types of Ambiguity (1949), bes. p. 234. ) C. K . Ogden and I. A. Richards: The Meaning of Meaning. 3rd ed. (1930), p. 139. 4S ) W i e durch die äußeren U m s t ä n d e diese K o n t i n u i t ä t der Gedanken gefährdet wurde, bezeugt eine Bemerkung in einem Brief an Clough: A new sheet wtll cut short my discourse. Darauf britht er — den neuen Bogen beginnend — die Erörterung des Problems ab. (Clough-Letters, p. 124). — W ä h r e n d der Arbeit an Sohrab and Rustum teilt er seiner Schwester die Befürchtung mit, d a ß die U n möglichkeit, das Gedicht in einem Zuge niederzuschreiben, verhängnisvoll sein k ö n n t e : . . . wether / shall not ultimately spoil it by being obliged to strike it off in fragments, instead of at one heat, I cannot quite say. (Letters I, 30). 42
37
und immesurable circumambient realm of Nothingness and Night44 J. Dis4 5 abusing; (To Meta, l) ) als substantivierte Verbalform, eine recht unglückliche Arnoldsche Bildung- steht als Ausnahme da. Mete (für to measure) (Empedocles on Etna I; 2, 341) und wight im Sinne von human being, person ( T r i s t r a m and Iseult III, 143) wurden vom lesenden Publikum des 19. Jahrhunderts als archaisch empfunden. Letzteres hat zudem noch den Beigeschmack von Verächtlichkeit oder Bemitleidung 46 ). History in der Bedeutung „Erzählung" nach Angabe des N. E. D. bis 1834 belegt, wird bei Arnold in Tristram and Iseult (III 37), also 1852, so verwendet und einige Zeilen später durch das geläufige story ersetzt. Wörter wie carnage (Balder Dead, III, 504), sciolist (Stanzas from the Grande Chartreuse, 99 und 102), pellucid (The Future, 39) und visitant (Westminster Abbey, 2) tragen deutlich den Stempel der humanistischen Bildung, die der Strom der Tradition vom 16./17. Jahrhundert bis ins 19. Jahrhundert getragen hat. Dagegen werden Wörter wie das Partizipium Perfecti distraught (Balder Dead I, 249), eterne (Balder Dead I, 89), orient (The New Sirens, 260) im Sinne von „rot erglühend wie bei Sonnenaufgang" 47 ) undpleasaunce-walk (Tristram and Iseult I, 161) poetischen Vorbildern entnommen ohne Rücksicht auf den Gegenwartsgebraudi. Im Ganzen ist die Zahl der archaischen und poetischen Wörter gering und hat wenig Einfluß auf den Gesamtcharakter der Dichtung bei Arnold. Was der Dichter selbst zu Thyrsis äußerte, kann in gewissem Sinne Gültigkeit für seine gesamte Dichtung beanspruchen: I meant the diction to be so artless as to be almost heedless48). Ferner läßt sich beobachten, daß Arnold das Wort und den einzelnen Buchstaben keineswegs leichtfertig wechselt **) Childe Harold's Pilgrimage, Canto I, XII, 4; Sartor Resartus III, 3 ('Symbols') und I, i ('Preliminary'). — Auf diese Stellen macht Bonnerot, Matthew Arnold, p. 494, Anm. 4, aufmerksam. 4 5 ) Diese Stelle: Calm'd by bitter disabusings I Of all thirst of earthly things ist auch syntaktisch schwach und gezwungen. Die ganz unbildliche Vorstellung ist selbst gedanklich schwer zu vollziehen. 4 6 ) Vgl. N.E.D. sub wight. — Shakespeare verwendet das W o r t mehrfach im Sinne von person, being ohne abwertende Bedeutung. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Arnold verleitet wurde, sich dieses Wortes zu bedienen durch die (auf Grund falscher Ableitung aus as. witan) gegebene Definition in Richardson's Dictionary: A sensitive being; one who feels, perceives, knows, lives. 4 7 ) Vgl. die häufige Verwendung bei Milton, besonders in Paradise Lost. Auch die Metaphysical Poets schätzen dieses stark vokalische W o r t sehr. Bei den späteren Romantikern (besonders Shelley) ist es beliebt. 48
) Letters
38
I, p. 325.
oder ändert 49 ). Some people will say these are little things; they are not50), betont er selbst. Audi Titeigebungen werden sorgfältig erwogen 51 ). Dodi verrät die genaue Analyse der T e x t v a r i a n t e n der Gedichte eine große Unsicherheit, die in der häufigen Annahme einer neuen Lesart und ihrer späteren Verwerfung und Rückkehr zur ursprünglichen Version zum Ausdruck kommt. Der Anlaß für die Veränderung ist oft aber nicht im sprachlichen Ungenügen oder dem Bedürfnis nach lautlicher Verbesserung zu finden, sondern in einer Verschiebung der geistigen Konzeption, die eine Revision der Wortgebung nach sich zieht. — Mehrfach hat Arnold audi das Mittel angewandt, durch G r o ß s c h r e i b u n g einzelne Wörter herauszuheben, sei es um abstrakte Begriffe zu personifizieren oder um ein Wort als wichtig zu betonen. Auffallend ist, daß er die Großschreibung in den späteren Revisionen der ersten Fassungen durchweg wieder aufgibt. Das ist da sicher angebracht, wo es sich um Nachahmung der elisabethanisdien Manier handelt, wichtige Wörter und Kernbegriffe ohne alle — damals ohnehin noch nicht notwendigen — Rücksichten auf feste Regeln durch große Anfangsbuchstaben zu kennzeichnen. Bedauerlich ist solche Revision bei Arnold jedoch da, wo die durch die Großschreibung bewirkte Konkretisierung wieder verloren geht wie etwa in dem folgenden Beispiel aus Merope. In der ersten Fassung von 1858 heißt es: Peace, w h o tarriest so long; Peace, with Delight in thy train Come, come back to our prayer! (890/92) 5 2 )
Durch die Kleinschreibung von delight in den späteren Fassungen geht etwas Wesentliches verloren 53 ). Von der Sorgfalt, mit der Arnold sich der äußeren 49 ) So hat Arnold dem Wort Renaissance seine seitdem vielfach verwendete englische Form Renascence gegeben (siehe Culture and Anarchy 1869, popular edition 1909, p. 99, note 1, vgl. dazu N.E.D. sub Renascence). — Ein weiteres Beispiel aus der Prosa ist die Auseinandersetzung mit der Times über die Schreibung des Wortes diocese, bei der Arnold in einer späteren Ausgabe seines Essays The Literary Influence of Academies die Schreibung ausdrücklich unter Anerkennung der „Gelehrsamkeit der Times" revidierte. (Essays in Criticism 1865, p. 56 und 1869, p. 53; vgl. Brown: Studies in the Texts, p. 8). 60 ) Essays in Criticism, 1865, p. 57. 61 ) Siehe den Briefwechsel zwischen Arnold und Galton, den Titel von Horatian Echo betreffend, veröffentlicht in: Arthur Galton: Two Essays upon Matthew Arnold (With Some of His Letters to the Author) (1897), pp. 113 f. B2 ) Merope. A Tragedy. By Matthew Arnold (1858), p. 57 (Str. 5); nadi der Zählung von Tinker und Lowry Z. 890—892. — Dieser Anruf des Chors an den Frieden ist eine Übertragung von Eurypides' Merope-Fragment. 63 ) Leider sind in der Ausgabe von Tinker und Lowry solche Varianten nicht vermerkt.
39
Erscheinung des Wortes im Druck annimmt, zeugt auch die abgewogene und konsequente Verwendung des K u r s i v d r ü c k e s an bestimmten Stellen. Grooms Vorwurf 5 4 ), Arnolds Praxis in der Anwendung des Kursivdruckes erwecke den Eindruck von Schulmeisterei, ist ganz ungerechtfertigt und zeugt davon, daß der differenzierenden Weise, in der Arnold dieses Mittel anwendet, keine Beachtung geschenkt wurde. Es lohnt sich, sie kurz zu kennzeichnen: Kursivdruck e i n z e l n e r W ö r t e r wird angewendet, wenn ein bedeutsames Wort hervorgehoben werden soll (z. B. "We mortal millions live alone". To Marguerite — Continued, 4). In der gleichen Richtung liegt die Hervorhebung eines ganzen Satzes, der die Kernidee des Gedichtes ausspricht. (Calm's not life's crown, though calm is well. Youth and Calm, 23.) Das Sonett Quiet Work läßt Arnold in dem Gedichtband von 1853 sogar insgesamt kursiv drucken, um dadurch seine Motto-artige Bedeutung, die schon durch seine Stellung als erstes Gedicht der Sammlung hervortritt, noch zu unterstreichen. — Diese beiden Arten der Verwendung des Kursivdruckes erfüllen gewissermaßen die Funktion von Ausrufezeichen, die die Aufmerksamkeit des Lesers auf Stellen lenken sollen, welche dem Dichter wesentlich sind. Das entspricht Arnolds Bedürfnis nach klarer Gliederung und Pointierung, die ihm mit inneren Mitteln so verhältnismäßig selten gelungen ist. Er brauchte dieses Mittel auch als Hilfe für sich selbst. — Nicht minder aufschlußreich für Arnolds Verhältnis zur eigenen Aussage ist die häufige Verwendung des Kursivdruckes in Fällen, in denen in der Form der direkten Rede etwas wiedergegeben wird, was nicht gegenwärtig und wirklich, sondern als vergangen oder zukünftig oder als nur in der Einbildung vorhanden vorgestellt wird. So wird nicht nur die in der direkten Rede einer Person wiederholte direkte Rede eines anderen grundsätzlich in Kursivdruck gesetzt (z. B. Tristram and Iseult I, 97 ff.; Saint Brandan, 36; Balder Dead III, 411 f.) Audi die nur in Gedanken nacherlebte, vorausgenommene oder als möglich einer Person beigelegte Rede wird so gekennzeichnet (Stanzas from the Grande Chartreuse, 192; TheYouth of Nature, 127 f; Tristram and Iseult II, 164 ff.). Konsequenterweise fällt darunter auch die Rede einer geisterhaften Erscheinung wie etwa die Sankt Peters in Westminster Abbey (44 f.; 48 ff.) Arnold bedient sich also in allen diesen Fällen der Kursivschrift zum Ausdruck des N i c h t w i r k l i c h e n und nur Vorgestellten. Auf diese äußerlich klar erkennbare Weise grenzt er also Wirklichkeit und Loc. cit. p. 141.
40
Nichtwirklichkeit gegeneinander ab. Wie wichtig dieses Mittel Arnold war, geht daraus hervor, daß er es in gleicher Weise durch alle Ausgaben seiner Dichtung hierdurch verwendete. Völlig unbeachtet geblieben ist bisher der E i n f l u ß d e s
Französi-
s c h e n auf Arnolds Wortschatz. Dem nachzugehen ist aber aus einem besonderen Grunde wichtig: Die starke geistige Abhängigkeit Arnolds von französischen Kulturgrößen ist bekannt herrschung der französischen Sprache
54b
54a
), ebenso seine weitgehende Be-
). Es liegt die Vermutung nahe, daß
die intensive Anregung, die Arnold für eine Anzahl seiner wichtigsten Gedichte durch französische Vorlagen bekommen hat, sich auch unmittelbar auf die Formulierung ausgewirkt habe. Freilich muß man sich der Schwierigkeiten bewußt sein, die einem genauen Nachweis solcher Einflüsse entgegenstehen: Der romanische Anteil am englischen Wortschatz ist an sich schon sehr groß. Der Einfluß der Vorlage in französischer Sprache kann also nicht als nachgewiesen gelten, wenn der Prozentsatz von Wörtern romanischer Herkunft ganz allgemein in Zahlen erfaßt 5 5 ) und für hoch befunden wird; er muß B * a ) Siehe besonders I. E. Seils: Matthew Arnold and France. The Poet (Cambridge 1935) und die dort aufgeführte Bibliographie. — Zu ergänzen sind: F. L. Wickeigren: Matthew Arnold's Literary Relations with France (M.L.R. 1938, pp.208—214); W. S. Knickerbocker: Arnold, Shelly and Joubert (M.L.N. 1940, p. 201); H. Dale: Matthew Arnold, ami de la France (Revue d'Histoire de la Philosophie et d'Histoire Générale de la Civilisation, 1946, pp. 137—147.) H b ) Uber das Verhältnis von Französisch und Deutsch bei Arnold und seine natürliche Neigung für das Französische liegt ein frühes Zeugnis vor: In einem Brief von Arnolds Mutter an ihren in Neuseeland weilenden Sohn Tom vom 17. Juli 1848 (unveröffentlicht, im Besitz von Miss D. Ward) gibt diese (in case he [ = Matthew] should not write regulary himself) auszugsweise einen Brief ihres ältesten Sohnes wieder, in dem dieser seine sprachlichen Vorbereitungen für die geplante Schweizfahrt schildert: / shal (sic) have to speak German a little and Italian too — in the latter I am going to take twelve lessons, the former almost breaking my heart, because I cannot get to read it like French, though I work at it with fury. They are lumbering old carthorses, the Germans, and that is the truth. Zu Arnolds Verhältnis zur deutschen Sprache vgl. auch W. Fischer: Matthew Arnold und Deutschland, in: G. R. M. X X X V (1954). bes. pp. 120— 23. 5 5 ) Beispiele für die Stärke des romanischen Anteils am Wortmaterial lassen erkennen, wie wenig Rückschlüsse aus solchen Untersuchungen gezogen werden können: Alaric at Rome (1840) enthält 15% Wörter romanischer Herkunft. In der Gruppe der frühen Sonette (entstanden zwischen 1844 und 1848) schwankt der Anteil beträchtlich: Quiet Work: 3 0 % ; To a Friend: 12,3%; Shakespeare: 2 0 % ; Written in Emerson's Essays: 16%; Written in Butler's Sermons und To the Duke of Wellington: je 27%; In Harmony with Nature: 21%; To George Cruikshank: 2 0 % ; To a Republican Friend: I 15,6%, II 2 4 % ; Religious Isolation: 12%. — Nicht überraschend ist, daß die Zentralbegriffe, etwa in dem Arnold selbst besonders wichtigen Quiet Work, durchweg romanische Sprachwurzeln haben. Meist
41
vielmehr in direkter Beziehung zur Quelle stehen und durch Wortübernahme bestätigt werden. Die dirkte Übernahme von Wörtern aus dem Französischen ist bei Arnold selten zu finden: prie-dieu (Tristram and Isetilt I I I , 93) und trottoir (New Rome, 15), letzteres ein ausgesprochenes Modewort für die damalige Zeit, bezeichnen Dinge, die keinen unmittelbaren und bewußten Bezug auf das Ursprungsland mehr haben. Anders ist das bei dem französisch-schweizerischen Dialektwort 5 6 ) chalet57), das in den Gedichten des Schweizer E r handelt es sich um Substantive. Gerade in diesem Sonett läßt sich nachweisen, daß sieben dieser Zentralbegriffe ihre direkte, orthographisch nahezu gleichlautende Entsprechung im modernen Französischen haben. Es sind dies: course, discord, enmity (frz.: inimitié), lesson, repose (frz.: repos), tranquility, accomplish (frz.: accomplir), harmonised (frz.: harmonisé). Hier auch sachlich starken französischen Einfluß anzunehmen, liegt nahe; einzelne Quellen lassen sich jedoch in diesem Falle nicht nachweisen. Ähnlich verhält es sich in dem Sonett To George Cruikshank: die Kernbegriffe {artist, honour, crime, prodigy, fortune, calm, intrude, solitude, caves, tremble, fierce, control, efface) decken sich weitgehend mit neufranzösischen Worten gleicher Bedeutung. Im übrigen entspricht der starke Anteil von Wörtern romanischen Ursprungs gerade im Bereich der geistigen Begriffe dem allgemein längst festgestellten Gefüge der englischen Sprache. Deshalb kann auf eine, in dieser Hinsicht keine neuen Erkenntnisse vermittelnde, genaue Aufgliederung nach romanischem und germanischem Wortmaterial verzichtet werden. In den Essays, die sich ja vornehmlich in abstrakten Gedanken bewegen, tritt der romanische Anteil noch deutlicher hervor. Culture and Anarchy (1861) hat im Durchschnitt 24% roman. Wortanteil. — Vergleichszahlen aus den späteren Schaffensperioden: Meeting (1852): 19,5%; Farewell (1852): 15%; To Marguerite-Continued (1852): 2 0 % ; The Church of Brou (1853): I 12%, II 21%, III 18%; Dover Beach (1867): 14,4%; The Terrace at Berne (1867): 19%; Westminster Abhey (1881): 17,5%; Kaiser Dead (1887): 18,4%. — Aus dieser chronologischen Ubersicht läßt sich ablesen, daß 1. der Anteil des romanischen Wortmaterials während der ganzen Schaffenszeit ziemlich gleichbleibt; 2. daß französischer Einfluß auf Grund von literarischen Vorbildern oder persönlichen Erlebnissen den Anteil am romanischen Wortmaterial offenbar nicht erhöht hat. Ein auch zeitlich gutes Vergleichsbeispiel ist C a r 1 y 1 e , dessen Beeinflussung durch das Deutsche ein wesentlicher Faktor für die Entwicklung des Carlylese ist; dabei spielt nicht nur die Wortwahl, sondern besonders (vgl. etwa O. Schmeding: Über Wortbildung bei Carlyle (St. z. E. Phil. V), der die Wörter nach german. und rom. Ursprung untersucht) das Stilistische eine große Rolle. — Nach dieser Richtung ergeben sich interessante Möglichkeiten für die vergleichende Literaturforschung. B e ) Das einzige Dialektwort in Arnolds Dichtung ist ckiel in dem Hundegedicht Kaiser Dead (76). Gebrauch und Zusammenhang weisen auf R. Bums: The Twa Dogs (1786). Das einzige Wort, das man eindeutig dem familiar style zurechnen muß, ist pate als scherzhafte Bezeichnung für „Schädel"; es steht nahe bei chiel
42
lebniskreises einige Male auftaucht und auf die französische Schweiz als Schauplatz der Erlebnisse unmittelbar hinweist. Auch die Bezeichnung der Iseult of Brittany als chatelaine schafft eine Art Lokalkolorit: Sie ist Schloßfrau in dem Tristram fremden Lande. Übrigens hat sich Arnold den ersten Plan für das später The Church of Brou genannte Gedicht auf dem Vorsatzblatt seines zweiten Bandes des „Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe" unter dem Stichwort La Châtelaine architecte notiert 58 ). Daß ein Wort wie dolour, das im englischen Sprachgebrauch in beiden Bedeutungen als körperlicher und seelischer Schmerz seit längerem geschwunden ist, von Arnold in der alliterierenden Wortgruppe of toil and dolour untold (Fragments of a Chorus of a 'Dejaneira' 19) ohne Bedenken eingesetzt wird, geschieht zweifellos unter dem Eindruck des ihm vertrauten französischen umgangsgebräuchlichen Wortes doleur. Bei dem auf den Dackel „Geist" angewendeten couchant59), das für Arnold ebenfalls die Erinnerung an das formgleiche französische Wort in sich trug, ist die allgemeine Verwendung im Englischen geläufiger. Im Gedicht Balder Dead beschreibt Arnold, wie Balder seiner Frau Nanna im Traume erscheint und wie nach langer Rede seine Gestalt wieder verblaßt: He spake, and straight his lineaments began To fade...
(I, 331/2)
Die Verwendung des Wortes lineaments, nach Ausweis des N.E.D. bis 1772 belegt in der Bedeutung a portion of the body, considered with regard to its contour, a distinctive feature, wird von Arnold bedenkenlos vollzogen, weil für ihn das französische Wort linéament, auch wenn es in seiner modernen Bedeutung als „Gesichtszug" enger ist als die englische Anwendung, ganz gegenwärtig ist. Ähnlich ist es bei dem Wort adieu, das als Reimwort auf true in dem Gedicht Too Late gebraucht wird: Im Englischen als archaisch empfunden, wirkt es für Arnold aus dem Marguerite-Erlebnis heraus, dessen Dialog sich aller Wahrscheinlichkeit nach in französischer Sprache vollzogen hat, ganz gegenwärtig und zugleich poetisch. Schwieriger ist das Verhältnis zur Erlebnisgrundlage zu bestimmen in dem Gedicht The Terrace (Kaiser Dead, 77) — Swell (New Rome, 14) gehört auch zu Arnolds Zeit nodi im Sinne von a person of good social position, a highly distinguished person (cf. N.E.D. sub swell, sb. 9) dem ausgesprochenen colloquial style an. 5T) Siehe auch M. S. Serjeantson: A History of Foreign Words in English (1935), p. 159; die übrigen hier angeführten französischen Wörter werden bei S. nicht verzeichnet. 5S ) Mitgeteilt Commentary, p. 37. B9) Geist's Grave, 68. 43
at Berne. Arnold stellt sich vor, daß er dem geliebten Mädchen nadi langen Jahren der Trennung begegne: er sieht es raschen Schrittes aus den Oleanderbüschen treten: And clasp thy hands, and cry: 'Tis thou!
(16)
Die Auffassung, daß diese Wortgebung 'Tis thou die wörtliche Übertragung von Marguerites C'est toi! sei 60 ), ist schwer beweisbar. Thou in der Anrede ist in den Gedichten üblich. Zudem hat das Erlebnis ja nicht wirklich stattgefunden, sondern gehört ganz der Einbildung an. — Einflußreicher als persönliche Erlebnisse sind bei Arnold jedoch auch in dieser Hinsicht literarische Vorbilder und Erlebnisse. Nicht unwahrscheinlich ist z. B. die Verbindung zwischen I know
not what in Geist's Grave
(31) und dem Französischen
Je ne sais quoi. Der Ausdruck entstammt dem Sprachgebrauch der literarischen Kritik. Nadi Spingarn 81 ) war Shaftesbury der erste, der diesem als Substantiv gebrauchten Begriff im Englischen die Bedeutung gab, die für die Terminologie der Literarkritik bestimmend wurde: Grace beyond
the reach
of art. Es darf angenommen werden, daß Arnold nicht nur den Terminus, der in der Sprache der Kritik geläufig geworden war, sondern auch seine spezielle Bedeutung kannte. Um so bezeichnender ist es für ihn, daß er diesen für den ästhetischen Bereich gemünzten Begriff auf den ethisch-metaphysischen Bereich anwendet. Er paßt ihm besonders gut zur Verdeutlichung seiner Auffassung vom Transzendenten, das ihm inexpressible
and
inintel-
ligible ist: Stern law of every mortal lot! "Which man, proud man. finds hard to bear, And builds himself I know not what Of second life I know not where. (Geist's Grave, 29—32) Außer diesen, zum Teil strittigen, Fällen von Beeinflussung durch das Französische gibt es ein Beispiel für die unmittelbare Wirkung der französischen literarischen Vorlage nicht nur auf Motiv und sachliche Einzelheiten, sondern auf die Wortgebung. Im dritten Teil von The Church
of Brou hat
Arnold sich so stark durch den französischen Wortlaut bestimmen lassen, daß man die französische Formulierung hindurchhört. Aus Ciseles et 60)
brodes
Seils: Matthew Arnold and France, p. 113, note 1. in: Critical Essays of the Seventeenth Century (Oxford, 1908), Vol.1 p. Cf. — Zu 1-know-not-what als Substantiv siehe N.E.D. sub 'What, I. Phrases used as substantives', das audi auf die lateinische und französische Parallele (nescio quid und je ne sais quoi) hinweist. el)
44
in Edgar Quinets Aufsatz: «Des Arts de la Renaissance et de l'Église de Brou » 6 2 ), der Arnold die Anregung zu dem Gedicht gab, wird im englischen Gedicht chisell'd broideries (II, 37). Auch der aus ewigem Schlaf erwachenden Marmorfiguren Ausruf ... it is eternity! (III, 40) entspricht genau Quinets C'est ici l'éternité. La pluie de l'éternel Amour findet sich bei Arnold als the eternal rain of love (III, 46) wieder. Neben diesen WortEntsprechungen oder wörtlichen Übertragungen stehen eine Reihe von Formulierungen, die der französischen Vorlage nachgebildet sind. Doch geht Arnold in der Konkretisierung und Veranschaulichung über Quinet weit hinaus. So wird z. B. aus dem einfachen Quand la pluie creuse le toit sur leurs têtes... : Or let it be on autumn nights, when rain Doth rustlingly above your heads complain On the smooth leaden roof . . . (III, 3 2 — 3 4 )
Ein genauer Vergleich von Gedicht und Quelle, wie er hier nicht ausführlich wiedergegeben werden kann — läßt Arnolds Abhängigkeit von Quinets Darstellung in vier Stufen erkennen: Außer dem s a c h l i c h e n Material, das für die Hauptzüge des Geschehens bestimmend wurde, wirkt das s p r a c h l i c h e Material direkt bis in die Formulierungen des Gedichtes hinein. Das geschieht einerseits — wie gezeigt — durch wort- und sinngleiche Übernahme der französischen Wortgebung. Andererseits werden auch Wörter eingebaut, die aus dem Sinnzusammenhang der Vorlage gelöst und neu verwendet werden. So wird z. B. aus Quinets la lumière transfigurée des vitraux, la Vierge et les Saintes immobiles à leurs places bei Arnold in freier Umformung des Inhaltes nur das eine Wort transfigurée wirklich übernommen, aber in neuem Sinn und Zusammenhang verwendet: Prophets, transfigured Saints, and Martyrs brave.
( I I I , 20)
Die vierte, für den Charakter der Arnold'schen Dichtung entscheidende Schicht ist in der übernommenen und zugleich verwandelten G r u n d i d e e zu finden: Der Anstoß ging offenbar davon aus, daß bei Quinet die Kirche als Symbol gefaßt wurde. Jedoch wird aus dem Symbol für das vergangene Mittelalter, in dem ewiger Glaube und ewige Liebe feste Werte waren, bei Arnold das ganz persönlich gefaßte Symbol der Liebe des fürstlichen Paares, an dessen Entstehung das Marguerite-Erlebnis maßgeblichen Anteil hat. So 62
) Abdruck der wesentlichen Stellen von Quinets Aufsatz {zuerst veröffentlicht
1839) durch Charles Cestre in: Revue audi Commentary,
Germanique
I V (1908), p. 5 2 6 — 5 3 8 ; vgl.
p. 40, und I. E. Seils, loc. cit. p. 282 f.
45
bleibt Arnolds Abhängigkeit von der Vorlage verhältnismäßig äußerlich. Audi die sprachlichen Elemente, die er übernahm, sind eingeschmolzen in die neue Einheit der Arnold'schen Schöpfung, die hier im dritten Teil von The Church of Brou wie sonst nur selten geglückt ist. Die angeführten Beispiele sollten verdeutlichen, wie Arnolds reformerische Tätigkeit in der Wortwahl aussah. In den wenigen Fällen, wo er Altes belebte, sind nur gelegentlich poetische Gesichtspunkte, mehrfach die bewußt oder unbewußt befolgten Vorbilder in der eigenen oder französischen Sprache maßgeblich. Eine Schwächung oder Erhöhung in der Ausdruckskraft des Wortmaterials im Verlauf von Arnolds dichterischem Schaffen läßt sidhi nicht feststellen. Sie ist in den einzelnen Gedichten recht ungleichmäßig und im ganzen nicht vergleichbar etwa mit Browning und Swinburne. Interessant ist in dieser Hinsicht das Verhältnis zu Wordsworth: Nicht nur in seiner Theorie von der poetic diction, die Rückkehr zur einfachen und natürlichen Wortgebung verlangt, sondern vor allem in der praktischen Verwirklichung dieser Forderung steht Arnold eindeutig in seiner Gefolgschaft63). Die Unterschiede zwischen beiden liegen nicht eigentlich in der „Form" der Diktion als vielmehr in der Deutung der Funktion der Dichtung und in der Kraft der dichterischen Verwirklichung, d. h. in der Verschiedenheit des Anteiles der Imagination und Reflexion an der Dichtung. Bei Arnold scheint das ganz bewußte Wählen bestimmter Wörter als Ergebnis der Reflexion ein wichtiges Merkmal des „dichterischen" Prozesses zu sein. Das bestätigen nicht nur die Gedichte der späten Zeit (Westminster Abbey und die Tiergedichte), und die oben angeführte Briefstelle, sondern auch die Produkte der übrigen Schaffensperioden. Ein weiteres Kennzeichen der Arnoldschen Dichtung ist, daß sie sich in Ausdruck und Wortgebung der Kernbegriffe und Hauptgedanken nur selten w i e d e r h o l t . Das ist insofern besonders bemerkenswert, als viele Gedichte thematisch und in der gedanklichen Durchführung sehr nahe beiein6 3 ) Damit kann nicht gemeint sein, daß Arnold Wordsworth stilistisch nachahme. Auch auf Arnolds Dichtung trifft zu, was von Groom (loc. cit. p. 146), H . Read ( W o r d s w o r t h , 1931, passim) und anderen festgestellt wurde, daß nämlich Wordsworths Einfluß als Dichter nicht in den Einzelheiten des Stils nachzuweisen sei. Der Einfluß erstreckt sich bei Arnold, was die Wortgebung anbetrifft, auf die Verwendung der „einfachen" Sprache, wobei sich die Beurteilung dessen, was einfach sei, sowohl auf Grund der zeitbedingten Veränderung der Verhältnisse als auch nach der persönlichen Eigenart verschiebt. Sie ist weithin auch eine Frage des „Stils" der Persönlichkeit.
46
ander liegen 84 ). Dagegen stellt Groom für die Wiederholung einzelner Wörter bei Arnold fest: He is noticeably apt to repeat his felicities65). Die dreimalige Verwendung von pale innerhalb von dreizehn Zeilen in Thyrsis (The orange and, pale violet evening-sky, 159; under the flowery oleanders pale, 170; these brambles pale with mist engarlanded, 173)66) oder der häufige Gebrauch von high und anderen Adjektiven, sind zweifellos stilistische Schwächen. Aber sie sind nicht symptomatisch für Arnolds S t i l , sondern für seine Erfassung der Wirklichkeit, wie noch in anderem Zusammenhang zu erläutern sein wird. Zudem verrät sich in dem wiederholten Gebrauch gleicher Wörter in verschiedenen Sinnverbindungen audi die schon berührte Diskontinuität der Gedanken. — Das b e w u ß t verwendete Mittel der Wiederholung erfüllt bei Arnold noch andere Funktionen: Die Wiederholung einzelner Wörter oder Wortgruppen dient der Intensivierung eines Gefühlsausdruckes oder Gedankens, dem Zwecke einer Ediowirkung oder — selten — der Schallnachahmung, in einigen Fällen auch als Refrain zur Strophenbindung. Sie steht im ganzen im Zusammenhang mit dem Bemühen um einen „einfachen Stil", wirkt aber durdiweg gewollt und künstlich. Später macht sich auch eine gewisse Tendenz bemerkbar, innerhalb der Gedichte, vor allem, soweit sie von einem Grundgedanken beherrscht sind, das Wortmaterial wie aus einem Wortfeld heraus nach einer Richtung hin auszuschöpfen. Am auffälligsten ist das in der Elegie Westminster Abbey: Hier treten Begriffe aus dem Feld L i c h t und seinem Gegensatz in großer Anzahl auf. Das Wort light selbst wird in dem 180 Zeilen langen Gedicht 17mal verwendet; dazu treten als Substantiva je zweimal fire, flames und glory (im Sinne von Strahlen, Glanz) sowie glean, glow und ray. Die Adjektiva dazu sind bright (dreimal), fiery und radiant, dazu zweimal shining. Auf dem gegenüberliegenden Felde finden sich darkness, cecity, dawn, gloom, haze, (eve), night und shade, mist, dark und dim sowie die Verben Das wird deutlich an einem Vergleich der Gedichte der Switzerland-Gruppe mit den Gedichten unter dem Sammeltitel Faded Leaves-, ferner A Memory Picture und Calais Sands; der beiden Obermann-Gedichte; Human Life mit den themengleichen Teilen von Rugby Chapel. 65
) loc. cit. p. 145.
68
) Cf. Keats: I saw pale kings, and princes too, Pale warriors, death-pale were they all. (La Belle Dame Sans Merci, 37—38)
Der Vergleich dieser Keats'schen Stelle mit den Thyrsis-Zitaten läßt deutlich werden, daß es sich bei Arnold — anders als bei Keats — nicht um ein Stilmittel, sondern um einen Mangel an poetisdier Variation handelt. 4 Müller-Schwefe
47
to darken und to fade. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Arnold hier sehr bewußt verfahren ist. Freilich entsteht als Ergebnis dieses bewußten Vorgehens der Eindruck, daß Arnold sich eines zu „feierlichen Apparates und zu umfassender Vorbereitungen bediene", um seinen toten Freund zu besingen 67 ). Andrerseits wirkt diese durchlaufende Wortverbindung dem Auseinanderfallen des Gedichtes, das durch die verschiedenartigen Stoffelemente hervorgerufen wird, entgegen. — Das verstärkte Auftreten solcher Wortfelder als Zeugnis des sehr bewußten Schaffens mit dem Nachlassen der poetischen Inspiration in Verbindung zu bringen, liegt zwar nahe. Doch sprechen die bereits mitgeteilten Beobachtungen gegen die einfache Annahme eines solchen Nachlassens mit zunehmendem Alter und für eine durchlaufende Ungleichmäßigkeit und Fluktuation. Es bleibt noch ein kurzer Blick zu tun auf die W o r t n e u s c h ö p f u n g e n und den i n d i v i d u e l l e n W o r t s c h a t z Arnolds. Die Reihe der hier aufzuführenden Wörter ist nicht lang; ja, man kann im Zweifel sein, ob überhaupt als eigentliche Neuschöpfung anzusehen ist, was sich als Zusammensetzung, meist unter Zuhilfenahme eines Präfixes, erweist: out-perfume (Empedocles ort Etna II, 442, 1852) und dismarble (Youth and Calm, 3; 1852), originale Komposita Arnolds, sind gleichermaßen Ergebnisse eines Denkprozesses. Das eine findet sich in einer superlativisch-übersteigerten Frage, die keine Antwort erwartet: What sweet-breathing presence Out-perfumes the thyme?
Das andere drückt eine Negation aus, die jeder Möglichkeit konkreter Vorstellbarkeit völlig entzogen ist; vom Antlitz des Toten wird festgestellt: There's nothing can dismarble now The smoothness of that limpid brow.
Wenig mehr Originalität kommt in der Bildung enkerchiefed zum Ausdruck. Arnold benutzt es — als eine Erweiterung des schon von Milton gebrauchten Verbums to kerchief — zur Beschreibung des von einem Tuch eingerahmten Gesichtes seiner geliebten Marguerite (Meeting, 7). Die Vorliebe für Partizipia mit der Vorsilbe en- (enisled, ennobled, enclasping, engarlanded usw.) ist schon bemerkt worden 68 ). Seine starke Neigung, Wortbild und Wortsinn durch Präfixe zu verändern, wird noch näher beleuchtet werden. — Die auffälligste Neuschöpfung Arnolds ist das Adjektiv moon-blanched (Dover 6T
) Saintsbury: Matthew Arnold, **) Bonnerot, loc. cit. p. 494.
48
p. 269.
Beach, 8; The Scholar Gipsy, 9): bezeichnenderweise auch dieses eine Zusammensetzung, ihrem Charakter nach passivisch, ihrer Funktion nach descriptiv, aber mit starkem Gefühlsausdruck. Im Hinblick auf die oben zitierte Behauptung Batesons (siehe S. 33) ist es interessant festzustellen, daß Arnolds Wortschatz zwar nicht die Sprache seiner Zeit in dem allgemeinen Sinne, wie Bateson es verstanden wissen wollte, aufnimmt. Aber gegenüber seinen dichtenden Zeitgenossen hat er im Wortmaterial sehr wenig Individuelles. Die sich auf den Gedichtband von 1849 erstreckende Untersuchung von J. Miles69) stellt fest, welche Wörter von Arnold allein mindestens zehnmal benutzt werden, während sie von den übrigen neunzehn zum Vergleich herangezogenen Dichtern nicht so oft verwendet werden. Mit den Wörtern law und memory ist das individuelle Vokabular Arnolds bereits erschöpft. Die in einer Tabelle unter dem Stichwort Minority Vocabulary aufgeführten Wörter, die sich auf das Wortmaterial beschränken, das von mindestens vier, aber weniger als zehn Dichtern verwertet wird, lassen erkennen, daß das bei Arnold vergleichsweise häufige Auftreten von Wörtern wie great (15mal), king (35mal), nature (15mal) 70 ) mit dem besonderen Charakter der Arnoldschen Dichtung in einem gewissen Zusammenhang steht. In der Liste des allgemeinen Vokabulars, dessen Wörter in tausend Zeilen mindestens zehnmal enthalten sind, steht Arnold mit der 50maligen Verwendung von man gegenüber den verglichenen anderen Dichtern, darunter Wordsworth (lOmal), Tennyson (keinmal), Browning (lOmal) und Clough (2omal) weitaus an der Spitze71). Es wird noch in anderem Zusammenhang wichtig werden, daß auch das Wort see von Arnold unter allen Dichtern am häufigsten (35mal in 1000 Zeilen) verwendet wird 72 ). Zusammenfassend läßt sich feststellen: Was Arnold in seiner theologischkritischen Schrift God and the Bible (1875) in der Prosa praktiziert und auch im Gegensatz zu anderen „reinen Philologen" als Grundsatz fordert, ist für ihn selbst auch weithin maßgebliches Verfahren bei der Wortwahl in der Dichtung. Bei Gelegenheit einer Charakterisierung des German professor, bei dem er Hilfe für die Klärung des Begriffes being gesucht habe, spricht 69) Josephine Miles: The Continuity of Poetic Language. Studies in English Poetry from the 1540's to the 1940's (University of California Publications in English, vol. 19, 1951), pp. 2 6 8 — 2 7 3 . 70
4*
) Loc. cit. p. 266 f.
71
) Loc. cit. p. 264.
72
) Loc. cit. p. 265.
49
sich Arnold folgendermaßen aus: No, our professor words, not of ontology. ing the history
We bethought
ourselves
of the human spirit, tracking
how men have used words
was a mere professor
of our old resource,
its course,
trying to make
and what they meant by them73).
of
followout
Arnold nennt
selbst das Stichwort, das in der Tat für die Wortwahl in der Prosa ebenso wie in der Dichtung seine Grundeinstellung kennzeichnet: oberster Gesichtspunkt ist der o n t o l o g i s c h e , nicht der ästhetische oder rein sprachliche. Unter diesem Blickwinkel erscheint es auch folgerichtig, daß er sich stets um einen einfachen, nicht „geschmückten" oder poetisch gehobenen Stil bemüht. Auch die Gedrungenheit der Aussage, die Konzentriertheit der Satzformung steht damit im Zusammenhang. Es scheint, daß das ästhetische Prinzip von dem ontologischen ganz überlagert werde, d. h. von einem dem Wesen der Dichtung als solcher fremden Prinzip. Das kommt auch in dem Wort is a Criticism
of Life
Poetry
deutlich zum Ausdruck. Unter solchem Aspekt ge-
winnen Äußerungen über die Dichtung als Sprache Bedeutung: Now
poetry
is nothing
comes
less than the most perfect
speech of man, that in which he
nearest to being able to utter the truth1*).
Bei Arnold gilt nur der eine Teil
von Keats' ästhetischem Glaubensbekenntnis Beauty
is truth, truth
beauty,
nämlich, daß Wahrheit Schönheit sei. Damit ist freilich das Wesen dieser dichterischen Weltschau verkehrt und die ethische Verknüpfung zwischen Sprache und Charakter aufs neue betont: But, at any rate, influence with
of style in language,
character,
are most
— its close relations,
the
so often pointed
ethical out,
important15).
2. Die Sprache als Spiegel der negativen
Weltschau
Arnold bedient sich in seiner Dichtung in überaus reichem Maße der Negation.
J a , man kann geradezu die in irgendeiner Form latent oder
oifen vorhandene Negation in der Mehrzahl der Gedichte als ein Grundmerkmal seiner Sprache ansehen. Das Englische bietet besonders zahlreiche Möglichkeiten, solche Negationen auszudrücken. Als Extreme stehen sich gegenüber: Die offene Negierung des ganzen Satzes oder Satzteiles durch not und die verhüllte Negierung durch ein Verb, Substantiv oder epithetisches Adjektiv, das implicite eine Verneinung enthält. Ferner kann durch einen verbalen Ausdruck die God and the Bible, p. 74. Wordsworth, Essays in Criticism (II), p. 128. 75) On the Literary Influence of Academies, in: Essays in Criticism (I), p. 44. 73)
74)
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Aufhebung eines Zustandes oder einer Handlung ausgedrückt werden. In diesem Fall kann es sich häufig ereignen, daß der sprachlichen Form nach eine Negation in Erscheinung tritt, während der Sinn der Aussage positiven Charakter hat (z. B. he uncloses bis eyes = he opens bis eyes). Von der Möglichkeit der Negation durch das V e r b u m macht Arnold selten Gebrauch. Auch die negativ bestimmte verbale Aussage, die eine Handlung rückgängig macht oder verneint und sich dazu des Präfixes un(meist vor transitiven Verben) bedient, benutzt er nur in wenigen Fällen (undo, unmoor, untie, unlock, uncrown, unravel, unjold, uncióse, unnerve), wie überhaupt weder die Verwendung transitiver Verben im Aktiv noch die intransitiver Verben negativen Sinngehaltes 76 ) ein Merkmal des Arnold'schen Stiles sind. Das seinem Sachbezug nach negierende S u b s t a n t i v , meist gebildet unter Zuhilfenahme eines die Negation bewirkenden Präfixes, tritt bei Arnold fast völlig zurück; sehr zahlreich dagegen sind A d j e k t i v a mit verneinendem Charakter. Das seltene Auftreten solcher Substantiva überrascht deshalb, weil die mit Präfix in-, un- oder dis- gebildeten Hauptwörter, die durchweg abstrakte Begriffe wiedergeben, dem stark auf die Wiedergabe des Gedanklichen ausgerichteten Charakter der Arnold'schen Aussage besonders gemäß wären und ihm mannigfache sprachliche Möglichkeiten eröffnet hätten. Diese Funktion der Substantive übernehmen jedoch die vielfältigen Adjéktive, die übrigens nur zum Teil „echte" Adjektive sind: In der Mehrzahl stellen sie adjektivisch gebrauchte Partizipia dar. Eine abstrahierende Funktion erfüllen sie insofern, als sie selten zur Kennzeichnung einer konkreten, anschaubaren Eigenschaft des Hauptbegriffes dienen, dem sie beigegeben sind. Meist charakterisieren sie einen g e i s t i g e n Zustand oder einen g e i s t i g e n Sachverhalt. Darin ist ein typisches Merkmal des Arnold'schen Wortgebrauches zu sehen, dessen Ausdeutung in anderem Zusammenhang gegeben werden soll. Hier sei nur vermerkt, daß Arnold statt dead — lifeless, statt dumb — speecbless, statt blind — sightless usw. sagt, und daß er in zahlreichen Fällen, wo die positive Aussage im Adjektiv dem „normalen" Sprachgebrauch, audi unter dem Gesichtspunkt des einfachen Stils, nähergelegen hätte, die durch Präfix mit einem Minus versehene gegenteilige Aussage macht (z.B. unaltered, unspotted, undisturbed); gelegentlich bewirkt solche Negation des Negativen das Phänomen des Understatement 7e
) Diese haben bei Arnold häufig idas Präfix dis-: disappear, dissolve, dismount usw. 51
( z . B . not unfavoured,
not inglorious,
not unworthy,
not friendless)
oder
die Stilform der Litotes. Nur wenige der zahlreichen durch Präfix negierten Adjektive sind von Arnold selbständig gebildet worden (uncareworn, unepithaphed,
ungreeting,
unechoing,
unneared).
Das fällt insofern auf, als
doch die englische Sprache gerade in der Bildung neuer Wörter unter Zuhilfenahme des Präfixes un- ungewohnt weiten Spielraum läßt. Das trifft ebenso zu für die Ergänzung durch angehängtes -less. Arnold'sche Originalbildung ist hier lediglich, morningless
(seil, sleep =
death).
Arnold hat sich der Negation durdi das Suffix -less ganz besonders häufig bedient 77 ). Solche Wörter tragen fast ausnahmslos negativen Charakter 7 8 ). Eines von diesen mit -less gebildeten Adjektiven verwendet Arnold so oft, daß es als S c h l ü s s e l w o r t
gelten kann, welches Besonderes über die
menschliche Art und Situation als das Zentralproblem der Arnold'schen Dichtung auszusagen hat: Unter mehreren in solcher Weise charakterisierenden Worten (joyless,
cheerless,
helpless,
hopeless)
tritt restless besonders her-
vor. Daß es zehnmal gebraucht wird, ist an sich noch nicht besonders auffällig, obwohl keines der anderen -/ew-Adjektiva auch nur annähernd so oft auftritt und Arnold, wie schon früher festgestellt wurde, verhältnismäßig selten zu Wiederholungen des gleichen Wortmaterials greift 79 ). Seine entsdieidende Bedeutung erhält restless
dadurch, daß es — außer in einem
Falle — den Grundzustand des Menschen allgemein und des menschlichen Herzens im besonderen bezeichnet. Im gleichen Wortfeld und im gleichen Sinne verwendet, findet sich siebenmal unquiet.
Ähnlich wie seif und calm
(s. u.) hat restless für die Vorstellung vom Menschen in Arnolds Sprachschatz eine wichtige Funktion, die man ausdrücken könnte durch ein Spannungsfeld, in dem das menschliche Ich (Herz) zwischen Ruhelosigkeit (als der Wirklichkeit) und der erkämpften Ruhe (als Ideal) steht. TT) In diesem Zusammenhang sind besonders die zur Charakterisierung der menschlichen Situation und des Charakters verwendeten Zusammensetzungen zu nennen, (die Zahlen bezeichnen die Häufigkeit der Verwendung, zum Vergleich die Häufigkeit bei Clough, nach: The Poems of Arthur Hugh Clough, ed. H. F. Lowry etc. (Oxford 1951): Situation: joyless 5 (—); cheerless 3 (1); helpless 5 (2); restless 9 (1); peerless 2 (—); loveless 1 (—); defenceless 1 (—); useless 1 {1); hapless 2 (5); friendless 3 (—); soulless 1 (1); hopeless 4 (7). Charakter: faithless 3 (—); heedless 1 (1); listless 1 (2); fearless 4